Denkkunst: Kritik der Ontologie 9783495817711, 9783495488720


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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I. Das Denken im Schatten seiner Ideologie
1. Das Seinsdenken inszeniert sich
1.1 Ontologie als Wissenschaft
1.2 Die Nähe zum Mythos
1.3 Ontologie als Gewissen des Denkens
1.4 Die vier Inszenierungen
1.5 Die eine Inszenierung
2. Das vermeinte Sein
2.1 Die »Seins«-frage
2.2 Die Antwort des Geistes
2.3 Die drei seinsphilosophischen Sentenzen
3. Die Flucht ins Sein
3.1 Die ontologische Transzendenz
3.2 Die ontologische Befreiung (ἀπαλλαγή)
3.3 Die ontologische Aufgliederung
3.4 Die ontologische Differenz
4. Rücksicht auf Schönes?
4.1 Platon
4.2 Kant
II. Das Denken im Schatten seiner selbst
1. Der Ort des Seinsdenkens
1.1 Die Seele
1.2 Die Wirklichkeit
1.3 Die Einsamkeit
2. Die Ungebundenheit des Seinsdenkens
2.1 Der Schein der Seinsbestimmung
2.1.1 Der ungebundene Gedanke des »Nichtanderen«
2.1.2 Der ungebundene Gedanke des »Können-selbst«
2.2 Der Schein der Selbstbestimmung
2.2.1 Die Verklärung der Einsamkeit
2.2.2 Die Verklärung der Endlichkeit
2.2.3 Die Verklärung der Wesenhaftigkeit
3. Der Versuch umzudenken (Heidegger)
3.1 Wider den Geist des Subjekts
3.2 Die Inversion des Verhältnisses von Denken und Sein
3.3 Die Inversion des uti et frui
3.3.1 Die Dinge brauchen den Menschen
3.3.2 Das Sein braucht den Menschen
3.3.3 Die Sprache braucht den Menschen
3.4 Die Inversion des Herrschaftsverhältnisses
3.5 Die Inversion des Interesses
3.6 Die Perversion des Einander
3.7 Das Selbe denken
III. Das Denken im Lichte der Denkkunst
1. Der Entwurf einer Noetik
1.1 Bloß gedacht
1.2 Denken um zu denken
1.3 Denken um zu retten
1.4 Denken um zu intelligibilisieren
1.5 Denken um zu poetisieren
2. Die Grenzen der Denkkunst
2.1 Der originelle Gedanke
2.2 Der endliche Gedanke
2.3 Der tiefe Gedanke
2.4 Der hohe Gedanke
2.5 Der reine Gedanke
3. Die Sujets der Denkkunst
4. Die Stilprinzipien der Denkkunst
4.1 Totalität
4.2 Vollkommenheit
4.3 Identität
4.4 Gleichgewicht
5. Vom Geist der Denkkunst
5.1 Der wahrheitsliebende Geist
5.2 Der ernste Geist
5.3 Der bejahende Geist
6. Die Zukunft der Denkkunst
Nachwort
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
Literaturverzeichnis
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Denkkunst: Kritik der Ontologie
 9783495817711, 9783495488720

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Rainer Marten

Denkkunst Kritik der Ontologie

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817711

.

B

Rainer Marten Denkkunst

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

»In seiner ›Denkkunst‹ eröffnet Marten einen neuen, völlig andersartigen Zugang zum Verständnis des überlieferten metaphysischen Denkens. Marten deutet ontologisches Denken als künstlerische Tätigkeit, Ontologie als Denkkunst, als noetische Kunst analog zur ästhetischen, im Medium des Sinnlichen wirkenden Kunst. […] Martens Ontologiestudie greift vertrautere Kritikmotive auf und bereichert sie um neue Analysen. Sie beschäftigt sich mit den Konzeptionen Platons, Aristoteles’ und vor allem Heideggers, zieht aber gelegentlich auch Denkkunststücke Anselms und Kants zur Demonstration und Illustration heran. Ihr kritischer Anspruch ist umfassend und systematisch; die Ontologiedestruktion ist gründlich, zielt auf die gesamte Tradition des Seinsdenkens von Parmenides bis Heidegger und betrifft alle Züge der Gesamtgestalt dieses Denkens.« Eine zukünftige Denkkunst »muß sich als Selbstverständigung des denkenden Menschen entfalten, darf diesen weder wesensphilosophisch reduzieren noch in einen allgemeinethischen Jedermann verwandeln, sondern sie muß sich ihm in seiner mannigfaltigen lebensweltlichen Bestimmtheit widmen und die sich in seinem Denken spiegelnden Spannungen und Widersprüche zur erhellenden Darstellung bringen.« Wolfgang Kersting

Der Autor: Rainer Marten, geb. 1928, Professor für Philosophie an der Universität Freiburg i. Br. Zuletzt von Rainer Marten im Verlag Karl Alber erschienen sind: Die Möglichkeit des Unmöglichen. Zur Poesie in Philosophie und Religion (3. Aufl., 2015), Maßlosigkeit. Zur Notwendigkeit des Unnötigen (2. Aufl., 2014), Radikalität des Geistes. Heidegger – Paulus – Proust (2012), Endlichkeit. Zum Drama von Tod und Leben (2013), Der menschliche Tod. Eine philosophische Revision (2016), Lob der Zweiheit. Ein philosophisches Wagnis (2017).

https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Rainer Marten

Denkkunst Kritik der Ontologie Um ein Nachwort erweiterte Neuausgabe

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Die Originalausgabe des Buches erschien mit gleichem Titel 1989 im Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn.

Um ein Nachwort erweiterte Neuausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48872-0 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81771-1

https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Das Denken im Schatten seiner Ideologie . 1. Das Seinsdenken inszeniert sich . . . . . . 1.1 Ontologie als Wissenschaft . . . . . . . 1.2 Die Nähe zum Mythos . . . . . . . . . 1.3 Ontologie als Gewissen des Denkens . . 1.4 Die vier Inszenierungen . . . . . . . . . 1.5 Die eine Inszenierung . . . . . . . . . . 2. Das vermeinte Sein . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die »Seins«-frage . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Antwort des Geistes . . . . . . . . . 2.3 Die drei seinsphilosophischen Sentenzen 3. Die Flucht ins Sein . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die ontologische Transzendenz . . . . . 3.2 Die ontologische Befreiung (ἀπαλλαγή) 3.3 Die ontologische Aufgliederung . . . . 3.4 Die ontologische Differenz . . . . . . . 4. Rücksicht auf Schönes? . . . . . . . . . . . 4.1 Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Das Denken im Schatten seiner selbst 1. Der Ort des Seinsdenkens . . . . . . . 1.1 Die Seele . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Wirklichkeit . . . . . . . . . . 1.3 Die Einsamkeit . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

2. Die Ungebundenheit des Seinsdenkens . . . . . . . . 2.1 Der Schein der Seinsbestimmung . . . . . . . . . 2.1.1 Der ungebundene Gedanke des »Nichtanderen« (Cusanus) . . . . . . . . . 2.1.2 Der ungebundene Gedanke des »Könnenselbst« (Cusanus) . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der Schein der Selbstbestimmung . . . . . . . . 2.2.1 Die Verklärung der Einsamkeit . . . . . . . 2.2.2 Die Verklärung der Endlichkeit . . . . . . . 2.2.3 Die Verklärung der Wesenhaftigkeit . . . . 3. Der Versuch umzudenken (Heidegger) . . . . . . . . 3.1 Wider den Geist des Subjekts . . . . . . . . . . . 3.2 Die Inversion des Verhältnisses von Denken und Sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Inversion des uti et frui . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Die Dinge brauchen den Menschen . . . . 3.3.2 Das Sein braucht den Menschen . . . . . . 3.3.3 Die Sprache braucht den Menschen . . . . 3.4 Die Inversion des Herrschaftsverhältnisses . . . 3.5 Die Inversion des Interesses . . . . . . . . . . . . 3.6 Die Perversion des Einander . . . . . . . . . . . 3.7 Das Selbe denken . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Das Denken im Lichte der Denkkunst 1. Der Entwurf einer Noetik . . . . . . . 1.1 Bloß gedacht . . . . . . . . . . . . 1.2 Denken um zu denken . . . . . . . 1.3 Denken um zu retten . . . . . . . 1.4 Denken um zu intelligibilisieren . 1.5 Denken um zu poetisieren . . . . 2. Die Grenzen der Denkkunst . . . . . . 2.1 Der originelle Gedanke . . . . . . 2.2 Der endliche Gedanke . . . . . . . 2.3 Der tiefe Gedanke . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

3. 4.

5.

6.

2.4 Der hohe Gedanke . . . . . . 2.5 Der reine Gedanke . . . . . . Die Sujets der Denkkunst . . . . Die Stilprinzipien der Denkkunst 4.1 Totalität . . . . . . . . . . . 4.2 Vollkommenheit . . . . . . . 4.3 Identität . . . . . . . . . . . 4.4 Gleichgewicht . . . . . . . . Vom Geist der Denkkunst . . . . 5.1 Der wahrheitsliebende Geist 5.2 Der ernste Geist . . . . . . . 5.3 Der bejahende Geist . . . . . Die Zukunft der Denkkunst . . .

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Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Literaturverzeichnis

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7 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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Vorwort

Metaphysik gilt als beendet: kein redlicher Geist könne sich länger der Hinsicht entziehen, daß sie an jeder lebenspraktisch und wissenschaftlich zugänglichen Wirklichkeit vorbeigedacht habe. Andere machen weiter: sie bauen auf Metaphysik, gründen ihr Verständnis von Leben und Handeln, Welt und Wirklichkeit auf metaphysische Einsichten. Keine der beiden Positionen ist offen für das Besondere, das in traditioneller Seins- und Denktheorie seine geschichtliche Gestalt gefunden hat: für Denken als künstlerisches Tun. Seinstheorie, die Aussagen über Gott und den gottbestimmten Menschen macht, reicht bis in unsere Zeit. Sie erstaunt mit Denkfolgerungen, die zu Seinsfolgen geraten, mit reinem Denken, das zu absolutem Wissen wird, mit erdachten Wesen, die letztes Verbindliches, Gutes und Heiles vorstellen. Das läßt sich auch anders sehen. Befreit vom ideologischen Selbstmißverständnis und aus der spekulativen Selbstverlorenheit zurückgeholt, entdeckt sich in der ontologischen Tradition eine hochentwickelte Kunst: die Denkkunst. Was an der alten Seinslehre wissenschaftlich zu kritisieren ist, erscheint unter dem Aspekt der Kunst in einem neuen Licht. Anstatt metaphysische Seinslehre zu ignorieren, zu bekämpfen oder zu feiern, kann jetzt nach ihren künstlerischen Absichten gefragt werden, nach ihren Stilprinzipien, nach ihrer Wahrheit und Zukunft als Kunst. In der Absicht, kein gelehrtes, sondern ein erhellendes Buch zu schreiben, ist die Auseinandersetzung mit der traditionellen Seinslehre und deren Neudeutung im wesentlichen auf drei Philosophen beschränkt: auf Platon, Aristoteles und Heidegger. Die Namen hätten auch Parmenides, Cusanus und Hegel lauten können. Daß es jene Drei sind, hat einen sachlichen Grund: die 9 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Vorwort

seinsphilosophische Fragestellung von Platon und Aristoteles ist in keiner Folgezeit überholt worden; den bedeutendsten Versuch in diesem Jahrhundert aber, Seinsphilosophie sich von ihren Anfängen her neu anzueignen, hat Heidegger unternommen. Es hat auch einen persönlichen Grund: die besondere Vertrautheit des Verfassers mit der griechischen Philosophie und mit dem Denken Heideggers, bei dem er zwar nicht als disciple, aber doch als élève zwölf Jahre gelernt hat.

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I.

Das Denken im Schatten seiner Ideologie

1. Das Seinsdenken inszeniert sich Die Behauptung, daß Philosophen Menschen sind, ist an sich trivial. Sie erhält jedoch einige Bedeutung, sobald eigens mitverstanden wird, sie seien es auch und bloß, ja seien es wie du und ich. Damit scheint aber auch schon das Bedeutsame aufgearbeitet zu sein und wieder Alltäglichkeit einzukehren: wie sehr sie auch Menschen sein mögen, letztlich sind sie eben genau dies. Überraschenderweise ist die Behauptung, Philosophen seien fraglos, wenn auch gelegentlich bemerkenswerterweise, Menschen, nicht ohne Belang für die Bemühung, sich von ihnen ein rechtes Bild zu machen. Wird sie nämlich zum Beispiel mit der verglichen, daß Kinder Menschen sind, dann ist – selbst Jahrzehnte nach dem Tode des Pädagogen Janusz Korczak – noch längst nicht jedes Ohr darauf gefaßt, es mit einer ganz entsprechenden Trivialität oder auch Bedeutsamkeit zu tun zu haben. Zu lange schon herrscht immer wieder einmal in Öffentlichkeiten das Urteil, Kinder seien nicht vollends Menschen, Philosophen aber seien es geradezu übergenug. Es ist, als müßte das Kind aus seiner menschlichen Nicht- und Halbwirklichkeit erst noch auf die Ebene wahrer menschlicher Tatsachen hinaufgehoben, der Philosoph dagegen aus seiner menschlichen Überwirklichkeit endlich wieder zu ihr heruntergeholt werden. Dahinter steckt die Idee von einem Wesen des Menschen: alle Menschen wären zwar Menschen, der Wesensbestimmung des Menschen kämen sie aber auf höchst unterschiedliche Weise nach. Philosoph zu sein, sieht traditionell in der Tat nach einer ganz außerordentlichen menschlichen Wesensaneignung aus. Menschen, die eigens Denken, Geist und Vernunft in Sorge nehmen, 11 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Das Denken im Schatten seiner Ideologie

gehen einer maßgeblichen philosophischen Überlieferung zufolge nichts Geringerem nach, als eigens das Wesen des Menschen zu verwalten. Noch Heidegger versteht den Menschen als denkendes (nachdenkendes, andenkendes) Wesen und zugleich seinen eigenen menschheitlichen Auftrag als Denken (Nachdenken, An-denken). Wer sich über Philosophen kritisch klarwerden und nicht blinden Vertrauens ihren Selbsterklärungen folgen will, muß allem zuvor von der leitenden philosophischen Idee Abschied nehmen, daß es ein Wesen des Menschen gebe. Nichts nämlich spricht mehr dafür, sich dieses ebenso alten wie irreführenden Konzepts noch weiter zu bedienen. 1 Was Menschen als Menschen sind, kann nur, soll »Mensch« lebenspraktische und keine bloß künstlich-theoretische Bedeutung haben, aus dem Umgang des je Einen mit Anderen gewonnen werden, aus Begegnungen, in denen Menschen eigenheitliches Sein gleicher und unterschiedlicher Art gegenseitig ins Spiel bringen. Menschen – das sind in unserer geschichtlichen Zeit immer schon Männer und Frauen, Junge und Alte, Kranke und Gesunde, Lehrer und Schüler, Gläubige und »Heiden«, Produzenten und Händler, Künstler und Gelehrte. Sie sind das, was sie eigenheitlich sind, stets in einem vielartigen, vielschichtigen und oftmals kontrastreichen Einander. Die vielfältigen Besonderheiten menschlichen Seins, die sich dabei auftun, die bleibenden, die wechselnden und die einmalig-vergänglichen, sind Grundlagen der Bildung und Bewahrung menschlicher Individualität. Von allen Eigenheiten des Einen im Umgang mit Anderen abzusehen, um auf seinen vermeintlich reinen und ursprünglichen Wesenskern zu zielen, brächte ihn praktisch um die Möglichkeit, vor Anderen überhaupt noch als Mensch und als er selbst zu erscheinen und sich als Selbst und Mensch zu spiegeln. In die Reihe der Kranken und Gesunden, der Produzenten und Händler gehört nun auch der Denker und Philosoph. Alles, 1

Siehe dazu Rainer Marten, Der menschliche Mensch.

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Das Seinsdenken inszeniert sich

womit ein Mensch unter Menschen sich als Mensch geben und selbst finden (»identifizieren«) kann, muß als eigenheitliche Möglichkeit von Menschen (sc. als solchen) in Betracht gezogen werden. Wäre Denken das Wesen und zugleich der Wesensvollzug des Menschen, dann müßte im Philosophen, der sich auf gelingende Weise des Denkens annimmt, der einzigartig wesenhafte Mensch zu sehen sein. Dem Wesen (der Wesensbestimmung) des Menschen nahezukommen, nachzukommen, es wahrzumachen, zu vollenden und zu erfüllen – das sind die Leitvorstellungen des alten Menschenkonzepts. Das Verhältnis zwischen dem – ganzen – Menschen und seinem Wesen wird dabei so angesetzt, daß er allein die Freiheit hat, sein Wesen zu wählen oder nicht zu wählen, sich für oder gegen es zu entscheiden. Das Wesen selbst nämlich wird für etwas schlechthin Unverfügbares ausgegeben. Der Philosoph, einzig um das Wesen besorgt, kann darum nicht mehr sein wollen als Testamentsvollstrecker einer natürlichen oder gar göttlichen Bestimmung des Menschen – von der Natur oder dem Gott beauftragt, für sich selbst ohne jeden Spielraum. Doch wie es nicht das eine Wesen des Menschen gibt, so auch nicht seinen einen Wesensverwalter. Philosoph zu sein bedeutet, ein eigenheitliches Sein im Einander von Menschen auszuspielen, das eines unter anderen ist. Mit den zu praktizierenden Eigenheiten verhält es sich eben gänzlich anders als mit dem theoretisierten Wesen. Zu seinen Eigenheiten hat der Mensch Distanz und sie sind ihm insofern verfügbar. Zwar kann er sie nicht beliebig abschaffen und sich anschaffen, aber er verhält sich zu ihnen, ist mit ihnen nicht ungeschieden eins. Dieses Verhalten hat seine eigene Notwendigkeit. Solange ein Mensch überhaupt noch Distanz zu sich selbst (und zu Anderen) hat, muß er sich zu sich selbst verhalten: hat er sich eigenheitlich zu geben, vor Anderen und vor sich selbst, kommt er nicht darum herum, sich je in einer Besonderheit des Einander darzustellen, aufzuführen, zu inszenieren. Selbst lebenspraktisch verneintes und als fatal empfundenes eigenheitliches Sein läßt seinem Eigner allein die Möglichkeit, es als sein eigenes – so 13 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Das Denken im Schatten seiner Ideologie

oder so – in Szene zu setzen, er wäre denn, pathologisch bedingt, zu keinem selbsthaften Handeln mehr fähig. Allein in dem Wie seines eigenheitlichen Verhaltens ist er notwendig, wenn auch keineswegs absolut frei. Es ist dieselbe Notwendigkeit: sich inszenieren zu müssen und frei sein zu müssen, sich zu inszenieren. Die Lebenspraxis entdeckt Menschen, wie sie über sich verfügen, sich so oder so als Menschen geben, wie sie sich inszenieren und das auch sind, als was sie sich inszenieren. Praktizierte Eigenheiten geben so im Unterschied zu ihrem rein geistig konzipierten Wesen die lebensteilige Selbstinszenierung von Menschen zu erkennen: je die des Einen vor Anderen und im Verein mit ihnen. Gilt die Unhintergehbarkeit, Unausweichlichkeit und Freiheit der Selbstinszenierung eigenheitlichen Seins auch für all die, die als Philosophen das Denken zu ihrem Beruf und Eigenen erklären, dann ist damit der Weg vorgezeichnet, wie man dazu kommt, sich von ihnen das rechte Bild zu machen. Denker, wie es Seinsdenker sind, müssen als Spezialitäten menschlichen Einanders angesehen werden – nicht anders als Frauen, Kinder, Katholiken und Beamte, nicht anders als Männer, Kranke, Bayern und Künstler. Wissen nicht einmal Männer und Kranke begründet für sich zu reklamieren, sie hätten in ihrem eigenheitlichen Sein keinerlei Distanz zu sich selbst (und damit kein entsprechendes zu Anderen), existierten eben rein als Naturtatsachen, wie sollte dann ein von Berufs wegen Denkender dazu in der Lage sein. Das ist gut zu wissen: auch der Philosoph ist eine Gestalt menschlicher Selbstinszenierung. Sagt ein Ontologe, er könne, wie er sich selbst und sein Seinsdenken öffentlich darstellt, genau nur so und nicht anders selbsthaft handeln, um damit auf seine Weise Martin Luthers »Hier stehe ich und kann nicht anders. Gott helfe mir!« zu erinnern, dann ist auch das bereits ein Moment seiner notwendig freien Selbstinszenierung. Er gehört einer Art von Menschen zu, die das Zwingende ihres Tuns hervorkehren, das, wozu sie die behandelte Sache und ihre sachliche Verantwortungsbereit14 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Das Seinsdenken inszeniert sich

schaft zwinge. Sie wollen damit für sich und Andere betonen, ihrem beruflichen Auftrag mit allem persönlichen und sachlichen Ernst nachzugehen, gehen dabei aber in der Meinung fehl, dieser Ernst beraube sie der Freiheit eigenheitlicher Selbstdarstellung. Allein ein geistiger »Autist« verfügte nicht mehr über denkenden Geist als Eigenheit und das heißt als Möglichkeit selbsthaften menschlichen Einanders. Alle Beteuerungen, eigenheitlich genau nur so und nicht anders zu können, zum Beispiel nicht mit sich reden lassen zu können, wenn es um die »eigensten« Prinzipien geht, basieren darauf, prinzipiell anders zu können. Auch für den Philosophen steht Selbstinszenierung nicht zur Disposition. Er ist in dem, wie er seine Eigenheit ausspielt, notwendig frei. Hätte ein Seinsdenker in der von ihm mit allem Ernst betriebenen Sache keinerlei spielerisches Verhältnis zu Anderen und zu sich selbst, dann könnte sich überhaupt niemand mit ihm auseinandersetzen. Die von ihm bewegte Sache gliche einem Naturereignis. Zu jeder Selbstinszenierung gehört es, gut und schlecht, das heißt praktisch wahr und falsch sein zu können. Kriterium für die Beurteilung ist das eigenheitliche Einander. Wer sich als Mann aufführt, tut das vor Frauen und Männern. Da aber kann sich zeigen, daß er sich »falsch« aufführt: er kommt bei den Anderen nicht als Mann an – nicht so recht oder überhaupt nicht. Das eigenheitliche Einander glückt nicht – weder mit Gleichen noch mit Ungleichen. Werden darum Seinsdenker vorgeführt, wie sie sich jeweils selbst auslegen und inszenieren, dann ist das zwar zunächst für sich selbst von Interesse. Am Ende aber darf die Prüfung nicht ausbleiben, ob sie denn überhaupt irgendwo so ankommen, wie sie sich in ihrem freien Umgang mit dem Denken selbst geben und verstehen, und sich das Bild, das sie von sich selbst haben, entsprechend überträgt. Die Prüfung kompliziert sich, wenn nicht einmal klar ist, wen sie eigentlich als signifikanten Anderen ansehen möchten: den Menschen, mit dem sie Umgang suchen, um ihn an den eigenen Gedanken teilhaben zu lassen, oder im Gegenteil den Menschen, 15 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Das Denken im Schatten seiner Ideologie

dem gegenüber sie auf Distanz gehen, um vor ihm die eigenen Gedanken reinzuhalten und zu retten. Die Prüfung wird undurchführbar, wenn sie sich menschlich in einer Weise für allgemein ausgeben, daß an eine Bestimmung ihres Parts unter Menschen nicht länger zu denken ist. Nach Platon führt die Erscheinung der »echten« Philosophen öffentlich zu ziemlich verschiedenen Ansichten. Die einen sehen in ihnen Sophisten, andere Politiker und wieder andere völlig Wahnsinnige (ὡς παντάπασιν ἔχοντες μανικῶς). 2 So gesehen, scheinen sie kein eigenheitliches Sein zu haben, das sich in der Öffentlichkeit unmißverständlich zur Geltung bringen könnte. Jedenfalls bilden sie mit ihrer Selbstinszenierung kein definites Einander aus, das je den Einen sich im Anderen und durch den Anderen selbst finden ließe. Weil Platons Erscheinungsbildbeschreibung keinen Sonderfall spiegelt, ist es angezeigt, sich an die philosophische Dramaturgie selbst zu halten, wenn verläßlich in Erfahrung gebracht werden soll, wie und als was sich der echte Philosoph zu inszenieren gedenkt.

1.1 Ontologie als Wissenschaft Ontologen, die darüber nachdenken, wie sie sich eigentlich zu inszenieren haben, kommen darin überein, daß es einzig und allein Wissenschaft ist, woran sich ihr Spiel ermißt: ob es taugt oder nicht, ob es sie echt in Szene setzt oder nicht. Das ist weder speziell noch gar ausschließlich für »neue« Ontologie gesagt, die sich in diesem Jahrhunden zu dem Versuch bekennt, »strenge« Wissenschaft zu sein – angelehnt an einen Wissenschaftsbegriff, der sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hat 3 , sondern allgemein für Ontologie, hier mit Zielrichtung auf »alte«, wie sie Platon, Sophistes 216c–d. So unter anderem bei Gottlob Frege, Edmund Husserl und Nicolai Hartmann.

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Das Seinsdenken inszeniert sich

anfänglich von Parmenides und Heraklit, Platon und Aristoteles, spät noch von Hegel und Heidegger betrieben wird. Das Sichmessen an Wissenschaft ist gerade auch dort gegeben, wo – »alte« – Ontologie sich nicht für eine Wissenschaft unter anderen nimmt, sondern sich vielmehr über allen Wissenschaften thronen sieht 4 oder für ursprünglicher als alle Wissenschaften erklärt. 5 In diesen Bestimmungen nämlich erteilt sich das Seinsdenken nicht die Regieanweisung, der Wissenschaft überhaupt den Rücken zu kehren, sondern sich allein von der realen Gestalt der – sogenannten – Wissenschaften zu distanzieren, wie sie jeweils geschichtlich-gesellschaftlich herrscht, um eben auf ganz eigene Weise (sc. auf einzigartige) Wissenschaft zu sein. Seinsdenken wird öffentlich aufführbar und zugänglich, indem es sich als Wissenschaft versteht und gibt. Wissenschaft stellt dabei jeweils einen Entwurf dar, mit dem Philosophie eine öffentlich bewährte und angesehene Institution menschlichen Einanders ebenso usurpatorisch wie überhöht für sich in Anspruch nimmt, wobei sie sich ganz besonders schwer damit tut, die zweifellose Brauchbarkeit und Reputation dieser Institution im Bewußtsein der Öffentlichkeit ebenso zweifellos für sich selbst zu gewinnen. Der theoretisch-begriffliche Umgang mit Wissenschaft wird sich darum als tauglich erweisen, Zug um Zug den Selbstentwurf der Ontologie zu entdecken, so unterschiedlich sich auch die Positionen im Ganzen ihrer Tradition ausnehmen. Der Philosoph und Ontologe, der sich selbst vor sich und Anderen als Wissenschaftler aufführt, will signifikant nicht als Priester, nicht als Künstler, schon gar nicht als Demagoge und Politiker angesehen werden (und wenn schon als maPlaton, Politeia VI 511c; VII 533d. Martin Heidegger, unter anderem Metaphysische Anfangsgründe der Logik, S. 285. Heidegger unterscheidet aber auch neuzeitliche Wissenschaft, die, schlechthin unphilosophisch, die Seinsverlassenheit mitbestimmt, von Wissenschaft, die, philosophisch relevant, ursprünglich und anfänglich in einer Wahrheitsbemühung steht. Siehe Beiträge zur Philosophie, S. 144 und Kontext.

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Das Denken im Schatten seiner Ideologie

nisch, dann allein mit Zügen von liebendem »Wahnsinn«, die zeigen, wie er Wissen und Weisheit zugetan ist). Priester zu sein bedeutete für ihn, dem Sein und Wesen nicht mit dem Logos, sondern mit Mythos und Mysterien auf der Spur zu sein. Anstatt der methodischen Führung zur wahren Einsicht wären von ihm nicht nur »alte Geschichten«, sondern darüber hinaus Initiationsriten und Weihehandlungen gefragt. Was er als wahr zu verstehen zu geben meint, müßte demnach als erleuchtungsevident genommen werden. Künstler zu sein wieder verstünde er in platonischer Tradition als die Aufgabe, dem Wahren und Seienden nicht anders als mimetisch zu begegnen – künstlerische Nachahmung als eine Schöpfung dritten Wahrheitsgrades. 6 Und wenn auch ein Aristoteles künstlerisches Hervorbringen für philosophischer einschätzt als die Art der Historiker, Fakten zusammenzutragen, weil dieses Erkunden und Berichten von Geschehen auf je Einzelnes, die exemplarische Darstellung von menschlichem Handeln, Leben und Glück dagegen eher auf Allgemeines geht 7 , so ist doch etwa die beispielhafte Geschwisterliebe einer Antigone in keinem philosophischen Sinne die Sache und das Wesen der im Blick stehenden Handlung selbst. Und spricht ein Heidegger das »denkende Dichten« an 8 , dann geht auch dieser Seinsdenker nicht von der philosophischen Linie ab, dem Logos das Wort zu reden. Dichtung weiß er ausschließlich als Ontologe zu schätzen. Dichtung allerdings, die wesentlich, weil dem Denken »nachbarlich«, ist 9 , gibt es für ihn allein als deutsche AusnahSiehe Platon, Politeia X 597e. Aristoteles, Poetik 1451b5. Die gelegentliche Verrätselung dieses Aristoteleswortes durch Heidegger ist rhetorisch und dient dem Zweck, den Leser durch Hinweis auf noch Ungedachtes in den Bann zu ziehen. Martin Heidegger, siehe unter anderem Über den Humanismus, S. 46: »Aber immer noch gilt das kaum bedachte Wort des Aristoteles in seiner Poetik, daß das Dichten wahrer sei als das Erkunden von Seiendem.« »Wahrer« übersetzt φιλοσοφώτερον. 8 Martin Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens, S. 23. 9 Ebd., S. 25. 6 7

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medichtung: als die »stiftende« Dichtung Friedrich Hölderlins. Allenfalls ein Johann Peter Hebel und Georg Trakl, ein Stefan George und Rainer Maria Rilke, deutlich aus zweiter Reihe, kommen bei ihm noch für »rein Gesprochenes« 10 in Betracht, das als solches fähig ist, das Wort des seinsgeschichtlich gedachten Wesens zu führen. Den griechischen und den deutschen Geist jedoch als den des Menschen zu einen, zugleich des Menschen Maß an der Gottheit zu nehmen und ihm so seinen künftigen »Wesensaufenthalt« geistig zu stiften und zu versprechen – das ist für Heidegger – im Nachdenken Hölderlins und der Griechen – so gut wie allein seine eigene Sache: eben seine philosophisch-ontologische. Demagoge und Politiker zu sein schließlich verlangte vom Ontologen, sich in der ihm eigenen Freiheit zu vertun, die sich mit dadurch auszeichnet, gerade nicht Gewalt und Zwang der Überredung (πειθώ) zu üben, sondern vielmehr durch den entdeckenden und erweckenden Geist der Rede den Blick auf Wahrheit Anderen freizugeben. Denn das fällt in der denkenden Vernunft, die frei, und in der Freiheit, die geistig ist, zusammen: mit dem Logos keinem Zweck zu dienen, der wieder anderen Zwekken diente, sondern mit freier Vernunft auch wirklich Wahrheit freizugeben – zur glückseligen theoretischen Erfassung. 11 Weil Freiheit und Vernünftigkeit (Geistigkeit) des Denkenden, wie er sich sieht und zeigt, zusammenfallen, ist der gewaltsamen Rhetorik jede Möglichkeit genommen, Sachwalterin der für menschliches Denken und Handeln verbindlichen Wirklichkeit zu sein. Selbst Ontologen, die ihre Sache nicht argumentativ und in Aussagesätzen vortragen, deren Wahrheitsanspruch überprüfbar ist 12 , sondern zugunsten des »wahren Wortes« (ἔτυμος λόγος) so spielerisch wie nur möglich mit Sprache umDers., Die Sprache, S. 16. Aristoteles, Nikomachische Ethik, unter anderem X 7; vgl. Erklärungen wie ders., Metaphysik, I 2 982a30–982b2. 12 Martin Heidegger, Zeit und Sein, S. 25: »Es sagt auch nichts, solange wir das Gesagte als einen bloßen Satz hören und ihn dem Verhör durch die 10 11

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gehen 13 , halten sich streng an das, was sie für das Zudenkende ansehen. Sie haben im Sinn, nicht der Phantasie und Imagination zu dienen, sondern der Einsicht.

1.2 Die Nähe zum Mythos Die Selbstinszenierung des Ontologen gibt ihn keineswegs unzweideutig als Wissenschaftler zu erkennen. Dafür ist seine »Wissenschaft« zu andersartig, wenn nicht einzigartig. Aber auch schon sein Anspruch, Wahrheit genau nicht Mythos, Mimesis und Peitho anzuvertrauen bzw. darin zu verspielen, ist, wie er sich darstellt, nicht in jedem Falle verständlich. In etwas gewagten Selbstvorführungen kommt es gelegentlich dazu, daß Ontologie in der Aura des Mythischen erscheint. Während sie sich von Mimesis und Peitho deutlich distanziert, schätzt sie es ganz offensichtlich, »vom Mythos zum Logos« für sich selbst so zu interpretieren, nicht jede Nähe zum Mythos meiden zu müssen. Genauer besehen erweist sich diese Nähe freilich zumeist als eine bloß scheinbare, sind die Züge des Mythischen etwas der Ontologie bloß Aufgesetztes. Ontologen, die um Göttliches, Gottheit und Gott »wissen«, sind nicht notwendig Mythologen. Gott als der »ganz Andere« 14 ist als Grenzbegriff ein ontologischer Entwurf: sein Wesen wird gedacht, nicht aber alten Erzählungen entnommen. Das gilt für den »unbewegten Beweger« 15 nicht weniger als für die UnsterbLogik ausliefern. (…) Ein Hindernis dieser Art bleibt auch das Sagen (…) in der Weise eines Vortrags. Er hat nur in Aussagesätzen gesprochen.« 13 Siehe Rainer Marten, Die Bedeutung der Etymologie im Denken Martin Heideggers. 14 Zum Begriff siehe Rainer Marten, Der menschliche Mensch, S. 35. 15 Aristoteles, Metaphysik XII 7 1072a25 ff. Daß er »wie ein Geliebtes« bewegt (ebd. 1072b3), ist ein reiner Gedankenfund. Zur Problematik der Unterscheidung von »bewegt bewegend« und »unbewegt bewegend« siehe schon Platon, Phaidros 245c5–9. Es ist bemerkenswert, daß Heidegger den aristotelischen Gedanken des Göttlichen, den er als den des »Übermächti-

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lichen, die – gedanklich – genau gegen die Sterblichen abgegrenzt sind. Und gibt es von Gott nicht mehr zu sagen, als daß er in seinem »Wesen« unvergleichlich sei 16 , dann spricht daraus nichts »Unvordenkliches«. Das reine Wesens-Interesse des Ontologen zeigt sich. Auch Platon, wenn er mit Dichtern und Mythologen zu konkurrieren scheint, ist zumeist deutlich der Philosoph, der mittels mythologischer Versatzstücke nur der Anschaulichkeit seiner »logischen« Darstellung etwas aufhilft. Den überhimmlischen Ort aber hat noch nie einer von den Dichtern hier besungen, noch wird ihn je einer nach Würden besingen. Er ist aber so beschaffen – denn ich muß es wagen das Wahre zu sagen, zumal da ich von der Wahrheit zu reden habe. 17

»Erzählt« Platon daraufhin, wie die Götter sich am Anblick des Seienden (τὸ ὄν, ἡ οὐσία ὄντως οὖσα) freuen und sich theoretisch am Wahren (θεωροῦσα τἀληθῆ) laben, dann hat das mit genuin Mythischem wirklich nichts zu tun. »Nektar und Ambrosia« können nicht davon ablenken, daß hier der Ontologe bei seinem eigensten Geschäft ist. Platon kann vom Mythos reden, um ein ontologisches Unternehmen gegen ein anderes auszuspielen, das als Logos auftritt. So läßt er im Timaios den sonst ausdrücklich als Logos durchgeführten utopischen Entwurf eines wahren Staates 18 für einen Mythos erklären 19 , die seinsphilosophische »Mathematisierung« der wirklichen Welt dagegen für einen Logos. Der sich an Kosmologie versuchende Seins- und Wesensphilosoph zögert aber wiederum nicht, diesen »wahren Logos« eigens mit einer gen« auslegt, ohne weiteres mit seinem Denken zu vermitteln weiß, nämlich mit seinem Gedanken der »Geworfenheit«. Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, S. 13. 16 Martin Heidegger, Das Ding, S. 177: »Aus dem verborgenen Walten dieser [der Gottheit] erscheint der Gott in sein Wesen, das ihn jedem Vergleich mit dem Anwesenden entzieht.« 17 Platon, Phaidros 247c (Übers. von Friedrich Schleiermacher). 18 Platon, Politeia IX 592a11; vgl. V 472e1; 473a5. 19 Platon, Timaios 26c8.

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Anrufung der Götter zu beginnen und dem Versprechen, ihn am meisten an ihrem Verstand, in zweiter Linie erst am eigenen auszurichten. 20 Ist die Anrufung des Herrn zur Führung des eigenen Geistes bei Augustinus als persönlich gehaltene (etwa bei der Frage nach dem Sein der Zeit) eher Bitten zu Gott vergleichbar, die selber abgesandte Kugel den Anderen nun doch auch wirklich treffen zu lassen, so übernimmt der Philosoph bei Platon aus allgemeinen sachlichen Gründen den Ritus, der zum Umgang mit Göttlichem und Wahrem gehört. Die Staatsutopie dagegen, auf ihre Weise kein geringeres philosophisches Unternehmen als Kosmologie, beginnt nicht mit frommen Bräuchen. Doch Platon hält es mit dem Mythos auch anders, wenn etwa philosophischer Glaube gefragt und dennoch Vernunft nicht aufzugeben ist: Sich dafür stark zu machen, dies alles verhalte sich gerade so, wie ich es auseinandergesetzt habe, ziemt sich nicht für einen vernünftigen Mann. Daß es jedoch, sei es nun diese oder eine ähnliche Bewandtnis haben muß mit unseren Seelen und ihren Wohnungen, wenn doch die Seele offenbar etwas Unsterbliches ist, dies, dünkt mich, zieme sich gar wohl und sei es auch wert, es darauf zu wagen, daß man glaube, es verhalte sich so. Denn es ist ein schönes Wagnis (καλὸς γἀρ ὁ κίνδυνος), und man muß mit solcherlei gleichsam sich selbst besingen und bezaubern (ἐπᾷδειν ἑαυτῷ). Deshalb dehne ich auch schon so lange den Mythos aus. 21

So kann Mythos, recht verstanden, etwas zur Sprache bringen und vor Augen stellen, was den Vernünftigen zutiefst bewegt, was er aber aus sich sprachlich und anschaulich nicht zu bewältigen weiß. Der Ontologe muß demnach gelegentlich etwas zu glauben und mythisch zu »denken« wagen, wobei er es sich zur Vorschrift macht, die darin für die Vernunft liegenden Gefahren richtig einzuschätzen.

20 21

Ebd., 27c. Platon, Phaidon 114d.

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1.3 Ontologie als Gewissen des Denkens Der Ontologe orientiert sein Denken und Sagen »wissenschaftlich« am νοητόν, am geistig Zusehenden und Einzusehenden, das auch als das ἐπιστητόν gelten kann, als das in einem »wahren und wesentlichen« Sinne Zuwissende 22. Das νοητόν bzw. ἐπιστητόν ist somit im Prinzip das erste und letzte Verbindliche für jegliche ontologische Theorie und Praxis, wenn nicht gar Poiesis. Einzusehen in diesem strengen Sinne gibt es ausschließlich etwas für den Ontologen. Als einsehbar gilt ihm nämlich allein das, was ist, es versteht sich: was »wesenhaft« ist und eben nur gedacht werden kann. Zu dem, was der Ontologe noetisch (im νοεῖν) bzw. theoretisch (im θεωρεῖν) erfaßt, gelangt er methodisch. Das für einzigartig wissenschaftlich erklärte Vorgehen der Ontologie besteht darin, eine Frage so zu stellen und zu entwikkeln, daß sie zu einer Antwort führt, die, wenn sie wirklich die sachlich letzte ist, das im Denken Zusehende zur Einsicht freigibt, ohne freilich mit ihrem propositionalen Gehalt diese Einsicht selbst zu sein und so die Praxis des Einsehens vorwegzunehmen. Ontologie repräsentiert kein spezielles Wissensinteresse, sondern das geistige und wesenhafte Wissenwollen als solches. Die ontologische Methode, die über die Frage nach dem geistigen Wesen bzw. nach dem Wesen als Geistigem und über eine entsprechende Antwort im Glücksfall zum νοητόν führt (zur Einsicht des Einzusehenden), gibt sich auf verschiedene Weise als dianoetisch (im Sinne von etwas geistig durchsehen, durchnehmen, durchsprechen und eben durchdenken). Doch sie verliert sich niemals an den Weg. Ihr selbstverständliches und erreichbares Ziel bleibt die Einsicht. »Einblick in das was ist«

22

Siehe Aristoteles, Metaphysik I 2 982a31.

23 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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lautet der Gesamttitel von drei Vorträgen, die Heidegger im Herbst 1949 vor dem Club zu Bremen gehalten hat. 23 Der Seinsdenker gibt zu verstehen, daß ihn das Denken selbst zum Denken motiviert. Er unterscheidet sich so nicht allein von signifikanten Nichtwissenschaftlern wie Priestern, Künstlern und Politikern, sondern auch von den Natur-, Geschichts-, Gesellschafts-, Gottes-, »Geistes«- und Sprachwissenschaftlern. Man kann ihm nicht nachsagen, er habe mit dem Denken ein Hobby zum Beruf gemacht oder befriedige durch es besondere Macht- und Ansehensgelüste. In seinem Wissen- und Einsehenwollen repräsentiert er nicht einmal in Form einer besonderen Neugier das ebenso allgemeine wie natürlich-menschliche Wissensinteresse. 24 Nein. Der Ontologe, sofern er denkt und spricht, verläßt überhaupt nicht das Interesse des Denkens »selbst«. Am Zudenkenden aber interessiert ihn schlechtweg alles: daß und wie und als was und warum es zu denken ist. Das νοητόν ist für ihn nicht zu denken, ohne daß er sich dabei nicht zugleich auf das νοεῖν und die νόησις selbst bezöge. In seiner Distanzierung vom gewöhnlichen Wissenschaftler ist er um Selbstwertschätzung nicht verlegen. Aristoteles schätzt Philosophie als etwas Göttliches ein 25 , Heidegger als eines der wenigen großen Dinge des Menschen. 26 Dabei zeichnet den Seinsphilosophen nicht eigentlich sein Ethos aus. Wissenschaftler haben ganz allgemein als Wissenschaftler eine und nur eine »Moral«: die Wissenschaftlichkeit. Kommt etwa ein Biologe zu der Ansicht, er dürfe hier nicht weiNatürlich wäre Heidegger nicht Heidegger, wenn bei ihm Einblick einfach Einblick wäre. 1959 formuliert er in einem Vortrag: »Wie, wenn das Ereignis – niemand weiß wann und wie – zum Ein-Blick würde, dessen lichtender Blitz in das fährt, was ist und für das Seiende gehalten wird?« (Martin Heidegger, Der Weg zur Sprache, S. 264). 24 Aristoteles, Metaphysik I 1 980a1: Πάντες ἄνθρωποι τοῦ εἰδέναι ὀρέγονται φύσει. 25 Aristoteles, De mundo 1 391a1: θεῖόν τι χρῆμα ἡ φιλοσοφία. Vgl. ders., Metaphysik I 2 982b28–983a11. 26 Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 12. 23

24 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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terforschen, dann mag sich in ihm das Gewissen des Katholiken, des Vorfahren von Kindeskindern oder sonst eines zu Wort melden, aber garantiert nicht das des Wissenschaftlers. Wissenschaftsethos bestimmt allein die Gewissenhaftigkeit des Wissenschaftlers als solchen. Eine »Ethik der Wissenschaften«, die gesellschaftliche und gar göttliche Moral in das Geschäft des Wissenschaftlers bringen möchte, ist und bleibt für ihn notwendig ein sachfremdes und inakzeptables Ansinnen. Auch der Ontologe kennt allein seine »Wissenschaft« als das für sein Denken und »wissenschaftlich« Handeln Verbindliche. Der Anspruch, was wissenschaftlich zu tun ist, ergeht für ihn, wie er sich versteht, vom wesenhaft Zuerkennenden (Einzusehenden) und dem entsprechenden Denken. Er verwaltet damit, wie er sich deutet und gibt, das Gewissen des νοεῖν. Er fragt nicht zuvor nach menschlichen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Interessen, sondern folgt allenfalls göttlichen Interventionen (den Winken des Zeus, dem Orakel zu Delphi, dem Daimonion in sich selbst). In seinem Denken nimmt er schlicht das Interesse des Denkens wahr. Wäre es zugleich das seines für göttlich angesehenen Wesens (wobei es sich freilich, anders als etwa bei den Gesetzgebern, zumeist allein um Selbstsicht handelt), dann würde sich an seiner Einfachheit und Selbstgenügsamkeit nichts ändern. Dennoch führt sich das Gewissen des Ontologen gänzlich anders auf als das des »gewöhnlichen« Wissenschaftlers, nämlich gesellschaftlich. Der Ontologe versteht sein reines theoretisches Interesse zugleich als sein praktisches. Während das wissenschaftliche Ethos bei den Wissenschaftlern allein dafür sorgt, daß sie bei ihren »Leisten« bleiben, führt die Art des Ontologen, rein und genau bei seiner Sache zu sein, ihn überraschend vor das Forum der (noch) gedankenlosen Menschen seines Orts und seiner Zeit. Dies Forum ist allerdings – die Überraschung komplettierend – ein rein geistiges. Die Anderen sind nicht etwa als reale gesellschaftliche und (un-)geistige Größen präsent, sondern allein im Geiste des Ontologen als die durch ihn Beurteil25 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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ten. Sie sind also auf der geistigen Ebene des Wesens bzw. Unwesens gegenwärtig und ansprechbar. Der Ontologe muß, um mit ihnen kritisch zu verkehren, keineswegs sich selbst verlassen. Sein »gesellschaftliches« Engagement verlangt von ihm nicht, aus sich und seinem Denken herauszugehen. Sizilienreisen zu dem Zweck, Tyrannenbewußtsein zu verändern, sind Selbstmißverständnisse des theoretisierenden Philosophen. Sie dienen allenfalls der Einsicht, daß sie besser unterblieben wären. 27

1.4 Die vier Inszenierungen Der Ontologe, praktisch eins mit seiner Theorie, ist verletzlich in allem, was menschliches Denken und Einsehen betrifft. Wie er sich für das Wesen des Menschen verantwortlich sieht und das Gewissen des Denkens wahrnimmt, hat unmittelbare Folgen für sein Auftreten in der »Öffentlichkeit«. Sie besteht als ein Denkentwurf, den er sich und seinesgleichen vorträgt. Entworfen werden die Bedürfnisse des denkenden und wesenhaften Menschen, die bei keinem lebendigen Menschen zu irgendeiner geschichtlichen Zeit gegeben sind und gar zu befriedigen wären. Von keinem individuellen Selbst beauftragt, keiner Gesellschaft, keinem – fremden – Gott, sondern in seinem Denken (und »Handeln«) einfach durch es selbst und sein Zudenkendes motiviert, gibt sich der Seinsphilosoph »öffentlich« des näheren als Aufklärer, Orientierungshelfer, Ordner und Hoffnungsträger. Indem er die reine Geistigkeit und Wesenhaftigkeit selber inszeniert, erhält sein Auftritt die Attitüde des Praktischen und Menschheitsverbindlichen. Ganz an ihm selbst wird die Theorie zur Praxis. Das Publikum, das aus der von ihm gedachten und verklärten Gesellschaft der Denkfähigen und Denkbedürftigen, aber – im Geistigen und Wesenhaften – noch eher Gedanken27

Platon, Siebter Brief 330b–331a; 325d–326b.

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losen besteht, weiß es ihm zu danken. In ihm nämlich antwortet und bedankt er einzig sich selbst. Aufklärung, ontologisch betrieben, bedeutet die Denunziation des geschichtlichen und lebendigen Menschen als des gedanken-, geist-, vernunft- und eben wesenlosen. Damit wird Wesen, das zu keiner lebens- und gesellschaftsgeschichtlichen Zeit realisiert ist, in gedanklicher Umkehrung der Verhältnisse zur »Wahrheit« der menschlichen Wirklichkeit erklärt. Die Aufklärung über wahres Denken des wahrhaft Zudenkenden kann in ihrer geschichtlich-realistisch vermeinten Perspektive nicht anders als chiliastisch und eschatologisch sein. Ihre erhellende Arbeit an falscher Meinung (Platons Sokrates), falschem Bewußtsein (Karl Marx), falscher Wirklichkeit (Theodor W. Adorno) und Gedankenlosigkeit (Martin Heidegger: »Das Bedenklichste in unserer bedenklichen Zeit ist, daß wir noch nicht denken« 28 ) soll dem Menschen zunächst klarmachen, daß er lebens- wie gesellschaftsgeschichtlich stets des falschen Geistes Kind ist und somit jederzeit falsch existiert. So ist die ontologisch geprägte Geistesgeschichte die Geschichte der Selbstinszenierung des Aufklärers, der den Menschen als reines Denk-, Geist- und Vernunftwesen gegen Ungeist und Unvernunft der jeweils lebenspraktischen Zeit und Wirklichkeit ausspielt. Damit spricht aber aus dem Kritischen und Denunzierenden der Aufklärung auch schon immer als positiver Gehalt das Versprechen eines Reiches und Tages des wesenhaften Geistes, des Tages der Vernunft nämlich, an dem ihr – gottgleich – tausend Jahre sein werden wie ein Tag. 29 Auf der Bühne, die die des gedachten Wesens, nicht die der gelebten Wirklichkeit ist, spielt der Aufklärer stets zugleich die Rolle des Hoffnungsträgers. Platon, liebeskundig wie er ist, manifestiert dies selbst noch anläßlich erotischer Aufklärung:

28 29

Martin Heidegger, Was heißt Denken?, S. 3 et alibi. Psalm 90, 4.

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Dieses also mußt du bedenken, o Knabe, und die Freundschaft des Liebhabers kennenlernen, daß sie nicht wohlwollender Natur ist, sondern daß nur nach Art der Speise um der Sättigung willen, gleichwie Wölfe das Lamm, so den Knaben Liebhaber lieben. 30

Das klingt nach Lebensweisheit: alle leibhaften Liebhaber lieben geist- und wesenlos. Doch die ontologische Wahrheit dieser Aufklärung liegt darin, daß diese Liebhaber überhaupt nicht lieben, sondern eigentlich nur gefräßig sind, weil die Wesenssicht über die Klarheit in Sachen leibhafter Liebe hinweg auch schon den philosophischen Eros verspricht: mit schönen Reden in schönen Seelen geistig Schönes zu zeugen. Tadel schlägt in Lob um 31 , Kritik in Hoffnung (promesse du bonheur et de la vraie beauté). Der Mensch, dafür erkannt, des Wesens zu bedürfen, aber im Unwesen zu Hause zu sein, bedarf des Orientierungshelfers. Der stellt ihn auf den rechten Grund und bringt ihn auf die rechte Bahn. Wesensdenker, von Parmenides und Platon bis Kant und Heidegger, beanspruchen Menschenführung, individuelle und gesellschaftliche, da wahres Wesen jederzeit in der Ferne liege und verfehlt werden könne. Der Boden- und Ziellosigkeit wird der Kampf angesagt, der Unverbindlichkeit und Selbstgefälligkeit der Lebensäußerungen. Wenn der Seinsdenker verlangt, »den Boden der eigenen Voraussetzungen und den Raum der eigenen Ziele zum Fragwürdigsten zu machen« (Heidegger), dann zeigt sich einmal mehr die Moral des Wesens: es will gedacht und erreicht sein – so geradewegs, wohlbegründet und gutgezielt wie nur möglich. Platon hat die »Schrittfestigkeit« (βεβαιότης) des Zudenkenden, das ist sein verläßliches, wahres, gleichbleibendes Sein zur ersten und fragenswertesten (»fragwürdigsten«) Voraussetzung des Denkens gemacht 32 , Heidegger die Wesenhaftigkeit des Denkenden, seine Bodenständigkeit und 30 31 32

Phaidros 241c. Siehe ebd., 243c–e. Kratylos 386a; Philebos 59c.

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Verwurzelung in Sprache und Volkstum. Die »geistige Welt« für ein »geistiges Volk« bedeutet ihm »die Macht der tiefsten Bewahrung seiner erd- und bluthaften Kräfte«. 33 Alles, was der Ontologe dem Menschen überhaupt als zu denkendes Wesen und damit stets auch schon als sein eigenes Wesen zudenkt, ist als rein geistig zu Erreichendes von eigener Qualität. Das Wesen nämlich hat, um dem Geist als Ziel und Ortschaft zu dienen, »in Ordnung« zu sein, es versteht sich: im Sinne der Ordnungsprinzipien von Geist und Vernunft. Da darf kein Paradoxon vernunftirritierend auftreten, kein Widerspruch herrschen und reine Vernunft zunichte machen, nichts Obskures und Irrtümliches den Geist in Verlegenheit bringen. Das Wesensdenken setzt im Geistigen gänzlich auf »law and order«. 34 Alles Viele bereits, alles Vielfältige, Bunte, Zerstreute und Unbestimmte (ἀόριστον) gilt diesem Denken als verdächtig, weil darin der Keim des Regel- und Zügellosen, des Ungeprägten und Unbeherrschten, des Unentdeckten und Ungeborgenen, des Ungerechten und Unschönen, mit einem Wort: des Unvernünftigen und Geistlosen – liegt. Noch Heidegger, der Vernunft allein als dem lichtend-wahrenden und in die Acht nehmenden Geist zugetan, denkt das Wesen, wie es (ge-)ring zu sein hat, schmiegsam, fügsam und leicht, einfältig, gering an Zahl 35 , im Sinne leibhaften Lebens sogar leblos. 36 So werden geistige Ordnungen erdacht, hier die geistige Ordnung von wesenhaften Dingen (die Welt »gebärden«) und wesenhafter Welt (die Dinge »gönnt«). 37 Dazu gehört auch der »ordentliche« Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, S. 13–16. 34 Schon Heraklit spricht vielfältig die – dem Geiste – nötige einheitsschaffende Ordnung und Gesetzlichkeit für alle existierenden Wesen an, ob sie der Polis zugehören oder dem All. Siehe die Fragmente Β 2; 11; 30; 33; 41; 50; 53; 64; 94; 114. 35 Martin Heidegger, Das Ding, S. 179–181. 36 Ebd., S. 181: Lebewesen sind als solche massenhaft und damit außerhalb der Fuge des Geistigen und Wesenhaften. 37 Ders., Die Sprache, S. 22–24. 33

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Mensch. Wie er als Menschenwesen 38 gedacht ist, wird ihm das »Zuvorkommen in der Zurückhaltung« 39 empfohlen, das Hören und Lassen (zum Beispiel Sprechen als »Vorliegenlassen«), das Opfer und der Verzicht. Jedes Aufbegehren und Herrschen lebendiger »Subjektivität« ist weggedacht. Genau das kommt dem Menschen als (Geist-)Wesen zupaß. Alles ist jetzt für ihn und mit ihm geistig im Lot, im Ausgleich, in Ständigkeit, in Ruhe (und sei es in der bewegten Ruhe des gelassenen Spiegelspiels von Heideggers Weltgeviert), mit einem Wort: im Selben. Selbigkeit zeigt sich im Denken von Platon bis Heidegger 40 als die ursprüngliche und grundlegende Ordnung des Geistes. Mag nämlich diese Ordnung als Ordnung auch an der Effizienz ermessen werden, mit der sie den Geist des Menschen lenkt und »befördert« (wie Kant sich ausdrückt), so ist doch die Wesensbewahrung in aller Ontologie das vornehmlichste Ziel. Wesen selbst als Selbigkeit ist aber der vollkommene Ausdruck der Wesensbewahrung. Der Ontologe, wie er als Aufklärer, Orientierungshelfer und Ordner agiert, stellt, was lebens- und gesellschaftsgeschichtliche Wesenszukunft anbelangt, den Hoffnungsträger dar. Ontologisches Denken repräsentiert in sich den Geist der Hoffnung, sein Zudenkendes den Geist des Hoffnungsvollen. Des näheren führt sich dabei dieses Denken in seinem glückenden Verhältnis zum Zudenkenden als geistige Überwindung von Gleichgültigkeit und Resignation auf, von Verunsicherung und Zweifelhaftigkeit, Aussichts- und Zukunftslosigkeit, Wert- und Sinnlosigkeit. Hoffnung, wie Ontologen sie haben und machen, besteht nicht in der lebensteiligen Gegenwart für die Zukunft – im

Zum Sprachgebrauch siehe Martin Heidegger, ebd., S. 30; Über den Humanismus, S. 38. 39 Ders., Die Sprache, S. 32. 40 Selbst noch Habermas’ Idee von »vernünftiger Identität« folgt ältester ontologischer Tradition. 38

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Offenstehen neuer gemeinsamer Lebensmöglichkeiten. 41 Dem Wesen, das in sich vernünftig und sinnvoll (und demnach Selbstzweck) ist, wird vom Ontologen eine wesenhafte und geistige, aber keine zeitliche und lebenspraktische Zukunft zugedacht. Sein »Noch-Nicht« versteht sich nicht aus einer realen Geschichtsdimension, sondern aus einer utopisch-geistigen. Die Hoffnung des Ontologen basiert allein auf dem Versprechen, das sich der Geist selber gibt, mag er auch, wie bei Ernst Bloch, von »konkreten« Hoffnungsspuren reden. Das utopische Versprechen muß um die Erfüllung seiner utopischen Hoffnung nie besorgt sein. Wesen als gedachte Wesensselbigkeit ist, solange utopischer Geist lebt, unmöglich in Gefahr. Wenn Martin Heidegger in seiner Heimatstadt Meßkirch als Siebzigjähriger erklärt: Es kann noch kein Untergang des Menschen auf dieser Erde sein, weil die ursprüngliche und anfängliche Fülle seines Wollens und Könnens ihm noch aufbehalten und gespart ist 42 ,

dann spricht aus dieser »Vermutung« keine willkürliche Selbstanmaßung von Prophetie, sondern das vollendete Selbstverständnis des Seinsphilosophen: Geist und Wesen sind in sich künftig. Wesensvollendung ist utopisch-eschatologisch garantiert – im Geiste. Seins- und Wesensvermutungen haben in kei-

Zur Konzeption von Lebenshoffnung, die sich keiner Utopie und Ideologie verdankt, siehe Rainer Marten, Der menschliche Mensch, S. 131. 42 Martin Heidegger. 26. September 1959, S. 33 f. Dagegen schreibt der Achtzigjährige: »Es gibt auch den Menschheitstod; es ist auch nicht zu begründen, weshalb das, was jetzt den Planeten bevölkert und auf jede nur mögliche Weise zerstört, ins Endlose weiterexistieren soll.« (Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, S. 360). Das ist nicht nur resignativ, wie Thomä, dem ich die Stelle verdanke, schreibt (Dieter Thomä, Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, S. 846 Anm. 85), sondern auch Überheblichkeit und Verachtung von der Art »Das deutsche Volk ist meiner nicht wert gewesen«. Wenn schon nicht wesentlich, dann besser gar nicht existieren. »Mensch« heißt jetzt nur noch »was bevölkert«. Population ist als solche Masse und diese als solche unwesentlich, ja Unwesen. 41

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nem Fall Wahrscheinliches im Sinn. Äußert derselbe Philosoph zur selben Sache später: Nur noch ein Gott kann uns retten 43 ,

dann ist dies Wort genau vom selben Geist, denn es gehört für den Philosophen des Ereignisses des Weltgevierts und den Ausleger Hölderlins unverbrüchlich zur geistig garantierten Wesensvollendung.

1.5 Die eine Inszenierung Der Ontologe zielt als solcher programmatisch auf das, was den Nihilismus überwindet und (dann) auf Dauer ausschließt. In seinen Auftritten als Aufklärer, Orientierungshelfer, Ordner und Hoffnungsträger ist darum im Grunde eine einzige Inszenierung zu sehen: die des Antinihilisten. Alles Zudenkende und Wesenhafte hat für den Seinsdenker Würde und Wert (»Größe« usw.). Was für ihn zählt, sind nicht in Natur, Geschichte und Gesellschaft zu verifizierende Tatsachen, sondern durch den Geist und für den Geist »wahrgemachte« Wesens- und Wertsachen. Er kennt ihrer vorzüglich drei: das vollkommene Allwesen (Welt, Gott), das vollkommene Gemeinwesen (Staat, Volk) und das vollkommene Menschenwesen (Seele, Geist). Alle diese Wesen werden vom Geist nicht nur als etwas Geistiges (vom Geist Erfaßbares) entworfen bzw. genommen, sondern je selbst als Geist erkannt und bejaht. 44 Der Gott, der das Wesen der Welt garantiert (ihre Vernünftigkeit und Schönheit), ist gedachter Gott und zugleich Geistwesen. Er übt Vernunft und ist Vernunft. 45 Entsprechend ist der wesenhafte Staat gedachter SPIEGEL-Gespräch, S. 209 Sp. 2. Siehe schon Platons Entwurf des schlechthin Seienden (παντελῶς ὄν) im Sophistes 249a. 45 Siehe u. a. Platon, Phaidros 247b6 ff.; Timaios 29d7 ff.; Aristoteles, Metaphysik XII 7 1072b18–30; 9 1074b33 – 1075a10; vgl. ders., Nikomachische 43 44

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Staat und Vernunftstaat (Vernunftregiment), das wesenhafte Volk das geistig entworfene »geistige Volk«. Der wesenhafte Mensch schließlich wird vom Ontologen als reines Denkwesen angesehen: ihn regieren Denken, Denkseele, Geist, Vernunft, besser und genauer noch: er ist Vernunft, ist Geistwesen. Sein bester Teil wird für das Ganze seines wahren Wesens erkannt. 46 Gemäß der Dreiheit der vollkommenen Wesen hat sich der ontologische Antinihilismus des näheren herausgebildet als wissenschaftlicher, politischer und pädagogischer. Die Nihilisten, die im Visier des Seinsphilosophen stehen, sind die weltverstellenden und gottleugnenden Wissenschaftler, die nicht denken 47 , die staats- und volksgefährdenden Politiker, die keine Philosophen sind, die seelen- und jugendverführenden Dichter, die nicht »konstruktiv« sind. 48 Parmenides hat die ontologische Urtautologie gesetzt: das Seiende ist: nur Seiendes kann sein: daß es ist, kann nur vom Seienden gesagt und gedacht werden. 49 Das Nichtsein, das PlaEthik I 4 1096a24 f. Bereits Xenophanes denkt Gott als Geist (siehe die Fragmente Β 24 und 25). 46 Heidegger verwendet viel Mühe darauf, den Menschen nicht als vernünftiges Lebewesen zu denken, zögert aber keineswegs, das Denken ausdrücklich als Wesensbestimmung des Menschen festzuhalten (Was heißt Denken?, S. 153). Wie Karl Marx in seinem Vernunftentwurf nicht einfach an Vernunft, sondern an vernünftige Vernunft denkt, so Heidegger in seinem Denkentwurf wie selbstverständlich an denkendes Denken (nachdenkliches, andenkendes). 47 Platon, Politeia VI 511c4–d2. Martin Heidegger, Was heißt Denken?, S. 4: »daß die Wissenschaft ihrerseits nicht denkt und nicht denken kann und zwar zu ihrem Glück (…).« Vgl. ebd., S. 91 ff.; 154. 48 Für Platon ist es ein Dichter wie Homer, der mit seinen lachenden und ehebrechenden Göttern destabilisierend auf das zarte Wahrheitsverhältnis der Jugend wirkt, für Heidegger ein Günter Grass, der für ihn sein Wort aus dem SPIEGEL-Gespräch belegt (S. 209 Sp. 1): »Die heutige Literatur (…) ist weitgehend destruktiv.« Dazu Rainer Marten, Heideggers Geist, S. 93. Siehe bereits Heraklit, Fragmente B 40; 42; 56; 57; vgl. A 23. 49 Parmenides, Fragment Β 2,3: »(…) daß es ist und es unmöglich ist, daß es nicht ist«; Β 3: »denn dasselbe ist zu denken und kann sein«; Β 6,1: »nötig ist zu sagen und zu denken, daß Seiendes ist. Es kann nämlich sein.«

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ton im Sophistes mit großer Anstrengung gegen Parmenides als gedankliche und sprachliche Möglichkeit durchsetzt, ist, wie Aristoteles erkennt, ohne philosophische Relevanz 50 , da es seine Wahrheit im urteilenden Denken, nicht aber im sachlichen Sein hat. Ontologische Wesenswahrheit unterscheidet sich als Wahrheit von tatsachenbezogener Urteilswahrheit. 51 Negative Prädikation (von etwas sagen, daß es etwas nicht ist) ist eine Urteilsform, in der etwas von etwas getrennt wird (διαίρεσις). 52 Das ontologisch Wahre aber ist für Aristoteles etwas Einfaches: ungetrenntes aber auch unverbundenes Sein. 53 Alles Nichtsein dagegen, nicht nur das empirisch zu überprüfende, sondern auch das allein gedanklich zu erfassende (»die Zahl Drei ist nicht gerade«, »das Gerechte selbst ist nicht das Schöne selbst«), ist Nichteinfaches und hat als »tatsächliches« seine Wahrheit im Denken und Urteilen (Auseinandernehmen, Trennen), nicht aber »an sich«. Selbst Heidegger hat mit seinem vielberufenen Nichts einzig dem Sein eine seinsphilosophische Chance gegeben, indem er es dazu benützt, vom Sein »selbst« alles abzuhalten, was dieses nicht rein als Sein (und als nichts sonst) zu verstehen gäbe. So läßt sich kein »nicht«, »ist nicht« und »Nichts« in der Ontologie nachweisen, das ihren grundlegenden und durchgängigen Antinihilismus aufkündigte. Gegen den unphilosophischen Wissenschaftler und Sophisten führt der Philosoph und Dialektiker Platon im letzten den »Grund von allem« an: das Gute selbst, das alle Vernunft begründet und eben jedem Vernunftgrund den letzten unfehlbaren – vernünftigen! – Halt gibt. 54 In allen Wesen (οὐσίαι.) ist für ihn dieser erste und letzte Grund präsent. Gegen den Metaphysik VI 4 1027b29–1028a3. Ebd., VIII 10 1051b2 – 31; vgl. VI 4 1027b27 f. 52 Ebd., VI 4; VIII 10. 53 Zum Verständnis der ἀσύνθετα und der μὴ συνθεταὶ οὐσίαι in Aristoteles, Metaphysik VIII 10 1051b17–30, siehe Klaus Oehler, Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken bei Platon und Aristoteles. 54 Platon, Politeia VI 511b7; VII 517c1; 518d1; 534b8–c5. 50 51

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wissenschaftlichen Nihilisten, der von Wesen und Sein, von verbindlicher Vernunft und Verbindlichkeit der Sache (πρᾶγμα) nichts hält und auch nicht an die Götter glaubt (daß sie existieren und sich um die Menschen kümmern) 55 , setzt er als erste grundgebende ontologische Tatsache das Sein des Zudenkenden voraus 56, setzt er voll auf Vernunft als Seins- und Wesensvermögen, das heißt auf die Vernunft der seinsdenkenden Seele und des Seins selbst 57 , auf die Beständigkeit und Verbindlichkeit eines jeden Wesens 58 und auf die Götter. Zum – ontologisch bedeutsamen – Glauben (πίστις) an letztere führen nach Platon zwei Dinge: die Seele, sofern sie als das Älteste (ontologisch, nicht entwicklungsgeschichtlich) und Göttlichste, und die Bewegung der Sterne, sofern sie als vernünftig erkannt wird. 59 Das ist eine »Beweisführung« aus dem Innersten und Äußersten, wissenschaftlich gleicherweise Ungreifbaren. Dem Nihilisten bleibt damit überhaupt keine vernünftige Legitimation, kein einziges – dialektisches – λόγον διδόναι (rationem reddere). Ihm reicht es ja auch, mit seinem »Wissen« der Jugend das Geld abzunehmen. 60 Am Himmel wieder genügen ihm unbelebte Steine. 61 Er braucht für sein Wissen, wie er es als Wissen versteht, und offenbar auch für sein Gemüt keine vernünftige Lebendigkeit des Kosmos: keine »in den Sternen

Der gottleugnende Sophist (Platon, Nomoi X) gleicht dem Toren von Psalm 14 und von Anselms Proslogion. 56 Phaidon 100b5. 57 Dieser Sachverhalt ist allein schon durch den Gedanken eines »vollkommenen Seienden« angezeigt, das »vollkommen erkennbar« ist. Platon, Politeia V 477a. Zur »Verwandtschaft« von Denkseele und Zudenkendem siehe Platon, Phaidon 79d. 58 Kratylos 386a4; vgl. Theätet 186a2–d4. 59 Nomoi XII 966d–e. 60 Platon, Sophistes 223b. 61 Demokrit, Fragment Α 85 (Hermann Diels / Walter Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, II, 105, 5), Α 40 (ebd., II, 94, 40); vgl. Anaxagoras, Fragment Α 12; 42; 71; 79 (ebd., II,9,33; 16,17; 23,23; 25,1). 55

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aufgewiesene Vernunft des Seienden« und überhaupt keine »alles am Himmel Befindliche« ordnende Vernunft. 62 Daß die Wissenschaft zwar will, was sie macht, und weiß, was sie macht, aber in ihrem ganzen Gehabe und Effekt für den philosophisch-wesenhaften Menschen nicht paßt und taugt, ist auch noch Heidegger geläufig: Man sagt, das Wissen der Wissenschaft sei zwingend. Gewiß. Doch worin besteht ihr Zwingendes? Für unseren Fall in dem Zwang, den mit Wein gefüllten Krug preiszugeben und an seine Stelle einen Hohlraum zu setzen, in dem sich Flüssigkeit ausbreitet. Die Wissenschaft macht das Krug-Ding zu etwas Nichtigem, insofern sie Dinge als das maßgebende Wirkliche nicht zuläßt. 63

Die Wissenschaften sind in den Augen der Ontologen nicht nur seins- und wirklichkeitsblind, sondern machen das Wesen geradezu zunichte: sie sind echt nihilistisch. Wissenschaften, die nicht propädeutisch in den Weg zur Philosophie eingespannt sind, verstehen sich nach Platon auf Wert und Wahrheit des Seins nur grundverkehrt. 64 In dieser Tradition steht Heidegger, wenn er Wissenschaften, wie sie dem vorstellenden Denken folgen, im Dienste des »Ge-stells« (der in der »Seinsgeschichte« gültige Name für das »Wesen« der Technik) und damit der Verwüstung der dem Menschen als Wesensaufenthalt anvertrauten Erde sieht. 65 Dagegen Platon, Nomoi XII 967b–e. Martin Heidegger, Das Ding, S. 168. 64 Beispielhaft ist dafür die Kritik von Platons Sokrates an Anaxagoras, Phaidon 97b ff. 65 Heidegger freilich muß sich zugleich auch noch gegen Platon absetzen, weil dieser mit εἰδος/ἰδέα dem berechnenden Denken den Grund gelegt habe, die Welt nurmehr als Bild zu sehen und die Dinge als Hergestelltes (Martin Heidegger, unter anderem Das Ding, S. 166). Daß und wie Platon der in Gebrauch nehmenden »Techne« vor der herstellenden den Vorzug gibt (Politeia X 601d ff.; vgl. Kratylos 390 b 1), mit welchem Grund er zudem in der Idee des Schönen das Schönsein des Schönen selbst sieht (und kein »Bild« der Welt), ist Heidegger nicht geläufig. Seine Probleme mit Platons Konzeption der Idee (und mit seiner Dialektik) verdecken, daß er 62 63

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Was traditionelle Ontologen von Wissenschaftlern alter und neuer Zeit durchgängig und maßgeblich trennt, ist die unterschiedliche sachliche Perspektive und Orientierung. Die Ontologen sehen auf das – geistig zu erfassende – Wesen, die Wissenschaftler auf die – empirisch zugängliche – Wirklichkeit. Sie differieren dabei am stärksten in der Grund- und Ursachenlehre. Ontologie hat es je mit Wesen zu tun, das gründender Grund (αἰτία) für Wesenhaftigkeit ist, nicht mit in Kausalität verspannter Wirklichkeit. Ihr »ursprüngliches« Denken hat dabei zugleich den einen ersten Wesensgrund (ἀρχή) im Blick: die grundlegende Einheit alles Zudenkenden und aller Wesenseinsicht. Die Idee der sich unversehens ereignenden Einsicht (nach langem Zusammensein mit der Sache), die einem Licht gleicht, das ein Feuerfunke in der Denkseele entzündet 66 , und die Idee des seinsgeschichtlich-eschatologischen Ereignisses, das unversehens zum »Ein-Blick« wird, »dessen lichtender Blitz in das fährt, was ist und für das Seiende gehalten wird« (nach langer Seinsnacht) 67 , haben mehr gemein, als ein Philosophiehistoriker sich eingestehen möchte, der auf Positionsunterschiede, Abhängigkeiten und Unvergleichbarkeiten eingeschworen ist. Die seinsphilosophische Art, Wissenschaften bei der wahrhaft geistigen Entdeckung der Welt jedes Mitspracherecht zu versagen, beruft sich zuletzt stets auf Gott. Für den Ontologen gibt es nichts Schöneres, Erhabeneres und für Wesensgründung Effizienteres als eine rein geistige Theologie. Für Platon ist das die – zügig erdachte – Lehre, die rein aus Vernunftgründen weiß, wie es sich mit Gott verhält, wie er nämlich als »wirklich gut« dargestellt werden muß:

mehr Platoniker ist, als er selbst wahrhaben möchte. Auf den ersten Blick herrscht in seinem Seinsdenken stets der Einfluß der aristotelischen Dingontologie vor. 66 Platon, Siebter Brief 341c–d. 67 Martin Heidegger, Der Weg zur Sprache, S. 264.

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er ist, ist gut, ist einer und einfach (ἁπλοῦς), ist in jeder Hinsicht vollkommen. 68

Der seinsphilosophische Gott von Parmenides bis Heidegger ist kein eifernder und zürnender, lachender, lügender und vergewaltigender, kein neuer und dreifaltiger, kein um den Nächsten besorgter und vergebender. Welthafte Züge zeigt er allenfalls insofern, als er den Menschen Zeichen (»Winke«) gibt (Heraklit, Heidegger), sie ins Lichte und Hohe zieht (die Heliaden des Parmenides), von ihnen geistige und das heißt wesenhafte Opfer verlangt (Heideggers Weinkrug, der ausschließlich »Spenden« an die Götter und ja nicht menschlicher Geselligkeit dient). Auch in den rein geistig beurteilten bzw. entworfenen politischen Verhältnissen spielt der antinihilistische Ontologe – geistiges – Wesen gegen – empirische – Wirklichkeit aus. Nihilisten im Politischen sind ihm alle, die an der Herrschaft und im Recht sind, ohne dazu geistig legitimiert zu sein. Platons Thrasymachos 69 kennt nur das Recht des Stärkeren: das politisch Faktische und Erfolgsdefinite, das jede vernünftige Frage nach gerechtem Recht und legitimer Verantwortung des Allgemeinen ausschließt. Aristoteles, der mit dem Menschen als sprachfähigem und politischem Lebewesen nicht Wirklichkeit beschreibt, sondern Wesen bestimmt, spricht dem Menschen mit Sprachfähigkeit eben nicht die Führung von Wettergesprächen zu, die Abgabe von Liebeserklärungen, die Aufgabe von Kaufbestellungen und überhaupt Mitteilung. Was für ihn bei dieser Wesensbestimmung einzig und allein zählt, ist, daß der Mensch Sprache verwende, um über Gut und Schlecht, Gerecht und Ungerecht zu verhandeln. 70 Dieser Wesenssicht, in der der Keim zur schlech68 69 70

Platon, Politeia II 379a–381b. Politeia I. Politik I 1,9 1253a10–18; vgl. Platon, Phaidros 263a.

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ten Utopie steckt, folgt auch noch ein Vernunftmoralist wie Jürgen Habermas. 71 Mit lebendiger Wirklichkeit hat dies in keinem der Fälle etwas zu tun. 72 Als vollkommener Ausdruck »politischer« Vernunftrhetorik ist das für moralisch groß erachtete Gerechtigkeitswort (λόγος τῆς δικαιοσύνης) von Platons Sokrates zu lesen, das an und für sich (αὐτὸ καθ’ αὑτό) gepriesen gehöre – aus Vernunftgründen, versteht sich: Unrecht zu leiden ist besser als Unrecht zu tun. 73

So spricht der Antinihilist, der im Politischen der Moralist ist. Doch die vermeintliche Rettung der Vernunft übersieht in ihrem Rigorismus gern, was sie, lebenspraktisch geurteilt, an Schlechtem und Unmenschlichem heraufbeschwörte, sollte die Utopie rein »vernünftiger« politischer Verhältnisse doch einmal unversehens, nur leicht verunreinigt, zu erleidende Wirklichkeit werden. Ein Sokrates, der »freiwillig« den Schierlingsbecher trinkt, handelt nicht allein der philosophischen Vernunft, sondern – de facto – auch dem athenischen Gewaltregime zuliebe. 74 In seinem pädagogischen Antinihilismus schließlich sucht der Ontologe dem jungen Menschen, den er auf dem Weg zur Wesenswahrheit sieht 75 , die Wesenswelt zu retten – und sei es auf Kosten faktischer und dichterischer Wahrheit. Für Platon ist der pädagogische Nihilismus nicht zuletzt sophistisch-dichterisch präsent. Dem Epos von den Göttern fehle jede vernünftige Legitimation, und dies vor allem dann, wenn die Dichter nicht

Siehe Rainer Marten, Der menschliche Mensch, S. 96 ff. Unter dem Titel »Zum Problem einer κοινὴ εἰρήνη des Verstehens« hat der Verf. schon in der 1971 erschienenen Arbeit Existieren, Wahrsein und Verstehen. Untersuchungen zur ontologischen Basis sprachlicher Verständigung, den Sinn dieser Vernunftutopie in Frage gestellt. Zu Habermas siehe dort Anm. 208 S. 363 und S. 364. 73 Platon, Politeia II 358c8–d2. 74 Siehe Rainer Marten, Der menschliche Mensch, S. 90 f. 75 Platon, Sophistes 234 c: τοὺς νέους καὶ ἔτι πόρρω τῶν πραγμάτων τῆς ἀληθείας ἀφεστῶτας. 71 72

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eigentlich selber reden, sondern vielmehr aus ihnen die Götter. 76 Der poetische Nihilist von Homer bis Günter Grass ist, ontologisch gesehen, der irrtümlichen Meinung, den Menschen sei nichts Menschliches vorzuenthalten, keine menschliche Wirklichkeit, nichts von dem, was Menschen vor Menschen aufführen und was Menschen (selbst in Gestalt von Göttern) Menschen wirklich antun. Die ganz andere Meinung des Ontologen entdeckt sich bei Platon in »schönen Reden«: Es gibt Götter und sie kümmern sich ernsthaft um das Wohl der Menschen (Nomoi X), es gibt geistig Verbindliches (Phaidon, Kratylos, Theätet), alles ist gut (sc. alles Seiende, Wahrhafte und Wesenhafte) (Politeia VI; VII), die schöne Seele ist bei weitem schöner als der schöne Leib (Charmides), die wahre Liebe und die wahre Lust ist die geistige (Phaidros, Philebos), Sein ist mehr wert als Schein (Hippias I).

Das alles möchten pädagogische Wesenswahrheiten sein, die es gelassen auf sich nehmen, gegebenenfalls auch als – pädagogische – Lügen gelesen zu werden. Das ontologisch entworfene Wesen ist als solches nicht nur ein seinsmächtiges und in der ihm eigenen Öffentlichkeit herrschendes, sondern auch ein (wesens-)gutes – zumal wie es sich dem jungen Menschen präsentiert. Die in sich einige Ausrichtung des ontologischen Antinihilismus auf drei öffentliche Herausforderungen, wie sie Platons Philosophieren deutlich zu erkennen gibt, läßt sich – in erstaunlich weitgehender Entsprechung – auch bei Heidegger belegen. Die antinihilistische Frontstellung, die den Wissenschaften den Kampf ansagt und neu bestimmt, was Wissenschaft zu sein hat, zielt im Seinsdenken Heideggers auf die »bürgerliche Wis76 Gerade Platons Ion ist, entgegen der üblichen Lesart (so auch Martin Heidegger, Aus einem Gespräch von der Sprache, S. 122), als Dichterkritik zu lesen.

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senschaft«, das meint auf die liberale, positivistische, relativistische, der Technik zuarbeitende. In der Vorlesung des Sommersemesters 1935 führt der Philosoph dazu aus: An der Wissenschaft, die uns hier an der Universität besonders angeht, läßt sich der Zustand der letzten Jahrzehnte, der heute trotz mancher Säuberung [!] unverändert ist, leicht sehen. Wenn jetzt zwei scheinbar verschiedene Auffassungen der Wissenschaft sich scheinbar bekämpfen, Wissenschaft als technisch-praktisches Berufswissen und Wissenschaft als Kulturwert an sich, dann bewegen sich beide in der gleichen Verfallsbahn einer Mißdeutung und Entmachtung des Geistes. 77

Wissenschaft hat für Heidegger ausschließlich Geist und Wesen 78 zu dienen, nicht aber zivilisatorischem Fortschritt und bürgerlichem Selbstbewußtsein. Schon 1933 äußert er vor der ganzen Universität: Wollen wir das Wesen der Wissenschaft im Sinne des fragenden, ungedeckten Standhaltens inmitten der Ungewißheit des Seienden im Ganzen, dann schafft dieser Wesenswille unserem Volke seine (…) wahrhaft geistige Welt. 79

Die »völkische Wissenschaft«, die Heidegger so entwirft, hat nicht die menschliche Lebenswelt und Lebensreproduktion im Sinn (von universeller Neugier ganz zu schweigen), sondern ist um die geistige Welt des wahren Wesens besorgt. Die Lebensfremdheit dieses Entwurfs ist nicht weiter verwunderlich, wenn es doch allein um eine Bestimmung des – geistigen – Wesens der Wissenschaft geht, und eine realistische Auseinandersetzung mit dem Faktum Wissenschaft überhaupt nicht in Betracht kommt. Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 36. Wie Heidegger das Verhältnis von Geist und Wesen versteht, hat er schon in seiner Rektoratsrede deutlich zu machen versucht: »sondern Geist ist ursprünglich gestimmte, wissende Entschlossenheit zum Wesen des Seins.« Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, S. 13. 79 Ebd. 77 78

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Dem wissenschaftlichen Antinihilismus folgt der politische. Auch hier ist die Frontstellung eine antibürgerliche und doch rein geistige. So zieht Heidegger »politisch« gegen das Unmaß »des Massenhaften des Menschen als eines Lebewesens« 80 zu Feld, das in seinen Augen den Menschen der wissenschaftlichtechnischen Welt spiegelt, der, boden- und gedankenlos, weil ohne Herkunft, Geist, Verantwortung und Wesen, nichts als die Sicherung seines Bestandes betreibt. Das Seinsdenken räumt somit wahre Politik als Geistiges nur dem Geiste ein. Diese Ortsbestimmung des Politischen läßt dann den Seinsdenker das Kunststück fertigbringen, den wahren Geist einer Politik (ihre reine Ideologie) zu bejahen, solange er bloß Geist ist, ihn aber zu verneinen, sobald er sich real umsetzt. 81 Platon und Heidegger zeigen einen vergleichbaren Irrealismus, wenn sie sich vom Realpolitischen abwenden und nurmehr darauf setzen, auf rigorose Art ihren Antinihilismus in entrückter Geistigkeit in Szene zu setzen. Platon will, während er weiterhin der besseren Staatsverfassung nachdenkt, auf günstigere Zeiten (καιροί) zum Handeln warten, resigniert aber und erkennt, daß es allein auf die rechte Philosophie (ὀρθὴ φιλοσοφία) ankommt. Er geht geistig aufs Ganze: entweder sollen »rechte und wahre Philosophen« regieren, oder ein göttliches Geschick nachhelfen, auf daß gar die Herrschenden selbst wesenhaft zu philosophieren begännen. Erinnert er im Zuge dieses Berichts, daß alle derzeitigen Staaten insgesamt schlecht regiert seien, zeigt ihn sein Geistengagement völlig der Frage enthoben, ob denn überhaupt die menschliche Perspektive stimmt. Machen nämlich alle Menschen alles falsch, dann läßt sich das doch nur feststellen, wenn man sich selbst bereits aus der menschlichen Geschichte verabschiedet hat. 82 Auch Heidegger erinnert Das Ding, S. 181. Siehe Rainer Marten, Heideggers Geist, S. 188. Zur Inversion politischer Utopie (der gedachte Staat ist »topisch«, der wirkliche utopisch, weil ohne »τόπος des Wesens«) siehe Martin Heidegger, Parmenides, S. 141. 82 Platon, Siebter Brief 325e–326a; vgl. Politeia IX 592b. Man erinnere die 80 81

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sich seiner resignativen Haltung zur Öffentlichkeit im Verein mit der Aufwertung philosophischer Wesentlichkeit und Bedeutsamkeit: Seit April 1934 lebte ich außerhalb der Universität insofern, als mich um die »Vorgänge« nicht mehr kümmerte, sondern nur Nötigste der Lehrverpflichtung (…) zu erfüllen suchte. Aber auch Lehren war in den folgenden Jahren mehr ein Selbstgespräch wesentlichen [!] Denkens mit sich selbst. 83

ich das das des

Das Selbstgespräch, das Heideggers Geist da mit sich selbst führt, hat die Konsequenz, daß er zum Ende, genau wie Platon, allein noch auf die echten Philosophen baut oder auf göttliches Geschick hofft, wenn sich doch noch einmal alles zum Guten wenden soll. 84 Gibt er zwischendurch »politische« Hinweise, dann etwa die, daß die Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg noch gar nicht die eigentliche sei: (…) die eigentliche Not des Wohnens besteht nicht erst in dem Fehlen von Wohnungen. (…) die eigentliche Not des Wohnens beruht darin, daß die Sterblichen das Wesen [!] des Wohnens immer erst wieder suchen (…). 85

Es ist bei Heidegger wie bei Platon: der denkende Geist, politisch engagiert, wie er ist, führt ein Selbstgespräch: für sich selbst und zu sich selbst – eben selber mit sich selbst. In seiner Reinheit ist es, aus der Geschichte der Denkenden gesehen, die »aufgehobene« Erinnerung der politischen Resignation. Anders als Platon hat Heidegger den seinsphilosophischen Antinihilismus nicht ausdrücklich als pädagogischen betrieben. »negative Dialektik« Theodor W. Adornos: die vernünftige Gesellschaft ist nur durch die Geschichte, nicht jedoch durch die Vernunft widerlegt. 83 Aus Aufzeichnungen, die zur Rechtfertigung seines Engagements von 1933 angeblich 1945 gemacht und von Hermann Heidegger 1983 herausgegeben worden sind. Martin Heidegger, Das Rektorat 1933/34. Tatsachen und Gedanken, S. 38. 84 Siehe SPIEGELGespräch, S. 209 Sp. 2. 85 Martin Heidegger, Bauen Wohnen Denken, S. 162.

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Seine Bemühungen um Aufhebung der angeblich das Wesen des Menschen verkehrenden Subjekt-Objekt-Beziehung lassen aber doch erkennen, daß sie vornehmlich auf die noch Offenen und Unverbildeten zielen, die nicht schon vom Lehr-, Produktionsund Kulturbetrieb vereinnahmt sind, mit einem Wort: auf junge Menschen. Die Orientierung an Vorhandenheit und Faktizität, Folgerichtigkeit und Berechenbarkeit soll aufgegeben werden zugunsten der Ausrichtung am Wesen: alles sei in sein Wesen zu führen und zu geleiten, als Wesen offenbar zu machen und zu gestalten, in seinem Wesen zu wahren und zu hüten. Damit ist der Leichtlebigkeit und Zerstreuung der Kampf angesagt, dem Opportunismus und der Akzeptanz. Heideggers Abscheu vor einer Betonung des Körperlichen, sein Plädoyer für Verzicht und Opfer, seine Anweisung zum Fragen, Hören und Ent-sprechen, zu Gelassenheit und Wesensfrömmigkeit – all das versteht sich genau aus dieser Wesenssicht und diesem Wesenswillen. In seiner Frontstellung gegen den jugendgefährdenden Ungeist der Zeit spielt Heidegger die fromme vaterländische Dichtung Hölderlins, wie er sie liest, gegen das freizügige »bloße Weltbürgertum Goethes« aus 86, die konstruktive Literatur eines Adalbert Stifter, Knut Hamsun 87 , Friedrich Georg Jünger, die er persönlich empfiehlt, gegen die destruktive eines Günter Grass. 88 Das ist – gut platonisch – Dichterkritik zugunsten der Jugend: nur auf die heile menschliche Gesittung als Wahrheit dürfe Martin Heidegger, Über den Humanismus, S. 26 f. Nur ein Beispiel, wie bei diesem Dichter die faszinierende Auffassung des Menschen zwei Gesichtet hat, aus Knut Hamsun, Der Segen der Erde. S. 265: »Die Lappen kommen jetzt nicht mehr vorbei und spielen sich als Herren in der Ansiedlung auf (…) Die Lappen kommen überhaupt nicht mehr oft vorbei, sie machen lieber einen großen Bogen um den Hof herum (…) Die Lappen treiben sich in der Einöde herum; wenn sie in Licht und Luft gebracht werden, gehen sie ein, wie Maden und Ungeziefer.« Vgl. ebd., S. 7 die Reihung »der Mann«, »der Mensch«, »das eine oder andere Tier«, »der oder jener Lappe«. 88 Siehe oben S. 33 Anm. 48. 86 87

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Dichtung zeigen, auf heile Heimat und echte geschichtliche Verwurzelung, weil nur daraus »alles Wesentliche und Große« entstehe. 89 Tritt für Heidegger in der Sicht von 1935 Nihilismus des näheren als »Verdüsterung der Welt« und »Flucht der Götter« auf, als »Zerstörung der Erde« 90 und »Vermassung des Menschen«, als »hassender Verdacht gegen alles Schöpferische und Freie« und »trostlose Raserei der entfesselten Technik und der bodenlosen Organisation des Normalmenschen« 91 , dann sieht er akkurat das für gefährdet an, was diejenigen Menschen brauchen, die den Zeiten zum Trotz immer wieder »anfänglich« zum Menschenwesen unterwegs sind. Die Art der wesenhaften Jugend ist es nach Heidegger, auf das Eigene »zuzugehen«, die des wesenhaften Alters, bei ihm »innezuhalten«. 92

2. Das vermeinte Sein 2.1 Die »Seins«-frage Das Wort Ontologie wird erstmals im 17. Jahrhundert 93 zur Kennzeichnung der Wissenschaft verwendet, die Aristoteles zunächst als »gesuchte« entwirft, dann aber als existent behauptet. Es ist die Wissenschaft, die das Seiende (τὸ ὄv) betrachtet, insofern es seiend ist (ᾗ ὄv). 94 Anders als in ist-Sprachen wie dem Deutschen, Französischen und Englischen sind im Griechischen »das Seiend(e)« (τὸ ὄv) und »das Sein« (ἡ οὐσία) keine erst Martin Heidegger, SPIEGELGespräch, S. 209. Bereits in der Vorlesung des Sommersemesters 1928 äußert er: »(…) die Technik, die heute wie eine entfesselte Bestie in die ›Welt‹ hineinwütet (…).« Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, S. 279. 91 Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 28 f. 92 Martin Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens, S. 7; 19. 93 Johannes Clauberg, Ontosophia (Metaphysica de ente). 94 Aristoteles, Metaphysik IV 1 1003a21f. 89 90

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durch Philosophensprache in Umlauf gekommenen Wörter, die ihre Künstlichkeit niemals gänzlich loswerden. »Das Seiende« versteht schon Herodot als das Wahre und Wirkliche (wie sich etwas wirklich verhält, wie es mit etwas in der Tat steht) 95 , »das Sein« 96 als das dem Menschen verfügbare Vermögen – etwa an Geld und Grund, an Sklaven, Tier und Gerät. 97 Wenn dennoch ausgerechnet in Griechenland in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts ausdrücklich die »Seins«-frage aufkommt, dann muß sich gerade dort mit »Sein« Zukennzeichnendes vom Vertrauten und Verständlichen zum Fremden und Unverständlichen verändert haben, und mit dem Wort ein neues Verstehens- und Sachinteresse verbunden worden sein. Heidegger zitiert, um die Altehrwürdigkeit der Seinsaporie und der damit verbundenen Nötigung zur Seinsfrage herauszustellen, sowohl Platons Sophistes, wo es um das Verständnis der Kopula ist geht (etwas ist etwas, etwas ist identisch mit etwas) 98 , als auch die aristotelische Metaphysik (Buch VII), wo mit dem Seiend (τὸ ὄv) genau das Sein im Sinne von Wesen (οὐσία) im Blick steht. Er ist sich nicht bewußt, welche Mißverständnisse und Verwirrungen er mit diesem Rückgriff heraufbeschwört. Das seinsphilosophische Interesse am »ist« und seiner »Bedeutung«, wie es Platon und Aristoteles zu erkennen geben, reflektiert nämlich allein, inwiefern das maßgebliche Interesse am Wesen sprachlich und gedanklich durch den Gebrauch von »ist« operationalisiert ist. Heidegger dagegen klammert sich am Wort »ist« selbst fest, ganz so, als könnte das leitende Interesse der Ontologie überhaupt nur von denjenigen indoeuropäischen Völkern wahrgenommen werden, die wie das Historiae V, 50; I, 95. Οὐσία, Sein, Wesen, hat sich möglicherweise aus dem part. pr. fem. οὖσα, seiend, entwickelt. 97 Historiae I, 92; VI, 86. 98 Inwiefern dabei auch die Problematik der Existenz hereinspielt, siehe Manfred Frede, Prädikation und Existenzaussage. Platons Gebrauch von »… ist …« und »… ist nicht …« im Sophistes. 95 96

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griechische und deutsche Volk sprachlich über »ist«, »seiend«, »das Seiende«, »sein«, »das Sein« verfügen. Zu Beginn seines grundlegenden Werkes Sein und Zeit (1927) sucht Heidegger dem Leser die leitende Problemstellung dadurch zu vermitteln, daß er in Anbetracht von »Sein« ohne jede Vorankündigung, ja ohne daß es überhaupt bemerkt wird, zwei Bedeutungen des Wortes »Sinn« konvergieren läßt: nämlich die Bedeutungen »Bedeutung« und »Zweck«. Im Ausgang von Platons »was ihr eigentlich meint, wenn ihr den Ausdruck ›seiend‹ gebraucht«, spricht Heidegger gleichbedeutend von der Frage nach dem Sinn von »Sein«, Frage nach dem Sinn von Sein, Frage nach dem Sein. 99

Daß hier nicht nur die Bedeutung des Wortes Sein und das Sein selbst zusammengenommen werden, sondern im Endeffekt Sinn des Wortes und Sinn des Seins (wie »Sinn des Lebens«) 100 , zeigt sich spätestens dann, wenn das Sein des »Daseins« (das ist des existentialontologisch vorgestellten Menschen) genauer dargelegt wird: Dessen [des Daseins] Sein findet seinen Sinn in der Zeitlichkeit. 101

Das aber besagt, wie der Kontext klar zu verstehen gibt: das Sein des Menschen qua Dasein ist das Zu-sein, das Um-zu-sein, das Umwillen. Das Sein selbst hat in dieser Konstruktion des Menschenwesens Sinn bekommen, nämlich Zukunft, besser: Zukünftigkeit als solche. Die Frage nach der Bedeutung eines Wor-

Sein und Zeit, S. 1; 3 et alibi. Die letzten beiden Sätze von Sein und Zeit lauten (S. 437): »Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des [!] Seins? Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?« Auf Seite 1 war von Zeit als möglichem Horizont »eines jeden Seinsverständnisses« die Rede. Für Heidegger macht das ganz offensichtlich keinen Unterschied. 101 Sein und Zeit, S. 19; vgl. ebd., S. 17: »Als der Sinn des Seins desjenigen Seienden, das wir Dasein nennen, wird die Zeitlichkeit aufgewiesen.« 99

100

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tes und nach dem Wortgebrauch ist »unversehens« zur Frage nach der – formalen – Sinngebung des Daseins geworden. Daß und wie Heidegger zu dieser Konvergenz steht, läßt sich noch spät belegen, wenn er etwa »heißen« als »befehlen« deutet. 102 In dem, was »Sein« heißt, steckt für ihn schlicht das »Geheiß« des Seins selbst. Heidegger verabschiedet sich dennoch nicht vom ontologischen Interesse eines Platon und Aristoteles, auch wenn er sich noch tiefer in dessen bloße Operationalität verstrickt. Das geschieht, wo er seine von Grund auf zweideutige Seinsfrage (nach Wortbedeutung und Daseinssinn) an zwei einfachen Beispielen zu verdeutlichen sucht. Jeder versteht: »Der Himmel ist blau«; »ich bin froh« und dgl. Allein diese Verständlichkeit demonstriert nur die Unverständlichkeit. Sie macht offenbar, daß in jedem Verhalten und Sein zu Seiendem als Seiendem a priori ein Rätsel liegt. Daß wir je schon in einem Seinsverständnis leben und der Sinn von Sein zugleich in Dunkel gehüllt ist (…) 103

Unverständlichkeit, Rätsel, Dunkel der »fraglichen« Wörter, wie sie durch das Problem ihrer Bedeutung, nicht aber der Deutung ihrer Funktion gestellt sein sollen, verdanken sich rein Heideggers fiktiver Verrätselung derselben. Von dem Vorwurf sachlichen Unverstandes kann mit Bezug auf diese Stelle nur abgesehen werden, wenn man Heideggers Absicht erkennt, hier ein künstliches Analogon zur Art des Todes, dem Menschen gegenwärtig zu sein, zu konstruieren. Vom Tod nämlich behauptet er: Mit der Gewißheit des Todes geht die Unbestimmtheit seines Wann zusammen. (…) Der Tod als Ende des Daseins ist die (…) gewisse und als solche unbestimmte (…) Möglichkeit des Daseins. 104

102 103 104

Siehe Was heißt Denken?, S. 152; vgl. Die Sprache, S. 2lf.; 26. Sein und Zeit, S. 4. Ebd., S. 258 f.

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Damit möchte er nicht die alte Weisheit »mors certa, hora incerta« wiederholen, sondern die zeitliche Unbestimmtheit des Todes, die erfahrungsgemäß die Menschen frei leben läßt, »daseinsanalytisch« zu einem den Menschen radikalisierenden und vereinzelnden Datum umdeuten: Die Unbestimmtheit des Todes erschließt sich ursprünglich in der Angst. 105

Das aber widerspricht aller lebenspraktischen Erfahrung. Wir haben nicht (Todes- und Daseins-)Angst, um uns auf ihrem Grunde zu vergewissern, daß wir gar nicht wissen, wann wir sterben. Wir machen auch zu keiner Zeit angstvoll die Entdeckung, daß es sich so verhält. Wenn schon in diesem Zusammenhang an Angst zu denken sein soll, dann an die, die sich einstellt, sobald wir das Wann wissen. Wissen wir aber nicht darum, zeigt nichts die Stunde an, dann leben wir in einem freien Verhältnis zum Tode, das als solches durch die Freiheit von Angst geprägt ist. Dem Tod als dem völlig Gewissen und doch völlig Unbestimmten soll offenbar das Sein als das völlig Verständliche und doch völlig Unverständliche (Dunkle usw.) entsprechen. Stimmt aber bei der Kennzeichnung des Todes immerhin noch dies, daß er als Ereignis gewiß, in seinem Wann aber ungewiß ist, und erweist sich nur die Verkoppelung dieser Ungewißheit mit Angst als dramaturgischer Fehlgriff, dann geht bei der Kennzeichnung des »Seins« als verständlich und unverständlich beides sachlich fehl. Das hat einen einfachen Grund: Heidegger versieht sich an der Kopula ist als solcher. Das »ist« im Satz »Der Himmel ist blau« ist nur »unverständlich«, wenn man es, wie schon seine Betonung zu erkennen gibt, partout nicht als Kopula verstehen will. Es ist aber ebenso auch nur »verständlich«, wenn man sich seinem Verständnis als Kopula verschließt, indem man

105

Ebd., S. 308.

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sich an irgendwelche Konnotationen des Wortes zu halten sucht. In seiner Spätzeit ist es dann die Kopula ereignen, an der sich Heidegger als Kopula versieht bzw. deren Funktion als Kopula er überspielen zu müssen und überspielen zu können glaubt. 106 Andere Sprachen können für das hier nötige Umdenken hilfreich sein. Wie zum Beispiel das Hebräische und Russische beweisen, braucht ein temporal und modal ungekennzeichneter Satz wie »der Himmel ist blau« gar keine Kopula. Da genügt es etwa im Hebräischen zu sagen »Himmel blau« (»der Himmel blau« besagte: »der blaue Himmel«). »Blau« ist Prädikatsnomen und zeigt den Zustand, die Dauer an. Erst mit dem »war blau«, »wird blau« und »wäre blau« wird es anders. Darum kann selbst ein »in vino veritas« und »Krieg nix gut« genügen. Erst ein »wird« und »wäre« ist unverzichtbar. »Aktualisierung« dagegen ist ein Grund, eigens von »sein« zu reden. Das Beispiel für ein entsprechendes prädikatives Syntagma lautet bei dem Linguisten Martinet 107 : il y a fête, es gibt [ein] Fest, wozu dann Ergänzungen wie »heute« und »im Dorf« gehören. Auch wenn der Bezug zum Subjekt definiert wird, bedarf es anstatt der rein grammatischen Kopula eines eigenen Seinswortes. Im Spanischen läßt sich zum Beispiel durch ser und estar unterscheiden, ob »das Wasser ist kalt« oder »das Wasser ist mir kalt« gesagt sein soll. In Sprachen wie dem Russischen, Griechischen und Lateinischen dient die Kopula sein jedenfalls als Ort in der Oberflächenstruktur für die Kennzeichnung von Tempus, Modus und Aspekt 108 . »Sein« ist für sich kein Teil der Tiefenstruktur, sondern ein bedeutungsleeres Wort, das in den genannten Sprachen zur Kennzeichnung gewisser Unterscheidungen dient, die an-

Siehe unten S. 197 f. André Martinet, Grundzüge der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 113. 108 Beispiel für einen perfektivischen Aspekt ohne Gebrauch der Kopula im Deutschen: »er trat aus dem Haus«. 106 107

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zuzeigen keine anderen Verben zur Verfügung stehen. 109 Sein, haben, stattfinden, ereignen, tun, werden – das alles sind bedeutungslose Kopulae, nicht anders als leben und existieren, die genauer temporale Kopulae sind. Werden sie nicht gebraucht, um eben Tempus, Modus und Aspekt zu markieren, dann besagen sie wirklich nichts. Zwar verstehen wir uns auf den Unterschied von »Peter ist in Mexiko« und »Peter lebt in Mexiko«, aber jenes »ist« hat darum nicht die Bedeutung »hält sich momentan auf« und dies »lebt« nicht die Bedeutung »hat die Zelte aufgeschlagen« oder »ist verheiratet«. Heidegger hat der Kopula sein nicht nur irrtümlicherweise überhaupt eine Bedeutung gegeben, sondern dazu noch eine herrschende und ursprüngliche. 110 Die Grundbedeutung von »sein« (der Kopula sein, Präs. Indik., die er nicht als Kopula verstanden haben möchte), so seine Überzeugung, sei »anwesen« (und zwar im Sinne zeitlicher Gegenwart). Heidegger bleibt dieser Ansicht von Sein und Zeit an unbeirrt treu. In dem Vortrag Zeit und Sein (1962) stellt er dazu bündig fest: Woher nehmen wir aber das Recht zur Kennzeichnung des Seins als Anwesen? Die Frage kommt zu spät. Denn diese Prägung des Seins hat sich längst ohne unser Zutun oder gar Verdienst entschieden. 111

Zählt er gelegentlich auch eine Mehrzahl von Bedeutungen auf 112, stets erhält Anwesen und Anwesenheit den Vorrang. 113 Kommt man mit dieser Deutung der Kopula auf die Konstruktion des Zugleich von »verständlich« und »unverständlich« zurück, wie sie in Sein und Zeit eingeführt wird, dann steht man Siehe John Lyons, Introduction to Theoretical Linguistics, S. 322. Vgl. unten S. 197. 110 Heidegger gibt der Kopula sein eine Seinsbedeutung. Davon zu unterscheiden ist die linguistisch relevante Kopulabedeutung der Kopula sein. Siehe dazu Rainer Marten, Existieren, Wahrsein und Verstehen, S. 91 ff. 111 Zeit und Sein, S. 6. 112 Einführung in die Metaphysik, S. 68. 113 Ebd., S. 69; vgl. ebd., S. 46; Sein und Zeit, unter anderem S. 25 f.; Was ist Metaphysik?, S. 16; Was heißt Denken?, S. 144 ff. 109

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vor der Nötigung, den Satz »der Himmel west blau an« (bzw. »der Himmel west als blau an«) für ein Verstehen dessen, was den Himmel und sein Blau »verbindet«, als gänzlich hell und gänzlich dunkel anzusehen. Wie ernst es Heidegger mit dem Verstehen und Nichtverstehen von »sein« (und eben »anwesen«) ist und wie sehr er sich mit diesem Ernst in ein syntaktisch wie semantisch abwegiges »wörtliches« Verständnis von Sprache verliert (das sowieso jenseits aller Pragmatik ist), tritt besonders kraß in einer Vorlesungsstunde des Sommersemesters 1935 zutage. Zunächst wird da jenes Zugleich festgehalten: »Sein« erweist sich als ein höchst-bestimmtes völlig Unbestimmtes. 114

Der Einfall von Sein und Zeit, die Kopula sein nicht für eine solche zu nehmen und gerade dadurch nicht zu ignorieren, wird hier emphatisch akzentuiert wiederholt. Daran schließen sich langwierige Ausführungen an, die sein konstruktiv gemeintes Mißverständnis als solches bekräftigen sollen. Das Resultat dieser Ausführungen ist besorgniserregend: Angenommen, es gäbe die unbestimmte Bedeutung von Sein nicht und wir verstünden auch nicht, was diese Bedeutung meint. Was wäre dann? Nur ein Name [!] und ein Zeitwort weniger in unserer Sprache? Nein. Dann gäbe es überhaupt keine Sprache. (…) dann gäbe es überhaupt kein einziges Wort. Wir selbst könnten überhaupt nie Sagende sein. Wir vermöchten überhaupt nicht die zu sein, als welche wir sind. Denn Menschsein heißt: ein Sagender sein. 115 Daß wir das Sein verstehen, ist nicht nur wirklich, sondern ist notwendig. Ohne solche Eröffnung des Seins könnten wir überhaupt nicht »die Menschen« sein. 116

Das ist, nimmt man es wörtlich, geistiger Chauvinismus auf der Basis bewußten sprachwissenschaftlichen Unverstandes. Doch in diesem Falle gilt es gegen Heidegger kein Phänomen zu retten, schon gar nicht den Menschen und das Abendland, sondern 114 115 116

Einführung in die Metaphysik, S. 59. Ebd., S. 62. Ebd., S. 64.

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den Autor selbst. Das aber kann nur dadurch gelingen, daß man ihn wider eigenen Willen von seiner als seinsphilosophisch vermeinten Orientierung an Sätzen wegbringt, an Sätzen, die für gewöhnliches und sinnvolles Verstehen unmöglich etwas anderes als den bloß grammatischen Sinn der Kopula sein demonstrieren. Denn darüber ist weiter kein Wort zu verlieren, daß es Sprache, Wörter und sogar (menschliche) Menschen auch dort gibt, wo nicht im entferntesten die 3. Pers. S. Pr. Ind. von »sein« im Sprachgebrauch auszumachen ist, auch kein »bin« und kein »bist«. Heidegger deutet das selbst an, als er im Sommersemester 1952 wieder einmal auf die Sache zurückkommt: (…) der Baum ist ein Apfelbaum; der Baum ist wenig ergiebig. Ohne jenes »ist« im Satz »der Baum ist« fielen diese Aussagen samt der ganzen botanischen Wissenschaft ins Bodenlose. Nicht nur dies. Jedes menschliche Verhalten inmitten von diesem und jenem Bezirk von Seienden raste unaufhaltsam ins Leere weg, spräche nicht das »ist«. Nicht einmal wegrasen ins Leere könnte menschliches Wesen, denn es müßte dafür schon im Da gewesen sein. 117

Das »ist« spricht demnach für Heidegger »da-sein« an – hier nicht betonterweise als »an-wesen« und – zeitlich – »gegen-wärtigsein«, sondern einfach als »existieren« (»überhaupt sein«). Ganz offensichtlich versteht er so die unter Verwendung der Kopula sein gebildeten Prädikationen (wie auf seine Weise auch Bertrand Russell) allem zuvor als Existenzaussagen. Nur ein Baum, der überhaupt dagewesen ist, kann für ihn auch ein Apfelbaum, ein auf seine Ertragsfähigkeit hin beurteilbarer Baum gewesen sein. »Der Baum ist ergiebig« – das soll heißen: »Der Baum existiert und ist ergiebig«. Damit aber übergeht der Seinsdenker wichtige Probleme. So stellt er sich nicht die Frage, welcher Verständnis- und Verifikationsbereich denn für ein »überhaupt Sein« und ein »nacktes Daß« gelten soll, überlegt nicht, ob nicht zu jeder Existenzbehauptung als solcher eine lokativische Ergänzung temporaler oder spatialer Art gehört und eben 117

Was heißt Denken?, S. 107.

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jedes Existential als Lokativ zu verstehen ist. 118 Er überdenkt auch nicht, wie denn ein ist-Gebrauch zu interpretieren ist, wenn es sich um Dinge handelt, die auf je eigene Weise nicht da sind. Man denke an ein »Dornröschen ist schön« und »Peter ist tot«. Heidegger verschweigt überdies, wie denn ein »der Baum blüht« einem Baum ohne alles »ist« sein Sein garantieren soll. Nicht einmal dem Problem des »hat« stellt er sich. Geht es nämlich um gewöhnliche Prädikation, dann läßt sich »hat« genausoweit gebrauchen wie »ist«: »der Baum hat Blätter« (»ist belaubt«), »der Baum hat wenig getragen« (»war wenig ergiebig«). Sogar zur Existenzaussage reicht ein »hat«: »in Peters Garten hat’s Apfelbäume die Menge« (man vergleiche auch die Sätze »der Baum hat Äpfel«, »an dem Baum sind Äpfel«). Da fragt es sich in der Tat, warum Heidegger in seinem Mißverständnis der Kopula nicht konsequent geblieben ist und mit der Ontologie nicht zugleich auch eine Echontologie (Lehre vom Haben) entwickelt hat. Dennoch haben die Einlassungen zum Sein des Baumes vom Sommer 1952 ihre Bedeutung, geben sie doch zu verstehen, wie der Philosoph sich nicht auf prädikatives Sein oder Existenz festlegen lassen möchte, sondern im »ist« jeweils beides »hört«. Daß »menschliches Wesen« nur »ins Leere« »wegrasen« kann, so es »dafür schon im Da gewesen« ist, hat selbst dann Plausibilität, wenn nicht ganz klar ist, was hier unter »Wesen« und »Leere« genauer zu verstehen ist. »(…) im Da gewesen sein« – das gibt Hoffnung, die seinsphilosophische Gedankenwelt Heideggers sei nicht von Grund auf so fehlorientiert, wie es seiner sprachlich-wörtlichen Fixierung auf »ist« in Aussagesätzen eigentlich zu entnehmen ist. Trotz der Wörtlichkeit des angeführten Zitats mag man ihm nicht die Ansicht zutrauen, die Russen zum Beispiel hätten keine botanische Wissenschaft (und auch unmöglich

Siehe Rainer Marten, Existieren, Wahrsein und Verstehen, S. 19–28 et alibi.

118

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je eine gehabt), weil ihre Sprache über kein »ist« (und kein »hat«) verfügt, das allererst so etwas wie einen Baum sein (und haben) ließe. Weg von der einseitigen Fixierung auf – nicht als solches verstandenes – prädikatives Sein und – nicht als solche verstandene – Kopula bedeutet (wie Heidegger zu lesen ist) zunächst einmal ein Hin zum Existential und stärkeres Hören auf »existiert«. In der achten Vorlesung des Sommersemesters 1952 trägt er mit bewegter Stimme folgende Zeilen vor: »Es ist ein Licht, das der Wind ausgelöscht hat. Es ist ein Heidekrug, den am Nachmittag ein Betrunkener verläßt. Es ist ein Weinberg, verbrannt und schwarz mit Löchern voll von Spinnen. Es ist ein Raum, den sie mit Milch getüncht haben. Der Wahnsinnige ist gestorben …« 119 ,

um daraufhin ruhig und lakonisch zu bemerken: Das steht nicht in einem Lehrbuch der Logik, sondern anderswo.

Den Autor Georg Trakl nennt er nicht. Sein wird mit dem angeführten Text zwar nicht im Sinne von Anwesen, jedoch als lokativisches Sein belegt. Nur der letzte Satz macht Gebrauch von der Kopula. Das »es« im »es ist« fungiert als unbestimmtes Demonstrativum. Mit ihm ist genau nicht »da ist« zu verstehen gegeben. Das Existential ist klar ein Lokativ, wenn auch ein unbestimmter. Nicht von ungefähr zitiert Heidegger aus einer Welt wie der des Dichters Trakl. Eine entsprechende Reihung von Es-ist-Sätzen in einem Text von Gottfried Benn hätte seine Seinsinteressen wohl nicht ebensogut berührt und widergespiegelt: Es ist eine Esse von Haschisch auf der Welt, zwischen Haiti und den Abiponen, es ist ein Schrei, von einer Insel an der Mündung der Loire bis zu den Tlinkitindianern (…). Es ist ein Tanz zwischen den beiden

119

Was heißt Denken?, S. 172; vgl. ders., Zur Sache des Denkens, 42 f.

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Reichen der Brüder (…). Es ist Mittag über dem Ich oder Sommer (…). 120

Auch das entstammt keinem Logikkompendium, spricht allerdings deutlich anders. Die Lokative sind bestimmt: »auf der Welt«, »zwischen«, »von (…) bis«, »über«. Das »es« ist ebenfalls anders gebraucht. Wenn für »es regnet« auch »der Regen regnet« zu sagen ist, dann läßt sich »es ist ein Schrei« auch als »ein Schrei schreit« verstehen. Entsprechend ist an »ein Tanz tanzt« und »Mittag tagt« zu denken. Nur die Esse, aus der Haschisch raucht, versagt sich der etymologischen Figur. Doch weder Benns menschenweite noch Trakls ländliche Welt signalisieren mit dem, was es »da« alles an menschlich Bewegendem gibt, ontologisches Interesse. Phantasie, Sensibilität, Realismus und was es sonst ist, das ihre Seinstexte als solche beherrscht – von der besonderen Geistigkeit der Ontologie ist nichts zu spüren. Wenn schon Sein als Existieren eine Möglichkeit aufweisen soll, im Nachdenken Heideggers dessen Verstrikkung in mißverstandenes prädikatives Sein vielleicht doch noch zu entgehen, dann gibt das Traklzitat nicht schon den rechten Fingerzeig. Die – philosophische – Seinsfrage ist, folgen wir Heidegger, die Frage nach dem Sinn von Sein (»Sein«). Da angelangt, wissen wir aber auch schon nicht mehr so recht weiter: ist die Seinsfrage (»Seins«-frage) eigentlich als eine semantische oder als eine existentielle gemeint, ganz abgesehen davon, daß es auch eine sogenannte phänomenologische sein könnte, wenn denn Sein (das Grünsein eines Blattes?, das Ausgezeichnetsein einer Examensarbeit?, das Haussein eines Hauses?) als Phänomen zu nehmen wäre. Heidegger hat ja gerne vor Studenten einen Tisch von allen Seiten beklopft, um handgreiflich zu der Frage anzuregen, wo denn nur an diesem Tisch das Ist stecke, wobei er es unterließ, entsprechend auf eine Frage nach dem War und Wird, Sei und Wäre, Ist-nicht und Ist-kaum (»der Tisch ist kaum ge120

Gottfried Benn, Frühe Prosa und Reden, S. 172 f.

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eignet«) hinzuweisen. Doch Heidegger steht in einer Tradition, zu der er sich selbst bekennt – bei aller selbsterklärten Neuerung und Überwindung. Sie wird Aufschluß darüber geben können, was für Ontologen eigentlich in einem sozusagen klassischen Sinne als Sein thematisch wird. Wer das, was ist, philosophisch thematisieren und nur überlegterweise von Sein und Seiendem reden möchte, muß sich vergewissern, was er jeweils Besonderes, ggf. aber auch ganz allgemein damit meint. Platon ist der Frage, was denn der Ausdruck »seiend« bezeichnet, erstmals genauer nachgegangen. Im Zuge seiner Überlegungen sieht er sich da zum Beispiel mit dem Problem des Verhältnisses von Seiend und Eins konfrontiert: wird von Warm und Kalt gesagt, beides sei, bedeutet das dann, beides sei (und heiße) eins? Das ist genau die »Aporie« des Seins, die Heidegger in Sein und Zeit zitiert und an den Anfang stellt. Wie das Verhältnis von Seiend und Eins die Vergewisserung über das begleitet, was eigentlich mit »seiend« gesagt ist, zeigt auf andere Weise Aristoteles, wenn er feststellt, daß ein Mensch und seiender Mensch dasselbe besagten und die Einsfrage mit der Seinsfrage gleichzusetzen sei (λέγεται ἰσαχῶς). 121 Doch was für das Sein (τὸ ὄν) in einer seiner Bedeutungen, nämlich für Sein im Sinne des »Schemas der Kategorien« (das heißt der Aussageformen: »ist das«, »ist so«, »ist soviel«, »ist dort«, »ist dann« usw.) gilt, läßt sich nicht auf die anderen Bedeutungen übertragen, die ihm nach Aristoteles zukommen: Sein im Sinne von Wahr- und Falschsein, Möglich- und Wirklichsein, Zufälligund Selbsthaftsein. 122 Diese reichlich diskutierte Viel- (πολλαχῶς) und eben Vierdeutigkeit von Sein hat, wie leicht zu erkennen ist, eine eindeutige seinsphilosophische Ausrichtung: Sein im Sinne von Wesen (οὐσία) steht im Blick. Man ginge fehl, bei Aristoteles eine semantische Fragestellung zu erkennen, gar ein Aristoteles, Metaphysik X 2 1053b20–28; 1054a13 ff. Siehe unter anderem Metaphysik VI 2 1026a33 ff.; IX 10 1051a34 ff.; V 7 1017a7 ff.; VII 1 1028a10 ff.; IV 2 1003a33 ff.

121 122

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ordinary-language-Problem. In jeder der vier »Bedeutungen« liegen zweifellos ontologische Entscheidungen vor: »selbsthaft seiend« (αὐτὸ ὄv) ist das, was als es selbst »an sich selbst« seiend, was »vollends« Wesen ist. »Wahr seiend« (ἀληθὲς ὄv) wieder (im ontologischen Sinne) ist das, was als »unverbundenes« Wesen geistig berührt und angesprochen (φάναι) wird, insofern es als solches berührt und angesprochen wird. 123 »Das seiend«, »dann seiend« usw. schließlich ist das, was – vielfältig – »ausgesagterweise« (λεγόμενον) ein Wesen als »wirkliches« ist (Das und Dann als Antworten auf das Was? und Wann? eines Wesens). Die Seinsfrage ist so bei Aristoteles in jeder ihrer Hinsichten die Wesensfrage: Was ist das Seiend? – das fragt: Was ist das Wesen? 124

Ontologie bei Aristoteles ist Wesensanalytik: Seiendes, das Wesen hat, wird jeweils gedanklich (λόγῳ) in zwei konstitutive ontologische Momente geschieden, von denen eines das Wesen ist. Der einzelne Mensch zum Beispiel ist streng genommen kein Wesen (οὐσία), sondern hat ein Wesen: die Denkseele. Nur der Mensch, der Denkseele ist bzw. insofern er Denkseele ist, ist selbsthaft, wirklich und wahrhaft Wesen. Dies streng erfaßte Wesen aber ist damit etwas Immaterielles, das als Geistiges einzig und allein dem Geiste zugänglich ist. In der Sicht des Ontologen steht das geistige Wesen am besten für das ganze »Wesen«. Ist der Mensch zum Beispiel als ein Ganzes aus Leib und (Denk-) Seele gedacht, dann ist Seele als Wesen das, was am besten für das Ganze steht, obwohl sie eben eigentlich ein – seinsphilosophisch analysierter – Teil desselben ist. 125 Denkseele, so äußert sich Aristoteles ganz konsequent, ist »am meisten« Mensch. 126 Auch für die aristotelische Ontologie liegt also allein im Wesen der eigentliche Seinswert. Ihre Wesensanalyse 123 124 125 126

Ebd., IX 10; vgl. VI 4. Ebd., VII 1 1028b4. Aristoteles, Nikomachische Ethik X 7 1178a2 f. Ebd., 1178a7.

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verfährt prinzipiell wertend. Wesen ist für sie stets Wertsache: etwas an sich Geschätztes, ein in sich gestilltes Um-zu. Hält es auch nicht alle Ontologie genau mit der aristotelischen, so führt doch jede auf ihre Weise den Gedanken des Wesens durch. Der Gedanke des Gerechten und des Schönen selbst ist – schon – bei Platon je der Gedanke selbsthaften Wesens. Noch der Gedanke des Seins selbst und des seinsentsprechenden Menschen bei Heidegger ist der Gedanke des Menschenwesens und des Wesens des Seins. Wird auf diese Weise – divergierend – von Wesen gehandelt, dann muß jedoch keinesfalls notwendig auf Sprachen zurückgegriffen werden, die über »ist« verfügen. Die Faktizität des »ist«-Gebrauchs bei Platon, Aristoteles und Heidegger hat für die Ontologie als Wesensphilosophie keine normative Kraft. Das ontologische »was?« zum Beispiel erfordert nicht unabdingbar ein »was ist?«. Wird nach dem Wesen des Menschen gefragt, dann genügt etwa im Russischen, Hebräischen und Türkischen wirklich das »was?«. Gegebenenfalls wird dazu die 3. Pers. Sing. des Personalpronomens verwandt: »Was er Mensch?« Damit aber ist dem geistigen Rassismus und Chauvinismus, den Ontologen mit Fixierung auf das wörtliche »ist« zumindest dem Anschein und ihrem Selbstmißverständnis nach vertreten, der sachliche Boden entzogen. Seinsdenken (Seinsfragen), wie es das ontologische Wesensinteresse vertritt, ist auch ohne »Sein« (»ist«) möglich. Bliebe Ontologie geistig auf besondere sprachliche Verwurzelungen angewiesen, dann könnte sie sich gar nicht als der Antinihilismus entfalten, dem im ersten und letzten ihr geistiges Engagement dient. Das seinsphilosophische Programm kann, wenn es sich selbst richtig deutet, jeden Gebrauch von »ist« in Prädikationen, Existenzaussagen, Tatsachenbehauptungen und Wirklichkeitsbestimmungen im Interesse der prinzipiellen Option für Wesen nur als – historisch zufällige – Operationalisierung ansehen. Wer erkennen will, worauf Ontologie gründet und wonach sie zielt, muß lernen, sich auf ihren Geist zu verstehen, was auch heißt: auf ihre Ideologie. 59 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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Artikuliert sich das sachliche Interesse der traditionellen Ontologie zwar wörtlich als »Seins«-frage, dann ist doch allem zuvor schon festzuhalten, daß es sich dabei um eine besondere geistige Frage handelt: menschlicher Geist fragt für sich in der möglichen Weite nach dem, was für ihn letztlich verbindlich ist, was ihm als äußerstes Richtmaß zu dienen hat, woran er verläßlichen Halt finden kann. Alle Bemühungen der Ontologie konzentrieren sich im wesentlichen und letzten auf das, was dem Menschen geistig Richtung, Maß und Halt gibt.

2.2 Die Antwort des Geistes Im ontologischen Fragen sucht menschlicher Geist keineswegs »fremdzugehen«. Er folgt in ihm keiner Sehnsucht, sich selbst zu verlassen, um »sich« in etwas ganz anderem und eben andersartigem wiederzufinden. Was er mit Blick auf Sein und Wesen als das für sich Verbindliche sucht, ist vielmehr eine Antwort auf sich selbst, eine Entsprechung. So hat er mit Sein genauer den »Geist« des Seins im Blick, um sich in ihm als seinem Anderen und damit in Eigenem zu finden: in dem ihm eigenen Anderen. Im ontologischen Fragen inszeniert der Mensch das geistige Seinsverhältnis, in dem er sich über sich selbst als Geist und Wesen verständigt. So dient die philosophische Verständigung über das Sein unmöglich dem Ziel, seine Wortbedeutung zu bestimmen und den Wortgebrauch begrifflich zu begrenzen. Mit dem Sein ist einzig und allein die Entsprechung des menschlichen Geistes und Wesens gefragt: das ihm selbst verbindlich Korrespondierende. Wie aber der denkende Geist sich in der Seinsfrage über sich selbst verständigt, so ist er es auch selbst, der sich auf sie die Antwort gibt: im Vollzug der Seinsfrage antwortet der Geist dem Geist. Darum darf keinen Beteuerungen geglaubt werden, der Denkende liefere sich im Seinsfragen schlechthin Befremdlichem, Unerhörtem und Übermächtigem aus. Seinsdenken, das 60 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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sich selbst richtig versteht, fragt nicht, ob es Sein gibt, warum es Sein gibt, sondern zielt ausschließlich auf das Was.« 127 Sobald nach Sein gefragt wird, ist es schon gegeben. Sein ist nie bloß versuchsweise Vorausgesetztes, das gegebenenfalls wieder zurückgenommen werden könnte und müßte 128, sondern stets Gesetztes, das sich als solches einfach der Tatsache des geistigen Fragens verdankt. Sein ist solcherweise vom Seinsdenker »ursprünglich« und unmittelbar gesetzt. Die Form seiner Setzung ist die Emphase, die sich spätestens seit Platon vorzüglich im Gebrauch des Emphatikons αὐτό manifestiert. Noch Heidegger gebraucht es und widerlegt so in seinem sprachlich-geistigen Auftrumpfen mit dem Sein selbst ganz von selbst seine Behauptung, die gründlichste und unüberholbare Frage der Ontologie laute: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?« 129 Diese »Frage« will zum Staunen bringen, nicht aber Antworten hören. Platon fragt nicht, ob es Gerechtigkeit gibt und warum es sie gibt, sondern ausschließlich, was sie ist. Gerechtigkeit ist für ihn (wie für Aristoteles) ganz selbstverständlich etwas geistig Strittiges – strittig in seinem Was. (Platon, Phaidros 263a; Aristoteles, Politik I 1 1253a16). Für Aristoteles ist es zwar denkbar zu fragen, ob es den Gott als geistiges und den Kentauern als naturhaftes Wesen gebe (Zweite Analytiken II 2 89b32), nicht aber ob es überhaupt Sein gibt. Zu fragen, ob es Natur gibt, wenn an der Gegebenheit von Naturdingen nicht zu zweifeln ist, erklärt er für lächerlich (Physik II 1193a3 f.). Aber auch die Frage, warum es Sein gibt, ist für ihn undenkbar, kann ihm zufolge ja nicht einmal gefragt werden, warum es Häuser gibt, sondern allein, warum dies ein Haus ist (Metaphysik VII 17 1041a26). 128 Ungleich den als wahr vorausgesetzten und als solche zu überprüfenden Sätzen (Platon, Politeia VI 511b – VII 534c) sind als seiend vorausgesetzte Wesen (Platon, Phaidon 100 b: etwas Gutes selbst an sich selbst) als solche nicht weiter zu hinterfragen, weil sie für das Seinsdenken unabdingbar sind (Platon, Parmenides 130b–c; 135b–c). 129 Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 1 et alibi; vgl. ders., Vom Wesen des Grundes, S. 45: »Warum überhaupt etwas und nicht nichts?«; ders., Was ist Metaphysik?, S. 42: »das Wunder aller Wunder: Daß Seiendes ist.« Dazu Rainer Marten, Existieren, Wahrsein und Verstehen, S. 21 f.; S. 234 ff. Zur Nichthinterfragbarkeit des Daß vgl. Ludwig 127

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Das geistig von selbst gesetzte und für gegeben erkannte Sein, an dem Ontologie sich als geistig Verbindlichem orientiert, an dem sie entsprechend Maß nimmt und Halt gewinnt, hat als Was (τί) den Charakter der beantworteten Frage. Der Geist, der das sachliche Verhältnis der Ontologie prägt, entfaltet sich genauer, wie besonders klar bei Platon zu sehen ist, als Fragen, Antworten und Überprüfen der Antwort. Der fragende Ontologe bringt sich in der Was-Frage als Geist und Vernunft ein, der antwortende Ontologe in der Wesens-Antwort entsprechend. Was von der Sache dabei dialogisch-dialektisch entdeckt wird, ist akkurat das, was das Geistige und Vernünftige an ihr ist. In Platons dialektischer Methode kommt es bei allen drei Schritten im wesentlichen allein auf denkende Vernunft (νοῦς und λόγος) an: im Fragen des Einen (der Gesprächspartner) (λόγον αἰτεῖν, wörtlich: Rechenschaft Fordern), Antworten des Anderen (λόγον διδόναι, Rechenschaft Geben) und im gemeinsamen Prüfen der Antwort (λόγον δέχεσθαι, Annehmen der – für richtig beurteilten – Antwort). Die Vernunft des Einen und die des Anderen bewährt sich in der Vernunft der Sache als ein und dieselbe. Im ontologischen Fragen und Antworten spiegelt der Geist sich selbst. Jedes Was, nach dem er fragt, ist sich schon der Antwort gewiß: es ist das Das, das der denkende Geist selbst ist. Jede Frage nach dem Was von etwas führt darum bei Platon das Denken via Dialektik auf die Philosophie selbst zurück: Dialektik ist Selbsterschließung des philosophischen Wesensdenkens. Das Was der Liebe ist die philosophische Liebe und das heißt das liebende Denken. Beim Was von Lust, Erkenntnis und Wissen-

Wittgenstein, Tractatus 6. 44: »Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist.« Husserl, in Gegenstellung zu Heidegger, formuliert: »Das Wunder aller Wunder ist das reine Ich und die reine Subjektivität« (Edmund Husserl, Ideen III, S. 75). Wissenschaftliche »Selbstverantwortung« hat nach Husserl dafür zu sorgen, daß das Wunder »verschwindet« (ebd., S. 139)

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schaft steht es nicht anders. 130 Auch im aristotelischen Seinsdenken spiegelt sich, wo es ins Äußerste ausgreift, allein die philosophische Vernunft selbst – göttlich nimbiert. 131 Heideggers Denken, ganz dem geistigen Seinsverhältnis des Menschen zugetan, sieht in seiner Art genau das, was dem Menschen als sein wahres seinsentsprechendes Wesen aufgespart ist. Alles Wesens-Was (τί) findet seine Antwort im philosophischen Geist selbst, ob er die dialektische Vernunft ist, die in der reinen Einsicht endet, ob das Denken, das in höchster Lust sich selbst denkt, ob das andenkende Denken, in dem der Mensch auf sein Wesen als »das wesende Verhältnis zum Sein als Sein« vordenkt. 132 Die Seinsfrage, wie sie sich dem Ontologen als Wesensfrage stellt und im gedachten Wesen je ihre Antwort findet, richtet sich damit an etwas, das es ohne den Menschen und sein philosophisches Verhalten überhaupt nicht gibt. Wesen ist jeweils, auf Grund welcher ontologischen Position auch seine Bestimmung erfolgen mag, geistiges Resultat. Das Wesen der Liebe liegt nicht in dem, was sich vielfältig als Liebe manifestiert, das Wesen des Hauses nicht in den Häusern, nicht in der οἰκουμένη, das Wesen des Menschen nicht in den lebendigen Menschen als solchen. Nein. Für die Ontologie ist das Wesen nur »in« einer Sache, »in« einem Ding, »in« einem Einzelwesen, Gattungswesen und geschichtlichen Wesen zu finden, insofern sich der denkende Geist jeweils eigens dazu verhält und sich selbst in den Dingen, Sachen und Wesen begegnet. Für Dinge gesagt: das Wesen je von Dingen liegt nicht in den Dingen »selbst« (»an sich«), sondern in demjenigen geistigen Verhalten, das in eins für den Menschen und für die Dinge als wesensgerecht anzusehen ist. Mit Heidegger zu sprechen (und zu denken) liegt das Siehe unter anderem Phaidros 250c ff.; Philebos 61e; 63e; Politikos 311b–c. 131 Aristoteles, Metaphysik VII 7 1072b20–25; 9 1074a33–35; Nikomachische Ethik X 7 1177b31–1178a8. 132 Martin Heidegger, Das Ding, S. 177. 130

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Wesen der Dinge nicht in ihnen, wie sie als etwas Wirkliches unter anderem Wirklichen vorkommen, sondern in ihrem »Dingen«, das nicht ohne den Menschen geschieht, der in sein Wesen gefunden hat. 133 Nicht einmal das Wesen des Hauses, wie Aristoteles es denkt, ist das, was es ist, je in einem und an einem Haus, wie es für sich dasteht. Einem einzelnen Haus kommt nur insofern Wesenhaftes, das als Geistiges ohne materielle Momente ist 134 , zu, als sein »Geist« wahrgenommen und wahrgemacht wird. Sobald Menschen recht und schlecht das Haus bewohnen und sich seine Funktionsgerechtheit zugute kommen lassen (Aristoteles: Schutzbau gegen Unbill der Witterung für Menschen und Gerät zu sein), wird seinem Geist und Wesen »vernünftig« entsprochen. Noch der Maler, der es malt, und der Bombenschütze, der es zerbombt, wissen in ihrem Tun um das »Wesen« des Hauses und seinen vernünftig-zweckmäßigen Gebrauch. Insofern liegt Heidegger mit seiner befremdlich anmutenden Idee, zum Bewohnenkönnen von Häusern gehöre ein wesenhaftes, im Denken geschichtlich zu erinnerndes Vermögen 135 , überhaupt könne ein Umgang mit Dingen als wesenhafter nur gelingen, so der Mensch des Wesens der Dinge eingedenk sei 136 , nicht schlechtweg abseits des traditionellen Wesensdenkens. Liebe, Haus, Mensch – dem Seinsdenken geht es um nicht weniger als alles wesenhafte Was. Der denkende Geist kann, wie Ontologie von ihm Gebrauch macht bzw. ihn entwirft, von seiner Universalität nicht absehen. Bereits in der platonischen Dialektik, sofern sie alle wahren und wirklichen Verhältnisse weiß und jedes Wesen als solches zu bestimmen versteht, ist nicht wissenschaftliche Hybris zu sehen, sondern konzeptuelle Konsequenz. Platons Dialektiker gelangt in seinem Einsehen an Ebd., S. 179 f.: »Dingen ist Nähern von Welt. Nähern ist das Wesen der Nähe. Insofern wir das Ding als das Ding schonen, bewohnen wir die Nähe.« 134 Aristoteles, Metaphysik VII 11 1037a24–29. 135 Martin Heidegger, Bauen Wohnen Denken, S. 162. 136 Ders., Was heißt Denken?, S. 114. Näheres dazu unten S. 149 f. 133

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den »Grund von allem«, um von ihm her nacheinander alles Geistige als Letztbegründetes in den Blick zu nehmen. 137 Aristoteles’ Erster Philosoph, sofern er sich auf die obersten Ursachen und Gründe des Seienden versteht, läßt mit seiner denkenden Vernunft nichts von dem aus, was Wesen ist und hat, insofern es Wesen ist und hat. 138 Beide Male hat die Universalität ontologischen Wissens nichts mit Polymathie, nichts mit einer Überforderung menschlichen Erkenntnis- und Erinnerungsvermögens zu tun. Sie entspricht schlicht dem allesgründenden Grund des Denkvermögens, der ihm prinzipiell nichts von dem entgehen läßt, was »wesenhaft« zu denken ist. So läßt auch Heidegger im Prinzip keines der wesensfähigen Dinge aus, die ihm zufolge dem wesenhaften Menschen überantwortet sind, auf daß er sie in ihr Wesen bringe und darin halte. 139 Heideggers Denken ist in seiner Gesinnung von einem Geist beherrscht, in dem alles, was ist, bereits – der (Seins-)Geschichte vorweg – seinen geistigen und wahren Wesensaufenthalt gefunden hat. Das Wesen des Wohnens, Bauens, Weinschenkens, Hinübergehens (über die Brücke), ja des Fragens, Wollens, Hörens, Sprechens und eben Denkens – Heidegger weiß dank seines »wesentlichen« Denkens in allen Dingen gleich gut Bescheid. Seinsdenken, wie es sich traditionell deutet, ist in seinem Vermögen, Wesensbestimmungen einzusehen, unlimitiert. Hier gilt es, ein mögliches Mißverständnis abzuwehren. Das uneingeschränkte Allvermögen dieses Denkens bezieht sich auf Geistiges. Wenn darum Ontologen von einem Begriff des Seienden Gebrauch machen, der nicht solches vorstellt, was geistigen Wesens ist, sondern ganz allgemein für Tatsache steht, dann haben sie damit »Seiendes« im Sinn, auf das sie sich als Ontologen gar nicht verstehen. Platon, Politeia VI 511b. Wie es zum philosophischen Wissen von allem kommt, entdeckt Aristoteles gleich zu Beginn der Metaphysik (I 2 982a8; 982b1 f.). 139 Was heißt Denken?, S. 114. 137 138

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Platon und Aristoteles demonstrieren an »Seiendem«, das als Tatsache gemeint ist, was ein wahres Urteil ist- 140 Bei dieser Reflexion auf Urteilswahrheit im allgemeinen gehört keines der Beispiele für »Seiendes« zu dem, was Seinsdenken interessiert und wofür es kompetent ist. Daß der Mond abnimmt, der Schnee weiß ist und Theätet sitzt (»jetzt« nicht fliegt), ist zwar als Tatsächliches ebenfalls nicht ohne den Menschen 141 , wohl aber gut und gerne ohne den denkenden Geist, der auf den Seinswert des Wesens achtet. Wo sich Ontologie für Tatsachen interessiert, sind es Wesens- und Werttatsachen: daß das Gute selbst gut ist, daß die geistige Lust lustvoller (ἡδίων) ist als die sinnliche 142, daß das Selbe als das Selbe mit sich selbst dasselbe ist 143 , daß die Wirklichkeit wesensfrüher als die Möglichkeit ist 144 , daß die Möglichkeit wesenshöher als die Wirklichkeit ist 145 , daß das Bauen das eigentliche Wohnen und Wohnen das eigentliche Schonen ist. 146 Das alles läßt sich nicht den üblichen Arten von Tatsachen zurechnen: den brute facts, historical facts, institutional facts, social facts. Man müßte von ontological facts sprechen und dabei an essential bzw. value bzw. spiritual facts denken. Hierzu gehörten dann auch alle »Tatsachen«, die sich als solche der Behauptung verdanken, daß das Wesen aussteht. Daß zum Beispiel die Gesellschaft noch nicht vernünftig ist, der Mensch noch nicht eigentlich zu wohnen vermag, stellt nicht einmal einen möglichen Vorgriff auf historische Tatsächlichkeit dar. Dies »faktische« Noch-Nicht zeigt nämlich überhaupt kein mögliches Ereignis in Zeit und Geschichte an, sondern besteht Platon, Sophistes 263b; Aristoteles, Metaphysik, IV 7 1011b26 f. Zur Sprachlichkeit der Tatsachen siehe Günther Patzig, Satz und Tatsache. 142 Platon, Philebos. 143 Platon, Sophistes. 144 Aristoteles, Metaphysik IX 8 1049b5. 145 Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, S. 280. 146 Zu dieser Bestimmung Heideggers siehe Rainer Marten, Martin Heidegger: Den Menschen deuten, S. 247. 140 141

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allein für den Geist und durch den Geist. Die Emphase des Geistes »in der Tat« (ὄντως) ist seit Platons Tagen nicht von dieser Welt. Geistiges von der Art des Seinsdenkens, auch wenn es »geschichtlich« gemeint ist (utopisch, eschatologisch), übersteigt per se jede mögliche empirische Wirklichkeit und Tatsächlichkeit.

2.3 Die drei seinsphilosophischen Sentenzen Seinsdenken, das sich gewiß ist, im ersten und letzten von allem Wesen zu wissen, fällt prinzipiell über alles, was ihm begegnet und als Wesen in Frage kommt, sein Urteil. Es lautet: »Wesen« oder »Nicht-Wesen«. Doch es ist differenziert. Der denkende und urteilfällende Geist nimmt auf das Begegnende Bezug, indem er geistig auf es zeigt (Ludwig Wittgenstein: es »meint«). In dieser Absicht vollzieht er eine dreifache Zeigehandlung (Deixis). Erkennt er auf Wesen, dann spricht sich die Deixis in den drei in sich zusammengehörigen Sentenzen aus: »dies ist«, »dies bleibt«, »dies taugt«. Erkennt er auf Nicht-Wesen, dann entsprechend in den Sentenzen: »solches ist nicht«, »solches bleibt nicht«, »solches taugt nicht«. 147 Mit diesen Sprüchen ist das gelingende und das nicht gelingende Wesensverhältnis des (seins-) denkenden Geistes vollständig ausformuliert: das Wesen als geistig Affirmiertes, Identifiziertes und Benediziertes, das NichtWesen als geistig Negiertes, Nichtzuidentifizierendes und Malediziertes. »Dies ist« – in der ontologischen Deixis wird etwas als wesenhaft gesetzt, bejaht und angenommen. Mit dem geistigen »dies«, wie es jeweils auf Wesen als solches zielt und trifft, ist Zur Unterscheidung von »dieses« und »solches« (τοῦτο und τοιοῦτον) siehe Rainer Marten, Was Platon und Aristoteles zeigen. Zur entsprechenden Problematik der Seinsnegation (Pegasus im Unterschied zu etwas, das sich wie Pegasus verhält) siehe W. V. O. Quine, On What There Is. Vgl. Rainer Marten, Existieren, Wahrsein und Verstehen, S. 28 ff.

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die grundsätzliche Entscheidung gegen jede Art von Skeptizismus gefallen. Bauen Ontogenetiker auf Urvertrauen (basic trust), dann Ontologen auf Urbejahung (basic affirmation). In ihr bejaht der denkende Geist zugleich sich selbst. Das »dies« (»dies ist«) setzt und bejaht mit dem Wesen auch schon das Wesensverhältnis: Denken zu Sein, Denkwesen zu Seinswesen, Menschenwesen zu Sein selbst. »Dies ist« – darin liegt: dies ist des denkenden Geistes und der Vernunft. Wer ontologisch »dies« sagt und meint, zeigt nicht nur das, was er denkenden Geistes zeigt, einzig und allein dem Geist selbst, sondern er zeigt zugleich in seinem Seinsdenken sich selbst. In der ontologischen Deixis führt sich der methodische Solipsismus des Geistes auf. Der ist jedoch ebenso individuell wie universell. Der Eine kennt alle Anderen genausogut wie sich selbst (alle »anderen«, die Geist sind gleich ihm). Er kennt nur nicht die besonderen Anderen, die geistig das eine mit ihm teilten, das andere nicht. Sind Ontologen nicht eines Geistes, dann erkennen sie einander überhaupt nicht als – echte – Seinsphilosophen an. Wesenhaft denkende Geister, die sich als solche aufeinander verstehen, zeigen und sehen allesamt dasselbe: Wesen nach Wesen, Wesen über Wesen. In jedem von ihnen spiegeln sie sich ohne Unterschied. »Dies ist« stellt, in Auslegung der Tradition, als erste seinsphilosophische Sentenz die knappste und provokativste Form geistig-wesenhaft vermeinter Selbstaffirmation dar. Kein Wesen kann in seinem Wesensverhältnis Wesen wie in einem isolierten Akt nur affirmieren. Im (Sich-) Sehen und Zeigen erfährt es auch schon, wie Wesen und Wesensverhältnis bleiben: das Denken bleibt beim Wesen wie bei sich selbst, es bleibt (Selbst-) Denken. Für den Seinsdenker gilt nicht nur Descartes: »solange ich denke, bin ich – ein denkendes Ding« 148 , sondern des weiteren: »solange ich, der denkende Geist, denke, ist geistiges Wesen und Wesensverhältnis«. In der Sentenz »dies 148

Siehe Rainer Marten, Existieren, Wahrsein und Verstehen, S. 204 f.

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ist« spricht auch schon die Sentenz »dies bleibt«. Mit ihr ist das Urteil über alles Veränderliche gesprochen und die Wesensentscheidung zugunsten des Unveränderlichen gefällt. Wesen ist und bleibt Wesen – das ist sozusagen seine Natur. »Dies bleibt« – das ist die Aussage ontologischer Identität. Anders als die bloß logische spricht sie sich im »stets« und »immer« (άεί) aus. Das Wesen, in das geistige Wesensverhältnis gebunden, verhält sich stets gemäß demselben auf gleiche Weise (Platons ἀεὶ κατὰ ταὐτὰ ὡσαύτως ἔχειν). Zum Wesen als dem Spiegel des denkenden Geistes gehört es, (ein-) gesehen und als das, was es ist, reflektiert zu sein. Wesen ist Identität. Es ist nicht die Identität der verschiedenen Bezugnahmen auf dasselbe 149, sondern es ist die der einen Bezugnahme, nämlich der Beziehung des Geistes auf sich selbst. Wesen sind selbsthaft je das Selbe, insofern sie sich der Identifikation durch den denkenden Geist verdanken, in der sich dieser selbst über seine Selbigkeit vergewissert. In allen Ontologien gibt Wesen als das, was bleibt, den Grund für die geistige Selbstfindung und Selbsterkenntnis des »Menschen« ab. Einem ontologisch verstandenen Wesen, das strikt das ist und bleibt, was es ist, eignet die vollkommene Geschichtslosigkeit. Das gilt nicht weniger für Platon und Aristoteles als für Kant und Marx, Adorno und Heidegger. Ob es um das Wesen des Menschen, der Gesellschaft, des Staates, der Freiheit, der Sprache, des Kreises, des Hauses, der Liebe oder des Wohnens geht – der jeweilige geistige Entwurf des Wesens ändert sich die ganze Geschichtszeit über nicht. Diese bestimmt allein Intervalle, Grade der Dringlichkeit und Formen der Wesensreklamation. Wesensdenker sind unbeirrt, unbeirrbar. Sie sehen für sich keinen Grund zu Korrekturen. Geschichte als die des realen Geschehens im Umkreis menschlicher Lebenspraxis gibt es für sie allein als Defizit von Wesen zu erkennen. Die Verfehlung je des Wesens,

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Zu W. V. O. Quine siehe Rainer Marten, ebd., S. 138 Anm. 209.

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das Ausbleiben von Wesen ist geschichtlich, nicht aber je das Wesen selbst. Karl Marx’ Gedanke der vollkommen emanzipierten Menschheit und der zur – vernünftigen – Vernunft entwickelten Gesellschaft ist ein wesenhafter und damit ein ungeschichtlicher. In ihm erkennt sich das Vernunftwesen (mitsamt vernünftig gemeinter Leiblichkeit, Sinnlichkeit, Geschlechtlichkeit), aber nicht der geschichtliche Mensch. Der wird zum bloßen Vehikel einer – utopischen – Wesensentwicklung degradiert. Jedes Wesen, wie Seinsphilosophie es denkt, ist etwas geistig Vollkommenes. Änderte sich ein Wesen, verlöre es von seiner Vollkommenheit und gäbe sich als solches selbst auf. Wesen dieser Art sind darum nicht nur bei Philosophen, die wie ein Aristoteles gar nicht mit dem Begriff der Geschichte arbeiten 150 , als geschichtslos Bleibendes nachzuweisen, sondern auch bei denen, die über einen entwickelten Geschichtsbegriff verfügen wie zum Beispiel Heidegger. Sein wiederkehrender Ausdruck für das Geschichtslose ist das Ursprüngliche. Was »ursprünglich« und damit wesenhaft gedacht ist, behält für ihn seine Bedeutung, ändert sich nicht, bleibt seinem Wesen treu – von einer Geschichte zur anderen (zum »anderen Anfang«). Eine besonders erhellende Stelle für Heideggers Denken, wie es das Wesen im Geschichtslosen hält, findet sich in dem Vortrag Das Ding: Aber das Geschenk des Kruges wird bisweilen auch zur Weihe geschenkt. Ist der Guß zur Weihe, dann stillt er nicht einen Durst. Er stillt die Feier des Festes ins Hohe. Jetzt wird das Geschenk des Gusses weder in einer Schenke geschenkt, noch ist das Geschenk ein Trunk für die Sterblichen. Der Guß ist der den unsterblichen Göttern gespendete Trank. Das Geschenk des Gusses als Trank ist das eigentliche Geschenk. 151 Die Geschichtslosigkeit des von Aristoteles konzipierten Wesens (οὐσία qua εἶδος ἔνυλον) hat mehrere Aspekte. Einer davon ist sein Verständnis des Wesensallgemeinen und seiner konkreten Bindung. Zum Begriff des ὅπερ τόδε τι siehe unter anderem Metaphysik VI 4 1030a3–7. 151 Martin Heidegger, Das Ding, S. 171. 150

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Da wird problemlos eine vergangene Kultur als wesensverbindlich zitiert, ohne daß an lebenspraktische Konsequenzen für den Denkenden selbst und für andere gedacht wäre. Was einmal griechischer Brauch war, ist jetzt unvermittelt Vorwurf des Ursprünglichen und Wesenhaften. Die Götter und das Hohe kommen ins Spiel, daran gebunden Weihe, Feier und Fest. So wird es – »irgendwie« 152 – wieder sein, sobald es – ereignishaft – mit Wesensdefizit und Geschichte vorbei ist. Das aus einer vergangenen Kultur als wesensverbindlich Zitierte ist ebenso geistig wie geschichtslos, auch wenn es als Gewesenes und gerade nicht Vergangenes seinsgeschichtlich für die eigene Kultur das »inskünftig Gesparte« sein soll. Zur solipsistischen Affirmation und geschichtslosen Identifikation des Wesens gehört seine Benediktion, wie sie ohne Rücksicht auf Lebenspraxis vorgenommen wird. Es ist die Sentenz »dies taugt«, die das Urteil über alles Nichtige (Seinsunwerte) und allen Wesensmißbrauch spricht. Auch sie läßt sich an Heideggers Dinggedanken exemplifizieren. Der Krug hat – überraschenderweise – ein Wesen, in das ihn der wesensereignete Mensch (der Sterbliche als der Sterbliche) zu bringen, in dem er ihn zu halten und zu lassen hat. 153 Es ist sein Dingwesen: Der Krug west als Ding. Der Krug ist der Krug als ein Ding. 154

Der Krug, insofern er west, taugt: ist zu etwas gut. Die dritte der seinsphilosophischen Sentenzen vereint sich mit der zweiten und ersten: Der Krug taugt als das Wesen, als das er ist (»west«) und bleibt. Damit ist auch erst das Wesensverhältnis des denkenden Geistes zureichend gedacht und gespiegelt: es selbst taugt; es selbst ist gut und wertvoll (etwas »Hohes«). In der Einheit von Affirmieren, Identifizieren und Benedizieren entdeckt Siehe Platon, Phaidon 114d3: ἐστὶν ἢ τοιαῦτ’ ἄττα. Zu diesem Sprachgebrauch siehe Martin Heidegger, Was heißt Denken?, S. 114. 154 Ders., Das Ding, S. 172. 152 153

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sich, wie zu jedem Wesensverhältnis als solchem das uti et frui gehört: im geistigen Wesensverhältnis brauchen Denken und Sein, die auf je eigene Weise Geistiges und Wesenhaftes sind, einander, werden sie füreinander fruchtbar. Heidegger spricht von Brauchen im »eigentlichen«, »in einem hohen, wenn nicht im höchsten Sinne«. 155 Im Denken des Wesens wird Denken fruchtbar. Ist das geistige Wesen als solches die »Frucht« des Denkens, dann spiegelt es sich in diesem Resultat auch selbst: es wird sich selbst fruchtbar. Zu Selbstbejahung und Selbsterkenntnis, wie sie im Wesensdenken vollzogen werden, gehört vollends die Selbstgutheißung: denkender Geist erklärt sich in seinem Selbstsein als tauglich und fruchtbar sowohl für das Sein als auch für sich selbst. Wenn Heidegger aus dem Aias des Sophokles das Sichfortzeugen der Liebe (χάρις) zitiert, nicht jedoch das des Übels (πόνος) 156 , dann paßt das gut für die Deutung des seinsphilosophisch vermeinten Wesensverhältnisses: der sich in seiner Bejahung, Erkennung und Gutheißung spiegelnde Geist zeugt sich selbst fort – in Form der Selbstbefruchtung. Mit Schönem Schönes im Schönen zu zeugen ist ein altes Wort für sie. 157 Mit ihren drei Sentenzen »dies ist«, »dies bleibt«, »dies taugt« macht Ontologie verständlich, wie das in ihr veranstaltete deiktische Wesensverhältnis den Menschen – programmatisch – dazu bringt, sich im Spiegel seines Wesens als Geist zu akzeptieren, zu identifizieren, zu brauchen und fruchtbar zu machen. Die entsprechenden Sentenzen »solches ist nicht«, »solches bleibt nicht«, »solches taugt nicht« gehören dagegen nicht zur eigentlichen Deixis der Ontologie. In ihnen äußert sie sich allein bei Gelegenheit über das, was nicht wesensfähig ist und darum unmöglich in ihrer eigenen Absicht liegt. Der AntiDers., Was heißt Denken?, S. 115. Ders., »… dichterisch wohnet der Mensch …«, S. 204. Vgl. unten S. 188 Anm. 256. 157 Platon, Symposion 210a ff. (206c ff.): vgl. Phaidon 100d7 f. 155 156

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Die Flucht ins Sein

nihilismus, wie ihn das Seinsdenken seit alters praktiziert, darf nicht verstellen, daß es seinem Geist nach ein prospektives und provokatives Unternehmen mit optimalistischem Anstrich ist – dem zugewandt, was es bejaht, womit es sich identifiziert, und was es gutheißt.

3. Die Flucht ins Sein Die »Intentionalität«, wie sie ontologisches Denken auszeichnet, garantiert dem denkenden Geist, der lebenspraktischen Realität zu entgehen. Dieser ontologische Eskapismus bedeutet eine geistige Umorientierung, in der das für wirklich und maßgeblich Anzusehende »toto coelo« verlegt wird. Vier Arten von Verhaltungen bzw. Methoden haben sich herausgebildet, in denen sich Seinsdenken auf dies Entgehen eigens versteht: Transzendenz, Befreiung (ἀπαλλαγή), Aufteilung (διαίρεσις), Unterschied (διαφορά). Die geistige Flucht in geistiges Sein weiß, wovor sie flieht. Was da, geistig geurteilt, nicht ist, bleibt und taugt, ist nicht unbestimmt. Von früh an ist Ontologie darauf bedacht, die Zustimmung und Zuwendung des Menschen zur Welt, in der er lebt und stirbt, zu hintertreiben. Alle ontologischen Welt- und Seinsverdoppelungen haben das Ziel, die eine Welt von der anderen, das eine Sein von dem anderen so zu unterscheiden, daß jeweils nur das eine für menschlichen (Wesens-)Aufenthalt in Frage kommt, das andere nicht. In Unterscheidungen wie denen zwischen weltganzem und innerweltlichem Sein 158 , unentstandenem und entstandenem 159 , unsichtbarem und sichtbarem 160 , vollendetem und unvollendetem 161 spiegelt sich je das eine als Heraklit, Fragment Β 30; 124. Parmenides, Fragment Β 8, 3. 160 Platon, Phaidon 79a6; vgl. Aristoteles, De anima III 8. 161 Zum Beispiel der aristotelische Gedanke des vollendet Wirklichen (τέλειον). 158 159

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Zubejahendes, Zuvollziehendes und Gutzuheißendes, das andere als Zuverneinendes, Zumeidendes und Schlechtzuheißendes. Was nicht ist, bleibt und taugt, ist das Veränderliche und Vergängliche, das Unbeherrschte und Willkürliche, das Zerstreute und Gewöhnliche. Es ist alles in allem das, woran sich der Mensch in seinem Unwesen hält, was er in seinem Unwesen schafft, was er in seinem Unwesen ist. In der dreifachen ontologischen Deixis spricht sich die vollzogene Diskriminierung des lebendigen und geschichtlichen Menschen aus. Genau vor ihm »flieht« die Ontologie – ins Sein. Das geistig-geistliche Lamento ist bekannt: Es ist alles ganz eitel. Wie ist alles so nichtig. 162

Doch die Stimmung, die aus ihm spricht, kommt unter Ontologen gar nicht auf. Die sind nämlich davon überzeugt, daß nichts vom Hiesigen, wie es die Hiesigen mit ihm halten, begründet und annehmbar, verläßlich und sicher, bleibend und fest, wahrhaft und sinnvoll, brauchbar und gut, mit einem Wort: wesenhaft und vernünftig ist. So denken sie keineswegs daran, darüber zu klagen, nichts von hier »mitnehmen« zu können, sondern alles dalassen und vererben zu müssen. Was den sogenannten Prediger schmerzt, ist ihnen eine Lust: allem Hiesigen, über das seinsphilosophisch das Urteil gesprochen ist, geistig, das meint wirklich, zu entgehen. Bei seiner Flucht ins Sein wird der wesenhaft Denkende das Hiesige in der Tat los. Blickt er zurück, dann geschieht das befreit. Wollte er Vanitasbilder in die Lebenswelt einzeichnen, dann allein solche, die zeigen, wie die Suche nach wahrer Einsicht und Wesensvollendung in ihr wirklich vergeblich ist. Der Geist, welcher ontologischen Position auch immer, ist kein hiesiger und alltäglicher. Ein Mensch, der nur so lebt, daß er sich alltäglich um sich und die Seinigen, um sich und Andere sorgt, 162

Prediger 1, 2, Lutherbibel und Zürcher Bibel.

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Die Flucht ins Sein

mit ihnen eigenheitlich sein Leben teilt oder nicht teilt, um eines Tages Anderen zu sterben und seinen eigenen Tod zu finden, rührt zeitlebens an nichts, von dem begründet ein geistig-wesenhaftes »ist«, »bleibt« und »taugt« zu behaupten wäre. Das ist ontologisches Gemeingut.

3.1 Die ontologische Transzendenz Transzendieren (übersteigen, auch »überfliegen«, wie Kant sagt), eine der Arten, lebenspraktischer Realität zu entgehen (sc. um ihr gegenüber ein »wahres« Verhältnis einzunehmen), stellt in ihrer Wörtlichkeit eine räumliche Metapher des Wesensapriori (πρότερον τῇ οὐσίᾳ) dar. Dem Verständnis der Ontologen nach hat Transzendenz »immer schon« statt. Das Wesen ist für das Denken das Ursprüngliche, das überhaupt erst Gedanken ein-»räumt«. Dem widerspricht nicht, daß es zugleich Ziel, Maß und Halt des (Wesens-)Denkens ist: ein allererst zu bildender und zu gewinnender Gedanke. Das Endliche auf das Unendliche hin zu übersteigen, das Sinnliche auf das Geistige hin, das Sinnlose auf das Sinnhafte – der Überstieg hat viele Gesichter. In allen aber zeigt sich derselbe Zug: dem Vielen, Vereinzelten und Zerstreuten zu entgehen, um geistig und wesenhaft beim »Allgemeinen« zu sein. Das Wesens-Allgemeine ist jedoch kein begrifflich Abgezogenes gleich dem aristotelischen καθόλου. Weil Wesen, wie entrückt es auch lebenspraktischer Realität sein mag, stets selbst das ist, was es ist (das Schöne selbst ist schön, das Wesen des Menschen ist der – eigentliche – Mensch, das Dasein ist selbst da), darf es nicht für eine Abstraktion, sondern muß für eine Konkretion angesehen werden: für »konkret Allgemeines«. 163 Bei Platon liegt das Schöne selbst über alles nachbenannte Zur Neufassung dieses hegelschen Begriffs siehe Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, S. 176.

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Schöne hinaus, das nie nur schön, sondern stets »voll von Gegensätzen« ist. 164 Es ist selbst schön; es allein ist wahrhaft schön; es ist nur schön, in jeder Hinsicht, immer und ewig. 165 Doch das Schöne selbst taugt nur zum Grund alles Schönen (»durch das Schöne ist alles, was schön ist, schön«) 166 , weil das Gute selbst noch über alles Wesen von der Art des Schönen selbst hinausliegt (ἐπέκεινα τῆς …) – »an Ehrwürdigkeit und Kraft«. 167 Es ist das Wesen-Sein noch »vor« aller Zerstreuung in die Vielfalt besonderen Wesens. Platons Gedanke des einen Grundes schließt freilich ein, daß das Gute selbst »immer schon« im wesenhaft Politischen und Seelischen als das Gerechte gegenwärtig ist, im wesenhaft Kosmischen und auch wieder Seelischen als das Schöne, überhaupt in allem Einsichtigen als das Wahre, in allem Wesenhaften als das Vermögende. 168 Aber als es selbst ist es eben allein gut und übt nicht für sich zugleich die Kraft des Schönen selbst und Gerechten selbst aus. 169 Die Garantie der Tauglichkeit jedes – besonderen – Wesens als eines Wesens, im Verein mit der Garantie des Seins und der Identität eines jeden – das ist der »konkrete« Seinsgedanke des Guten selbst: die gedachte Transzendenz in Perfektion. Ontologische Transzendenz läßt sich – vergleichbar perfekt – auch aus Positionen heraus denken, die von der platonischen nicht wenig abweichen. Heideggers Gedanke der Transzendenz etwa fußt auf einer strikten Unterscheidung von Sein und Seiendem – Seiendes als das, was an sich ohne, Sein als das, was nie ohne den Menschen ist. Das Sein nun liegt nach ihm »über jedes Zu dieser Verwendung von μεστὸς τοῦ ἐναντίου siehe Platon, Siebter Brief 343a. 165 Platon, Symposion 210e–211a. 166 Platon, Phaidon 100d. 167 Platon, Politeia VI 509b. 168 Platon, unter anderem Philebos 65a; Politeia VI 508e; VII 517c. 169 Der von Platon geforderte aber nicht ausgeführte Logos des Guten (Politeia VII 534b–c) hätte davon zu handeln gehabt. Es wäre dabei um den Versuch gegangen, das alles Begründende zu begründen (Axiomatisierung der Axiome). 164

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Seiende und jede mögliche seiende Bestimmtheit eines Seienden hinaus«. Es gilt ihm als »das transcendens schlechthin«. 170 Das »über … hinaus«- und »›weiter‹«-Sein 171 des Seins assoziiert räumliche Vorstellungen. 172 Doch in seiner Transzendenz übertrifft das Sein das Seiende überhaupt nicht in der Art des Seienden. Das Darüberhinaus und Weiter ist genauer als ein »wesenhaftes« 173 zu verstehen. Transzendenz – das ist der einzigartige Denkschritt zum Wesen, nämlich zum Wesensverhältnis von Menschenwesen und Seinswesen. Die im Denken erfahrene Transzendenz des Wesens entführt Heideggers wesenhaften Menschen nicht an einen Ort über dem Himmel, sondern läßt ihn gerade seine eigentliche Welthaftigkeit gewinnen, die freilich genau keine Weltläufigkeit bedeutet. Welt ist für Heidegger der Ort, an dem sich je ein Mensch mit seinen eigensten Möglichkeiten konfrontiert sieht, um sie wahrzunehmen und wahrzumachen oder nicht. Möglichkeiten des Daseins sind in dieser Sicht je aus dem Künftigen und für es bestimmte. Welt ist so der Zeitort, an dem je ein Mensch sein im Geistigen völlig individuiertes »Zu-sein« und »Umwillen« austrägt. Der Mensch in seiner Künftigkeit ist jemand Entrücktes und der Horizont seiner Entrückung ist eben die »Welt«. Transzendieren ist In-der-Welt-sein. 174

Die Welt, die dem Menschen als »existierendem Dasein« der Ort seiner – ekstatischen – Entrückung ist und ihn seinen Wesensaufenthalt nehmen läßt, ist nicht die Welt der Tiere und Ge-

Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 38. Ders., Über den Humanismus, S. 24. 172 Siehe auch ders., Vom Wesen des Grundes, S. 50: »Und so ist der Mensch, als existierende Transzendenz überschwingend in Möglichkeiten, ein Wesen der Ferne.« 173 Ders., Über den Humanismus, S. 24. 174 Ders., Metaphysische Anfangsgründe der Logik, S. 275. Zum Zusammenhang von Transzendenz und Individuation siehe ders., Sein und Zeit, S. 38. 170 171

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wächse, der Planeten und Galaxien. Die Welt des »In-der-Weltseins« gibt es nur, weil es den Menschen gibt. Es ist der Mensch, der sich in seinen eigensten Möglichkeiten »zeitigt« und »entwirft«, um ganz er selbst zu sein. Der Gedanke der Transzendenz führt so gerade mit Blick auf »In-der-Welt-sein« zum Gedanken radikaler Vereinzelung des reinen Umwillens des Daseins in seinem Sein. Der existential-ontologische Solipsismus 175 ist gefragt: Die im Vorlaufen verstandene Unbezüglichkeit des Todes vereinzelt das Dasein auf es selbst. Diese Vereinzelung (…) macht offenbar, daß (…) jedes Mitsein mit Anderen versagt, wenn es um das eigenste Seinkönnen geht. Dasein kann nur dann eigentlich es selbst sein, wenn es sich von ihm selbst her dazu ermöglicht. 176

In Ausführung seines Konzepts von Transzendenz sondert Heidegger das »Dasein« nicht nur von jedem »Mitsein« ab, sondern nimmt dem Menschen auch alle Eigenheiten, die ihm aus seiner Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit zukommen. Das Dasein transzendiert seine Leiblichkeit aber nicht durch Übergang zum Nichtmehrdasein 177 , sondern durch Radikalisierung seiner Existenz: Die Gewinnung der metaphysischen Neutralität und Isolierung des Daseins überhaupt ist nur möglich auf dem Grunde extremen existentiellen Einsatzes des Entwerfenden selbst. 178

Die Vereinzelung und Isolierung des wesenhaften solus ipse, diese radikale Individuation in der Entrückung zu den eigensten Möglichkeiten, kann nicht als eine lebenspraktische Distanzierung von Anderen vorgestellt werden, meint überhaupt keinen eigens vollzogenen Rückzug aus der Öffentlichkeit. OntologiHeidegger selbst spricht davon (Sein und Zeit, S. 188). Ders., Sein und Zeit, S. 263. 177 Als Wort für Totsein ebd., S. 237. 178 Ders., Metaphysische Anfangsgründe der Logik, S. 176. Zu Heideggers Verständnis von geistigem »Einsatz« siehe auch Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, S. 57. 175 176

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sches Denken hat es an sich, alles im Denken Ausgeführte nicht anders als geistig und wesenhaft zu meinen. Transzendenz – das ist eine geistige Radikalisierung des »ganzen« Menschen. Der – neutrale und seinsmächtige – Nukleus reinen konkreten Daseins vor aller Zerstreuung, Zersplitterung und Zerspaltung in Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit ist ein rein geistiges und ausgedachtes Wesen, das als solches in den Blick kommt, wenn man den Menschen in existentieller Geistigkeit sich zurücknehmen sehen soll auf das »nackte ›Daß‹ im Nichts der Welt«, auf »das in der Unheimlichkeit auf sich vereinzelte, in das Nichts geworfene Selbst«. 179 Dieses Konzept entstammt in nichts der Besinnung auf menschliche Lebenspraxis und soll auch gar keine Bedeutung für sie haben. Das gedachte geistige Transzendieren bringt den gedachten geistigen Menschen nirgendwo andershin als in seine wesenhafte Möglichkeit 180 Wesen des »Daseins« ist für Heidegger wesenhaftes Möglichsein. Wie er das »neutrale Dasein« für »innerlichst isoliert« ansieht, entdeckt er – realitätsfern – die »inneren Möglichkeiten« für alles Faktische. 181 Die Transzendenz ist das Wesen selbst: der Überstieg und Überschwung in – vermeinte – wesenhafte Möglichkeiten.

Martin Heidegger, Sein und Zeit, S. 276 f. (ebd., S. 343: »das pure Daß«); ders., Metaphysische Anfangsgründe der Logik, S. 170–178. 180 Gilt für den Menschen, daß »nur durch ursprüngliche Fernen, die er sich in seiner Transzendenz zu allem Seienden bildet, (…) in ihm die wahre Nähe zu den Dingen ins Steigen« kommt (ders., Vom Wesen des Grundes, S. 50), dann ist selbstverständlich eine – weltfremde – geistige Nähe zu den Dingen gemeint. Der Weinkrug zum Beispiel wird dann nicht zum Weintrinken benutzt, sondern – rein gedachterweise – zur Ausübung eines nicht mehr existierenden Kults (ders., Das Ding, S. 171). Es kommen nur »Möglichkeiten« in Frage, existenz- und seinsgeschichtliche, die über ihre seinsphilosophische Gedachtheit hinaus keinerlei Chance haben, lebens- und gesellschaftsgeschichtlich realisiert zu werden. 181 Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, S. 173. 179

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3.2 Die ontologische Befreiung (ἀπαλλαγή) Unterschieden von Überstieg und Selbstüberstieg ist der seinsphilosophische Gedanke der Befreiung und Selbstbefreiung. Das Wesen gilt für gebunden, ja gefesselt. 182 Es ist insofern genötigt, sich von dem zu lösen und zu befreien, was ihm als Wesen hinderlich ist. Als wahres Wirkliches muß es das eigentlich Nichtwirkliche nach Möglichkeit »realiter« aus sich abscheiden und loswerden. So sucht die Seele, wie Platon sie denkt, das Leibliche loszuwerden (im Extremfall »realiter« den Leib), der Geist das Körperliche. Will dagegen im Liebesbegehren das Triebhafte die Denkseele als Institution der Verweigerung loswerden 183 , dann hat insofern keine Umkehrung des Lösungsverhältnisses statt, als der Leib im (Liebes-)Leben nicht seinen Tod will. Sehen wir auf Bildern die Seele dem Leib »entfliehen«, etwa aus einer Wunde, dann ist deutlich gezeigt, wie sich die Seele vom Leibe, nicht aber der Leib von der Seele trennt. Das ist auch die Sicht des Ontologen: der Tod, der die befreiende Lösung von allem bedeutet (ὁ θάνατος τοῦ παντὸς ἀπαλλαγή) 184 , besteht, auf das Wesen gesehen, in der Lösung der Seele vom Leibe. 185 Die Lösung und Befreiung des Wesens von seiner Bindung an Nicht-Wesen und Un-Wesen bedeutet keine bloß gedankliche Für-sich-Setzung (λόγῳ χωριστόν), bei der die reale Bindung, real gesehen, bestehen und für das Sein des existierenden Ganzen wirksam bliebe. Die ontologische Befreiung ist eine geistigexistentielle. Die Denkseele zum Beispiel, die sich ganz auf das Während das gebundene Wesen zum Beispiel des Hauses (εἶδος ἔνυλον), wie Aristoteles es denkt, nicht der Befreiung bedarf, wählt Platon nicht von ungefähr das Bild des Kerkers (Phaidon) und der Fesselung (Politeia VII), um das Befreiungsverhältnis des Wesens anzuzeigen. Die ontologische Befreiung kann allein dem Menschen gelten, es versteht sich: seinem Wesen. Die aber ist auch von Aristoteles gefordert. 183 Platon, Phaidros 254a. 184 Ders., Phaidon 107c. 185 Ebd., 64c. 182

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Denken entwirft und sich nicht mehr durch – fortexistierende – Leibverbundenheit von ihren eigenen Interessen ablenken läßt, ist, auch wenn ihr reines Denken nur mit Mühe 186 und nur für einen Augenblick 187 glücken sollte, effektiv von dem ihr Hinderlichen befreit. Sigmund Freuds Unterscheidung von Ich und Es ist darum mit der ontologischen von Leib (Sinnlichkeit) und Seele (Geistigkeit) nicht vergleichbar. Sein programmatischer Vorschlag »Wo Es war, soll Ich werden« hat keine reale »Befreiung« des Ich vom Es im Sinn. Freud will die Unterscheidung von beidem nicht analog einer politischen Grenzziehung verstanden haben. Sie sei überhaupt nur gemacht, um die theoretische Klärung pathologischen Verhaltens voranzubringen. 188 Jede ontologische Wesensbefreiung hat einen existentiellen Zug. Sich freimachen von …, sich lösen und lossagen von …, etwas darangeben und auf etwas verzichten – die Färbung des existentiellen Zugs reiner Wesensgewinnung kann bis ins Heroische gehen. In seiner Rektoratsrede zitiert Heidegger Carl von Clausewitz: Ich sage mich los von der leichtsinnigen Hoffnung einer Errettung durch die Hand des Zufalls. 189

In seinem Wahlaufruf zugunsten von Adolf Hitler formuliert er wenige Monate später:

Bei Platon angesprochen im »kaum« (μόγις). Siehe Politeia VII 517c1; Phaidros 248a4. 187 Aristoteles, Metaphysik XII 7 1072b25. Auch Aristoteles’ Anweisung ist zu erinnern, sich als Mensch nicht um das Menschliche, sondern um Unsterblichkeit zu kümmern (Nikomachische Ethik X 7 1177b31–34). 188 Sigmund Freud, siehe unter anderem Neue Folge der Vorlesungen, S. 514; 516. Vgl. ders., Hemmung, Symptom und Angst, S. 124 f.; Die Frage der Laienanalyse, S. 223. 189 Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, S. 20. 186

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Wir haben uns losgesagt von der Vergötzung eines boden- und machtlosen Denkens. 190

Das ist genauer die Befreiung des Geistes zu sich selbst: er kommt rein als er selbst zur Macht (sc. kraft seiner ursprünglichen und den Ursprung bewahrenden Volks-, Sprach- und Bodenständigkeit). 191 Wenn bei Heidegger Denken, wie es den wahren Geist repräsentiert, »aktiv« wird, nämlich Verantwortung übernimmt und das Menschenwesen zu führen beginnt, dann verläßt es doch niemals sich selbst. Das Denken selbst ist das Handeln, der Geist selbst ist die Macht. Das »Aktive« ist das Fragen und Wissenwollen, das er später genau aus dem Lassen und Hören verstanden haben will. 192 Was der Mensch als Wesen für Heidegger allem zuvor loszuwerden hat, ist sein (Un-)Wesen als Subjekt. Genau in diesem Sinne soll das sogenannte Dasein »die Ichheit darangeben (…), um sich als eigentliches Selbst zu gewinnen«. 193 Insofern das neuzeitliche Subjekt seinen Standort in einer vollends technisch bestimmten Welt hat, muß der Mensch, soll er sein Wesen gewinnen und bewahren, sich von den technischen Gegenständen »freihalten« und sie »loslassen«. 194 Das befreite Wesen, so sehr es auch lebendiger Geist sein mag, ist nicht von dieser Welt. Es hat eingestandener- oder uneingestandenerweise die Existenzform der – schlechten – Utopie.

3.3 Die ontologische Aufgliederung Ontologie, wie sie bei Platon methodisch auf das Wesen je einer Sache zielt, ist fälschlich als Mathesis universalis verstanden 190 191 192 193 194

Ders., Deutsche Lehrer und Kameraden!, S. 14. Siehe Rainer Marten, Heideggers Geist, S. 84–88. Siehe schon Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 16. Ders., Vom Wesen des Grundes, S. 50. Ders., Gelassenheit, S. 24.

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worden. 195 Dabei wäre schon an der Art, wie Platon auf sprachliche Weise sachlich verfährt, zu erkennen gewesen, daß für den methodisch-dialektisch vorgehenden Ontologen überhaupt nur das an einer Sache wirklich Bedeutung hat, was für ihr Wesen von Belang ist. Die methodische Erschließung einer Sache in ihrem Wesen dient ihm nicht ernstlich dazu, eine – systematische – Mannigfaltigkeit von sachlichen Namen und Bedeutungen aufzudecken, sondern auf das eigentlich Bedeutsame der Sache vorzustoßen. Bedeutung (signification) ist so dem Ontologen nur etwas wert, wenn ihr im Hinblick auf das Wesen Bedeutsamkeit (significance) zukommt. Die wissenschaftliche Neutralität einer Mathesis universalis ist unmöglich seine Sache, und das selbst dann nicht, wenn er – als wollte er sich und anderen sein wahres Ziel verhüllen – sich ausdrücklich zu ihr bekennt. 196 Der denkende Geist, wie er sich philosophisch in jedem seiner Themen »sachlich« selbst zu finden sucht, lebt zweifellos von Wertung und Gewichtung und nur insofern auch von Methode, die sich auf Allgemeines einläßt. Die geistige Operation, die die wahre Bedeutung einer namentlich vorgestellten Sache allein dort findet, wo sie dem Geist ihre für ihn bedeutsame Sachlichkeit und Wesenhaftigkeit entdeckt, ist bei Platon die – dialektische – Aufgliederung (Dihairesis). Aus denkökonomischen und sachlogischen Gründen verfährt sie am besten als Zweiteilung (Dichotomie). Weil sie in diesem Verfahren ganz innerhalb des Sachlichen und Bedeutungshaften verbleibt – dem sachlich Wesenhaften und Bedeutsamen auf der Spur –, erzeugt sie keine Zweiteilung von Prinzipien, keinen Dualismus. Wird »alles« zum Beispiel aus dem Verhältnis von Liebe und Streit erklärt 197 , dann handelt es sich Zur Auseinandersetzung mit dieser Ansicht von Julius Stenzel siehe Rainer Marten, Der Logos der Dialektik, das Kapitel »Die Dihairesis im allgemeinen«, S. 117–131. 196 Zu entsprechenden Äußerungen Platons im Sophistes und Politikos siehe Rainer Marten, ebd., S. 122 f. 197 Empedokles, Fragment Β 16 et alibi. 195

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damit um gleichwertige, weil gleicherweise konstitutive Prinzipien. Die Dihairesis jedoch folgt jeweils der einen Sache, dem einen Prinzip. Selbst und gerade dann, wenn sie mit einem Mal auf alle Sachen (auf »alles Seiende«) angewandt wird, grenzt ihre allesdurchgreifende Zweiteilung nicht Gleichgewichtiges gegeneinander ab, sondern das, was eigentlich ist, gegen das, was eigentlich nicht ist: das Nichtsinnliche (Geistige) gegen das Sinnliche. 198 Anhalt und Anlaß der Dihairesis ist jeweils eine – in den Augen des Ontologen – bloß vermeintliche sachliche Einheit und Ganzheit, die sich als solche dem allgemeinen Namen verdankt. Genau diese Allgemeinheit nämlich ist es, die, ontologisch gesehen, in der Sache irreführt. Die Sache selbst wird für den platonischen Dialektiker nur erreicht, wenn die – geistige – Gliederung bei einem Letzten, geistig nicht mehr Teilbaren (ἄτομον εἶδος) endet: bei ihrer einfachen Wahrheit (Platon: bei ihrem »wahrsten Schnitt«). Operational mag darum das seinsphilosophische Interesse sich als ein begriffliches und semantisches aufführen, wofür »Idee« und »wirkliches Wesen« (οὐσία ὄντως οὗσα) heuristische Anzeigen sind. Wenn Platon zum Beispiel die wahre Einheit und Sachlichkeit der Lust in der geistigen Lust entdeckt, die als Wahrheit und Wesen der Lust lustvoller (ἡδίων) ist als alles, was sonst Lust genannt wird, dann bekennt sich in diesem Gedanken der denkende Geist rein zu sich selbst – ohne jede Konzession an den common sense. Daß Ontologen ihr geistig aussonderndes und wertendes Vorgehen gelegentlich für ein bloß begriffliches und semantisches ausgeben, gehört zu ihrer Selbstinszenierung, mit der sie sich für distanzierter ausgeben als sie in Wahrheit sind. Wie Platon ontologische Dihairesis in den Dialogen Phaidros, Sophistes, Politikos und Philebos vorführt, gibt er deutlich zu erkennen, wo die wahren Interessen

Platon, Phaidon 79a6 f.; Politeia VI 509d4; vgl. Aristoteles, De anima III 8 431b21.

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des Wesensdenkens liegen und was seine Vermögen sind, es wahrzunehmen. Konfrontiert mit dem All der benannten Sachen, läßt er seinen Dialektiker jeweils bei einer namentlich bestimmten Sache den »Schnitt« so führen, daß alles Unwesentliche, Unlautere, Unwahre und Vielheitliche an ihr in Wegfall kommt, um auf diese Weise bei der Sache selbst als der wahren Bedeutung und Bedeutsamkeit zu enden: bei dem, was rein die Sache des Geistes ist. Heidegger steht mit seiner Auffassung von Bedeutung – bei aller Unvergleichbarkeit der Methode – in der Nähe Platons. Seine Idee von »Etymologie« (der »eigentlichen« und »ursprünglichen« Bedeutung) entspricht im Resultat der rein geistigen Sache (ἄτομον εἶδος) Platons. So weiß Heidegger beispielsweise beim λέγειν auszumachen, daß es »gleich früh« zum einen sagen und erzählen, zum andern niederlegen, vorlegen und sammeln bedeute, letztere Bedeutung aber, in der er die Sache des Geistes bewahrt findet, die »noch ursprünglichere« sei. 199 Was er damit als den »engeren« und »strengeren« Sinn von λέγειν erkannt haben möchte, bestimmt sich für ihn ausschließlich aus den Interessen des Geistes, in nichts aber aus der Geschichte des Wortgebrauchs. Seinsdenken, wie es dihairetisch verfährt, manifestiert nur zum Schein logische und semantische Propädeutik. In Wahrheit führt es die Entscheidung des denkenden Geistes vor, in der er sich für sich selbst und für nichts sonst entscheidet. Dies Entscheiden gibt sich als ein Werten zu erkennen: für den Geist hat nur das Geistige Wert (»Bedeutsamkeit«). Insofern ist seinsphilosophische Dihairesis die Inszenierung der Selbstwertschätzung des Geistes als Methode.

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Martin Heidegger, Logos, S. 208.

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3.4 Die ontologische Differenz Die geistige Überwindung menschlicher Lebensart und Lebenswelt durch traditionelles Seinsdenken vollendet sich in praktisch-moralischer Sicht als »ontologische Differenz«. Ontologie weiß kraft ihres Wesenswissens, »was einen Unterschied macht«, »worauf es ankommt«: sie weiß um – praktische – Differenz. Der Einspruch gegen das Gewohnte, den mahnende religiöse Erinnerungen erheben (daß etwa der Mensch »nicht vom Brot allein« lebe 200, daß er nicht sich lebe und sterbe, sondern »dem Herrn« 201 ), wird bei weitem von der geistigen Verkehrung menschlicher Lebensressourcen und Lebensinteressen überboten, wie Ontologie sie theoretisch programmiert. Ihr zufolge kommt es, im Wortlaut Heideggers, nicht auf das Seiende, sondern vielmehr auf das Sein an, enger und bedeutsamer gefaßt: nicht auf den Menschen, sondern vielmehr auf das Sein. Um hier nur einen der Belege dafür aus dem Humanismusbrief anzuführen: das Wesen des Menschen ist für die Wahrheit des Seins wesentlich, so zwar, daß es demzufolge gerade nicht auf den Menschen, lediglich als solchen, ankommt. 202

Sicher – die Wahrheit, das Wesen des Menschen ist gemeint. Was da alles durch die ontologische Differenz in theoretischprogrammatischer Sicht an Menschlichem überwunden wird, soll ja gerade zugunsten des Menschen überwunden sein. Doch der geistige Wesenswille, wie ihn das Seinsdenken mit dieser Differenzierung zum besten gibt, läuft auf nichts anderes als auf die perfekte Verkehrung lebenspraktischer Möglichkeiten und Interessen hinaus.

5. Mose 8, 3. Römerbrief 14, 8. 202 Martin Heidegger, Über den Humanismus, S. 31. Weitere Belege siehe unten S. 145 f. 200 201

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Im Gedanken der ontologischen Differenz vollendet sich die Selbstwertschätzung des philosophisch verwalteten Denkvermögens: der Geist ist für den Geist da; er existiert und handelt um seiner selbst willen. Weil für den denkenden Geist genau dieser Geist das Beste ist, bleibt ihm überhaupt nichts Besseres zu denken als sich selbst. Weil aber der Mensch weder für gewöhnlich noch überhaupt je mit seinem wahren Geist und seiner vernünftigen Vernunft konvergiert, muß sich der wesenhaft Denkende die Sache so denken, daß nicht das Sein für den Menschen, sondern der Mensch für das Sein da ist, entsprechend auch nicht das (Wesens-)Gesetz für den Menschen, sondern der Mensch für das Gesetz. Platons Sokrates sieht es für besser an, durch das Gesetz zu leiden als dem Gesetz Unrecht zu tun, Kant sieht es lieber, daß ein liebster Mensch zu Schaden kommt als das Gesetz. Das Selbstbewußtsein des Ontologen, wie es aus seiner Gewißheit spricht, es komme ganz auf geistiges Handeln an, in dem der Geist – geistgemäß – zu sich selbst und für sich selbst steht, ist mit seiner rigoristischen Attitüde nicht ohne Folgen für das Verhältnis von Menschen zu Menschen geblieben: kommt es allein auf das geistige Wesen an, dann kommt es zugleich auch schon allein auf die »Wenigen« an. Die ontologische Differenz ist von einem geistigen Selbstbewußtsein beherrscht, das die »Vielen« vom Wesen und das heißt vom eigentlichen Menschsein ausschließt. Der Gedanke der ontologischen Differenz lebt von der Diskriminierung »Anderer«. Er gibt vor, den Menschen, wie er leibt und lebt, von seinem Wesen zu unterscheiden (das Seiende vom Sein). In Wahrheit unterscheidet er die – selbsterklärt – wesenhaften von den unwesenhaften Menschen. So ist er seinem Ansatz und seinem Ergebnis nach vollkommener Ausdruck des geistigen Chauvinismus, wie er philosophisch herrscht.

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4. Rücksicht auf Schönes? Die seinsphilosophische Sicht auf lebenspraktische Verhältnisse verspricht sich von ihnen für das Wesen des Menschen nichts. In all ihren Formen geistiger Zuwendung zum wesenhaften Menschen blendet Ontologie den Menschen, wie er leibt, lebt und seine Gegenwart erfüllt, aus. Welchen methodischen Voraussetzungen und lebensgeschichtlich bedingten Überzeugungen sich auch die seinsphilosophische Zusage und Sicht eines Wesens des Menschen im einzelnen als »begründet« verdankt, der lebendige gegenwärtige Mensch bleibt als solcher außer Betracht und ohne Zuspruch. Ontologie macht sich in der Tat prinzipiell der Ideologie verdächtig: ihr Wesensversprechen zielt nicht darauf, für den geschichtlichen Menschen auch wirklich gehalten zu werden. Dennoch ist das Verhältnis zum je gegenwärtigen Menschen, wie Seinsdenken es an den Tag legt, nicht ohne Anschein von Ambivalenz. So gedankenfern und -tief es nämlich auch der Gegenwart entgeht, um sie zugleich gegenüber allem Wesenhaften herabzusetzen – in einem Punkt wird die fast bewußte Zweigesichtigkeit seines Bestrebens unübersehbar. Es ist die Schönheit, vor allem die Schönheit von Menschen in Augen von Menschen, die Philosophie danach aussehen läßt, in ihren geistigen Wertungen nicht eindeutig zu sein. 203 Fast sieht es so aus, als hätte sie sich hier die Möglichkeit offengehalten, ihre Diskriminierung von lebendigem Leib und gegenwärtigem Leben zu revidieren und einen Sinn für menschliche Möglichkeiten im Kairos der vielfältig eigenheitlichen Lebensteilung zu entwickeln. Der genaueren Betrachtung aber zeigt sich, daß Ontologie schon im Ansatz diese Möglichkeit verspielt. Der Anschein der AmbiEntsprechend verliert die traditionelle religiöse Einschätzung des Menschen, bloß Mensch zu sein, an Eindeutigkeit, wenn etwa vom »Alten Bund« zwischen Gott und Mensch zu berichten ist, »Göttersöhne« fänden an schönen Menschenfrauen ihr Wohlgefallen. Siehe Rainer Marten, Der menschliche Mensch, S. 83.

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valenz in der Beurteilung des sinnlich Schönen läßt zwar durchblicken, daß in der Wesensphilosophie leib- und gegenwartsbejahende Kräfte noch irgendwie am Leben sind. Der denkende Geist ist jedoch bereits allzu eigensinnig auf sich selbst fixiert, als daß er fähig wäre, diesen Kräften eine Chance zu geben, sich zugunsten menschlicher Lebenspraxis zu verwenden. Man könnte meinen, dem Ontologen bliebe gar nichts anderes übrig, als in seinem Urteilen ambivalent zu sein, da er ja seine Wesenszuwendung allein emphatisch äußert. Wer nämlich sprachlich auftrumpft, um Überverständliches und damit Unverständliches zu »verstehen« zu geben, scheint zwangsläufig zu bekennen, geistig von dem zu leben, was er zu verlassen sucht bzw. verlassen zu haben meint. Anstatt sich via ontologischer Transzendenz, Befreiung, Aufgliederung und Differenz mit dem Geist und als Geist eindeutig davonzumachen, sieht es ganz danach aus, als käme der Ontologe vom je Gegenwärtigen doch nicht los. So gesehen könnte es ihn ehren, in der Bewertung des Gegenwärtigen als des für gewöhnlich Verständlichen ganz allgemein nicht schlüssig geworden zu sein. Doch diese Vermutung geht fehl. Sie versieht sich an der Art des denkenden Geistes, sich auf Geistiges und nichts sonst zu konzentrieren. Es bedarf wirklich der Überwältigung durch sinnlich Schönes, um den Philosophen noch einmal wesenhaft »zurück«-blicken zu lassen.

4.1 Platon Ein schön anzusehender und für schön angesehener Mensch verdient nach dem strikten Urteil der Ontologie eigentlich gar nicht den allgemeinen Namen »schön« und die ihm entsprechende Sicht, weil er für sie, wie schön er auch sein mag, unmöglich selbsthaft schön ist. Das Prädikat »schön«, auf Sinnliches verwandt, zeigt für Ontologie, wenn die Verwendung überhaupt angebracht ist, nicht mehr als eine Nachbenanntheit 89 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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(Eponymie) an. 204 Wenn etwas allein von dem Wesen hat und insofern nach dem Wesen heißt, es aber nicht selbst ist, spricht Meister Eckhart von einem »Beiwort«. »Bî« steht bei ihm für »quasi« (similitudo). Ist Gott zum Beispiel das »Wort«, dann ist der Gedanke menschlicher Gottähnlichkeit getroffen, wenn die menschliche Seele als das entsprechende »Beiwort« verstanden wird. 205 »Beiwort« und »Nachbenennung« geben dasselbe zu verstehen: der jeweilige Name wird nicht in seiner vollen Nennkraft gebraucht, da es die Sache nicht verdient. Auch bei Platon haben schöne Menschen nur eine Ähnlichkeit mit dem Schönen selbst: sie »gleichen« ihm, ohne es doch ihm selbst wirklich (an Schönheit) gleichzutun und ihm gleich (schön) zu sein. Das »Tritos-Anthropos«-Argument hat bei Platon keine Chance 206 : man kann nicht zur – gemeinsamen – Begründung des schönen Schönen selbst und des schönen Alkibiades auf ein »drittes Schönes« sehen. Im Grunde ist nur das Schöne selbst schön. Es ist wie mit dem Licht von Sonne und Mond: der schöne Alkibiades als solcher leuchtet nicht aus sich selbst. Das Unvermögen eines Menschen, wie er Menschen begegnet, selbsthaft schön zu sein, sieht ein Philosoph wie Platon durch den Leib bedingt und garantiert, sofern dieser der Inbegriff geistloser, unfreier und unvollkommener Lebendigkeit ist. Dem Wesenhaften zugewandt ist darum nur ein Mensch, der sich von seinem Leib und überhaupt vom Leiblich-Sinnlichen abgewandt hat. 207 Die Voraussetzungen für ein solches Unternehmen stehen, rein theoretisch beurteilt, günstig, da der Platon, Phaidon 102b; 103b. Eckhart, Meister Eckharts Predigten, Bd. I, S. 154 f. 206 Die – vornehmlich angelsächsische – Diskussion zu Platon, Parmenides 132a, hat sich bislang einseitig an dem formal-ontologischen Problem versucht. Der Wert- und Wesensaspekt wurde in ihr so gut wie ganz außer Acht gelassen. Wie der Ontologe Platon Seiendes eines Namens zum einen sein (schön-sein, groß-sein usw.) und zum andern nicht sein (ist »irgendwie« nicht) läßt, macht die Anwendung des Arguments auf ihn wirklich unmöglich. 207 Platon, Phaidon 64e; 67c. 204 205

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Leib, wie Philosophen urteilen, überhaupt nicht wesenhaft zum Menschen gehört 208 , er mit ihm also auf nichts Wesentliches zu verzichten hat. Das Wesen, so der einfache ontologische Gedanke, ist wesenhaft früher als das, was Wesen zur Bestimmung hat, ohne selbst Wesen zu sein. Der Gedanke des Wesens ist als solcher je der eines ontologischen Apriori. Platon etwa reklamiert dies Apriori ausdrücklich für die Seele 209, Heidegger für die Selbstheit. 210 Ist für Platon die Seele älter als der Leib, so ist für Heidegger (in seiner Art transzendentalphilosophischen Denkens) das Selbst des Menschen früher als seine Geschlechtlichkeit. »Wesenssätze« sollen überhaupt nur im »Tempus« des ontologischen Apriori sprechen. Alle Wachstums-, Entwicklungs- und Geschichtszeiten sind damit für den Wesensphilosophen, weil wesensirrelevant, ausgeblendet. Existentialontologisch vorgestellte Selbstheit kann unmöglich für das Resultat einer Ontogenese (Individuation und Sozialisation) genommen werden. 211 Die Ontologen sind sich darin einig: das Wesensspätere verdient 208 Aristoteles, Nikomachische Ethik IX 8 1169a2; a17; X 7 1177b26– 1178a8; vgl. Metaphysik XII 7 1072b24 f. Auch Heidegger ist hier zu nennen, wenn er zum Beispiel Geschlechtlichkeit nicht zur Selbstheit gehören läßt (Vom Wesen des Grundes, S. 35). Selbst bei seinem Versuch, den Leib gedanklich aufzuwerten, bleibt er es schuldig, nein: ist es ihm unmöglich, den Leib des Menschen seinem Wesen zuzuschlagen (siehe unter anderem Über den Humanismus, S. 14 f.). 209 Timaios 33b ff.; Nomoi XII 966d–967b. 210 Martin Heidegger, Vom Wesen des Grundes, S. 35: »Nie aber ist Selbstheit auf Du bezogen, sondern – weil all das erst ermöglichend – gegen das Ichsein und Dusein und erst recht etwa gegen die ›Geschlechtlichkeit‹ neutral. Alle Wesenssätze einer ontologischen Analytik des Daseins im [sic] Menschen nehmen dieses Seiende im vorhinein in dieser Neutralität.« 211 Eher das Umgekehrte ist der Fall. Martin Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, S. 172: »Das Dasein in seiner [geschlechtlichen] Neutralität ist nicht indifferent Niemand und Jeder, sondern die ursprüngliche Positivität und Mächtigkeit des Wesens. (…) Die Neutralität ist nicht die Nichtigkeit einer Abstraktion, sondern gerade die Mächtigkeit des Ursprunges, der in sich die innere Möglichkeit eines jeden konkreten faktischen Menschentums trägt.«

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für sich nicht das Interesse des Denkens. 212 Einzig im Falle des sinnlich Schönen scheint Wesensspäteres mit ontologisch Früherem und Ursprünglichem ernsthaft zu konkurrieren. Man muß sich fragen, ob es sich dabei um einen ungelösten Konflikt von Aversion und Appetenz handelt, weil sich der Geist vielleicht über seine wahren Interessen noch nicht vollends schlüssig geworden wäre, oder ob das sinnlich Schöne wirklich aus sich und für sich dem Geist zu denken gibt. Zwei Strophen Hölderlins scheinen Klarheit zu schaffen: »Warum huldigest du, heiliger Sokrates, »Diesem Jünglinge stets? kennest du Größers nicht? »Warum siehet mit Liebe, »Wie auf Götter, dein Aug’ auf ihn? Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste, Hohe Jugend versteht, wer in die Welt geblikt, Und es neigen die Weisen Oft am Ende zu Schönem sich. 213

Das ist nicht die Art König Davids, nach Bathseba im Bade zu spähen, die »von sehr schöner Gestalt« ist. 214 Das ist schon gar nicht die Art der beiden Alten, die Susanna beim Baden zuschauen. 215 Das ist vielmehr der liebende Geist. Um sich dieses Geistes zu vergewissern und ihn zu praktizieren genügt es, auf den jungen Mann »wie auf Götter« zu sehen und so die sinnliche Sicht als heilige eines Heiligen zu üben. Die Liebe und das Lieben, das Lebendige und das Schöne haben in diesem Fall keine Kraft, den Geist von sich selbst abzubringen. Ganz im Gegenteil: darin und dabei lebt er sich als er selbst aus. Hölderlin ist sich dessen sicher. So gibt er seine zunächst dem Geist zuliebe Heidegger hat zum Beispiel allein über das nachgedacht, was »vor« der Geschlechtlichkeit liegt, nicht aber über sie selbst. 213 Friedrich Hölderlin, Große Stuttgarter Ausgabe, I, 1, S. 260. Zuerst veröffentlicht im Musen-Almanach 1799. 214 2. Samuel 11, 2. 215 Daniel, 13, 16 ff. 212

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geübte sprachliche Vorsicht auf. Der konstituierte Text früherer Entwürfe zeigt den Blick auf den Schönen im Sprachlichen noch deutlich geistiger, ja geistlicher: »Warum huldigest du, heiliger Sokrates! »Diesem Jünglinge? kennt Größeres nicht dein Blik? »Warum siehet begeistert »Wie auf Götter, dein Aug’ auf ihn? Wer das Tiefste gedacht, ehrt das Lebendigste, Hohe Jugend erkennt nur der gereifte Geist, Und der Weiseste wendet Fromm am Ende zu Schönem sich. 216

Es ist, als nehme Hölderlin mit seinen Überarbeitungen eine Entspiritualisierung vor: das »begeistert« muß dem »mit Liebe« weichen, das »ehrt« dem »liebt«, »der gereifte Geist« wird zu einer Weltläufigkeit des Blicks, die fromme Gebärde des Weisen soll nurmehr eine häufige sein. Hölderlin betont in der Endfassung den Eigenwert des sinnlich Schönen, indem er das Sinnliche der geistigen Bezugnahme auf es hervorkehrt. Doch die Neigung zum Schönen bedeutet auch in ihrer endgültigen Version nicht, daß der Geist sich selbst aufgäbe, um »am Ende« nurmehr sinnlich zu sein. Das Lieben bleibt im engen Sinne des Wortes ein »begeistertes« (Platons Enthusiasmos). Ein Konflikt zwischen Geistigkeit und Sinnlichkeit hat nicht statt. Das sinnlich Schöne verlangt und genießt die volle Zuwendung des Geistes, da es ganz in ihn einbehalten ist: eine sinnliche Spielart seiner selbst. Heidegger verfehlt die Tendenz von Hölderlins Gedanken, wenn er die beiden Strophen in ihrer Endfassung zitiert 217 , um auf ein Verhältnis von tiefem Denken und hohem Dichten aufFriedrich Hölderlin, Frankfurter Ausgabe, Bd. 5, Oden II, S. 456. Martin Heidegger, Was heißt Denken?, S. 9. Daß das »Mögen« im Denken ruht, die »Liebe« auf dem Denken gründet, wird acht Jahre zuvor bei Auslegung derselben Hölderlinverse klarer als reine Wesensemphase formuliert: »Das eigentliche Denken ist das wahre Lieben« (Heraklit, S. 221).

216 217

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merksam zu machen und Denken ohne Rücksicht auf Sinnlichkeit als Lieben zu deuten. Das geschieht nicht von ungefähr. Mit Schönheit von Menschen nämlich hat Heidegger philosophisch nichts im Sinn. Ihn bewegt vielmehr die Heiligkeit der Dinge, wenn er in seinem späten Denken Welt als das thematisiert, was den Menschen zu seinem Eigenen finden läßt. 218 Hölderlins Sokrates ist der platonische. Der nämlich hat wirklich Schönheit im Sinn – nicht nur die des vernünftig geordneten Kosmos 219, sondern eben auch die des Menschen: die sinnliche des Epheben. Fragt Platons Sokrates mit Blick auf anwesende Adoleszenten, ob durch Geist (σοφίᾳ) oder durch Schönheit oder durch beides Ausgezeichnete (διαφέροντες) unter ihnen wären 220 ,

dann scheint er Geist und sinnliche Schönheit geradezu einander gleichzustellen, ganz so, als bedeute es gleichviel, bei jungen Leuten durchgängig nicht nur aufgeweckte Verstandeskraft, sondern auch aufgeblühte Schönheit zu erwarten. 221 Doch Platon sieht eben – vorbildhaft für alle Platoniker – die Bejahung sinnlicher Schönheit allein in Verbindung mit ihrer Anerkennung als einer vergeistigten und vergöttlichten. Ist der schöne junge Mann vor den Augen des Philosophen, der es mit Apoll und nicht mit Aphrodite hält, als solcher schön von »Angesicht« und »Gestalt« 222 , dann erscheint er gleich einem Götterbild (ἄγαλμα) 223 . Schaut er ihm jedoch unter das Gewand, dann sieht selbst er Löwe und Tier, so daß er, obgleich eigentlich auf geistige Art der sinnlichen Schönheit zugewandt, nicht mehr bei

Ders., Das Ding, S. 172 ff. Platon, Timaios 29a; 30a; 91c. 220 Ders., Charmides 153d4 f. 221 Ebd., 154b9 f.: σχεδὸν γὰρ τί μοι πάντες οἱ ἐν τῇ ἡλικίᾳ καλοὶ φαίνονται. 222 Ebd., 154d2; d 5. 223 Ebd., 154c8. 218 219

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sich und das heißt bei Geiste ist. 224 Der Blick auf »schamlose« Schönheit, wie Künstler 225 und Eroten 226 ihn üben, bleibt ihm fremd. Ist der Blick auf den schönen Leib gerichtet und nicht über ihn hinweg auf die schöne Seele (auf die Wohlgestaltetheit ihres geistigen Wesens), sieht er sich also am Leib fest, dann verliert er, wie Ontologen das sehen, die Schönheit aus den Augen. Er trifft nurmehr auf Wildes und Entsetzendes: auf wahrhaft Häßliches. Der Philosoph, der sich dem ganzen Menschen und nicht etwa dem Leib ohne Seele zuwendet, wenn es gesundheitliche Probleme gibt 227 , ist darum, steht Schönes bevor, nicht eigentlich als Voyeur, sondern vielmehr als Parleur gefragt. Er hat nicht »schöne Blicke« auf männliche Jugend zu werfen, sondern »schöne Reden« an sie zu richten und mit diesen in die Seelen einzudringen. 228 Der schöne Adoleszent ist ja überhaupt nur schön, insofern gerade an ihm die Schönheit des Leibes für etwas Geringeres anzusehen ist als die Schönheit der Seele. 229 Schönheit der Seele ist für Platon keine Metapher. Eher noch brächte ihm »Schönheit« des Leibes den bloß abgeleiteten und »übertragenen« Gebrauch des Wortes ins Spiel. 230 Schönheit, so müssen wir Platon verstehen, ist nicht ursprünglich etwas Sinnliches. Überraschend an ihr ist umgekehrt, auch und sogar sinnlich wahrnehmbar zu sein, bereits hier zu »glänzen« und zu Ebd., 155d. Zum Beispiel Rodin. Siehe Auguste Rodin, Die erotischen Zeichnungen, Aquarelle und Collagen, München 1987. 226 Freud dagegen meint, »daß wir die Genitalien selbst (…) eigentlich niemals ›schön‹ finden können«. Es sei eine Perversion der Schaulust, wenn sie sich auf die Genitalien einschränke. Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, S. 55 Anm. 1 und S. 56. 227 Platon, Charmides 156e. 228 Ebd., 157a; Symposion 210a. 229 Symposion 210b–c; vgl. 211d. 230 Zur Verkehrung der Metapher durch Ontologie siehe Rainer Marten, Die Bedeutung der Etymologie im Denken Martin Heideggers. 224 225

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»leuchten«. 231 Schönheit, wie Platons Sokrates urteilt, ist das »Hervorleuchtendste und Liebenswerteste« 232 – sie leuchtet von ganz anderswoher und nimmt mit ihrem Reiz auf ganz andere Weise gefangen. Dies geistige Verständnis von Schönheit läßt sich am besten in Abwandlung eines Gedankens von Anselm verdeutlichen: Schönheit ist das, worüber hinaus nichts »Größeres« sinnlich geschaut werden kann (quo majus videri nequit). Sie ist zuvor das, was »größer« ist, als daß es sinnlich geschaut werden könnte (majus quam videri possit). Das ist die richtige geistige Perspektive: Schönheit hier und Schönheit dort sind ihrem Wesen nach geschieden. Die hiesige kommt überhaupt nur als solche in Betracht, sofern sie von dorther »gesehen« wird. Den schönen Epheben zu schauen verlangt philosophisch, ihn ja nicht körperlich, wohl aber geistig zu »berühren«. 233 Dennoch ist der schöne junge Mann kein bloßer Lockvogel, der zum reinen Denken verführt, um für sich selbst, hat er sein Werk getan, methodisch-dialektisch vollständig übergangen zu werden. Zwar wird, wer auf geistige, und das heißt, philosophisch-erinnernde Weise einen Epheben erblickt, heftig (ὀξέως) von hier nach dort gezogen: zur Schönheit selbst 234 , aber als das für schön Geschaute und zum liebenden Wahnsinn Führende dient er nicht bloß dem Initiationsritus einer Neueinweihung in die Mysterien der – geistigen – Liebe, um daraufhin als er selbst vergessen zu werden. Der philosophisch-erinnernde Blick bleibt auf den Epheben gerichtet; er wandelt sich nur: es kommt zum anschauenden Verehren (σέβεται προσορῶν); der Blick »verschlingt« den Schönen nicht. Der philosophische Päderast gibt seinem Geliebten das Aussehen eines Gottes (ὡς θεόν). Von der liebreizenden Gestalt wird so die ganze Seele des Schauenden erwärmt. 235 231 232 233 234 235

Platon, Phaidros 250c. Ebd., 250d. Ders., unter anderem Phaidon 79d; Symposion 212a; Phaidros 253a. Ders., Phaidros 20e. Ebd., 253e.

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4.2 Kant Eine auf den ersten Blick ambivalente Deutung des sinnlich Schönen findet sich auch in der Morallehre Kants. Verliert bei Platon durch den Anschein der Ambivalenz die geistige Tendenz »besser ohne Leib« ihre Eindeutigkeit, so bei Kant die Tendenz »besser ohne Frau«. Hat Platon in Anbetracht des Schönen seine Probleme mit dem Verhältnis von Leib und Seele, so Kant mit dem von Frau und Mann. Kants Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen aus dem Jahre 1764 lassen sich als Diskriminierung der Frau durch den Mann lesen, aber auch als ihre Rechtfertigung vor dem Mann – je nachdem man ihr Schönsein, wie es diese Schrift anerkennt, als geistige Auf- oder Abwertung »empfindet«. Kant spricht in seinen »Beobachtungen« die geschlechtliche Differenz des Menschen in einer solchen Grundsätzlichkeit an, daß er – unausdrücklich – den Gedanken nahelegt, Mann und Frau könnten nicht je für sich Menschen sein, sondern allein im Verhältnis zueinander: der Mensch bedürfe in der Beziehung von Mann und Frau (Kant: »Geschlechterneigung«) als Mensch, daß sich die Frau als Frau und der Mann als Mann gibt. 236 Die Frau repräsentiert dabei das schöne und anmutige Geschlecht, der Mann das erhabene und edle. Ist der frauliche »Charakter« das Schöne, die männliche »Eigenschaft« aber das Erhabene, dann bewährt sich diese Differenz theoretisch wie praktisch: dem schönen Geschlecht werden schöner Verstand und schöne Handlungen zugesprochen, dem edlen Geschlecht tiefer Verstand und Schwierigkeiten behebende Handlungen. Die Frau habe sich mit ihrer Tugend ja auch allein gegen das Häßliche zu wenden, der Mann aber mit der seinen gegen das Ungerechte und Böse. 237 Immanuel Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, S. 228. Zu den beiden »als« siehe ebd., S. 242. 237 Ebd., S. 228–231. 236

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Die Bejahung des Sinnlichen in Anbetracht der schönen Frau bringt Kant dazu, anstatt auf ein allgemeines Wesen des Menschen zu sehen, den Eigenheiten von Frau und Mann nachzudenken. In ihrer Unterschiedenheit und zugleich Bezogenheit aufeinander sieht er einen »Zweck der Natur«: das eine wie das andere Geschlecht zu vervollkommnen, und zwar jeweils als solches. Anstatt irgendeine philanthropische Gleichmacherei im Sinn zu haben, die mit dem Anspruch der Aufklärung auftritt, denkt Kant vielmehr an die Stärkung der unterschiedlichen Eigenheiten durch das lebensteilige Einander und für es. Die Frau trägt dazu bei, den Mann zu veredeln und so als Mann zu vervollkommnen, der Mann wiederum, die Frau zu verschönern und so als Frau zu vervollkommnen. 238 Demnach soll nicht zugunsten eines Wesens des Menschen alles Mann werden. Es hat nicht jeder edel, tief und ganz um das Prinzipielle bemüht zu sein, um etwa den Menschen letztlich doch in seinem eigenheitlichen Wesen gänzlich dem Sinnlichen entgehen zu lassen, sei es auch noch so schön. Kant plädiert nicht für die – theoretische – Abschaffung der Frau (sc. als wesensrelevant), sondern bemüht sich vielmehr um ihr Sinnliches und Nichtgeistiges als eine eigene Möglichkeit von Geist. In einer Hinsicht liest sich das, was Kant über die »Weltweisheit des Frauenzimmers«, über der Frau gerührtes Empfinden, ihr moralisches Gefühl und ihre moralischen Möglichkeiten zu sagen hat, als ebenso lächerlich wie diskriminierend. 239 Die Frau sei keinem – moralischen – Sollen und Müssen verpflichtet. Kant schildert damit ein Wesen, das, von seinem späteren Denken aus beurteilt, überhaupt nicht autonom ist, weswegen für es auch gar kein »kategorischer Imperativ« existiert. In anderer Hinsicht aber zeigt sich, wie Kant damit den Gedanken einer Eigenheit der Frau und ihre geistige Rechtfertigung verfolgt. 240 238 239 240

Ebd., S. 240. Ebd., S. 230 ff. Gleichgerichtete Unternehmen sind bemerkenswerterweise wieder ak-

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Seine Einlassungen zugunsten der Eigenheitlichkeit und Geistigkeit der Frau lesen sich als Ansätze zu einer Theorie der Transsubstantiation der Schönheit. Wird nämlich, so sein Gedankengang, das Alter als »Verwüster der Schönheit« (sc. des Leibes) tätig, dann ergibt sich die Chance, daß erhabene und edle Eigenschaften die Stelle der – sinnlich – schönen einnehmen. Das zielt nicht auf eine mögliche und nötige Vermännlichung der alternden Frau, auf keinen moralischen Transvestismus. Im Gegenteil. In der »Blüthe der Jahre« erlangt das schöne Geschlecht seine Vollkommenheit: die schöne Einfalt. 241 Die Musen ersetzen die Grazien. Für Kant ist eine solche Person vielleicht noch liebenswürdiger als ein Mädchen, wiewohl in einem anderen Verstande. 242

Die Liebenswürdigkeit »in einem anderen Verstande« – das ist der Gedanke der anderen Schönheit. Die gealterte Frau in ihrer Vollkommenheit ist schön – in der Substantialität einer eigenen Art von Geist. Das Sinnliche hat in den Augen des Philosophen überhaupt nur eine einzige wesenhafte Möglichkeit, nämlich geistig zu werden. So bringt die positive Einschätzung des Schönen im letzten doch keine Aufwertung des Sinnlichen als solchen, wohl aber eine Differenzierung des Geistigen. Man könnte meinen, die Tatsache, daß Ontologen am sinnlich Schönen nicht einfach vorbeigehen, zeige einen letzten Funken von lebenspraktischem Realismus bei ihnen. Doch dem ist nicht so. In Wahrheit hat sie diese einzigartige Rücksicht auf Sinnliches in ihrer prinzipiell geistigen Orientierung überhaupt nicht bedenklich gestimmt. Die ambivalente Beurteilung des Schönen durch Ontologen ist wirklich eine bloß scheinbare. In der Bewertung des Wesens nämlich sind sie sich in keinem Motuell. Siehe unter anderem den Versuch der Kohlbergschülerin Carol Gilligan, In a Different Voice. 241 Immanuel Kant, ebd., S. 239 ff. 242 Ebd., S. 240. ___

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ment im Unklaren: es ist einzig und eindeutig ein geistiges. Der Philosoph nimmt weder männliche noch weibliche Schönheit als Einladung, seine Lebensfremdheit ja Lebensfeindlichkeit (sc. geistige) zu revidieren. Diese reizvollen Anblicke bestärken ihn geradezu noch, sich durch nichts, aber auch wirklich durch nichts davon abbringen zu lassen, sich zugunsten des Wesens des Menschen (eines je gegenwärtigen oder eines insgesamt künftigen) rückhaltlos dem Geistigen zu verschreiben. Ontologie ist ihrem Logos nach ein Seins- und Wesensversprechen. In ihm traut der denkende Geist sich sich selbst an. Wer meint, die sinnliche Schönheit des Menschen in den Augen von Menschen hätte für einen Moment dem Geist die Tür geöffnet, sich doch noch auf einen Kairos unter Menschen einzulassen, auf eine Gegenwart im Einander von Eigenheiten wie Jung und Alt, Mann und Frau, täuscht sich. In ihrem Versprechen des wahren Menschen ist Ontologie unbeirrt Ideologie: sie tut nichts für seine Einlösung, will und kann nichts dafür tun. Das macht auch ihren einzigen realistischen Zug aus, insofern lebenspraktisch und geschichtlich nichts für einen möglichen Auftritt des versprochenen Wesens spricht, sondern alles für dessen Unmöglichkeit. Der geneigte Blick auf Schönes »am Ende« verschleiert dem Ontologen niemals seine Wesenssicht: den denkenden Geist, wie er, jedem Kairos, jeder Gegenwart, jedem eigenheitlichen Einander und jeder Sinnlichkeit enthoben, durch sich selbst rein bei sich selbst ist.

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II. Das Denken im Schatten seiner selbst

Vom Talmiglanz befreit, dem Menschen die ihm eigentlich bestimmte ganz andere Realität zuzudenken, gibt der denkende Geist nicht schon notwendig zu erkennen, wozu er in Wahrheit taugt. Die Vertreibung des Seinsdenkens aus seinem ideologischen und utopischen Element läßt es kritischen Augen erst einmal selbstverloren erscheinen: ganz sich selbst überlassen und auf sich selbst losgelassen – nurmehr sich selbst ein Problem.

1. Der Ort des Seinsdenkens 1.1 Die Seele »Organologisch« verstanden findet die Frage nach dem Ort des Seinsdenkens ihre Antwort im Womit. Das Organon des Denkens (νοεῖν), allgemein gefaßt und formal bestimmt, ist das Denkvermögen (νοῦς, νοητικόν). Denken, so gibt diese Lokalisierung zu verstehen, hat »im« Denkvermögen statt. Denken als »organischer« Prozeß manifestiert diesem Verständnis zufolge die geglückte Aktualisierung des Denkvermögens. Die organologische Deutung des Denkorts ist in der Philosophie vorgezeichnet. Platon unterscheidet Auge und Seele als das, wodurch und womit gesehen wird. 1 Das Auge dient dem Sehen, sieht aber nicht selbst. Das bloße Organ des Sehens ist nicht die letzte Instanz und damit überhaupt nicht der Ort des Sehens. Wie Augen in dieser Sicht nichts selbsthaft aufzunehmen haben, so können Masken (personae), durch die es nur hindurch1

Platon, Theätet 184c f.

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Das Denken im Schatten seiner selbst

tönt, nichts selbsthaft von sich geben. 2 Diese Unterscheidung von Selbstlosem und Selbsthaftem findet in der Deutung des Denkens bei Platon keine Entsprechung. Hier ist »alles« sogleich selbsthaft. Ein eigenes und bloßes Organ für das Denken, wie etwa das Zwerchfell (φρήν), kommt nicht in Betracht. Das, was denkt, ist die Seele (sc. die Denkseele) allein für sich. Spricht Platon vom »Auge der Seele« 3 und entsprechend von der »Sicht des Seins« (θεὰ τοῦ ὄντος), dann kann zwar bildhaft gesagt werden: die Seele sieht und denkt mit ihrem Auge 4, aber der Sache nach ist »Auge« doch umschreibend gebraucht. Wird Seele in eins als Denkendes und als letztvermögendes Organ des Denkens vorgestellt, dann ist damit kein Vermögen gedacht, das für sich zugleich das wäre, was sich in Gebrauch nimmt. Auch ohne Persönlichkeitstheorie versteht sich Platon soweit auf den Menschen, daß es je der Einzelne ist, der denkt. Freilich stellen dann denkvermögende abgeschiedene Seelen 5 noch ein besonderes Problem dar. Auch das persönliche Schicksal und die eigene Prägung der Seele geben zu denken. Während nämlich ein Sokrates dem aristotelischen Seinsdenken nach nicht als Sokrates, sondern allein als Mensch eine Seele hat, läßt bei Platon die schöne Seele des Sokrates an Eigenes denken, das sie nicht mit jeder menschlichen Seele teilt: an die schöne geistige Zeugung von Schönem in Schönem. Keine menschliche Seele ist als einiges Womit und Wodurch des Denkens fortwährend in Tätigkeit. Aristoteles führt die organologische Deutung des Denkens kritisch weiter, wenn er in sie die Unterscheidung von Wachen und Schlafen einbringt. 6 Wer Denkseele hat, ist lebendiger Mensch, ob er sie gebraucht oder nicht. Schläft er jedoch und »schläft« mit ihm die Seele, Platons Kritik an Dichtern im Ion ist zu erinnern, die als Hermeneuten von sich selbst aus nichts zu sagen haben. 3 Politeia VII 533d. 4 Vgl. Aristoteles, De anima III 4 29a23: die Seele denkt mit dem Nus. 5 Platon, Phaidon. 6 Aristoteles, Nikomachische Ethik I 8 1098b31 ff. 2

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Der Ort des Seinsdenkens

dann ist er das, was er ist, nur als »erste Verwirklichung«: er ist Mensch, aber ohne eigene Verwirklichung des menschlichen Wesens. Erst die »zweite Verwirklichung«, die Aktualisierung des Denkvermögens (θεωρεῖν im Unterschied zu ἐπιστήμη), macht für Aristoteles den Menschen vollends zum Menschen. 7 Weder bei Platon noch bei Aristoteles schließt die organologische Deutung des Seinsdenkens eine physiologische bzw. psychosomatische ein. Gibt es zum Beispiel auch schon bei Platon Ansätze zu einer Theorie des Wahrnehmungsurteils, die erklärt, wie die Seele urteilend mit dem zurechtkommt, was nicht ihr selbst entstammt und nicht einmal mit ihr seinsverwandt ist 8 , so zielt doch die Idee des Seinsdenkens bei beiden Philosophen auf reines Denken. Dies aber hat rein in der Seele bzw. in der Aktualisierung der Denkseele rein als Denkseele statt, ohne daß Nichtgeistiges den Stoff und die Möglichkeit dazu abgäbe. 9 Es ist jedoch zu überprüfen, ob die Ortung im »Organischen« nicht nur eine Perspektive ist, die nicht jede Art von Ort erfassen kann und will, an dem Seinsdenken statthat. Versteht sich dies zum Beispiel nicht als Seinssicht, sondern als Seinslogos, dann ändert sich damit schon einmal die Vorstellung des Organischen. Das Womit des Urteils hat nichts mehr von der Anschaulichkeit des Womit geistigen Sehens. Ist aber der Logos genauer ein Dialogos, dann scheint die Isolierung des Denkorgans aufgehoben und es selbst nicht länger der Ort des Denkens zu sein. Denken, das im Gespräch statthat, gerät, so möchte man meinen, zwischen die Seelen. Was da nach weitverbreitetem Urteil dem Vorbild Platons abzuschauen ist, findet in Hei-

Zum Begriffsgebrauch siehe unter anderem De anima II 1. Philebos 38a–39e. 9 Es ist also nicht die innerseelische Vergegenwärtigung von Wissen gemeint, durch die der Besitz (κτῆσις) von Wissen in das (Parat-)Haben (ἕξις) von Wissen überführt wird (Platon, Theätet 197a8 ff.). Damit wäre ja an die mögliche Aktualisierung auch von solchem gedacht, das sich durch sinnliche Wahrnehmung in die Seele »eingeschrieben« hat. 7 8

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deggers »Erfahrung des Denkens«, wie sich ihre Mitteilung liest, eine späte Bestätigung: Es [das Gespräch] erheitert zur geselligen Besinnung. Diese kehrt weder das gegenstrebige Meinen hervor, noch duldet sie das nachgiebige Zustimmen. Das Denken bleibt hart am Wind der Sache. 10

Zu mehreren soll es sich demnach auf eine erfreuliche Weise besser (und in jedem Falle ebenso streng) denken lassen als allein. Zwar bilden sich unter den Gesprächs-»Gesellen« Hierarchien heraus (»damit unvermutet einer aus ihnen Meister werde«). Doch ein Denkmeister verdankt sich ja als Gesprächsgeselle und dann Gesprächsführer dem Gespräch. Anders als bei dem von Heidegger gern berufenen liebenden Streitgespräch mit – abgeschiedenen – Denkern, die in ihm der Auslegung wehrlos ausgesetzt sind 11 , kann auch ein »Meister« noch aus der Runde, der er präsidiert, Einwände zu hören bekommen und sachlich korrigiert werden. Doch Platons Vorbild ist genauer zu beachten. Für ihn nämlich (den Meister des Dialogs?) ist es klar, daß es jeweils eine Seele für sich ist, die wahres Sein durchdenkt und zur geistigen Klärung bringt: im Gespräch mit sich selbst. 12 Insofern ist das »gesellige« Gespräch unter Ontologen nicht mehr als eine Staffage. Im platonischen Dialog denkt ja zumeist auch nur einer, der andere entweder als philosophisch Begabte in das Denken einführt oder als Sophisten und Gedankenlose bloßstellt. Das »Gespräch« hat somit je nachdem die Funktion, geistiges Verhalten anderer der Denkbewegung der eigenen Seele anzugleichen oder als dazu unfähig völlig von ihr auszuschließen. Im Gespräch miteinander zu denken – das hat zwar lebenspraktisch seine pädagogischen und polemischen Meriten, ist aber streng sachlich für eine metaphorische Bestimmung anzusehen. Selbst wenn bei Platon, Cusanus und anderen Denkdialogverfassern gelegentlich zu bemerken ist, wie die im 10 11 12

Martin Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens, S. 11. Platon, Phaidros 275e. Theätet 185d–186a; Sophistes 263e–264a; vgl. Phaidon 79d1.

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Der Ort des Seinsdenkens

Gespräch Belehrten selbständig weiterdenken – das Denkvermögen eines Einzelnen allein ist es, das für sich wirklich und seinsphilosophisch wesenhaft denkt. In dieser Sicht des Denkens unterscheidet sich Heidegger nicht von Platon. Den Logos des Wesens zu fordern, ihn zur Antwort zu geben und nach Prüfung zu akzeptieren – so handelt jeweils die eine Seele für sich selbst. Ihr Selbstgespräch ist nichts Zweitbestes, ist keine schwächere Spielart des Gesprächs unter Menschen, sondern ist vielmehr die Urform des – platonischen – Dialogs: des Denkgesprächs über das Sein. Nicht jede Menschenseele ist freilich dazu in der Lage. Sie muß dazu hinreichend philosophisch veranlagt und entwickelt sein. 13 Einmal so weit, denkt sie genau dasselbe wie jede andere »philosophische« Seele. Homologie 14 ist verbindlich. Was im geselligen Dialog noch als freie Absprache erscheint, versteht sich in Wahrheit als unausweichliches Gleichsagen und -denken alles seins- und wesensgerichteten Geistes. Der Ort des Denkens ist so für Platon der διάλογος als διάνοια 15 , das Durchsprechen und Durchdenken einer Sache, das der denkende Geist kraft seiner selbst rein bei sich selbst durchführt – ohne jede Mithilfe aus dem Bereich des Sinnlichen. 16

1.2 Die Wirklichkeit Seinsdenken, das seinen Ort im (Dia-)Logos der Seele hat, ist das dianoetische, das sachlich mittelbare. Das noetische dagegen als das sachlich unmittelbare ist zwar auch ein Denken der Seele, jedoch mit dem Unterschied, daß sie die Sache nicht in sich reflektiert, sondern sich vor sie selbst bringt. Der denkende Geist, Platon, Politeia VI 485a–487a. Zur methodischen Bedeutung von Homologie für den Dialog siehe insbesondere Platon, Philebos. 15 Sophistes 264a9. 16 Ders., Politikos 285e–286a; Politeia VII 532a–b. 13 14

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für einen Augenblick ganz bei der Sache, ist in seinem Enthusiasmos nicht mehr ganz 17 bei sich. Er »schaut«, »ergreift«, »berührt« das heißt denkt distanz- und aspektlos das Sein. 18 Das unmittelbare Denken ist kein Prozeß mehr. Es hat zeitlos-plötzlich und blitzartig statt. 19 Der Ort des Denkens gleicht einem – unvergleichlichen – Tatort. Nur außergewöhnliche Örtlichkeiten wie der »überhimmlische Ort« können jetzt überhaupt noch die Idee eines Denkortes retten. An ihm ist denn auch das eigentlich Unmittelbare dem Geist wieder etwas übersichtlicher präsentiert. 20 Schon der parmenideische Denker, den es über alles nur Gewöhnliche hinausführt (κατὰ πάντ’ ἄστη φέρει) 21 , gelangt an ein extremes, für andere Sterbliche unerfahrbares »Dort«, als er den Einlaß zur gottgeleiteten Einsicht der runden Wahrheit erreicht. Es ist der Ort, an dem die göttliche Tag- und Weltordnung entschieden wird. 22 Was so in Bildern gezeigt wird, bringt Aristoteles auf den Begriff: seinsphilosophisch vollendet gedacht wird nur in der Wirklichkeit selbst. Es ist nämlich die Wirklichkeit des vollkommenen Geistes, die einzig reine Wirklichkeit ist. 23 Nur der denkende Geist, der rein er selbst ist, läßt sich als reine Wirklichkeit denken. Das reine wirkliche Sein ist so die Sache des reinen wirklichen Denkens – der Genitiv unwiderruflich im doppelten Verstande. Das schlechthin wirkliche Denken berührt nämlich in der für es rein zu denkenden Wirklichkeit rein sich selbst. Denken und Gedachtes sind dasPhilosophischer Wahnsinn unterscheidet sich nach Platon von anderem dadurch, daß er den Wahnsinnigen gerade nicht um den Verstand bringt (Phaidros 249d–250c). 18 Platon, siehe unter anderem Symposion 210e; Phaidros 248a; Politeia VII 517c; VI 511b; VII 532b; VI 484b; Phaidon 79c–d; Symposion 211b. Zu θιγγάνειν bei Aristoteles siehe Metaphysik IX 10 1051b24; XII 7 1072b21. 19 Platon, Symposion 210e; Siebter Brief 341c–d. Zur Zeitlosigkeit des Plötzlichen siehe Parmenides 156d–e. 20 Ders., Phaidros 247c ff. 21 Parmenides, Fragment Β 1, 3. 22 Ebd., B 1, 11. 23 Aristoteles, Metaphysik XII 7 1072b27 f. 17

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Der Ort des Seinsdenkens

selbe. In dieser wirklichen Vollkommenheit des Denk- und Seinsverhältnisses ist keine Denkseele am Werke, die bloß der Möglichkeit nach (δυνάμει) alles zu denkende Sein wäre. 24 Denkende Wirklichkeit und gedachte Wirklichkeit (νοῶν und νοούμενον, νοῦς und νοητόν) als rein geistige sind wirklich ein und dasselbe – in der Differenz des Sichselbstdenkens und -berührens. 25 Das noetische Denken zeigt neu, daß der Ort des Denkens die Denkseele selbst ist. Das »in der Wirklichkeit« als Ortsbestimmung ist nur zu verstehen, insofern der reine und wirklich denkende Geist selbst alle geistige Wirklichkeit ist. Damit ist aber nicht nur die philosophische Sicht bestätigt, daß Denken in der Seele statthat, sondern zugleich die Denkseele als ihr eigener Ort entdeckt: sie ist sozusagen ihre eigene Seinsstatt, ihr eigener Tatort. Der denkende Geist haust und lebt in sich selbst. Für Heidegger hat Seinsdenken als Wesensvollzug des Menschen in der »ontologischen Differenz« statt. Diese Differenz im Denken auszutragen erfordert in seiner Sicht, das Sein selbst zu denken: es offenbarzumachen, zu wahren und zu gestalten. Das stellt sich in Sein und Zeit noch als eine eher existenzgeschichtliche (um nicht zu sagen lebensgeschichtliche), im späteren Denken als eine eher seinsgeschichtliche Aufgabe dar. Wesenhaft denkend gehöre der Mensch dem Sein zu, habe er seinen Wesensaufenthalt im Seinsverhalten selbst, indem er den Unterschied von Sein (selbst) und Seiendem, von Wesen des Seins und Menschenwesen austrage. Nicht von ungefähr ist der Gedanke griechischen Denkens, der ihn am meisten bewegt, herausfordert und in seinem Denken begleitet, der parmenideische Ge-

Ders., De anima III 8 431b21. Die Seele ist jedoch unmöglich das Geistige seiner Wirklichkeit nach (ἐνεργείᾳ), insofern dies in Ungeistiges eingebunden ist (εἶδος ἔνυλον). Die Denkseele ist zum Beispiel nicht ein wirkliches Haus (wirklich im Sinne eines ἐνεργείᾳ ὄv). 25 Aristoteles, Metaphysik XII 7 1072b18–30; vgl. De anima III 4 429a22– 24; 429b30–430a5. 24

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danke des Verhältnisses von Denken und Sein. 26 Das Denken, so läßt es sich vielleicht deuten, hat für Heidegger im Wesen statt: im Wesen des Menschen und zugleich im Wesen des Seins (selbst). Ist der Mensch in seinem Wesen, dann denkt er (sc. das Sein); ist er im Seinsdenken, das heißt im denkenden und dankenden Verhältnis zum Sein, dann »west« er. Geht es aber derart »nah« zu im Verhältnis von Denken und Sein, dann nimmt es kein Wunder, wenn die Idee der Identität aufkommt: wesenhaftes Denken und wesendes Sein sind im Selben. 27 So ernsthaft bemüht aber ein Seinsdenken wie dieses auch ist, so beliebig nahezu können seine Ortsnamen ausfallen: das Seinsdenken ist im Seinsverhältnis zu Hause, im Sein, in der – lichtend-gelichteten – Wahrheit, in der Selbigkeit, im Unterschied. 28 Klar ist bei all dem nur eins, daß der denkende Geist, der Sein denkt, in seinem eigensten Verhältnis steht: im Selbstverhältnis. Er verläßt im Denken des Seins nicht sich selbst (und »auch« nicht das Sein). Das Sein selbst ist dem Denkenden überhaupt kein Anderes gleich dem leiblich-geistigen Anderen und dem Tod, dem eigenen und dem der Anderen. 29 Allenfalls kommt es als »ganz Anderes« in Frage, doch das ist dann auch schon von einer Andersheit, die eigentlich gar nicht mehr Anderes, sondern allein noch »das Selbe« denken läßt.

Parmenides, Fragment Β 3 im Verein mit den Fragmenten Β 8, 34 – 36 und B 6,l. Siehe unter anderem Sein und Zeit, S. 171; Einführung in die Metaphysik, S. 104 ff.; Was heißt Denken?, S. 146–149. 27 Siehe Teil II. 3. 7 »Das Selbe denken«. 28 Zur Einführung dieses Sprach- und Weltbegriffs siehe Die Sprache, S. 24–32. 29 Siehe Rainer Marten, Der menschliche Tod, Kap. II. 5.1 »Der Andere und der ›andere Andere‹«. 26

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Der Ort des Seinsdenkens

1.3 Die Einsamkeit Ontologie, die mit dem Sein das Wesen des Menschen als Seinsverhältnis thematisiert, ist Philosophie des Menschen a solo (um nicht zu sagen Single-Philosophie). Merkwürdigerweise ist die philosophische Sicht des Menschen generell durch Orientierung am Einzelnen als Einzelnen geprägt. Wer über Zeit nachdenkt, hält sich zum Beispiel ganz selbstverständlich an das eine Bewußtsein, anstatt sich Gedanken darüber zu machen, wie Zeit, die dem Menschen zukommt, jeweils Zeit ist, die Einer dem Anderen läßt oder nicht läßt, die Einer mit dem Anderen teilt oder nicht teilt, die je in der Gegenwart des Einen und Anderen als Kairos zum Guten oder Schlechten bestimmt ist. Selbst noch philosophische Handlungstheorien sind auf den Einzelnen fixiert: sie verfolgen Handlung zum Beispiel ganz selbstverständlich als das, was sich in einem Kopf vorbereitet, um sich schließlich auf dem Weg über den einen psychosomatischen Apparat welthaft zu äußern, anstatt mit der Erklärung zu beginnen: alles, wofür jemand verantwortlich gemacht werden kann, ist Handlung oder Folge einer Handlung. Damit wäre nämlich von vornherein klargestellt, daß zur Handlung als solcher Öffentlichkeit gehört, die ein praktikables Verständnis von Freiheit und Verantwortung hat. Ontologie ist A-solo-Philosophie, ganz gleich ob sie sich an das eine, vereinzelt gesehene Wesen hält, oder entsprechend an die eine Seele, die eine Existenz, die eine Person, das eine Bewußtsein. Heideggers Begriff der Jemeinigkeit deutet Ontologie im ganzen: das Seinsverhältnis ist »je meines«, der Seinsdenkende bin »je ich selbst«. Der Andere wird dabei nicht gebraucht, ja wird eigens aus dem Verhältnis ausgeschlossen. Seinsdenken, wie es Ontologen konzipieren, ist ein solipsistischer Vorgang. Dabei sind es Spielarten desselben, ob sich der Solipsismus als essentieller, existentieller oder noch anders verstanden wissen will. Er ist stets ein mentalistischer, wie auch der Geist als Geist bestimmt sein mag. 109 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Das Denken im Schatten seiner selbst

Das geistige Seinsverhältnis hat je ein Mensch für sich – das ist der grundlegende Ansatz der Ontologie als A-solo-Philosophie. Jeder Ich- und Selbstbegriff, den sie verwendet, spiegelt ihn wider, jede Problematisierung des Verhältnisses von Leib und Seele, jede Deutung von Individuum und Person, von Wille und Bewußtsein. Das Verhältnis des je Einen und der Anderen in der Vielfalt eigenheitlichen Seins 30 wird in keinem Moment der Bestimmung des Verhältnisses von Denken und Sein für konstitutiv angesehen. Eine Probe aufs Exempel liefert der Selbstbegriff. Wie er auch gefaßt ist, stets ist durch ihn methodisch ausgeschlossen, den Anderen als notwendige und bleibende Bedingung je eigenen Selbstseins zu erkennen. 31 Im philosophischen Gespräch, das ein denkender Geist mit sich selbst führt, zeigt sich ein Selbst, dessen Grundzug die Selbstverlorenheit ist. Sie besteht darin, keinen Gegner und Widerpart finden zu können, keinen Halt und Einhalt. Selbstverlorenheit ist die Wahrheit der Ortung des Seinsdenkens in Seele und Wirklichkeit. Der denkende Geist gibt freilich genau das nicht zu. Er erklärt das Sein selbst zu seinem »Gegen«, zu dem, was ihn herausfordert, was ihm Halt gibt und immer wieder Einhalt gebietet, um die Konsequenz seines Ansatzes zu verdrängen, in Wahrheit mutterseelenallein zu sein. Doch das Sein selbst als »Widerpart« und eben Anderes des Denkens ist Kunstprodukt des Denkens selbst. Das Seinsdenken beweist sich eigentlich selbst immer neu, daß es darin keinen Halt findet, sondern sich selbst verliert. Es geht in den Selbstbezug, in die Identität über. Seinsdenken gerät, ob offenkundig oder verschleiert, am Ende stets zu einem Identitätsdenken. Das ist auch gar nicht anders möglich, weil wirklich nur der Andere als der andere Mensch in Rainer Marten, Der menschliche Mensch, I. Teil »Der Mensch im Spiegel des Anderen«. 31 Es besteht kein Anlaß, Hegels Theorie des Selbstbewußtseins eine Ausnahmestellung zuzuerkennen. Der Gedanke des »gedoppelten« Bewußtseins reicht nicht zu, um Ich und Selbst auf das eigenheitlich-lebensteilige Verhältnis des Einander zu gründen. 30

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Die Ungebundenheit des Seinsdenkens

Frage käme, um Denken, in dem sich einer stellvertretend für den Menschen über sich selbst als Mensch zu verständigen sucht, den nötigen Halt zu geben und beizeiten Einhalt zu gebieten. Der mentalistische Solipsismus der Ontologie läßt den Anderen ausschließlich als alle anderen gelten. Doch wenn auch ein Weltgeviert allen Sterblichen offensteht (wie ein »Reich der Gnade« allen Vernünftigen) – wer in solch einer neuen Welt »lebt«, hat mit Anderen wesenhaft nichts zu tun. Seins- und Gottfrömmigkeit werden lebenspraktisch nicht geteilt (ganz wie in Kants neuer Welt die Glückseligkeit nicht). Alles »Welt«-verhalten ist da in einer Weise als je meines vorgestellt, daß gerade die Vereinzelung erst die Selbsthaftigkeit und Wesenhaftigkeit des Verhaltens gründet. Der Ort des Seinsdenkens ist so in Wahrheit die selbstverlorene Einsamkeit. Allein die Emphatik bewahrt der Ontologie künstlich den Schein, das Verhältnis zu einem »ganz Anderen« zu verwalten und zu verwahren, das eigentlich allen unausdenklich nah und für alle verbindlich ist. Der Denkende selbst im Verhältnis zum Sein selbst und dieses Selbst-Verhältnis als Identität – das ist das äußerste Spiel, das Ontologie mit ihrem eigenen Schein treibt.

2. Die Ungebundenheit des Seinsdenkens 2.1 Der Schein der Seinsbestimmung Den Schein, nicht sich selbst ausgeliefert, sondern durch und durch seinsbestimmt zu sein, kann sich das Seinsdenken nur dadurch erzeugen und bewahren, daß es absolut denkt. Es denkt das Absolute: nämlich das absolute Sein und zugleich das absolute Denken, indem es sich von sich selbst ablöst. Es denkt mit dem Absoluten genau das, was – seinem selbsterklärten Wesen nach – für es selbst nicht erreichbar ist und wozu es selbst nicht taugt. Das ist seine einzigartige Methode, sich die Selbstverlorenheit nicht einzugestehen und die eigene Ungebundenheit 111 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Das Denken im Schatten seiner selbst

sich als festeste Bindung zu bezeugen. Selbstideologisierung hat statt. Ein Zeremoniell bildet sich aus. Traditionelles Seinsdenken, wie es sich, entgegen seiner Selbstverklärung, faktisch auf sich selbst entwirft, hat sich – bei aller Vielfalt der Spielarten – eine einheitliche Demutsgebärde zugelegt: das Denken des Denkens sei nichts anderes als das ehrfürchtige Denken eines höchsten Seins, einer höchsten Wirklichkeit, eines höchstvollkommenen Denkens (das nicht das eigene ist). In überzeugender Weise spielt es dabei die Selbstübersteigung: das Denken des Höchsten (gen. obj.) sei eigentlich als Denken des Höchsten (gen. subj.) zu denken. Schon Aristoteles kommt auf den Gedanken, die höchste Wissenschaft sei eigentlich Sache des Höchsten selbst. 32 Aller sachlichen Bindungen »nach außen« ledig, versteht sich das Seinsdenken dazu, den reinen und konsequenten Gedanken seiner selbst mit allen Bestimmungen des Höchsten zu belegen, die für es selbst eine festeste Bindung versprechen, so etwa mit denen des höchsten Seins, des höchsten Wissens, des höchsten Grundes, des höchsten Könnens. Cusanus ist einer der Philosophen, der dafür gute Beispiele liefert. 2.1.1 Der ungebundene Gedanke des »Nichtanderen« Von keinem Sein bestimmt, das nicht ihm selbst zugehörte, macht sich das Denken, das sich auf sich selbst entwirft, bei Cusanus allem zuvor die Selbstbezüglichkeit von Allesaussagen zueigen. 33 Was vor allem anderen Wissen vermittle, sei die Definition (definitio: oratio seu ratio). 34 Das ist der Grund, sich Metaphysik I 2 982b28–983a11. Zum Problem der Selbstbezüglichkeit von Allesaussagen siehe Rainer Marten, Wenn alles in Bewegung wäre … Vgl. ders., »Selbstprädikation« bei Platon (Problematisierung des Selbstbezugs des Logos bei Platon); Existieren, Wahrsein und Verstehen, S. 265–276 (zur Nichtselbstbezüglichkeit von »ich lüge«). 34 Cusanus, Directio speculantis seu de non aliud, Kap. 1, S. 4. 32 33

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Die Ungebundenheit des Seinsdenkens

eine Definition auszudenken, die alles definiert, also auch sich selbst. Dies einfach so Erdachte hat eine außerordentliche Konsequenz: die allesdefinierende Definition, die Definition der Definitionen, wie sie Cusanus nennt, ist »nichts anderes« als das Definierte: sie ist Selbstdefinition (suiipsius definitio). Sich zu definieren und alles zu definieren fallen zusammen. Das Schlüsselwort für die Idee höchster Wissensvermittlung im reinen Denken des Denkens lautet: »das Nichtandere«. Seine für wunderbar und geheimnisvoll erklärte Geistigkeit liegt in dem Gedanken, daß das Nichtandere nichts anderes als das Nichtandere ist: es definiert sich selbst (se ipsum definire). 35 Wird formales Denken im 20. Jahrhundert durch die Frage, ob »autologisch« selber autologisch oder heterologisch sei, nur ins Aporetische gedrängt, so hat Cusanus ein ziemlich aussichtsreiches Denkproblem gewählt: die völlig überzeugende und gewisse Selbstdefinition der Alldefinition. Es bleibt für ihn nurmehr die Aufgabe, nachdem das Selbst in die Einheit von Definition und Definiertem eingeholt ist, derselben Einheit auch das All zuzuführen. Nichts jedoch erscheint Cusanus für das Erkennen leichter zu sein (nihil cognitu facilius). 36 Alles – nämlich alles Sein ohne Unterschied der Seinsebenen: sowohl zum Beispiel das Andere als auch der Himmel – ist nichts anderes als es selbst. Genau auf diese Weise ist in der sich selbst definierenden Definition die Definition von allem enthalten. Wir müssen nur daran denken, daß von allem nicht mehr in Betracht kommt, als reine Selbstrede und reiner Selbstgedanke zu artikulieren verstehen. »Oratio« und »ratio« sind in der reinen Selbstvermittlung des Wissens nicht gerade gesprächig. Es geht hier vielmehr, wie sogleich zu sehen ist, um die größtmögliche Engführung des Sprechens und Denkens, um die reine Selbstgenauigkeit. 37 35 36 37

Ebd., Kap. 1. Ebd., Kap. 1. Als Denkfigur schon bei Platon ausgeführt. Zur »Orthologie« in Platons

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Das Denken, das – seiner ausgedachten Art nach – alles weiß, hat damit im Denken nicht nur den Gedanken des Alleswissens erreicht, sondern auch den des Allesvermögens (der Allmacht, des Alleskönnens). Was nämlich das Denken weiß, das kann es auch: ist das Denken sein Gedachtes, dann ist es vollends seiner selbst mächtig. Das selbstbestimmte Wissen ist nicht weniger ein selbstbestimmtes Sein. Wird bei Platon das Prinzip »von allem« auf dem Wege immer höherer Voraussetzungen als das erlangt, was einzigartig nicht zur Voraussetzung zu machen ist 38 , dann gelingt das bei Cusanus einfach in dem Selbstbezug des Denkens. In der Definition, die alles und sich selbst definiert, ist ein Prinzip (ἀρχή) ausgedacht. Es kommt mit dem von Platon gedachten darin überein, Erkenntnis- und Seinsprinzip zu sein. Kein Name und kein Ding, sagt Cusanus, hat einen anderen Grund. Der Himmel ist Himmel und heißt Himmel, weil er nichts anderes ist als Himmel. Das Nichtandere ist die unbedingte Voraussetzung (praesupponit, sine qua non …) 39 dafür, daß der Himmel nichts anderes als der Himmel ist. Anstatt im Nichtanderen eine Reflexionsbestimmung zu sehen, eine Bedingung, etwas als es selbst denken zu können 40 , wird es, ist das Denken sich selbst alles geworden, zu einem allmächtigen Prinzip. Es hört damit nicht auf, ausgedachterweise die Verbindlichkeit des Denkens zu sein. Es ist eben nur in eins das Prinzip alles wesenhaften Seins. Des weiteren wird das Nichtandere zugleich notwendig zum einzigartigen Mittel gedanklicher Mitteilung: sinnvollerweise läßt sich im Denken nur das wesenhaft zur Sprache bringen, was als ein Nichtanderes auf

Parmenides und Sophistes siehe Rainer Marten, Der Logos der Dialektik, S. 200 ff. 38 Politeia VI 511b. 39 Cusanus, ebd., Kap. 2. 40 Wie Platon etwa das Wesen des Anderen (φύσις θατέρου) als Reflexionsbestimmung auffaßt. Siehe Rainer Marten, Der Logos der Dialektik, S. 220 ff.

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Grund des Nichtanderen zu verstehen gegeben wird. Der unaussprechliche Name Gottes hat seinen »Denkzettel« bekommen. Das naiv bekannte Wunderbare am Gedanken des Nichtanderen ist, daß er sich unmöglich besser fassen läßt als so, wie er für sich gefaßt ist: das Nichtandere ist, wie gesagt, nichts anderes als das Nichtandere. Besseres gibt es davon auf keine Weise zu sagen und zu denken. 41 In der Tat: das Denken gelangt mit diesem Gedanken seiner selbst in eine wunderbare Selbstgleichheit: Denken und Gedachtes unterscheiden sich nicht mehr als Subjekt und Objekt, weder herrscht die Subjektivität noch die Objektivität vor, da jede Art von Herrschaft aufgehoben ist. Der Gehalt des »Nichtanderen«, das, was es optimal zu verstehen und zu denken gibt, ist »das Identische selbst« (idem ipsum). Urteilt Ludwig Wittgenstein, daß vom Urmeter in Paris einzigartig weder zu sagen ist, es sei ein Meter lang noch es sei nicht ein Meter lang 42 , dann sieht es ganz danach aus, als wäre vom Nichtanderen als dem Identischen selbst einzigartig weder zu sagen, daß mit ihm etwas gesagt und gedacht noch daß mit ihm nicht etwas gesagt und gedacht sei. Um dem Nichtanderen als dem Identischen selbst nachsagen zu können, mit ihm sei etwas gesagt und gedacht, müßte man schon dies Etwas zu einem »Etwas der Etwasse« erheben (im Sinne von »Wesen der Wesen«). Das Denken, von jeder Fremdbestimmung entbunden und gänzlich zu sich selbst befreit (ohne darum freilich regellos zu werden), hat nichts mehr von den Aktionsarten, die es sonst in seinen sachlichen Konfrontationen auszeichnen. Das Nichtandere, das es denkt, ist ja nichts anderes als das Denken des Denkens (›non aliud‹ non sit aliud a cogitatione de se ipso cogitante). 43 Als Denken des Denkens ist es aber weder affirmativ noch negativ, weder positiv noch ablativ. 44 Sein Gedanke ist weder ein 41 42 43 44

Cusanus, ebd., Kap. 4. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Nr. 255. Cusanus, ebd., »Propositiones« VIII. Ebd., Kap. 4.

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Etwas noch ein Nichts – das wäre ja je Anderes und Zuunterscheidendes. Nein, es ist einzig und allein das Nichtandere, das Identische selbst. Es nimmt nicht wunder, daß Cusanus sogleich auch noch die Prädikate »fest«, »ewig« usw. nachreicht, da natürlich das Nichtandere nicht es selbst wäre, würde es mit ihm doch einmal anders kommen können und unversehens anders sein. Im Denken des Denkens schließt der Gedanke der Identität den Gedanken der Ewigkeit ein. 45 Das im Selbstverhältnis des Denkens rein gedachte Identische ist als das Identische, das es ist, Ewiges. Freilich ist dabei das Ewige (ganz wie das Eine, Seiende und Wahre) allein durch das Nichtandere das, was es ist, so daß zwar das Ewige denkbar, das Nichtandere aber über alles Begreifen hinausliegt. 46 Das Denken des Nichtanderen bestimmt Cusanus als das der Intuition: der reinen Schau. 47 Das Denken in seiner Selbstschau läßt, wie es sich sieht, vom rein geistig Zuschauenden überhaupt nichts aus. Was nämlich wollte schon geistig unmittelbar erfaßt werden und dabei nicht »nichts anderes als …« sein! Dabei aber kommt, wie Cusanus den Gedanken weiter entwickelt, für das Nichtandere keinerlei Konkretion und Fixierung in Betracht. Es selbst kann unmöglich ein Anderes sein und Andersheit zu erkennen geben. 48 Deshalb hat es seine eigene Wesenheit (quidditas) zu sein und zugleich in jeder Wesenheit die Wesenheit: »Gott« ist in allem das Nichtandere. 49 Erkennen wir irgendein Wesen, dann erkennen wir auch schon Gott. Das ist die Umschreibung dafür, daß im reinen selbstbezüglichen Denken alles Gedachte, wie es auch heißt und was es auch ist, im Grunde das Denken selbst ist. Wird darum das Nichtandere als Wesenheit aufgefaßt, dann doch nicht als eine Wesenheit unter Wesenheiten. Um diesem Sachverhalt gerecht zu werden, wählt Cusanus 45 46 47 48 49

Vgl. Teil I 2. 3 »Die drei seinsphilosophischen Sentenzen«. Cusanus, ebd., Kap. 4. Ebd., Kap. 5. Ebd., Kap. 6. Ebd., Kap. 8.

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die bewährte Form, etwas zwar als Sache des Denkens zu bestimmen, ihm aber doch zugleich alle sachliche Bestimmtheit zu nehmen: das Nichtandere ist nur Wesenheit, sofern es »Wesenheit der Wesenheiten« (essentia essentiarum) ist. 50 In der ungebundenen Selbstspannung des Denkens ist damit ein neuer unübersteigbarer Denkgipfel erreicht, eine erneute Bindung an absolut Gedachtes vollzogen. Zum unbeirrten Denken des Denkens gehört folgerichtig, daß es sich selbst nicht mehr begreift. 51 Warum die Sonne nichts anderes als die Sonne ist, bleibt dem reinen Sichselbstdenken unbegreiflich. Es begreift für sich allein, daß alles identisch ist. Der reine Selbstbegriff verlangt ganz von selbst, Unbegreifliches zu begreifen – es versteht sich: als Unbegreifliches. Das liegt daran, daß die Selbstspiegelung des Denkens in sich und für sich vollkommen ist, dies Denken also nicht zugleich noch einen Standpunkt außerhalb seiner selbst einnehmen kann. Cusanus bringt seine Konzeption reinen geistigen Selbstbezugs zum Abschluß, indem er ihn genauer als Ziel- und als Lichtverhältnis deutet. Das XII. Buch der Metaphysik des Aristoteles und das VI. und VII. Buch von Platons Politeia stehen bei dieser konsequenten Deutung Pate. Das Denken des Denkens zielt, wie sich von selbst versteht, auf nichts anderes als auf sich selbst. Das Nichtandere ist in Selbstevidenz das Ziel allen Strebens – ein »Wert« (bonitas) an und für sich. Das Denkvermögen, das sich für sich selbst braucht, sieht sein »Sein«, sein »Leben« und sein »Erkennen« in sich selbst und durch sich selbst: es strebt nach dem Nichtanderen und weiß sich in ihm gegründet. Im Nichtanderen findet das Denken des Denkens seinen Grund, seine Erhaltung und sein Ziel. 52 Damit wird klar, inwiefern im reinen Selbstbezug des Denkens notwendig seine vollendete Selbstwertschätzung liegt. 50 51 52

Ebd., Kap. 10. Ebd., Kap. 9. Ebd., Kap. 9.

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Das Denken im Schatten seiner selbst

Das Denken, das ein Schauen ist, braucht – nicht zuletzt – Licht. Doch es ist für dies Denken nicht an ein bestimmtes Licht zu denken, sondern allein an das Licht, das in allem, was zu denken ist, das Licht ist. Das Nichtandere, das selbst das Licht ist, muß darum als »Prinzip des Lichts« 53 bestimmt werden. Damit ist die Verständigung über die Alldefinition abgeschlossen. Das Denken des Denkens, auf das sie den Mitdenkenden führt, kann nicht länger als ein Denken aufgefaßt werden, das nichts anderes als Denken ist. So nämlich wäre es vom Nichtanderen verschieden. Der Mitdenkende versteht Cusanus besser so, daß es in jedem Denken das Denken ist: rein das Denken als das Nichtandere. Der Gedanke reinen Denkens des Denkens ist in letzter Konsequenz nur als undenkbarer Gedanke vorzustellen: als Gedanke des Gedankens (cogitationis cogitatio). 54 Absolutes Denken kann sich nur dadurch als seinsbestimmt verklären, daß es sich die Tendenz zur Selbstübersteigung als seinen eigentlichen Charakter verschreibt. 2.1.2 Der ungebundene Gedanke des »Können-selbst« Drei Jahre später (1464) legt Cusanus mit De apice theoriae eine neue Konzeption reinen geistigen Selbstbezugs vor, diesmal unter dem Zeichen des »Können-selbst« (posse ipsum) 55 , das ein »Können allen Könnens« (posse omnis posse) 56 ist. Cusanus zitiert die aristotelische »Seinsfrage« 57 : das immer gesuchte Was-sein (quidditas) als reinstes Ziel des Denkens. Ging es in De non aliud um die Definition, die sich selbst definiert, so jetzt um Wassein und Wesen, das seinen Bestand in sich selbst hat (in se subsistentem esse) und deshalb der unveränderliche Bestand aller Wesen ist. In der Absicht, dies reine 53 54 55 56 57

Ebd., Kap. 11. Vgl. ebd., Kap. 10: formae forma, speciei species, termini terminus. Cusanus, De apice theoriae, Kap. 4. Ebd., Kap. 12. Aristoteles, Metaphysik VII 1 1028b4.

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Wesen (die »Wesenheit der Wesenheiten«) auch wirklich »rein« zu denken, denkt er ihm als grundlegend zu, daß es sein können muß. 58 Wieder ist es eine genial gefundene Basis zur Verklärung geistiger Selbstverlorenheit. War es zuvor die notwendige Identität des Zudenkenden, so ist es nun dessen notwendiges Seinkönnen, worin das rein sich selbst denkende Denken das findet, was es für sich als solches braucht. Cusanus geht von dem – traditionellen – Argument aus: Was ist, kann sein. Was existiert, kann das sein, was es in Wirklichkeit ist. Nichts ist, was nicht sein kann. Ohne das Können kann nichts überhaupt etwas sein. 59

Er behauptet, daß Sein (Existenz) dem Seinkönnen nichts hinzufüge und darum für den wirklich Nachdenklichen nichts als Können zu sehen sei. 60 Das ist vollendete Wesensschau. Existenz ist nicht eigens zu sehen – nicht, wie bei Hume, unter den realen Prädikaten nicht, sondern schlicht nicht als Wesen. Cusanus unterscheidet zwar Sein und Seinkönnen, dies aber so, daß für Denken, dem es um das Sein geht, rein das Können (und Wesen) im Blick steht. Er sieht damit die Sache anders als Aristoteles, der eine Wirklichkeit konzipiert, in der keinerlei sachhaltiges (Sein-)Können mehr zu erkennen ist. 61 Für Cusanus ist gerade mit der vollkommenen Wirklichkeit nicht das Können aus dem Blickfeld verschwunden: da sie ist, kann sie sein. Das reine Denken nimmt so sein Recht wahr, sich so rein und einfach wie nur möglich zu verstehen. Wie es an der Überlegung vorbeikommt, ob nicht im schlechthin vollendeten Wirklichen jede MöglichCusanus, ebd., Kap. 4. Siehe unter anderem Cusanus, Trialogus de possest, Kap. 6: cum omne existens posset esse id quod est in actu; De apice theoriae, Kap. 18 (»Memoriale« II): Non est, nisi quod esse potest; ebd., Kap. 6: (…) posse ipsum, sine quo nihil quicquam potest. 60 Ebd., Kap. 18. 61 Aristoteles, Metaphysik XII 7 1072b26–28. 58 59

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keit, wenn nicht aufgezehrt, dann doch für ewig inexistent ist, so kann es auch das Problem des Unterschieds zwischen formalem und materialem Seinkönnen übergehen, muß es weder nach dem Verhältnis von Seinkönnen und Notwendigsein fragen noch eben nach dem Unterschied von verwirklichter Möglichkeit und Wirklichkeit an und für sich. Gerechtfertigt ist diese bewußte Ignoranz durch den Essentialismus, der in dieser Spielart dem selbstverlorenen Seinsdenken geradezu selbstlos entgegenkommt. Wird mit Wesen als solchem Seinkönnen vorgestellt, dann ist Sein in der Tat ein Parergon. Dieser Essentialismus rechtfertigt sich durch sich selbst: Denken, dem es um das Denken geht, ist auf Wesen ausgerichtet, nicht aber auf Existenz. Einem Blick auf Existenz entnimmt ein solches Denken allein die Evidenz, daß das Existierende als solches sein kann. 62 Das Können-selbst 63 wird somit als das Wesen-selbst gedacht: ohne es kann nichts sein, nichts leben, nichts erkennen. 64 Doch wie bei der All- und Selbstdefinition, so ist auch bei dem Selbst- und All-Können eigentlich an das Denken gedacht. Was da ohne das Können-selbst nicht sein, leben und erkennen kann, ist eben das Denken selbst. War in De non aliud das »Nichtandere« als der vollkommenste Name für die reine Sache des Denkens erklärt worden, so jetzt das »Können-selbst«. Was aber reinste Sache des Denkens ist, kann allein das Denken selbst sein. Wie das Nichtandere, so reflektiert auch das Können-selbst nur das Denken – in besonderen Formen reinen Selbstbezugs. Denken, das sich als solches aus dem Verhältnis zum absoluten

Martin Heidegger, der den Essentialismus insofern umkehrt, als er nicht wie Sartre den Vorrang der Existenz vor der Essenz behauptet, sondern die – menschliche – Existenz selbst zur »Essenz« erklärt, kommt auf entsprechende Weise zu einem Vorrang des Sein-könnens. Allerdings ist für Cusanus das Wesen als solches zeitlos, während für Heidegger wesenhaftes Seinkönnen in der Zukünftigkeit beruht. 63 Cusanus, ebd., Kap. 4. 64 Ebd., Kap. 5. 62

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All-Können und All-Vermögen begreift, weiß sich als absolutes Selbstverhältnis. Daß ohne Können nichts sein kann, erklärt Cusanus als ebenso evident wie Aristoteles den Satz vom Widerspruch: niemand könne sich der Wahrheit des dargelegten Sachverhalts entziehen. 65 Das Können-selbst geht jedem Zweifel voraus: nichts ist gewisser als es. 66 Der reine Gedanke des Seins kann für ihn ebensowenig am Können-selbst vorbei wie an der Identitätselbst. Das Denken in seiner erneuerten Ausrichtung auf sich selbst wird jetzt nicht zu der Einsicht geführt, nichts anderes als das Nichtandere zu schauen, sondern es bekennt, nichts zu sehen, es sei denn das Können der ersten Ursache und des ersten Prinzips (posse causae primae et primi principii). 67 Das geistige Schauenkönnen ist rein und aus sich auf das Können-selbst als sein Ziel gerichtet. 68 Anstatt mit Aristoteles in der Unmöglichkeit der Nichtidentität des Identischen als solchen den »festesten Grund des Seienden« zu sehen 69 , rekurriert Cusanus auf ein allmächtiges Können. In ihm ist alles enthalten: alles was ist und was nicht ist. 70 So findet das reine und absolute Denken im reinen und uneingeschränkten Können-selbst ebensogut zu sich selbst wie in der Identität-selbst. Seinsunvermögend, wie es in Wahrheit ist, versagt es sich im Selbstüberstieg konsequenterweise auch nicht die geringste Wesensmacht. Weil Denken Schauen ist, muß für Cusanus, wie zuvor das Nichtandere, nun auch das Können-selbst zum Licht geraten. Ist aber das Können-selbst wirklich das Licht, dann ist eben nichts anderes als Können zu sehen: Sein-können, Leben-können, Erkennen-können. 71 Wieder wird dabei die Schau des schlechthin 65 66 67 68 69 70 71

Ebd., Kap. 6. Aristoteles, Metaphysik IV 3 1005b12. Cusanus, ebd., Kap. 13. Ebd., Kap. 7. Ebd., Kap. 11. Aristoteles, ebd. Cusanus, ebd., Kap. 8. Ebd., Kap. 10.

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Evidenten zur Schau des Unbegreiflichen: das Können-selbst wird in einer Schau geschaut, die die Fähigkeit des Geistes übersteigt (visu supra suam capacitatem videt). 72 Als sei es selbstverständlich, ist dieses Sehenkönnen dann, wie es sich jenseits aller virtus und potestas des Begreifens ereignet, das höchste Können des Geistes (posse supremum mentis). 73 Das Denken des Denkens, wie es das reine Sichschauen im Können-selbst ist, läßt nichts vom überhaupt Zuschauenden aus. Muß man sich bei Aristoteles fragen, was denn der Gott in seiner Selbstschau überhaupt zu sehen bekommt 74 , so ist hier ohne Frage der Schauplatz reich besetzt: es gibt das Eine und Viele zu schauen, die Welt und die Dinge, die Ideen und die Wesen. In allem ist ja nichts anderes als das Können zu sehen. Das Können-selbst aber ist Gott: er sieht sich in allem. 75 Er sieht, weil er sehen kann. Er sieht einzigartig selbsthaft, weil er das Können-selbst ist. 76 Der endliche menschliche Geist, der sich selbst sieht, sieht dabei zugleich, daß sein Können nicht das Können allen Könnens ist. 77 »Zum Glück« versteht es ein Philosoph und Theologe wie Cusanus, das Denken Gottes zu denken: die reine wirkliche Selbstspiegelung, die alles ist, kann und weiß. 78 Erst der Gedanke Gottes befreit das Denken von seinen letzten Seinsverpflichtungen. Im Absoluten, nämlich im absoluten Denken und im absolut Gedachten, gibt das Denken jede feste Bindung auf. Zu keinem Sichbestimmenlassen bereit oder auch nur fähig, braucht es nurmehr sich selbst. Der Gedanke Gottes als der des denkenden Gottes, werde er als das Nichtandere oder als das Können-selbst vorgeführt, ist stets sicheres Indiz dafür, daß 72 73 74 75 76 77 78

Ebd., Kap. 10. Ebd., Kap. 11. Siehe dazu Klaus Oehler, Aristotle on Self-Knowledge. Cusanus, ebd., Kap. 14 und 15. Siehe ebd., »Memoriale«, Vorbemerkung. Ebd., »Memoriale« 24. Siehe ebd., Kap. 28.

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menschliches Denken sich ausschließlich für sich selbst als Denken braucht, ganz so, als könne es oder als werde es tatsächlich für sich selbst fruchtbar und genüge so sich selbst. In seiner Selbstverklärung bedient es sich des seinsdenkenden Gottes, um sich die absolute Seinsbestimmung zu verschaffen. Ideologisch, wie es ist, muß es absolut denken. Täte dies »Seins«denken es auch nur im geringsten darunter, käme es notwendig darauf, woran es eigentlich mit sich selbst ist.

2.2 Der Schein der Selbstbestimmung Die Frage, was Philosophie ist, was sie nämlich ihrem »Wesen« nach kann, will, soll und tut, hat viele Antworten gefunden. Aller Voraussicht nach werden selbst die heutigen noch nicht die letzten sein. Der Klärungsversuch jedoch, ob die befragte Ontologie Wissenschaft ist (falls ja, dann wie?, falls nein, was dann?), kommt damit aus, in ihr diejenige Philosophie zu sehen, die Nachdenkliche dazu führt, mit Blick auf »das Sein« dem Menschen sein wahres Wesen zuzudenken. Dies vorausgesetzt, ist Seinsdenken jetzt zu befragen, ob es sich zu dem, was es betreibt und wie es sich in seinem Betreiben aufführt, wirklich selbst bestimmt. Drei Zielpunkte stechen dabei hervor: die vom Seinsdenken praktizierte Einsamkeit, die von ihm akzeptierte Endlichkeit und die von ihm programmierte Wesenhaftigkeit. Wie frei oder unfrei ist es in seiner Praxis, Akzeptanz und Programmatik, wie offen oder verstellt? 2.2.1 Die Verklärung der Einsamkeit Das Verhältnis von Menschen zu anderen Menschen, (anderen) Dingen und zu sich selbst (zu ihrem Leib, ihrem Tod, ihren Erinnerungen) versteht sich für sie, so ihr Realitätssinn nicht über die Maßen getrübt ist, problemlos als reales. Ob sie mit anderen essen und schlafen, für sich beten und nachdenken, Dinge be123 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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arbeiten und bewirken, Handel treiben und Krieg führen, reisen und musizieren – sie haben mit Realität zu tun, gehen mit ihr tatsächlich um, realisieren eigene Möglichkeiten und wissen darum. Die Überraschung kann nicht groß genug ausgemalt werden, die sie erleben, wenn man ihnen erklärt, das reine Denken und Seinsdenken allein sei es, das es zu einem Realitätsverhältnis bringe (sc. zum wirklich wesenhaften Verhältnis zur wirklich wesenhaften Wirklichkeit) und zugleich zur Realisierung der (wirklich wesenhaften) eigenen Möglichkeiten. Rein das Denken und das reine Denken, nicht aber Beten, Lieben und Arbeiten, müssen sie sich bündig sagen lassen, sei das Gebot der Stunde, nein: des wahren Augenblicks von Menschenleben und Menschengeschichte. Gilt Seinsdenken als Realitätsverhalten in Reinkultur, dann konstituiert sich die Realität als »Verhältnis der Verhältnisse« aus dem Denkenden und dem Zudenkenden als den »beiden« Konkretionen universeller Vergeistigung. Im Beispiel Platons: die reine Seele ist dem reinen Sein seinsverwandt; im absoluten Erkennen erkennt sie das absolute Sein. 79 Denken und Gedachtes mögen dabei Identität praktizieren oder nicht – die menschlichen Eigenheiten haben in jedem Falle ausgespielt. Männer und Frauen, Junge und Alte, Gesunde und Kranke, Heimische und Fremde, Verliebte und Verspielte haben je als solche kein Sein mehr (weder für sich noch für einander), das seinen Namen wirklich verdiente. Das Denken hat sich allen selbsthaften Seins des Menschen bemächtigt und spielt sich selbst als Eigenheit auf: als einzige. In ihr als monopolistischer Eigenheit ist – entgegen aller lebenspraktisch bekannten Art von Eigenheiten – dem Einander aufgekündigt. Es gibt nur noch den Einen: den Denkenden. Wer im Realitätsverhalten allein auf Denken setzt, weiß um die Konsequenz, es dann auch ganz allein zu tun. Die Vereinsamung im – geistigen – Realitätsverhältnis ist konstituZum παντελῶς ὄν als παντελῶς γνωστόν siehe Platon, Politeia V 477a; vgl. Sophistes 248e–249a. 79

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tiv für dasselbe. Die Wirklichkeit reinen Denkens ist so etwas ganz Unvergleichliches gegenüber der von Lieben und Hassen, Spielen und Kämpfen, aber auch gegenüber der von Essen und Trinken, Schlafen und Wachen. Denken gehört für gewöhnlich, nicht anders als Sprechen, dem Inszenieren von Eigenheiten zu, ohne daß es selbst Eigenheit wäre. 80 Selbst dann, wenn Denken kein Lieben und Arbeiten »begleitet«, sondern eigenständig vor sich zu gehen scheint, zeigt sich unausweichlich das Einander. Will zum Beispiel jemand »nur« planen, also »nur« denken, dann denkt er, wenn es etwa die eigene Zukunft ist, doch notwendig mit an die Zukunft Anderer, die sie mit ihm teilen oder signifikant nicht teilen; ist es die Ausführung einer Arbeit, mit an die Auftraggeber. Ganz ohne Andere ist kein Planen denkbar. Selbst das Nachdenken über dem Schachbrett lebt vom Anderen. Die Regeln dieses Spiels sind ja nur im Verein mit einer Gewinnstrategie zu befolgen, mit dem Willen, den Anderen zu besiegen. 81 Am direktesten freilich zeigt Denken, das nicht der Zukunft, nicht einer Arbeit, sondern einfach einem Anderen gilt (»ich denke an dich«), daß und wie es dem Einander gehört. Das Befremden gegenüber dem menschlich isolierten, den wahren Menschen usurpierenden Seinsdenken wird bestärkt durch die Tatsache, daß, genau besehen, kein Mensch als Mensch denkt. Es ist vielmehr die Tochter, die denkt, und die Mutter, die Frau und die Beamtin, die Katholikin und die Schweizerin. Selbst den Gedanken, »bloß« ein Mensch zu sein, faßt kein Mensch als solcher, wohl aber ein gläubiger Mensch. 82 Denken hat seine Funktion im Einander von Eigenheiten, ist kein personalistischer Selbstzweck. Nicht einmal der Mensch, der in der Denkklause (im Phrontisterion, wie Aristophanes Siehe unten S. 139 Anm. 112. Samuel Beckett, Murphy, S. 189 ff. 82 Zu »bloß Mensch« als Grundwort der Poesie menschlicher Endlichkeit siehe Rainer Marten, Der menschliche Mensch, S. 73 f. 80 81

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spottet) haust, um rein für sich zu denken und wirklich rein zu denken, der sich also als einsame und reine Denkposition ohne menschliche Gegenwart und Zeitgenossenschaft inszeniert, entzieht sich de facto allem Einander. Als Schaffender existiert er unmöglich ohne Öffentlichkeit, ob die sich nun seinen Produkten öffnet oder verschließt, ob nur er die Öffentlichkeit im Kopf hat oder sie auch ihn. Schon die Ignoranz, die er für sich bemerken mag, gibt ihm zu verstehen, daß und inwiefern er nicht allein ist. Jede signifikante Abwesenheit ist eine Form von Anwesenheit. Einsamste und reinste Gedanken haben schon, gewollt oder ungewollt, Schule gemacht, sind ins Feuilleton geraten, und haben so Öffentlichkeit um Stücke identifizierbaren Geistes bereichert. Der echte »Seins«-denker darf das nicht zugeben. Um die für sein Selbstverständnis nötige Einsamkeit zu retten, verklärt er sie. Er sieht sich für sich selbst – auch ohne unio mystica – gänzlich ins Denkverhältnis aufgehoben. Er kann keinerlei Teilhabe und Teilnahme der Öffentlichkeit zugeben, weil er das szenische Spiel der Eigenheiten nicht mitzuspielen vermag. Öffentlichkeit muß ihm als schlechthin wesenlos gelten. So stilisiert er seine selbsterklärte Einsamkeit zur wahren hoch, die gerade auch dann gegeben sei, wenn viel Volks um ihn ist. Das stärkt ihm das Gefühl, der wesenhaft Lebende unter lauter schon bei Lebzeiten Toten zu sein. Seinsdenken, das seine Einsamkeit in der ihm eigentümlichen theoretisch-programmatischen Weise praktiziert, steht, wie sich zeigt, unter Zwängen. Um seinen Selbstbezug als Seinsbezug zu verklären, muß es das – wahre – menschliche Realitätsverhältnis usurpieren. Indem es den lebendigen geschichtlichen Menschen auf Wesenlosigkeit reduziert, bringt es sich selbst als das Wesen des Menschen ins Spiel. Die Einsamkeit dieses Wesens spiegelt die Ideologie des Realitätsmonopols und die Zwangsfolge des aufgekündigten Einanders. Ohne Funktion in eigenheitlicher Lebensteilung, muß es, wie in einer Flucht nach vorn, seine wesenhafte Einsamkeit propagieren. Der men126 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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talistische Solipsismus, mit dem Seinsdenken seine Selbstverlorenheit gezwungenermaßen vertritt, äußert sich als Selbstgespräch. Vom Logos des – vermeinten – Seins als Monolog weiß noch Heidegger das Zweifache: er allein hat das wahre Wort und er spricht einsam. 83 2.2.2 Die Verklärung der Endlichkeit Der Mensch, wie ihn das Seinsdenken vertritt, erkennt, genau kein Gott zu sein. Dieser Erkenntnis entspricht keine Akzeptanz. Platons Denkender möchte dem Gott so gut wie nur möglich ähnlich werden und es ihm gleichtun. 84 Dem aristotelischen Vernunftmenschen ist philosophisch geraten, sich ganz um den göttlichen Teil in sich selbst und damit um seine Unsterblichkeit zu kümmern. 85 Noch Kant läßt bei der Unterscheidung von gutem Willen, der dem zum universellen Jedermann geratenen Vernunftmenschen eignet, und heiligem Willen, der den Gott auszeichnet, durchblicken, wie es für den Menschen eigentlich am schönsten wäre, heilig zu sein und alles Pathologische seines »erscheinenden« Wesens, wenn schon nicht dieses selbst, hinter sich zu lassen. 86 Die Endlichkeit akzeptiert er sowieso nicht: die menschliche Seele nämlich braucht für ihn folgerichtig ein ewiges Leben, um ihrer Bestimmung als reine Vernunft, die in der Zeit dieser Welt nicht einzuholen ist, in einer »neuen Welt« gerecht zu werden. 87 Sieht aber ein Ontologe wie Heidegger in der Nichtgöttlichkeit und Sterblichkeit des Menschen dessen eigentliche Bestimmung 88 , dann ist selbst damit den Tagträumen eines gottgleichen Menschen nicht schon notwendig ein Ende Martin Heidegger, Der Weg zur Sprache, S. 265. Siehe unter anderem Phaidros 248. 85 Aristoteles, Nikomachische Ethik X 7 1177b31–34. 86 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 413 Anm.; 414; 439. 87 Ders., Kritik der praktischen Vernunft, S. 11. 88 Martin Heidegger, Das Ding, S. 177. 83 84

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gesetzt. Gerade der von diesem Philosophen konzipierte Existierende hängt ganz am Seinkönnen, Zu-sein, Sein-um-zu-sein und gewinnt trotz einiger verbaler Ansätze in der Sache kein positives Verhältnis zum Tode. 89 Der Sterbliche des Weltgevierts in seinem späten Denken gibt auch nicht gerade Akzeptanz zu erkennen, wenn er sich ganz auf den Gottesdienst entwirft und erfreulichen menschlichen Sitten entfremdet. 90 Wie Ontologen den »wesenhaften« Menschen an Gott sein Maß nehmen lassen, achten sie allem zuvor auf die Zeitlichkeit: was ein Gott immer ist und kann, vermag ein Mensch nur dann und wann mit Mühe 91 oder überhaupt erst in einer anderen Welt, deren Tag noch nicht angebrochen bzw. deren Augenblick noch nicht da ist. Auch die Bestimmung der Sterblichen aus ihrem Unterschied zu den Unsterblichen versteht sich vom Begriff der Zeitlichkeit her. Der Mensch, wie ihn Ontologie ins Auge faßt, ist seinem Wesen nach endlich, das aber heißt: er denkt endlich. Das Schauen (καθορᾶν), Berühren, Sichentwerfen, Danken – wie sich auch Seinsdenken vollzieht: es ist endlich, weiß sich als endlich. Es lebt von seiner Differenz zum unendlichen Denken (etwa zum schaffenden Denken, zum reinen, lustvollsten, menschenbewahrenden, höchsten und heiligen) und zur Seinsweise der Unsterblichen. Das öffentliche Eingeständnis dieser Distanz ist, wenn überhaupt, nur zum Schein ein Bekenntnis zu ihr, das freie Selbstbescheidung zum Ausdruck bringt. Jede ontologische »Feststellung« von Endlichkeit folgt in Wahrheit dem Zwang, die reine Selbstverlorenheit des Seinsdenkens durch Fingierung eines absoluten Gehalts und Gegengewichts zu überspielen. Weil ihm die Seinsbestimmung fehlt, ist es genötigt, sich ein vollkommenes, unendlich anderes Sein zu erdenken, dem es seinem eigenen Wesen nach genau nicht gleichkommt. Dieser GeRainer Marten, Der menschliche Tod, S. 39–51. Martin Heidegger, ebd., S. 171. 91 Siehe unter anderem Platon, Phaidros 248a; Politeia VII 517c; Symposion 210e; Aristoteles, Metaphysik XII 7 1072b25. 89 90

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nauigkeit wegen »weiß« es auch vom Unendlichen, was es, zum Gott verdichtet, zuhöchst selbst ist und zur größten Lust selber braucht. 92 Anstatt zuzugeben, nicht von einem Sein bestimmt zu sein, das aus einem ganz Anderen her sein Denken trifft und sich ihm eröffnet, »bescheidet« es sich, nicht das vollkommene Denken des vollkommenen (Denkens und) Seins zu sein, jedoch auf endliche Art an das Unendliche zu rühren und an ihm zu partizipieren. Die im Seinsdenken vielberufene Endlichkeit und Nichtgöttlichkeit menschlichen Wesens ist die äußerste ideologische Anmaßung, sich als menschenmöglichste Nähe zum höchsten Sein und Wesen zu verklären. 93 Bestimmt sich ein Denken als endlich, dann »weiß« es sich wenigstens als durch das Unendliche bedingt. Bestimmt sich ein Wesen als sterblich, dann »weiß« es sich entsprechend als durch die Unsterblichkeit bedingt. Mit der Betonung von Endlichkeit und Sterblichkeit verdeckt das Seinsdenken seine wahre Not, ohne Halt am Anderen und am Tod (am eigenen und an dem der Anderen) seinen Standpunkt halten und seinen Ausgriff begrenzen zu müssen. In der Weise, wie es sich für das einzige Realitätsverhältnis und zugleich für das geistig einsame ausgibt, kann es überhaupt nicht umhin, sein wahres Unvermögen zu erklären. Es tut das, indem es sich aus der Distanz zu einem absolut vermögenden Vermögen bestimmt und damit selbst aufwertet, weil aus der Distanz auch Nähe spricht. Heideggers Sterbliche kooperieren im Weltgeviert mit den Unsterblichen. Die bloß von Zeit zu Zeit unmittelbar Schauenden eines Platon und Aristoteles sind für den zeitlosen Augenblick dem Gott gleich. Das ist in der Tat eine feinsinnige Art, das reine Selbstverhältnis eines Denkens als solches vergessen zu machen und über die Nähe zu einem höchAristoteles, ebd., 1072b24 f. Platon sagt den Wesen selbst ein »höchstmögliches Sein« nach (Phaidon 77 a: εἷναι ὡς οἷόν τε μάλιστα), eine gute Vorgabe für das Denken, ihm jeweils auch selber »höchstmöglich« zugewandt zu sein (Symposion 210 e: τὸν νοῦν προσέχειν ὡς οἷόν τε μάλιστα). 92 93

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sten und höchstvermögenden Sein sich selbst mit dem Schein höchster Seinsbestimmung zu versehen. Aus seiner verklärten Endlichkeit macht das Seinsdenken das Beste: indem es sich für endlich ausgibt, erklärt es sich auch schon für optimal. Es könne nämlich verbindlich darlegen, wie die Welt in ihrem wahren Wesen auf endliche Weise optimal zu erfassen 94 und entsprechend ihrem wahren Wesen auf endliche Weise optimal zu bewohnen sei. 95 (Ontologie ist, wie gesagt, stets auch Theorie der Praxis. Der »Einblick in das was ist« versteht sich vielfach ausdrücklich als das, was, vernunft- und seinsgeschichtlich geurteilt, sein soll und unter veränderten Praxisbedingungen sein wird.) Mit seiner endlichen Vollkommenheit gibt sich das Seinsdenken für die einzig angemessene Antwort auf die Vollkommenheit (Übermächtigkeit usw.) des fingierten Unendlichen aus. Endlichkeit und Sterblichkeit stellen somit gelungene Spielzüge der ideologischen Verdrängung eigenheitlicher Lebensteilung im Einander dar, die für gewöhnlich Basis jeder Denkbefähigung und aller fruchtbaren Gedanken ist. 2.2.3 Die Verklärung der Wesenhaftigkeit Seinsdenken ist zur Wesenhaftigkeit verdammt. Im Vollzug seiner Selbstverklärung verdammt es sich selbst dazu. Das ist auch seine einzige Handlung von Selbstbestimmungsqualität. Aus der Selbstverlorenheit erwächst die Not zur Selbstaufwertung. »Autonom« bestimmt es seine geistige Art als die einzig wesenhafte, jedes andere Verhalten dagegen als wesenlos, wenn nicht als Vollzug ausgeprägten Unwesens und ausgesprochener WeZum Beispiel der aristotelische Gedanke, daß und inwiefern der Himmel und die Natur an Gott als Arché »hängt« (Metaphysik XII 7 1072b14; zum Gebrauch von ἤρτεται vgl. ebd., IV 2 1003b17). 95 Zum Beispiel Heideggers Gedanke einer »ereigneten« und »enteigneten« Welt, die die Menschen als die Sterblichen einst als ihre wahre Wohnstatt erlangen (Das Ding, S. 181; Die Sprache, S. 25–29). 94

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sensfeindlichkeit. So kommt es zur philosophischen Art, jede Realitätsbehauptung im Rahmen von Leiblichkeit, Vitalität und Sinnlichkeit prinzipiell zu verdächtigen und abzuwerten, allem Leben in Sorglosigkeit, Geselligkeit, Zeit- und Weltläufigkeit den Wesenswert abzusprechen. Eine Ontologie, die Wettergespräche und Palaver guthieße, weil in diesem Sprachverhalten der Gründung und Bewahrung von Lebensbefähigung Rechnung getragen werde, kennte sich selbst nicht mehr. Mit der Pauschalverurteilung menschlicher Lebenspraxis gerät das Seinsdenken unter Zwang, sich als das eigentliche Handeln zu erklären. Nicht nur daß es überhaupt für ein Handeln genommen wird, ist für seine Selbstverklärung bedeutsam; es muß darüber hinaus für das im Grunde einzig wesenhafte gelten. Für Zeitgenossen ist unschwer zu erkennen, daß Ontologen, wie politisch engagiert sie sich auch geben, als Ontologen beim Denken bleiben. Sie handeln nicht, »übersetzen« ihre Theorien nicht in gesellschaftliche Prozesse. 96 Falls überhaupt, wird man ihrem geistigen Tun praktische Bedeutung nur dann zumessen können, wenn dies sich bereits selbst als ein Handeln verstehen läßt. Die Ontologen denken und sagen das allerdings nicht für sich, indem sie damit gesellschaftliche Arbeitsteilung im Sinn hätten: ihr Geschäft wäre Nachdenken und Wesensbestimmung, das der anderen ein anderes. Nein. »Das Seinige tun« soll, wie sie es für sich verstehen, Praxis als solche verändern. 97 So sagen sich denn auch die Ontologen: wir allein handeln wesenhaft; wir allein sind wesenhaft. Nur so können sie ihre Seinsunbestimmtheit und Seinsverlorenheit zum einzigartigen Realitätsbezug verklären. Sich für einen Staat zu interessieren, der allein im Logos vom wahren Staatswesen liegt, auf Erden aber keine reale Chance Zu erinnern ist zum Beispiel Adornos peinliches Erstaunen, als ihn Frankfurter Studenten auffordern, seinen theoretischen Auslassungen nun auch endlich Taten folgen zu lassen. 97 Zu τὸ τὰ αὑτοῦ πράττειν als Bestimmung der Gerechtigkeit siehe Platon, Politeia IV 433a ff. 96

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hat, erklärt Platon ausdrücklich für das einzig mögliche praktische Interesse eines philosophischen Geistes. 98 Für das Handeln allein eine Idee im Sinn zu haben, nicht etwa ihre Realisierung 99 – das ist die Bestimmung von Denken als wesenhaftem, einzig dem Wesen des Menschen entsprechenden Handeln. Für Kant gehört die höchste Form menschlicher Praxis nicht dem Einander an, sondern dem Einzelnen als dem vernünftigen Jedermann. Für den heißt Handeln aber allein, den eigenen Willen durch reine praktische Vernunft so zu bestimmen, daß er zum Repräsentanten des vernünftigen Willens aller wird – womit für ihn praktische Vernunft und Wille eins werden. »Handeln« meint so die geistige Herstellung und Bewahrung der Handlungsgesinnung, das heißt der »voluntativen« Einstellung zum Handeln. 100 Heidegger sieht Handeln überhaupt nur im »Wesen« des Handelns für realisiert an. Da es einzig und allein Sein und Wesen zu verantworten gebe, könne das, was landläufig unter Handeln verstanden wird, nicht für solches genommen werden. Im Sinne seiner Wesensbestimmung bedeutet ihm »Handeln« ausschließlich: »wesentlich vollbringen«, »in sein Wesen bringen und darin halten«, »einlassen in sein Wesen und darin bewahren«, »in die Fülle seines Wesens entfalten«. Es bedeutet ihm aber ja kein »Bewirken«, nichts, was irgendeinen »Nutzen« hat. 101 Seinem Denken geht es deswegen um das Denken und nichts sonst. Auf die Ebene des Wesens gehoben, verklärt es sich selbst und findet in der Herstellung wesenhafter Gesinnung seine Erfüllung. Das »praktische« Selbstverständnis dieses DenPoliteia IX 592a7–b5. Es ist allerdings auch der Wunsch des platonischen Sokrates zu beachten, den gedachten Staat doch einmal lebendig und bewegt sich bewähren zu sehen, etwa im Krieg (Timaios 19b–c). 100 Siehe unter anderem Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, die Theorie des »guten Willens«. 101 Siehe unter anderem Das Ding, S. 171; Was heißt Denken?, S. 114; Über den Humanismus, S. 5. 98 99

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kens äußert sich mit der Attitüde des Einfachen und Schlichten in dem Satz: »Das Denken handelt, indem es denkt.« 102 Wird er aus der Nötigung des Seinsdenkens zur Selbstverklärung verstanden, dann spricht aus ihm auch schon die Diskriminierung allen gewöhnlichen Handelns. »Handelt« das Wesen des Handelns, dann kann faktisches Handeln nur Unwesen sein. Mit seiner Selbsternennung zum einzig wesenhaften Handeln und seiner Diffamierung allen Handelns im lebenspraktischen Einander hat das Seinsdenken nur Glück, wenn es ihm gelingt, vor anderen zu verbergen, daß es ein absolut verpflichtendes seinsbestimmtes Wesen gar nicht zu beachten gibt. Es bedarf dazu eines Verfahrens, das sowohl seine Selbstverlorenheit absolut sicher verdeckt, als auch eine Überprüfung seines Realitätsbezugs, den es seiner Wesenhaftigkeit zu verdanken vorgibt, unmöglich macht. Ein für diesen Zweck hervorragend geeignetes und lang erprobtes Verfahren ist der »Doppelpaß« von Emphase und Tautologie. In seiner Not, sich wesenhaft zu gebärden, wird das Seinsdenken emphatisch. Es sagt »das Schöne selbst« 103 , »am meisten Mensch« 104 , »die Sprache selbst« 105 . Es ist die einzigartige Weise, von etwas nichts zu sagen und doch mehr zu tun, als etwas nur namentlich anzusprechen. Die Emphase bedeutet die Wesenssetzung. Das Schöne selbst – das ist das Wesen des Schönen bzw. das Schöne als Wesen. Entsprechendes gilt für Mensch und Sprache, wie sie Ontologie betont anspricht. Das Emphatikon »selbst« bewährt sich so als vielversprechende (um nicht zu sagen hochversprechende) Tendenzanzeige: Wesen ist zu verstehen gegeben, etwas, das allein dem Seins- und Wesensgedanken zugänglich ist. Die ontologische Emphase bedeutet zugleich den Ausschluß allen gewöhnlichen Verstehens. Ebd., S. 5. Platon, Phaidon 100b; Symposion 211e. 104 Aristoteles, Nikomachische Ethik X 7 1178a7. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 457. 105 Martin Heidegger, Die Sprache, S. 12. 102 103

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Doch das Seinsdenken fühlt sich so noch nicht sicher. Es muß auch »etwas« zu verstehen geben, um zu demonstrieren, daß es wirklich geistig um etwas besorgt ist. Die Emphase entfaltet sich konsequent zur Tautologie: »das Schöne ist das Schöne«, »der Mensch ist der Mensch«, »die Sprache ist die Sprache«. Das erlaubt auch die Formen: »das Schöne ist schön«, »das Wesen des Menschen ist das eigentlich Menschliche«, »die Sprache spricht«. Die Tautologien geben so die Emphase zurück und rechtfertigen sie (λόγον διδόναι). Es ist nichts zu sagen, es sei denn Wesensidentität. Das Wesen ist das Wesen und nichts außerdem – das läßt sich nur vom Wesen sagen (ein Stein ist nie nur Stein und nichts außerdem), und eben das will ja bereits die Emphase kundtun. Wie Seinsdenken keine Eigenheit ausspielt im Verhältnis des Einen und Anderen, so kann es überhaupt niemals im Einen auch Anderes sehen. Das Wesen kennt keine Perspektive, keinen Aspekt, keinen Standpunkt. Es ist durch und durch eins. Außer Selbigkeit ist geistig an ihm nichts wahrzunehmen. Ontologie, die sich auf sprachgewaltige Weise ziemlich sprachlos gebärden muß, um ihre Ungebundenheit und Seinsunbestimmtheit zu kaschieren, sagt, wie sich zeigt, vom Selben dasselbe, sagt das Selbe als das Selbe. Ist das Schöne schön, dann hat, entgegen angelsächsischer Platonkritik, nicht »Selbstprädikation« und »Selbstteilhabe« statt. 106 Die »Feststellung«, daß das Schöne selbst schön sei (es sei nur schön und nur es sei schön), besagt gerade nicht, daß es etwas Schönes sei, ein Fall von Schönem. Ontologisches Denken, wie es sich in sprachlicher Engführung artikuliert, zeigt sich jeweils von der Art eines Denkens in reinen Bedeutungen. Das Wesen des Schönen ist gleich der wahren Bedeutung des Schönen. Das ist ontologische Semantik (ohne jeden möglichen Bezug zu einer Pragmatik): alles, was Bedeutung hat, ja ist, hat und ist eine und nur eine Bedeutung. Damit aber kann die Bedeutung nurmehr sich selbst 106

Siehe dazu Rainer Marten, »Selbstprädikation« bei Platon.

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»bedeuten«. Anstatt vom Schönen selbst zu lernen, was denn nun eigentlich schön ist und unter »schön« zu verstehen ist, weist es das Denken allein an, sich für das Identitätsereignis bereitzumachen: »das Schöne selbst ist schön«, »durch das Schöne ist alles, was schön ist, schön«. Da gibt es nichts auszulegen, was sonst die Art menschlichen Verstehens ist. Auch Heidegger tendiert mit der »eigentlichen«, »ursprünglichen«, »hohen« und »strengen« Bedeutung auf die reine, wenn für ihn alles wesenhafte Denken darauf hinausläuft, das Selbe so zu denken, daß vom Selben nicht mehr und nicht weniger als das Selbe zu sagen ist. Daß Ontologie sich bei Identitätsaussagen nicht »Selbstprädikation« zuschulden kommen läßt, sondern der Wesenssetzung gerecht wird, läßt sich gut an Aussagen testen, die in der Lesart des Seinsdenkens einfach darum Selbstwidersprüche sind, weil sie sich nicht als Tautologien verstehen lassen. Wer behauptet, Alkibiades sei schön, redet, als wenn Schönes auch nicht schön sein könnte, es zum Beispiel nur in einer Perspektive schön wäre, in einer anderen aber wieder nicht. »Alkibiades ist schön« – das ist, vom Seinsdenken aus geurteilt, eine Nichttautologie und ein Widerspruch (μεστὸς τοῦ ἐναντίου [τῷ ἀληθῶς ὄντι]). 107 Wie für Platon perspektivische und zeitweilige Schönheit ein Selbstwiderspruch ist (überhaupt jede mit irgendeinem Vorbehalt festzustellende Schönheit), so für Aristoteles das Menschsein, das mit als stoffliches Sein zu verstehen gegeben wird. Der Mensch ist seinem Wesen nach in nichts materiell. Wer vom Menschen behauptet, er habe Haut und Knochen, Herz und Hirn, darf ja nicht meinen, damit menschliches Sein und Wesen zu treffen; es wäre Selbstwiderspruch. 108 Gleiches Platon, Siebter Brief 342a–b; 343a. Wesenheiten bei Platon wie das Schöne, Große, Lange, Runde haben im Häßlichen, Kleinen, Kurzen, Geraden ihr Gegenteil. Platons Wesensdenken als Reinheitsdenken zielt darauf, dieses Gegenteilige vollständig aus dem jeweiligen Wesen herauszuhalten, um es als zu identifizierendes Wesen zu retten. Bei Aristoteles haben Wesenheiten wie Haus und Mensch kein ent-

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Das Denken im Schatten seiner selbst

widerführe dem normal Urteilenden, der einem Ontologen wie Heidegger gegenüber äußerte: »die Sprache ist ein Verständigungsmittel«, »der Mensch ist ein Lebewesen«. Wird nämlich für die Ohren des Ontologen mit »Sprache« erst ein Wesen gesetzt und dann etwas über Sprache gesagt, das ihr unmöglich als Wesen zukommen kann, dann ist ein vollendeter Wesenswiderspruch gegeben: die reine Nichttautologie von Sein. In ontologischer Sicht ist jedes Wesen ebensosehr Selbstzweck wie das Seinsdenken. Beides ergänzt sich. Darum ist die Idee von Werkzeug und Gebrauchsmittel an sich ein Wesenswiderspruch. Der Mensch wieder kann diesem Denken zufolge unmöglich eine Entität sein, die auch biologisch zu verstehen wäre. Ist der Mensch seinem Wesen nach Geist (sc. seinsdenkender Geist), dann steht der Vorsatz, ihm leiblich-sinnlich-geschlechtliche Lebendigkeit anzutragen, im Widerspruch zu seinem Wesen. Seinsphilosophen haben keine andere Wahl, als jeden Eingriff in die schutzgewährende Selbstverklärung abzuwehren: sie bewahren sich ihr Recht auf emphatisches und tautologisches Sprechen. In seiner vollkommenen Konzeption ist Seinsdenken als praktische Selbstidentität die reine Medialität. Wie Denken und Gedachtes zusammenfallen und »lebendige« Wesensgleichsetzung sich vollzieht, kann es sich auch für sich selbst nicht mehr als das Eine und Andere unterscheiden, als Subjekt und Objekt, als aktiv und passiv. Diese reine Medialität spiegelt sich in jedem ontologischen Wesensbegriff. In einem solchen darum irgendeine Wahrheit zu suchen, die nicht tautologisch wäre, ist sinnlos. Das Wesen ist die Sache selbst – genau das ist es. 109 sprechendes Gegenteil. Hier gilt es für die Wesensbestimmung, die Kategorien δύναμις und ἐνέργεια auseinanderzuhalten. Wer die Wirklichkeit (ἐνέργεια) eines Wirklichen (ἐνεργείᾳ ὄv) mit durch die Möglichkeit (δύναμις) qua Stoff (ὕλη) und nicht allein durch Wesensgestalt (εἰδος, μορφή als ἐνέργεια bzw. ἐντελέχεια des ἐνεργείᾳ ὄv) bestimmt, widerspricht dem Wesen als solchem. 109 Aristoteles gebraucht das Emphatikon »selbst« nicht, übt sogar Kritik am platonischen Gebrauch. Auch tritt bei ihm der Logos des Wesens nicht

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Die Ungebundenheit des Seinsdenkens

Der Unbestimmtheit des ontologisch vermeinten Seins entspricht die Unbestimmtheit der gesteigerten Existenz und Wesenhaftigkeit des Seinsdenkers. Was er für sich selbst ist, will und tut, kann er der Öffentlichkeit ebensowenig vermitteln wie das Wesen selbst. Über Heideggers Begriff der Entschlossenheit wollte man schon in den 30er Jahren spotten: »Sie waren entschlossen, sie wußten nur nicht wozu«. Doch wie sollte die Wahrheit ein Spott sein! Wesenswille und Wesensentschlossenheit des Denkenden bei Heidegger korrespondieren voll und ganz der unumgänglichen Wesensemphase und Wesensidentität. Der Seinsdenker, seiner Selbstverklärung als seinsbestimmt beraubt, hat für kritische Ohren wirklich nicht mehr und nicht weniger zu sagen, als daß er zu Emphatik und Tautologik entschlossen sei. Das Bild, das er seiner Selbstverlorenheit wegen von sich öffentlich zur Schau stellt, rundet sich, wenn er die öffentlich vermerkte Nutzlosigkeit seines Tuns allein der Öffentlichkeit und in nichts sich selbst anlastet. 110 Nur so kann er an seiner Selbstverklärung fortdichten. Für den Anspruch, »des Seins« zu sein und es besser zu wissen als alle anderen, muß er, weil er nichts »Brauchbares« mitzuteilen hat, die Selbstverklärung zugleich durch Selbstbescheidung absichern: als Tautologie auf, weil für ihn die Identität des Wesens mit seinem Sein (zum Beispiel die Identität von Seele und Seele-Sein, Metaphysik VII 10 1036a1 f.) Grundlage für den wesensdefinierenden Logos ist, nicht aber dieser selbst. Platon dagegen sieht im definitorischen Wissen noch gar nicht das ontologische erreicht. Wer zum Beispiel vom Kreis weiß, daß er eine Linie ist, die in allen ihren Punkten von einem Punkt gleich weit entfernt ist, »weiß« noch gar nicht, daß und wie der Kreis selbst rund ist. Dennoch ist Aristoteles in diese Überlegungen einzubeziehen. Bei ihm ist der Gedanke festzuhalten, daß das nichtstoffliche Wesen die wahre Wirklichkeit ist und in das Ganze einer noetischen Gottesspekulation gehört. 110 Platon, Politeia VI 489b. Vgl. Martin Heidegger, Über den Humanismus, S. 47: »Es ist an der Zeit, daß man sich dessen entwöhnt, die Philosophie zu überschätzen und sie deshalb zu überfordern. Nötig ist in der jetzigen Weltnot: weniger Philosophie, aber mehr Achtsamkeit des Denkens.« Der Philosoph darf keine überprüfbare Brauchbarkeit anbieten, da es sonst um sein Ansehen für immer geschehen wäre.

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Das Denken im Schatten seiner selbst

Das Denken ist auf dem Abstieg in die Armut seines vorläufigen Wesens. Das Denken sammelt die Sprache in das einfache [!] Sagen. Die Sprache ist so die Sprache des Seins [!], wie die Wolken die Wolken des Himmels sind. 111

3. Der Versuch umzudenken (Heidegger) 3.1 Wider den Geist des Subjekts Heideggers Denken ist von dem Bemühen gezeichnet, menschliches Realitätsverhalten so zu deuten, wie es sich für den Menschen eigentlich »schicke« und letztlich sein »Geschick« sei. Er sieht sich dabei mit der Auslegung des Realitätsverhältnisses als Subjekt-Objekt-Beziehung konfrontiert. Diese ist für ihn der Inbegriff der Metaphysik, wie sie, neuzeitlich festgeschrieben und konkret geworden, dem Unheil dieser Zeit in planetarischer Weite den Stempel aufdrücke. Der Geist nämlich, der die Flucht der Götter (!), die Verwüstung der Erde und die Verkommenheit des Menschen (seine Vermassung usw.) spiegelt, ist ihm der

Martin Heidegger, ebd. Das klingt nach Pastorale. Heideggers »geliebter« Hamsun schreibt in seiner Ödlandsaga über Neusiedler, die roden und bauen: »Und Menschen sind da und sprechen und denken und sind eins mit Himmel und Erde« (Knut Hamsun, Der Segen der Erde, S. 353). Diese Leute sprechen freilich über Hausbau, denken an Liebesabenteuer und Pflugkauf. Aber sie sind eben »eins« mit ihrer Welt. So möchte Heidegger es »wieder« haben (ebd., S. 9: »soll (…) der Mensch noch einmal in die Nähe des Seins finden«). Allerdings wird bei ihm aus lebenspraktischem Denken ein Seinsdenken, aus mehr oder weniger kluger Lebensvoraussicht eine Wesenssicht. Der Seinsdenker sperrt sich in eine Wesens-»einfachheit« ein, die als Tautologie nicht mit dem »einfachen« Leben zusammenzubringen ist, wie man es als zu schätzendes gerne dem einstmaligen harten Landleben nachsagt. Daß Denken das eigentliche Handeln sei, das wesenhafte Wohnen (Wohnen im Wesen, im »Haus des Seins«) das eigentliche Wohnen – ideologisch erzwungene Gedanken dieser Art schlagen leicht um, das einfache Denken unversehens für das einfache Leben selbst zu nehmen. 111

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Der Versuch umzudenken (Heidegger)

Geist, der den Menschen zum Subjekt, das Sein zum Objekt macht. Heideggers Versuch, von Grund auf umzudenken, zielt in eins auf Realitätsverhalten und geistiges Verhalten. Die Beziehung von Mensch und Sein kann in der Tat nur anders gedacht werden, wenn das Denken selbst »umgedacht« wird. Mit Bezug auf die metaphysische Interpretation des Verhältnisses gesagt heißt das: der Mensch ist nicht länger für das vernünftige Lebewesen, das Sein nicht länger für Platons Wesen des Schönen und Aristoteles’ Wesen des Hauses anzusehen. Um seine neue Sicht klarzumachen, nimmt Heidegger eine Entanthropologisierung des Menschen und eine Deentifizierung des Seins vor. Der Mensch bleibt zwar auch für ihn ein denkendes Wesen (nachdenkliches 112, andenkendes), aber nicht Lebewesen. Somit gibt es keine anthropologischen Probleme mehr mit den Beziehungen von Seele und Leib, Sinnlichkeit und Geistigkeit, Trieb und Vernunft, von erkenntnistheoretischen erst gar nicht zu reden. Der Mensch ist schlicht Menschenwesen. Lebewesen – das spricht bereits an der seinsphilosophischen Tautologie vorbei. Das Sein wieder ist kein Seiendes, nicht einmal das höchste (ist kein Gott). Eher wird es im Nichts gedacht und gesagt. Das Sein ist auch nicht gebunden als Sein von Seiendem (wie zum Beispiel als Wesen des Schönen), sondern ist einfach das Sein selbst. Der eigentliche »Sinn von Sein«, nämlich Anwesen, Anwesenheit, hebt diese tautologische Emphatik nicht auf. Er entspricht voll dem Interesse der Deentifizierung: Sein west. Wesen ist für Heidegger nur verbal zu verstehen: als Währen. 113 Mit der neuen sprachlichen Fassung ist nicht viel gesagt, aber die Tendenz wird erkennbar: das Grundverhältnis, in dem der Mensch als Mensch stehe, nicht als Verhältnis von Subjekt und Objekt, sondern als das von Menschenwesen (Denkwesen, Martin Heidegger, Gelassenheit, S. 23. Ders., Die Technik und die Kehre, S. 39: »Alles Wesende währt« (sc. als solches). 112 113

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Das Denken im Schatten seiner selbst

Sprachwesen) und Anwesen zu verstehen. Heidegger spricht es im einzelnen als das Verhältnis von Mensch und Sein Denken und Sein Sprechen und Sein Wort und Ding

an. Mit dem Verhältnis von Mensch und Sein gilt es zugleich die ausgezeichneten menschlichen Vermögen und Verhaltensweisen neu zu denken, die dies Verhältnis als geistiges tragen bzw. austragen: das Denken und das Sprechen (Wort). Heidegger läßt durchblicken, daß sein Versuch, von Grund auf umzudenken, nicht mitteilbar sei, sofern er seine Grenzen an der Sprache des Subjekt-Objekt-Denkens finde. 114 Das ist nur allzu verständlich. Wer das Denken selbst umdenkt, wird auch das Verhältnis von denkendem Mensch und gedachtem Sein als Verhältnis umdenken müssen. Mit der Idee von Denken ändert sich notwendig die Idee von Verhältnis. Das Verhältnis von Denkwesen und Anwesen, wie es signifikant nicht das von Subjekt und Objekt darstellen soll, läßt sich vom gemeinen Denkund Sprachverstand her nicht mehr erfassen – weder als Denkverhältnis noch überhaupt als Verhältnis. Für den Versuch, »Mensch und Sein« umzudenken, ist beider Verhältnis schon einmal kein seiendes, wenn das hieße, daß sich in ihm etwas zu etwas verhielte und damit tatsächlich verhielte: eines zu anderem. So gesehen, finden sich in diesem Verhältnis gar keine Relata mehr. Seine Entsubstantialisierung und Deentifizierung ist vollkommen. Der Mensch west im Denken, das Sein im Anwesen. »Beides« soll in seinem Wesen »das« Verhältnis selbst sein, nicht aber Verhaltenes. Es handelt sich demnach um ein »Verhältnis«, von dem in guter Tradition zu sagen wäre, daß es entweder gar keines oder aber das Verhältnis sei. Denkt Ders., Über den Humanismus, S. 17: »(…) weil das Denken im zureichenden Sagen (…) versagte und mit Hilfe der Sprache der Metaphysik nicht durchkam.«

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Der Versuch umzudenken (Heidegger)

Plotin eine Wahrheit, die nicht von zweierlei lebt, das miteinander übereinstimmt, sondern von sich selbst, weil sie rein mit sich selbst übereinstimmt 115 , dann muß es nicht schlechthin verwundern, wenn Heidegger ein Verhältnis denkt, das keine Relata kennt, sondern rein sich selbst »verhält«. Begrifflich das Unbegreifliche zu versuchen, gilt philosophisch nicht als schlechte Tradition. Die Entsubstantialisierung und Deentifizierung des menschlichen Grundverhältnisses ist nicht schon alles, entdeckt nicht einmal das Überraschendste des Gedankens. Damit es mit dem Verhältnis von Mensch und Sein gänzlich anders werde, reicht es nicht zu, daß es kein seiendes mehr ist. Es muß dazu auch mit der in ihm herrschenden Ausrichtung anders werden. Seine Auslegung als Subjekt-Objekt-Beziehung geht davon aus, daß der Mensch der Denkende ist, das Sein das Gedachte. Die Richtung ist eindeutig: der Mensch verhält sich zum Sein. Ist nun freilich das Verhältnis in keinem begreiflichen Sinne mehr ein wirkliches Verhältnis, dann ist man vermutlich gerne bereit, seine Unbegreiflichkeit noch dadurch aufzustocken, daß man in ihm überhaupt keine wirkliche Richtung und Ausrichtung mehr erkennt. Stehen Mensch und Sein nicht mehr als Entitäten in einer realen Beziehung, dann werden sie wohl auch kein Verhältnis zueinander haben, ganz gleich, wer oder was sich zu wem verhalten soll. Sind keine Relata zu fixieren, wie soll dann eine Möglichkeit bestehen, dem »Verhalten« eine Richtung zu geben. So zielt denn Heidegger auch in der Tat auf die – geistige – Wesensidentität von beiden (sie gehörten in »das Selbe«). Wo aber Identität herrscht, gibt es kein gewichtetes und gerichtetes Einander. Doch da zeigt sich wieder das sprachliche Handikap. Die behauptete Wesensidentität soll gerade beides nicht in eins zusammenfallen lassen, sondern streng auseinanderhalten. Also muß 115 Dazu Rainer Marten, »Esoterik und Exoterik« oder »Die philosophische Bestimmung wahrheitsfähiger Öffentlichkeit«, demonstriert an Platon und Aristoteles.

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sich das Verhältnis, auch wenn es kein begreiflich wirkliches ist, als Verhältnis von einem und einem anderen deuten lassen. Heidegger zeigt überraschend klar, wie er diese gedankliche Zumutung als konsequent vermitteln möchte. Er denkt das Verhältnis von Grund auf um, indem er einfach seine Ausrichtung anders denkt: nicht der Mensch verhält sich zum Sein, sondern umgekehrt das Sein zum Menschen. Heideggers Versuch umzudenken und das menschliche Realitätsverhältnis neu zu deuten liest sich als eine Theorie der Inversion. Hätte er auf den Gedanken der Umkehrung verzichtet, wäre das Verhältnis, wie er es sieht und meint, kaum mitteilbar gewesen. Anschaulichkeit und Sprachlichkeit hätten notwendig ihre erhellende Kraft verloren. Aber auch der Stachel gegen den Geist des Bestehenden hätte gefehlt. So jedoch hat er vollauf damit zu tun, den möglichen Verdacht abzuwehren, es handle sich um eine bloße Umkehrung. Das Verhältnis, indem es kein seiendes mehr ist, soll und kann auch kein umgekehrtes sein. In ihm sei vielmehr das Verhältnis zu sehen (»das Verhältnis aller Verhältnisse«). Das aber verlangt in Heideggers Augen mehr, als eine traditionelle Deutung nur einfach umzudrehen.

3.2 Die Inversion des Verhältnisses von Denken und Sein Theologisch Inspirierte bringen immer wieder einmal alles »Anthropozentrische« in Verdacht – offenbar in der Absicht, einem Theozentrismus das Wort zu reden. Bei diesen Verdächtigungen muß es sich um etwas rein Geistiges handeln. Ist nämlich »Eurozentrismus« noch als konkreter Vorwurf anzusehen, zielt »Anthropozentrismus« bereits deutlich über die ganze Ökumene hinweg, da er lebenspraktisch auf Erden überhaupt nicht zu realisieren ist. Seine »Praxis« muß, wie auch der Verdacht gegen ihn, etwas Geistiges von der Art geistiger Einstellungen sein. Wo sich nun aber – im Geiste jener Verdächtigenden – alles so recht um Gott dreht, wird man in Anbetracht des »Heil«- und 142 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Der Versuch umzudenken (Heidegger)

»Segen«-losen, das unter Menschen herrscht (um von »Absurdem« und anderem nicht zu sprechen), noch bis in die letzten Winkel realen Leidens und Elends hinein gerne zugunsten Gottes mit einer alleserklärenden Theodizee fündig. Vor diesem Hintergrund nimmt die seinsphilosophische Losung, es gehe – geistig – nicht um den Menschen, vielmehr um das Sein, eigentlich nicht weiter wunder. Fundamentalistisches Gebaren von Ideologie ist immer an der Tagesordnung. Es ist jedoch die Frage, ob Heidegger überhaupt ein Ontozentrismus nachzuweisen ist. Der Mensch hat für Heidegger keine Würde, sondern allein das Wesen des Menschen. Diese Wesenswürde spiegelt die »Würde« des Seins. 116 Es ist die Würde, die einem Dienstverhältnis entspringt. 117 Im Sein wird das Nächste erkannt 118 – nicht für den Menschen, sondern für das Wesen des Menschen. Der Mensch, der »noch einmal in die Nähe des Seins« 119 findet und der »Nachbar des Seins« 120 ist – das sei der Mensch, der in sein ihm geschichtlich bestimmtes Wesen gefunden habe. Der Gedanke von Wesensnähe als unüberbietbarer Nähe rührt wieder an das Verhältnis als Verhältnis. Wie nämlich soll bei einer derartigen Nähe noch eigens an ein Verhältnis von Unterschiedenem und Geschiedenem zu denken sein. Heidegger hält den Kurs, indem er den beiden sich nächsten Wesen zumutet, auf je eigene Weise das Verhältnis selbst zu sein. So sagt er vom Sein: Das Sein selber ist das Verhältnis 121

und von den Menschen, die in ihrem Wesen sind: Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, S. 45; Über den Humanismus, S. 18; vgl. Die Technik und die Kehre, S. 32; Über den Humanismus, S. 19; 29; Parmenides, S. 4. 117 Über den Humanismus, S. 37 f.: »die Humanitas, zu diensten der Wahrheit des Seins.« 118 Ebd., S. 20. 119 Ebd., S. 9. 120 Ebd., S. 29. 121 Ebd., S. 20. 116

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Sie sind das wesende Verhältnis zum Sein als Sein. 122

Werden die Menschen in ihrem Wesen selber als das Verhältnis begriffen, dann muß das »zum« befremden. Es verlangt die Einsicht, daß die Menschen dem Verhältnis des Seins selber als Verhältnis zugehören. Zudem ist die Richtung, wie sie im Verhältnis als Verhältnis wesen, nicht gemäß der Inversion des Ganzen angegeben. Heidegger spricht um diese Zeit eindeutig vom Bezug des Seins zum Menschenwesen 123 , nicht jedoch entsprechend vom Bezug des Menschen zum Sein. In dem Zitierten muß offenbar die Feinheit des Gedankens die Sache der Umkehrung retten. »Das wesende Verhältnis zum Sein als Sein« – da ist in der Tat nichts mehr von Subjektivität zu spüren, nichts von Intentionalität. Das hört sich an, als verhelfe der wesende Mensch im Seinsverhältnis dem Sein selbst auf seine Weise zu sich selbst, ganz so, wie er Dinge in ihr Wesen »bringt« und darin »hält«. 124 Die Idee der Umkehrung bleibt die Losung, bleibt die leitende Anschaulichkeit, nur ist sie eben nicht schon der ausgeführte Gedanke selbst. In ihm muß gegebenenfalls auch vom Menschen aus gedacht werden, es versteht sich: von seinem Wesen aus. Obwohl damit der Gedanke eigentlich schon beim Sein als Sein ist, kommt es eben doch zu einem veranschaulichenden »zum«, das die Inversion in Frage stellt, freilich nur verbal, nie mehr in der Sache. Um die für immer geänderte Ausrichtung im Verhältnis von Mensch und Sein auch in ihrer Sprachlichkeit eindeutig abzusichern, verlegt sich Heidegger mit Vorliebe auf den Gebrauch des Präfixes »an«. Das Sein in seinem Bezug zum Menschenwesen west als »Ansprechen« und »Anspruch«, »Angehen«

Ders., Das Ding, S. 177. Siehe schon Über den Humanismus, S. 12, zuvor noch Heraklit, S. 293 f.; 296; 379; 382 f. Zu »Seyn« als »Er-eignis« und dies als »Beziehen« von Göttern und Menschen siehe Beiträge zur Philosophie, S. 470 f. 124 Ders., Was heißt Denken?, S. 114. 122 123

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Der Versuch umzudenken (Heidegger)

und »Angang«, »Anblicken« und »Anblick« 125 , »Anweisen« und »Anweisung«. Aus all dem spricht für Heidegger Sein als Anwesen, nämlich als Anwesen zum Menschenwesen. 126

Schon Sein und Zeit versteht Sein als Anwesen 127 , Seiendes als Anwesendes. 128 Thematisch wird dort jedoch nicht maßgeblich das Gegenwärtigsein, sondern das Künftigsein, nämlich das Sein, um das es dem existierenden Menschen je als dem seinen geht: sein »Zu-sein«. 129 Heidegger möchte das – später – besser so verstanden wissen, daß es zugunsten des Wesens des Menschen genau nicht um den Menschen, sondern um das Sein geht. Am eingehendsten führt er das in der Schrift aus, in der er nach dem Zweiten Weltkrieg klarzumachen versucht, daß und warum es dennoch sein Denken ist, das den einzig seinsgerechten und menschenwesensgerechten Humanismus vertritt: Doch auch dies [das Wesen des Menschen dahin zu geleiten, daß es denkend auf die es durchwaltende Dimension der Wahrheit des Seins achtet] könnte jeweils nur dem Sein zur Würde und dem Da-sein zugunsten geschehen, das der Mensch eksistierend aussteht, nicht aber des Menschen wegen, damit sich durch sein Schaffen Zivilisation und Kultur geltend machen. 130 So kommt es denn bei der Bestimmung der Menschlichkeit des Wohlgemerkt: der Mensch blickt, wie Heidegger es sieht, das Sein nur an, insofern es als Anblick an-west. Anblick ist nicht als Tätigkeit des Subjekts, sondern als Wesensereignis gemeint, in dem das Sein als Sein dem Menschenwesen sich lichtet. Der Mensch wird, genau gesprochen, nicht vom Sein angeblickt; er ist angeblickt. Der Mensch, der nicht länger Subjekt ist, soll darum keineswegs zum Objekt werden. Zur Inversion des Blickens (ich blicke = ich erfahre das mich-Anblicken) siehe vor allem Parmenides, S. 152–161. 126 Ders., Zur Seinsfrage, S. 236. 127 Sein und Zeit, S. 25. Siehe auch oben S. 51. 128 Ebd., S. 346. 129 Ebd., S. 42: »Das ›Wesen‹ dieses Seienden liegt in seinem Zu-sein.« Vgl. S. 12. 130 Über den Humanismus, S. 18. 125

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Menschen als der Ek-sistenz darauf an, daß nicht der Mensch das Wesentliche ist, sondern das Sein als die Dimension des Ekstatischen der Ek-sistenz. 131 Aber es ist zugleich der Humanismus, bei dem nicht der Mensch, sondern das geschichtliche Wesen des Menschen in seiner Herkunft aus der Wahrheit des Seins auf dem Spiel steht. 132 Das Wesen des Menschen ist für die Wahrheit des Seins wesentlich, so zwar, daß es demzufolge gerade nicht auf den Menschen, lediglich als solchen, ankommt. 133

Es kommt demnach nicht auf den Menschen an, wie er Mensch ist, sondern auf sein geschichtliches Wesen, das sich als solches in das Geschick des Seins schickt. 134 Der Mensch, wie er Mensch ist (Heidegger: der Mensch lediglich als solcher) – das ist der Mensch, wie er leibt, lebt und stirbt, sich eigenheitlich aufführt, den Kairos menschlicher Gegenwart wahrnimmt, das Leben teilt oder das gedeihliche Einander verweigert. Menschen, die Menschen sind – das sind Flamen und Wallonen, Reiche und Arme, Kranke und Gesunde. Heideggers Mensch findet sich nicht unter ihnen. Der gehört nicht in den Alltag der Zeit, sondern in die Wahrheit des Seins und damit in das geistige Ereignis schlechthin, das nach eschatologischer Art aussteht. Im Menschen der Zeit sieht Heidegger das Subjekt. Dieses aber denke im besten Falle, was schön und gerecht, was groß und rund, was Haus und Mensch, was Zeit und Gott ist, um es als Seiendes zu rechtfertigen, als geistiges Objekt zu vergegenständlichen und so dem Geist Vorschub zu leisten, der für Unheil und Unwesen der Zeit steht. Mit der Wahrheit des Seins bleibe das Sein selbst aus, seine »Ankunft«, seine »Lichtung«, seine »Nähe«, aber eben auch seine »Wahrung«. Ohne der Subjekt-Objekt-Beziehung irgendeine positive Bedeutung zuzugestehen (und wäre es auch Ebd., S. 22. Ebd., S. 29. 133 Ebd., S. 31. Vgl. oben S. 86. 134 Zur »etymologischen« Verbindung von »geschickt«, »schicklich«, »sich schicken«, »geschicklich«, »Schickung« siehe ders., Logos, S. 217 f. 131 132

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Der Versuch umzudenken (Heidegger)

nur im Sinne der Objektbeziehungspsychologie oder im Verständnis von Teddys als »Übergangsobjekten«), setzt er sich ganz für die vorgeblich einzigartige seins- und menschenwesensgerechte Sicht des deentifizierten und invertierten Verhältnisses von Mensch und Sein ein. Die Gefährlichkeit dieses fundamentalistischen Humanismus, der den lebendigen Menschen aus seinem Interesse herausnimmt, um sich ganz auf den eschatologischen Menschen des heilen und lichten Seins zu entwerfen, ist evident. Soll alles vom Sein ausgehen und hat dementsprechend der Mensch von sich aus nichts zu bestellen, dann liest sich das leicht als eine Idee von Ontozentrismus. Der Mensch, der nicht von sich aus handelt (und eben nicht einmal von sich aus denkt) 135 , wird zum Hörenden und Gehorchenden, Nachsprechenden (»Entsprechenden«) und Nachdenkenden, Verzichtenden und Sichschickenden, Lassend-Gelassenen und Achtsamen (»In-die-Acht-Nehmenden«), wird zum Hirt, Hüter und Wächter. In diese Seinsliturgie (Liturgie im wörtlichen Sinne von Dienst) spielen bei Heidegger unverzichtbar der Gott, die Götter und die Göttlichen hinein. Dabei hat keine Gleichsetzung von Sein und Gott statt. Eine solche ist per definitionem und per demonstrationem ausgeschlossen. Aber die Unsterblichen brauchen den Dienst der Sterblichen, wie diese zur Rettung aus Seinsnacht einen Gott brauchen. Die heile Zuwendung des Seins denkt Heidegger nie ohne »Gotthaftes«. Fragt er darum einmal appellativ, was denn von dieser rein geistigen, mit dem ungreifbaren »Sein« operierenden Bemühung um den Menschen (um sein »Wesen«!) zu halten sei, dann schwingt bereits in der Frage einiger Stolz mit: Liegt nun aber nicht in diesem Anspruch an den Menschen, liegt nicht in dem Versuch, den Menschen für diesen Anspruch bereit zu machen,

Ders., unter anderem Aus der Erfahrung des Denkens, S. 11: »Wir kommen nie zu Gedanken. Sie kommen zu uns.«

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Das Denken im Schatten seiner selbst

eine Bemühung um den Menschen? Wohin anders geht »die Sorge« als in die Richtung, den Menschen wieder in sein Wesen zurückzubringen? 136

Ob Heidegger mit seiner Selbstschätzung richtig liegt und das ebenso spekulative wie neologismenreiche Umdenken tatsächlich etwas anderes ist als eine fundamentalistisch-ontologische Variante des Theozentrismus (bemerkenswerterweise soll »wieder zurückgebracht« werden), läßt sich allenfalls dann beurteilen, wenn das seinsphilosophische Konzept der Inversion im einzelnen untersucht ist. Zunächst werden jedoch die Verständnisschwierigkeiten noch zunehmen, da der Gedanke eines Verhältnisses aller Verhältnisse wie von selbst darauf angelegt ist, sich zu verrätseln. Ist schon ein Verhältnis schwer genug zu denken, das keines ist, weil die Relata fehlen, das nicht ausgerichtet ist, weil die Distanz fehlt, das aber eben doch ein Verhältnis ist und eine Ausrichtung hat, dann wird das Unfaßliche geradezu noch einmal unfaßlicher, wenn eins der Relata, das keines ist, in der Relation, die keine ist, sich selbst auflöst: Gehört zum »Sein« die Zuwendung und zwar so, daß jenes in dieser beruht, dann löst sich das »Sein« in die Zuwendung auf. 137

So ist der Mensch, seinem umgedachten Wesen nach, doch allein. Aber das soll gerade das Neue sein: er hat kein Gegenüber mehr, keine vergegenständlichte Welt. Er ist darüber aufgeklärt, daß kein »mündiges« Subjekt das Sagen hat, wohl aber dasjenige, was ihn mit allem, was west, geistig eint. Gemäß der von Heidegger gern betonten Einfachheit seines Denkens 138 muß man sich aber sagen: er ist ganz des Seins.

Über den Humanismus, S. 10. Zum »Gotthaften« des »Seins« siehe Parmenides, S. 181 f. und überhaupt Beiträge zur Philosophie. 137 Ders., Zur Seinsfrage, S. 238. 138 Unter anderem Über den Humanismus, S. 46: »Durch sein einfaches Wesen macht sich das Denken des Seins für uns unkenntlich.« 136

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Der Versuch umzudenken (Heidegger)

3.3 Die Inversion des uti et frui Drei praktische Gewißheiten sind allem zuvor zu nennen, die menschliche Lebensbefähigung mitbegründen: die des Geliebtseins, des Gebrauchtseins und des Zeithabens. Damit verbunden sind die des je eigenen Liebens (und Liebenkönnens), Brauchens und Zeitlassens. Das Einander ist damit angesprochen, die Lebensteilung in Gemeinschaft und Gesellschaft. Wenn jedoch Heidegger Brauchen seinsphilosophisch thematisiert, fragt er nicht danach, was Menschen einander brauchen läßt, nicht einmal danach, was je ein Mensch oder was der Mensch braucht, fragt er überhaupt nicht nach Bedürfnissen, sondern interessiert sich ausschließlich dafür, von was der Mensch gebraucht ist und wofür. Daß der Mensch nicht braucht, sondern allein gebraucht ist, wird gar nicht weiter diskutiert. Die Beachtung des Einander ist damit prinzipiell ausgeschlossen. Die A-solo-Philosophie herrscht. Ein »ich brauche dich« darf und kann schlechtweg nicht gedacht werden. Aus der Lebenspraxis, in der Menschen einander je die Anderen sind, in das Verhältnis entrückt, übernimmt das Sein nicht den Part der Anderen. Hat im geistigen Seinsverhältnis ein Brauchen statt, kann es darum nur das eigentliche und wesenhafte, besser noch: das Brauchen sein. Damit ist auch schon vorgezeichnet, wie mit der Bedeutung von »brauchen« umgegangen werden soll: Ineinanderspielen von »nötig haben« und »in Gebrauch nehmen«, Nichtbeachtung von »genießen« und »fruchtbar machen«, Pejorativisierung von »nutzen« und »gebrauchen«. Sind es nicht die Menschen, die einander brauchen, dann kommt überhaupt kein Brauchen in Betracht, wie es im Sichlieben und in der gemeinsamen Bewältigung des Tages statthat. Ist aber das Brauchen derart einseitig und einsinnig an den Menschen adressiert, was ist dann überhaupt auszumachen als das, was den Menschen braucht, wenn er es schon sein soll, den »es« braucht? Der Dichter Hamsun läßt einen, über den »der Geist« ge149 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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kommen ist, zum wohlgeratenen Sproß eines vermögenden Bauern sagen: ihr seid notwendig auf der Erde. Das sind nicht alle, aber ihr seid es: notwendig auf der Erde. Ihr erhaltet das Leben. Bei euch folgt ein Geschlecht dem anderen. 139

Bauern sind notwendig. Sie gehören, wenn sie der rechten Art nachschlagen, nicht dem Typus »des Menschen unserer Zeit« an, der aufrichtig an das glaubt, was die Zeit ihn gelehrt hat, was der Jude und der Yankee ihn gelehrt haben. 140

Zu diesen Bauern kann Hamsun sagen: So geht ihr zusammen mit Himmel und Erde, seid eins mit ihnen, seid eins mit dieser Weite und seid bodenständig. 141

Als Mensch notwendig zu sein – das heißt: gebraucht zu sein für das Leben auf Erden, für das menschliche Leben. Da spielt das Einander in das Brauchen noch herein: das Fortleben in anderen Geschlechtern erfordert das eigene – sein Zeugen, Gebären und Aufziehen. Aber das Verhältnis des Brauchens kann bereits einseitig ausgelegt werden: die Kinder brauchen wegen ihres Lebens die Eltern, nicht aber umgekehrt die Eltern die Kinder. Braucht das Leben (sc. das menschliche) den Menschen, dann braucht der Mensch nicht schon das Leben: er braucht es nicht als Mensch, sondern eben nur zum Leben und Fortleben. Hamsuns Gedanke der Notwendigkeit deutet allein den Selbstzweck der Lebenserhaltung gesunden bodenständigen Menschentums: das Leben ist das Notwendige, der Mensch ist es nur insofern, als er in seinem Leben und mit ihm dem Leben dient. In Heideggers seinsphilosophischem Gedanken des Nötigen ist nicht einmal dies menschliche »Einander« der Geschlechter bewahrt. Da 139 140 141

Knut Hamsun, Segen der Erde, S. 389. Ebd., S. 390. Ebd., S. 389.

150 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Der Versuch umzudenken (Heidegger)

braucht ihn nicht das Leben, sondern, und das ist etwas unvergleichlich anderes, das Sein. Wie Heidegger zu verstehen gibt, brauchen den Menschen dabei »zunächst« die Dinge. Ist dann aber genauer davon zu reden, daß es das Sein ist, was den Menschen braucht, rückt für ihn Sprache als das eigentlich Brauchende in den Mittelpunkt des Interesses. 3.3.1 Die Dinge brauchen den Menschen Die seinsphilosophische Inversion des Brauchens 142 macht selbst vor der Dingwelt nicht halt – vor ihr schon gar nicht: der Mensch braucht nicht die Dinge, sie brauchen ihn. Soll der Mensch als Subjekt überwunden werden, dann kann ein Brauchen (Benötigen), das zum Gebrauchen (Benutzen) von Dingen führt, diesem Umgang mit Dingen überhaupt nur einen pejorativen Sinn zugestehen: den der Vernutzung. Vom Weinkrug, der nicht in seinem Wesen gewahrt, sondern zum Weinschenken von Menschen für Menschen gebraucht wird, weiß Heidegger nurmehr zu sagen, daß sein eigentliches Vermögen »verkümmert« und »im gewöhnlichen Ausschank verwest«. 143 Allein den unsterblichen Göttern sei mit einem Krug »das eigentliche Geschenk« zu bringen: »zur Weihe«. Der geweihte Trank ist das, was das Wort »Guß« eigentlich nennt (…). Gießen ist, wo es wesentlich vollbracht, zureichend gedacht und echt gesagt wird: spenden, opfern. 144

Heidegger will mit dieser Umkehrung nicht Menschen in ihren Gewohnheiten verunsichern oder gar ändern, auch sich selbst nicht. Es geht gar nicht um diese und jene Götter, denen, weil sie es verlangten, tatsächlich zu opfern wäre. Es geht vielmehr um die geistige Einstellung zu den Dingen. Die aber lautet in Martin Heidegger, GA Bd. 97, S. 243: »Im Denken handelt es sich nicht um Bedürfnisse des Menschen, sondern um das eine Bedürfnis des Seyns.« 143 Martin Heidegger, Das Ding, S. 171. Kursiv R. M. 144 Ebd. Vgl. oben S. 70. 142

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unausgesprochener Wiederholung: weg von der Subjektivität, weg von menschlichen Bedürfnissen und ihren »Selbstbefriedigungen«, hin zum wesenhaft Geistigen, also nicht zu den Dingen (lediglich als solchen), sondern zu ihrem Wesen. Einem Wesen aber kann man nicht mit der vom Menschen und für den Menschen gesteuerten Hand kommen, um es durch sie in Gebrauch zu nehmen, auch nicht entsprechend mit dem Mund, dem Durst, den geselligen Freunden. Dem Wesen, selbst und gerade eines Dinges, ist nach Heidegger nur mit dem eigenen Wesen zu kommen, das nicht sich selbst, sondern dem Sein gehört. Wer aber das »eigene« Wesen ein seinsgerechtes Verhältnis zum Wesen des Dinges einnehmen läßt, handelt – in eins – um des Wesens des Dinges und des Menschen willen, nicht aber zugunsten eines Menschen, sofern er bloß Mensch ist. Ist die Hand das »Werkzeug der Werkzeuge« 145 , dann gehört zur Dienlichkeit des Werkzeugs, der Hand angepaßt zu sein. Das ist realistischer Geist. Der reine Geist dagegen weiß es gänzlich anders. Geht es nach seinem Sinn, dann »muß die Hand sich dem Ding anmessen«. Das heißt im Kontext: Von diesem durch den Menschen geübten Brauchen her versuchen wir auf das Wesen des Brauchens hinzuweisen. Es ist keineswegs erst durch den Menschen aufgebracht und vollzogen. »Brauchen« meint auch nicht das bloße Benützen, Ab- und Ausnützen. Das Benützen ist nur die Ab- und Aus-Artung des Brauchens. Wenn wir z. B. ein Ding handhaben, muß die Hand sich dem Ding anmessen. Im Brauchen liegt das sich anmessende Entsprechen. Das eigentliche Brauchen setzt das Gebrauchte nicht herab, sondern das Brauchen hat seine Bestimmung darin, daß es das Gebrauchte in seinem Wesen läßt. 146

Auf befremdliche Weise wird die Dingwelt zur moralischen Anstalt. Das Benützen von Dingen – von Krug und Hammer, Tisch und Bett, Küche und Bad, Straße und Auto – bedeute eo ipso ihr »Verwesen« und zugleich das Ausbleiben eigentlichen Brau145 146

Aristoteles, De anima III 8 432a1 f. Martin Heidegger, Was heißt Denken?, S. 114.

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Der Versuch umzudenken (Heidegger)

chens. Das Benötigen von Dingen wird ganz entsprechend beurteilt: als abträglich für dingliches Wesen und wesenhaften Umgang mit ihm. Jedes Brauchen nämlich sei »anderswoher« gebraucht 147 , nicht vom Subjekt her. Brauchen ist demnach, so oder so, kein Dingbezug, den ein Mensch als Mensch unter Menschen rechtfertigen könnte. Brauchen, das nicht, von ihm gebraucht, um des eigentlichen Brauchens willen braucht, ist seinsethisch ohne Chance. Eine Bedeutung kann diesem fundamentalistischen Gedanken ausschließlich der entsprechende Geist selbst beimessen. Lebenspraktisch läßt er sich weder realisieren noch verantworten. 3.3.2 Das Sein braucht den Menschen Im SPIEGEL-Gespräch erinnert Heidegger nuanciert seine Grundüberzeugung, daß das Sein den Menschen braucht: Die Welt kann nicht durch, aber auch nicht ohne den Menschen sein, was sie ist und wie sie ist. Das hängt nach meiner Ansicht damit zusammen, daß das, was ich mit einem langher überlieferten, vieldeutigen und jetzt abgegriffenen Wort »das Sein« nenne, den Menschen braucht zu seiner Offenbarung, Wahrung und Gestaltung. 148

Der Gedanke des Seins, das in einheitlichem Interesse vielfältig den Menschen braucht, geht nicht vom Gedanken des Wesens der Dinge ab, das den Menschen braucht. Es ist derselbe Gedanke. Wie das Sein für Heidegger nicht als Sein von Dingen (»Sein des Seienden«) gedacht sein soll, sondern als das Sein selbst, so ist auch das Wesen der Dinge, wie es den Menschen brauchen soll, nichts, was Substantialität, Gegründetheit (zum Beispiel Hergestelltheit) und Zweckhaftigkeit der Dinge erklärt. Der Mensch ist von den Dingen gebraucht, daß er sie in ihrem Wesen »wahre«. 149 Vom Menschen wird dasselbe gedacht und ge147 148 149

Ebd., S. 115. SPIEGEL-Gespräch, S. 209. Ders., Was heißt Denken?, S. 114: »Wahrung im Wesen«.

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sagt, sofern er vom Sein gebraucht ist. Das Im-Wesen-Wahren verlangt nach Heidegger vom Menschen, in seinem Wesen die Stätte der Offenbarkeit zu sein. Das aber geschieht (»ereignet sich«) im Wesen der Dinge, die »dingen«, insofern sie den Menschen »be-dingen« 150 (und geschieht zugleich im Wesen der Sprache, die spricht, insofern der Mensch ihr »entspricht«). Der Mensch, der vom Sein gebraucht ist, darf, in der Konsequenz des Gedankens, zu keinerlei Aktivitäten des Subjekts zurückfinden. Offenbarmachen und Gestalten dürfen keinerlei Eigenständigkeit und Mächtigkeit gegenüber dem Sein voraussetzen. Immer neu muß Heidegger das Verhältnis als etwas verständlich zu machen suchen, das im Sinne eines als real erfahrbaren und erkennbaren Verhältnisses gar keines ist. Würden Offenbarmachen und Gestalten als menschliche Möglichkeiten und dabei als entwickelte Vermögen vorgestellt, dann unterläge das Sein, um als Sein in seiner Wahrheit zu sein, voll und ganz dem Menschen. Heidegger begegnet dieser für seine Absicht schlechten Konsequenz, indem er das Sein für das Vermögendere erklärt. Aus diesem Mögen 151 vermag das Sein das Denken. Jenes ermöglicht dieses. 152

Der Mensch soll somit, vom Sein »vermocht«, ihm Stätte seiner Offenbarkeit zu geben, dies keineswegs aus sich selbst vermögen. Daß das Sein den Menschen braucht und doch das Sein es ist, was den Menschen dazu vermag, wozu er von ihm gebraucht ist – dieser Gedanke ist alte Tradition und von großer Plausibilität. Um das zu erkennen, muß er nur – entgegen der Tendenz seines Ders., Das Ding, S. 179. Die Zuwendung ist zu erinnern, in die sich das Sein auflöst. Siehe oben S. 148. 152 Ders., Über den Humanismus, S. 7. Vgl. die Einleitung zu Was ist Metaphysik?, S. 12: »Darum wird das vom Seienden als solchem gestellte und darum vorstellende und dadurch erhellende Denken abgelöst durch ein vom Sein selbst ereignetes und darum dem Sein höriges Denken.« 150 151

154 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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Erneuerers – auf das in ihm artikulierte Selbstverständnis zurückgeführt werden. Daß der Mond sich verändert und Sokrates tot ist – das ist, in der Sprache eines Platon und Aristoteles, »Seiendes«. Es ist nämlich so, es ist genau so zusammengefügt und ist darum entsprechend Zusammenzuflechtendes (zu Affirmierendes): Mond und Veränderlichsein, Sokrates und Totsein. 153 Bei diesem Zusammen ist der denkende Mensch im Spiel. Zwar hat er den Mond nicht veränderlich und Sokrates nicht tot gemacht, aber er hat im Geist das, was »von selbst« zusammenliegt, noch einmal eigens zusammengebracht: er hat geurteilt und zwar wahr geurteilt. So gesehen braucht die Wahrheit den Menschen und mit ihr das eigens zusammengebrachte Sein: der Mond ist veränderlich, Sokrates ist tot. Dieses »Sein« ist nicht ohne den urteilenden Menschen, wohl aber Mond und Sokrates und das, was mit ihnen geschieht. Wenn es sich nicht so verhielte und der einfache Sachverhalt nicht genau so bestünde, hätte Heidegger niemals sinnvoll davon reden können, daß das Sein den Menschen braucht. Braucht nämlich das Leben, wie Hamsun es dichtet, die menschliche Zeugungskraft, dann braucht das Sein, wie Heidegger es denkt, die menschliche Geisteskraft. Der Beweis von Augustinus, daß die Wahrheit nicht untergehen kann, gründet auf demselben unbezweifelbaren Sachverhalt, nur daß bei ihm der geistige Ausgriff ins Sein universal und absolut gemeint ist. Wenn alles unterginge, dann könnte die Wahrheit nicht mit untergehen, weil es sonst unmöglich noch wahr wäre, daß alles untergegangen ist. 154 Wahrheit ist nicht ohne denkenden Geist, in diesem Irrealis nicht ohne das Bewußtsein Gottes. Die Wahrheit des Weltuntergangs bräuchte Gott – das ist analog zu Heideggers Einsicht: das Sein braucht den Menschen. Der etwas einfacheren Demonstration wegen werden Beispiele von Zunegierendem nicht angeführt. 154 Augustinus, Soliloquien, 1. Buch. 153

155 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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Alles Geistige braucht bei Heidegger, wie könnte es anders sein, den Menschen: die Welt, das Sein, die Wahrheit. Braucht ihn – das heißt: ist nicht ohne ihn. Nur »Seiendes«, wie er das Wort gebraucht, kommt ohne den denkenden Menschen aus. Die maßgeblichen Stellen zu dieser Wiederholung der Tradition finden sich bereits in Sein und Zeit: Alle Wahrheit ist gemäß deren wesenhafter daseinsmäßiger Seinsart relativ auf das Sein des Daseins. 155 Sein – nicht Seiendes – »gibt es« nur, sofern Wahrheit ist. Und sie ist nur, sofern und solange Dasein ist. Sein und Wahrheit »sind« gleichursprünglich. 156

Sein und Wahrheit haben den gleichen Ursprung: den denkenden Menschen. Heidegger hat nicht die Urteilswahrheit im Sinn, sondern die Wesenswahrheit. Nicht über den Krug ist zu urteilen, daß er gefüllt oder leer ist, sondern es gilt im Denken seiner wahren Bestimmung gerecht zu werden, seinem »hohen« Wesen. So gibt der Mensch dem Sein – »ursprünglich« – die Stätte seiner Wahrheit. Nicht urteilen, sondern wesenlassen – dazu braucht es den Menschen. So gesehen liegt die Inversion nicht darin, daß nicht der Mensch die Dinge, vielmehr sie ihn brauchen, sondern an der Umkehrung des Verhältnisses zu ihnen: anstatt sie vorzustellen, zu beurteilen und für sich in Gebrauch zunehmen, läßt der Mensch die Dinge wesen. Die Emphatik des Seins selbst zielt bei Heidegger gerade nicht auf geistige Entrückung in ein An-und-für-sich, spricht dem Sein nicht Absolutheit und Autarkie zu. Er erinnert im Gegenteil ausdrücklich daran: »Sein« ist, das Menschenwesen brauchend, darauf angewiesen, den Anschein des Für-sich preiszugeben. 157

155 156 157

S. 227. S. 230. Ders., Zur Seinsfrage, S. 339.

156 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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Der Anschein eines Für-sich besteht freilich überhaupt nur für denjenigen, der sich über das Denken nicht die richtigen Gedanken gemacht hat. Es verhält sich nämlich mit Sein im Sinne von gedachter Wesenswahrheit wie mit der Kraft von Symbolen. Jedes Ding der Tagwelt (von der Traumwelt nicht zu reden), das auf irgendeine Weise mit sinnbildlicher Bedeutung besetzt ist, braucht dazu den Menschen. Wo Heidegger seine Sicht des Seins einsichtig und verständlich genug vermittelt, kann er mit dem Gedanken, daß das Sein den Menschen braucht, nur offene Türen einrennen (vorausgesetzt allerdings, man wüßte mit einem zu wahrenden Wesen von Dingen überhaupt etwas anzufangen). Heidegger korrigiert sich selbst zum Verständlicheren und Einsichtigeren hin, wenn er den Satz aus dem Nachwort zu Was ist Metaphysik? von 1943 daß das Sein wohl west ohne das Seiende

in der Neuauflage von 1949 ohne Hinweis ändert in: daß das Sein nie west ohne das Seiende. 158

Was sollte auch schon den Menschen ohne Welt und Dinge dazu bringen, sich zur Wesenswahrung gebraucht zu sehen. Die weltende Welt, die dingenden Dinge, das wesende Anwesen – all das braucht den – »wesentlich« – denkenden Menschen. Es braucht ihn schon einfach deshalb, weil es ohne ihn gar nicht wäre und eben zu denken wäre. Es braucht ihn für Heidegger aber zudem auch dazu, daß es geistig einst wirklich dahin kommt, daß Welt als Welt weltet – »jäh vermutlich«. 159 Nicht daß der Mensch die Seinsgeschichte machte und voranbrächte. Sie hätte nur ohne ihn überhaupt keine Stätte. Wer sich nicht auf Wesenswahrheit versteht, kann sich Heideggers Idee auch von der Urteilswahrheit her verständlich machen. Man stelle sich vor, es gehe um ein noch nie zu fällen gewesenes wahres Urteil, um eine WahrWas ist Metaphysik?, S. 41. Als erster hat Max Müller darauf hingewiesen. 159 Ders., Das Ding, S. 180. 158

157 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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heit der Art, daß die Welt endlich wieder an einem Gott hängt (Welt als moralische Anstalt und nicht als prinzipiell erkennbares Seinsganzes). 160 Diese unüberbietbare praktische Urteilswahrheit braucht als Wahrheit den Menschen. Das Überraschende an Heideggers Gedanken der Inversion des Verhältnisses von Mensch und Sein verdankt sich der Verrätselung des Seinsgedankens. Wird klar im Auge behalten, daß und wie Sein seinen Ursprung im wesenswahrenden Geist des Menschen haben soll, dann liest sich mit einem Male das, was sonst ein Rätsel bliebe, als höchst verständlich und konsequent. Sein kann auf den Menschen unmöglich verzichten, wenn er es doch ist, der ihm allererst zur Entbindung seiner Wahrheit verhilft. Anwesen (»Sein«) ist als Anwesen je und je Anwesen zum Menschenwesen. 161

Dem entspricht die allestragende Vermutung (…), gemäß der Unverborgenheit des Seins gehöre der Bezug zum Menschenwesen gar zum Sein selbst 162 ,

denn das Wesen des Menschen ist innerhalb der Seinsfrage gemäß der verborgenen Anweisung des Anfangs als die Stätte zu begreifen und zu begründen, die sich das Sein zur Eröffnung ernötigt. 163

Und noch etwas »gewaltiger« formuliert: Der Mensch ist aber in solches Dasein genötigt, in die Not solchen Seins geworfen, weil das Überwältigende als solches, um waltend zu erscheinen, die Stätte der Offenheit für es braucht. 164

Das »hängt« ist mit Blick auf Aristoteles, Metaphysik XII 7 1072b14, gewählt, aber nicht als theoretisch Demonstrierbares verstanden. 161 Martin Heidegger, Zur Seinsfrage, S. 236. 162 Ders., Einleitung zu Was ist Metaphysik?, S. 13. 163 Ders., Einführung in die Metaphysik, S. 156. 164 Ebd., S. 124. 160

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Wie immer Heidegger es wendet, es bleibt – mit einem Wort – dabei, daß das Wesen des Seins das Menschenwesen braucht. 165

Jede Theodizee braucht den Menschen, um ihm die Schuld zuzusprechen, von der Gott zu entlasten ist. Der Mensch ist gebraucht, für das, was er anstellt – zum Schlechten, aber auch zum Guten. Heidegger übernimmt jedoch nicht voll die Tradition, wenn er den Menschen gezielt für denjenigen erklärt, den »es« braucht. Formal geurteilt, ist der Mensch für all das benötigt, was ihm zuzurechnen ist. Heidegger möchte ihn jedoch allein für das eigens benötigt und gebraucht sehen, was den Geist menschlichen Weltaufenthalts und den Weltaufenthalt selbst wieder ins Gute und Heile wendet. Diese Einschränkung des Gedankens menschlichen Gebrauchtseins führt dazu, all das aus dem Auge zu verlieren, was der Mensch für sich braucht, ja es methodisch aus der Wesenssicht auszuschließen. Es sieht so aus, als solle der Mensch zum selbstlosen Seinsliturgen und Wesenshirten umgedeutet (um nicht zu sagen umfunktioniert) werden, abgespeist mit dem bewährten Versprechen, genau so das eigentliche Selbst und Wesen zu finden. Daß Menschen etwa Kunst für sich gebrauchten – zu Trost, Erbauung, Sensibilisierung, Steigerung des Gestimmtseins, das kann und darf nicht sein. Kunst braucht vielmehr den Menschen: Aber das Werk ist es, was die Schaffenden in ihrem Wesen ermöglicht und aus seinem Wesen die Bewahrenden braucht. 166

Kunst, die für den Menschen da ist, könnte für Heidegger nur dem Talmi des Kunst- und Kulturbetriebs zugehören, nur dem Erleben als Indiz subjektivistischer Wesens- und Selbstverlorenheit. Es ist sicher bedeutsam, auch einmal eigens das Gebraucht165 166

Ders., Die Technik und die Kehre, S. 38; vgl. S. 32. Ders., Der Ursprung des Kunstwerks, S. 58.

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sein des Menschen für Dinge in Betracht zu ziehen, die er selbst braucht (ohne sogleich und nur an den Jäger von Tieren zu denken, die ihn zuvor als Heger und Pfleger »brauchten«). Poesie ist eine ausgezeichnete Weise, wie der Mensch sich für das brauchen läßt, was er selbst braucht. Braucht er zum Beispiel den Tod, den eigenen und den der Anderen als lebensbefähigenden Halt und Einhalt, dann braucht doch der Tod auch ihn – nicht nur, um eingelassen zu werden, sondern vor allem zu seiner Poetisierung, deren Grundwort in einer alten und verbreiteten Tradition Auferstehung lautet. Heidegger jedoch schließt notwendig jedes Einander und jede Gegenseitigkeit des Brauchens aus, weil er den wesenhaften Menschen allein sein läßt, radikal vereinsamt und vereinzelt, ohne irgendeinen wesenhaften Bezug zu anderen Menschen. Schon in Hamsuns Lebensgedanken zeichnet sich der Zusammenhang von Verwesentlichung und Vereinsamung ab. »Zusammenhang und Ziel« 167 gibt es dem Dichter zufolge für den Menschen nur, wenn er ganz dem Leben dient. Er tut das durch Liebe und Arbeit, durch Säen im Schoß der Frau und der Erde. Alles andere ist nicht wesenhaft. Wer vom Leben »etwas haben will«, ist schon für das Leben verloren. Wer reist, in der Stadt Vergnügungen sucht und Nippes kauft, ist des Einsseins mit Himmel und Erde verlustig, des Lebens und seines Sinnes. Es gibt nur den Wesensvollzug. Die Einfachheit und Genügsamkeit des Lebens, die vom Wesenhaften her zurückstrahlt, ist Lebens genug. In der Tat: es genügt zum Fortpflanzen von Mensch und Gewächs, nötigt aufs beste dazu. Bei Heidegger ist der Mensch ganz entsprechend für das Sein da. Es wäre ihm ein Ungedanke bzw. ein Gedanke des Unwesens, wollte der Mensch »etwas vom Sein haben«. Der Wesensvollzug ist alles. Der Verzicht gibt ja auch »die unerschöpfliche Kraft des Einfachen«. 168 Wie aber bei Hamsun menschliches Einander auf 167 168

Knut Hamsun, Segen der Erde, S. 395. Martin Heidegger, Der Feldweg (Sperrung R. M.).

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seine Notwendigkeit beschränkt ist, auf dem Lager und auf dem Acker den Fortgang des reinen Lebens zu besorgen, so muß es bei Heidegger gänzlich fehlen, da der Denkende den Wesensvollzug ganz allein und nur allein schafft, jedes menschliche Einander schon wesenszersetzende Vergesellschaftung darstellte. Darin nämlich gleichen sich Hamsun und Heidegger aufs genaueste: Mensch unter Menschen zu sein bedeutet unweigerlich Vermassung: Nun, Inger ist auf das weite Meer hinausgesegelt, sie ist in der Stadt gewesen, jetzt ist sie wieder daheim. Die Welt ist weit, es wimmelt auf ihr von Punkten, Inger hat mitgewimmelt. Sie war beinahe ein Nichts unter den Menschen, nur ein einzelner unter ihnen. 169

Für Heidegger wieder ist der Mensch, der für sein Zusammenleben eine Ethik braucht, weil er keinen reinen Wesensvollzug kennt, der ganz von selbst dem Ethos des Menschen entspricht, der wesenlose Mensch: der Massenmensch. 170 Es ist der Mensch der modernen Demokratie, dem er den Übermenschen entgegenhält. 171 Hamsuns Einzelner, notwendig für das Leben, steht am Herd, geht auf dem Acker. Er ist, menschlich gesehen, mit sich allein, aber er weiß sich eins mit Himmel und Erde. Heideggers Einzelner, gebraucht vom Sein für das Sein, steht einsam unter dem Anspruch des Seins, wenn er das Wesen ins Hohe wahrt. Auch er weiß sich eins mit Himmel und Erde. Die geistigen Urheber dieser Single-Sicht des Menschen wissen beide, wie unendlich geschieden ihr wesentlicher, lebens- und seinsgerechter Einzelner von den Zeitgenossen ist, die in der ihnen nachgesagten Massenhaftigkeit keinem Lebens- und Wesenskult fronen und frönen, sondern alles, was sie tun und lassen, wünschen und verwünschen, bedenken und außeracht las-

Knut Hamsun, ebd., S. 395 f. Martin Heidegger, Über den Humanismus, S. 38. 171 Ders., Was heißt Denken?, S. 65–67; vgl. Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 105 ff.; Das Ding, S. 181. 169 170

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sen, als Menschen unter Menschen tun – im Ausspielen ihres eigenheitlichen Einanders. 3.3.3 Die Sprache braucht den Menschen Die Sprache braucht den Menschen. Das ist verständlich: ohne den Menschen gäbe es keine »parole«, verlautete kein Wort. Die Sache scheint noch einfacher als beim – menschenbrauchenden – Sein zu liegen. Doch Heidegger bringt in diese Wendung seines Inversionsgedankens Neues ein. In dem Gespräch »Zwischen einem Japaner und einem Fragenden« 172 findet Heidegger dazu, das Verhältnis von Mensch und Sein so zu entrelativieren, daß im Denken und Seins-»verhalten« des Menschen nurmehr das Gebrauchtsein regiert: Der Mensch west als Mensch »im Brauch« … 173

»Brauch« ist das neue Wort, mit dessen Hilfe auch noch das Verhältnis als nurmehr einsinniges mit seinem Aktiv und Passiv zum Verschwinden gebracht werden soll: Das Ereignis [sc. des Seins] ereignet den Menschen in den Brauch für es selbst. 174

Denken »und« Sein, Mensch »und« Sein – was bleibt, wenn »beider« »Verhältnis« glückt, ist der Brauch. Im Brauch wesen – das soll das optimale Gegenwort zur Subjekt-Objekt-Beziehung darstellen. Fast zeichnet sich ein sprachlich-geistiger Triumph ab, wenn einfach »der Brauch« herrscht und selbst noch das Gebrauchen und jemanden Brauchen getilgt sind. Enger läßt sich die Identität von Mensch und Sein ja kaum fassen, soll sie nicht auf Koinzidenz hinauslaufen. Doch ganz so macht die Sprache (und das Denken?) nicht mit:

172 173 174

Ders., Aus einem Gespräch von der Sprache. Ebd., S. 126. Ders., Der Weg zur Sprache, S. 261.

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Die Vereignung der Sterblichen in die Sage entläßt das Menschenwesen in den Brauch, aus dem der Mensch gebraucht ist. 175

Das Menschenwesen bleibt doch das Gebrauchte, wenn auch aus dem Brauch. Der Brauch, der den Menschen in seinem Wesen gebraucht sein läßt, ist ein Brauch, »der ihn beansprucht«. 176 Das Beanspruchen ist wörtlich gemeint: der Mensch ist in Anspruch genommen, das heißt es gibt für ihn die Stimme des Seins zu hören, indem er ihr entspricht. Von sich aus kann der Mensch in dieser Wesenssicht Sprache nur vernutzen, indem er als Subjekt zu Wort kommt. Das wesenhafte Sprechen hat er der Sprache selbst zu überlassen: sie spreche und nicht der Mensch. Der Seinsphilosoph hat dabei genau im Blick, daß nicht etwa die Sprache den Mund aufmacht, sondern der Mensch. Im Hören und Entsprechen ist er von der Sprache gebraucht: für das Wort. Doch das sagt er keinem anderen Menschen. Auch noch sein wesensgerechtes Wort bleibt des Seins. Das Menschenwesen, das spricht, indem es der Sprache entspricht, spricht im Verhältnis des Seins das Wort des Seins. Es antwortet so dem Sein mit des Seins eigenem Wort. Heidegger ist klug genug, diese Zwiesprache des Seins, verlautet vom Menschenwesen, das in den Brauch entlassen ist, nicht einfach für ein höchst beredtes Schweigen auszugeben, nachdem es offensichtlich so gut wie nichts zu sagen gibt. Wie in einer Flucht nach vorn spricht er von »Kunde«, die zu bringen sei, von »Botschaft«. Heideggers Hermeneut legt nicht etwas aus, dolmetscht nicht, sondern bringt Botschaft – Seinsbotschaft, versteht sich: F Der Mensch hört, insofern er Mensch ist, auf diese Botschaft. (…) F Er ist dahin gebraucht, sie zu hören. 177

175 176 177

Ebd., S. 260. Ders., Aus einem Gespräch von der Sprache, S. 125. Ebd., S. 135.

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Das Denken im Schatten seiner selbst

F (…) die Botschaft … J die uns als Botengänger braucht. 178

Der Gang, liest man Heidegger nach, ist nichts anderes als der Übergang von der Stille in den Laut. Was das Sein in seiner Lautlosigkeit an Wesensgerechtem zu sagen hat, möchte es vom Menschen verlautet haben. Es ist, als hörte das Sein sich selbst gern: Die Sage braucht das Verlauten im Wort. Der Mensch aber vermag nur zu sprechen, insofern er, der Sage gehörend, auf sie hört, um nachsagend ein Wort sagen zu können. 179

Ohne die Wort-Sage weste der Mensch demnach überhaupt nicht im Brauch, aus dem er gebraucht ist, die lautlose Sage in das Verlauten der Sprache zu bringen. 180

Die Inversion des uti et frui ist komplett: die Sprache braucht den Menschen, das Sein, die Dinge brauchen ihn. Gebraucht ist der Mensch allemal als der Denkende: Das Denken ist des Seins, insofern das Denken, vom Sein ereignet, dem Sein gehört. Das Denken ist zugleich das Denken des Seins, insofern das Denken, dem Sein gehörend, auf das Sein hört. 181

Mit dem Denken ist zugleich das Hören und (Ent-)Sprechen, das Fragen und Wollen, das Schaffen und Gestalten auf »den Brauch« abgestellt: auf den Dienst am Sein. Das Wesen des Menschen gehört nicht dem Menschen, sondern der Mensch gehört seinem Wesen. Nur so ist er gebraucht. Das klingt durch und durch seinsfürchtig: befiehl dem Sein deinen einsamen Wesensweg. Gesagt und gedacht ist des weiteren nichts. Das brauchende Sein hat als solches keinen bestimmten Gehalt, keine 178 179 180 181

Ebd., S. 155. Ders., Der Weg zur Sprache, S. 266. Ebd., S. 260. Ders., Über den Humanismus, S. 7.

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Der Versuch umzudenken (Heidegger)

erkennbare Gestalt. Es gibt, wie Heidegger dolmetscht, allein die Inversion des menschlichen Grundverhältnisses als solche zu verstehen. Doch das ist noch immer nicht alles, was von dieser seinsphilosophischen Umkehrung zu sagen ist.

3.4 Die Inversion des Herrschaftsverhältnisses Im Seinsdenken Heideggers ist die Sprache nichts neben dem Sein. »Das Sein« wird als Sprache, »die Sprache« als die des Seins gedacht. Hat die Sprache (und nicht der Mensch) das Sagen, dann sagt sie das, was ist. Für die Inversion des Herrschaftsverhältnisses bedeutet das: Rang und Herrschaft des Seins sind in eins Rang und Herrschaft der Sprache. 182 Denken, in dem das Menschenwesen das ist, was es ist, gehorcht »der Stimme des Seins«. 183 »Geheiß«, »Anweisung«, »Anspruch«, »Diktat« sind dieser Seinsphilosophie zufolge Wesensarten des Seins »als Logos«. 184 Sprache, die menschliche »Subjekte« für sich in Gebrauch nehmen, gilt Heidegger als vernutzt und um ihre ursprüngliche Wesensart als Dichtung gebracht. 185 Im Alltag, ja überhaupt in der Zeit der Herrschaft des Subjekts, habe sich das »wahre« Herrschaftsverhältnis verkehrt: der Mensch gebärde sich als Erfinder, Bildner und Meister der Sprache. 186 Wie aber der Mensch in Wahrheit nicht Herr des Seins sei 187 , so sei er auch nicht Herr der Sprache. Für echtes Menschenwesen sieht Heidegger nur Ders., Einführung in die Metaphysik, S. 101. Ders., Nachwort zu Was ist Metaphysik?, S. 46. 184 Ders., Einführung in die Metaphysik, S. 101. 185 Ders., Die Sprache, S. 31: »Vielmehr ist umgekehrt das alltägliche Reden ein vergessenes und darum vernutztes Gedicht, aus dem kaum noch ein Rufen klingt.« 186 Ders., »… dichterisch wohnet der Mensch …«, S. 190; Einführung in die Metaphysik, S. 120. 187 Ders., Die Technik und die Kehre, S. 38. 182 183

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dasjenige an, das »in der Macht der Sprache« steht und »vom Sein seine gefügte Anweisung hat«. 188 Sobald Sprache ein »beliebig verwendbares Mittel der Verständigung« ist, »so gleichgültig wie ein öffentliches Verkehrsmittel, wie die Straßenbahn, in der jedermann ein- und aussteigt«, wird sie vom Seinsphilosophen für ein »herrenloses Mittel« angesehen. 189 Das Jedermann-Subjekt ist nämlich in seiner Sicht unmöglich ein Herr, zumal ein »wahrer« Herr nicht über Mittel und Werkzeuge verfügt. Kein wesenhaftes Vermögen hat für Heidegger überhaupt als Werkzeug »im Dienste von anderem« zu stehen 190 , schon gar nicht im Dienste des massenhaften Jedermann. Wenn aber wesenhaftes Vermögen einen wesenhaften Herrn braucht, ihm demnach unmöglich ein verfügbares Mittel sein darf, kann der »Herr« des Vermögens nurmehr das Vermögen selbst sein. Die Inversion des Herrschaftsverhältnisses von Mensch und Sprache hat die – theoretische – Selbstermächtigung des Vermögens zur Folge: Sprache ist konsequent als »Herrin des Menschen« zu bestimmen. 191 Was sich lebenspraktisch als höchst brauchbares Vermögen bewährt, erhält den Charakter des Selbstseins. Es wird nicht substantialisiert, sondern wird sein eigenes Vermögen: die Sprache vermag zu sprechen, indem sie den Menschen dazu vermag. Die geistige Umkehrung des praktisch Bewährten hat Konsequenzen für die Textauslegung. Soll die Sprachherrschaft des Subjekts vollends aufgehoben werden, dann dürfen sich auch im Gesprochenen und Geschriebenen keine Reste mehr von ihr finden. Nun stellt aber unter anderem jeder Aussagesatz ein Herrschaftsverhältnis dar: das Subjekt regiert das Prädikat. Grammatik versteht sich nicht zuletzt als Lehre von der Operationalisierung der Herrschaftsformen im Satz. Ohne Regiment 188 189 190 191

Ders., Einführung in die Metaphysik, S. 63; 67. Ebd., S. 38. Ebd., S. 35. Ders., »… dichterisch wohnet der Mensch …«, S. 190.

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im Satz gibt es keine Syntax. Heideggers vom sprachgewaltigen Subjekt befreite Sprache ist darum die reine Wortsprache und überhaupt keine Satzsprache. Das ist ein maßgeblicher Grund dafür, daß Heidegger mit »Seiendes« jederzeit Dinge, nicht aber Tatsachen meint, ja daß er das ontologische Problem der Unterscheidung von Ding und Tatsache nicht aufgegriffen, wenn überhaupt gesehen hat. 192 So kann er Sprache und Wort gleichsetzen. 193 Das Wort muß den Gedanken tragen, nicht der Satz. Am deutlichsten hat Heidegger seine Entschlossenheit, jede Art von Syntax zu entmachten, bei seiner Auslegung von Textstellen des Parmenides demonstriert. Drei Verszeilen aus dem Lehrgedicht des Parmenides sind es, auf die Heidegger bei jeder Gelegenheit zurückkommt, um durch ihre Auslegung nach Möglichkeit alles zu sagen, was aus seiner Sicht zum Verhältnis von Mensch und Sein, insbesondere von Denken und Sein zu sagen ist. Hier bewährt sich seine Idee von inverser Hermeneutik: dem »Text« vom Gedanken des Seins her zu sagen, was er zum Gedanken des Seins zu sagen hat. Was Parmenides daraufhin zu »sagen« hat, »entspricht« vollauf Heideggers Sicht der Dinge. Es handelt sich um die Verse bzw. Versteile: ἔστι γὰρ εἶναι (Parmenides, Fragment Β 6,1; Heidegger: »Es ist nämlich Sein«) 194 ,

Bedeutet im Griechischen der Alltagssprache (zum Beispiel Herodot) und der philosophischen Sprache (zum Beispiel Platon, Sophistes; Aristoteles, Metaphysik IV 7; VI 4; IX 10) »Seiendes« bisweilen »Tatsache«, diskutieren Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein um 1918, ob Welt das All der Tatsachen oder der Tatsachen und Dinge ist, dann wäre schon das Anlaß genug gewesen, daran nicht vorbeizugehen. 193 Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, S. 131; 66; vgl. unter anderem Das Wesen der Sprache, S. 166 f.; 171. 194 Unter anderem Nietzsches Wort »Gott ist tot«, S. 243; Über den Humanismus, S. 22; Identität und Differenz, S. 72; vgl. Einleitung zu Was ist Metaphysik?, S. 21: »daß Sein ist.« 192

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τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι (Parmenides, Fragment Β 3; Heidegger: »Denn dasselbe ist Denken und Sein«) 195 , ταὐτὸν δ’ἐστὶ νοεῖν τε καὶ οὕνεκεν ἔστι νόημα (Parmenides, Fragment Β 8,34; Heidegger: »Dasselbe ist Vernehmung und das, worumwillen Vernehmung geschieht«) 196 , χρὴ τὸ λέγειν τε νοεῖν τ’ἐὸν ἔμμεναι (Parmenides, Fragment Β 6,1). 197

Heidegger zitiert den zuletzt angeführten Versteil in einer Vorlesung des Sommersemesters 1952 und fährt unmittelbar fort: Wir sprechen und hören den Spruch parataktisch, aber noch immer in der gewöhnlichen Übersetzung: »Nötig: das Sagen so Denken auch: Seiendes: sein.« 198

Heideggers erster Schritt bei der Auslegung eines Satzes besteht darin, ihm den Satzcharakter zu nehmen, und das heißt, seine Syntax außer Kraft zu setzen. Die reine Parataxe hat statt: jedes Herrschaftsverhältnis ist aufgehoben. Zwar ist das Nebeneinander noch durch Doppelpunkte geordnet, die aber geben das rein aus dem Wort Sprechende nur weiter, übermitteln keinerlei Dominanz. Die drei Infinitive im »Satz« kommen Heideggers Auslegung entgegen. Ein Infinitiv gilt ihm als das, »was das Verbum überhaupt meint und zum Vorschein bringt«. 199 Auch an Genus und Tempus habe man dann nicht mehr zu denken. So erleichtern die Infinitive die Parataxe. Streng genommen aber wird durch sie alles zum Infinitiv, auch »nötig« (χρή) und »SeiUnter anderem Einführung in die Metaphysik, S. 105–108; 111; Die Zeit des Weltbildes, S. 83; Was heißt Denken?, S. 146; Moira, S. 237; 241; 249; Der Satz vom Grund, S. 127; Identität und Differenz, S. 18. 196 Unter anderem Einführung in die Metaphysik, S. 106; Moira, S. 231 ff. 197 Unter anderem Einführung in die Metaphysik, S. 107; 129 ff.; Was heißt Denken?, S. 113 ff. 198 Syntax ist nicht so leicht zu überwinden. Man muß sie zuvor verstehen. Heidegger schlägt τό ganz selbstverständlich als Artikel dem λέγειν zu: »das Sagen«. Doch vermutlich ist es ein Demonstrativum und gehört zu χρή: »nötig das: …«. 199 Ders., Einführung in die Metaphysik, S. 51. 195

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endes« (ἐόν). Einen Satz nicht mehr als Satz übersetzen und auslegen zu müssen, ist nicht nur die Art, es sich wissenschaftlich leichter, sondern sich vor allem wissenschaftlich unangreifbar zu machen. Es läßt sich nurmehr Heidegger-immanent überlegen, ob dem umgedachten Hermeneuten in Parmenides’ Wörterordnung auch wirklich die beste Spiegelung seines eigenen Seinsdenkens geglückt ist. Falsche Übersetzung, mißverstandene Syntax – gegen Vorwürfe dieser Art hat sich Heideggers Auslegung hermetisch abgesperrt. Nötig: das Sagen so Denken auch: Seiendes: sein.

Wer die Idee der umgekehrten Auslegungskunst verstanden hat, weiß bereits, was hierzu als Übersetzung zu erwarten ist: sie muß die Überwindung der Subjekt-Objekt-Beziehung spiegeln. Für »Seiendes« und »sein« wird darum am besten »An-wesendes« und »an-wesen« zu sagen sein, um im Verhältnis von Mensch und Sein dem Sein die Macht der Zuwendung zu überlassen. Sodann liegt es nahe, »nötig« genauer auf das Bedürfnis des Seins abzustimmen: »es braucht«. Mit »es« ist garantiert, daß es das Sein, nicht aber der Mensch ist, der »nötigt« (um nicht zu sagen: etwas nötig hat). Die Maxime, wie »Sagen« und »Denken« am besten zu übersetzen ist, ist eindeutig: so herrschaftsfrei und unsubjektivistisch wie nur möglich. Beim Sagen geht es darum, es so zu deuten, daß es nicht etwas zusammenstellt und ordnet (συντάττειν), sondern es so liegen läßt, wie es ist. Nicht nur die Auslegung muß parataktisch sein, sondern auch das auslegende Sagen. Heideggers Vorschlag für »Sagen« lautet: »Vorliegenlassen«. 200 Besser hätte er seine eigene Auslegungsidee gar nicht treffen können. Kommt es dann beim Denken darauf an, daß es ja nicht das Subjekt ist, das etwas begreift und seinem Verstand gefügig macht, trifft Heideggers Auslegung ihre Absicht um keinen Deut schlechter. Er schlägt Vgl. unter anderem Der Weg zur Sprache, S. 252: »›Sagan‹ heißt: (…) hörenlassen.«

200

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»In-die-Acht-nehmen« vor. 201 Dienenderes und Bewahrenderes als Vorliegenlassen und In-die-Acht-nehmen läßt sich für menschliches Verhalten kaum denken. Wenn Heidegger dann auch noch beide »Übersetzungen« als beste Etymologie nachzuweisen sucht: als echte, hohe und ursprüngliche Bedeutung, dann ist das eigentlich als Nebenwerk zu verstehen, wenn es den Philosophen nicht eben reizte, seiner Wesenswahrheit auch den Anschein wissenschaftlicher Wahrheit zu geben. Parmenides hat im Denken und Auslegen Heideggers nur eine Alternative: entweder er ist Zeuge für eine frühe Form des abendländischen erdverwüstenden Geistes der Subjektivität und des vorstellenden, berechnenden Denkens, oder er ist mit Heidegger, wenn auch auf etwas eigene Art, ein Botengängergenosse für die Wahrheit des Seins und ihr Wort. Im letzteren Fall, zu dem Heidegger sich bekennt, ist, wie gezeigt, vorweg entschieden, was Parmenides zu sagen hat: von sich aus nichts, aber im Entsprechen genau das Verhältnis des Seins, das sich im Brauch des Menschen ereignet. Vom Sein wird damit – ohne und mit Parmenides – allein gedacht und gesagt, daß es die Inversion des Verhältnisses von Menschen und Sein als solche sei. Das Sein herrscht, nicht der Mensch – das sei es.

3.5 Die Inversion des Interesses Den Menschen dienen geistige Fähigkeiten, um sich als Einzelne, Gemeinschaften und Gesellschaften auf der Erde und unter Menschen zu behaupten. Technik (ἔντεχνος σοφία, δηIm Prinzip übersetzt Heidegger νοεῖν mit »vernehmen«. Einführung in die Metaphysik, S. 108: »Vernehmung ist jenes Geschehnis, das den Menschen hat.« Νοεῖν ist also keine Verhaltensweise, über die der Mensch verfügt. Vgl. ders., Wissenschaft und Besinnung, S. 53: »dann ist die θεωρία das verehrende Beachten der Unverborgenheit des Anwesenden (…) Die Theorie (…) ist das hütende Schauen.« Auch in diesen Wendungen glückt es Heidegger, ein Optimum an Nichtsubjektivität zu artikulieren. 201

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μιουργικὴ τέχνη) und Politik (πολιτικὴ τέχνη) gelten schon früh als die »Künste«, in denen Menschen vorrangig ihren Geist zugunsten ihrer selbst gebrauchen. 202 Was immer die Menschen für ihr Leben und Handeln brauchen – es sind im wesentlichen geistige Vermögen, mit denen sie ihre Interessen wahrnehmen. Da freilich der Streit zu keiner Zeit für geschlichtet gilt, was eigentlich im besonderen und einzelnen als menschliches Interesse zu vertreten ist und was nicht, hat die Interessennahme von Menschen zugunsten ihrer selbst zumeist die Form des Streits: Interesse steht gegen Interesse. Gerade das aber belegt, daß geistige Vermögen dem Menschen prinzipiell zur Wahrnehmung seiner Interessen dienen. Gibt man zudem die verführerische Idee von einem allgemeinen Wesen des Menschen auf und erkennt, daß der Mensch sich als Mensch allein im eigenheitlichen Einander findet, dann ist ohne weiteres einsichtig, daß zwar nicht notwendig Gegnerschaft, wohl aber eigenheitlich gegründete Verschiedenheit des Interesses zur »Natur« des Menschen gehört. Heidegger kann mit seinem seinsphilosophischen Ansatz weder die traditionelle Idee der einheitlichen noch die der differenzierten Interessenvertretung des Menschen teilen. Für ihn haben die geistigen »Vermögen« des Menschen, vom Sein dazu vermocht, die Interessen des Seins zu vertreten und gerade nicht die des Menschen (»lediglich als solchen«): Denn das Denken ist das eigentliche Handeln, wenn Handeln heißt, dem Wesen des Seins an die Hand gehen. 203

Denken ist demnach nicht länger Instrument menschlicher Selbstbehauptung, sondern maßgebliche Form kultischen Handelns, das in seiner Strenge nicht der Verehrung eines höheren Wesens gilt, sondern dem Wesenhaften als solchem. In Über-

Platon, Protagoras 321d–322b. Martin Heidegger, Die Technik und die Kehre, S. 40; vgl. S. 37. Zu Handeln als Handhaben siehe Was heißt Denken?, S. 114.

202 203

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windung der Interessen des egoistischen und seinem Wesen nach unfrommen Subjekts wird aus dem Menscheninteressen dienenden Denken ein Danken. Ein entsprechender Wandel läßt sich in Heideggers Konzeption des »wesentlichen« Denkens selbst beobachten. Als »Frömmigkeit des Denkens« bestimmt Heidegger früh das Fragen, später, sich selbst ausdrücklich korrigierend, das Hören. Was das bedeutet, läßt sich gut am Verhältnis von Wollen und Lassen demonstrieren, wie er es – selbstinterpretativ – bestimmt: Fragen ist Wissen-wollen. Wer will, wer sein ganzes Dasein in einen Willen legt, der ist entschlossen. 204

Das gibt zweifellos eine Betonung des Fragens und zugleich des Wollens zu erkennen, etwas, das Heidegger in dieser Zeit seines Philosophierens außerordentlich am Herzen liegt: Das Fragen ist die echte und rechte und einzige Weise der Würdigung dessen, was aus höchstem Rang unser Dasein in der Macht hält. 205 Das Wissen, das ein Wollen, und das Wollen, das ein Wissen bleibt, ist das ekstatische Sicheinlassen des existierenden Menschen in die Unverborgenheit des Seins. (…) Entschlossenheit ist nicht die decidierte Aktion eines Subjekts, sondern die Eröffnung des Daseins aus der Befangenheit im Seienden zur Offenheit des Seins. 206

Ausgerechnet dies Wollen, aus dem das Fragen seine Kraft nimmt, will Heidegger als Lassen verstanden haben. Achtzehn Jahre später, bei Gelegenheit der Veröffentlichung, schiebt er im Kontext von »Fragen ist Wissenwollen« in Klammern ein: Der Bezug zum Sein aber ist das Lassen. Daß alles Wollen im Lassen gründen soll, befremdet den Verstand. 207

204 205 206 207

Einführung in die Metaphysik, S. 16. Ebd., S. 63. Der Ursprung des Kunstwerks, S. 55. Einführung in die Metaphysik, S. 16.

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Heidegger meint diese Deutung so ernst, daß sich zuvor schon die Bemühung um eine »etymologische« Absicherung nachweisen läßt. Anläßlich der Auslegung von Heraklit, Fragment Β 32, führt er aus: Das tragende Wort des Spruches, ἐθέλω, bedeutet nicht »wollen«, sondern: von sich her bereit sein für … 208

Der Gebrauch des Wortes deckt in der Tat auch diese Deutung, obgleich andere Übersetzungen sich für »wollen« entscheiden. Doch Heidegger hat gar keine andere Wahl: für ihn ist Wollen, wenn schon nicht überhaupt ein Lassen, zumindest ein Bereitsein, weil in diesem das Subjektivistische fehlt, was für gewöhnlich dem Wollen anhaftet (Wollen als etwas Willkürliches und, wie Kant sagt, Pathologisches). Überraschenderweise ist Heideggers Selbstinterpretation in nichts beschönigend und verklärend. Sein Seinsdenken, wie es sich selbst versteht, ändert sich nicht. Die Auslegung seines einmal formulierten Denkens verschärft nur die leitende Tendenz seines Ansatzes. Das von ihm konzipierte seinsgerechte Wesen ändert sich nicht vom Fragenden zum Hörenden, vom Wollenden zum Lassenden, sondern versteht nur besser, daß Wollen eigentlich ein Lassen, Fragen eigentlich ein Hören ist. Die etwas mächtige und gewaltige Art, vom Menschen zu reden und zu denken, ist von ihm nicht zu revidieren. Soweit daraus die »Entschlossenheit« spricht, ist ja nichts anderes als die Öffnung für das Sein gemeint. Die Seinsfrage bezeugt für Heidegger als solche die Entschlossenheit des Menschen, »des Seins« zu sein: Das Wesen des Menschen ist innerhalb der Seinsfrage (…) als die Stätte zu begreifen (…), die sich das Sein (…) ernötigt. 209

Logos, S. 223. Einführung in die Metaphysik, S. 156; vgl. S. 23: »Dennoch ist es dieses Fragen, das uns ins Offene rückt.« 208 209

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Die Umdeutung des Fragens führt zum Hören, nicht jedoch zur Antwort. Insofern bleibt es beim Fragen: Die Bestimmung des Wesens des Menschen ist nie Antwort, sondern wesentlich Frage. 210

Sind erst einmal Wollen und Fragen als etwas erkannt, das, wesenhaft vermocht, »des Seins« ist, dann gibt es überhaupt keinen Seinsbezug des Subjekts, der nicht in seinem »wahren« Wesen so gedacht werden könnte, daß er genau nicht dem Menschen, sondern vielmehr dem Sein dient. Ein hervorragendes Beispiel dafür liefert Heideggers Deutung des vermeinten wahren technischen Handelns: Das Entscheidende der τέχνη liegt somit keineswegs im Machen und Hantieren, nicht im Verwenden von Mitteln, sondern in dem (…) Entbergen [ganz im Sinne des ἀληθεύειν]. 211

Selbst und gerade »technisch« vermag der Mensch demnach dem Sein eine Stätte zu geben. Wie Wollen eigentlich ein Lassen und das sprachliche In-eine-Ordnung-Fügen eigentlich ein Vorliegenlassen ist, so technisches Hervorbringen ein »Ver-an-lassen«. 212 Im technischen Lassen ist die Herrschaft des Subjekts verschwunden. Das Sein hat das Sagen. Offen ist freilich, ob dieses Ver-an-lassen im Interesse des Seins einen Unterschied machen kann und soll zwischen dem »Entbergen« von Krügen (Wesen des Krugs) und zum Beispiel Steinschleudern (Wesen der Steinschleuder). Was nämlich auch technisches Tun ins Sein bringt (ποίησις bei Platon als γένεσις εις οὐσίαν), es kommt damit an den offenen Tag und in die Öffentlichkeit dessen, was ist. Wer aber der Technik den Freibrief eigentlicher Seinsgerech-

Ebd., S. 107; vgl. S. 157: »Das eigentlich Aufgegebene ist Jenes, was wir nicht wissen und das wir, sofern wir es echt wissen, nämlich als Aufgegebenes, immer nur fragend wissen.« 211 Die Technik und die Kehre, S. 13. 212 Ebd., S. 10. 210

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tigkeit ausstellt, der muß mit der Wissenschaft entsprechend verfahren. Und siehe: auch sie wird vom Sein »benötigt«. 213 Ist Hervorbringen eigentlich ein Ver-an-lassen, dann ist womöglich Töten, wenn wesenhaft vollbracht, ein Sterbenlassen, Schuldeneintreiben entsprechend ein Zahlenlassen. Man muß sich wirklich fragen, ob es nicht unter anderem auch, Heideggers Denken im zulässigen Rahmen systematisiert, eine Zahlungsmoral und eine Kriegsmoral des Seins gibt. Nun kommt, wo die herrschende Interessenlage die des Seins ist, der andere Mensch mit seinen Interessen prinzipiell nicht ins Visier. Das schließt aber nicht aus, ihn in einem »Bezirk« des Seins anzutreffen: Der Tempel und sein Bezirk verschweben aber nicht in das Unbestimmte. Das Tempelwerk fügt erst und sammelt zugleich um sich die Einheit jener Bahnen und Bezüge, in denen Geburt und Tod, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall die Gestalt und den Lauf des Menschenwesens in seinem Geschick gewinnen. 214

Mit Bedacht spricht Heidegger vom Menschenwesen, nicht vom Menschen, wie er ist – für sich, vor Anderen und mit Anderen. Wieder einmal verbindet sich, wenn auch in kultureller Rückerinnerung, der Seinsort mit den Göttern. Geburt und Tod, Sieg und Schmach sind erst angesichts des Hohen wesensfähig. Wie Menschen für gewöhnlich die »großen« und »letzten« Dinge unter sich ausmachen – mit oder ohne Kult, mit oder ohne Poesie –, ist es nicht »des Seins«. So erscheint es doch nicht als abwegig, ein Sterben- und Zahlenlassen im Interesse des Seins zu denken. Gottgefällig, wenn gottgeheißen und -verheißen, war Handeln dieser Art schon immer. 215 Wissenschaft und Besinnung, S. 53. Der Ursprung des Kunstwerks, S. 31. 215 Richter 6, 16: »Wenn ich bei dir bin, wirst du die Medianiter schlagen wie einen Mann.« 7, 25: »und sie töteten …« 8, 17: »und er tötete …« Psalm 37, 21: »Der Gottlose muß borgen und kann nicht bezahlen.« Matthäusevangelium 6, 21 (als ein Wort Christi): »Wahrlich, ich sage dir. Du 213 214

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Das wesenhafte Verhalten des Menschen, wie Heidegger es erörtert, spielt sich in der Dingwelt und im Dingbezug ab, nicht im Verhältnis von Menschen unter Menschen. Darum versteht er Techne wie selbstverständlich nur als demiurgische, nicht aber auch als politische. Was als Scham und Recht 216 , Moral und Gewalt den Verkehr unter Menschen regelt, kommt bei ihm seinsphilosophisch nicht näher in Betracht. Es müßte schon die Gewalttätigkeit und Schamhaftigkeit im Seinsverhalten ihren Ort und ihr Wesen haben, um sein Denken zu faszinieren. Heraklits Streit- und Kriegsgedanken, so gewaltig und martialisch sich bisweilen ihre Auslegung anhört, nehmen Seinsinteressen wahr, wobei es natürlich nicht ohne Delikatesse ist, daß dieser Dienst am Sein zwar auch vom Einzelnen (dem Helden!), zugleich aber auch vom Volk zu erbringen ist. Kennt Heidegger kein geschlechtliches und sonstwie zersplittertes Dasein, ein völkisches kennt er schon, zumal das deutsche. 217 Heideggers Denken, wie es das Interesse des Seins wahrzunehmen sucht, zeigt sich durch Nichtsein in dreierlei Gestalt betroffen. Es ist zum ersten das Nichtsein als »Nichtmehrdasein« 218 und das heißt als Totsein, zum zweiten Nichtsein als Überhauptnichtsein von Seiendem und Sein, zum dritten das Nichtsein als Nichtwesenhaftsein und Nichtheilsein. Entsprechend nimmt sein ontologischer Antinihilismus dreifache Gestalt an: er denkt erstens im Interesse des Daseins, zweitens in dem des Überhauptseins und drittens in dem des wesenhaften und heilen Seins. Der universellen »Gewalttätigkeit« gegen alles Nichtsein entspricht schon zum voraus die universelle Dankbarwirst von dort nicht herauskommen, bis du den letzten Rappen bezahlt hast.« 216 Platon, Protagoras 322c2. 217 Martin Heidegger, Deutsche Lehrer und Kameraden!, S. 14: »Die nationalsozialistische Revolution (…) bringt die völlige Umwälzung unseres deutschen Daseins.« 218 Sein und Zeit, S. 237; vgl. Einführung in die Metaphysik, S. 136: »Nicht-Dasein«.

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keit für alles Anwesen. Zentral ist und bleibt für sein Denken dabei das Überhauptsein. »Daß Seiendes ist« – damit nimmt für Heidegger der Bund (das Testament) zwischen Sein und Denken seinen Anfang. 219 In diesem Daß, das keinem Philosophen zuvor genau so in den Sinn kommt, sieht er kein bloß faktisches Sein als solches, sondern »Huld« und »Gunst« des Seins. Ganz entsprechend nimmt er es für ein Geschenk, wie der Mensch »sich überall schon ins Unverborgene gebracht« sieht. 220 Seiendes ist und das heißt: west an. Zugleich ist der Mensch da: er ist die Stätte des Anwesens. Daß überhaupt Seiendes ist und nicht vielmehr nichts (Nichts), gilt ihm darum als »Wunder aller Wunder«. 221 Leibniz dagegen kann ganz ruhig davon sprechen, daß es einen Grund dafür gebe, warum die Welt eher ist als daß sie nicht ist. 222 Für ihn wäre es im Gegenteil ein Wunder und eine Irritation der Vernunft und des Glaubens, denken zu müssen, daß sie nicht wäre. Heideggers Wunder ist, logisch geurteilt, falsch. Es ist so nicht möglich, den »Entitätenrahmen« in Frage zu stellen. Doch Heidegger hält sich in seinem Denken ganz bewußt außerhalb der Logik auf – nicht durchgängig und in jeder Hinsicht, aber auf bestimmte Weise bei ganz bestimmten Anlässen. Sein unübertreffliches Wunder lebt als solches von der Frage. Das Überhaupt von Seiendem nämlich ist für sich überhaupt kein Wunder. Verwundern kann nur Bestimmtes: daß es Einhörner gibt (auf Tapisserien), daß es einen Urknall gibt (in der physikalischen Theorie), daß Menschen so schlecht und so gut sind. Ist es aber durch Heideggers Seinsfrage ein Wunder, dann ist die Frage auch wieder nur eine Frage, weil und insofern sie ein Staunen und Wundern ist. Die alten Kinderfragen brauchen einen »kindlichen« Verstand, keinen logischen. Darum nennt Heidegger das Nachwort zu Was ist Metaphysik?, S. 44. Die Technik und die Kehre, S. 18. 221 Unter anderem Vom Wesen des Grundes, S. 45; Einführung in die Metaphysik, S. 1 ff. 222 Gottfried Wilhelm Leibniz, De rerum originatione radicali, S. 305. 219 220

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von ihm gedachte Überhaupt mit Recht das Wunder aller Wunder. Das Überhauptsein von »etwas« (aliquid) steht nicht im Zentrum von Heideggers Seinsinteressennahme, weil es etwa die – »logische« – Voraussetzung für Dasein und heiles Sein wäre. In dem, daß überhaupt etwas »ist«, liegt: daß überhaupt etwas »anwest«. Anstatt das Überhaupt von Seiendem, das heißt von solchem, was ist, »schlecht« gedacht, für bloße Vorhandenheit zu nehmen, ist, »recht« gedacht, darin schon das Überhaupt von Sein gedacht und gesagt. In jenem Überhaupt steckt nicht der Gedanke eines göttlichen oder natürlichen Weltanfangs lange vor Erscheinen des Menschen auf der Erde, ja vor der Existenz der Erde, sondern es ist der anfängliche Gedanke der Seinsgeschichte: daß überhaupt Da-sein dem Anwesen von Anwesendem geöffnet, daß überhaupt Menschenwesen zum letztlich heilen Sein bestimmt ist. Das Wunder aller Wunder ist überhaupt nicht ohne den Menschen. Im Gedanken rein des Seins (daß es Sein gibt), wie Heidegger ihn ausführt, liegt schon, daß der Mensch gebraucht ist. Um vom Mißverständnis einer bloßen Faktizität abzubringen, das in der Wendung »Es ist nämlich Sein« (Parmenides, Fragment Β 6,1: ἔστι γὰρ εἶναι) nahegelegt ist, wechselt er mit sprachlichem und gedanklichem Gewinn zur Wendung »Es gibt Sein«. Das Interesse des Seins ist für Heidegger unmöglich dadurch wahrzunehmen, daß man es begründet. Die Seinsfrage darf auf keinen Grund kommen, der Sein durch anderes begründet, etwa durch Gott – analog seinem Grundsein für das Sein der Welt nach dem Verständnis einer maßgeblichen Tradition. Alles Fragen, das in dieser Weise auf einen Grund kommt, ist noch wissenschaftliches oder quasiwissenschaftliches Fragen im Interesse des Menschen. Darum muß dem Sein selbst auch noch der letzte Anschein begründbarer Faktizität (die die Vorstellung eines bestimmten Etwas einschließt) genommen werden. Entsprechendes gilt für das »dingende« Ding und die »weltende« Welt. Wer als Fragender eigentlich hört, als Wollender läßt und als Den178 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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kender dankt, findet im Wesen der Dinge und der Welt, wie Heidegger zu lesen ist, genau den richtigen Partner. Das Sein könnte dem Menschenwesen nicht zugewandt sein, wären dies nicht auf ihre Weise Welt und Dinge: Daß Welt (…) die Wahrheit des Seins dem Menschenwesen nähert und so den Menschen dem Ereignis vereignet. 223 Die Dinge besuchen jeweils die Sterblichen eigens mit Welt. 224

Die nähernd-vereignende Welt und die besuchenden Dinge – das ist die entwickelte seinsphilosophische Sicht des Überhaupt. Gibt es Welt, dann ist sie schon die Gebende (nicht die durch einen Grund begründete): sie nähert und vereignet. Gibt es Dinge, dann sind sie schon die Gebenden: sie besuchen. Beim Wort steht es nicht anders: Vom Wort dürften wir, sachgerecht denkend, dann nie sagen: Es ist, sondern: Es gibt – (…) in dem Sinne, (…) daß das Wort selber gibt. 225

Was aber Welt, Dinge und Wort geben, ist das Sein 226 , weil das, was da in allem gibt, das Sein selbst ist. »Es gibt« ist, in ontologisch-tautologischer Strenge, nur vom Es-gibt selbst zu denken und zu sagen: »Es gibt: Es gibt.« »Es gibt Sein« wird bei Heidegger zum Grundwort des Denkens, das allein dem Interesse des Seins vollends gerecht wird. 227 Das Sein, das es gibt, ist, insofern es dasselbe gibt, das Gebende. Das »Es« ist genau das Gebende. Heidegger schreibt darum »Es« groß: Das Es, das gibt, kann nur das Sein selbst sein, das Es gibt, indem Es gibt und sich gibt. Aus dem Sein ist, dank Heideggers Interessennahme, wirklich ein reiner Gedanke geworden. Dem Philosophen ist es gelungen, Sein ohne die geläufige Abhängigkeit von ding- und Die Technik und die Kehre, S. 47. Die Sprache, S. 22. 225 Das Wesen der Sprache, S. 193. 226 Ebd. 227 Siehe unter anderem Über den Humanismus, S. 23; Zeit und Sein, S. 5; 8; 18 ff. 223 224

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geschehensgebundener Tatsächlichkeit und von Gründen zu denken. Das Es-gibt ist eine echte Denkleistung, sofern es Selbstsein in einer bisher nicht gekannten Form zu verstehen gibt. Dennoch ist ein Mißton in diesem Gedanken nicht zu überhören, soweit die reine unverhoffte Zuwendung zum Menschen nach »Segen der Erde« klingt. Heideggers Gedanke befindet sich zwar auf dem Boden des Geistigen und ist, bei aller beiherspielenden Nähe zur ländlichen Heimat, auf das Ganze menschlicher Wesenhaftigkeit hin gesagt. Der »Segen« der Erde dagegen, ihr Lebenspendendes und Lebentragendes, wie Hamsun es deutet, kommt der Erde selbst zugute, nicht dem Menschen, es sei denn, daß er »der Erde« wäre (als Acker und auf dem Akker; an den Tod als Schicksal all derer, die von Erde sind 228 , ist in Segen der Erde nicht gedacht). Aber so, wie die Erde sich mit ihrem Segen segnet, so gibt auch das Sein mit seinem Geben sich: Zum Geschick kommt das Sein, indem Es, das Sein, sich gibt. Das aber sagt, geschickhaft gedacht: Es gibt sich und versagt sich zumal. 229

Das Sein scheint sich dennoch anders zu geben als die Erde sich zu segnen. Es ist offensichtlich nicht gedacht, daß das Sein sich sich selbst gibt, während der Gedanke der sich segnenden Erde gerade so geführt zu sein scheint, daß sie sich selbst segnet. Doch das stimmt nicht. Beides bleibt vergleichbar, weil beide Male der Mensch auf gleiche Weise im Spiel ist: die Erde braucht den Menschen sozusagen als Erdmenschen, um sich zu segnen. Ganz entsprechend braucht das Sein das Menschenwesen, um sich zu geben. Wie das Sein sich in seiner Zuwendung auflöst, so gibt es sich auch in seinem Sichgeben. Da es kein Etwas ist, nichts von der Art eines Dinges, löst es sich ganz in das Geschehen (»Ereignen«) des Sichgebens auf. Freilich bedeutet diese Art

1. Mose 3, 19. Über den Humanismus, S. 23. Für Überlegungen zum Gebrauch von »Es« siehe insbesondere Zeit und Sein, S. 18–20.

228 229

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Auflösung nicht die Liquidation von vormalig Festem. Auflösung ist in diesem Gedanken nur ein Hilfswort, um den Gedanken und das in ihm Gedachte rein zu halten, rein zumal von falschen Vorstellungen realer Bezüglichkeit. Allein diese Reinheit garantiert, im Sein nichts ausmachen zu können, was der Mensch für sich zu nutzen wüßte. Im »Es gibt Sein« gelingt das absolute Nein zu jeder Art von »Vernutzung«. So findet sich bei Heidegger auch nicht im entferntesten eine Idee von Seinslust und Seinsgenuß. Nein: der Mensch ist zum Seinskult gebraucht, wie bei Hamsun der Mensch zum Erdkult. Was in Segen der Erde gelegentlich als Lust und Genuß aufleuchtet, hat entweder reine Erdfunktion oder ist Sache derer, die aus dem Einssein mit Himmel und Erde entlassen sind. Das Sein, das gibt und sich gibt, opfert sich nicht gleich einem Pelikan für die »Seinen«. Zum Opfer gefordert bleibt bei Heidegger der Mensch, der in seiner »Entschlossenheit« zu allem bereit und fähig ist, wozu das Sein ihn braucht. Seins- und Daseinsgesetze sind, wie Heidegger sie formuliert, Erhaltungsgesetze: Sie [die äußerste Grenze des Daseins] besteht in jener Urforderung alles Seins, daß es sein eigenes Wesen behalte und rette. 230

Das ist kein passagerer Gedanke des Jahres 1933, sondern Heideggers leitende seinsphilosophische Sicht. Noch 1966 nennt er als eines von dreien, wozu das Sein den Menschen brauche, dessen Wahrung. 231 Damit ist aber die Aufgabe genannt, das je eigene Wesen zu behalten und zu retten, was umso klarer wird, wenn er im selben Gespräch auf besondere Aufgaben zu sprechen kommt, die den Deutschen und nur ihnen zugewiesen seien. 232 Deutsche Lehrer und Kameraden!, S. 13. SPIEGEL-Gespräch, S. 209. 232 Ebd., S. 214. Zur Berufung der Deutschen, »für die Wahrung der Wahrheit des Seins« vor anderen ihr Menschsein zu opfern, siehe Parmenides, S. 249 f. (Winter 1942/43!) 230 231

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Das Denken im Schatten seiner selbst

Nur das Sein selbst verdient zu sein – das heißt: dazusein. Wer im Denken die Interessen des Seins selbst wahrzunehmen vorgibt und ja nicht die des Menschen, wie er ist, operiert, ob er sich dessen bewußt ist oder nicht, mit einem Analogon zum »lebenswerten Leben«, nämlich mit dem Gedanken des daseinswerten Seins. Nur Sein, das »des Seins« ist, hat zu sein und dazusein, ist überhaupt für Sein vorgesehen und als Sein anzusehen. Denken, das »dem Sein an die Hand« geht, aktiviert mit seinem ideologischen Ausgriff ins Eschatologische die Diskriminierungspotenz, die in allem Utopischen liegt. Die Idee der Seinsunwürdigkeit des Bestehenden feiert in Heideggers Seinsdenken unausgesetzt Urständ, auch wenn er das herrschende Unwesen als die Gefahr zu »retten« sucht, auf die die Rettung, und als die Verdüsterung, auf die das Licht des Heilen folgt. Wird Heidegger als Seins- und Wesenskünder und damit als Ideologe gelesen (was er selbst nahelegt), dann zeigt er nach Art der Utopisten, es in Wahrheit mit dem Bestehenden nur gut zu meinen – eben zu seinem wahren Nutzen und Frommen. Er übersieht, daß er sowohl direkt als auch indirekt (via Wesensereignis) am Menschen, wie er ist, wie er leibt, lebt und stirbt, wie er kultur- und gesellschaftsgeschichtlich geprägt existiert, vorbeizielt. Er verharrt in seinem seinsdienenden Geist: im Geiste der Frömmigkeit und zugleich der Verachtung.

3.6 Die Perversion des Einander Das lebensbefähigende Einander, in dem sich Menschen eigenheitlich inszenieren, läßt sich nicht invertieren. Alte mit Jungen und Junge mit Alten, Alte mit Alten und Junge mit Jungen – das ist so, das bleibt, das ist auch nicht anders bei Einheimischen und Fremden, selbst nicht bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern, solange es in Gesellschaften diesen Unterschied gibt. Heidegger pervertiert das lebensbefähigende Einander zum wesensbefähigenden. Jetzt ist das grund- und haltgebende Verhältnis des 182 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Der Versuch umzudenken (Heidegger)

Einen und Anderen nicht mehr der eine und andere Mensch, sondern der Eine ist der Mensch, das Andere das Sein – ausgelegt auch als Verhältnis von Denken und Sein, Sprechen (Sagen) und Sein, Wort und Ding. In dieses Einander legt Heidegger Beziehungsqualitäten, das es als lebensbefähigendes unmöglich hat. Er zeichnet es als das innigste Verhältnis, wozu er Liebeskategorien wählt, wie sie nicht schon der Geschlechterliebe, sondern noch der reinen Mutterliebe zugehören – der lebenspendenden und lebenbehütenden Liebe der Mutter zu ihrem Kind. Menschliches Einander, pervertiert zu dem von Mensch und Sein, ist beherrscht von »Mutterphantasien«. Heidegger ist keineswegs der Ansicht, das lebensbefähigende Verhältnis der Menschen untereinander in seinem Denken wirklich zu übersehen, das Einander, wie es philosophisch gerne auf die Formel »Ich und Du« gebracht wird. 233 Für ihn gilt nur als unabweisbar, daß allein aus dem wesensbefähigenden Einander von Mensch und Sein auch das lebensbefähigende Einander von Menschen von Grund auf möglich ist. Erst Wesenhaftigkeit gründe wahrhaft menschliche »Lebendigkeit«, das meint Geistigkeit. Im Umkreis von Sein und Zeit leitet ihn dabei der Gedanke der Transzendenz. Eine eindrückliche Formulierung seiner Sicht, wie gelingendes Menschenverhältnis in gelingenEs muß eigentlich verwundern, daß »sozialontologisch« das Duzen gang und gäbe ist, ganz so, als garantierte ontologisch oder sonstwie philosophisch gedeutete Ontogenese wie von selbst die Intimität, von der diese Sprachform Gebrauch macht und die sie mit schafft. Für Heideggers existentialontologischen Ansatz ist dagegen das Verhältnis von Menschen untereinander nicht als das von Ich und Du, sondern als das von Ich und »Man« relevant (Ich-selbst und Man-selbst) (siehe unter anderem Sein und Zeit, S. 317–322). Das lebensbefähigende Einander begegnet hier ausschließlich unter dem Aspekt der Unwesenhaftigkeit. Erhellend ist dafür die Unterscheidung von »ich bin« und »ich spreche« (Martin Heidegger, Der Begriff der Zeit, Vortrag vor der Theologenschaft, Marburg 1924). Sprechen als Sichmitteilen und Sichunterhalten ist als solches unwesenhaft. Uhr-Zeit (»Jetzt-Zeit«), die Zeit menschlicher Verabredungen (»date«), ist die Unzeit.

233

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dem Seinsverhältnis gründet, findet sich am Ende der Schrift Vom Wesen des Grundes: Und so ist der Mensch, als existierende Transzendenz überschwingend in Möglichkeiten, ein Wesen der Ferne. Nur durch ursprüngliche Fernen, die er sich in seiner Transzendenz zu allem Seienden bildet, kommt in ihm die wahre Nähe zu den Dingen ins Steigen. Und nur das Hörenkönnen in die Ferne zeitigt dem Dasein als Selbst das Erwachen der Antwort des Mitdaseins, im Mitsein mit dem es die Ichheit darangeben kann, um sich als eigentliches Selbst zu gewinnen. 234

Um Selbstsein, Freiheit und eigenste Möglichkeiten sowohl zu gewinnen als auch wahrzunehmen, habe sich der Mensch selbst zu übersteigen. Dieses Über-sich-hinaus vollziehe sich in der Seinsfrage der entschlossenen Existenz. Heidegger wählt für die Seinsfrage die Form »Warum überhaupt etwas und nicht nichts?« 235 Mit ihr mache sich der Fragende von allem bloß Seienden frei und vollziehe in ihr die Transzendenz seiner selbst, um sie, und sich in ihr, als ebenso grundfrei wie gründend zu erfahren. Das »Selbst liegt (…) in der Transzendenz« 236 , und zugleich gilt, daß »es Sein (nicht Seiendes) nur gibt in der Transzendenz als dem (…) Gründen«. 237 Menschliches Selbstsein mit der ihm eigenen Freiheit und Möglichkeit ist demnach durch die Transzendenz an das »Es gibt Sein« gebunden. Es ist die Idee des Da-seins, das ent-schlossen dem Sein geöffnet ist – vor aller Zersplitterung und Zerstreuung 238 : vor aller Geschlechtlichkeit S. 50. Vgl. Metaphysische Anfangsgründe der Logik, S. 285: »Die Freiheit zum Grunde ist das Schwingen im Überschwung, in dem, was uns entrückt und die Ferne gibt. Der Mensch ist ein Wesen der Ferne! Und nur durch echte ursprüngliche Ferne, die er sich in seiner Transzendenz zu allem Seienden bildet, kommt in ihm die wahre Nähe zu den Dingen ins Steigen. Und nur das Hörenkönnen in die Ferne zeitigt das Erwachen der Antwort jener Menschen, die ihm nahe sein sollen.« 235 Vom Wesen des Grundes, S. 45. 236 Ebd., S. 41. 237 Ebd., S. 47. 238 Metaphysische Anfangsgründe der Logik, S. 171 ff. 234

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und völkischen Bestimmtheit, vor aller Gesellschaftlichkeit und Alltäglichkeit. Akkurat diese Idee legt den Grund der Perversion des Einander. Sie bestimmt das Selbst des Menschen ohne (»vor«) jede(r) Eigenheit als das reine »des Seins«: die Geschenktheit des Menschenwesens als solche und damit seine Wesenhaftigkeit (»Entschlossenheit« usw.) als solche. Nur daraus sei das Menschenwesen vermocht (so ist notwendig zu reden, da es ja nicht über eigene Vermögen verfügt), Eigenes zu wahren. Heidegger zeigt nirgends, wie dies rein gedachte, gleichsam als Kern der Existenz gemeinte Dasein zu Eigenheiten kommen soll. Sein mitgedachtes ontologisches Apriori so zu deuten, daß das im Selbstüberstieg für seine eigensten Möglichkeiten freiwerdende Selbst »immer schon« eigenheitlich sei, wäre wenig hilfreich. Für Heidegger kann das lebensbefähigende Einander von Menschen seine Weihen nur aus dem einsamen wesensbefähigenden Einander von Mensch und Sein empfangen. Das wahre gründende Einander wese ursprünglich in der Transzendenz und ihrer, menschlich gesehen, radikalen Vereinzelung, die keine lebenspraktisch-faktische, sondern eine metaphysische Isolierung sein soll. 239 Im Sinne der inversen Hermeneutik bedeutet das: eigenheitliches menschliches Einander, wie es gelebt und inszeniert wird, läßt »Einander« nur als Metapher verstehen. Weil allein das Sein Halt gibt 240 und nicht der Andere (schon gar nicht der Tod) 241 , kann der andere Mensch überhaupt nicht konstitutiv für »wesentliches« Einander sein. Der Gedanke des ursprünglichen Einander ist so (wie der des ursprünglichen VerEbd., S. 172. Über den Humanismus, S. 45: »Den Halt für alles Verhalten verschenkt die Wahrheit des Seins.« Siehe dagegen Rainer Marten, Der menschliche Tod, S. 75 ff. 241 Inwiefern Heideggers Todesdenken in Sein und Zeit es nicht dazu bringt, im eigenen Tod und dem der Anderen den »anderen Anderen« zu sehen, der mit die lebensbefähigende Endlichkeit konstituiert, ist die Quintessenz der Kontroverse mit Heidegger in Rainer Marten, ebd., S. 35–51. 239 240

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hältnisses) ein unangreifbarer. Der Mensch, der mutterseelenallein dem Sein entspricht und dementsprechend monologisiert, versteht sich als »das Selbe im Einigenden des Zueinandergehörenden«. 242 Wesenhafte Einsamkeit wird zum Indiz für Einander! Das Zusammengehören, Zueinandergehören, einander Angehen und einander im Wesen Erreichen wird von Heidegger als reiner Identitätsgedanke durchgeführt. 243 Ganz entsprechend gehören für ihn Sage und Sein, Wort und Ding zueinander. 244 Gerade das Wort gehöre nicht dem Ohr des anderen Menschen, nicht der Geselligkeit und Mitteilung, sondern dem Anwesenden. In der Weise, wie das Sein Heidegger zufolge den Menschen braucht, ist vom Sagen einzig verlangt, daß es das sagt, was ist (west). Wem es das sagt, zu sagen hätte, ist für ihn kein Gedanke. Die Wahrheit des Seins verhallt in eben derselben (wie sie auch in sich scheint und verscheint). Tritt der Logos als λέγειν in ein Gegenüber, dann ist es einzig das Sein (die φύσις). 245 Auch hierbei folgt Heidegger dem Denkschema: erst die Seinssage begründet wahres Menschsein. Was aber dann menschlich zu sagen ist, geschieht für immer ohne »Mundwerk«. 246 Es werden nicht etwa Wettergespräche möglich. Die Rede bleibt vielmehr ernst und streng an der Sage des Seins orientiert. Daß ein Einander nur im reinen Wesen statthaben könne, verdeutlicht Heidegger auch am »Unter-Schied« von Ding und Welt (sc. von wesendem Ding und wesender Welt): Denn Welt und Dinge bestehen nicht nebeneinander. Sie durchgehen einander. 247 Der Unter-Schied hält von sich her die Mitte auseinander,

242 243 244 245 246 247

Martin Heidegger, Der Weg zur Sprache, S. 265 f. Identität und Differenz, S. 21; 22; 25; 30. Das Wort, S. 237. Einführung in die Metaphysik, S. 133. Ebd. Die Sprache, S. 24.

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Der Versuch umzudenken (Heidegger)

auf die zu und durch die hindurch Welt und Dinge zueinander einig sind. 248

Das so gedachte Einander ist von derselben hohen spekulativen Qualität wie das Es-gibt-Sein: Welt und Dinge, Mensch und Sein als reines Einander. Keine sinnlichen Bilder wie das Einander von Schleier und seinem Wehen, von Herbst und seinen reifen Früchten können das geistig Entworfene des vollkommen innigen und doch geschiedenen Einander zureichend veranschaulichen. Das Zueinander von Mensch und Sein, wie Heidegger es ausdeutet, scheint auf den ersten Blick eitel Wonne zu sein. Schon das »anfängliche Denken«, das diesem Einander erst vordenkt, sei »Widerhall der Gunst des Seins«. 249 Die »Huld des Seins« sei zu würdigen als welche das Sein sich dem Wesen des Menschen im Denken übereignet hat. 250

Den »Japaner« regt im Gespräch mit dem »Fragenden« Heideggers Seinsdenken dazu an, im japanischen Wort Koto das Ereignis der lichtenden Botschaft der hervorbringenden Huld 251

zu verstehen, auch: Blütenblätter, die aus der lichtenden Botschaft der hervorbringenden Huld gedeihen. 252

In diesem Falle hat ein Sophokleswort aus dem Aias, auf das Heidegger gerne zu sprechen kommt, dazu angeregt: χάρις χάριν γάρ ἐστιν ἡ τίκτουσ’ ἀεί. 253

248 249 250 251 252 253

Ebd., S. 25. Nachwort zu Was ist Metaphysik?, S. 44. Ebd., S. 44; vgl. S. 45. Aus einem Gespräch von der Sprache, S. 144. Ebd., S. 153. Sophokles, Aias v. 522.

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(Liebesgunst nämlich ist es, die stets Liebesgunst erzeugt.) Für Heidegger, der χάρις mit Huld übersetzt, wird dies Wort zur Dichtung des Ereignisses des Einander von Mensch und Sein: Die χάρις heißt dort τίκτουσα – die her-vor-bringende. Unser deutsches Wort dichten, tihton, sagt das Selbe. So kündigt sich im Spruch des Sophokles für uns an, daß die Huld selbst dichterisch, das eigentlich Dichtende ist, das Quellen der Botschaft des Entbergens der Zwiefalt. 254

Sophokles hat allerdings menschliche Lebens- und Liebespraxis im Sinn. 255 Das belegen auch zwei andere Verszeilen aus dem Aias, die Heidegger nie miterwähnt. 256 Aus ihnen geht klar hervor, daß Mühseligkeiten und Widerwärtigkeiten im Leben nicht schlechter »dichten« als Liebesgunst: auch sie zeugen einander fort. Doch in dem reinen Einander geht es anders zu: die Huld ist bei sich selbst: in fortwährender Selbsterzeugung. Einmal in seinem Wesen, ist der Mensch (das Menschenwesen) in einem Paradies ganz eigener Art. Das Menschenwesen ist beim Sein wie bei seiner Mutter: Es nimmt sich des Denkens an (…). (…) Das Denken ist – dies sagt: das Sein hat sich je geschicklich seines Wesens angenommen. 257

Philosophie vermag dann allein die Gegenliebe zur – mütterlichen – Liebe des Seins zu sein, die sie für den denkenden Menschen hegt.

Aus einem Gespräch von der Sprache, S. 143. Zum Verhältnis von χάριν αἰτεῖν, χάριν διδόναι (χαρίζεσθαι) und χάριν δέχεσθαι siehe Rainer Marten, Der Logos der Dialektik, S. 24–29. 256 Vers 866: πόνος πόνῳ πόνον φέρει, Vers 1197: ὦ πόνοι πρόγονοι πόνων. 257 Über den Humanismus, S. 7. 254 255

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Der Versuch umzudenken (Heidegger)

Sich einer »Sache« (…) in ihrem Wesen annehmen, das heißt: sie lieben: sie mögen. Dieses Mögen bedeutet, ursprünglicher gedacht: das Wesen schenken. 258

Ein erstaunliches Wort: »das Wesen schenken«. Das ist die reine Analogie zur Mutter, die das Leben schenkt. Ist der existierende Mensch als »geworfener« bei Heidegger schon um Vater und Mutter gekommen, dann hat doch wenigstens sein geglücktes Wesen Mutter und Amme. Einmal »da«, ist ihm schon Halt geschenkt in der Wahrheit des Seins. Doch das Sein kann auch anders: Sein erst gewährt dem Heilen Aufgang in Huld und Andrang zu Unheil dem Grimm. 259

Ohne Sein gibt es auch kein Unheil. Das Heile ist eine eigene Gunst des Seins: Gunst der Kehre der Vergessenheit des Seins in die Wahrheit des Seins. 260

Das – mütterliche – »Zugeneigtsein« des Seins 261 ist nicht für alle Geschichtszeit garantiert. Es gibt »Zuwendung und Abwendung des Seins« 262 , vergleichbar dem, was beim Kind die ersten Erinnerungsspuren einschreibt: die abwesende Mutter, noch lange vor ihren »erzieherischen« Liebesentzügen. Das reine Einander in Huld ist ein Letztes. Das Sein, insofern es geschicklich ist, fordert nach Heidegger von Menschen anderes, als sich geistig auf mütterliche Geborgenheit einzustellen und einzulassen: es verlangt Opferbereitschaft und Opfer. Über sein eigenes Denken schreibt er: Ebd. Ebd., S. 44. 260 Die Technik und die Kehre, S. 42. 261 Identität und Differenz, S. 28. Für den Dichter ist an eine »Umfängnis (vs. ›Empfängnis‹) durch das Heilige« gedacht (Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, S. 67). 262 Zur Seinsfrage, S. 235. 258 259

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Dieses Denken antwortet dem Anspruch des Seins, indem der Mensch sein geschichtliches Wesen dem Einfachen der (…) Notwendigkeit überantwortet (…). Die Not ist, daß die Wahrheit des Seins gewahrt wird, was immer auch dem Menschen und allem Seienden zufallen möge. Das Opfer ist die allem Zwang enthobene (…) Verschwendung des Menschenwesens in die Wahrung der Wahrheit des Seins für das Seiende. Im Opfer ereignet sich der verborgene Dank, der einzig die Huld würdigt. 263

Das ist ein erschreckend fundamentalistischer Satz. Er spiegelt keinen vereinzelten Gedanken, sondern ist ein klarer Zug im Umriß des Ganzen dieses Seinsdenkens. Das Einander von Mensch und Sein wird nicht nur für das ursprüngliche, sondern auch für das allein verpflichtende ausgegeben. Die Wahrheit des Seins für das Seiende zu wahren, zum Beispiel das Krugwesen im Götterdienst, »was immer auch dem Menschen und allem Seienden zufallen möge« – das ist seinem Anspruch nach nicht alttestamentarische Allesbereitschaft eines Abraham, sondern ideologische Härte in der Nähe eines wesenhaften Pol Pot. Das Menschenwesen hat Seinspflichten, aber keine alltäglichen Pflichten gegenüber Menschen, wie sie sind. Die seinsgeschichtlich versprochene Mütterlichkeit des Seins kann diesen Rigorismus nicht tröstlicher machen. Freilich gewinnt das spekulative Denken als solches dazu, wenn Heidegger das Mütterliche des Seins im Verhältnis von Welt und Dingen sein genaues Nachspiel haben läßt. Austragen, Gebärden, Stillen und Innigkeit sind die Wörter, die den besonderen Charakter dieses Verhältnisses symbolisieren. Der Unter-Schied trägt Welt in ihr Welten, trägt die Dinge in ihr Dingen aus. 264 Der Unter-Schied für Welt und Ding ereignet Dinge in das Gebärden von Welt, ereignet Welt in das Gönnen von Dingen. 265

263 264 265

Nachwort zu Was ist Metaphysik?, S. 44. Vgl. oben S. 181 Anm. 232. Die Sprache, S. 25. Ebd.

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Die dritte Strophe [des Traklgedichts] heißt die Mitte für Welt und Ding kommen: den Austrag der Innigkeit. 266 Der Unter-Schied stillt das Ding als Ding in die Welt. Solches Stillen ereignet sich jedoch nur in der Weise, daß zugleich das Geviert der Welt die Gebärde des Dinges erfüllt, insofern das Stillen dem Ding Genüge gönnt, Welt zu verweilen. 267

Doch auch diese Innigkeit, verwandt der Innigkeit der Schwangeren und der Stillenden, verfestigt nur den systematischen Ausschluß des lebensbefähigenden Einanders als Möglichkeit, sich eigenheitlich als der Mensch zu geben, der leibt, lebt und stirbt. Damit ist auch der Gedanke ausgeschlossen, die lebensbefähigende Endlichkeit des Menschen aus dem Verhältnis zum Anderen und zum Tod, zu ihrem Haltgeben und Einhaltgebieten, zu bestimmen. 268 Nicht das menschliche Liebesverhältnis, wie es menschenweit glückt und nicht glückt, wird für das »Verhältnis aller Verhältnisse« angesehen, sondern »das Ereignis« 269 : Erst wenn das Menschenwesen im Ereignis des Einblickes als das von diesem Erblickte dem menschlichen Eigensinn entsagt und sich dem Einblick zu, von sich weg, ent-wirft, entspricht der Mensch in seinem Wesen dem Anspruch des Einblickes. 270

Es bleibt dabei: der Mensch hat von sich abzugehen, abzusehen, über sich hinauszugehen. Er hat dem Anspruch des Seins zu genügen. Er hat seinsgerecht zu sein. Nur dann entspricht er daseinswürdigem Sein. Besser sei es, so denkt es sich dieses Denken, allen Menschen seit Menschengedenken und zeitgenössisch menschenweit auf den Kopf zuzusagen, sie wären Menschen lediglich als solche, aber keine Menschenwesen, wären es nicht

266 267 268 269 270

Ebd., S. 26. Ebd., S. 29. Siehe Rainer Marten, Der menschliche Tod, S. 77. Der Weg zur Sprache, S. 267. Die Technik und die Kehre, S. 45.

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gewesen und wären es auch heute noch nicht, als nur einen Tag zu früh an jemanden den Titel des seins- und daseinswürdigen Menschen zu verschwenden.

3.7 Das Selbe denken Alle Philosophen, denkt Heidegger, denken »das Selbe« 271 , sagen im Grunde »das Selbe«. 272 Er muß das so denken, weil es für ihn überhaupt nur »das Selbe« zu denken gibt: das nämlich, worin Mensch und Sein als in ihrem Selben zusammengehören. 273 Damit sich die Denkenden darauf verstehen, daß und inwiefern sie das Selbe denken, haben sie sich, wie Heidegger es sieht, eigens auf das Selbe einzulassen, das sich als solches aus der »Zwiefalt« von Sein und Seiendem verstehe. 274 Heideggers Überzeugung, es gebe nichts als das Selbe zu denken, gründet auf der vermeinten Evidenz, daß Denken seiner ersten und letzten Bestimmung nach Denken des Seins sei. Untrüglich möchte er in ihm die einzigartige Entsprechung zur Offenbarkeit des Anwesenden als solchen sehen. Einzig so werde für all das gedankt, was dem Menschenwesen (dem andenkenden und nachdenkenden Menschen!) als Geschenk des Anwesens widerfahre. Damit ist das Urteil über die gesamte Tradition gefällt. Den Philosophen vor ihm sei – aus seinsgeschichtlichen Gründen und nicht auf Grund lebens- und zeitgeschichtlicher Umstände – entgangen, wie Denken, vom Anwesen gebraucht, dies eigens in seine Unverborgenheit zu bergen habe. Damit

Siehe unter anderem die Erinnerung dieser Ansicht im SPIEGEL-Gespräch. 272 Einführung in die Metaphysik, S. 74; vgl. Was heißt Denken?, S. 149. 273 Zur Seinsfrage, S. 236 f.; vgl. Identität und Differenz, S. 19 ff.; Wegmarken, »Vorbemerkung«: »Sie [Die Bestimmung der Sache des Denkens] verlangt den Aufenthalt in der stets gesuchten Selbigkeit des Selben.« 274 Unter anderem Logos, S. 211–228; Was heißt Denken?, S. 134–149. 271

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hätten sie sich auch schon notwendig daran versehen, daß Denken eigentlich ein Danken ist. 275 Die Idee, daß alles Denken das Selbe denkt, regt zu der Überlegung an, ob dann nicht auch alles Malen das Selbe (dasselbe) malt. Vielleicht wäre der Vergleich so durchzuführen: alle Stillleben-, Porträt- und Landschaftsmaler, alle Manieristen, Symbolisten, Impressionisten, Expressionisten, Kubisten, Surrealisten und Konstruktivisten malen »dasselbe«, weil und insofern sie nicht malen, um bestimmte Sichten, Perspektiven, Ausblickskonstellationen anderen Augen mitzuteilen, sondern um das Zusehende und Anblickhafte als solches in seine »Unverborgenheit« zu »bergen«. Sie würden es, wäre etwa im Vergleich zu sagen, »ins Gebild wahren«. Maler malten auf diese Weise das anblickhafte Anwesende im Licht und Schatten seines Anwesens. Alle wären beim Selben: wohin das Menschenwesen wesenhaft schauenden Auges gehört: beim und im Selben von Schauen und Angeschautsein. Man könnte daraufhin vielleicht darüber rätseln, ob Maler, den Denkern vergleichbar, das Anblickhafte wirklich »als solches und im Ganzen« malten. Für das Denken wieder wäre womöglich zu fragen, ob es vergleichbar mit »Licht« und »Schatten« umginge – mit dem Licht auf den Dingen und dem abgründigen Licht, in dem sie stehen, mit den Schatten, die das Licht Licht sein lassen. Doch die Unvergleichbarkeit überholt zum voraus alle Versuche dieser Art: das Denken des Selben läuft darauf hinaus, daß in einem ganz konkreten Sinne allein noch dasselbe gedacht und gesagt wird. Heideggers »Denken des Selben« vollendet sich in reinen Tautologien. Eine entsprechende Identitätsmalerei ist jedoch nicht vorstellbar. Selbst kühnste minimal art und concept art zeigt noch bei weitem mehr, als daß das Zeigen zeigt und das Malen malt. Denken, wie Heidegger es denkt, ist ein Ereignis: es vereigne das Menschenwesen der Wahrheit des Seins, indem diese sich 275

Was heißt Denken?, S. 98.

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dem Menschenwesen zueigne. 276 Das Denken des Seins ereigne sich aus dessen Unverborgenheit. Im zugeeignet-vereigneten Denken überlegt sich kein Menschenwesen, so wird man sich das denken müssen, was es zu denken hat und denken will und was nicht. Es ist ja einzig und allein das Selbe zu denken: Anwesen, das als Anwesen seine Stätte braucht. Heideggers Seinsdenken kennt zwei Differenzen, die zur Entscheidung herausfordern: Sein und Nichts, Sein und Seiendes. In seinem Antinihilismus entscheidet es sich für das Sein, in seiner dankenden Art für das Sein (selbst). Diese Ontologie hat insofern die traditionellen ontologischen Differenzen von Gut und Schlecht, Gerecht und Ungerecht, Schön und Häßlich (Unvernünftig), Möglich und Wirklich, Nötig und Zufällig, Wahr und Verfehlt, Zeitlich und Ewig, Endlich und Unendlich in den »Unter-Schied« selbst aufgehoben, aus dem es sich in seiner Entschiedenheit und Entschlossenheit versteht. Im Denken des Selben, wie es ein andenkendes Denken ist, gelangt alles Differenzierte ins Selbe, alles Vielfältige ins Eine, alles Bewegte zur Ruhe. Das reine Einander von Denken und Sein herrscht. Ob An-denken des näheren an Bauen, Wohnen und Dichten denkt, an Schonen, Bergen und Wahren, an Lassen, Hüten und Gestalten, ja an Nähe und Ferne, Dingen und Welten, Reißen und Scheiden, Fügen und Zuwenden – es handelt sich in der Tat stets um denselben Gedanken: um die Aufhebung der Subjekt-Objekt-Beziehung in das reine Einander: in die Selbigkeit von Mensch und Sein. Denken des Seins als An-denken ist in sich die reine Ontodizee: der Freispruch des Seins von allem Unheil, das »es gibt«. Es gibt nämlich das Sein (das Sein ist das Gebende und Sichgebende), das Sein aber gibt das Heile. »Gibt es« zu Zeiten anderes, dann ist das Seinsgeschichte als Abwendung und Entzug des Seins:

276

Identität und Differenz, S. 28.

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In Wahrheit aber ist jetzt das Wesen des Menschen dahin bestellt, dem Wesen der Technik an die Hand zu gehen. 277

Diese Wahrheit ist für Heidegger die des abgewendeten Seins – ein Versuch, für Zeiten des Wesenlosen und des Unheils den Gedanken des Wesens und des Heils festzuhalten. Das andenkende Denken spricht, wenn es sich artikuliert, wahr. Für Heidegger heißt »sprechen«: sich an die Etymologie halten. 278

Was aber das gemeinte etymologische Sprechen bei ihm zu sagen hat, sind ausschließlich Tautologien. Für das Menschenwesen, das andenkend dem Sein vereignet und vom Sein vermocht ist, gibt es nicht mehr und nicht weniger als »das Selbe« zu sagen: eben die wahre Bedeutung. Nur so wird die Sprache zu nichts gebraucht. Wer das Selbe denkt, kann und muß allem die wahre Bedeutung zusprechen, die es im Sinne des zu wahrenden Anwesens hat. Tautologie hat bei Heidegger zwei Formen. Die eine wird gewählt, um Hörer und Leser in das andenkende und dankende Seinsdenken einzuführen. Sie hat nur propädeutischen Charakter und kann als unwissenschaftliches Umschreiben der Wörterbücher mißverstanden werden. Die andere ist die der bereits Eingeweihten. In ihr zeigt sich die Vollendung des Seinsdenkens selbst: das Sein als das Sein und als nichts sonst zu denken; die Sprache als Sprache und als nichts sonst zu denken und zur Sprache kommen zu lassen. 279 Diese »tautonoetischen« Absichten tragen die Bereitschaft zur Tautologie in sich. Wer das Sein als Sein denkt, hat, wie Heidegger demonstriert, zu sagen: Sagen heißt: Vorliegenlassen, präziser noch: ist Vorliegenlassen. Es ist aber Vorliegenlassen, weil das die Wahrheit ist: der ἔτυμος λόγος. Alle Etymologien sind propädeutische Tautologien, inso277 278 279

Die Technik und die Kehre, S. 37. Wissenschaft und Besinnung, S. 48. Die Sprache, S. 12 f.; Der Weg zur Sprache, S. 242 f.

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Das Denken im Schatten seiner selbst

fern sie dem Gedanken des Seins als Sein dienen. Sie sagen allesamt nur, was – im Verhältnis des reinen Einander – in das Selbe zusammengehört: zum Beispiel Anwesen und Vorliegenlassen. Denken heißt und ist In-die-Acht-nehmen, Wollen heißt und ist Lassen – all das ist tautologische Einführung in Tautonoetik. Damit ist aber noch nicht gesagt, was die wahrste und ursprünglichste »Bedeutung« eigentlich zu sagen hat, diejenige nämlich, bei der das Denken ganz bei sich selbst ist – im Selben. Esoterisch vollendet hat bei Heidegger die etymologische Tautologie die Form: ὁ Λόγος λέγει 280 Es gibt: Es gibt 281 das Ereignis ereignet. 282

Doch es ist nicht die Form allein. Diese Tautologien sind keineswegs beliebige, sind keine möglichen Beispiele unter vielen. Geht es einem Denken ausschließlich um das invertierte und in reines Selbstverhalten aufgelöste Verhältnis von Mensch und Sein, dann gibt es überhaupt nur ein wahres Wort zu sagen: das Wort vom Sein, das da lautet: das Sein ist, in seiner verbesserten Form, die das Mißverständnis der Faktizität ausschließt: Es gibt: Es gibt. Diese ist zudem, in Ausdeutung des Gebens, an spekulativer Kraft einem möglichen »das Anwesen west an« bei weitem überlegen. Wenn dann auch noch im Ganzen des tour d’horizon des Seinsdenkens der Riß reißt, die Nähe näht, das Ding dingt und die Welt weitet, dann sind das nur darum »wahre« Tautologien, weil sie auf je eigene Weise dem Gedanken der Wesenszusammengehörigkeit von Mensch und Sein zugehören und so die Tautologie »Es gibt: Es gibt« »wiederholen«. Allerdings bildet sich bei Heidegger – wörtlich – folgendes Triumnominat heraus: Logos, S. 220. Heidegger bleibt bei »Es gibt Sein«. Siehe unter anderem Zeit und Sein, S. 5 ff. 282 Zeit und Sein, S. 24. 280 281

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Der Versuch umzudenken (Heidegger)

Das Sein ist (Es gibt Sein). Die Sprache spricht. Das Ereignis ereignet.

»Die Sprache spricht« herrscht unter den etymologischen Tautologien vor, weil die Sprache das »Haus des Seins« ist: spricht die Sprache, spricht das Sein; spricht das Sein, spricht die Sprache. Nicht so einfach zu erklären ist die etymologische Figur »das Ereignis ereignet«, die zum Ende hin Heideggers gesamten Denk- und Sprachweg zusammenfaßt. Im Grunde aber wiederholt sich nur das Problem, das Heidegger mit »ist« hat, wenn er die Kopula nicht als Kopula verstehen will. Happen, occur sind Kopulae, die mit der Bedeutungslosigkeit und Funktionstüchtigkeit der Kopula be glücklich konkurrieren. 283 Wer »sprechen« will, ohne Sprache zu gebrauchen, und zu diesem Zweck Funktionswörter zu etymologischen Tautologien defunktionalisiert, tut in Form und Gehalt dasselbe, wenn er sagt »das Sein ist« und »das Ereignis ereignet« (man könnte fortfahren: »das Statthaben hat statt«, »doing does«). »Das Ereignis« als happening und occurence, als événement, als avvenimento und evento? Nein! Heidegger besteht auf dem Wort Ereignis und dies in einer Weise, die Etymologen bereits Jahrzehnte zuvor zu unterbinden versucht haben: Von dem got. áugan (zeigen), mhd. ougen (ouge, Auge), stammt das reflexive ereugen, (…) eräugen und mit weiterer Bildung eräugnen, wie noch Lessing schrieb und einzelne allzu eifrige Historiker heute wieder herzustellen sich freilich vergebens bemühen, nachdem dafür mit Veränderung des ursprünglichen Begriffs ereignen festen Fuß gefaßt hat, bei welchem Wort der Gedanke an ›eigen‹ so berechtigt als möglich ist. 284

Heidegger möchte jedoch, Kindern gleich, beides haben: die wirksam gewordene Volksetymologie und das alte eräugen. Siehe John Lyons, Introduction to Theoretical Linguistics. Vgl. oben S. 50 f. 284 Karl Gustav Andresen, Über deutsche Volksetymologie, S. 378 f. 283

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Das Denken im Schatten seiner selbst

Es ist zuzugeben, daß damit andere Sprachen nicht konkurrieren können: die Idee von Eigenheit, Eigentum und zugleich die von Erblicken in das »Verstehen« einer Kopula einzubringen. Etymologie braucht bei Heidegger nicht nur »die« Sprache, sondern auch die einzelne, die sich geschichtlich und völkisch durch ihren »Geist« auszeichnet. 285 Die geistige Etymologie und Tautologie ist für ihn der Auftrag an die Sprache eines besonderes Volkes – »besonders« (διαφερόντως) durch die Kraft seines Geistes. Sind es für ihn die Griechen, die allein anfänglich das Wahre gesagt haben – ein Parmenides, ein Sophokles, ein Aristoteles, dann sind es danach genau nicht die Römer gewesen 286 , von Ägyptern, Juden, Phönikern und auch Persern ganz zu schweigen. Liest man Heidegger unbefangen, dann sind es bei ihm wirklich erst die Deutschen, nicht die Russen (zumal die ohne »hat« und »ist« sind) und nicht einmal die Franzosen, die nach den Griechen wieder mit Wahrheit zu Wort kommen – vor allen anderen Hölderlin und er selbst. Freilich, ein Papst ist ökumenisch gesonnen, sofern für ihn ökumenisch und katholisch zusammenfallen. So denkt auch Heidegger menschenweit: alle sind eingeladen, dem wahren deutschen Wort nachzudenken und nachzusprechen, um womöglich so ihr »entsprechend« Eigenes zu finden. Es ist Hölderlins Traum von Germanien nachgeträumt: Und wehrlos Rath giebst rings Den Königen und den Völkern.

Heidegger spricht vom Gespräch des Einen mit den Anderen, vom Gespräch der Völker, aber er denkt es nicht. In seinem Seinsdenken bleibt es unter den Menschen still. Die Sprache, die nichts als das Wahre und Selbe sagt, ist, wie Heidegger beSiehe schon Martin Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, S. 8: »Dieser Anfang ist der Aufbruch der griechischen Philosophie. Darin steht der abendländische Mensch aus einem Volkstum kraft seiner Sprache erstmals …« 286 Einführung in die Metaphysik, S. 10. 285

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Der Versuch umzudenken (Heidegger)

tont, Monolog 287 , unmöglich Dialog. Das aber besagt für ihn: sie allein ist es, die spricht, und sie spricht einsam. Beim Gespräch unter Menschen müßte Sprache dagegen gebraucht werden, hätte der Eine und Andere von sich aus etwas zu sagen. Etymologie als die wahre Sprache des Denkens ist die einsame Sprache, die wörtliche, die infinitivische, die parataktische, die invertierte, die tautologische, die deutsche, und ist so die Sprache des Seins. Mit ihr, glaubt Heidegger, lasse sich der Mensch im Denken den Geist zusprechen, der die Erde »schont«. Heidegger wörtlich: Was bleibt zu sagen? Nur dies: Das Ereignis ereignet. Damit sagen wir vom Selben her auf das Selbe zu das Selbe. 288

Es sieht fast danach aus, als wollte das letzte Wort auf dem Felde geistiger Wahrheit ein in sich kreisendes deutsches sein. Das Selbe denken – wie Heidegger das als einzige Möglichkeit und als Notwendigkeit des wesenhaften Denkens demonstriert, ruft es nach »denselben« Denkern. Zu diesen gehören dann aber doch nicht alle Philosophen, ja eigentlich so recht keiner. Die vor ihm waren bestenfalls »anfänglich« auf dem Weg zur sichselbstspiegelnden etymologischen Tautologie. Die Zeitgenossen sperren sich seiner Einsicht. Von Hölderlin, dem Dichter, abgesehen, weiß er das wahre Wort des Denkens, genau besehen, allein sich selbst zuzusprechen. Er ist in Wahrheit »der Selbe«, der »das Selbe«, denkt. Das Nachdenken und Nachreden der Epigonen, diese reale Frucht seines missionarischen Eifers, reicht nicht in seine Identität.

Der Weg zur Sprache, S. 265. Zeit und Sein, S. 24. ___ 287 288

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III. Das Denken im Lichte der Denkkunst

1. Der Entwurf einer Noetik Sehen, Hören, Sichbewegen, Sprechen und Denken sind die hervorragenden Vermögen, mit denen und in denen Menschen die Vielfalt ihres eigenheitlichen Einanders inszenieren, um gemeinschaftlich und gesellschaftlich ihr Leben als je eigenes zu gewinnen, zu führen, zu bewahren, zu entfalten und zu Ende zu bringen. Keines dieser Vermögen hat unter Menschen ausschließlich dienende und vermittelnde Funktion. Es gibt Gebrauchsweisen, die sie – in sinnlicher und geistiger Öffentlichkeit – sich selbst genügen und an ihnen selbst Erfüllung finden lassen. Da stellt sich ganz von selbst ein Sehen um zu sehen ein, wie es die Schaulust übt (zuschauen um zuzuschauen), und ein Reden um zu reden, wie es im Palaver geschieht (Kommunikation um der Kommunikation willen). Mit eigener Verantwortung nehmen sich dagegen die Künste je bestimmter menschlicher Vermögen an, um sie für sich selbst zu brauchen und fruchtbar zu machen. Zu denken ist an Bildkunst, Schauspiel, Musik, Tanz, Dichtung und eben Denkkunst. Das ist die Ausgangslage: es gibt nicht nur sinnliche Kunst (αἰσθητικὴ τέχνη), sondern auch gedankliche Kunst (νοητικὴ τέχνη). Hat menschliches Sehvermögen zur Entwicklung bildender Künste geführt, dann Denkvermögen zur Ausbildung von Denkkunst (Noetik). 1 Nun weiß man freilich von keinem Anders als das Wort Ästhetik, das seit dem 18. Jahrhundert die Wissenschaft der Wahrnehmung des sinnenfällig Schönen bezeichnet, ist Noetik nicht so fest an die Bedeutung von Denklehre und Denkwissenschaft gebunden, daß es nicht genauer für Denkkunst stehen könnte, wie sie hier zu entwerfen ist.

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Der Entwurf einer Noetik

Seinsphilosophen, der sich genau in diesem Sinne als Denkkünstler (Noetiker) verstanden hätte. Dennoch ist Denkkunst nicht erst zu erfinden. Sie ist vielmehr dadurch zu entwerfen, daß bestimmte Gedanken der ontologischen Tradition im einzelnen nachgezeichnet und als Resultate künstlerischen Tuns gedeutet werden. Denkkunst als historisches Faktum nachzuweisen und ihren Entwurf als hermeneutische Aufgabe zu begreifen, stellt den Versuch dar, der Philosophie die Verantwortung für das Eigene des Denkens zurückzugeben, die ihr unter dem Vorzeichen von Ideologie und Selbstreflexion zu nehmen war – die künstlerische Verantwortung, versteht sich, keine wissenschaftliche.

1.1 Bloß gedacht Noetik wird von Philosophen ausgeübt, ohne daß sie es wissen und beabsichtigen. Um ihre Praxis als künstlerische deuten zu können, müssen zunächst einmal in Frage kommende seinsphilosophische Gedanken vom Vorwurf der Realitäts-, Lebens- und Menschenferne, der schlechten Utopie, ideologischen Selbstverklärung und reflexiven Selbstverlorenheit, den sie sich auf Grund ihrer Selbsteinschätzung selber zuziehen, freigesprochen werden. Dann erst besteht die Möglichkeit, ihnen als Gedanken überhaupt einen neuen Sinn zu geben. Der erste, noch negativ gekennzeichnete Schritt in diese Richtung führt zu der Einsicht, daß die fraglichen Gedanken bloß gedachte sind. Bei Gemälden scheint die Sache klar zu sein: ein gemalter Mensch ist bloß gemalt. 2 Selbst wenn ein Porträt im allgemeinen, besonderen und einzelnen mehr Lebendigkeit und Menschenart zu erkennen geben sollte als das lebendige Vorbild, ist der Mensch, den es zeigt, doch ein bloß gemalter

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Siehe Aristoteles, Kategorien 1 la 2 – 4.

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Das Denken im Lichte der Denkkunst

und kein »zweiter« (lebendiger) Mensch. 3 Aber auf diese Weise ist das »bloß gemalt« nur äußerlich genommen, entdeckt es noch keine eigene Qualität. In dem Sinne sind alle Gedanken für bloß gedachte anzusehen. Für den Entwurf einer – faktisch längst praktizierten – Noetik kommt es dagegen darauf an, nur ganz bestimmten Gedanken der philosophischen Tradition ihr bloßes Gedachtsein als auszeichnende Qualität zuzuerkennen. Bloß gedacht im neu zu klärenden Sinne sind zum Beispiel die traditionellen Wesensgedanken vom Menschen und von der Sprache. Selbst wenn Platons Kunsttheorie, die rigoros am Begriff der Mimesis festgemacht ist, das Kunstverständnis noch bestimmen sollte, wird bereits deutlich, was mit einem auszeichnenden »bloß gedacht« gesagt sein soll: die beachtliche, wenn auch nie absolute Unabhängigkeit dieser Gedanken von dem, was ihnen sachlich und das heißt »real« zu denken vorgegeben ist. In dem Augenblick, da sie als »Wesen« gedacht werden, sind für den Denkenden weder die erfahrbare lebenspraktische Wirklichkeit von Mensch und Sprache noch darauf fußende theoretische Bestimmungen das allein oder auch nur erstlich Maßgebliche für das Gelingen der Gedanken. Das gedachte »Wesen« des Menschen (»Menschenwesen«, »wesenhafter Mensch«) kann in keinem wissenschaftlich akzeptablen und alltäglicher Erfahrung zugänglichen Sinne als Inbegriff des Menschen, wie er je gegenwärtig leibt, lebt und stirbt, oder als Entwurf, wie er in einer geschichtlichen Zukunft leben wird, verstanden werden. Entsprechendes gilt vom »Wesen« der Sprache. Die Qualität des bloß Gedachten liegt darin, weder direkt noch indirekt lebenspraktische Realität zu vermitteln. Spricht aus den Wesensgedanken Erfahrung, dann keine, die dem Umgang mit Menschen und Sprachen entstammt, sondern allein die, die das Denken im Denken dieser sachlichen Gedanken mit dem Zudenkenden als solchem und mit sich selbst gemacht hat. Zum Problem eines völlig genauen Wortes, das nur als »zweites Wesen« vorstellbar wäre, siehe Platon, Kratylos 432d.

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Der Entwurf einer Noetik

Im Wesensdenken ereignet sich kein dem lebenspraktischen Verhalten vergleichbarer praktischer Vollzug und kein dem wissenschaftlichen Erkennen entsprechender theoretischer »Reflex« der Wirklichkeit. Zwar fände kein Denken dieser Art zu seiner sachlichen Bestimmtheit, wenn es ohne jede Beziehung zu einer nicht- bzw. vorgedanklichen Realität wäre. Doch seine grundlegende Einstellung ist es, sich ihr allein mit größtmöglicher geistiger Freiheit und Selbstverantwortung zuzuwenden. Wesensdenken läßt sich nie als Nachbilden von besonderem Sein fixieren, insofern es sich weit mehr noch mit aller Macht als Vorbilden von besonderem Sein versucht. Wesensgedanken sind präformativ, Wesensbestimmungen präskriptiv. Wer darum geistig geformte Wesensbilder des Menschen und der Sprache, wie sie die Tradition präsentiert, vor irrigen Realitätsvermutungen schützen und sich angesichts ihrer nicht länger bei der Kritik von Ideologie und Idealismus aufhalten möchte, wird sich dazu bekennen müssen, daß das, was da in diesen Bildern bloß gedacht ist, in neuer und angemessenerer Sicht sogar gedacht ist. Das Gedachte erhält als solches eine neue Bedeutung: seine eigene. Nicht jeder philosophische Gedanke vom Menschen und von der Sprache ist in dem ausgezeichnet noetischen Sinne ein bloß gedachter. Die Klärung des Verhältnisses von ζῷον λόγον ἔχον und ζῷον πολιτικόν bei Aristoteles 4 etwa zeigt den Versuch, das Wesen des Menschen durch wissenschaftlich-theoretische Erfassung lebenspraktischer Realität zu bestimmen. Für die Denkkunst kommt es dagegen darauf an, im Gedanken je eines Wesens soviel wie nur möglich an Freiheit und Selbstverantwortung des Geistes ins Spiel zu bringen und sich nicht von vorgegebener Realität das in ihr zu denkende Wesen vorschreiben zu lassen. Wie das künstlerisch bloß Gedachte, so ist auch das künstlerisch bloß Gesehene und Gemalte von eigener Qualität. Ist 4

Politik I 1 1253a2–a 16.

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ein Mensch gemalt, dann hat das Bildnis den Rang des bloß Gemalten, wenn es zwar mehr oder weniger deutlich einen Menschen und eben diesen bestimmten zeigt, dies aber nicht, um zu zeigen, wie er diesseits aller Seh- und Malkunst »wirklich« aussieht. Wie der Noetiker voller Selbstbewußtsein dazu steht, »bloß« zu denken, so der Maler dazu, »bloß« zu malen. Die künstlerische Intention des Malers ist es, in von ihm zu verantwortender Sinnlichkeit und Geistigkeit diesen Menschen wirklich bloß zu malen, das heißt bildend zu sehen und als Bild zu sehen zu geben. Es geht ihm mit seinem Bildwerk um dessen Öffentlichkeit, in der bildendes Sehen und Sehen von Bildern das »eigentliche Handeln« ist, so daß auch hier das »bloß« in das »sogar« umschlägt: ein bestimmter Mensch ist sogar gemalt, im Bild zu sehen gegeben und von Betrachtern gesehen. Das Gemalte weist nur insofern über sich hinaus und lenkt den Blick nicht ausschließlich und für immer auf sich selbst, als der Mensch, der gemalt ist, in seiner Eigenheitlichkeit neu zu sehen ist, neu in seinem menschlich Individuellen, Besonderen und Allgemeinen. Das Vermögen des Sehens wird damit genau nicht aufgefordert, sich als bloß dienend zu nehmen. Malerei als Bildund Sehkunst läßt vielmehr das Sehen in sich selbst sein Genügen finden: in der sinnlich-geistigen, gegebenenfalls auch geistlichen Auseinandersetzung mit dem Zusehenden und der in ihm entdeckten neuen Menschensicht. Wie Malen im gestaltenden Sehen notwendig eigenverantwortlich ist in Bezug auf das Zusehende und sich doch im wahrnehmenden Sehen mehr oder weniger genau an es zu halten hat, so verhält es sich auch mit dem künstlerischen Denken und seinem Bezug zum Zudenkenden. Dies Denken hat keine Seinsbestimmung, die es zu einem Organon von vorgegebenem Sein werden ließe. Ist ein Gedanke auch jeweils notwendig der einer besonderen Sache und eines besonderen Seins, so nimmt doch das gestaltende Denken dabei stets an dem Zudenkenden als solchem Interesse und damit am – »bloßen« – Denken selbst. Die

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Der Entwurf einer Noetik

Sache ist bloß gedacht, das heißt: sie ist sogar gedacht. Wittgenstein hat genau nicht Noetik im Sinn, wenn er sagt: Wie kann man durch Denken die Wahrheit lernen? Wie man ein Gesicht besser sehen lernt, wenn man es zeichnet. 5

Da ist Wahrheit einfach wissenschaftlich und Zeichnen nicht künstlerisch verstanden.

1.2 Denken um zu denken Der Entwurf einer Noetik zielt auf philosophische Gedanken, die, wider das Selbstverständnis ihrer Autoren, für regelrechte Kunstwerke und Kunstereignisse anzusehen sind. So gesehen und gedeutet zeigen sie, wie in ihnen ein eigenes Kunstinteresse wahrgenommen und der öffentlichen Teilnahme zugeführt wird. Für die Beurteilung der Güte und Fruchtbarkeit von Gedanken ist damit jeder bislang geübten Praxis die Grundlage entzogen. Nicht mehr Wissenschaft und wissenschaftlicher Fortschritt sind Maßstab dafür, nicht landläufiges Bewußtsein und alltägliches Handeln. Die Prädikate tauglich und brauchbar geraten ins Schweben. Es fragt sich selbst, ob diese Gedanken in irgendeinem wahrheitstheoretisch vertretbaren Sinne noch wahr sein können und wollen. Das einzige Interesse, das sie repräsentieren, ist ja, gelungene Kunstwerke zu sein, ein Interesse, das im Prinzip den Künstler und seine Öffentlichkeit eint. Erstes Indiz für Gedanken, wirklich der Denkkunst zuzugehören, ist in dem Faktum zu sehen, daß sie gedacht werden um gedacht zu sein und zu denken zu geben. 6 Nicht die in ihnen manifeste neurophysiologische Faktizität ist dann freilich der gemeinte Selbstzweck, sondern das veröffentlichte Kunstpro-

Ludwig Wittgenstein, Zettel, Nr. 255. Aus darstellungsökonomischen Gründen wird der Entwurf einer Noetik so formuliert, als hätte sie sich immer schon als solche verstanden.

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Das Denken im Lichte der Denkkunst

dukt und sein öffentliches Schicksal. In Gedanken, die gedacht werden um gedacht zu sein und weitergedacht zu werden, nimmt der denkende und für Gedanken offene Geist sein eigenes Interesse wahr: das Interesse an Zudenkendem als solchem, das zugleich ein Interesse an sich selbst ist. Erst einmal zu ihrem wahren Selbstverständnis gebracht, versteht sich Denkkunst gleich jeder selbstbewußten Kunst als l’art pour l’art. Die Zumutung, die in dieser Behauptung für jedes »aufgeklärte« Kunstverständnis liegt, zwingt zu ihrer Erläuterung. Künstlerisches Tun, das sich selbst als solches will, muß, um praktisch »wahr« zu sein und »Wahres« hervorzubringen, sich verantwortlich verhalten. Um genauer auf die (Selbst-)Verantwortung des Künstlers und der Kunst zu sprechen zu kommen, ist es angezeigt, von Gewissen zu reden. Verantwortliches künstlerisches Tun folgt als solches seinem Gewissen. Dies ist in der Erfahrung des Künstlers ein einiges und ganzes, hat aber, wird es theoretisch angemessen erfaßt, zwei Aspekte. Wie nämlich einerseits künstlerisches Tun als etwas rein Handwerkliches zu sehen und zu beurteilen ist, so gibt es sich andererseits doch stets als etwas ausgezeichnet Gemeinschaftliches und Gesellschaftliches zu erkennen. Entsprechenderweise weiß sich jedes künstlerische Tun als in einem Werkprozeß (Aufführungsprozeß usw.) befindlich, zugleich aber auch als Menschliches betreffend und auf Menschen zugehend. Sein Selbstzweck ist ihm einerseits die Hervorbringung des Werkes, andererseits das Werk in der Öffentlichkeit der Kunst. Das zweifache und doch einige Gewissen je einer Kunst läßt sich gut mit Rücksicht auf das Element, in dem sie ihre Tätigkeit entfaltet, zur Darstellung bringen. Wird das Gewissen der Malerei etwa das Gewissen des Sehens genannt – des einerseits handwerklichen und andererseits gemeinschaftlichen Sehens, so kann es auch gut als Gewissen des Lichts gedeutet werden: des Lichts überhaupt und des Lichts der Zeit und der Stunde. Soweit es im Augenblick um das Licht überhaupt geht (um Licht und Schatten überhaupt, Farbe und Form überhaupt), sind das 206 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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Sujet und die besondere Sehweise gleichgültig, auch wenn Zeit und Stunde dazu führen und geführt haben, eigens ein Sujet zu wählen, das heißt Bestimmtes, das nicht nur Licht überhaupt spiegelt, das nicht nur überhaupt zu sehen ist, sondern das dieses Licht spiegelt: diese entschiedene Sicht, dieses bestimmte Zusehende. In Analogie zum Licht der Malerei ist beim Denken vom Geist zu reden. Das Gewissen, dem das Denken in seinem künstlerischen Tun folgt, ist das Gewissen des Geistes: des Geistes überhaupt und des Geistes der Zeit und der Stunde. Auch hier ist das einige Gewissen differenziert als rein handwerkliches und, um es mit einem großen Wort zu benennen, als menschliches zu erkennen. In einer Hinsicht kommt es auf das Sujet als gerade dieses bestimmte nicht an, insofern jedes andere – theoretisch – auf gleiche Weise genügt, die Werkgerechtigkeit des Denkens zu demonstrieren. Zugleich aber ist ein vorgenommenes Sujet nie Sujet überhaupt, sondern auf entschiedene Weise dieses, welche Entschiedenheit allerdings nicht notwendig mit einer entsprechenden Bewußtheit einhergeht. Damit steht die Klärung des Gewissens der Kunst an ihrem eigentlichen Anfang. Nur wenn die Gleichgültigkeit des Sujets, wie sie einerseits gegeben ist, zureichend in ihrem Gewicht erkannt wird, kann auch der Nichtgleichgültigkeit des Sujets theoretische Gerechtigkeit widerfahren. Dann nämlich wird sich erstmals zeigen, wie weit Kunst als menschliches Vermögen reicht, so sie mit dem handwerklichen Gewissen je zu einer Zeit und Stunde zugleich dem »menschlichen« Gewissen gerecht wird. Kunst scheint nicht sich selbst zu gehören, und das gerade dann nicht, wenn sie ihrem – einigen – Gewissen folgt. Das aber bedeutete, wenn es sich als wahr erwiese, daß sie doch kein Gewissen hat, das voll und ganz das ihre wäre. Im Ganzen menschlicher Lebenspraxis zeigt sich Kunst allem Möglichen »geweiht« und »zu Diensten«. Wirken und Werke von Künstlern werden immer neu so verstanden – von ihnen selbst und von der Öffentlichkeit, als ergriffe Kunst »eigentlich« für den Gott Partei, 207 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Das Denken im Lichte der Denkkunst

für den Herrscher, für das Volk, die Gesellschaft, den Nächsten, für das Nationale und Freiheitliche, für Trauer und Hoffnung – vom eigenen Ruhm und eigenen Geld einmal abgesehen. Und mag der Eine Kunst allgemein so sehen, daß sie der Seelenbildung diene, dann hat sie der Andere schon darauf festgelegt, daß sie zum Abbau überschüssiger Produktionskräfte gut sei. Wenn der Kunst eine derartige Vielfalt menschlicher Entschiedenheit möglich ist, dann scheint ihr dies alles auch irgendwie »gleich« zu sein, solange sie nur als Kunst gelingt. Ist es dem gelungenen Kunstlied als solchem nicht etwa »gleich«, ob es ein besinnliches, fröhliches, trauerndes, anklagendes, aufklärendes oder revolutionäres ist? Um das zu durchschauen, hilft ein Vergleich mit der Vernunft. Altgewordene falsche Deutungen und Hoffnungen machen es erforderlich, eigens die Binsenwahrheit zu erinnern, daß Vernunft nicht an sich und aus sich moralisch ist. Die Vernunft eines Mafioso ist per se weder besser noch schlechter als die eines Psychoanalytikers, Bibelhermeneuten und Bildungspolitikers. So ist auch keine Kunst, die gesellschaftlich engagiert ist, künstlerischer oder kunstloser als etwa Kunst, die sich religiös versteht. Eher noch ist daran zu denken, daß in religiöser Perspektive jede Kunst religiös, in gesellschaftlicher jede gesellschaftlich, in erotischer jede erotisch ist. Vernunft und Kunst als menschliche Vermögen entdecken so eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit: sie können – verselbständigt – rein für sich gesehen und darum auch dem Anschein nach rein für sich gebraucht werden, sind aber in Wahrheit immer schon an etwas gebunden und für etwas entschieden. Dieses praktische Apriori legt den Gebrauch des Prädikats »ursprünglich« nahe. Jedes Vernunftvermögen und jeder Vernunftgebrauch ist ursprünglich gebunden an vitales und gemeinschaftliches, kulturell geprägtes, lebens- und gesellschaftsgeschichtlich situiertes Menschsein. Wie nötigend diese Bindung aber auch sein mag, es gibt sie nur, wenn sie als solche eigens übernommen ist (solange wenigstens mit »Leben« nicht das bloße Vegetieren, sondern die Lebenspraxis gemeint sein 208 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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kann). Vernunft dient, gebunden an Leben, nicht dem gedankenlosen und sich von selbst reproduzierenden Leben, sondern der Lebenspraxis, in der sich menschliches Leben und Handeln immer auch für sich selbst und für seine Bestimmtheit entscheidet. Jeder Vernunftgebrauch ist in diesem Sinne ursprünglich entschieden, was freilich niemals heißt, daß Vernunft ursprünglich vernünftig wäre. Dem Vernunftgebrauch vergleichbar, ist auch künstlerisches Tun ursprünglich gebunden und zugleich damit frei und selbstverantwortlich vorentschieden. Kein Künstler agiert im menschlichen Niemands- bzw. Jedermannsland. Das muß dem Einzelnen nicht jederzeit voll bewußt sein. Zuletzt genügt die Öffentlichkeit der Kunst, damit alles, was als Kunst geschieht und zur Kunst wird, nicht allein nach der Gewissenhaftigkeit des Handwerks, sondern auch nach der lebenspraktischen Entschiedenheit und der darin wirksamen menschlichen Gewissenhaftigkeit beurteilt wird. Hierin unterscheidet sich Kunst klar von Wissenschaft. Diese baut für sich eine brauchbare und begründete Vorstellung von Wertfreiheit auf, insofern ihrem Gewissen die Wissenschaftlichkeit alles ist. 7 Sie sieht sich durch Politiker und deren Gewissen entlastet, weil das, was sie hervorbringt, nämlich Wissen, als Hervorgebrachtes nicht schon das ist, was menschlich-praktisch zu beurteilen wäre (von neuerdings problematisierter »Menschlichkeit« gewisser Forschungen abgesehen). Anders als den Werken der Kunst fehlt den Produkten der Wissenschaft die menschliche Unmittelbarkeit. Wo Kunst sich als wertfrei zeigt, ist ihre Darstellung unvollständig. Freilich gibt es für Kunst als Handwerk immer wieder auch Gelegenheit, verselbständigt zu erscheinen. Wenn Hans Leo Haßler zu Anfang des 17. Jahrhunderts eine Liedmelodie gelingt, die er – entschieden – für ein Tanzlied nutzt (»Feinslieb, du hast mich g’fangen«), dann läßt sich »dieselbe« Melodie spä7

Rainer Marten, Der menschliche Mensch, S. 167; siehe auch oben S. 24 f.

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ter doch auch anders gebrauchen, nämlich von Johann Sebastian Bach als Kirchenlied (»O Haupt voll Blut und Wunden«). Bei dieser Kontrafaktur (ein weltliches Lied geistlich zu nutzen) bleibt sich die Melodie gleich, nämlich als Tonfolge, doch Tempo und (Tanz-)Rhythmus werden geändert. Der Anschein eines wertfreien Kunstprodukts schwindet aber sogleich, wenn man nicht darauf besteht, ein und dieselbe Melodie tauge ebensogut zum profanen wie zum sakralen Gebrauch, sondern wenn man Vertextung der Liedmelodie und Aufführung des Liedes mit zum Dasein des Kunstwerkes rechnet. Da nämlich zeigt sich (beim Tempo), daß der Affekt wichtiger als die Töne ist. So erst ist es lebenspraktisch und menschlich entschieden, ist es voll ein Kunstwerk. Werkgerechtigkeit garantiert für sich allein unmöglich gelungene Kunst. Ein Kunstlied, das in Tempo und Affekt nicht entschieden ist, bleibt ohne Öffentlichkeit der Kunst und insofern als Kunst ohne Existenz. Entsprechendes läßt sich auch zu anderen Künsten ausführen. Trägt ein Ernst Wilhelm Nay nurmehr kreisförmig Farbe auf Leinwand auf, nicht um bestimmte Kreisformen abzubilden, sondern um der Farbe selbst zur Gestaltung zu verhelfen, dann arbeitet er nicht an einer »Grundlagenkunst«, die sich reinen Farb- und Formverhältnissen widmete. Seine Werkbesessenheit verabsolutiert sich nicht in der Weise (jedenfalls nicht für die Kunstöffentlichkeit), daß er in der lichten Welt des Zusehenden und der zu teilenden Sichten nurmehr wertfrei agierte. In diesem farblichen Gestalten im Nachkriegsdeutschland von Beginn der 50er Jahre an ist – mehr oder weniger bewußt und programmatisch – mit vorentschieden, die Verbindlichkeit der natürlichen und dinglichen Bedeutungswelt in bestimmter Hinsicht in Frage zu stellen (ohne darum notwendig den von Marx inspirierten Thesen Theodor W. Adornos zu folgen, und in jedem »Abbild« einen bürgerlichen Fetisch zu sehen). Wie die Abbildlichkeit eines gelungenen Werkes der Seh- und Malkunst dasselbe nicht um seine Autonomie bringt, so hebt auch die Nichtabbildlichkeit eines Bildes nicht seine menschliche Ent210 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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schiedenheit auf. Wer, wie üblich geworden, von autonomer Kunst in Malerei nur bei Arbeiten spricht, die keinen »gegenständlichen« Bezug zu erkennen geben, schränkt den Begriff künstlerischer Autonomie auf unzulässige Weise ein. Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist auch die Freiheit, die sich bisweilen die rezipierende Öffentlichkeit zu nehmen versteht, um von sich aus die ursprüngliche Entscheidung eines Kunstwerks zu deuten. Wie es der religiös abstinente Künstler zu religiösen Kunstwerken bringen kann, so auch der sozialrevolutionäre Künstler zu bürgerlicher Gebrauchsware. Kleine Bankkunden und große Bankiers etwa, die mit Erheiterung der »Aufklärung« über das Bankgewerbe in Bert Brechts Dreigroschenoper folgen, bestimmen wohl nicht weniger, wozu dies Kunstwerk (das nach dem einigen Gewissen der Kunst ein solches ist) nun eigentlich gemäß der in ihm wirksamen lebenspraktischen Bindung und Entscheidung taugt, als diejenigen, denen der Geist der Oper zu ganz anderen Affekten verhilft. Manchmal freilich läßt einem Kunst keine Wahl. Hörten die jungen Spartiaten am rechten Ort zur rechten Zeit die Lieder ihres Dichters Tyrtaios, dann gingen sie alle, rhythmisch geeint, zum Angriff über. Die menschliche Gebundenheit und Vorentschiedenheit künstlerischen Tuns hebt den Gedanken von selbstbewußter Kunst als l’art pour l’art nicht auf, sondern verschärft ihn, eröffnet ihm allererst die ihm eigene Dimension. Was Kunst ursprünglich menschlich bestimmt, so daß sie je zu ihrer Zeit und Stunde entschieden ist, agiert nicht außerhalb der Kunst, sondern ist jeweils in Kunst als ein Moment ihres eigenen Gewissens integriert. Herrscht freilich das handwerkliche und werkgerechte Gewissen der Kunst vor (so es etwa in diesem Augenblick um den exakten Einsatz des Orchesters und um nichts anderes geht), dann tritt insofern, aber wirklich auch nur insofern, das menschliche Gewissen zurück. Handelt es sich aber um Kunstwerk und Kunstgeschehen im ganzen, um das sich voll verantwortende künstlerische Tun, dann wird, je nach Zeit, 211 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Das Denken im Lichte der Denkkunst

Stunde und Perspektive, das Religiöse, Gesellschaftliche, Gemeinschaftliche und Individuelle mit in die Kunst einbezogen. Der Künstler, der sich – vorentschiedenerweise – gezielt gesellschaftlich engagiert, handelt seinem besten Selbstverständnis nach aus künstlerischem Gewissen. Hierin liegt ein gewichtiger Unterschied zur Vernunft. Diese hat selbst kein Gewissen (es sei denn ein ihr künstlich angedichtetes). Kunst dagegen hat für sich ein Gewissen, das auch in seiner eigenheitlich-menschlichen Entschiedenheit eben ein Gewissen der Kunst ist. Dieses einige künstlerische Gewissen führt die künstlerische Tätigkeit nicht über sich selbst und die Kunst hinaus, um diese als Mittel für andere und höhere Zwecke begreifen zu lassen. Gelungene Kunst und gelingendes Kunstgeschehen bleibt Selbstzweck. In dieser Sicht erweitert sich freilich die für gewöhnlich viel zu beschränkt vermutete Dimension der Kunst. Eher noch nämlich ist daran zu denken, Kunst mit ihrem gewissenhaften Tun auf die Ganzheit der Öffentlichkeit der Kunst und der sie gestaltenden gemeinsamen menschlichen Lebenspraxis auszudehnen, um gerade im Selbstzweck gemeinschaftlich und gesellschaftlich gelingenden Lebens den Selbstzweck der Kunst zu sehen, als daß Kunst – theoretisch und praktisch – zu einem Mittel degradiert würde, dessen sich Herrscher, Priester, Umstürzler, Genießer und die lebenspraktisch vorentschiedenen Künstler selbst auf redliche oder unredliche Weise bedienten. Wie Haßlers Lied gerade auch als Tanzlied, so folgt Bachs Lied nicht weniger als geistliches genau dem Gewissen der Kunst. Geselligkeit und Geistlichkeit werden selbst auf je eigene Weise zu Kunst. Kunst dient, so gesehen, nicht irgendwelchen Lebensformen. Sie ist vielmehr selbst gesellig, ist selbst geistlich – zu je einer Zeit und Stunde. Die Bestimmung von Kunst als um der Kunst willen, die immer wieder zum Skandalon gerät, weil sie als Versuch, Kunst zur Nutzlosigkeit zu verurteilen und öffentlich in Mißkredit zu bringen, mißverstanden wird, sichert in Wahrheit der Kunst erst die Möglichkeit, auch wirklich Kunst zu sein: Kunst und nicht 212 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Der Entwurf einer Noetik

Wissenschaft, Kunst und nicht Politik, Kunst und nicht Alltäglichkeit, Kunst und nicht Religion. Kunst, die sich nicht klar gegen Wissenschaft abgrenzt, versieht sich an ihrer Bedingung, auf bedeutsame Weise frei und selbstverantwortlich gegenüber vorgegebener Realität zu agieren. Kunst wieder, die sich selbst bereits für Politik auf der Ebene der Politik hält, verkennt, daß politische und gesellschaftliche (Vor-)Entschiedenheit eines Künstlers voll und ganz seinem – einigen – künstlerischen Gewissen zugehört. Es kommt, je nachdem, auf das Sehen, das Hören und das Denken als das »eigentliche Handeln« an. Dabei bleibt es, und gerade darin steckt das Revolutionäre, das jeder Kunst eigen ist: sie gibt neu zu sehen, neu zu hören, neu zu denken. Sie ist es, die in das Element verändernd eingreift, in dem sich Menschen sinnlich-geistig aufhalten und begegnen. So ernst es auch einer Kunst wegen ihrer menschlichen Entschiedenheit mit ihrem Sujet sein mag, sie muß ihm doch stets ein Stück handwerklicher »Gleichgültigkeit« 8 entgegenbringen können, um nicht sentimental zu sein. Zugleich braucht sie ihren Teil Freiheit von vorgegebener Realität, um in dem mimetischen Anspruch, so gegeben, nicht verlogen zu sein. 9 Kunst schließlich, die nicht mehr eigens als Kunst zu erkennen ist – als im ausgezeichneten Sinne bloß gemalt, bloß gespielt, bloß gedacht –, verspielt als alltägliche Lebenspraxis ihre revolutionäre Kraft. So wird »für gewöhnlich« nicht gesehen, nicht gehört, nicht gedacht – genau das bewahrt Kunst mit als Kunst. Kunst engagiert sich menschlich als Kunst. 10 Soll politische und religiöse Kunst wirklich Kunst sein, muß die Betonung auf

Zur Betonung der künstlerischen Indifferenz gegenüber dem Sujet siehe Marcel Proust, À la recherche du temps perdu, S. 721 ff. 9 Das ist ganz im Sinne der platonischen Gleichsetzung von – nachahmender – Kunst und Sophistik zu verstehen. 10 Kritik an der Selbsteinschätzung und den künstlerischen Möglichkeiten der bewußt engagierten Kunst vom Standpunkt der Kunst übt auf höchst bemerkenswerte Weise Proust. Siehe Marcel Proust, ebd., S. 888 ff. 8

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Das Denken im Lichte der Denkkunst

Kunst liegen. Nur dann wird Kunst nicht Politik oder Religion dienen, sondern selbst politisch oder religiös sein. Es wird damit eine Öffentlichkeit von Kunst geben, die sich im Element der Kunst politisch, und eine andere, die sich im selben Element religiös verhält. Denkkunst, die um ihrer selbst willen als Kunst geübt wird – »handwerklich« und zugleich menschlich entschieden –, ist nicht privat, ist auch nicht in einem pejorativen Sinne esoterisch. Der denkende Geist, wie er denkt um zu denken, ist mit durch seine Öffentlichkeit konstituiert. Deren geistige Lebendigkeit, Ausstrahlung und Bedeutung variiert zwar von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Zeitgenossenschaft zu Zeitgenossenschaft. Wo aber und solange Noetik ausgeübt wird, gibt es jeweils auch Öffentlichkeit, die an Gedanken, wie sie gedacht werden um gedacht zu werden und zu denken zu geben, ihrerseits Anteil nimmt oder es auf signifikante Weise nicht tut. Nicht einmal die lebenspraktische Selbstversponnenheit eines Autors von Gedanken, der sich zu gut und zu fremd ist für seine Zeit, kann das schlechthin unterbinden. Gedanken der Noetik, in denen der denkende Geist als Sachwalter seiner selbst agiert, haben ein originäres Interesse, als gewissenhafte Kunstgedanken Anerkennung zu finden und zum Mitdenken herauszufordern. Nur so werden sie vollends ihrer Absicht gerecht, am Ende zu keinem anderen und besseren Zweck gedacht zu sein, als um gedacht zu sein. Die Selbstzwecksetzung der Noetik bedeutet keine Einengung ihrer Möglichkeiten und keine Beschränkung ihrer menschlichen Bedeutsamkeit, sondern gerade ihre Befreiung zu sich selbst: zu ihrer menschlichen Entschiedenheit und zugleich, ohne daß darin eine geringere Aufgabe gesehen werden dürfte, zu ihrer Werkgerechtigkeit. Im Gedachtsein um gedacht zu sein liegt darum auch der ganze Reichtum des Denkens beschlossen, wie es ihn eigenheitlich zu inszenieren und in der ihm eigenen Öffentlichkeit fruchtbar zu machen sucht. Das »bloß gedacht« macht aus dem Denken keine »eindimensionale« Angelegenheit. Ganz im Ge214 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Der Entwurf einer Noetik

genteil. Es erschließt alles, was von menschlichem Denken ausgehen und auf menschliches Denken eingehen kann. Wer denkt um zu denken, nimmt das Interesse des denkenden Geistes am Zudenkenden als solchem wahr und gibt mit seinen Gedanken öffentlich zu denken, allerdings wirklich »nur« zu denken. Seine Öffentlichkeit erwartet und verkraftet es auch gar nicht anders. Ist Neues zu denken gegeben, dann ist es per se erstaunlich, schwierig und revolutionär genug.

1.3 Denken um zu retten Noetik ist für den denkenden Geist selbst von außerordentlicher Bedeutung. In ihr und durch sie rettet er sich selbst. Dabei rettet er sich zu keinem anderen Zweck, als um sich selbst zu bewahren. Es geht um die eigene Dimension: um das ganze Ausmaß des bloß Zudenkenden, das gedacht wird um gedacht zu sein. Ist es der Wissenschaft, auch philosophischer Wissenschaft, um die »Rettung der Phänomene« (σῴζειν τὰ φαινόμενα) zu tun, nämlich um die Beendigung von Irritationen der Vernunft und den Nachweis, daß im Grunde doch alles in Ordnung ist 11 , dann kann der Noetik in einer gewissen Analogie die Rettung der Kunstgedanken als eigenstes Interesse nachgesagt werden. Das σῴζειν τὰ νοούμενα hat dabei die Kunstgedanken als solche im Sinn. Wer zu denken sucht um zu denken, darf sich die Gedanken nicht nehmen, verstellen und verdrehen lassen, die dem Denken als bloß zu denkende gehören. Sind zum Beispiel die

Fängt für Platon philosophisches Wissen- und Erklärenwollen mit dem Staunen als Irritation der Vernunft an (Theätet 155d), dann ist das genau auch die Vorstellung des Aristoteles: Philosophie setzt sich für die – wissenschaftliche – Entzauberung der Welt ein. Alles Staunen (θαυμάζειν = διαπορεῖν) muß getilgt werden, um die Ordnung aufscheinen zu lassen, die dem denkenden Geist genehm ist. Das Wunder zu fliehen heißt, Unwissen und Mythos zu fliehen (Aristoteles, Metaphysik I 2 982b11 ff.).

11

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Das Denken im Lichte der Denkkunst

Gedanken des Menschen und der Sprache Werke der Noetik, dann gilt es, sie im künstlerischen Interesse davor zu retten, für aufklärende und mit Wissenschaft konkurrierende Theoriestükke angesehen zu werden. Noetik repräsentiert freilich nicht nur, gleich aller Kunst, ein Wissen um Gestaltung, sondern ist als Denkkunst prinzipiell mit allem formalen Vermögen von Wissenschaft vertraut. Nicht ohne Grund arbeitet der Noetiker mit dem erklärten Selbstbewußtsein eines ausgezeichneten Wissenschaftlers. Doch er muß, will er sich selbst verstehen, umzudenken lernen: seine von Wissen getragene und in der Form wissenschaftliche Gedankenführung ist rein künstlerischer Natur. Sie dient nicht der Erkenntnis und dem Fortschritt der Erkenntnis, sondern der Entfaltung des eigenen Vermögens um dessen Entfaltung und Bewahrung willen. In jedem wissenschaftlichen Retten von Phänomenen rettet die erkennende Vernunft im Grunde sich selbst. Irritierte Vernunft kann gar nicht anders tätig werden, als sich – zumindest auch – um sich selbst als erhaltungswürdiges und -bedürftiges Vermögen zu bemühen. Wissenschaft geht dann freilich im Interesse des Forschens und Erklärens bei weitem über die reine Selbsterhaltung des Erkenntnisvermögens hinaus. Schenkt man jedoch diesem Grundzug von Selbsterhaltung in der Wissenschaft einmal eigene Aufmerksamkeit, dann zeigt sich Kunst nur von der allgemeinen Art der dem Menschen verfügbaren Vermögen, wenn sie die Ausübung ihres Vermögens dazu nutzt, es selbst zu retten. Was Kunst eigentlich als Kunst zu retten hat, ist damit freilich noch überhaupt nicht zureichend gesehen. Handelt Kunst, um sich als Kunst zu retten, dann hat sie bei weitem mehr als ihr handwerkliches Können und werkgerechtes Tun im Blick. Wer philosophisch in Beherrschung und Entwicklung von Logik sein Genügen findet (Genauigkeit um der Genauigkeit willen), verselbständigt die handwerkliche Komponente des Gewissens der Noetik und ist kein Denkkünstler, wie auch der Musiker kein Künstler ist, der sich entsprechend 216 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Der Entwurf einer Noetik

in seine »Etüden« verliert. Keine Kunst darf, soll sie sich selbst als Kunst bewahren, ein Moment ihres Gewissens verselbständigen und verabsolutieren. Wem umgekehrt nurmehr die menschliche und lebenspraktische Entschiedenheit etwas gilt, wird Kunst von sich selbst Abschied nehmen und im rein Plakativen und Appellativen enden lassen. Im Aktionismus haben Sehen um zu sehen und Denken um zu denken mit ihrer elementaren Gestilltheit keine Chance und Bedeutung mehr. Wem jedoch die Kunst »die Augen öffnet«, der wird wach für das ihr eigene Gewissen: für das Gewissen des Sehens, des Hörens, des Denkens und für die menschliche Entschiedenheit, die dem Sehen, Hören und Denken um seiner selbst willen seine besondere und einzelne Ausrichtung gibt. Wer also denkt, um das Denken zu retten, sucht nicht allein das Denken als werkgerechtes Tun zu retten. Um den Gedanken künstlerischen Sichrettens zu verstehen, muß auch das »andere« Gewissen gehört werden. Das aber sind die Programme, die – laut oder leise verkündet – die Denkanstrengungen der Philosophen beherrschen, wenn es für sie gilt, den geistigen Erfordernissen der Zeit und der Stunde in geistiger Selbstverantwortung gerecht zu werden. Heidegger wollte, verkürzt gesagt, zu seiner Zeit und Stunde das Abendland retten, genauer: den Geist des Abendlandes, es versteht sich: seinen wahren und wesentlichen Geist. Cusanus wollte zu seiner Zeit und Stunde die Wahrheit des christlichen Gottes und das heißt den wahren Geist der theologischen Reflexion des christlichen Glaubens retten. Platon, um ein letztes Beispiel zu geben, wollte zu seiner Zeit und Stunde den wahren Geist des menschlichen Wissens vor der sophistischen Aufklärung retten. So läßt den Noetiker seine menschliche Entschiedenheit in allem zu Rettenden allein den Geist sehen: den Geist, den es geistig zu retten gilt um des Geistes willen. Damit aber versucht sich der Noetiker auch schon daran, eine der öffentlich herrschenden Entschiedenheiten oder die herrschende gegenüber dem Geistigen zu verändern und im Sinne des eigenen Ge217 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Das Denken im Lichte der Denkkunst

wissens zu erneuern. Den gegebenen Beispielen nach handelt es sich damit um die öffentliche Entschiedenheit gegenüber dem Geist des abendländischen Menschen, dem Geist der deutschen Sprache, dem Geist des christlichen Glaubens, dem Geist des menschlichen Wissens. Bei jedem geistigen Rettungsversuch steht, wie der traditionelle Noetiker es sieht, der wahre gegen den falschen Geist, die engagierte gewissenhafte Entschiedenheit seiner selbst gegen die lasche gewissenlose Entschiedenheit der Öffentlichkeit des Geistes. Es ist kein Wunder, daß ein derart streitbarer Rettungseifer das Seine dazu beiträgt, den Noetiker um die Einsicht zu bringen, eigentlich nicht mehr und nicht weniger als ein Künstler zu sein. Er verkennt, wie es gerade immer wieder Kunst ist, was im Retten auch zerstörerisch wirkt, sofern Perspektiven und ganze Weltsichten um Legitimität und Wahrheit gebracht werden. Wie Rettungsabsichten mit Zielrichtung auf die Öffentlichkeit des Geistes bei einer Denkkunst nicht fehlen dürfen, so sind sie aber auch nicht überzubewerten, sondern im Einklang mit dem zu sehen, was in jedem Denken an Werkgerechtigkeit zu bewahren ist. Es handelt sich ja dabei nicht um heterogene Quellen, die auf völlig rätselhafte Weise im künstlerischen Gewissen zusammenfließen, sondern um – theoretisch auseinandergehaltene – Momente desselben. Das Werkgerechte verlangt bereits in sich ein öffentliches Engagement. Wer in tendenziell absoluter Verengung seines Metiergeistes nur werkgerecht sein möchte, wird dem Werk nicht gerecht. Wer rein artifiziell verfahren will, wird die Erfahrung machen, daß auch das seine – öffentliche – Stunde hat, was bedeutet, daß es als menschliche Entschiedenheit interpretiert wird. Umgekehrt fordert die menschliche Entschiedenheit aus sich den Künstler zu höchster Entfaltung seines handwerklichen Könnens auf. Bei den »ästhetischen« Künsten verhält es sich nicht anders. Malt Cézanne einen Apfel (sc. als kompositorischen Teil eines Stillebens), dann rettet er nicht in einem wissenschaftlichen oder kulturspezifischen Sinne die verbindliche Art, einen Apfel 218 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Der Entwurf einer Noetik

zu sehen, auch nicht die unverbindliche des alltäglichen Umgangs mit Äpfeln, sondern die freie und selbstverantwortliche Art, Äpfel (Sinnlichkeit von Früchten usw.) öffentlich neu zu sehen zu geben. Genau damit nimmt er das künstlerische Interesse der Selbstentfaltung und Selbstbewahrung des Sehens wahr, wie es – entschieden orientiert – ein sinnliches und geistiges, gestaltendes und entdeckendes, deutendes und veränderndes, praktisches und menschliches ist. Dieses Interesse ist offensichtlich etwas von Grund auf anderes als das von Optikern und Ophthalmologen, die sich um die Sehkraft des Auges bemühen, von Botanikern, die es auf den Unterschied von Äpfeln und Birnen absehen, von Kauflustigen, die nach wurmstichfreien Äpfeln suchen. Das Sehen um zu sehen – das ist die Öffentlichkeit der Kunst: der Kunst des Sehens und der zu sehenden Kunstwerke, der zu teilenden oder nicht zu teilenden Sichten, der zu teilenden oder nicht zu teilenden menschlichen Entschiedenheit des Blicks. Dieses Sehen, soweit es frei ist, hält sich an das Gewissen des Sehens, wie es beim Künstler angesichts des Lichts überhaupt und angesichts des Lichts der Zeit und der Stunde, das auf den Dingen liegt, wach wird. Sieht sich das, was er gewissenhaft gestaltet, nach »heiler Natur« an, dann leitet ihn doch keine kunstfremde Sentimentalität und Vernunft, sondern das Gewissen eben des gestaltenden Sehens. Sieht es sich anders an, bleibt die Leitung dieselbe. Die ursprüngliche Einheit des Gewissens ist dem Maler nicht anders als dem Noetiker gewiß. Geht es dem denkenden Geist darum, sich in der Kraft seines künstlerischen Gewissens und der Weite seines künstlerischen Interesses selbst zu bewahren, dann hat er nicht die Absicht, sich gelegentlich in Aufgaben zu retten, die sein Vermögen nicht voll beanspruchen. Wie sich Noetik im σῴζειν τὰ νοούμενα nicht mit Paradoxa auseinandersetzt, so verzichtet sie überhaupt auf die Lösung von Denksportaufgaben. Das wäre allenfalls Kunsthandwerk, nicht Kunst. So verliert sie sich zum Beispiel nicht in Denk-»aufgaben«, die sich im Zusammenhang mit dem Problem des Kontinuums (in der Sicht der zenonischen Paradoxien) 219 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Das Denken im Lichte der Denkkunst

stellen. 12 Was hier an Lösungen gelingt, rettet nichts von dem, was Noetik selbst ist, was sie bewegt und was sie zu verantworten hat.

1.4 Denken um zu intelligibilisieren Menschen tragen nicht nur Sorge, Vermögen, über die sie verfügen, zu bewahren, sondern auch zu steigern. Sind es Maler, die das Sehen, wie Menschen es vermögen und praktizieren, sensibilisieren, dann sind es Denkkünstler, die das Denken entsprechend intelligibilisieren. Beide Male zielt die Steigerung des Vermögens auf das uti et frui des Vermögens selbst, und dies in der ganzen Öffentlichkeit der Vermögenden, nicht aber auf seine Dienstbarkeit für anderes. Mit seinem wahrnehmenden, gestaltenden und menschlich entschiedenen Blick auf Äpfel sucht ein Maler wie Cézanne nicht nur den gewissenhaften Gebrauch seines Sehvermögens zu retten, sondern es zugleich vermögenderen Möglichkeiten zuzuführen. Es bleibt zwar wieder beim Sehen – beim Sehen um zu sehen. Mit dem einzelnen gemalten Apfel gibt der Maler sich und anderen einen Apfel zu sehen, nicht jedoch zu essen und zu schmecken. Indem er aber bloß zu sehen gibt, gibt er neu zu sehen. Wer sich auf die neue Sicht einläßt, die für die Zeit und Stunde jedes »déjà vu« überholt, wird mit dem zu sehen gegebenen Apfel das Sehen von Äpfeln, das heißt den gesehenen Apfel als solchen anders »sehen«. Die sinnlich-geistige Weltsicht ändert sich. Macht jemand überraschenderweise nicht an einem gemalten, sondern an einem eßbaren Apfel die Erfahrung, einen Apfel noch nie so gesehen zu haben, dann gelingt ihm eine eigene Erfahrung des Sehens, es versteht sich: des

Zu den τέτταρες λόγοι des Zenon siehe Aristoteles, Physik VI 9 239b9– 33.

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220 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Der Entwurf einer Noetik

Sehens von Äpfeln, aber nicht des Apfels »selbst«, wenn das meinen soll: des Apfels, der dem Sehen vorgegeben ist, insofern er ihm vorgegeben ist. Wirkt aber umgekehrt ein gemalter Apfel auch einmal so, daß dem Betrachter im wahrsten Sinne des Wortes das Wasser im Munde zusammenläuft, dann bringt ihn das Gesehene von der eigenen Erfahrung des Sehens ab und macht ihn zum Voyeur: jetzt sieht er tatsächlich den Apfel und kostet ihn auch schon imaginativ vor. In seiner »naiven« Beziehung zum Bild findet er keine Antwort auf das Kunstwerk als solches. Genau er nimmt nicht an der Sensibilisierung teil, die in dem neu Gesehenen und zu sehen Gegebenen als solchem liegt. Das Neue eines Gedankens, der gedacht ist um gedacht zu sein und öffentlich neu zu denken zu geben, hat ganz entsprechend seine Bedeutung für das Denken selbst: es in seiner Denkweise zu verändern und damit zu intelligibilisieren. Die Erregung, Kräftigung, Verfeinerung und Vertiefung des Denkvermögens durch die Denkkunst hat fruchtbare Folgen für die Öffentlichkeit des Denkens und der Denkenden. Jeder neu gedachte Gedanke (gedacht um gedacht zu sein) stellt die Herausforderung dar, daß sich der Eine und die Anderen denkenden Geistes neu treffen, um, wenn möglich, sein Gedachtes im Denken neu zu teilen. Sich auf einen Gedanken gemeinsam neu einzulassen, wird als ein sich selbst genügender Lebensvollzug erfahren, insofern dabei etwas, das neu zu denken ist, auf gewissenhafte Weise wirklich neu gedacht wird. Gewissen, wie es von den Künsten praktisch wahrgenommen wird, ist niemals Privateigentum von Künstlern, auch nicht Genossenschaftseigentum von Künstlervereinigungen, sondern gehört der Öffentlichkeit des Vermögens – im Falle des Denkvermögens dem gemeinsamen Element der Denkenden, in dem sie sich als solche bewegen, das Ihre tun, einander treffen und verfehlen, etwas miteinander teilen oder nicht teilen. Dabei kann es sich zeigen, daß der eine gewissenhafter verfährt als der andere, begabter und treffender im Gebrauch des Gewissens ist. Solange aber ein Gedanke Werk der Noetik ist, wird in ihm 221 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Das Denken im Lichte der Denkkunst

nicht ein Gewissen gegen ein anderes stehen, kann er schon gar nicht gewissenlos sein.

1.5 Denken um zu poetisieren Gewissenhaftes Denken, das zu bloß Gedachtem führt, weil es zu nichts anderem denkt als um zu denken, sich selbst für sich selbst als die eigentlich geistige und zugleich geistig-menschliche Tätigkeit zu bewahren und zu steigern, zeigt sich am Ende als Denken, das denkt um zu poetisieren. Im Poetisieren um zu poetisieren findet das Denken um zu denken vollends zu sich selbst. In jedem Gedanken der Noetik ist Poesie. Die Betonung des Wortes Poesie liegt jetzt auf der Konnotation des Zaubers und des Vertraut-Unheimlichen, nicht auf der des Schöpferischen. Der – poetische – Schein des Nahen und zugleich Entrückten im Gedanken spiegelt aber keine Selbstverklärung, wie sie Ideologie zustande bringt. Der Zauber, den Denkkunst in ihren Werken verbreitet, ist als Zauber der Kunst wahrzunehmen, als Einladend-Sichentziehendes, das, soweit der Gedanke geführt und mitgeteilt ist, zu denken gibt, jedoch kein Anlaß zu falschen Erwartungen ist. Die Deutung des hervorbringenden und sich intelligibilisierenden Denkens als eines poetisierenden verändert die Bedeutung wichtiger philosophischer Prädikate von Grund auf, zum Beispiel die des »noch nicht«. Dies wird für gewöhnlich als glattes Nein zu wesenhaftem Sein und wahrer Wahrheit, zu lebenswertem Leben und menschlichem Menschen, so sie als gegenwärtige lebenspraktische Möglichkeiten gefragt sind, verstanden. Taugt nun aber Auferstehung in der christlichabendländisch bestimmten Kultur (und nicht in ihr allein) als Grundwort religiöser Poetisierung menschlicher Lebensendlichkeit (und dient es weder der Diffamierung der Lebensendlichkeit als solcher noch einem realistisch gemeinten Versprechen von Lebensunendlichkeit), dann muß es nicht wundernehmen, wenn 222 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Der Entwurf einer Noetik

Noch-Nicht als Grundwort philosophischer Poetisierung des Bestehenden Gebrauch findet. Wird dem Noch-Nicht nicht länger ein realistischer Anspruch entnommen, spricht aus ihm nicht mehr die Diffamierung von Gegenwart als Gegenwart und das – falsche – Versprechen von Zukunft, dann verwandelt sich alles. Aus dem Noch-Nicht spricht unversehens Poesie. Es ist dann kein beschreibendes, kein vorausschauendes und voraussagendes Wort mehr, sondern ein poetisches. Utopien sind daraufhin nicht länger als Erkenntnisprinzipien derer zu akzeptieren, die sich für eine das Leben regierende und nicht dem Leben dienende Vernunft die beste Zukunft ausdenken. »Noch nicht daheim«, »noch nicht im Wesen« – das hört sich nunmehr nach einer »zauberhaften« Entrückung des gegenwärtigen menschlichen Aufenthalts an. Poetisierungen dieser Art werden nicht schnell und leichthin entworfen. Sie stellen oftmals ein – gewissenhaft ausgeführtes – philosophisches Lebenswerk dar, aus dem die leitende geistig-menschliche Entschiedenheit in ihrer höchstentwickelten Form spricht. Der Entwurf einer poetisierenden Denkkunst verlangt mit seiner Deutung philosophischen Sprachgebrauchs ein radikales Um-hören. Das Emphatikon »selbst« etwa ist dann als Poetisierung des Geläufigen, Gewöhnlichen und Alltäglichen zu verstehen, als Wort, das dem lebenspraktisch Vertrauten den Zauber des »ganz anderen« verleiht, ohne jedoch dabei irrezuführen und dem Menschen gesteigertes Sein und Wesen als reale Möglichkeit und als seine eigentliche Bestimmung anzudienen. »Die Sprache selbst«, als Wendung der Noetik verstanden, verlangt neues Hören, neues Denken. In diesem Selbst und Wesen liegt dann keine Vorschrift mehr, wie Sprache eigentlich zu sein und zu »wesen« hat, kein Versprechen eines künftig gewandelten Sprachverhältnisses. Der denkende Geist und seine Öffentlichkeit findet, in beider rechtem Selbstverständnis, gerade sein Genügen daran, Sprache neu zu denken zu geben und sich zu denken geben zu lassen. Die Denkenden und Mitdenkenden haben eben nicht vor, es bei Sprache, wie sie lebenspraktisch gebraucht 223 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Das Denken im Lichte der Denkkunst

wird, bewenden zu lassen, wie ja auch Maler nicht willens sind, Äpfel gänzlich denen zu überlassen, die sie erzeugen, mit ihnen handeln und sie verzehren. Die Sprache »selbst« kann das geistige Verhältnis zu Sprache und Sprachen revolutionieren. Sprache wird dann anders gedacht, aber nicht anders gesprochen. Die Bedeutung menschlicher Entschiedenheit der Kunst im Kairos der Gegenwart hängt nicht an der Frage der Umsetzung von geistiger »Einstellung« in reale Handlung. Denkkunst versteht sich, wie jede Kunst, in sich als vollendet praktisch. Das »eigentliche Handeln« kommt nicht erst umgesetzterweise hintennach. Die zu teilende oder nicht zu teilende menschliche Entschiedenheit, die in jedem wesensanzeigenden »selbst« spricht, findet in dieser Emphase selbst ihre höchste Form. Andernfalls würde Kunst erst Kunst, wenn sie aufhörte, Kunst zu sein. Ein »vernünftig« wieder, aus dem Munde des Noetikers, ist gut als Poetisierung dessen anzusehen, was im lebendigen Geschehen der Natur und der Geschichte sich im Extremfall als anarchisch und chaotisch ausnimmt. Entsprechend wird ein philosophisches »identisch« als Poetisierung des Verhältnisses von normalerweise Geschiedenem zu hören sein, ein philosophisches »nur« und »nichts anderes als« als Poetisierung von Partiellem, von Perspektivität und Aspektität. In den Kunstgedanken selbst freilich, wie sie in strenger und zugleich freier Art entwickelt werden, fallen Poetisierendes und Poetisiertes nicht dermaßen weit auseinander. Lebenspraktische Realität ist kein Vorbild für poetisierendes »selbst« und »Wesen«, »vernünftig« und »identisch«. Sie dient den Kunstgedanken eher zum Abstoß, als daß diese für sich an ihrer Vorgegebenheit festhielten. Noetik folgt ihren eigenen Regeln und Prinzipien. Das besagt nicht, daß sie in jeder Hinsicht autonom sei. Schwierigkeiten, in die sie gerät, gehen immer wieder auch auf fremdbestimmte Herausforderungen materialer und formaler Art zurück. Der Gedanke des dreieinigen Gottes zum Beispiel läßt der Denkkunst nicht die reine Möglichkeit von Selbst224 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Die Grenzen der Denkkunst

bestimmung. Doch sobald sie sich nach den von ihr gesetzten Maßstäben dem Vorgegebenen gewachsen zeigt, beginnen erst die Schwierigkeiten, die sie sich selbst macht. Intelligibilisierung und Poetisierung neu in Bewegung zu bringen und zu steigern – das ist ein ebenso autonomes wie prinzipielles Interesse der Denkkunst. Gerät dabei ein poetisierender Gedanke als Gedanke in Gefahr, dann trägt sie diese ganz für sich allein aus: es ist die Spannung und Herausforderung, die sie sich selbst erzeugt, und schließlich das Genügen, zu dem sie aus sich selbst findet, wenn der Gedanke nach dem Urteil ihres einigen Gewissens als Kunstwerk gelingt.

2. Die Grenzen der Denkkunst 2.1 Der originelle Gedanke Jeder Gedanke der Denkkunst ist ein einzigartiger. Das soll aber jetzt für einen ihrer Gedanken nicht darum gelten, weil er in einer geradlinig verlaufenden Folge von – kulturgeschichtlich oder auch neurophysiologisch zu deutenden – Ereignissen als nie dagewesenes und niemals wiederkehrendes Moment zu lokalisieren und zu identifizieren wäre. Die Unausweichlichkeit, als Werk der Kunst originell zu sein, ist für ihn vielmehr in der jeweils einmaligen Konstellation eines gestaltenden Denkens begründet, durch die sich der Denkende individuiert und seine Gedanken als seine eigenen gewinnt. Es ist die Gegenwart, die sich mit ihrem Kairos in eins aus dem Verhältnis des Denkens zu sich selbst, aus seinem Verhältnis zu dem, was er gedanklich zu fassen sucht, und aus seinem öffentlichen Verhältnis (dem bewußten und unbewußten Verhältnis zu Anderen) bestimmt. Die Art des Kunstgedankens, originell zu sein, beruht demnach in der komplexen Individualität einer zum Kairos verdichteten gegenwärtigen Konstellation, die ihn entstehen läßt. Bestes Indiz für den Kairos ist, daß ein Denkender seine eigenen Gedanken 225 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Das Denken im Lichte der Denkkunst

hat, vergleichbar dem, wie Menschen ihr eigenes Leben und ihren eigenen Tod haben. Das Problem, die Einheit einer Denkkonstellation zu bestimmen und mit ihr die Einheit je des Denkenden, des Gedankens und der geistigen Öffentlichkeit, ist ein perspektivisches. Es kann zum Beispiel von Interesse sein, das Denken eines Platon und Heidegger »entwicklungsgeschichtlich« zu betrachten. Man wird dann jeweils viele Denkkonstellationen und eine Vielheit von Gedanken finden, wird eine Differenzierung jedes der Denkenden vornehmen und in beider Zeitgenossenschaften einen Wandel der geistigen Öffentlichkeit in Betracht ziehen. Besteht aber Interesse, beider Denken mit den nötigen Präkautionen als je einen Gedanken zu deuten, dann geht man von der Einheit des Denkenden, seines Denkens und der Öffentlichkeit seiner Zeit aus. Das Lebenswerk wird zu einer Gegenwart. Man könnte noch weiter gehen und beide Deutungen zusammenfassen: die beiden Philosophen stünden dann für ein Denken, einen Gedanken, gehörten einer Öffentlichkeit, nutzten einen Kairos. Der »eigene« Gedanke gehörte als solcher beiden zu. Die Individualität einer Denkonstellation wird als solche von der Individualität des Denkenden beherrscht. Das liegt nicht an seiner »Persönlichkeit«, sondern an seiner Entschiedenheit. Individualität erwächst aus der entschiedenen Aneignung von Besonderem. 13 Denken ist ein besonderes Vermögen, Gedanken sind ein besonderes Produkt, geistige Öffentlichkeit ist ein besonderes Einander. Diese Besonderheiten sind als solche praktisch unergründlich und unerschöpflich. Sie müssen erst individualisiert und zueigen gemacht werden, um überhaupt gegenwarts- und kairosfähig zu sein. Sich Denken als Eigenheit auf eigene Weise anzueignen – das verlangt Entschiedenheit. Der Denkende, der sich als solcher eigenheitlich inszeniert, entscheidet damit auch schon, daß es für ihn etwas zu denken und daß es

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Siehe Rainer Marten, Der menschliche Mensch, S. 9 ff.

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Die Grenzen der Denkkunst

für ihn eine Öffentlichkeit gibt, der er etwas – neu – zu denken zu geben hat. Ohne diese Entschiedenheit bliebe es bei der Unergründlichkeit und Unerschöpflichkeit des Denkvermögens, der denkbaren Gedanken und des möglichen geistigen Einanders als haltlosen Unendlichkeiten und insofern Unmöglichkeiten. Die Unausweichlichkeit eines Werkes der Noetik, originell zu sein, beruht, wie bei Werken jeder anderen Kunst auch, auf dem Freiheitsgebrauch. Individualität ist undenkbar ohne Handeln, das dem ihm anvertrauten Besonderen nicht auf den letzten Grund zu kommen sucht, sondern sich zu seinen endlichen Möglichkeiten bekennt. In der Individualität der Gedanken der Noetik manifestiert sich, wie in jeder Individualität, Freiheitsgebrauch und Bejahung von Endlichkeit. Jeder originelle, individuelle und eigene Gedanke verspricht ein neuer zu sein. Dem widerspricht nicht, daß jedes Denken provinziell und zeitgebunden ist und in einer Tradition steht. Wie das Originelle, Individuelle und Eigene, so ist auch das Neue des Gedankens nicht absolut gemeint. Sticht ein Gedanke als erster seiner Art hervor, etwa der Gedanke einer causa sui, dann sticht auch seine Neuheit hervor. Aber er steht nichtsdestoweniger, wie jeder andere, in seiner Tradition, ist in vielem bereits vorgedacht. Causa sui ist auch, genau verstanden, als Neues kein neues Denksujet, sondern eine neue Denkweise, eine neue Denksicht, Denkgestaltung, Denklösung: Gott ist gedacht, ein traditionelles Sujet mit traditionellen Auflagen. Causa sui – das ist eine neue, freie, eigene künstlerische Sicht und Gestaltung dieser zu denkenden Sache. Aber es bedarf gar nicht der auffälligen Neuerungen. Überhaupt jeder Gedanke, der neu zu denken gibt, ist ein neuer und auf seine Weise erster, da er notwendig einer neuen gegenwärtigen Konstellation und ihrem Kairos entspringt. Nur eine einzige Idee absoluten Denkens kommt dem rechten Verstehen des Neuen, Eigenen, Individuellen und Originellen der Produkte der Noetik in die Quere: die Idee des »ursprünglichen« Ge-

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dankens. 14 Sie stellt die absolute Anmaßung des sich um seine Endlichkeit bringenden Denkens dar. Nichts nämlich ist ursprünglich gedacht, weil und insofern nichts absolut gedacht ist. Das Originelle je eines Gedankens der Noetik schließt das Originale bzw. Originäre aus. Es gibt keine Gegenwarts- und Kairoslosigkeit des Denkens und damit keine Möglichkeit, es zu seinen vermeintlichen Gunsten an ein für es verbindliches und unvordenkbares Erstes zu binden. Nur als Poetisierung philosophischer Tradition ergibt die Idee des ursprünglichen Gedankens einen Sinn, verwandt der Art, das eigene Geschlecht auf einen Gott oder Heros zurückzuführen. Wird sie aber realistisch gemeint, dann repräsentiert die Idee des Ursprünglichen die Ideologie des Absoluten, in der individualitätsgründende Freiheit im Verein mit der zum Kunstschaffen befähigenden Endlichkeit außer Kraft gesetzt sind. Allein der originelle, individuelle und neue Gedanke, der vom Denkenden (auch und gerade im Rückgang auf Tradition) als ein Gedanke geführt wird, der für sich von vorne (ἐξ άρχῆς) anfängt, ist ein eigener. Intelligibilisierendes und poetisierendes Denken, mit dem der denkende Geist sich öffentlich Gehör und Ansehen verschaffen kann, schlägt einen neuen Ton an und wirft ein neues Licht: einen je eigenen Ton und ein je eigenes Licht.

2.2 Der endliche Gedanke Ein Gedanke der traditionellen Denkkunst ist seiner schlechten Möglichkeit nach im Unendlichen gegründet, auf ein unendliches Ziel ausgerichtet und unendlich in dem Versuch, rein zu sich selbst zu kommen, das heißt einzig sich selbst zu denken, Zum problematischen Anspruch eines »echten und ursprünglichen« Denkens siehe Martin Heidegger, unter anderem Einführung in die Metaphysik (S. 93) und Was heißt Denken?

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Die Grenzen der Denkkunst

alles andere aber genau nicht. Wer diese Möglichkeit bejaht und wahrzunehmen beginnt, hat sich bereits um das Denken des Gedankens gebracht. Auch ein Gedanke um des Denkens willen ist um seiner selbst willen endlich – in die Endlichkeit nicht fatalistisch einwilligend, sondern sie als das suchend, was ihn erst zu sich selbst befähigt. Er muß gegen seine drei unendlichen (Un-)Möglichkeiten klare Grenzen ziehen. Selbst und gerade derjenige, der bloß denkt um zu denken, kann über die individualitätsgründenden Grenzen eines Gedankens nicht willkürlich befinden. Um sich im Denken des Gedachten nicht ins Unendliche zu verlieren und den Gedanken samt dem Denken zu verspielen, genügt es nicht, in Karikatur des Dezisionisten die Offenheit zum Unendlichen an beliebiger Stelle zu unterbinden. Es kommt im Kunstdenken ganz im Gegenteil darauf an, in der Weise entschieden für die Endlichkeit des Gedankens zu sein, daß das Denken in ihm wirklich bis an die Grenzen stößt, die ihn allererst als einen solchen »aussehen« lassen und, nach Maßgabe des künstlerischen Gewissens, zu einem gelungenen machen. Kriterium dafür, daß die Grenzen richtig gezogen sind, ist das ausgewogene Verhältnis von Endlich und Unendlich: das Unendliche soweit wie nötig aufzugeben, um die der Möglichkeit nach klarste endliche Fassung des Gedankens zu erzielen, zugleich aber soweit wie nur möglich mit dem endlichen Gedanken ins Unendliche auszugreifen. In diesem gespannten Gleichgewicht von Endlich und Unendlich findet der Kunstgedanke seine optimale Begrenzung. Nur die Grenzen des Gedankens, die weder aus dem Davor das Dahinter noch aus dem Dahinter das Davor diskriminieren, werden dem Gedanken Halt geben und ihn hindern, für sich in seinen eigenen Gebärden, wie sie (noch) keine Grenzen zu erkennen geben, den Halt zu suchen. Ohne daß die Grenzen eines Gedankens als Grenzen mitsprächen und mitspielten, stünde kein Werk der traditionellen Denkkunst in sich, gäbe es durch sie nichts (Neues) zu denken. Aus ihren gelungenen Werken spricht die Gelassenheit gegen229 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Das Denken im Lichte der Denkkunst

über dem Unendlichen und die Bejahung eigener Endlichkeit. Die Grenze, die ein künstlerischer und intelligibilisierender Gedanke zwischen sich und der an sich unendlichen Herkunft, Zielsetzung und Exaktheit in der Sache zeigt, bringt das Unendliche in ihm selbst zum Agieren und zwar bis an die Grenze, die seine Endlichkeit als solche erträgt. Soweit es das endliche Denken als solches vermag und braucht, geht es in seine sachliche Herkunft zurück, auf sein sachliches Ziel zu, und dies jeweils bis an die Grenze, die es ihm erlaubt, allein ein und allein dieser Gedanke zu sein. Im Sinne dieses Grenzprinzips wird der gelungene Gedanke der Noetik in traditioneller Redens- und Vorstellungsart ein tiefer, hoher und reiner sein. Um diese drei Bestimmungen in sich zu vereinen, hat er genau ein endlicher und kein unendlicher zu sein.

2.3 Der tiefe Gedanke Die Tiefe eines Gedankens ermißt sich als solche aus der Art, in der er entschieden eine Grenze zur Unergründlichkeit und Unbeherrschbarkeit der Sache zieht. Anders als oberflächliche Gedanken läßt sich der tiefe auf das Ungefaßte und an sich Fassungslose der Sache ein, verliert sich aber nicht darin, geht nicht der unabschreitbaren »Tiefe« einer Sache endlos nach 15 , sondern ist und bleibt ein gefaßter. Je stärker das Irrationale und Anarchische in ihm gegenwärtig ist, ohne daß es über ihn Macht gewänne, ihn überwältigte und als endlich-gefaßten zunichte machte, um so tiefer ist er. Ausgewogenheit angesichts der Grundlosigkeit und Unbeherrschtheit der Sache ist für den Kunstgedanken nur zu erreichen, wenn er dem aneinandergrenzenden Endlichen und Unendlichen gleich großes Gewicht bei-

Vgl. Heraklit, Fragment Β 45: »Der Seelen Grenzen kannst du nicht herausfinden, und machtest du jeden Weg – einen so tiefen Logos hat sie.« 15

230 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Die Grenzen der Denkkunst

mißt. Um aber Gleichgewicht zu erreichen, hat er eine erhebliche Belastung und Spannung auf sich zu nehmen. Die Grenze muß soweit vorgeschoben sein, daß er über das, was dahinter liegt, wirklich in nichts mehr verfügt, das aber, was davor liegt, gerade noch faßt. Die Herausforderung durch das Unverfügbare nimmt er allein insoweit an, als es ihm gelingt, darauf eine endliche Antwort zu finden und dadurch in der Sache etwas neu zu denken zu geben. Jedes Denken der Noetik braucht auf solche Weise reichlich von dem, wofür es in seinem Schaffen keinen Grund weiß und was es in seinem Gestalten nicht beherrscht, um daran seine endlichen Argumente und seine endliche Beherrschtheit zu finden. Was den Noetiker eigentlich zum kunstschaffenden Denken bewegt, ist sein Gewissen. Ohne es könnte ihn das, was ihm sachlich zu denken gibt, überhaupt nicht zum Denken herausfordern. Spaß an intellektuellen Problemen und allgemein am Räsonieren wäre keine Motivation für poetisierendes Denken. Das Gewissen des Denkenden erschließt allererst das Grundlose und Anarchische des Denkens als solches und läßt um das Ungedachte in jedem Gedanken wissen. Dieses Gewissen ist stark genug, das Denken nicht dazu zu bewegen, sich soviel Gedanken wie nur möglich angesichts ihrer Unerschöpflichkeit zu machen, sondern stets auf sein Selbstinteresse zu lenken: Gedanken zu denken, um sie zu denken, zu retten und sich zu intelligibilisieren. Kein »wachsendes Begreifen am Unbegriffenen« (Fichte) ist die Devise, keine Ausweitung des Lichtkreises der Vernunft, keine Vertreibung des Irrationalen und Anarchischen. Es geht dem gewissenhaften Kunstdenken umgekehrt darum, den Gedanken frei für Unergründliches und Unbeherrschtes zu machen, damit es in ihm als Unendliches auf endliche Weise mächtig ist. Der tragende Grund eines Gedankens der Noetik ist, so gesehen, das Grundlose und Anarchische. Darauf ruht er nicht nur auf; es ist auch in ihm selbst lebendig. Der von traditioneller Denkkunst wahrgenommene Kairos, einen Gedanken frei zu gestalten (und ihn frei gestaltet zu haben), führte zu keinem tiefen Gedanken, 231 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Das Denken im Lichte der Denkkunst

wenn der Geist nicht im Denken an die Grenzen seiner Argumente, seiner Gefaßtheit und Beherrschtheit käme. Jedes schaffende und neu zu denken gebende Denken hat seinen unauslotbaren Grund. Frei, gefaßt, beherrscht und eben endlich gehört zu ihm die Ungedachtheit in jedem seiner Gedanken und die prinzipielle Unausdenkbarkeit des Zudenkenden. Wie das Unsagbare keine Grenze des Sprachvermögens im Sinne eines im Grunde bedauerlichen Unvermögens signalisiert, sondern im Gegenteil die Grenze zu erkennen gibt, von der her Sprechen erst zu seiner Endlichkeit und Freiheit findet, so stellt auch das »Undenkbare« (Nichtauszudenkende usw.) keine an sich betrübliche Beschränkung des Denkvermögens dar, sondern verhilft ihm erst zu den ihm eigenen endlichen Möglichkeiten. Jeder Gedanke der Noetik hat einen Zug ins Grundlos-Anarchische. Die Tiefe des Gedankens läßt diesen Zug an sein endliches Ziel kommen und bringt so das, woran er rührt, selbst ins Spiel. Anstatt sich dadurch selber als Gedanke fremd zu werden, gewinnt er im Gegenteil daraus Anstoß und Kraft zur eigenen Intelligibilität. Grundlosigkeit und Anarchie sind gleichsam die unbändigen Partner des hervorbringenden Geistes und seiner gestaltenden Freiheit. Kein rechter Noetiker möchte (vom Können nicht zu reden) das Denken in einem Gedanken auf den absolut aufgeklärten und beherrschten Punkt bringen. Wie ein Mensch sich nur dann frei vor sich selbst und vor Anderen in dieser und jener Eigenheit inszenieren kann, wenn er sich und den Anderen »zutiefst« ein Rätsel bleibt, so kann ein kunstschaffendes Denken nur dann Gedanken fassen und als faßbare veröffentlichen, wenn sie ihm (und der Öffentlichkeit) »zutiefst« Zeugnis des Undenkbaren sind und bleiben. Jede geistige Verdichtung und Erhellung, die einem Werk der Denkkunst Gewicht und Kontur verleiht, ist eine Manifestation des endlichen Geistes. Geist ist überhaupt nur Geist, sofern er begrenzt und endlich ist. Dabei ist er sich aber in jeder seiner Manifestationen gewiß, mit seinen Gestaltungen etwas zu fassen, das im Grunde unfaßlich, weil unendlich ist. Jedes Werk der 232 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Die Grenzen der Denkkunst

Denkkunst lebt von der im Geist ausgetragenen Spannung zwischen scharf umrissener »Aufklärung« und anarchischer Dunkelheit, hält sie in sich zusammen. Wie jeder verständliche und das heißt interpretierbare Satz von der in ihm gegenwärtigen Anarchie des Ungesagten zehrt, so braucht jeder nachdenkbare Gedanke das Ungedachte, weil Unfaßliche. Ein gutes Beispiel für das Gefaßt-Unfaßliche des Sprechens gibt der Redewechsel »Ich liebe dich. / Ich dich auch.« Endlicher, sprachloser (»ungesagter«) und effizienter läßt es sich gar nicht reden – erprobt, solange und soweit es Menschen gibt. Da fassen sich Zwei ein Herz (und ein Wort) und sagen »es« sich endlich. Was sie sich so sagen, ist gemessen an dem, was sie sich nach – schlechter – Möglichkeit zu sagen hätten, ein allerendlichstes Stück von Unendlichem. Was nämlich sagt und ist da schon Lieben? Aber genau so geschieht Verständigung. Ohne die Unendlichkeit des Nichtgesagten wäre sie unmöglich, verstünden die beiden »es« nicht, was sie sich sagen. Jede Idee von Eineindeutigkeit, exakter Sprache und exhaustiver Mitteilung versieht sich an der gelingenden Praxis sprachlichen Verkehrs und ihren Voraussetzungen. »Lieben« kann nur etwas sagen, sofern im Kairos der Gegenwart die Kraft des Ungebändigten in das Gesprochene eingeht und es durchherrscht. Der Noetiker wird entsprechend darauf zu vertrauen haben, daß das, was an seinem Gedanken eigentlich »tief« zu denken gibt, die Macht des in ihm gebannten Ungedachten und Unausdenkbaren ist.

2.4 Der hohe Gedanke Noetik, der bewußt ist, mit ihren Gedanken in keinen Anfang als wahrhaft Erstes zurückzureichen, weiß zugleich, daß sie mit ihnen nicht an ein letztes Ziel kommt. Wie in keinem ihrer Werke erschöpfend Aus-gedachtes zum Vorschein kommt, so auch nichts vollkommen Zuendegedachtes. Das Unendliche, das sie zur Selbstbegrenzung zwingt, hat nicht nur die Seite des An233 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Das Denken im Lichte der Denkkunst

archischen, das allem Denken und Intelligibilisieren voraufliegt, sondern auch die des ersten Prinzips (der πρώτη ἀρχή), das über alle endliche Möglichkeit des Denkens hinausliegt. Das Schaffen der Denkkunst steht in der Spanne von Vorgedanklichem und Übergedanklichem. Ihre denkbefähigende Endlichkeit braucht Grenzen nach zwei Seiten: eine Grenze, bildlich gesprochen, gegen das Dunkle und eine gegen das Lichte. Darf ein Gedanke, trächtig mit Grundlosem und Anarchischem, als Gedanke nicht selber dieses Charakters sein, dann hat auch das Lichte und Übergedankliche, das in ihm wirkt, ihn mit seiner Überindividualität nicht in das Gegenwarts- und Kairoslose zu entrücken, wo das Denken nurmehr ununterscheidbar reinen Geist »bei« reinem Geist fände, ohne jede Möglichkeit, einen Gedanken zu fassen. Der Gedanke, der weiter zurückreicht, als er für sich gedacht ist, zielt zugleich weiter, als das Denken in ihm zu gehen vermag. Er ist aus sich nicht nur dem ausgesetzt, was grundloser und anarchischer, sondern auch dem, was gründender und beherrschender ist, als er für sich selbst ertragen kann. Derselbe Gedanke, der wegen seiner ausgewogenen Grenzziehung zur Vor-Gegenwart für tief gilt, ist wegen seiner entsprechend gelungenen Begrenzung gegen das Über-Gegenwärtige als hoher anzusehen. Das Hohe gibt dem Gedanken die Orientierung, das Tiefe den Reichtum und beides zusammen die Spannung, die ihn seine endliche Kraft entfalten läßt. Während aber das Grundlose und Anarchische dem Denken vorgegeben ist, und durch die Grenzziehung für den Geist aktiviert wird, ist das, was das Denken zwingt, sich eigens »nach oben« abzugrenzen, eine Poetisierungsleistung des a solo denkenden Geistes selbst. Traditionelles Kunstdenken orientiert sich in seiner Zielsetzung am reinen Selbstüberstieg: es entwirft den reinen und schlechthin vermögenden Geist, dem alles endliche Denken nur dienen kann. Poetisierend entwirft es das, was über seine Endlichkeit hinausliegt als Unendlichkeit, die, weil unendlich über dem eigenen Kairos und seiner Gegenwart liegend, zumeist als 234 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Die Grenzen der Denkkunst

Ewigkeit und Identität (reines Selbstverhältnis) bestimmt ist. Was dabei den Gedanken genauer zu einem hohen macht, verdankt sich der Poetisierung dieses Unendlichen als Hierarchie des Geistes und der Geister, als Göttliches und Erhabenes. Der poetisierende Entwurf einer für den endlichen Geist schlechthin übergedanklich-geistigen Instanz, die für sich keiner gegenwärtigen geistigen Konstellation zugehört, gibt mit ihrer »Höhe« die Spannung, in der sich die Tiefe eines Gedankens allererst als solche bewähren kann. Der endlich gefaßte Gedanke der Denkkunst spannt sich so von dem einen Unfaßbaren und Unverfügbaren zum andern – das eine vorgegeben, das andere aus sich selbst entworfen. Das poetisierte Göttliche wirkt dabei gleich einem Katalysator zugunsten der endlichen und gebändigten Entfaltung des an sich Grundlosen (»Ungründigen«) und Unbeherrschten; zugleich verleiht es dem Gedanken als Ganzem seinen Zauber, den weder das Hohe noch das Tiefe für sich haben, sondern der sich erst aus dem Zusammenspiel beider Grenzen und beider gefaßten Unfaßlichkeiten ergibt. Ein Gedanke, der sich in Anbetracht seiner übergedanklichen Orientierung für zuendegedacht hielte, wäre gerade kein Gedanke, der sich auf das poetische Verzaubern verstünde. Für die Noetik bedeutete es eine Entleerung, im Denken »wirklich« in ein erstes Prinzip überzugehen, das nichts weiter zu denken und zu sagen gibt als sich selbst. Ein erstes Prinzip – das ist der Gedanke eines Wesens, dessen reine Existenz mit seiner reinen Funktion zusammenfällt. Prinzipiendenken, das sich bei dem aufhalten wollte, was eigentlich, in deutlicher Grenzziehung zu ihm, die Höhe eines – endlichen – Gedankens bestimmt, mißversteht die Art und Weise geistiger Poetisierung. Wer das, was er selber poetisierend tut, für »realistisch« nimmt, beraubt sein Geschaffenes damit selber der Poetisierung und ihres Zaubers. Reines und vollends angekommenes Prinzipiendenken entbehrte nicht nur aller Poesie, sondern zugleich damit auch aller Tiefe und allen gedanklichen Reichtums. In Platons ziemlich gedanken- und sprachlosem Prinzipiendenken, wie es die »un235 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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geschriebene Lehre« vorstellt, kann nicht einmal die »unbestimmte Zwei«, die als zweites Prinzip das Grundlos-Anarchische repräsentiert, dem Gedanken irgendeinen Zauber bewahren. Der poetisierende Entwurf eines Ersten, das geistig alles gründet und beherrscht, verfolgt insgeheim den Zweck, die eigenen Gedanken jeweils beizeiten beenden und der Selbstverlorenheit im Übergedanklich-Unendlichen entgehen zu können. Das Hohe, zu dem sich das schaffende Denken bestimmt, findet sich, wenn es bis dahin kommt, in ihm selbst, um dort über sich hinauszuweisen. Wie es, paradox formuliert, im Grundlosen gründet, so ist es zugleich »höher« als es selbst. Im Gebrauch seines Gewissens versteht sich der Denkkünstler, wie jeder andere Künstler auch, nicht auf Arroganz und Selbstherrlichkeit, sondern auf seine dienende Funktion. Er stellt sein zu schaffendes Werk über sich selbst, steht also nicht über seinen Gedanken, sondern, im Bilde, unter ihnen. Poetisiert traditionelles A-solo-Denken das, woran es seine eigene Höhe ermißt, als Göttliches, das über jedes denkende Erfassen hinausreicht, dann poetisiert es zugleich sich selbst. Wird es sich, im Rahmen seiner von ihm selbst poetisierten vertikalen Spannung zwischen Hoch und Tief, dem Grundlos-Anarchischen zugewandt eher als mutig, kühn, gewagt und gewalttätig inszenieren, dann in Wendung zum Ersten und Göttlichen hin eher ehrfürchtig, demütig, bescheiden und ohnmächtig. Das Göttliche, das Denkkünstler ihren Gedanken zusprechen, ist nicht bigott, bedarf auch keiner Aufklärung. Das Unbeherrschte und Unbeendete im gefaßten Gedanken gehört selbst zu der Art, wie der denkende Geist sich einer Sache annimmt: es ist stets zugleich sein eigenes Unbeherrschtes und Unbeendetes. Poetisierend geht der Kunstschaffende in Distanz zur Sache und zu seinem eigenen Vermögen: er inszeniert sich selbst im Denken der Sache. Erst Begrenzung und Endlichkeit des Gedankens, die er als tiefer und hoher findet, führen zu dem geistigen Spiel, das zwischen dem zweimal Unfaßlich-Un236 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Die Grenzen der Denkkunst

endlichen und der zweimaligen Begrenzung und Verendlichung in jedem Gedanken statthat. Die Poesie des Hohen als der Spannung des Hohen und Tiefen setzt das geistige Schaffen frei, auf selbstbestimmte und endliche Weise etwas von Grund auf und bis zum Ende hin neu zu denken und neu zu denken zu geben.

2.5 Der reine Gedanke Der Gedanke, der ein Kunstwerk ist, hat gut traditionell die Bestimmung, bloß gedacht zu sein. Das ist von doppelter Bedeutung: er ist allein durch das Denken zustande gekommen ohne Mithilfe der Sinnlichkeit, und er ist gedacht um gedacht zu sein und öffentlich zu denken zu geben. Von diesem bloß Gedachten des Gedankens ist sein rein Gedachtes zu unterscheiden, das ihn zu einem und zu diesem Gedanken macht. Bei jedem Gedanken der Noetik besteht die Gefahr, daß die nötige Reinheit zum Selbstzweck wird. Wer eine Engführung des Gedankens im Sinne absoluter Orthologie 16 versucht, geht in der Tat mit der Reinhaltung bzw. Reinigung des Gedankens bis zu dessen Selbstverzehrung. Der eine und selbe Gedanke braucht darum, um genau dieser zu sein, nicht nur eine Grenze gegen alle anderen Gedanken, sondern auch eine gegen sich selbst: gegen die schlechte Möglichkeit seiner unendlichen und das heißt absoluten Purifizierung. Der künstlerische Gedanke, wie er im besten Sinne ein bloßer ist, versteht sich als Gedanke rein der Sache selbst: er ist aus ihr selbst und als sie selbst gedacht. Ist er zwar gedacht um gedacht zu sein, so kann das doch nur geschehen, wenn dabei die Sache gedacht ist. Andernfalls wäre er kein bestimmter Gedanke, der in seinen Grenzen seinen Halt findet und mit ihnen ein Werk darstellt, das selbstbestimmt in sich steht. Mit dem rein sach-

16

Siehe oben S. 113.

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lichen Gedanken eines bestimmten reinen Selbstseins kann und darf das kunstschaffende Denken aber nicht vorhaben, die Sache auf ihren absoluten Punkt zu bringen, der sich nur als geistiger Nullpunkt vorstellen läßt. Der erfahrene Noetiker ist sich vielmehr sicher, in seinem reinen Gedanken, mit dem er die Sache selbst faßt, dem Grundlos-Anarchischen der vorgenommenen Sache begrenzt Gestalt zu verleihen und ihn zugleich durch Bestimmung seines Gehalts gegen andere Gedanken abzugrenzen. Nur so gibt es auch etwas – neu – zu denken. Ginge es dagegen um Reinheit der Reinheit wegen, dann wäre Kunstdenken im Prinzip darauf aus, in einem unendlichen Prozeß der Selbstreinigung alles, was im Gedanken gefaßt ist, aus ihm selbst auszuscheiden. Was übrig bliebe, wäre der bloße Name des Gedankens, verbunden mit der Absicht seiner absoluten Reinheit. Das, was eine Sache rein als sie selbst zu denken gibt, versteht sich traditionell als ihr Wesen. Was dann an einem Gedanken, der gedacht ist um gedacht zu sein, das Sachliche ausmacht, ist das Wesen einer bestimmten Sache. Die Eigenart der zu denkenden Sache, rein sie selbst zu sein – einfach, unvermischt und unversehrt –, stellt für das endliche Denken der traditionellen Noetik eine bedeutsame Herausforderung dar. Dies Denken muß ja das reine Selbstsein mit dem reinen Wesensgedanken zu erreichen suchen, weil es sich nur so im Gedanken ein und derselben Sache selber finden und als Denken bewähren kann. Um dieser Notwendigkeit zu entsprechen, zugleich aber der Gefahr einer selbstverzehrenden Reinigung zu entgehen, zieht es eine Grenze, die für die Ausgewogenheit zwischen dem sorgt, was nurmehr rein wäre, ohne noch sachlich etwas Bestimmtes zu denken zu geben (das ist die Idee einer Über-Fassung des Zudenkenden) und dem, was nicht rein genug ist, um als das Eine und Selbe für ein Denken in Betracht zu kommen. Jeder Gedanke der Denkkunst braucht dieses Gleichgewicht zwischen dem größtmöglichen Reichtum des in ihm Gedachten und seiner größtmöglichen Reinheit, Einheit und Diesheit (haec-

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ceitas). 17 Um als rein gelten zu können, wird er darum dem Gebändigten in sich selbst das lassen müssen, was erst seinen eigenen Gehalt und seine Unverwechselbarkeit ausmacht. Auch wird er ein Verhältnis zu anderen Gedanken bejahen, die zu seiner Selbstdarstellung gehören. Aber er wird dem Reichtum seines Gehalts und dem Gedankenverbund nicht seine Bestimmtheit opfern. Die Reinheit eines Gedankens ermißt sich somit aus der Art, wieviel er gedanklich fassen und an anderen Gedanken für sich brauchen kann, um genau dadurch dieser eine und selbe Gedanke zu sein, den jeder zu identifizieren vermag, dem er neu zu denken gegeben ist.

3. Die Sujets der Denkkunst Alles, was den Anhalt geben und mit der Anlaß sein kann, zu denken um zu denken, es versteht sich: denkend zu poetisieren um denkend zu poetisieren, ist mögliches Sujet der Denkkunst. Traditionell geurteilt handelt es sich damit um alles, dem ein Wesen zuzudenken ist – kein bloß begrifflich-definitorisches, sondern ein geistig gestaltetes und poetisiertes. So ist an Gott, Welt, Natur, Mensch und den Geist selbst zu denken, an Wissen, Denken, Sprechen, Leben, Wollen, Lieben, an Freiheit, Gerechtigkeit, Schönheit, Glückseligkeit, Wahrheit, Selbigkeit, auch an Grund und Ursache, Bewegung und Ruhe, Leben und Tod, Sein und Nichts, Gut und Böse, Staat und Geschichte, Zeit und Augenblick. Es ist nur zu beachten, daß nicht einmal im Umkreis der im Blick stehenden ontologischen Tradition jede Vornahme eines dieser Sujets kunstschaffendes Denken garantiert. Zeit zum Beispiel, wie sie Aristoteles als »gezählte Zahl der Bewegung gemäß dem Früher und Später« denkt 18 , führt zu einem Der Diesheit des Wesens im Sinne der ontologischen Deixis entspricht die Diesheit des Gedankens. 18 Physik IV 11 219b1 f. 17

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philosophisch-wissenschaftlichen Zeitgedanken, zu keinem poetisierenden. Anders dagegen verhält es sich mit Platons Gedanken der Zeit als Abbild der Ewigkeit 19 und Heideggers Gedanken der Zeit als der gebenden und im »Ereignis« gereichten. 20 Zu denkendes Wesen kommt demnach nur als Sujet der Denkkunst in Frage, sofern sein Gedanke als tiefer, hoher und reiner gefordert ist und das einige Gewissen des Denkens beansprucht. Das Denken um zu denken braucht Sujets. Weder kann es noch will es sachfrei und unentschieden verfahren. Jedes bestimmte Sujet aber, wie es als vorgegebenes auftritt, ist nur insofern veranlassend für traditionelles Kunstdenken, als sich dieses zu seiner Zeit und Stunde für es entscheidet und in ihm als einem gewissenhaft Zudenkenden für sich selbst das gewinnt, was ihm daran wesentlich zu denken ist. Für Denkkunst ist ein klarer Unterschied zwischen dem zu machen, was sich überhaupt denken läßt, und dem, was überhaupt zu denken gibt. Da aber zeigt sich: nichts gibt der Denkkunst zu denken, was nicht vom Denken selbst und seiner Entschiedenheit dazu gebracht wäre. Darum gilt zwar die Bedingung vorgegebener Sachheit selbst dann noch, wenn das Denken sich sich selbst zur Sache macht (»Denken des Denkens«), aber es ist da wie bei allem Sachdenken: an sich geben die Sachen nichts zu denken – weder Selbes noch Neues. Damit es etwas zu denken gibt, bedarf es des Vermögens und der Verantwortung des Denkens. Ohne menschliche Entschiedenheit und handwerkliches Vermögen der Denkkunst gäbe nichts Vorgegebenes etwas zu denken. Das Denken erst macht es, daß die Sache, ohne die es kein Denken gibt, zu denken gibt. Das im Denken zu Rettende (τὰ νοούμενα) dagegen als das vorzustellen, was an sich selbst bzw. von sich her zu denken gibt 21 , ist entweder sachlich falsch oder aber eine PoeTimaios 37b. Zeit und Sein, S. 14–23. 21 Das wäre vergleichbar mit Heideggers Phänomenbegriff in Sein und Zeit. Siehe dort S. 28–31. 19 20

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tisierung dessen, was zu denken gibt. Das vorgegebene und vom vernehmend-gestaltenden Denken gewählte Sujet gibt allein insofern »von sich aus« zu denken, als das Denken sich in ihm – versachlicht – selbst als das entdeckt, was zu denken gibt. Die Zeit zum Beispiel, die zu denken gibt, um neu gedacht zu werden, ist keine gezählte oder gebrauchte Zeit (als vereinzelte oder verallgemeinerte), sondern – traditionell – das Wesen der Zeit. Dieses aber ist ein Entwurf der Denkkunst. Wie sich zeigt, sind Vermögen und Gewissen des Denkens das einzige, was dem Denken ursprünglich »vorgegeben« ist. Die Denkkunst nützt dies Ursprüngliche so, daß alles, was sie sich – als Sache – zu einer Zeit und Stunde zu denken geben läßt, von der Art ist, daß genau sie selbst es ist, die es sich zu denken gibt. 22 Die Denkkunst verdankt sich nicht selbst ihr Denkvermögen, wohl aber die Tatsache, daß es angesichts von Vorgegebenem wirklich etwas und genau dies für sie zu denken gibt. Daß sich das, was »es« zu denken gibt, dem »Sein« verdankte, ist nur sinnvoll zu behaupten, wenn dies Sein als Wesen gemeint ist 23 , das heißt als handwerklich zureichend ausgeführter und in seiner Bestimmtheit verantworteter Denkentwurf. Für den Kairos eines jeden Gedankens der Denkkunst fallen der Denkgrund, den das Denken mitbringt, und der, der in der als vorgegeben erfahrenen Sache liegt, zusammen. Wird zum Beispiel Gott gedacht, dann ist der vorgegebene Gott nicht wichtiger als das entschiedene Denken, dieses Denken aber auch nicht wichtiger als jener Gott, weil es – von diesem oder jenem aus betrachtet – einzig um den denkenden Geist geht, den Zeit und Stunde dazu führen, sich im bloßen Denken genau in dieser Die Tatsache, daß schaffendes Denken sich selbst Zudenkendes zu denken gibt, macht auch verständlicher, wie es möglich ist, die vorgegebene Sache als solche für eine geschichtliche zu nehmen – vorgegeben zum »liebenden Streit der Denker«. Die geschichtliche Dimension verhüllt auf schönste Weise, daß Gedanken, die zu denken geben, Produkte des denkenden Geistes sind. 23 Siehe oben S. 58 f. 22

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Bestimmtheit und Entschiedenheit zu versuchen. Gelingt der Gedanke, dann gelingt es dem denkenden Geist, sich selbst und sein Gewissen zu retten, zu intelligibilisieren und zu poetisieren – in der geistigen Gestaltung Gottes. Gott ist dann ein Gedanke, der als solcher vom künstlerischen Denken verantwortet wird. Insofern Gott (das »wahre« Wesen Gottes) in traditioneller Denkkunst poetisiert für das steht, was jedem ihrer Gedanken die ihm als Gedanken nötige Höhe ermessen läßt, ist er ein Sujet, das auf besondere Weise in jedem Sujet mit vorgegeben und vom Denken mit – neu – zu denken gegeben ist. Für gewissenhaft gestaltendes Denken der Tradition ist es bedeutsam, so tief, hoch und rein wie nur möglich und dabei entschieden zu denken. Ist die Stunde danach, daß es sich den Staat zu denken gibt, dann gibt dieser ihm nicht weniger Hohes zu denken als zu anderer Stunde der Gott, das Wollen entsprechend nicht weniger Tiefes als die Seele, der Mensch nicht weniger Reines als der Augenblick. Alles Zudenkende ist ihm in gleicher Begrenzung gegeben, genauer: gibt es sich in gleicher Begrenzung zu denken. Wie aber die Denkkunst in ihren selbstbestimmten Grenzen sich das Zudenkende vornimmt und vorgibt, kann keines ihrer Produkte von einer Wissenschaft kritisiert werden. Alles künstlerisch Gedachte ist als solches rein ihre Sache und kann in einem wissenschaftlichen Sinne weder wahr noch falsch sein. Der Gedanke Gottes, den sich das Denken auf Grund der Vorgegebenheit des alttestamentlichen Gottes zu denken gibt, um ihn zu denken, ist von der einschlägigen Offenbarungstheologie nicht zu kritisieren, sofern er von dem Vorgegebenen nichts ins Gegenteil verkehrt. Das im Denken vollends als geistiges Wesen entworfene Wesen Gottes gehört ihr nicht, ist ihr artfremd. Ganz entsprechend steht der Gedanke des Menschen keiner anthropologischen und soziologischen, der Gedanke der Seele keiner psychologischen, der Gedanke der Natur keiner naturwissenschaftlichen Kritik offen. Kunst zeigt in ihrer Sujetentschiedenheit vielfältig Interesse an Sachkunde. Maler haben oftmals genauere Kenntnisse in 242 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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Anatomie. Ein Musiker zeichnet Vogelstimmen auf, um sie eingehend zu analysieren. Ein Lyriker treibt linguistische Studien. Ein Schriftsteller macht sich akribisch mit dem vertraut, worüber er schreibt. Der Unterschied zum wissenschaftlichen und lebenspraktischen Interesse an der Sache bleibt zweifelsfrei erhalten, aber dem Sujet wird überzeugender der Charakter des eher Zufälligen, Auswechselbaren und bloß Anregenden genommen. Kein Wunder, daß auch traditionelle Denkkunst sich für die verschiedensten Gedanken als sachkundig erweist. Der Übergang bei »sujetgerechtem« Denken von Kunst zu Wissenschaft scheint fließend zu sein. Doch alle Sachkunde, die in der Noetik aufscheinen mag, zum Beispiel in der Noetik des Seins, des Gottes, des Menschen, der Seele, der Sprache, der Wahrheit und der Zeit, kann nicht verdecken, daß ihr in heutiger Sicht genau die nächste und wichtigste Sachkunde von Grund auf fehlt: die Sachkunde vom Denken. Nicht Neurophysiologie ist gemeint, keine empirische Psychologie des Denkens, überhaupt keine wissenschaftliche Sachkenntnis, sondern das Wissen vom Menschen, wie er leibt, lebt, handelt und eben denkt. Es geht um Wissen, das der Lebenspraxis des Menschen selbst entspringt. Genau den lebendigen und handelnden Menschen kennt und berücksichtigt die Denkkunsttradition nicht. Für sie ist das nicht unter Menschen lebende und handelnde, völlig isoliert vorgestellte Subjekt des Denkens und Sprechens, Lebens und Handelns, das die Vorstellung eines vollends vergeistigten solus ipse spiegelt, im Prinzip unhinterfragbar. Die Denkkunst der Tradition, selbst wenn sie menschliche Sozialität auf eine oblique Art mit im Blick hat, ist von Grund auf die Philosophie der einen Seele und Denkkraft, des einen Wesens und Bewußtseins, des einen Geistes und Willens, der einen Person und Existenz, mit einem Wort: sie ist A-solo-Philosophie. Das menschliche Einander in der Vielfalt seiner eigenheitlichen Inszenierungen hat für sie keinen Seins- und Wesensrang, gehört nicht dem Denken zu, das sich in größter Gewis243 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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senhaftigkeit zugunsten des Geistes um das bemüht, was zu einer Zeit und Stunde zu denken ist. Diese mangelnde »Sachkunde« garantiert bereits für sich allein, daß der Versuch der traditionellen Denkkunst, den Geist für den (geistigen) Menschen zu retten, zu intelligibilisieren und zu poetisieren, im ganzen der Vergangenheit angehört. Poetisierung ist nur glaubhaft (und bezaubernd), solange die Gewissenhaftigkeit der Kunst glaubwürdig ist. Wie aber soll sie das in Anbetracht der Denkkunst eines Platon und Heidegger in heutiger Sicht noch sein, wenn die Sache, die alle Noetik tragen und auf die sie in eigenster Sache zielen müßte, in ihrer Sachlichkeit höchst folgenreich verfehlt ist? Dieser kritische Hinweis ist nicht mehr als an- und vordeutend. Ein Urteil über die Möglichkeit von Noetik überhaupt und über neue Möglichkeiten von Noetik ist damit nicht gefällt. Das läge auch nicht im Interesse der vollzogenen Kritik und Umdeutung von Überlieferung. Nach der Kritik von Stücken traditioneller Ontologie als Ideologie und schlechter Utopie soll ja gerade an ihnen die Möglichkeit und Wirklichkeit der Denkkunst vorgeführt werden. Erst die vollständig ausgeführte Darstellung der traditionellen Noetik kann vor die Frage führen, wie es eigentlich um die Zukunft der Denkkunst, möglichenfalls einer anders gegründeten und anders zielenden, bestellt ist. Keine Kunst macht von Sachkunde im Interesse der Sachkundigkeit selbst Gebrauch, um etwa dem Fortschritt der Wissenschaft zu dienen. Auch die traditionelle Denkkunst verarbeitet Sachwissen allein im eigenen Interesse: im gewissenhaften geistigen Wesensentwurf. Das leitende Interesse ist bei aller Sujetentschiedenheit das Denken selbst. Was an einer zu denkenden Sache für die Denkkunst verbindlich zu denken ist, ist Sache der Selbstbestimmung des Denkens. In dieser liegt keine Willkür, da es ja das gestaltende Denken selbst ist, das sich im Gedachten zu finden sucht und sich aus ihm sein eigenes Gewissen macht. Wer am 17. Februar 1600 Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen verbrennt, kämpft nicht nur gegen wissen244 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Die Sujets der Denkkunst

schaftliche Rationalität, sondern versieht sich auch an der poetischen Kraft des Denkens und mißachtet das Selbstbestimmungsrecht des denkenden Geistes, das dieser sich durch die philosophischen Sachwalter des Gewissens seit alters nimmt. Entgegen anderslautenden Wünschen und Versprechen ändert Denken, wie es in der Tradition dem einigen Gewissen des Denkens folgt, nur eines an der Welt: es trägt neue Gedanken in sie hinein – in ihre geistige Öffentlichkeit. Wären es auch revolutionäre, dann gelänge ihnen im besten Falle, einmal mehr das Denken als Denken und die geistige Öffentlichkeit als solche zu revolutionieren. Überblickt man aus heutiger Sicht die traditionelle Denkkunst, dann sind alle ihre Sujets insofern gleichrangig, als keine Sujet-Entschiedenheit vor der anderen rangiert. Keines ihrer besonderen Engagements läßt ein in ihm gewissenhaft zustandegebrachtes Kunstwerk für kunstvoller erscheinen als ein anderes, das sich einem anders ausgerichteten Engagement verdankt. So sind auch alle Sujets für diese Denkkunst von gleicher Bedeutung, insofern alle geistigen Gestaltungen derselben tendenziell an die gleichen Grenzen des Tiefen, Hohen und Reinen zu gehen haben. Es fragt sich jedoch, ob nicht einige von ihnen dadurch hervorragen, daß ihre Gedanken durch alle anderen »hindurchgehen«. 24 Die Frage ist vergleichbar der an die »Sokratische Trias«. Die Ideen des Guten, Schönen und Gerechten nämlich, wie sie Platons Philosophieren bis in seine mittlere Zeit beherrschen, können auch so gesehen werden, daß sie zu jedem Wesen als solchem gehören. Zumindest für sie selbst untereinander ist – appellativ – leicht zu klären, daß doch wohl das Gerechte auch schön und gut ist, beim Schönen und Guten es sich entsprechend verhält. Fände sich Vergleichbares für Ontologie, wie sie dem Entwurf einer Noetik zugrunde liegt, dann wäre darin eine weitere Erklärung für die Tatsache zu sehen, daß der Denkkunst Zu diesem Gebrauch von »hindurchgehen« (διέρχεσθαι) siehe Platon, Sophistes 255e; 259a.

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Das Denken im Lichte der Denkkunst

alle Sujets gleichgewichtig sind. Die Erklärung lautete: weil sie alle vom Gleichen sind. Wem auch immer ein Wesen zugedacht werden müßte, das wäre bereits in einem grundlegenden Sinne als Wesen mit anderen Wesen gleich. Beim Versuch einer Antwort auf diese Frage ist daran zu denken, ob nicht alle »großen« Gedanken der Noetik auf gleiche Weise mitgegründet sind durch die Gedanken von Welt, Seele und Gott. Welt stellt für Denkkunst die Aufgabe dar, das All der Wesen (nicht etwa der Tatsachen und Dinge) zu denken. Jeder Wesensgedanke wäre insofern schon ein Weltgedanke, wäre als Wesensgedanke in der Wesenswelt zu Hause. Seele wieder gibt zu bedenken, ob nicht alle Wesen sich als Wesen in der Seele spiegeln. 25 Gott schließlich führt das Denken der Denkkunst, wie bereits angezeigt, darauf, in ihm das zu sehen, was einem jeden Wesen als Wesen den Rang verleiht und den Wesensgedanken seine Höhe ermessen läßt. Welt, Seele und Gott haben in dieser Sicht vereint die Funktion, das kunstschaffende Denken überhaupt einen Wesensgedanken als solchen durchführen zu lassen. Welt, Seele und Gott sind damit, für sich betrachtet, nicht »mehr« Wesen als irgendwelche anderen, aber sie tragen, anders als die anderen, auf durchgängige Weise dazu bei, Wesen als solche zu begründen und zu erfassen. Der Entwurf der traditionellen Noetik ließe auch weitergehende Überlegungen anstellen, ob etwa noch andere Wesen als die drei dazu taugen und dazu erforderlich sind, Wesen als Wesen zu konstituieren, ob am Ende alle Wesen auf irgendeine Weise einander als Wesen behilflich sind. 26 Aristoteles, De anima III 8 431b21. Die »großen« Gedanken der Noetik sind im übrigen von »kleinen« zu unterscheiden, die als Hilfsgedanken fungieren. Nicht wenige der Anstrengungen, die die Noetik begleiten, gelten der Operationalisierung und Systematisierung ihrer Gedanken. Logik zum Beispiel, die nicht poetisieren kann und will, ist für sie eine dienende Techne. Aber auch Überlegungen wie die, die der Immaterialität der Engel gewidmet sind, gehören nicht dem schaffenden Denken selbst zu. Darum sollte man aber doch die Frage, wieviel

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Die Stilprinzipien der Denkkunst

Allen Sujets der Denkkunst ist es gemeinsam, daß in der Entschiedenheit für diese und gerade diese Sache das Denken es selbst ist, das sich ihre Sachlichkeit zu denken gibt. Das Interesse an ihnen erfaßt so die ganze Weite des verantwortlich gestaltenden Geistes, verläßt aber mit ihnen niemals seine Öffentlichkeit. Das bedeutet, daß die künstlerische und menschliche Verantwortung, die das Denken zu je einer Zeit und Stunde übernimmt, glückendenfalls das geistige Verhältnis zu den Sachen neu gestaltet, nicht aber die Verhältnisse, in denen die Sachen sich ganz anderen menschlichen Erfahrens- und Verhaltensweisen erschließen. Schätzen wir traditionelle Denkkunst als Kunst hoch und eben voll als Kunst ein, dann kennen und respektieren wir bereits – ohne Vorwurf und Bedauern – ihre elementaren Grenzen der Praxis. Platons Gedanke der Weltseele und Heideggers Gedanke des Weltgevierts haben mit der Welt, in der Menschen leben und die sie im Gefolge wissenschaftlicher Erkenntnis verändern 27 , im besten Falle soviel zu tun wie der von Chardin gemalte Erdbeerhaufen 28 mit der menschlichen Ernährung.

4. Die Stilprinzipien der Denkkunst Der Gestaltungswille der traditionellen Denkkunst, herausgefordert durch die Unendlichkeit des Übergedanklichen und Vorgedanklichen, folgt Prinzipien. Es sind Gestaltungs- und Stilprinzipien, die, richtig befolgt, die gestaltgebende Grenzziehung des vertikal gespannten Gedankens garantieren. Über dieEngel auf einer Nadelspitze Platz finden, nicht für eine Laune leerer Spitzfindigkeit nehmen, sondern als Teil eines Versuchs werten, die intelligibilisierende und poetisierende Spekulation abzusichern und abzurunden. 27 Zum Verhältnis von Wissenschaft, Technik, Industrie und Markt siehe Rainer Marten, Der menschliche Mensch, S. 166 ff. 28 Jean Siméon Chardin (1699–1779), »Korb mit Walderdbeeren«, Privatbesitz, Paris.

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Das Denken im Lichte der Denkkunst

se Prinzipien verfügt der a solo denkende Geist nicht. Sie sind Organisationsformen seiner selbst. Scheint er sie auch als Instrumentalisierungen der Fassung von Unfaßlichem zu gebrauchen, so sind sie doch in Wahrheit Formen, die ihn zeigen, wie er sich in seinen Gedanken selbst spiegelt und abbildet. Anders verhält es sich mit Stilmitteln, die diesen Stilprinzipien je nach Besonderheit der Sache und der Gedankenführung angemessen sind. Über sie verfügt der Noetiker: er kann eher diese als jene verwenden und so seinen eigenen Stil ausbilden – nicht allgemein einen Denkstil, sondern einen Stil der Kunst: der Denkkunst. Vor allem vier bzw. sechs Stilprinzipien lassen sich in jedem vollends Gestalt gewordenen Gedanken der Denkkunst nachweisen. Es sind die Prinzipien, die in ihm herrschen, insofern er gestaltet ist und seine Grenzen gefunden hat. Sie unterscheiden sich dementsprechend in Bezug auf die besonderen Grenzziehungen. So herrschen in jedem traditionellen Kunstgedanken Totalität und Vollkommenheit, Identität und Gleichgewicht, Einheit und Diesheit. Totalität und Vollkommenheit geben dem hohen Gedanken als solchem Gestalt, Identität und Gleichgewicht dem tiefen, Einheit und Diesheit dem reinen. Da der reine Gedanke als solcher eher zu den Bedingungen der Gestaltung eines Gedankens gehört als daß er selber Gestalt zu erkennen gäbe, ist im folgenden allein von Totalität und Vollkommenheit, Identität und Gleichgewicht als dem zu handeln, worin sich der Gestaltungswille des a solo denkenden Geistes manifestiert.

4.1 Totalität Jedes Wesen, das die Denkkunst schaffend denkt, ist ein Ganzes. Kein gedachtes Wesen erlaubt als Wesen die Perspektive, in der es sich als Torso und als Offenes zeigen könnte. Ein Wesen dieser Art ist nur als Ganzes überhaupt Wesen. Menschliche Lebenspraxis kennt und braucht dagegen Offenes: das offene 248 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Die Stilprinzipien der Denkkunst

Leben, die offene Zukunft, aber auch schon: die offene Rechnung, den offenen Ausgang. Wissenschaft stellt Offenes zur Diskussion: den offenen Begriff (Wittgenstein kontra Frege), die offene Gesellschaft (Popper kontra die Ideologie des Autoritären). Die Ereignisse sind nicht abgeschlossen, die Tatsachen, die Handlungen nicht. Neue Wahrheiten werden zu den alten kommen oder alte an Wahrheit überholen. Die Geschichte wird weitergehen. Wirklichkeit, wie sie dem Menschen begegnet und wie er sich in ihr bewegt, ist kein geschlossenes System. Doch das ist eben auch nicht die Wirklichkeit, aus der und in die hinein Denkkunst wirkt. Macht sie sich an Gedanken wie denen des Lebens und der Geschichte, des Menschen und der Wahrheit zu schaffen, dann ist sie mit dem Geist bei geistigen Ganzheiten. Diese sind nicht vorgegeben. Ganzheit als Gestaltungsprinzip der Denkkunst ist eine der Formen, in denen der denkende Geist sich im Gedachten und dieses sich in ihm darstellt. Ganzheit, in dieser Wechselseitigkeit, ist ein konstitutives Moment traditioneller geistiger Kunstproduktion. Leben in seiner durch und durch geistigen Gestalt muß abgeschlossenes und vollendetes Leben sein. Wird schon ein bedeutsames Prädikat wie »glücklich« dem Leben nicht gegeben, solange es noch unterwegs ist 29 , so ist das Wesen des Lebens überhaupt nichts, was in den Lebzeiten daheim wäre. Es muß nicht nur seinen Anfang, sondern auch schon sein Ende haben, muß in den Tod gegangen oder in ein anderes Leben übergegangen sein. Leben, das noch am Leben ist und »übrige Zeiten« für sich hat, ist nicht denkwürdig, findet in der geistigen Gestalt des Lebens keine Berücksichtigung. 30 Mit der Geschichte verhält es sich nicht anders. Der poetisierende Gedanke der Geschichte Herodot, Historiae I, 32. Zu Heideggers Thematisierung des ganzen Lebens unter dem Titel eines »möglichen Ganzseinkönnens des Daseins« siehe Sein und Zeit, 39; 46 ff. Spricht Heidegger positiv von noch übrigen Zeiten (»Ausstand« usw.), dann sind nicht Lebenszeiten, sondern Wesenszeiten gemeint, die von unvergleichlicher Zeitlichkeit sind.

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Das Denken im Lichte der Denkkunst

geht von ihrem Anfang her so weit, daß er ihr Ende sieht und weiß (eine Sicht, gegen die sich Dilthey entschieden gewandt hat). Er fände sonst gar nicht zu seiner von klaren Grenzen umrissenen Wesensgestalt. Geschichte muß ihre Erfüllung, ihren Sinn zeigen, um als Wesen der Geschichte bestehen zu können. Vor den Augen des traditionellen Noetikers ist Geschichte immer schon im Ganzen abgelaufen. Was geschichtlich zerstreut war, ist wieder beisammen, was unvollendet und im Unwesen war, ist vollendet im Wesen. Auch bei Gedanken, die nichts zum Vorwurf haben, was seinem »Wesen« nach prozessual ist, herrscht der totalisierende Zug der Denkkunst. Da sind allerdings, damit die Gestalt im Ganzen erfaßt wird, nicht Anfang und Ende zu bestimmen. Anstatt im Wesensgedanken ein Ende zu setzen, um den wesenszerstörenden progressus ad infinitum abzuschneiden, gilt es in Anbetracht der Vielheit des »Erscheinenden« die Wesenssache »rund« zu machen: Aus der Vielheit von Einzelnem wird die Einheit des Wesens. So führt das hervorbringende Denken zwar auch zu einer vollendeten Gestalt des Menschen. Dieser Gedanke kann sogar mit dem Ende der Geschichte als dem Wesens»zeit«-punkt spielen, der dem Menschen die ihm zugedachte Wesensgestalt beschert, aber zunächst einmal geht der Wesensgedanke des Menschen vom einzelnen Menschen und den vielen Menschen zur Einheit des Menschen: zur Menschheit. In diesem Inbegriff des Menschen, wie er zum Beispiel unter dem Leitbegriff der Vernunft gebildet wird, fehlt vom Wesen des Menschen schlechterdings nichts. Menschheit – das ist die volle Gestalt des Wesens des Menschen, die jedem Menschen – nach alter ideologischer Manier – als Wesen und das heißt als wahrem menschlichen Menschen schon jetzt als »regulative Idee« zugedacht oder als »neuer Mensch« für das Ende der Zeiten versprochen ist. Beim Gedanken des Staates geht es nicht anders zu. Sein Wesen kann nur die Einheit des Staates sein – etwa im Sinne seiner reinen Vernunftform. Die Unterschiedenheit der Verfassungen 250 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Die Stilprinzipien der Denkkunst

und die Vielheit der geschichtlichen Manifestationen wird mit einem einzigen Schritt, dem Gedankenschritt ins Wesen, aufgehoben: in die Wesenseinheit. Der Staat, vom Noetiker gedacht, ist Staat als Totalität. In ihm ist alles erfaßt und »verstaatlicht«, was überhaupt nur zu einem Staat gehört. Dabei wird nicht gefragt, was auf Erden und unter Menschen alles staatlich ist. Ein Soll wird im Wesensgedanken gesetzt: was die Ganzheit des Gedankens alles in die Einheit wendet, bestimmt der Gedanke, und der bestimmt es eben nach dem Prinzip der Totalität. Der denkende Geist, der das Wesen des Staates denkt, muß sich in dem gedachten Staat in seiner eigenen Ganzheit und in seiner Art, totalisierend zu denken, wiederfinden. Er kann sich auf einen Wesensgedanken stets nur ganz verwenden: mit seiner ganzen Gewissenhaftigkeit und Endlichkeit. Auch ein auf den ersten Blick ganz anderer Gedanke, wie der der Wahrheit, paßt in dieses Wesensbild. Wahrheit kann ihrem Wesen nach keine Mannigfaltigkeit von Wahrheiten sein – von wissenschaftlichen Wahrheiten, Lebenswahrheiten und kleinen Wahrheiten des Alltags. Wahrheit, wie Menschen sie urteilend hervorbringen, ist unabsehbar. Demgegenüber geht der Wesensgedanke von Anfang an auf die ganze Wahrheit. 31 In ihrer Wesensgestalt ist Wahrheit unmöglich etwas anderes als ihr Ganzes. Das Wesensganze der Wahrheit entspricht dabei nicht etwa der alten Redeweise »ich werde die ganze Wahrheit sagen« (Ilias: πᾶσαν ἀλήθειαν καταλέξω), die sich aus der Lebenserfahrung versteht, daß allein dann, wenn das, was sich zugetragen hat, im Ganzen berichtet wird, der Blick freigegeben ist auf das, wie es auf Grund des Geschehenen nun wirklich steht. Das Wesen der Wahrheit beruft sich unmöglich auf das Perfekt von Parmenides, Fragment Β 1, 29: »der wohlgerundeten Wahrheit«. Die platonische Wahrheitsbestimmung im Sophistes (263b) und die aristotelische in Metaphysik IV 7 (1011b27) widersprechen dem nicht, da es sich an diesen Stellen nicht um die seinsphilosophische Konzeption von Wahrheit handelt.

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Das Denken im Lichte der Denkkunst

einzelnem Geschehen, notwendig aber auf alles, was – wesenhaft – ist. Wer das Wesen der Wahrheit gestaltet, bringt nichts weniger als die ganze – wesenhafte – Wirklichkeit in ihre Wesenseinheit. Damit zeigt sich, wie mit dem Stilprinzip der Totalität, je nach dem Sujet, bereits Finalität und Universalität gefordert sind. Alles Prozeßhafte wie Leben und Geschichte wird finalisiert, um der Wesensgestalt den Grundzug des Ganzen zu geben. Mitunter entdecken sich an dem final Gestalteten Stilelemente wie Utopie und Eschatologie. Utopie ist nicht, wie Bloch vorgibt, ein Erkenntnisprinzip, sondern ein Stilprinzip, genauer: ein Stilmittel, ein Stilelement. Wer die Utopie der Heimat entwirft 32 , gibt seiner Finalisierung eine besondere Note. Ist Utopie »konkret« gemeint, dann hat das den allein möglichen Sinn: zugunsten des Gedankens des Wesens der Geschichte werden auch individuelle Ereignisse und besondere Geschichtszeiten notiert, um damit die Finalisierung zu operationalisieren. Das »Konkrete« bedeutet dabei gleichviel wie die von Platon angeführten geschichtlichen Fakten, die der zeitlich-genetischen Darstellung eines in Wahrheit ungeschichtlichen vernünftigen Sachverhalts dienen. Wird Blochs Denken als künstlerisches gewertet, dann liegt in seinem Konzept von Heimat überhaupt kein real gemeintes Versprechen, kein Ausgriff auf lebenspraktisch mittelbar Bedeutsames, sondern allein die Anwendung eines besonderen Stilmittels. Auch die Finalisierung des Lebens bietet der Noetik diverse Möglichkeiten, dem Gestaltungsprinzip der Totalität Rechnung zu tragen. Die existenzphilosophische Dramatisierung von Endlichkeit und Sterblichkeit ist denkbar, die Bestimmung des Lebens als »Sein zum Tode«, die besagt, daß das Leben seinem Wesen nach nicht auf den Tod zugeht, sondern aus seinem Wesensvorgriff (»Vorweg«) vom wesenhaft verstandenen Tod her

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Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung Bd. 3, S. 1628.

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Die Stilprinzipien der Denkkunst

auf sich selbst zukommt (Wesen als Selbstverhältnis). 33 Aber auch die Akzentuierung des Übergangs in ein ganz anderes Leben ist möglich, etwa Platons Idee eines rein seelischen und eben leiblosen Lebens, die, wenn nicht an den »neuen Adam« 34 , dann doch an den »neuen Sokrates« denken läßt. 35 Das Leben hat eben seinem – gedachten – Wesen nach keine Zeiten, die für sich etwas bedeuten könnten (infantia, pueritia, adolescentia, …). Es geht stets um das ganze Leben, das sich teilelos (ἀμέριστος) in einer, und nur einer Gestalt zeigt. 36 Wie im Wesensdenken Leben und Geschichte zu finalisieren sind, damit sich der denkende Geist in ihren Ganzheiten spiegeln kann, so sind Mensch, Staat und Wahrheit zu universalisieren. Der Mensch muß, soll er als Vernunft gedacht werden, die Gestalt des vernünftigen Jedermann annehmen, der in sich (in seiner »Person«) die Menschheit repräsentiert. Seinem Kunstgedanken nach ist der Mensch als Mensch universell. Das ist kein Belieben, da er sonst einfach keine Gestalt hätte. Wird der Mensch als der Sterbliche gedacht, ergeht es ihm nicht anders. Nur die Art der Universalität wechselt. Wenn Heidegger vorzüglich im Wesen des Deutschen, wegen seiner (Wesens-)Verwandtschaft mit dem griechischen Wesen, das Wesen des Menschen repräsentiert sieht, denkt er folgerichtig an die Universalisierung des Deutschen, um damit die wesensbeherrschende Universalität der Vernunft abzulösen. 37 Auch Wahrheit kehrt sich ihrem Wesen nach in eins. Der Geist, der Wahrheit denkt, spiegelt sich nicht in Einzelnem und Besonderem, sondern im Universellen. Der Geist ist universell. Er ist nicht ubiquitär, wie der gedachte Gott, aber er ist in allem Siehe Martin Heidegger, Sein und Zeit, § 53. Epheserbrief 4, 24. 35 Platon, Phaidon 64a ff. 36 Zur ersten philosophischen Erörterung von ὅλον und πᾶν, ὅλον und μέρη siehe Platon, Theätet 204a–205a. 37 Siehe Auszüge aus Heideggers Vorlesung im Sommersemester 1933 bei Victor Farias, Heidegger et le nazisme, S. 143 ff. 33 34

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Das Denken im Lichte der Denkkunst

Wesen, da Wesen nur als gedachtes ist. Im Falle der gedachten ganzen Wahrheit ist er in allem Wesen die Wahrheit. Wer rein im Denken und rein für das Denken nach dem »Wesen der Wahrheit« fragt, kommt nicht von ungefähr auf die Antwort, sie sei die »Wahrheit des Wesens«. 38 Das ist genau die richtige Antwort, um die Ganzheit des Wesens mit der Wahrheit des Wesens zu verbinden. Ist an einem Wesen nichts mehr offen, weil es als Ganzes überhaupt nur Wesen ist, dann gibt das auch schon zu denken, daß an der Wahrheit des Wesens nichts mehr offen ist. Das Wesen, wie es zu denken ist, kennt nicht einmal Perspektiven, um in Bezug auf es verschiedene Wahrheiten möglich zu machen. Das ganze Wesen und die ganze Wahrheit sind geistig deckungsgleich. Der Staat, in seinem Wesen gedacht, erweist sich als ebensosehr universell. Philosophen bringt das irrtümlich auf die Idee, sich zugunsten eines Weltstaates – geistig – zu engagieren. Sie verwechseln dabei Universalität, wie sie als Wesensform dem Stilprinzip der Totalität zugehört, mit der – vermeintlich nötigen und möglichen – Form einer ganz anderen Art von Realität. Universalität gehört nicht anders als Finalität zum Stilprinzip der Totalität als einer bestimmten Organisationsform des Geistes. Der denkende Geist, so er vollendet-endlich ist, hat das Zudenkende, wo nötig, zu finalisieren, so er universell ist, entsprechend zu universalisieren. Beides ist je nachdem nötig, um sich im Gedachten wiederzufinden. Der geistige Staat ist universell: er wendet sich in eins: er sieht sich selbst gleich. Diese Universalität hat mit einem flächendeckenden Regiment überhaupt nichts zu tun. Der universelle Staat – das ist, sobald das Revolutionäre des Gedankens verblaßt, allein noch etwas für geistigkünstlerisches »Empfinden«. Bei Werken der Universalisierung wird im übrigen nicht selten das Stilmittel der Usurpation verwandt. Da wird dann ein Vermögen unter anderen und eine Eigenheit unter anderen 38

Martin Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, S. 96.

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zum allein Wesenhaften und Wesenrepräsentierenden erklärt: die Vernunft, das Deutsche, die Sterblichkeit. Totalität als Gestaltungsprinzip verlangt ihre »Opfer«. Muß notwendig ein Ganzes gestaltet werden, das ein und nur ein Aussehen hat, dann steckt in jedem zur Gestaltgebung verwandten Begriff notwendig schon der Ausschluß anderer Begriffe. Doch in diesem Ausschluß ist unter dem Aspekt des Totalitären als Kunstprinzip nicht mehr notwendig eine Diskriminierung zu sehen. Kunst, die in ihrem gewissenhaft Hervorgebrachten keinen Vorgriff auf neue lebenspraktische Wirklichkeit macht, und sich vom gegenwärtigen Stand der Dinge auch nicht ihre Freiheit nehmen läßt, ist keine Ideologie. Wird allerdings das deutsche Wesen als das allgemeine Wesen des Menschen gedacht, um als dessen allgemeines Wesen gedacht zu sein, dann mag zwar auch das ein Stück traditioneller Noetik sein, aber der Begriff des Skurrilen wird in diesem Fall nicht zureichen, das Befremdliche der diese Poetisierung tragenden menschlichen Entschiedenheit zu charakterisieren. Wer unter den Bedingungen vollendet-endlichen Denkens schaffend das Ganze denkt, arbeitet daran, das Wesen als etwas Hohes zu denken. Was auf dem Wege der Finalisierung und Universalisierung als Ganzes gedacht wird, erhält das Flair des Hohen: das vollendete Leben, die Heimkehr des geschichtlichen Menschen, der endgültige Staat, der im Deutschen wahrgewordene menschliche Mensch, die heile runde Wahrheit. Nicht selten kehrt da, auch und gerade für Philosophen, der Mensch zu den Göttern heim, wird der Staat zum »daseienden Gott«, Wahrheit zu etwas Göttlichem oder dem Gott gleich. Totalität als solche verhindert, daß der Gedanke ins Übergedankliche ausufert. Wesenhaftes Leben, das in seiner Entschlossenheit kreist, reines Vernunftleben, das sich im Jedermann vergleicht, ewiges Leben, Heimatleben, klassenlose Gesellschaft, deutsches Dasein, göttliche Wahrheit (Gott als Wahrheit) – das läßt sich alles zu denken geben, um Mitdenkende zu finden, die es mitdenken um es mitzudenken. Totalitäten gewähren auf diese Weise das 255 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Das Denken im Lichte der Denkkunst

Außerordentliche der Kunst: den menschlichen Geist rein bei sich selbst sein zu lassen. In dem, was er so als Wesen a solo (er-)denkt und poetisiert, sieht er sich selbst – ohne jeden Zug der Entfremdung. Das erfüllt, wie es auch der denkende Geist der Tradition im einzelnen wendet und ausführt, den Zweck, dem Stilprinzip der Totalität, wie es nicht verfügbar ist, Genüge zu tun.

4.2 Vollkommenheit Vollkommenheit ist ein alter Traum: die vollkommene Liebe, der vollkommene Mann, der perfekte Mord. Die Wirklichkeit sieht anders aus: »Nichts ist vollkommen!« seufzte der Fuchs 39

als er von einem Planeten hörte, auf dem es keine Jäger, aber auch keine Hühner gebe. Vollkommenheit ist aber nicht nur ein Tagtraum – gegen die Wirklichkeit des Tages. Es gibt sie »tatsächlich« – im Denken! Kein Gedanke traditioneller Denkkunst gelingt, in dem nicht das Stilprinzip der Vollkommenheit wirkt und sich gestaltend durchsetzt. Wo philosophisches Denken nicht – künstlerisch – rein bei sich selbst ist, wird Vollkommenheit als etwas gedacht, das nur im Unendlichen zu erreichen ist. So muß etwa – gedachterweise – eine Seele unendlich leben, um »endlich« vollkommen zu werden. Doch gleich Totalität braucht auch Vollkommenheit als Stilprinzip endlichen Denkens die Endlichkeit. Anders könnte sie ihren Teil beim Gestalten und Begrenzen des Gedankens überhaupt nicht leisten. Anstatt sich mit Unendlichkeit als Dimension von Wesensgewinn und Wesensverwirklichung abwegige Zeit- und Ideologieprobleme einzuhandeln, ist Denken, das sich auf künstlerisches Hervorbringen von Gedanken versteht, 39

Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz, S. 66.

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Die Stilprinzipien der Denkkunst

mit jedem gelungenen Gedanken bereits beim Vollkommenen. Jedes gedachte Wesen ist als Wesen vollkommen. Das Denken kann überhaupt nur einen Wesensgedanken fassen, indem es auch schon dem Stilprinzip der Vollkommenheit genügt. Indiz aber für Vollkommenheit als Stil- und Gestaltungsprinzip gelungener (hoher) Gedanken, die sich nicht ins Unendliche verlieren, ist – überraschenderweise – der Selbstgebrauch des Wesens. Jedes gedachte Wesen zeigt sich darin als vollendet gedacht und als vollkommenes Wesen, daß es sich selbst braucht. Es sieht dann seine Wesensnotwendigkeit und Wesenserfüllung (in der Sicht des Denkens) darin, von seinem eigenen Wesen für dasselbe und nur für es Gebrauch zu machen. Platon formuliert: »das Schöne selbst ist schön«. Das ist der vollendete Ausdruck des vollkommenen Wesens des Schönen. Aus dieser Wesensaussage ist dann freilich keine formale Tautologie herauszuhören. Sie darf auch nicht – vermeintlich kritisch – als »Selbstprädikation« und »Selbstpartizipation« gedeutet, sondern muß als exakte Formulierung des reinen Selbstgebrauchs verstanden werden: zum Schönen selbst und nur zu ihm gehört es und nur ihm gelingt es, sich als Schönes selbst in Gebrauch zu nehmen: sich schön sein zu lassen und als schön zu begreifen (vielleicht besser: als schön zu spiegeln) – ohne jede formale und sachliche Hilfe von außen, ohne sich auch selbst ein anderes zu sein. Das Schöne, das selbsthaft schön ist und sich in seinem Schönsein selbst braucht (uti et frui), ist kein Fall von Schön, ist überhaupt nichts, das aus der Unmittelbarkeit seines Selbstseins und seines Selbstgebrauchs herauszulösen wäre. Wirklich schön ist das gedachte vollkommene Schöne »nur« sich selbst. Das ist kein Narzißmus, weil es sich nicht in Fremdem, sondern in sich selbst spiegelt. Von dem, was jeweils ein gedachtes Wesen in seiner vollkommenen Art ist, weiß allein dies Wesen selbst gehörig Gebrauch zu machen. Darum sind Wesensgedanken auch notwendig im Urteil der Lebenspraxis und der Wissenschaften unbrauchbar. Die bloß gedachten vollkommenen Wesen sind als vollkommene darauf angelegt, rein 257 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Das Denken im Lichte der Denkkunst

an sich selbst Interesse zu nehmen: sich selbst nötig zu haben und sich für sich selbst fruchtbar zu machen. Die Teilhabe des welthaft Schönen am Schönen selbst ist wirklich ein dem Wesensgedanken nachgeordneter Gedanke, der zum Gedanken des Wesens selbst nichts beiträgt. Die schönen Dinge verdienen, gut platonisch geurteilt, in Wahrheit gar nicht ihren Namen. Wesensdenken, das sich als hervorbringendes versteht, denkt an das Wesen selbst. Das gedachte vollkommene Wesen nicht als Kunstwesen anzusehen, sondern, wie Platon wiederholt nahelegt, als Erkenntnismittel zu gebrauchen – das wirft nur Schatten auf das, was allein als Kunstwerk in seinem wahren Licht steht. Die Art des Wesens nämlich, rein sich selbst zu brauchen, ist genau die Organisationsform des a solo denkenden Geistes selbst: er denkt, um zu denken: er braucht sich: hat seine Notwendigkeit und seine Erfüllung an sich selbst: nimmt sich selbst für sich selbst in Gebrauch. Das ist eine völlig neue Deutung von »das Schöne selbst ist schön« 40 : das Schöne selbst, das selbst schön ist, ist das vollkommen Schöne, dem es nirgends und nie und auf keine Weise an Schönsein mangelt, weil und insofern es sich als Wesen braucht: sich selbst und nur sich selbst – und zwar so, daß sich in ihm das Denken als Denken selbst braucht. Es ist die Deutung des Schönen, wie es als Kunstwesen dem Stilprinzip der Vollkommenheit vollends entspricht. Selbstgebrauch, wie hier von Platon zu lernen ist, gehört notwendig zum geistig Vollkommenen, ist seine vollendete Darstellung. Der denkende Geist selbst, in seiner besten Art, ist Selbstgebrauch. Er erfaßt darum jeweils im gedachten Wesen, das sich in seiner Vollkommenheit selbst braucht, zugleich sich selbst. Geistige Vollkommenheit könnte nicht noch anders dargestellt werden. Selbstgebrauch ist ihr unmittelbarer Ausdruck, über den das traditionelle Kunstdenken nicht

Zu einem früheren Versuch siehe Rainer Marten, »Selbstprädikation« bei Platon.

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verfügt, sofern es ihn in seiner eigenen Vollkommenheit selber praktiziert. Selbstgebrauch als gelungene Darstellung der Vollkommenheit des Wesens läßt sich auch bei Kant belegen. Das Wesen, das Kant vor allem denkt, ist die Vernunft (sc. a solo). Ihr Wesen aber sieht er in ihrem vollkommenen Gebrauch. Kants Gedanke der Vervollkommnung des Vernunftgebrauchs taugt nicht dazu, wie man nur zu gerne meint, Vernunft besser in den Dienst des Lebens zu stellen, sondern ist gedacht, um gedacht zu sein. Er zeigt, wie Vernunft auf vollkommene Weise an sich selbst Interesse nimmt. Die sogenannte universalistische Ethik ist schon auf Grund ihres leitenden Vernunftinteresses überhaupt nicht als praktikable Ethik möglich. 41 »Kategorischer Imperativ«, »guter Wille«, »höchstes Gut« – alle bedeutsamen Gedanken der praktischen Philosophie Kants verstehen sich weit besser als Kunstgedanken: sie sind gedacht, um gedacht zu sein, sie geben zu denken (neu zu denken). Wissenschaftliche und lebenspraktische Bedeutung haben sie, so gesehen, keine, so sehr sie auch Zeugnis menschlicher Entschiedenheit sind. Kants Prüfungsfrage für den vollkommen Vernünftigen: »Was wäre, wenn das jeder wollte?« geht selbst in ihrer vermeintlich realistischen Version »Was wäre, wenn das jeder täte?« von einem prinzipiell unrealistischen und lebensunfähigen Jedermann aus. Diese Fragen sind allein als traditionelle Kunstfragen zu verstehen: sie schaffen den vollkommen Vernünftigen, sie sollen ihn jedenfalls schaffen, und es bleibt nur zu fragen, ob durch sie wirklich das Kunstwerk die ihm nötige vollkommene Gestalt gewinnt: den Selbstgebrauch. Kant hat mit dem »Bedürfnis der Vernunft«, ohne sich dessen bewußt zu werden, das Kunstinteresse des einsam-reinen Geistes entdeckt: denkend braucht er sich selbst. Sein Entwurf der praktischen Vernunft, auf den Begriff gebracht, lautet: »Die Ver-

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Siehe ders., Der menschliche Mensch, S. 87 ff.

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nunft ist vernünftig«. 42 Daß Vernunft selbst vernünftig ist (daß es etwa vernünftig ist, vernünftig zu sein), ist als Kunstgedanke völlig analog Platons »das Schöne selbst ist schön« zu verstehen. Auch bei Kant ist nicht Selbstprädikation als Einwand vorzubringen. Anstatt im Gedanken der Vernunft, die selbst vernünftig ist, einen fundamentalen formalen Lapsus zu erkennen (was in wissenschaftlicher Sicht unumgänglich wäre), ist vielmehr im Lichte der Denkkunst zu sehen, wie da Vernunft nurmehr sich selbst braucht. Autonomie – nicht wie der Manchesterliberalismus, sondern wie Kant sie denkt, ist ein künstlerisches Stilmittel und Stilelement, das dem Stilprinzip der Vollkommenheit zur Realisierung dient, und ist nicht etwa ein lebenspraktischer Vollzug. Im »wirklichen« Leben nämlich dient jegliche Vernunft dem Leben – zum Guten oder Schlechten sowohl für das eigene Leben als auch für das Leben Anderer. Wem immer sie einwohnen mag: am Ende gar den Wenigen auf der sechsten und letzten Entwicklungsstufe des Menschen, wie sie US-amerikanische Psychologen zählen und wie sie selbst noch ein Jürgen Habermas mitzählt – Vernunft ist und bleibt unvermögend, aus sich selbst erste Handlungsziele zu setzen und damit praktisch gesetzgebend zu sein. Wer das glaubt, läßt sich allein durch eine Selbstverklärung der schönen und introvertierten Vernunft blenden. Sollte Kants praktisch gesetzgebende Vernunft nicht nur menschlich entschieden, sondern als lebenspraktisch umsetzbar gemeint sein, dann bedeutete das ein grundlegendes Selbstmißverständnis seiner Denkkunst. Kants Gedanke der Autonomie ist, im rechten Lichte besehen, die rein geistige Aufkündigung der Relevanz menschlicher Praxis zugunsten der selbstgenügsamen Relevanz des reinen Denkens. Der denkende Geist, der in seinen Gedanken gewissenhaft bei sich selbst und allein auf sich selbst eingestellt sein will, trifft eine gute Wahl, wenn er die 42

Siehe ders., Leben und Vernunft.

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Notwendigkeit, die er sich selbst ist, als Autonomie deutet. Das eigene Gesetz, das er sich in seiner endlichen Vollkommenheit selbst gibt, und dem er sich mit derselben Eigenleistung auch schon selbst unterwirft, lautet: Selbstgebrauch. Für das vollkommene Wesen der Vernunft besagt das: das Vernünftige ist vernünftig – Vernunft ist bei sich selbst und für sich selbst das, was sie selbst ist und vermag. Der Gedanke, daß Vernunft selbst vernünftig ist, kann als Widerschein des Gedankens gesehen werden, daß Gott selbst göttlich ist. Auf diesen Begriff ist der Gedanke zu bringen, mit dem Anselm von Canterbury Gott neu zu denken gibt. Was dieser gläubige Denker irrtümlich und mit überforderter Logik als Beweis der Existenz Gottes versteht 43 , zeigt in der Perspektive der Denkkunst den vollständig ausgeführten Gedanken, wie Gott sich selbst braucht: er ist sich selbst notwendig und macht – selbsterfüllt – Gebrauch von sich selbst für sich selbst. Den Gedanken Gottes als den des sich selbst brauchenden Wesens führt Anselm als die Vereinigung der Gedanken eines ens perfectissimum und eines ens necessarium aus. Zeigen Hume und Kant, daß Gott nicht als ens necessarium zu beweisen ist, weil seine Negation zu keinem Widerspruch führt, dann versehen sich beide – verständlicherweise – daran, daß Gott als ens necessarium rein Frage des Gestaltungsprinzips des Gedankens Gottes ist. Als vollkommenes Wesen gedacht, »praktiziert« er im Selbstgebrauch seine eigene Notwendigkeit. Zum Selbstgebrauch und in ihm ist Gott sich selbst notwendig. Das hat so zu »sein«, weil es so zu denken ist. Es geht in Wahrheit nicht um den Beweis, daß Gott notwendigerweise existiert und für die Menschen da ist, sondern um seine gedachte Wesensvollkommenheit. Gott ist – das heißt im Sinne der Denkkunst: Gott ist sein Wesen: er ist göttlich: er braucht notwendig sich selbst. Der Gedanke Gottes »unterliegt« damit keineswegs dem Gedanken der Notwendigkeit. Gott ist an sich nicht notwendig. Wohl aber 43

Siehe ders., Existieren, Wahrsein und Verstehen, S. 185–202.

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stellt er, erst einmal als Sujet gewählt und kunstschaffend gedacht, ein Wesensverhältnis dar, das sich selbst notwendig ist. Wie in jedem Wesensgedanken kann auch in Anselms Gottesgedanken das Wesen in seiner Vollkommenheit ausschließlich das sein, was es als Wesen selbst ist. Gott dient so zur Benennung eines Wesens, das zu seiner vollkommenen Gestaltung als Selbstgebrauch gedacht wird und zwar als vollkommener. Der Gottesgedanke ist damit der Gedanke des Wesens als solchen. In ihm wird Vollkommenheit als Gestaltungsprinzip der Wesen selbst gedacht. Die Vereinigung der Gedanken eines ens perfectissimum und eines ens necessarium, wie Anselm sie durchführt, ist hervorragend geeignet, um die Art und Weise, wie Gott – sozusagen als Wesen der Wesen – sich selbst und nur sich selbst braucht, überzeugend darzustellen. In seiner außerordentlichen Art, Wesen und das heißt göttlich zu sein, ist Gott eigens sein eigener Grund, seine eigene Notwendigkeit und seine eigene Vollkommenheit. Genau so entspricht der Gottesgedanke dem denkenden Geist selbst. Gott ist göttlich – das ist vom vollendet-endlichen Geist her gedacht und auf ihn zu, wie er auf vollendete Weise sein vollkommenes Wesen ist. Kein Beweis wird geführt und erbracht, auch kein Nachweis und Erweis, sondern Selbstspiegelung hat statt – gebrochen in der differenzierten Darstellung reinen Selbstgebrauchs. Dem Sichverlieren ins Übergedankliche (Anselm entwirft es poetisierend als »maius quam cogitari possit«) ist klar eine Grenze gesetzt. Der Wesensgedanke Gottes als der sich selbst brauchenden Vollkommenheit und Notwendigkeit ist, in Anbetracht seiner Fassung von an sich Unfaßlichem, klar als ein hoher zu erkennen. In der Tradition von »das Schöne ist schön«, »Gott ist göttlich«, »das Vernünftige ist vernünftig« steht auch Heideggers »das Sein ist (west)« (Es gibt: Es gibt). Der Gedanke des Seins als der des Wesens des Seins sieht in dem, was da als Wesen vollkommen ist, den reinen Selbstgebrauch. Als Wesen gedacht, ist das Sein sein eigenes Verhältnis. Es braucht das Menschenwesen allein insofern, als es sich in ihm und durch es selbst 262 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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braucht. Wie bei Aristoteles im Grunde nicht zu rätseln ist, was denn Gott eigentlich denkt, wenn er sich selbst denkt (dieser Gedanke des vollkommenen Wesens des Denkens entwirft damit ja allein den reinen Selbstgebrauch des Denkens), so ist auch bei Heidegger nicht lange zu fragen, wozu denn eigentlich das Sein den Menschen braucht. Für Sein als vollkommenes Wesen kann das – gedachte – Menschenwesen keine andere Funktion haben, als den Selbstgebrauch dieses wesenden Wesens zu bewerkstelligen. Das Denken, um zu denken, schafft stets, wenn es gelingt, den vollkommenen Gedanken, das heißt den Gedanken des vollkommenen Wesens. Heideggers spekulatives Seinsdenken zeigt, im Lichte traditioneller Denkkunst besehen, wie hervorragend der Gedanke des invertierten Verhältnisses von Mensch und Sein dafür geeignet ist. Spätestens mit dem Stilprinzip der Vollkommenheit, wie es den Selbstgebrauch des gedachten Wesens bestimmt, wird traditionelle Denkkunst mit traditioneller Seh- und Malkunst unvergleichbar. Menschliche Entschiedenheit und Gewissenhaftigkeit geben sich in der Denkkunst immer deutlicher als Organisationsweisen des einsamen und reinen Geistes in seiner menschlichen Abwegigkeit zu erkennen. Diese ist nicht korrigierbar, solange A-solo-Philosophie als solche einen in der Sache des Menschlichen nicht tragfähigen Ansatz des Denkens garantiert.

4.3 Identität Der a solo denkende Geist hat auch die Organisationsform der Identität. Um überhaupt zu denken, muß er »dasselbe« denken. Ohne Selbigkeit des Gedankens wäre er vollends grundlos und anarchisch. Platons »stets gemäß demselben sich auf gleiche Weise verhalten« (ἀεὶ κατὰ ταὐτὰ ὡσαύτως ἔχειν) formuliert die Forderung des Denkens an das Zudenkende. Verhielte sich das, was der denkende Geist sich zu denken gibt, nicht entsprechend, wäre Denken unmöglich. Diese Forderung wirft nicht 263 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Das Denken im Lichte der Denkkunst

nur ein Licht auf die nötige Seinsart des Zudenkenden, sondern auch auf die des Denkens selbst. »Dasselbe« zu denken verlangt »dasselbe« Denken. In jedem Denken, das einen Wesensgedanken bildet und festhält, entdeckt der denkende Geist zugleich seine eigene Gestalt. Denkt er ein bestimmtes Selbes als Selbes, dann aktualisiert er seine eigene Selbigkeit: im Denken desselben selbst derselbe zu sein. Jedes reine Gebilde des kunstschaffenden Geistes stellt die Entsprechung der Identität des Gedankens und der des denkenden Geistes dar. Mit dem Schönen selbst, wie Platon es seinsphilosophisch gestaltet zeigt, ist nicht nur das Beispiel eines Wesens gegeben, das als zu denkendes und gedachtes eben dasselbe ist, sondern auch das Denken in seiner entsprechenden Selbigkeit gedeutet. Die Art und Weise allerdings, dem Gestaltungsprinzip von Gedanken und zugleich den Organisationsformen des denkenden Geistes gerecht zu werden, stellt sich bei ihm differenziert dar. Die einfachste Form ist die reine Wesensemphase: »selbst«. Der Gedanke des Schönen selbst setzt das Schöne in den Wesensstand und damit auch schon in den Stand der Selbigkeit. Mit »selbst« wird seinsphilosophisch die »Selbstsprechung« (wie Freisprechung) des Gedankens durchgeführt: das gedachte Wesen des Schönen ist es selbst: es ist bleibend, gleichbleibend, ewig und selbig. Ontologische Identität ist weder zeitindifferent noch zeitbedingt. In ihr liegt der Anspruch auf »stets« und »ewig«. Allein in der Bejahung dieses Anspruchs sieht das endliche Denken, wie es traditionell agiert, eine Grenze gegen das Grundlose und Anarchische gezogen, das ihm als Bewegtes, Fließendes, Veränderliches, Vergängliches, Nichtidentifizierbares und Widersprüchliches gegenübertritt. Für Halt und Einhalt, wie sie ihm seine Grenzen gewähren und gebieten, braucht es, um sie ziehen zu können, den Gedanken der Ewigkeit. Der besagt nicht mehr und nicht weniger, als daß die Gedanken des Wesensdenkens stets in ihrem Wesen dieselben sind und bleiben. Platon beläßt es nicht bei der emphatischen Wesenssetzung, die Identität in der Form von »das Schöne ist es selbst« zu ver264 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Die Stilprinzipien der Denkkunst

stehen gibt. Immer wieder führt er den seinsphilosophischen Gedanken diskursiv und das heißt dialektisch durch. Hierbei hat Identität die Form »das Schöne ist das Schöne selbst«. Was der Name »schön« anspricht, angefangen mit schönen Menschen, endet dialektisch damit, daß nur das Schöne selbst wahrhaft schön zu nennen ist. Was schön ist, wird auf diese Weise mit dem Wesen des Schönen »identifiziert«. Dialektik, die bei Platon kein Manierismus ist, führt dabei zugleich den denkenden Geist selbst auf seine eigene Selbigkeit. Auch er kann sich bei den schönen Menschen nicht schon als der finden, der wirklich das Schöne denkt. Er denkt bei ihnen noch gar nicht, sondern hält sich mit ihnen Sinnliches vor die Augen, die dafür nicht geeignet sind. Er kann und will allein im Geistigen selbst verfahren. Der Weg zur – wesenhaften – Sache und zu sich selbst ist für den denkenden Geist derselbe: dialektisch beim Schönen selbst angelangt, das allein »dasselbe« Schöne ist, ist er auch selbst erst derselbe. Seinsphilosophische Identität in ihrer Unmittelbarkeit schließlich bedeutet die Selbstspiegelung des denkenden Geistes. Das meint nicht, der Geist sei die »Idee der Ideen« und damit alles zu erkennende Wirkliche der Möglichkeit nach. 44 Um die Zusammengehörigkeit von Denken und Gedachtem als eine sachliche zu betonen, ist Platons Gedanke der Verwandtschaft besser geeignet. 45 Ist nur »Gleiches durch Gleiches« zu erkennen, dann wird dennoch nicht durchgängig im Sinne der Sokratischen Trias des Guten, Schönen und Gerechten verfahren: nur die schöne Seele erblickt das Wesen des Schönen; allein der gerechte Mensch erkennt das Gerechte selbst; einzig der Tüchtige und Gute weiß um die Idee des Guten. Haben alle Formen der Identität, die das Wesensdenken ausbildet, in der unmittelbaren Identität von Denken und Gedachtem ihren Grund, dann kann

44 45

Aristoteles, De anima III 8 432a2. Συγγενής, συμφυής, siehe unter anderem Siebter Brief 344a.

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das ja nicht bedeuten, daß, werden Dinge bedacht, der Geist selbst »verdinglicht« sein müßte, um auch in diesem Feld seine Wesensabsichten zu realisieren. Der Geist denkt im Wesen des Dinges nichts Dingliches, sondern rein Geistiges – zum Beispiel die geistige Aufgabe, dem Wesen und das heißt dem Geistigen des Dinges zu entsprechen. Selbst wenn der Gedanke praktikabel wäre und die Hand seinetwegen in Aktion träte, handelte es sich, soweit der Geist reicht, rein um die geistige Einstellung. Selbstspiegelung, von der der Entwurf einer Noetik hier zu handeln hat, stellt keinen Idealismus vor, für den man nach Beweisen zu suchen hätte. 46 Die These, der a solo denkende Geist könne nur denken, was vom selben Geist ist, läßt sich von ihm ohne sacrificium intellectus mitdenken. Bemüht sich das Denken schaffend nicht allein um das Gute, Schöne und Gerechte, um Sein, Identität und Differenz, sondern auch um Welt, Seele und Gott, sogar um Denken, Sprechen und Wollen, ja selbst um Leben, Lieben, Wohnen und Weinschenken, dann ist bei der Identität von Denken und Gedachtem stets auf das Geistwesen zu sehen, das sich das kunstschaffende Denken im Gedachten als das bildet, worin es selber zu sich selbst findet. Kein Noetiker schätzt seine Sachlichkeit geringer ein als Heideggers wesenhaft Denkender, der allein darum das Wesen der Sprache zu denken vermag, weil er selbst dem Sein entspricht. Alles Wesensdenken ist Identitätsdenken. Soweit sich das nachdenken läßt, gibt es keine bloße Formalität zu verstehen. Der Geist denkt als derselbe dasselbe, weil er nur so sachlich und künstlerisch zu denken vermag. Seine Gedanken, wie sie die Gestalt der Identität zeigen, stellen die gelungene Grenzziehung gegen das Anarchische und die gelungene Selbstspiegelung des Geistes dar.

Man erinnere Kants entsprechenden Versuch in der Kritik der reinen Vernunft.

46

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4.4 Gleichgewicht Jedes bloß gedachte Wesen ist im Gleichgewicht. Die Ausbalanciertheit gehört zu seinem Wesensein und Gedachtsein. Alle Gewichtungen und Spannungen, wie sie im bloß zu denkenden Wesen als solchem herrschen, sind, sobald sein Gedanke zureichend gefaßt ist, ausgewogen und ausgeglichen. Hegels Gedanke des »spekulativen Satzes« 47 ist vorzüglich geeignet, die Gleichgewichtigkeit, die in einem jeden Wesensgedanken gesetzt ist, zu demonstrieren. Wird zum Beispiel das Sprachwesen als Seinswesen gedacht, dann fährt derselbe Gedanke notwendig fort, umgekehrt auch das Seinswesen als Sprachwesen zu denken. 48 Jeder reine Gedanke eines Wesens, der es selbst und doch wörtlich als ein anderes denkt, erfährt in diesem »Anderen« das, was Hegel den »Gegenstoß« nennt. Im Falle der Sprache besagt das: wird sie in ihrem Wesen als Sache des Seins gedacht, dann verliert sich der Gedanke der Sprache nicht in dem des Seins, sondern kommt gerade in diesem auf sich selbst als denselben zurück, der »dasselbe« denkt. Hegel selbst verfährt nicht anders, wenn er Gott als das Sein zu denken gibt und im selben Gedanken das Sein als Gott. Für den Wesenssatz, der die geistige Bestimmung eines bloß gedachten Wesens festhält, haben Subjekt und Prädikat gleichgewichtig zu sein. Was in der Wesensbestimmung (λόγος τῆς οὐσίας) als Subjekt und Prädikat auseinandertritt, findet eben dadurch zusammen. Das gilt für jede Wesensbestimmung der Denkkunst. Wer das Menschenwesen als das vernünftige oder das sterbliche Wesen

Siehe G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, »Vorrede«, S. 49 ff. So bestimmt Heidegger die Sprache als »das Haus des Seins« (unter anderem Aus einem Gespräch von der Sprache, S. 114), denkt sie aber dabei als »das vom Sein ereignete (…) Haus des Seins« (Über den Humanismus, S. 21). Vgl. ders., Einführung in die Metaphysik, S. 131: »Sprache als Wortwerden des Seins«; Logos, S. 228: »zur Sprache bringen« als »Sein in das Wesen der Sprache bringen«. 47 48

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auslegt, hat auch im Wesen des Vernünftigen und des Sterblichen den Menschen zu denken. Für gewöhnlich ist das Subjekt von Aussagen unbestritten; allein die Zuordnung des Prädikats führt zu Wahr oder Falsch. In Wesenssätzen gibt es aber überhaupt nichts von vergleichbarer Art, das wahr oder falsch sein könnte. Bereits ihre Subjekte sind nicht als Wirkliches gemeint, das als solches lebenspraktisch und wissenschaftlich zu beurteilen wäre. Sprache, Gott und Mensch haben, sofern frei als Wesen gedacht, kein fundamentum in re. Das Wesensdenken muß eigens Sorge tragen, für diese Wesen ja keinen Stand auf wesensfremdem Terrain zu suchen. Deshalb kommt es auf das Gleichgewicht an, das in den Wesen dank ihrer spekulativen (Gleich-)Setzung herrscht. Nur dadurch halten sie sich als solche in der Schwebe, ohne falsch zu gründen oder sich im Grundlosen zu verlieren. »Theätet sitzt« ist, wie Platon vermerkt, eine Aussage über Theätet und nicht über den sitzenden Theätet. 49 Das ist wissenschaftlich konsensfähig (Russell, Searle). Bei den Wesenssätzen verhält es sich aber gänzlich anders. Die Sprache als das »Haus des Seins« zu bestimmen, bedeutet ebenso eine »Aussage« über die Sprache wie über das Sein und beider Verhältnis. Spekulative Wesenssätze dürfen demnach überhaupt nicht im Sinne von Aussagesätzen verstanden werden. Sie haben allein die Funktion, das bloß gedachte Wesen als solches gleichgewichtig auseinanderzusetzen. Nur wenn es mit sich selbst im Gleichgewicht ist, kann es als ganzes, vollkommenes und identisches in der Schwebe gehalten werden und in Abgrenzung zum Grundlosen und Anarchischen bestehen. Gleichgewicht ist die Art, wie ein Wesensgedanke sich selbst Halt gewährt und Einhalt gebietet. Schwebend-gleichgewichtig, im doppelt gewendeten Verständnis des Wesens-»ist« des spekulativen Satzes, gibt Wesen sich als in sich selbst gegründet und von sich selbst beherrscht. Jeder »Gegenstoß« im spekulativen Wesenssatz zeigt einen 49

Sophistes 263a.

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Wendepunkt und eine Entscheidung an: weg vom Maßlosen und hin zum Maß. Gleichgewichtigkeit des Wesens bedeutet, daß jedes Wesen als solches ein Maß hat. Das Maß (μέτρον) des Wesens ist aber das Angemessene (μέτριον) und damit das Recht- und Richtmäßige. 50 Richtmaß für das bloß gedachte Wesen ist jedoch unmöglich etwas anderes als das Wesen selbst: das Wesen als solches, das heißt seine sachliche Totalität, Vollkommenheit, Identität und Gleichgewichtigkeit je als solche. Gleichgewichtigkeit, wie sie ein Wesen mit als solches prägt, ist etwas anderes als die Ausbalancierung der für ein Wesen konstitutiven Teile. In den Idealkonzepten des dreiständigen Staates und der dreiteiligen Seele zum Beispiel geht es maßgeblich um die Angemessenheit eines jeden Teils, in der sich die Ausgewogenheit (ἐν δίκῃ εἶναι) des Ganzen spiegelt. 51 Auch Platons Gedanke der Weltseele im Timaios schafft ein vollendet austariertes Gebilde, ebenso Heideggers Gedanke des Weltgevierts im Vortrag Das Ding. Diese Ausgewogenheit von nichtidentischen Teilen 52 untereinander gehört bei den angeführten Beispielen zur vollkommenen Gestaltung des bloß Gedachten, gibt aber nicht schon den Blick auf das Gleichgewicht frei, das unmittelbar jedes Wesen als solches prägt. Darum ist auch Dialektik, wie sie die Frage nach dem Wesen in der Schwebe hält (»ewiges Gespräch«), kein Denken, das der Balance des Wesens als solchem entspricht. Gleichgewicht als Stilprinzip des gestaltenden Denkens findet sich in einem Gedanken realisiert, wenn er das Wesen rein als das denkt, was es ist: zum Beispiel die Sprache als Sprache. Wie in Heideggers Gedanken des Verhältnisses von Mensch und Sein das Menschen- und das Seinswesen nicht als das Eine und Andere auseinandertreten, so verhält es sich auch bei seinem Zu μέτριον im Zusammenhang mit πρέπον und καίριον siehe Platon, Philebos 66a; Politikos 284e. 51 Platon, Politeia. Es ist auch an Gedanken wie den der dialektischen Versöhnung der Familie in Hegels Phänomenologie des Geistes zu denken. 52 Zur Nichtidentität von Wesensteilen siehe Platon, Politeia IV 436a–c. 50

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Gedanken der Sprache. Gleich jedem bloß gedachten Wesen hat auch das Wesen der Sprache rein mit sich selbst im Gleichgewicht zu sein. Das bedeutet: Sprache und (ihr) Wesen sind in Balance darzustellen. Die treffendste Formulierung dafür wäre: »das Wesen der Sprache ist die Sprache des Wesens«. Entsprechend ist auch der Mensch nicht als etwas »Anderes« zu denken, wenn es um sein vernünftiges oder sterbliches Wesen geht. Wie immer sein Wesen bloß gedachterweise bestimmt werden mag – die treffendste Formulierung seines Wesensgleichgewichts lautete in jedem Fall: »das Wesen des Menschen ist das Menschliche des Wesens«. Entsprechend ist vom Wesen der Welt gleichgewichtig zu denken, es sei die Welt des Wesens, vom Wesen des Schönen wieder, es sei die Schönheit des Wesens und vom Wesen des Dinges, es sei das Dingende und Bedingende des Wesens. 53 Nicht jedes Wesen ist deswegen freilich als Wesen ein Dingwesen, nicht jedes ein Menschenwesen. Was zum Wesen als Wesen gehört, ist nicht an den vier Stilprinzipien in ihrer formalen Allgemeinheit festzumachen, sondern bestimmt sich jeweils aus der Besonderheit des bloß zu denkenden Wesens. Für das schaffende Denken a solo gibt es Wesen nicht als schlechthin Allgemeines, sondern allein in der Allgemeinheit des Besonderen und Jegearteten. Wesen ist als solches jeweils sachliches Wesen. Das Stil- und Gestaltungsprinzip des Gleichgewichts ist nur in der je besonderen Sachheit des Zudenkenden zu realisieren. Am Menschen verdeutlicht, besagt dieses merkwürdige Wesensverständnis der Denkkunst, daß es zum Menschenwesen als Wesen gehört, Menschenwesen zu sein. Das eben ist das unmittelbare Gleichgewicht, das Selbsthalt und Selbsteinhalt gewährleistet. Nur so ist »konkret« zu verstehen, daß zum Wesen als Wesen Gleichgewicht gehört. Im Gedanken des wesenhaften Gleichgewichts nimmt das kunstschaffende Denken an sich selbst Maß. Wesensdenken ist nur solange mit sich im Gleichgewicht, als es sich in dem des 53

Siehe Martin Heidegger, Das Ding, S. 179.

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Wesens spiegelt, wie auch dieses nur das seine gefunden hat, wenn es vom in sich gleichgewichtigen Denken gestaltet ist. Wesensdenken erfordert stets die schwebende Ausgewogenheit seiner selbst. Gibt der denkende Geist ein Wesen – neu – zu denken, dann versetzt er dem Zudenkenden gleichsam einen Stoß. Doch der Gegenstoß ist schon vorbedacht. Die Neuigkeit des Gedachten geht keinesfalls über die Grenzen hinaus, die mit dem Wesen gesetzt sind. Was als prinzipielle Erweiterung auftritt, entdeckt sich im Fortgang als die genau entsprechende prinzipielle Verengung. Das Wesen der Sache kommt im spekulativen Satz zurück als Sache des Wesens. Gleichgewicht, wie es prinzipiell zur Gestaltung von Wesensgedanken gehört, gibt damit deutlich zu erkennen, wie eng und präzise die Grenzen sind, die sich Denkkunst da selber zieht, wenn sie, sachlich orientiert, selber etwas neu zu denken gibt.

5. Vom Geist der Denkkunst 5.1 Der wahrheitsliebende Geist Der Philosoph, wie Platon ihn reflektiert, liebt die Wahrheit. Er liebt sie so, wie der Weinliebhaber den Wein liebt: er liebt jede Wahrheit. 54 Auf den ersten kritischen Blick scheint es sich nur um eine unglückliche Liebe handeln zu können. Wie nämlich soll beim Wesensdenken, in dem der Geist das Geistige des Seins und sich selbst zum Maßstab nimmt, überhaupt Wahrheit ins Spiel kommen? Doch im Entwurf einer Noetik sieht sich die Sache anders an. Das schaffende Denken manifestiert den wahrheitsliebenden als den wahrheitsschaffenden Geist. Alle – in ihrer Gestaltung gelungenen – Gedanken der Denkkunst sind wahr. Um das zu erklären und verständlich zu machen, ist daran zu erinnern, daß und inwiefern nach guter onto54

Platon, Politeia V 475a–e.

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logischer Tradition Urteilswahrheit auf »Seins«-Wahrheit gründet. Platon führt im Phaidon aus 55, daß jeder Satz, der mit dem zugrunde gelegten und als stärksten beurteilten Satz zusammenzustimmen (συμφωνεῖν) scheint, als wahr zu setzen sei. Übereinstimmung ist demnach eine notwendige, aber keine zureichende Bedingung von Wahrheit. Das, womit das – wahre – Urteil übereinstimmt, muß auf eigene Weise wahr sein. Als stärkster Satz gilt nämlich derjenige, der bislang jedem Falsifizierungsversuch standgehalten hat. Im X. Buch der Politeia stellt Platon drei Klassen von Wahrheit vor. Die dritte und »entfernteste« Wahrheit ist die des Kunstwerks. Der gemalte Tisch etwa ist nur wahr, wenn er den vom Handwerker gefertigten Tisch richtig abbildet und wenn dieser zuvor eine treffende Nachbildung der Idee des Tisches ist. 56 Auch hier gilt Übereinstimmung (in diesem Falle bildhafte) als Wahrheitsbedingung, nicht als Wahrheitsgrund. Im Unterschied zum Phaidon ist aber nicht an einen ersten wahren Satz, sondern an eine erste wahre Sache gedacht: an wahres Sein. Das trifft genau das Wahrheitsverständnis, wie es bei Platon entwickelt ist: die Wahrheit des – übereinstimmenden – Satzes und das heißt des – ausgesagten – Sachverhalts setzt die Wahrheit der ihn tragenden und in der Aussage angesprochenen und beurteilten Sache voraus. Daß damit »wahr« nicht zu einem sogenannten Dingprädikat wird, zu einer Bestimmung von etwas, das vom sprechenden und denkenden Menschen unabhängig existiert, liegt auf der Hand: das wahre Sein ist jeweils gedachtes und vom Denken getroffenes Sein. Wie nicht der existierende Sachverhalt selbst »objektiv« und das heißt sachverhaltskonform sein kann, sondern allein das Urteil, das den bestehenden Sachverhalt wiedergibt, so kann auch die Sache, die den Sachverhalt trägt, nicht selbst und an sich sachkonform sein. »Ob55 56

100a. X 596a; 599b.

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jektivität« ist in diesem Falle vielmehr Sache des unmittelbaren, des treffenden und erfassenden (»berührenden«) Denkens. Daß es gerade auch die Seinswahrheit nicht ohne den Denkenden und Sprechenden gibt, hat unmißverständlich Aristoteles aufgezeigt. »Wahr« als Bestimmung des Seins läßt sich im Denken Platons und Aristoteles’ nicht in einer »Bedeutung« nachweisen, die das Sein als etwas auszeichnete, das »von sich her« ist – etwa im Sinne von »unverborgen«. »Wahr« bleibt da stets ein Verhältnisprädikat. Nur ist es im Falle der Seinswahrheit nicht Prädikat des ausgesagten und beurteilten Sachverhalts, sondern einfach der Beziehung von Denken und gedachtem (»geschautem«, nicht beurteiltem) Sein: Das (geistige) Berühren nämlich und (treffende) namentliche Ansprechen ist wahr. 57

Die Urteilswahrheit ist demnach genauer die Sachverhaltswahrheit: daß die Sache sich so und nicht anders verhält, daß der Sachverhalt so und nicht anders existiert. Spricht Aristoteles davon, diese Wahrheit sei nicht in den Dingen, sondern im urteilenden Denken (ἐν διανοίᾳ, διανοίας τι πάθος) 58 , dann wird sie damit nicht etwa für etwas bloß Subjektives angesehen. Sie ist nur im urteilenden Denken, sofern dies den existierenden Sachverhalt trifft. Die Seinswahrheit ist entsprechend eine Sachbezugswahrheit. Auch sie ist nicht in den Dingen (ἐν τοῖς πράγμασιν), sofern sie an sich sind, sondern in den Dingen, sofern sie getroffen und berührt (erfaßt) sind. Das Prädikat »wahr« als Urteilsprädikat bejaht, daß es sich so verhält, wie das Urteil es darstellt. 59 Das Prädikat »wahr« als Seinsprädikat Aristoteles, Metaphysik IX 10 1051b24: τὸ μὲν θιγεῖν καὶ φάναι ἀληθές. Da es sich um geistiges Berühren und Treffen handelt, ist auch von einem Erfassen zu sprechen. Das namentliche Ansprechen und Aussprechen (von Aussagen ist besser nicht zu reden), ist in Abhebung zur affirmativen Aussage zu verstehen. 58 Aristoteles, ebd. VI 4 1027b27; 1028a1. 59 Zum Problem von »wahr« als performativ und konstatierend siehe Rai57

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Das Denken im Lichte der Denkkunst

bejaht, daß das Denken sein Gedachtes und die Nennung ihr Genanntes trifft; es bejaht den Sachbezug als gelungen. Wer meint, Platons wahres Sein sei, im Unterschied zum aristotelischen, doch an sich wahr, ohne eigens gedacht und angesprochen zu sein, sieht sich mit Platons Überzeugung konfrontiert, die dem Sein »selbst« bereits Geist zuspricht. 60 Auch Platons Konzeption des Guten, das dem jegearteten wesenhaften Sein sein Sein, seine Erkennbarkeit und seine Wahrheit garantiert, verweist deutlich auf »Seins«-Wahrheit als Sachbezugswahrheit. 61 So muß also in einem Satz überhaupt erst einmal das Subjekt wahr und getroffen sein, im Falle eines seinsphilosophischen Urteils das geistig gemeinte Wesen. 62 Ist zum Beispiel Mond nicht als Subjekt eines Satzes wahr und getroffen, dann kann es auch nicht – gegebenenfalls – wahr sein, daß er abnimmt. Wahrheit in dem erläuternden Sinne, daß etwas in Wahrheit so ist und sich so verhält (und eben nicht anders), basiert auf einer Wahrheit, die genauer besagt, daß etwas in Wahrheit da ist und sich in Wahrheit da aufhält (und eben nicht dort). Der Urteilswahrheit des Soseins und Sichsoverhaltens vorauf liegt die Wahrheit des Daseins und Sichdaaufhaltens. Diese stellt kein zutreffendes dianoetisches Urteil dar, dem die Falschheit entgegengesetzt wäre, sondern die intuitive Erfassung der Sache, die ihr Gegenteil in der Verfehlung der Sache hat. Der Seinswahrheit steht so keine Falschheit gegenüber, da hier eben nur zu treffen oder aber nicht zu treffen ist. 63 Russells Auffassung, daß in jedem Urteil eine Existenzbehauptung eingeschlossen ner Marten, Existieren, Wahrsein und Verstehen, die Auseinandersetzung mit P. F. Strawson (S. 286–299). 60 Sophistes 249a. 61 Politeia VI 508e; 509b. 62 Siehe Aristoteles, Metaphysik IX 10 1051b17–32: ἀσύνθετα als unverbundene Satzsubjekte, μὴ συνθεταὶ οὐσίαι als unverbunden gedachte Wesen. Vgl. oben S. 34 Anm. 53. 63 Aristoteles, ebd.

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Vom Geist der Denkkunst

ist 64 , steht unbewußt in der Tradition dieser Wahrheitsauffassung. Wird vom Mond gesagt, er nehme ab, dann wird er zunächst einmal geistig erfaßt und namentlich angesprochen: als existent. Seinswahrheit ist nicht »tiefer« als Urteilswahrheit, diese nicht »eigentlicher« oder genauer Wahrheit als jene. Beide Wahrheiten gehören zusammen, wenn auf hinreichend reflektierte Weise von Wahrheit die Rede sein soll. 65 Die Wahrheitsfrage, die sich an die Denkkunst richtet, ist darum in sich eine doppelte: 1) Hält sich das von ihr Gedachte wirklich dort auf, wohin es der denkende Geist setzt?, das fragt: sind die von ihr gedachten Wesen wirklich als Wesen getroffen und erfaßt? 2) Verhält es sich mit dem gedachten Wesen wirklich so, wie es der denkende Geist darstellt? Der erste Teil dieser Wahrheitsfrage ist klar zu bejahen: alles Zudenkende wird von der Denkkunst, so ihr Denken trifft, im Wesensbereich getroffen und angetroffen. Die gedachten Wesen sind, falls getroffen, wahre Wesen und das heißt als Wesen wirklich. Ob Mensch oder Sprache, Sein oder Freiheit, Welt oder Gott – bei den Denkkünstlern der Tradition existiert das alles als wahres Wesen. 66 Sprachwesen und Freiheitswesen sind auf geistige Weise so wahr wie der Mond für die Liebenden und die Astronauten wahr ist. Das aber ist von erheblicher Bedeutung: an der Seinswahrheit des in der traditionellen Denkkunst Gedachten ist überhaupt nicht zu zweifeln. Wesensgedanken sind als solche treffend. Cusanus hat den Gott, der gedacht ist um

Zur kritischen Diskussion dieser Auffassung siehe Rainer Marten, ebd., S. 86 ff. 65 Es ist erstaunlich, daß diese relativ einfache Klärung in den Bemühungen dieses Jahrhunderts um ein philosophisch brauchbares Wahrheitsverständnis (von Tarski bis Strawson, von Heidegger bis Habermas) nicht erreicht wird. 66 Zur Rechtfertigung dieser Redeweise von Existenz siehe Rainer Marten, ebd. 64

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Das Denken im Lichte der Denkkunst

gedacht zu sein, klar als Wesen erfaßt. Wie er ihn nämlich als wesensexistent trifft, verliert er sich nicht im Anarchischen und auch nicht im Übergedanklichen. Innerhalb der Grenzen, die sich der Geist als endlicher selbst setzt, um Wesen als Wesen zu denken, kommt der von Cusanus gedachte Gott in klarer Gestaltung vor. Das Wesen Gottes ist als gedachtes darum nicht problematischer als das gedachte Menschenwesen. Die Existenz des Menschen als Wesen ist umgekehrt nicht sicherer und gewisser als die des Gotteswesens. Der zweite Teil der Wahrheitsfrage, die sich an die Denkkunst richtet, ist schwieriger zu beantworten. Ist zum Beispiel Gott wirklich das Wesen, als das es Cusanus darstellt, oder hat Anselm das Wesen Gottes besser getroffen? Um mit der so gestellten Frage nicht auf die falsche Spur zu geraten, muß man sich erneut klarmachen, daß Gedanken der Denkkunst wie der des Gotteswesens nicht dadurch ihre wahre Gestalt gewinnen, daß sie eine vorgegebene und für das Denken schlechtweg maßgebliche Wirklichkeit nachbilden. Läßt sich das Denken Gottes auf Vorgegebenes ein, etwa auf die Schöpferkraft Gottes, wie sie im Mythos und im Glauben als eine reale bezeugt ist (nämlich als real erzählt und geglaubt), dann verlangt die Entschiedenheit, das und genau das sich zu denken zu geben, eine geistige Gestaltung von göttlicher Schöpferkraft. Wie das Denken diese denkt und nach welchen Gestaltungsprinzipien sie das Verlangte ausführt, ist allein Sache seines Gewissens und seines Interesses am – künstlerischen – menschlichen Geist und seiner Öffentlichkeit. Die Wahrheitsfrage im Sinne der Urteilswahrheit hat darum für die Denkkunst allein modifiziert Bedeutung. Was das Denken sich in ihrem Sinne als Maßstab eines gelungenen Wesensgedankens selbst vorgibt, ist das Wesen in seiner vollendeten Wesensgestalt. Ist Gott als – geistig getroffenes – Wesen wahr, dann ist noch nicht notwendig seine Wesensdarstellung und -gestaltung wahr. Das Kriterium für die (Wesens-)Wahrheit des gestalteten Wesens ist nur zum einen das, was wegen der 276 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Vom Geist der Denkkunst

Entschiedenheit und Bestimmtheit des Sujets »urteilend« getroffen sein muß. Das geistige Interesse an dieser Wahrheit verlangt darüber hinaus, daß dabei der a solo denkende Geist sich selbst im Gedachten spiegelt. Insofern ist das Wahrheitskriterium für Wesensgedanken zum andern und in eins traditionell in der Einheit der vier Stil- und Gestaltungsprinzipien gegeben. Ist der vorgegebene Schöpfergott als »existierendes« göttliches Schöpferwesen und dabei in seiner Wesensganzheit, Wesensvollkommenheit, Wesensidentität und Wesensgleichgewichtigkeit getroffen, dann ist insofern seine Darstellung eine wahre und mit dem zu denkenden Wesen übereinstimmende. Zur Wahrheit der – getroffenen – Existenz gesellt sich die Wahrheit des – getroffenen – Sichverhaltens. Während erstere in der seinsphilosophischen Tradition nicht in Frage zu stellen ist, müssen bei letzterer prinzipiell Zweifel angemeldet werden. Man hat unter anderem zu fragen, ob die Ganzheit wirklich getroffen, der Selbstgebrauch wirklich hinlänglich gestaltet ist. Ein falscher Gedanke Gottes beträfe als solcher dann nicht seine Wesensexistenz, sondern die künstlerische Darstellung des Gotteswesens. Nicht zureichend gestaltete und erst recht verunstaltete Wesen wären keine wahren Gedanken. Die Frage der Darstellungswahrheit eines Werkes der Denkkunst ist verknüpft mit der Frage der Kunst selbst. Jede Darstellung eines Wesens, an der nichts Wesenhaftes fehlt, verdient das Prädikat »gelungen« (sc. als Werk der Kunst). Wesensgedanken können je nach Autor und Zeit eher bunt und umwegig oder eher streng und bündig ausgeführt sein, Formalismus oder Emotionalität kann an ihnen vorherrschen – soweit sie jeweils ein Wesen als Wesen erfassen, kann keiner gelungener als der andere sein. Der Weltgedanke Platons im Vergleich mit dem Weltgedanken Heideggers gibt nicht Anlaß sich zu fragen, welcher von beiden, soweit »wesentlich« gedacht, das größere Kunstwerk sei, auch der Gottesgedanke Anselms im Vergleich mit dem von Cusanus nicht. Solange in einem Gedanken Wahrheit in der Doppelung von Seinswahrheit und Darstellungs277 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Das Denken im Lichte der Denkkunst

wahrheit gegeben ist, wird es sich bei den Werken der Denkkunst in einem überprüfbaren Sinne stets um Wahres handeln: um gelungene Kunst.

5.2 Der ernste Geist Es ist nicht zu übersehen, daß sich Noetiker ihrer Sache zumeist mit einem außerordentlichen Ernst annehmen. Dabei ist es nicht der »Ernst des Lebens«, der sich in ihrem Tun spiegelt, nicht der von Leben und Lieben, Leben und Arbeiten, Leben und Verantworten, Leben und Leiden, Leben und Sterben. Keine Notzeiten des Lebens wie Kriegs-, Hunger- und Pestzeiten, Leidens- und Trauerzeiten verhelfen dem schaffenden Denken zu seinem Ernst. Von den Wechselfällen des Lebens, die von der comédie humaine bis zur tragédie humaine reichen, zeigt es sich nicht betroffen. Wo Seinsdenken sich einzig der Rettung des wahren und wesentlichen menschlichen Geistes verschreibt und sich des »Unheilen« und »Wesenslosen« seiner Zeit allein kritisch annimmt, um es für den Gedanken des Heilen und Wesenhaften einzuspannen, sieht es ganz danach aus, als hätte es das Geschäft des Übergeschichtlichen und Endgültigen zu besorgen und nichts sonst. Sollte es sich etwa dabei Künsten verwandt zeigen, wenn diese in Krisenzeiten sich von zeitlichem Geschehen unbeeindruckt geben und ihren eigenen Ernst bewahren? Die Oktoberrevolution ist soeben ausgebrochen, aber das Tschechowstück am Künstlertheater in Moskau wird zuendegespielt. 67 Ein Bote mit neuen Nachrichten von der Revolution kommt in Rilkes Münchner Wohnung, aber der Dichter unterbricht seinen Vortrag nicht. 68 Bonnard liegt auf den Tod, aber er bittet seinen Neffen Charles Terasse, ein Stück Grün, das ihn auf

67 68

Paul Celan mündlich. Der Rilkeforscher Heinrich W. Petzet mündlich.

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seinem letzten Bild (»L’amandier en fleurs«) »geniert«, in Gelb zu ändern. 69 Ist das etwa verwandt mit Heideggers Ernst, der in dem 1947 veröffentlichten Humanismusbrief kein Wort über Auschwitz verliert, sondern sich ganz dem Entwurf des wahren Menschenwesens widmet, weil offensichtlich der wahre Seinsgeist des Menschen geschickhaft bestimmt ist, über den Ungeist des Holocaust (für Heidegger nicht mehr und nicht weniger als ein Moment des Ungeistes neuzeitlich-technischer Erdverwüstung) 70 wie von selbst zu triumphieren? Seinsphilosophie hat ihren Ernst (σπουδή) früh als einen pädagogischen und psychagogischen reflektiert. Der besorgte Eifer, mit dem sie die Wahrheit ihrer Gedanken vertritt, wendet sich an die Öffentlichkeit der geistig Zubildenden und Zulenkenden. Dabei sieht es ganz danach aus, als wolle sie mit der Gestaltung wahrer Gedanken auch schon die ihr anvertrauten Seelen bzw. Geister selbst gestalten. Der Ernst der Sache wird zum Ernst der öffentlichen Vertretung der Sache. Er gehört dann zur Inszenierung des Philosophen, der den Anspruch erhebt, für geistige Wahrheit öffentlich die erzieherische Verantwortung zu tragen. Ernst als herrschende pädagogisch-psychagogische Gebärde ist, wie Platon bemerkt, der Ernst des seinsphilosophischen Logos. Der Vorgang, in dem der Geist sich als Geist dem Geist mitteilt, verdient demnach den ganzen Ernst und Eifer des Denk69 Jean Clair, Bonnard, Paris 1975, vorletzte Seite (ohne Seitenzählung). Zum Vergleich des dort abgebildeten letzten Zustandes mit dem vorletzten Zustand siehe VERVE Vol. V, 17/18, Paris 1947, S. 11 (ohne Seitenzählung). 70 Schirmacher zitiert aus dem unveröffentlichten Vortrag Das Ge-stell (Wolfgang Schirmacher, Technik und Gelassenheit, S. 25): »Ackerbau ist jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das Selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern, das Selbe wie die Blockade und die Aushungerung von Ländern, das Selbe wie die Fabrikation von Wasserstoffbomben.« Dieses schrecklich vereinfachende und einfach erschreckende Wort, dessen Ohrenzeuge der Verf. 1949 in Bremen war, zeigt den selbsterklärten wahren Geist, wie ihm aller Ungeist eins wird.

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Das Denken im Lichte der Denkkunst

künstlers. Geistiges Mitteilen mittels des Logos vergleicht Platon dabei dem Säen: Geistiges wird in die dafür geeignete Seele eingesät. Mit dem Bild des Säens ist der Eros ins Blickfeld gerückt: der »logische« Ernst des Noetikers ist, in seinem Wirkverhältnis gedeutet, der erotische. Der inszenierte Ernst der philosophischen Rede ist auch schon der Ernst des geistigen Zeugungsvorganges selbst. Worum es dem Seinsphilosophen aber bei dieser ernsten Sache eigentlich geht, ist, wie Platon zu verstehen gibt, die Unsterblichkeit. 71 Der philosophische Ernst, der den philosophischen Eros als solchen auszeichnet, ist auf die Unsterblichkeit des Geistigen gerichtet. Was einem Papst das Naturgesetz des Lebens ist, ist Philosophen das Geistgesetz des Seins: das geistige Sein hat als erstes und letztes Gesetz in sich, als Sein bewahrt und erhalten zu werden. 72 Geht es dem a solo denkenden Geist rein um sich selbst, dann ist er um nichts anderes als um sein Unsterblichsein (ἀθανατίζειν) bemüht. 73 Ernst ist ein rhetorisches Mittel (Demosthenes). Ab einem gewissen Grad öffentlicher Erheiterung muß der Redner konträr zum Publikum die andere Gestimmtheit zeigen, um es neu zu bannen. Wird es zu ernst, hat er es umgekehrt mit eigener Heiterkeit zu blamieren. Doch philosophischer Ernst, obwohl eigens inszeniert, ist kaum als ein bloß rhetorisch aufgesetzter zu deuten. Nach Platon ist es nicht das handwerkliche Gewissen, sondern die Unsterblichkeit des Geistes selbst, was die philosophische Sache so ernst macht. Auch Heideggers Ernst hat ja nichts anderes im Sinn als die Rettung des erneuerten und in Siehe unter anderem Phaidros 276a; Symposion 206b ff. Martin Heidegger, Deutsche Lehrer und Kameraden!, S. 13: »jener Urforderung alles Seins, daß es sein eigenes Wesen behalte und rette«, »jenes Wesensgesetz menschlichen Seins«. Vgl. oben S. 181. 73 Aristoteles, Nikomachische Ethik X 7 1177b33. In der Entwicklung des Gedankens, der in der Aufforderung gipfelt, sich um die Unsterblichkeit zu bemühen, betont Aristoteles wiederholt den Ernst (σπουδή vs. παιδιά) der Eudaimonie und der Theorie. Er teilt insofern Platons Auffassung der letzten Bestimmung des seinsphilosophischen Ernstes. 71 72

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seine »Letze« gekommenen abendländischen Geistes und damit »höchster Möglichkeiten abendländischen Daseins«. 74 Denkkunst als geistige Überlebenskunst – vielleicht erklärt es sich so, daß der zur Schau gestellte sachliche Ernst nicht selten – in Selbstverzauberung – als ein heiliger auftritt.

5.3 Der bejahende Geist Ontologie, die allen Ernstes dem Leben des Geistes und seiner Wahrheit dient, ist affirmativ. Ihrer wahren künstlerischen Absicht nach fragt, zweifelt, kritisiert und widerlegt sie nicht, sondern gestaltet sie Gedanken, gibt sie neu zu denken. Denkkunst ist als Kunst affirmativ. Jedes gedachte Wesen spiegelt ihren bejahenden Geist. Das Affirmative der Kunst, das sich allein auf die Tatsache beruft, daß etwas geschaffen und gestaltet wird, hat einen positivistischen Zug. 75 Ontologie, wie sie im Entwurf einer Noetik begegnet, gibt den ihr eigenen bejahenden Geist noch gar nicht zu erkennen, wenn auf das Faktum der gedanklichen Setzung von Sein und Wesen gesehen wird. Das ist die nur äußerliche Sicht ihrer affirmativen Art. Wird dagegen von ihrer eigenen Position aus geurteilt (ganz so als gäbe es jemanden, der sie einnimmt), dann versteht sich für sie selbst ihr Bejahen überhaupt nicht aus dem Setzen als solchem, sondern vielmehr daraus, daß sie ihre Wesen rein gedachterweise setzt. Denkkunst ist nicht eigentlich bejahend, weil sie Sein und Wesen denkt, sondern weil sie bewußt zum Gedachtsein von Sein und Wesen steht. Sie bejaht sich selbst als Kunst. Damit bekennt sie sich auch schon dazu, l’art pour l’art zu sein: sie denkt, um zu denken. Martin Heidegger, Wege zur Aussprache, S. 135. Die positivistische (Fehl-) Sicht des Affirmativen der Kunst führt zur Ablehnung der bejahenden Art der Kunst überhaupt. Siehe Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 10.

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Das Denken im Lichte der Denkkunst

Allein das einige künstlerische Gewissen bewegt sie zu ihrem Gestalten. Das ist die einzige Art, ihrer Selbstbestimmung nachzukommen: denken, um zu retten, denken, um zu intelligibilisieren, denken, um zu poetisieren. Ihr Selbstbekenntnis und zugleich öffentliches Bekenntnis, »bloß« zu denken, versteht sie nicht als fatalistisches Eingeständnis, wenig oder eigentlich gar nichts zu vermögen. Es ist allerdings fraglich, ob sie sich darum schon selbstbewußt und entschieden dazu versteht, für sich nur eine der Möglichkeiten wahrzunehmen, menschlich verantwortlich zu handeln, oder ob sie auch als Kunst nicht aus der Selbstverstiegenheit zu befreien ist, sich für das einzig »eigentliche Handeln« anzusehen. Das insgeheime Bekenntnis traditioneller Denkkunst, bloß zu denken, um zu denken, enthält keine Geringschätzung von Kunst. Wer nach ihrem Verständnis nicht bloß denkt, sondern eben auch bloß denkt, um zu denken, tut damit zwar nichts Höheres, aber auch nichts Geringeres als andere, die Vernunft erfolgreich in den Dienst des Lebens stellen. Ihr geht es allein darum, eine eigene Möglichkeit des Denkens wahrzunehmen, die allerdings für dasselbe von hervorragender Bedeutung ist: zu denken, um sich des Denkens selbst anzunehmen. Die Selbsteinschätzung der Denkkunst, bloß zu denken, um zu denken, wird darum nicht bei der Ansicht stehenbleiben, bloß Kunst zu sein. Weil es sich um eine ganz eigene Möglichkeit handelt, sich auf dieses Vermögen des Menschen einzulassen, das er mit keinem anderen lebendigen Wesen teilt, wird sie davon sprechen, daß es sogar Kunst ist, was sie betreibt. Damit steht sie auch schon zu der weiteren Selbsteinschätzung, daß es nicht etwa bloß ein Mensch ist, der da denkt, sondern daß es genau der Mensch und einzig der Mensch ist, der dieses Vermögen überhaupt und im eigenen Falle auch noch nach der Art der Kunst gebraucht. Denkt kunstschaffendes Denken das Denken Gottes, das alles menschliche Denken als bloß menschliches erscheinen läßt, dann weiß die Denkkunst, daß es der Mensch ist, der sogar dieses – poetisierend – zu denken vermag. Vermutlich wird sie 282 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Vom Geist der Denkkunst

diese Selbsterkenntnis immer wieder einmal dazu führen, die Kunst des Denkens für das höchste Vermögen des Denkens anzusehen. Philosophie hat von früh an das zweckfreie Denken, das als solches ein Gut an sich ist, für den höchsten Gebrauch dieses Vermögens eingeschätzt. 76 Es kann in der Tat etwas »Erhebendes« an sich haben, Vermögen, die in biologischer Sicht der Lebensbewältigung dienen, nicht in ihrer dienenden Funktion, sondern um ihrer selbst willen gebraucht zu sehen. Dieser zweckfreie Gebrauch von Vermögen gilt als der eigentlich freie, weswegen auch allein diejenigen Menschen für frei anzusehen wären, die ihre Vermögen entsprechend zu gebrauchen wüßten. Doch abgesehen von der Frage, wieviele Freie dieser Art sich eine Gesellschaft leisten kann, stellt Freiheit in dieser Sicht auch selbst ein Problem. Wird nämlich nur darauf geachtet, ein Vermögen rein um seines Gebrauchs willen zu aktualisieren, dann kommt solipsistischer Freiheitsgebrauch mit entsprechend solipsistischer Glückseligkeit in den Blick. 77 Erst im Entwurf einer Noetik ändert sich die Sicht. Kunst teilt sich als solche mit. Der Noetiker nimmt sich nicht persönlich seines eigenen Denkvermögens an, sondern verwaltet »nach bestem Wissen und Gewissen« das Denkvermögen. Er handelt stets zugleich für alle, die ein Interesse daran haben mitzudenken und das, was neu zu denken gegeben ist, nachzudenken. In der Bejahung der Noetik als Kunst ist die Öffentlichkeit dieser Kunst bereits mitbejaht. Kunst hat die Neigung, sich als Metier zu verselbständigen. Das Sichdaraufverstehen, wie etwas gemacht wird, die handwerkliche Gewissenhaftigkeit im einzelnen, kann dazu führen, daß sich – für den Augenblick – die menschliche Vorentschiedenheit im Gewissen der Kunst nicht mehr zu Wort meldet. Selbstbejahung von Kunst, die wirklich Kunst trifft, kann niemals einseitig die des Metiers sein. Für die Selbstbejahung der 76 77

Siehe unter anderem Aristoteles, Metaphysik I 2 982b24–27. Siehe ders., Nikomachische Ethik X.

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Das Denken im Lichte der Denkkunst

Denkkunst, wie sie gut traditionell als Seinsphilosophie Wesensgedanken gestaltet, bedeutet das, alles Geistige zu bejahen, das dem einigen künstlerischen Gewissen nach je zu seiner Zeit und Stunde zu gestalten ist. Werden Stücke der überlieferten Seinsphilosophie als Kunst gedeutet, dann ist die Öffentlichkeit der neu entdeckten und schon lang praktizierten Kunst auch davon zu überzeugen, daß in der Bejahung des Geistigen eigentlich keine Verneinung des Sinnlichen liegt, wie umgekehrt die abschätzige Unterstellung grundlos ist, die Denkkunst betreibe allein Geistiges und damit im Grunde Nichtiges, ja nichts. Dennoch läßt schon die Geringschätzung des Geistigen, wie sie in menschlichen Öffentlichkeiten nicht selten anzutreffen ist, die künstlerische Aufwertung des Geistigen durch die Denkkunst verständlich erscheinen. Geistige Person und geistige Existenz als Inhaber des Vermögens und Gewissens der Denkkunst werden, um ihre Herkunft zu poetisieren, von traditioneller Philosophie gern für das Göttliche des Menschen erklärt. Sie gibt damit zu erkennen, daß sie den Menschen nicht als zum Geist verurteilt und in die Geistigkeit »geworfen« sieht. Die Selbstpoetisierung des Geistes als Geschenk und Gut vom »Höchsten« demonstriert deutlich die selbstbewußte Art dieser philosophischen Selbstbejahung. Damit ist aber auch die Grenze erreicht, bis zu der allenfalls noch das Affirmative der alten Denkkunst aus heutiger Sicht zu teilen ist. Was der sich selbst bejahende Geist der überlieferten Philosophie, auch gerade als künstlerischer gesehen, allein bejaht, ist der wahre Geist, der als solcher davon lebt, anderen Geist als unwahr, geist- und wesenlos zu diffamieren. Sowenig ein Gemälde den Vorwurf zu sehen gibt, »die Anderen« hätten keine Augen, und sowenig in Musikstücken der Vorwurf zu hören ist, »die Anderen« hätten keine Ohren, so deutlich spricht aus jeder Selbstgestaltung des Geistes, »die Anderen« hätten keinen Geist. Sieht man auf die leitende Vorstellung, die der Geist von sich selbst als Geist hat, dann betreibt Philosophie ihre Diffa284 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Vom Geist der Denkkunst

mierung rundum nicht einmal in verwerflicher Absicht, sondern aus sachlichem Zwang. Der philosophisch-künstlerische Geist, wie er a solo agiert, um den Geist als Geist zu retten, führt zu einer prospektiven Selbstspiegelung, die jede geistigen Äußerung (Vernunftgebrauch usw.), die nicht um des Geistes und nur um des Geistes willen geschieht, für geist- und wesenlos, ja für eine Äußerung des geistbedrohenden Ungeistes erkennen muß. So wird nicht einmal die Deutung von Ontologie als Kunst dazu führen können, sie von der maßlosen Selbstbejahung ihres Geistes abzuhalten. Wie Noetik das Denken nutzt, wird sie sich niemals dazu verstehen können, eine Möglichkeit von vielen zu sein, menschlich gewissenhaft zu handeln. Ihr Affirmatives hat den Charakter der Usurpation von einzigartiger Einzigartigkeit. Ihre leitende Selbstsicht und Selbstschätzung machen sie blind dafür, in ihrer Selbstbejahung als Kunst nicht mehr und nicht weniger zu bejahen zu haben als ein Element, in dem Menschen einander begegnen und sich zu sich selbst verhalten. Was ihr eigentlich Affirmiertes sein müßte, die Öffentlichkeit des menschlichen Geistes und seines gewissenhaften Gebrauchs, wird, sofern sich Öffentlichkeit aus menschlichem Einander versteht, prinzipiell aus ihrer Selbstbejahung ausgeschlossen. 78 Die gedachten wenigen Geister, von Denkkunst auch die »Einzigsten« genannt 79 , sind in Wahrheit nie mehr als der eine und selbe Geist, der als Wesen sein ebenso isoliert individuelles wie abstrakt universelles Selbstverhältnis ist. Die menschliche Entschiedenheit der Denkkunst hat darum überhaupt nur einen Verständigung des reinen Geistes mit anderem »Geist« kann nurmehr bedeuten, diesen zu verständigen, daß er sich selbst aufzugeben und dem einen reinen Geist anzuschließen habe. So fordert Heidegger unter dem Zeichen der »Verständigung« 1937 die Franzosen ganz unverblümt dazu auf, ihren abendländischen Rettungsauftrag dadurch zu erfüllen, daß sie Descartes und seine »mathematische Denkweise« aufgeben und in das Lager des deutschen Denkens überwechseln. Martin Heidegger, Wege zur Aussprache, S. 138. 79 Martin Heidegger, Beiträge zur Philosophie, S. 43. 78

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Das Denken im Lichte der Denkkunst

einzigen Namen. Er lautet menschlicher Geist (»vernünftige Vernunft«, »denkendes Denken« usw.). Er kann nicht, nicht einmal auch, menschliches Leben lauten, es sei denn, Leben würde dem Leben des Geistes gleichgesetzt. Damit ist aber aus der Sicht des sich je eigenheitlich im Einander inszenierenden Menschen sowohl das Gewissen der Denkkunst als auch ihr Selbstzweck pervertiert.

6. Die Zukunft der Denkkunst Wenn Philosophie, die weder faktisch noch ihrem klaren Selbstbewußtsein nach Wissenschaft ist, eine Zukunft haben sollte, dann jedenfalls nicht als Denkkunst alter Art. Menschliche Selbstverständigung, die von einer Denkkunst zu leisten wäre, kann nicht länger einem Denken überlassen bleiben, das eigenheitliches Einander von seiner menschlichen Entschiedenheit prinzipiell ausschließt. Indem der denkende Geist sich zur einzigen menschlichen Eigenheit verklärt, verselbständigt er sich als Instanz des Handelns, des Handlungsgewissens und des Handlungszieles: mit höchster künstlerischer Fertigkeit und Verantwortung spiegelt er sich selbst. Eine Denkkunst, die Zukunft hat, wird nicht mehr mit dem vereinten Geist von Totalität und Vollkommenheit, Identität und Gleichgewicht gestalten. Das vorzüglich Harmonistische und Quietistische, Selbstreflexive und Präskriptive der erdachten Wesensgestalten der Tradition ist für Öffentlichkeit, die geistig am Menschen und seiner geschichtlichen Gegenwart Interesse nimmt, ohne Interesse und Wahrheit, gibt ihr nichts zu denken – wirklich nichts, nicht nur nichts Neues. Diese Tatsache kann nur verdrängen, wer selber auf dem Standpunkt der A-solo-Philosophie beharrt und sich in Philosophien wie in Steinbrüchen umtut, anstatt sie auf ihre wissenschaftliche und künstlerische Wahrheit hin zu überprüfen. Die Stilprinzipien der alten Denkkunst organisieren den den286 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Die Zukunft der Denkkunst

kenden Geist so, daß er gar nicht anders kann und will, als a solo zu agieren. Kunstutopien der reinen Vernunft, der vollkommenen Harmonie und der in sich verspannten Identität spiegeln nur den vereinsamten Geist der »vernünftigen Vernunft« und des »denkenden Denkens«. Es nimmt kein Wunder, daß genau dieser Geist jede Gestalt menschlichen Lebens, aber auch wirklich jede, als eine Entfremdungsgestalt seiner selbst denunzieren muß. Die traditionelle Denkkunst hat ihre Freunde bislang dadurch gefunden, daß sie nicht als solche erkannt, sondern für gänzlich seinsbestimmt und redlich seinsversprechend genommen wurde. Sollte sie künftig einsichtigere Freunde haben, dann werden es nicht mehr dieselben sein. Bei aller Freundschaft nämlich ist es nicht nur an der Zeit, die alte Denkkunst vor ihrem ideologischen Selbstmißverständnis zu retten, sondern ihr zugleich den verdienten Abschied zu geben. Ist es Zeit für Denkkunst, dann für eine neue. Solange der Mensch sich über sich selbst verständigt, wird es Kunst geben. Im Malen vollzieht sich jeweils die Selbstverständigung des sehenden Menschen, in der Musik die des hörenden. Entsprechend vollzieht sich im Denken der Denkkunst die Selbstverständigung des denkenden Menschen. Selbstverständigung ist und bleibt eine Sache der Kunst, nicht der Wissenschaft, nicht der Alltäglichkeit. Keine Art wissenschaftlicher Selbstaufklärung und alltäglicher Selbsterfahrung bringt den Menschen zur Verständigung über sich selbst, in der er sich selbst bestimmt, auslegt und auch schon inszeniert. Ohne die Freiheit der Kunst fände der Mensch überhaupt nie verständig zu sich selbst. Allein die künstlerische Selbstauslegung und Selbstinszenierung garantiert, daß dem Menschen das Rätsel, der Zauber und das Befremdliche seiner selbst bewahrt werden – durch ihn selbst. Kein künstlerisches Tun verselbständigt sich in einem Werk zu einer menschlichen Antwort, die nichts als Antwort wäre. Jedes Bild, jedes Musikstück, jeder Gedanke (der Denkkunst) ist ebensosehr Frage. Das Lichte und Erhellende 287 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Das Denken im Lichte der Denkkunst

eines Kunstwerks ist nicht vom Licht der Aufklärung, das sich zwar als Licht gegen Dunkelheit, für sich selbst aber als Licht ohne Dunkelheit versteht. Der aufgeklärte Mensch, gäbe es ihn, könnte sich überhaupt nicht verstehen. Er müßte sich schlechtweg hinnehmen. Zum geschichtlichen Menschen aber, wie er sich zu seiner Zeit und Stunde eigenheitlich inszeniert und vor Anderen und sich selbst aufführt, gehört es unmöglich, genau so zu sein, wie er »nun einmal« ist, wohl aber genau so zu sein, wie er sich jeweils auslegt. Verständlich ist überhaupt nur, was zu deuten und auszulegen ist. Die nötige Freiheit gegenüber dem dogmatischen »so ist es«, »so steht es«, das, welcher Provenienz es auch sei, von der »Szene« des Menschen nichts weiß und wissen will, ist verläßlich nur auf der Freiheit der Kunst zu gründen. Eine Denkkunst mit Zukunft wird diesen Unterschied zu Wissenschaft und Alltäglichkeit wahren. Lebenspraktische und menschliche Entschiedenheit, wie sie das Gewissen der Denkkunst bestimmen, drängen sie nicht über sie selbst als Kunst hinaus, sondern bestimmen die Weite ihres Bereichs, in die der denkende Mensch als ein sich über sich selbst Verständigender gehört. Wenn sich Denkkunst als Kunst schon nicht als getreue Nachspiegelung bestehender kunstloser Wirklichkeit versteht, dann doch überhaupt nicht als maßstabsetzende Vorspiegelung solcher Wirklichkeit. Sie gibt Kunstgedanken zu denken, neu zu denken, indem sie kunstlose Wirklichkeit mit der ihr gegebenen Gewissenhaftigkeit auslegt und als kunstvolle Wirklichkeit im Werk aufführt. Als Kunst steht sie weder in Konkurrenz zu religiösen und quasireligiösen Bewegungen, die den Menschen ein frömmeres und gelasseneres Welt-, Ding- und Lebensverhalten anzudienen suchen, noch zu Empirikern und Computern, die errechnen, wie der Mensch sich optimal verhalten müßte, um am ehesten das größtmögliche Glück der Meisten zu sichern. Mit der Bejahung der »bestehenden Verhältnisse« hat das freilich schlechterdings nichts zu tun. Die kunstvolle Wirklichkeit der Denkkunst bedeutet als solche keine Flucht vor »der« 288 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Die Zukunft der Denkkunst

Wirklichkeit, sondern stellt in jedem ihrer (Gedanken-)Werke eine Erweiterung der Wirklichkeit des denkenden Menschen als menschliche Wirklichkeit der Kunst dar. Der Bezug zur Wirklichkeit menschlicher Lebenspraxis, zur Wirklichkeit von Wissenschaft, Technik, Industrie und Markt, zur Wirklichkeit von Natur und Geschichte, zu der von Vergangenheit und Zukunft lebensgeschichtlicher und gesellschaftsgeschichtlicher Art kommt dabei nicht nur nicht abhanden, sondern wird eigens hergestellt. Dies geschieht zumeist in der Weise eines besonderen Affekts: der Freude, der Liebe, des Schmerzes, der Trauer, der Angst. Kunst in ihrer menschlichen Entschiedenheit ist sogar geeignet, den Menschen, je nachdem, unschuldig und schuldig zu sprechen. Wissenschaft präsentiert gesetzmäßige Verbindlichkeiten, Alltäglichkeit faktische. Denkkunst, die sich auf ihre eigenen Möglichkeiten versteht, begegnet diesen Verbindlichkeiten nicht auf deren Ebene, sondern lebt in ihrem Wirklichkeitsverhältnis von der Möglichkeit künstlerischer Selbstbestimmung, Selbstauslegung und Selbstinszenierung. Sie gibt damit der Öffentlichkeit des denkenden Menschen – so oder so – Neues zu denken, zu dem stets der denkende Mensch selbst gehört. Die Grundart des traditionellen Seinsdenkens ist es gewesen, das Geistige als das Wesentliche und das Wesentliche als das Geistige zu deuten. Die menschliche Entschiedenheit dieser künstlerischen Perspektive hat für die Gegenwart an Überzeugungskraft verloren. Denkkunst, die für menschliche Selbstverständigung Zukunft hat, wird den denkenden Geist nicht mehr a solo auftreten lassen können, sondern allein in compagnia. Die »Gesellschaft« aber, in der er steht und die er braucht, ist mit einem Wort das Leben: die vielartige und vielschichtige Eigenheitlichkeit des lebendigen und lebensteiligen Menschen. Das Denken, wie es nicht rein auf sich selbst gestellt und bezogen ist, sondern in compagnia auftritt, gibt den denkenden Menschen sich neu zu denken. Es ist nicht länger die Perspektive der schlechten Abstraktion. Leib, Leben, Gemeinschaft und Ge289 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Das Denken im Lichte der Denkkunst

sellschaft werden nicht bloß nachträglich zum Gedanken des wesenhaften und geistigen Menschen noch hinzugedacht, ganz so, als bauten sich vom Geist her Leben und Leib, vom Einzelnen her Gemeinschaft und Gesellschaft auf. Nein. Nur Gemeinschaft und Gesellschaft ermöglichen Einzelheit; nur lebensteiliges menschliches Leben entdeckt menschlichen Geist. Ein Bedürfnis selbst nach den jüngsten der alten Gedanken, etwa nach den Gedanken von Vernunftherrschaft (»Herrschaftsfreiheit« als Freiheit der Vernunft zur Alleinherrschaft) und vernünftiger Vernunft, von vernünftiger Identität und vernünftiger Gesellschaft, von wesentlichem und denkendem Denken, von heiler Geistwelt (geistiger »Einstellung«) und geistig ratgebendem deutschen Wesen besteht für einen, der in compagnia des Lebens denkt, nicht. Die zum Schrecken aller Vitalität erdachte universelle Vernunft sieht für ihn nicht weniger überlebt aus als der erdachte friedliche Mensch und die erdachte friedliche Welt, wie sie als Rezepturen schönster Fried-höfe für das geschichtliche Morgen auftreten. In einer Denkkunst, die Zukunft hat, legt sich der denkende Mensch als solcher nicht mehr absolut und vor aller »Zersplitterung« aus, ebensowenig als abstrakter Jedermann. Nicht zuletzt spiegelt sich in dieser Denkkunst der denkende Mensch auch in den Widersprüchen des Lebens wider. War bei seiner Spiegelung a solo dem Geist jeder Widerspruch, zumal ein bleibender, die reine Unmöglichkeit, so ist dem Geist in compagnia der Widerspruch ein lebendiges Stück seiner selbst, nicht selten ein schmerzliches.

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Nachwort

I. Philosophie, die große Aufklärerin, die nicht erst seit des Sokrates Tagen bemüht ist, Menschen zur Einsicht zu bringen, daß sie nichts wissen, bedarf selbst der Aufklärung. Das Seins- und Wesensdenken, ihr Herzstück von den frühen Griechen bis heute, ist keine Wissenschaft, auch keine Quasiwissenschaft, sondern Kunst. Das ist erhellende, nicht entzaubernde Aufklärung. Philosophie als Fakultät des Nachdenkens des Menschen über sich selbst und die Welt bringt immer neu das Rätsel zum Leben, das der Mensch sich selbst ist. Dazu ist sie nicht als Wissenschaft gefragt, weder als strenge noch als lockere, sondern als Kunst. Denkkunst, wie sie erstmals von Philosophen wie Xenophanes (um 590 bis 490 v. Chr.) und Parmenides (um 540 bis nach 480 n. Chr.) in Elea in Unteritalien (Magna Graecia) ausgeübt wurde und Nachfolger bis zu Gegenaufklärern im 19. Jahrhundert wie Hegel und Schelling und darüber hinaus bis zum Neomystiker Heidegger im 20. Jahrhundert gefunden hat, steht auf dem Prüfstand, ob sie noch Zukunft hat. Mein vor mehr als 25 Jahren erschienenes Buch Denkkunst. Kritik der Ontologie hat zwar seinem Selbstverständnis nach ihre Werke vor der anmaßenden Alternative, entweder Wissenschaft oder Nichts zu sein, bewahrt, indem es sie für Werke einer Kunst erklärte: der Denkkunst (Noetik). Doch dies geschah notwendig kritisch als Aufklärung, weil sich diese Philosophen auf verschiedenste Weise als einzigartig Wissenwollende und Wissende verstanden, als erste Anwärter, den Menschen kraft eigener Einsicht über sich selbst aufzuklären, nicht jedoch als Künstler. Diese Seins- und Wesensdenker glaubten, ein Wesen des Menschen 291 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Nachwort

zu erkennen, und sahen sich daraufhin berufen, dieses dem Menschen als eine Bestimmung verbindlich vorzugeben. Doch der Mensch hat kein Wesen, an dem sich ermessen ließe, wer (schon) wirklich Mensch ist und wer (noch) nicht. Die Resistenz der Seinsdenker gegen die Einsicht, Künstler zu sein, hat ihre Entsprechung bei Theologen. Nicht von ungefähr gerät Ontologie, wofür exemplarisch Aristoteles steht, zur Ontotheologie 1. Seinsdenker sind immer auch »Theologen«, das heißt systemisch vom Gedanken des einen Gottes Gebrauch Machende. So nimmt es nicht Wunder, daß alles, was Seinsdenken als menschliche Wesensbestimmung erdenkt, eher ein Divinum als ein Humanum vorstellt. 2 Seinsgedanken, die im Verbund mit Gottesgedanken entwickelt werden, beruhen auf Denken als künstlerischer Tätigkeit. Es bedarf der Denkkunst, um Unmögliches zu denken, in diesem Falle ein Denken zu erdenken, das menschliche Möglichkeiten um einen Himmel übersteigt. Der Seinsdenker erdenkt ein Sein, das vom Werden absolut geschieden ist 3 , ein bleibendes und unveränderliches Sein, und er erdenkt im gleichen Zuge ein Denken, das ebenso wenig von dieser Welt ist. Der Denkkünstler ist frei, Dinge zu denken und zu sagen, die durch Verstand und Vernunft, wie Alltag und Wissenschaft mit diesen Geisteskräften umgehen, nicht zu rechtfertigen sind. Philosophisches Seins- und Gottesdenken, das vorgibt, für den Menschen Letztverbindliches zu denken und zu sagen, nimmt von ihm nur Kenntnis, um ihn unendlich zu übersteigen.

Aristoteles, Metaphysik E 1. Siehe dazu Rainer Marten, Die Deutung gelingenden Lebens als das maßgebliche Humanum, in: Klaus Baumann (Hg.), Theologie der Caritas, Würzburg 2017, S. 29–42. 3 Platon, Sophistes 248a-249a; Philebos 54a-55c. 1 2

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II. Ontotheologie denkt vom Menschen gering: Er kann sich mit Gott nicht messen. Ausgerechnet die geistigen Fähigkeiten, die ihn unter dem Lebendigen auszeichnen, erweisen sich, am höchsten Wesen gemessen, als geradezu nichtig. Gott als das höchste Zudenkende verfügt selbst über die höchste Denkkraft: »Doch ohne Mühe bringt er alles rein durch den Geist (noou phreni, eigentlich: durch den Geist des Geistes) in Bewegung.« 4 Dieser große All-Satz, dazu gedacht, die Selbstauslegung des Menschen in die Auslegung eines höchsten Wesens einzubinden, ist ein Zeugnis frühster Denkkunst, die sich wie alle spätere nicht als eine solche verstand. Gehört dieses Wort des Xenophanes in ein Museum für Ontologie oder gibt sich der Mensch mit ihm auch heute noch etwas über sich selbst zu verstehen? Der Verbund von Seins- und Gottesdenken hätte als Denkkunst nur Zukunft, wenn dies der Fall wäre. Wie es sich damit verhält, ergibt sich aus der genaueren Kenntnis der alten Denkkunst von selbst. Philosophen, die mit Gottesgedanken überraschen, geben sich eher thetisch als argumentativ. Die Ganzandersheit der göttlichen Denkkraft (nous) und der göttlichen Gedanken (noêmata), dieses In-nichts-Gleichsein mit menschlichem Denken wird von Xenophanes nicht näher ausgeführt. Gleiches gilt für das Sein, das einzigartig das des Gottes ist. Da ihr Möglichmachen von Unmöglichem verstandesmäßig nicht nachvollzogen werden kann, sieht sich Denkkunst sprachlich zum Auftrumpfen gezwungen. Die Naivität, das Unvergleichliche und ganz Andere durch Emphatika verständlich machen zu wollen, eignet dem Seins- und Gottesdenken von seinen Anfängen an. Xenophanes vertraut auf das Emphatikon »ganz«/»vollständig« (holos): »Der Gott ist ganz Sehen, ganz Denken, ganz Hören.« 5 Xenophanes, Fragment B 24. Xenophanes, Fragment B 24; vgl. Rainer Marten, Lob der Zweiheit, Freiburg/München 2017, S. 108 f. 4 5

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Für seinen Kampf wider den Anthropomorphismus weiß dieser Gotteskenner nichts Besseres zu tun, als drei herausragende menschliche Fähigkeiten durch Emphase in Göttliches zu verwandeln. Der erste als unbewegter Beweger erdachte Gott, der alles rein durch des Geistes Kraft bewegt, hat auch keine Organe, um seine sinnlich-geistigen Tätigkeiten auszuüben. Die eher gedankenlosen Superlative, die die Ontologie in ihrer Sprachnot zusätzlich zu den Emphatika bis zu Heidegger nutzt, heißen bei Xenophanes das »Stärkste«, »Beste«, »Vermögendste«, »Edelste«.

III. Daß ein Seins- und Gottesdenken wie das des Xenophanes Schule machen konnte und bis in die Neuzeit wirkungsgeschichtlich von Bedeutung war, ist befremdlich. Lebt dieser Gott auch von einfachster Metaphysik, nicht aber von der Poesie religiösen Glaubens, so ist doch durch das Zusammenspiel von Ontologie und Theologie die Möglichkeit eröffnet, daß philosophischer und religiöser Künstler gemeinsame Sache machen. Erdenkt Philosophie ihren Gott, was Denkkraft anbelangt, als das Höchste und Mächtigste, dann erdenkt sie ihn auch als das mächtigste Sein, ja als das, was einzigartig für Wahrheit und Verläßlichkeit (Selbigkeit, Ewigkeit) steht, für Gerechtigkeit und Freiheit, für das, was Grund alles Guten ist. Das ist der Gott nicht nur philosophischer, sondern auch religiöser Theologie. Ein gutes Beispiel für die Vereinigung von philosophischer und religiöser Denkkunst gibt Schelling mit seinen Gedanken zur Freiheit: Wie soll der Mensch frei sein, wenn Gottes Wille und Gerechtigkeit in absoluter Freiheit herrschen und er unser Wollen und Tun von Ewigkeit her im Voraus weiß? Schaut sich der Pfarrerssohn die Unerforschlichkeit des Handelns Gottes an, wie sie Paulus im 9. Kapitel des Römerbriefs deutet, dann blickt ihn die blanke Willkür an. So gesehen ist ein dem Gott übereig294 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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neter Mensch unmöglich frei. Doch um Menschenunmögliches auf höhere, den Realitätssinn überschreitende Weise möglich zu machen, hat der Mensch seit alters die Kunst genutzt. In diesem Falle ist die Denkkunst gefordert, nicht etwa der Denksport, weil Denksportaufgaben für den bon sens stets lösbar sind. Der Gott freilich, der hier im Spiel ist, ist der christliche, und Schelling, der geforderte Denkkünstler, glaubt an ihn. Zuvor hatte bereits Luther das Thema behandelt. In der Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen 6 zeigt er sich als Mitschaffender an der theologischen Dichtung des Apostels Paulus. Bereits die Themenstellung macht die Lösung des Problems, wie denn der Mensch, der dem »Herrn« untertan ist, frei sein soll, leicht. Der »Christenmensch«, also der Christusgläubige, ist der neue, der geistliche und innerliche, nicht (mehr) der alte, der fleischliche und äußerliche Mensch. Sein einziges Werk ist der Glaube. Der macht ihn frei von allen Geboten und Gesetzen, nicht zuletzt von aller Sünde. Der gläubige Mensch ist der freie Mensch. Das ist es. Sein Glaube gibt ihm »alles, was Christus und Gott hat«. Die »köstliche« christliche Freiheit ist die »rechte, geistliche«. Alle andere Freiheit übertrifft sie »wie der Himmel die Erde«, was sie als himmlische verstehen läßt. Der geistliche Mensch ist der geistlich freie Mensch – eine Freiheit per definitionem sagt sich der erhellend Aufklärende, eine Freiheit per gratiam der theologische Poet. Analog zur Freiheit eines Christenmenschen als einem Werk religiös-theologischer Kunst hat Kant die Freiheit eines Vernunftmenschen als Werk philosophischer Denkkunst geschaffen. Ist für Luther Glaube das einzigartige Werk des Gläubigen, dann für Kant schlechterdings guter Wille und reine Vernunft das einzigartige Werk des Vernünftigen. Es gibt jedoch keinen schlechterdings guten Willen, an keinem Ort, zu keiner Zeit. Entsprechend gibt es keine reine Vernunft. Beides ist auch nicht Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520), hrsg. von Hans Heinrich Borcherdt, Chr. Kaiser Verlag, München o. J.

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zu dem Zweck erdacht, auf Erden unter Menschen realisiert zu werden. Es geht vielmehr darum, realiter Unmögliches durch das Denken für das Denken möglich zu machen: das absolute Freisein von allen »sinnlichen Triebfedern«. Das verlangt der erdachte kategorische Imperativ, dieses Markenzeichen des reinen Vernunftmenschen, wie die Freiheit des erdachten Christen das Freisein von allen Sünden verlangt. Erdenkt der religiöstheologische Denkkünstler den geistlichen Menschen als geistlich frei, dann der philosophische Denkkünstler den geistigen (= vernünftigen) Menschen als geistig frei. Kant erdenkt, wie es der erhellend Aufklärende sieht, eine geistige Freiheit, die per definitionem das ist, was sie ist, während der Philosoph sie als eine Freiheit per rationem einschätzt. Da sich der Mundus intelligibilis, anders als Kant es möchte, nicht mit dem Mundus sensibilis vermitteln läßt, ist die Freiheit des rein Vernünftigen gleich der des Christusgläubigen eine überirdische. Als idealistischer Philosoph thematisiert Schelling das Wesen der menschlichen Freiheit. Für ihn hat die Welt ein Wesen, die Geschichte, der Mensch und eben auch die Freiheit. Sein Entwurf der für das Wesen der menschlichen Freiheit relevanten Geschichte basiert auf religiöser Poesie. Diese Geschichte beginnt mit dem Bösen und endet mit dem Guten. Der Grundansatz jeder fundierten Geschichtswissenschaft: »Nichts kam, wie es kommen mußte« steht für Schelling außer Betracht. Geschichte kann für den religiösen Denkkünstler allein Telos-Geschichte sein: Geschichte mit gutem Endziel und endlich gutem Ende. So werden Glaubenstatsachen wie Adams Sündenfall und Christi Erlösungstat zu historischen Tatsachen. Schon Pascal und andere vor ihm wußten das nicht zu unterscheiden. Durch diese dem Unwissen, Künstler zu sein, geschuldete Naivität hat Schelling sich seine Aufgabe spannend gemacht. Da er den Menschen für böse, sofern sündig, ansieht, kann er sich nicht auf ein Wesen des Menschen und auf ein Wesen seiner Freiheit verlassen, das ihn aus sich mit Notwendigkeit auf den Weg zum Guten brächte. Da muß die Macht Gottes ins Spiel kommen. In Anleh296 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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nung an Luther könnte Schellings Themenstellung besser heißen: »Von der Freiheit eines christusgläubigen Vernunftmenschen«. Es ist sublim, was Philosophen, die im Tübinger Stift geistig-geistlich sozialisiert wurden, sich an durch religiöse Poesie Mitzuschaffendem zumuten, um daraufhin mit denkkünstlerischer Vernunft frei tätig zu werden. Unvermittelt beginnt das in seiner Seins- und Geistesmacht Unvergleichbare sich einander anzugleichen: »Die Folge der Dinge aus Gott ist eine Selbstoffenbarung Gottes. Gott aber kann nur sich offenbar werden in dem, was ihm ähnlich ist, in freien aus sich selbst handelnden Wesen.« 7 Bereits mit diesem einen Satz gelingt alles: Der Gott ähnliche Mensch ist frei, weil er Gott ähnlich ist. Über dem Eingang zur Aula der Münchner Universität ist, in Mosaik geschrieben, zu lesen: »Alles Wahre ist Gott ähnlich.« Das hat meiner Nachdenklichkeit als Erstsemester einen Stoß versetzt: Was der Mensch doch so alles von Gott und durch ihn von sich weiß. Als »Repräsentationen der Gottheit« können Menschen, wie Schelling weiß, »nur selbständige Wesen seyn«. Das versteht sich für diesen gläubig-vernünftigen Menschen von selbst: Das Sichoffenbarwerden Gottes im Menschen macht dieses im asymmetrischen Verhältnis zu Gott stehende Wesen frei. So ist es für den gläubigen Philosophen, der sein denkkünstlerisches Vorgehen verkennt, eine feststehende Tatsache, »daß gerade nur das Freie, und soweit es frei ist, in Gott ist, das Unfreie, und soweit es unfrei ist, nothwendig außer Gott«. 8 Freiheit als Immanenz: Sind wir in Gott, weil gott-gläubig, dann sind wir frei. Damit ist nicht weniger und nicht mehr gesagt, als was Luther zur Freiheit eines Christenmenschen zu sagen wußte. Doch der Wesensdenker ist immer auch Einheitsdenker. So kann Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, in: Schellings Werke Bd. IV (hrsg. von Manfred Schröter), München 1927, S. 239. 8 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 239. 7

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Schelling Gegensätze wie die von Dunkel und Licht, Böse und Gut nicht bestehen lassen. Als der »höchste Ausdruck« und »höchste Punkt« steht ihm unbeirrbar das Eine vor Augen: die absolute Identität. Zu diesem Zweck erdenkt er ein Erstes, das allem Seienden und Gegründeten vorausliegt. Nichts Anfängliches ist gefragt, sondern Ursprüngliches. Und da ist es auch schon: »Wollen ist Urseyn.« 9 Damit ist der »Urgrund« erdacht, besser noch der »Ungrund« (»Grundlosigkeit«) 10 genannt, das – großgeschriebene – Eine Wesen. Doch dieser höchste Punkt der Philosophie ist zugleich der höchste Punkt des Glaubens. Deswegen tritt der philosophische Denkkünstler noch einmal kurz vor dem religiösen zurück, der erklärt, daß der Geist Gottes nicht schon das Höchste ist, sondern die vom Bösen erlösende Liebe Christi.

IV. Dreimal begging the question, dreimal die Voraussetzung als Begründung: Luthers Christenmensch ist frei, weil er Christ ist (weil er an Christus als den Messias auf göttliche Weise glaubt); Kants Vernunftmensch ist frei, weil er vernünftig ist (weil die Maxime seines vergeistigten Willens eine rein vernünftige ist); Schellings vereinter Christen-Vernunftmensch ist frei, sofern er geistlich-geistig in Gott als dem absolut Freien ist. Jede dieser Vergeistigungen und Vergeistlichungen entindividuiert den Menschen. Schellings Gott ähnlicher Mensch hat jede Eigenheit abgelegt und ist ganz göttlichen Geistes. Das liegt an der in dieser Tradition vorherrschenden vertikalen Anthropologie, die der Einordnung des Menschen zwischen Gott und Tier folgt: Oben Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 242. 10 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 298. 9

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ist das Geistige, das Göttliche, unten das Sinnliche, das Tierische. In dieser Sicht kann die Bestimmung des Menschen nur im Oben liegen, also tendenziell im Einswerden mit Gott, jedenfalls im Eins- und Ununterschiedenwerden des Menschen. Philosophisch-theologische und philosophisch-religiöse Denkkunst ist stets filosofia a solo. Wie bei Luther, Kant und Schelling denkkünstlerisch dreimal menschliche Freiheit durch Voraussetzungen begründet wird, ist Solipsismus unumgehbar: Nur der Eine und Ununterschiedene ist jeweils Eins mit der einen Vernunft, mit dem einen Gott. Daß es Freiheit nur zu Mehreren gibt, daß Freiheitsgebrauch jeweils von Freien unter Freien ausgeübt wird, und dies notwendig in gegenseitiger Abstimmung, kommt im Menschenverständnis der vertikalen Anthropologie nicht in Betracht. Denkkunst, die den Menschen als den all-einen Vernünftigen und all-einen Gläubigen in das Reich des Geistes und in den Himmel verbannt, ist ohne Bezug zum Leben. Wie filosofia in compagnia den Menschen sieht, wird er den Halt, den er braucht, nicht im Metaphysischen finden, sondern unter Menschen, die ihr Leben teilen. Philosophisch-theologische und philosophisch-religiöse Denkkunst – das ist gedacht und gesagt zur Ehrenrettung der Metaphysik als einer Hochleistung menschlicher Künstlerschaft. Daß sie weiterhin teilhat an der Verständigung des Menschen über sich selbst, ist in der Sicht erhellender Aufklärung nicht zu wünschen.

V. Zum 4. Studiensemester im Frühjahr 1950 Heideggers wegen von der Münchner an die Freiburger Universität gewechselt, bin ich in dem, was nach dem Kriege das Zentrum des Seinsund Wesensdenken war, sozialisiert worden. Eigenständige Beschäftigung mit philosophischen Texten, insbesondere mit den Dialogen Platons, hat früh dazu geführt, daß die Freiburger Aura ihre Faszination verlor und die Haltung ihr gegenüber eine 299 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

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distanzierte und bald auch kritische wurde. In der Erstausgabe der Denkkunst habe ich die Kritik an Heideggers Philosophie mit ihrer Deutung als Denkkunst verbunden. Diese Deutung bleibt, aber es gibt Gründe, dies heute differenzierter zu tun. Daß Heideggers Philosophie metaphysische Denkkunst ist, zeigt sich bereits in der Vorlesung des Kriegsnotsemesters 1919. In ihm entwickelt er die einzigartige Frage »Gibt es etwas?«. Sie stellt sich unmöglich durch ein Wissenwollen ein. Wer sie dennoch vorbringt, macht sich lächerlich. 11 Für Heidegger ist es die »urwissenschaftliche« Frage. Damit kündigt sich außerordentliche Denkkunst an. Heidegger forderte in Seminaren gelegentlich dazu auf, jetzt die dümmste Frage zu stellen, um sogleich hinzuzufügen, daß die nächstbeste nicht schon notwendig die dümmste sei. Gemeint war das Fragen, das in die Fraglichkeit hebt und keine Antwort will. Es galt, beim Fragen zu bleiben: die Frage auszuhalten. Näher besehen ist die »Frage« »Gibt es etwas?« das reinste Kunstwerk. Das »Es gibt«, also Sein im Sinne von Existieren, wird zur Frage gemacht. Das später mystifizierte und großgeschriebene Es taucht auf, aus dem in dem Vortrag Zeit und Sein (1962) das Es wird, das Sein gibt – als Gabe. Auch Sein und Zeit zeigt Denkkunst, wenn das »Sein selbst« erdacht wird, um das es dem Seinswesen Mensch geht: Es ist das nackte Daß des »eigentlich« Existierenden im ekstatischzeitlosen »Augenblick« absoluter Entindividuiertheit. Diese Metaphysik, die über alles im Schamanismus Erfahrbare hinausdenkt, wird noch überboten durch das Erdenken geschickhafter »Stöße des Seyns« 12 , die Seinsgeschichte »ereignen«. Heidegger wird zum Propheten: »Die Erfahrnis – als das Vorahnende Vor-lassen, das im ereigneten Leid sich ereignet: daß – das reine daß – daß Seyn Selber sey Seyn, Einzig-Einstig«. 13 Das Siehe Aristoteles, Physik B 1, 193a3. Reichlich belegt in: Martin Heidegger, Überlegungen VII–XI (Schwarze Hefte 1938/39), GA Bd. 95, Frankfurt am Main 2014. 13 Martin Heidegger, Anmerkungen I–V (Schwarze Hefte 1942–1948), GA Bd. 97, Frankfurt am Main 2015, S. 112. 11 12

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Pro der Prophetie wird hier deutlich in der Einheit von Ahnen und Lassen, das die absolute Selbstspiegelung des einzig-einstigen Seinsereignisses im Blick hat. »Was bleibt zu sagen?«, fragt Heidegger 1962, und er antwortet darauf: »Nur dies: Das Ereignis ereignet. Damit sagen wir vom Selben her auf das Selbe zu das Selbe«. 14 Wird Heidegger verständig gelesen, dann hat er in den bisher publizierten 97 Bänden der Gesamtausgabe nichts anderes von seinem Denken gesagt. Alles Sonstige, selbst die hellsichtige Technikkritik, ist Untergeordnetes. Heidegger hat als Prophet nicht eben Geringes im Blick, auch nicht Geringes mit sich selbst vor. Ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs notiert er: »Nur von einer unscheinbaren stillen Stelle aus kann einzig das Denken ein Anlaß sein für die Bewegung des ›Hebels‹, der die bisherige Welt und die Weltgeschichte aus ihren Angeln hebt und in den Fug verfügt«. 15 Heideggers erdachtes Seinsdenken nähert sich der Wirkkraft des Denkens Gottes an, wie sie Xenophanes erdacht hatte. Seine Maxime, gegen das Denken zu denken, 16 führt dazu, daß er monomanisch verfährt: Als eigentlich Denkenden gibt es nur ihn. »Für ein wesentliches Denken gibt es keine Zeitgenossen, sondern nur Nachkommen«. 17 Aber selbst die kommen nicht sogleich, ja nie, da sie eschatologisch gemeint sind – als die »Einzigsten«. Er allein weiß um die einzig wahre Not: die Seinsnot, die er darin erkennt, daß man in Alltag und Wissenschaft, an dem von ihm erdachten reinen Daß-ohne-Was vorbei, sich im Umgang mit Dingen an das hält, was etwas ist. Das macht sein denkkünstlerisches Engagement missionarisch: Hölderlin und er sind berufen, die Rettung des Menschen zu initiieren, und dies gegen das »Unmaß des Massenhaften des Menschen als eines Lebewesens«, gegen das »Man« und den »Niemand«. Das 14 15 16 17

Martin Heidegger, Zeit und Sein, S. 23. Siehe oben S. 196–199. Martin Heidegger, GA Bd. 97, S. 113. Martin Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens, S. 15. Martin Heidegger, GA Bd. 97, S. 449.

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richtet sich nicht weniger gegen die Masse der Deutschen, gegen jene »65 Millionen«, die zur Zeit leben, nicht aber geistig-ekstatisch existieren. Seine deutsche Mission gilt dem »geheimen geistigen Deutschland«. 18 Der einzige deutsche »stiftende« Dichter und der einzige deutsche eigentliche Denker sind die einzigen zur Übernahme des »innersten und äußersten Auftrags des Deutschen« Berufenen. Der Kosmopolit Goethe wird immer wieder mit scharfem Ton davon ausgeschlossen. »Das Wesen der Berufung des Deutschen ist […] unbedingt in dem Sinne, daß durch die Deutschen [R. M.: durch Hölderlin, Heidegger und die nachfolgenden Einzigsten] das Wesen des Seyns selbst erkämpft werden wird«. 19 Durch sein methodisches Gegendenken ist es Heidegger gelungen, zur philosophischen Tradition im Ganzen auf Distanz zu gehen. Seine als Denkkunst gedeutete Metaphysik ist eine philosophische Revolution. Sein Wesens- und Einheitsdenken hat alles verändert. Das Wesen des Menschen, als nacktes Daß erdacht, macht aus dem Menschen als Lebewesen ein reines Seinswesen, ein Wesen, das im zeitlosen, ekstatischen Daß dem Sein selbst als dem Einzig-Einen und All-Einen außerzeitlich übereignet ist. Im nackten Daß selbsthafter Existenz trägt das Seinswesen Mensch das Daß-ohne-Was des geschickhaften Seinsereignisses aus. Das hat Folgen für den Gedanken des Humanum. Auch Heideggers Denkkunst ist theologisch, auch sie nimmt Züge des Religiösen an, wenn sie sich selbst unter anderem »Gnade« und »Frömmigkeit« zuspricht. Aber die Humanität ist auf den Kopf gestellt. Gerät der traditionellen Denkkunst das Humanum zumeist zum Divinum, dann Heideggers Denkkunst zum Mysticum. Während das Divinum das Humanum überhöht, wird ihm Heideggers Mysticum zur Gefahr. Der Gedanke des reinen Daß wendet sich gegen das Leben. Im »›leidenschaftlichen‹ Ja zum ›Leben‹« verbirgt sich für ihn nichts 18 19

Martin Heidegger, GA Bd. 94, S. 155. Martin Heidegger, GA Bd. 95, S. 372.

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Geringeres als der »gefährlichste Nihilismus«. 20 Leben ist als solches seinsvergessen. Mit Schärfe wendet er sich gegen das »Getue um den Menschen«. In jeder Zuwendung zum Menschen, die nicht der geistig-ekstatischen Existenz gilt, sieht er »Vermenschlichung« und »Vermenschung«. Es ist noch kein Jahr her, daß der amerikanische Präsident Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abwerfen ließ, da notiert Heidegger: Verheerender als die Hitzewelle der Atombombe ist der »Geist« in der Gestalt des Weltjournalismus. Jene vernichtet, indem sie nur auslöscht; dieser vernichtet, indem er den Schein von Sein errichtet auf dem Scheingrund der unbedingten Wurzellosigkeit. 21

Ein Komparativ: Was sind schon Zehntausende von Menschenleben gegen deutsches Seinsdenken, dem die Gnade zuteil geworden, dem Geschick des Seins selbst übereignet zu sein? Der wertende Vergleich sagt es: eigentlich nichts. Das ist ein inakzeptabler Gedanke, der Heideggers Denkkunst im Ganzen diskreditiert, ja ruiniert, zumal sich Gedanken von vergleichbarer Inhumanität bei diesem Existenzphilosophen, Mystiker und Propheten wiederholt finden. Heidegger hat durch das Revolutionäre seiner Denkkunst, nicht weniger durch ihre Originalität und Genialität den philosophischen Diskurs im 20. Jahrhundert entscheidend belebt. Wie sie sich heute in der Gesamtheit der zugänglichen Quellen darstellt, hat er sich mit ihr von der Teilhabe an der philosophischen Selbstauslegung des Menschen selbst ausgeschlossen.

VI. Die Denkkunst ist aktuell, die der Mensch braucht, und zwar für das Gelingen des Lebens, nicht aber die, die ihn in sein geistiges Wesen entrückt. Wird auch, für deutsches Publikum gespro20 21

Martin Heidegger, GA Bd. 95, S. 103. Martin Heidegger, GA Bd. 97, S. 154.

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chen, auf Kant-, Hegel-, Schelling- und Heideggertagungen neuzeitliche Metaphysik noch langehin am Leben gehalten werden, so ist das Arbeit am Musealen, hat aber nicht länger an der philosophischen Verständigung des Menschen über sich selbst teil. Es gibt kein »Wesen« und kein »eigentliches« Selbst des Menschen, das in solipsistisch-entindividuierter Geistigkeit seinen Ort hätte. Wie Denken Sprache und Sprache Denken braucht, ist beides vereint die überzeugendste Manifestation menschlichen Einanders. Die alte Denkkunst hat an der Fiktion eines Menschen gearbeitet, der, am besten entleibt und entlebt, Eins wird mit dem All-Einen des nurmehr Geistigen. Die neue Denkkunst ist die, die der gesellige Mensch braucht, der Mensch, der in Gemeinschaft und Gesellschaft lebt. Er braucht sie dann freilich nicht zur technischen Fertigung sozialen miteinander Funktionierens, schon gar nicht zur Lebensberatung von Einzelnen und von Gruppen, sondern in ihrem eigentlichen Potenzial als Kunst. Wir, die wir nicht eschatologisch vertagt und auf eine gottgleiche Existenz in der ungeschiedenen Einheit des Geistes vertröstet sind, wir brauchen die Vermögen des Denkens und Sprechens, um sie so zu steigern, daß sie unser zu lebendes Leben überhöhen. Wir brauchen dieses Kunst, und zwar notwendig, wollen wir uns nicht der Banalität des Lebens ausliefern und der Binsenwahrheit recht geben, daß alles Zufall ist und nichts einen Sinn hat. Wir brauchen sie, sobald wir wach und wissend genug sind, daß wir es mit unserem Nichtwissen aufzunehmen haben, zu allererst mit dem von uns selbst. Vegetieren wir nicht dahin, gehen wir nicht in der Bewältigung des Lebens auf, sondern läßt uns unsere Wachheit über uns selbst und den Anderen staunen, über die Welt, über Leben und Tod, dann haben wir schon teil am Initiationsritus der neuen Denkkunst. Haben Platon und Aristoteles das Staunen Erregende für das Irrationale erklärt, das es durch Rationalität zu beseitigen gelte, dann ist das unmöglich ein Vorbild für Künstler. Im Sommer 2017 ist mein Buch Lob der Zweiheit. Ein philosophisches Wagnis erschienen. In ihm kritisiere ich die mächtige Tradition 304 https://doi.org/10.5771/9783495817711 .

Nachwort

des Seins- und Einheitsdenkens, das über Jahrhunderte, ja Jahrtausende nicht darin nachläßt, die Lebendigkeit und Geselligkeit von uns Menschen zu diskreditieren. Diese alte Denkkunst hat mit ihrem Anspruch, den »wahren« und »eigentlichen« Menschen zu bestimmen, zu erkennen gegeben, daß sie alles über den Menschen weiß, wohlgemerkt über den vereinzelt Einzelnen, der mit dem All des Geistigen Eins ist. Sie hat damit auch vorgegeben, alles über den unwahren und uneigentlichen Menschen zu wissen, wodurch sich ihr Wissen vom Tierischen im Menschen bis zum Göttlichen im Menschen erstreckte. Die neue Denkkunst, die nachmetaphysisch gebraucht ist, bewahrt sich das Nichtwissen um den Menschen als unerschöpflichen Fundus und bleibenden Anstoß ihres Schaffens. Das Erste, was sie schafft, ist von allererster lebenspraktischer Bedeutung: die Notwendigkeit des eigenen Lebens und des Lebens derer, mit denen es das Leben teilt. Dazu gehört, daß der je Einzelne sich selbst notwendig wird. Die belebende und vergemeinschaftende Notwendigkeit ist keine Fiktion, keine bloß erdachte Umwandung des faktisch gegebenen Zufalls, sondern ein Werk künstlerischer Freiheit, das seine Wahrheit im gelebten und geteilten Leben demonstriert. Hat nämlich die alte philosophische Denkkunst wie von selbst mit der theologischen Denkkunst gemeinsame Sache gemacht, so zeigt sich das Schaffen der neuen Denkkunst wie von selbst im Verein mit der Lebenskunst. 22 Sich als der Eine und Andere im Leben notwendig zu sein, für sich selbst und füreinander, ist die Grundlage für das neue Humanum, das nicht länger in der »Höhe« zu suchen ist, sondern in der Nachbarschaft. Das Humanum, das in jedem lebensteiligen Gelingen gegenwärtig ist, verdankt sich der Künstlerschaft der Lebenden und Denkenden: Es ist ein Gemeinschaftswerk von Lebenskunst und Denkkunst.

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Siehe Rainer Marten, Lebenskunst, München 1993.

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