Critical Realism meets kritische Sozialtheorie: Ontologie, Erklärung und Kritik in den Sozialwissenschaften [1. Aufl.] 9783839427255

Critical Realism, in the form that evolved in the Anglo-Saxon space since the 1970s, not only anticipates many insights

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German Pages 350 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Soziale Strukturen und ihr Wandel
Wie wirken Normen?
»Nimm Zwei!«
Routine, Reflexivität und Realismus
Das Tempo des sozialen Wandels und die Formen der Reflexivität
2. Das Wissen der Ökonomie
Eine Frage der Ontologie
Willkommen in der Wirklichkeit!
Soziales, ökologisches und ökonomisches Wissen
Prozessphilosophie als Grundlage für die ökologische Ökonomik
3. Kritik
Critical Realism als theoretische Ressource zur Analyse von Intersektionalität
Dimensionen der Intersektionalität
Wie weit reichen soziale Konstruktionen?
Aufgaben und Grenzen der kritischen Gesellschaftstheorie
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Critical Realism meets kritische Sozialtheorie: Ontologie, Erklärung und Kritik in den Sozialwissenschaften [1. Aufl.]
 9783839427255

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Urs Lindner, Dimitri Mader (Hg.) Critical Realism meets kritische Sozialtheorie

Sozialtheorie

Urs Lindner, Dimitri Mader (Hg.)

Critical Realism meets kritische Sozialtheorie Ontologie, Erklärung und Kritik in den Sozialwissenschaften

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2725-1 PDF-ISBN 978-3-8394-2725-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung Critical Realism als Philosophie der Sozialwissenschaften Dimitri Mader, Urs Lindner, Hans Pühretmayer  7

1. S oziale S truk turen und ihr W andel Wie wirken Normen? Critical Realism und die kausale Kraft sozialer Strukturen Dave Elder-Vass  77

Replik: »Nimm Zwei!« Zwei Kausalkräfte des Sozialen, zwei Ar ten sozialer Strukturen, zwei Grunder fahrungen und zwei Formkritiken von Sozialität. Ein Kommentar zu Dave Elder-Vass Uwe Schimank  95

Routine, Reflexivität und Realismus Margaret S. Archer  117

Replik: Das Tempo des sozialen Wandels und die Formen der Reflexivität Ein Drei-Stadien-Modell Hartmut Rosa  147

2. D as W issen der Ö konomie Eine Frage der Ontologie Die Wir tschaftswissenschaft und die gegenwär tige Krise des Kapitalismus Steve Fleetwood  167

Replik: Willkommen in der Wirklichkeit! Warum weiter zu gehen ist, als Steve Fleetwood dies tut Frieder Otto Wolf  195

Soziales, ökologisches und ökonomisches Wissen Zum Synthetisierungspotenzial des Critical Realism Clive Spash  217

Replik: Prozessphilosophie als Grundlage für die ökologische Ökonomik Gemeinsamkeiten und Differenzen mit dem Critical Realism Barbara Muraca  243

3. K ritik Critical Realism als theoretische Ressource zur Analyse von Intersektionalität Sue Clegg  273

Replik: Dimensionen der Intersektionalität Kritisch-realistische und poststrukturalistische Perspektiven Ina Kerner  293

Wie weit reichen soziale Konstruktionen? Kritik und Naturalismus Andrew Sayer  315

Replik: Aufgaben und Grenzen der kritischen Gesellschaftstheorie Zu Andrew Sayers Versuch, Kritik und Naturalismus zu verbinden Robin Celikates  337

Einleitung Critical Realism als Philosophie der Sozialwissenschaften Dimitri Mader, Urs Lindner, Hans Pühretmayer

Unter den Stichworten »neuer Realismus« (Gabriel 2014), »neue Materialismen« (Coole/Frost 2010), »material turn« (Bennet/Joyce 2010), »Rückkehr zu den Dingen« (Domanska 2006) oder »Rückkehr der Ontologie« (Ferraris 2012) findet seit einiger Zeit in Philosophie und Kulturwissenschaften, aber auch im Feuilleton eine Renaissance von Realismus und Materialismus statt. Der cultural turn – darin sind sich die verschiedenen Ansätze einig – habe trotz gegenteiliger Bekundungen den Anthropozentrismus der modernen westlichen Philosophie gerade nicht überwunden, sondern vielmehr auf die Spitze getrieben, indem die Realität der Dinge von menschlichen Interpretationen abhängig gemacht wurde. Auf diese Weise sei es unmöglich geworden, sinnvolle Antworten auf wirkmächtige »Materialitäten« zu geben, wie sie als Wirtschaftskrise, (para-)militärische Gewalt oder Klimawandel zu den drängenden Problemen der Gegenwart gehören.1 In den Sozialwissenschaften, vor allem den deutschsprachigen, werden die neuen Realismen/Materialismen dagegen – Ausnahmen wie die Geschlechterforschung (z.B. Bath et al. 2013, Garske 2014) bestätigen die Regel – oftmals als (philosophische) Moden wahrgenommen: Entweder werden ihre Anliegen von den etablierten Programmen ignoriert, oder es wird darauf verwiesen, dass zentrale realistisch-materialistische Einsätze wie etwa die »Eigenlogik« und soziale Relevanz von Artefakten und Körpern bereits von anderen Sozialtheorien ausgearbeitet worden seien, maßgeblich innerhalb des Spektrums der »Praxistheorien« (vgl. Reckwitz 2003). Diese Vorbehalte sind keineswegs aus der Luft gegriffen, haben die »neuen« materialistisch-realistischen Ansätze bisher doch nur wenig genuin sozial1 | Getragen wird diese Bewegung von unterschiedlichen Ansätzen wie etwa dem »agentiellen Realismus« (vgl. Barad 2007), dem in sich wiederum ziemlich ausdifferenzierten »spekulativen Realismus« (vgl. Meillassoux 2006, Harman 2011, Bryant et al. 2011) oder dem »Assemblagen-Realismus« (vgl. DeLanda 2006) – um nur einige prominente Beispiele zu nennen.

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theoretische Angebote gemacht bzw. nicht gerade selten auch begriffliche Konfusionen erzeugt.2 Der vorliegende Band schlägt an dieser Stelle eine Abkürzung vor. Zumindest in Teilen der angelsächsischen Sozialwissenschaften ist die Diskussion um Realismus und Materialismus nie abgerissen, sodass diese Perspektiven, anders als in den Kulturwissenschaften und weiten Bereichen der Philosophie, auch nicht erst »neu« entdeckt werden müssen. Aus der angelsächsischen Diskussion um einen sozialwissenschaftlichen Realismus/Materialismus ragt vor allem ein Ansatz heraus: der Critical Realism, wie er seit Mitte der 1970er-Jahre u.a. von Roy Bhaskar, Margaret Archer, Andrew Sayer und Dave Elder-Vass entwickelt worden ist. Wer sich mit dieser Theorieströmung beschäftigt, wird schnell feststellen, dass vieles an den neuen Realismen/Materialismen nicht allzu »neu« ist.3 So teilt der Critical Realism bestimmte Anliegen, die im Zuge des cultural turn prominent wurden und an die auch die neuen Realismen/ Materialismen anschließen, wie etwa die Sprachvermitteltheit aller Erkenntnis oder die Zurückweisung deterministischer Kausalitätsvorstellungen; in seinem Rahmen wurden diese Einsichten jedoch von Anfang an in eine Kritik des Anthropozentrismus eingebettet, die von einer ontologischen Vorgängigkeit nicht-menschlicher Dinge ausgeht und deren Wirkkräfte betont. Auch handelt es sich hier um keinen philosophischen Ansatz, der »von außen« auf die Sozialwissenschaften trifft, sondern um eine Philosophie der Sozialwissenschaften, an deren Ausarbeitung Vertreterinnen der einzelnen Disziplinen maßgeblich beteiligt waren.4 Den Sozialwissenschaften unterbreitet der Critical Realism ein sehr weitreichendes Integrationsangebot: Er verbindet sozialontologische, epistemologisch/methodologische und ethisch-kritische Fragestellungen und gewinnt daraus Kriterien und Heuristiken sowohl für die empirische Forschung als auch die Konstruktion von Gesellschaftstheorien. Sozialwissenschaftliche Ansätze, so die Sichtweise des Critical Realism, basieren immer auf Vorannahmen hinsichtlich der Beschaffenheit ihres Gegenstandes (»Ontologie«), der Möglichkeitsbedingungen und Prozeduren seiner Erschließung (»Epistemologie«/»Methodologie«) sowie der wertenden Beziehung zu ihm (»Ethik«). Diese »metatheoretischen« Voraussetzungen, die zumeist implizit bleiben, bedingen, welche Ausschnitte des Sozialen überhaupt in den Blick genommen

2 | Zu den Ausnahmen gehört DeLanda 2006. Wir rechnen die Akteur-Netzwerk-Theorie von Latour und anderen – entsprechend deren eigenem Selbstverständnis – nicht zu den neuen Materialismen/Realismen. 3 | Kritisch zu den Neuheitsgesten der neuen Materialismen auch Ahmed 2008. 4 | Wir verwenden im Folgenden, auch in den einzelnen Beiträgen, immer das generische Femininum – selbst wenn es sich um (weitgehend) männliche Kontexte handelt.

Einleitung

werden bzw. was als gute sozialwissenschaftliche Forschung gilt.5 Vor diesem Hintergrund fordert der Critical Realism einerseits dazu auf, die eigenen ontologischen, epistemologisch/methodologischen und ethisch-politischen Prämissen zu explizieren und zu begründen. Auf diese Weise trägt er dazu bei, die Sozialwissenschaften reflexiver zu machen. Andererseits unterbreitet er als Philosophie der Sozialwissenschaften substanzielle Vorschläge zur Ausarbeitung dieser Vorannahmen: in der Sozialontologie ein antireduktionistisches Programm, das die Einbettung alles Sozialen in Natur betont, soziale Strukturen, Artefakte und Akteure jedoch gleichzeitig in ihrer je eigenen Wirksamkeit fasst und über die Kontingenzen menschlicher Praxis miteinander vermittelt; epistemologisch/methodologisch eine Rechtfertigung starker kausaler Erklärungsansprüche jenseits des deduktiv-nomologischen Modells und seiner deterministischen Vorstellung von Ursache und Wirkung; bezogen auf die Ethik schließlich eine Verknüpfung von Empirie und Normativität, von Analyse und Kritik. Um ihren Gegenstand adäquat zu erfassen, können dem Critical Realism zufolge sozialwissenschaftliche Ansätze häufig gar nicht anders, als Werturteile vorzunehmen. Verteidigt wird auf diese Weise ein Projekt kritischer Sozialwissenschaft, das sich als Teil menschlicher Emanzipationsprozesse versteht. Angesichts dieses integrativen Potenzials erscheint es als Versäumnis, dass der Critical Realism in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften bislang kaum zur Kenntnis genommen wurde. Der vorliegende Band schafft Abhilfe, indem er daran mitwirkt, die überfällige Rezeption zu befördern.6 Angelegt ist der Band als Dialog über Stärken und Schwächen kritisch-realistischer Interventionen: Deutschsprachige Autorinnen, die kritische Sozialtheorie betreiben bzw. sich in deren Umfeld bewegen, antworten auf Beiträge von Vertreterinnen des Critical Realism bzw. ihm nahestehender Autorinnen, indem sie diese mit ihren je eigenen Perspektiven kontrastieren. Um den Dialog zu rahmen, gehen wir im Folgenden in fünf Schritten vor: Zunächst werden die Anfänge sowie die wichtigsten Entwicklungen und disziplinären Ausarbeitungen des 5 | In einem innerhalb der deutschen Soziologie vielzitierten Aufsatz unterscheidet Gesa Lindemann zwischen »Sozialtheorien«, »Gesellschaftstheorien« und »Theorien begrenzter Reichweite« (vgl. 2008). Was wir als »metatheoretische Voraussetzungen« bezeichnen, firmiert bei Lindemann – verkürzt um die ethische Dimension – unter »Sozialtheorie«. Demgegenüber verwenden wir »Sozialtheorie« in einem breiteren Sinn: als Oberbegriff für Metatheorie/Philosophie der Sozialwissenschaften, Gesellschaftstheorie und Zeitdiagnose. 6 | Ein Schritt dazu war das Schwerpunktheft »Critical Realism als Philosophie der Sozialwissenschaften« der Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie aus dem Jahr 2014. Frühere Arbeiten sind Pühretmayer 2005, 2010 und 2013. Auseinandersetzungen mit einzelnen Beiträgen von Autorinnen des Critical Realism finden sich in Ritsert 1997, Balog 2001, Sigmund 2001 und Mackert 2006.

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Critical Realism skizziert. Die nächsten drei Abschnitte sind systematisch angelegt und widmen sich den bereits erwähnten zentralen Feldern der Philosophie der Sozialwissenschaften: Sozialontologie, Epistemologie/Methodologie und Ethik. Gezeigt wird, wie der Critical Realism die sozialwissenschaftliche und gesellschaftstheoretische Diskussion sowohl auf jedem einzelnen dieser Felder als auch durch ihre Integration bereichern kann. Wir schließen unsere Einleitung mit einem kurzen Überblick über die Beiträge zu diesem Band.

1. A nfänge , E nt wicklungen und R ezep tionen des C ritical R ealism Heute existiert der Critical Realism als theoretische Strömung, die sich in einer Vereinigung, der International Association for Critical Realism, institutionalisiert hat, jährliche Konferenzen im Wechsel zwischen Großbritannien und anderen Ländern abhält und mit dem Journal of Critical Realism eine eigene Zeitschrift betreibt.7 Seine Anfänge reichen allerdings bis in die 1970er-Jahre zurück und sind untrennbar mit zwei Büchern des 2014 verstorbenen Philosophen Roy Bhaskar verbunden: A Realist Theory of Science (1975) und The Possibility of Naturalism (1979). Bhaskar selbst unterrichtete zunächst Wirtschaftswissenschaft, bevor er sich – frustriert ob der Realitätsferne seines Faches – dazu entschloss, eine philosophische Doktorarbeit zu schreiben, aus der dann A Realist Theory of Science wurde (vgl. Bhaskar 2010: Kap. 2 und 3). Damit war er Teil einer breiteren theoretischen Konjunktur: In den frühen 1970er-Jahren hatten in Großbritannien einige durch New Left und den Auf bruch von 1968 politisierte Intellektuelle begonnen, nach einer Wissenschaftsphilosophie zu suchen, die den theoretischen Einsichten von Marx und anderen emanzipatorischen Denkerinnen gerecht wird.8 Eine distinkte realistische Philosophie der Sozialwissenschaften entstand im Anschluss an Bhaskars Arbeiten allerdings erst in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren, als eine Reihe anderer Theoretikerinnen sich dieses Projekt zu eigen machte, erweiterte und modifizierte. Eine wichtige institutionelle Plattform hierfür waren die von Bhaskar gemeinsam mit Ted Benton, Andrew Collier und William Outhwaite initiierten Realism and the Human Sciences-Konferenzen, die zwischen 1983 und 1994 in Großbritannien stattfanden. So hat sich auch die Bezeichnung »critical realism« erst im Zuge dieser »Kollektivierung« durchgesetzt: als Verbindung 7 | Teil dieser Institutionalisierung sind auch die (bereits etwas älteren) Essential Readings (Archer et al. 1998) sowie das Dictionary of Critical Realism (Hartwig 2007). 8 | Ergebnisse dieser Konstellation sind neben der 1972 gegründeten Zeitschrift Radical Philosophy u.a. Keat/Urry 1975, Benton 1977, Collier 1977, Mepham/Ruben 1979 sowie D. Sayer 1979.

Einleitung

von »transcendental realism« und »critical naturalism« – der beiden Begriffe, die Bhaskar in den 1970er-Jahren verwendet hatte (Bhaskar 1989: 190). Wir skizzieren in diesem Abschnitt zunächst die zentralen philosophischen Interventionen von Bhaskars ersten beiden Büchern, stellen dann kurz die Arbeiten von Margaret Archer, Andrew Sayer und Dave Elder-Vass vor, die den Critical Realism gegenwärtig prägen, und geben abschließend einen Überblick über die wichtigsten disziplinären Rezeptionen dieser Strömung.

Bhaskars Anfang Der Critical Realism ist eine Spielart des wissenschaftlichen Realismus, der als philosophische Perspektive bereits in den 1960er-Jahren von Mario Bunge, Hilary Putnam, Wilfrid Sellars und anderen vertreten wurde. Zwei Annahmen sind für den wissenschaftlichen Realismus zentral: 1. Die Wirklichkeit existiert als in sich strukturierte unabhängig von unseren jeweiligen Erkenntnisleistungen. 2. Sie ist grundsätzlich intelligibel, wobei bestimmte Aspekte von ihr, nämlich das, was nicht direkt beobachtbar ist, am besten durch wissenschaftliche Erklärungen erschlossen werden können.9 Bhaskars A Realist Theory of Science (im Folgenden: RTS) zeichnet sich neben dieser Zugehörigkeit zum wissenschaftlichen Realismus durch eine weitere theoretische Verpflichtung aus. Wie auch der gesamte spätere Critical Realism teilt Bhaskar die epistemologische Kritik am Empirismus, wie sie u.a. von Popper, Quine und Kuhn in Hinblick auf die »Theorieabhängigkeit der Beobachtung« geübt wurde: Theorien sind nicht auf Beobachtungen bzw. Daten rückführbar, sondern diese bekommen umgekehrt ihren kognitiven Gehalt erst, wenn sie anhand von Begriffen in Theorien oder Paradigmen interpretiert werden.10 Eine erste zentrale Behauptung von RTS lautet nun, dass wissenschaftlicher Realismus und epistemologische Empirismuskritik keineswegs unvereinbar sind, ja, dass ersterer der letzteren eine ontologische Grundlage geben kann. RTS schlägt deshalb vor, zwischen zwei Ebenen von Wissenschaft zu unterscheiden (1975: 21f.): In ihrer »transitiven« Dimension ist Wissenschaft ein sozialer Prozess, in dem anhand von Theorien, Untersuchungstechniken und Begründungsverfahren Fakten generiert und zu epistemischen Konstrukten und explanatorischen Modellen umgearbeitet werden; in ihrer »intransitiven« Seite referiert Wissenschaft dagegen auf eine in sich strukturierte Wirklichkeit, auf Objekte

9 | Der wissenschaftliche Realismus ist damit keineswegs zwingend ein »Szientismus«. Zu einem solchen wird er erst, wenn Wissenschaft zu einer universalen Problemlösungsinstanz erhoben wird. 10 | Bereits bei Kant hieß es: »Anschauungen ohne Begriffe sind blind« (1781: 130).

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und deren Mechanismen, die unabhängig von den jeweiligen Untersuchungen existieren.11 Die radikalen Implikationen von RTS, die auf eine Fundamentalkritik am mainstream der modernen westlichen Philosophie hinauslaufen, treten in Auseinandersetzung mit dem Kausalitätsverständnis von David Hume zutage. Diesem zufolge ist Verursachung nichts, was den Dingen als Dingen zukommt, sondern eine konstante Verknüpfung von Ereignissen, die wir in unserem Verstand vornehmen. Bhaskar sieht hier einen doppelten Fehlschluss am Werk, der die westliche Philosophie seit Hume geprägt hat: einerseits einen »epistemic fallacy« (1975: 16), der Eigenschaften von Dingen in solche der Erkenntnis transformiert und auf diese Weise einen Primat der Epistemologie über ontologische Aussagen errichtet; andererseits einen »Aktualismus« (ebd.: 64), der Dinge zugunsten von Ereignissen ausblendet und damit einem deterministischen Verständnis von Kausalität als Ereignisregelmäßigkeit den Weg bahnt. Kant hat nach Bhaskar beide Fehlschlüsse bekräftigt: Während er Kausalität zu einem reinen Verstandesbegriff erhebt, wird Humes »aktualistische« Vorstellung von Verursachung als Invarianz zwischen Ereignissen reproduziert und der in ihr angelegte Determinismus zum Charakteristikum von Natur erklärt. Der Anthropozentrismus des epistemischen Fehlschlusses bekommt einen philosophischen Adelstitel, wenn die Kritik der reinen Vernunft empfiehlt, wir sollten uns nicht länger nach den Dingen richten, sondern diese auf unsere Erkenntnis beziehen (vgl. 1787: 21f.).12 11 | Das Wort »transitiv« bezieht sich auf den aktiven Prozess der Untersuchung; »intransitiv« auf das, was untersucht wird – oder in der klassischen Sprache der Erkenntnistheorie: Subjekt und Objekt, wobei für den Critical Realism das »Subjekt« nicht außerhalb der Welt »hockt«, sondern ontologisch gesehen nur ein »Objekt« unter anderen ist. Derart disprivilegiert kann die transitive Dimension, indem bestimmte Erkenntnisse praktisch relevant werden, zwar auf die intransitive einwirken und diese umwandeln, nicht jedoch – wie ein »starker« Konstruktivismus unterstellt – in einem Erkenntnisakt hervorbringen. Bhaskar unterscheidet daher auch zwischen einer »causal interdependency«, den kausalen Abhängigkeitsbeziehungen zwischen »Subjekt« und »Objekt«, auf die konstruktivistische Ansätze zurecht verweisen, und einer »existential intransitivity«, der ontologischen Vorgängigkeit des »Objekts«, die »starke« Varianten des Konstruktivismus bestreiten (müssen) (Bhaskar 1979: 61 [Hervorh. im Orig.]). 12 | Es ist dies einer der vielen Topoi der »neuen Materialismen«, die sich bereits in RTS finden. Indem Kant allein dem Erkenntnissubjekt eine ordnungsstiftende Funktion zubilligt, hat er, anders als von ihm vermeint, gerade keine »kopernikanische Wende« in der Philosophie herbeigeführt, sondern eine »ptolemäische Konterrevolution« (Meillassoux 2006: 159): Die Dezentrierung der Beobachtung, die für die moderne Wissenschaft konstitutiv ist, wird umgebogen zu einer Rezentrierung der Welt auf das menschliche Subjekt. Oder, in Bhaskars Worten: »The anthropocentric and epistemic biases of

Einleitung

Für Bhaskar folgt aus dieser Kritik am Anthropozentrismus allerdings keineswegs, dass auch Kants kritischer Transzendentalismus aufgegeben werden müsste. Dieser eignet sich vielmehr für eine immanente Kritik, um die philosophische Position zu rehabilitieren, die Kant in seiner Verbindung von »empirischem Realismus« und »transzendentalem Idealismus« ausdrücklich verworfen hatte: den »transzendentalen Realismus«, der »Zeit und Raum als etwas an sich (unabhängig von unserer Sinnlichkeit) Gegebenes ansieht« (1781: 485). Wissenschaft, so Bhaskars Diskussionsangebot an den philosophischen mainstream, ist eine sinnvolle menschliche Praxis. Wo Kant die Möglichkeitsbedingungen wissenschaftlichen Wissens in der Beschaffenheit des Denkens sucht, dreht Bhaskar die transzendentale Frage um: »What must the world be like for science to be possible?« (1975: 23) Was für eine Einrichtung der Welt müssen wir voraussetzen, damit wissenschaftliche Praktiken verstehbar sind? Bhaskar beantwortet diese Frage in zwei Schritten: 1. Damit wissenschaftliche Beobachtung intelligibel ist, müssen wir unterstellen, dass sie nicht nur sich selbst beobachtet, sondern ein Objekt hat, das unabhängig von ihr existiert. 2. Humesche Ereignisregelmäßigkeiten sind in der Tat eine menschliche Leistung – nämlich des wissenschaftlichen Experiments: »Immer wenn x, dann y« ist nach Bhaskar nur in einem artifiziell geschlossenen System möglich, in dem ein einzelner Mechanismus isoliert wurde. Wenn uns das Experiment nun aber Wissen vermitteln soll, das auch in der Welt als offenem Universum gilt, können wir Ereignisinvarianzen nur als Belege für zugrundeliegende kausale Mechanismen nehmen, nicht als diese selbst. Indem Wissenschaft diese Mechanismen erklärt, sagt sie uns etwas über die tatsächliche Einrichtung der Welt – einer Welt, in der unzählige Mechanismen auf kontingente Weise zusammenwirken und die daher keine strikten Ereignisregelmäßigkeiten kennt. Bhaskar hat auf diese Weise eine radikale Alternative zur positivistisch-deterministischen Vorstellung von Kausalität als Ereignisinvarianz entwickelt und damit auch zum auf ihr aufbauenden deduktiv-nomologischen Erklärungsmodell.13 Gegenüber Hume und anderen Ereignisontologien betont RTS: »The world classical philosophy have resulted in the dominance, in philosophy, of what might be styled ›idols‹ of a Baconian kind. These are false conceptions which cause men to see, in philosophy, everything in relation to themselves […] and their present knowledge. Six hundred years ago, Copernicus argued that the universe does not revolve around man. And yet in philosophy we still represent things as if it did.« (1975: 61) 13 | Wir unterscheiden in diesem Text zwischen »Empirismus« und »Positivismus«. Unter ersterem verstehen wir eine Erkenntnistheorie, die von einem Primat der Sinnesdaten bzw. Beobachtungssätze ausgeht. Den letzteren begreifen wir dagegen als distinkte Wissenschaftsphilosophie, die sich u.a. durch folgende Auffassungen auszeichnet: 1. eine antimetaphysische Haltung, die Dinge zugunsten von Ereignissen ausblendet; 2. das darauf basierende Verständnis von Kausalität als Ereignisinvarianz

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consists of things, not events.« (Bhaskar 1975: 51) Die Entitäten, die in der Welt existieren, sind komplexe Objekte mit einer inneren Struktur, aufgrund derer sie »emergente« Eigenschaften besitzen – Eigenschaften, die den Elementen, aus denen sie bestehen, isoliert nicht zukommen. Die Dinge haben dabei eine spezifische Funktionsweise, in der ihre Elemente zusammenwirken, die Bhaskar als »generative mechanism« (ebd.: 50) bezeichnet. Anders als in der mechanischen Philosophie sind sie jedoch keine passiven Objekte, sondern »causal agents; that is, […] things endowed with causal powers« (ebd.: 49 [Hervorh. im Orig.]): Die Dinge besitzen Kausalkräfte, d.h. Dispositionen bzw. Fähigkeiten, die unter bestimmten Bedingungen aktiviert werden können.14 Auch wenn diese Kausalkräfte aktiviert sind, heißt das nicht, dass sie linear realisiert würden. Sie wirken immer nur als »Tendenzen«, die von anderen Kausalkräften durchkreuzt werden können, sodass Situationen und Ereignisse nicht einfach, sondern vielfach verursacht sind. Und diese vielfach verursachten Ereignisse finden auch dann statt, wenn sie von Menschen nicht »erfahren« werden.15 Oder, in den Worten von Andrew Sayer (1984: 105): »A causal claim is not about a regularity between separate things or events but about what an object is like and what it can do.« Um die spezifische Differenz seiner Entitätenontologie sowohl gegenüber dem epistemischen als auch dem aktualistischen Fehlschluss zu betonen, hat Bhaskar vorgeschlagen, zwischen »the real«, »the actual« und »the empirical« zu unterscheiden, zwischen dem Wirklichen, dem Tatsächlichen und dem Empirischen16: und Erklärung als nomologischer Deduktion; 3. die Idee einer an der Physik orientierten Einheitswissenschaft; 4. die Forderung einer strikten Trennung von »Tatsachenaussagen« und »Werturteilen«; 5. der Szientismus im Sinne einer universalen Anwendbarkeit nomologischen Wissens. George Steinmetz (2004) spricht von »methodologischem Positivismus«, der sich aus »empiristischer Ontologie« (unser Punkt 1), »positivistischer Epistemologie« (unser Punkt 2) und »szientistischem Naturalismus« (unsere Punkte 3 bis 5) zusammensetzt. Während der Empirismus als Erkenntnistheorie heute nur noch wenige Anhängerinnen besitzt, ist der (methodologische) Positivismus als »Wissenschaftsideologie«, vor allem was die Punkte 1, 2 und 4 anbelangt, keineswegs tot. 14 | Dies ist ein weiterer Punkt, an dem der Critical Realism sowohl die »neuen Materialismen« als auch die Akteur-Netzwerk-Theorie vorweggenommen hat. Im Unterschied zu letzterer betont er allerdings, dass verschiedene Objekte spezifische Kausalkräfte haben und daher nicht im gleichen Sinn als Akteure zu behandeln sind (Elder-Vass 2008). Vgl. zum Konzept der »causal powers« auch Harré/Madden 1975. 15 | »Tendencies may be possessed unexercised, exercised unrealised, and realized unperceived (or undetected) by men« (Bhaskar 1975: 18). 16 | Wir übersetzen »the real« mit »das Wirkliche«, da es bei Bhaskar die Ebene der generativen Mechanismen und Wirkkräfte bezeichnet. Um die Positivismuskritik des Critical Realism zu transportieren, geben wir »the actual« als »das Tatsächliche« wieder.

Einleitung

Abbildung 1 Mechanismen Ereignisse Erfahrungen

Bereich des Wirklichen √ √ √

Bereich des Tatsächlichen Bereich des Empirischen √ √



Vgl. Bhaskar 1975: 56

Der epistemische Fehlschluss reduziert die erkennbare Realität auf den Bereich des Empirischen, auf unsere Erfahrungen von ihr. Der aktualistische Fehlschluss ermöglicht einen etwas breiteren Weltzugang, der neben unseren Erfahrungen auch noch (nicht beobachtete) Ereignisse bzw. Situationen enthält. Eine unverkürzte Realitätskonzeption erhalten wir jedoch erst mit dem Wirklichen, indem Dinge und ihre generativen Mechanismen als »Quellen« von Ereignissen und Erfahrungen gefasst werden. Während der mainstream der modernen westlichen Philosophie uns darauf verpflichten will, mit dem Tatsächlichen oder dem Empirischen Vorlieb zu nehmen, zeichnet es Bhaskar zufolge die moderne Wissenschaft aus, das Wirkliche in seiner »Tiefe« zu erschließen. Gute wissenschaftliche Theorien, selbst wenn sie sich dem eigenen Verständnis nach auf eine »flache« Ontologie der Ereignisse und Erfahrungen beschränken, sagen uns immer etwas über die Dinge und ihre Mechanismen. Realistische Philosophie kann ihnen dabei helfen, das zu sehen: Sie ist, wie Bhaskar in Anlehnung an Locke und Leibniz sagt, »under-labourer« und »mid-wife« (1975: 10), Zuarbeiterin und Hebamme. Als solche ist sie an den Wissenschaften und ihren Erkenntnissen orientiert, hält aber zugleich auch Distanz, um jene bei der Entwicklung eines adäquaten Selbstverständnisses zu unterstützen. Während RTS eine Philosophie der Naturwissenschaften, vor allem von Physik und Chemie enthält, zielt Bhaskars zweites, 1979 veröffentlichtes Buch, The Possibility of Naturalism (im Folgenden PON) auf eine – wie der Untertitel anzeigt – Philosophical Critique of the Contemporary Human Sciences. Entwickelt werden Elemente einer realistischen Philosophie der Sozialwissenschaften, die ihren Ausgangspunkt in einer Doppelkritik an Positivismus und Hermeneutik hat: Wenn der Positivismus mit seinem Regularitätenmodell von Kausalität, Gesetz und Erklärung bereits für die Naturwissenschaften unangemessen ist, dann ist er das, so Bhaskar, für die Sozialwissenschaften, die mit wenigen Ausnahmen keine Experimente kennen, umso mehr. Hermeneutisch-sinnverstehende Ansätze dagegen haben sich einerseits nicht genug vom Positivismus emanzipiert, wenn sie diesen als adäquate Philosophie der Naturwissenschaften anerkennen. Andererseits enthalten sie eine Überreaktion, insofern sie in Kontinuität zu Kants Zwei-Welten-Lehre von Phänomenalität und Noumenalität das »Reich der Ursachen« und das »Reich der Gründe« als strikt voneinander geschiedene Welten fassen und das Soziale jenseits der Natur

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verorten – mit dem Resultat, dass ein Methodendualismus zwischen Naturund Sozialwissenschaften entsteht (»nomothetisch« versus »ideographisch«, Erklären versus Verstehen etc.). Des Weiteren sind hermeneutisch-sinnverstehende Ansätze PON zufolge einseitig, wenn sie soziale Ordnungen primär oder gar ausschließlich als Deutungs- bzw. Normordnungen begreifen.17 Bhaskar konzipiert demgegenüber das Soziale als Teil von Natur: Gründe können zu Ursachen werden und umgekehrt, womit der Dualismus von Natur und Kultur zusammenbricht. Auch hat das Soziale eine Objektivität, die sich nicht in Interpretationen oder normativen Regelsetzungen erschöpft. Schließlich – und das ist das Zugeständnis bzw. die Wertschätzung auch des späteren Critical Realism gegenüber hermeneutischen Ansätzen – weisen die Sozialwissenschaften in der Tat eine spezifische Verstehensdimension auf, eine »doppelte Hermeneutik« (Giddens 1976: 95): Es werden nicht nur Daten interpretiert, sondern Teile des Materials, nämlich durch Gründe motivierte Handlungen, sind bereits selbst vorinterpretiert. Daraus folgt für PON jedoch nicht, dass sich eine klare methodologische Grenze zu den Naturwissenschaften ziehen ließe. Vielmehr zeichnen sich, sobald das deduktiv-nomologische Modell verabschiedet ist, sowohl die Natur- als auch die Sozialwissenschaften durch eine enorme Methodenvielfalt aus, wobei es auch zu erheblichen Überschneidungen kommt.18 Das Terrain, das PON jenseits der Alternative von Positivismus und Hermeneutik erschließen will, bezeichnet Bhaskar als »kritischen Naturalismus«. Natur kann dabei weder, wie im Zuge des cultural turn häufig geschehen, in ideologische Naturalisierungen aufgelöst werden, noch reicht es hin, Grenzen zu destabilisieren oder im Sinn einer »symmetrischen Anthropologie« (Latour 1991) eine wechselseitige Abhängigkeit von menschlichen und nicht-menschlichen Dingen zu behaupten. PON favorisiert eine radikalere Anthropozentrismuskritik, die von einer a-symmetrischen Abhängigkeit zwischen Menschen/ ihren Sozialzusammenhängen und der übrigen Natur ausgeht. Dazu schlägt Bhaskar eine philosophische Sichtweise vor, die er als »synchronic emergent pow­

17 | Bhaskar bezieht sich mit seiner Kritik vor allem auf Peter Winchs auch im deutschsprachigen Raum breit rezipiertes Buch The Idea of Social Science and its Relation to Philosophy (1958). Für Habermas’ Arbeiten aus den 1960er- und 1970er-Jahren dürfte diese Kritik ebenfalls gelten. 18 | Zumindest der avanciertere Teil heutiger interpretativer Ansätze bewegt sich, insbesondere wenn er wie Reed (2011) auf den Critical Realism reagiert, nicht mehr in den Dualismen von Winch oder Habermas. Was jedoch bleibt, ist die Behauptung eines Primats des hermeneutischen Verstehens über das Erklären bzw. dass letzteres als eine Subkategorie des ersteren zu fassen sei – eine Annahme, die der Critical Realism bestreitet.

Einleitung

ers materialism« (1979: 124 [Hervorh. im Orig.]) bezeichnet.19 Anders als z.B. in der »flachen« Ontologie der Akteur-Netzwerk-Theorie ist die Welt hier eine »geschichtete«: Ihre Entitäten besitzen Eigenschaften, die aufeinander auf bauen, ohne dass deshalb die höherstufigen auf die »unter« ihnen liegenden reduzierbar wären. So beruhen chemische Mechanismen auf physikalischen, biologische auf chemischen, mentale auf biologischen und soziale auf mentalen, wobei Bhaskar die Möglichkeit kausaler Rückwirkungen (in der heutigen Diskussion: »downward causation«) ausdrücklich hervorhebt. Die spezifischen sozialen und mentalen Mechanismen, die Menschen auszeichnen, sind somit an biologische, chemische und physikalische Voraussetzungen gebunden, ohne die sie nicht existieren könnten – was umgekehrt jedoch nicht gilt. Mit diesem Emergenzmaterialismus versucht PON einerseits einen Physikalismus zu vermeiden, der die Welt auf die elementaren Mechanismen der Physik reduziert – bzw. einen Biologismus, dessen Reduktionismus (inkonsequenterweise) auf der Ebene der Gene haltmacht; andererseits soll der asymmetrischen Abhängigkeit der Menschen von der übrigen Natur Rechnung getragen werden.20 Soziologisch sucht PON nach einer Position jenseits der Alternative von Kollektivismus und Individualismus wie auch von Ansätzen, sie »dialektisch« zu versöhnen. Die realistische Position, die Bhaskar vor allem von Marx vertreten sieht, bezeichnet er als »relational sociology« (ebd.: 39) und expliziert sie anhand eines »transformational model of social activity« (ebd.: 43). Diesem zufolge sind soziale Strukturen immer schon da, wenn gehandelt wird; sie werden durch Handlungen nicht jeweils neu geschaffen, sondern reproduziert oder transformiert. »Gesellschaft«, so der bhaskarsche Gedanke, ist sowohl Voraussetzung als auch Ergebnis menschlicher Praxis. Und letztere ist beides: intentionales Handeln sowie nicht-intendierte Strukturreproduktion.21 Soziale Strukturen werden dabei als Relationengefüge zwischen Menschen untereinander und bezogen auf Ressourcen bzw. Artefakte gefasst. Menschen, so die Idee, handeln nicht im luftleeren Raum oder in einem nicht weiter theoretisierbaren Situationskontext. Vielmehr wird dieser Kontext maßgeblich durch 19 | Dass in Evolution und menschlicher Geschichte Neues entsteht, wird im philosophischen Sprachgebrauch üblicherweise als »diachrone Emergenz« gefasst (Stephan 1999). 20 | Zur Problematisierung von Ambivalenzen im Emergenzverständnis von PON: Elder-Vass 2010a, Kaidesoja 2013, Lindner 2014. 21 | »It is easy to see that both society and human praxis must possess a dual character. Society is both the ever-present condition […] and the continually reproduced outcome of human agency. And praxis is both work, that is conscious production, and (normally unconcious) reproduction of the conditions of production, that is society. One could refer to the former as the duality of structure, and the latter as duality of praxis.« (Bhaskar 1979: 43f. [Hervorh. im Orig.])

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eben jene sozialen Strukturen bestimmt und damit durch vorgegebene soziale Positionen, denen sich Menschen in ihrem Handeln nicht entziehen können. Bhaskars weitere intellektuelle Entwicklung ist schnell erzählt: Sein nächstes, 1986 veröffentlichtes Buch, Scientific Realism and Human Emancipation, enthält gegenüber RTS und PON diverse Präzisierungen und Ergänzungen, jedoch wenig substanziell Neues. Vertieft wird hier vor allem die Positivismuskritik und dabei insbesondere die Infragestellung der Fakten/Werte-Dichotomie, mit der Bhaskar in PON begonnen hatte – eine Problematisierung, auf die wir im vierten Abschnitt dieses Textes noch zu sprechen kommen.22 Nach einer 1988 unter dem Titel Reclaiming Reality veröffentlichten Aufsatzsammlung23 und einer Kritik an Rorty (1990) hat Bhaskar 1993 mit Dialectic: The Pulse of Freedom versucht, dem Critcial Realism eine »dialektische Wende« zu verleihen. Die zentrale These dieses Werks lautet, dass Absenzen etwas Reales sind und dass gerade in ihrer Verleugnung die Eigentümlichkeit der westlichen Philosophie liegt. An Bhaskars Dialektikbuch sind unabhängig von der Frage, ob und inwiefern es wichtige Einsichten enthält, vor allem zwei Dinge zu konstatieren: Zum einen verliert die Philosophie ihre in RTS und PON praktizierte Rolle als Zuarbeiterin und Hebamme der Wissenschaften und wird in einem Rückgang von Marx auf Hegel zur Systemkonstrukteurin. Zum anderen treibt Dialectic etwas auf die Spitze, das bereits in Scientific Realism zu beobachten ist: Es werden eine Unmenge an Unterscheidungen eingeführt, die häufig unausgearbeitet bleiben und deren Relevanz unklar ist, sodass die Argumentation eigentümlich dunkel und schwer nachvollziehbar wird. Ende der 1990er-Jahre hat Bhaskar dann einen weiteren, diesmal spirituellen turn unternommen und begonnen, eine Philosophie der Metarealität zu entwickeln (vgl. 2002) – eine Neuorientierung, die auch als »intellektueller Suizid« (Callinicos 2001) beschrieben wurde und innerhalb des Critical Realism hoch umstritten ist (z.B. Potter 2006). Bhaskar hat dabei immer wieder versucht, den Critical Realism für seine intellektuelle Biografie zu vereinnahmen, und die eigenen turns als dialektisch notwendige Weiterentwicklungen dieses Ansatzes insgesamt dargestellt (vgl. Bhaskar 2010). Im Gegensatz dazu wird der Critical Realism im vorliegenden Band als kollektives Theorieprojekt verstan22 | Zu den Ergänzungen von Scientific Realism gehört u.a. der Begriff der ökologischen Asymmetrie: »Intrinsic to any truly ecological perspective is a real asymmetry between animal (organism, species, population, agent, act etc.) and environment. When species and environment (or subject and object, or part and whole, or individual and society), mismatch, it is the species, subject or part, not the environment, object or whole which ›gives‹, [that (sic!)] goes under. This is the ecological asymmetry.« (Bhaskar 1986: 140f. [Hervorh. im Orig.]) 23 | Diese enthält u.a. Bhaskars nach wie vor herausragende Einträge in Tom Bottomores Dictionary of Marxist Thought (1983).

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den, in dessen Zentrum die Ausarbeitung einer realistischen Philosophie der Sozialwissenschaften steht, weshalb wir auf Bhaskars turns auch nicht weiter eingehen. Unter den vielen Beiträgen, die dieses Projekt seit den 1980er-Jahren geprägt haben, sind in unseren Augen vor allem drei soziologische hervorzuheben: diejenigen von Margaret Archer, Andrew Sayer und Dave Elder-Vass.

Sozialtheoretische Weiterentwicklungen Margaret Archer hat dem Critical Realism mit ihrem »morphogenetic approach« eine robuste sozialontologische Grundlage verliehen. Vom Ansatzpunkt her ist dieser dem bhaskarschen Transformationsmodell durchaus ähnlich: Akteure sind in ihrem Handeln immer soziostrukturell bedingt, in Prozessen der Morphogenese/Morphostase transformieren/reproduzieren sie diese Bedingungen. Abbildung 2 soziale Bedingung T1

sozio-kulturelle Interaktion T2

T3 strukturelle Veränderung (Morphogenese) strukturelle Reproduktion (Morphostase)

T4

Vgl. Archer 1995: 157

Indem Archer sich überlappende Zeitsequenzen (T1–T4) einführt, zeigt sie, dass soziales Handeln zu keinem Zeitpunkt unstrukturiert ist. Ihren Ansatz hatte sie bereits entwickelt, bevor sie zum Critical Realism kam: zunächst in einer vergleichenden Studie zum modernen Bildungssystem (1979) und dann in Form einer Kulturtheorie, welche die Entwicklung von Sinnstrukturen als Prozesse der Morphogenese/Morphostase beschreibt (vgl. 1988). Anders als Bhaskar hat Archer ihren Zugang auch frühzeitig von Giddens’ Strukturierungstheorie abgegrenzt: Statt soziale Strukturen und Praktiken ineinander aufzulösen, haben Strukturen und Akteure jeweils spezifische und irreduzible »emergente Eigenschaften«, deren Zusammenspiel soziale Praktiken erst erklärt (1982).24 Als Archer dann Ende der 1980er-Jahre Teil des kritisch-rea24 | So spricht Giddens – ohne dass jemals klar geworden wäre, was »Konstitution« genau bedeutet – von einer »essential recursiveness of social life, as constituted in social practices: structure is both medium and outcome of the reproduction of practices. Structure enters simultaneously into the constitution of the agent and social practi-

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listischen Diskussionszusammenhangs wurde, gewann dessen Sozialontologie, wie im nächsten Abschnitt systematisch zu sehen sein wird, deutlich an Konturen. Realist Social Theory von 1995 zeigt, dass bereits Bhaskars Transformationsmodell auf einer deutlich robusteren Strukturkonzeption beruht als Giddens’ Strukturierungstheorie und entwickelt ersteres weiter: Soziale Strukturen bestehen sowohl aus sozialen Positionen, die Menschen in Hinblick auf Ressourcen miteinander relationieren, als auch aus sozialen Rollen, die institutionelle Verhaltenserwartungen stiften (Mader 2016). Was der kritisch-realistischen Sozialontologie jetzt noch fehlte, war eine Akteurstheorie bzw. Theorie der Handlungsfähigkeit. Diese hat Archer, angefangen mit Being Human. The Problem of Agency (2000), in mehreren Büchern ausgearbeitet (2003 und 2007) – und wird von uns im nächsten Abschnitt vorgestellt. Zuletzt hat sich Archer vor allem der Frage gewidmet, inwiefern die Spätmoderne auf eine hyperreflexive Gesellschaft zusteuert, in der morphogenetische Prozesse solche der Morphostase zunehmend in den Hintergrund drängen (2012, 2013, 2014, 2015 und 2016). Im Unterschied zu Archer hat Andrew Sayer bereits in den frühen 1980erJahren an die Arbeiten von Bhaskar angeknüpft. Davon zeugt zunächst ein Aufsatz zu Abstraktionen in den Sozialwissenschaften (1981), aus dem dann Method in Social Science (1984) wurde – nach wie vor das methodologische Grundlagenwerk des Critical Realism. Sayer vertieft in diesem Buch die Kritik am deduktiv-nomologischen Erklärungsmodell und spricht sich u.a. für Kombinationen von qualitativen und quantitativen Verfahren aus, kurz: für einen Methodenpluralismus, der sich an der Beschaffenheit des jeweiligen Untersuchungsobjekts orientiert. Realism and Social Science (2000) unternimmt eine zugleich sympathisierende und kritische Auseinandersetzung mit Postmoderne, Poststrukturalismus und Sozialkonstruktivismus. Gezeigt wird, dass sich bei Autorinnen wie Donna Haraway oder Michel Foucault durchaus realistische Tendenzen finden lassen. Sayer plädiert dabei u.a. dafür, ontologische, epistemologische und ethische Bedeutungen von Objektivität zu unterscheiden und die Theorieabhängigkeit von Beobachtungen nicht als Theoriedeterminismus misszuverstehen. Seitdem hat Sayer sich vor allem mit Alltagsnormativität und der Ethik der Sozialwissenschaften beschäftigt: Why Things Matter to People (2011) verknüpft den Critical Realism sowohl mit feministischer Sorgeethik als auch dem Neoaristotelismus des capabilities approach bzw. der Tugendethik. Entwickelt wird auf diese Weise eine naturalistische Position, die Bhaskars Kritik an der Dichotomie von Tatsachen und Werten eine ethische

ces, and ›exists‹ in the generating moments of this constitution.« (1979: 5 [Hervorh. d. Verf.]) Wo Bhaskar soziale Strukturen als Voraussetzungen allen Handelns fasst, reduziert Giddens sie auf momenthafte »Medien«.

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Grundlage verschafft.25 Seinen ethischen Naturalismus hat Sayer zuletzt politisch zugespitzt: Why We Can’t Afford the Rich (2016) unternimmt eine Kritik der zunehmenden sozioökonomischen Ungleichheiten und ihrer ökologischen Auswirkungen, die – statt Armut als Pathologie zu behandeln – Praktiken der Reichtumsextraktion ins Zentrum der Beobachtung rückt. Neben Archer und Sayer ist der Critical Realism in jüngster Zeit maßgeblich von Dave Elder-Vass geprägt worden. Dieser hat zunächst eine Reihe wichtiger Aufsätze veröffentlicht, die u.a. die spezifische Differenz des Critical Realism zu soziologischen Großtheorien wie Luhmanns Systemtheorie oder der Akteur-Netzwerk-Theorie herausarbeiten (vgl. 2007a und 2008). Elder-Vass’ 2010 veröffentlichtes Buch The Causal Power of Social Structure ist für den Critical Realism in mindestens dreierlei Hinsicht bedeutsam: Erstens enthält es eine klärende Diskussion der Emergenzkonzeption. Der Critical Realism vertritt eine »schwache« Version, der zufolge emergent diejenigen Eigenschaften einer Ganzheit sind, welche den Elementen, aus denen sie besteht, als Einzelnen nicht zukommen. Diese Eigenschaften sind erklärbar; da Erklären aber nicht gleichbedeutend ist mit Wegerklären, bleiben sie irreduzibel (»ontologische Emergenz«).26 Zweitens schlägt Elder-Vass – wie wir noch sehen werden – eine wichtige Modifikation des Strukturbegriffs vor und entwickelt drittens mit dem »Normkreis« ein Modell, das die kausale Wirksamkeit von Normen erklären soll. In The Reality of Social Construction (2012) versucht er, das gemeinsame Terrain zwischen Critical Realism und Sozialkonstruktivismus auszuloten, und verwendet das Normkreismodell zur Entwicklung einer materialistischen Kulturtheorie.

Disziplinäre Rezeptionen Auch wenn mit Bhaskar, Archer, Sayer und Elder-Vass vier einzelne Theoretikerinnen hervorgehoben wurden, war der Critical Realism bereits in den 1980er-Jahren deutlich breiter aufgestellt und hat seitdem auch sehr spezifische Rezeptionen und Ausarbeitungen in einzelnen Disziplinen erfahren. In der Philosophie war neben Bhaskar vor allem der ebenfalls 2014 verstorbene Andrew Collier ein Mitstreiter der ersten Stunde. Zu seinem umfangreichen Werk gehören eine »Einführung« in den Critical Realism, die in erster Linie ein eigener philosophischer Beitrag ist (vgl. 1994), Being and Worth, in dem auch den nicht-menschlichen Dingen ein (abgestufter) intrinsischer Wert zugeschrieben wird (1999), sowie eine Kritik an Saussure, welche die Zeichentheorie von Charles Sanders Peirce als realistische, nämlich Referenz einbezie25 | Mehr dazu im vierten Abschnitt dieses Textes. 26 | Die Emergenzkonzeption des Critical Realism wird damit derjenigen von Mario Bunge (vgl. 2003) angenähert.

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hende Alternative profiliert (1998). Wichtig für die philosophische Diskussion um den Critical Realism waren in den letzten Jahren vor allem die Arbeiten von Tuukka Kaidesoja und Ruth Groff. Ersterer hat versucht, die zentralen Konzepte des Critical Realism konsequent zu »naturalisieren«, indem diese von den transzendentalen Argumentationsfiguren Bhaskars abgekoppelt und in gegenwärtig erfolgreichen sozialwissenschaftlichen Erklärungsstrategien verortet werden (Kaidesoja 2013). Groffs Arbeiten schlagen Brücken zur älteren Kritischen Theorie (2012 und 2014) und führen einen Dialog mit derjenigen Perspektive, die dem Critical Realism in der Philosophie der Naturwissenschaften am nächsten steht: der neoaristotelischen causal powers-Ontologie, wie sie gegenwärtig von Autorinnen wie Nancy Cartwright oder Brian Ellis vertreten wird (Groff 2004 und 2007, Groff/Greco 2013). Des Weiteren haben an der philosophischen Rezeption des Critical Realism zu unterschiedlichen Zeiten u.a. William Outhwaite (1987), Christopher Norris (z.B. 2002) und Peter Manicas (2006) mitgewirkt. Nicht zu vernachlässigende Spuren hat dieser Ansatz auch in der ökophilosophischen Diskussion hinterlassen: etwa bei Ted Benton (1993), einem frühen Diskussionspartner von Bhaskar (vgl. Benton 1981a), bei John O’Neill (1993) oder Kate Soper (1995). In der Soziologie ist neben den britischen Diskussionen ausgehend von Archer, Elder-Vass und Sayer vor allem die US-amerikanische Rezeption des Critical Realism relevant: Douglas Porpora hat den kritisch-realistischen Strukturbegriff pointiert von anderen soziologischen Strukturkonzeptionen abgegrenzt (1989). Zudem hat er jüngst eine Einführung vorgelegt, die den Critical Realim in den gegenwärtigen soziologischen Debatten verortet und seine Zugänglichkeit extrem befördern wird (2015). George Steinmetz hat gezeigt, was die Historische Soziologie und die komparative Forschung ingsesamt von diesem Ansatz lernen können (1998, 2003 und 2014), und seine Positivismuskritik für die Geschichtsschreibung der US-amerikanischen Sozialwissenschaften verwendet (2005). Was ein kritisch-realistisches Verständnis kausaler Mechanismen ist und worin es sich von Konzeptionen der analytischen Soziologie oder des Pragmatismus unterscheidet, hat Philip Gorski (2009 und 2015) herausgearbeitet. Gorski hat im Gefolge von Sayer außerdem versucht, die Soziologie für den ethischen Naturalismus zu öffnen.27 Schließlich hat Christian Smith einen akteurstheoretischen Entwurf vorgelegt, in dem die philosophische Kategorie der Person soziologisch ausgearbeitet wird (2010). Neben der US-amerikanischen wurde der Critical Realism vor allem in der italienischen Soziologie rezipiert, wobei es zu einer wechselseitigen Annäherung mit der dortigen relationalen Soziologie gekommen ist (Donati 2011, Maccarini et al. 2011, Archer/Maccarini 2013, Donati/Archer 2015). Last but not least hat der tai27 | Vgl. Gorski 2013 sowie das damit eröffnete Symposion der Zeitschrift Society zu »Facts, Values and the Social Sciences«.

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wanesische Sozialtheoretiker Poe Yu-Ze Wan in Kritik an Luhmann eine lange überfällige Synthese aus Critical Realism und der materialistischen Systemtheorie Mario Bunges angeregt (2011). Eine der ersten politikwissenschaftlichen Rezeptionen des Critical Realism war Jeffrey Isaacs Machtbuch (1987). Isaac hat die Kritik an behavioristischen Ansätzen, wie sie sich bereits bei Stephen Lukes findet, wissenschaftstheoretisch radikalisiert und gezeigt, dass soziale Strukturen immer zugleich Machtstrukturen sind.28 Ian Shapiro hat den Critical Realism benutzt, um den – so auch der Titel des Buches – Flight from Reality in the Human Sciences zu kritisieren (vgl. 2005). Bob Jessop versteht seinen ›strategisch-relationalen Ansatz‹ als raumsensible Weiterentwicklung von Bhaskars Transformationsmodell und Archers morphogenetischem Ansatz (Jessop 2005), die er auf diese Weise für die Staatstheorie (2008) und gemeinsam mit Ngai-Ling Sum für die Cultural Political Economy (Sum/Jessop 2013) fruchtbar macht. In den Internationalen Beziehungen haben vor allem Heikki Patomäki und Colin Wight den Critical Realism als Gegengewicht sowohl zum hobbesianischen Mainstream-Realismus als auch zu konstruktivistischen Ansätzen platziert (Patomäki 2002, Wight 2006, Joseph/Wight 2010, Wight 2015). Patomäki operationalisiert diesen Ansatz, um mögliche Szenarien der Weltpolitik in Hinblick auf Krieg und Klimawandel zu entwickeln (vgl. 2008). Benjamin Opratko (2014) hat eine kritisch-realistische Rekonstruktion des Hegemoniebegriffs vorgelegt, während Jonathan Joseph gezeigt hat, wie bestimmte sozioökonomische Strukturen spezifische Formen der Gouvernementalität privilegieren (2012). Neben philosophischen, soziologischen und politikwissenschaftlichen Ausarbeitungen hat der Critical Realism auch noch in anderen Disziplinen und Feldern Rezeptionen erlebt. In der Wirtschaftswissenschaft ist er vor allem durch das Werk von Tony Lawson (1997, 2003 und 2015) als eigenständiger heterodoxer Ansatz etabliert worden (vgl. auch Fullbrook 2009). Steve Fleetwood hat ihn zur Kritik an Hayeks Denken genutzt (1995); Clive Spash, um der Subdisziplin der Ecological Economics philosophische Fundamente zu verleihen (2012). In der Erziehungswissenschaft existiert eine breite Rezeption des Critical Realism, die von den metatheoretischen Grundlagen des Faches über kritische und Umweltpädagogik bis zur Epistemologie des Curriculums und der neoliberalen Restrukturierung der Hochschule reicht (Wilmott 2003, Clegg 2005, Scott 2010, Sarra 2011, Wheelahan 2012, Barnett 2013, Price/Lotz-Sistka 2015). In der Rechtswissenschaft wiederum ist der Critical Realism durch die Arbeiten von Alan Norrie bekannt geworden (2000 und 2009). In den gender studies und den Debatten um Intersektionalität schließlich war dieser Ansatz 28 | Weitere wichtige Beiträge zur Machtdebatte aus dem (Umfeld des) Critical Realism sind Benton 1981b, Bates 2010 und Sayer 2012. Ein deutschsprachiger Beitrag zur realistischen Machtdiskussion ist Schuck 2012.

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ein theoretischer Sammelpunkt für Feministinnen, die dekonstruktive und poststrukturalistische Perspektiven für verkürzt halten (Assiter 1996, New 1998, McCall 2005, Clegg 2006, Walby 2007, Jonasdottir/Jones 2009, Gunnarsson 2011, Walby et al. 2012, Martinez Dy et al. 2014). Hier schließt sich auch der Kreis zu den »neuen Materialismen«, wenn z.B. Lena Gunnarsson (2013) zeigt, um welchen Preis diese ältere realistisch-feministische Einsichten ignorieren: nämlich den einer sinnvollen Emanzipationskonzeption.

2. S ozialontologie Der Critical Realism, so die Annahme, die den vorliegenden Band motiviert, stellt ein weitreichendes metatheoretisches Integrationsangebot bereit, das die Sozialontologie, Epistemologie/Methodologie und Ethik der Sozialwissenschaften sowohl im Einzelnen bereichern als auch auf gewinnbringende Weise miteinander verknüpfen kann. Fangen wir mit der Sozialontologie an, der Reflexion der Beschaffenheit des Sozialen und seiner Gegenstände. Dem Critical Realism zufolge ist es in der Sozialontologie entscheidend, wie das Verhältnis von Struktur und Handlung konzeptualisiert wird, genauer: wie Strukturen, Artefakte, Akteure und Handlungen jeweils gefasst und miteinander in Beziehung gesetzt werden. Seine eigene sozialontologische Position besteht in einem konsequenten Antireduktionismus: Beansprucht wird eine Sozialontologie, die es im Sinn eines »integrativen Pluralismus« (Bhaskar 1986: 106f.) erlaubt, jeden dieser »Aspekte« sowohl in seiner Bedingtheit als auch in seiner je eigenen Wirksamkeit zu fassen. In diesem Abschnitt zeigen wir zunächst, wie der Antireduktionismus mit dem Critical Realism eine spezifische Wendung nimmt, indem er als Konflationierungskritik reformuliert wird. Im Anschluss daran legen wir systematisch dar, wie die kritisch-realistische Sozialontologie die für sie zentralen Entitäten fasst: Akteure, Artefakte und soziale Strukturen.

Konflationierungskritik Heute gehört es in der Sozialtheorie zum guten Ton, sich gleichermaßen von einem sozialontologischen »Objektivismus« wie auch »Subjektivismus« zu distanzieren. Verworfen wird auf diese Weise einerseits eine Auflösung von Akteuren in Strukturen/Systeme, wie sie sich im Strukturalismus oder in älteren Systemtheorien findet. Andererseits möchte auch – mit Ausnahme von (manchen) Rational Choice-Ansätzen – niemand mehr soziale Strukturen auf Akteure und deren Entscheidungskalküle zurückführen. Im Critical Realism werden derartige Vereinseitigungen nun zumeist nicht als »Reduktionismus« bezeichnet, sondern im Anschluss an Margaret Archer hat sich eine Rede von »Konflationismus« (conflationism) bzw. »Konflationierung« (conflation) einge-

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bürgert. Das englische Wort conflation meint dabei eine argumentative Vermengung von verschiedenen Aspekten, Dimensionen oder Begriffen, die besser auseinandergehalten werden sollten. Entsprechend kritisiert Archer (1995) die Absorption von Akteuren in Strukturen/Systeme als »Abwärtskonflationierung« (downwards conflation), die Auflösung von Stukturen/Systemen in Akteure dagegen als »Aufwärtskonflationierung« (upwards conflation). Auf den ersten Blick mag es so scheinen, dass die Konflationierungskritik nur einen stärker epistemologischen Akzent setzt als gängige Zurückweisungen des »Reduktionismus«. Der sozialontologische Witz des kritisch-realistischen Antikonflationismus besteht jedoch darin, dass er sich nicht nur gegen verschiedene Reduktionismen richtet, sondern zugleich auch gegen eine bestimmte Reduktionismuskritik, dass er also einen breiter gefassten Gegenstand hat.29 So kritisiert Archer nicht nur die »Abwärts-« und »Aufwärtskonflationierung«, sondern gleichermaßen etwas, das sie als »Zentralkonflationierung« (central conflation) bezeichnet: den wechselseitigen Kollaps von Strukturen und Akteuren in Praktiken. Gerichtet ist diese Kritik vor allem auf Giddens und Bourdieu und damit auf zwei zentrale Stichwortgeber der gegenwärtig prominenten »Praxistheorien«, sie lässt sich aber z.B. auch auf Performativitätsansätze wie denjenigen von Butler beziehen.30 Dem Critical Realism zufolge wiederholen derartige Theorien eine sehr spezifische Operation, die Bhaskar bereits in RTS bezogen auf Hume und den ihm folgenden Positivismus rekonstruiert hatte: den aktualistischen Fehlschluss, d.h. die Überführung von Entitäten (insbesondere deren Mechanismen und Kausalkräfte) in Ereignisse bzw. – auf der Ebene des Sozialen – von Strukturen und Akteuren in Aktivitäten. Die Praxis- bzw. Performativitätstheorien, so die Kritik des Critical Realism, reduzieren das Wirkliche der sozialen Dinge, Relationen und Mechanismen auf das Tatsächliche des Tuns. Im Unterschied zu früheren idealistisch-tatphilosophischen Ansätzen formulieren sie zwar ein »Postulat[…] der ›Materialität‹ der Praxis in Körpern und Artefakten« (Reckwitz 2003: 284) und wollen 29 | Wir haben uns daher auch entschieden, conflation in diesem Band als Konflationierung einzudeutschen. 30 | Zum Programm erhoben, findet sich eine solche Auflösung alles Sozialen in Praktiken bei Theodore Schatzki (2001: 12): »Practice approaches promulgate a distinct social ontology: the social is a field of embodied, materially interwoven practices centrally organized around shared practical understandings. This conception contrasts with accounts that privilege individuals, (inter)actions, language, signifying systems, the life world, institutions/roles, structures, or systems in defining the social. These phenomena, say practice theorists, can only be analyzed via the field of practices. Actions, for instance, are embedded in practices, just as individuals are constituted within them. Language, moreover, is a type of activity (discursive) and hence a practice phenomenon, whereas institutions and structures are effects of them.«

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entsprechend die Seite des Objekts gegenüber der des Subjekts aufwerten. Angesichts ihres Aktualismus stellt sich jedoch die Frage, ob sie eine solche Rehabilitierung überhaupt durchführen können: Wenn Körper und Artefakte durch soziale Praktiken hervorgebracht (»konstituiert«) werden und nur in deren Vollzug existieren, besitzen sie per definitionem keine eigenen Kausalkräfte gegenüber dem Sozialen und damit auch keine wirkliche »Materialität«. Die Praxis- bzw. Performativitätstheorien können begrifflich nicht fassen, was sie programmatisch sehen wollen: dass viele soziale Gegenstände, nämlich Körper und Artefakte, keine rein sozialen Entitäten sind, sondern »Hybridwesen« aus Natur und Kultur.31 Was für eine Sozialontologie setzt der Critical Realism den verschiedenen Konflationierungen entgegen? Im Anschluss an Bhaskars Emergenzmaterialismus gehen Vertreterinnen dieser Strömung von einer asymmetrischen Verschränkung von Natur und Kultur aus, in der neben sozialen Strukturen auch »gemischte« Entitäten wie Artefakte und Akteure zum Sozialen gehören: All diese Entitäten sind sowohl in ihrer jeweiligen Eigenständigkeit als auch in ihren wechselseitigen Abhängigkeiten und Interaktionen zu begreifen, wobei ihr Zusammenwirken in Form von Praktiken erfolgt, als Handeln der Akteure unter strukturellen und artefaktischen Bedingungen. Die Praxisebene wird dabei als eine der situativen Kontingenz gefasst, die nicht linear, sondern durch eine Vielzahl von Strukturen, Artefakten und Akteuren bestimmt ist, sodass »multiple determination« (Elder-Vass 2010a: 48) herrscht. Praktiken sind eine zentrale Vermittlungsinstanz, da sich über sie die Prozesse der Morphogenese und Morphostase, der Neubildung, Transformation und Reproduktion von Strukturen, Artefakten und Akteuren vollziehen.32 Um es »dialektisch« zu formulieren: Der Critical Realism favorisiert keinen Mittelweg, der die Vermittlung hypostasiert, sondern er versucht, beidem gerecht zu werden, der Vermittlung (Praxis) wie auch dem Vermittelten (Akteuren, Artefakten und sozialen Strukturen).

31 | In Scientific Realism unterscheidet Bhaskar zwischen drei Klassen von Entitäten: a) rein natürlichen, b) rein sozialen und c) »gemischten«, nämlich menschlichen Akteuren und Artefakten (1986: 115ff.). 32 | Dem Critical Realism zufolge handelt es sich bei morphogenetischen/-statischen Prozessen immer um Mehrfachprozesse. Wenn Akteure in ihrer Praxis soziale Strukturen reproduzieren/transformieren, reproduzieren/transformieren sie dabei immer zugleich sich selbst. Archer (1995: 190) spricht daher von »double morphogenesis«.

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Akteure Wie die meisten anderen Sozialtheorien unterscheidet auch der Critical Realism zwischen individuellen und kollektiven Akteuren. Deren Verhältnis fasst er im Sinne des Emergentismus: Kollektivakteure wie etwa Organisationen bestehen aus menschlichen Individuen (und Artefakten). Die Art und Weise, in der sie diese Entitäten miteinander relationieren, bringt jedoch Eigenschaften hervor, die den Individuen außerhalb der Organisation nicht zukommen: z.B. bestimmte Rollen, welche die Individuen aufgefordert sind auszufüllen. Gleichzeitig bleiben, um derartige Rollen auszufüllen, Eigenschaften relevant, welche die Individuen auch außerhalb der jeweiligen Organisation besitzen. Was die Individuen anbelangt, versucht der Critical Realism sowohl »übersozialisierte« als auch »untersozialisierte« Konzeptionen zu vermeiden: Erstere betrachten Menschen als ausschließlich soziale Wesen bzw. als Effekte sozialer Praktiken; letztere vertreten eine Sichtweise, in der alle wesentlichen Eigenschaften menschlicher Individuen vor-sozial sind.33 Der Critical Realism knüpft hier an eine philosophische Tradition an, die angefangen mit Aristoteles über Teile der Schottischen Aufklärung (vor allem Ferguson) und Hegel bis zu Marx Menschen als Hybridwesen aus Natur und Kultur betrachtet hat. Für ihn sind menschliche Individuen weder bloß soziale Produkte, noch fallen sie aus der Gesellschaft heraus; vielmehr sind sie immer schon »bio-psychischsoziale Wesen«. Mit anderen höheren Tieren teilen »Personen«, so der von vielen Critical Realists bevorzugte Begriff, die Eigenschaft der Intentionalität im Sinn von bewusstseinsmäßiger Zweckgerichtetheit: Diese wird einerseits sozial geformt, andererseits gehört sie zu den mentalen Voraussetzungen von Sozialität. Personen weisen dabei eine neurophysiologische Organisation auf, die es ihnen im Unterschied zu anderen höheren Tieren auch ermöglicht, eine komplexe Sprache auszubilden. Diese wiederum ist Bedingung für mentale Eigenschaften, die humanspezifisch sind, wie etwa Fähigkeiten zur Reflexion, Selbst-Transzendenz und moralischen Verpflichtung.34 Es sind diese Fähigkeiten zweiter Ordnung, die menschliche Individuen von anderen Tieren und Dingen unterscheiden, wobei der Critical Realism – wie wir noch sehen werden – betont, dass ethisch gesehen gerade auch das wichtig ist, was Menschen mit 33 | Der Terminus »übersozialisiert« stammt von Dennis Wrong (1961). 34 | So bereits Bhaskar (1979: 44): »Human action is characterised by the striking phenomenon of intentionality. This seems to depend upon the feature that persons are material things with a degree of neurophysiological complexity which enables them not just, like the other high-order animals, to initiate change in a purposeful way, to monitor and control their performances, but to monitor the monitoring of these performances and to be capable of a commentary upon them. This capacity for second-order monitoring also makes possible a retrospective commentary upon actions«.

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anderen höheren Tieren teilen: neben der Zweckgerichtetheit ihres Verhaltens vor allem Verletzlichkeit, Bedürftigkeit und Empfindungsfähigkeit. Aus Sicht des Critical Realism schüttet eine Subjektkritik, wie sie aus poststrukturalistischer oder praxistheoretischer Perspektive geübt wird, das untersozialisierte Kind mit dem übersozialisierten Bade aus. Genauer gesagt begehen derartige Ansätze, wenn sie Nietzsches Diktum: »Es gibt keinen Täter hinter dem Tun« folgen, einen aktualistischen Fehlschluss: Menschliche Fähigkeiten existieren nur dann, wenn sie in Aktivitäten zur Anwendung kommen, und werden mit jedem Vollzug gewissermaßen neu geschaffen.35 Demgegenüber bemüht sich der Critical Realism um eine begriffliche Klärung der Kategorien der Intentionalität und Reflexivität (Porpora 2015: Kap. 5): Erstens impliziert Intentionalität als Zweckgerichtetheit keineswegs notwendig auch propositionales Wissen im Sinn eines »knowing that«. Daraus, dass in praktischen Vollzügen oftmals ein »knowing how« relevant ist und ein (adäquates) »knowing that« nur rudimentär existiert, folgt mitnichten, dass derartige Vollzüge nicht zweckgerichtet bzw. durch Gründe motiviert wären. Zweitens ist bewusstseinsmäßige Zweckgerichtetheit nicht dasselbe wie Aufmerksamkeit. Dass wir viele Handlungen mit eher geringen Aufmerksamkeitsgraden vollziehen, ist kein Argument für die Annahme, wir würden dies unbewusst-automatisch und damit nicht zweckgerichtet tun. Hierunter fällt auch das Problem nicht-intendierter Handlungsfolgen: Wenn wir diese oftmals gar nicht überblicken können, ist das ein Beleg für die Komplexität von sozialen Kontexten, nicht für ein Handeln jenseits von Zweckgerichtetheit. Drittens schließlich ist auch Reflexivität, die Kompetenz, uns zu uns selbst und unseren Existenzbedingungen distanzierend ins Verhältnis zu setzen, keine Alles-oder-nichts-Frage. Daraus, dass wir keine Dauerreflektiererinnen sind, lässt sich nicht folgern, wir würden erst in Ausnahmesituationen anfangen zu reflektieren.36 35 | »Für die Praxistheorie sind die Subjekte in allen ihren Merkmalen Produkte historisch- und kulturell spezifischer Praktiken, und sie existieren nur innerhalb des Vollzugs sozialer Praktiken: ein einzelnes Subjekt ›ist‹ (im Wesentlichen) – auch in seinen ›inneren‹ Vorgängen des Reflektierens, des Empfindens, Erinnerns, Planens etc. – die Sequenz von Akten, in denen es in seiner Alltags- und Lebenszeit an sozialen Praktiken partizipiert.« (Reckwitz 2003: 296 [Hervorh. im Orig.]) Der aktualistische Fehlschluss bekommt hier eine »genetische« Form: Daraus, dass x durch y hervorgebracht wurde, wird gefolgert, x könne nur im Vollzug von y existieren. 36 | Tatsächlich reflektieren wir ganz schön viel, nämlich immer dann, wenn im Alltag bestimmte Dinge nicht glattgehen und Routinen durchbrochen werden. Ob sich ein solches Verständnis von Intentionalität und Reflexivität mit Bourdieus Habituskonzeption vereinbaren lässt, ist innerhalb des Critical Realism durchaus umstritten: Elder-Vass (2007b) und Sayer (2010) plädieren für eine solche »Versöhnung«, Archer (in diesem Band) widerspricht ihr vehement.

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Margaret Archer hat diese Sichtweisen in Being Human: The Problem of Agency (2000) zu einer Theorie der Person systematisiert, in deren Zentrum eine Konzeption »situierter Reflexivität« (Waldenburger 2014) steht. Wir kommen, so Archer, weder mit fertig ausgebildeten Eigenschaften noch als unbeschriebenes Blatt Papier auf die Welt, sondern mit biologisch verankerten Potenzialen, die uns erlauben, diverse Fähigkeiten auszubilden, darunter auch Intentionalität und Reflexivität. Diese Fähigkeiten entwickeln wir nicht allein sozial, sondern immer schon qua Situierung in drei sich überlappenden Weltbezügen: in körperlichen Beziehungen zur nichtmenschlichen Umwelt, gegenständlich bezogen auf materielle Artefakte und intersubjektiv mit anderen menschlichen Individuen. Nach Archer entsprechen diesen drei Weltbeziehungen zum einen unterschiedliche Wissensformen: körperliches, praktisches und diskursives Wissen. Zum anderen verfolgen wir in ihnen auch unterschiedliche Anliegen (concerns), die sich in jeweils einem grundlegenden Anliegen verdichten: körperliches Wohlergehen, performatives Geschick und sozial anerkannter Selbstwert. Wie es um diese Anliegen jeweils steht, erfahren wir maßgeblich über Emotionen, die Archer als »commentaries upon our concerns« (2000: 195) fasst. Innerhalb der drei Weltbeziehungen entwickelt sich unser zunächst vorsprachlicher Selbstsinn anhand semantischer Selbstkonzepte zu einer personalen Identität, die von Anfang an im Wechselspiel mit unserer sozialen Identität steht, mit kulturellen Zuschreibungen, zu denen wir uns verhalten müssen und die wir als kollektiv geteilte Identität affirmieren oder auch umdeuten können. Was die personale Identität eines Individuums und damit seine Einzigartigkeit ausmacht, ist, wie es seine Anliegen in den drei Weltbeziehungen untereinander und mit seiner kollektiven Identität vermittelt. Das geschieht qua ausgebildeter Reflexivität in Form einer »internal conversation« (vgl. 2000: Kap. 7): Menschen sind dabei keine »rational maximizers«, sondern »strong evaluators«, die »emotionally involved« sind (Archer 2010: 12). Als solche sind sie fundamental soziale Wesen, die zugleich nicht übersozialisiert und daher zu Distanzierung, Kritik und Kreativität fähig sind.

Artefakte Dem Critical Realism zufolge sind Artefakte soziomaterielle Dinge mit spezifischen Wirkkräften, seien es Bratpfannen, Windeln oder Computer. Ihre Sozialität ist eine doppelte: Zum einen werden sie erst zu Artefakten, indem sie eine spezifisch soziale Bedeutung besitzen und in den Verhältnissen sozialer Akteure eine ganz bestimmte Rolle spielen. Artefakte können somit im relationalen Sinne als sozial bezeichnet werden: Ihr sozialer Charakter hängt von den Beziehungen und Funktionen ab, in denen Menschen zu ihnen stehen (Faulkner/Runde 2013). Zum anderen haben Artefakte aber auch einen stofflich sozialen Charakter, insofern sich in ihren materiellen Eigenschaften

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die Werte, Handlungen und sozialen Verhältnisse der Vergangenheit niederschlagen: »Technology can be understood as the site in which the social achieves a different mode of existence through its embodiment in material things« (C. Lawson 2008: 42). Dieser zweite Aspekt, die Einschreibung von Sozialität in die Stofflichkeit der Dinge (im Unterschied zur Sozialität, die sich in ihrer relationalen Funktion ausdrückt) ist entscheidend, da hier Soziales auf Materielles trifft, beide qua menschlicher Arbeit miteinander verbunden werden, ohne ihre eigene Wirksamkeit zu verlieren. So bestimmt dem Critical Realism zufolge die soziale Form die Stofflichkeit des Produkts: Etwas wird hergestellt in Hinblick auf seinen zukünftigen, relational bedingten Gebrauch. Aber sobald Soziales in Form von Artefakten vergegenständlicht ist, unterliegt es nicht mehr nur sozialen Mechanismen, sondern auch physikalischen. Artefakte haben eigene materielle Beharrungskräfte, die bestimmten Aspekten sozialer Strukturen mehr Stabilität geben können, als wenn diese sich anders materialisiert hätten (siehe etwa die herrschaftstützende Funktion von Architektur oder Maschinensystemen). Und die soziomateriellen Dinge haben eine Eigendynamik, nicht nur im Sinn technologischer Pfadabhängigkeit, sondern auch in dem Sinn, dass Technik außer Kontrolle geraten kann (etwa als unkontrollierte Kernschmelze in Atomkraftwerken; vgl. Mutch 2010 und 2013).

Soziale Strukturen Neben Akteuren und Artefakten sind soziale Strukturen der dritte entscheidende »Baustein« der kritisch-realistischen Sozialontologie. Hier tun sich innerhalb des Critical Realism erhebliche Differenzen auf: Bhaskar hat in PON soziale Strukturen als Relationengefüge von sozialen Positionen gefasst, auf denen Akteure platziert sind und Zugang zu Ressourcen/Artefakten erhalten. Es handelt sich dabei um sog. »interne Relationen«, aufgrund derer die Relata bestimmte relationale Eigenschaften annehmen. Archer (1995) hat Rollen als weitere relationale Struktureigenschaft hinzugefügt. Dieses strikt relationale Verständnis stellt innerhalb des Critical Realism die dominante Strukturkonzeption dar. Dagegen hat Elder-Vass (2010a) vorgeschlagen, »structure-as-relation« durch ein Verständnis von »structure-as-whole« zu ersetzen, womit der Strukturbegriff dem Systembegriff angenähert wird (Lindner 2014). Soziale Strukturen sind dieser Konzeption nach Ganzheiten, die Elemente (Akteure, Artefakte und andere soziale Strukturen) miteinander relationieren und nicht die Relationen dieser Ganzheiten selbst. Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als handele es sich hier primär um ein terminologisches Problem: Nennen wir, wie Elder-Vass selbst es auch tut, die Ganzheiten »Entitäten«. Es ist dann möglich, wieder zu einer relationalen Konzeption zurückkehren und die Relationen dieser Entitäten als Strukturen zu bezeichnen: Soziale Entitäten sind keine Struktur, sondern haben eine. Alles gut? Auf den zweiten Blick zeigt

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sich allerdings, dass Elder-Vass’ Vorschlag auf Probleme der relationalen Konzeption antwortet und eine Perspektivenverschiebung vornimmt. Beide Strukturbegriffe, sowohl der relationale als auch der »entitäre«, besitzen eine Verankerung in der sozialwissenschaftlichen Literatur. Der relationale Strukturbegriff wird vor allem in klassischen Sozialstrukturanalysen verwendet, wobei er einen strikt relationalen »Raum« sozialer Positionen bezeichnet. Der entitäre Strukturbegriff kommt dagegen in einer Redeweise etwa von Kapitalismus, Staat und Demokratie als »Makrostrukturen« oder von Organisationen als »Mesostrukturen« vor. Unter ihn fallen dabei nicht nur die internen Relationen dieser Ganzheiten, sondern auch die für sie charakteristischen Mechanismen. Es sind nun aber genau diese Mechanismen, an denen die Perspektivverschiebung bzw. -erweiterung des entitären Stukturbegriffs ansetzt. So fokussiert der relationale Strukturbegriff eigentlich immer nur auf Prozesse der Morphogenese/Morphostase innerhalb einer sozialen Entität: Er fasst die relationalen Strukturvorgaben, die dort das Handeln von Akteuren bedingen. Demgegenüber richtet der entitäre Strukturbegriff seine Aufmerksamkeit auch auf die Wirksamkeit einer sozialen Entität »nach außen«: Er erschließt die Mechanismen, die für soziale Entitäten typischen internen Prozesse und Interaktionen, aufgrund derer sie bestimmte Kausalkräfte auch gegenüber anderen sozialen Entitäten haben. So kann der entitäre Strukturbegriff gleichermaßen auf die Makro-, Meso- und Mikroebene bezogen werden, und es kann mit ihm z.B. danach gefragt werden, inwiefern der Kapitalismus als Makrostruktur auf soziale Mikrostrukturen »durchgreift«, welche Mechanismen dabei relevant bzw. was gegenläufige Tendenzen sind. Auch hat der entitäre Strukturbegriff, worauf es dem Critical Realism als Philosophie der Sozialwissenschaften ankommen muss, theorieintegrative Kraft. Er kann Einsichten aus soziologischen Theorien aufnehmen, die dem Critical Realism eher fern stehen bzw. deren sozialontologische Voraussetzungen er kritisiert: ElderVass (2010a) hat das für Goffmans Warteschlange gezeigt, die er anhand der entitären Konzeption als soziale Mikrostruktur rekonstruiert. Schließlich hat der entitäre Strukturbegriff innerhalb des Critical Realism auch eine größere Eleganz bzw. Gesamtkonsistenz: Mit ihm wird es möglich, durchgehend eine Entitätenontologie zu vertreten und nicht mehr für das Soziale auf eine duale Ontologie von Entitäten und Relationen umstellen zu müssen. Auch das Soziale ist eine Ansammlung von komplexen »Dingen« – eine These, die der Critical Realism dann unter konsequent antipositivistischen Vorzeichen erläutern kann. Die Differenz hinsichtlich des Strukturbegriffs wird innerhalb des Critical Realism auch anhand der Frage der Kultur relevant. Vertreterinnen des relationalen Strukturverständnisses unterscheiden im Anschluss an Archer (1988) zwischen sozialen und kulturellen Strukturen und fassen letztere als Bezie-

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hungen zwischen Ideen.37 Gemäß Archers morphogenetischem Ansatz eignen sich mit unterschiedlichen Ressourcen ausgestattete Akteure diese Ideen an und reproduzieren/transformieren sie in konflikthaften soziokulturellen Interaktionen. Archers Punkt ist der, dass Ideen im Prozess ihrer Aneignung auf die Akteure eine Prägekraft entfalten und diese unter bestimmte Denkund Handlungszwänge setzen. Demgegenüber hat Elder-Vass eine Konzeption normativer Institutionen entwickelt, die eine materialistische Kulturtheorie enthält. Normative soziale Institutionen werden dabei als »an emergent causal power of norm circles« (2010a: 115) gefasst, wobei Normkreise eine Gruppe von Individuen sind, deren Mitglieder eine »collective intention to support the norm« (ebd.: 123) teilen.38 Einigkeit besteht zwischen Elder-Vass und Archer darin, dass Kultur eine »objektive« Seite hat und nicht auf »subjektive« Interpretationsleistungen von Akteuren reduziert werden kann. Der Streitpunkt zwischen beiden liegt jedoch darin, wie dieses objektive Moment zu bestimmen ist. Archer geht in Anlehnung an Poppers »Welt 3«39 davon aus, Ideen würden unabhängig von ihren Interpretinnen existieren: »Ideas are sui generis real.« (Archer/Elder-Vass 2012: 95) In der Konzeption von Elder-Vass besteht Kultur dagegen aus »institutionalised practices and intelligibilia: artefacts from which we may decipher meanings« (2012: 38). Ihm zufolge gehören die Intelligibilia nicht einer eigenständigen »Welt 3« an, sondern sind – in Poppers Terminologie – Teil der »Welt 1« physischer Objekte. Sie enthalten kein Wissen an sich, sondern nur potenzielles Wissen, materielle Zeichen, die unabhängig von den Decodierungs- und Interpretationsleistungen bio-psycho-sozialer Dinge namens Menschen keinen semantischen Gehalt besitzen. Dennoch hat Kultur auch eine »objektive«, nämlich soziale Seite: »Culture is not simply belief, but socially endorsed belief, and that social endorsement can only be brought about by the group – a norm circle.« (Elder-Vass 2012: 44) Archers Konzeption betont die Wirkkraft von Ideen – und läuft Gefahr, sie idealistisch zu verselbstständigen; Elder-Vass dagegen kann die artefaktische und sozionormative Seite von

37 | »It is not only single works like poems, arguments, or symphonies that are structured. Archer’s larger point is that cultural content as a whole is structured too. To put it otherwise, just as society is structured or organized as a whole, so is any society’s culture. There is a social structure and cultural stucture. The two, however, should not be confused. Whereas social structure refers to relations connecting social positions or social positions and social objects, cultural structure refers to relations among ideas.« (Porpora 2015: 173) 38 | Mit der Konzeption des Normkreises knüpft Elder-Vass an Simmel an, der Institutionen als ›Kreuzung sozialer Kreise‹ (1908: Kap. 6) denkt. 39 | »Welt 1« sind bei Popper physische Objekte, »Welt 2« menschliche Bewusstseine (vgl. 1972).

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Kultur besser fassen – um den Preis, dass Sinn (vielleicht zu) stark soziologisiert wird. Ihr antikonflationistischer Charakter – so lässt sich zusammenfassend sagen – erlaubt der kritisch-realistischen Sozialontologie verschiedene Einsichten etwa der ökologischen Diskussion oder auch kritischer Sozialtheorie zu integrieren. Dem Critical Realism zufolge ist das Soziale eingebettet in (nichtmenschliche) Naturprozesse. Artefakte und menschliche Individuen, aus denen soziale Entitäten bestehen, sind auf ihre je eigene Weise soziomaterielle Dinge; sie sind Teil des Sozialen und zugleich nicht nur sozial. Als soziomaterielle Dinge können sie Umweltveränderungen herbeiführen, genauso wie sie diesen, im Extremfall bis zur Auslöschung der eigenen Existenz, ausgesetzt sind. Innerhalb des Sozialen macht der Critical Realism einerseits dessen objektive Seite stark, d.h. die Bedingtheit allen Handelns durch soziale Strukturen und Artefakte. Mit der Konzeption der kausalen Kraft (causal powers) wird ein Angebot unterbreitet, soziale Bedingtheit jenseits von deterministischen Festlegungen als kausale Ermöglichung, Einschränkung und Motivation zu fassen (Porpora 1989, Bates 2010). Anderseits betont der Critical Realism auch die subjektive Seite des Sozialen: Menschlichen Individuen wird die Fähigkeit zugeschrieben, sich selbst und die eigenen sozialen Bedingungen zielgerichtet zu transformieren. Somit bekommt ein zentrales Anliegen kritischer Sozialtheorie eine sozialontologische Grundlage, nämlich Gesellschaftsveränderung auf nicht-voluntaristische und dennoch zielorientierte Weise zu denken. Schließlich leistet der Critical Realism auch einen Beitrag zum Verständnis sozialer Macht: Nach der Aktualismuskritik existieren Machtverhältnisse auch dann, wenn Macht gerade nicht ausgeübt wird. Machtverhältnisse, innerhalb derer ein Akteur den Handlungsspielraum eines oder mehrerer Anderer beschränken kann, lassen sich dabei als Zusammenspiel von struktureller Machtposition, akteursspezifischen Fähigkeiten und Kontingenzen der Handlungssituation fassen. Wie gesehen tun sich innerhalb des Critical Realism anhand des Strukturbegriffs erhebliche Differenzen auf, die für die Konstruktion von Gesellschaftstheorien nicht ohne Konsequenzen bleiben. So zeigt etwa die Verwendung des Critical Realism innerhalb feministischer Intersektionalitätsdebatten, dass der relationale Strukturbegriff nahelegt, miteinander verschränkte Ungleichheitsverhältnisse bzw. in der Terminologie der deutschen Diskussion: Ungleichheitsachsen gewissermaßen neben ausdifferenzierte soziale Bereiche zu stellen.40 Für den entitären Strukturbegriff dagegen sind Ungleichheitsver40 | Walby (2007: 459) spricht von zwei verschiedenen Typen sozialer Systeme, die miteinander interagieren: »Two kinds of social systems need to be distinguished: first, institutionalized domains of economy, polity, violence, and civil society; second, sets of social relations such as class, gender, and ethnicity.«

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hältnisse kein weiterer Strukturtyp neben institutionalisierten Bereichsstrukturen. Stattdessen lädt er dazu ein, soziale Ungleichheiten als Verhältnisse innerhalb sozialer Entitäten zu fassen, die durch Ausbreitung und Verkettung von Mechanismen wie Ausbeutung, Segregation, Chancenmonopolisierung, Stigmatisierung oder Diskriminierung zustande gekommen sind und in ihrem Zusammenwirken »durable inequalities« (Tilly 1999) produzieren.41 Oder, um einen Dauerbrenner kritischer Sozialtheorie zu bedienen: Mit dem entitären Strukturbegriff ist Gesellschaft nicht länger als eine strukturelle Totalität zu denken, sondern als konflikthafte Artikulation vieler Entitäten/ Ganzheiten. Statt z.B. zu behaupten, jedes soziale Phänomen sei dem kapitalistischen Verwertungszwang unterworfen, rückt dann die kapitalistische Ökonomie als soziale Makroentität in den Blick, deren kausale Reichweite und Durchschlagskraft es zu erforschen gilt.

3. E pistemologie und M e thodologie Der zentralen epistemologischen Unterscheidung des Critical Realism sind wir bereits begegnet: transitiv versus intransitiv. In ihrer transitiven Dimension ist Wissenschaft ein historisch-sozialer Konstruktionsprozess: Sie ist durch externe soziale Strukturen bedingt, impliziert intern bestimmte Formen der Kooperation wie auch (in unterschiedlichem Maß) materielle Apparaturen und produziert auf dieser Grundlage anhand von Theorien und Daten neue Erkenntnisse. Ihre intransitive Seite referiert dagegen auf Objekte, die unabhängig von den jeweiligen Konstruktionsprozessen existieren. Auf diese Weise ist es für den Critical Realism möglich, drei Perspektiven zu verbinden, die oftmals als miteinander unvereinbar angesehen werden: ontologischen Realismus, epistemologischen Konstruktivismus und Begründungsrationalität.42 Im Folgenden wird zunächst dieser Konnex erläutert und gezeigt, dass er in antifundamentalistischen Wahrheitsansprüchen und einem Methodenpluralismus resultiert. In einem zweiten Schritt stellen wir dann kritisch-realistische Erklärungsstrategien vor, indem diese sowohl vom deduktiv-nomologischen Modell des Positivismus als auch vom hermeneutischen Verstehen abgegrenzt werden. 41 | Ebenso Wan 2011. Der entitäre Strukturbegriff bietet somit auch für die »five faces of oppression«, die Iris Marion Young (1990) beschrieben hat, eine robustere sozialontologische Grundlage als der von ihr herangezogene Giddens. Zu »mechanismischen« Affinitäten zwischen den Arbeiten von Charles Tilly und dem Critical Realism: Steinmetz 2010. 42 | Bhaskar (1986: 24) spricht von »ontological realism«, »epistemic relativity« und »judgemental rationality«.

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Wahrheit und Methodenpluralismus Da es sich um soziale Konstruktionsprozesse handelt, ist in der transitiven Dimension von Wissenschaft alles epistemisch relativ bzw. Wissen ist immer situiert (vgl. Haraway 1988, Anderson 2004). Wo es um diese soziale Bedingtheit und historische Vergänglichkeit von Wissenschaft geht, kann der Critical Realism Einsichten etwa der Science and Technology Studies oder von feministischen Wissenschaftstheorien mit an Bord nehmen. Aus der epistemischen Relativität von Wissen folgt für ihn jedoch kein Begründungsrelativismus: Nicht jede Sichtweise ist gleich gut begründet bzw. kann gleiche Plausibilität beanspruchen. So muss uns die Sozialität von Wissenschaft keineswegs notwendig von den Dingen entfernen, sondern kann uns oftmals gerade auch an sie heranführen. Kritischer Austausch in Wissenschaftsgemeinschaften, die epistemische Tugenden wie Neugierde, Wahrhaftigkeit oder Redlichkeit hegen, sowie immer ausgefeiltere technische Apparaturen machen es möglich, dass wir zunehmend neue Aspekte von Gegenständen erschließen. Wir sprechen und schreiben zwar immer in bestimmten Perspektiven; wir sind in diesen jedoch nicht zwingend gefangen, sondern können aus ihnen heraustreten und uns zumindest partiell über sie verständigen. Wie an anderer Stelle bezweifelt der Critical Realism auch in der Epistemologie die Produktivität von Alles-oder-nichts-Alternativen. Das ermöglicht die Entwicklung einer differenzierten antifundamentalistischen Position: Wie in pragmatistischen, poststrukturalistischen oder sozialkonstruktivistischen Ansätzen auch wird die Suche nach Letztbegründungen und epistemischer Gewissheit abgelehnt. Wenn sich somit kein »view from nowhere« (Nagel 1986) mehr beanspruchen lässt, heißt das für den Critical Realism jedoch noch lange nicht, dass auch jeder Wahrheitsbegriff aufgegeben werden müsste.43 Im Gegenteil, ein spezifischer Wahrheitsbegriff ist notwendig, um einen epistemischen Antifundamentalismus überhaupt erst konsequent zu vertreten. So ist für den Critical Realism eine Unterscheidung zentral, die Konsens- oder Kohärenztheorien der Wahrheit per definitionem nicht machen können: diejenige zwischen Wahrheit und Fürwahrhalten. Aussagen über einen Gegenstand können auch dann wahr sein, wenn wir nur relativ wenig Gewissheit über sie haben, d.h., wenn unser Fürwahrhalten schwach ausgeprägt ist. Umgekehrt können sich auch die zu einem bestimmten Zeitpunkt am besten begründeten wissenschaftlichen Theorien als falsch oder einseitig erweisen. Genüge getan wird dieser Differenz zwischen Wahrheit und Fürwahrhalten dagegen in einer bestimmten Spielart der Korrespondenztheorie: Wahr ist eine Aussage dann, wenn sie mit ihrem Gegenstand übereinstimmt bzw. diesen adäquat erfasst. 43 | Die analoge Aufforderung in der Ontologie lautet, dass eine Zurückweisung des Determinismus nicht dazu verleiten sollte, jede Kausalitätskonzeption zu verabschieden.

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Korrespondenz betrifft dabei die Definition von Wahrheit, nicht deren Kriterien (vgl. Porpora 2015: Kap. 3) – letztere fallen in den Bereich des Fürwahrhaltens und umfassen z.B. die Erklärungskraft einer Theorie. Ein solches qualifiziertes korrespondenztheoretisches Verständnis von Wahrheit ist für den Antifundamentalismus unabdingbar, da sich nur mit ihm der provisorische und fallible Charakter allen Wissens denken lässt: Nur wenn wir den Gegenstand als Wahrmacher von Aussagen unterstellen, können wir sinnvoll davon sprechen, dass wir uns getäuscht haben, und unser Fürwahrhalten revidieren. Die epistemologische Pointe des Critical Realism besteht also in der These, dass epistemischer Fallibilismus und damit Antifundamentalismus ein bestimmtes korrespondenztheoretisches Verständnis von Wahrheit voraussetzen.44 Der Critical Realism behauptet ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis zwischen Epistemologie und Ontologie. So geht der epistemische Fundamentalismus häufig mit einem ontologischen Aktualismus einher: Die »Suche nach Gewissheit« – David Hume und der an ihn anschließende Empirismus/ Positivismus sind dafür der Paradefall – führt zu einem skeptischen Abschied von den Dingen und zur Reduktion der Welt auf beobachtbare Ereignisse bzw. Regelmäßigkeiten zwischen ihnen. In einer anderen, cartesianischen Variante setzt der »göttliche Blick« fundamentalistischer Erkenntnistheorien eine dualistische Ontologie voraus, in der das Erkenntnissubjekt außerhalb bzw. über der Welt schwebt. Demgegenüber sind im Critical Realism Emergenzmaterialismus und Fallibilismus miteinander verknüpft: Gerade weil die Dinge komplex und vielfach determiniert sind, lassen sie sich immer nur ausschnittsweise und provisorisch erkennen. Aber wir haben gute Gründe anzunehmen, dass dieses fallible Wissen, bis wir eines Besseren belehrt werden, wirkliches Wissen von den Dingen ist. Und daraus, dass Irrtum möglich ist, folgt keineswegs, dass sich nichts erkennen ließe. Ein entscheidender Punkt des Critical Realism ist nun, dass dieser Konnex von Ontologie und Epistemologie auch Auswirkungen auf die Methodologie, auf die »Logik der Forschung« hat. Wenn die Welt aus komplexen Dingen besteht, deren geschichtete Mechanismen zumeist nicht direkt sichtbar sind und die in ihrem Zusammenwirken ein Meer von Kontingenzen produzieren, dann ist es nicht länger sinnvoll, nach der einen Methode zu suchen. Vielmehr ist anzuerkennen, dass spezifische (Aspekte von) Gegenstände(n) spezifische Methoden bzw. – weil die Dinge komplex sind – spezifische Methodenmixe erfordern, sprich: dass die tatsächliche 44 | Ähnlich sieht das im Übrigen auch Popper, dessen Falsifikationismus explizit ein korrespondenztheoretisches Wahrheitsverständnis beinhaltet: »Die fundamentale methodologische Idee, daß wir aus unseren Irrtümern lernen, kann nicht ohne die regulative Idee der Wahrheit verstanden werden […]. Wir nennen eine Aussage ›wahr‹, wenn sie mit den Tatsachen übereinstimmt oder den Tatsachen entspricht oder wenn die Dinge so sind, wie die Aussage sie darstellt.« (Popper 1969: 116f.)

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Praxis guter Forschung einem Methodenpluralismus unterliegt. So lässt sich mit dem Critical Realism folgende Gleichung aufstellen: Emergenzmaterialismus + Antifundamentalismus = Methodenpluralismus. Für die Sozialwissenschaften bedeutet dies, dass der Critical Realism eine Spaltung in qualitative und quantitative Methoden ebenso wie deren Zuordnung zu hermeneutischem Verstehen und positivistischem Erklären ablehnt. Wenn wir etwas über die Skripte erfahren wollen, denen Akteure folgen, sind Tiefeninterviews und Diskursanalysen ein probates Mittel; wenn stärker ihr tatsächliches Verhalten interessiert, empfiehlt sich ein ethnografisches Vorgehen; wenn Einsichten in Reichtumsverteilungen gewonnen werden sollen, sind Statistiken und die ihnen zugrundeliegenden quantitativen Datentechniken zu verwenden. Und um z.B. das Konsumverhalten eines bestimmten Bevölkerungssegments zu erklären, werden wir verschiedene Methoden kombinieren. Wogegen sich der Critical Realism methodologisch wendet, ist eine apriori-Beschränkung legitimer sozialwissenschaftlicher Fragen bzw. ihre gegenstandsunabhängige Zuordnung zu bestimmten Methoden. Anders gesagt: Gegenüber dem, was in den Lehrbüchern steht, interessiert sich diese Strömung für die tatsächliche Praxis der Forschung.

Erklärungsstrategien Auch in den Sozialwissenschaften geht es dem Critical Realism zufolge zentral darum, Erklärungen zu produzieren. Nun ist dort allerdings hoch umstritten, was als gute Erklärung bzw. was überhaupt als Erklärung gelten kann. Zu den entscheidenden Streitpunkten gehört erstens die Frage, ob Erklärungen immer allgemeine Gesetze implizieren und daher z.B. die Entstehungsgeschichten singulärer Ereignisse oder Sachverhalte per definitionem keine (richtigen) Erklärungen sein können. Zweitens und daran anschließend steht zur Debatte, ob es eine klare Grenze zwischen Erklärungen und Beschreibungen gibt, ob Erklärungen ausschließlich auf einen bestimmten Fragetypus, nämlich Warum-Fragen antworten. Bezogen auf beide Streitpunkte bricht der Critical Realism mit der Orthodoxie der Lehrbücher, ohne deshalb starke Erklärungsansprüche aufzugeben. Das klassische Modell der Erklärung, wie es auch in den meisten sozialwissenschaftlichen Methodenbüchern immer noch gelehrt und besonders in den Wirtschaftswissenschaften, der Psychologie, aber auch großen Teilen der empirischen Sozialforschung angewandt wird, ist das »deduktiv-nomologische Modell«. Wie bereits im ersten Abschnitt angedeutet, hat es – zumindest behauptet das der Critical Realism – seine ontologischen Wurzeln im Kausalitätsverständnis von David Hume, d.h. Kausalität wird im Kern als beobachtbare Ereignisregelmäßigkeit begriffen. Ursache und Wirkung sind in dieser Vorstellung beobachtbare Einzelereignisse, die als logisch unabhängig voneinan-

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der gedacht werden und deren Verknüpfung in einer strikten empirischen Regelmäßigkeit besteht: »Immer wenn A dann B«, (oder »alle A sind p«), »immer wenn es blitzt, dann donnert es kurze Zeit später.« Diesem Verständnis unterliegt, trotz beabsichtigter ontologischer Enthaltsamkeit, eine implizit aktualistische Ontologie (Bhaskar 1975): Die Welt besteht aus einer Menge sich empirisch manifestierender Einzelereignisse. Ausgehend davon formulierten Carl Gustav Hempel und Paul Oppenheim ihr »deduktiv-nomologisches« bzw. Karl Popper sein »hypothetisch-deduktives« Modell wissenschaftlicher Erklärung, demzufolge kausales Erklären nichts anderes ist als die logische Ableitung eines Ereignisses (lautes Donnern) aus einem allgemeinen Gesetz (immer wenn es blitzt, dann donnert es), zusammen mit dem Vorliegen der Anfangsbzw. Randbedingungen (es blitzt). Das Donnern gilt als »erklärt«, wenn es aus einem allgemeinen Gesetz abgeleitet bzw. unter dieses subsumiert werden kann. »Gesetz« wird dabei als deterministische – bzw. in modifizierter Form als probabilistische – Ereignisregelmäßigkeit aufgefasst.45 Abbildung 3 (1) nomologische Hypothese (immer wenn A, dann B; bzw. alle A sind p) (2) Randbedingung(en) (es gilt A)

(1+2) Explanans (die Erklärungsgrundlage bzw. die Prämissen)

(3) Singulärer Satz, der das zu erklärende Ereignis beschreibt (Es gilt B; bzw. p)

Explanandum (das zu Erklärende bzw. die Konklusion)

Vgl. Diekmann 2002: 148; Ritsert 2003: 92

Nach diesem Schema antworten Erklärungen immer auf Warum-Fragen, und zwar auf spezifische Weise. Die Beantwortung der Frage, warum Bert jeden Werktag in sein Auto steigt und pünktlich zur Arbeit fährt (anstatt beispielsweise im Garten zu liegen oder zu streiken), müsste dann folgendermaßen funktionieren: Immer wenn Menschen einer bestimmten Gruppe (z.B. männliche, gut qualifizierte Angestellte im mittleren Alter) einer Lohnarbeit nachgehen, dann tun sie das, weil sie ihren sozialen Status verbessern wollen (Gesetzeshypothese); Bert weist tatsächlich alle Merkmale dieser Gruppe auf und geht einer Lohnarbeit nach (Randbedingungen); also fährt Bert gewissenhaft zur Arbeit, weil er sozial aufsteigen will (Konklusion). Das »gewissenhaft zur Arbeit fahren« gilt als »erklärt«, wenn gezeigt werden kann, dass es unter das allgemeine Gesetz fällt, welches für eine bestimmte soziale Gruppe eine empirische (statistisch signifikante) Verknüpfung zwischen dem Arbeiten und

45 | »To give a causal explanation of an event means to deduce a statement which describes it, using as premises of the deduction one or more universal laws, together with certain singular statement, the initial conditions.« (Popper 1959: 38)

Einleitung

dem Wunsch nach sozialem Aufstieg beschreibt.46 Eine der Standardkritiken an diesem Modell lautet, dass eine solche Subsumtion unter eine empirische Regelmäßigkeit überhaupt nichts erklärt, dass sie also nicht hinreichend ist für eine echte Erklärung (vgl. Bartelborth 2007). Ebenso zweifelhaft – und in dieser Infragestellung besteht einer der zentralen Einsätze von Bhaskars Realist Theory of Science – ist aber die Annahme, das Auffinden empirischer Ereignisregelmäßigkeiten sei eine notwendige Voraussetzung jeder Erklärung.47 Dieses auch als covering law model bekannte Schema wird bis heute als Standard wissenschaftlicher Erklärungen in der quantitativen Sozialforschung betrachtet und gelehrt (vgl. Diekmann 2002). Für die sozialwissenschaftliche Forschungslogik hat das weitreichende Konsequenzen: Die für Erklärungen als notwendig erachtete Beziehung auf ein Gesetz wird im Sinne empirischer Häufigkeit aufgefasst. Entsprechend ist eine Erklärung umso besser, je verallgemeinerbarer gefundene Zusammenhänge sind. Verallgemeinerung bedeutet dabei das Schließen von mehrfach auftretenden Ereignissen auf häufig (oder immer) auftretende Ereignisse, besteht also in der empirischen Extrapolation (Danermark et al. 2002: 77) – mit dem Ergebnis, dass jede Erklärung zugleich »symmetrisch« eine Voraussage enthalten muss. Dem entspricht eine Kon46 | Natürlich kann die Gesetzeshypothese beliebig verfeinert oder verändert werden, zudem muss die Möglichkeit intervenierender Faktoren ausgeschlossen werden (die Gesetzeshypothese gilt immer nur ceteris paribus). Vor allem aber finden sich in den Sozialwissenschaften kaum deterministische Regelmäßigkeiten, weshalb hier auch von probabilistischen Hypothesen gesprochen wird. Für diese genügt das Vorliegen einer statistisch signifikanten Wahrscheinlichkeit (Diekmann 2002: 149): »80 Prozent aller männlichen Angestellten mittleren Alters streben sozialen Aufstieg an, also ist Bert mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit ein loyaler Angestellter, weil er aufsteigen will.« Das ändert aber nichts an der Grundstruktur von Erklärung als Subsumtion unter eine Ereignisregelmäßigkeit. 47 | Eine solche Notwendigkeitsbehauptung findet sich z.B. bei Hartmut Esser (1993: 45 [Hervorh. im Orig.]): »Der Kern jeder Erklärung ist immer (eine Aussage über) ein allgemeines Gesetz. Noch deutlicher: Ohne irgendein solches allgemeines Gesetz ist eine Erklärung prinzipiell nicht möglich.« Esser räumt selbst ein, dass in den Sozialwissenschaften das Auffinden allgemeiner Gesetze im Sinne von strikten Regelmäßigkeiten (zumindest auf der gesellschaftlichen Makroebene) nicht zu erwarten ist. »Nach rund 100 Jahren Makro-Soziologie ist nicht eines solcher [makro-soziologischen] Gesetze gefunden worden.« (Ebd.: 597) – Weil er aber am positivistischen Modell von Erklären festhalten will, sucht Esser die für Erklärungen scheinbar unabdingbaren strikten Regelmäßigkeiten auf der Mikroebene und findet sie in der Nutzenmaximierung rational handelnder Akteure. Das Postulat der Nutzenmaximierung scheint sich damit aus dem Zwang zu ergeben, dass irgendwo in der Erklärung ein allgemeines Gesetz vorkommen muss.

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zentration empirischer Forschung auf das Auffinden und Prüfen empirischer Regelmäßigkeiten (»hypothesentestendes Verfahren«), statistischer Verteilungen und Korrelationen. Vertreterinnen der interpretativen oder hermeneutischen Sozialwissenschaft kritisieren dieses positivistische Erklärungsmodell auf der Basis, dass es die Spezifik des Sozialen verfehlt.48 Weil Menschen sinnkonstruierende und -verstehende Wesen sind, also immer schon ein bestimmtes Verständnis von sich und ihren Handlungen haben, sind die Gegenstände der Sozialwissenschaften selbst bereits sinnhafte Interpretationen. Sozialwissenschaften produzieren damit »Konstruktionen zweiter Ordnung« (Schütz 1971: 7) bzw. haben es immer mit einer »doppelten Hermeneutik« (Giddens 1976: 95) zu tun. Das ist ein ontologisches Argument: Gegenüber der (implizit) monistischen Ontologie des Positivismus gehen Vertreterinnen interpretativer Ansätze von einer dualistischen Ontologie aus. Bezeichnenderweise wird dabei der Aktualismus des Positivismus und dessen deterministische Vorstellung von Kausalität nicht grundsätzlich infrage gestellt. Auch für die Gründerväter der Hermeneutik besteht »Erklären« im Auffinden empirischer Regelmäßigkeiten einer sonst »ihrem Wesen nach ungegliedert[en] Welt« (Schütz 1971: 6). Problematisiert wird lediglich die Übertragung dieses Verständnisses von den Natur- auf die Sozialwissenschaften. Weil dem Positivismus damit in seiner eigentümlichen Definition von »Erklären« gefolgt wird, grenzt sich die interpretative Soziologie vom Anspruch ab, eine erklärende Wissenschaft zu sein. Stattdessen sieht sie ihre Aufgabe im Verstehen, d.h. der interpretativen Rekonstruktion individueller und sozial wirksamer Sinnstrukturen oder Deutungsmuster. Der Unterschied zwischen Erklären und Verstehen wird häufig auch so aufgefasst, dass Erklären auf objektive Ursachen, Verstehen aber auf subjektive Gründe abzielt.49 Um also zu verstehen, warum Bert morgens in sein Auto steigt, müssen wir seine persönlichen Handlungsgründe kennen sowie die kollektiv geteilten Deutungsmuster und Normen, welche diese Gründe in eine sinnhafte

48 | So argumentiert etwa Ralf Bohnsack in Anschluss an Alfred Schütz, aber auch Jürgen Habermas, dass die »Besonderheiten des Gegenstandsbereichs der Sozialwissenschaften« Poppers Anspruch auf eine »Einheitswissenschaft«, und damit »eine Orientierung an der naturwissenschaftlichen Methodologie«, nicht zulassen (Bohnsack 2000: 23 [Hervorh. im Orig.]). 49 | Eine Handlung ist verstanden, wenn die subjektiven Gründe und die Sinnstrukturen, in welche diese eingebettet sind, nachvollzogen werden. Erst durch das Sinnverstehen von Handlungsgründen, so die interpretative Sozialwissenschaft, werden Handlungen überhaupt als solche erschlossen (weil nur das Vorliegen von Gründen eine Handlung von einer physikalischen Bewegung abgrenzt und erst damit die Spezifik eines sozialwissenschaftlichen Gegenstandes erfassbar wird; vgl. Bohnsack 2000: 25).

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Ordnung bringen50 – das könnte beispielsweise Berts Äußerung sein, dass er respektabel vor seinen Eltern oder Nachbarn erscheinen will, was sich wiederum als Element einer bestimmten milieuspezifischen Leistungsnorm oder Arbeitsidentität rekonstruieren ließe. In einem weiteren und nicht auf das enge positivistische Verständnis verkürzten Sinn lässt sich aber auch bei der Hermeneutik durchaus von Erklären sprechen: Ein Phänomen (etwa eine Handlung oder auch ein Ensemble von Handlungen) wird durch ein es verursachendes Prinzip (ein subjektiver Handlungsgrund als Teil eines Deutungsmusters) erklärt. Wie Donald Davidson (1963) und Bhaskar (1979) argumentieren, können Gründe durchaus als (eine spezifische Art von) Ursachen aufgefasst werden (vgl. auch Outhwaite 1987: 50). Für die Forschungslogik heißt das, dass Erklärungen dann gut sind, wenn sie die semantischen Möglichkeitsbedingungen einer Aussage oder Handlung möglichst weitgehend erschließen können. In den Worten Max Webers: »›Erklären‹ bedeutet also für eine mit dem Sinn des Handelns befaßte Wissenschaft soviel wie: Erfassung des Sinnzusammenhangs, in den, seinem subjektiv gemeinten Sinn nach, ein aktuell verständliches Handeln hineingehört.« (Weber 1922a: 4 [Hervorh. im Orig.])51 Das Allgemeine, auf das das Besondere hier bezogen wird, besteht in keiner empirischen Regelmäßigkeit, sondern in konstitutiven Sinnstrukturen, die soziale Einzelphänomene möglich und intelligibel machen. Verallgemeinerung heißt damit auch nicht empirische Extrapolation, sondern Fundierung in tiefer liegenden Sinnstrukturen. Indem deren spezifische Typik herausgearbeitet wird, ist »eine Übertragbarkeit auf andere, ähnliche Gegenstände« möglich (Merkens 2003: 291). Zugleich beschränkt die dualistische Ontologie hermeneutischer Ansätze ihr explanatorisches Potenzial auf semantische Strukturen, was sie aus Sicht des Critical Realism nur zu einseitigen Erklärungen des Sozialen befähigt. Gegenüber diesen beiden dominanten Methodologien kann die Sozialontologie des Critical Realism eine offenere Konzeption von Erklärungen in den Sozialwissenschaften begründen. Bhaskars »kritischer Naturalismus« geht davon aus, dass das Soziale sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten mit den Gegenständen der Naturwissenschaften aufweist.52 Mit der Herme50 | Die positivistische Erklärung im obigen Beispiel setzt eine solche interpretative Rekonstruktion immer schon voraus, weil die sozialen »Tatsachen«, die ihre Elemente darstellen (»ins Auto steigen«; »zur Arbeit fahren«; »Geld verdienen«), sinnhaft sind (vgl. auch Sayer 1984: 31). 51 | Allerdings konterkariert Weber dieses Verständnis von Erklären, indem er kurz nach dieser Stelle wieder dem Positivismus folgt: »kausal ›erklären‹, d.h.: unter Regeln bringen.« (1922a: 6) 52 | »Whereas the objects of natural science are indeed socially defined but still naturally produced, the objects of social science are both socially defined and socially

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neutik wird die Einsicht in die Konzeptabhängigkeit des Sozialen geteilt: Anders als Moleküle oder Tiefdruckgebiete ist das Soziale immer davon abhängig, dass es sinnverstehende Individuen gibt. Soziale Entitäten gehen aber nicht in deren subjektiven Konstruktionen auf, genauso wenig wie diese per se adäquat sein müssen. Vielmehr sind sie, in einem den Gegenständen der Naturwissenschaften analogen Sinne, real: Sie entfalten emergente Eigenschaften und Wirkkräfte, die nicht auf die Vorstellungen der Akteure reduzierbar sind. Der Critical Realism geht daher, auf einer anderen Grundlage als der Positivismus, davon aus, dass Erklärungen in den Sozial- und Naturwissenschaften trotz wichtiger Unterschiede eine strukturähnliche Logik besitzen: In beiden Bereichen geht es um die theoretische Rekonstruktion der Strukturen, Mechanismen und Entwicklungsverläufe, die den zu untersuchenden Phänomenen zugrunde liegen bzw. diese hervorbringen. Genau das impliziert für den Critical Realism einen Bruch mit der Erklärungsorthodoxie der Lehrbücher. Erklärungen, sowohl in den Natur- als auch den Sozialwissenschaften, müssen keineswegs ein »allgemeines Gesetz« implizieren. Das zentrale Kriterium für Erklärungen ist nicht Allgemeinheit, sondern Kausalität. Wissenschaftliches Erklären bedeutet, einen Kausalzusammenhang bzw. die Funktionsweise einzelner seiner Elemente zu erhellen, selbst wenn diese(r) erstmal nicht sichtbar ist. Deshalb lässt sich auch keine klare Grenze zwischen Warum- und Wie-Fragen, zwischen Erklärung und Beschreibung ziehen. Im Gegenteil, häufig sind Wie-Fragen angemessenere kausale Fragen als Warum-Fragen, etwa: »Wie kam etwas zustande?«, »Wie funktioniert etwas?« So favorisiert der Critical Realism zwei Erklärungstypen, die seine Vertreterinnen üblicherweise »retrodiction« und »retroduction« nennen (Lawson 1997: 221 und 224) und die sich in Anlehnung an Foucault und Bunge auch als »genealogische« und »mechanismische Erklärungen« bezeichnen lassen (Lindner 2013: Kap. 5.3). Die Retrodiktion oder genealogische Erklärung fragt danach, wie etwas zustande gekommen ist, und untersucht auf diese Weise das Zusammenwirken vieler Dinge und Mechanismen.53 Die Retroduktion oder mechanismische Erklärung richtet sich dagegen auf einzelne Mechanismen und erklärt deren »Arbeitsweise«. Eine typische mechanismische Erklärung antwortet z.B. auf die Frage: »Wie funktionieren Märkte unter kapitalistischen Bedingungen?« In beiden Erklärungsmodi geht es um

procuced – but they are nevertheless just as real.« (Danermark et al. 2002: 31, Sayer 1984: 22ff.) 53 | Als »historische« Erklärung hat sie immer eine narrative Form. Zur Relevanz »narrativer Erklärungen« sowohl in den Natur- als auch Sozialwissenschaften: Gangl 2016.

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das Erschließen realer Strukturen bzw. Ursache-Wirkung-Zusammenhänge, die beobachtbaren Ereignissen zugrunde liegen und diese hervorbringen.54 So ist für den Critical Realism das Auffinden »allgemeiner Gesetze« im Sinne deterministischer oder probabilistischer Regelmäßigkeiten kein Ziel von Erklärungen. Die Tatsache, dass etwas häufig oder immer auftritt, erklärt noch nicht, warum es auftritt, wie es funktioniert bzw. zustande gekommen ist. Die Antwort auf das Warum/Wie erfordert Kenntnis der Strukturen und generativen Mechanismen (Sayer 1984: 105). Diese besitzen unterschiedliche Beständigkeiten, d.h. variierende Allgemeinheitsgrade, und können sich mitunter in lockeren empirischen Regelmäßigkeiten äußern. Letztere liefern daher auch wichtige Hinweise auf das Vorhandensein sozialer Mechanismen.55 Insofern sind die Verfahrensweisen quantitativer Sozialforschung, wie z.B. Korrela­ tions- oder Korrespondenzanalysen, nützliche und wichtige Instrumente. Aber sie sind nicht das eigentliche Ziel sozialwissenschaftlicher Erklärungen. Und sie sind auch nicht immer notwendig: Denn Mechanismen können existieren, ohne aktiviert zu sein, oder ihre Effekte können durch Interaktionen mit anderen Mechanismen verändert werden. Die Tatsache, dass sich keine empirischen Regelmäßigkeiten finden lassen, muss nicht bedeuten, dass keine dauerhaften Mechanismen am Werk sind. Die Sozialontologie des Critical Realism legt damit nahe, dass es neben dem Auffinden lockerer empirischer Regelmäßigkeiten noch andere interessante Wege gibt, Erklärungen sozialer Phänomene zu generieren. Dazu gehören u.a. kontrafaktisches Denken, soziale Krisenexperimente, Quasiexperimente, das Studieren von pathologischen Verhältnissen und Extremfällen oder intelligent konstruierte soziale Vergleiche (Danermark et al. 2002: 101ff., Collier 1994: 160ff.). Gegenüber der hermeneutischen Sozialwissenschaft macht die Sozialontologie des Critical Realism klar, dass sich eine Erschließung tiefer liegender Mechanismen, die z.B. eine Handlung erklären, nicht in der Rekonstruktion semantischer Strukturen erschöpft. Eine gute sozialwissenschaftliche Erklä54 | Auch »funktionale Erklärungen« lösen sich dem Critical Realism zufolge in mechanismische auf. Sie sind nur dann plausibel, wenn sie »dispositional and consequential mechanisms« (Bhaskar 1986: 145) etablieren können. »The error of functionalism can now be quickly isolated: it consists in the supposition that the mere fact that if a feature existed it would play some useful role suffices to explain it. On the contrary what one requires to be justified in making a consequence claim are grounds for supposing that the dispositional property and consequent are normically connected.« (Ebd.: 146) (»Normic« meint bei Bhaskar: »als Tendenz notwendig wirksam«.) 55 | Tony Lawson spricht in diesem Zusammenhang von »demi-regularities« bzw. »demi-regs« und fasst diese als »a partial event regularity which prima facie indicates the occasional, but less than universal, actualization of a mechanism or tendency, over a definite region of time-space.« (1997: 204 [Hervorh. im Orig.])

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rung muss sowohl die Vorstellungen und Intentionen der Akteure erfassen als auch die soziostrukturellen Hintergrundbedingungen, in die soziales Handeln eingebettet ist und die von diesem reproduziert werden – ob die Akteure davon wissen oder nicht. Soziales Handeln ist immer zugleich beides: subjektiv intentional verursacht, d.h. Menschen haben Gründe für ihre Handlungen, und sozialstrukturell bedingt. Die sozialen Handlungsbedingungen, vor deren Hintergrund Menschen ihre Intentionen formen, sind nur zum Teil (individuell oder kollektiv) intendiert, zum Teil aber auch Ergebnis mechanismischer Prozesse, die sich – mit Marx gesprochen – »hinter ihrem Rücken« abspielen. Eine diesem Verständnis von Erklären entsprechende Antwort auf die Frage, warum Bert regelmäßig morgens zur Arbeit fährt, müsste also in die Frage umformuliert werden: Was sind die (relativ) beständigen soziostrukturellen und akteursinternen Mechanismen, die verursachen, dass Bert jeden Morgen zur Arbeit fährt (Retroduktion)? Was sind die individual-biografischen und sozialen Entwicklungen, die dazu geführt haben (Retrodiktion)? Das kann eine Rekonstruktion derjenigen sozialen Strukturen beinhalten, welche die Situation bedingen, in der sich Bert befindet, und die ihm gute Gründe geben, zur Arbeit zu fahren: z.B. bestimmte Eigentums- und Machtverhältnisse, die das soziale Verhältnis der Lohnarbeit fundieren, sowie soziale Interaktionsmechanismen, durch die dieses in alltäglichen Praktiken immer wieder reproduziert wird. Das kann aber auch eine Rekonstruktion der Deutungsmuster beinhalten, die Bert dazu veranlassen, seine Situation auf eine ganz bestimmte Weise zu interpretieren und zu bewerten, beispielsweise eine verinnerlichte aufstiegsorientierte Leistungsnorm. Beides, Leistungsnormen und sozialstrukturelle Zwänge, können dann auch in ihrem wechselseitigen Zusammenhang untersucht werden. Es zeigt sich also, dass unterschiedliche sozialontologische Bestimmungen des Forschungsgegenstandes mit unterschiedlichen Auffassungen davon verknüpft sind, was eine sozialwissenschaftliche Erklärung ist. Daran hängen dann wiederum unterschiedliche forschungsstrategische Ausrichtungen und methodische Vorgehensweisen. Während die klassisch positivistische Methodologie, die das Auffinden von empirischen Regelmäßigkeiten ins Zentrum stellt, auf einer implizit aktualistischen Ontologie fußt, beruht die auf Rekonstruktion des gemeinten Sinns fokussierte Methodologie der verstehenden Sozialwissenschaften auf einer subjektivistischen Sozialontologie. Auch wenn das sicherlich keine erschöpfende Darstellung sozialwissenschaftlicher Methodologie ist 56, so sind diese beiden Paradigmen doch bis heute dominant, besonders in Methodenlehrbüchern. Vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Einseitigkeiten ist es wenig verwunderlich, dass die in der tatsächlichen For56 | Pühretmayer (2010) führt als drittes Paradigma poststrukturalistische Ansätze an.

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schungspraxis zum Ausdruck kommenden methodologischen Verständnisse sich häufig nicht mit einem der beiden genannten decken. Das, was an empirischer Forschung und Theoriearbeit produziert wird, geht oftmals von einem Erklärungsprogramm aus, das der Sozialontologie des Critical Realism näher ist – jedenfalls überall dort, wo nach strukturellen Ursachen und Zusammenhängen gesucht wird und mechanismische oder genealogische Erklärungen für soziale Phänomene generiert werden. Diese Ansätze finden im Critical Realism eine sozialontologische Fundierung.

4. E thik der S ozialwissenschaf ten Können und sollen die Sozialwissenschaften ihrem Gegenstand gegenüber kritisch sein? Wenn ja, in welchen Hinsichten ist Kritik innerhalb des Rahmens von Wissenschaftlichkeit angemessen? Bereits seit einigen Jahren gewinnt die Frage nach der Möglichkeit und Legitimität sozialwissenschaftlicher Kritik wieder an Relevanz in der deutschen (bzw. generell der »westlichen«) Soziologie. Mit der Einschätzung, die Gegenwart sei von anhaltenden und mehrdimensionalen Krisenprozessen geprägt, wächst auch das Selbstverständnis von Soziologie und Nachbardisziplinen als kritischen Wissenschaften (Lessenich 2014, vgl. auch Mikl-Horke et al. 2011). Was das im Einzelfall dann heißt, ist allerdings höchst umstritten. Denn trotz des Eindrucks, dass heute fast alle irgendwie kritisch sind, ist Max Webers Postulat der Werturteilsfreiheit nach wie vor kanonisch. Entsprechend dominieren schwache Kritikprogramme, die sich im Sinne soziologischer Aufklärung auf eine Infragestellung gesellschaftlicher Selbstverständnisse, die Kartografierung bereits vorfindlicher Sozialkritik, das Aufzeigen des kontingenten Charakters sozialer Verhältnisse oder die Analyse von Dysfunktionalitäten beschränken. Eine Sozialwissenschaft, so die immer noch weitverbreitete Meinung, die ihren Gegenstand nicht nur analysiert, sondern zugleich auch kritisiert, lasse sich nicht mit dem modernen Verständnis von Wissenschaftlichkeit vereinbaren. In diesem Abschnitt wird zunächst nachgezeichnet, wie der Critical Realism die Trennung von Tatsachenaussagen und Werturteilen, die der Ablehnung starker Kritikprogramme zugrunde liegt, problematisiert. Sodann stellen wir drei innerhalb des Critical Realism prominente Kritikstrategien vor: empirische, explanatorische und ethische Kritik. Diese drei Strategien belegen nicht nur, dass sich starke und schwache Kritikprogramme ergänzen können, sondern auch, dass es noch eine interessante Zwischenform gibt.

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Tatsachen und Werte Nach der hegemonialen Auffassung verlassen Sozialwissenschaftlerinnen dort, wo sie normative, d.h. wertende oder präskriptive Aussagen über ihren Forschungsgegenstand treffen, den Boden der Wissenschaft und betreten den der Politik. Der Critical Realism legt seinen Finger auch in diese Wunde und versucht, starke sozialwissenschaftliche Kritikprogramme zu rechtfertigen, in denen Ethik und Politik gerade kein Außerhalb der Wissenschaft bilden.57 Ihm zufolge beruht das Postulat der Werturteilsfreiheit auf einer dichotomischen Auffassung des Verhältnisses von Fakten und Werten, die ihrerseits wiederum einem falschen Verständnis von Werten als irrational und nichtwahrheitsfähig entspringt. Wie das Regularitätenmodell von Kausalität, Gesetz und Erklärung geht die »Dichotomiethese« von Fakten und Werten auf David Hume zurück. Für diesen sind Werte letztlich subjektive Gefühlszustände und gehören dem Vermögen des Willens, nicht der Vernunft an – eine Sichtweise, die heute auch als »Emotivismus« bezeichnet wird.58 So hat Hume mittels einer Analyse des Verhältnisses von Ist-Sätzen und Soll-Sätzen zu zeigen versucht, dass sich Werte grundsätzlich nicht aus Tatsachen deduzieren lassen – »es sei denn, man schmuggelt klammheimlich normative Bestimmungen in die tatsachenbezogenen Prämissen der jeweiligen Schlussfolgerungen ein« (Ritsert 2013: 14). Die bis heute einflussreiche Dichotomiethese besagt damit, dass »beim Verhältnis von Tatsachenaussagen und Werturteilen logisch von einer strikten Disjunktion, also dem ausschließlichen Entweder-oder auszugehen« (ebd.: 15) ist. Für den Critical Realism ist es nun entscheidend, diese strikte Disjunktion von Tatsachen und Werten zu überwinden, ohne deswegen die Sinnhaftigkeit der entsprechenden Unterscheidung gänzlich infrage zu stellen. Es geht ihm nicht darum zu zeigen, dass eine logische Deduktion von Werten aus Tatsachen möglich ist, sondern vielmehr darum, dass es Vermittlungen und Übergänge zwischen beiden gibt, die der Natur des Gegenstands – dem Sozialen und den von ihm geformten Menschen – selbst entspringen. Weil der Forschungsgegenstand selbst derart normativ imprägniert ist, dass er normative Stellungnahmen verlangt, sind Wertungen gerade kein äußerlicher Zusatz zur Analyse, sondern häufig Bedingungen einer adäquaten Beschreibung. Bhaskar verweist hier auf ein Beispiel von Isaiah Berlin:

57 | Einen Überblick über Kritikverständnisse im Critical Realism, der auch Elder-Vass’ (2010b) Anknüpfung an die Diskursethik diskutiert, gibt Müller 2017. 58 | Habermas (1963) spricht in Bezug auf Weber, der diese Sichtweise teilt, von »Dezisionismus«.

Einleitung Thus compare the following account of what happened in Germany under Nazi rule: a) ›the country was depopulated‹, b) ›millions of people died‹, c) ›millions of people were killed‹, d) ›millions of people were massacred‹. All four statements are true. But d) is not only the most evaluative, it is also the best (that is the most precise and accurate) description of what actually happened. And note that, in virtue of this, all but d) generate the wrong perlocutionary force. (1979: 75)

So hebt auch Andrew Sayer hervor, dass die Sozialwissenschaften vielfach »dichte ethische Begriffe« (Williams 1985) verwenden, die zugleich beschreibend und wertend sind, genauer gesagt: deren Vermögen, etwas gut zu beschreiben, gerade von ihrer wertenden Eigenschaft abhängt. Die Beschreibung von Praktiken als unterdrückerisch oder entfremdend beispielsweise gibt uns wichtige Informationen über das, was tatsächlich passiert, und enthält zugleich eine (negative) Bewertung dieser Praktiken. Bei einer normativ neutraleren Beschreibung würden Informationen verloren gehen (Sayer 2011: 42ff.). Dem Critical Realism zufolge lässt sich die Dichotomiethese von Fakten und Werten von beiden Seiten aus kritisieren: von derjenigen der Werte und derjenigen der Fakten. Bhaskar (1979) unterscheidet dabei für die Seite der Werte zwischen subjektiven und objektiven Bestimmungen. Dass sich der subjektive Einfluss von Werten der Forschenden auf den Forschungsprozess nicht völlig vermeiden lässt, wird auch von einem »aufgeklärten Positivismus« konzediert, wie ihn Weber und Popper vertreten. Beide betonen, dass Wissenschaft nicht einfach Fakten sammelt, sondern dass sie immer von bestimmten Problemen ausgeht, die wiederum unterschiedlichen, normativ motivierten Erkenntnisinteressen entspringen (Weber 1922b, Popper 1969: 104f.). Positivistisch ist diese Position, insofern sie Werte nicht für wahrheitsfähig bzw. falsifizierbar hält und somit der eigentlichen wissenschaftlichen Beschreibung und Erklärung als vor- und nachgelagert betrachtet bzw. – sofern Werte in die Analyse eingehen – als notwendiges Übel behandelt. Daraus folgt, dass diese subjektiven Zutaten soweit wie möglich reduziert und, wo das nicht möglich ist, zumindest kontrolliert werden müssen (vgl. auch Diekmann 2002: 64ff.). Dagegen betont der Critical Realism zunächst, wie gerade gesehen, dass Wertungen auch »objektiv« in den Fakten angelegt sind: Sie können Bedingungen für adäquate Beschreibungen sein. Eine ähnliche Sichtweise wird z.B. von feministischen Standpunkttheorien vertreten, wenn diese hervorheben, dass erst die emanzipatorische Politisierung bestimmter sozialer Positionen es ermöglicht, bestimmte Dinge zu »sehen« (vgl. Harding 1999). Bhaskar zufolge dürfen wir jedoch nicht bei der Wertseite der Dichotomie stehen bleiben, sondern müssen sie auch von der Faktenseite aus kritisieren. Denn sonst verfallen wir der Illusion, »that even if social science cannot be value-free, social values remain effectively science-free. […] ›Keep Science out of Politics (Morality etc.)‹ could be the watchword here.« (1979: 70) Der Criti-

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cal Realism folgt an dieser Stelle dem philosophischen Pragmatismus, vor allem demjenigen Deweys, der, ausgehend von wissenschaftlich informierten Werten, versucht hat, ein Reformprogramm für die US-amerikanische Gesellschaft zu entwickeln. Anders als Opponentinnen starker sozialwissenschaftlicher Kritikstrategien meinen, geht es nicht darum, ob sich ethische Werte bzw. Wertmaßstäbe sozialwissenschaftlich »begründen« lassen.59 Vielmehr sind die Sozialwissenschaften, indem sie bestimmte soziale Missstände schonungslos, d.h. wertend, aufdecken und deren Ursachen erklären, immer schon Teil einer politischen Debatte um die gesellschaftliche Zukunft. Der Critical Realism weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass es wichtig ist, die Frage nach dem Verhältnis von Fakten und Werten nicht mit derjenigen von Sein und Sollen zu verwechseln. Denn aus den Wertungen (evaluations) der Sozialwissenschaftlerin folgt keineswegs ein bestimmtes Sollen (prescriptions). Vielmehr ist letzteres Resultat eines politischen Deliberationsprozesses, in dem verschiedene, häufig konkurrierende Werte gegeneinander abgewogen werden. So schreibt bereits Bhaskar, es wäre ein »mistake of the greatest magnitude« anzunehmen, sozialwissenschaftliche Analyse könne diktieren, was zu tun sei: »Science, although it can and must illuminate, cannot finally ›settle‹ questions of practical morality and action, just because there are always – and necessarily – social practices besides science« (1979: 81f.).

Empirische Kritik gesellschaftlicher Selbstverständnisse Dem kritischen Naturalismus zufolge ist das Soziale abhängig von Interpretationsleistungen handelnder Akteure, besitzt diesen gegenüber aber zugleich eine eigenständige (emergente) Realität: soziale Strukturen, die Handlungen bedingen, auch wenn die Akteure das nicht völlig durchschauen und die aus praktischen Interaktionsmechanismen resultieren, auch wenn diese von den Beteiligten nicht intendiert sind. Ein nicht unwesentlicher Teil der alltagsweltlichen Vorstellungen bezieht sich dabei selbst auf die Natur und Funktionsweise des Sozialen. Das Verhältnis der Sozialwissenschaften zu ihren Gegenständen ist komplexer als das der Naturwissenschaften, weil ihre Objekte zugleich auch Subjekte sind. Das bedeutet, eine Teilmenge des Gegenstandsbereichs sozialwissenschaftlicher Theorien besteht seinerseits aus Theorien (bzw. »Prototheorien«) über diesen Gegenstandsbereich. Ganz allgemein gesprochen er59 | »Begründen« meint dabei häufig »letztbegründen« und verfällt damit dem epistemologischen Alles-oder-nichts-Spiel von absoluter Gewissheit und Skeptizismus. Exemplarisch finden sich derartige Sichtweisen bei Georg Vobruba: »Das Problem ist unlösbar, weil ein normativer Kritikmaßstab sozialwissenschaftlich nicht begründbar ist« (1999: 34). »Wertfreiheit ist darum kein normatives Postulat, sondern die Konsequenz der Unmöglichkeit, mit wissenschaftlichem Anspruch Werte zu begründen« (2013: 155).

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geben sich Kritikmöglichkeiten daraus, beide Ebenen, die kausalen Erklärungen sozialer Zusammenhänge und die hermeneutischen Rekonstruktionen der alltagsweltlichen Deutungen derselben, in Beziehung zueinander zu setzen. Die erste, einfachste Beziehung besteht in der empirischen Kritik falscher alltagsweltlicher Vorstellungen über die Gesellschaft. Diese Form der Kritik drängt sich den Sozialwissenschaften gewissermaßen von selbst auf, da zu einer adäquaten Beschreibung der Gesellschaft auch die (falschen) Anschauungen der Akteure gehören. Zu denken ist etwa an die häufig anzutreffenden Ansichten, eine hohe Erwerbslosigkeitsrate sei auf die Faulheit der Erwerbslosen oder auf die Präsenz von Migrantinnen zurückzuführen. Indem die Sozialwissenschaften mit einem Wahrheitsanspruch ihrer eigenen Erklärungen auftreten, können sie gar nicht anders, als solche Vorstellungen als epistemisch falsch zu kritisieren.60 Die Kritik ergibt sich also einfach aus dem Widerspruch zwischen sozialwissenschaftlichen und alltagsweltlichen Erklärungen desselben sozialen Sachverhalts (Collier 1994: 171). Allerdings werden hierbei soziale Praktiken und Strukturen nicht direkt kritisiert, sondern primär bestimmte Vorstellungen von ihnen. Das ändert sich, wenn die komplexeren Beziehungen zwischen sozialen Bedingungen und Interpretationen in den Blick genommen werden. Wichtig ist hier noch, dass der Critical Realism den Sozialwissenschaften kein generelles Erkenntnisprivileg gegenüber anderen Akteuren zuschreibt: Wissen ist immer fallibel, was auch für sozialwissenschaftliche Erklärungen gilt. So ermöglicht es der soziale Charakter von Wissenschaft einerseits, näher an die Objekte »heranzukommen«, andererseits ist er auch – was üblicherweise als Gegenstand von »Wissenschaftskritik« verstanden wird – Quelle epistemischer Einseitigkeiten oder Verzerrungen. Statt den Wissenschaften Erkenntnisprivilegien zuzuschreiben, haben wir es eher mit unterschiedlichen Verantwortungsgraden zu tun: Es ist schwerer verzeihlich, wenn eine Gemeinschaft, die auf die Produktion wahren Wissens spezialisiert ist, falsche Erklärungen erzeugt, als wenn das Akteuren passiert, die andere Probleme haben. Was den Critical Realism an dieser Stelle von anderen kritischen Theorieprojekten unterscheidet, ist das Wissenschaftspathos, das er den eigenen Erklärungen beilegt. Unkritische Wissenschaft zeichnet sich ihm zufolge nicht nur dadurch aus, dass sie sich für unpolitisch hält, sondern auch dadurch, dass

60 | »Since social science includes common sense among its objects, it cannot avoid a critical relationship with it, for in seeking to understand popular consciousness, as it is, in examining what is normally unexamined, we cannot help but become aware of its illusions […] Therefore, in order to understand and explain a social phenomenon, we cannot avoid evaluating and criticising societies’ own self-understanding.« (Sayer 1984: 39)

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sie auf ontologischen und epistemologischen Vorannahmen auf baut, die ihre »Wissenschaftlichkeit« häufig als Wissenschaftsideologie erscheinen lassen.

E xplanatorische Kritik systematischer epistemischer Verzerrungen Ein wichtiges Element kritischer Sozialtheorie seit Marx besteht in der Rekonstruktion von kausalen und funktionalen Beziehungen zwischen sozialen Strukturen und ihren (falschen) subjektiven Repräsentationen. Zunächst ist es naheliegend, über die bloße empirische Registrierung derartiger Anschauungen hinauszugehen und zu versuchen, diese zu erklären. Viele Illusionen, Verkürzungen und Verkehrungen des Alltagsverstandes scheinen mehr zu sein als individuelle Idiosynkrasien und systematischere, in bestimmten sozialen Strukturen liegende Ursachen zu haben. Bhaskar argumentiert nun, dass eine sozialwissenschaftliche Theorie, die erklärt, wie bestimmte soziale Strukturen und Institutionen ursächlich für bestimmte falsche Anschauungen sind, zugleich eine Kritik jener Strukturen und Institutionen enthält: If, then, one is in possession of a theory which explains why false consciousness is necessary, then one can pass immediately, without the addition of any extraneous value judgments, to a negative evaluation of the object (generative structure, system of social relations or whatever) that makes that consciousness necessary (and, ceteris paribus, to a positive evaluation of action rationally directed at the removal of the sources of false consciousness). (Bhaskar 1979: 81 [Hervorh. im Orig.])

Die ceteris paribus-Klausel ist hier wichtig: Die negative Evaluation bestimmter sozialer Strukturen, die aus deren Rekonstruktion als Quelle epistemischer Verzerrungen folgt, führt nur unter sonst gleichen Bedingungen zu einer positiven Evaluation transformativen Handelns, d.h., wenn es keine Gründe gibt, welche die negative Evaluation übertrumpfen. Neben der kausalen Relation zwischen sozialer Struktur und Anschauung kann außerdem eine funktionale Beziehung bestehen in der Weise, dass bestimmte falsche Repräsentationen dazu beitragen, die betreffende Struktur zu stützen. Besonders Herrschafts- und Ausbeutungsbeziehungen, die zum Nachteil der untergeordneten Akteure sind, bedürfen häufig solcher Vorstellungen zu ihrer Reproduktion. Collier illustriert die Funktionsweise dieser explanatorischen Kritik an Marx’ Analyse der Lohnform. Dieser zufolge generiert die Institution der Lohnarbeit spontan den Eindruck, als würde die geleistete Arbeit bezahlt (und nicht, wie Marx argumentiert, die Arbeitskraft), sodass ein fairer Äquivalententausch Arbeit gegen Lohn vorzuliegen scheint. Die dahinterliegende Aneignung der Mehrarbeit durch die Kapitalseite verschwindet aus

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dem Bewusstsein der Akteure. Dies trägt wiederum erheblich zur Akzeptanz der Lohnarbeit aufseiten der Arbeitenden bei (Collier 1994: 172).61 Die explanatorische Kritik ist im Prinzip nichts anderes als der Versuch, die formale Struktur dessen herauszuarbeiten, was in der Tradition von Marx und der Kritischen Theorie als Ideologiekritik bezeichnet wird. So benennt etwa Raymond Geuss als drei zentrale Gegenstände von Ideologiekritik die epistemische Falschheit bestimmter Vorstellungen, ihre Herrschaft stützende Funktion sowie ihre in irgendeiner Weise problematische Genese (dies entspricht der kausalen Verursachung oder Nahelegung; vgl. Geuss 1981: 26ff.). Auch Rahel Jaeggis Rekonstruktion der Ideologiekritik weist starke Parallelen zu dieser Argumentation auf, wenn Ideologie als »gesellschaftlich induziertes falsches Bewusstsein« (Jaeggi 2009: 275) bestimmt wird, das »produktiv wirksam« (ebd.: 274) hinsichtlich der Aufrechterhaltung einer bestimmten Praxis ist. Während aus dem Umfeld der Kritischen Theorie an diesen Grundgedanken anknüpfend recht komplexe Kritikmodelle entwickelt werden, verbleibt die explanatorische Kritik des Critical Realism auf einem vergleichsweise abstrakten Niveau. Die explanatorische Kritik verdeutlicht aber dreierlei: Erstens zielt eine so gestrickte Ideologiekritik auf eine Überwindung der strikten Disjunktion von Fakten und Werten. Dies macht auch einen zentralen Aspekt der von Jaeggi sogenannten »immanenten« Kritik besser verständlich: »Hier soll durch Analyse eines Sachverhalts dessen Kritik betrieben werden – in einem Sinne, in dem die Analyse nicht nur die instrumentelle Vorbedingung für Kritik, sondern Bestandteil des kritischen Prozesses selbst ist.« (Jaeggi 2009: 270) Zweitens hat dieses Verfahren implizit sozialontologische Voraussetzungen: Weder auf Grundlage der aktualistischen Ontologie des Positivismus noch der kulturalistischen Sozialontologie der Hermeneutik ist Ideologiekritik möglich. Diese setzt vielmehr eine Kontrastierung von Verstehen im Sinne einer Deutung der Akteursperspektiven und Erklären im Sinne der Rekonstruktion mechanismischer und funktionaler sozialer Prozesse voraus.62 Drittens führt Bhaskar die 61 | In diesem Sinne spricht auch Michael Burawoy davon, dass die beiden zentralen Eigenschaften des kapitalistischen Arbeitsprozesses in der Sicherstellung und gleichzeitigen Verschleierung der Mehrwertextraktion bestehen (Burawoy 1979: 30). Interessant ist dabei vor allem, dass Burawoy die Interaktionsmechanismen empirisch herausarbeitet, durch welche Herrschaft und Ausbeutung am Arbeitsplatz aus dem Bewusstsein der Arbeitenden verschwinden, er damit also im Grunde eine explanatorische Kritik vorlegt (vgl. Burawoy 1979 und 1985). 62 | Daher läuft Habermas in ein Problem, wenn er einerseits die von der Hermeneutik in die Welt gesetzte Trennung zwischen einem Objektbereich der Naturwissenschaften (wo es um Dinge und Ereignisse geht) und einem der Sozialwissenschaften (in dem es um Personen und Ausdrucksformen geht) übernimmt, andererseits aber in seinen ideo-

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einfachste und voraussetzungsloseste Variante der Überbrückung von Fakten und Werten vor. Die Setzung, die er jedoch vornehmen muss, ist der positive Wert von Wahrheit bzw. der Reduktion von Irrtum, eine Voraussetzung, die fundamental für Wissenschaft ist und insofern kein dem Wissenschaftsbetrieb äußerliches normatives Kriterium enthält (Bhaskar 1979: 81).63 Der Haken an der Sache ist allerdings, dass die normative Kraft dieser Kritikform vergleichsweise schwach bleibt. Denn das Übel, das hier kritisiert wird, besteht allein in der epistemischen Falschheit von Vorstellungen. Der Aufweis ihrer kausalen und funktionalen Beziehung zu bestimmten (herrschaftsförmigen oder ausbeuterischen) Strukturen dient lediglich der argumentativen »Übertragung« der Kritik von der Repräsentationsebene auf diejenige der Strukturen und fügt dem negativen Urteil nichts hinzu. Insofern kann hier gerade nicht gezeigt werden, dass Herrschaft stützende Ideologien problematischer sind als epistemische Irrtümer mit sozial harmlosen Folgen.64 Das scheint aber an der eigentlichen Intention von Ideologiekritik vorbeizugehen, die falsche Anschauungen ja gerade deshalb anprangert, weil sie Herrschaft stützende Funktion haben. So zeigt Raymond Geuss (1981), dass Ideologiekritiken neben dem Wahrheitswert meist weitere Werte wie die negative Einschätzung von Herrschaft in Anspruch nehmen. Es sieht also so aus, dass die schwache normative Setzung (Wahrheit ist besser als Irrtum) den Preis einer nur schwachen normativen Kraft hat.

Ethische Kritik sozialer Verhältnisse Der Critical Realism verfolgt noch eine weitere Kritikstrategie, die über das Aufdecken strukturell bedingter Selbstmissverständnisse hinausgeht und die Grundlage einer ethischen Kritik bildet – eine Richtung, die vor allem von Andrew Sayer eingeschlagen wird. Die Grundidee zur Überbrückung der Kluft zwischen Tatsachen und Werten besteht hier darin, dass der Gegenstand der Forschung (Menschen und ihr spezifisches »Sein«) immer schon eine norlogiekritischen Äußerungen, insbesondere der Analyse systematisch verzerrter Kommunikation, eine realistische Analyse kausaler Prozesse voraussetzt (Outhwaite 1987: 74ff.). 63 | »The criticism of the belief will rub off on to its cause. To say some institution causes false beliefs is to criticise it. Given that (other things being equal) it is better to believe what is true than what is false, it is also better (other things being equal) that institutions that cause false beliefs should be replaced by, or transformed into, those that cause true ones.« (Collier 1994: 172) 64 | Ein anderes Problem ist die Frage, ob der Wahrheitswert als Basiswert der Wissenschaft so ohne Weiteres auch für Akteure außerhalb des Wissenschaftsbetriebes geltend gemacht werden kann. Elder-Vass (2010b) diskutiert diese Annahme kritisch.

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mative Dimension (eine Bewertung dieses Seins) enthält. Um dies zu zeigen, verknüpft Sayer die Untersuchung von Alltagsnormativität mit anthropologischen Annahmen, die er allerdings als empirische Verallgemeinerungen und nicht als philosophische Setzungen versteht: Menschen sind aufgrund ihrer Verletzlichkeit und Bedürftigkeit, ihres Vermögens der Reflexivität sowie der Kontingenz der sie umgebenden Welt »notwendigerweise wertende Wesen« (evaluative beings) (Sayer 2011: 23). Sie treffen in ihrem Alltag permanent Wertungen bezüglich der sie betreffenden Ereignisse, Dinge und Menschen.65 Diese Evaluationen haben sowohl eine kognitive als auch körperliche Komponente, sind teils bewusst-reflexiv, teils unbewusst-habituell. Emotionen, in denen beide Seiten eng miteinander verknüpft sind, kommt eine Schlüsselrolle zu, indem sie Akteuren unentbehrliche Informationen darüber liefern, wie eine bestimmte Situation ihr Wohlergehen beeinflusst. Entscheidend ist dabei für Sayer, dass Menschen von sich aus und ganz alltäglich Wertungen darüber treffen, was gut für sie ist, und zwar gut im anspruchsvollen aristotelischen Sinne von eudaimonia, d.h. von einem Wohlergehen (well-being), das über momenthafte Glücksempfindungen hinausgeht, indem es sich auf subjektiv als befriedigend und erfüllend erfahrene Praktiken mit einem gewissen vorausschauenden Zeithorizont bezieht. Weil diese alltäglichen Evaluationen enorm wichtig für die Situationsdeutungen und Handlungsmotive der Akteure sind, müssen sie von einer adäquaten sozialwissenschaftlichen Beobachtung berücksichtigt werden. Mit einer »Soziologie der Kritik«, wie sie Luc Boltanski (2010) und andere entwickelt haben, teilt Sayers Ansatz das Ernstnehmen der Alltagsakteure: Sozialkritik muss ausgehend von den subjektiven Erfahrungen der Leute formuliert werden. Das erfordert eine bottom-up-Strategie der Artikulation von Kritik im Gegensatz zu einer Setzung abstrakter Moralprinzipien und ist offen für empirische Überraschungen und auch empirisch zu führende Auseinandersetzung darüber, was gut oder schlecht für Menschen ist. Hier enden aber auch schon die Gemeinsamkeiten. Denn erstens greift die von Sayer anvisierte empirische Rekonstruktion ethischer Weltbezüge ihrem Anspruch nach »tiefer« als eine wissenssoziologische Beobachtung von Kritik. Es geht nicht nur um das Erfassen von bereits artikuliertem Dissens, sondern um Erfahrungen von Wohlergehen und Leid, welche weder notwendig öffentlich artikuliert noch den Akteuren selbst in diskursiver Form zugänglich sein müssen. Der in Alltagspraktiken stets präsente normative Weltbezug hat auch eine stark emotionale Komponente, die nicht weniger rational ist als die kog65 | »Normativity, resulting from neediness, ill-being and desire, and the capacity for reason, understood in the broad sense I have defended, is intrinsic to human being. […] The very concept of human being is partly normative: its object is always more or less deficient and capable of development or decline.« (Sayer 2011: 246)

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nitive. In einer Rekonstruktion der normativen Dimension des Alltagslebens dürfen daher die unartikulierten Leiderfahrungen nicht fehlen. Zweitens ist, wie bereits erwähnt, für Sayer die Beschreibung von Leid nicht wertneutral. Die ethischen Urteile der Alltagsakteure sind für die sozialwissenschaftliche Beobachtung keine rein »positiven« Fakten, die dann je nach subjektiven Wertmaßstäben der Forschenden beliebig bewertet werden könnten. Ihr normativer Gehalt ist ernst zu nehmen, d.h., sie sind nicht (nur) als Ergebnis sozialer Konventionen oder subjektiver Präferenzen anzusehen, sondern als etwas, das uns Aufschluss darüber gibt, ob es Menschen wirklich gut oder schlecht geht. Der systematische Punkt dahinter ist, dass die Beschreibung eines Zustandes menschlichen Leids oder frustrierter Bedürfnisse nicht wertneutral sein kann. Die Feststellung, dass jemand einsam ist oder hungert, ist zugleich Zustandsbeschreibung und Bewertung dieses Zustandes als defizitär und (ceteris paribus) verbesserungsbedürftig. Das heißt natürlich nicht, dass der Beschreibung sozialer Phänomene nun einfach wertende Adjektive hinzugefügt werden sollen und so durch rhetorische Mittel eine irgendwie kritische Färbung erzeugt werden kann. Ob die wertenden Beschreibungen adäquat sind, hängt davon ab, ob der Gegenstand richtig beobachtet und erfasst wurde, d.h., setzt präzise Begriffsverwendungen (z.B. was genau ist mit »unterdrückerisch« oder »entfremdend« gemeint) und Empirie voraus. Dafür ist eine möglichst detaillierte Bestimmung konkreter Gegebenheiten in Sayers Worten »attentiveness to the object« (2011: 57) nötig. Hieraus ergibt sich allerdings auch ein grundlegendes Problem. Denn wie Sayer selbst betont, sind die alltäglichen Wertungen der Akteure alles andere als eindeutig und homogen. Im Gegenteil, sie sind erstens bereits auf individueller Ebene nicht selten inkonsistent, zweitens innerhalb einer Gesellschaft heterogen und oft sogar in Konflikt miteinander und weisen drittens große Varianzen zwischen kulturellen Großformationen auf (Sayer 2011: 175ff.). Die Werturteile der Leute darüber, was gut für sie ist und worunter sie leiden, lassen sich also mitnichten einfach aus der sozialwissenschaftlichen Beobachterperspektive zu einer eindeutigen Kritik übergreifender sozialer Praktiken und Strukturen aggregieren. Wie soll die kritische Sozialwissenschaft die teils heterogenen und widersprüchlichen ethischen Bewertungen unterschiedlicher Akteure jeweils gewichten? Nach welchen Kriterien entscheidet sie, wie sie sich innerhalb der Pluralität von Wertungen positioniert? Sayers Antwort geht in zwei Richtungen: Zum einen erkennt er das Problem bis zu einem gewissen Grad als unvermeidlich an. Es stimmt, dass wir vom Standpunkt der sozial vorfindlichen Wertungen bezüglich eines guten Lebens keine einheitliche normative Position formulieren oder eine einheitliche Fundamentalkritik gegenwärtiger Gesellschaften betreiben können. Aber die Tatsache, dass wir keinen perfekten normativen Standpunkt haben, heißt nicht, dass wir gar keine Anhaltspunkte haben und nichts darüber aussagen

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können, was gut oder schlecht an gegebenen sozialen Strukturen ist. Mit Wissen bezüglich des ethisch Guten verhält es sich hier im Prinzip nicht anders als mit Wissen insgesamt: Die Tatsache, dass wir nicht alles wissen, impliziert keineswegs, dass wir überhaupt nichts Wesentliches wissen (Sayer 2011: 230). Zum anderen verweist Sayer darauf, dass Menschen trotz enormer sozio-historischer Varianz nicht beliebig formbar und anpassungsfähig sind. Das Problem inter- und intra-kultureller Heterogenität von Werten wird ihm zufolge oft überzeichnet – ein Ergebnis der liberal-individualistischen Denktradition der Moderne (ebd.: 29). Anpassung, Verinnerlichung und Wunschdenken stoßen aber an Grenzen des für Menschen Möglichen, und es gibt keinen Grund zu der pessimistischen Annahme, dass jede noch so unterdrückerische Sozialformation von Menschen als gut und widerspruchslos hingenommen werden könnte. Gewisse anthropologische Annahmen darüber, was gut und schlecht für Menschen ist, etwa im Sinne von Martha Nussbaums Capabilities Approach, sind durchaus zulässig und letztlich unvermeidlich – wobei auch diese, wie jede Form theoretischer Abstraktionen, grundsätzlich empirisch falsifizierbar und bestreitbar bleiben müssen. Auf Grundlage bisheriger empirischer Kenntnis lässt sich aber mit Gewissheit sagen: So verbreitet und erschreckend die Fähigkeit von Menschen zu Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten ist, so universell ist ihr Leiden daran und ihr Einspruch dagegen. An Anknüpfungspunkten für Kritik mangelt es jedenfalls nicht. Welche politischen Schlussfolgerungen aus diesen Verankerungen dann gezogen werden, also die Beantwortung der Frage, wie wir kollektiv leben wollen, ist Aufgabe demokratischer Deliberation und praktischer Suchprozesse. Die Aufgabe und Verantwortung von Wissenschaft ist es, diese mit dem besten zur Verfügung stehenden Wissen über die sozialen Ursachen von Leiderfahrungen bzw. von Wohlergehen zu unterstützen.

5. Z u den B eitr ägen dieses B andes Im Mittelpunkt des ersten Dialogs zwischen Dave Elder-Vass und Uwe Schimank steht das bereits mehrfach angesprochene »robuste« Strukturverständnis des Critical Realism, dem zufolge soziale Strukturen als real betrachtet werden können, weil und insofern sie kausale Wirksamkeit besitzen. In seinem Beitrag führt Elder-Vass verschiedene Stränge seiner Arbeiten zusammen, die sich mit einer konzeptionellen Präzisierung und Weiterentwicklung dieser sozialontologischen Grundposition des Critical Realism befassen. Ihm geht es dabei auf einer ganz grundsätzlichen Ebene um die Frage, was genau unter kausaler Wirksamkeit sozialer Strukturen zu verstehen ist, wobei das Konzept der Emergenz eine entscheidende Rolle spielt. Darüber hinaus setzt er sich zum Ziel, möglichst präzise darzulegen, welche sozialen Entitäten im Einzel-

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nen welche emergenten Eigenschaften und Wirkkräfte besitzen. Das impliziert auch ein Verständnis davon, wie genau diese Kräfte in Interaktionsmechanismen zwischen individuellen Akteuren hervorgebracht werden und in welchem Verhältnis sie zu den kausalen Kräften der Akteure, d.h. zu deren Handlungsfähigkeit stehen. Elder-Vass gibt Antworten auf diese Fragen mit Bezug auf drei Typen sozialer Strukturen: Normkreise, Diskurse sowie nicht-normative Strukturen, die er tentativ als Systeme bezeichnet. In seiner Replik nimmt Schimank die theoretischen Vorschläge von ElderVass zustimmend auf und erweitert sie in drei Richtungen, wobei er Problemstellungen der Sozialontologie und der Sozialkritik miteinander verbindet. Erstens unterscheidet er zwei grundlegende Arten sozialer Strukturen: solche, die primär auf Regeln beruhen, und solche, die als Konstellationsstrukturen etwa in Form von Chancen- und Machtverteilungen vorliegen. An den bisherigen Arbeiten von Elder-Vass vermisst er eine systematische Ausarbeitung der letzteren. In den beiden folgenden Punkten geht Schimank dann über Elder-Vass hinaus, indem er dessen Unterscheidung zwischen strukturellen und agentiellen Kausalkräften mit den subjektiven Erfahrungen von Sozialität verbindet. Je nachdem, ob Akteure ihre soziale Umwelt eher als durch strukturelle oder agentielle Kräfte dominiert sehen, können sie diese als verfestigt oder verflüssigt erleben. Dies eröffnet die Möglichkeit einer Formkritik des Sozialen: Unter bestimmten Bedingungen wird verfestigte Sozialität als negativ erlebt, sodass Akteure sich ohnmächtig angesichts versteinerter Verhältnisse fühlen. Umgekehrt kann auch verflüssigte Sozialität als bedrohlich erfahren werden, nämlich dann, wenn Akteure sich einem Zustand der Anomie gegenübersehen, bei dem Strukturlosigkeit mit Ausgeliefertsein an die Willkür mächtigerer Akteure einhergeht. In beiden Fällen kann Sozialität dann hinsichtlich ihrer Form – als versteinert oder anomisch – kritisiert werden. Die Beiträge von Margaret Archer und Hartmut Rosa rücken den Critical Realism als Grundlage soziologischer Theoriebildung und Zeitdiagnose in den Fokus. Archers morphogenetischer Ansatz wird in Beziehung zu Rosas Beschleunigungstheorie gesetzt und die zeitdiagnostische Frage nach den Auswirkungen sozialen Wandels auf die individuelle Lebensführung diskutiert. Archer beschäftigt sich in ihrem Text mit Positionen, die Bourdieus Habitus mit Reflexivität zu kombinieren versuchen, und formuliert massive Einwände gegen eine solche Verbindung, die auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen angesiedelt sind. Ein ganz grundsätzliches Problem besteht ihr zufolge in Bourdieus sozialontologischer Behauptung einer Untrennbarkeit von Subjektivem und Objektivem, was seiner Konzeptualisierung des Habitus einen konflationistischen Rahmen gibt und der Verknüpfung mit einer emergentistischen Sozialtheorie im Weg steht. Die sozialtheoretische These einer prinzipiellen Kodetermination von Handlungen durch inkorporierte Routinen und reflexive Entscheidungen müsse danach differenziert werden, ob Handlungen sich

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primär auf die natürliche, die praktische oder die soziale Ordnung beziehen. Nur in den ersten beiden Fällen bleibe die Inkorporation von Routinen relativ konstant. Welchen Stellenwert Reflexivität/Habitualisierung für Praktiken in der sozialen Ordnung hat, ist eine empirische Frage und hängt nach Archer davon ab, inwieweit soziale Kontexte über die Zeit hinweg stabil bleiben. In der »morphogenetischen Gesellschaft« der Hochmoderne, so ihre Diagnose, sind die Individuen mit derart starker kontextueller Inkongruenz konfrontiert, dass verinnerlichte Schemata immer weniger Handlungsorientierungen bereitstellen, wodurch ein struktureller Zwang zu reflexivem Handeln entsteht. Rosa arbeitet in seiner Replik Gemeinsamkeiten der Beschleunigungstheorie mit Archers Ansatz heraus und kommt dabei zu verschiedenen Synthesen, aber auch zu einer grundsätzlichen Differenz in der Zeitdiagnose. Zunächst schlägt er eine Integration von Archers Theorie der Handlungsfähigkeit in sein eigenes Modell des Sozialen vor, dem zufolge Handlungsfähigkeit nicht als emergente Subjekteigenschaft, sondern als Resultante des Zusammenwirkens von sozialen und subjektiven Wirkkräften gedacht wird und das überdies dem Habitus einen systematischen Ort einräumt. In Archers Diagnose eines Übergangs zur »morphogenetischen Gesellschaft« fehlen ihm zum einen klare Kriterien, anhand derer sich eine solche Verschiebung bestimmen ließe, zum anderen eine Spezifizierung der Mechanismen, welche die zunehmende Morphogenese antreiben. Zur Lösung des ersten Problems schlägt Rosa vor, die Geschwindigkeit sozialen Wandels in Relation zur Generationenfolge zu setzen, zur Lösung des zweiten verweist er auf verschiedene Motoren sozialer Beschleunigung. Während es sich hier weitgehend um Synthetisierungsvorschläge handelt, weicht seine Zeitdiagnose an einem Punkt entscheidend von Archer ab. Gegen ihre These einer durchgängig morphogenetischen Gesellschaft wendet er ein, dass im spätmodernen Kapitalismus gerade durch soziale Beschleunigung bzw. zunehmende Morphogenese an der Oberfläche der status quo der sozialen Tiefenstruktur erhalten wird. Morphogenese sei insofern illusorisch und Ergebnis wie Medium der Reproduktion verselbstständigter Strukturmechanismen wie etwa des kapitalistischen Konkurrenzprinzips. Daher könne die Zunahme von Reflexivität auch nicht einfach, wie Archer es nahelegt, als Zugewinn an Freiheit interpretiert werden, sondern sei ebenso sehr struktureller Optimierungszwang, der mit einem Verlust kollektiver politischer Gestaltungsmöglichkeiten einhergeht. Steve Fleetwood und Frieder Otto Wolf diskutieren den Nutzen des Critical Realism für die Untersuchung sozioökonomischer Phänomene – ganz grundsätzlich auf der Ebene einer adäquaten Theoretisierung »des Ökonomischen« sowie in Bezug auf konkrete Erklärungen der Finanz- und Staatsschuldenkrise der letzten Jahre. Fleetwoods zentrales Anliegen ist es zu zeigen, dass die orthodoxen Wirtschaftswissenschaften deshalb keine guten Erklärungen ökonomischer Prozesse liefern können, weil ihre metatheoretischen Vorausset-

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zungen durch die szientistische Methode und eine Ontologie atomistischer Ereignisse geprägt sind. Eine alternative politische Ökonomie als Teil einer umfassenderen kritischen Sozialwissenschaft sollte sich dieser Problemkonstellation bewusst sein, anstatt sie unbewusst zu reproduzieren, und brauche zugleich andere sozialontologisches Grundlagen, welche sie im Critical Realism finden kann. Fleetwood demonstriert für die ökonomische Krise in Europa, welche Art von Erklärungszusammenhängen eine politische Ökonomie basierend auf der kritisch-realistischen Ontologie von Akteuren, Strukturen und generativen Mechanismen typischerweise produziert und warum die orthodoxe Ökonomik mit ihrer Ereignisontologie, die den Blick auf quantifizierbare empirische Regelmäßigkeiten lenkt, diesen gegenüber systematisch blind bleiben muss. Hierzu gehören neben systemischen Krisenmechanismen, welche schon Marx als dem Kapitalismus inhärent beschrieb, auch Verschiebungen im politischen Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit oder ideologische Veränderungen wie der Aufstieg des Neoliberalismus. Fleetwood führt auf diese Weise vor, welche Auswirkungen sozialontologische Vorannahmen sowohl auf die Methodologie als auch die substanzielle Erforschung der Ökonomie haben. Wolf schließt in seinem Beitrag an diese Kritik an, hält sie jedoch in zentralen Punkten für nicht weitreichend genug. Aus der Perspektive eines »endlichen Marxismus« fragt er danach, welche Aspekte des Critical Realism das Projekt einer kritischen Wissenschaft von der »Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise in den modernen Gesellschaften« weiterbringen und welche hierfür eher problematisch sind. Einig ist er mit Fleetwood in der Beurteilung der orthodoxen Ökonomik als weitgehend unbrauchbar und auch darin, dass kritische Wissenschaft ganz im Sinne des Critical Realism einer philosophischen Reflexion ihrer metatheoretischen Voraussetzungen bedarf. Überaus skeptisch ist er allerdings, was die positive Formulierung einer Sozialontologie anbelangt. Einer solchen tendenziell omnihistorischen und zur Abstraktifizierung neigenden Bestimmung »des Sozialen« sei eine radikale Historisierung der theoretisch rekonstruierbaren Zusammenhänge vorzuziehen. Hinzu kommt ein ebenso problematischer »epistemischer Apriorismus«, den Wolf bei Fleetwood ausmacht, indem dieser die ideologische Differenzierung in Einzelwissenschaften (etwa in Ökonomik, Politikwissenschaft und Soziologie) nicht hinterfragt, sondern tendenziell reproduziert. In Fleetwoods konkreter Krisendiagnose vermisst Wolf die systematische Einbeziehung von über die kapitalistische Produktionsweise im engeren Sinne hinausgehenden Herrschaftsverhältnissen – wie imperialistische Abhängigkeiten, rassistische Diskriminierungen und Geschlechterverhältnisse. Schließlich sei der Critical Realism zu sehr auf die Generierung positiven Wissens von Geschichte und Gesellschaft bedacht und vernachlässige darüber die Auseinandersetzung mit systematischen Verzerrungen wissenschaftlicher Erkenntnis, die mit deren

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sozialen Produktionsbedingungen zu tun haben und eine ideologiekritische Dimension kritischer Wissenschaft erforderlich machen. Clive Spash und Barbara Muraca erweitern die Debatte über metatheoretische Grundlagen einer alternativen politischen Ökonomie um die Einbeziehung der Ökologie. Die falschen Abstraktionen der orthodoxen Ökonomik, darin sind sich beide einig, betreffen nicht nur soziale Bedingungen und Kontexte, sondern auch biophysikalische Prozesse, und resultieren gerade deshalb in einer realitätsblinden und ökologisch verhängnisvollen Vorstellung der Ökonomie als System endlos zirkulierender Kreisläufe. Die ökologische Ökonomik, in die Spash einführt, hat dagegen zum Ziel, das Zusammenwirken von ökonomischen, sozialen und ökologischen Prozessen zu erforschen. Ein solches Unterfangen ist eminent voraussetzungsvoll, weil es transdisziplinär zwischen Sozial- und Naturwissenschaften und deren heterogenen Forschungskulturen verortet ist. Spash zufolge ist die Etablierung einer wissenschaftsphilosophischen Grundlage der ökologischen Ökonomik besonders drängend, um sich weder vom Szientismus als vermeintlich einheitsstiftender Methode vereinnahmen zu lassen, noch in einen relativistischen Konstruktivismus und eklektizistischen Methodenpluralismus zu verfallen. Der Critical Realism biete hier vielversprechende Perspektiven an: Dazu gehört eine gemeinsame Ontologie für Sozial- und Naturwissenschaften, die deren Zusammenhang ebenso wie deren relative Eigenlogik aus der Beschaffenheit der Welt begründet. Entscheidend dafür seien die kritisch-realistischen Begriffe der Emergenz und Stratifizierung der Realität: Gesellschaft ist existenziell abhängig von biophysikalischen Prozessen, in diese eingebettet, aber nicht auf diese reduzierbar. Auch die Konzepte der dispositionalen Kräfte und Tendenzen seien für die ökologische Ökonomik wichtig, weil sie die Fixierung auf empirisch Messbares durchbrechen und den Blick sowohl auf strukturell inhärente Krisenpotenziale als auch Transformationsmöglichkeiten lenken. Epistemologisch erlaubt der Critical Realism Spash zufolge eine Position jenseits der Alternative von starkem Konstruktivismus und absolutistischem Objektivismus, die den Empiriebezug hochhält, Methodenpluralismus statt Beliebigkeit praktiziert sowie Offenheit und Fehlbarkeit des Wissenschaftsprozesses verteidigt. Schließlich stelle der Critical Realism auch Anknüpfungspunkte für eine nicht-anthropozentrische Umweltethik bereit sowie für eine reflexive und ideologiekritische Haltung gegenüber den (macht-)politischen Implikationen bestimmter Wissenspositionen. Muraca unterstützt Spashs Anliegen, die ökologische Ökonomik wissenschaftsphilosophisch zu stärken, plädiert jedoch für eine alternative Ontologie. Theoriegeschichtlich läge ein Bezug zu Alfred North Whiteheads Prozessphilosophie näher, weil diese vermittelt über Georgescu-Roegens Bioökonomik bereits die Anfänge der ökologischen Ökonomik geprägt hat und bis heute wichtige Impulse gibt. Whitehead teilt mit dem Critical Realism die Kritik am

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mechanischen Weltbild, in dem die Welt aus getrennten passiven Materieteilchen besteht, die erst im erkennenden Subjekt in Beziehung zueinander gesetzt werden. Analog zum kritisch-realistischen Konzept der »causal agents« entwickelt er ein Verständnis aktiv wirksamer Materie, das auch eine ontologische Begründung von Kausalität ermöglicht. Gegenüber diesem gemeinsamen Ausgangspunkt hebt Muraca zwei gewichtige Unterschiede hervor: Zum einen sei die Ontologie Whiteheads wesentlich stärker prozess- und relationenorientiert. Während die kritisch-realistische Ontologie mit ihren emergenten Entitäten in der Tradition der Substanzmetaphysik steht, bestimmt Whitehead die Welt als sich wiederholende Muster raumzeitlich relationierter Fundamentalereignisse. Damit bekomme die Zeitlichkeit des Seins als kumulativer und irreversibler Prozess eine Schlüsselstellung, was entscheidend für das Begreifen von biologischen und ökologischen Prozessen sei, die jeweils bestimmten Eigenzeiten unterliegen und nicht umkehrbar sind. Zum anderen integriert Whitehead eine schwache Form der Teleologie in die Ontologie, die unabdingbar sei für das Verständnis von Leben als Aktivität zweckgerichteter Selbstgestaltung. Whiteheads Ontologie befindet sich somit näher an der Biologie und ist deshalb Muraca zufolge auch besonders gut als Grundlage der ökologischen Ökonomik geeignet. In ihren Beiträgen loten Sue Clegg und Ina Kerner das Potenzial des Critical Realism für feministische und vor allem intersektionale Theorie und Forschung aus. Ins Zentrum gerückt wird damit die Frage nach dem Nutzen dieses Ansatzes für gegenstandsbezogene kritische Sozialforschung. Clegg zufolge bereichert der Critical Realism die Debatte um Intersektionalität, d.h. die Überkreuzungen verschiedener Achsen sozialer Ungleichheit in zweifacher Weise: So kann er im Sinne einer philosophischen »Zuarbeiterin« diskursive Fallstricke und Widersprüche aufzeigen und aus dem Weg räumen. Hierzu gehören Ungereimtheiten, die sich ergeben, wenn bei der Untersuchung von Intersektionalität nicht hinreichend zwischen verschiedenen sozialtheoretischen Analyseebenen unterschieden wird – allen voran zwischen individuellen Identitätskonstruktionen, kulturellen Repräsentationen sowie soziostrukturellen Mechanismen und Zwängen. Wird diese Differenzierung verschliffen, führe das zu Unklarheiten über den Realitätsgehalt (d.h. die Existenzweise und Wirkmächtigkeit) sozial konstruierter Ungleichheitskategorien und die Modi ihres Ineinandergreifens, was u.a. Auswirkungen auf Debatten über die Sinnhaftigkeit der Kategorie »Frau/Frauen« oder das »Doing« und »Un-Doing« von sozialer Ungleichheit habe. Neben diesem kritischen Einsatz nutzt Clegg den Critical Realism auch für einen konstruktiven Vorschlag, um der Debatte um Intersektionalität einen sozialtheoretischen Rahmen jenseits des Poststrukturalismus zu geben. Hierzu greift sie auf Archers morphogenetischen Ansatz zurück, mit dem sich die geschichtliche Gewordenheit, Reproduktionsweise und Persistenz sozialer Unterdrückungsformen begreifen lässt, ohne dabei die

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Potenziale für individuelle Handlungsfähigkeit und kollektive soziale Transformation aus dem Blick zu verlieren. Kerner stellt in einem close reading von Cleggs kritischen und konstruktiven Einsätzen sowohl Korrespondenzen als auch Differenzen zu ihrer eigenen, an Foucault orientierten Perspektive auf Intersektionalität heraus. Zunächst betont sie, dass viele kritisch-realistische Überlegungen durchaus auf einer Linie mit einem bestimmten, sozialwissenschaftlich ausgerichteten Strang der Intersektionalitätsforschung liegen und Clegg hier gewissermaßen offene Türen einrennt. Wünschenswert wäre vor diesem Hintergrund eine stärkere Auseinandersetzung des kritisch-realistischen Zugangs mit mehrdimensionalen Ansätzen, zu denen Kerner auch ihre Analyse des Verhältnisses von Sexismus und Rassismus zählt. Neben Gemeinsamkeiten im Offenkundigen sieht sie aber auch zwei gewichtige inhaltliche Differenzen: Zum einen wird Cleggs Annahme, der Feminismus als politische Bewegung bedürfe einer Theorie der Handlungsfähigkeit, infrage gestellt. Anstatt einer positiven Zuschreibung von Handlungsfähigkeit sei feministischer Praxis mehr mit einer kritischen Reflexion derjenigen Strukturen und Subjektivierungsweisen gedient, die Handlungsfähigkeit lähmen. Zum andern weist Kerner – und hier besteht eine Parallele zu Wolfs Kritik in diesem Band – auf unterschiedliche wissenspolitische Ansprüche von kritisch-realistischen und foucaultianischen Analysen hin. Während es ersteren um eine Beobachtung und Erklärung der sozialen Welt gehe, also mithin um die Generierung positiven Wissens, wolle eine an Foucault orientierte Perspektive solches Wissen in erster Linie hinsichtlich der darin wirksamen sozialen Macht hinterfragen. Der Austausch zwischen Andrew Sayer und Robin Celikates beschließt den Band mit einer expliziten Thematisierung des häufig implizit bleibenden Stellenwerts von Normativität und Kritik innerhalb der Sozialwissenschaften und kann auch als Dialog zwischen kritisch-realistischem Kritikverständnis und Motiven der neueren Kritischen Theorie in der Tradition der Frankfurter Schule gelten. Dabei stehen besonders zwei Punkte zur Debatte: das Verhältnis von Moralphilosophie und empirischen Sozialwissenschaften sowie die normativen Grundlagen von Kritik. Sayer stellt seinen ethischen Naturalismus als Plattform zur Stärkung von Kritik in den Sozialwissenschaften vor. Insbesondere soll dieser es ermöglichen, zwei komplementäre Schwächen zu überwinden: Aus Furcht vor Essenzialismus und Paternalismus seien die Sozialwissenschaften immer enthaltsamer in der expliziten Formulierung von Kritik geworden, sodass Kritik nur noch implizit und vage durchscheint. Parallel dazu habe sich die praktische Philosophie, insbesondere in Form der habermasschen Version Kritischer Theorie, immer stärker auf prozeduralistische Kritikmaßstäbe zurückgezogen. Indem die Sozialwissenschaften auf diese Weise kritiklos und die Moralphilosophie substanzlos geworden seien, hätten sie aus dem Blick verloren, warum überhaupt etwas für Menschen wich-

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tig ist. Einen Ausweg sieht Sayer darin, Kritik in den ethischen Wertungen der Alltagsakteure zu fundieren. Dies kann jedoch nur dann überzeugend gelingen, wenn wir Werte nicht als bloße kulturelle Konstruktionen oder subjektive Meinungen verstehen, sondern als verankert in realen Eigenschaften und Potenzialen der Akteure. Und hier wiederum setzt der ethische Naturalismus an: Etwas hat Bedeutung, Menschen kann es gut oder schlecht gehen, weil sie empfindsame, sozial abhängige und entwicklungsfähige Wesen sind. Nur wenn wir diese naturalistische Seite menschlicher Kultur anerkennen, können wir Sayer zufolge sehen, worauf Kritik letztlich abzielt, nämlich auf das gute Leben für alle und was diesem im Wege steht. Celikates begrüßt Sayers Plädoyer für eine Überwindung der Trennung von Moralphilosophie und Sozialwissenschaften durch eine Fundierung von Normativität in der Kritikfähigkeit der Alltagsakteure. Mit einer gehörigen Portion Skepsis begegnet er jedoch einem sozialwissenschaftlichen Versuch, selbst substanzielle Werturteile zu fällen, die sich noch dazu auf eine – wie auch immer qualifizierte – Konzeption der menschlichen Natur beziehen. Sayer habe zwar Recht, dass es auf die Bedürfnisse bzw. das Leiden der Menschen ankommt und diesen folglich auch ein Platz in der Kritischen Theorie eingeräumt werden sollte. Diskussionen innerhalb der Kritischen Theorie hätten jedoch gezeigt, dass naturalistische Kritikmodelle wie etwa der Rekurs auf unnötiges Leiden oder objektive Interessen nicht kohärent durchzuhalten seien. Denn letztlich sei es nicht möglich, substanzielle Kriterien des Guten objektiv zu bestimmen, d.h. in einer Weise, die außerhalb oder über den gesellschaftlich höchst unterschiedlichen und politisch umkämpften Interpretationen davon, was gut und schlecht ist, steht. Statt einen Standpunkt innerhalb gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen um das Gute einzunehmen, sollte Kritische Theorie ihr Augenmerk deshalb auf den Charakter dieser Verständigungsprozesse selbst richten. Hier kann sie helfen, die alltäglichen Praktiken der Kritik zu befördern, indem sie sozial ungleiche Bedingungen und strukturelle Blockaden der Artikulation von Bedürfnissen und Kritik offenlegt. Sie trägt dann dazu bei, kollektive Reflexionsprozesse offener und egalitärer zu machen, und unterstützt die Akteure, ihr Unbehagen und Leiden an sozialen Verhältnissen besser artikulieren zu können. Der vorliegende Band geht zurück auf eine Konferenz, die im Frühjahr 2013 unter dem Titel »Kritische Soziologie meets Critical Realsim. A Dialogue between Social Research, Social Theory and Philosophy« in Jena stattfand. Wir danken dem DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften für finanzielle und personelle Unterstützung bei der Organisation und Durchführung der Konferenz sowie bei der Fertigstellung des Bandes. Ferner danken wir denjenigen, die Texte aus dem Englischen übersetzt haben: Johanna Müller, Hartwig Schuck, Anne Ware und Frieder Wolf. Instruktive Kommentare und Anregun-

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gen zur Einleitung haben wir bekommen von Ulf Bohmann, Georg Gangl, Anna Henkel, Jörg Oberthür, Hartmut Rosa, Uwe Schimank, Hartwig Schuck, Elly Schulz und Cécile Stehrenberger. Auch ihnen gilt unser herzlicher Dank.66

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66 | Editorische Anmerkung der Herausgeber: Bei Literaturangaben im Text wird in der Regel die Jahreszahl der Erstausgabe bzw. der zuletzt substanziell überarbeiteten Ausgabe verwendet, um den zeitlichen Veröffentlichungskontext eines Werkes sichtbar zu machen. Die Jahreszahl der zitierten Ausgabe, sofern diese nicht der Originalausgabe entspricht, findet sich in der Literaturliste jeweils am Ende eines Eintrages. Zur Übersetzung von englischen Zitaten in den Beiträgen: Wenn vorhanden wurde die deutsche Übersetung herangezogen und aus dieser Ausgabe zitiert. Wo keine deutsche Übersetzung vorlag, haben wir Eigenübersetzungen angefertigt und den Seitenverweis des englischen Textes beibehalten. Übersetzungen von Zitaten ins Deutsche, für die im Literaturverzeichnis das englische Werk angegeben ist, sind also Eigenübersetzungen der Herausgeber.

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1. Soziale Strukturen und ihr Wandel

Wie wirken Normen? Critical Realism und die kausale Kraft sozialer Strukturen Dave Elder-Vass

Kritische Sozialtheorie ist notwendigerweise sowohl ethisch als auch erklärend: ethisch, insofern unsere Urteile darüber, was mit unseren Gegenwartsgesellschaften nicht stimmt, und unsere Bewertung möglicher Alternativen einer Grundlage bedürfen (Elder-Vass 2010b). Mein Beitrag betrifft jedoch den Erklärungsaspekt: Kritik hängt notwendig auch von unserem Verständnis ab, wie die soziale Welt funktioniert, inwiefern gewisse Formen von Macht sich selbst reproduzieren und welche Alternativen umsetzbar sind (vgl. Elder-Vass 2014a und Wright 2010). Diese Auffassungen wiederum hängen unter anderem davon ab, wie wir Kausalität in der sozialen Welt denken, und insbesondere von unserer Antwort auf die Frage, ob und in welcher Weise soziale Strukturen kausale Kräfte (causal powers) haben. Existieren soziale Strukturen, und wenn ja, in welcher Form? Wie können solche Strukturen kausal wirksam sein? In welchem Verhältnis stehen sie zu menschlichen Individuen und deren kausalen Gestaltungsmöglichkeiten? Können sowohl menschliche Individuen als auch soziale Strukturen kausal wirken, oder schließt das eine das andere aus? In welcher Beziehung stehen soziale Strukturen zur physikalischen Welt? Diese klassischen Fragen sind seit mehr als hundert Jahren zentrale Anliegen soziologischer Denkerinnen. Keine von ihnen hat sich erledigt. Denn obwohl seit über hundert Jahren Strukturtheorien des Sozialen existieren, gibt es heute immer noch methodische Individualistinnen, welche die kausale Relevanz sozialer Strukturen bestreiten, sowie Ethnomethodologinnen und Akteur-Netzwerk-Theoretikerinnen, die soziale Strukturen als Fiktionen von Handelnden betrachten. Mein Beitrag skizziert Antworten auf zumindest einige dieser Fragen, wie ich sie in meinem Buch The Causal Power of Social Structures (2010a) entwickelt habe. Zunächst wird ein kritisch-realistischer Ansatz von Ontologie im Allgemeinen vorgestellt, welcher sich auf die Kausalitätskonzeption stützt, die Roy Bhaskar in seinem einflussreichen Buch A Realist Theory of Science (1975) entworfen hat. Dann gehe ich zur Frage über, ob und wie dieser Ansatz zur

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Dave Elder-Vass

Erklärung der sozialen Welt genutzt werden kann, wobei ich die These vertrete, dass wir Sozialontologie auf eine Weise verstehen können, die mit der allgemeinen Ontologie Bhaskars vereinbar ist. Veranschaulicht wird die Argumentation anhand von Normkreisen (norm circles)1, einer sozialen Entität der Mesoebene, von der ich behaupte, dass sie für unsere Tendenz zur Konformität gegenüber sozialen Normen verantwortlich ist. Anschließend diskutiere ich die Bedeutung dieser ontologischen Überlegungen für kritische Sozialtheorie. Zunächst umreiße ich eine mögliche Verwendung der Normkreiskonzeption für ein besseres Verständnis diskursiver Macht – und damit auch der kausalen Wirksamkeit von Ideologie. Über die Konzeption der Normkreise hinausblickend, fasse ich schließlich die Möglichkeit ins Auge, dass dieses Modell auch für die Ontologie systemischer Macht von Bedeutung ist, und beleuchte die Konsequenzen, die sich daraus für Erklärungen sozialer Ereignisse ergeben. Es muss betont werden, dass dieser Beitrag einführenden Charakter hat und eine Reihe anderer Arbeiten zusammenfasst; er ist daher an vielen Stellen eher kurz gehalten, an denen sich die interessierte Leserin vielleicht größere Detailliertheit gewünscht hätte. Mitunter werde ich wichtige Einzelheiten übergehen und manchmal ziemlich schnell von Punkt zu Punkt springen, ohne jeden ausführlich zu erläutern. Diejenigen Leserinnen, die das frustrierend finden, kann ich nur ermutigen, sich mit den eingehenderen Diskussionen dieser Themen in meinen früheren Veröffentlichungen (insbesondere Elder-Vass 2010a und 2012) vertraut zu machen. Ferner gibt es viele verschiedene Wege, an Bhaskars Werk anzuschließen. Meine Version sollte deshalb als eine mögliche Variante und nicht etwa als der kritisch-realistische Entwurf von Sozialontologie betrachtet werden. So bestehen an einigen Stellen Unterschiede zu Margaret Archers Ansatz, obgleich ich mit anderen Aspekten ihres Werkes (etwa 1995) weitgehend übereinstimme.

1. E mergenz und k ausale K r äf te Im Mittelpunkt von A Realist Theory of Science (Bhaskar 1975) steht eine Diskussion von Kausalität. Diese Diskussion stellt eine Kritik derjenigen Kausalitätskonzeption dar, welche im Anschluss an das Werk von David Hume wegweisend für positivistische und empiristische Ansätze in Wissenschaftsphilosophie und Sozialwissenschaft geworden ist. Dem humeschen Verständnis nach ist Verursachung identisch mit strikten empirischen Regelmäßigkeiten: Folgt einem Ereignis des Typs A immer ein Ereignis des Typs B, bedeutet dies, dass B von A verursacht wurde, und die Behauptung, A verursache B, 1 | Anmerkung des Übersetzers: Die Bezeichnung »norm circles« schließt an Simmels Begriff der »sozialen Kreise« an (Elder-Vass 2010a: 122).

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reduziert sich darauf, dass Ereignissen des Typs A immer Ereignisse des Typs B folgen (Elder-Vass 2010a: 41). Unsere Intuition, Kausalität sei mehr als das, nämlich etwas, das empirischen Mustern zugrunde liegt, ist in Humes Augen eine Täuschung. Alles, was wir beobachten können, ist die konstante Verknüpfung von A und B. Somit erlauben die empirischen Befunde keine andere Form kausaler Erklärung als die Annahme, A führe zu B. Gegen eine solche Konzeption von Kausalität können zahlreiche Einwände vorgebracht werden. Beispielsweise lässt sie sich nicht zufriedenstellend mit der Tatsache vereinbaren, dass strikte empirische Regelmäßigkeiten selten sind. Im Gegenteil denken wir von Kausalität, dass sie oftmals ohne solche Regelmäßigkeiten auskommt. Des Weiteren handelt es sich um eine äußerst dünne Theorie, die uns nichts darüber sagt, was die empirischen Regelmäßigkeiten erzeugt, auf die sie sich richtet. Eine der verlässlicheren empirischen Regelmäßigkeiten auf der Oberfläche eines Planeten wie der Erde ist die beständige Abfolge von Tag und Nacht. Nach Humes Verständnis von Kausalität würde das bedeuten, dass der Tag die Nacht verursacht. Dies widerspricht jedoch unserer gängigen Auffassung von Kausalität, derzufolge nicht Tag und Nacht einander verursachen, sondern die Drehung der Erde um ihre eigene Achse den Wechsel von Tag und Nacht produziert. Für Realistinnen sind empirische Regelmäßigkeiten keine Ursachen oder kausalen Erklärungen, sondern Phänomene, die kausale Erklärungen erfordern, und diese Kausalerklärungen identifizieren einen oder mehrere Mechanismen, die das zu erklärende Phänomen hervorbringen. Obgleich Bhaskar in der Kritik des Empirismus etwas anders vorgeht, trifft sich seine Sichtweise mit dieser Argumentation. Bhaskar zufolge werden alle Ereignisse durch das Zusammenspiel verschiedener kausaler Kräfte verursacht, die jeweils von einem Mechanismus hervorgebracht werden; welche spezifische Kombination kausaler Kräfte dabei am Werke ist, hängt von der jeweiligen Situation ab. Mit diesem Modell lässt sich die Aufeinanderfolge von Tag und Nacht als Resultat mehrerer interagierender Kräfte erklären: Dazu gehören die Lichtemission der Sonne, die Schwerkraft mit der daraus resultierenden Tendenz der Erdbahn sowie die Erdrotation. Eine allgemeine Schlussfolgerung lautet, dass kausale Kräfte keine strikten empirischen Regelmäßigkeiten produzieren, sondern als Tendenzen agieren: Eine Kausalkraft hat die Tendenz, eine bestimmte Wirkung zu erzeugen, aber in jedem konkreten Fall kann diese Tendenz von anderen kausalen Faktoren durchkreuzt werden. Eine totale Sonnenfinsternis zum Beispiel kann die übliche Abfolge von Tag und Nacht unterbrechen. Dies passt viel besser zu unserem Alltagsverständnis von Kausalität, wirft aber ein Problem auf: Wenn kausale Kräfte nur manchmal ihre charakteristischen Effekte produzieren, wie können sie dann empirisch identifiziert werden? Das ist ein praktisches wissenschaftliches Problem, und Wissenschaft-

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lerinnen haben eine Vielzahl guter Lösungen dafür anzubieten. Bhaskar hat sich das naturwissenschaftliche Experiment herausgegriffen: Ihm zufolge lösen Experimentalwissenschaftlerinnen das beschriebene Problem, indem sie störende kausale Faktoren ausschließen. Auf diese Weise werden einzelne Kausalkräfte isoliert, um sie dann zu untersuchen. Mit anderen Worten, die Wissenschaftlerinnen erzeugen geschlossene Systeme – im Gegensatz zu offenen Systemen, wie wir sie außerhalb des Labors antreffen und in denen andere kausale Faktoren den Verlauf der Ereignisse unvorhersehbar stören (Bhaskar 1975: 33f.). Die Praxis des Experiments ist jedoch nur sinnvoll, weil die Kausalkräfte, die Wissenschaftlerinnen im Labor identifizieren, auch in der übrigen Welt (als Tendenzen) am Werke sind, wo sie mit anderen kausalen Kräften interagieren und auf diese Weise Ereignisse produzieren (ebd.: 13). Diese kausalen Kräfte sind Eigenschaften von Dingen, wobei ich letztere auch als »Objekte« oder »Entitäten« bezeichne. Genauer gesagt sind kausale Kräfte emergente Eigenschaften von Dingen. Emergente Eigenschaften sind diejenigen Eigenschaften eines Objekts, welche dieses nur als Ganzheit besitzt; d.h., die einzelnen Teile der betreffenden Entität hätten jene Eigenschaften nicht, wenn sie nicht in Form eben dieser Ganzheit organisiert wären (vgl. Elder-Vass 2010a: Kapitel 2). So haben zum Beispiel die meisten Hunde die Fähigkeit zu bellen. Diese Fähigkeit ist abhängig von Lunge, Luftröhre, Stimmbändern, Maul und natürlich auch dem Gehirn des Hundes, aber diese Körperteile haben nur dann die (gemeinsame) Fähigkeit zu bellen, wenn sie als Teile eines lebendigen Hundes fungieren. Daher ist die Fähigkeit zu bellen eine Eigenschaft des ganzen Hundes, nicht eine Eigenschaft seiner Teile. Kausale Kräfte werden, wie Bhaskar argumentiert, von generativen Mechanismen erzeugt (1975: 14, 50-52). Ein generativer Mechanismus ist ein Interaktionsprozess zwischen den einzelnen Teilen der Entität, welche die fragliche Kausalkraft besitzt, und hängt von der Struktur dieser Entität ab – also von der Art und Weise, wie ihre Teile organisiert oder miteinander verknüpft sind, wenn sie diese Art von Ganzheit bilden. Ein einfaches Beispiel hierfür ist die Fähigkeit des Hundes zu bellen, die ganz offensichtlich auf einem Interaktionsprozess zwischen den dafür relevanten Körperteilen beruht. Ein solches Verständnis von Mechanismen und Kräften hat zur Konsequenz, dass wir nicht nur prinzipiell, sondern häufig auch tatsächlich erklären können, wie besagte Mechanismen funktionieren. Kausale Kräfte müssen demnach nichts Geheimnisvolles sein. Einige Philosophinnen vertreten dagegen die Ansicht, Kräfte, die wir mittels des Beitrags der einzelnen Teile einer Ganzheit erklären können, seien in Wirklichkeit nicht Kräfte dieser Ganzheit – eine Sichtweise, die als eliminativer Reduktionismus bekannt ist. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, ist das jedoch ein Fehlschluss: Eine Kraft zu erklären bedeutet nicht, sie wegzuerklären (Elder-Vass 2010a: Kapitel 3, 2014b). Auch wenn wir eine Kraft als Produkt von Interaktionen der Teile erklären

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können, bleibt sie dennoch eine Kraft der Ganzheit, sofern die Teile diese Kraft nur dann besitzen, wenn sie in dieser Art von Ganzheit organisiert sind. Um zu bellen, bedarf es immer noch des Hundes!

2. S ozialontologie Für die Sozialtheorie ist die Fähigkeit eines Hundes zu bellen als solche nicht sonderlich relevant oder interessant. Das emergentistische Modell kausaler Kräfte ist für Sozialtheoretikerinnen nur dann von Interesse, wenn es auch zur Erklärung sozialer Phänomene genutzt werden kann. Sofern dies der Fall ist, sollten wir angeben können, welche Kräfte welcher Entitäten aufgrund welcher Mechanismen die kausalen Wirkungen erzeugen, die wir traditionellerweise sozialen Strukturen zuschreiben, und wie diese Kräfte in Interaktion mit anderen kausalen Kräften soziale Ereignisse produzieren. Allerdings haben die Sozialwissenschaften soziale Strukturen selten in diesen Begriffen gefasst. Die implizite Antwort eines Großteils der soziologischen Literatur auf die Frage, welche sozialen Entitäten für die kausalen Kräfte sozialer Struktur verantwortlich sind, dürfte lauten: »Gesellschaften«. Diese sind jedoch aus verschiedenen Gründen keine sonderlich vielversprechenden Kandidatinnen. Einer dieser Gründe besteht darin, dass die Standardkonzeption von Gesellschaft an die territorialen Grenzen von Nationalstaaten gebunden bleibt – eine Annahme, die als methodologischer Nationalismus bezeichnet werden kann (Chernilo 2007). Aber wenn dem so wäre und wenn Gesellschaften tatsächlich die kausalen Urheberinnen der Phänomene wären, die mit sozialen Strukturen erklärt werden, dann wäre zu erwarten, dass soziale Kräfte (forces) innerhalb eines gegebenen staatlichen Territoriums ähnlich funktionieren, zwischen verschiedenen Staatsgebieten jedoch variieren. Das ist insofern fraglich, als die geografische Reichweite soziostruktureller Kräfte enorme Unterschiede aufweist. Es ist zum Beispiel offenkundig, dass einige soziale Strukturen – denken wir an Diasporafamilien oder multinationale Konzerne – die Territorien mehrerer Nationalstaaten umfassen, während andere deutlich kleinräumiger als der Nationalstaat sind. Im letzteren Fall können sozio­ strukturelle Einwirkungen innerhalb eines einzelnen Staatsgebietes vielfältig sein. Nehmen wir Fleischkonsum und Vegetarismus: Wäre der Druck, diese zu praktizieren, Produkt einer spezifischen Territorialgesellschaft, wie könnten wir uns dann erklären, dass es innerhalb ein und desselben Staatsgebietes sowohl überzeugte Fleischfresserinnen als auch überzeugte Vegetarierinnen gibt – und mannigfaltige soziale Dringlichkeiten, die je nach Kontext und Situa­tion die Befolgung der einen oder der anderen Praktik nahelegen? Diese Überlegungen sind allerdings kein Einwand gegen die allgemeine These einer kausalen Wirksamkeit sozialer Strukturen, sondern lediglich

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gegen die Annahme, territoriale Gesellschaften seien deren Quelle. Ich behaupte in der Tat, dass es soziale Entitäten mit kausalen Kräften gibt, dass diese Entitäten jedoch typischerweise eher auf einer mittleren bzw. Mesoebene des Sozialen und weniger auf der Ebene nationaler Gesellschaften angesiedelt sind (vgl. Little 2012). Wirkungen, die in der Regel Gesellschaften zugeschrieben werden, entpuppen sich – so meine Deutung – oftmals als von diesen sozialen Entitäten der Mesoebene hervorgebracht, seien es nun einzelne oder viele in Kombination. Häufig besitzen diese Entitäten die Form von Gruppen: spezifischer Arten von Gruppen, deren Mitglieder Menschen sind und die auf eine Weise strukturiert sind, welche der resultierenden Ganzheit emergente kausale Kräfte verleiht. Solche sozialen Entitäten können mitunter auch andere materielle Bestandteile haben, aber ich konzentriere mich hier auf die Rolle, die Menschen in ihnen spielen. Das augenfälligste Beispiel solcher Entitäten sind Organisationen (vgl. Elder-Vass 2010a: Kapitel 7). Dabei handelt es sich um Gruppen von Menschen – Organisationsmitglieder –, welche über Rollen aufeinander bezogen sind, d.h. vermittelt über ein Bündel von Regeln, Normen oder Erwartungen, wie eine jede sich im Kontext der Organisation zu verhalten hat. Rollen können auf vielfältige Weise spezifiziert sein: von Stellenbeschreibungen am einen, durchformalisierten Ende der Skala bis hin zu unausgesprochenen normativen Erwartungen am anderen Ende. Wie auch immer die Rollen festgelegt sind, sie definieren zumindest teilweise, wie ihre Inhaberinnen mit anderen Organisationsmitgliedern oder Akteuren von außerhalb interagieren, wenn sie im Namen der Organisation tätig sind. Aus der Tatsache, dass ihre Mitglieder gemäß vorgegebener Rollenspezifikationen handeln, folgt in der Regel, dass die Organisation als Ganze emergente kausale Kräfte besitzt. Mitglieder wie Außenstehende agieren unter dem Einfluss der Organisation anders, als wenn diese abwesend ist. Und die Organisation besitzt Kräfte, die ihre Mitglieder nicht hätten, wären sie nicht in dieser Form eingebunden. Ein klassisches Beispiel findet sich in Adam Smiths Diskussion der Arbeitsteilung in einer Nadelfabrik: Indem die Arbeiterinnen in der Fabrik auf eine bestimmte Art und Weise kooperieren, können sie mehr produzieren, als es sonst der Fall wäre (Smith 1776: 109 und 110). Diese erhöhte Produktivkraft ist eine emergente Eigenschaft der Organisation (vgl. Archer 1995: 51). Analog dazu kann ein Orchester bestimmte Arten mehrstimmiger Musik erzeugen: ein Vermögen, welches auf der spezifischen, durch Rollen (Violinistin, Pianistin, Dirigentin etc.) definierten Form des Zusammenwirkens der beteiligten Musikerinnen (und ihrer Instrumente) beruht. Wären sie nicht als Orchester organisiert, hätten die Musikerinnen und ihre Instrumente nicht die kausale Kraft, diese Art harmonischer Musik hervorzubringen.

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3. N ormkreise Organisationen sind jedoch nicht die einzige Form sozialer Entitäten mit kausalen Kräften. Es mag viele Arten solcher Entitäten geben, aber in diesem Beitrag möchte ich mich auf einen bestimmten Typus konzentrieren, den ich als »Normkreise« bezeichnet habe. Es handelt sich um eine eher neuartige Verwendung der kritisch-realistischen Ontologie, wie sie oben eingeführt wurde; auf diese Weise sollen die Strukturen, Kräfte und Mechanismen erklärt werden, die sozialen Normen und ihren Einwirkungen auf uns zugrundeliegen. Normkreise, so meine These, sind diejenigen sozialen Entitäten, die für die Prägekraft sozialer Normen und damit für die Standardisierung sozialer Praktiken kausal verantwortlich sind.2 Häufig sind es diese Wirkungen »normativer sozialer Institutionen« (wie sie auch genannt werden können), die Soziologinnen im Sinn haben, wenn sie soziale Strukturen diskutieren. Normen implizieren die Erwartung, dass Menschen sich bestimmten erkennbaren Verhaltensmustern anpassen (sollen), die wir »Praktiken« nennen können. Es gibt, ähnlich den Rollen, ein breites Spektrum von Normen; manche werden nur selten expliziert, während andere vollständig dokumentiert sind. In vielen kulturellen Kontexten existiert zum Beispiel eine Norm, der zufolge eine Anzahl von Personen, die auf dasselbe Gut warten, eine Warteschlange bilden sollen; damit sind bestimmte Praktiken verbunden, etwa dass derjenigen Person, die vorne in der Schlange steht, der Vortritt gelassen wird. Aber was bringt solche Normen hervor und verleiht ihnen die Macht, unser Verhalten zu prägen? Ich behaupte, dass es für jede Norm einen Normkreis gibt, eine Gruppe von Menschen, welche die Norm bestätigen und durchsetzen – etwa indem sie diejenigen, die der Norm folgen, belohnen, loben oder anderweitig auszeichnen, und diejenigen kritisieren oder bestrafen, die gegen die Norm verstoßen. Die Wirksamkeit von Normen hängt von diesem Rückhalt seitens der Gruppe ab. Jede von uns könnte beschließen, dass ein bestimmter Standard als Regel gelten soll; wir könnten ihn sogar niederschreiben und von irgendeiner Organisation formell beschließen lassen. Aber die Formulierung von Standards macht sie noch nicht zu Normen; ein potenzieller Standard wird nur dann als Norm wirksam, wenn Individuen glauben, dass andere Leute diesen Standard in der Praxis bekräftigen und durchsetzen. Wir bilden eine Warteschlange nicht aus dem Grund, dass es eine formelle Regel gibt, sondern weil wir wissen, dass andere Leute es von uns erwarten und negativ reagieren werden, wenn wir es nicht tun; und vielleicht auch, weil wir deshalb zu der Überzeugung gelangt sind, dass es richtig ist, eine Warteschlange zu bilden. Ich behaupte also, dass es eine soziale Entität gibt – eine Gruppe von Menschen –, die wir als Normkreis bezeichnen können. Die Menschen, die die 2 | Ausführlich dazu: Elder-Vass 2010a: Kapitel 6, 2012: Kapitel 2 und 3.

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Bestandteile dieser Entität bilden, sind durch ihre Bereitschaft, die betreffende Norm zu bestätigen und durchzusetzen, miteinander verbunden. Aufgrund dieser Bereitschaft ist die Entität mehr als eine Menge beziehungsloser Individuen. Die Mitglieder eines Normkreises mögen sich über die Größe der Gruppe im Unklaren sein, vielleicht betrachten sie die Gruppe nicht einmal als solche; aber wenn sie im Sinne der Norm handeln, sind sie sich in der Regel darüber im Klaren, dass sie damit nicht nur eine idiosynkratische, rein persönliche Bindung an einen bestimmten Verhaltensstandard artikulieren. Vielmehr wissen sie, dass andere diesen Standard teilen, und erwarten oftmals, dass diese anderen ihr Handeln unterstützen und gutheißen. Mit anderen Worten, das Individuum hat eine Ahnung davon – wie minimal und unbestimmt auch immer –, dass es im Namen von etwas Größerem als dem eigenen Selbst handelt, wenn es die Norm stützt; und diese Vermutung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es im Sinne der Norm handelt. Wenn es die Gruppe nicht gäbe, würden einige ihrer Mitglieder vielleicht als Individuen denselben Verhaltensstandard befürworten; aber ohne die Ahnung, dass es sich um eine geteilte Bereitschaft handelt, würden sie es mit geringerer Wahrscheinlichkeit tun und wären sich, selbst wenn sie es täten, der Grundlagen ihres Handelns weniger sicher. Diese Ahnung ist wiederum ein Produkt desselben Prozesses, der die Konformität mit der Norm tendenziell befördert – des generativen Mechanismus, auf welchem die Macht eines Normkreises basiert, solche Konformität zu erhöhen. Dieser Mechanismus besteht wesentlich darin, Individuen wiederholt Handlungen auszusetzen, welche die jeweilige Norm bestätigen und durchsetzen. Weil es eine Gruppe gibt, welche die Norm teilt, sind die Individuen Zielscheibe solchen Verhaltens und beginnen schließlich zu glauben, dass sie sich in einem sozialen Milieu befinden, in dem sie belohnt oder bestraft werden, je nachdem, ob sie der Norm folgen oder nicht. Wenn ich zum Beispiel wiederholt erlebe, wie andere diejenigen tadeln, die versuchen, sich in der Schlange vorzudrängeln, werde ich mit der Zeit die Norm des Schlangestehens verstehen und glauben, dass ich von meiner Umgebung negativ sanktioniert werde, sofern ich die Norm nicht beachte. Mit anderen Worten, ich werde Überzeugungen bezüglich meiner normativen Umgebung entwickeln, die mich tendenziell dazu bewegen, mein zukünftiges Verhalten der Norm des Schlangestehens anzupassen – als Folge der Handlungen von Mitgliedern des betreffenden Normkreises. Aus denselben Gründen werden die Mitglieder der Gruppe – diejenigen, welche die Norm aktiv bestätigen und durchsetzen – zu der Überzeugung gelangen, dass sie damit im Namen von etwas Größerem handeln. Der Mechanismus, der hier am Werke ist, wirkt also mittels der Überzeugungen oder Dispositionen der Individuen. Einerseits sind es Handlungen der einzelnen Mitglieder des Normkreises, die anderen Individuen dessen normative Standards vermitteln, und diese individuellen Handlungen reproduzieren

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und/oder transformieren somit die soziale Struktur des Normkreises. Andererseits führt solch sozialer Druck nicht direkt und mechanisch zu Normkonformität, sondern wirkt vielmehr auf die erworbenen Überzeugungen und Dispositionen der betroffenen Individuen ein, wodurch wiederum deren anschließendes Verhalten geprägt wird. Nichtsdestotrotz, so meine Behauptung, ist die dadurch verstärkte Tendenz individueller Normkonformität der Wirksamkeit des Normkreises als Ganzem – und nicht einfach den Individuen – geschuldet. Der Normkreis kann nur durch seine einzelnen Mitglieder auf uns einwirken, aber diese Mitglieder würden nicht auf diese Weise (oder wenigstens nicht so stark und so häufig) Einfluss auf uns nehmen, wenn sie nicht Teile eines Normkreises wären; folglich ist diese Einwirkung auf uns ein Produkt der kausalen Kraft des Normkreises und nicht nur der Individuen. Sowohl die Mitglieder des Normkreises als auch diejenigen, die seiner Prägekraft ausgesetzt sind, handeln anders, als sie es tun würden, wenn der Normkreis nicht existierte. Gäbe es ihn nicht, würden die Mitglieder mit geringerer Wahrscheinlichkeit die Norm stützen und die Betroffenen ihr mit geringerer Wahrscheinlichkeit folgen. Wir können also feststellen, dass Normkreise soziale Entitäten mit emergenten Kräften sind. Kausale Kräfte sind, wie schon erwähnt, Tendenzen, und die Macht von Normkreisen ist in einem bestimmten Sinne »doppelt tendenziell« (eine Bezeichnung, die ich Jessop 2001 verdanke). Als Folge des oben beschriebenen Mechanismus tendieren Normkreise dazu, eine weitere Tendenz in den Individuen hervorzubringen, die ihren Wirkungen ausgesetzt sind: eine Neigung, sich der betreffenden Norm zu fügen. Weil sie dem Normkreis ausgesetzt gewesen sind, wissen diese Individuen nun, dass sie mit Sanktionen rechnen müssen je nachdem, ob sie die Norm erfüllen oder nicht. Dieses Wissen begünstigt normkonformes Handeln, aber wie jede andere kausale Tendenz kann auch diese in bestimmten Fällen durchkreuzt werden. Individuen mögen gelernt haben, dass Stehlen negativ sanktioniert wird, und dieses Verhalten folglich vermeiden, aber es kann Situationen geben, in denen andere Faktoren stärker wirken: Wenn ihr Kind hungert, werden sie vielleicht einen Laib Brot stehlen, damit es etwas essen kann. Diese Beschreibung von Normkreisen ist notwendigerweise kurz gehalten und übergeht daher viele Einzelheiten.3 Ich möchte dennoch einige verkomplizierende Aspekte ansprechen, um einer Reihe möglicher Einwände zu begegnen. Erstens überkreuzen sich Normkreise vielfach, wobei Ausmaß und Form dieser Intersektionalität zwischen sozialen Kontexten variieren. Damit meine ich, dass die Gruppe von Menschen, die eine bestimmte Norm teilen, von der Gruppe, die eine andere Norm teilt, verschieden sein kann und dass die 3 | Ausführlich dazu: Elder-Vass 2010a: Kapitel 6, 2012: Kapitel 2 und 3.

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Mitgliedschaften in verschiedenen Normkreisen sich überlappen können. Manchmal findet sich eine Häufung von Normkreis-Mitgliedschaften für verschiedene, jedoch miteinander verbundene Normen, aber das ist nicht notwendig der Fall. Wir stehen also keiner monolithischen normativen Lebenswelt gegenüber, vielmehr ist Normativität in heutigen Kontexten hochkomplex. Unterschiedliche Normen können als widerstreitend erlebt werden, und verschiedene Menschen können mit völlig differenten normativen Milieus konfrontiert sein. Das wiederum macht normativen Wandel wahrscheinlicher als in homogeneren Gesellschaften, da Individuen den Kräften konkurrierender Normkreise ausgesetzt sind und sich zwischen ihnen hin und her bewegen können. Deshalb beschäftigt sich die Normkreistheorie auch nicht einfach mit der Reproduktion einer stabilen normativen Lebenswelt. Vielmehr versucht sie zu erklären, wie normative Prägungen an der Hervorbringung sozialer Handlungen mitwirken, die den herrschenden Praktiken entsprechen, und damit zur Reproduktion eines normativen Milieus beitragen können; aber es gibt viele mögliche Gründe, warum Normen in einigen Situationen eher transformiert als reproduziert werden (vgl. Elder-Vass 2010a: 133-138). Zweitens handelt es sich bei der Normkreistheorie nicht um eine Konsenstheorie der Normativität. Normen bedürfen keiner Zustimmung – sei sie rational oder anders geartet –, um wirksam zu sein. Einige Akteure mögen einer Norm infolge der sozialisierenden Prägung des entsprechenden Normkreises schließlich rückhaltlos zustimmen, und in der Tat ist dies eine machtvolle Form der Internalisierung von Normen; andere jedoch, die die Norm entschieden ablehnen, mögen dennoch im Einklang mit ihr handeln, weil ihnen klar ist, dass sie in ihrem normativen Milieu ansonsten schwerwiegende Folgen zu tragen hätten. Personen im Wirkungsbereich eines Normkreises können sich der Norm somit aus moralischen oder aus rein instrumentellen Gründen unterwerfen. Beide Möglichkeiten sind Variationen des gleichen Mechanismus, durch welchen Normkreise auf unser Verhalten einwirken. Drittens sind Normkreise nur ein Typus sozialer Strukturen, und obwohl ich sie für einen wichtigen halte, gibt es noch viele andere. Daher werden soziale Tatbestände, die von Normkreisen beeinflusst sind, niemals vollständig von ihnen determiniert: Sowohl andere soziale Strukturen als auch die Handlungskompetenzen der Individuen tragen zur Verursachung sozialer Ereignisse bei (Elder-Vass 2010a: 170-176). Handlungskompetenzen sind besonders in Situationen relevant, in denen konfligierende Zwänge auf dem Individuum lasten. Eltern, die einen Laib Brot für ihr hungerndes Kind stehlen, treffen eine bewusste Entscheidung, die Norm zu verletzen, während sie sowohl die Macht der Norm als auch andere Einflüsse spüren. Obwohl menschliche Handlungsfähigkeit nicht im Mittelpunkt dieses Beitrags steht, ist sie ebenfalls ein wichtiges Thema kritisch-realistischer Theorie. Menschliche Individuen sind selbst Entitäten, die aus materiellen Teilen bestehen und emergente Eigenschaften

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haben, welche wiederum auf der Art und Weise beruhen, wie die Teile organisiert sind. Zu diesen emergenten Eigenschaften gehören unter anderem mentale Fähigkeiten, die auf der Organisation der neuronalen Strukturen unserer Gehirne auf bauen (Elder-Vass 2010a: Kapitel 5). Mit diesem Ansatz können wir verstehen, wie soziale Strukturen und menschliche Akteure wechselseitig aufeinander einwirken. Auf der einen Seite führen unsere Erfahrungen in sozialen Interaktionen sowohl direkt als auch vermittels unserer Reflexion zu Veränderungen in unseren neuronalen Strukturen und mentalen Eigenschaften. Durch solche Prozesse wirken sich soziale Strukturen auf unsere vorbewussten Dispositionen (die Bourdieu Habitus nennt) wie auch auf die bewusste Vorstellung aus, die wir von unserem Kontext haben. Auf der anderen Seite gehört zu unseren mentalen Eigenschaften die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und ihnen gemäß zu handeln, wobei wir den strukturellen Kontext, innerhalb dessen wir und andere uns bewegen, reproduzieren und mitunter auch verändern (Archer 1995). Die Handlungen der Mitglieder eines Normkreises können von solchen bewussten Entscheidungen, aber auch – mit Bourdieu – von Dispositionen geleitet sein, nach denen wir uns richten, ohne viel nachzudenken (vgl. Bourdieu 1980 und Elder-Vass 2010a: Kapitel 5). Viertens haben Normkreise selbst eine kausale Geschichte – eine Geschichte von Ereignissen, die bedingen, wer die Mitglieder des jeweiligen Normkreises sind und wie stark sie in seinem Sinne handeln. Andere Formen sozialer Macht spielen dabei ebenfalls eine Rolle. In der Entstehungsphase des industriellen Kapitalismus z.B. verhängten kapitalistische Lohnherren disziplinierende Sanktionen, um ehemalige Landarbeiterinnen, die früher selbst über ihre Arbeitszeiten bestimmt hatten, zur Pünktlichkeit anzuhalten, und trugen damit zur Verbreitung und Anerkennung von Pünktlichkeitsnormen in modernen Gesellschaften bei (Thompson 1967). Bis heute sind Unternehmen einflussreiche Mitglieder des Normkreises der Pünktlichkeit.

4. N ormativität und D iskurs Normkreise sind für kritische Sozialtheoretikerinnen insofern von Interesse, als sie einen kohärenten ontologischen Rahmen zur Erklärung der kausalen Kraft von Diskursen bereitstellen – was sie auch für Ideologietheorien und Ideologiekritik höchst relevant macht. Ich denke hier vor allem an Foucaults Ansatz, dem zufolge Diskurse unsere soziale Welt formen. Angesichts der für Foucault typischen Ambivalenz gegenüber Kausalitätsfragen bleibt jedoch äußerst unklar, wie das überhaupt möglich ist (Sayer 2012). Ich schlage eine realistische Interpretation von Foucaults Argumentation vor, welche Diskursen tatsächliche kausale Bedeutung zugesteht (vgl. Elder-Vass 2011 und 2012: Kapitel 8).

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Foucault zufolge wirken Diskurse mittels diskursiver Formationen auf uns: Mengen von Regeln, die definieren, was gesagt oder geschrieben werden kann und was nicht (Elder-Vass 2011 und Foucault 1969). Allerdings bleibt bei ihm sehr unklar, wie es überhaupt möglich ist, dass diskursive Regeln uns beeinflussen. Mithilfe der Normativitätstheorie, die ich oben vorgestellt habe, können wir produktiver über die Beschaffenheit diskursiver Regeln nachdenken. Solche Regeln werden oftmals nicht ausdrücklich niedergeschrieben, sondern gehen auf subtilere Weise in die Erfahrungen mit unserer diskursiven Umgebung ein. Wir begegnen Menschen, die auf bestimmte Weise sprechen, erleben die Reaktionen auf ihre Aussagen und lernen dadurch, dass manche diskursiven Inhalte akzeptiert oder sogar gestärkt werden, andere nicht. Um eines von Foucaults Beispielen aufzugreifen: Es gab Zeiten in der europäischen Geschichte, in denen die Wahnsinnigen als von Gott ergriffen betrachtet wurden; zu anderen Zeiten galten sie als Untermenschen; heute hingegen wird es für angemessen gehalten, von ihnen als psychisch krank zu sprechen (Foucault 1961). Diskursive Regeln sind also Normen und funktionieren auf die gleiche Weise, wie ich es bereits diskutiert habe. Genauer gesagt, stellen diskursive Normen eine Teilmenge aller Normen dar: Sie sind diejenigen Normen, die festlegen, welche mündlichen oder schriftlichen Aussagen angemessenerweise getätigt werden können und welche nicht. Indem sie bestimmen, was gesagt oder geschrieben werden kann, sind diskursive Normen auch in der Lage zu beeinflussen, was wir denken, aber dies ist ein indirekter Effekt: Unmittelbar kann Normativität nur auf unser Handeln einwirken. Wenn diskursive Formationen Ansammlungen von Normen sind, dann können wir sie der bisherigen Argumentation gemäß als Produkte von Normkreisen betrachten. Ich behaupte daher auch, dass es diskursive Normkreise gibt: Gruppen von Menschen, die zur Bestätigung und Durchsetzung spezifischer diskursiver Normen bereit sind und ansonsten genauso funktionieren wie andere Normkreise. Diskursive Normen können an den Interessen unterschiedlicher Gruppen ausgerichtet sein, sie können miteinander in Konflikt oder in Konkurrenz stehen, und die Macht der betreffenden Normkreise kann teilweise ein Produkt der sozialen Macht derjenigen sein, deren Interessen die jeweilige Norm dient. Tatsächlich können Akteure, die über spezifische Formen sozialer Macht verfügen, eine besonders prominente Rolle in diskursiven Normkreisen spielen. Bestimmte Individuen, aber auch Organisationen haben beträchtliche diskursive Macht, und wenn sie mit dieser Macht eine spezifische diskursive Norm stützen, können sie einen überdurchschnittlich starken Effekt auf das Diskursregime haben, das in einem gegebenen sozialen Raum vorherrschend ist. Derzeit üben große Medienkonzerne ganz offensichtlich erheblichen diskursiven Einfluss aus, während unter den individuellen Akteuren Politikerinnen und Expertinnen hervorstechende Exemplare sind. Normkreise können also nicht nur Individuen, sondern auch Organisationen zu ihren Mit-

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gliedern zählen, sofern die Organisation einen klaren Kurs zur Unterstützung einer bestimmten diskursiven Norm verfolgt. Der Normkreis einer gegebenen diskursiven Norm umfasst aber auch all jene gewöhnlichen Individuen, die dazu neigen, diese Norm zu bestätigen und durchzusetzen: Die Herausbildung einer diskursiven Hegemonie erfordert die (auf Zustimmung oder anderen Faktoren beruhende) Kooperation der Bevölkerung und nicht nur der Eliten. Veranschaulichen wir das an einem einfachen Beispiel: In der heutigen Presse und Politik hat sich die Norm durchgesetzt, den Erwerbslosen selbst die Schuld an ihrer Erwerbslosigkeit zu geben und die Frage, wie viele Jobs überhaupt verfügbar sind, außen vor zu lassen. Selbst vermeintlich sozialdemokratische Politikerinnen erhalten diese diskursive Norm kontinuierlich aufrecht, etwa indem sie Zwangsumschulungen für erwerbslose Arbeiterinnen vorschlagen, und allgemeiner, indem sie ein diskursives Milieu akzeptieren, in welchem Erwerbslosigkeit als ein Problem betrachtet wird, welches das erwerbslose Individuum – unter Umständen angespornt durch den Staat – selbst zu lösen hat. Diese diskursive Norm hat sich derart etabliert, dass viele Mittelinks-Politikerinnen anscheinend fürchten, ihre Glaubwürdigkeit bei Presse und Wählerschaft zu verlieren, wenn sie die Norm infrage stellen. Also folgen sie ihr und bestätigen sie damit. Das sind sehr kurze und programmatische Ausführungen. Ich hoffe, sie verdeutlichen dennoch, dass der ontologische Rahmen, den ich oben eingeführt habe, und seine Nutzung für das Verständnis sozialer Phänomene wie Normativität und Diskurs von großem Interesse für kritische Sozialtheoretikerinnen sind. Um einen kohärenten Zugang zu Fragen von Ideologie und/ oder Diskurs zu gewinnen, müssen wir in der Lage sein zu erklären, wie diese kausal wirken können – und zwar auf eine Weise, die mit unserem Verständnis der kausalen Wirksamkeit anderer sozialer Kräfte übereinstimmt.

5. J enseits der N ormkreise Ich möchte noch einmal betonen, dass normative Strukturen keineswegs die einzig relevanten sozialen Strukturen sind. Normative und auch Organisationstrukturen beruhen auf dem gegenseitigen kommunikativen Einfluss, den Individuen aufeinander haben, und können somit zumindest in einiger Hinsicht als zugehörig zu dem betrachtet werden, was Habermas (1981) Lebenswelt nennt – einer Lebenswelt allerdings, die stark von Machtdifferenzen geprägt ist. Das sozialontologische Gerüst, welches ich oben vorgestellt habe, kann jedoch auch für andere Formen von Struktur, andere soziale Entitäten verwendet werden, insbesondere für diejenigen, die Habermas als Systeme bezeichnet und die eine Emergenz nicht-intendierter Handlungsfolgen aufweisen. Das

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heißt nicht, dass ich Habermas’ gesamtem theoretischem Programm folgen würde; insbesondere stimme ich Frasers These zu, dass die Unterscheidung zwischen sozial integrierten und systemisch integrierten Handlungskontexten keine absolute, sondern eine graduelle ist (Fraser 1985). Aus einer realistischen Perspektive dürfte es am sinnvollsten sein, Lebenswelt und System nicht als unterschiedliche Bereiche der sozialen Welt zu betrachten, sondern als zwei verschiedene Typen sozialer Mechanismen. Hierbei denke ich insbesondere an den Handel mit Waren und dessen systemische Konsequenzen – was gemeinhin als Marktwirtschaft beschrieben wird. Ganz offensichtlich gibt es Interaktionsmuster zwischen ökonomischen Akteuren, die systemische Auswirkungen wie Wirtschaftswachstum, Finanzkrisen, Beschäftigung und Arbeitslosigkeit, Inflation und die expansive Tendenz des kapitalistischen Sektors der Weltwirtschaft zeitigen. Die ökonomischen Akteure sind in ihrem wirtschaftlichen Handeln zweifelsohne von normativen Strukturen – Einflüssen der Lebenswelt – geprägt, aber es sind auch andere Mechanismen am Werke; insbesondere solche, die blind gegenüber den Absichten und Vorstellungen der individuellen Akteure sind und durch ihre Wechselwirkungen systemische Effekte auf der Makroebene erzeugen. Vertreterinnen des Critical Realism haben bisher nicht sehr viel zur Ontologie solcher systemischer Kräfte beigetragen, obwohl sie in der Kritik der impliziten Ontologie der mainstream-Ökonomik an vorderster Front standen (z.B. Fleetwood 2002, 2006 und Lawson 1997, 2003). Die weitere substanzielle Arbeit an einer Ontologie der Wirtschaft wird einen Schlüsselbereich zukünftiger Forschung innerhalb der kritisch-realistischen Tradition bilden. Insbesondere bezweifle ich, dass die herrschenden Vorstellungen von Märkten ökonomische Strukturen angemessen erfassen und dass die bestehenden Konzeptionen von Kapital und Kapitalismus so zur Beschreibung des gesamten ökonomischen Systems genutzt werden können, wie es die politische Ökonomie oftmals tut. Es ist durchaus möglich, dass eine solche Arbeit – wie jede bereichsspezifische Ontologie – wiederum zu Revisionen der allgemeinen kritisch-realistischen Ontologie führen wird (Elder-Vass 2007 und 2010a: Kapitel 4). Wir werden das jedoch nur herausfinden, wenn wir mit größerer Sorgfalt als bisher versuchen, die relevanten sozialen Entitäten, Kausalkräfte und zugrundeliegenden Mechanismen zu identifizieren. Mein Beitrag hat sich vornehmlich mit diesem Thema der Identifizierung sozialer Entitäten sowie mit der Frage befasst, ob sie kausale Kräfte besitzen und – wenn ja – welche Mechanismen dahinterstehen. Der Prozess der Identifizierung solcher Kräfte und Mechanismen wird häufig als Retroduktion bezeichnet (Elder-Vass 2010a: 48, Lawson 1997: 24). Es handelt sich hierbei um einen notwendigen Schritt, wenn wir in der Lage sein wollen, soziale Ereignisse kausal zu erklären. Aber für eine hinreichende Erklärung ist noch mehr erforderlich. Da solche Ereignisse immer das Ergebnis eines Zusammenspiels

Wie wirken Normen?

vielfältiger kausaler Kräfte sind, müssen wir zu ihrer Erklärung auf eine Methode zurückgreifen, die als Retrodiktion bekannt ist (Elder-Vass 2010a: 48, Lawson 1997: 221). Retrodiktion umfasst die Identifizierung der verschiedenen kausalen Kräfte, die zur Verursachung eines Ereignisses wesentlich beigetragen haben, sowie die Analyse ihres Zusammenspiels bei der Produktion des fraglichen Ereignisses. In der Praxis wird jedes soziale Ereignis von einer ganzen Reihe von Kausalkräften erzeugt, wozu typischerweise normative und systemische Kräfte, Entscheidungen sozialer Akteure und auch Eigenschaften materieller Objekte gehören. Die kritisch-realistische Ontologie als solche stellt keine Mutmaßungen darüber an, welche kausale Kraft bei der Hervorbringung sozialer Ereignisse dominiert: Geschichte verläuft grundsätzlich offen, vielfältig bedingt (multiply determined) und kontingent. Aber unter bestimmten Umständen können einige Kräfte besonders wirkungsvoll sein, und es bedarf empirisch unterfütterter Theorien der beteiligten Kräfte und ihrer relativen Wirksamkeit, um solche Fälle zu erklären. In manchen Kontexten mag eine einzelne Ursache den Ausschlag geben, wenngleich jeder Versuch, einen solchen Fall zu identifizieren, fallibel ist. In diesem Sinne – und nur in diesem Sinne – ist es immer möglich zu argumentieren, eine spezifische Gruppe von Ursachen sei von entscheidender Bedeutung. Wir benötigen empiriegestützte Theorien – nicht nur zur Analyse der kausalen Mechanismen, die bei der Verursachung sozialer Ereignisse zusammenwirken, sondern auch, um das unterschiedliche kausale Gewicht der jeweils beteiligten Kräfte erklären zu können.

6. S chluss Das Herzstück des Critical Realism ist seine Ontologie kausaler Kräfte (ontology of causal powers). Ich habe in meinem Beitrag zu zeigen versucht, dass diese Ontologie unser Verständnis der sozialen Welt verbessern kann, und einen möglichen Ansatz hierzu vorgestellt. Ich behaupte, dass es soziale Entitäten gibt, die eigene kausale Kräfte haben, sowohl untereinander als auch mit anderen Entitäten interagieren und auf diese Weise soziale Ereignisse produzieren. Innerhalb dieses ontologischen Rahmens sind verschiedene Antworten auf die Frage denkbar, welche Entitäten, Kräfte und Mechanismen in der sozialen Welt kausal wirksam sind, und ich habe in meinem Beitrag einige Beispiele angeboten. Aus zwei Gründen dürfte allerdings klar sein, dass dies eine äußerst unvollständige Darstellung ist: Erstens handelt es sich um eine Zusammenfassung, die als solche viele der Komplexitäten des Denkens übergehen muss, in welches sie einführen soll. Zweitens existiert eine Vielzahl unterschiedlicher Typen sozialer Entitäten, und nur wenige von ihnen sind bereits im Sinne des hier vorgestellten Rahmens theoretisiert worden. Damit dieses Forschungspro-

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gramm wirklich Früchte tragen kann, müssen noch viele Herausforderungen gemeistert werden. Ich hoffe jedoch, mit meinem Beitrag gezeigt zu haben, dass es sich zumindest um ein vielversprechendes Programm handelt. Wenn dieses Programm uns helfen kann, die soziale Welt und ihre Phänomene in einem erklärenden Sinn besser zu verstehen, ist dies an sich schon ein bedeutender Beitrag zur kritischen Sozialtheorie. Darüber hinaus ist jedoch zu beachten, dass erklärende und ethische Elemente kritischer Sozialtheorie wechselseitig aufeinander verweisen. Kritisches Denken ist schon einmal an der Klippe des Relativismus zerschellt, welcher aus der Annahme resultiert, Ethik selbst sei ein soziales Produkt; es ist daher verständlich, wenn die Leserin ähnliche Formationen, die aus dem Dunstkreis meines Beitrags aufzutauchen scheinen, umschiffen möchte. Ist Ethik selbst nichts anderes als ein Ausdruck von Normativität, der auf die Wirksamkeit von Normkreisen zurückgeführt werden kann? Und wenn ja, müssen wir dann zum moralischen Nihilismus zurückkehren und uns von kritischer Sozialtheorie verabschieden? Ich für meinen Teil glaube, dass wir die erste dieser Fragen mit einem qualifizierten »Ja«, die zweite jedoch mit einem entschiedenen »Nein« beantworten können (vgl. Elder-Vass 2010b). Aus dem Englischen von Hartwig Schuck

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»Nimm Zwei!« Zwei Kausalkräfte des Sozialen, zwei Arten sozialer Strukturen, zwei Grunderfahrungen und zwei Formkritiken von Sozialität. Ein Kommentar zu Dave Elder-Vass 1 Uwe Schimank Auch wenn inzwischen schon wieder etwas weniger über Anthony Giddens gesprochen wird: Seine sozialtheoretischen Überlegungen, die sich um das Konzept der »Dualität der Struktur« ranken, haben die britische Diskussion eine ganze Zeit lang beherrscht. Daneben gab und gibt es dort aber auch andere Strömungen, von denen der Critical Realism die wohl interessanteste ist. Auf erkenntnistheoretische Positionen Roy Bhaskars gründend, haben sich Autorinnen wie Margaret Archer, Andrew Sayer und in den letzten Jahren auch Dave Elder-Vass grundlegenden sozialtheoretischen Fragen zugewandt und hierzu Beiträge vorgelegt, die auch in der deutschen Theoriedebatte noch mehr Beachtung finden sollten. Nach gründlichen konstruktiven Auseinandersetzungen vor allem mit Giddens, Pierre Bourdieu, Michel Foucault und den anderen Critical Realists widmete sich Elder-Vass (2010a) der sozialtheoretisch zentralen Thematik des Wechselverhältnisses von Handeln und Strukturen. Insbesondere die Frage, ob man sozialen Strukturen »kausale Kraft« (causal power) zusprechen könne und – wenn ja – wie diese Kausalität beschaffen ist und mit der Kausalkraft von Akteuren zusammenwirkt, stand im Zentrum seiner Überlegungen. Diese Frage greift Elder-Vass im hier vorgelegten Beitrag wieder auf, und ihr ist auch mein Kommentar gewidmet.

1 | Für sehr wichtige Hinweise zu einer ersten Fassung bedanke ich mich bei Dimitri Mader, für weitere Hinweise, die zur vorliegenden dritten Fassung geführt haben, bin ich zudem Urs Lindner, Rainer Greshoff, Ansgar Weymann und Matthias Wingens dankbar, ohne mit dem Ergebnis die drei Letztgenannten auch nur halbwegs zufriedenstellen zu können.

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Vorab sei gesagt, dass ich die Konzeptualisierung von Elder-Vass grundsätzlich als sehr plausibel und gerade auch für meine eigenen Überlegungen zur wechselseitigen Konstitution von Handeln und Strukturen (Schimank 2000) klärend erachte. Im ersten Abschnitt meines Kommentars resümiere ich, wie Elder-Vass am Fall von »Normkreisen« (norm circles) verdeutlicht, wie »agentielle Kausalkraft« (agential causal power) und »strukturelle Kausalkraft« (structural causal power) ineinandergreifen, um eine eigenständige Wirkkraft Letzterer darzulegen. Im zweiten Abschnitt kritisiere ich, dass Elder-Vass sich in diesen Überlegungen nur auf die eine der beiden grundlegenden Arten sozialer Strukturen bezieht: auf Strukturen als Regeln. Strukturen als Regelmäßigkeiten vernachlässigt er, obwohl sie sich, wie ich zeige, analog behandeln ließen. Die beiden weiteren Abschnitte versuchen sodann, Elder-Vass’ Unterscheidung von »agentieller Kausalkraft« und »struktureller Kausalkraft« dahingehend weiterzuführen, dass man hieran anknüpfend zwei Grunderfahrungen von Sozialität – verflüssigte und verfestigte Sozialität – und zwei darauf bezogene Arten der Kritik von Sozialität unterscheiden kann.

1. H andeln und S truk turen I: R egeln Akteure sind die einzigen Beweger des sozialen Geschehens. Nur sie können durch ihr Handeln und handelndes Zusammenwirken soziale Dynamiken in Gang setzen und antreiben, die dann soziale Strukturen schaffen, aufrechterhalten oder verändern, im Extremfall beseitigen. Das bedeutet allerdings nicht, dass man von einem sozialontologischen Primat von Akteuren sprechen kann oder muss. Man sollte vielmehr auf der Linie dessen, was Daniel Little (2007: 346) als »methodologischen Lokalismus« propagiert, davon ausgehen, dass Akteure von Anfang an durch soziale Strukturkontexte, in denen sie sich bewegen, »sozial konstituiert« sind. Mit anderen Worten: Akteure und Strukturen sind gleichursprünglich. Es gibt keinen gänzlich strukturlosen sozialen Urzustand, aus dem sich die Akteure erst allmählich durch Strukturbildung herausgearbeitet haben; »das Individuum vor-sozial zu charakterisieren« (ebd.), macht keinen Sinn, denn Handlungsfähigkeit von Menschen als »weltoffene« Lebewesen (Gehlen 1940) setzt sinnhafte Orientierungen durch soziale Strukturen zwingend voraus.2 2 | An diesem Punkt führt das ansonsten sehr aufschlussreiche sozialtheoretische Gedankenexperiment, das Peter Berger und Thomas Luckmann (1966: 65-85) durchführen, in die Irre. Einerseits betonen sie im Einklang mit dem gerade Gesagten: »Vereinzeltes Menschsein wäre Sein auf animalischem Niveau […]. Das spezifisch Menschliche des Menschen und sein gesellschaftliches Sein sind untrennbar verschränkt.« (Berger/Luckmann 1966: 54). Auf der anderen Seite sehen sie Habitualisierung als Startpunkt von

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Die bisher formulierten Aussagen zur Beschaffenheit von Sozialität – die viele, auch Elder-Vass, teilen – schließen einerseits einen methodologischen Kollektivismus aus, wie er schon seit geraumer Zeit von kaum jemandem mehr konsequent vertreten wird, auch wenn sich in gegenstandsbezogenen Analysen durchaus immer wieder kollektivistische Kurzschlüsse finden.3 Wenn nur Akteure etwas zu bewegen und hervorzubringen imstande sind, können soziale Strukturen nicht die einzigen oder auch nur primären Ursachen sozialer Dynamiken sein. Andererseits wird der methodologische Individualismus jedenfalls in der Lesart zurückgewiesen, die keine eigenständige Wirkkraft sozialer Strukturen zulässt. Wenn Akteure von Anfang an durch Strukturen mit hervorgebracht und geprägt werden, drückt sich darin eine essenzielle und nicht erst nachrangige Verursachung durch Letztere aus. Elder-Vass reklamiert für sich, über dieses Entweder-oder von methodologischem Kollektivismus und Individualismus hinauszukommen,4 ohne Positionen wie die von Giddens beziehen zu müssen, »die versuchen, zwischen diesen beiden Sichtweisen eine Brücke zu bauen, indem sie Struktur und Handlungsfähigkeit als ontologisch untrennbar behandeln« (2010a: 8). Hier setzt die zentrale Unterscheidung von »agentieller Kausalkraft« und »struktureller Kausalkraft« bei Elder-Vass (ebd.: 4) an. Will man den grundlegenden Mechanismus sozialer Dynamiken herausarbeiten, darf man beide Kausalitäten nicht zu einem angeblich analytisch nicht unterscheid- und zerlegbaren Ursacheklumpen zusammenwerfen,5 sondern muss gerade herausarbeiten, Institutionalisierungsdynamiken, ohne zu fragen, was denn die äußeren Stützen für Habitualisierung sind – natürlich, in ihrer eigenen Denklogik, schon bestehende Institutionen! Denn es geht dabei ja nicht um die Routinisierung von Verhalten, sondern um »habitualisierte Tätigkeiten« mit einem »sinnhaften Charakter« (Berger/Luckmann 1966: 53). 3 | Strukturalismus in seinen verschiedenen Spielarten ist passé. Selbst der soziologische Neo-Institutionalismus hat mit »institutionellen Unternehmerinnen« (DiMaggio 1988) und »institutioneller Arbeit« längst die eigenständige Wirkmächtigkeit von Akteuren wiederentdeckt und damit freilich auch viel an Originalität eingebüßt (Greenwood et al. 2005). Niklas Luhmanns (1984: 43) systemtheoretische Vorstellung sozialer Autopoiesis proklamiert zwar für sich, »entschieden« eine »Konstitution ›von oben‹« anstatt einer »Emergenz ›von unten‹« zu vertreten. Das systemtheoretische Verständnis gesellschaftlicher Teilsysteme entspricht dem durchaus. Doch die grundsätzlichere Konzeption von Sozialität als Überwindung doppelter Kontingenz durch »Autokatalyse« (Luhmann 1984: 148-190) rekurriert stillschweigend, aber unübersehbar auf Akteure als eigenständige Handlungsträger (Greshoff 2008). 4 | Generell zur älteren Debatte zwischen methodologischem Individualismus und Kollektivismus: O’Neill (1973). 5 | Eine solche »Konflationierung« (conflation) findet sich außer bei Giddens etwa auch bei Bourdieu – siehe Elder-Vass (2010a: 99-114).

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wie diese beiden unterschiedlichen Arten von Kausalität zusammenwirken. Dies ist der Punkt, an dem Elder-Vass der Diskussion auf die Sprünge hilft, indem er die zwei Arten von Kausalität zunächst klar auseinanderhält, um sie sodann zu kombinieren.6 Weil »agentielle Kausalkraft« keiner großen weiteren Erläuterungen bedarf, wende ich mich gleich den Fragen zu, die Elder-Vass bezüglich sozialer Strukturen und ihrer kausalen Wirkungen stellt: »Wie können solche Strukturen kausal wirksam sein? In welchem Verhältnis stehen sie zu menschlichen Individuen und deren kausalen Gestaltungsmöglichkeiten? Können sowohl menschliche Individuen als auch soziale Strukturen kausal wirken, oder schließt das eine das andere aus?« (In diesem Band: 77 [Hervorh. gestrichen]) Wie bereits gesagt, werden alle Arten sozialer Strukturen durch das handelnde Zusammenwirken von Akteuren produziert und permanent reproduziert – identisch oder nicht-identisch. Diese »Aufwärts-Verursachung« (upward causation) wandelt sich aber genau in dem Maße, in dem sie als Strukturproduktion und -reproduktion wirksam ist, in eine von der betreffenden Struktur ausgehende »Abwärts-Verursachung« (downward causation) um:7 »Agentielle Kausalkraft« transformiert sich in »strukturelle Kausalkraft«. Das bedeutet freilich, dass letztere sich aus ersterer nährt, erstere ein unabdingbares Ingredienz letzterer ist. Bis zu diesem Punkt geht Elder-Vass mit dem methodologischen Individualismus konform. Er stimmt sogar noch weitergehend darin mit diesem überein, dass es allein Akteure mit ihrer »Kausalkraft« sind, die »strukturelle Kausalkraft« ausüben. Er macht dies am Beispiel von »Normkreisen« klar. Eine Norm ist eine soziale Struktur, die eine Soll-Erwartung dahingehend formuliert, dass bestimmte Akteure in bestimmten Situationen ein bestimmtes Handeln – einschließlich Unterlassen – an den Tag legen sollen. Elder-Vass fragt: »Aber was bringt solche Normen hervor und verleiht ihnen die Macht, unser Verhalten zu prägen?« Seine Antwort: »Für jede Norm [gibt es] einen 6 | Um Missverständnisse auszuräumen, sei betont, dass die Verwendung des Begriffs der Kausalität hier sehr offen ist und jegliche Art von Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge einschließt. Es werden keine starken Prämissen wie Zwangsläufigkeit der Wirkung einer Ursache impliziert, was in der Sozialwelt bedeutete, dass nur dann von Kausalität gesprochen werden könnte, wenn die einer Wirkungskraft unterliegenden Handelnden keine Wahl hätten. Dann könnte man u.a. Normen nicht als kausal wirkende Ursachen einstufen, weil man sich immer auch zur Normabweichung entschließen kann. Auch Wirkfaktoren mit nur einer schwachen Wirkkraft werden hier als Ursachen einbezogen; und das besagt auch schon, dass eine bestimmte Wirkung im Regelfall auf viele Ursachen zurückgeführt werden muss, die mit unterschiedlicher Stärke parallel oder nacheinander wirken. 7 | Zu »Abwärts-Verursachung« auch Elder-Vass (2010a: 58-62).

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Normkreis […], eine Gruppe von Menschen, welche die Norm bestätigen und durchsetzen – etwa indem sie diejenigen, die der Norm folgen, belohnen, loben oder anderweitig auszeichnen, und diejenigen kritisieren oder bestrafen, die gegen die Norm verstoßen.« (In diesem Band: 83) Das klingt zunächst, als sei die Aussage, dass eine bestimmte Norm als soziale Struktur das Handeln von Akteuren prägt, nur eine weniger komplizierte Redeweise für den Sachverhalt, dass diejenigen Akteure, die den »Normkreis« bilden, darauf achten, dass der Norm unterworfene Akteure sich an diese halten. Dann gäbe es jedoch keine eigenständige »strukturelle Kausalkraft«, diese wäre lediglich eine andere Erscheinungsform von »agentieller Kausalkraft«. So, als methodologischer Individualist, will Elder-Vass aber genau nicht verstanden werden. Die dem »Normkreis« angehörenden Akteure, die durch ihren Erwartungsdruck Normkonformität aufseiten der Normadressatinnen hervorbringen, handeln nämlich nicht einfach als Individuen: »Der Normkreis kann nur durch seine einzelnen Mitglieder auf uns einwirken, aber diese Mitglieder würden nicht auf diese Weise (oder wenigstens nicht so stark und so häufig) Einfluss auf uns nehmen, wenn sie nicht Teile eines Normkreises wären; folglich ist diese Einwirkung auf uns ein Produkt der kausalen Kraft des Normkreises und nicht nur der Individuen.« (In diesem Band: 85) Noch prägnanter: »Diese kausale Kraft wird durch die Mitglieder der Gruppe realisiert, obwohl es eine Wirkkraft der Gruppe ist; und wenn ihre Mitglieder im Sinne der Norm handeln, dann ist es die Gruppe […], die handelt.« (Elder-Vass 2010a: 124)8 Der letzte Halbsatz ist genaugenommen inkorrekt. Denn die Gruppe handelt nicht als Kollektivakteur, sondern sie wirkt als Struktur durch das jeweilige Gruppenmitglied. In »Normkreisen« treten Akteure als Hüter von Regeln auf, überwachen und sanktionieren die Regeleinhaltung. Anders gesagt: Die »Kausalkraft« von sozialen Strukturen als Regeln – das können neben normativen Erwartungsstrukturen auch alle Arten evaluativer oder kognitiver Deutungsstrukturen, also z.B. auch Ideologien, kollektiv geteilte Wertvorstellungen oder Wissensbestände sein (Schimank 2000: 176-179) – bedarf einer sie repräsentierenden »agentiellen Kausalkraft«.9 Wenn also soziale Strukturen als Regeln durch »agentielle Kausalkraft« repräsentiert werden: Worin besteht dann die eigenständige Wirkmächtigkeit sozialer Strukturen? Für Elder-Vass – und dem schließe ich mich an – beruht diese darauf, dass die sozialen Strukturen, wie8 | Robert Axelrods (1986) spieltheoretische Modellierung von Normkonformität betont, dass diese »strukturelle Kausalkraft« ein Metaspiel erfordert, in dem diejenigen Angehörigen des »Normkreises«, die ausbleibende Normkonformität nicht negativ sanktionieren, selbst negativ sanktioniert werden. 9 | Zumindest anfangs als Sozialisationsinstanz! Ist eine Regel erst einmal internalisiert, ist der »Normkreis« gleichsam im Kopf der Normadressatin und braucht sozial gar nicht mehr aufzutreten.

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wohl durch »agentielle Kausalkraft« hervorgebracht und aufrechterhalten, die sie repräsentierende bzw. exekutierende »agentielle Kausalkraft« auf eigene Weise formen, sodass eben gilt: Die »agentielle Kausalkraft« sähe ganz anders aus, wenn es die Strukturen so nicht gäbe. An diesem Punkt ist die Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass das hier zugrunde gelegte Kausalitätsverständnis zwei Arten von ursächlicher Mitbewirkung unterscheidet: Das aktive Mit-Herbeiführen und das passive Mit-Kanalisieren von sozialen Geschehnissen.10 »Agentielle Kausalkraft« ist die aktive, bewegende, »energetische«, Veränderungen von Weltzuständen herbeiführende Wirkkraft, während »strukturelle Kausalkraft« eine passive, Veränderungsimpulse in bestimmte Richtungen »kanalisierende« Wirkkraft darstellt. Diese Unterscheidung des Modus des Wirkens wird noch wichtiger werden, wenn ich mich gleich der zweiten Art sozialer Strukturen zuwende. Man kann das bisher Aufgezeigte natürlich so lesen, dass »agentielle Kausalkraft« durch das von ihr Erzeugte auf »agentielle Kausalkraft« – anderer oder derselben Akteure – wirkt. Doch es lohnt sich gewissermaßen, das Zwischenergebnis – die soziale Struktur – für sich genommen zu registrieren und als eigenständigen Ausgangspunkt von Wirkungszusammenhängen zu nehmen. Und weil dieses Zwischenergebnis, anders als die Redeweise suggeriert, nicht bloß eine Denkerleichterung darstellt,11 sondern einen veritablen »sozialen Tatbestand« (Durkheim 1895: 114),12 kann man die von ihm ausgehende 10 | Auch in diesem Punkt wird Kausalität hier weit verstanden – anders als mit einer Auseinandersortierung von »Ursachen« und sonstigen »Bedingungen«, wie etwa bei Hüttemann (2013: 194f.) oder auch Schmid (2005: 54f.). »Bedingungen« nicht als MitUrsachen einzuordnen, liefe immer wieder darauf hinaus, die wichtigsten Faktoren, die an der Produktion einer Wirkung beteiligt sind, in die zweite Reihe zu setzen, während ein für sich genommen ziemlich unwichtiger Faktor, der den letzten kleinen Schritt zur Realisierung der Wirkung darstellt, völlig unverhältnismäßig ins Rampenlicht gerückt wird. Nicht der Attentäter von Sarajewo bewirkte den Ersten Weltkrieg, und auch die maßgeblichen Politiker und Militärs mit ihren Entscheidungen im Sommer 1914 taten dies nicht, sondern die geopolitischen Strukturen, die sich zwischen den europäischen Großmächten herausgebildet hatten, waren die überragenden Wirkkräfte. Für ein solches Kausalitätsverständnis siehe Mumford/Anjum (2011: 31-33). 11 | Und selbst diese ist gegenüber einem ontologischen Fundamentalismus hochzuhalten – siehe Elder-Vass (2012: 89), der einem so angelegten ontologischen Individualismus vorhält, dass es in Sachen Kausalität bei Individuen kein Halten gibt, sondern man auf dem zellulären, atomaren und subatomaren Level landet: »Kausalität würde verschwinden – entweder zur niedrigsten physikalischen Ebene, wenn eine solche existiert, oder vollständig, wenn es keine derartige Ebene gibt.« 12 | Manche Übersetzungen sprechen missverständlich vom »soziologischen Tat-­ be­s tand«.

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»strukturelle Kausalkraft« als solche ernst, nämlich zum Ausgangspunkt von Kausalerklärungen nehmen. Elder-Vass weist hier auf ein Missverständnis hin, das entsteht, wenn man das Zwischenergebnis der Kürze halber so darstellt, als wirke es aus eigener Kraft: »Wir müssen stets in der Lage sein, eine angenommene strukturelle Wirkkraft zu dem Netz von Individuen und Relationen zurückzuverfolgen, die ihr unterliegen und den Mechanismus bereitstellen, aus dem sie hervorgeht.« (2007a: 40 [Hervorh. gestrichen]) Doch diese prinzipielle Rückführbarkeit auf »agentielle Kausalkraft« heißt eben nicht, dass das auch stets getan werden muss: »Wenn eine solche Rekonstruktion vorgeführt wurde und ihre Einzelheiten nicht direkt zur Erklärung des betreffenden Untersuchungsgegenstandes beitragen, dann können wir von solchen Einzelheiten abstrahieren und uns einfach auf die strukturelle Wirkkraft selbst beziehen.« (Ebd.)

2. H andeln und S truk turen II: R egelmässigkeiten So weit, so gut! Was ist aber bei solchen sozialen Strukturen, die keine Regeln sind, sondern den Charakter von Regelmäßigkeiten haben – um diese von Andreas Reckwitz (1997) griffig herausgearbeitete Unterscheidung zu benutzen?13 Gemeint sind damit Konstellationsstrukturen, die sich zum einen in eingefahrenen Beziehungsmustern zwischen Akteuren, zum anderen in damit verbundenen dauerhaft etablierten Einflusspotenzialen und Chancenverteilungen manifestieren. Regelmäßigkeiten stellen sich, gleichsam als Erscheinungsform solcher Konstellationsstrukturen, immer dann und in dem Maße ein, wie ein bestimmtes Muster handelnden Zusammenwirkens von Akteuren sich in dem Sinne verfestigt, dass keiner der Beteiligten allein von sich aus so einfach seine Handlungsweise ändern kann.14 Jon Elster spricht von einer Konstellation im Gleichgewicht: »Man stelle sich eine Anzahl von Leuten vor, alle mit ihren jeweiligen Wünschen und Handlungsmöglichkeiten, und nehme an, 13 | Um Missverständnisse gerade mit Critical Realists zu vermeiden, sei betont, dass diese Regelmäßigkeiten nichts mit der von David Hume herrührenden und von Critical Realists scharf kritisierten Vorstellung von Kausalitäten als wahrgenommenen »Regularitäten« zu tun haben. 14 | Hier wird eine Akzentverschiebung bei der Benennung der beiden Strukturarten durch Reckwitz erkennbar. Regeln sind, wie dargestellt, Mit-Ursachen eines bestimmten Handelns, während Regelmäßigkeiten eine bestimmte Dimension des bewirkten Handelns bzw. handelnden Zusammenwirkens ansprechen. Genaugenommen bringen auch Regeln, wenn sie eingehalten werden, zumeist Regelmäßigkeiten hervor. Das Besondere an den als Regelmäßigkeiten bezeichneten Strukturen ist, dass die Regelmäßigkeiten nicht durch Regelbefolgung bewirkt werden.

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dass jeder sich zum Handeln entscheidet. Nachdem alle ihre Entscheidungen realisiert haben, kann sich jede Person die folgende Frage stellen: In Anbetracht dessen, was die anderen getan haben, wäre ich besser dran, wenn ich anders gehandelt hätte? In einem Gleichgewichtszustand würde jede Person mit ›Nein‹ antworten.« (1989: 102) Diese Gleichgewichte können positiv bewertet in dem Sinne sein, dass sie den beteiligten Akteuren erlauben, ihre Intentionen zu realisieren. Freundschaften oder Tauschbeziehungen wären Beispiele dafür. Es kann sich aber auch um negativ bewertete Gleichgewichte handeln, etwa eingefahrene Konkurrenz- oder Feindschaftsverhältnisse. Eine sich über Generationen hinziehende Blutrache zwischen zwei Familien illustriert Letzteres. Man könnte meinen, dass den Akteuren in so einem Fall nichts näherläge, als dieses Gleichgewicht zu verlassen. Aber bekanntlich ist kaum etwas schwieriger, als aus einer solchen Konstellation auszubrechen. Man redet nicht miteinander, traut einander nicht über den Weg und kann so keine beiderseitige Beendigung der Fehde verabreden; und eine einseitige Beendigung bedeutet unter anderem einen gravierenden Ehrverlust, was man ebenfalls kaum auf sich nehmen will.15 Auf diese ganz andersartig beschaffenen kausal wirksamen sozialen Strukturen geht Elder-Vass (2007a: 35-40) nur in einer Auseinandersetzung mit Archer etwas ausführlicher ein.16 Er wendet sich dabei zunächst »demographischen Verteilungen« zu, am Beispiel des Bevölkerungsanteils von Paaren mit Frauen im gebärfähigen Alter. Dieser Anteil bestimmt – ceteris paribus – den Anteil der in den kommenden Jahren geborenen Kinder. Elder-Vass (ebd.: 36) fragt, gegen Archers Interpretation des Anteils dieser Paare an der Gesamtpopulation als einer emergenten Eigenschaft, die eine »strukturelle Kausalkraft« begründet: »Aber hat die demographische Struktur als solche wirklich eine kausale Wirkung?« Er verneint dies mit dem Argument, dieser Anteil 15 | Regelmäßigkeit kann, wie dieses Beispiel zeigt, auch Eskalation im Sinne von »Mehr desselben!« bedeuten, solange diese Steigerungsdynamik aus einem identisch bleibenden Konstellationsmuster hervorgeht. Man muss ferner genau spezifizieren, ob man lediglich die Regelmäßigkeit der Wiederholung des jeweiligen Grundmusters einer Konstellation meint oder ob man das Gleichbleiben aller spezifischen Merkmale der Konstellation behauptet. Eine Konstellation wie die kapitalistische Wirtschaft ist etwa durch eine ausgesprochen dynamische Kontinuität in dem Sinne gekennzeichnet, dass der Erhalt des Grundmusters fortwährenden Wandel vieler spezifischer Merkmale geradezu erzwingt. 16 | Elder-Vass (2007b: 465; 2010a: 76-86) erwähnt Regelmäßigkeiten noch hier und da kurz, setzt sich aber leider nicht mehr weiter mit ihrer »strukturellen Kausalkraft« auseinander; dasselbe gilt für spätere Beiträge. Die von ihm angesprochene Strukturtypologie von Porpora (1989) beinhaltet die von Reckwitz getroffene Unterscheidung, ohne sie auch nur annähernd so prägnant wie dieser zu formulieren.

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habe »keine Wirkung, die sich von der Summe der Wirkungen der individuellen Paare unterscheidet, da diese Paare selbst von jenem Größenverhältnis unbeeinflusst bleiben.« (Ebd.) Mit anderen Worten handelt es sich hier um massenhaftes gleichartiges Handeln ohne wechselseitige Zurkenntnisnahme. Mit Max Weber (1922: 11) gesagt: Dies ist kein soziales, am Handeln anderer orientiertes Handeln, da alle nur auf gleiche Weise auf etwas reagieren – so wie alle, die einen Regenschirm dabeihaben, ihn aufspannen, wenn sie sich unter freiem Himmel befinden und es zu regnen anfängt. Diese Einordnung des Phänomens trifft zu17 –, aber ist sie ein Argument gegen strukturelle Kausalität? Auch ohne Orientierung am Handeln anderer, als Nebeneinander des Handelns jedes der Paare, besteht doch ein struktureller Effekt derart, dass die Anzahl der gebärfähigen Paare die spätere Kinderzahl bestimmt und sich so die Verteilungsstruktur über die Zeit reproduziert, wenn sich nicht irgendwelche anderen Parameter ändern. Man sieht bereits an diesem einfachsten Fall: Soziale Strukturen des Typs Regelmäßigkeiten wirken als »stumme Macht der Möglichkeiten« (Esser 2000: 269) entweder einschränkend (constraining) oder ermöglichend (en­ abling) (Giddens 1988: 78) und brauchen beim Akteur nicht bewusstseinsmäßig präsent zu sein – anders als Regeln, die durch ihre Repräsentanten präsent gehalten werden. Wenn – um nun ein komplexeres Beispiel anzuführen, in dem es soziales Handeln gibt – ein Akteur in einem sozialen Netzwerk auf einen anderen als Vermittler angewiesen ist, um einen Dritten zu erreichen, prägt dieses Beziehungsmuster seine Handlungsmöglichkeiten, auch wenn er sich das überhaupt nicht klarmacht. Jeder, der schon einmal auf eine Maklerin angewiesen war, weiß, was für eine Art von »Macht-Abhängigkeits-Beziehung« (power-dependence relation; Emerson 1962) mit dieser triadischen Beziehung verbunden ist.18 Es mag sein, dass Akteure auf beiden Seiten versuchen, die Maklerin, die ja zumeist auf die eine oder andere Weise ihren Preis hat, zu umgehen und direkten Zugang zueinander zu finden; doch die Maklerin verfügt ihrerseits über Möglichkeiten, ihre Position zu sichern, und wird diese Möglichkeiten nutzen, solange sie Profit aus dem Makeln zieht und dies ihr nicht bloß lästig wird. Es handelt sich also um eine umkämpfte Konstellationsstruktur, die dennoch oftmals langlebig sein kann. Um noch ein weiteres, wieder etwas anders gelagertes Beispiel einer Regelmäßigkeit anzuführen: Wenn in einer Region die Anzahl von Frauen im heiratsfähigen Alter deutlich geringer ist als die Anzahl heiratswilliger Män17 | Solange Paare nicht durch wechselseitige Beobachtung dazu animiert werden, Kinder in die Welt zu setzen, weil andere es tun oder tun wollen! Solche wie auch immer motivational begründeten Ansteckungseffekte gibt es bekanntlich schnell. 18 | Siehe Ronald Burt (1992) zu »strukturellen Löchern« (structural holes), der das Phänomen aus der Sicht des Vermittlungsakteurs betrachtet.

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ner, dann begrenzt das deren Heiratschancen und treibt sie in eine verschärfte Konkurrenz um knappe Partnerinnen hinein, egal, ob sie das überhaupt wissen oder nicht. Je nachdem, was für Konsequenzen die leer ausgehenden Männer daraus ziehen, dass sie registrieren müssen, dass ihre Erfolgschancen auf dem Heiratsmarkt geringer als erwartet sind, hat das andere Rückwirkungen auf die künftige Konstellationsstruktur. Wandern Männer ab, entspannt sich die Konkurrenz; vielleicht wandern sogar so viele ab, dass plötzlich ein Frauenüberschuss besteht, sodass die verbliebenen Männer sich auf einmal die Frauen aussuchen können. Bleiben die Erfolglosen hingegen in der Region und versuchen es immer weiter, führt das womöglich zu Abwerbeversuchen bei verheirateten Frauen und zu entsprechenden Belastungen und Instabilitäten der Ehen; oder die Frauen können sich vermehrt Liebhaber als »Zweitmänner« zulegen. Solange die in all diesen Beziehungen gezeugten Kinder auf beide Geschlechter gleichverteilt sind, verringert sich der Männerüberschuss von Geburtskohorte zu Geburtskohorte – erst recht, wenn männliche Embryos vermehrt abgetrieben würden, weil sie zu geringe Heiratschancen hätten.19 Diese Konstellationsstruktur ist also keine, die sich längerfristig identisch reproduziert, sondern die einen geordneten, vorhersagbaren Wandel des Verteilungsmusters durchliefe – auch das ist eine Regelmäßigkeit. Solche Regelmäßigkeiten in Gestalt von Beziehungs- und Verteilungsmustern bedürfen, wie die Beispiele zeigen, keiner sie repräsentierenden, wohl aber einer sie exekutierenden »agentiellen Kausalkraft«. Aus der Sicht eines bestimmten Akteurs, der diesen Strukturen unterworfen ist, wirken diese darüber auf ihn, dass bestimmte andere Akteure sich z.B. förderlich oder hinderlich einschalten oder mit ihm konkurrieren und ihn nicht zum Zuge kommen lassen oder von ihm gebraucht würden, aber nicht da sind. Diese anderen Akteure müssen, anders als die einem »Normkreis« angehörenden, selbst ebenfalls die betreffenden sozialen Strukturen nicht bewusstseinsmäßig präsent haben. Im »Normkreis« ist dies erforderlich, um Konformität und Devianz unterscheiden und entsprechend unterschiedlich behandeln zu können. Bei Strukturen, die Regelmäßigkeiten darstellen, genügt es, dass die sie exekutierenden Akteure tun, was sie, durch ihre jeweiligen Gelegenheiten kanalisiert, tun, um – was immer ihre Handlungsintentionen sein mögen – beiläufig ihre Exekutivfunktion wahrzunehmen. Jeder nutzt seine Gelegenheiten, soweit sie reichen, weil die je anderen ebenfalls entsprechend ihren Gelegenheiten handeln. Elder-Vass (2007a: 37-40) führt dies, hier Archer zustimmend, für organisierte Arbeitsteilung als eine Konstellationsstruktur vor, die Leistungsvorteile hat: »Dieses Vermögen mehr zu produzieren ist daher eine emergente kausale 19 | Das Umgekehrte geschieht nach wie vor in Indien, wo weibliche Embryos abgetrieben werden, weil ihr ökonomischer und sozialer Wert für die Eltern geringer ist als der von männlichen Nachkommen. So stellt sich dann wiederum ein Männerüberschuss ein.

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Kraft der organisierten Gruppe und kann nicht den individuellen Arbeiterinnen ursächlich zugeschrieben werden.« Wenn – wie in Adam Smiths (1776: 10f.) Beispiel der Stecknadelproduktion – alle den ihnen im Arbeitsteilungsgefüge zugedachten Beitrag erbringen, ist das Gesamtergebnis ungleich größer, als wenn jede Arbeitende jeden der einzelnen nötigen Arbeitsschritte erbringt. Der Leistungsvorteil gegenüber Individuen besteht aber selbst dann, wenn kooperatives Zusammenwirken keine Arbeitsteilung im Sinne eines Ineinandergreifens je spezialisierter Einzelbeiträge darstellt, sondern auf einer einfachen additiven Zusammenlegung von Beiträgen beruht: Fünf Personen können ein schweres Klavier tragen, wozu keine von ihnen einzeln in der Lage wäre. Die Frage nach der »kausalen Kraft sozialer Strukturen« beantwortet sich damit sowohl für Regeln als auch für Regelmäßigkeiten allgemein so, dass einerseits allein »agentielle Kausalkraft« die bewegende Kraft sozialer Dynamiken darstellt. Dies gibt ihr aber andererseits keinen ontologischen Vorrang im Sinne einer alleinigen oder zumindest höherstufigen Wirkmächtigkeit. Denn »strukturelle Kausalkraft« ist ein emergentes, also irreduzibles Ergebnis, wie Elder-Vass wiederum mit Blick auf »Normkreise« festhält: »Wenn Individuen Bestandteile sozialer Gruppen werden, verlieren sie nicht ihre individuellen Wirkkräfte. Vielmehr werden diese Kräfte kanalisiert und eingeschränkt durch die Relationen, in welchen die Individuen nun zueinander in der Gruppe stehen. Als Konsequenz davon besitzt die Gruppe, so wie sie durch die Relationen zwischen diesen Menschen strukturiert ist, als soziale Entität Wirkkräfte, die keinem der Individuen sonst zukommen würden. […] Die Gruppe hat emergente Kausalkräfte – Kräfte, die sie als solche besitzt, die jedoch nicht unabhängig sind von den Menschen und Relationen, aus denen sie besteht.« (2007b: 475) Das Gleiche, was hier für Akteure als Strukturrepräsentantinnen gesagt wird, gilt für Akteure als Strukturexekuteure. Um dies nur noch einmal an einem der obigen Beispiele zu verdeutlichen: Heiratswillige Frauen, die – ob sie den Tatbestand registrieren oder nicht – einer Überzahl heiratswilliger Männer gegenüberstehen, sehen sich mit anderen Konsequenzen ihres Handeln konfrontiert und handeln in Realisierung oder Antizipation dieser Konsequenzen entsprechend anders als Frauen, die mit einer Knappheit heiratswilliger Männer konfrontiert sind. Bis zu diesem Punkt läuft mein Kommentar darauf hinaus, dass ich die sehr wichtige Unterscheidung und sehr plausible Charakterisierung von »agentieller« und »struktureller Kausalkraft« von Elder-Vass in der Hinsicht für ergänzungsbedürftig halte, dass hinsichtlich der »kausalen Kraft sozialer Strukturen« nicht nur Strukturen als Regeln, sondern genauso Strukturen als Regelmäßigkeiten betrachtet werden müssen. Wie Letzteres – ganz auf der Li-

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nie von Elder-Vass – geschehen könnte, habe ich angedeutet.20 Im Folgenden werde ich, Elder-Vass weiterdenkend, seine Konzepte benutzen, um Grunderfahrungen von Sozialität zu charakterisieren.

3. V erfestigte und verflüssigte S ozialität Wer als Ego einer »agentiellen Kausalkraft« Alters unterliegt, erlebt diese als aktive und mit eigenem Willen ausgestattete Kraft, vor allem in Gestalt eines Beeinflusstwerdens durch alle Arten von Drohungen oder Anreizen vonseiten Alters (Schimank 2000: 247-258) sowie als ein Handeln, womit Alter ihm bestimmte eigene Handlungsmöglichkeiten unmittelbar eröffnet oder versperrt, z.B. einen Stuhl anbietet oder einen Teller wegnimmt. Eine »agentielle Kausalkraft« wird dabei als kontingent in dem Sinne eingestuft, dass sie immer auch anders könnte. Der auf bestimmte Weise handelnde Alter mag noch so starken strukturellen Zwängen in Gestalt von Regeln oder Regelmäßigkeiten unterworfen sein: Er kann die Regel verletzen, selbst wenn es für ihn die Todesstrafe bedeutet; und er kann sich völlig »unvernünftig« der »stummen Macht der Möglichkeiten« widersetzen, beispielsweise »über seine Verhältnisse leben«, wofür ebenfalls früher oder später die Strafe auf den Fuß folgt. Aus der Sicht Egos ist Alter auch als mächtiger Tyrann ein Wirkfaktor, der eine andere Qualität als Strukturen hat. Die »strukturelle Kausalkraft«, die auf jemanden wirkt, erlebt dieser hingegen als passive und willenlose, daher nicht-kontingente Wirkkraft nach Art der von Emile Durkheim (1895: 126) plastisch vor Augen geführten »Gußformen, in die wir unsere Handlungen gießen müssen«. Obwohl soziale Strukturen, wie gerade dargelegt, der beständigen Repräsentation oder Exekution durch Akteure und deren entsprechenden Aktivitäten bedürfen, stellt sich die »strukturelle Kausalkraft« so dar, dass sie gerade als in sich ruhende, statische Größe Handeln prägt, nämlich kanalisiert bzw. formt. 21 20 | Neuerdings spricht Elder-Vass auch von »Systemen« und führt insbesondere »den Handel mit Waren« auf Märkten an. Er beginnt mit der Feststellung: »Die ökonomischen Akteure sind in ihrem wirtschaftlichen Handeln zweifelsohne von normativen Strukturen […] geprägt« – also von sozialen Strukturen als Regeln. Elder-Vass führt jedoch ganz richtig fort: »Aber es sind auch andere Mechanismen am Werke; insbesondere solche, die blind gegenüber den Absichten und Vorstellungen der individuellen Akteure sind und durch ihre Wechselwirkungen systemische Effekte auf der Makro-Ebene erzeugen« (in diesem Band: 90). Weitere Überlegungen zu Märkten oder »Systemen« als Konstellationsstrukturen gibt es allerdings bislang von seiner Seite nicht. 21 | Eine weitere Frage, auf die ich hier nicht näher eingehen kann, wäre, ob sich die »strukturelle Kausalkraft« von Regeln anders darstellt als die von Regelmäßigkeiten.

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In diesen Unterschieden bereits impliziert ist auch, dass »agentielle Kausalkraft« strukturgestaltend wirken kann, »strukturelle Kausalkraft« somit das Objekt solcher Gestaltungsbemühungen werden kann. Dies ist wohlgemerkt auf beiden Seiten kein Muss: Weder tritt jedes Handeln mit einem Gestaltungsanspruch auf, noch gehen alle Strukturen auf Gestaltungshandeln zurück – im Gegenteil ist Gestaltung in beiden Hinsichten der weitaus seltenere Fall. Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Wirkweisen von »agentieller« und »struktureller Kausalkraft« kann man nun deren Zusammenwirken genauer betrachten und dabei zunächst in vereinfachender Zuspitzung zwei Grunderfahrungen von Sozialität unterscheiden:22 1. Wenn darin, wie Akteure ihre Situation erfahren, »strukturelle Kausalkraft« dominiert und die »agentielle Kausalkraft« entsprechend schwach ausgebildet ist, bewegen sie sich in einer verfestigten Sozialität. Sofern diese ihnen nicht den Entfaltungsspielraum gewährt, den sie eigentlich gerne hätten, erfahren die Akteure sich als mehr oder weniger ohnmächtig Unterworfene struktureller Zwänge. Verfestigte Sozialität kann aber nicht nur in einer solchen negativen Tönung erlebt werden, sondern auch positiv. Dann fühlen Akteure sich von den Strukturen getragen: Die Strukturen schützen oder befähigen oder bevorteilen sie, oder die Akteure sind im Sinne eines »Lob der Routine« (Luhmann 1964) ganz einfach froh darüber, dass sie in ihrem Handeln gelenkt werden und sich selbst nicht weiter den Kopf zerbrechen müssen. 2. Wenn umgekehrt in der Erfahrung der Akteure die »agentielle Kausalkraft« dominiert und die »strukturelle Kausalkraft« nur schwach ausgeZumindest dann, wenn Regeln wie z.B. Gesetze oder Organisationsvorschriften intentional gesetzt, also entschieden werden, ist das Ausmaß der erfahrenen Kontingenz noch relativ nahe bei »agentieller Kausalkraft«. Was entschieden wurde, kann auch umentschieden werden. Soziale Regelmäßigkeiten werden hingegen zwar in der Moderne als Menschenwerk eingestuft, aber dennoch als etwas, was sich in hohem Maße »hinter dem Rücken« der Akteure einstellt und dann eine quasi schicksalhafte Wirkmächtigkeit entfalten kann. Gleiches gilt allerdings für solche Regeln, die sich aus wiederholtem handelndem Zusammenwirken ergeben – siehe hierzu nochmals Berger/Luckmann (1966: 49-72). 22 | Ausgeblendet wird also die Frage, wie Sozialität jenseits dessen, wie sie von den Akteuren erfahren wird, tatsächlich beschaffen ist, und wovon abhängt, ob Erfahrungen und Faktizität eher zur Deckung kommen oder voneinander abweichen. Die abstrakte Folie, die der hier entwickelten Typologie zugrundeliegt, ist Orrin Klapps (1978) »Spiel des Lebens« von »Schließen« und »Öffnen«, was jeweils als »gut« oder »schlecht« bewertet werden kann.

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prägt ist, liegt für sie eine verflüssigte Sozialität vor.23 Auch sie kann von den involvierten Akteuren sowohl negativ als auch positiv bewertet werden. Letzteres ist dann der Fall, wenn Akteure eigene Zielsetzungen – insbesondere Gestaltungsziele – entwerfen und verfolgen können, ohne dabei durch strukturelle Einschränkungen limitiert zu werden. Negativ wird eine verflüssigte Sozialität dann erlebt, wenn Akteure sich Orientierungslosigkeit oder der Willkür anderer ausgesetzt sehen. Es handelt sich ersichtlich nicht darum, dass Sozialität entweder verfestigt oder verflüssigt ist, sondern um ein Spektrum von Aggregatzuständen, die kontinuierlich ineinander übergehen. Der Extremzustand verfestigter Sozialität ist Verdinglichung in dem Verständnis, das – Karl Marx generalisierend – Peter Berger und Thomas Luckmann (1966: 94-98) ausgearbeitet haben. Dann erscheinen Strukturen als alternativlos. Sie haben »die Festigkeit von Naturformen des gesellschaftlichen Lebens« (Marx 1872: 90) gewonnen, sodass – in den Worten Theodor W. Adornos – »die Menschen vereidigt sind auf die Welt, wie sie ist« (Bloch/Adorno 1975: 61). Dass die sozialen Strukturen kontingentes Menschenwerk, also Ausfluss von »agentieller Kausalkraft« sind, wird nicht mehr gesehen. In vormodernen Gesellschaftsstufen vollzog sich die Verdinglichung bestimmter Gesellschaftsstrukturen vor allem durch Verweis darauf, sie seien »Naturgegebenheiten, Folgen kosmischer Gesetze oder Offenbarungen eines göttlichen Willens.« (Berger/Luckmann 1966: 95) Die Moderne kann zum einen als wissenschaftlich erwiesen geltende Sachzwänge der Natur – einschließlich der Natur des Menschen und der Natur der Gesellschaft – anführen, auch wenn diese zumeist in gewissem Maße umstritten bleiben. Zum anderen kann durchaus konzediert werden, dass bestimmte Strukturen früher einmal anders gewesen sind, dass aber inzwischen Fortschritt als kulturelle Leitidee der Moderne unübertrefflich gut beschaffene Strukturen erzeugt habe, die deshalb sowohl unhintergehbar als auch unüberschreitbar sind. Nicht anders möglich heißt also in der Moderne vor allem: als unüberbietbar und daher, außer als unwillkommene Regression, als nicht mehr anders möglich angesehen. Hier zeigt sich die positive Bewertung von Verdinglichung – ebenso wie bei der Herleitung sozialer Strukturen aus dem Willen Gottes. Verdinglichung 23 | Das gilt, um dies noch einmal zu wiederholen, selbst dann, wenn Akteure einem übermächtigen Gegenüber unterworfen sind – als Extremfall siehe das Verhältnis von Sklavinnen zu ihrer Besitzerin. Denn deren »agentielle Kausalkraft« könnte sich – das ist eben ihre Kontingenz – im Prinzip von einem Moment auf den nächsten auch ganz anders ausrichten und etwa die Sklavinnen freilassen. Ein solcher Sinneswandel, wie unwahrscheinlich er auch sein mag, ist bei »struktureller Kausalkraft« nicht einmal denkbar.

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schafft dann eine selbstverständliche Passung zwischen den betreffenden sozialen Strukturen und dem Akteur, der sich in fragloser Gewissheit darüber befindet, woran er ist – und vor allem: was er will und soll. Negativ bewertete Verdinglichung liegt demgegenüber dann vor, wenn soziale Strukturen als alternativlos, aber ins je individuelle oder kollektive Unglück führend wahrgenommen werden – wenn z.B. der Kapitalismus als unabänderliche Wirtschaftsform, die unvermeidbar in die ökologische Katastrophe führt, eingestuft wird. Die damit einhergehende Art von Hilflosigkeitserfahrung aufseiten der Akteure ist Ohnmacht: Man weiß, was wie anders sein müsste – aber man sieht keinen gangbaren Weg, wie man die »versteinerten Verhältnisse« (Marx 1844: 381) in dieser Richtung verändern könnte. Am anderen Ende des Spektrums ist der Extremzustand verflüssigter Sozialität in der negativen Bewertung Anomie. Dynamiken handelnden Zusammenwirkens mäandern endlos herum, ohne strukturbildende Kraft zu erlangen (Scharpf 1997: 109), oder erodieren vorhandene und als positiv erlebte Strukturen, und die Akteure sind hilflos in Gestalt von Verunsicherung: Man weiß nicht nur nicht, was man tun kann, darf und müsste, um bestimmte Ziele zu erreichen – man weiß nicht einmal mehr, welche Ziele man sich überhaupt setzen sollte, weil man nicht mehr versteht, was eigentlich los ist:24 »There’s something happening/But you don’t know what it is.«25 Positiv bewertet stellt den Extremzustand verflüssigter Sozialität demgegenüber die »Praxis« der revolutionären Gruppe im Sinne Jean-Paul Sartres (1960) dar: den Enthusiasmus eines durch keinerlei Vorgaben eingeschränkten Elans des Neuanfangs. Man weiß, was man will, und alles erscheint als möglich – man muss es nur wollen! Hier findet das moderne Fortschrittsethos – siehe den Werbeslogan: »Nichts ist unmöglich!« – seinen unüberbietbaren Ausdruck als ein durch keinerlei Tradition ausgebremstes, seines Erfolgs sicheres Vorwärtsstreben. Damit lassen sich vier Grunderfahrungen von Sozialität durch die Akteure analytisch unterscheiden:

24 | Zu dieser Art von Hilflosigkeit, im Unterschied zur Hilflosigkeit in »versteinerten Verhältnissen«, siehe Schimank (2011). 25 | Bob Dylan (1965), »Ballad of a Thin Man«. Auf: »Highway 61 Revisited«.

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Abbildung 1

Positive Bewertung Elan des Neubeginns

Fraglose Gewissheit

Verfestigte Sozialität

Verflüssigte Sozialität

„versteinerte Verhältnisse“

Anomie Negative Bewertung

Ob Sozialität als eher verfestigt oder eher verflüssigt erlebt wird, variiert stark zwischen Gesellschaftsbereichen, aber auch innerhalb von Gesellschaftsbereichen und im Zeitverlauf. Was heute noch als total verdinglicht erfahren wird, kann morgen schon als ein zukunftsoffenes Spektrum von Möglichkeiten erscheinen, und umgekehrt – siehe nur die ehemalige DDR in den Augen vieler ihrer Bewohnerinnen noch Anfang 1989 und dann im Spätherbst desselben Jahres. Ebenso kann die Bewertung ein und desselben Aggregatzustands durch verschiedene Akteure differieren. Was dem einen willkommene Erwartungssicherheit bietet, empfindet die andere als bedrückende Einengung; und wo sich die eine über Gestaltungsspielräume freut, leidet der andere an Orientierungslosigkeit. Die sozialtheoretische Diskussion über die Übernahme und Gestaltung von Rollen (role taking und role making; Turner 1962) hat diese Bewertungsunterschiede, ohne dass sie den Diskutantinnen immer bewusst gewesen wären, gut vorgeführt (Schimank 2000: 55-69). Dem strukturfunktionalistischen Modell des Rollenhandelns wurde von interaktionistischer Seite ja nicht nur das kognitive Defizit vorgehalten, ein zu simples Bild zu zeichnen und Komplikationen wie Rollenkonflikte oder fehlendes Rollenwissen außer Acht zu lassen; damit einher ging vielmehr der normative Vorwurf, Rollenhandeln-

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de – Menschen! – als »kulturelle Trottel« (cultural dopes; Garfinkel 1967: 67 und 68) anzusehen, also als bloße Marionetten sozialer Strukturen, was mit dem Selbstanspruch moderner Menschen als selbstbestimmter Wesen nicht zusammenpasst. Umgekehrt wurde darauf verwiesen, dass die situative Findigkeit, die Rollenhandelnde immer wieder an den Tag legen müssen, um die Schwierigkeiten des Rollenhandelns zu meistern, keineswegs stets eine freudige Erfahrung von kreativer Selbstbestimmtheit darstellt, sondern oft als Mühe und Last erlebt wird, der man die Befolgung klarer Rollenerwartungen als »Entlastung« (Gehlen 1940) vorzieht. Es geht bei diesem Streit, aus der hier skizzierten Sicht betrachtet, nicht darum, dass eine von beiden Seiten Recht bekommt; man sollte vielmehr lernen, dass – und wann – beide Sichtweisen ihre Berechtigung haben. Elder-Vass’ Unterscheidung der zwei Arten von Kausalkräften ist jedenfalls ein guter Einstieg in eine eingehendere Betrachtung dieser verschiedenen Aggregatzustände der von den Akteuren erfahrenen Sozialität – in ihrer jeweiligen Ambivalenz.

4. K ritik von S ozialität Bewertende Erfahrungen, wie sie gerade schon angesprochen worden sind, stellen bereits einen Brückenschlag in Richtung Kritik dar. Kritik heißt, dass man soziale Tatsachen anhand von Kriterien daraufhin beurteilt, wie wünschenswert oder unerwünscht sie sind. Diese Kriterien können von der soziologischen Beobachterin als moralischer oder politischer Beobachterin an die Tatsachen herangetragen werden, womit sie sich freilich nicht an das Gebot der Werturteilsfreiheit hält. Beurteilungskriterien können aber auch aus dem beobachteten sozialen Geschehen selbst erwachsen, etwa aus den Standpunkten involvierter Akteure oder aus Funktionalitätsgesichtspunkten. Klar ist: Alle diese Kriterien sind in ihrer Berechtigung bestreitbar und damit kontingent. Das gilt selbst für funktionale Erfordernisse der Reproduktion bestimmter sozialer Strukturen. Denn ob diese Reproduktion als wünschenswert erachtet wird oder nicht, beruht auf einer Bewertung, die auch anders ausfallen kann. Will man beispielsweise eine kapitalistische Ökonomie aufrechterhalten, oder will man genau umgekehrt deren Beseitigung durch eine gezielte Auslösung von Dysfunktionalitäten zuarbeiten? Hierüber streiten die Geister bekanntlich seit bald zweihundert Jahren. Welche gesellschaftskritischen Linien lassen sich – bei all diesen Vorbehalten – dennoch aus den bisherigen Überlegungen ableiten?26 Es handelt sich 26 | Hier lässt sich an keine Vorarbeiten von Elder-Vass anknüpfen. Seine Überlegungen zur Kritikfähigkeit des Critical Realism gehen in eine andere und grundsätzlichere Richtung (Elder-Vass 2010b). Zunächst weist er alle Bemühungen eines ethischen

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bei den beiden Arten von Kausalkräften und den durch diese geprägten beiden Grunderfahrungen von Sozialität nicht um substanzielle Beschaffenheiten sozialen Geschehens, weshalb sie auch keine substanziellen Kritikmaßstäbe wie Freiheit, Gleichheit, Bedürfnisgerechtigkeit, Menschenrechte, Demokratie, Innovationsfähigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Integration etc. evozieren. »Agentielle Kausalkraft« und verflüssigte Sozialität auf der einen, »strukturelle Kausalkraft« und verfestigte Sozialität auf der anderen Seite verweisen vielmehr auf Formmerkmale des sozialen Geschehens und können entsprechend keine substanzielle Kritik, wohl aber eine Formkritik hervorrufen. Ich hatte bereits vermerkt, dass es hinsichtlich beider Grunderfahrungen von Sozialität eine positive und eine negative Bewertung durch involvierte Akteure gibt. Negative Bewertungen können als kritische Grundstimmungen eingestuft werden: Die »versteinerten Verhältnisse« und Anomie stellen gegensätzliche, aber gleichermaßen kritikwürdige Formen von Sozialität dar. Beide können ihnen unterworfene Akteure in Empörung, Auf begehren auf der einen, Resignation, Verzweiflung und letztlich Selbstmord auf der anderen Seite treiben. In »versteinerten Verhältnissen« sieht sich der Akteur unbeeinflussbaren strukturellen Kräften gegenüber, die ihn zwingen und zermalmen können; Anomie stürzt ihn in ein unberechenbares Chaos, in dem er durch das entfesselte Treiben anderer herumgewirbelt wird, sodass er jeglichen Halt verliert. Wo in den Augen der Akteure eine »strukturelle Kausalkraft« dominiert, die als schlecht bewertete soziale Zustände unablässig produziert und reproduziert, ist alsbald das, was »dem Menschen abhanden gekommen ist, die Fähigkeit […], ganz einfach das Ganze sich vorzustellen als etwas, das völlig anders sein könnte«. Dieses von Adorno konstatierte »abgesperrte Bewußtsein« (Bloch/Adorno 1975: 61) ist den davon Betroffenen gar nicht mehr präsent, sondern – in den legendären Worten Donald Rumsfelds – ein »unbekanntes Unbekanntes« (unknown unknown). Sie merken überhaupt nicht, dass sie sich in all ihrem Denken und Bewerten in das fügen, was die betreffende »strukturelle Kausalkraft« hervorbringt, sondern nehmen dies als unhinterfragbare Prämisse: So ist die Welt, ob wir es gut finden oder nicht! Und früher oder später finden die meisten es dann auch zumindest halbwegs gut, schon aus Gründen psychischer Dissonanzreduktion. Wer will sich schon dauerhaft sagen müsNa­t uralismus oder moralischen Realismus zurück. Sodann greift er diskursanalytische Überlegungen von Jürgen Habermas auf und kommt damit schließlich zu der Möglichkeit einer rationalen Debatte über Werte, die dann in dem Maße, wie eine Verständigung über ihre Geltung erreicht werden kann, als geteilte Kritikmaßstäbe dienen können. Er gelangt damit zu einem sehr ähnlichen Schluss, wie ich ihn – ebenfalls unter Rekurs auf Habermas – in entscheidungssoziologischen Überlegungen zur Rationalität von Zwecksetzungen gezogen habe (Schimank 2005: 52-68).

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sen, in einem Jammertal zu leben – jedenfalls dann, wenn es keine Hoffnung auf ein Paradies gibt, wo man für die irdischen Leiden entschädigt wird! Wird von den Akteuren umgekehrt eine »agentielle Kausalkraft« als dominant angesehen, die als schlecht bewertete Zustände hervorbringt, werden Strukturen als Regeln vermisst, die das Treiben der anderen bändigen und auf die rechte Bahn lenken könnten. Ein plastisches Beispiel stellt nicht nur ein böswilliger Diktator, sondern heutzutage für viele immer wieder der Finanzmarkt dar, auf dem sich die Kleinanlegerinnen als Spielball der Willkür und des erratischen Zusammenwirkens der »Großen« – Banken, Fondsgesellschaften, Zentralbanken und Regierungen – sehen. Hier gibt es kein Sichanfreunden der Kleinaktionärinnen mit dem Geschehen. Weil sie zu den »Kleinen« gehören, fühlen sie sich der Strukturlosigkeit ausgeliefert (Schimank 2011). Über das Bewerten hinaus prägen beide Vorstellungen von Sozialität auch, wie Kritik sich als eingreifendes Handeln versteht. Das kann man sich exemplarisch an einer Diskussion in der marxistischen Staatstheorie klarmachen, die Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre stattfand (Miliband/Poulantzas 1976). Auf der einen Seite standen Theoretiker wie Ralph Miliband (1975), der – der »Machteliten«-Forschung (Mills 1956) folgend – die Chancen für eine Gesellschaftsveränderung zugunsten der Interessen der gesellschaftlich Schlechtergestellten von historisch kontingenten Kräfteverhältnissen abhängig sah. Wenn Vollbeschäftigung herrscht, kann man die Unternehmerinnen nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch sozialpolitisch zu Zugeständnissen bringen; und umgekehrt sieht es in wirtschaftlich schlechten Zeiten aus. Hier steht die »agentielle Kausalkraft« im Rahmen von wechselnden »Macht-Abhängigkeits-Beziehungen« im Zentrum der Aufmerksamkeit. Auf der anderen Seite insistierten strukturalistische Marxisten wie Nicos Poulantzas (1968) da­rauf, dass durch »strukturelle Kausalkraft« – die Produktionsverhältnisse – vorgegebene Bedingungen einen ehernen Rahmen dessen setzen, was überhaupt im Sinne der »Ausgebeuteten« möglich ist. Solange die Strukturdynamiken nicht reif für Veränderungen sind, können diese nicht stattfinden, auch wenn noch so viel Aufruhr herrscht – allenfalls sind Augenblickserfolge möglich. Das theoretische Entweder-oder, das den Duktus dieser Auseinandersetzungen bestimmte, lässt sich auflösen. Je nach dem, ob Sozialität eher als verfestigt oder als verflüssigt eingeschätzt wird, gewinnt eine andere Form der Kritik die Oberhand. Das – sowohl für die soziologische Beobachterin als auch für die gesellschaftlich involvierten Akteure – unfruchtbare Gegeneinander von Strukturalismus auf der einen, Voluntarismus auf der anderen Seite lässt sich so überwinden. Beides kann – zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Situationen – richtig sein; und zumeist ist eine Mischung aus beidem richtig.

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Routine, Reflexivität und Realismus Margaret S. Archer1

Viele Sozialwissenschaftlerinnen räumen Routinehandeln nach wie vor eine zentrale Rolle in der Sozialtheorie ein und behaupten eine anhaltende Relevanz von Bourdieus Habitus. Zugleich erkennen die meisten aber auch die Bedeutung von Reflexivität an. In diesem Beitrag diskutiere ich drei verschiedene Ansätze, die versuchen, die beiden Konzepte miteinander kompatibel zu machen, und die ich im Folgenden »empirische Kombination«, »Hybridisierung« sowie »ontologische und theoretische Versöhnung« nennen möchte. Nicht nur erweist sich analytisch keiner dieser Versuche als erfolgreich, sondern ich zeige auch auf empirischer Grundlage, dass angesichts bedeutender Strukturveränderungen der entwickelten kapitalistischen Demokratien die Relevanz des Habitus zum Ende des 20. Jahrhunderts hin abzunehmen begann. Unter diesen Umständen stellen sich Habitusformen als ungeeignet heraus, den Menschen Orientierungen für ihre Lebensführung zu geben, und es entsteht ein Imperativ zur Reflexivität. Ich schließe mit dem Argument, dass selbst die Reproduktion sozialer Herkunftskontexte heute eine reflexive Aktivität ist und dass der hierzu am besten geeignete Reflexivitätsmodus – von mir als »kommunikative Reflexivität« bezeichnet – immer schwieriger aufrechterhalten werden kann. […] Der Critical Realism hat Sozialität nie völlig außerhalb von Handlungsfähigkeit (agency) verortet, denn sonst wären auch seine häufigen Verweise auf ideologische Mystifikationen und besonders auf epistemische Fehlschlüsse unverständlich. Diejenigen, die dem Critical Realism vorwerfen, er verschreibe sich einem monadischen Individualismus, in dem die soziale Welt komplett äußerlich bleibt (Dépelteau 2008, King 1999 und 2007), übersehen die Bedeutung, die er der erklärenden Kritik (explanatory critique) sowie der Ideologiekritik (Bhaskar 1979: 60-71, Collier 1994: 101-104 und 170-190) immer schon 1 | Anm. d. Hg.: Die Übersetzung basiert auf einer gekürzten Version von »Routine, Reflexivity and Realism«, erschienen 2010 in: Sociological Theory 28 (3), S. 272-303. Wir danken Sage für die Genehmigung zur Veröffentlichung in diesem Band.

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beigemessen hat. Dessen ungeachtet leistet die jüngste realistische Aneignung von Gewohnheit (habit) und Habitus vermutlich dieser Art Kritik Vorschub, indem sie mehr vom Sozialen unter die Haut der Akteure lässt. Meine eigene Version realistischer Sozialtheorie – der morphogenetische Ansatz (morphogenetic approach) – betrachtet den Enthusiasmus, den Realistinnen momentan dem habituellen Handeln entgegenbringen, aus zwei Gründen mit Skepsis. Diese fallen zusammen mit dem, was den morphogenetischen Ansatz ausmacht: (i) er ist ein explanatorischer Rahmen, um das Zusammenspiel von Struktur und Handlungsfähigkeit sowie deren Auswirkungen zu untersuchen und er ist (ii) ein Werkzeugkasten, mit dem sich die historische Emergenz bestimmter sozialer Formationen, institutioneller Strukturen und organisationeller Formen analytisch herausarbeiten lässt. Der morphogenetische Ansatz ist, anders ausgedrückt, einerseits ein Erklärungsprogramm (und als solches eine methodologische Ergänzung zum Critical Realism), andererseits jedoch auch ein Instrument zum Erfassen der Entwicklungspfade und Dynamiken sozialer Formationen. »Morphogenese« bezieht sich dabei auf »Prozesse, die dazu tendieren, die gegebene Form eines Systems, einer Struktur oder eines Zustandes weiter zu entwickeln oder zu verändern« (Buckley 1967: 58), »Morphostase« auf Prozesse in einem komplexen System, die dazu tendieren, dessen Form unverändert zu reproduzieren. Als explanatorischer Rahmen vertritt der morphogenetische Ansatz eine geschichtete Ontologie von Struktur (Archer 1995), Kultur (Archer 1988) und Akteur (Archer 2000), die jeweils emergente und irreduzible Eigenschaften und Kräfte (powers) besitzen – und erklärt jedes soziale Ereignis als ein Produkt ihres Zusammenspiels. Soziales Handeln, das entweder weitgehend reproduktiven oder überwiegend transformativen Charakter haben kann, basiert auf einem Ineinandergreifen von Struktur, Kultur und Handlungsfähigkeit; allerdings nicht so, dass diese voneinander untrennbar werden, wie in der »Zentralkonflationierung« (central conflation) (Archer 1995: 93-134) von Giddens, Bourdieu oder Beck, in der die Amalgamierung dieser drei Aspekte eine Untersuchung ihrer Wechselwirkung gerade verhindert. Auch handelt es sich um keinen Kodeterminismus, der auf einen dualistischen Ansatz (im wörtlichen Sinne von zwei Faktoren; Dépelteau 2008) hinausläuft, sondern immer nur um einen analytischen Dualismus. Der Kodeterminismus verfehlt unter anderem die doppelte Morphogenese, in der Akteure sich in genau jenem Prozess selbst verändern, in dem sie aktiv nach einem Wandel der sozialen Ordnung streben. Die doppelte Morphogenese kann als einer der wichtigsten nicht-meadianischen Wege betrachtet werden, auf denen das Soziale in uns hineingelangt. Insgesamt möchte ich erfassen, welche Formen des Zusammenspiels Morphogenese am einen Pol und Morphostase am anderen hervorbringen, sei es auf der Mikro-, Meso- oder Makroebene. Um zu diskutieren, ob dieser realis-

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tische Ansatz die Beziehung zwischen Gewohnheit und Reflexivität erhellen kann, wird es nötig sein, sich auf ihn als explanatorischen Rahmen ebenso wie als Analyseinstrument für historische Emergenz zu beziehen. […]

1. L assen sich C ritical R ealism und H abitus vor einen gemeinsamen K arren spannen ? Es gibt drei prinzipielle Gründe, warum kritische Realistinnen »Routinehandeln« nicht stark machen sollten: Erstens ist das soziale Leben in einem offenen System immer Kontingenzen unterworfen, weshalb die Akteure auf ihre soziale Umgebung schon per definitionem nicht komplett »routinisiert« reagieren können. Zweitens formt das Zusammenwirken einer Vielzahl generativer Mechanismen empirische Situationen oft auf unvorhersehbare Weise und fordert daher kreative Antworten von den Subjekten. Drittens beinhaltet die geschichtete Sozialontologie des Critical Realism eine Ebene emergenter personaler Eigenschaften und Potenziale (powers), wozu auch das menschliche Vermögen zu innovativem Handeln gehört. Es ist daher verwunderlich, dass Dave Elder-Vass (2007), Steve Fleetwood (2008) und Andrew Sayer (2005 und 2009) jeweils eigene Verteidigungen des Routinehandelns entwickeln, das sie dann mit Reflexivität zu vereinbaren suchen. Alle drei Autoren tendieren dazu, »soziale Bedingtheit« (social conditioning) über die Freiheitsgrade von Subjekten zu erheben, welche darin bestehen, durch reflexive Praktiken unvorhersehbare und heterogene Antworten (keineswegs völlig »voluntaristische«, die hier niemand verteidigt) zu erzeugen. Reflexivität habe ich zuerst eingeführt, um das vage Verständnis des Critical Realism von der tatsächlichen Funktionsweise »sozialer Bedingtheit« zu präzisieren (Archer 2003 und 2007), wobei mein Vorschlag lautet, die reflexiven Deliberationen der Menschen als Vermittlungsmechanismus (mediatory mechanism) zu fassen. Was Elder-Vass und Co. dem entgegensetzen, ist die gleichwertige Bedeutung eines alternativen Vermittlungsprozesses, nämlich »Habitualisierung« – daher auch die Anziehungskraft, die Bourdieu auf sie ausübt. Da sie als kritische Realistinnen jedoch ein transformatives bzw. morphogenetisches Modell sozialen Handelns befürworten, das Wandel, Innovation und Kreativität beinhaltet, ist es ihr Ziel, Habitus und Reflexivität miteinander in Einklang zu bringen. Sie machen daher auch einen großen Bogen um Bourdieus stärksten französischen Kritiker, Bernard Lahire (1998, 2002 und 2003): Dieser hat versucht, die überallgemeine Zuordnung von Habitusformen zu sozialen Kollektiven durch eine genaue Spezifizierung der Determinanten von Subjektivität auf der Ebene des Individuums zu ersetzen. Als ein explanatorisches Programm der Sozialpsychologie würde eine solche Zuordnung von Habitusformen der

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menschlichen Handlungsfähigkeit – abgesehen von bloßer Formbarkeit – sämtliche Eigenschaften und Potenziale absprechen. Andrew Sayer lehnt dies auch als »erniedrigenden Reduktionismus« (2009: 115) ab, und die anderen beiden Autoren schließen sich seinem Kompromissvorschlag an: »Ja, wir nehmen viele soziale Einflüsse bewusst wahr und vermitteln zwischen diesen, viele entgehen jedoch auch unserem Radar« (Sayer 2009: 122). Anders gesagt, die soziale Ordnung formt unsere Subjektivität teilweise intern und ist kein völlig externes Gebilde, das – wie beispielsweise in der Rational-Choice-Theorie – auf ein unabhängiges Innenleben (interiority) der Akteure trifft. Es ist nicht die Annahme, personale Subjektivität sei völlig unabhängig von sozialer Objektivität, die uns hier trennt. Sayer schreibt mir eine solche Behauptung auch an keiner Stelle zu und Fleetwood (2008: 195) zitiert eine Passage, in der ich sie explizit verneine: »Ohne die Privatheit unseres Innenlebens zu annullieren, ist unsere Sozialität in den anderen vorhanden, eben weil sie in uns vorhanden ist. Daher kann die innere Konversation auch nicht als völlig unabhängige Aktivität einer isolierten Monade dargestellt werden, die den äußeren sozialen Kontext so zur Kenntnis nimmt, als würde sie sich nach dem Wetter erkundigen« (Archer 2003: 117). Die Passage geht allerdings noch weiter: »Umgekehrt kann die innere Konversation aber auch all zu leicht vom Sozialen kolonisiert werden, so dass die Person ihrer kausalen Kräfte beraubt wird und diese wieder der Gesellschaft zufallen.« Anders gesagt, zielt die Rolle, die ich der Reflexivität zugewiesen habe, auf eine Balance zwischen zwei Extremen: einerseits der Auffassung von allem, was Menschen sind, als einer Gabe der Gesellschaft (Harré 1983: 20)2, andererseits der von ihrer sozialen Umwelt unberührten Monade der Moderne, wie im Fall des homo economicus und seiner Artgenossen. Nur auf Grundlage einer richtigen Balance zwischen personalen, strukturellen und kulturellen emergenten Wirkkräften lässt sich genau erklären, was Menschen tun – und nicht mittels Korrelationen zwischen Gruppenmitgliedschaft und Handlungsmustern, die notwendigerweise wenig Erklärungskraft haben. Um sowohl den Variationen als auch den Regelmäßigkeiten in den Handlungsweisen von ähnlich situierten Akteuren Rechnung zu tragen, müssen wir unsere Singularität als Personen anerkennen, ohne dabei zu verkennen, dass unsere Sozialität essenziell ist, um überhaupt als menschliche Personen erkennbar zu sein.

2 | »Eine Person ist kein natürliches Objekt, sondern ein kulturelles Artefakt« (Harré 1983: 20).

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2. D rei V ersuche , H abitus und R efle xivität zu kombinieren

Empirische Kombination Es besteht eine beträchtliche Differenz im Ausmaß der theoretischen Angleichung, die Realistinnen als notwendig erachten, damit Habitus und Reflexivität als begriffliches Tandem funktionieren können. Am einen Extrem plädieren Fleetwood (2008) und Sayer (2009) im Wesentlichen für eine empirische Kombination, die von Bourdieus und meinem eigenen Denken lediglich moderate theoretische Zugeständnisse erfordert. Einerseits wollen beide, dass ich die dauerhaften Einflüsse der Sozialisation großzügiger anerkenne: dass diese bei Akteuren aus unteren Klassenlagen oder weiblichen Geschlechts die Funktion von Scheuklappen hat, wenn es darum geht, welche Arten von Berufen überhaupt in Erwägung gezogen werden (Fleetwood 2008); oder dass, wenn sich jungen Erwachsenen neuartige, in der Elterngeneration noch nicht existente Berufsperspektiven eröffnen, diejenigen mit privilegierterem sozialem Hintergrund »exakt diesen Sinn für Selbstsicherheit, Engagement und Berechtigung an den Tag legen, der den Habitus der Mittelklasse markiert« (Sayer 2009: 123). Beide behaupten also, dass familiale Sozialisation immer noch so wirkt wie den größten Teil des 20. Jahrhunderts hindurch. Dies ist eine empirische Frage, die sich für spezifische Gruppen an einem gegebenen Ort unterschiedlich beantworten lässt. Allerdings gibt es Anzeichen (die später diskutiert werden), dass Sozialisation nicht als eine Konstante behandelt werden kann und dass dieser Prozess, besonders für diejenigen, die jetzt gerade das Erwachsenenalter erreichen, heute wenig Ähnlichkeit mit den Praktiken hat, die den größten Teil des letzten Jahrhunderts hindurch andauerten. Bourdieu mag also faktisch mehr oder weniger richtig gelegen haben, was die Zeitspanne betrifft, auf die sich der Großteil seines Werkes bezieht. Fraglich ist jedoch, ob der einsozialisierte Habitus auch in den letzten beiden Jahrzehnten eine Anpassung zwischen Dispositionalität und Positionalität generiert hat. Es lässt sich nämlich durchaus einwenden, dass die jungen Menschen des neuen Jahrtausends nicht länger Bourdieus Leute sind, weil sie nicht länger in Bourdieus Welt leben. Sowohl Sayer als auch Fleetwood räumen der Reflexivität eine größere Rolle ein als Bourdieu, da sie anerkennen, dass Menschen Entscheidungen treffen, und dies immer mehr angesichts einer zunehmend morphogenetisch verfassten sozialen Ordnung. Obwohl eine solche Aufpäppelung mit reflexiven Deliberationen den Vorteil hat, sein Denken vom Vorwurf des Determinismus (Alexander 1994) zu befreien, ist nicht klar, ob Bourdieu dieses Versöhnungsangebot angenommen hätte. Trotz seiner »späten Zugeständnisse« bestand er weiterhin darauf, dass Entscheidungen, wie wir sie tatsächlich treffen, von der

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unsichtbaren Hand des Habitus gelenkt werden: »Dies ist eine entscheidende Einschränkung; es ist der Habitus selbst, der eine derartige Wahl dirigiert. Wir können immer sagen, dass Individuen eine Entscheidung fällen, so lange wir nicht vergessen, dass sie die Prinzipien des Entscheidens nicht (frei) wählen« (in Wacquant 1989: 45). Fleetwoods und Sayers empirisches Argument für die Kombination von Habitus und Reflexivität beruht auf einem Fortbestehen weiter Bereiche des Routinehandelns, sogar dann, wenn sich Morphogenese einstellt. Für Fleetwood heißt das: Es folgt daraus nicht, dass ein offenes, morphogenetisches System keinen Platz für Routineschablonen oder etablierte Muster hätte, und/oder dass es sich zu schnell entwickelte, als dass sich institutionelle Regeln verfestigten und mit einigem Erfolg Gewohnheiten prägen könnten. […] Manche Intentionen von Akteuren beruhen nicht auf bewussten Entscheidungen und die beste Erklärung, die wir für solche Absichten haben, ist, dass sie in Gewohnheit verankert sind. (2008: 198)

Gleichermaßen beharrt Sayer darauf, dass »der Habitus weiterhin eine große Rolle spielt, sogar inmitten kontextueller Diskontinuität« (2009: 122). Damit tritt er meiner Argumentation entgegen, dass wir es mit einer fortschreitenden Entroutinisierung des Lebens zu tun haben und dass der Habitus solchen Gesellschaften zugeordnet werden sollte, die stabiler sind als unsere und die für seine Herausbildung nötige »kontextuelle Kontinuität« aufweisen. Entsprechend fährt er fort: Bisher haben die meisten Kinder noch immer genügend Kontinuität in ihren Beziehungen und Erfahrungen, um sich diesen anzupassen – das vertraute Zuhause, die träge Routine der Schule, die täglichen Erinnerungen an ihre klassen- und geschlechtsspezifischen Positionierungen. Während es vermutlich eine Zunahme an kontextueller Diskontinuität gibt, existiert immer noch jede Menge Stabilität und die Kinder könnten kaum kompetente soziale Akteure werden, würden sie nicht einen Sinn für die vertrauten Spiele entwickeln. (2009: 122)

Fleetwood und Sayer begnügen sich also beide mit einer empirischen Teilsteils-Formel, die hinreichend Veränderung zulässt, um reflexive Deliberation unausweichlich erscheinen zu lassen, zugleich aber auch ausreichend Kontinuität, sodass die Herausbildung von routinisierten Reaktionsweisen immer noch realistisch ist und in weiten Bereichen des Lebens reproduziert wird. Empirische Behauptungen können nur empirisch entschieden werden. Während meiner Längsschnittstudie mit Bachelorstudierenden (Archer 2012) antwortete eine Befragte, als sie mit Daten zu Kindern konfrontiert wurde, die aufgrund von Wiederverheiratungen von vier bis sechs Elternteilen großgezogen worden

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waren: »Naja, die stammen ja alle aus der Mittelklasse, oder?« In meinen Augen setzt das ein Fragezeichen hinter die Annahme, im Sozialisationsprozess würden Ähnlichkeiten der Klassenposition Unterschiede von Muttersprache, Herkunftsland, Religion und politischer Einstellung automatisch übertrumpfen.

Die Hybridisierung von Habitus und Reflexivität »Hybridisierung« (Adams 2006) beinhaltet mehr als die einfache empirische Annahme, dass in manchen Situationen der Habitus Handlungen quasi unbewusst lenkt, während in anderen auf selbstbewusste Reflexion zurückgegriffen wird. Genau genommen wird durch die Einführung der Idee eines »reflexiven Habitus« eine begriffliche Dehnung vorgenommen. Dadurch soll Bourdieus dispositionale Analyse weitergetrieben werden, trotz gegenwärtiger positionaler Transformationen. Im Hybrid, das Paul Sweetman vorgeschlagen hat, entsprechen solche gesellschaftlichen Veränderungen jenen, die bereits die Theorie der »reflexiven Moderne« (Beck et al. 1996) umreißt, und sein Ziel ist es, sie mit den erweiterten Praktiken der Reflexivität zu verbinden – welche jetzt selbst als ein neuer Habitus charakterisiert werden: Die Annahme ist hier, dass unter den Bedingungen der Spät-, Hoch- oder reflexiven Moderne endemische Krisen […] zu einem mehr oder weniger permanenten Bruch in der sozialen Position, zu einem mehr oder weniger dauerhaften Auseinandertreten von Habitus und Feld führen. In diesem Kontext ist Reflexivität nicht länger Ausdruck eines temporär ausgesetzten Passungsverhältnisses zwischen Habitus und Feld, sondern wird selbst habituell und so in den Habitus inkorporiert in Form des flexiblen oder reflexiven Habitus. (Sweetman 2003: 538 [Hervorh. d. Verf.])

Der Kompromissbegriff des »reflexiven Habitus« vermischt zwei Konzepte, die Bourdieu konsequent auseinanderhielt: die halb-unbewussten Dispositionen, die den Habitus konstituieren und Reflexivität als darauf bezogenes Selbstbewusstsein. Darüber hinaus stellt sich die Frage, was es bringt, hier von einem »Habitus« zu sprechen? Gemeint ist ja nichts anderes, als dass Menschen jetzt eine Disposition dazu haben, sich reflexiv auf ihre Umstände zu beziehen und möglicherweise eher auf Veränderungen denn auf Stabilität vorbereitet zu sein. Wenn dem so ist, dann muss »Vorbereitetsein« transitiv verwendet werden: Gefordert ist ein Zustand der Vorbereitung auf etwas Bestimmtes, andernfalls kann dieser hybride Habitus keine dispositionalen Handlungsorientierungen bereitstellen. Ohne diese reduziert sich das Konzept auf die Aussage, die meisten Menschen würden jetzt erwarten, nachdenken zu müssen, was sie angesichts neuartiger Situationen tun sollen. Das mag richtig sein, aber es ist schwer vorstellbar, wie die Bezeichnung dieser Erwartung als »Habitus« irgendetwas zur Erklärung entweder von Denkprozessen oder Handlungswei-

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sen beiträgt. Da der Habitus für Bourdieu die Präadaption von Menschen an ihre Lebensumstände unterstrich, ebenso wie seine halbbewusste, quasiautomatische Operationsweise – was Sweetman sämtlich akzeptiert –, gibt es kaum einen weniger geeigneten Begriff, um bewusste Überlegungen zu charakterisieren, die zu neuartigen Entscheidungen führen. Sweetman behauptet, dass »bestimmte Formen des Habitus inhärent reflexiv sein können und dass der flexible oder reflexive Habitus auf Grund verschiedener sozialer und kultureller Verschiebungen immer weitere Verbreitung findet und an Bedeutung gewinnt« (2003: 529). Was aber meint hier »inhärent«, hat doch Bourdieu die Herausbildung eines jeden Habitus konsequent als Ergebnis von Sozialisation betrachtet? Welche Art der Sozialisation kann auf das Unvorhersehbare und Neue vorbereiten? Es scheint sich hier um eine contradictio in adjecto zu handeln, es sei denn, wir gleiten in Leerformeln ab – in etwas von der Art des intransitiven Mottos der Pfadfinder: »Allzeit bereit!« Es gibt nur zwei Wege aus dieser Sackgasse. Den einen Weg schlägt Mouzelis ein, indem er in Übereinstimmung mit Bourdieu versucht, eine Antwort in Begriffen der Sozialisation zu finden. Deren Resultat sei die Entwicklung einer reflexiven Disposition, die nicht durch Krisensituationen erworben wird, sondern durch eine Sozialisation, die auf die Bedeutung des »Innenlebens« oder die Notwendigkeit »seine eigenen Ziele zu formulieren« fokussiert. Zum Beispiel kann das Aufwachsen in einer religiösen Gemeinschaft, die Meditation und innere Kontemplation betont, dazu führen, dass die Mitglieder dieser Gemeinschaft eine Form des reflexiven Habitus erwerben, der nicht mit Widersprüchen zwischen Dispositionen und Positionen verbunden ist. (Mouzelis 2009: 135)

Obwohl solche Erfahrungen in der Tat »Meta-Reflexivität« (die Reflexion auf die eigenen Reflexionen) fördern, scheint die Lebensweise, welche »apophatische« im Gegensatz zu »kataphatischer« Reflexivität (Mouzelis 2010) begünstigt, weder in westlichen noch östlichen religiösen Gemeinschaften weit verbreitet, jedenfalls nicht genug, um als Modell für gegenwärtige säkulare Sozialisationsprozesse außerhalb dieser Gemeinschaften dienen zu können. Der andere Weg besteht darin, nicht länger zu behaupten, ein solcher »reflexiver Habitus« werde über Sozialisation erworben, sondern stattdessen anzuerkennen, dass er aus den Lebenserfahrungen der Individuen selbst hervorgeht. Die für »reflexive Modernisierung« konstitutiven Veränderungen werden dann als etwas angesehen, das »zu einer kontinuierlichen und tiefgreifenden Reflexivität beiträgt, die selbst habituell wird, auch wenn diese Idee zunächst paradox erscheinen mag« (Sweetman 2003: 538). Was aber fügt die Bezeichnung »habituell« der Aussage hinzu, Reflexivität sei »dauerhaft und tiefgreifend«, angesichts der Tatsache – der auch der Autor zustimmt –, dass sie nicht Motor habituellen Handelns sein kann? Wenn der Begriff der Reflexivität kei-

Routine, Reflexivität und Realismus

nerlei Verbindung mehr zu bestimmten Handlungsverläufen aufweist, dann wird aus einem Paradox ein Widerspruch. So schreibt beispielsweise Ostrow, dass es »keinen klaren Weg von Dispositionen zu Verhaltensweisen gibt. Was existiert, ist ein gedehntes Feld (protensional field) bzw. eine gedehnte Perspektive, die alle Situationen kontextualisiert und den vorobjektiven Rahmen der Praxis setzt, ohne irgendwelche ausdrücklichen Regeln oder Codes, die uns automatisch und mechanisch ›sagen‹, was zu tun ist« (2000: 318). Was für eine Perspektive aber kann sämtliche Situationen, besonders unvorhersehbare und unbeabsichtigte, kontextualisieren? Allein Fatalismus erfüllt diese Anforderung, impliziert jedoch eine Vorstellung passiver Akteure, die jegliche Steuerung ihres eigenen Lebens aufgegeben haben. Das ist ebenso unvereinbar mit Becks Idee, innerhalb einer entstrukturierten sozialen Ordnung »sein eigenes Leben zu führen« (making a life of one’s own), wie mit meiner eigenen Variante, inmitten morphogenetischer Restrukturierung »seinen Weg durch die Welt zu gehen« (making one’s way through the world).

Ontologische und theoretische Versöhnung Die Versöhnung, die Dave Elder-Vass vorschlägt, bringt eine radikalere theoretische Revision mit sich, um Habitus und Reflexivität kompatibel zu machen (für eine Revision, die allein den Habitus begünstigt, vgl. Dalton 2004). Elder-Vass’ Argument beinhaltet mehrere Schritte, nämlich: (i) dass Bourdieus Konzeption der sozialen Ordnung im Allgemeinen und der Akteurspotenziale (agential powers) im Besonderen aus der »Zentralkonflationierung« (central conflationism) herausgelöst und mit einer emergentistischen Ontologie verknüpft wird; (ii) dass der Einfluss von Reflexivität eingegrenzt wird auf Veränderungen, welche die Subjekte an ihrem Habitus vornehmen. Elder-Vass geht somit davon aus, dass wichtige ontologische »Anpassungen« Bourdieus Werk betreffen, solche sozialtheoretischer Art hingegen meines. Auf dieser Grundlage kommt er dann zu seinem zentralen Argument, nämlich (iii) dass in einer »emergentistischen Handlungstheorie« »die meisten unserer Handlungen sowohl durch unseren Habitus als auch unsere reflexiven Deliberationen kodeterminert sind« (2007: 335). Meine Entgegnung auf (i) lautet, dass es sich um eine ungerechtfertigte Interpretation von Bourdieus eigenem Denken handelt; auf (ii), dass eine weitverbreitete Konfusion zugrunde liegt bezüglich der verschiedenen Wissensformen, die zur kompetenten Teilnahme an Spielen in den drei Ordnungen der Realität – der natürlichen, der praktischen und der sozialen – erforderlich sind; und auf (iii), dass die vorgeschlagene Versöhnung nicht erfolgreich gerechtfertigt wird. Allerdings steht es dem Autor selbstverständlich frei, diese Versöhnung als eigene Theorie zu präsentieren, deren Verdienste separat zu beurteilen sind, und nicht als Abkömmling einer Zwangsverheiratung.

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Können Habitus, Emergenz und Reflexivität miteinander auskommen? Wenn Struktur, Kultur und Handlungsfähigkeit als wechselseitig konstitutiv betrachtet werden, merkt Elder-Vass korrekt an, lässt sich das nicht mit Reflexivität vereinbaren, da reflexive Deliberationen von einer klaren Subjekt-ObjektUnterscheidung abhängen. Reflexivität wird durch »Zentralkonflationierung« gerade ausgeschlossen, da diese die Eigenschaften und Wirkkräfte, die Strukturen und Akteure jeweils besitzen, miteinander vermengt. Mouzelis zufolge ist es nur unter der Voraussetzung einer Aufrechterhaltung der Unterscheidung von Subjektivem und Objektivem möglich, auf theoretisch konsistente Weise mit Fällen umzugehen, in denen situierte Akteure auf Distanz zu sozialen Strukturen gehen, die ihnen gegenüber relativ äußerlich sind, um mehr oder weniger rational das Maß an Zwang und Ermöglichung, das diesen Strukturen eingeschrieben ist, das Für und Wider, die Chancen des Erfolgs oder des Scheiterns bestimmter Strategien etc. abzuwägen. (2009: 138)

Elder-Vass stimmt dem zu und als einschlägiger Verfechter emergenter Eigenschaften (2005) wendet er sich gegen Bourdieus Formulierung von der »Internalisierung der Externalität«, die zur Beschreibung von »strukturierten Strukturen [führt], die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren« (Bourdieu 1980: 98). Dies sei ein »ontologischer Fehler«, weil es dann unmöglich wird, »zwischen einer sozialen Struktur und ihren Konsequenzen auf unsere mentalen Zustände zu unterscheiden« (Elder-Vass 2007: 334). Um Platz für Reflexivität zu schaffen, ist es daher entscheidend, Bourdieu und den Habitus von der »Zentralkonflationierung« zu distanzieren. Die Frage ist allerdings, ob Bourdieus Denken eine derartige »Anpassung« an eine emergentistische Ontologie verträgt oder nicht. Kann insbesondere seine Theoriebildung in Sozialer Sinn (1980) auf diese Weise angeglichen werden? Es handelt sich hier um einen Text, in dem Reflexivität kaum erwähnt wird; dennoch stützt sich Elder-Vass vor allem auf diese Arbeit. Auch wenn es stimmt, dass sich Bourdieu nicht mit ontologischen Debatten aufgehalten hat, heißt das nicht, dass er frei von ontologischen Festlegungen (commitments) gewesen wäre. Ontologische Festlegungen beinhalten Urteile darüber, was soziale Realität konstituiert bzw. nicht konstituiert, und regeln somit, welche Arten von Begriffen zugelassen werden können. Bestimmte Begriffe sind dann als Bestandteil von Erklärungen ausgeschlossen, genauso wie Atheistinnen ihr Wohlergehen keiner göttlichen Vorsehung zuschreiben können. Eine Erklärung ist für die Theoretikerin inakzeptabel, wenn sie Begriffe enthält, deren Referenzobjekte in der sozialen Realität nicht existieren (Archer 1998). Bourdieus ontologische Festlegungen in Sozialer Sinn sind so stark, dass sie aufgrund ihrer zwang-

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haften Vermengungen ( forceful elisionism) keinen Raum für Emergenz lassen – womit auch Begriff und Praxis der Reflexivität außen vor bleiben müssen. Die stärkste von Bourdieus ontologischen Überzeugungen kommt im ersten Satz des Buches zum Ausdruck: »Von allen Gegensätzen, die die Sozialwissenschaften künstlich spalten, ist der grundlegendste und verderblichste der zwischen Subjektivismus und Objektivismus« (1980: 49). Am einen Pol kann eine subjektivistische Phänomenologie des Alltagslebens über eine Beschreibung gelebter Erfahrung nicht hinaus gelangen und schließt eine Untersuchung ihrer objektiven Möglichkeitsbedingungen aus. Kurz, sie kann nicht zur »ontologischen Komplizenschaft« (Bourdieu und Wacquant 1992: 42) von Habitus und Milieu vordringen und den Schritt von der Alltagsepistemologie zur »Welt« machen, »die sie determiniert«. Wenn am anderen Pol akademische Sozialwissenschaftlerinnen sich vorgeblich der Objektivität verschreiben, dann verdecken sie den notwendig perspektivischen Charakter ihrer Erkenntnisse – weshalb ihre »objektiven« Ansätze mit Anführungszeichen versehen werden müssen (Bourdieu 1980: 52 und 203). Weil es keinen »Blick von Nirgendwo« (Nagel 1986) gibt, kann am ehesten noch eine Art gadamersche »Verschmelzung der Horizonte« (Gadamer 1960: 383) erreicht werden. Für akademische Beobachterinnen gilt: »Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ›Erkennen‹; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ›Begriff‹ dieser Sache, unsre ›Objektivität‹ sein« (Bourdieu 1980: 54)3. Ein Kriterium wie das der kritisch-realistischen »Begründungsrationalität« ( judgemental rationality), das unsere unvermeidliche »epistemische Relativität« korrigieren könnte, existiert hier nicht. Dieselbe epistemische Schranke hindert die Subjekte des alltäglichen Lebens (lay subjects), »reine Beobachter« zu sein oder zu werden, fähig, die »ungeschminkte Wahrheit« über die eigenen, objektiven sozialen Lebensbedingungen zu erkennen oder zu kommunizieren: »Dieses aus der Objektwelt hervorgegangene ›Subjekt‹ bezieht nicht wie eine Subjektivität gegen eine Objektivität Stellung: die objektive Welt besteht aus Objekten, die das Ergebnis von Objektivierungsoperationen sind, welche nach denselben Strukturen strukturiert sind, wie sie der Habitus auf sie anwendet« (ebd.: 142). Die Konsequenz ist eine unentwirrbare Verflechtung von Ontologie und Epistemologie, für die Beobachterin genauso wie für die Teilnehmerin, womit Subjektivismus und Objektivismus untrennbar werden – das Markenzeichen der Zentralkonflationierung (Archer 1995: 93-132), die dem kulturellen und strukturellen »Emergentismus«, mit dem Elder-Vass sie »versöhnen« möchte, grundsätzlich feindselig gegenübersteht. 3 | Anm. d. Hg.: Das Zitat ist Teil eines längeren Nietzsche-Zitats, auf das sich Bourdieu zustimmend bezieht.

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Bourdieu beharrt jedoch nicht nur auf der Untrennbarkeit von Subjektivem und Objektivem bzw. auf dem Ziel, die Kluft zwischen beidem zu überwinden, sondern er spricht sich – gemeinsam mit Giddens – auch für eine Zentralität der Praxis aus. Seine Praxiskonzeption steht allerdings einer Auffassung von Alltagssubjekten, die aus Gründen handeln, die zu Ursachen ihrer Handlungen werden, gleichermaßen feindselig gegenüber. Für Bourdieu »trotzt« die »Logik der Praxis« der »logischen Logik« (1980: 167), da diese »Logik des Ungefähren und der Verschwommenheit« (ebd.: 159) nur »versteht um zu handeln« (ebd.: 167). Das impliziert ein Reagieren auf praktische Anforderungen in situ und damit Antworten, die nicht in das akademische »Universum des Diskurses« übersetzt werden können. Bourdieu sagt ja: »Wenn man keine andere Form des Handelns als die rationale Handlung oder die mechanische Reaktion anerkennen kann, [verbaut man sich] ein Verstehen der Logik all jener Handlungen, die vernünftig sind, ohne deswegen das Produkt eines durchdachten Plans oder gar einer rationalen Berechnung zu sein« (ebd.: 95). ElderVass scheint hier einem Missverständnis aufzusitzen. Er sieht diese Aussage als »Bestätigung« für Bourdieus »Akzeptanz, dass es manche Handlungen gibt, die tatsächlich das Produkt eines durchdachten Plans sind« (Elder-Vass 2007: 335). Nicht nur sagt Bourdieu im obigen Zitat das Gegenteil (der Nachdruck des Wortes »ohne«), sondern das »Vernünftige« ist in den sens pratique eingeschrieben und wird im Handeln ausgedrückt, nicht in persönlich artikulierbaren »Gründen«. Es ist die kontextuelle Einbettung, über welche die Subjekte ihren Handlungen Sinn verleihen: »Die Handelnden [können] den modus operandi zur Erzeugung der richtigen rituellen Praktiken nur dann hinreichend beherrschen […], wenn sie ihn praktisch fungieren lassen, also in der Situation und bezogen auf praktische Funktionen« (Bourdieu 1980: 165). So ist es der sens pratique, den Bourdieu der persönlichen Planung (oder instrumenteller Rationalität) als »vernünftig« gegenüberstellt. Der sens pratique schließt »den Rekurs auf sich selbst« indessen aus (ebd.: 167); das Subjekt fokussiert auf das »knowing how«, nicht auf das »knowing that« – oder »why«. Es folgt daraus, dass das Subjekt unfähig zur Reflexivität ist: »Schon weil er über Begründung und Daseinsgrund seiner Praxis befragt wird und sich selbst befragt, kann der Handelnde das Wesentliche nicht mehr vermitteln: das Eigentümliche der Praxis ist gerade, daß sie diese Frage gar nicht zuläßt« (ebd.: 165). Die Antwort ist zu tief in der historischen und praktischen Genese der Praktiken sowie der Logik der Praxis begraben, als dass sie je vom Subjekt wieder exhumiert werden könnte. So reagieren solche Subjekte »nicht auf ›objektive Bedingungen‹, sondern auf die Bedingungen, die [sie] durch die gesellschaftlich konstituierten Schemata [erfassen], die [ihre] Wahrnehmung ordnen« (ebd.: 178). In vielen Hinsichten hat Bourdieu nie aufgehört, Anthropologe zu sein, und der sens pratique ist ein enger Verwandter der Azande (Evans-Pritchard 1937: 195). So verstrickt waren diese in ihre eigene ko-

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härente Kultur, dass sie weder ihr eigenes Denken hinterfragen noch die erforderliche Distanz einnehmen konnten, um auf ihr eigenes Tun zu reflektieren.

Sind unsere Handlungen durch Habitus und Reflexivität kodeterminiert? Wenn Elder-Vass zur sozialtheoretischen »Versöhnung« der beiden Sichtweisen in Hinblick auf die Beziehung zwischen menschlichem Handlungsvermögen (human causal powers) und Handeln übergeht, dann ist es am morphogenetischen Ansatz, entgegenkommend zu sein. Tatsächlich ist dieser für die vorgeschlagenen theoretischen »Angleichungen« auch nicht zugänglicher, als es Bourdieu für ontologische Revisionen gewesen wäre. Obwohl Elder-Vass zustimmt, »dass wir Menschen, wie Archer herausstellt, eigene emergente Handlungskräfte (emergent powers) besitzen« (2007: 335), bleibt er, soweit es um Reflexivität geht, auf halbem Wege stecken. Die Versöhnung der beiden Perspektiven beruht auf Elder-Vass’ eigener Theorie, dass »viele und vielleicht sogar die meisten unserer Handlungen sowohl durch unseren Habitus als auch unsere reflexiven Zielsetzungen kodeterminert sind« (ebd.: 335). Meine Ablehnung der Kodeterminationsthese liegt in der Prämisse begründet, auf der Elder-Vass’ »Theorie des menschlichen Handelns« beruht, d.h. in »den emergenten Wurzeln unseres Vermögens zu Handeln« (2007: 336). Diese Prämisse besteht in der Gleichsetzung von »Handeln« und »sozialem Handeln«. Colin Campbell (1996) hat nachgezeichnet, wie der Unterschied zwischen beiden in soziologischen Texten eingeebnet wurde, um somit einem soziologischen Imperialismus den Weg zu bahnen. Dieselbe Prämisse wird von Bourdieu direkt übernommen, wenn er den »Sinn für das Spiel«, verkörpert im Habitus, in undifferenzierter Weise auf alle drei Realitätsordnungen bezieht.4 Dies verwischt jedoch wesentliche ontologische Unterschiede, auf die sich verschiedene Wissensformen gründen, die menschliche Subjekte in jeder der drei Ordnungen entwickeln können – ein Zusammenhang, den ich in Being Human (Archer 2000) ausführlich diskutiert habe. Bourdieu ging über diese Unterschiede in typisch meadianischer Weise mit der »kolonisierenden« Annahme hinweg, dass »die ganze Gruppe […] zwischen Kind und Welt [tritt]« (Bourdieu 1980: 141). Dies macht automatisch alles Handeln zu sozialem Handeln und verleiht dem Habitus epistemologische Hegemonie in allen Ordnungen der Realität. Demgegenüber vertrete ich die Auffassung, dass unsere Beziehungen zu den drei Ordnungen zu jeweils eigenständigen und verschiedenartigen Formen des Wissens führen, die wiederum sehr unterschiedliche Grade an Reflexivität enthalten. 4 | Anm. d. Hg.: Archer meint damit, wie gleich noch zu sehen sein wird, die natürliche, praktische und soziale Ordnung.

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Elder-Vass’ zentrale Annahme, dass »die meisten unserer Handlungen durch Habitus und Reflexivität kodeterminiert sind«, klammert die soziologisch relevante Frage gerade aus. Kodetermination meint, dass zwei Faktoren auf ein bestimmtes Resultat Einfluss haben, egal ob es sich um einen Beitrag von 50 zu 50 oder 99 zu 1 handelt. Mein Argument ist dagegen, dass der jeweilige Anteil von Habitus und Reflexivität systematisch mit der betreffenden Ordnung der Realität variiert und dass er im Fall der sozialen Ordnung am wenigsten festgelegt ist. Wenn dem so ist, wird eine »Versöhnung« zwar formell möglich, in der Praxis jedoch bedeutungslos. Die folgende Grafik repräsentiert Elder-Vass’ Verteidigung der Rolle des Habitus bei der »Kodetermination« des Handelns. Sie zeigt auch, dass hier zwei Problematiken involviert sind. Abbildung 1 1. SOZIALISATION 2. ERFAHRUNG 3. DISPOSITIONEN = Habitus = „Sinn für das Spiel“

An Elder-Vass’ Verteidigung ist erstens die Frage zu richten: Sind Erfahrungen die Basis für menschliche Dispositionen? Das ist entscheidend, denn wenn der Übergang von (2) zu (3) nicht trägt, steht auch die Relevanz des Übergangs von (1) zu (2) infrage und mit ihm fällt der behauptete Einfluss der Sozialisation in sich zusammen. Zweitens: Kann Sozialisation zu Recht als ein Sammelbegriff für die Erfahrungen von Gruppen und besonders von sozialen Klassen genommen werden? Diese Frage stellt sich unabhängig von der ersten und wird im nächsten Abschnitt diskutiert. Mein Hauptargument ist, dass die Wissensformen, die durch Erfahrungen in den drei Realitätsordnungen erworben werden, ihrem Wesen nach nicht gleichartig sind. Sie entstehen aus unterschiedlichen Beziehungen zwischen dem Subjekt und jeder der drei Ordnungen, die als solche den Subjekten je unterschiedliche Grade an Reflexivität erlauben oder abverlangen. Das macht Kodetermination zu einer variablen Angelegenheit in Hinblick auf den Anteil, den Dispositionen und Reflexivität jeweils bei der Hervorbringung von Handlungen haben, die auf den drei Wissensformen basieren. Während Bourdieu den Habitus undifferenziert auf alle Ordnungen bezog, gehe ich davon aus, dass der Erwerb eines »Sinns für das Spiel« eine Metapher ist, die nicht in gleichem Maße für die Gesamtheit der Realität funktioniert.

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Die folgende Grafik fasst die in Being Human (2000) entwickelte Argumentation zusammen. Abbildung 2 Natürliche Ordnung

Praktische Ordnung

Soziale Ordnung

Beziehung

Objekt/Objekt

Subjekt/Objekt

Subjekt/Subjekt

Wissensform

Körperlich

Praktisch

Diskursiv

Entsteht aus

Koordination (coordination)

Unterordnung (compliance)

Selbstverpflichtung (commitment)

Bedeutung von Reflexivität

Minimal

Moderat

Maximal

Formen des Wissens und die drei Ordnungen der Realität In der Natur ist die relationale Voraussetzung für den Übergang »Erfahrung → Disposition« (etwa beim Schwimmen) schlichtweg die Koordination eines Körpers mit der Umwelt (das Gleiten im Wasser im Fall des Schwimmens). Diese emergente Fähigkeit (Schwimmen) ist abhängig von der Beziehung zwischen unseren physiologischen Potenzialen/Belastbarkeiten und dem positiven/negativen Feedback, das wir vom Wasser erhalten. Im Allgemeinen ist Reflexivität irrelevant für unser Vermögen, im Wasser zu gleiten, denn sonst wären Säuglinge unmittelbar nach der Geburt nicht in der Lage zu schwimmen. Sicher werden manche bereits hier, nach neun Monaten Erfahrung in einer Umgebung aus Fruchtwasser, von einem verinnerlichten Habitus sprechen. Nehmen wir also ein anderes Beispiel. An zwei Stellen benutzt Elder-Vass die Aktivität des Gehens, um körperliches Wissen zu veranschaulichen, welches als zweite Natur bei Verrichtungen des alltäglichen Lebens, etwa beim Gang in die Küche, zur Anwendung kommt. Sicherlich trifft dies zu, aber warum müssen wir dafür den Habitus einführen? Ich wage zu behaupten, dass niemandem von uns beigebracht wurde oder dass niemand explizit darüber nachgedacht hat, das Körpergewicht nach vorne zu verlagern, wenn wir bergauf, oder nach hinten, wenn wir bergab gehen. Wir fanden es schlichtweg einfacher, uns auf diese Weise fortzubewegen. Das heißt, Reflexivität geht nicht in Dispositionen ein, die durch Versuch und Irrtum erworben werden, genauso wenig wie Sozialisation. Es ist zudem unmöglich, körperliches Wissen wie das Schwimmen reflexiv zu vergessen; wir können uns höchstens weigern, es zu üben. Sicherlich rosten wir ein, aber das hat mehr mit dem Abbau von Muskelmasse zu tun als mit dem Verlust der Fähigkeit, der buchstäblich außerhalb unserer Verfügung liegt. Was also die Frage der Kodetermination angeht, so lässt sich sagen, dass die in körperlichem Wissen repräsentierten Fähigkeiten zu 100 Prozent von unserer Erfahrung abhängen; Reflexivität spielt in der na-

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türlichen Ordnung keine Rolle. Natürlich zeigt sich diese analytische Aussage kaum je empirisch – also in Situationen, in denen Subjekte »allein mit der Natur« sind –, aber eine Schwimmlehrerin, die nach und nach die Luft aus den Schwimmflügeln heraus lässt, lehrt im eigentlichen Sinne nicht das Gleiten im Wasser. Es zeugt somit von einer gewissen Ironie, dass gerade dort, wo der Übergang »Erfahrung → Disposition« am besten funktioniert, Sozialisation keine Rolle spielt. In der praktischen Ordnung entstehen implizite Fähigkeiten (tacit skills) aus den Möglichkeiten und Widerständen, mit denen uns Objekte konfrontieren, sowie aus den subjektiven Anpassungen an sie bzw. ihren Anpassungen an uns. Aktivitäten wie kompetentes Tennisspielen, das Spielen eines Musikinstruments, Maschinenschreiben im Zehnfingersystem oder Autofahren hängen alle davon ab, etwas zu kapieren. Auf fortgeschrittenerem Niveau (wie beim Improvisieren im Jazz oder dem Manövrieren eines mehrgliedrigen Busses) setzt das voraus, einen echten »Sinn für das Spiel« zu entwickeln. Dies ist zweifellos Bourdieus Terrain, aber die folgende Aussage zeigt, dass er bei der Diskussion von »hexis« bzw. körperlichen Fähigkeiten als dauerhaften Dispositionen die Formel der Kodeterminierung komplett zurückweist: »Das derart Einverleibte findet sich jenseits des Bewusstseinsprozesses angesiedelt, also geschützt vor absichtlichen und überlegten Transformationen« (Bourdieu 1972: 200). Wo es um praktisches Wissen geht, bin ich völlig auf Elder-Vass’ Seite, denn um Virtuosität als Tennis- oder Pianospielerin zu erlangen, ist Selbstverpflichtung (commitment) erforderlich, um nämlich genau eine »absichtliche Transformation« zu erreichen. Dazu braucht es persönliches Engagement und reflexive Entscheidungsfindung darüber, welche Priorität Sport oder Musik innerhalb der eigenen, die persönliche Identität definierenden Konstellation von Fähigkeiten einnehmen sollen. Anzunehmen Menschen, egal auf welchem Kompetenzniveau, könnten sich entscheiden, eine bestimmte Fähigkeit zu verbessern, scheint unproblematisch. So erkennt Andrew Sayer an, dass ein großer Teil des Tennisspielens darin besteht, sich z.B. an das Retournieren von Aufschlägen zu gewöhnen, deren Geschwindigkeit diejenige der Entscheidungsfindung übersteigt. Doch fügt er hinzu: »Selbstverständlich kann sie [die Tennisspielerin] nicht jedes Mal, wenn sie eine Rückhand schlägt, sich überprüfen und Verbesserungen planen, aber sie kann es nach dem Spiel, wenn sie findet, ihre Schläge waren überdosiert« (2009: 121). Gleichermaßen benutzt Elder-Vass Beispiele der »hexis«, die Bourdieu selbst häufig anführt: Wie wir unseren Mund zum Sprechen formen oder wie wir (in unterschiedlichen Situationen) stehen, wird durch den Habitus gesteuert, nicht durch Deliberationen. Das mag durchaus so sein, schließt aber eine »absichtsvolle Transformation« keineswegs aus. Viele Leute nehmen (oder nahmen) Sprechunterricht oder ändern (heutzutage) bewusst ihren Akzent. Elder-Vass schlussfolgert daraus, dass wir Bourdieus Habitus

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»modifizieren müssen um zu zeigen, wie wir, als reflexive Wesen, manchmal in der Lage sind, uns selbstkritisch auf unsere Dispositionen zu beziehen und diese dann im Lichte unserer Erfahrung, unserer Urteilsfähigkeit und unserer Wertbindungen zu verändern« (2007: 345). In diesem Fall trägt sein Argument für die Kodetermination des Handelns. In Bezug auf die beiden bisher besprochenen Realitätsordnungen hatte Kodetermination somit in der natürlichen Ordnung keinen Platz, während sie in der praktischen Ordnung passend erscheint. Wie noch zu zeigen sein wird, variiert sie stark innerhalb der sozialen Ordnung. Insofern läuft Kodetermination nicht einmal annähernd auf eine gleichwertige Determination im Spektrum der Realität hinaus.

Erzeugt Sozialisation geteilte Erfahrungen innerhalb sozialer Klassen? Der Erwerb eines »Sinns für das Spiel« kann bezogen auf die praktische Ordnung durchaus wörtlich genommen werden; er wird allerdings zur Metapher, wenn es um die diskursive soziale Ordnung geht. Wie angemessen dieses Bild ist, hängt vom historisch sich wandelnden Zustand der sozialen Welt ab. Es scheint jedoch so, dass Bourdieu den »Sinn für das Spiel« nahezu in eins setzt mit der wittgensteinschen »Lebensform«, wenn er seinen anthropologischen Ansatz auch auf jüngere soziale Konfigurationen anwendet. Schließlich war der Begriff des sens pratique im Entwurf einer Theorie der Praxis (1972), wo er zuerst formuliert wurde, aufs Engste verbunden mit einer detaillierten Ethnologie der Kabylinnen. Ob es zulässig ist, diese Metapher auf spätere Gesellschaften, namentlich die Moderne oder noch weiter die Hochmoderne und, möglicherweise, darüber hinaus, zu übertragen, das steht hier gerade infrage. Unter Sozialtheoretikerinnen ist der Hinweis geläufig (Calhoun 1993: 82), dass die Anwendbarkeit von Bourdieus Habituskonzept sowohl von sozialer Stabilität als auch von hoher sozialer Integration abhängt und damit von einer über längere Zeitperioden andauernden Reproduktion kontextueller Kontinuität. Ich werde im Folgenden meine Kritik in dieser Richtung nicht wiederholen (vgl. Archer 2007: 38-48), sondern mich auf einen einzigen Punkt beschränken: die genauen Verbindungslinien, die Bourdieu zwischen Klasse, Erfahrungen und Dispositionen zieht, die alle auf soziale Stabilität angewiesen sind und von denen auch Elder-Vass’ Argumentation abhängt. Erstens prägt der »Klassenhabitus« die »Klassenpraktiken«, weil alle Mitglieder einer Klasse »identische Geschichten« miteinander teilen: Praktiken von Mitgliedern derselben Gruppe oder, in einer differenzierten Gesellschaft, derselben Klasse [sind] stets mehr oder besser aufeinander abgestimmt […], als die Handlenden selber wissen und wollen. […] Der Habitus ist nichts anderes als jenes im-

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Margaret S. Archer manente Gesetz, jene den Leibern durch identische Geschichte(n) aufgeprägte lex insita. (Bourdieu 1980: 110f.)

Zweitens werden solche homogenen Klassenbiografien durch gemeinsame Erfahrungen konstituiert, die ihrerseits konstitutiv sind für geteilte kollektive Dispositionen: Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle und kollektive Praktiken, also Geschichte, nach den von der Geschichte erzeugten Schemata; er gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen und die Übereinstimmung und Konstantheit der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle formalen Regeln und expliziten Normen zu gewährleisten suchen. Das System der Dispositionen der Vergangenheit, die im Gegenwärtigen überdauert und sich in die Zukunft fortzupflanzen trachtet, indem sie sich in den nach ihren eigenen Prinzipien strukturierten Praktiken aktualisiert […], liegt der Kontinuität und Regelmäßigkeit zugrunde, die der Objektivismus den sozialen Praktiken zuschreibt, ohne sie erklären zu können. (Ebd.: 101f.)

Drittens räumt Bourdieu selbst ein, diese »Kontinuität und Regelmäßigkeit«, die, wie gerade gesehen, aus dem Habitus resultiert, sei zugleich die Vorbedingung seines Wirkens. Das liegt darin begründet, dass solche reproduktiven Praktiken nur »so weit [ funktionieren], wie die Strukturen, innerhalb derer diese Praktiken fungieren, identisch oder homolog mit den objektiven Strukturen sind, die sie hervorgebracht haben« (ebd.: 115 [Hervorh. d. Verf.]). Mit einer Geschichte der westlichen Welt, die durch bruchlose Reproduktion »kontextueller Kontinuität« gekennzeichnet wäre, geht Elder-Vass nicht mit. Er akzeptiert im Gegenteil historische Variabiltät und hebt hervor, dass mit dieser auch die Reflexivität zunimmt – »am offensichtlichsten, wenn das Set existierender Dispositionen keine eindeutige Orientierung mehr bietet«, was wiederum »am offensichtlichsten [ist] in Situationen, die nicht mit unseren vorausgehenden Erfahrungen übereinstimmen. Wenn wir zum Beispiel eine neue Rolle annehmen, müssen wir unter Umständen sehr sorgfältig darüber nachdenken, wie sie ausgefüllt werden kann« (2007: 341f.). Elder-Vass behauptet sogar (eine auch von Lahire 2002 geteilte Sichtweise), dass »solche Situationen drastisch häufiger vorkommen, als Bourdieu zu glauben scheint, so dass sich uns ständig Möglichkeiten zu reflexiver Überprüfung bieten« (2007: 341). Es ist genau dies, was der Reflexivität einen Platz verschafft. Damit aber trotzdem immer noch Raum für den Habitus bleibt, muss Elder-Vass (wie Sayer und Fleetwood) behaupten, es sei trotz kontextueller Diskontinuität noch genügend Stabilität vorhanden, damit der Habitus fortdauernde Relevanz behält. Dies sind die Voraussetzungen der »Versöhnung«, die Elder-Vass vorschlägt. Ist die anhaltende Relevanz des Habitus erstmal gesetzt, »kann Archers Ana-

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lyse der Entwicklung personaler und sozialer Identität als eine Erörterung des Ausmaßes betrachtet werden, in dem wir in der Lage sind, unseren Habitus zu verändern« (2007: 344 [Hervorh. d. Verf.]). Ich halte diese Aussage deswegen für inakzeptabel, weil sie auf der Prämisse beruht, der Habitus fungiere nach wie vor als beständige Handlungsorientierung. Was ich zurückweise, ist die These, der Habitus sei in der völlig neuen Situation kontextueller Inkongruität von anhaltender Relevanz – eine Situation, die sich heute bereits in einer Intensivierung der Morphogenese manifestiert. Herkunftskontext und sozialisatorische Praktiken bieten immer weniger Handlungsorientierung für junge Menschen, egal aus welcher Klasse sie stammen. Und das gilt erst Recht für Praktiken, die auf eine Sicherung der Reproduktion sozialer Positionen gerichtet sind. Auf die Auswirkungen, die kontextuelle Inkongruität auf Sozialisation hat, werde ich im letzten Abschnitt zurückkommen. Um die Auseinandersetzung mit Elder-Vass abzuschließen, möchte ich hier noch die Argumentationsweise ansprechen, die mich veranlasst, die vorgeschlagene Versöhnung zurückzuweisen: »Personale Identität, die ein Erfordernis reflexiver Deliberation zu sein scheint, ›bildet sich erst im Erwachsenenalter ganz aus, und auch das keineswegs bei allen‹. Das bedeutet, dass zu bestimmten Zeitpunkten manche Leute noch nicht reflexiv geworden sind und dass andere es niemals werden – was sie, so scheint es, im Griff des Habitus lässt« (2007: 335). Abgesehen von der Möglichkeit, dass manche »es niemals werden«, was ich tatsächlich ohne hinreichende Belege behaupte, präsentiere ich (in Archer 2003) mit Jason einen Fall von »beinahe nicht-reflexiv«. Die Daten meiner Trilogie über Reflexivität (2003, 2007 und 2012) stammen alle aus qualitativen Interviews, die darauf abzielten, die persönlichen Anliegen und Bedürfnisse (concerns) der Subjekte in Beziehung zu ihren sozialen Umständen zu erheben und vice verca. Während der Vorbereitung des ersten völlig explorativen Bandes führte ich ein dreistündiges Interview mit Jason; gegenüber allen folgenden Fällen bleibt er wohl der bewegendste. Dieser 17-Jährige, der sich selbst mehr als passives Objekt denn als aktives Subjekt betrachtete, stand im Bann von Alkohol und Drogen und lebte seit seinem 13. Lebensjahr auf der Straße. Er war dabei allerdings nicht »im Griff des Habitus«: Von seinen Eltern zu Hause rausgeworfen, hatte er um Erlaubnis gebeten, entweder bei der Mutter oder dem Vater, die inzwischen getrennt lebten, wohnen zu dürfen, was ihm jedoch verweigert wurde. Weit davon entfernt, sich auf einen Habitus stützen zu können, versuchte er seine Vergangenheit im Drogenrausch zu vergessen. Vier Jahre später gelang es ihm, mit eiserner Disziplin und der Hilfe eines Sozialprogramms für obdachlose Jugendliche von den Drogen loszukommen. Auf Basis seiner begrenzten Reflexivität suchte Jason sich einen extrem routinisierten Job im Einzelhandel – vielleicht weil er sich davon genau jene Stabilität erhoffte, die er niemals hatte. Trägt Kodeterminierung nun dazu bei, seine Lage aufzuklären, indem sie uns daran erinnert, dass er, trotz allem, immerhin gehen und sprechen konnte?

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3. S ozialisation ist nicht mehr , was sie mal war 5 Weder Sayer noch Elder-Vass bestreiten, dass soziale Transformation auch die relative Bedeutung von reflexiven Entscheidungen gegenüber Routinehandeln verändert. Eine knappe Skizze dieser Veränderungen präsentiere ich in Making Our Way Through the World (Archer 2007: 317-324). Dabei werden die Verschiebungen in den Kontexten betont, in denen die jungen Erwachsenen groß wurden und ihre beruflichen Rollen einnahmen. An anderer Stelle (Archer 2012) fasse ich dies als historische Veränderung auf der gesellschaftlichen Makroebene zusammen, die folgende Etappen aufweist: zunächst die in traditionalen Gesellschaften dominante »kontextuelle Kontinuität«, dann die sich mit der Moderne ausbreitende Intensivierung kontextueller Diskontinuität, bis hin zum Auftreten kontextueller Inkongruität in den letzten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts. Diese Abfolge ist intrinsisch verbunden mit der zunehmenden Reichweite und Bedeutung von Reflexivität, weil die Anzahl neuartiger Situationen, denen Subjekte in der sozialen Ordnung begegnen, steigt und diese somit immer weniger auf Routinisierungen als Orientierung für angemessenes Handeln zurückgreifen können. Entsprechend, und dies gilt insbesondere für des letzte Vierteljahrhundert, ist Sozialisation immer weniger in der Lage, auf Chancen im Berufsleben und in der Lebensführung vorzubereiten, die in der Elterngeneration noch nicht existierten: auf soziale Kompetenzen, die nicht inkorporiert werden können (Aktienhandel oder Computerprogrammierung) oder permanente Weiterentwicklung erfordern, sowie auf die Bereitschaft, den Wohnort zu wechseln, umzulernen oder sich verändernde Lebensweisen neu zu bewerten. Dieser neue Kontext übersteigt das »strikt begrenzte« generative Vermögen des Habitus, das an jeder »unvorhergesehenen Neuschöpfung« scheitert, da es beschränkt ist auf die freie Hervorbringung von »Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen, und nur diese, […] die innerhalb der Grenzen der besonderen Bedingungen seiner eigenen Hervorbringung liegen« (Bourdieu 1980: 102f. [Hervorh. d. Verf]). Warum genau stellt das nun kontextuelle Inkongruität für die jungen Menschen dar? Hauptsächlich deshalb, weil der familiale Hintergrund nicht länger einen Korpus an kulturellem Kapital bildet, dessen dauerhafter Wert an die Kinder weitergegeben werden könnte, jenseits einer Weitergabe von Kultur tout simple. Die elterliche Kultur hört zusehends auf, Nutzen als Kapital zu haben, das auf dem Arbeitsmarkt eingesetzt werden kann und ein maßgebliches Element innerhalb des elterlichen Erbes ist. Bourdieus Nachkommen [héritiers] verarmen nicht nur durch Erbschaftssteuern: Kultur ist zwar immer noch ihr 5 | Die empirisch gestützten Aussagen in diesem Abschnitt beruhen auf meiner dreijährigen Längsschnittstudie, die qualitative Interviews mit jungen Erwachsenen nutzt, welche in The Reflexive Imperative (2012) analysiert werden.

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Erbe, wird aber zusehends zu einem »internen Gut« (MacIntyre 1981, Sayer 2005: 111-126) und wie das Familiensilber nach der Einschätzung seiner Rezipientinnen bewertet, d.h. nicht länger als »externes Gut«, mit einem hohen Wert auf dem freien Markt. In der Folge versiegen Strategien zur Sicherung der intergenerationalen Übertragung von kulturellem Kapital zusehends, teils weil dieses stark entwertet wird, teils weil abnehmende Berechenbarkeit die alten Formen gewinnbringender Strategien immer weniger anwendbar macht. Eltern aus den Mittel- und höheren Klassen, die an alten Routinen, die ihren eigenen Eltern gute Dienste erwiesen, festhalten und etwa versuchen, sich über private Bildungseinrichtungen »Vorteile zu erkaufen«, werden zunehmend mit Nachkommen konfrontiert, die dies nur noch als Bürde erleben. Konfrontiert mit der Inkongruenz zwischen ihrem Hintergrund und dem, was vor ihnen liegt, geht eine wachsende Anzahl von Absolventinnen privater Schulen in Großbritannien dazu über, den eigenen Akzent zu verwischen, exzessiv das Partizip Perfekt zu verwenden, so zu tun, als wären sie niemals mit Latein in Berührung gekommen, oder sich auf ihre Schule nur durch Verweis auf die geografische Region zu beziehen – alles Ausdruck von Beschämung, welche die subjektive Anerkennung der kontextuellen Inkongruität reflektiert, in der sie nun verortet sind. Natürlich lässt sich dem entgegengehalten, dass eine solche Bildung immer noch einen privilegierten Zugang zu den ältesten Universitäten des Landes ermöglicht, aber manche der hellsten Köpfe aus den Privatschulen haben gar keinen Wunsch mehr, dort hinzugehen. Ebenso wird der Einwand kommen, dass diesen Absolventinnen nach wie vor Karrieren im öffentlichen Dienst bevorzugt offenstehen, ebenso wie in der Diplomatie und in den traditionellen akademischen Berufen. Dies ist jedoch durchaus mit der Tatsache vereinbar, dass gegen Ende des 20. Jahrhunderts manche Personen mit diesem privilegierten Hintergrund begannen, derartige Chancen auszuschlagen. Wer eine schnelle Auffassungsgabe besitzt, hat die Botschaft verstanden: Die Börse will den »Straßenhändler«, der auf dem Boden bleibt, und immer mehr junge Erwachsene bevorzugen es, im gemeinnützigen Sektor zu arbeiten. Im Grunde ist ihr Besitz an kulturellem Kapital der alten Art ein Nachteil angesichts neuer Stellenprofile und Chancen, auch wenn es noch einen anhaltenden Wert in den traditionelleren Bereichen des Arbeitsmarktes hat. Auf eine ganz andere Weise finden sich Eltern aus der Arbeiterklasse in nahezu derselben Lage, ihren Kindern nichts mit Marktwert auf den Weg geben zu können. Mit dem rapiden Rückgang des herstellenden Gewerbes und häufiger Arbeitslosigkeit verloren sie die Fähigkeit, hohe Löhne weiterzureichen oder für ihre Söhne ein gutes Wort einzulegen. Im Zuge der Computerisierung von Arbeit im Büro, an Rezeptionen und in einem großen Teil des Einzelhandels, mussten Mütter feststellen, wie ihre Töchter bereits besser mit

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Tastaturen umgehen konnten als sie selbst. Aufgrund von Entlassungen, Gelegenheitsjobs und des ständigen Gangs zum Arbeitsamt gibt es immer weniger Überreste einer Kultur der Arbeiterklasse, die reproduziert werden könnte – insbesondere die frühere Anziehungskraft einer dauerhaften Gruppe geselliger Arbeitskolleginnen –, und immer weniger Anreize, gemeinsame Beschäftigungspraktiken von Eltern und Kindern zu reproduzieren. Letztere besuchen jetzt sowieso mehrheitlich »das College« für einen mehr oder weniger langen Zeitraum, der jedoch für viele lang genug ist, um zu realisieren, dass IT oder Design für sie wohl kaum realistische Optionen darstellen. Unterdessen ziehen sich die Eltern auf ein richtungsloses Wohlwollen gegenüber der Zukunft ihrer Kinder zurück – was dann in etwa klingt wie: »Wir unterstützen sie bei allem, was sie machen wollen« –, wodurch sie die Last der Entscheidungsfindung auf die nächste Generation abwälzen und damit die Nutzlosigkeit ihres eigenen Habitus faktisch anerkennen. Die alte Homologie zwischen einsozialisierten Dispositionen zur Akzeptanz der eigenen Position, die der Nachwuchs ausfüllen konnte und zu deren Reproduktion er prädisponiert war, kommt an ihr Ende. In dem Maße, in dem die Vorstellung eines übertragbaren kulturellen Kapitals an Substanz verliert, werden auch jene von Bourdieu so treffend beschriebenen komplizierten Manöver der Konvertierung verschiedener Kapitalsorten zunehmend obsolet. Ökonomisches Kapital kann immer weniger in Form von kulturellen Vorteilen ausgezahlt werden. Ein Jahr Auszeit, ein viel genutzter Reisepass und ein schuldenfrei erreichter Universitätsabschluss sind sicherlich finanziell gesehen vorteilhaft, verbleiben aber im Ökonomischen, weil alles Weitere von reflexiv getroffenen Entscheidungen abhängt. Soziales Kapital ist beständiger, funktioniert aber durch die Weitergabe von Selbstvertrauen und fehlender Unsicherheit, wie Sayer feststellt (2009: 120 und 122), im Verfolgen der situationalen Chancenlogik. Wie dieser Logik jedoch nachgegangen wird, ist eine Aufgabe, welche die jungen Erwachsenen selbst planen, weiterverfolgen und oft neu fassen oder korrigieren müssen, und zwar auf Grundlage ihrer reflexiven Überlegungen bezogen auf ihre persönlichen Anliegen (concerns). Darüber hinaus scheitert die Familie als Sozialisationsinstanz zunehmend in normativer Hinsicht als Vermittlerin von Werten, welche die von den Kindern übernommenen und zu eigen gemachten Anliegen untermauern. Heute geben mehr und mehr Familien uneinheitliche und in sich inkongruente Botschaften weiter, wodurch sie ihre Kinder vor das zusätzliche Problem stellen, diese Gemengelage erst noch normativ beurteilen und sortieren zu müssen, bevor sie ihre persönlichen Anliegen herauskristallisieren können. Betrachten wir kurz ein nicht unübliches Beispiel, in dem Eltern sogar die kontextuelle Inkongruität ihrer Tochter intensivieren, und zwar indem ihre Erziehungspraxis darauf abzielt, die Vorteile neuer Chancen durch das Verfolgen

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von Handlungspfaden aus dem alten Jahrtausend zu sichern. Als Studentin aus Asien mit Bildungshintergrund, die ihren ersten Universitätsabschluss in England macht, filtert Han-Wing ihre familiale Sozialisation durch ihre persönlichen Anliegen und das, was sie in ihrem neuen westlichen Umfeld mit diesen in Einklang bringen kann. Ihre Eltern versuchen sie im Gegenzug als eine von Bourdieus Nachkommen [héritiers] zu behandeln: als Empfängerin ihres kulturellen und finanziellen Kapitals, das, als Transaktionsmittel eingesetzt, einen erwünschten positionalen Ertrag sichern soll – eine Tochter, die nach Hause zurückkehren wird, um als Anwältin zu arbeiten. Han-Wing fühlt sich zwischen den elterlichen Erwartungen und dem Wunsch, ihrer Freiheit nachzugehen, hin und her gerissen: »Ich komme aus einer wirklich konservativen Familie […]. Sie sehen es nicht gerne, wenn ich zu viel ausgehe. Als ich hierher kam mit dieser Freiheit, dieser neu gewonnenen Freiheit sozusagen – da hab ich immer wieder dieses schlechte Gewissen – ich würde gerne so sein, aber sie wollen nicht, dass ich das tue, sie wollen nicht, dass ich so bin – aber ich mach es trotzdem.« Elftausend Kilometer von zu Hause entfernt, kann sie sich der elterlichen Autorität entziehen, zu Besuch in ihrer Heimat ärgert sie sich aber darüber, über jede ihrer Bewegungen Rechenschaft ablegen und immer früh zu Hause sein zu müssen. Aus der Ferne kann sie auch lügen, nicht aber aus der Nähe: »Meine Eltern spielen eine wichtige Rolle in meinem Leben […], aber ich stimme mit vielem, was sie sagen, nicht überein, bei Religion zum Beispiel. Sie wollen wirklich, dass ich in die Kirche gehe und das alles, aber ich glaube nicht an Religion, das ist also das eine. Meine Mutter ruft mich an und dann heißt es wieder: ›Bist du heute in die Kirche gegangen?‹ – Ich lüge dann, was wirklich schlimm ist, aber jedes mal, wenn ich in die Kirche gehe, fühle ich mich, als ob mir die Luft abgeschnürt wird, weil ich nicht daran glaube.« Der einzige Zweck ihres Studiums in Großbritannien besteht darin, Anwältin zu werden, wie ihre beiden Brüder. Han-Wing weiß bisher noch nicht, welche Karriere sie einschlagen will, hat aber das Gefühl, dass die Eltern ihr nur beschränkte Wahlmöglichkeiten lassen: »Zu Hause in [X] haben wir diese Sache mit dem Vergleichen der Kinder nach dem Motto ›Oh, mein Sohn ist Arzt‹, ›Nun ja, meine Tochter ist Anwältin‹ und all das. Hier ist das anders, es gibt das hier zwar auch, aber anders. […] Zu Hause heißt es: ›Oh, ihre Tochter ist Sekretärin‹ – nicht so gut […]. Wenn ich Hochzeitsplanerin werden wollte, dann würde es wahrscheinlich heißen: ›Was, wir haben so viel für dich ausgegeben, damit du Hochzeitsplanerin wirst?!‹ Sie wären wahrscheinlich nicht besonders glücklich. Ich hab das Gefühl, sie daheim in so vielen Dingen enttäuscht zu haben.« Obwohl Han-Wing sich deswegen Vorwürfe macht, weist sie eine Sozialisation zurück, durch die »wir wie soziale Objekte behandelt werden«. Obwohl sie nicht weiß, was sie tun soll, will sie frei zwischen Möglichkeiten wählen können, die mehr bereithalten, als Ärztin oder Anwältin zu werden. Dazu gehört

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auch, von zu Hause weg zu kommen und vielleicht nach Amerika zu ziehen. Dieser Versuch sozialer Reproduktion hat in Wirklichkeit kontextuelle Inkongruität für Han-Wing erzeugt; die elterlichen Anstrengungen, sie einzubetten, hatten genau den gegenteiligen Effekt – bis zum Verlust der eigenen Tochter.

4. F a zit : D ie P erspek tive umkehren Die Reproduktion im alten Stile hat etwas Paradoxes an sich, das sich »Arbeit am status quo« nennen lässt. Ungefähr ein Viertel der Befragten aus der Gesamtbevölkerung und ein Sechstel der von mir interviewten Studierenden (beide Sample wurden zwischen 2004 und 2006 erhoben) fühlen sich ihrem Herkunftskontext (natal context) verbunden: Dispositional stehen sie mit ihm in Einklang und positional würden sie gerne in ihm verbleiben oder zu ihm zurückkehren. Routinehandeln ist heute jedoch nicht länger die Grundlage für das Erreichen kontextueller Kontinuität, nach der diese Subjekte streben. Stattdessen müssen die meisten ihre Reflexivität ausüben, um ein solches Ergebnis zu erzielen, das weder Standardoption noch Rückfallposition ist. Motiviert werden sie durch Zufriedenheit mit ihren Herkunftskontexten, die Mittel zum Erreichen kontextueller Kontinuität bestehen darin, eine nachhaltige Position innerhalb der Grenzen der eigenen Herkunft zu identifizieren – und die Art und Weise, beide zusammen zu bringen, ist »kommunikative Reflexivität«. Das ist eine Form reflexiver Deliberation, die als »Denken und Reden« mit Gesprächspartnerinnen praktiziert wird, die als »ähnlich und vertraut« angesehen werden und denen zugetraut wird, die ungeordnete interne Konversation der Subjekte zu vervollständigen und zu bestätigen. Es handelt sich dabei allerdings nur um einen von vier regelmäßig anzutreffenden Reflexivitätsmodi. Er beruht auf einer geteilten Lebensweise und verstärkt den normativen Konventionalismus unter den betroffenen Subjekten (Archer 2003: 167-209). Kommunikativ-Reflexive stammen aus einem stabilen und räumlich begrenzten Umfeld, in dem zwischenmenschliche Beziehungen herzlich, aufgeschlossen und beständig sind und das Freundschaftsnetzwerke enthält, zu denen auch diejenigen gehören, mit denen die Subjekte aufgewachsen und zur Schule gegangen sind. Dieser Kontext unterscheidet sich von dem der Autonom- und Meta-Reflexiven, deren familialer Hintergrund sich für gewöhnlich durch mikrokontextuelle Diskontinuität auszeichnet und sich aus Adoption, Scheidung, geografischer Mobilität, Internataufenthalten, zwischenmenschlichen Unstimmigkeiten u.a. ergeben kann. Eine solche Diskontinuität beraubt die Subjekte kontinuierlicher, vertrauter Gesprächspartnerinnen, wirft sie auf ihre eigenen kognitiven Ressourcen zurück und trägt im Allgemeinen wenig dazu bei, eine Aufrechterhaltung des Herkunftskontextes attraktiv erscheinen zu lassen – angesichts der sich auftuenden alternativen Möglichkeiten.

Routine, Reflexivität und Realismus

Kann oder sollte dies als »Dispositionen« bezeichnet werden? Einerseits ist diese Frage zu bejahen, insofern es um unterschiedliche Orientierungen bezogen auf die soziale Ordnung geht: Sicherung und Fortführung kontextueller Kontinuität im Gegensatz zur Akzeptanz von Diskontinuität und dem Verfolgen persönlicher Anliegen, die jene verstärken. Diese sehr unterschiedlichen Formen der sozialen Orientierung sind in der Tat in die Subjekte eingeschrieben und prädisponieren diese zu ebenso unterschiedlichen sozialen Lauf bahnen. Andererseits muss die Frage verneint werden, wenn sich »Dispositionen« auf die Handlungsverläufe beziehen, von denen angenommen wird, sie würden zu diesen Zielen auf präreflexive Weise führen. Denn Routinehandeln ist dafür heute keineswegs mehr ausreichend. Anders gesagt, ob der Einfluss der Herkunftskontexte, d.h. deren Kontinuität, Diskontinuität oder Inkongruität, nun als dispositional betrachtet wird oder nicht – »dispositional« im Sinne von verantwortlich für die Reflexivitätsmodi, welche unterschiedliche Teile der Bevölkerung zu einem gegebenen Zeitpunkt praktizieren –, keiner dieser Modi kann heute noch als Habitus funktionieren. Beide Punkte lassen sich anhand der Kommunikativ-Reflexiven schön veranschaulichen. Fleetwood verfehlt das Problem, um das es bei einer Befragten namens Angie (Archer 2003: 170-176) geht: Angie hat, ihrer Mutter, Tante und vielen Freundinnen der Familie folgend, eine Stelle als Sekretärin angenommen. Fleetwood argumentiert nun, ihr sei es »nie ernsthaft in den Sinn gekommen, überhaupt darüber nachzudenken, Schweißerin zu werden« und zwar auf Grund des »toten Gewichts von (vergeschlechtlichten) Routinen« (Fleetwood 2008: 199). Dies enthält eine Verschiebung der Deutungshoheit von der ersten zur dritten Person, was durchgängig Bourdieus eigene Vorgehensweise war. Indem Fleetwood dem Problem seine eigene Schlussfolgerung des vergeschlechtlichten Routinehandelns überstülpt, entgeht ihm zudem, dass Angie sich weder für einen Job im Einzelhandel, am Empfang oder in der Personalverwaltung entscheidet, um nur ein paar »reine« und naheliegende Alternativen zu nennen. Um kontextuelle Kontinuität so weit wie nur möglich aufrecht zu erhalten, strebt sie etwas viel Anspruchsvolleres an als die Reproduktion der sozialen Position ihrer Mutter. Sie will eine genaue Replikation von deren beruflicher Rolle und sozialem Kreis. So weit reicht der normative Konventionalismus, der von kommunikativer Reflexivität hervorgerufen wird. Spiegelbildlich zeigt eine Folgestudie (Archer 2007), wie nicht-routinisiert die Aufrechterhaltung dieser Kontinuität vonstatten geht: Beförderung, Arbeitsplatzwechsel und sogar Überstunden wurden als Bedrohung eines etablierten und wertgeschätzten modus vivendi wahrgenommen. Durch das Ausschlagen solcher Möglichkeiten des Vorankommens zeigen sich die Kommunikativ-Reflexiven als aktive Subjekte im Kontrollieren und Aufrechterhalten der eigenen sozialen Immobilität (2007: 158-191). Sie bringen wirkliche Opfer, um ihr zentrales Anliegen: das Wohl der Familie, zu schützen. Dennoch lassen

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sich drei Gründe anführen, warum das Aufrechterhalten von kommunikativer Reflexivität sehr schwierig ist, und die zugleich auf ihren wahrscheinlichen Rückgang im neuen Jahrtausend verweisen. Erstens zahlen die KommunikativReflexiven einen immer höheren Preis, wenn sie Chancen ausschlagen und von vielen anderen überholt werden, die diese Chancen nutzen. Zweitens ist es immer weniger möglich, »so zu bleiben, wie wir sind«: Neue Fähigkeiten müssen erworben werden, um den Job zu behalten, neue Technologien sind zu meistern, damit das Alltagsleben weitergehen kann, und neue Erfahrungen müssen durchlebt werden, weil sie sich gar nicht umgehen lassen. Drittens, und das ist am wichtigsten, wird der Pool an »Ähnlichen und Vertrauten«, die als potenzielle und dauerhafte Gesprächspartnerinnen zur Verfügung stehen, zunehmend schrumpfen, weil Schulfreundinnen, Arbeitskolleginnen und Nachbarinnen eine ihrer neuen Möglichkeiten ergriffen haben oder neuen Impulsen gefolgt sind. So bleibt kommunikative Reflexivität zwar weiterhin möglich, hat aber einen deutlich höheren Preis (in verschiedenen Währungen) und erfordert ein erhebliches Maß an Aufwand, um aufrechterhalten zu werden. Vor allem ist sie zu einer Sache bewusster Entscheidung und persönlichen Einfallsreichtums geworden und hat keine Ähnlichkeit mehr mit Routinehandeln. Wenn diese Diagnose richtig ist, erlaubt sie auch eine Schlussfolgerung hinsichtlich Bourdieus Habitus und dessen Versöhnung mit Reflexivität, wie sie Elder-Vass vorschlägt. Indem Bourdieus Habitus sowohl soziale Orientierungen (Dispositionen) als auch präreflexive Schablonen für Routinehandeln (ebenfalls Dispositionen) enthält, scheint er faktisch kommunikative Reflexivität vorauszusetzen. Da dieser Modus Sprechen wie Denken beinhaltet, kann das reflexive Element relativ leicht unbeachtet bleiben. Wenn dem so ist, drückt das Bourdieus Theoretisierung einen zeitlichen Stempel auf (trotz des Verweises auf »transhistorische Invarianten« (Wacquant 1989: 36)). Die Zeiten haben sich jedoch geändert und mit ihnen die Herkunftskontexte und sozialisatorischen Praktiken und letztendlich auch die sozialen Orientierungen der Mehrheit sowie der deliberative Charakter der eingeschlagenen Handlungsverläufe. Das bedeutet, dass sich kommunikative Reflexivität am einfachsten und besten entfaltet, wenn Ähnlichkeiten gleichmäßig in der Bevölkerung – oder in stabilen Klassen – verteilt sind und regelmäßig ähnliche Situationen vorgefunden werden. Diese (durkheimianische) Ähnlichkeit, die wesentlich für kontextuelle Kontinuität ist, bestätigt von Neuem die Angemessenheit konventionalistischer Reaktionen und begünstigt wiederum soziale Reproduktion. Die Nützlichkeit des Kofferwortes Habitus geht allerdings verloren, sobald die objektiven Bedingungen für kommunikative Reflexivität einen radikalen Wandel durchlaufen – und genau das ist gerade der Fall. Aus dem Englischen von Dimitri Mader

Routine, Reflexivität und Realismus

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Das Tempo des sozialen Wandels und die Formen der Reflexivität Ein Drei-Stadien-Modell Hartmut Rosa

Der große Wert und die Fruchtbarkeit von Margaret Archers Arbeiten für die Sozialwissenschaften liegen insbesondere darin begründet, dass sie als eine der ganz wenigen Autorinnen tatsächlich alle drei Ebenen des sozialen Erklärens (vgl. Rosa et al. 2007) gleichermaßen in den Blick nimmt: Sie formuliert zunächst auf der Ebene der Sozialtheorie, wo es um die Frage geht, was eine Gesellschaft ist oder ausmacht (synthesis) eine Ontologie des Sozialen, um sodann im Konzept wachsender Reflexivität eine Erklärung für die Dynamik des sozialen Wandels (dynamis) und damit für die Natur des Modernisierungsprozesses anzubieten und schließlich auch noch deutlich zu machen, wie sich auf dieser Grundlage Möglichkeiten zur reflexiven Kritik und Selbstbeeinflussung der Gesellschaft ergeben (praxis). Ich möchte nun im Folgenden für jede dieser drei Ebenen einen Ergänzungs- oder Erweiterungsvorschlag aus meiner eigenen Perspektive machen. Dazu werde ich zunächst zusammenfassen, wie ich Archers Position verstehe, daran anschließend jeweils eine kritische Nachfrage formulieren und sogleich einen Vorschlag machen, wie die aus meiner Sicht sich ergebenden Schwierigkeiten überwunden werden könnten. Grob zusammengefasst möchte ich zeigen, dass Archers Modell der Sozialontologie um eine zusätzliche Komponente, nämlich den von ihr zurückgewiesenen Habitus erweitert werden sollte, weil sich erst dadurch ein kohärentes Konzept von Agency gewinnen lässt (synthesis), dass ihre Analyse der fortschreitenden Reflexivierung an Plausibilität und Trennschärfe gewinnt, wenn die soziale Beschleunigung als deren Motor identifiziert wird (dynamis), und dass schließlich Archers Interpretation der Spätmoderne übersieht, dass sich hinter deren hochdynamischer Morphogenese in Wirklichkeit eine tiefgreifende Morphostasis verbirgt – dass, mit anderen Worten, der rasende Stillstand ein Strukturmerkmal der Gegenwartsgesellschaft ist, welcher einer zeitgenössischen Sozialkritik zum Fokus werden

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kann (praxis). Im Ergebnis entsteht, so meine Hoffnung, eine Art Fusion von Kritischer Theorie und Critical Realism, die mir überaus attraktiv erscheint, weil sie alle drei Ebenen sozialen Denkens konsistent miteinander zu verbinden vermag und es mir erlaubt, meine eigenen sozialkritischen Intentionen in den von Archer entworfenen konzeptuellen Rahmen einzufügen.1

1. D ie E bene der S ozialontologie Aus meiner Sicht ist es einer der großen Vorzüge des Critical Realism, dass er sich nicht scheut, die grundlegende Frage der sozialen Ontologie, mithin also die Frage danach, was Gesellschaft eigentlich ist, unmittelbar anzugehen und versucht, hier konzeptuelle Klarheit zu erlangen. Das scheint mir deshalb ebenso wichtig wie verdienstvoll, weil viele andere gesellschaftstheoretische Entwürfe, nicht zuletzt solche, die dem frankofonen Sprachraum entstammen, das Thema der Sozialontologie explizit ausklammern, dabei aber eben doch stets implizite ontologische Annahmen machen. Margaret Archer identifiziert drei Elemente (oder Komponenten) des »sozialen Systems«, nämlich die Ebene sozialer Strukturen (»structural domain«), die Ebene der Kultur (»cultural domain«) sowie die Ebene der Akteure oder der »agency«, wobei die ersten beiden tendenziell als die »Makroebene« des Sozialen, die letztere dagegen als Mikroebene begriffen werden können, wenngleich es natürlich auch kollektive Akteure und mikrosoziale Strukturen gibt (Archer 2012 und 1995: 193-217). Archer versteht diese drei Ebenen nun als gleichsam semi-elastisch und teilautonom miteinander verbunden: Sie entfalten jeweils ihre eigenen Entwicklungstendenzen und bringen emergente Eigenschaften hervor, sodass beispielsweise Handlungen weder unmittelbar aus der Struktur noch aus der Kultur abgeleitet werden können (und umgekehrt), doch stehen sie in stetigen Wechselwirkungsprozessen, aus denen sich so etwas wie eine »elastische« Koevolution ergibt: »Anders ausgedrückt sind Struktur, Kultur und Handlungsfähigkeit, welche jeweils relative Autonomie und je spezifische emergente Eigenschaften und Kausalkräfte besitzen, in ihrer Existenz voneinander abhängig und entwickeln sich zugleich gemeinsam fort. Zusammen ›machen sie Geschichte‹« (Archer 2012: 5). Weil sich zwischen den drei Ebenen immer wieder Reibungsflächen und Widersprüche ergeben, lässt sich Gesellschaft niemals auf Dauer stillstellen: Sie unterliegt entweder inkrementalen oder bisweilen auch revolutionären Veränderungsprozessen, in denen sich Struktur, Kultur und Akteure immer wieder aneinander angleichen. Gesellschaftsgeschichte ergibt sich damit aus der »teilautonomen« Auseinanderentwicklung der drei 1 | Hassan Poorsafir gilt mein ganz besonderer Dank für die kompetente und fachkundige Transkription des Vortragstextes, welcher die Basis für diese Arbeit bildet.

Das Tempo des sozialen Wandels und die Formen der Reflexivität

Ebenen einerseits und der Tendenz zu ihrer Angleichung und wechselseitigen Anpassung andererseits. Diese Konzeption erscheint mir grundsätzlich als plausibel, doch halte ich sie für in dreifacher Hinsicht noch klärungs- bzw. präzisierungsbedürftig: Zum ersten bleibt in Archers Entwurf die Art der Verbindung zwischen den drei Ebenen aus meiner Sicht durchaus unklar: Wie genau müssen wir uns die Wechselwirkungen bzw. Interaktionsverhältnisse vorstellen? Wie entsteht daraus Geschichte, d.h., welcher Art sind die sozialen »Bewegungsgesetze«, welche diese drei Ebenen in Ausgleich und Widerspruch bringen? Die Aussage, dass wir es hier mit komplexen, multikausalen Prozessen zu tun haben, erscheint mir letztlich als unzureichend, wenn es darum geht, ein Modell mit Erklärungskraft zu generieren. Zum zweiten ist meines Erachtens unscharf, was genau hier »agency« bedeutet – geht diese einfach von den Akteuren aus, ist sie mit ihnen identisch? Und wie verhalten sich, zum dritten schließlich, »agency« und »Reflexivität« zueinander – sind die Handlungen einfach umstandslos als Ergebnis des (institutionell und kulturell gerahmten) Reflexionsprozesses zu verstehen? Ich möchte nun den Vorschlag machen, dass sich diese Probleme relativ leicht und mit nur geringfügigen Modifikationen gegenüber Archers Modell lösen lassen, wenn man die Ontologie um eine vierte Ebene erweitert, oder genauer gesagt: Wenn man zwischen den reflexiven oder kognitiven Operationen und Überzeugungen der Akteure einerseits und ihrem verkörperten und routinisierten Habitus andererseits differenziert und Agency – im Sinne der resultierenden Handlungen ebenso wie der Handlungsfähigkeit – als das Ergebnis der Wechselwirkung ebendieser vier Ebenen begreift. Agency erscheint dann als das Resultat des Zusammenwirkens von vier Ebenen des Sozialen: der kollektiven kulturellen Deutungen und Selbstbeschreibungen zum Ersten, der institutionalisierten Strukturen zum Zweiten, der reflexiven Überzeugungen der Akteure zum Dritten und der verkörperten und eingeübten Habitus zum Vierten. Diese Ebenen lassen sich auf der einen Seite nach einer Mikro-/Makroperspektive (oder, wenn man enger in Archers Terminologie bleiben will, nach Subjektivität/Objektivität) und auf der anderen Seite nach reflexiven oder expliziten versus impliziten und »materialisierten« Momenten unterscheiden (vgl. unten Abb. 1). Zwar wendet sich Margaret Archer in ihrem Beitrag zu diesem Band, aber auch schon in The Reflexive Imperative (2012: 47-86) nachdrücklich gegen die Hypostasierung des Habitus als fortwirkende Eigenkraft und setzt ihm den Reflexionsimperativ der (Spät-)Moderne gleichsam diametral gegenüber, doch scheint mir ihre Argumentation hier nicht wirklich überzeugend zu sein. Zunächst reduziert sie den Habitus auf Handlungsroutinen und Gewohnheiten, um dann festzustellen, dass diese in immer weniger Handlungskontexten orientierungsstiftend zu sein vermöchten, weshalb »der Habitus solchen Gesellschaften zugeordnet werden sollte, die stabiler sind als unsere

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und die für seine Herausbildung nötige ›kontextuelle Kontinuität‹ aufweisen.« (In diesem Band: 122) Unter den sich rasch verändernden Bedingungen des 21. Jahrhunderts, so Archer, »stellen sich Habitusformen als ungeeignet heraus, den Menschen Orientierungen für ihre Lebensführung zu geben« (in diesem Band: 117) – es entstehe der Zwang zu wachsender Reflexivität, welche unvereinbar mit dem bzw. sogar das Gegenteil des Habitus sei. Archer unterschätzt dabei meines Erachtens zum ersten das Ausmaß, in dem (neue, habitualisierte) Routinen und Gewohnheiten die Lebensführung auch spätmoderner Subjekte prägen – etwa dort, wo sie jeden Abend oder jedes Wochenende in dieselbe Kneipe gehen und dort dasselbe Getränk oder Essen bestellen, obwohl es eine unüberschaubare Vielzahl an Restaurants und Speisen auf der Karte gibt, oder dort, wo selbst selbstbestimmte Akademikerinnen in ihren freien Minuten beständig zu denselben drei oder vier Internetseiten zurückkehren, obwohl ihnen vollkommen klar ist, dass es Abermillionen anderer Webseiten gibt; oder auch dort, wo sie Episode um Episode derselben Fernsehserie verfolgen, obwohl die mediale Verfügbarkeit alternativer (und spannenderer) Angebote exponenziell anwächst: Solche neuen Formen habitueller Routinisierung scheinen weit eher Reaktionen auf die Zunahme von Kontingenzen und Optionen denn residuale Ausnahmen darzustellen, was indessen nicht bedeutet, dass sie im gewohnheitsmäßigen Vollzug als reflexive Entscheidungen zu betrachten wären. Umgekehrt behauptet Archer, dass im Bezug auf unser »natürliches« körperliches Verhalten wie Gehen, Stehen, Sitzen, Lachen oder Schlafen zwar Gewohnheit und Erfahrung entscheidend seien, diese jedoch nicht sinnvoll als »habitualisiert« beschrieben werden könnten, weil Sozialität bzw. Sozialisation hier keine Rolle spiele (in diesem Band: 131). Dass dies falsch ist, belegen all jene Studien, die entsprechende Unterschiede in allen diesen Aktivitäten zwischen den Geschlechtern und/oder zwischen sozialen Schichten identifiziert haben: Dass der kanadische Holzfäller mit hoher Wahrscheinlichkeit anders geht, sitzt, steht und lacht als die New Yorker Balletttänzerin, lässt sich als Ausdruck einer divergenten Art des In-dieWelt-Gestelltseins verstehen, welche sowohl präreflexiv als auch habitualisiert ist (dazu noch immer instruktiv Young 1993, vgl. Rosa 2012: 374-412). Viel wichtiger scheint mir aber der Umstand zu sein, dass der Begriff des Habitus sich eben nicht auf Handlungsroutinen und -gewohnheiten reduzieren lässt: Er meint auch, und vielleicht sogar in erster Linie, eine dispositionale Haltung gegenüber der Welt, eine Art des Erfahrens, Begegnens und Herangehens auch und gerade angesichts neuer und unvorhergesehener Situationen und Herausforderungen. Ob Akteure kontextuelle Inkongruenz als Chance zur Bewährung, als Aufgabe zur Anpassung oder aber als (existenzielle) Bedrohung zu empfinden geneigt sind und wie sie darauf reagieren, hängt stark von ihren habituellen Dispositionen – von ihren Denk- und Wahrnehmungsschemata im Sinne Bourdieus – ab, und diese umfassen selbstverständlich

Das Tempo des sozialen Wandels und die Formen der Reflexivität

auch reflexive Prozesse und Elemente. Archers eigene empirische Untersuchungen (vgl. 2012 und 2007) legen nahe, dass just in der Art und Weise, wie unterschiedliche Akteure auf die Entscheidungszumutungen reagieren und mit der Herausforderung zur Reflexion umgehen, habituelle Differenzen zutage treten, die in die Denk-, Handlungs- und Lebensstile tief eingraviert sind und auch die Weisen des Fühlens bzw. der emotionalen Reaktionen umfassen. Nicht in dem, was sie denken und entscheiden, sondern in ihrem Stil, wie sie denken und an Entscheidungen herangehen und wie sie ihre Handlungssituationen jeweils deuten und bewerten, zeigt sich der Habitus in der Spätmoderne. Dies rechtfertigt es meines Erachtens in der Tat, mit Sweetman (und gegen Archer) von einem reflexiven Habitus auszugehen – allerdings nicht so, dass manche Akteure einen reflexiven Habitus entwickeln und andere nicht, sondern so, dass die Differenzen zwischen den von Archer selbst identifizierten Reflexionstypen als habituelle Differenzen verstanden werden. Archer diskutiert diese Möglichkeit in ihrem Beitrag kurz, verwirft sie aber deshalb, weil sich daraus keine routinisierten Handlungspfade ableiten lassen. Nur weil sie ebenso hartnäckig wie eigensinnig daran festhält, dass von Habitus nur gesprochen werden kann, wenn er mit der invarianten Reproduktion von Handlungsroutinen verbunden ist, kann sie schließlich auch übersehen, in welch hohem Maße die genannten dispositionalen Prägungen für die Reproduktion sozialer Schichtungen auch und gerade in der Spätmoderne verantwortlich sind. Archer behauptet ebenso überraschend wie irritierend, dass »die Vorstellung eines übertragbaren kulturellen Kapitals an Substanz« verliere (in diesem Band: 138), sodass »die elterliche Kultur […] zusehends« aufhöre, »nutzen als Kapital zu haben, das auf dem Arbeitsmarkt eingesetzt werden kann und ein maßgebliches Element innerhalb des elterlichen Erbes ist« (in diesem Band: 136). Diese Feststellung verblüfft angesichts der ubiquitären Befunde wachsender sozialer Schließung und abnehmender sozialer (Aufwärts-) Mobilität auch und gerade im Bildungssektor etwa in den EU-Staaten, insbesondere in Deutschland. Die sozialen Mechanismen, die zwischen »Bildungsbürgern« und »Bildungsverlierern« persistente, von Generation zu Generation sich reproduzierende und neuerdings verschärfende Grenzen ziehen, lassen sich ohne ein Konzept kulturellen Kapitals kaum schlüssig erklären – schon gar nicht als das Resultat reflexiver Deliberation (Maaz/Baumert/Neumann 2014). In Übereinstimmung mit Andrew Sayer, Dave Elder-Vaas und Steve Fleetwood (vgl. Archers Auseinandersetzung mit diesen Autoren im vorliegenden Band) schlage ich daher vor, den Habitus als vierte »eigensinnige« Ebene der sozialen Wirklichkeit anzuerkennen, sodass sich folgendes sozialontologisches Modell ergibt:

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Abbildung 1

Die vier Komponenten der sozialen Wirklichkeit

(Mikroebene)

a) Kollektive Selbstbeschreibungen

c) Reflexives Selbstverständnis

2

(Kultur)

1 5

(Struktur)

4

3

6

d) Präreflexives, verkörpertes Selbstgefühl

(Habitus)

implizit

b) Soziale Institutionen und Praktiken

Agency

explizit

explizit

(Makroebene)

implizit

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Identifizierbare Pathologien 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Institutionenkrise und/oder Ideologiekrise Legitimationskrise Identitätskrise; Psycho-Pathologien Klinische Pathologie, deviantes Verhalten Entfremdungskrise und/oder Institutionenzerfall Eine völlige Unvereinbarkeit zwischen a) und d) könnte in politischen Terror münden.

Auf Grundlage dieses Modells ist es offensichtlich, dass von diesen vier Ebenen unterschiedliche und potenziell konfligierende Handlungsimpulse ausgehen können, die im Handeln bzw. im Bereich der Agency in irgendeiner Weise zum Ausgleich gebracht werden müssen. Nehmen wir das Beispiel eines streng konservativ-christlichen jungen Mannes mit homosexueller Veranlagung in einem westlich-säkularen Staat: Im offiziellen, beispielsweise rechtlichen Selbstverständnis des Gemeinwesens spielt seine sexuelle Orientierung keine Rolle, er kann sogar gleichgeschlechtlich heiraten. In seinem eigenen Selbstverständnis ist Homosexualität aber vielleicht eine schwere Sünde, etwas, das ihn erniedrigt und gegen das er ankämpft. Im Bereich der sozialen Institutionen und Praktiken macht er unterschiedliche Erfahrungen: Auf vielen Feldern

Das Tempo des sozialen Wandels und die Formen der Reflexivität

ist Homosexualität nicht vorgesehen, auf anderen (z.B. auf dem Schulhof) ist sie nach wie vor schimpflich. Seine körperlichen und emotionalen Reaktionen stehen auf jeden Fall im Konflikt mit seinem expliziten christlichen Selbstbild. Seine Lebensgeschichte, seine biografische Entwicklung, wird sich nun aller Voraussicht nach als Konflikt- und Ausgleichsgeschichte zwischen c) und d) vollziehen: Möglicherweise wird er entweder seinen Glauben aufgeben oder modifizieren oder aber sein Gefühlsleben zu bekämpfen und umzudeuten versuchen.2 Er wird aber vielleicht auch Einfluss auf die sozialen Institutionen zu nehmen versuchen (etwa in dem er für ein Adoptionsrecht kämpft) und sich um das Selbstverständnis des politischen Gemeinwesens bemühen. Widersprüche oder Unvereinbarkeiten zwischen den Werten und Deutungen der vier Ebenen werden aufgrund ihrer Eigendynamiken, ganz so wie Archer aber auch andere Critical Realists wie etwa Andrew Sayer oder Dave Elder-Vass es beschreiben, immer bestehen; sie werden nur und erst dort zu einem sozialen Problem, wo sie dauerhaft in konfligierende Handlungsimpulse münden. Lassen diese sich nicht durch inkrementelle Ausgleichs- und Anpassungsbewegungen beheben (kleine Abweichungen von den vorgesehenen Routinen, leichte Umdeutungen bestehender Texte etc.), kommt es zu spezifizierbaren sozialen Krisen, die ich in meinem Modell mit Pfeilen und Nummern markiert habe. Sie sind dann nur durch revolutionäre Veränderungen auf mindestens einer der beteiligten Ebenen zu lösen: Ergeben sich persistente, unauflösbare Widersprüche zwischen den kulturellen Selbstdeutungen und den institutionellen Praktiken eines Gemeinwesens (Pfeil 1), kommt es entweder zu einer institutionellen oder aber zu einer ideologischen Krise: Entweder erscheinen die Praktiken höchst reformbedürftig und verlieren an Bindungskraft, oder aber die herrschenden Doktrinen werden unglaubwürdig und verlieren ihre Überzeugungskraft. Kommt es dagegen zu nachhaltiger Unvereinbarkeit zwischen den offiziell gültigen kollektiven Selbstbeschreibungen (z.B. als »Arbeiter- und Bauernstaat«) und den tatsächlichen Überzeugungen der Akteure, ergibt sich daraus unvermeidlich eine Legitimationskrise (Pfeil  2). Anhaltende Spannungen zwischen der dispositionalen und habituellen Verfassung eines Menschen und seiner reflexiven Selbstdeutung führen dagegen, wie das angeführte Beispiel gezeigt hat, potenziell zu einer Identitätskrise oder sogar zu (psycho-)somatischen Störungen (Pfeil 3). Deviantes Verhalten oder klinische Pathologien können die Folge von Widersprüchen zwischen dem (verkörperten) Habitus einerseits und institutionellen Praktiken andererseits sein (Pfeil 4), während die Unvereinbarkeit zwischen solchen Institutionen und dem reflexiven Selbstverständnis der in ihnen handelnden Akteure ent2 | Mit dieser Konzeption nähere ich mich offensichtlich dem von Dave Elder-Vass (2007) vorgeschlagenen Modell einer Kodetermination des Handelns durch Habitus und Reflexivität an.

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weder zu Entfremdung aufseiten der Akteure führt oder aber die Institutionen auf Dauer aushöhlen wird (Pfeil 5). Ich verzichte hier darauf, die Einzelheiten dieses Modells auszubuchstabieren, da ich das andernorts bereits getan habe (Rosa 2012: 104-147). Es sollte aber deutlich geworden sein, dass sich mit seiner Hilfe sowohl die Art der Beziehung zwischen den ontologischen Ebenen als auch die Natur des historischen Veränderungsprozesses bestimmen lassen und dass sich so darüber hinaus auch das Konzept der Agency und sein Verhältnis zur Reflexivity präzisieren lässt.

2. R efle xivität, soziale B eschleunigung und die drei P hasen der M oderne Im Blick auf die dynamis der Gesellschaft, auf ihren historischen Veränderungsprozess, schlägt Margaret Archer nun vor, dass sich Modernisierung als ein Prozess zunehmender Reflexivierung verstehen lasse. Das bedeutet aus der Perspektive des Modells, dass sich das Gewicht im Verlauf der Entwicklung immer mehr von den verkörperten, materialisierten, routinisierten Elementen (den »impliziten« Ebenen b) und d)) zu den reflexiven verlagert; dass also die Agency immer weniger »von unten« und immer stärker »von oben« bestimmt wird. Reflexivierung wäre demnach geradezu der Kern der Modernisierung (2012). Ähnlich wie Anthony Giddens (Beck/Lash/Giddens 1996), Peter Wagner (1995) oder auch Zygmunt Bauman (2000) unterscheidet sie dabei drei unterschiedliche Phasen bzw. gesellschaftliche Entwicklungsformen (2012: 5): Danach zeichnen sich vor- und frühmoderne Gesellschaften durch eine hohe »kontextuelle Kontinuität« aus. Das bedeutet, dass die strukturellen Bedingungen und die kulturellen Überzeugungen sowie entsprechend auch die expliziten Selbstdeutungen und die habituellen Dispositionen der Akteure eine vergleichsweise hohe Stabilität aufwiesen. »Morphostatische Konfigurationen sind solche, deren Effekte den status quo strukturell und kulturell erhalten.« (Archer 2012: 6). Wenngleich das individuelle Leben stets von unvorhersehbaren äußeren Ereignissen (wie Krankheit, Dürre, Feuer etc.) bedroht war, reproduzierte es sich sowohl in diachroner als auch in synchroner Hinsicht – also sowohl über Generationen als auch über verschiedene Handlungssphären hinweg – in tendenziell kongruenter und unveränderter Form. Die Akteure teilten eine vertraute, gemeinsame Lebenswelt, in denen die Formen der Agency weitgehend verkörpert, routinisiert und habitualisiert waren. Archer nennt eine solche Gesellschaft »morphostatisch«: Sie zielt auf die unveränderte Reproduktion ihrer strukturellen und kulturellen Gestalt ab. Zwar kommt es auch hier zu gelegentlichen Divergenzen zwischen den vier Ebenen, doch erfordern diese nur leichte reflexive Ausgleichsbewegungen: »Anders gesagt, wurde von allen Menschen ein gewisses Maß an Reflexivität verlangt, aber deren Vollzug

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veränderte zumeist weder den eigenen Lebenslauf noch den sozialen Kontext – weshalb wir hier mit guten Gründen immer noch von Traditionalismus sprechen können. Und zwar genau deshalb, weil die Koexistenz von kultureller und struktureller Morphostase einen hohen und beständigen Grad an alltäglicher ›kontextueller Kontinuität‹ für die jeweilige Bevölkerung erzeugte: sich wiederholende Situationen, gleich bleibende Erwartungen und dauerhafte Beziehungen.« (Archer 2012: 49 [Hervorh. im Orig.]) Im Gegensatz dazu ist die Moderne durch eine scharfe kontextuelle Diskontinuität gekennzeichnet – oder anders formuliert, sie besteht geradezu in einem Bruch mit der Tradition auf allen vier Ebenen der sozialen Wirklichkeit. Indem Institutionen, Konventionen und Routinen grundsätzlich hinterfragbar wurden und indem sich die Erwartung herausbildete, dass die jeweils junge Generation eben nicht die Muster der Elterngeneration (in ihrer beruflichen Tätigkeit, in ihrer politischen und religiösen Orientierung, in ihren Lebensweisen und ihrem Geschmack) übernahm, kam es auf allen vier Ebenen erstens zu Um- und Neuformierungen (morphogenesis), indem sich sowohl Überzeugungen und Wertmuster als auch Institutionen und Praktiken veränderten, und zweitens zu einem erhöhten Bedarf an Reflexivität: Agency wurde in erheblichem Maße durch Entscheidungen und Deliberationsprozesse bestimmt. Reflexivität gewann daher und dabei eine ganz neue Form und Bedeutung. Nichtsdestotrotz entwickelte sich in der »klassischen Moderne« auch eine starke Tendenz zur kulturellen und strukturellen Restabilisierung und sogar zur Reroutinisierung des Handelns: Wie zahlreiche Autoren von Giddens (Beck/ Lash/Giddens 1996) über Beck (1986) und Bauman (2000) bis Kohli (1986) bemerkt haben, lassen sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zahlreiche sowohl kulturelle als auch strukturelle bzw. institutionelle Verfestigungen moderner Gesellschaftsmuster identifizieren, die von der Herausbildung eines stabilen »Lebenslaufregimes« über die Institutionalisierung von Bildungswegen, Arbeits(zeit)regimen, Tarifverhandlungen etc. bis zur Organisation demokratischer Beteiligungsformen reichten. Das Kennzeichen dieser klassischen Moderne, so Archer, ist deshalb die Koexistenz oder das Zusammenwirken morphogenetischer (d.h. strukturverändernder) und morphostatischer Kräfte, mithin also »das gleichzeitige Vorhandensein von negativem, strukturerhaltendem Feedback und positivem, strukturveränderndem Feedback für strukturelle, kulturelle und agentielle Eigenschaften und Wirkkräfte.« (2012: 6). Insgesamt aber ist die Moderne durch eine stetige Zunahme an Dynamik und damit an Strukturveränderung gekennzeichnet, und damit einher geht ein wachsender Bedarf an Reflexivität: »Der Umfang, in dem Reflexivität von sozialen Subjekten praktiziert wird, wächst proportional zum Ausmaß, in dem sie mit struktureller und kultureller Morphogenese (anstatt mit Morphostase) konfrontiert sind.« (2012: 7) In der Folge ist die dritte Phase der Moderne – die zeitgenössische Spätmoderne – nun gekennzeichnet durch die Ubiquität der

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Morphogenese: »Morphogenetische Konfigurationen […] geben beinahe allen Alltagssituationen die Form ›kontextueller Inkongruenz‹, die sich dadurch auszeichnet, dass Orientierungshilfen aus der Vergangenheit zunehmend inkongruent gegenüber der neuartigen Vielfalt angetroffener Situationen werden. Zunehmend muss jedes Subjekt seinen oder ihren eigenen Weg in der Welt ohne etablierte Orientierungshilfen finden.« (Ebd.: 6) In dieser Phase herrscht nicht einfach eine erwartbare Form an kontextueller Diskontinuität, sondern ein hohes Maß an (synchroner und diachroner) kontextueller Inkongruenz bei einer gleichzeitigen Zunahme an sozialer Mobilität: Von Handlungskontext zu Handlungskontext und von heute auf morgen müssen Akteure damit rechnen, sowohl in ihren Praktiken und Routinen als auch in ihren Überzeugungen und Selbstdeutungen vor unerwarteten Herausforderungen zu stehen. Dies zwingt sie infolge des zitierten »Proportionalitätsgesetzes« zu einem hohen Maß an stetiger Reflexivität – selbst (und gerade) dann, wenn ihnen daran gelegen ist, ihren eigenen sozialen und kulturellen status quo zu erhalten (siehe Archers Beitrag in diesem Band). Obwohl ich diese Analyse im Wesentlichen teile, scheinen sich mir auch hier zwei systematische Anschlussfragen zu ergeben, die Archers Ansatz in der vorgelegten Form nicht ohne Weiteres zu lösen vermag: Zum ersten ist es unklar, was die Übergänge zwischen diesen drei Phasen oder Stadien der Moderne markiert, wenn diese insgesamt durch eine Zunahme der Morphogenese und der Reflexivität gekennzeichnet ist. Haben wir es dann wirklich mit drei Phasen oder eher mit einem kontinuierlichen Veränderungsprozess zu tun? Zum zweiten aber, und dieses Problem wiegt meines Erachtens schwerer, bleibt die Frage unbeantwortet, was eigentlich das grundlegende Antriebsprinzip dieses Veränderungsprozesses ist. Archer scheint hier unentschlossen zu sein: An manchen Stellen hat es den Anschein, als sei der »Reflexivitätsimperativ« eine Konsequenz wachsender Morphogenese. Das wäre durchaus plausibel, dann stellt sich aber die Frage, welches der soziale Motor der kontinuierlichen Verschiebung von morphostatischen zu morphogenetischen Figurationen ist. In anderen Zusammenhängen klingt es dagegen eher so, als sei die Zunahme der Reflexivität selbst der Motor, also ein sich gleichsam selbstantreibender Prozess, dessen »kausallogische« Antriebskraft dann aber im Lichte des ontologischen Modells selbst im Dunkeln bleibt. An dieser Stelle nun möchte ich den Vorschlag unterbreiten, dass sich beide Fragen gleichsam »integrativ« lösen lassen, wenn man sowohl die Zunahme der Morphogenese als auch das Anwachsen der Reflexivitätserfordernisse als eine Konsequenz bzw. ein Kennzeichen der sozialen Beschleunigung – als dem »eigentlichen« Kernprozess der Moderne, wie ich in meiner eigenen Moderneanalyse (Rosa 2005) zu zeigen versucht habe – versteht. Die Ausgangsthese hierzu lautet, dass die Geschichte der Moderne spätestens seit dem 18. Jahrhundert eine Geschichte der Dynamisierung der Gesell-

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schaft ist, die ich unter dem Stichwort der sozialen Beschleunigung analysiert habe. Dieser Beschleunigungsprozess umfasst drei analytisch und kausallogisch unterscheidbare Dimensionen, die sich in ihrer Dynamisierungswirkung jedoch wechselseitig verstärken (Rosa 2005: 161-255): Zum ersten ist dies der Bereich technischer Beschleunigung, d.h. der intentionalen Beschleunigung zielgerichteter Prozesse. Aus dieser Perspektive zeichnet sich der Modernisierungsprozess vor allem durch die ungeheure Geschwindigkeitssteigerung im Bereich von Transport, Kommunikation und Produktion aus. Eine zweite Dimension des Dynamisierungsprozesses ist die Beschleunigung des Lebenstempos: Moderne Gesellschaften sind durch das stetig wachsende Gefühl der Zeitknappheit gekennzeichnet, was dazu führt, dass die Akteure versuchen, die Zahl der Handlungs- und oder Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit, also etwa im Verlauf eines Tages, einer Woche, eines Jahres oder auch eines Lebens, zu erhöhen. Sie tun dies auf mindestens dreierlei Weise, indem sie nämlich schneller handeln (also etwa fast food verzehren statt umständlich zu kochen), ihre Handlungen besser synchronisieren (mithin also Pausen und Leerzeiten zu vermeiden trachten) und schließlich mehrere Dinge simultan ausführen (»Multitasking«). Sie reagieren damit auch auf die Dynamisierungsprozesse in der dritten Dimension, die ich als Beschleunigung des sozialen Wandels identifiziert habe. Diese besagt, dass sich die soziale Veränderungsgeschwindigkeit selbst erhöht hat: Die Welt bleibt nicht, wie sie ist, die (ökonomischen, sozialen, kulturellen, politischen und materiellen) Hintergrundbedingungen unseres Handelns ändern sich mit wachsendem Tempo. Die Halbwertszeiten des Wissens, der Assoziationsmuster und der Praxisformen nehmen ab. Zur Präzisierung habe ich auf das von Hermann Lübbe (1998) stammende Konzept der Gegenwartsschrumpfung zurückgegriffen: Die »Gegenwart« einer Handlungssphäre beschreibt den Zeitraum, in dem die Hintergrundbedingungen des Handelns stabil bleiben, in dem also aus gemachten Erfahrungen gültige Rückschlüsse auf das zu Erwartende gezogen werden können. Von ihr zu unterscheiden sind die nicht mehr geltenden Formen und Bedingungen (sie sind »von gestern«) und die noch nicht geltenden Formen (als »Zukunftsmusik«). Es scheint nun aber offensichtlich zu sein, dass Gegenwart in diesem Sinne genau das meint, was Margaret Archer als »kontextuelle Kontinuität« beschreibt, und dass die Zunahme kontextueller Diskontinuität daher dasselbe beschreibt wie Gegenwartsschrumpfung: Die Kontextbedingungen des Seins und Handelns ändern sich mit steigendem Tempo und zwingen so zu reflexiver Umorientierung. Versteht man auf diese Weise die Beschleunigung des sozialen Wandels als einen Kernprozess der Modernisierung, dann lassen sich darüber auch die drei Phasen der Entwicklung ganz so, wie Archer sie bestimmt, identifizieren und definieren. Der Ausgangspunkt hierfür ist die Einsicht, dass die kulturelle

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Wahrnehmung und Verarbeitung der kontextuellen Veränderungen mit dem Tempo des Generationenwandels korreliert sind: Ändert sich die geteilte soziale Welt in einer Geschwindigkeit, die langsamer ist als die Generationenfolge von den Großeltern oder Urgroßeltern zu den Enkeln, bleibt die »Gegenwart« in den meisten Handlungssphären also über einen Zeitraum von mehr als ca. 80 Jahren stabil, sodass die zu einem bestimmten Zeitpunkt zusammenlebenden Generationen dieselbe Gegenwart teilen, dann herrscht kontextuelle Kontinuität oder »Morphostase«: Großmutter und Enkel teilen eine Welt, sie reden, wenn sie sich unterhalten, nicht von der je ihrigen Welt, sondern von »der Welt«. In ihr stimmen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont weitgehend überein: Die Zeitwahrnehmung ist prädominant eine zyklische, man erwartet von der Zukunft, was man aus der Vergangenheit schon kennt. Das Tempo des Wandels ist intergenerational. Steigt es nun über jene kritische Schwelle von ca. 80 bis 100 Jahren an, welche das kommunikative soziale Gedächtnis umfasst (vgl. dazu Assmann 1992, Koselleck 1989: 328ff. und 366ff.), dann machen die Akteure die Erfahrung kontextueller Diskontinuität: Großmutter und Enkel unterscheiden nun ihre Welten: »In meiner Welt gingen Jungs wie du im Sommer barfuß zur Schule, ihr tragt Turnschuhe; zu meiner Zeit war es eine gute Entscheidung, Zimmermann zu werden, heute solltet ihr Abitur machen«: In kleinen wie in großen Dingen lässt sich Diskontinuität beobachten, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont treten auseinander (Koselleck 1989), was zu einer Linearisierung der Zeiterfahrung führt – man erwartet von der Zukunft anderes, als man aus der Vergangenheit kennt – und die Generationen werden zu Trägern der Erneuerung. Der kontextuelle Bruch wird geradezu zu einem Generationenauftrag: Von der nachwachsenden Generation wird erwartet, dass sie sich »vom Elternhaus löst«, ihren »eigenen Platz« in der Welt findet, d.h. (zunächst für die bürgerlichen Jungen, später auch für die Proletarier und Mädchen) einen eigenen Beruf ergreift, eine eigene Familie gründet, sich religiös und politisch eigenständig positioniert etc. (vgl. Weymann 2000) und insgesamt in »einer neuen Welt und Zeit« lebt. Das Tempo des sozialen Wandels entspricht dabei nun einem generationalen Wandlungstempo, die soziokulturelle »Gegenwart« hat für einen Zeitraum von etwa 20 bis 80 Jahren Bestand. Es ist dabei aber auch deutlich zu sehen, woher die stabilisierenden (»morphostatischen«) Impulse kommen: Jede Generation versucht, ihre Welt, nachdem sie einmal »eingerichtet« ist, stabil zu halten und dabei den eigenen »Werdegang«, die Biografie, linear-zeitlich im Sinne eines Lebenslaufs oder Karrierewegs zu planen. Dies ändert sich nun aber ein weiteres Mal, wenn das Tempo des sozialen Wandels über die kritische Generationenschwelle hinweg ansteigt: Wird die »Gegenwart« kürzer als ca. 20 bis 30 Jahre, d.h., wird das Veränderungstempo intragenerational, werden Großmutter und Enkel nicht mehr von »ihren« Welten sprechen, denn sie haben beide konstitutive Diskontinuität innerhalb ihrer je eigenen Lebenswelten erlebt. Sie erfahren dann nicht

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mehr kontextuelle Diskontinuität, sondern tendenziell einfach kontextuelle Inkongruenz, so wie Archer dies beschreibt: »Jetzt« ist es so, morgen wird es anders sein. Alle Identitätsprädikate (wie Beruf, Familienstand, Wohnort, religiöse Affiliation, politische Orientierung etc.) müssen mit einer Zeitmarkierung versehen werden: Seit einem Jahr lebe ich in München, seit vorigen Herbst arbeite ich als Designer, vor drei Jahren lebte ich mit Margarete zusammen etc. Weil die jeweilige Stabilitäts- bzw. Kontinuitätsdauer nicht mehr absehbar ist, verändert sich auch die Zeiterfahrung ein weiteres Mal: Ihr vorherrschender Modus ist nicht mehr die lineare Zeit, welche plan- und erwartbare Zukunft voraussetzt, sondern die »zeitlose« Zeit der temporalen Kontingenz: Über Dauer, Reihenfolge und Rhythmus von Ereignissen wird erst im Vollzug entschieden. Dies wiederum begründet auch, warum der »Reflexivitätsimperativ« in dieser Epoche für die Akteure gewaltig zunimmt. Hier ist nicht der Ort, um auf die Konsequenzen dieses doppelten Umbruchs im Beschleunigungsprozess der Moderne für die Identitätsmuster, Handlungs- und Reflexionsformen der Akteure in extenso einzugehen (vgl. dazu ausführlich Rosa 2005 und 2012; siehe auch die Tabelle in Abb. 2). Grundlegend ist – und hier stimme ich ganz mit Archer überein –, dass sich in diesem Prozess die Art und Weise, wie Akteure sich zur sozialen Welt in Bezug setzen und sich darin verorten, verändert. Daher scheint mir die Überlegung durchaus interessant zu sein, dass die vier von Archer empirisch ermittelten Modi der Reflexivität »strukturlogisch« den unterschiedlichen Phasen der historischen Entwicklung entsprechen könnten, auch wenn sich alle vier Formen natürlich (auch) in der Gegenwartsgesellschaft identifizieren lassen: Die kommunikative Reflexivität basiert auf der Erfahrung geteilter Lebenswelt, die autonome Reflexivität der selbstbestimmten Positionierung entspricht der Diskontinuitäts- und Welterfahrung der »klassischen« Moderne, während Metaund fragmentarische Reflexivität strukturlogisch als Verarbeitungsformen der kontextuellen Inkongruenz erscheinen (Archer 2012: 12-16 und 2007: 143-265). Entscheidend für den gegebenen Zusammenhang aber ist, dass sich mithilfe einer solchen Zusammenführung von Beschleunigungstheorie und Archers morphogenetischem Ansatz sowohl die Entstehung des »Reflexivitätsimperativs« als auch die Zunahme kontextueller Diskontinuität kohärent erklären und kausal »verorten« lassen und damit die beiden aufgeworfenen Fragen schlüssig beantwortet werden können.

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Abbildung 2: Kontextuelle Diskontinuität und zunehmende Reflexivität als Konsequenzen sozialer Beschleunigung Periode Tempo des Wandels

Vor-/Frühmoderne intergenerational

Klassische Moderne generational

Spätmoderne intragenerational

Soziale Stabilität

Kontextuelle Kontinuität Kongruenz von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont; zyklische Zeit

Kontextuelle Diskontinuität Auseinandertreten von Vergangenheit und Zukunft; lineare Zeit

Vorgegeben: stabile Identität „a priori“; transindividuelle Identität Kommunikative Reflexivität

Erworben im Sozialisationsprozess/ in der Adoleszenz; stabile Identität „a posteriori“ Autonome Reflexivität

Kontextuelle Inkongruenz Über Dauer, Reihenfolge u. Rhythmus wird im Vollzug entschieden; zeitlose Zeit temporaler Kontingenz Performative/situative Identität und Positionierung; instabile Identität Meta- bzw. fragmentarische („fractured“) Reflexivität

Zeitwahrnehmung

Identität und soziale Positionierung Modus der Reflexivität

3. D ynamische S tabilisierung und die morphogene tische I llusion Mein vielleicht wichtigster Punkt in der konstruktiven Auseinandersetzung mit Archers überaus inspirierendem Ansatz betrifft aber die Frage nach der angemessenen Interpretation der gegenwärtigen spätmodernen Gesellschaft und damit insbesondere auch die Frage ihrer Kritikwürdigkeit, auf die es dem Critical Realism im Sinne der praxis ja durchaus ankommt. Für Archer ist die spätmoderne Gesellschaft durch ein beispiellos hohes Maße an Morphogenese, d.h. an der Hervorbringung von Veränderungen und Innovationen auf den Ebenen institutioneller und kultureller Strukturen und Handlungspraktiken, gekennzeichnet. Tatsächlich, so ihr Argument, bildet sich zwischen den identifizierten Ebenen des Sozialen ein positiver Feedbackprozess heraus, dessen generativer Mechanismus darin bestehe, dass »Varianz mehr Varianz erzeugt« (Archer 2012: 314, vgl. dass.: 31). Den schroffen Gegensatz hierzu bildet nach ihrer Auffassung eine morphostatische Gesellschaft, die strukturell, kulturell und in den Handlungspraktiken darauf angelegt ist, den status quo stabil zu erhalten (ebd.: 6). Meines Erachtens verkennt Archer nun aber die tatsächlich Formationslogik moderner Gesellschaften, weil sie Morphogenese und Morphostase stets als sich wechselseitig ausschließende Gegensätze denkt (vgl. dazu auch ElderVass 2011: 33-38). Geht man von der letzteren Bestimmung aus und fragt danach, wie (spät-)moderne Gesellschaften ihre Strukturen reproduzieren und stabilisieren, dann offenbart sich etwas, was Archer systematisch übersieht: Dass nämlich das spezifische Charakteristikum der Moderne nicht nur dar-

Das Tempo des sozialen Wandels und die Formen der Reflexivität

in liegt, dass sie sich materiell, kulturell und institutionell ständig verändert, sondern weit mehr noch darin, dass sie ihren strukturellen status quo nur so, nur durch Veränderung und Steigerung zu reproduzieren vermag. Eben dies habe ich in meinem Aufsatz Historischer Fortschritt oder leere Progression? Das Fortschreiten der Moderne als kulturelles Versprechen und als struktureller Zwang (2013) zu zeigen versucht. Eine moderne Gesellschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sich nur dynamisch zu stabilisieren vermag, das heißt, dass sie systematisch auf Wachstum, Beschleunigung und die Steigerung von Innovationsleistungen angewiesen ist, um ihren status quo zu erhalten. Der Übergang in den Modus dynamischer Stabilisierung ist dabei durchaus vereinbar mit dem, was Archer als den Übergang von Morphostase zu Morphogenese beschreibt. Was sie jedoch nicht im Blick hat, ist der Umstand, dass die Strukturneubildung nicht alle Elemente des Sozialen erfasst, sondern in zentralen Gesellschaftssphären zur Stabilisierung und sogar zur Solidifizierung oder Petrifizierung – zu Versteinerung – führt. Im Modus der Steigerung und Innovierung erhält die Moderne zum ersten ihre grundlegende institutionelle Struktur, ihre »Basisinstitutionen« des ökonomischen, politischen und sozialstaatlichen Systems: den Markt, die repräsentative Demokratie, das Bildungs- und Wissenschaftsebenso wie das Gesundheitssystem etc. Dabei wird aber, zum zweiten, auf ebenso stabile Weise auch die sozioökonomische Stratifikation, die Struktur sozialer Ungleichheit reproduziert. Zum dritten schließlich bleiben dabei erst recht und unverändert die Antriebsmotoren der Akkumulation und des Wettbewerbs und damit auch die unerbittlichen Imperative des Wachstums-, Steigerungs-, Innovations- und Beschleunigungszwangs in Kraft (Rosa 2005: 428-458). Tatsächlich haben Marx und Engels diese Simultanität von Neubildung und Erstarrung, diesen Zwang zur Veränderung um der Erhaltung des status quo willen als spezifisches Charakteristikum der Moderne bereits im Kommunistischen Manifest auf eindrucksvolle Weise zum Ausdruck gebracht: Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen. (Marx/Engels 1848: 465)

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Die »unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise« als »erste Existenzbedingung« früherer Formationen bringt just die Umstellung von einem auf Bestandserhaltung hin angelegten zu einem dynamischen Modus der Stabilisierung, mithin von einem morphostatischen zu einem morphogenetischen Modus in Archers Sinne, auf den Punkt. Ohne Wachstum, Beschleunigung und Innovation geraten moderne Gesellschaften unvermeidlich in Krisen, die den sozialen status quo gefährden oder untergraben: Sie verlieren ihre Wettbewerbsfähigkeit, ihre Arbeitsplätze, ihr Haushaltsgleichgewicht und am Ende ihre politische Legitimation. Der status quo der kapitalistischen Akkumulationsform und der damit verbundenen gesellschaftlichen Steigerungsformation wird dabei also durch die beschriebene »ununterbrochene Erschütterung und Erneuerung« gerade nicht verändert, sondern reifiziert. Soweit diese Analyse plausibel ist, erweist sich die (spät-)moderne Gesellschaft damit also nur an der Oberfläche als »morphogenetisch«, in der Tiefe aber durchaus als »morphostatisch«. Tatsächlich scheint zwischen diesen beiden Tendenzen eine paradoxale wechselseitige Verstärkung zu bestehen: Je frenetischer der Wandel an den (materiellen und substanziellen, kulturellen und institutionellen) Oberflächen, umso starrer die Gesetzmäßigkeiten der Formierung, die genetischen Imperative (dazu ausführlich Rosa 2005: 428-458). Sie formen das von Max Weber identifizierte »stahlharte Gehäuse« der Moderne, das zur sozialen Wahrnehmung einer politischen »TINA«-Situation führt (nach Margaret Thatchers berühmtem Diktum »There Is No Alternative«), in der es zur Erfüllung der Steigerungsimperative keine Alternative gibt und die in einem markanten Kontrast zu Archers Beschreibung struktureller Offenheit steht. Darin aber wird ersichtlich, dass die Zunahme an Kontingenzen und die Steigerung von Reflexivität keineswegs umstandslos als Freiheitszugewinne interpretiert werden dürfen, wie dies in Archers Deutung manchmal erscheint: Sie sind verbunden mit einem unerbittlichen Optimierungszwang auf der Seite der individuellen Subjekte und mit dem Verlust kollektiver politischer Gestaltungsmöglichkeiten auf der Seite demokratischer Gemeinwesen. Die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit wird zu einem übergeordneten sozialen Imperativ, der die individuellen wie kollektiven Autonomiespielräume, die sich im Verlauf des Modernisierungsprozesses eröffneten, sukzessive zu erodieren droht. Das freilich entgeht dem Blick, wenn man zu sehr auf die sich verändernden Handlungskontexte fokussiert und die strukturellen Formationsgesetze außer Acht lässt. Eben hier aber könnte der Schnittpunkt liegen, an dem sich Kritische Theorie und Critical Realism im Dienste einer theoretisch anspruchsvollen und empirisch gehaltvollen Sozialkritik fruchtbar zu ergänzen vermögen: Die Analyse der historischen Formations- und Bewegungsgesetze steht, wie etwa Adorno immer wieder betonte (z.B. 1968: 42), im Zentrum der ersteren; demgegenüber die Spielräume des Handelns, der Agency zu betonen,

Das Tempo des sozialen Wandels und die Formen der Reflexivität

ist die Leistung des letzteren. Dass Archers Arbeiten aber die konzeptuellen Mittel liefern, diese beiden Analyseperspektiven zusammenzuführen, ist für die zeitgenössische Sozialtheorie von großem und bleibendem Wert.

L iter atur Adorno, Theodor W. (1968): Einleitung in die Soziologie, Nachgelassene Schriften Bd. 15, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. Archer, Margaret S. (1995): Realist Social Theory. The Morphogenetic Approach, Cambridge: Cambridge University Press. Dies. (2007): Making our Way Through the World. Human Reflexivity and Social Mobility, Cambridge: Cambridge University Press. Dies. (2012): The Reflexive Imperative in Late Modernity, Cambridge: Cambridge University Press. Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: Beck. Bauman, Zygmunt (2000): Liquid Modernity, Cambridge: Polity Press. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Beck, Ulrich/Giddens, Anthony/Lash, Scott (1996): Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Elder-Vass, Dave (2007): »Reconciling Archer and Bourdieu«, in: Sociological Theory 25, S. 325-346. Ders. (2011): The Causal Power of Social Structures. Emergence, Structure and Agency, Cambridge: Cambridge University Press. Kohli, Martin (1986): »Gesellschaftszeit und Lebenszeit. Der Lebenslauf im Strukturwandel der Moderne«, in: Johannes Berger (Hg.), Die Moderne – Kontinuitäten und Zäsuren (Sonderband 4 der Sozialen Welt), Göttingen: Otto Schwartz & Co., S. 183-207. Koselleck, Reinhart (1989): Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lübbe, Hermann (1998): »Gegenwartsschrumpfung«, in: Klaus Backhaus/ Holger Bonus (Hg.), Die Beschleunigungsfalle oder der Triumph der Schildkröte, Stuttgart: Schäffer/Pöschel, S. 129-164. Maaz, Kai/Baumert, Jürgen/Neumann, Marko (Hg.) (2014): Herkunft und Bildungserfolg von der frühen Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Forschungsstand und Interventionsmöglichkeiten aus interdisziplinärer Perspektive (Sonderheft Nr. 24 der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft), Wiesbaden: Springer VS. Marx, Karl/Engels, Friedrich (1848): Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 4, Berlin: Dietz 1959, S. 459-493.

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Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ders. (2012): Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik, Berlin: Suhrkamp. Ders. (2013): »Historischer Fortschritt oder leere Progression? Das Fortschreiten der Moderne als kulturelles Versprechen und als struktureller Zwang«, in: Ulrich Willems/Detlef Pollack/Helene Basu/Thomas Gutmann/Ulrike Spohn (Hg.), Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularisierung, Bielefeld: transcript, S. 117-142. Rosa, Hartmut/Strecker, David/Kottmann, Andrea (2007): Soziologische Theorien, Stuttgart: UTB. Wagner, Peter (1995): Soziologie der Moderne. Freiheit und Disziplin, Frankfurt a.M./New York: Campus. Weymann, Ansgar (2000): »Sozialer Wandel, Generationenverhältnisse und Technikgenerationen«, in: Martin Kohli/Marc Szydlik (Hg.), Generationen in Familie und Gesellschaft, Opladen: Leske + Budrich, S. 36-58. Young, Iris Marion (1993): »Werfen wie ein Mädchen. Eine Phänomenologie weiblichen Körperverhaltens, weiblicher Motilität und Räumlichkeit«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41, S. 708-725.

2. Das Wissen der Ökonomie

Eine Frage der Ontologie Die Wirtschaftswissenschaft und die gegenwärtige Krise des Kapitalismus 1 Steve Fleetwood

Metatheoretisch gesprochen gibt es vor allem zwei Weisen, sozioökonomische Phänomene im Allgemeinen und die gegenwärtige Wirtschaftskrise im Besonderen zu untersuchen. Beide beruhen auf einer eigenen Ontologie: Die erste Richtung, die ich als »szientistisch ausgerichtete Ökonomik« bezeichne, hat ihre Wurzeln in einer Ontologie atomistischer, beobachtbarer Ereignisse und Ereignisregelmäßigkeiten. Die zweite, von mir »politische Ökonomik« genannt, kann in einer Ontologie verankert werden, die ich hier abkürzend als eine solche von Strukturen und Mechanismen fasse, welche von menschlichen Akteuren reproduziert und transformiert werden. Diese Ontologie wird von Vertreterinnen des Critical Realism stark gemacht, weshalb auch die von mir befürwortete Version der politischen Ökonomie2 an diesem Ansatz orientiert ist.3 Im Folgenden wird zu zeigen versucht, dass die szientistisch ausgerichtete Ökonomik buchstäblich unbrauchbar ist, wenn es darum geht, die gegenwärtige Krise zu erklären, und die Quelle dieser Nutzlosigkeit in der zugrunde liegenden Ontologie verortet. Im Gegensatz dazu ist die politische Ökonomie für 1 | Ich bedanke mich bei Dimitri Mader für mehrere ausgezeichnete Vorschläge, die meiner Meinung nach den vorliegenden Beitrag erheblich verbessert haben. 2 | Ich schätze den Ausdruck »politische Ökonomie« nicht sonderlich – (a) weil er oft als eine Art 19.-Jahrhundert-Ökonomik (miss-)verstanden wird und (b) weil er in der orthodoxen Ökonomik als gleichsam »mathematische Politik« auftritt – d.h. als Rational-Choice-Theorie. Dennoch scheint er mir auch gegenüber »sozialer Ökonomie«, »moralischer Ökonomie« und »kultureller politischer Ökonomie« das geringere Übel zu sein. Meine Verwendung von »politischer Ökonomie« schließt die soziale, moralische und kulturelle politische Ökonomie ein. 3 | Eine allgemeine ökonomietheoretische Ausarbeitung des Critical Realism findet sich bei Lawson (1997 und 2003).

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diesen Erklärungszweck weit besser geeignet – und zwar wiederum wegen der ihr zugrunde liegenden Ontologie. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass ein direkter Weg von einer richtigen Ontologie zu einer richtigen Erklärung führen würde, aber es kann durchaus einen direkten Weg von einer falschen Ontologie zu einer falschen Erklärung geben. Mein Beitrag hat fünf Teile. Zunächst werden zwei konkurrierende Ontologien der Ökonomie vorgestellt. Der zweite Teil führt in die szientistisch ausgerichtete Ökonomik ein und erläutert deren ontologische Wurzeln. Teil drei macht mit der politischen Ökonomie bekannt und benutzt den Critical Realism, um deren ontologische Grundlagen zu explizieren. In einem vierten Schritt wende ich mich dann der gegenwärtigen (europäischen) Krise zu. Abschließend werden all diese Stränge zusammengeführt, um die Unbrauchbarkeit der szientistisch ausgerichteten Ökonomik zur Erklärung der Krise aufzuzeigen.

1. Z wei konkurrierende O ntologien der Ö konomie Die gesamte Orthodoxie (ob mainstream oder neoklassisch), sowohl in der ökonomischen Theorie als auch in der Forschung (und Politik), beruht ausdrücklich auf der Anwendung von etwas, das gemeinhin als »wissenschaftliche« Methode bezeichnet wird. Weil nun aber orthodoxe Ökonominnen selten über ihre Methode reflektieren (oder allgemeiner über ihre Metatheorie), landen sie in der Regel bei einem undurchdachten Wirrwarr aus deduktiv-nomologischem, hypothetisch-deduktivem, induktiv-statistischem und/oder coveringlaw-Modell der Erklärung. Aus dieser Perspektive (bzw. aus diesen Perspektiven) heißt etwas erklären, eine Voraussage machen, was sich über dieses Etwas als wahr behaupten lässt, wenn es aus einer Reihe von Anfangsbedingungen, Annahmen, Axiomen und Gesetzen abgeleitet wird. Die als Hypothese formulierte Voraussage kann dann beispielsweise lauten: »Eine Zunahme der Dichte von Gewerkschaftsmitgliedschaft (Ereignis x) geht einher mit einer Abnahme der makroökonomischen Leistung (Ereignis y).« Diese Hypothese wiederum lässt sich (auch wenn dies im Fall vieler »Spielzeug«-Modelle oft nicht geschieht) unter Rückgriff auf verschiedene statistische Techniken prüfen. Diese Auffassung von »wissenschaftlicher Methode« ist allerdings keine wirkliche Wissenschaft, sondern Schein- oder Schwindelwissenschaft (vgl. Fleetwood/Hesketh 2010). In der Tat ist es daher genauer und weniger irreführend, sie als »szientistische Methode« zu bezeichnen. Was heterodoxe Ökonominnen nicht immer hinreichend berücksichtigen, ist der Umstand, dass ein Großteil ihrer eigenen Strömung, einschließlich einiger marxistischer Ökonomiken, ebenfalls auf der Anwendung dieser »szientistischen« Methode beruht. Die bloße Bezeichnung als »marxistische

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politische Ökonomie« oder auch die Benutzung »marxistischer« Variablen ändert daran überhaupt nichts. Ich verwende daher den Ausdruck »szientistisch ausgerichtete Ökonomik« für jede ökonomische Schule, welche die szientistische Methode benutzt – was unter anderem auch für einige österreichische, evolutionäre, feministische, institutionalistische, postkeynesianische, marxistische und radikale Ökonomiken gilt.

2. D ie szientistisch ausgerichte te Ö konomik und ihre ontologischen W urzeln Ontologie ist die allgemeine Untersuchung des Seienden, der Existenz oder – noch einfacher ausgedrückt – das Studium der Art und Weise, wie die Welt ist. Sozialontologie ist die allgemeine Untersuchung der Art und Weise, wie die soziale Welt ist, und ökonomische Ontologie die allgemeine Untersuchung der Art und Weise, wie die Ökonomie ist. Wie alle Methoden setzt auch die szientistische Methode eine Ontologie voraus. In diesem Fall handelt es sich um eine Ontologie atomistischer, beobachtbarer Ereignisse sowie von Ereignisregelmäßigkeiten. Beobachtete Ereignisse sind die letztgültigen Phänomene, in Bezug auf welche szientistisch ausgerichtete Ökonominnen (wie ich sie nenne) Daten erheben – beispielsweise Arbeitslosigkeit, Inflation, Wachstumsraten, Lohnquoten usw. Qua Beobachtung (oder Simulation) in Begriffen der Quantität oder des Grades werden diese Ereignisse zu Variablen – d.h. zu quantifizierten Ereignissen. Die Ontologie besteht daher aus beobachteten Ereignissen, die einzigartig, unverbunden oder auch atomistisch sind. Derjenige Teil der Welt, welcher der »wissenschaftlichen« Untersuchung zugänglich ist, so lautet die Annahme, erschöpft sich in beobachtbaren Phänomenen, wobei die letzteren mit Ereignissen verschmolzen werden, die Beobachtungen zugrunde liegen und sie hervorbringen. Im Ergebnis wird damit die Beobachtung von Ereignissen als ein verlässlicher, in der Tat als der einzige Weg zur Gewinnung von Wissen definiert. Diese Ontologie (schematisch in Schaubild 1 dargestellt) wird von Vertreterinnen des Critical Realism als »flach« bezeichnet, teils wegen der Verschmelzung der Bereiche des Empirischen und des Tatsächlichen, teils auch weil ihr jegliche »Tiefe« abgeht – was weiter unten erörtert wird.

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Abbildung 1: Eine flache Ontologie Bereich

Entität

Empirisch

Erfahrungen & Beobachtungen

Tatsächlich

Ereignisse & Handlungen

Epistemologie Für szientistisch ausgerichtete Ökonominnen wird partikulares Wissen durch die Beobachtung von Ereignissen gewonnen, stärker allgemeines oder (vermeintlich) »wissenschaftliches« Wissen ist jedoch daran gekoppelt, dass die Ereignisse selbst in einer Art Muster erscheinen. Solche Muster bestehen aus Ereignisregelmäßigkeiten – d.h. dem Auftreten eines Ereignisses folgt regelmäßig das Auftreten eines anderen Ereignisses. Eine typische (behauptete) Regelmäßigkeit von Ereignissen wäre dann eine solche, wo auf eine Lohnerhöhung (als ein Ereignis) regelmäßig ein Rückgang in der Nachfrage nach Arbeit (als ein anderes Ereignis) folgt. Ereignisregelmäßigkeiten können als deterministisch oder als stochastisch – d.h. probabilistisch – aufgefasst werden. • Deterministische Ereignisregelmäßigkeiten lassen sich folgendermaßen formalisieren: »Immer wenn Ereignis x auftritt, dann tritt Ereignis y auf«; »immer wenn Ereignis x 1 … xn, dann Ereignis y«; y = f (x) oder y = F (x 1 … xn). • Stochastische Regelmäßigkeiten von Ereignissen folgendermaßen: »Immer wenn der Mittelwert der Ereignisse x 1, x2, x3, x 4,… xn, dann der Mittelwert von Ereignis y«. Eine (allgemeine) ökonometrische Gleichung, die diese stochastische Wendung zum Ausdruck bringt, wäre dann: (1) y = α + β 1 X 1 + β2X 2 + β3X3 + β4X 4 + … βnX n + ε Hier ist Folgendes bemerkenswert: Deterministische oder stochastische Ereignisse und ihre Regelmäßigkeiten sind deswegen für den Szientismus fundamental, weil von ihnen Behauptungen über Gesetze oder gesetzmäßige Beziehungen abgeleitet werden. Diese Herangehensweise bietet sich für die mathematische Darstellung geradezu an. Die Funktionsbeziehung ist das »Arbeitspferd« von Mathematik und Statistik. Und allein das, was sich quantifizieren lässt, kann als Term in einer Funktionsbeziehung auftreten. Auf diese Weise kann das Nicht-Quantifizierbare auch nicht in die Theorie oder in das Modell eingehen – und entzieht sich daher der Untersuchung.

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Ätiologie Ätiologie (das Studium der Kausalität) ist eine Unterabteilung der Ontologie. Die vom Szientismus vertretene Auffassung von Verursachung entstammt der Philosophie von David Hume, d.h. dem 18. Jahrhundert, und wird – wenig überraschend – auch als Humesche Regelmäßigkeit oder als Regularitätenkonzeption der Verursachung (Psillos 2002) bezeichnet. Sie ist unauflöslich mit der Regularitätenkonzeption des Gesetzes verbunden, der zufolge ein »Gesetz« aus einer Regelmäßigkeit von Ereignissen besteht, sodass gilt: (a) Gesetz als Ereignisregelmäßigkeit. Der Begriff der »Tendenz« wird oft (missbräuchlich) für eine Ereignisregelmäßigkeit verwendet, die nicht streng ist. Die plausibelste (wenn auch in meinen Augen falsche) Version dieser Auffassung beruft sich auf Wahrscheinlichkeit, sodass »immer wenn Ereignis x auftritt, eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass Ereignis y darauf folgen wird«. Das führt dann zu einem probabilistischen (oder auch stochastischen) Gesetz, sodass gilt: (b) Gesetz als Ereignisregelmäßigkeit/Tendenz. Diese Auffassung beruht ebenfalls auf der Regularitätenkonzeption der Verursachung, aber das ist nicht offensichtlich, weil der Ausdruck »Tendenz« den Ausdruck »Gesetz« zu modifizieren scheint, indem er es so aussehen lässt, als ob (a) und (b) verschieden seien, auch wenn dies nicht der Fall ist.4 Halten wir fest, dass diese Ätiologie von der Ontologie geprägt ist. In einer Ontologie beobachteter atomistischer Ereignisse kann Kausalität nur in Begriffen atomistischer Ereignisse sowie von Regelmäßigkeiten, in denen sich diese manifestieren, gefasst werden. Die Ursache von Ereignis x muss ein vorher auftretendes und regelmäßig vorkommendes Ereignis y sein. Und wenn der Epistemologie zufolge Wissen auf der Identifikation von Ereignisregelmäßigkeiten beruht, dann ist es für die Erkenntnis der Ursache von etwas erforderlich, Wissen über Ereignisregelmäßigkeiten zu erwerben. Um die Ursache von Ereignis x zu erkennen, ist von uns also (nur) das Wissen verlangt, dass Ereignis x oder die Ereignisse x 1, x2, … xn regelmäßig zusammen mit Ereignis y auftreten. Die Ursache für das Aufleuchten der Lampe ist der Finger, der den Lichtschalter umlegt; und die Ursache von Arbeitslosigkeit sind (gemäß der orthodoxen ökonomischen Theorie) die erhöhten Lohnquoten.

4 | Siehe Fleetwood (2012) für eine Ausarbeitung des Begriffs der Tendenz in der marxistischen Theorie.

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Was uns die Reinhart-Rogoff-Kontroverse lehrt Im Jahr 2010 haben Reinhart und Rogoff einen Artikel publiziert, der äußert kontrovers diskutiert wurde und in dem sie beanspruchen, einen systemischen Zusammenhang zwischen hoher öffentlicher Verschuldung und Wirtschaftswachstum gefunden zu haben – mit der Folgerung, dass erstere das letztere verursacht. In meiner Terminologie ist der Verweis auf einen systemischen Zusammenhang zwischen hoher öffentlicher Verschuldung und Wirtschaftswachstum ein Verweis auf eine gesetzmäßige Beziehung. Die Kontroverse um den Artikel konzentrierte sich auf die Aufdeckung einiger relativ einfacher Fehler, deren Korrektur die Schlussfolgerungen der Autoren erledigte. Ich führe dieses Beispiel nicht an, um nun erneut jene Fehler zu erörtern, sondern weil es eine wichtige Lektion bereithält. Es exemplifiziert nämlich die Tatsache, dass Ökonominnen zwar die Existenz einer besonderen gesetzmäßigen Beziehung bezweifeln mögen, aber dennoch keine Zweifel daran hegen, dass im Allgemeinen gesetzmäßige Beziehungen existieren. Das Argument, das ich anbringe, lässt sich in vollem Umfang erst begreifen, wenn zur Kenntnis genommen wird, worin sich meine Auffassung von derjenigen dieser Ökonominnen unterscheidet: Der Grund für meinen Zweifel an der Existenz einer besonderen gesetzmäßigen Beziehung liegt darin, dass ich die Existenz gesetzmäßiger Beziehungen im Allgemeinen bezweifle. In einem aktuellen Forschungsüberblick zum Zusammenhang von öffentlicher Verschuldung und Wachstum heißt es: Wir arbeiten die theoretische und empirische Literatur auf, welche den Zusammenhang zwischen öffentlicher Verschuldung und Wirtschaftswachstum in hochentwickelten Volkswirtschaften untersucht. Wir kommen zu dem Schluss, dass Argumente für eine Kausalwirkung von hoher Verschuldung auf niedriges Wachstum erst noch zu liefern sind. Abgesehen von diesen Kausalitätsfragen zeigen wir auch, dass die Belege für eine öffentliche Schuldenschwelle, bei deren Überschreitung das Wachstum zusammenbricht, alles andere als belastbar sind […]. Unserer Ansicht nach sollte sich zukünftige Forschung über Beziehungen zwischen öffentlicher Verschuldung und Wirtschaftswachstum auf die internationale Heterogenität konzentrieren sowie auf die Mechanismen und Übermittlungskanäle, durch welche öffentliche Verschuldung Wirtschaftswachstum behindern kann. Für letzteres wäre eine übergeordnete Theorie erforderlich, die auf eine Erklärung abzielt, unter welchen Bedingungen und durch welche Mechanismen Verschuldung zu einer Verringerung des Wirtschaftswachstums führt […]. Der Zusammenhang von Verschuldung und Wachstum ist durch große internationale Heterogenität gekennzeichnet […] und kann auch innerhalb von Ländern mit der Zeit variieren. Die Weise, in der Verschuldung Wachstum beeinflusst, kann von institutioneller Qualität und Größe des öffentlichen Sektors abhängen, davon wie und warum Schulden

Eine Frage der Ontologie angehäuft worden sind, sowie von Struktur und Zusammensetzung der öffentlichen Verschuldung. (Panizza/Presbitero 2013: 18)

Der springende Punkt ist der, dass weder Panizza und Presbitero noch die anderen Ökonominnen, die sie in ihrem Überblick anführen, die Existenz gesetzmäßiger Beziehungen im Allgemeinen bezweifeln. Darüber hinaus hinterfragen sie im vorliegenden Fall auch nicht, dass eine gesetzmäßige Beziehung zwischen öffentlicher Verschuldung und Wirtschaftswachstum besteht – die sich durch entsprechende Kontrollvariablen erfassen lässt. Ihr Einwand scheint lediglich zu sein, dass es (a) noch niemandem gelungen ist, diese Beziehung zu entdecken. Und zwar vermutlich deshalb, weil sie (b) durch internationale Heterogenität, Zeit, Qualität von Institutionen, die Größe des öffentlichen Sektors, durch Modi und Ursachen der Schuldenakkumulation sowie durch die Struktur und Zusammensetzung der öffentlichen Schulden verkompliziert wird. Da Ökonominnen an eine gesetzmäßige Beziehung glauben, die es nur zu entdecken gilt, haben sie den Versuch unternommen, alternative Fassungen des folgenden dynamischen Wachstumsmodells zu entwickeln: (2) WACHSTUMi, t-(t-n) = α anfänglich(BIP)i,t-n + β SCHULDi,t-n + γ X i,t-n + τt + ηi + εi,t Dies ist zu lesen als: Das Pro-Kopf-Wachstum des BIP (WACHSTUM) des Landes i während des Zeitraums t-n bis t (mit einem n zwischen 1 und 5) wird einer Regression unterworfen auf (α) das anfängliche Niveau des Pro-Kopf-BIP, (β) das Verhältnis der öffentlichen Verschuldung zum BIP (SCHULD) sowie (γ) den Einsatz einer Menge von Kontrollgrößen X – die mit den Untersuchungen variiert und etwa das Bevölkerungswachstum, das Verhältnis der Investitionen zum BIP sowie ein Maß für den Bestand an Humankapital umfasst. Es ist zu beachten, dass die Gleichung (2) dieselben Sichtweisen von Ereignissen, Ereignisregelmäßigkeiten, Kausalität als Regelmäßigkeit und dem Kausalgesetz zum Ausdruck bringt wie die Gleichung (1) weiter oben. Das war auch zu erwarten, da es sich aus der Methodologie der orthodoxen Ökonominnen so ergibt und daher auch aus ihrer Ontologie, ihrer Epistemologie und ihrer Ätiologie.

Handlungsfähigkeit (Agency) Der von den szientistisch ausgerichteten Ökonominnen verwendete Begriff der Handlungsfähigkeit ist der des rationalen Individuums – d.h. eines atomistischen Bündels von Präferenzen. Einige dieser Ökonominnen bedienen sich des rationalen Individuums, weil sie es für eine angemessene Repräsentation wirklicher Menschen halten, während andere es nur wegen seiner mathematischen Beherrschbarkeit benutzen. Weil sie ontologische und methodologische Individua-

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listinnen sind, haben szientistisch ausgerichtete Ökonominnen außerdem keine Vorstellung von irgendetwas (z.B. sozialen Strukturen und Mechanismen), das unabhängig von Akteuren existiert und ihre Handlungen ermöglichen oder beschränken würde. Aus dieser Perspektive sind Strukturen und Mechanismen nichts weiter als Ergebnisse des Akteurshandelns, was bedeutet, dass Strukturen und Mechanismen in Handlungsfähigkeit aufgelöst werden. Anstelle einer Beziehung zwischen Handlungsfähigkeit und Struktur kennen szientistisch ausgerichtete Ökonominnen allein eine Beziehung zwischen Akteuren.

Abschweifung: Einige Versionen marxistischer Ökonomik Im Übrigen findet sich dieselbe Art ökonometrischer Gleichungen wie (1) und (2) auch im Werk einiger marxistischer Ökonominnen.5 Beispielsweise überprüfen Basu und Manolakos (2012: 86) Marx’ Hypothese zur langfristigen Tendenz einer fallenden Profitrate mit der folgenden Gleichung: (3) Log (r t) = α + βt + γ1z1t + y2z2t + y3z3t+ y4z4t + μt r ist die Profitrate z1t misst die Intensität der Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital z2t misst die Abweichung der Lohnquote vom Wert der Arbeitskraft z3t misst die Überbevölkerung z4t misst den relativen Preis des konstanten Kapitals t ist ein deterministischer Zeittrend Marxistischen politischen Ökonominnen sollte es ernsthafte Sorgen bereiten, dass die hier verwendete »wissenschaftliche Methode« mit derjenigen der orthodoxen Ökonominnen identisch ist und auf derselben fehlerhaften Ontologie beruht.

Zusammenfassung Szientistisch ausgerichtete Ökonominnen fragen, was die Variablen sind und welche gesetzmäßigen Beziehungen zwischen ihnen bestehen. Innerhalb einer Ontologie von Ereignissen und deren Regelmäßigkeiten sowie einer entsprechenden Ätiologie des Kausalgesetzes als eines Regularitätengesetzes ist 5 | Solche Gleichungen sind nicht auf marxistische Ökonomik beschränkt, sondern auch in anderen heterodoxen Lagern wie etwa der sraffianischen, postkeynesianischen und radikalen Ökonomik anzutreffen. In der (alten) institutionalistischen Ökonomik wie auch in der Wirtschaftssoziologie lassen sie sich weniger finden, aber es scheint, als ob das Verlangen nach Ökonometrie (um empirische Verknüpfungen zwischen abhängigen und unabhängigen Variablen festzustellen, ob mit oder ohne zugrunde liegendem mathematischem Modell) geradezu unwiderstehlich ist – selbst dort, wo es völlig unangemessen ist.

Eine Frage der Ontologie

diese Fragestellung vollkommen sinnvoll. Aber wie wir noch sehen werden, bedeutet dies eben auch, bestimmte Fragen nicht zu stellen oder zumindest nicht dazu in der Lage zu sein, sie auf angemessene Weise zu stellen.

3. P olitische Ö konomie und kritisch - re alistisch ausgerichte te Ö konomik In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten haben Vertreterinnen des Critical Realism kontinuierlich und disziplinenübergreifend eine Sozialontologie entwickelt, also eine Menge an Aussagen darüber, wie die soziale Welt beschaffen ist. Dabei besteht beträchtliche Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Vertreterinnen dieses Ansatzes, wenn auch keine totale. Der folgende Abschnitt bietet eine Skizze dieser Ontologie bezogen auf die politische Ökonomie – d.h. eine Skizze, wie die politische Ökonomie beschaffen ist. Kurz gesagt wird die politische Ökonomie von Akteuren konstituiert, die Strukturen und Mechanismen (als Platzhalter für eine ganze Bandbreite von nicht-agentiellen Phänomenen wie sozialen und kulturellen Strukturen, Regeln, Normen und Konventionen) reproduzieren und transformieren; sie ist ein offenes System, das Mehrfachkausalität, Komplexität, Schichtung sowie Emergenz aufweist und durch menschliche Handlungsfähigkeit transformiert werden kann. Führen wir das näher aus.

Mehrfachkausalität Die politische Ökonomie ist mehrfach verursacht. Beispielsweise sind Veränderungen der angebotenen und nachgefragten Quantitäten von Dienstleistungen nicht die einzigen Ursachen für Veränderungen der Lohnquoten. Letztere werden nämlich noch durch viele andere sozioökonomische Phänomene verursacht. Diese besitzen nicht nur einen je unterschiedlichen Grad an Wirksamkeit, sondern interagieren auch untereinander und schaffen so komplexe Kausalketten. Orthodoxe Arbeitsökonominnen wissen durchaus, dass Löhne mehrfach verursacht sind durch »ökonomische« Faktoren wie Produktivität, Bildung, Ausbildung oder Arbeitsverweigerung. Aber warum hier haltmachen? Löhne werden auch von »nicht-ökonomischen« Faktoren verursacht wie Geschlecht, Rasse und Klasse, Fairness- und Gerechtigkeitsvorstellungen, von sozialer und Organisationskultur, von Politik am Arbeitsplatz, der politischen Ideologie usw. Je mehr sozioökonomische Ursachen auf Arbeitsmärkten wirksam sind, desto mehr Friktionen oder Rigiditäten werden auf die Verhältnisse zwischen Angebot und Nachfrage an Arbeit einwirken und damit auf Veränderungen der Lohnquote (und umgekehrt). Und desto mehr werden diese Verhältnisse idiosynkratisch oder ad hoc statt gesetzmäßig sein. Orthodoxe Ökonominnen reagieren darauf häufig, indem sie einfach weitere Variablen hinzufügen.

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Komplexität Die politische Ökonomie ist in dem Sinne komplex, als dass sie Veränderungen hervorbringt, die über feedback-Schleifen weitere Veränderungen bewirken. Betrachten wir einen Arbeitsmarkt mit einem großen lokalen Arbeitgeber, der arbeitenden Müttern »familienfreundliche« Angebote macht wie etwa Arbeitszeiten, die auf Erziehungseinrichtungen abgestimmt sind. Worin auch sonst das Verdienst dieser Maßnahme bestehen mag, sie hat jedenfalls die nicht-intendierte Konsequenz, unter allen am Einstellungsprozess Beteiligten den Diskurs oder die Ideologie zu (re-)produzieren, Frauen wären vorrangig an häuslichen Verpflichtungen orientiert. Und dies schafft dann wiederum einen geschlechtsspezifisch segregierten Arbeitsmarkt – mit einem Segment von Vollzeitarbeitsplätzen, die für Männer reserviert sind, und einem anderen Segment mit Teilzeitarbeitsplätzen für Frauen. Je mehr komplexitätssteigernde Phänomene wie Diskurse und Ideologien auf den Arbeitsmärkten wirksam sind, desto stärker werden deren Beziehungen idiosynkratisch oder ad hoc statt gesetzmäßig ausfallen.

Schichtung Die politische Ökonomie ist ontologisch geschichtet. Schaubild 2 repräsentiert eine derartige Schichtung. Abbildung 2: Eine geschichtete Ontologie 6 Bereich Empirisch Tatsächlich »Tief «

Entitäten Erfahrungen, Wahrnehmungen und Beobachtungen Ereignisse und Handlungen Strukturen und Mechanismen

Strukturen und Mechanismen steuern Ereignisse und Beobachtungen kausal, aber sie determinieren sie nicht. Beispielsweise regeln vergeschlechtlichte Strukturen und Mechanismen die tatsächliche horizontale Segmentation von Arbeitsmärkten, die dann anschließend beobachtet wird. Dabei sind Strukturen und Mechanismen typischerweise »desynchronisiert« (out of phase) mit den Aktionen und den Ereignissen, die sie steuern. Dies erklärt etwa, warum sich einige, aber nicht alle Frauen in »männlichen« Beschäftigungsfeldern wiederfinden. Je mehr Strukturen und Mechanismen gegenüber den Aktionen und Ereignissen, welche sie steuern, »desynchronisiert« sind, desto größer ist die Unregelmäßigkeit von Ereignissen. Je größer die Ereignisirregularität, desto stärker werden die entsprechenden Beziehungen idiosynkratisch oder ad hoc statt gesetzmäßig ausfallen. 6 | Ich ziehe den Ausdruck »tief« dem im Critical Realism geläufigeren Ausdruck »real« vor, da letzterer unglücklicherweise suggeriert, das Empirische und das Tatsächliche seien irgendwie nicht real.

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Transformation Die politische Ökonomie ist in folgendem Sinne transformatorisch oder morphogenetisch bzw. morphostatisch angelegt: Akteure schaffen oder produzieren Strukturen und Mechanismen nicht jeweils von neuem, vielmehr reproduzieren (Morphostase) oder transformieren (Morphogenese) sie eine präexistierende Menge derselben. Jede ausgeführte Handlung erfordert die Präexistenz von Strukturen und Mechanismen, auf welche die Akteure zurückgreifen, um diese spezifische Aktion zu initiieren. Auf diese Weise reproduzieren oder transformieren die Akteure die jeweiligen Strukturen und Mechanismen. Beispielsweise erfordert Sprechen eine grammatische Struktur, genauso wie das Funktionieren des Arbeitsmarktes bestimmter Mechanismen bedarf, die Eigentumsrechte festlegen. Diese Gesamtheit von Strukturen und Mechanismen ist ganz einfach das, was eine Gesellschaft bzw. eine Unterabteilung der Gesellschaft wie den Arbeitsmarkt ausmacht. Das Transformationsprinzip hat in eben den Strukturen und Mechanismen seine Grundlage, welche die allgegenwärtige Bedingung und das kontinuierlich reproduzierte oder transformierte Ergebnis menschlichen Handelns bilden (vgl. Archer 1995 und 1998). Beziehen wir dies nun auf den Kontext von Arbeitsmärkten. Dort anzutreffende Akteure (wie etwa Arbeitnehmerinnen7) kommen in eine präexistierende Welt hinein, die u.a. aus den sozialen Strukturen von Klasse, Gesetzen, Regeln und Diskursen besteht, welche den legitimen und akzeptablen Austausch von Arbeitsleistungen für Lohnzahlungen regeln. Diese Phänomene gewährleisten, dass die Arbeitsaktivität eine Quasi-Ware ist, die auf Arbeitsmärkten gehandelt wird. Um auf Arbeitsmärkten agieren zu können, müssen Arbeitnehmerinnen auf Phänomene wie die sozialen Strukturen von Klasse, Gesetzen, Regeln und Diskursen zurückgreifen, wodurch sie diese zugleich reproduzieren oder transformieren. Je mehr soziale Phänomene wie die Strukturen von Klasse, Gesetzen, Regeln und Diskursen in der Ökonomie am Werk sind, desto stärker werden diese Beziehungen idiosynkratisch oder ad hoc statt gesetzmäßig ausfallen.

Struktur und Handlungsfähigkeit Soziale Transformation setzt voraus: • Handlungsfähigkeit und Strukturen sowie Mechanismen, • bewusste Deliberation und unbewusstes, stillschweigendes Handeln oder Gewohnheit.

7 | Ich könnte dasselbe für Arbeitgeberinnen durchspielen, aber das würde den Punkt bloß wiederholen.

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Gelegentlich reflektieren Akteure über die Strukturen und Mechanismen, die ihr Handeln ermöglichen und einschränken, und treten in eine bewusste Deliberation ein (wenn auch nicht im Sinne des rationalen Individuums), mit der sie ein Ziel erreichen wollen. Zu anderen Zeiten handeln Akteure unbewusst und stillschweigend bzw. auf Grundlage von Gewohnheit. Dass sie dies tun, bedeutet, dass sie in einem Habitualisierungsprozess bestimmte Arten von Regeln und Normen internalisiert haben. Unsere Handlungen können durchaus direkt und nicht-bewusst von unseren aktuellen Dispositionen bestimmt werden, sofern diese Dispositionen selbst das Ergebnis einer Serie vergangener Ereignisse sind. Derartige Ereignisse umfassen (a) jüngst erfolgte Überlegungen, die wir üblicherweise als direkt wirksame »Entscheidungen« betrachten; (b) ältere Überlegungen, die damals unsere Dispositionen bewusst geprägt, die wir jetzt aber möglicherweise vergessen haben; sowie (c) Erfahrungen, die auf unsere Haltungen eingewirkt haben (beispielsweise in Gestalt des unterschwelligen Erwerbs einer Gewohnheit oder eines Könnens), ohne dass wir uns dazu jemals bewusst entschieden hätten. (Elder-Vass 2010: 98)

In dem Maße wie Akteure reproduktiv oder transformativ auf Strukturen und Mechanismen zurückgreifen, reproduzieren oder transformieren sie auch sich selbst als Akteure einer besonderen Art – z.B. als Arbeitssuchende, entmutigte Arbeiterinnen oder was auch immer. Archer (2000: 258) bezeichnet dies als »doppelte Morphogenese [und Morphostase] der Handlungsfähigkeit«. Weil sowohl Handlungsfähigkeit als auch Strukturen und Mechanismen beständig wirksam sind, gibt es zwei Quellen von Veränderung. Erstens können Akteure es sich anders überlegen und tun dies auch. Das sollte nicht dahingehend verstanden werden, dass Menschen vollkommen kapriziös wären oder aus bloßen Launen heraus handelten – selbst wenn der Grund dafür wäre, dass sie sich beständig mit Strukturen und Mechanismen auseinandersetzen. Es bedeutet vielmehr, dass ihre Handlungen nicht vollständig vorhersehbar sind, weil sie nämlich die Fähigkeit behalten, immer auch anders zu handeln. Wer diese bestreitet, leugnet menschliche Subjektivität, Kreativität, Vorstellungskraft, Erfindungsgabe und unternehmerische Tätigkeit. Lohnquoten oder Arbeitsbedingungen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt von Arbeiterinnen als legitim angesehen werden, können zu anderen Zeiten inakzeptabel werden – und umgekehrt. Es ist oft schwierig, andere Ursachen dafür zu finden, als dass die Arbeiterinnen es sich eben anders überlegt haben – einfach so, sui generis, oder weil sich ihnen Informationen über andere Möglichkeiten bzw. Vergleichsgrößen eröffnet haben. Orthodoxe Arbeitsökonominnen wissen dies und sprechen von einer Veränderung der »Präferenzen«. Aber unglücklicherweise untersuchen sie so gut wie nie die Herkunft

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dieser Präferenzen, sondern unterstellen schlicht, wie Hodgson (2003: 60) es ausdrückt, eine »unbefleckte Empfängnis«. Die zweite Quelle von Transformationen ergibt sich aus Veränderungen in den Strukturen und Mechanismen selbst. Je stärker Arbeitsmärkte von Akteuren geprägt werden, die einerseits auf Grundlage von Gewohnheiten und nicht von Deliberationen handeln, andererseits auf Grundlage von sozialen Strukturen wie Klasse, Gesetzen, Regeln und Diskursen, desto stärker werden – aus den oben genannten Gründen – die Handlungen idiosynkratisch oder ad hoc statt gesetzmäßig ausfallen. Viele szientistisch ausgerichtete Ökonominnen lassen Struktur in Handlungsfähigkeit aufgehen, sodass dabei Strukturen und Mechanismen ganz einfach aus der Analyse verschwinden. Der daraus folgende logische und methodologische Individualismus setzt sie dann außer Stande, die Wirkungen von nicht-agentiellen Kräften auf Akteure zu untersuchen. Ihr rationaler homo oeconomicus wird ganz und gar von seinen Präferenzen gesteuert – und zwar in einem Milieu, in dem die einschränkenden oder ermöglichenden Kräfte von Strukturen und Mechanismen nicht existieren.

Emergenz Die politische Ökonomie besitzt emergente Eigenschaften. Ein gewöhnliches Beispiel für Emergenz ist Wasser: Dieses ist aus Wasserstoff und Sauerstoff zusammengesetzt, weist jedoch Eigenschaften auf, die sich bei keinem der beiden Elemente finden. Derartige Phänomene sind auch in der sozialen Welt anzutreffen – auch wenn im Unterschied zur natürlichen Welt Emergenz hier an menschliches Handeln gekoppelt ist. Die politische Ökonomie emergiert aus einer Menge von Strukturen und Mechanismen wie etwa der Klassenstruktur, den Gesetzen, Regeln und Diskursen, die den legitimen und akzeptablen Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Arbeitskraft regeln, sowie aus dem Marktmechanismus – womit ich weit mehr meine als bloß eine bestimmte Menge von Angebots- und Nachfragefunktionen (Fleetwood 2006 und 2011).

Irregularitäten von Ereignissen, offene und geschlossene Systeme Die soziale Welt im Allgemeinen und die politische Ökonomie im Besonderen sind mehrfach verursacht, komplex, geschichtet, transformatorisch, emergent sowie der Ausübung einer menschlichen Handlungsfähigkeit unterworfen, die sei es bewusst mit Strukturen und Mechanismen interagiert, sei es unbewusst oder gewohnheitsmäßig mit Regeln. So ist es wahrscheinlich, dass die gesuchten Beziehungen zwischen den Handlungen menschlicher Akteure, auch wenn sie quantifiziert und als Variablen ausgedrückt werden, idiosynkratisch und zufällig statt gesetzmäßig ausfallen. In der Terminologie des Critical Realism ist die politische Ökonomie ein offenes System.

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Die kritisch-realistische Vorstellung von offenen und geschlossenen Systemen ist einfach, vielleicht sogar täuschend einfach: Systeme, die Ereignisregelmäßigkeiten aufweisen, sind geschlossen; Systeme, die keine Ereignisregelmäßigkeiten aufweisen, sind offen. Dies wird oft folgendermaßen formalisiert: »immer wenn Ereignisse x1, x2, x3 … xn, dann Ereignis y«. Diese Systeme können auch als eine mathematische Funktion ausgedrückt werden – deterministisch wie in (4) oder stochastisch bzw. probabilistisch wie in den obigen Gleichungen (1), (2) und (3). (4) y = f (x 1, x2, x3 … xn) Ein Beispiel: Wenn das Angebot an Arbeit nach Lohnerhöhungen regelmäßig zunimmt, dann sind Arbeitsmärkte geschlossene Systeme; wenn das Angebot an Arbeit nach Lohnerhöhungen manchmal abnimmt, manchmal steigt und manchmal unverändert bleibt, dann sind Arbeitsmärkte offene Systeme. In offenen Systemen sind Beziehungen, wie etwa zwischen Staatsausgaben, wirtschaftlichem Output und Beschäftigung oder auch zwischen öffentlicher Verschuldung und Wirtschaftswachstum, idiosynkratisch und zufällig statt gesetzmäßig. Wenn anerkannt wird, dass Ereignisse nicht als Regelmäßigkeiten oder Gesetze erscheinen, und weiter, dass irgendetwas ja diese Ereignisse steuern muss, verlagert sich der Untersuchungsschwerpunkt zwangsläufig von den Bereichen des Empirischen und Tatsächlichen auf den Bereich des »Tiefen« und damit auf diejenigen Strukturen und Mechanismen, die den Fluss der Ereignisse regeln. Die Untersuchung verschiebt sich von den Konsequenzen, d.h. von den Ergebnissen oder Resultaten (den Mustern als Ereignisregelmäßigkeiten) einer Handlung auf die Bedingungen, welche diese Handlung möglich machen. Wissen resultiert aus einer Untersuchung der Tiefenstrukturen und -mechanismen, nicht der Muster im Fluss der Ereignisse.

Ätiologie Für den Critical Realism ist »Gesetz« gleichbedeutend mit »Tendenz«. Eine Tendenz ist eine Kraft, die metaphorisch gesprochen antreibt, anschiebt, anstößt, Druck ausübt usw. Die Tendenz ist diese Kraft selbst, was sich stark davon unterscheidet, wie szientistisch ausgerichtete Ökonominnen den Tendenzbegriff benutzen, wenn sie auf ein stochastisch ausgedrücktes Gesetz oder eine locker wirksame Ereignisregelmäßigkeit referieren. Sorgfältig formuliert erhalten wir: (c) Gesetz als eine (echte) Tendenz. Diese Auffassung gründet sich nicht auf Ereignisse, Ereignisregelmäßigkeiten oder die Regularitätenkonzeption der Verursachung, sondern auf den Be-

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griff der Kausalkraft (causal power). Eine Tendenz ist die (transfaktische) Art und Weise, wie ein Ding mit Eigenschaften wirkt. Dass ein Phänomen die Tendenz hat, β zu bewirken, bedeutet nicht, dass es β auch tatsächlich verursacht. In einem offenen System existieren kausale Mechanismen nicht isoliert voneinander. Typischerweise gibt es eine Vielfalt von Mechanismen, wobei jeder seine eigenen Tendenzen besitzt. Diese Tendenzen konvergieren an einem bestimmten Ort in Raum und Zeit. Ein Kausalmechanismus, der eine Tendenz aufweist, bringt keineswegs immer bestimmte Wirkungen hervor, auch wenn er immer dazu tendiert – d.h., er wirkt auf transfaktische Weise. Das tatsächliche Ergebnis dieses Zusammenspiels von Tendenzen lässt sich unmöglich a priori voraussagen.

Zusammenfassung Am Critical Realism ausgerichtete Ökonominnen stellen die folgenden Fragen: Wer sind die Akteure, welches sind die Strukturen und Mechanismen, die sie reproduzieren oder transformieren, und was für Tendenzen werden hervorgebracht? Im Rahmen einer Ontologie von Akteuren, Strukturen und Mechanismen sowie einer damit verknüpften Ätiologie der Kausalität als Tendenz ist es überaus sinnvoll, diese Fragen zu stellen. Die oben angeführten Argumente, das sei hier ausdrücklich betont, sollen zeigen, dass ein Rückgriff auf den Critical Realism als Metatheorie für substanzielle Anliegen der politischen Ökonomie zweckdienlich ist. Die im folgenden Abschnitt entwickelten Sichtweisen können allerdings nicht aus dieser Metatheorie abgeleitet oder von ihr »abgelesen« werden. Es ist daher durchaus möglich, dass eine Leserin der Metatheorie zustimmt, aber in substanziellen Fragen hinsichtlich der Krise völlig anderer Meinung ist, als ich es bin. Der Critical Realism als Metatheorie ist dann die Grundlage, auf der vernünftige Auseinandersetzungen über substanzielle Fragen stattfinden können.

4. D ie gegenwärtige (europäische) K rise In diesem Abschnitt will ich kurz die hauptsächlichen Ursachen der gegenwärtigen europäischen Staatsschuldenkrise (SSK) umreißen – vor allem der Unfähigkeit der peripheren Staaten Portugal, Irland, Griechenland und Spanien (PIGS), ihre Anleihen zurückzuzahlen oder zu refinanzieren. Halten wir zunächst vier Punkte fest. Erstens wurde die SSK von der Bankenkrise ausgelöst, die eine globale Rezession lostrat. Auslöser der SSK waren daher nicht die Haushaltsdefizite der peripheren Staaten. Die öffentlichen Finanzen in diesen Staaten verschlechterten sich nach der Krise und nicht davor – was bedeutet, dass die Haushaltslöcher der öffentlichen Hand nicht die Ursache der Krise gewesen sein können.

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Zweitens weise ich oberflächliche »Erklärungen« der Krise zurück, welche die Schuld bei »faulen und verschwenderischen Südeuropäern« suchen, bei »kurzsichtigen Leuten, die sich Geld leihen, um über ihre Verhältnisse zu leben«, bei »inkompetenten und ineffizienten Staaten« (auch wenn das nicht jeder Grundlage entbehrt) oder auch »gierigen Bankern« (was nicht bedeutet, dass Bankerinnen nicht gierig wären). Drittens können die Krisenursachen auf dreierlei Weise begriffen werden: distant, median sowie proximal. Es handelt sich hierbei um ein analytisches Instrumentarium, das nicht nur disparaten Krisenursachen, sondern auch deren (metaphorisch gesprochen) unterschiedlichen »kausalen Entfernungen« Rechnung tragen soll – sowie existierenden Überlappungen. Um Missverständnisse zu vermeiden: Distante Ursachen sind in dem Sinne notwendige Ursachen, als sie fest in der Natur marktbasierter Ökonomien verankert sind – und daher keine weiteren Raum-Zeit-Spezifika aufweisen. Proximale Ursachen sind weniger fest verwurzelt, sie sind kontingent und je nach Zeit und Ort eigentümlich. Mediane Ursachen liegen gleichsam »dazwischen«. Derartige Ursachen zu identifizieren, ist eine (strittige) empirische Frage ebenso wie der Versuch, Verbindungen zwischen ihnen festzustellen. Auf dieser Grundlage lässt sich sagen, dass distante Ursachen tendenzhaft auf mediane und proximale Ursachen einwirken, dass aber die tatsächliche Durchsetzung einer jeden distanten Ursache immer kontingent bleibt. Viertens ist »Kausalität« im Vokabular des Critical Realism gleichbedeutend mit Tendenz. Nehmen wir als Beispiel einen Satz, der weiter unten verwendet wird: • Die Verschiebung im politischen Kräftegleichgewicht, die Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte führten zu Lohnzurückhaltung. Dies sollte folgendermaßen verstanden werden: • Die Verschiebung im politischen Kräftegleichgewicht, die Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte setzten eine Tendenz zur Lohnzurückhaltung in Gang. Von einer Tendenz zur Lohnzurückhaltung zu sprechen, bedeutet nicht, dass Lohnzurückhaltung regelmäßig auf eine Verschiebung im politischen Kräftegleichgewicht sowie auf Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte folgt. In einem offenen System gibt es typischerweise eine Vielzahl von Mechanismen, deren jeder seine eigenen Tendenzen und Gegentendenzen hervorbringt – z.B. können Gewerkschaften und politische Bewegungen im Machtgefälle wieder aufholen und die Deregulierung und Flexibilisierung der

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Arbeitsmärkte rückgängig machen. Was das tatsächliche Ergebnis dieses Zusammenfließens von Tendenzen ist, lässt sich unmöglich a priori voraussagen.

i) Distante Ursachen Diese Ursachen sind als konstitutiver Bestandteil der Struktur der politischen Ökonomie beständig gegenwärtig und als solche notwendig und nicht-kontingent. Sie lassen sich nicht durch Reformen beseitigen – zumindest nicht ohne das System grundlegend zu verändern. Drei distante Ursachen haben eine Schlüsselstellung: erstens der tendenzielle Fall der Profitrate (TFP). Dieser ist in den Prozess der Kapitalakkumulation eingelassen und Ursache dafür bzw. selbst wiederum dadurch verursacht, dass Kapitaleigentümerinnen und Managerinnen beständig bestrebt sind, den Anteil des (stofflichen) Kapitals gegenüber der Arbeit zu erhöhen, um dadurch die Produktivität zu steigern. Während zweitens der TFP von vielen in Zweifel gezogen wird und der genaue Vorgang des Falls auch durchaus diskussionswürdig ist (erfolgt er zyklisch oder linear abwärts?), bestehen keinerlei Zweifel, dass der Kapitalismus unter periodischen Krisen leidet, die von niedrigen Profitraten verursacht werden. Die dritte distante Ursache schließlich ist der Klassenkampf zwischen Kapitaleigentümerinnen bzw. Managerinnen und denjenigen, die bloß Eigentümerinnen von Arbeitskraft sind, d.h. den Arbeiterinnen.

ii) Mediane Ursachen Hier handelt sich um Ursachen, die im Bereich »zwischen« den distanten Ursachen und der tatsächlichen Krise wirksam sind. Sie gehen der gegenwärtigen Krise voraus und haben ihr den Weg bereitet. Ich skizziere sie unter drei Rubriken: 1. Globalisierung In den 1990er-Jahren kam es zur Entstehung großer Niedriglohnökonomien – insbesondere China – und deren Integration in das globale kapitalistische System. Eine Auswirkung davon war, dass Kapitaleigentümerinnen und Managerinnen die Macht erhielten, ihre Produktion entweder zu verlagern oder zumindest mit deren Verlagerung zu drohen. Auch wenn diese Drohung übertrieben gewesen sein mag, war sie oft kausal wirksam. Das hatte signifikante Folgen für den Klassenkampf in Europa – was ich gleich noch näher ausführe. 2. Entwicklungen des Klassenkampfes seit den 1980er-Jahren Die Niederlagen, die Arbeiterinnen und Gewerkschaften in verschiedenen industriellen Schlüsselsektoren erlitten, führten zu einer (vielleicht auch nur wahrgenommenen) Verschiebung des Kräftegleichgewichts von zuvor relativ gut organisierten Gewerkschaften hin zu den Kapitaleigentümerinnen und Managerinnen. Teils Ursache, teils Symptom davon war, dass die sozialdemo-

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kratischen Parteien (z.B. die britische Labour Party oder die deutsche SPD) jeglichen zuvor erhobenen (oder vorgetäuschten) Anspruch, antikapitalistische Parteien zu sein, fallen ließen und sich den Neoliberalismus zu eigen machten. Märkte, insbesondere Finanz- und Arbeitsmärkte, wurden dereguliert und flexibilisiert. Die Verschiebung im politischen Kräftegleichgewicht führte dann, unterstützt durch die Globalisierung und den Aufstieg des Finanzkapitals, gemeinsam mit der Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte zur Lohnzurückhaltung. Diese traf die Arbeiterinnen in den europäischen Kernstaaten, vor allem in Deutschland, stärker als die Arbeiterinnen in den peripheren Staaten, weshalb die Löhne in Deutschland langsamer stiegen als die Produktivität. Die Lohnzurückhaltung hatte eine niedrige Gesamtnachfrage sowie eine schlechte makroökonomische Entwicklung zur Folge und schuf die Voraussetzungen dafür, dass die Verschuldung der Privathaushalte wuchs: Billiger Kredit entwickelte sich zur inoffiziellen Politik, um mit Jahren der Lohnzurückhaltung fertig zu werden. 3. Die Kraftverschiebung vom Industrie- zum Finanzkapital Niedrige Profitraten in der verarbeitenden Industrie gekoppelt mit einer Deregulierung der Finanzmärkte führten zu signifikant vergrößertem Einfluss des Finanzkapitals sowie zu einer vermehrten Finanzialisierung – d.h. zu einem Prozess, durch den ein wachsender Teil des sozioökonomischen Lebens gemäß den Bedürfnissen des Finanzsystems umgestaltet wird. Das betraf Privatpersonen (deren Pensionen, Hypotheken und Versicherungen) ebenso wie private Unternehmen und den öffentlichen Sektor. Dabei entwickelte sich eine wichtige symbiotische Beziehung zwischen Banken und Privathaushalten – insbesondere letzteren in den peripheren Staaten. Banken müssen Geld verleihen und in den 1990er-Jahren haben sie ihre Aufmerksamkeit darauf gerichtet, Geld an private Haushalte zu verleihen. Diese hatten aus zwei Gründen Geldbedarf: (i) um steigende Häuserpreise begleichen zu können, die durch die neoliberale Deregulierung der Immobilienmärkte verursacht worden waren, sowie (ii) um angesichts der Lohnzurückhaltung akzeptable Konsumniveaus (dies war natürlich das Versprechen des EU-Projektes) fortzuführen. Das Anwachsen der privaten Verschuldung wurde von den Regierungen als eine (inoffizielle) Wirtschaftspolitik eingesetzt, um niedrige Löhne zu kompensieren und um die Gesamtnachfrage zu stimulieren – während Ministerinnen dieser Regierungen sich öffentlich über das Schuldenmachen unverantwortlicher Individuen ausließen. Es war dies eine Zeit, in der die Zinsraten niedrig waren, die Banken ebenso unbeschwert Geld verliehen, wie die Haushalte es sich borgten und die Kapitaleigentümerinnen/Managerinnen sich frohgemut der großen Party anschlossen.

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iii) Proximale Ursachen Hier geht es um Ursachen, die in einem unmittelbaren Sinn raum- und zeitspezifisch sind. Ich skizziere sie in fünf Stichworten. 1. Finanzsystem Die Deregulierung der Finanzmärkte zog einen signifikanten Anstieg aller Arten von Spekulation nach sich – d.h. eine »Kasinoökonomie«. Es gab einen Zuwachs im Handel mit Derivaten sowie eine Unterschätzung komplexer und riskanter, letztlich toxischer Finanzprodukte. Die Ausweitung spekulativer Hypothekenvergabe (im »sub-prime«-Markt) durch US-amerikanische Finanzinstitutionen hatte ein Auftreten toxischer Hypotheken zur Folge. Was dann seinerseits zum Zusammenbruch von Lehman Brothers führte sowie zur globalen Finanzkrise und schließlich zur globalen Rezession. 2. Das Eurosystem – die europäische Zentralbank (EZB) und die Zentralbanken der Staaten der Eurozone Der Euro wurde als Weltwährung entwickelt und eingeführt, die dem Dollar Konkurrenz machen sollte. Um diese Rolle wahrzunehmen, musste er – und muss er immer noch – gewissen Kriterien genügen, ohne deren Erfüllung die internationalen Währungsmärkte ihn nicht als Weltwährung behandeln. Diese Kriterien tragen zu Charakteristika des Eurosystems bei, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: • Die Währungspolitik des Eurosystems hat eine übergeordnete Zielsetzung: die Inflation niedrig zu halten, und zwar ausschließlich mit den Instrumenten der Währungspolitik. • Das Eurosystem verfügt über keine ausdrückliche Fiskalpolitik. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) füllt allerdings die Rolle einer impliziten Fiskalpolitik aus. Staaten der Eurozone müssen zwei willkürlich festgelegte Grenzen beachten: Die nationale Verschuldung8 darf nicht mehr als 60 Prozent des BIP betragen. Haushaltsdefizite dürfen nicht höher als 3 Prozent des BIP ausfallen. • Der Theorie nach sollten diese Grenzziehungen eine Überschuldung der Einzelstaaten verhindern. In der Praxis ist es einigen Staaten erlaubt worden, diese Grenzen zu überschreiten. • Der SWP verfügt über keine fiskalischen Transfermechanismen zwischen den Staaten der Eurozone.

8 | Die nationale Verschuldung ist der Gesamtbetrag, mit dem die Regierung und der private Sektor eines Nationalstaates in der Schuld stehen.

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• Die EZB verhält sich nicht wie eine Zentralbank (eines souveränen Staates). Sie hat keine Verpflichtung und verfügt auch über keinen Mechanismus, die Schulden eines Staates der Eurozone zu bedienen. Die Tatsache, dass sie Teil der Eurozone waren, hat den von peripheren Staaten ausgegebenen Anleihen einen (unzulässig) hohen Grad an Kreditwürdigkeit verliehen. Die internationalen Finanzmärkte haben anfangs geglaubt, die starken Kernstaaten würden die schwächeren Staaten der Peripherie unterstützen. Sie haben »implizit angenommen, dass Mitglieder der EWU einfach nicht bankrottgehen würden« (Lapavitsas et al. 2012: 91). Banken aus dem Kern der Eurozone haben zunächst den peripheren Staaten immer weiter Geld geliehen, in der Überzeugung, dieses sei sicher. Als die Rezession sich verschärfte und die peripheren Staaten anfingen, Schulden anzuhäufen, begannen Banken aus der Kernzone, die Kreditwürdigkeit einiger peripherer Staaten in Zweifel zu ziehen, und hörten schließlich auf, deren Anleihen zu kaufen. Das führte rasch zur Furcht eines Bankenzusammenbruchs in den Kernstaaten für den Fall, dass ein peripherer Staat tatsächlich zahlungsunfähig werden sollte. 3. Globale Rezession, Haushaltsdefizite und das Eurosystem Als die globale Rezession die peripheren Staaten erfasste, traten zwei große Probleme auf: Die Steuereinnahmen gingen zurück, während die Ausgaben für die sozialen Sicherungssysteme stiegen. Das hatte zur Konsequenz, dass sich die Finanzlage der öffentlichen Hand in den peripheren Staaten verschlechterte, wobei diese zusätzlich noch von einer ganzen Reihe negativer, nicht-intendierter Folgen betroffen waren. Die Kreditwürdigkeit der peripheren Staaten wurde herabgestuft, was die Zinssätze in die Höhe trieb und die Defizite der öffentlichen Hand vergrößerte. Einige periphere Staaten standen nun vor der Zahlungsunfähigkeit und bedrohten dadurch die Existenz von Banken der Kernzone, die peripheren Staaten in großem Umfang Geld geliehen hatten. Einzelne periphere Staaten retteten selbst Banken (die als »too big to fail« galten) und erhöhten dadurch ihre Haushaltsdefizite weiter. Das Eurosystem hat mittlerweile Maßnahmen entwickelt, um die Haushaltsdefizite peripherer Staaten zu finanzieren – mit der Zielsetzung, das Überleben von Banken der Kernzone zu gewährleisten. Aber diese Finanzierung erfolgte unter Auflagen – solchen der Austerität. Die Austeritätspolitik verschlimmerte die beiden oben erwähnten Probleme nur noch: Die Steuereinnahmen gingen weiter zurück und die Ausgaben für die sozialen Sicherungssysteme schnellten in die Höhe. Die Haushaltsdefizite in den peripheren Staaten nahmen dadurch weiter zu.

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4. Innere Spaltung zwischen Kern und Peripherie: Deutschland versus PIGS Der Euro wurde im Jahr 1999 auf Basis von Wechselkursen zur D-Mark eingeführt, die für die peripheren Staaten untragbar hoch waren. Seitdem waren für die deutsche Wirtschaft hohe Arbeitslosigkeit, mittelmäßiges Wachstum, niedrige Inflation, Zahlungsbilanzüberschüsse und Lohnerhöhungen unterhalb des Produktivitätszuwachses kennzeichnend. In der Tat ist es der deutschen herrschenden Klasse am besten gelungen, Entlohnung und Lebensbedingungen ihrer Arbeiterklasse einzuschränken. Für die griechische und die portugiesische Volkswirtschaft waren dagegen ein hoher Konsum auf Grundlage privater Verschuldung sowie Lohnerhöhungen oberhalb des Produktivitätszuwachses charakteristisch. Der griechischen und der portugiesischen herrschenden Klasse ist es nicht so gut gelungen, Entlohnung und Lebensbedingungen ihrer Arbeiterklasse in Schranken zu halten. Der deutsche Zahlungsbilanzüberschuss wurde dadurch verursacht, dass Entlohnung und Lebensbedingungen in Deutschland nach unten gedrückt und die Exporte in die Eurozone durch hohe Wechselkurse für die peripheren Staaten begünstigt worden sind. Die deutschen Zahlungsbilanzüberschüsse wurden dann wiederverwendet, um den peripheren Staaten Geld zu leihen. Ursachen für die Zahlungsbilanzdefizite der peripheren Staaten waren die Rezession, die Rettung von Banken in Kernzone und Peripherie, die Austeritätspolitik, welche zu einem Rückgang der Steuereinnahmen und Anwachsen der Sozialausgaben führte, hohe Zinssätze für Regierungsanleihen sowie im Fall von Griechenland eine nur schwach ausgeprägte Fähigkeit zur Eintreibung von Steuern – was durchaus die Unterstützung der Reichen fand. 5. Die Agenda der herrschenden Klasse Europas Der Klassenkampf kann direkte und indirekte Form annehmen. Eine direkte Form des Klassenkampfes stellten in den Kernstaaten in erster Linie die Arbeitsmarktreformen dar, die das Ziel verfolgten, Entlohnung und Lebensbedingungen nach unten zu drücken. In den peripheren Staaten fanden dieselben Arbeitsmarktreformen statt – in Verbindung mit harten Austeritätsmaßnahmen wie etwa Lohnkürzungen, einem Einstellungsstopp für den öffentlichen Dienst und verschlechterte Rentenbedingungen und -zahlungen. Der indirekte Klassenkampf nahm in den Kernstaaten und der Peripherie die Form der Privatisierung und Kommodifizierung von öffentlichen Dienstleistungen an. Das führte ebenfalls zu Druck auf Entlohnung und Lebensbedingungen sowie zu lukrativen Profitmöglichkeiten, die oft ein sehr geringes Risiko aufwiesen – denn der Staat kann es nicht zulassen, dass viele dieser (nun privatisierten) Dienstleistungen ihre Funktionsfähigkeit verlieren. Es wäre falsch zu glauben, die herrschende Klasse Europas verfügte über eine bewusste und voll ausgearbeitete Strategie, den europäischen Kapitalismus zu ihrem Vorteil umzustrukturieren. Aber nachdem die Rezession und

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die anschließende Krise einmal eingetreten sind, scheint diese herrschende Klasse das (für sie) günstige politökonomische Klima zu nutzen. Aus diesem Grunde funktioniert der Neoliberalismus als eine Art Überraschungsangriff des Kapitals, bei dem es darum geht, soviel wie möglich zu »erplündern«, solange das politische Klima es erlaubt.

Zusammenfassung Ursache der gegenwärtigen Krise ist also nicht allein die unsichtbare Hand des Marktes, sondern es sind Marktkräfte, die neben der sehr sichtbaren Hand politischer Kräfte operieren. Dieses Muster ist nicht das Ergebnis des blinden Zusammenspiels rein ökonomischer Kräfte. Jeder Schritt in den Abgrund ist von den EU-Institutionen in ihrer Gesamtheit vermittelt worden. (Lapavitsas et al. 2012: XVIII) Die Krise […] ist ebenso sehr politisch wie ökonomisch. (The Economist 2011: 4f.)

5. D ie U nbr auchbarkeit der szientistisch ausgerichte ten Ö konomik Wir können nun den ersten Abschnitt dieses Beitrags, in dem die szientistisch ausgerichtete Ökonomik dargestellt wurde, auf die gegenwärtige Krise beziehen und zeigen, dass dieser Ansatz für eine Erklärung der gegenwärtigen Wirtschaftskrise unbrauchbar ist. Die Gründe dafür sind letztlich ontologische. Erstens ist die szientistisch ausgerichtete Ökonomik weder willens noch dazu in der Lage, die sehr sichtbare Hand politischer Kräfte zu erkennen, die hinter der gegenwärtigen Krise stehen, da sie gänzlich damit okkupiert ist, nach gesetzmäßigen Wirkungen zwischen makroökonomischen Schlüsselvariablen zu suchen. Verantwortlich dafür sind ihre Ontologie atomistischer und beobachtbarer Ereignisse sowie die (vermeintlichen) Ereignisregelmäßigkeiten, die diese gesetzmäßigen Wirkungen (vermeintlich) zu kausalen machen. Zweitens greift die szientistisch ausgerichtete Ökonomik, in dem Maße jedenfalls, wie sie überhaupt diese gesetzmäßigen Beziehungen zu verstehen versucht, auf eine Wirtschaftstheorie zurück, die von rationalen und nutzenmaximierenden Individuen ausgeht. Bei diesen Akteuren ist alles fiktiv: die Präferenzen und Aktivitäten, die von ihnen bewohnten Haushalte, die gesuchte Beschäftigung, die Institutionen, Strukturen, Organisationen und Mechanismen, mit denen sie interagieren. Das Ergebnis sind Theorien ohne jede Erklärungskraft. Betrachten wir drei Beispiele für diese Unfähigkeit der szientistisch ausgerichteten Ökonomik, irgendeine Art von Einsicht zu bieten.

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5.1 Die Wechselkurse, auf deren Grundlage der Euro geschaffen wurde Nehmen wir zunächst die unhaltbar hohen Wechselkurse, zu denen periphere Staaten der Eurozone beigetreten sind. Im Jahr 1979 hat der EU-Finanzminis­ terinnenrat den European Currency Unit (ECU) als Währungseinheit geschaffen. Der ECU war in der Theorie ein gewichteter Durchschnitt der nationalen Währungen, der auf einer Tabelle bilateraler Wechselkurse beruhte. Die beteiligten Staaten einigten sich darauf, ihre Wechselkurse in einer Schwankungsbreite von +/-2,25 Prozent zu halten, mit -6 Prozent für die italienische Lira. Dies war jedoch keine einmalige Festlegung. Die Kurse der nationalen Währungen wurden zwischen 1979 und 1995 mehrfach neu angepasst. In Wirklichkeit ist der ECU niemals ein gewichteter Durchschnitt der nationalen Währungen gewesen, und auch der Euro ist es nicht. Die einzelnen Nationalstaaten legten ihren Währungen (und ihrer Politik) die D-Mark zugrunde. Beispielsweise gab es sechs Fälle einer Kursanpassung des französischen Franc gegenüber der D-Mark: Jedes Mal kam es zu einer Abwertung mit einem kumulativen Abwertungseffekt von 45,2 Prozent.

Die Ökonomik kann nicht feststellen, wo der »richtige« Wechselkurs liegt bzw. lag Wechselkurse werden von verschiedenen Faktoren bestimmt wie Inflationsrate, Zinssatz, Zahlungsbilanz, öffentlicher Verschuldung, terms of trade, politischer Stabilität und wirtschaftlicher Leistung. Zinssätze als ein Schlüsselfaktor werden von der EZB festgelegt. Auch wenn ökonomische Variablen in sie eingehen, werden sie nicht von diesen determiniert, sondern beruhen letztlich auf politischen Entscheidungen. Die Determinanten von Wechselkursen erkennen zu wollen, ist bestenfalls äußerst schwierig, schlimmstenfalls unmöglich. In der Tat sind viele orthodoxe Ökonominnen davon überzeugt, dass sich Veränderungen der Wechselkurse am besten als Zufallsbewegungen konzeptualisieren lassen – d.h. als grundsätzlich unvorhersehbar. Entsprechend gibt es keine gesetzmäßige Beziehung zwischen Wechselkursen und irgendeiner Menge makroökonomischer Variablen. Die ökonomische Theoriebildung und Forschung kann nicht erklären, wo der »richtige« Wechselkurs für zwei gegebene Währungen liegt. Und sie konnte auch nicht erklären, was in den 1980er- und 1990er-Jahren der »richtige« Wechselkurs zwischen D-Mark und Drachme oder Escudo war. Es hat mehrere Jahre gedauert, bis deutlich wurde, dass die Wechselkurse nicht richtig angesetzt waren. Die Entscheidung, für die Währungen peripherer Staaten unhaltbar hohe Wechselkurse festzulegen, war in gewisser Hinsicht ein »Unfall«.

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Der Wechselkurs als politische Strategie Als schließlich der Euro entstand, wurde der Wechselkurs zwischen ihm und den nationalen Währungen ebenso sehr durch politische Überlegungen wie durch ökonomische bestimmt. Erinnern wir uns des Weiteren, dass der Monetarismus (als Vorläufer des Neoliberalismus) in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren zur »herkömmlichen Meinung« unter Ökonominnen, Finanzministerinnen (und deren Beraterinnen) sowie den Zentralbankerinnen der beteiligten Staaten geworden war. Er bot einen gemeinsamen Diskurs und eine geteilte ökonomische Weltanschauung. Die Festlegung hoher Wechselkurse für die Währungen der peripheren Staaten bedeutete, dass Verbesserungen ihrer ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit großenteils über den Arbeitsmarkt erreicht werden mussten – d.h. qua Durchsetzung einer Marktdisziplin, welche die Löhne und Lebensbedingungen der Arbeiterinnen verschlechterte. Hohe Wechselkurse für die Währungen der peripheren Staaten festzusetzen, war daher nicht bloß eine politische Strategie, es war eine Strategie, die im Interesse der herrschenden Klasse Europas lag.

5.2 Veränderungen im Kräftegleichgewicht Betrachten wir die (oben bereits erwähnte) Verschiebung des Kräftegleichgewichts von den vormals gut organisierten Gewerkschaften zum Kapital: Diese hatte eine Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte zur Folge, die dann ihrerseits – besonders auffällig in den Ländern Kerneuropas – zur Lohnzurückhaltung führten. Es gibt keine (sinnvolle) Weise, diese Kraft bzw. Verschiebung im Kräftegleichgewicht zu quantifizieren. Ebenso wenig ist es möglich, deren Auswirkungen auf besagte Runde der Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte zu quantifizieren. Selbst wenn wir jene Kraft und deren Auswirkungen quantifizieren könnten, ist es doch ganz unwahrscheinlich, dass es eine gesetzmäßige Beziehung zwischen Deregulierung und Flexibilisierung von Arbeitsmärkten einerseits und Lohnzurückhaltung andererseits gibt. Die Verschiebungen des Kräftegleichgewichts sind ebenso wichtig für die Erklärung der Krise, wie es unmöglich ist, sie zu quantifizieren. In Krisenerklärungen durch die szientistisch ausgerichtete Ökonomik können sie daher gar nicht eingehen.

5.3 Deregulierte Finanzmärkte Wenden wir uns dem Fall der »Kasinoökonomie« und der systematischen Unterschätzung der komplexen, riskanten und letztlich toxischen Finanzprodukte zu. Paul Tucker, stellvertretender Gouverneur der Bank von England, hat das Dilemma genau identifiziert, vor dem Investorinnen in dieser Hinsicht stehen:

Eine Frage der Ontologie Es ist ein gewichtiges Problem kollektiven Handelns, die Tanzfläche rechtzeitig zu verlassen. Nicht wenige Marktführerinnen hatten zumindest von 2006 an das Gefühl, dass das finanzielle Risiko unterbewertet wurde und dass beispielsweise die Bedingungen, die auf dem Markt für Anleihen mit eingeschränkter Kreditwürdigkeit (leveraged loans) herrschten, einfach dumm waren. Gleichzeitig waren sie unsicher, wann bzw. ob die Musik überhaupt anhalten würde, und fürchteten daher, dass sich bei einem allzu frühen Ausstieg ihr Geschäftsrisiko nur verhärten würde – indem nämlich der Tanz auch ohne sie einfach weiterginge und ihre Vorteile in dem Maße schwänden, wie die Kunden zu ihren Konkurrentinnen abwanderten (zitiert nach Leijonhufvud 2009: 5)

Szientistisch ausgerichtete Ökonominnen können diese Situation bloß mittels rationaler Akteure erklären, die Maximierungsstrategien bei unvollkommener Information verfolgen. Es reicht zu sagen, dass dies eine sehr schlechte Erklärung ist. Eine ernsthafte Erklärung müsste sich eingehend mit den politischen, kulturellen, sozialen und ideologischen Verschiebungen befassen, die in den 1980er-Jahren (anfangs) etwa die britische Regierung dazu ermutigt haben, die Finanzmärkte zu deregulieren. Auf diese Weise lässt sich eine Erklärung finden • für die zu hohen Wechselkurse, unter denen die peripheren Staaten der Eurozone beigetreten sind, • dafür, wie Veränderungen im politischen Machtgleichgewicht zur Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte führten, was wiederum Lohnzurückhaltung zur Folge hatte, • für die »Kasinoökonomie« und die systematische Unterschätzung der komplexen und letztlich toxischen Finanzprodukte. Das Problem besteht darin, dass die szientistisch ausgerichtete Ökonomik keinen einzigen dieser Sachverhalte erklären kann.

6. S chluss Szientistisch ausgerichtete Ökonominnen fragen: Was sind die Variablen und was sind die gesetzmäßigen Beziehungen zwischen ihnen? Auf Grundlage einer Ontologie von Ereignissen und deren Regelmäßigkeiten sowie einer damit verbundenen Regularitätenätiologie des Kausalgesetzes ist es vollkommen einleuchtend, diese Fragen zu stellen. Aber das bedeutet zugleich, gewisse Fragen eben nicht zu stellen und nicht dazu in der Lage zu sein, sie richtig zu stellen, und daher auch keine richtige Erklärung liefern zu können. Am Critical Realism orientierte Ökonominnen fragen dagegen: Wer sind die Akteure, was sind die Strukturen und Mechanismen, die sie reproduzie-

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ren oder transformieren, und welche Tendenzen werden dadurch erzeugt? Im Rahmen einer Ontologie von Akteuren, Strukturen und Mechanismen und einer damit verknüpften Tendenzätiologie der Kausalität sind diese Fragen vollkommen sinnvoll. Die ontologischen Festlegungen des Critical Realism drängen uns dazu, unsere Aufmerksamkeit auf eine politische Ökonomie zu richten, die offen, mehrfach verursacht, komplex, geschichtet, emergent und transformatorisch ist, sowie auf die Gruppen von Akteuren, die spezifische Strukturen und Mechanismen reproduzieren oder verändern. Selbstverständlich ist es auch möglich, anspruchsvollere Erklärungen der gegenwärtigen Krise vorzulegen, als ich sie oben skizziert habe. Hinzu kommt, dass derartige Erklärungen keineswegs von Forscherinnen stammen müssen, die ausdrücklich dem Critical Realism verpflichtet sind. In der Tat haben politische Ökonominnen wie Lapavitsas (und seine Kolleginnen und Kollegen) äußerst wichtige Einsichten in die gegenwärtige Krise zu bieten, ohne den Critical Realism auch nur zu erwähnen – sogar ohne jemals auf Fragen der Metatheorie einzugehen. Dasselbe lässt sich für viele heterodoxe Ökonominnen sagen, ebenso wie für andere, die außerhalb der auf die Ökonomie bezogenen Disziplinen arbeiten, etwa in der politischen Wissenschaft. In vielen Fällen werden dort, wo es zu anspruchsvollen Erklärungen der gegenwärtigen Krise kommt, allerdings (implizit oder vielleicht auch explizit) Begriffe vorausgesetzt, die mit den wichtigsten Grundsätzen des Critical Realism vereinbar sind. Wenn dieser Ansatz anderen Forscherinnen etwas zu bieten hat, dann betrifft das weniger die Substanz der Forschung als vielmehr die notwendige Reflexion darauf, dass die soziale Welt offen, mehrfach verursacht, komplex, geschichtet, emergent und transformatorisch ist. Aus dem Englischen von Frieder Otto Wolf

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Willkommen in der Wirklichkeit! Warum weiter zu gehen ist, als Steve Fleetwood dies tut Frieder Otto Wolf 1

Die von mir vertretene Position kann als die eines »endlichen Marxismus« beschrieben werden. Damit grenze ich mich auf der einen Seite von den sich Friedrich Engels anschließenden Versuchen ab, einen Komplex von Analysen und Thesen als »orthodoxen Marxismus« zu fixieren, wie ihn Engels noch – im Umfeld der neu aufgetauchten Begriffe des »historischen« bzw. des »dialektischen Materialismus«2 – philosophisch zu reflektieren begonnen hatte (vgl. Labica 1984). Auf der anderen Seite versuche ich aber auch, mich von allen Positionen und Programmatiken frei zu machen, welche das marxsche Erbe schlichtweg der Vergangenheit zuordnen und ihm damit als Komplex wissenschaftlicher Theorien und philosophischer Positionen die gegenwärtige Relevanz absprechen – wie dies bekanntlich paradoxerweise auch im marxistischen »Mainstream« – von Stalins »Leninismus« (als der »Marxismus unserer Epoche«) über die als solche auftretenden »Neomarxismen« der 1950er- und 1960er-Jahre bis hin zu der von Hardt und Negri zu Anfang dieses Jahrzehnts formulierten »Theorie des gegenwärtigen Zeitalters« – immer wieder versucht worden ist. Im Gegensatz zu diesen beiden Linien der Marxrezeption – der »orthodoxen« und der »neoterischen« – vertrete ich die Auffassung, dass zum einen Marx’ wissenschaftliche Untersuchung und Theoriebildung über die Herr1 | Ich danke Urs Lindner und Dimitri Mader für vielfältige und produktive kritische Hinweise, welche einen wesentlichen Beitrag zur Präzisierung meiner Überlegungen geleistet haben. 2 | Den Terminus »historischer Materialismus«, der auf Franz Mehring zurückgeht, hat Engels noch übernommen. Den von Joseph Dietzgen kreierten Ausdruck »dialektischer Materialismus« verwendet er dagegen nicht. Gleichwohl kann Engels’ philosophisches Spätwerk (v.a. Anti-Dühring und Dialektik der Natur) als Begründung des dialektischen Materialismus aufgefasst werden (vgl. zur hier vor allem interessierenden Problematik des »historischen Materialismus« Küttler et al. 2004 sowie Lindner 2016).

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schaft der kapitalistischen Produktionsweise in den modernen Gesellschaften keineswegs wissenschaftlich erledigt ist, sondern immer noch einen unumgänglichen Beitrag bildet, den es der Sache nach ernst zu nehmen, in seiner Tragfähigkeit zu begreifen und inhaltlich in heutigen gesellschaftswissenschaftlichen Debatten zur Geltung zu bringen gilt. Angesichts des unvollendeten Charakters der marxschen Theoriebildung (vgl. Rojas 1989), deren Dokumente inzwischen in der MEGA² nachvollziehbar sind, setzt das immer wieder auch eine sorgfältige Rekonstruktion des – z.T. bei Marx noch greif baren, aber in der anschließenden marxistischen Debatte immer wieder verloren gegangenen – Debattenstandes über Problemstellungen, theoretische Artikulationsformen (Begriffe, Theoreme) bzw. strukturelle Beweisführung oder empirisch-historische Exemplifikationen voraus. Hierin liegt eine vielleicht eher banale, aber nicht unwichtige Differenz zum Critical Realism, der zumindest überwiegend ohne diese erst einmal philologisch anmutende Mühe der umfassenden und sorgfältigen Marxlektüre auszukommen glaubt bzw. diese Arbeit für grundsätzlich (etwa von Bhaskar) bereits geleistet hält 3. Zum anderen gehe ich aber – und darin stimme ich grundsätzlich mit dem Critical Realism überein – davon aus, dass Marx’ philosophische Nebenbemerkungen zu seinen Darstellungen einer kritischen Wissenschaft von der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise in den modernen bürgerlichen Gesellschaften gleichsam als »Brocken« immer noch eine lebendige philosophische Herausforderung darstellen, welche ein wirklich zeitgenössisches radikales Philosophieren (vgl. Wolf 2000) nicht ohne Schaden ignorieren kann. Dass der Dialog mit der zeitgenössischen systematisch argumentierenden Philosophie (sowie im Hinblick auf Fleetwoods spezielle Thematik mit den gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen der Ökonomie, der Soziologie, der »historischen Anthropologie« sowie der Historik) auf der grundsätzlichen Ebene von entscheidender Bedeutung ist, kann nach meiner Überzeugung ohnehin nicht ernsthaft bestritten werden. Hier hat der Critical Realism einen wichtigen, vermutlich sogar zentralen Stellenwert, der jedenfalls in der deutschen Debatte erst in Ansätzen aufgearbeitet ist. Allerdings wäre es hier wohl produktiv, zu beachten, dass die marxsche Kritik der politischen Ökonomie auch epistemologisch etwas ganz Eigenartiges ist, das man besser nicht mit Soziologie, Historik oder gar mit Ökonomie verwechseln sollte: In ihr geht es – ohne Rücksicht auf disziplinäre Vorurteile – erst einmal ganz schlicht darum, theoretisch zu rekonstruieren, wie die kapitalistische Produktionsweise herrscht, und zwar als ein historisches Phänomen, dessen Begreifen aufgrund seiner hartnäckigen Produktion von »verkehrten Vorstellungen« über seine Wirklichkeit erst von Effekten der Verkennung und 3 | Dass hier viel getan werden kann, auch wenn noch mehr zu tun bleibt, hat Lindner (2013) bewiesen.

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der Fehlkategorisierung befreit werden muss – sodass es auf eine beständige Arbeit der »Kritik« angewiesen bleibt. Diese Arbeit des »Dechiffrierens« ist auf dem Felde der Kritik der politischen Ökonomie ein unvermeidlicher Anteil jeder Forschungsbemühung, welche sich zugleich gegen die beständig drohende Irreführung durch dominante Klassenperspektiven behaupten muss. Sie fordert eine Praxis der Lektüre nicht nur von vorliegenden Texten, sondern auch von vorgegebenen Praktiken, welche sich methodisch weder mit den Kategorien einer hermeneutischen Interpretationslehre noch mit den Mitteln einer bloßen Begriffskonstruktion erfassen lässt. Hier ist darüber hinaus sorgfältig etwas zu bedenken, in dem sich in vielem so gegensätzliche Philosophen wie Theodor W. Adorno und Louis Althusser einig zu sein scheinen – nämlich die Skepsis, die gegenüber einer ganz reinen Theorie angebracht ist, welche grundsätzlich nichts mehr sehen will, das sich faktisch der wissenschaftlichen Erkenntnis entzieht. Die unvermeidliche Negativität kritischen Denkens und die blinden Flecke lassen sich aus der wissenschaftlichen Forschung auf dem ideologisch überdeterminierten Feld der Wissenschaften von Geschichte und Gesellschaft nicht völlig vertreiben – so sehr dem Critical Realism auch darin Recht zu geben ist, dass daraus kein Vorwand für ein resignatives Unterlassen der erforderlichen und möglichen wissenschaftlichen Forschungen und philosophischen Untersuchungen gemacht werden darf.

1. V ersuch einer systematischen E inbe t tung meiner K ritik an F lee t wood Fleetwoods Beitrag berührt zwei inhaltlich und methodisch wichtige Problemkomplexe, welche einer eigenständigen Behandlung bedürften, die ich im Rahmen dieses Beitrages allerdings nicht leisten kann: nämlich die Fragen des Szientismus und der Ontologie. Diese Fragen stehen aber auch nicht im Fokus von Fleetwoods Text. Angesichts von Fleetwoods Beitrag, der diese Positionen nur als Ausgangspunkt und Grundlage voraussetzt, muss es hier genügen, die mit den Stichworten von »Szientismus« und »Ontologie« verknüpften Probleme zumindest allgemein angesprochen zu haben.

1.1 Szientismus Die Frage des Szientismus – zumindest in der gängigen Verwendung dieses Begriffs – wird von Fleetwood nicht ausdrücklich als solche angesprochen und daher auch nicht diskutiert: Ich meine damit das Problem, ob die Ergebnisse der Wissenschaften eine notwendige und hinreichende Grundlage für eine ra-

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tionale und richtige menschliche Praxis liefern können. Während dies auch für mich in allen Fragen, in denen es um eine technische Anwendung von Wissenschaft geht (also etwa in dem von Max Horkheimer unter dem Titel der »instrumentellen Vernunft« behandelten Bereich), unbestreitbar ist, setzen meine Vorbehalte dort ein, wo es um die politische und kulturelle Praxis geht oder um die Praxis der individuellen oder auch kollektiven Lebensführung: Hier ist es zwar notwendig, zu begreifen, mit welchen Strukturen und Mechanismen es diese Praxis zu tun hat, das reicht dann aber so lange nur zu einem technokratischen »Stückwerk«4, wie keine grundlegenden Orientierungen (etwa auf Herrschaftsreproduktion bzw. auf konkrete Befreiung, oder auch, bescheidener, auf bloßen Machtgewinn bzw. auf schrittweise Machtreduktion) damit verbunden werden. Das hat zur Konsequenz, dass für gesellschaftswissenschaftliche Ergebnisse eine »Umsetzung in die Praxis« ohne eine Verknüpfung mit konkreten Artikulationen von Befreiungs- (oder aber Herrschafts-) Ansprüchen gar nicht einmal gedacht werden kann – und das heißt eben auch, dass sie nicht allein aus der jeweils zuständigen wissenschaftlichen Fachdisziplin heraus, ohne einen entsprechenden Beitrag philosophischer Kritik und Artikulation, begründet werden kann. Erst damit, dass eben auch politische Wünsche und Urteile aufgenommen oder Lebensorientierungen Eingang in die Argumentation finden, wird eine nicht bloß technokratische Umsetzung wissenschaftlicher Ergebnisse in eine historisch wirksame gesellschaftliche Praxis möglich. Diese Dimension überspringt Fleetwood systematisch und betreibt damit selber in der Tat eine sich gegenüber dem gegebenen Stand der disziplinären Entwicklung unkritisch verhaltende Praxis des Philosophierens als Quasi-Wissenschaftler, welche hinter den reflexiven und kritischen Möglichkeiten philosophischer Tätigkeit auf eine heute durchaus vermeidbare Weise zurückbleibt – so sehr sie sich auch kritisch von den epistemologisch vorherrschenden Vorstellungen über eine allein aus singulären Ereignissen bestehenden Wirklichkeit absetzt (wie sie im Critical Realism als »positivistische Ereignisontologie« kritisiert werden).

1.2 Ontologie Im Anschluss speziell an Archer (1995, 1998 und 2003), Lawson (1996, 1997, 2003 und 2009) und etwa Palermo (2007) unterscheidet Fleetwood zwischen »zwei konkurrierende[n] Ontologien der Ökonomie«: Einer »Ontologie atomistischer, beobachtbarer Ereignisse und Ereignisregelmäßigkeiten«, wie sie der 4 | Wie dies dann etwa Popper (1957) angesichts der in der »Nacht des 20. Jahrhunderts« falsch totalisierenden ideologischen Praktiken, welche zum Teil im Gewand der Wissenschaft auftraten, resignativ zur einzig realistischen Perspektive erklärt hat.

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von ihm kritisierten Mainstream-Ökonomik zugrunde liege, und einer Ontologie »von Strukturen und Mechanismen […], welche von menschlichen Akteuren reproduziert und transformiert werden« (in diesem Band: 167 [Hervorh. im Orig.]). Das philosophiehistorisch belastete Wort »Ontologie«5 und speziell die Rede von Ontologien im Plural wird – nicht nur von Fleetwood – innerhalb des Critical Realism bekanntlich auf eine philosophisch sehr spezifische Weise verwendet: In Roy Bhaskars Rekonstruktion der transzendentalen Wendung Kants wird dadurch vermieden, dass im Sinne einer »epistemic fallacy« die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung radikal-konstruktivistisch (und damit relativistisch) als von der befolgten Epistemologie und eben nicht von den untersuchten Gegenständen determiniert begriffen werden. In diesem Sinne setzt der Critical Realism plausiblerweise eine grundsätzliche Vorgängigkeit der untersuchten realen Gegenstände gegenüber ihrer wissenschaftlichen Artikulation ebenso wie gegenüber ihrer epistemologischen Reflexion voraus (vgl. Bhaskar 1989). Diese m.E. keineswegs zu bestreitende6 gegenständliche Rückgebundenheit der wissenschaftlichen Forschung und Theoriebildung (und indirekt auch ihrer sie wiederum voraussetzenden philosophischen Re5 | Seit Aristoteles, der arabischen Philosophie und der Scholastik gibt es hier differierende und konfligierende Versuche, das Sein des Seienden als solchen zu denken, welche unter den Stichworten der »Analogie des Seienden« (analogia entis) – der gemäß alle Varianten des Seienden auf eine höchste Form (das göttliche, allervollkommenste Seiende als ens perfectissimum) konstitutiv bezogen seien – versus der von Ibn Sina ausgearbeiteten These von der »Univozität« alles Seienden – der gemäß alle Arten des Seienden einen gemeinsamen elementaren Bedeutungsinhalt aufweisen – zusammengefasst worden sind. Seit Freges Ausdifferenzierungen der Bedeutungen des Wortes »ist« (und etwa seit Wittgensteins Überlegungen über die Familienähnlichkeit als mögliche Einheit eines Bedeutungsfeldes) ist es aber plausibel, dass auf eine derartige philosophische Konzeptualisierung des »Seins als solchen« verzichtet werden kann und auch besser verzichtet werden sollte. Nikolai Hartmanns (1942) der Selbstbezeichnung nach ebenfalls als »kritischer Realismus« figurierender Versuch einer Repristinierung der traditionellen Ontologie (an die etwa auch der späte Lukács [1971, 1972 und 1973] angeknüpft hat – vgl. dazu kritisch Wolf 2012) ist jedenfalls nicht auf der Höhe dieser Debatten – während Bhaskar u.a. sich immerhin bewusst darauf rückbezogen haben. Ganz zu schweigen von Fragen des Imaginären und des Symbolischen, die, auch wenn man Lacans Diktum »Das Reale ist das Unmögliche« nicht postmodern fälschlich auf die wissenschaftliche Erkenntnis bezieht, unbestreitbar – und dies nicht nur bei Marx – offenbar für wirklich wissenschaftliche Erklärungen komplexer Sachverhalte benötigt werden. 6 | Auch wenn mit Althusser darauf zu bestehen ist, dass immer zwischen dem Realobjekt und dem Erkenntnisobjekt zu unterscheiden ist.

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flexion) an real vorgängig bereits existierende Gegenstände und Prozesse wird dann terminologisch als deren »Ontologie« gefasst. Diese kann dann wiederum auch als von unterschiedlichen Auffassungen geprägt begriffen werden: So können etwa unterschiedliche Arten von »Gegenständlichkeiten« als existent unterstellt werden – was dann durch die Rede von Ontologien im Plural bezeichnet werden soll. Die beiden idealtypischen derartigen »Ontologien«, auf die sich Fleetwood bezieht, sind einerseits die Unterstellung des gegenwärtig vorherrschenden Szientismus (und »Positivismus«), dass real die erforschte gegenständliche Wirklichkeit durch singuläre Einzelereignisse konstituiert ist und andererseits die Grundunterstellung des Critical Realism, dass es jede wissenschaftliche Tätigkeit in der gegenständlichen Wirklichkeit mit Strukturen und Mechanismen zu tun habe. Einer derartigen Begrifflichkeit gegenüber wäre aber doch zumindest die Frage zu stellen und zu untersuchen, ob eine solche ganz allgemeine Unterstellung von »Ontologien« überhaupt erforderlich (und ggf. wofür sie dienlich) ist – bzw. wie sie sich von der Entdeckung der realen Grundstrukturen und elementaren Prozesse etwa innerhalb der wissenschaftlich erforschten gegenständlichen Felder von Physik, Chemie, Biologie und (humaner) Geschichte unterscheidet bzw. gegebenenfalls daraus »ableiten« lässt oder zumindest darauf zurückbeziehen kann.7 Das Argument, ohne die Unterstellung einer allgemeinen Ontologie von Strukturen und Prozessen überhaupt könnten derartige Entdeckungen gar nicht gemacht werden, scheint mir die Struktur der Prozesse grundlegend misszuverstehen, in welchen letztlich wissenschaftliche Erfahrungen gemacht werden: Zwar ist es unbestreitbar, dass wissenschaftliche Theorien und epistemologische Reflexionen nicht im engeren Sinne »empirisch« aus dem wissenschaftlichen Forschungsprozess gleichsam spontan hervorwachsen, aber das hebt die grundsätzliche Rückbindung an Praxis und Erfahrung nicht auf – aus denen dann erst die spezifische Vorannahme gewonnen werden kann, man habe es in einem bestimmten Feld etwa mit historischen Strukturen und Prozessen zu tun. Etwa Bhaskars Unterscheidung zwischen »the real«, »the actual« und »the empirical« ist ein wichtiger philosophischer Eingriff, der einige in der Wissenschaftsphilosophie verbreitete Denkblockaden aufzulösen hilft, welche die wissenschaftliche Forschung beeinträchtigen. Sie hat aber selbst nicht den Status wissenschaftlicher Aussagen als begründbarer Forschungsergebnisse – das 7 | Diese Frage lässt sich durchaus auch analog an die Epistemologie richten: Die Tragfähigkeit einer bloß im Allgemeinen verbleibenden Reflexion von »Wissenschaftlichkeit als solcher« ist angesichts der realen Vielfalt wissenschaftlicher Praxisfelder durchaus zweifelhaft – auch wenn es zweifellos philosophische, d.h. wahrheitspolitische, Postulate der Wissenschaftlichkeit gibt und geben muss, denen alle Felder wissenschaftlicher Praxis genügen sollen (vgl. Wolf 1972).

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können allenfalls in den Forschungsfeldern selbst generierte Aussagen über Unterscheidungen haben, bei deren Ausarbeitung und weiteren Präzisierung Bhaskars philosophische Begrifflichkeit und Problematisierung hilfreich sein kann: Also etwa die Unterscheidung zwischen der kapitalistischen Produktionsweise in ihren allgemeinen Strukturen als Reales, ihrer historischen Verwirklichung in einer bestimmten »ökonomischen Gesellschaftsformation« als Wirkliches und den bloß empirisch feststellbaren »Erscheinungen der Oberfläche« eines Stücks Zeitgeschichte.8 Das erledigt nun nicht schon die philosophische Aufgabe, allgemeine Vorstellungen auch über das Verhältnis von Wissenschaft und Wirklichkeit zu entwickeln – aber diese Aufgabe dient vor allem der reflexiven Prävention von Scheinproblemen und produziert keine mit der wissenschaftlichen Forschung konkurrierenden oder diese auch nur »ergänzenden« wahren Erkenntnisse. Oder, etwas zugespitzter formuliert, ist die Frage zu stellen, ob es sich bei dieser Art der Rede von den Ontologien nicht von vornherein um eine überflüssige Zusatzvorstellung handelt, welche – außer einer der Sache nach problematischen Abstraktifizierung und Universalisierung – den auf den gegenständlichen Feldern wirklicher Wissenschaft gewonnenen Befunden inhaltlich gar nichts hinzuzufügen hat. Und die zudem in ihrer Struktur den traditionellen philosophischen »Scheinproblemen« entsprechen, welche aber doch womöglich gerade zu überwinden sind. Anders formuliert, ist es durchaus zweifelhaft, ob es möglich ist, einen für die gesamte bisherige Geschichte der Menschheit sinnvoll anwendbaren Begriff des »Ökonomischen«, des »Sozialen« oder auch des »Politischen« zu erarbeiten, und ob es nicht vielmehr erforderlich ist, derartige Unterscheidungen radikal zu historisieren – also sie alle primär und streng auf moderne Gesellschaftsformationen zu beziehen und allenfalls analogisierend und vergleichend, bzw. zu heuristischen Zwecken, auf historisch frühere Gesellschaftsformationen zu übertragen. Sicherlich produktiv ist Fleetwoods Vorschlag, zwischen Graden bzw. Ebenen der Realität zu unterscheiden – indem er etwa der oberflächlichen Realität, wie sie sich zunächst und allgemein in der Alltagserfahrung darstellt, eine tiefere Realität entgegenstellt, wie sie als Ergebnis einer näheren wissenschaftlichen Untersuchung begriffen werden kann. Allerdings drängt sich sogleich die Frage auf, ob es nicht nötig ist, über diese einfache Gegenüberstellung von »Oberfläche« und »Tiefe« ganz erheblich hinauszugehen – indem mehr als zwei Untersuchungsebenen unterschieden werden – indem etwa zusätzliche 8 | Vergleichbares gilt auch für Mario Bunges »Emergenzontologie« (2003): Sie erschließt uns keine höhere Wirklichkeit des Gesamtzusammenhanges, sondern leitet uns an, die spezifische Konstituiertheit der einzelnen Wissenschaften als solche ernst zu nehmen – und ohne ein Verfallen in Reduktionismus als in gewissem Sinne »aufeinander aufbauend« zu betrachten.

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»Ebenen« eingeführt werden, welche erklären, warum sich die Tiefenstrukturen an der ideologisch bzw. kulturell überdeterminierten »Oberfläche« genau auf diese Weise darstellen, oder angeben können, wo es Möglichkeiten einer praktischen Intervention bestimmter handelnder Subjekte gibt. Und ob es zum anderen nicht besser wäre, das Modell allgemein bestimmbarer Ebenen – als ontologisch-omnihistorisch fassbare Zusammenhänge – durch eine Historisierung der theoretisch rekonstruierbaren Zusammenhänge – von der Warenform der Produkte über das Kapitalverhältnis und die Akkumulation des Kapitals bis zur relativen Verselbständigung des modernen Staates oder der Durchsetzung der lohnabhängigen Kleinfamilie – abzulösen, anstatt zu einer vorschnellen Abstraktifizierung – etwa »des Ökonomischen« – zu verführen.

2. Z u S te ve F lee t woods Ü berlegungen zur » politischen Ö konomie « Fleetwoods Überlegungen zur »politischen Ökonomie« können differenziert diskutiert werden: Sein Beitrag stellt, erstens, zweifellos ein paar an sich wichtige Punkte klar und es ist ihm darin zuzustimmen, dass sie innerhalb der Neoklassik und in anderen Gestalten der Mainstream-Ökonomie geradezu systematisch verleugnet werden. Die Frage ist allerdings zu stellen, welchen Sinn es noch macht, den Mechanismen dieser Herrschaft von offenkundig unbegründeten und problematischen Auffassungen von ökonomischer Wissenschaft vor allem mit direkten inhaltlichen Argumenten begegnen zu wollen, anstatt etwa ideologiekritisch die Strukturen und Mechanismen freizulegen und zu kritisieren, welche bewirken, dass diese falschen, ahistorischen und zugleich ideologisch herrschaftsaffirmativen Vorstellungen immer noch die wirtschaftswissenschaftlichen Fachbereiche und Institute beherrschen – und damit dem wissenschaftspolitischen Kampf gegen diese Hegemonie die nötigen intellektuellen Kampfmittel zu liefern. Denn hier ist, zweitens, eben auch die Frage zu stellen, ob Fleetwoods Orientierung auf die Ontologie nicht neben der unterstützenswerten Einforderung des Realitätsbezuges nicht auch zwei problematische Effekte hat. Zum einen wird dadurch einer problematischen Enthistorisierung das Wort geredet: Ontologische Bestimmungen sind per definitionem zumindest omnihistorisch, wenn nicht gar ahistorisch. Zum anderen schleicht sich dadurch ein epistemologischer Apriorismus ein, indem etwa der Disziplin der Ökonomie unhinterfragt unterstellt wird, sie korrespondiere als Wissenschaft einem ontologisch definierbaren Bereich der Wirklichkeit, dem Ökonomischen – anstatt die Trennung von Politischem und Ökonomischem selbst noch als einen Effekt von Klassenstruktur und Klassenkämpfen in den modernen bürgerlichen Gesell-

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schaften zu begreifen. Beides, sowohl das Übersehen der Diskontinuitäten, der Brüche, sowie der Transformationen bzw. Übergänge in der historischen Vergangenheit, als auch die Selbstverständlichkeit, mit der Fleetwood an das in Bezug auf Geschichte und Gesellschaft bestehende System der wissenschaftlichen Disziplinen anknüpft, könnte jedenfalls durch eine ontologische Betrachtungsweise bestärkt werden. Und beides ist als solches kritisch zu überwinden. Dies hat nun aber auch noch – bei Fleetwood nicht anders als im Mainstream des Marxismus9 –, drittens, den nicht unwichtigen gesellschaftstheoretischen Nebeneffekt, der in diesem Text im Hintergrund verbleibt, dass alle neben der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise (welche unter dem vagen Stichwort »Kapitalismus« behandelt wird10) in modernen Gesellschaftsformationen11 wirksamen Herrschaftsverhältnisse zwar erwähnt werden12, dann aber, wenn es um konkrete Erklärungen geht, gleichsam im Nebel verschwinden: imperiale Abhängigkeiten, Diskriminierungsstrukturen nach »Rasse« und »Geschlecht«, ebenso wie Problematiken der »institutionellen Verselbstständigung« von Staat und Politik gegenüber realen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und daher auch gegenüber ernsthaft betriebenen Demokratisierungsprozessen.

9 | Innerhalb der breiteren Strömung des Critical Realism sind hierzu auch differenziertere Positionen entwickelt worden, vgl. etwa Urs Lindners Unterscheidung zwischen Sozialontologie, Gesellschaftstheorie und Zeitdiagnose (Lindner 2014). Auch Fleetwood selbst argumentiert an anderer Stelle auch unter Einbeziehung anderer Herrschaftsverhältnisse wie Gender (vgl. Fleetwood 2014). 10 | Dazu kritisch Wolf (2005): Schlicht von »Kapitalismus« zu reden, verdeckt die epistemologische Differenz zwischen der kritischen Darstellung der allgemeinen, wenn auch historisch klar begrenzten Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise und der Untersuchung konkreter Gesellschaften in einem bestimmten Zeitraum. 11 | Ich folge hier der erst einmal althusserschen Unterscheidung (vgl. Althusser 1965 und Balibar 1974) von Gesellschaftsformation (als konkreter, komplexer Gegebenheit) und Produktionsweise (als allgemeiner Struktur), an welche ich allerdings – bewusst über die von Jean-Philippe Rey (1971) angestoßene Debatte über die »Artikulation der Produktionsweisen« hinausgehend – noch die Frage nach Verknüpfungen und Komplizitäten zwischen unterschiedlichen und nicht aufeinander reduzierbaren modernen Herrschaftsstrukturen anzuschließen vorschlage (vgl. Wolf 2012). 12 | »Aber warum hier haltmachen? Löhne werden auch von ›nicht-ökonomischen‹ Faktoren verursacht wie Geschlecht, Rasse und Klasse, Fairness- und Gerechtigkeitsvorstellungen, von sozialer und Organisationskultur, von Politik am Arbeitsplatz, der politischen Ideologie usw.« (In diesem Band: 175)

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2.1 Fleetwoods Anwendung des Critical Realism auf das Feld der Gesellschaftswissenschaften Fleetwood scheint daran festzuhalten, eine allgemeine wissenschaftliche Theorie von Gesellschaft und Geschichte zu entwickeln, anstatt darauf einzugehen, wie sich in großen historischen Epochen radikal unterschiedliche Verhältnisse zwischen Menschen – insbesondere unmittelbar persönliche versus sachlich vermittelte – entwickelt haben, und zwar ganz gegensätzlich, sowie aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Perspektiven auch ganz unterschiedlich darstellen. Vor diesem Hintergrund ist anzumerken, dass ganze Dimensionen der gesellschaftlichen Wirklichkeit bei Fleetwood ausgeblendet bleiben – vor allem die »Weltsystem«-Effekte ebenso wie die Formen rassistischer Diskriminierung auf der einen und die herrschaftlich geprägten Geschlechterverhältnisse auf der anderen Seite – um gar nicht erst von der Ökologie der Menschheit als komplexer Einbettung spezifischer menschlich-gesellschaftlicher Zusammenhänge in die selbst komplexe Ökologie des Planeten Erde zu reden. Aber hier ist es nötig, die Kritikebenen deutlich zu unterscheiden. Fleetwoods exemplarisch gewählter Gegenstand ist die gegenwärtig immer noch nicht gelöste Staatsschuldenkrise, die sich in eine Eurokrise hinein fortgesetzt hat. Ihre Behandlung ist als solche in der Tat ein ganzes Stück weit möglich, ohne zu thematisieren, wie weit die gegenwärtige große Komplexkrise nicht nur der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise sich auf die konkreten Krisendynamiken auswirkt oder wie weit darin sich eine Krise des neoliberalen Modells der Regulation der globalen Kapitalakkumulation auswirkt. Sie ist sogar auch sinnvoll möglich, ohne die Effekte der Krisenverlagerung (von der Finanzmarktkrise zur Staatsverschuldungskrise) seit dem offenen Ausbruch der gegenwärtigen globalen ökonomischen Strukturkrise 2007/08 näher zu untersuchen. Insbesondere der zentrale Gedanke der reifen marxschen Krisentheorie, dass nämlich die Krise als Moment der Zuspitzung und in gewissem Sinne auch »Vereinfachung« die Komplexität der entwickelten kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse ebenso voraussetzt wie zu reduzieren tendiert, wird aufgrund der von Fleetwood schon im Vorhinein vollzogenen Vereinfachung der Fragestellung unsichtbar. Das wird m.E. durch die disziplinäre Vereinfachung, wie Fleetwood sie vornimmt, nur noch weiter verstärkt. Denn er scheint zu übersehen, dass diese zusammenfassende Gewalt der Dynamik jeglicher kapitalistischen Krisenkonstellation von vorneherein das Prokrustesbett der schlichten Einteilung in Ökonomik, Soziologie, Psychologie und Politik sprengt, welche er zu unterstellen

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scheint.13 In diesen Disziplinen geht es immer wieder um eine Ausdifferenzierung von Wissenschaftsfeldern, welche die Subjektivität isolierter menschlicher Individuen (»Psychologie«) zum Gegenstand haben, deren Gesellungsformen (»Soziologie«), deren Formen der Machtgewinnung und -ausübung (»Politik[wissenschaft]«), sowie, last but not least, deren Austauschverhältnisse als »Warenhüter« und »Geldbesitzer« (Ökonomie/Ökonomik). Es scheint auf der Hand zu liegen, dass etwa der klassische »Imperialismus« historisch mit einer »formellen Normalisierung« der inneren Geschlechter- und Generationenverhältnisse einhergegangen ist – etwa der von Jacques Donzelot (1977) rekonstruierten Durchsetzung der lohnabhängigen Kleinfamilie – und auch eine vergleichbare »formelle Normalisierung« der äußeren Verhältnisse der führenden Staaten, durch die Aufteilung der Welt in »Einfluss-Sphären« und durch die Schaffung spezifisch organisierter Kolonialsysteme, stattgefunden hat – was beides von einer historischen Welle14 von Kämpfen gegen männlich ausgerichtete und gegen kolonial konstruierte Herrschaftsverhältnisse begleitet wurde. Ebenso hat etwa der »Fordismus«, der den Frauen die Rolle der »modernen Hausfrau« mit ihrer zentralen Stellung im Konsumismus gebracht hat und den Kolonien die formelle staatliche Unabhängigkeit in Verbindung mit ökonomischer, zunehmend auch durch Arbeitsmigration vermittelter Abhängigkeit, einen weiteren von der Kapitalherrschaft geprägten »Modernisierungs-«Schub durchgesetzt. Weniger offenkundig ist schon der Anteil, welchen Frauen- (und Jugend-) Kämpfe sowie eine neue Welle antikolonialer Befreiungskämpfe daran gehabt haben, dass sich die – durchaus auch intern in den ökonomischen Verhältnissen und Prozessen begründete – »Krise des Fordismus« als historisch unlösbar erwiesen hat. Oft wird übersehen, dass die neoliberalen »Umfunktionierungen« von Befreiungsforderungen aus den Kämpfen der 1960er- und 1970er-Jahre hier ganz spezifisch angeknüpft haben – etwa im Zeichen der Gleichberechtigung mit dem Versprechen zumindest an eine gut ausgebildete Minderheit weißer Frauen im industrialisierten »Norden«, gleichberechtigt in Führungspositionen

13 | Daran würde übrigens auch eine Berücksichtigung der recht unterschiedlichen historischen Varianten – als »sciences morales et poliques« im napoleonischen Frankreich, als »moral sciences« im sich modernisierenden England des 19. Jahrhunderts, als »Geistes- und Staatswissenschaften« im wilhelminischen Deutschland, wiederum als »sciences humaines« im Frankreich der III. Republik – dieser Wissenschaftsentwicklung nichts ändern. 14 | Welche man, je nachdem, wie man die von der Französischen Revolution ausgelösten Frauenbefreiungs- (Olympe de Gouges) und Sklavenbefreiungskämpfe (Haiti) einordnet, als die erste oder als die zweite Welle derartiger Emanzipationskämpfe bezeichnen kann.

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aufsteigen zu können,15 sowie mit dem Versprechen der Nichtdiskriminierung an die »Eliten« der im Zuge der »Entkolonialisierung« neu gebildeten Staaten, sich uneingeschränkt bereichern zu können (sowie das derart Erwirtschaftete bei den Banken des »Nordens« nicht nur in Sicherheit bringen, sondern durch reine Finanzgeschäfte vermehren zu können). Die damit angestrebte Spaltung der entsprechenden Befreiungsbewegungen ist bekanntlich insgesamt sehr gut gelungen. Für die seit 2007/08 offen ausgebrochene Krise der neoliberalen Konstellation – welche von vornherein zumindest fragiler wirkte als der massive »historische Block« des Fordismus – bedeutet dies zunächst einmal, dass diese Dimensionen aus dem offiziellen Krisendiskurs verschwinden bzw. marginalisiert werden – während sie sich in der Wirklichkeit, aber eben in bloß empirischen, völlig unbegriffenen Gestalten, durchaus Geltung verschaffen – vor allem als wachsende Gewaltbereitschaft, nicht nur bestimmter Kategorien von jungen Männern nicht nur in den Ländern des »Nordens« bzw. als Motiv für sich ausweitende militärische Konflikte bis hin zu offenen, wenn auch bisher regional begrenzten und zumeist unerklärten Kriegen. Dass diese destruktiven Prozesse zum gegenwärtigen Krisengeschehen gehören und durchaus aktiv gestaltend dazu beitragen, wird in der wirtschaftspolitischen Debatte zumeist ausgeblendet – auch wenn die wirtschaftliche Bedeutung von Rüstungsproduktion offenbar weiter zunimmt – und sich zunehmend ein Sektor der »Sexualwirtschaft« entwickelt hat, der von illegalen Bereichen bis in die gute Gesellschaft der »Reichen und Schönen« hineinreicht, der sich auch in der ökonomischen Krise sehr profitabel zu entwickeln scheint.

2.2 Zu Fleetwoods »Krisenanalyse« Eine Kritik an Steve Fleetwood, welche darauf abstellt, dass er keine theoretische Rekonstruktion dieser gegenwärtigen Komplexkrise in Angriff nimmt, geht allerdings an seinem Text insofern vorbei, als er sich ausdrücklich auf die gegenwärtige Eurokrise als Untersuchungsgegenstand konzentriert. Ich könnte hier nur auf die von ihm selbst eingeführte Unterscheidung von distanten, 15 | Im Hinblick auf die Generationenverhältnisse ist hier festzuhalten, wie zum einen gegenüber der jungen Generation seit den 1980er-Jahren eine »Flexibilisierung der Arbeit« als Alternative zu dem (oft auch repressiven) fordistischen »Normalarbeitsverhältnis« (in Frankreich im Mai 1968 kritisch als »métro, boulot, dodo« [U-Bahn/Arbeit/ Schlaf] gekennzeichnet) propagiert worden ist, welche dann faktisch für die große Mehrheit zu deren Steckenbleiben in prekären Arbeitsverhältnissen geführt hat – und zum anderen das Stichwort der »Generationengerechtigkeit« als ideologische Abrissbirne gegenüber den bestehenden, unbestreitbar in vielen Zügen diskriminierend und auch repressiv angelegten sozialen Sicherungssystemen eingesetzt worden ist.

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medianen und proximalen Ursachen zurückgreifen und behaupten, dass er wegen dieser Einschränkung seines Gegenstandes auf der Ebene der distanten Ursachen den Klassenkampf ebenso wie die Kämpfe gegen nicht klassenbezogene Herrschaftsstrukturen vernachlässigt. Auf der Ebene der medianen Ursachen ist festzuhalten, dass er die Möglichkeiten einer theoretischen Integration ignoriert, wie sie in empirisch gehaltvoller und – wenn gesellschaftstheoretisch insgesamt richtiggestellt und eingeordnet – durchaus auch theoretisch signifikanter Weise sowohl von unterschiedlichen »Stadientheorien des Kapitalismus« (insbesondere mit ihrer Betonung der Entwicklung der Formen des Kapitals seit der Durchsetzung des Aktienkapitals gegenüber der älteren Grundform des persönlichen Kapitaleigentums) als auch etwa von der Regulationsschule entwickelt worden sind (insbesondere mit ihrer Unterscheidung zwischen Akkumulationsmodellen und Regulationsregimen). In seiner Diskussion der proximalen Ursachen bewegt sich Fleetwood – wenn auch unbegründet selektiv16 – durchaus im Rahmen der vorliegenden ernst zu nehmenden Analysen – von etwa Peter Gowan (2009), Gérard Duménil/Dominique Lévy (2009) sowie Dieter Klein (2008) und Elmar Altvater (2010) über Costas Lapavitsas (2012) und Karl Georg Zinn (2012) bis hin zu Gérard Duménil (2013) und Joachim Bischoff (2014), leistet dazu, wie es ja auch gar nicht sein Anspruch ist, aber keinen besonders originellen Beitrag.17 Fleetwood teilt allerdings ausdrücklich die problematische Krisendiagnose von Lapavitsas, welche dann bei Lapavitsas in der Konsequenz zu der eklatanten politischen Fehleinschätzung führt, allein durch eine Rückkehr zur Drachme könne Griechenland wieder Bedingungen für eine reale Akkumulation von Kapital schaffen. Dass auch die ökonomische Lage Griechenlands nicht unabhängig vom EU-Binnenmarkt bestimmt und neu entwickelt werden kann und dass sowohl das imaginäre Kapital der Finanzmärkte als auch die Politik von EZB und Eurostaaten immer noch Möglichkeiten nicht nur des erfolgreichen Krisenmanagements, sondern auch europäischer, politisch-ökonomisch transnationaler Strategien und Kämpfe zur Krisenüberwindung bieten, bleibt dadurch außer Betracht: Der faktische politische Rückzug von Lapavitsas auf den nationalstaatlichen Rahmen sowie die Reduktion der kapitalistischen Ökonomien auf die reale Akkumulation von Kapital und die Vernachlässigung der 16 | Er konzentriert sich faktisch auf Lapavitsas, dessen Diagnose der Staatsschuldenund der Eurokrise allerdings die neueren Entwicklungen der transnationalen Ökonomie, insbesondere die Rolle sich auch transnational organisierender Kapitaloligarchien (vgl. Brangsch et al. 2012), völlig außer Betracht lässt – und dadurch zu nationalstaatlich bornierten Fehlschlüssen gelangt. 17 | Vgl. zu der breiteren ökonomischen Debatte über die Staatsschulden- und die daran sich anschließende Euro-krise als Einstieg v.a. die websites von Euromemo und Euro-Pen.

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politischen Möglichkeiten der EU-Staaten, auch andere Pfade der Krisenbewältigung einzuschlagen und durchzuhalten, liegt allerdings bei Fleetwood durchaus nicht vor. Dennoch legt auch Fleetwood eine faktisch eindimensionale Krisenanalyse vor: So sehr er mit seiner zentralen These recht hat, »dass die szientistisch ausgerichtete Ökonomik buchstäblich unbrauchbar ist, wenn es darum geht, die gegenwärtige Krise zu erklären« (in diesem Band: 167), bleibt die von ihm skizzierte eigene Krisenanalyse übervereinfachend und daher unzureichend. Halten wir uns an seine »Zusammenfassung«: Der Klassenkampf kann direkte und indirekte Form annehmen. Eine direkte Form des Klassenkampfes stellten in den Kernstaaten in erster Linie die Arbeitsmarktreformen dar, die das Ziel verfolgten, Entlohnung und Lebensbedingungen nach unten zu drücken. In den peripheren Staaten fanden dieselben Arbeitsmarktreformen statt – in Verbindung mit harten Austeritätsmaßnahmen wie etwa Lohnkürzungen, einem Einstellungsstopp für den öffentlichen Dienst und verschlechterte Rentenbedingungen und -zahlungen. Der indirekte Klassenkampf nahm in den Kernstaaten und der Peripherie die Form der Privatisierung und Kommodifizierung von öffentlichen Dienstleistungen an. Das führte ebenfalls zu Druck auf Entlohnung und Lebensbedingungen sowie zu lukrativen Profitmöglichkeiten, die oft ein sehr geringes Risiko aufwiesen – denn der Staat kann es nicht zulassen, dass viele dieser (nun privatisierten) Dienstleistungen ihre Funktionsfähigkeit verlieren. Es wäre falsch zu glauben, die herrschende Klasse Europas verfügte über eine bewusste und voll ausgearbeitete Strategie, den europäischen Kapitalismus zu ihrem Vorteil umzustrukturieren. Aber nachdem die Rezession und die anschließende Krise einmal eingetreten sind, scheint diese herrschende Klasse das (für sie) günstige polit-ökonomische Klima zu nutzen. Aus diesem Grunde funktioniert der Neoliberalismus als eine Art Überraschungsangriff des Kapitals, bei dem es darum geht, soviel wie möglich zu »erplündern«, solange das politische Klima es erlaubt. (In diesem Band: 187f.)

Im zweiten Absatz schlägt die Vereinfachung eher in einen gewissen »Politizismus« um – die These vom »Neoliberalismus« als »Überraschungsangriff« überspringt einfach die durchaus realen Formen und Strukturen, unter denen die Kapitalakkumulation – nach ihrer »Fesselung« durch fordistische Regulationsregime – freigesetzt und vorangepeitscht worden ist. Und die von Fleetwood selbst vorher beschriebene Polarisierung zwischen Zentren und Peripherien verschwindet in einer als bereits existent unterstellten »europäischen herrschenden Klasse«. Der hier damit von Fleetwood an den Tag gelegte »Europäismus« entspricht dem »theoretischen Nationalismus« eines Lapavitsas: Das komplex verflochtene Verhältnis von nationalstaatlicher und europäischer Politik lässt sich nicht in dieser Weise einseitig »entflechten«. Das wird vollends deutlich, wenn wir die Kategorie der herrschenden Klasse als Begriff

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für ein Herrschaftsverhältnis begreifen: Wer von einer beherrschten Klasse in Europa redet, geht ganz offensichtlich an der politisch-ökonomischen Realität der EU vorbei: Die Arbeiterklasse – und das ist etwa für die Gewerkschaften ein großes Problem – existiert in nationalstaatlich geprägten Gestalten; selbst auch nur die Herausarbeitung gemeinsamer europäischer Interessen und erst recht der Kampf dafür ist immer noch eine Zukunftsaufgabe. Im ersten Absatz spricht Fleetwood – soweit durchaus überzeugend – eine ganze Reihe von politisch-ökonomischen Prozessen an, die in der Tat in der Durchsetzung und Ausgestaltung der Staatsschuldenkrise eine wichtige Rolle gespielt haben – und welche in der von ihm zu Recht kritisierten »szientistischen Ökonomie« nicht als solche beachtet werden. Allerdings ist diese Reihe zunächst noch als in zwei wichtigen Hinsichten unvollständig zu kritisieren: Zum einen vernachlässigt sie die globale Dimension dieser Krise – insbesondere die imperiale Konkurrenz zwischen den USA, den »emergent states« einschließlich Chinas und der EU; zum anderen die von politisch-ökologischen Krisenmomenten (von der Klimakatastrophe über Rohstoffverknappung bis zum land grabbing) ausgehenden Verstärkungsfaktoren für die profit squeeze. Damit werden zwei Faktoren vernachlässigt, welche für die immer noch wirksame nationale Konkurrenz innerhalb der EU neben der Lohnquote durchaus von Bedeutung sind und ohne die daher unterschiedliche Krisenverläufe etwa zwischen Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Italien nicht begriffen werden können. Vor allem aber fragt Fleetwood nicht wirklich nach dem »inneren Zusammenhang«, in dem diese Krisenprozesse und Krisenpolitiken stehen – der richtige Hinweis auf den »tendenziellen Fall der Profitrate« ist zu unspezifisch, um die 2007/08 ausgebrochene Krise zu erklären, diese Tendenz besteht – bei gewichtigen »entgegenwirkenden Ursachen« (Marx) für alle Gesellschaftsformationen, »in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht«. Ich denke, hier müsste in der Tat spezifisch historisch erklärt werden, wie sich aus der Krise des Nachkriegsmodells des globalen Kapitalismus heraus politisch-ökonomisch die Durchsetzung einer neoliberalen Alternative vollzogen hat – nicht nur durch die Politik von Thatcher und Reagan, sondern auch durch das Ineinanderwirken von Digitalisierung, Kommodifizierung, Finanzialisierung und neuen Formen der Globalisierung. Erst von hier aus ließe sich dann erklären, wie sich zunächst die Bankenkrise, dann die Staatsschuldenkrise (und schließlich die Eurokrise) entwickelt haben. Diese kritischen Bemerkungen sollten nicht verdecken, dass Fleetwood sein Hauptziel erreicht hat: Allein schon seine Auflistung von Krisenprozessen zeigt die Nutzlosigkeit der von ihm kritisierten »szientistischen Ökonomie«. Dass seine Skizze noch keine wirkliche Krisenanalyse leistet, mindert die Kraft dieser Argumentation nicht. Aber es wäre eben eine weitere Debatte erforderlich, wie denn nun eine wirklich nützliche Krisenanalyse zu erarbeiten

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wäre – und dazu bleibt Fleetwood wenig hilfreich. Darauf beziehen sich meine kritischen Anmerkungen.

3. S chluss : P robleme mit F lee t wood und/oder P robleme mit dem C ritical R ealism ? Der Ertrag meiner Kritik an Fleetwood lässt sich wie folgt zusammenfassen. Ich denke, zumindest zwei der von mir bei Fleetwood kritisierten Punkte lassen sich im Rahmen des Critical Realism durchaus noch korrigieren: erstens nämlich die Tendenz, unkritisiert die Voraussetzungen einer vom herrschenden Common Sense geprägten Betrachtungsweise zu übernehmen – also etwa entweder den Nationalstaat oder aber einen heute immer noch imaginären europäischen Staat als politischen Rahmen der Ökonomie zu unterstellen; zweitens die bei Fleetwood zu beobachtende Fixierung auf die hochgradig ideologisch bestimmte Differenzierung der Einzelwissenschaften auf dem Feld von Geschichte und Gesellschaft. Zum Ersten wäre es meines Erachtens durchaus möglich, im Rahmen des Critical Realism die politikwissenschaftliche Debatte über die Europäische Union als »Mehrebenensystem« (Scharpf) kritisch aufzugreifen und dabei auch die Kategorien der juristischen Allgemeinen Staatslehre – Souveränität, Staatsapparat, Rechtsförmigkeit – für eine kritische Untersuchung realer gesellschaftlicher Verhältnisse fruchtbar zu machen. Dabei könnte etwa – am Beispiel der Schuldenkrise – untersucht werden, wie sich die Handlungsmöglichkeiten der europäischen Kommission, der europäischen Zentralbank und der im Europäischen Rat bzw. in den Ministerräten vertretenen Mitgliedstaaten real konkurrierend und zum Teil konfligierend, aber auch konvergierend als reale Möglichkeiten und Kräfte zueinander verhalten – und welche Möglichkeiten darin für eine realitätstüchtige Strategie der griechischen Regierung liegen, günstigere Bedingungen für eigene Transformationsbemühungen aufzubauen. Das wird selbstverständlich die Frage einschließen müssen, wie sich in Zukunft Griechenlands Rollen innerhalb eines differenzierten EU-weiten kapitalistischen Akkumulationsmodells und einem dessen Regulation möglichst demokratisch gestaltenden Regulationsregimes entwickeln können – und damit über eine Bestandsaufnahme der bestehenden Kräfteverhältnisse, Mechanismen und Tendenzen hinaus eine Bestimmung realer Möglichkeiten und Alternativen zu leisten haben. Ein Critical Realism, der dazu bereit ist, die Vielfalt realer Ebenen und Wirkungs- bzw. Bedingungsstränge aufzugreifen, die sich in den untersuchten Prozessen rekonstruieren lassen, könnte einen wichtigen Beitrag dazu leisten, alternative Strategien zu begründen, die der realen Komplexität realitätstüchtig zu begegnen in der Lage sind.

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Zum Zweiten könnte auch innerhalb des Critical Realism die Fixierung auf die – auch innerhalb der herrschenden Strukturen institutionalisierter Wissenschaft immer schon relativierte bzw. sich auflösende – Herrschaft der im späten 19. Jahrhundert geschaffenen disziplinären Rahmungen, wie sie Fleetwoods Vorstellungen von »Ökonomie« restriktiv beeinflusst, durchaus überwunden werden: Etwa im Anschluss an die unterschiedlichen Weiterentwicklungen der »area studies« könnte auch im Critical Realism eine realitätstüchtige Vorstellung von Gegenstandsbezug, von realen Gegenstandsfeldern und von realitätsbezogener wissenschaftlicher Arbeitsteilung auf dem Felde der Wissenschaften von Geschichte und Gesellschaft entfaltet werden. Allerdings bleiben aus meiner Sicht zwei Problematiken zu benennen, in denen innerhalb des Critical Realism zumindest eine umfassende Neubestimmung der Grundlagen einer realitätstüchtigen und gegenstandsadäquaten wissenschaftlichen Arbeitsteilung auf dem Felde dieser Wissenschaften zu leisten ist. Zum einen behindert meines Erachtens die Rede von »Ontologien« und »Ontologie« die erforderliche wissenschaftliche Spezifizierung der von einzelnen dieser Wissenschaften zu erforschenden gegenständlichen Felder: Auch ohne einem Historismus das Wort zu reden, der historische Prozesse auf lauter strukturell und mechanismisch unverbundene Einzelereignisse reduziert (und dadurch wissenschaftlich unerkennbar macht), halte ich es doch dafür erforderlich, auch grundlegende gegenständliche Bestimmungen radikal zu historisieren. So sehr es nötig und möglich ist, etwa das Kapital im Allgemeinen in einer kritischen Theorie strukturell und mechanismisch zu begreifen, wird dadurch die Tatsache nicht aus der Welt geschafft, dass die Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise einen historischen Anfang und sicherlich auch ein historisches Ende hat – und also keineswegs als omnihistorisch zu unterstellen ist, wie dies auch die klassische politische Ökonomie beständig tut. Es ist sicherlich nicht völlig ausgeschlossen, dass sich der Critical Realism in diese Richtung weiterentwickelt, aber dafür bleibt noch einiges zu tun. Darüber hinaus halte ich es auch noch für nötig, innerhalb der bisherigen Menschheitsgeschichte durchaus sich zueinander diskontinuierlich verhaltende Grundformen der Reproduktion gesellschaftlicher Gesamtzusammenhänge voneinander zu unterscheiden – etwa die Reproduktion in persönlich interagierenden Kleingruppen, die Reproduktion in Formen institutionalisierter persönlicher Herrschaft und die Reproduktion in unpersönlichen Herrschaftsverhältnissen –, was dann die im Critical Realism verbreitete Vorstellung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten, als Strukturen, Mechanismen und Tendenzen der gesellschaftlichen Geschichte der Menschen, zumindest als wenig hilfreich erscheinen lässt. Dass auch Marx geradezu sozialontologische Aussagen macht, z.B. dass Arbeit als produktiver Stoffwechsel »ewige Naturnotwendigkeit« ist oder dass jede Gesellschaft zusammenbrechen wür-

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de, wenn einen Tag lang nicht mehr gearbeitet würde, zeigt nur, dass hierzu in der Tat »verständige Abstraktionen« formuliert werden können, durch die aber die Spezifik der unterschiedlichen Verhältnisse nicht erkannt werden kann. Das gilt auch etwa für Bhaskars »position-praxis-nexus«, dass Handeln immer auf einer bestimmten soziostrukturellen Position stattfindet, oder für Archer, wenn sie sagt »ohne Reflexivität keine Gesellschaft«: Es sind philosophische Thesen, die Eingriffe in die wissenschaftliche Tätigkeit sind – und nicht einfach weitere wissenschaftliche Aussagen. Und als solche sind sie auch wichtig und sinnvoll: Gegen »hermeneutische« Ansätze, welche (immer noch) davon ausgehen, dass Gesellschaft aus Sinnzusammenhängen und Selbstverständnissen besteht, gegen die analytische Sozialphilosophie, für die Gesellschaft eine Frage der kollektiven Intentionalität ist, gegen den Poststrukturalismus, welcher nur Diskurse bzw. symbolische Ordnungen und ihre Materialisierungen kennt oder auch gegen rational-choice-Ansätze, die dogmatisch bestreiten, dass das Soziale mehr ist als eine Ansammlung von situationalen Kontexten, die aus aggregierten Handlungsfolgen bestehen. Der Eingriff des Critical Realism, diesen philosophischen Positionen gegenüber nicht nur die Bindung wissenschaftlicher Forschung an eine vorgängige Wirklichkeit stark zu machen, sondern nach der wirklichen Existenz von Strukturen, Mechanismen, Tendenzen und Kausalkräften zu forschen, leistet in der Tat eine wichtige Zuarbeit für kritische Ansätze. Auch hier sind selbstverständlich weitere Lernprozesse des Critical Realism nicht voreilig auszuschließen. Zum anderen halte ich es für schwierig, innerhalb des Critical Realism adäquate Begriffe für eben das zu entwickeln, was Althusser in einem immer noch metaphorischen Rückgriff auf Freud als »Überdetermination« gekennzeichnet hat. Die etwa von Elder-Vass geprägte Kategorie der »multiplen Determination« (2010: 48) ist zwar sehr klar in der Konzeption der causal powers (und damit in einer dispositionalen Kausalitätsauffassung) verankert und würde es sogar ermöglichen, etwa gegenüber dem Abgleiten einiger Intersektionalitätsansätze in eine pluralistische Beliebigkeit sinnvoll von einer »Herrschaft« der kapitalistischen Produktionsweise zu reden, insofern ihre Kausalkräfte besonders stark sind, und zwar deshalb, weil an ihnen bestimmte materielle Reproduktionsanforderungen »hängen«. Sie überspringt aber den schwer fassbaren kumulativen Effekt dieser unterschiedlichen Kausalitätslinien in einer kritischen historischen Lage. Auch wenn ich selber nicht behaupten möchte, hierfür bereits über eine adäquate Begrifflichkeit oder auch nur eine ausgearbeitete Problematik zu verfügen, sehe ich hier jedoch eine theoretische Lücke der bisher vorliegenden Versuche, die reale Pluralität von Herrschaftsverhältnissen innerhalb moderner bürgerlicher Gesellschaften zu erfassen: Auf der einen Seite bleiben Intersektionalitätsansätze letztlich immer wieder dabei stehen, mit guten Gründen die Pluralität als solche zu behaupten – ohne den Versuch zu machen, eine Begrifflichkeit dafür zu entwickeln, wie sich

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die Wirkungsweisen etwa von Geschlechterverhältnissen, imperialen Verhältnissen und kapitalistischen Verhältnissen beispielsweise in der Organisation der gesellschaftlichen Arbeit in Deutschland überlagern und wechselseitig beeinflussen. Auf der anderen Seite bleiben theoretische Integrationsversuche zumeist dabei stehen, dass sie (auf mehrere minder subtile Weisen) Theorieimperialismus betreiben – also etwa zu zeigen versuchen, dass innerhalb der modernen Lohnarbeit in Deutschland die kapitalistische Ausbeutung letztlich bestimmend ist. Hierzu wäre als Minimalanforderung zu formulieren, zumindest das einzulösen, was Engels – allerdings nur für die Verhältnisse von Basis und Überbau und nicht innerhalb der ökonomischen Basis als solcher – gefordert hat: nämlich das relative Gewicht der unterschiedlichen Strukturen und Mechanismen dieser Verhältnisse zu bestimmen – also etwa zu untersuchen, welche Bedeutung moderne patriarchalische Geschlechterverhältnisse und rassistische Diskriminierungsstrukturen für die Konstitution des sub-prime-Hypothekenmarktes in den USA gehabt haben, dessen Zusammenbruch bekanntlich am Anfang der sogenannten Schuldenkrise gestanden hat. Hier müsste zumindest noch genauer diskutiert werden, wie über die Erfassung multipler Kausalitätslinien hinaus historische Gesamteffekte zumindest nachträglich erklärt, wenn auch vielleicht nicht prognostiziert werden können. Als letztes möchte ich hier noch einen Bereich anführen, über dessen Schwierigkeiten ich mir durchaus bewusst bin, ohne zu behaupten, sie bereits gelöst zu haben oder auch nur sicher zu sein, dass sie in absehbarer Zeit gelöst werden können: Dies ist der Bereich der – wie ich sagen würde – »materialistischen Dialektik« (vgl. Wolf 1975 und 2012). Ich denke, der Critical Realism hat hier bisher zum einen Probleme damit, die radikal unabgeschlossene Konfliktualität unterschiedlicher Mechanismen und Tendenzen zu denken, wie sie etwa Marx’ Formulierungen von Tendenzgesetzen mit »entgegenwirkenden Ursachen« zugrunde liegen, aber auch seiner Rede etwa vom Widerspruch zwischen Kapital und Lohnarbeit. Zum anderen scheint es im Critical Realism zumindest eine verbreitete Tendenz zu geben, die Schwierigkeiten systematisch, also nicht nur akzidentell, zu unterschätzen, welche einer positiven Darstellung der Wissenschaften von Geschichte und Gesellschaft entgegenstehen. Ich denke, es ist kein Zufall, dass Grundlagentexte moderner kritischer Theorien gegenwärtiger Herrschaftsverhältnisse immer wieder als Kritiken an vorliegenden Theoretisierungsversuchen formuliert worden sind – nicht nur Marx’ Kapital, sondern auch etwa Simone de Beauvoirs Anderes Geschlecht oder Frantz Fanons Schwarze Haut, weiße Masken. Dabei geht es nicht um Wissenschaftsgeschichte, sondern um die Schwierigkeit, die positive Darstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse in diesem umkämpften Bereich vollständig vom Prozess ihrer Gewinnung durch die vorliegenden falschen Vorstellungen abzulösen.

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In dieser Hinsicht scheint im Critical Realism insgesamt ein Positivierungsoptimismus verbreitet zu sein, der zwar ein begrüßenswertes Gegengift gegen die vermutlich in den gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaften vorherrschende Tendenz ist, sich aus der Reproduktion historischer Theorien heraus gar nicht mehr der Aufgabe eigener Theoriebildung zu stellen: Die immer wieder aufgenommene Lektüre der Pioniere wie Marx ist eben keine Aufgabe, die die moderne kritische Sozialwissenschaftlerin einfach den Marxphilologen und den Wissenschaftshistorikern als Spezialaufgabe überlassen oder ein für alle Mal abschließen kann, sondern diese Lektüre gehört immer noch zu immer wieder neu zu unternehmenden Vergewisserungsaufgaben auch in der gegenwärtigen Theoriebildung. Sofern und soweit der Critical Realism die Überzeugung pflegt, dies könne durch eine – als solche durchaus begrüßenswerte – elaboriertere Epistemologie ersetzt oder kompensiert werden, wird seine eigene wissenschaftliche Tätigkeit dann allerdings zu einem epistemologischen Hindernis. Aber auch hier sind selbstverständlich noch philosophische Lernprozesse möglich!

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Soziales, ökologisches und ökonomisches Wissen Zum Synthetisierungspotenzial des Critical Realism Clive Spash

Ziel dieses Beitrags ist es, sowohl die ökologische Ökonomik der mit ihr unvertrauten Leserin vorzustellen als auch darzulegen, warum eine kritisch-realistische Perspektive für das Verständnis der Interaktionen zwischen sozialen, ökonomischen und ökologischen Systemen hilfreich ist. Dass das Ökonomische in das Soziale und das Soziale in das Ökologische eingebettet ist, wird oft ignoriert. So hat sich die ökologische Ökonomik im Wesentlichen auf eine Korrektur des Fehlers konzentriert, das Ökonomische als von der Umwelt unabhängig zu betrachten, dabei jedoch das Soziale und seine politischen Dimensionen vernachlässigt. Die sozial-ökologische Ökonomik, für die ich eintrete, zielt dagegen darauf ab, alle drei Aspekte zu integrieren. Als Teil dieser Aufgabe müssen die philosophischen Auseinandersetzungen, die der ökologischen Ökonomik zugrunde liegen, in den Vordergrund gerückt und explizit gemacht werden. Daher werde ich im Folgenden über die Geschichte der ökologischen Ökonomik als akademischer Bewegung informieren, ihre philosophischen Debatten erläutern und auf Korrespondenzbeziehungen zwischen dem Critical Realism und der notwendigen Weiterentwicklung des neuen sozial-ökologischökonomischen Projekts hinweisen.1

1. E in kurzer Ü berblick über die ökologische Ö konomik Während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten sich zunächst die Agrikultur- und dann die Ressourcenökonomik als neoklassische Ansätze entwickelt, um die Wechselwirkungen zwischen Umwelt und Ökonomie (wie 1 | Zentrale Argumente dieses Beitrags wurden bereits in einem früheren Artikel vorgestellt, der neue Grundlagen für die ökologische Ökonomik vorschlägt (Spash 2012a).

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Bodenerosion oder Ausbeutung von Mineralien und fossilen Brennstoffen) zu beschreiben. In den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren kam die Umweltökonomik (environmental economics) als ein spezialisiertes Feld hinzu, das auf das neue Bewusstsein der in den industrialisierten Ökonomien allgegenwärtigen Umweltverschmutzung reagiert. Innerhalb der ökonomischen Orthodoxie (mit ihrem Präferenzutilitarismus, Modellen optimaler Steuerung, Diskontierung, monistischem Wertesystem und der Mathematik als Exaktheitsdoktrin) blieben Kritik, Innovation und die Fähigkeit, ökologische und soziale Probleme zu thematisieren, jedoch erheblich beschränkt. So war die ökologische Ökonomik (ecological economics), die Ende der 1980er-Jahre als akademische Vereinigung entstand, teilweise auch durch das Scheitern der in der Orthodoxie befangenen Umweltökonomik motiviert (Spash 1999 und 2011). Die Umweltökonomik hatte qua Institutionalisierung im ökonomischen mainstream ihr Potenzial zunehmend eingebüßt. Die Entwicklung einer neuen und herausfordernden Forschungsagenda, die ihre Arbeiten angeregt hatten, schien zum Stillstand gebracht. Das führte zu wachsender Frustration über die Art und Weise, in der ernsthafte und substanzielle Kritik durch den mainstream und seinen flächendeckenden Gebrauch des mathematischen Formalismus heruntergespielt und gebändigt wurden. Ein ganzes Spektrum an radikalerem Denken und Kritik schien zur Seite gedrängt (z.B. Daly 1973, Georgescu-Roegen 1971 und 1976, Kapp 1950, 1961 und 1978b). Nehmen wir das Werk von Karl William Kapp (1950 und 1963), das detailliert erklärt, warum Umweltverschmutzung ein inhärentes Merkmal sowohl des kapitalistischen als auch des sozialistischen Wirtschaftsunternehmens ist. Kapp hatte den Mythos zerstört, ein derart verbreitetes Phänomen könne als etwas behandelt werden, das der modernen Produktion und Konsumption äußerlich sei. Der allumfassende Charakter der Umweltverschmutzung wurde auch von späteren Umweltökonominnen anerkannt, und zwar durch Integration des ersten Gesetzes der Thermodynamik in die ökonomischen Modelle (Hunt/d’Arge 1973) sowie die damit verbundene Entwicklung der Materialbilanz-Theorie (Kneese et al. 1970). Dennoch blieben die basalen Lehrsätze von Preistheorie, Effizienz, Marktallokation und Gleichgewicht unhinterfragt: Die von den Umweltökonominnen verwendeten Modelle allgemeinen Gleichgewichts und optimaler Steuerung machten Umweltverschmutzung zu einer abstrakten Variable, die den mathematischen Sandkastenspielen hinzugefügt wurde. Das war weit von jenem disziplinenübergreifenden Lernen entfernt, das für die Ökonomik notwendig ist, um einen Realismus gegenüber der Umwelt und politische Relevanz zu entwickeln. Kapp (1961) trat für eine Integration von Wissensbeständen ein und identifizierte die wechselseitige Ignoranz von Biologie und Sozialwissenschaften als fundamentales Manko. Sein Ziel war eine interdisziplinäre Synthese und eine neue, naturwissenschaftlich informierte

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politische Ökonomie. Somit war sein Ansatz viel zu radikal für die (Umweltund Ressourcen-)Ökonominnen des mainstreams und wurde für gewöhnlich ignoriert; gelegentlich war Kapp auch persönlichen Angriffen ausgesetzt (vgl. seine Antwort auf Wilfred Beckerman in 1978a). Kapps (sozial-ökologische) Ökonomik entsprach nicht den Erwartungen des orthodoxen Berufsstandes der Ökonominnen, die in hohem Maße nach Theorien verlangen, welche die Handlungen der ökonomisch Mächtigen nicht in Zweifel ziehen und ihnen stets zu Diensten sind. Die Ökonomik ist jedoch politisch und sozial voreingenommen, wenn sie der Erkenntnis bestimmter Entwicklungstendenzen der ökonomischen Struktur, wie z.B. der wachsenden Macht der Konzerne, wissenschaftliche Legitimität abspricht. Wie Galbraith (1970: 469) bemerkt, hat die Ökonomik eine Geschichte, »ihre Gemeindemitglieder davon zu überzeugen, die Augen vor der Realität zu verschließen«. Ein fundamentaler Defekt des gesamten neoklassischen Ansatzes wie auch seines makroökonomischen Pendants besteht im extremen Dogmatismus. Auch wenn die Ereignisse der wirklichen Welt jeden Glauben an ihre Weltsicht widerlegen und erschüttern, fahren die mainstream-Ökonominnen fort, als wäre nichts gewesen. Die Makroökonomik etwa hält an der offenkundig absurden Auffassung fest, die Ökonomie könne als isoliertes System ohne inputs und outputs gegenüber der Umwelt betrachtet werden. In nuce findet sich das in den zirkulären Flussdiagrammen, in denen auf immer und ewig Geld in die eine, Güter und Dienstleistungen in die andere Richtung strömen. Dieses Modell liegt den Rechtfertigungen des ökonomischen Wachstumsstrebens zugrunde, sodass dessen ganzer Theorierahmen auf einer Illusion beruht. Ein entscheidender Aspekt der ökologischen Ökonomik bestand nun darin, diese Fantasiewelt der Ökonominnen mit ein wenig basalem Realismus der Naturwissenschaften zu konfrontieren. Das beinhaltete die Einbeziehung physikalischer Gesetze in die Analyse der Arbeits- und Funktionsweise sozialer und ökonomischer Systeme. Nicholas Georgescu-Roegen (1971) schrieb ein wichtiges Werk über die Bedeutung der Entropie für die Ökonomie und zog daraus die Konsequenz, ökonomisches Wachstum sei auf lange Sicht unmöglich, weshalb die Wirtschaftspolitik einer grundlegenden Reform bedürfe. Das führte zu einer Infragestellung unserer Gesellschaften, ausgehend von Bevölkerungsgröße und systemischem Anpassungsdruck bis hin zum Veränderungstempo sozialer Systeme und der für Wandel noch bleibenden Zeit. Die Analyse ökonomischer Systeme war somit untrennbar verbunden mit Werturteilen, sowohl hinsichtlich aller gegenwärtig lebenden Spezies als auch bezüglich zukünftiger Generationen. In Widerspruch zu Georgescu-Roegen, aber mit ähnlichen Motiven, kam Herman Daly (1977 und 1992) in Anbetracht der Entropiegesetze und Wachstumskritiken zu dem Schluss, die beste Option sei eine Gleichgewichtswirtschaft (steady-state economy). Der Anspruch, der grundlegenden bio-physikalischen Realität gerecht zu werden, steht auch

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heute im Zentrum der ökologischen Ökonomik und wird gegenwärtig in Debatten reflektiert, wie sie unter den Titeln »Postwachstumsgesellschaft«, »décroissance« oder »degrowth« geführt werden (z.B. Kallis 2011, Kerschner 2010, Muraca 2013). Die ökologische Ökonomik interessiert sich für die politischen Konsequenzen ihrer Argumente, fordert anstelle von Neutralität offensiv ethische Standpunkte, akzeptiert die Umstrittenheit und Unvereinbarkeit von Werten, erkennt Verteilungsfragen als wesentlich an und versteht die ökologische Idee der Größenordnung (scale) als wachstumsbegrenzend (Munda 1997). Einige ihrer Vertreterinnen würden noch Auffassungen wie das ko-evolutionäre Paradigma von Norgaard (1988 und 1994) als eine potenziell einheitsstiftende Thematik hinzufügen. Evolutionäre Dynamiken sind in der Tat ein wichtiger Aspekt der ökologischen Ökonomik. Damit wird betont, dass soziale, ökonomische und ökologische Systeme miteinander interagieren und sich häufig unvorhersehbar verändern – mit der Konsequenz, dass anstelle optimaler Pfade hin zu statischen Gleichgewichten nicht-deterministische Prozesse analysiert werden. Nichtsdestotrotz bleibt die spezifische Interpretationsfolie, die das ko-evolutionäre Paradigma vorschlägt, innerhalb der ökologischen Ökonomik umstritten. Das mainstream-Denken ist resistent gegenüber der Idee ökonomischer Systeme als dynamisch sich entwickelnder Strukturen, wie sie vor langem bereits von Veblen (1898) entwickelt wurde. Die Physik und nicht die Biologie ist seine dominante Vergleichsfolie, und selbst das in Form einer enggefassten, mechanischen Physik (Mirowski 1989). Demgegenüber bedarf es einer Methodologie, die von der einfachen Vorstellung abrückt, soziale Interaktionen könnten mittels mechanischer Ursache-Wirkung-Beziehungen erklärt werden, was schon Kapp (1978b: 281-301) und Georgescu-Roegen (1979) kritisiert haben. Die Wechselwirkungen mit der Umwelt haben innerhalb der ökologischen Ökonomik folglich das Interesse an biologischen Konzepten und Metaphern wiederbelebt (vgl. den ersten Band von Spash 2009). Trotz dieser augenscheinlichen Offenheit war die Gründung der ökologischen Ökonomik als internationaler Vereinigung von der Idee getragen, zwei Gruppen von Akademikerinnen mit einem ähnlich engen methodologischen Hintergrund zusammenzubringen. In der Einleitung zur ersten Ausgabe der Zeitschrift Ecological Economics sagte Bob Costanza, Herausgeber und Vorsteher der Vereinigung, voraus, der Gegenstand werde die Schnittmenge zwischen neoklassischer Umweltökonomik und ökologischen impact studies vergrößern und zu neuen Wegen anspornen, die Kopplungen zwischen ökologischen und ökonomischen Systemen zu denken. Dieser Ansatz einer verbesserten Kopplung wirkte auf diejenigen anziehend, die ein gemeinsames methodologisches Verständnis teilten, genauer: auf Umweltforscherinnen, die in naturwissenschaftlichem Falsifikationismus geschult waren, und neoklassische Ökonominnen, zu deren Ausbildung eine angloamerikanische Spielart

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des »logischen Positivismus« gehörte.2 Die methodologischen Gemeinsamkeiten zwischen beiden Gruppen können zusammengefasst werden als Glaube an das hypothetisch-deduktive wissenschaftliche Modell – und das, obwohl weder die Naturwissenschaften noch die Ökonomik ihren eigenen Predigten folgen und beide nicht um Begriffsbildungen, d.h. um einen schwachen Konstruktivismus, herumkommen. Der entscheidende Punkte ist zunächst jedoch, dass auf beiden Seiten ähnliche Überzeugungen herrschten, wie die angestrebte wissenschaftliche Arbeit durchzuführen sei – Annahmen, die als naiver Objektivismus bezeichnet werden können (vgl. Sayer 1992). Die übermäßige Konzentration auf »verbesserte Kopplungen« lenkte von der Suche und Aneignung eines neuen Paradigmas, einer neuen Wissenschaftsphilosophie bzw. neuen Wegen zu denken ab (Spash 1999). Denn der Kopplungsansatz war nicht in der Lage, die Disziplinen infrage zu stellen, aus denen er sich zusammensetzte. Eine schwache Transdisziplinarität wurde als rhetorische Rechtfertigung benutzt, um vergangene Grundeinsichten, Synthetisierungsleistungen und kritische Reflexionen zu übergehen. In ähnlicher Weise wurde die Bezeichnung methodologischer Pluralismus verwendet, um eine Kombination unvereinbarer epistemologischer Positionen zu rechtfertigen und die Notwendigkeit theoretischer Fragen, wie etwa nach Ontologie und Epistemologie der ökologischen Ökonomik, zurückzuweisen. Übereilt wurden grundlegende philosophische Probleme zugunsten all dessen ignoriert, was für das Zustandekommen strategischer Allianzen opportun schien.

2. P lur alismus und E klek tizismus Transdisziplinarität und methodologischer Pluralismus werden von weiten Teilen der ökologischen Ökonomik als zentrale Ideen angesehen (Costanza 1989, Norgaard 1989). Statt eine sinnvolle Epistemologie und Methodologie anzubieten, sind das Resultat jedoch Oberflächlichkeit und Konfusion. Ein solches fehlendes Interesse an der theoretischen Basis der ökologischen Ökonomik hat nicht zuletzt in der Zeitschrift Ecological Economics zu einer amorphen Literatur geführt, die voller Widersprüche ist und oftmals kaum eine

2 | Die Schulung in ökonomischer Methodologie vollzieht sich heute zumeist implizit und unhinterfragt, z.B. in Form unbegründeter Behauptungen über objektive Fakten, die empirische Untersuchungen enthüllen. In der Praxis weichen Ökonominnen sehr weitgehend und dramatisch von dem impliziten logischen Positivismus ihres Berufsstandes ab. Wo methodologische Probleme explizit diskutiert werden, gibt es große Meinungsverschiedenheiten darüber, was Ökonominnen tatsächlich tun und was sie tun sollten (Spash 2012a).

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Beziehung zum vermeintlichen Untersuchungsgegenstand aufweist, nämlich Gesellschaft, Ökonomie und Natur sowie ihren Wechselwirkungen. Transdisziplinarität hat eine Tendenz, als Blendwerk ohne Tiefe im disziplinären Verständnis benutzt zu werden und dabei diejenigen zu belächeln, die als überspezialisierte Expertinnen erscheinen. Diese schwache Transdisziplinarität kann mit einer starken Form kontrastiert werden, die auf einer ernsthaften interdisziplinären Auffassung beruht und als Voraussetzung eine Kenntnis der disziplinären Felder erfordert, die zusammengebracht und synthetisiert werden sollen (Spash 2012b und 2013). Transdisziplinarität ist dann kein Weg mehr, der an disziplinärem Engagement vorbeiführt, sondern ein Mittel der kritischen Reflexion verschiedener Perspektiven, durch welches Interdisziplinarität um eine Auseinandersetzung mit Alltagswissen erweitert wird. Während die Rhetorik der Transdisziplinarität überhandgenommen hat, bleibt ihre theoretische Basis weitgehend vernachlässigt, was in einem allgemeineren Sinn auch für die Grundlagen wissenschaftlicher Erkenntnis innerhalb der ökologischen Ökonomik gilt. In diesem Feld wie auch in der mainstream-Ökonomik ist die Methodologie Platzhalter für alle Aspekte der Wissenschaftsphilosophie, was zu einem wenig spezifizierten Anwendungsbereich beiträgt. Im Grunde genommnen sind die methodologischen Diskussionen kaum über Norgaards (1989) Artikel in der ersten Ausgabe der Zeitschrift hinausgelangt, der die Notwendigkeit einer pluralistischen Inklusion auch des naiven Objektivismus der mainstream-Ökonomik behauptete. Als Argument für einen methodologischen Pluralismus wird dabei vor allem angeführt, dass »eine Vielfalt von Methodologien sachgerecht ist und jeder Zwang vermieden werden sollte, Methodologien aus Konformitätsgründen auszuschließen« (1989: 38). Das ist jedoch ein Argument gegen präskriptive Epistemologien und keines dafür, jede Methodologie per se zu akzeptieren. Intellektueller Fortschritt erfordert Entscheidungen, was zur Erkenntnis beiträgt und was nicht, bzw. wie Norgaard betont, »eine intellektuelle Umgebung zu schaffen, um das Gute vom Schlechten zu scheiden« (ebd.). Norgaard selbst steht bestimmten epistemologischen Annahmen – Einheit der Wissenschaften, allgemeine Gesetze, Unabhängigkeit der Realität von Beobachterin und Kultur – kritisch gegenüber und befürwortet ihre Entfernung aus dem epistemologischen Repertoire der ökologischen Ökonomik (vgl. auch 1994). Des Weiteren kritisiert er Umweltforscherinnen und Ökonominnen ausdrücklich für ihr Festhalten an präskriptiven Methodologien wie dem »logischen Positivismus« und erklärt, »in Opposition zu diesem lang anhaltenden Glauben an richtige Erkenntnisverfahren und exakte Voraussagen« (1989: 38) zu stehen. Damit offeriert Norgaard natürlich selbst ein anderes »richtiges Erkenntnisverfahren«. In jedem Fall scheint sein Punkt nicht der zu sein, alle Epistemologien könnten in gleicher Weise als gültig oder akzeptabel angesehen werden.

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Zugleich behauptet Norgaard jedoch, dass »in der Tat wenige Wissenschaftlerinnen methodologische Studien betreiben oder ihre Überzeugungen explizit machen. Individuelle Wissenschaftlerinnen und schließlich ganze Disziplinen reüssieren, indem sie pragmatisch vorgehen« (ebd.: 44). Später heißt es, der logische Positivismus sei »unangemessen, aber notwendig«, und zwar, »weil moderne Menschen die Wissenschaft im Sinne von objektiven, universalen Wahrheiten« auffassen (ebd.: 51). Ökologische Ökonominnen müssen es daher offenbar akzeptieren, auf demselben naiven objektivistischen Terrain zu argumentieren! Das läuft darauf hinaus, Methodologien aus Popularitätsgründen zu empfehlen, und verfehlt die kritischen epistemologischen Anliegen und realistischen Argumente, die Norgaard selbst vorgebracht hat. Trotz dieser bescheidenen Argumentationsgrundlage hat sich die Idee eines unkritischen Pluralismus innerhalb der ökologischen Ökonomik ausgebreitet und ist auf höchster Ebene propagiert worden; etwa mit Costanza, Perrings und Cleveland von zwei ehemaligen Herausgebern der Zeitschrift sowie zwei früheren Präsidenten der internationalen Vereinigung. In einer gemeinsamen Stellungnahme schreiben sie: »Die ökologische Ökonomik ist notwendigerweise eklektisch und pluralistisch. Es ist daher schwierig, sie auf den Punkt zu bringen und zusammenzufassen.« (Costanza et al. 1997: xiii) Wird das als natürliche Ordnung der Dinge hingenommen, scheint die ökologische Ökonomik letztendlich zur Belanglosigkeit verdammt. Das Problem des methodologischen Pluralismus ist, entweder unterschiedslos alles akzeptieren zu müssen und auf diese Weise jede sinnvolle Konzeption von Erkenntnis zu verfehlen, oder Gründe zulassen zu müssen, um bestimmte Ideen und Ansätze zu kritisieren. »Ein unstrukturierter Pluralismus oder Eklektizismus im Sinne einer Abwesenheit von Selektionskriterien oder eines ›anything goes‹ ist unvereinbar mit der Produktion von Erkenntnis« (Dow 2007: 448). Überdies bringt die Annahme einer objektiven Realität (im Unterschied zu einer starken sozialkonstruktivistischen Position) weitere Einschränkungen mit sich. »Es gibt«, so Dow, »eine Grenze, wie weit die Pluralität von Realitätsauffassungen, Erkenntniszugängen und Bedeutung reichen kann, sobald Wissen innerhalb von Gruppen entwickelt und gegenüber anderen kommuniziert werden muss. In der Praxis kann Pluralität nicht endlos sein« (ebd.: 455). Wissensbestände (z.B. Disziplinen) zu entwickeln, ist mit Konzeptualisierungen von Realität durch Gruppen verbunden und zugleich in dem Maße begrenzt, wie Wissen als wahr zu beurteilen ist (d.h. die Natur der Dinge erfasst, wie sie sind). Die Notwendigkeit, die ökologische Ökonomik vor einer »willkürlichen Offenheit gegenüber allem Möglichen« zu bewahren, wird von Baumgärtner et al. (2008) anerkannt. Auch sie fordern jedoch epistemologische Pluralität, um

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einen pluralen Methodengebrauch zu unterstützen.3 Abgesehen davon, dass dafür keine Notwendigkeit besteht, erscheint es problematisch, mehrere Epistemologien ohne Synthese vorzuschlagen, denn es ist schlichtweg unmöglich, gleichzeitig zwei (oder mehr?) einander entgegengesetzte Wissenskonzeptionen zu vertreten. So landen Baumgärtner et al. (2008) epistemologisch schließlich bei Argumenten für eine sozialkonstruktivistische Position, ohne deutlich zu machen, ob diese stark oder schwach ist.4 Sie konstatieren auch die Notwendigkeit einer methodologischen Basis, die mit dem Gegenstand und den Zielen der ökologischen Ökonomik übereinstimmt und systematisch auf diese ausgerichtet ist, wobei einige ihrer Vorschläge potenziell weiterführend sind.5 Gleichzeitig erliegen Baumgärtner et al. jedoch dem epistemologischen Fehlschluss6, indem sie niemals die ontologischen Grundlagen der ökologischen Ökonomik thematisieren und auf diese Weise die Gelegenheit verstreichen lassen, ihre Behauptungen argumentativ zu untermauern. Nichtsdestotrotz ist der Tenor dieser Position ganz klar, dass epistemologische und methodologische Ordnung für den Fortschritt der ökologischen Ökonomik notwendig ist. Wer darauf reflektiert, wie die Integration des Wissens vertieft werden kann, wird Folgendes feststellen: dass Diskurs, Deliberation und wirksamer Kritik geholfen ist, wenn es eine Grundlage gibt, von der aus die Prinzipien, Wahrnehmungen und Vorannahmen im Denken der Anderen identifiziert, 3 | Epistemologische Pluralität wird dabei als Überzeugung verstanden, es gäbe mehrere Wege, ein gleichermaßen gehaltvolles Wissen zu erlangen und diese könnten, sofern es die Untersuchende für angemessen hält, abwechselnd verwendet werden, sodass z.B. soziale Konstruktion und logischer Positivismus untereinander austauschbar wären. Ein pluraler Methodengebrauch kann dagegen ohne eine solche Überzeugung gerechtfertigt werden, z.B. damit, dass es alternative Wege gibt, dasselbe Ziel zu erreichen, oder dass verschiedene Aspekte von Realität durch verschiedene Methoden aufgedeckt werden können. 4 | Wie Steup (2010) erklärt: »Ein solcher Konstruktivismus ist schwach, wenn er die epistemologische Behauptung vertritt, wissenschaftliche Theorien seien mit sozialen, kulturellen und historischen Voraussetzungen und Vorurteilen aufgeladen; er ist stark, wenn er die metaphysische Annahme verficht, Wahrheit und Realität seien selbst sozial konstruiert.« 5 | Ein sinnvoller Aspekt ihrer Diskussion besteht darin, die Aufmerksamkeit auf die Verwendung von Begriffen zu lenken – etwas, das auch Kapp (1961) als zentralen Ansatz zur Kommunikation und Integration progressiver interdisziplinärer Arbeit ansah (vgl. Spash 2012b). 6 | Der epistemologische Fehlschluss, so lässt sich in aller Kürze sagen, ist dann am Werk, wenn jemand die Ontologie ignoriert (d.h. nicht angeben kann, was Realität konstituiert) und zugleich mit epistemologischen Behauptungen die Realität implizit beschreibt. Als Resultat wird Ontologie in Epistemologie aufgelöst.

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verstanden und bewertet werden können. Das Bewusstsein von epistemologischen Unterschieden ist eine Voraussetzung für die Beschäftigung mit Ideen, die allerdings mit einer unbegrenzten Palette an »Methodologien« nicht vorankommt. So sind Kriterien dafür nötig, mit wem ein Diskurs am besten geführt werden kann. Diejenigen, die nach Paradigmenwechseln und Revolutionen in der Ökonomik rufen, täten besser daran – und wären konsistenter –, sich heterodoxen Denkschulen zuzuwenden. Sie müssten dann nicht mehr so tun, als könnten zu orthodoxen Ökonominnen, die in die Verteidigung ihres Paradigmas und bestehender gesellschaftlicher Machtstrukturen bereits viel investiert haben, Brücken gebaut bzw. mit ihnen gemeinsame Wege beschritten werden. Denn wir begegnen hier etwas Fundamentalerem, nämlich einer unterschiedlichen Akzeptanzbereitschaft in der Frage, was real ist.

3. E ine W issenschaf tsphilosophie für die ökologische Ö konomik Wenn unterschiedliche Methodologien aus unterschiedlichen Realitätsauffassungen folgen (Dow 2007: 453), müssen wir nach dem Realitätsverständnis der ökologischen Ökonominnen fragen. Zunächst scheint dabei ein spezifischer Blick erforderlich, wobei wir im Anschluss an andere Autorinnen (Costanza 1996, Daly 1991, Daly/Farley 2004, Munda 1997, Özkaynak et al. 2002) auf Schumpeters (1954) Begriff der Vision als »präanalytischem kognitiven Akt« zurückgreifen können. Schumpeters Überlegungen laufen auf die Aufforderung hinaus, ontologische Vorannahmen explizit zu machen, um auf diese Weise eine Reihe von Fragen zu beantworten: Was verstehen wir unter der Realität, mit der wir uns auseinandersetzen? Was sind ihre hauptsächlichen Merkmale und wie passen ihre verschiedenen Elemente zusammen? Was sind ihre Eigenschaften und Beziehungen? Im weiteren Fortgang müssen wir mit unserem begrifflichen Verständnis der Welt beginnen. Auf dieser Grundlage kann dann die empirische Betrachtung helfen, unser Wissen zu präzisieren. Schumpeter drückt diese Haltung folgendermaßen aus: Als erstes stellt sich uns die Aufgabe, die Vision in Worte zu kleiden und begrifflich so klar zu erfassen, daß ihre einzelnen Momente bezeichnet und somit leichter erkennbar sind bzw. sich in ein mehr oder minder geschlossenes Bild oder Schema einfügen. Dabei erfüllen wir jedoch fast von selbst zwei weitere Aufgaben: einerseits fügen wir weitere Tatsachen zu den bereits festgehaltenen hinzu und lernen anderen mißtrauen, die in unserer ursprünglichen Vision erscheinen; andererseits wird die bloße Arbeit am Ausbau des Schemas oder Bildes neue Beziehungen und Begriffe zu dem Grundbestand hinzufügen und gewöhnlich auch andere daraus eliminieren. (Vgl. ebd.: 79)

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Im Anschluss daran bemerkt Schumpeter, die »überdauernden Elemente der ursprünglichen Vision« würden strengeren Konsistenz- und Adäquatheitsstandards unterworfen. Durch einen solchen Prozess, glaubt er, könnten wissenschaftliche Modelle entwickelt und Aussagen präzisiert werden. Diese Epistemologie ähnelt auf verblüffende Weise Neuraths Metapher von der Wissensproduktion als einem Schiff, das auf offener See komplett überholt wird (Uebel 1996). Darüber hinaus schlägt der präanalytische Zugang eine ontologische Grundlegung vor (etwas, das Neurath abgelehnt hätte) sowie eine an empirischer Forschung orientierte Epistemologie, wobei Schumpeter die Details allerdings ebenso unbestimmt ließ wie die Rolle und Form der implizierten Methodologie. Auch wo in der ökologischen Ökonomik an die präanalytische Vision appelliert wird, existiert eine klare Kluft zwischen Versuchen der Eingrenzung und Präzisierung dieser Epistemologie und Rufen nach einem methodologischen Pluralismus. Costanza z.B. behauptet schlicht: »Indem sie ihre eigenen Werkzeuge und Techniken verwenden, kooperieren Wissenschaftlerinnen aus verschiedenen Disziplinen Seite an Seite und entwickeln dabei neue Theorien, Werkzeuge und Techniken, wie sie für eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit erforderlich sind.« (ebd.: 12) Jeder Versuch, bestimmte Inhalte oder Werkzeuge zu verwerfen, erscheint dabei als Verstoß gegen den transdisziplinären Zugang. Diese Form Pragmatismus und Instrumentalismus lässt die Frage unbeantwortet, wie wissenschaftlicher Fortschritt möglich ist. Es ist daher unabdingbar, die gegenwärtige Form des methodologischen Pluralismus zu überwinden. Wie ich andernorts (Spash 2012a) gezeigt habe, dient dieser dazu, völlig unvereinbaren Sichtweisen das Wort zu reden. So scheinen methodologische Entscheidungen für die Pluralistin eine launenhafte Angelegenheit von Präferenzen oder Politik zu sein und nicht durch Gründe motiviert, die auf ein besseres Verständnis zielen. Der methodologische Pluralismus schwächt auf diese Weise Synthesis und Einheit. Tacconi (1998: 103) lehnt den logischen Empirismus ab und schlägt statt dessen eine Ontologie und Epistemologie vor, die sich an postnormaler Wissenschaft und starkem Sozialkonstruktivismus orientiert. Aufgrund seiner relativistischen Ontologie hat der starke Sozialkonstruktivismus jedoch Probleme, eine Position zu entwickeln, die mit der präanalytischen Vision der ökologischen Ökonominnen kompatibel wäre. Wie Tacconi (1998: 99) selbst feststellt, wird »in der konstruktivistischen Ontologie das Sein durch das Wissen bestimmt. Wenn wir jedoch die Erde ohne menschliche Lebewesen betrachten, gibt es eine Realität, die nicht sozial konstruiert ist.« Aus diesem Grund akzeptiert Tacconi eine Wirklichkeit, die unabhängig von der menschlichen Erkenntnis existiert, was unvereinbar mit der von ihm vorgeschlagenen (starken sozialkonstruktivistischen) Epistemologie ist. Ein weiteres, damit zusammenhängendes Problem ist der Umgang mit biophysikalischen Grenzen. Im star-

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ken Sozialkonstruktivismus sind diese – je nachdem, wer gefragt wird – von einer Vielzahl an Interpretationen abhängig, anstatt unseren Gesellschaften von sich aus Restriktionen aufzuerlegen. Tacconi (1998: 100) ist allerdings nicht bereit, die Unabhängigkeit zwischen Beobachterin und Beobachtetem komplett zu kassieren, wie es starke Sozialkonstruktivistinnen verlangen. Wie Sayer (2000) betont, hat die sozialwissenschaftliche Beobachterin auch dann, wenn die Notwendigkeit einer sozialen Konstruktion von Begriffen anerkannt wird, nur selten die Macht, ihren Untersuchungsgegenstand wirklich zu verändern. Und selbst wenn das der Fall ist, gibt es zumeist eine klare Trennlinie zwischen Beobachtung und Einwirkung. Eine Untersuchung etwa besteht aus verschiedenen Schritten: zunächst die Forschung, dann die Veröffentlichung und schließlich, wenn es gut läuft, eine gewisse Wirkung nach außen. Insgesamt scheint in den Naturwissenschaften die Einwirkung der Beobachterin auf ihren Gegenstand unproblematischer oder zumindest leichter zu vermeiden, indem vorsätzliche Versuche, die Forschungsergebnisse zugunsten von Partikularinteressen zu manipulieren, ausgeschlossen werden. So besteht ein wichtiger Unterschied zwischen Natur- und Sozialwissenschaften darin, dass die letzteren zwei Schichten der Interpretation, eine doppelte Hermeneutik, beinhalten, nämlich sowohl der Akteure in der Gesellschaft als auch der biophysikalischen Realität. Im Kontrast zu den anderen Sozialwissenschaften und den meisten heterodoxen Gebieten der Wirtschaftswissenschaft hat die ökologische Ökonomik ein grundlegendes Interesse an der biophysikalischen Realität. Deshalb ist die Frage, wie die Integration von natur- und sozialwissenschaftlichem Wissen vorangebracht werden kann, für sie auch von erheblichem epistemologischem Gewicht. Die Vorstellung, die gesamte Realität sei lediglich eine soziale Konstruktion, konfligiert mit dem Status, den die ökologische Ökonomik den Gesetzen der Thermodynamik zuschreibt. Als wissenschaftliche Erkenntnis der biophysikalischen Realität spielen diese Gesetze eine zentrale Rolle in der Diagnose dessen, was mit der Ökonomik nicht stimmt (so z.B. bei Daly/Farley 2004, Georgescu-Roegen 1971, Martinez-Alier 1990 und Munda 1997). Gleichzeitig existiert jedoch auch ein Bewusstsein dafür, dass wir keine absolute Gewissheit (»the truth«) über die Wirklichkeit haben (Røpke 1998: 144), und daher Nichtwissen und soziale Unbestimmtheit (oder starke Unbestimmtheit wie bei Spash 2002) in Rechnung zu stellen sind. Dass die Wirklichkeit auf verschiedene Weisen interpretiert werden kann, heißt nicht, dass sich Menschen willkürlich ihre eigene Realität konstruieren können oder dass alle Interpretationen gleiche Gültigkeit besitzen. Was wir brauchen, ist ein Ansatz, der Realismus, unsere begrenzte Erkenntniskompetenz sowie die Unausweichlichkeit sozialer Begriffskonstruktionen miteinander verbindet. Aus diesem Grund besitzt vermutlich auch die postnormale Wissenschaft eine gewisse Beliebtheit unter ökologischen Ökonominnen, besonders unter

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denjenigen, die auf der Suche nach einer Epistemologie sind (z.B. Munda 1997, Tacconi 1998, Özkaynak et al. 2002). Die postnormale Wissenschaft behauptet, dass eine Erkenntnis der physikalischen Realität unter beschränkten experimentellen Bedingungen möglich ist (darin stimmt sie mit dem logischen Empirismus überein), dass die Reichweite solcher Wissensproduktion jedoch zunehmend begrenzt ist. Sobald wir uns von der Physik und kontrollierten Laborbedingungen entfernen hin zu komplexen, miteinander interagierenden globalen Systemen und Umweltproblemen, brauchen wir eine andere Basis für die Wissensproduktion, zu der auch eine breite Partizipation der Laienöffentlichkeit als Erweiterung der Forschungsgemeinschaft gehört (Funtowicz/ Ravetz 1991 und 1994). Das Problem an diesem transdisziplinären Ansatz ist im Moment allerdings, dass er keine deutliche Wissenschaftstheorie anzubieten hat, sondern vielmehr Praxis und Rhetorik der modernen Wissenschaft angreift. Seine Kritik besteht dabei in Teilen aus einer präskriptiven Epistemologie, die jedoch die Frage nach der Rolle traditioneller Wissenschaft unbeantwortet lässt (Existiert diese tatsächlich in den Laboratorien der Physik, oder ist nicht eigentlich die gesamte Wissenschaft postnormal?). Die ontologischen Voraussetzungen des postnormalen Ansatzes sind vage und scheinen sich um diejenigen komplexer Systemtheorien herum zu gruppieren (Kay et al. 1999). Zudem bleibt hier, wie Tacconi (1998) bemerkt, die Methodologie unterentwickelt, indem sie fortwährend vor die Aufgabe stellt, abstrakte Argumente über wissenschaftliche Qualitätssicherung in die Praxis zu überführen (auch wenn in dieser Hinsicht Fortschritte gemacht wurden, vgl. van der Sluijs et al. 2005). Somit kämpft die postnormale Wissenschaft mit denselben Definitionsproblemen, wie wir sie hier für die ökologische Ökonomik diskutiert haben, und bringt daher keinen substanziellen Fortschritt (für einen Überblick: Turnpenny et al. 2011).

4. R e alismus , W ahrheit und E thik in der ökologischen Ö konomik Wir können aus der bisherigen Diskussionen einige zentrale ontologische Schlussfolgerungen ziehen. Zunächst sollte die Existenz einer nicht-menschlichen Realität ziemlich unkontrovers sein: Wer die Evolutionstheorie akzeptiert, muss an eine Welt vor der Entstehung des Menschen glauben. Die Versuche von Latour und starken Sozialkonstruktivistinnen, den Begriff der Natur als Differenzbegriff zu unseren Gesellschaften zu verabschieden, sind gescheitert und haben Rückzugsbewegungen sowie weitreichende Modifikationen erforderlich gemacht (Pollini 2013). Dann ist da noch Sayers (2000) Punkt: Wenn wir die Konstruktion von Realität kontrollieren würden, könnten wir uns nie-

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mals täuschen. Dass wir uns jedoch ziemlich oft täuschen, widerlegt eine solche Auffassung der Realität als einem rein kognitiven Phänomen. Das führt uns zu dem Problem, dass die Realität sich von unserer Wahrnehmung unterscheiden und die menschliche Perspektive auf sie mit der Zeit eine andere werden kann. Wir sind dann mit philosophischen Schwierigkeiten aus dem Umfeld der Korrespondenztheorie der Wahrheit konfrontiert, der zufolge eine Überzeugung dann und nur dann wahr ist, wenn sie der Realität entspricht. Wie Mackie (1970: 332) erklärt: »Die Korrespondenztheorie der Wahrheit verhält sich analog zum repräsentativen Realismus in der Theorie der Wahrnehmung, während wir, zumindest hinsichtlich der Wahrheit, einen direkten Realismus wollen.« Sein Lösungsvorschlag ist bescheiden: »Zu sagen, dass eine Aussage wahr ist, heißt zu sagen, dass die Dinge so sind, wie die Aussage es behauptet.« Die Relevanz dieses Vorschlags besteht darin, dass Überzeugungen oder Aussagen nun auf eine Realität außerhalb von ihnen antworten, auf die Dinge, so wie sie sind. Wenn wir diese Sichtweise akzeptieren, bedeutet das, dass wir die Realität als Wahrmacher nehmen, anstatt Aussagen auf Basis ihrer momentanen Nützlichkeit (wie z.B. im Pragmatismus) oder ihrer Kohärenz mit anderen Aussagen (wie im logischen Positivismus) zu rechtfertigen (Mackie 1970). Indem sie über die Realität reflektieren, geht es Menschen ganz wesentlich um ihren Platz in der Welt. Dazu gehören Existenz und Bedeutung des NichtMenschlichen sowie die menschliche Beziehung zu ihm. Wir können daher fragen: »Was für eine Bedeutung, wenn überhaupt, hat die Konzeptualisierung einer nicht-menschlichen Welt für uns Menschen?« Die Umweltethik hat betont, wie wichtig es ist, den Sinngehalt einer Realität ohne Menschen anzuerkennen. Daraus ergeben sich Fragen bezüglich unserer Wertbindungen an die nicht-menschliche Welt, wie z.B. im Argument der letzten Person (Sylvan 1973). Macht es für den letzten Menschen auf der Erde einen Unterschied, ob er willentlich Leben zerstört, ist das falsch? Wenn die ökologischen Ökonominnen diese Frage, wie ich ihnen unterstelle, mit Ja beantworten, fordern sie damit einen Wandel in der Ethik, den Haltungen, Werten und Bewertungen der Wirtschaftswissenschaft. Demgegenüber sind z.B. Umwelt- und Ressourcenökonominnen qua Theorie darauf festgelegt, die Präferenzen der letzten Person zu akzeptieren. Daher denke ich, dass auf Grundlage der präanalytischen Vision der ökologischen Ökonominnen viel dafür spricht, sich an bestimmten Aspekten von Realismus, empirischer Wissenschaft und der ethischen Bedeutsamkeit des Nicht-Menschlichen zu orientieren. Verbindungen bestehen dabei zu einer feministischen und grünen Weltsicht, der es – jenseits der rein instrumentellen Gründe, menschliche Zwecke zu realisieren – ein Anliegen ist, sich um die Natur zu sorgen und sie zu respektieren (McShane 2007a und b).

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Ein weiteres Problem ist dasjenige der Unterscheidung zwischen Naturund Sozialwissenschaften oder, weniger dichotomisch, zwischen verschiedenen Wissenschaften, die sich vom Natürlichen zum Sozialen bewegen. Für bestimmte ökologische Ökonominnen wie Tacconi (1998) ist die Ablehnung des logischen Empirismus im Fall der Sozialwissenschaften eine klare Sache; im Fall der Naturwissenschaften wird dessen potenzielle Relevanz jedoch implizit und neidvoll anerkannt, wenn auch mit einigen Vorbehalten. Wer sich z.B. auf die postnormale Wissenschaft beruft, misst – entsprechend dieser Literatur – der Normalwissenschaft den Wert bei, das menschliche Verständnis und von Neugierde getriebene Forschung vorangebracht zu haben. Das führt zur Ablehnung eines starken Konstruktivismus – unter der Bedingung allerdings, dass der beschränkte Nutzen der Normalwissenschaft für moderne Umweltprobleme und ihre spezifischen Merkmale wie Unsicherheit, hohe Entscheidungsrisiken und Komplexität anerkannt wird. Die Ablehnung einer naiv objektivistischen Position kann (wie bei Tacconi) in Versuchung führen, alle empirische Wissenschaft zu verwerfen. Die Umweltforschung hat jedoch eine starke Basis in den empirischen Wissenschaften, wie allein der Aufweis kausaler Zusammenhänge zwischen Luftverschmutzung und menschlicher Gesundheit zeigt. Aufgrund seiner Voreingenommenheit bei der Verbreitung bestimmter Technologien (etwa von genetisch veränderten Organismen, Kernenergie, Nanotechnologie oder GeoEngineering) und der zunehmenden Nähe von Forscherinnen zu Konzerninteressen wurde gleichzeitig allerdings auch die Rolle wissenschaftlichen Expertenwissens infrage gestellt (Literaturhinweise in Spash 2014). Anstatt die empirische Orientierung der Wissenschaft per se abzulehnen, brauchen wir ein nuancierteres Verständnis der Rolle kritisch-empirischer Forschung, wozu eine Akzeptanz von schwachem Konstruktivismus, starker Unsicherheit und Fallibilität gehört.

5. C ritical R ealism und die ökologische Ö konomik Ökologische Ökonominnen, die mit epistemologischen Problemen ringen, wissen um die Notwendigkeit von so etwas wie einem Mittelweg (Baumgärtner et al. 2008, Tacconi 1998). Wie Jacobs (1996: 16) schreibt, braucht die ökologische Ökonomik einen Ansatz, der »weder die wissenschaftliche Reduktion der natürlichen Umwelt auf ihre physikalischen Eigenschaften akzeptiert, noch die konstruktivistische Position einer Verneinung biophysikalischer Zwänge gegenüber dem sozialen Leben«. Wie die postnormale Wissenschaft versucht auch die ökologische Ökonomik zwischen der postmodernen Versuchung des Nihilismus und der modernen Verlockung der einen perfekten Antwort oder Wahrheit hindurchzusteuern (Spash 2002: 144). Der naive Objektivismus der

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letzteren ist im mainstream der Ökonomik vorherrschend und auch in der Wissenschaftspolitik weit verbreitet. Wer nun eine präanalytische Vision für die ökologische Ökonomik entwickeln will, kann sich auf den Critical Realism stützen, der sich ebenfalls um ein Verständnis der Interaktionen zwischen physikalischen und sozialen Systemen bemüht (Bhaskar 1975 und 1979, Collier 1994, Sayer 1992 und 2000).7 Der Critical Realism geht davon aus, dass wir niemals absolute Gewissheit darüber haben, ob etwas wahr ist (Fallibilismus), gibt deshalb jedoch nicht die Idee einer zugrundeliegenden objektiven Realität auf. Eine kritisch-realistische Perspektive kann, so glaube ich, die Beziehungen zwischen dem Wirklichem, dem Tatsächlichem und dem Empirischen (the real, the actual and the empirical) erhellen. Der naive Objektivismus reduziert die Realität typischerweise auf atomistische Ereignisse und Regelmäßigkeiten und begründet seine Wissensansprüche ausschließlich mit dem Beobachtbaren. Das heißt, das Beobachtete wird als das Existierende genommen und Realität gleichgesetzt mit dem Empirischen. Doch ist die empirische Beobachtung begrenzt und betrifft nur eine Untermenge tatsächlicher Ereignisse (so wird, vereinfacht gesagt, nicht alles, was geschieht, auch gemessen oder ist überhaupt messbar). In ähnlicher Weise ist das Tatsächliche nur eine Untermenge des Möglichen (was hätte z.B. passieren können, wenn …). So vernachlässigt eine Reduktion der Realität auf aktivierte und/oder aktualisierte Mechanismen die nicht-aktivierten/aktualisierten Mechanismen, die als Potenziale existieren (z.B. mögliche Politiken, die nicht formuliert und verwirklicht wurden). Es besteht also ein Unterschied zwischen realen Strukturen und tatsächlichen Ereignissen ebenso wie zwischen tatsächlichen Ereignissen und der empirischen Erfahrung. Damit wird Verursachung, statt eine Regelmäßigkeit zwischen empirisch beobachtbaren Ereignissen zu sein, zu einer Frage des Potenzials von Objekten, das aktualisiert/aktiviert werden kann oder auch nicht. Wie Sayer (1992: 2) schreibt, ersetzt dieser Ansatz das Regularitätenmodell durch eine Sichtweise, der zufolge Objekte und soziale Verhältnisse Kausalkräfte haben, die Regelmäßigkeiten hervorbringen können oder auch nicht und die sich daher unabhängig von diesen erklären lassen. Entsprechend legt diese Konzeption weniger Wert auf quantitative Methoden der Entdeckung und Auswertung von Regelmäßigkeiten und bevorzugt statt dessen Methoden, welche die qualitative Natur sozialer Objekte und Verhältnisse etablieren, auf der kausale Mechanismen beruhen.

7 | Ich habe innerhalb der ökologischen Ökonomik nur zwei Referenzen für solch eine mögliche Beziehung zum Critical Realism gefunden: einmal in der Fußnote eines Buchbeitrags von Røpke (1998: 144), das andere mal in Vatns Buch (2005: 55f.) über Institutionen und Umwelt.

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Diese Kritik an der humeschen Standardvorstellung von Kausalität richtet ihr Interesse ebenfalls auf offene Systeme und kann auch Brücken zu Kapps Arbeit über zirkuläre und kumulative Verursachung bauen (vgl. Berger 2009). Der Critical Realism erklärt, warum der Empiriebezug ein entscheidender und zugleich unzureichender Aspekt in unserem Verständnis der Realität ist. So können Menschen Ausbeutungsbeziehungen mit der Natur unterhalten, die empirisch während eines langen Zeitraums unproblematisch erscheinen, genauso wie der Kapitalismus Arbeit ausbeutet und dennoch floriert. Es handelt sich hier um ein wichtiges Argument, das in den 1970er-Jahren zur Erklärung dafür benutzt wurde, wie exponentielle Wachstumsraten die menschliche Gesellschaft in den Abgrund führen können, ohne dass es vom traditionellen wissenschaftlichen Empirismus bemerkt würde (Meadows et al. 1972): Die Struktur unserer materiellen und energetischen Durchflusswirtschaft ist unvereinbar mit der Aufrechterhaltung der Struktur und Funktionsweise ökologischer Systeme. Der Empirismus ist jedoch rückwärtsgewandt und kann das ganze Ausmaß der Katastrophe erst nach dem Ereignis erkennen, wenn jedes Handeln zu spät ist. Auch eine radikale sozial-ökologische Wirtschaftsform lässt sich als Potenzial betrachten, das unter kapitalistischen Bedingungen daran gehindert wird, sich zu zeigen. Der Empirismus ist dagegen immer nur in der Lage, den begrenzten Ausschnitt des Aktualisierten auf Kosten des NichtAktualisierten zu erhellen. Die Überhöhung des Geltungsbereichs und der Macht traditionellen wissenschaftlichen Wissens befördert die institutionalisierte Zensur kritischer Alternativen als unwissenschaftlich oder zu wenig empiriebasiert (Spash 2010 und 2014). Dadurch wird ein Vakuum geschaffen, »wo ein lebendiger sozialer Diskurs über Bedingungen und Grenzen wissenschaftlichen Wissens im Verhältnis zu ethischem und praktischem Wissen existieren sollte« (Wynne 1992: 115). Diese epistemologischen Anliegen bringen uns zur umfassenderen Frage nach dem Verhältnis zwischen und den unterschiedlichen Merkmalen von Natur- und Sozialwissenschaften. Der Critical Realism beschreibt die Wissenschaften als geschichtet und damit aufeinander auf bauend: z.B. von den Molekular- über die biologischen zu den Sozialwissenschaften (Collier 1998a). Ihm zufolge gibt es eine wirkliche (ontologische) Differenz zwischen den einzelnen Schichten, die nicht bloß kognitiven (epistemologischen) Konventionen geschuldet ist. Diese wirklichen Unterschiede und die Irreduzibilität der jeweiligen Schichten aufeinander dient zur Erklärung der Unterschiede zwischen den einzelnen Wissenschaften bzw. der Ursache, warum eine Vielzahl von Wissenschaften existiert. So wird alles Existierende von den Gesetzen der Physik beherrscht: Eine jede biologische Entität ist zugleich eine physikalische, jedoch nicht umgekehrt. Entsprechend sind die biologischen in die physikalischen Wissenschaften eingebettet bzw. die sozialen in die biologischen und die ökonomischen in die sozialen.

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Dieser Typus von Einbettung ist eine der Schlüsselbotschaften, um deren Kommunikation sich ökologische Ökonominnen bemüht haben, nämlich dass die Ökonomie Teil der natürlichen Umwelt ist und den Gesetzen der Thermodynamik unterliegt. Doch darf Einbettung nicht mit Reduktionismus verwechselt werden: Dass Elefanten aus physikalischen und chemischen Komponenten bestehen, bedeutet nicht, dass ihr Verhalten durch Analyse oder Reduktion auf solche Komponenten verstanden werden kann (Georgescu-Roegen 1979: 109). Gleichermaßen meint Irreduzibilität, dass Gesellschaft eben keine bloße Ansammlung von Individuen ist und als einfaches Aggregat dieser Individuen aufgefasst werden kann. Ein solcher, an Irreduzibilität orientierter Ansatz, scheint besser in Einklang mit der ökologischen Ökonomik als andere Epistemologien. Die geschichtete Ontologie des Critical Realism steht in Gegensatz zu EinEbenen-Ontologien, von denen es drei Spielarten gibt (Collier 1998b): 1. Teile werden als bloße Aspekte eines Ganzen betrachtet, sodass letztlich nur das Absolute existiert, zu dem alles und jedes als Moment gehört – eine Sichtweise, wie sie Daly und Farley (2004) vertreten. 2. Ganzheiten erscheinen als bloße Ansammlungen ihrer Teile und sind nur darüber zu verstehen, dass sie in ihre Komponenten zerlegt werden – das einzig wirklich Reale gemäß dem atomistischen Mechanizismus. 3. Irgendeine Mittlere-Ebenen-Entität (z.B. Selbste) wird als einzige Realität anerkannt, wodurch ihre Teile zu bloßen Aspekten und größere Entitäten, die sie mitbildet, zu bloßen Ansammlungen werden, wie in bestimmten Formen des methodologischen Individualismus. Der Critical Realism verwirft alle diese Ein-Ebenen-Ontologien. Eine falsche Interpretation der Arbeitsteilung zwischen den Wissenschaften muss an dieser Stelle erwähnt werden, da sie praktische Implikationen hat. Es handelt sich um die Überzeugung, Wahrheit sei ein Privileg der Naturwissenschaften, was zu einer Form des Determinismus führt. Gemäß dieser Auffassung sind die Sozialwissenschaften bloße Kommunikationsmittel der einen naturwissenschaftlichen Wahrheit. So haben einige Ökologinnen, die eine Umweltbasierung ökonomischer Werte beanspruchen, tatsächlich ihren Mangel an ökonomischer Ausbildung damit verbrämt, jeder könne »diesen Kram machen«, da er wenig gehaltvoll und bedeutsam sei. Ökonomische und Sozialforschung wird dabei als bloß instrumentell wichtig (d.h. pragmatisch gerechtfertigt) angesehen, da Presse und Politikerinnen ihr zuhören. Das verneint die Relevanz von Gegenständen jenseits der Naturwissenschaften und deren unabhängigen Beitrag zur Erkenntnis. Daher müssen wir uns darüber klar werden, dass die erforderliche Unterscheidung weder eine dichotomische Trennung (Natur- versus Sozialwissenschaften) noch eine Hierarchie ist (die Physik ist am besten und härtesten und die Ökonomik die Königin der Sozialwissenschaften, da sie der Physik nacheifert usw.). Hier geht es um keine Frage der Überlegenheit, sondern der Substanz.

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Wenn wir den Arbeiten des Critical Realism noch ein wenig folgen, gewinnen wir auch Einsichten hinsichtlich der Relevanz der ökologischen Ökonomik als politischer und problemorientierter Bewegung. Die Sozialwissenschaften inklusive der Ökonomik können von den Naturwissenschaften substanziell dadurch unterschieden werden, dass in ihnen – im Gegensatz zur humeschen Auffassung – Fakten und Werte untrennbar sind. Um das zu erläutern, beziehe ich mich auf Collier (1998b). Die Sozialwissenschaften entwickeln Ideen über ihren Gegenstand und beanspruchen dabei Wahrheit. Im Unterschied zu den Naturwissenschaften sind Ideen jedoch selbst Teil ihres Gegenstandes. Eine Gesellschaft kann nur auf Basis menschlicher Akteure existieren, die soziale Strukturen handelnd reproduzieren und transformieren. Menschliche Akteure wiederum orientieren sich in ihrem Handeln an Ideen (z.B. Religionen oder politischen Ideologien). Daraus folgt, dass die Untersuchung von Strukturen und Ideen einander bedingt. Collier (1998b) führt als Beispiel an, dass der Englische Bürgerkrieg ohne Analyse des Puritanismus nicht zu verstehen ist (d.h. die Erklärung von ökonomischen und Klassenstrukturen mag grundlegend sein, sie bleibt jedoch ungenügend ohne Hinwendung zu den religiösen Ideen im Europa des 17. Jahrhunderts). Zu den relevanten Ideen einer jeden Gesellschaft gehören Ideen über die Merkmale dieser Gesellschaft. Um soziale Phänomene (wie etwa Arbeitslosigkeit) zu verstehen, ist es notwendig, sowohl strukturelle Ursachen (z.B. Finanzinstitutionen, Regierungspolitik und Weltmärkte) als auch Ideen zu untersuchen, die sich in sozialen Haltungen und politischem Verhalten manifestieren. Die Erklärungen der Sozialwissenschaften beinhalten daher notwendigerweise auch eine Kritik an bestimmten Ideen in der Gesellschaft. Das bedeutet, wenn die Sozialwissenschaften richtig liegen, müssen gegenteilige Erklärungen der von ihr beschriebenen Akteure falsch sein. Die Sozialwissenschaften unterscheiden sich darin von den Naturwissenschaften, dass sie Teile ihres Gegenstandes kritisieren. Die Aussage dagegen, dass schwarze Löcher existieren, enthält keine Kritik an ihnen, selbst wenn sie uns nicht gefallen. Wie Collier (ebd.: 446) erläutert: Zu behaupten, eine Institution produziere falsche Überzeugungen, bedeutet sie zu kritisieren. Wenn wir (unter sonst gleichen Bedingungen) davon ausgehen, dass es besser ist, eine wahre statt evtl. eine falsche (?) Meinung zu haben, ist es (unter sonst gleichen Bedingungen) ebenfalls besser, dass Institutionen, die falsche Überzeugungen produzieren, zu solchen transformiert bzw. durch solche ersetzt werden, die wahre Überzeugungen hervorbringen. Des Weiteren besteht oftmals eine funktionale Beziehung zwischen Institutionen, die falsche Überzeugungen hervorbringen und Meinungen über diese Institutionen. Falsche Überzeugungen werden verbreitet, um die Institutionen und ihre Macht zu erhalten bzw. bestimmten Partikularinteressen zu

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dienen. So wird die Rhetorik der befreienden Wirkung sich selbst regulierender Märkte und des Nutzens andauernder Wachstumsraten von Unternehmen und Regierungen dazu verwendet, Ressourcen zu extrahieren, indigene Bevölkerungen umzusiedeln und die Umwelt zu zerstören. In solchen Fällen heißt die Wahrheit vorzutragen, nicht nur eine Institution zu kritisieren, sondern auch sie zu schwächen. So ist die Produktion von Erklärungen sozialer Institutionen nicht nur, wie für gewöhnlich, eine Bedingung, um diese zu kritisieren und zu verändern; manchmal impliziert sie auch deren direkte Kritik und einen ersten Schritt der Subversion. (Vgl. ebd.: 446) Sobald die ökologische Ökonomik diese Auffassung übernimmt, wird sie viel radikaler als der orthodoxe mainstream, der objektive und wertfreie Empfehlungen zu liefern beansprucht, während er in Wirklichkeit bloß die bestehende Ordnung stützt. Wie Söderbaum (2011) betont: Die neoklassische Ökonomik ist sowohl Wissenschaft als auch Ideologie. Als Ideologie ist sie zugleich die Ideologie des gegenwärtigen kapitalistischen Systems. Wir brauchen ein anderes institutionelles Arrangement oder eine andere Art von Kapitalismus, um mit den gegenwärtigen Problemen konstruktiv umgehen zu können. Diese Fakten-Werte-Beziehungen offen zu thematisieren, ermöglicht der ökologischen Ökonomik, ihre Forschungsergebnisse – bezüglich der Beschaffenheit sozialer und Umweltprobleme, der dahinterstehenden Strukturen sowie der an ihnen beteiligten Institutionen – klar und deutlich gegenüber denjenigen zu kommunizieren, die den institutionellen Wandel umsetzen und sich mit falschen gesellschaftlichen Überzeugungen beschäftigen. Und in der Tat können wir sehen, dass dies auch schon geschieht (vgl. Martinez-Alier et al. 2011 und 2013). Die fundamentalen Differenzen in den ontologischen Voraussetzungen, die zwischen der ökologischen Ökonomik und dem mainstream bestehen, führen somit auch zu sehr verschiedenen Ansätzen an der Nahtstelle von Wissenschaft und Politik. Die ontologischen Voraussetzungen der ökologischen Ökonomik weisen Gemeinsamkeiten mit der ökonomischen Heterodoxie auf – eine weitere Verbindung zum Critical Realism. Wie auch im Postkeynesianismus werden starke Unsicherheit, soziale Unbestimmtheit, emergente Eigenschaften und historisch-dynamische Prozesse betont (Holt und Spash 2009). Dagegen behandelt der mainstream Individuen als passive Träger in einem statisch geschlossenen System und setzt eine atomistische Ontologie voraus. Das dient der Orthodoxie als Rechtfertigung, wenn sie die soziale Realität als durch Regelmäßigkeiten spezifiziert begreift und auf diese Weise methodologisch den Weg frei macht für deduktives Denken und mathematischen Formalismus. Wie auch andere heterodoxe Traditionen erkennt die ökologische Ökonomik die transformative Kraft menschlicher Handlungsfähigkeit an, deren emergente Eigenschaften

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aus dynamischen Prozessen vielschichtiger sozialer Interaktionen resultieren. Die moderne Heterodoxie unterscheidet sich somit vom mainstream, indem sie Theorie und Methode für Einsichten in die soziale Realität öffnet. Sie widersteht der Reformulierung ihrer Begriffe (z.B. Unsicherheit, evolutionäre Entwicklungen, Institutionen, Motive, Ethik) durch den mainstream weniger, indem sie pauschal an diesen festhält, als vielmehr durch Beharren auf deren spezifisch ontologischen Eigenschaften (Lawson 2006).

6. F a zit Auf Grundlage der existierenden theoretischen Literatur der ökologischen Ökonomik lassen sich, so denke ich, deren wichtigste ontologische Voraussetzungen ermitteln und sollten auch explizit gemacht werden. In der Epistemologie gibt es bereits Fortschritte, indem die Notwendigkeit einer Synthese aus Realismus und schwachem Konstruktivismus anstelle eines pluralistischen Eklektizismus anerkannt wurde. Wissensansprüche unabhängig von ihren ontologischen Prämissen und ihrer epistemologischen Haltung willkommen zu heißen, erscheint nicht länger als vielversprechender Weg, um tatsächliche Fortschritte in der Erkenntnis zu erzielen. Ideen, Theorien und Disziplinen, welche die grundlegenden ontologischen Voraussetzungen der ökologischen Ökonomik ablehnen, sind wenig geeignet, um deren Wissen voranzubringen. Das ist nur möglich, wenn die basalen Lehrsätze der dominanten ökonomischen Theorie wie auch die mit ihnen verbundenen unrealistischen Weltkonzeptualisierungen zurückgewiesen werden. Ein wesentliches Anliegen der ökologischen Ökonomik besteht darin, über die Realität nachzudenken und wahre Aussagen über sie zu produzieren, was jedoch nicht bedeutet, in der Tradition des naiven Objektivismus Tatsachengewissheit qua Beobachtung zu beanspruchen. Ich habe zu zeigen versucht, dass eine kritisch-realistische Perspektive uns besser die aufeinander verwiesenen Rollen verstehen lässt, welche die empirische Wissenschaft und ein schwacher Sozialkonstruktivismus in der Produktion von Wissen spielen. Wird dieser Beitrag im Detail ausformuliert, kann das zu einer solideren methodologischen Basis von sozial-ökologisch-ökonomischen Untersuchungen führen. Unsere Erfahrung und Praxis in der Welt ermöglicht uns, unser Wissen zu präzisieren und seine Angemessenheit zu überprüfen. Auf diese Weise kann die ökologische Ökonomik den Status einer kritischen Sozialwissenschaft anstreben, die auf einem guten Verständnis der biophysikalischen Realität auf baut. Aus dem Englischen von Urs Lindner

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Prozessphilosophie als Grundlage für die ökologische Ökonomik Gemeinsamkeiten und Differenzen mit dem Critical Realism Barbara Muraca

Der Beitrag von Clive Spash in diesem Band liefert eine wichtige und oft vernachlässigte Perspektive in der Debatte über das Verhältnis von Critical Realism und ökonomischer Theorie. Der Critical Realism wurde erfolgreich genutzt, um Annahmen und Methoden der Mainstream-Ökonomik zu kritisieren, und hat zweifelsohne Wesentliches zur epistemologischen Rehabilitierung der politischen Ökonomie geleistet. Eine Auseinandersetzung mit den sogenannten heterodoxen ökonomischen Theorien wurde zwar versucht (vgl. Julie Nelsons [1999] Diskussion des Critical Realism aus Perspektive der feministischen Ökonomik sowie Lawson [2003]), aber bemerkenswerterweise wurde die ökologische Ökonomik nicht in diesen Analysen berücksichtigt.1 Der Beitrag von Clive Spash schließt somit eine wichtige Lücke in der Debatte und bietet eine interessante Plattform für weitere Forschung. Mein Beitrag versteht sich als wohlwollende kritische Auseinandersetzung mit dem Critical Realism als einer möglichen alternativen Grundlage der ökologischen Ökonomik. Wohlwollend, weil meine Kritik sich weniger gegen die Vermittlungsrolle richtet, die dieser Ansatz laut Spash zwischen sozialkonstruktivistischen und klassisch positivistischen Ansätzen einnimmt, und auch Spashs Ansicht teilt, dass der Critical Realism einen originellen und wesentlichen Beitrag für eine alternative Epistemologie der ökologischen Ökonomik leisten kann. Meine Kritik speist sich somit aus ähnlichen Fragestellungen und Forschungsinteressen, die Spashs Verständnis der ökologischen Ökonomik motivieren.

1  |  Lawson (2003) widmet den dritten Teil seines Buches der feministischen, postkeyne­ sianischen und Institutionsökonomik, lässt aber die ökologische Ökonomik außen vor.

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Gleichwohl werde ich im Folgenden für Whiteheads Philosophie2 als einer sinnvolleren Alternative oder wenigstens als einer notwendigen Ergänzung zum Critical Realism plädieren. Dafür sprechen nicht zuletzt auch genealogische Gründe: Whiteheads Philosophie liefert die theoretische Grundlage für Georgescu-Roegens Bioökonomie, sowohl epistemologisch als auch ontologisch. Die präanalytische Vision der ökologischen Ökonomik lässt sich in ihrer ursprünglichen Variante unmittelbar auf Whiteheads Philosophie zurückführen (für eine ausführliche Rekonstruktion dieses Einflusses: Muraca 2010). Darüber hinaus kann Whiteheads Philosophie in zweierlei Hinsicht den Beitrag des Critical Realism zur ökologischen Ökonomik erweitern und um einige wesentliche, sonst vernachlässigte Aspekte ergänzen: die philosophische Ausarbeitung von Zeit als Kontinuum (und die damit verbundene Idee der Unumkehrbarkeit biophysikalischer Prozesse) und ein komplexes Verständnis von Lebewesen als teleologisch, das weder in die vitalistische Falle tappt noch übernatürliche Kräfte bemüht. Im Folgenden werde ich zunächst kurz auf Spashs Text eingehen und dabei Spezifika herausarbeiten, die den Critical Realism für die ökologische Ökonomik relevant machen. Im zweiten Teil präsentiere ich Whiteheads Prozessphilosophie in zwei Schritten als Alternative zum Critical Realism: zunächst vermittelt durch ihren direkten Einfluss auf einen der Gründer der ökologischen Ökonomik, Nicholas Georgescu-Roegen, auf den Spash ebenfalls referiert; sodann durch eine kurze Darstellung der Grundaspekte von Whiteheads Philosophie, insbesondere in Hinblick auf Epistemologie, Ontologie, die Lebenskonzeption sowie die Ursachenlehre. Im Schlussabschnitt fasse ich mein Hauptanliegen zusammen und zeige, warum die Prozessphilosophie Whiteheads mir für die ökologische Ökonomik geeigneter erscheint, ohne deswegen die Berechtigung des Critical Realism in Abrede zu stellen. Ich betrachte beide Theorien als verwandt und nicht als Konkurrentinnen.

2 | Die Übersetzung von Whiteheads Philosophie ist problematisch und wird in der deutschen Whiteheadrezeption, vor allem seines Hauptwerkes Process and Reality, intensiv diskutiert. Im Text wird deshalb, abweichend von der üblichen Übersetzungspraxis in diesem Band, das englische Original bei direkten Zitaten verwendet. Zum Teil werden die Zitate erläutert oder, wie auch bei Direktzitaten von Autorinnen des Critical Realism, von den Herausgebern selbst ins Deutsche übersetzt.

Prozessphilosophie als Grundlage für die ökologische Ökonomik

1. C live S pashs V erständnis der ökologischen Ö konomik , oder : warum die ökologische Ö konomik dringend die A useinanderse t zung mit W issenschaf tsphilosophie und O ntologie br aucht Spash identifiziert Kapp und Georgescu-Roegen als die beiden Väter der ökologischen Ökonomik und rekonstruiert deren Kritik an der Mainstreamökonomik. Diese Rekonstruktion führt ihn innerhalb der Debatte um das Selbstverständnis der ökologischen Ökonomik zu einer klaren Stellungnahme gegen einen undifferenzierten methodologischen Pluralismus, den einige andere Vertreterinnen des Faches als goldenen Weg favorisieren. In anderen Beiträgen hat Spash eine Systematik entwickelt, die unter dem »großen Zelt« der ökologischen Ökonomik drei grundsätzliche Ansätze am Werk sieht: den neuen Umweltpragmatismus, die neue Ressourcenökonomik sowie die sozial-ökologische Ökonomik. Spash verortet sich selbst in der dritten Tradition, die sich aus politischer Ökonomie, politischer Ökologie und kritischer Institutionsökonomik speist. Er distanziert sich in seinem Beitrag zu diesem Band von einem unreflektierten Pluralismus, der die theoretische Auseinandersetzung mit epistemologischen und ontologischen Grundlagen zugunsten einer nicht näher präzisierten methodologischen Offenheit aufgibt und auf einen vagen pragmatischen Konsensus über die ökologische Krise und die Notwendigkeit einer generellen Neuausrichtung ökonomischer Forschung abzielt (vgl. auch Spash 2013). Zwar liegt das Spezifikum der ökologischen Ökonomik weder in ihrem Forschungsobjekt noch in ihrer Forschungsmethode. Dies darf aber, wie Spash zu Recht fordert, nicht zu einer Methodenindifferenz führen, insbesondere wenn die Kritik der Mainstream-Ökonomik auf einer gut begründeten Basis erfolgen soll. Was die ökologische Ökonomik ausmacht, ist vielmehr ein alternatives Verständnis der Ökonomie selbst, als Wissenschaft und als sozialer Prozess. Dies bringt unweigerlich wissenschaftsphilosophische und ontologische Annahmen mit sich, die einer Rechtfertigung bedürfen. Mit Bezugnahme auf Schumpeter bemüht Spash das Konzept der präanalytischen Vision, das auch schon Herman Daly – eine der Koryphäen der Disziplin – inspiriert hatte (Daly 1996). Eine solche präanalytische Vision impliziert u.a. ontologische Vorannahmen, die nicht mit beliebigen Methodologien und Epistemologien vereinbar sind. Der durchaus zu begrüßende Pluralismus sollte daher auf miteinander kompatible Ansätze beschränkt werden. Bestandteile der präanalytischen Vision der ökologischen Ökonomik sind laut Spash (hier nur schematisch dargelegt): • ein Verständnis der Ökonomik als Sozialwissenschaft (gegen die neoklassisch inspirierte Ökonomik, die sich immer noch am Vorbild von Physik

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und Mathematik orientiert). Dies impliziert eine Auseinandersetzung mit unausweichlicher Ungewissheit und Unbestimmtheit, der komplizierten Falsifizierbarkeit von Hypothesen sowie der Interdependenz zwischen Tatsachen und Wertungen. Auch wenn der logische Empirismus eine durchaus sinnvolle Rolle in der ökologisch-ökonomischen Forschung spielt, kann er aus den genannten Gründen nicht ohne Weiteres als wissenschaftsphilosophische Grundlage dienen. • ein grundsätzlicher Fokus auf biophysikalische Phänomene und daher eine Bezugnahme auf die »real existierende« Welt. Vor allem die Gesetze der Thermodynamik und die biophysischen Rahmenbedingungen ökonomischer und sozialer Prozesse charakterisieren das Selbstverständnis der ökologischen Ökonomik. Aus diesem Grund ist eine starke Variante des Sozialkonstruktivismus nicht mit ihrer präanalytischen Vision vereinbar.3 • eine Infragestellung epistemologischer Wertneutralität. Der realistische Fokus impliziert keine naiven Annahmen über biophysikalische Fakten und ihre Erkenntnis. Unsicherheiten und gesellschaftliche Relevanz schließen eine »adäquate« Darstellung von Phänomenen im Sinne der Korrespondenztheorie aus. Der Ansatz der postnormalen Wissenschaft (post normal science) spielt daher eine zunehmend wichtige Rolle für die ökologisch-ökonomische Forschung. Spash begrüßt die Notwendigkeit, andere Formen der Wissensgenerierung einzubeziehen, warnt jedoch zugleich vor fehlenden wissenschaftsphilosophischen Grundüberlegungen im Ansatz der postnormalen Wissenschaft. Spash sieht im Critical Realism eine sinnvolle Alternative, die mit der präanalytischen Vorstellung der ökologischen Ökonomik vereinbar ist, vor allem wegen ihrer vermittelnden Position zwischen logischem Empirismus und Sozialkonstruktivismus: • Eine reale, (bio-)physische Welt existiert unabhängig von den Menschen und ihren Vorstellungen. • Wirkursächliche Kräfte sind zwar am Werk und haben ontologischen Status, jedoch: a) können sie aktiviert werden oder nicht abhängig von wei3 | Spash betrachtet auch Bruno Latour als Vertreter einer mit der ökologischen Ökonomik nicht vereinbaren Variante des Sozialkonstruktivismus. Ich bin anderer Meinung, kann das hier aber nicht weiter ausführen. An dieser Stelle sei nur erwähnt, dass die Forschung der politischen Ökologie, insbesondere in der postkolonialen Tradition von Arturo Escobar, Latour durchaus erfolgreich gegen eine westlich geprägte und vermeintlich universelle und objektive Idee von Natur einsetzt, ohne deswegen die biophysikalischen Grundlagen unseres Wirtschaftens infrage zu stellen (vgl. u.a. Escobar 2008).

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teren komplexen Bedingungen, Strukturen und Faktoren, derer Existenz und Einfluss kontingent ist; b) Gründe, Diskurse, Handlungen und (Be-) Deutungen sind ebenfalls wirkursächlich aktiv (Sayer 2011). Werte/Wertungen lassen sich daher auch nicht strikt von Fakten trennen, insbesondere in den Sozialwissenschaften, in denen menschliche Handlungen und Deutungen eine wesentliche Rolle in der Gestaltung des Realen spielen. Ontologie ist vielschichtig und hierarchisch; Verursachung erfolgt nicht nur aufwärts entlang der ontologischen Ebenen und ist nicht linear; neue Eigenschaften können sich auf höheren ontologischen Ebenen manifestieren (Emergenz). Eine reduktionistische Erklärung kann der Komplexität von Phänomenen nicht gerecht werden. Die Epistemologie erlaubt Fallibilität, Unsicherheit und nicht-aufhebbare Unbestimmtheit. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen »empirical«, »actual« und »real« als drei ontologischen Ebenen, die nicht aufeinander reduzierbar sind.

Der Critical Realism, so Spash, liefert der ökologischen Ökonomik daher auch eine solide ontologische und epistemologische Grundlage. Generell will ich das hier nicht bestreiten. Ich teile Spashs Forderung nach einer expliziten Positionierung der ökologischen Ökonomik gegenüber wissenschaftsphilosophischen und ontologischen Grundannahmen und bin auch damit einverstanden, den Critical Realism als eine interessante Option zu betrachten. Allerdings sehe ich einige Mängel in diesem Ansatz, die für die ökologische Ökonomik von großer Relevanz sind, insbesondere bezüglich seines Festhaltens an einem Verständnis des Realen, das an der neuzeitlichen Tradition der Substanzmetaphysik orientiert ist. Wenn wir einen genaueren Blick auf Georgescu-Roegens bioökonomische Theorie werfen, finden wir zwei wesentliche Elemente, die sich nicht unmittelbar mit dem Critical Realism deuten lassen: Entropie als Brückenbegriff zwischen objektbezogener Beobachtung und subjektiver, menschlicher Erfahrung und das Verständnis von Lebewesen als teleologischen Prozessen. Insbesondere Letzteres dürfte mit den Grundannahmen des Critical Realism in klarem Widerspruch stehen.

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2. G eorgescu -R oegens bioökonomische Theorie als Ö konomie des L ebens Während für die neoklassische Theorie ökonomische Prozesse mechanistisch gedeutet und nach allgemein geltenden und mathematisierbaren Gesetzen beschrieben und analysiert werden, gehören für Georgescu-Roegen ökonomische Prozesse der Sphäre evolutorischer Prozesse an, die – analog zu lebenden Organismen – in mechanischen Termini nicht adäquat beschrieben werden können. Entsprechend sollte sich die Ökonomik eher als Verlängerung der Biologie denn der Physik verstehen.4 Kulturelle und soziale Prozesse sind gleichermaßen evolutorisch in ihrer Grundstruktur, weil sie kreativ sind und Neuartigkeit erzeugen. Selbstverständlich erfolgen sie nicht in Form einer Veränderung der angeborenen biologischen Merkmale des Körpers über Generationen, sondern »exosomatisch« durch die kreative und intentionale Erfindung und Entwicklung von Instrumenten zur Verbesserung der Lebensqualität von Menschen. Evolution bedeutet für Georgescu-Roegen mehr als eine Kombination von Anpassung und Selektion: gerichtetes Handeln, kreative und qualitative Transformation von sich selbst und der Umwelt (statt bloßer Anpassung), kumulative Wirksamkeit von Veränderungen, nicht voraussagbare Neuartigkeit, monodirektionale Temporalität und Singularität. Dies gilt – wenn auch in unterschiedlichem Maße und Grad – für organische Lebewesen wie auch für Menschen (Georgescu-Roegen 1971). Ohne die Einbeziehung der Finalursächlichkeit kann Leben daher nicht adäquat verstanden werden. In Anlehnung an Whitehead plädiert Georgescu-Roegen zwar für die Anwendung des Begriffs »purpose« in der Biologie, lehnt aber – ebenfalls mit Whitehead – vitalistische Positionen ab (ebd.: 191). Georgescu-Roegen hat den Begriff der Entropie in die ökonomische Theorie eingeführt und somit auch eine der wichtigsten Deutungskategorien der ökologischen Ökonomik geprägt. Wie ich im Folgenden erläutere, dient aber der Entropiebegriff weniger der Festlegung absoluter planetarer Grenzen, innerhalb derer Wirtschaftsprozesse eingebettet sein müssen: Vielmehr verkörpert die Entropie die ontologische Unumkehrbarkeit der qualitativen, kreativen und schließlich organischen Prozesse, die auf dem Planeten stattfinden und wie 4 | Das heißt aber eben nicht, dass der ökonomische Prozess als Makroorganismus oder Superorganismus verstanden wird, der anhand der Gesetze der Biologie und der Evolutionstheorie analysiert werden soll. Nach Georgescu-Roegens Verständnis rückt die Biologie viel näher an die Sozialwissenschaften, nicht im Sinne einer Soziobiologie, sondern im genauen Gegensatz dazu: Nicht die Soziologie wird auf die Biologie zurückgeführt, sondern vielmehr wird die Biologie als eine Art Brückenwissenschaft verstanden, die zwar Naturprozesse beschreibt, aber methodologisch an den Sozialwissenschaften orientiert ist.

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diese ebenfalls unumkehrbare energetische und stoffliche Transformationen hervorbringen. Entropie wird somit nicht als Gegenteil oder Bremse der Evolution verstanden, sondern lediglich als ihr notwendiger Begleiter. Laut dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik steigt die Entropie in allen abgeschlossenen Systemen unaufhörlich, da diese keinen Austausch (sei es stofflich, sei es energetisch) mit ihrer Umwelt haben. Dies bedeutet, dass Systeme spontan zum nächstmöglichen Gleichgewichtszustand neigen, in dem keine weitere Differenz zwischen brauchbarer und unbrauchbarer Energie mehr besteht und daher auch keine weiteren Reaktionen bzw. Transformationen mehr möglich sind.5 Hingegen werden offene Systeme – zu denen auch Lebewesen gehören – eben aufgrund ihrer Offenheit zur Umwelt vom entropischen Gleichgewicht ferngehalten und sind infolgedessen komplexen nicht-linearen Prozessen ausgesetzt. Laut der Selbstorganisationstheorie »organisieren sich« offene Systeme, indem sie Strukturen produzieren, um den kontinuierlichen Störungen der Umwelt entgegenzuwirken, die sie durch Energiezufuhr aus dem Gleichgewicht bringen. Wie Prigogine gezeigt hat (Prigogine/Stengers 1981) sind Lebewesen offene Systeme, die sich nach der Selbstorganisationstheorie verstehen lassen: Durch Störungen aus der Umwelt, d.h. durch direkte (Sonnenenergie oder Photosynthese) oder indirekte Energiezufuhr (Nahrung) halten sie sich fern vom entropischen Gleichgewicht (das für sie den Tod bedeuten würde) und bilden komplexe Strukturen.6 Anders als anorganische Selbstorganisationssysteme, die von außen – meist aber im Labor von den Forscherinnen – aus dem Gleichgewicht gebracht werden, suchen Lebewesen aktiv und selbsttätig nach Störungen und kämpfen gegen die Steigerung der systemimmanenten Entropie und den Rückfall in den Gleichgewichtszustand an 5 | Man stelle sich zwei Becken, eins mit kaltem und eins mit warmem Wasser ohne Austausch mit der Umwelt vor: Wenn die Temperatur bei beiden durch Energieaustausch gleich geworden ist, kann keine weitere Energieübertragung mehr stattfinden, es sei denn, man fügt dem System von außen Energie zu. So ist es auch mit der kinetischen Energie einer Achterbahn: Ist diese erst mal unten angekommen, muss dem System von außen neue Energie zugefügt werden, damit die Bahn wieder nach oben steigen kann. 6 | Die in der vorherigen Fußnote genannten Prozesse sind mechanisch und prinzipiell durch Energiezuführung von außen (sofern das System nicht abgeschlossen ist) umkehrbar (bis auf minimalen Verlust durch Reibung und Verschleiß). Biologische Prozesse wie die Hervorbringung eines Kükens aus einem Ei sind hingegen transformativ und qualitativ, daher auch unumkehrbar: egal wie viel Energie man von außen hinzufügt, wird das Küken nicht mehr zum Ei zurückkehren. Es kann aber womöglich durch Energiezufuhr (Nahrung etc.) selbst ein neues Ei legen. Das ist die selbstorganisierte Kreativität lebender Prozesse, die Energiezufuhr nicht bloß dissipativ ausgleichen, sondern in die Generierung von Komplexität und vererbbarer Neuartigkeit kanalisieren. Für eine ausführliche Analyse dieses Sachverhalts: Muraca 2010: 194ff. und 2007.

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(Muraca 2007 und Koutroufinis 1996). Außerdem weisen sie die Fähigkeit auf, niedrige und hohe Entropie (d.h. hochwertige und nicht brauchbare Energie) zu unterscheiden und zu sortieren, wie Georgescu-Roegen zu Recht anmerkt.7 Wesentliche Bedingung für Leben ist daher die Möglichkeit, aus der Umwelt kontinuierlich niedrige Entropie (d.h. hochwertige verfügbare Energie) aufzunehmen, damit die im Systeminneren konstant steigende Entropie ausgeglichen werden kann (Georgescu-Roegen 1971: 192). Lebewesen verhalten sich zwar negentropisch8, da sie trotz der kontinuierlichen entropischen Degradierung hohe Komplexität und Kohärenz hervorbringen, die nicht verloren geht, sondern evolutorisch vererbt werden kann. Dies bedeutet aber mitnichten, dass sie gegen die Entropiesteigerung des Gesamtsystems wirken können, in dem sie sich befinden (ebd.: 192). Im Gegenteil sind Lebewesen starke »Verbraucher« von niedriger Entropie und tragen zur Steigerung der Entropie im Gesamtsystem wesentlich bei.9 Analog sind auch ökonomische und soziale Prozesse offene (wenn auch nicht selbsttätige) Systeme, die gerade auf den energetischen und materiellen Austausch mit ihrer Umwelt für ihre Reproduzierbarkeit angewiesen sind. Sie sind analog zu Lebewesen metabolische Prozesse, da sie durch Stoffwechsel (Metabolismus) mit ihrer jeweiligen Umwelt konstituiert werden. Evolutorische makrobiologische und darüber hinaus soziale Phänomene sind daher ebenfalls zeitlich und unumkehrbar.10 7 | Georgescu-Roegen weist darauf hin, dass Maxwell für sein berühmtes Experiment nicht umsonst ein »Teufelchen« und keine Maschine gewählt hatte, denn die Unterscheidung zwischen niedriger und hoher Entropie bedarf einer Form von zielgerichteter, wenn auch nicht unbedingt bewusster oder intentionaler Selektion. 8 | Das heißt anscheinend gegen das Entropiegesetz agierend, wie Schrödinger gezeigt hat. Aber Lebewesen reduzieren nur ihre innere Entropie durch die unaufhörliche Suche nach externen »Störungen« des Gleichgewichts, d.h. durch direkte (Photosynthese) oder indirekte (Nahrung) Energiezuführung. 9 | Die Erde ist zwar ein geschlossenes, aber kein abgeschlossenes System. Georgescu-Roegen verwendet den Entropiebegriff nicht so sehr, um auf einen vermeintlichen Kollaps hinzuweisen, sondern um die wesentliche Zeitlichkeit (Temporalität) von Leben und ihre Fragilität zu plausibilisieren, wie ich anderswo ausführlicher gezeigt habe (Muraca 2010). Da Lebewesen niedrige Entropie aus der Umwelt (ver-)brauchen, ist die Verfügbarkeit von ausreichend niedriger Entropie (brauchbare, hochwertige Energie) in der Umwelt eine fundamentale Bedingung für Leben überhaupt. In einem isolierten Sys­ tem würde Leben bereits verschwinden, lange bevor das System seinen chaotischen Zustand erreicht hat, d.h. seine maximale Entropie (Georgescu-Roegen 1971: 193). 10 | Metabolismus oder Stoffwechsel wird je nach wissenschaftlicher Perspektive unterschiedlich verstanden. In der Biologie und Ökologie bezeichnet Stoffwechsel die biochemische Umwandlung von rohen, von der Umwelt gewonnenen Materialien in die

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Die neoklassisch inspirierte Ökonomik kann mit ihrer auf der klassischen Physik und dem logischen Atomismus beruhenden Methode die wesentlich qualitative, zeitgerichtete und daher entropische Natur ökonomischer Prozesse nicht erfassen. Epistemologisch argumentiert Georgescu-Roegen gegen den Arithmomorphismus der Ökonomie, die bloß diskrete und somit isolierbare Einheiten zum Erkenntnisgegenstand macht.11 Damit kann sie weder qualitative Veränderungen noch kumulative Zeitlichkeit erfassen, zwei wesentliche Merkmale von organischen Prozessen. Die klassische Physik habe nämlich Wandel (change) auf Bewegung zurückgeführt und Zeit auf die (räumliche) Folge von unausgedehnten Zeitpunkten reduziert. Ausgehend von Whitehead und Bergson, behauptet Georgescu-Roegen hingegen, der Begriff von Zeitpunkten (instants of time) als primären Fakten sei einfach sinnlos (GeorgescuRoegen 1971: 69). Zeit als Kontinuum ist ein kontinuierlicher und kumulativer Fluss einander überlappender durations von ausgedehnten Ereignissen. Im Anschluss an die Debatte innerhalb der zeitgenössischen Physik und an Whiteheads Philosophie unterscheidet Georgescu-Roegen in seiner ökonomischen Theorie zwischen »time« und »Time« und bezieht sie in seine modifizierte Produktionsfunktion mit ein. Während sich die erstere auf die Messung von Zeitabständen (measure of an interval) durch eine mechanische Uhr bezieht, bedeutet der zweite Begriff einen unumkehrbaren kumulativen Fluss, d.h. »historical Time«. Zeit als gerichtetes Kontinuum – als »Time« – entspricht unserem »stream of consciousness«, d.h. der notwendigen Gerichtetheit menschlicher Erfahrung. Denn »Time« ist nur aus einer menschlichen Perspektive auf die Welt signifikant, da allein wir Menschen Zeit als unidirektionalen Strom bewusst erleben. Dies heißt aber keineswegs, dass »Time« bloß subjektiv ist. Vielmehr bildet »Time« – und somit auch der daran angelehnte Entropiebegriff – einen Brückenbegriff zwischen subjektiver und objektiver Bedeutung des Zeitbegriffs. Die Thermodynamik ist für Georgescu-Roegen somit ein Versuch, den komBausteine lebender Organismen (wie Proteine, Fischer-Kowalski 1998). Eine Ausweitung des Metabolismusbegriffs auf Prozesse, die übergeordnete Systeme umfassen (Ökosysteme), ist umstritten. Es ist vor allem das Verdienst von Marx und Engels, den Stoffwechselbegriff allgemein für den stofflichen Austausch zwischen einem Organismus und seiner Umwelt etabliert zu haben (ebd.; vgl. auch Foster 1999). Für GeorgescuRoegen ist Stoffwechsel die Grundbedingung von organischen und ökonomischen Prozessen und bezieht sich auf den energetischen und stofflichen »metabolic flow«, in dem Materie und Energie aus der Umwelt qualitativ in neue Gestalten verwandelt werden. Ein für die ökologische Ökonomik entscheidendes Forschungsfeld ist die »Social Metabolism Analysis«, die unmittelbar auf Georgescu-Roegen zurückgeht. 11 | Georgescu-Roegen lehnt mit Whitehead Russels logischen Atomismus vehement als bloße Abstraktion ab.

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plexen Begriff des Zeitkontinuums durch physikalische Gesetze naturwissenschaftlich zu erfassen. Durch das Entropiegesetz erhält die ansonsten für die biologische Evolution und die menschliche Erfahrung bedeutsame Frage der Zeitrichtung (time arrow) Eingang in die physikalische Betrachtung (Georgescu-Roegen 1971: 128f.). Jedoch bleibt auch der Entropiebegriff unweigerlich anthropomorph: »A nonanthropomorphic mind could not possibly understand the concept of order-entropy which, as we have seen, cannot be divorced from the intuitive grasping of human purposes«12 (ebd.: 277). Der Entropiebegriff wird als jene physikalische Größe eingeführt, die die Unumkehrbarkeit von qualitativen Prozessen der Energieübertragung bezeichnet. Biologische, evolutorische und somit auch ökonomische Prozesse sind durch qualitative Transformationen charakterisiert, die sich entlang des Zeitkontinuums ereignen. Sie sind somit wesentlich pfadabhängig, d.h. historisch und metabolisch.

3. W hitehe ads P hilosophie als G rundl age für G eorgescu -R oegens B ioökonomik und die ökologische Ö konomik Es ist hier unmöglich, der Komplexität von Whiteheads Philosophie auch nur annähernd gerecht zu werden. Ich weise deshalb nur auf diejenigen Aspekte hin, die für die präanalytische Vision der ökologischen Ökonomik relevant sind, insbesondere die Wissenschaftsphilosophie, das Verständnis von Sein als Zeit und ein nicht-vitalistisches Konzept von Lebewesen als teleologische Prozesse.

3.1 Epistemologie und Wissenschaftsphilosophie Primäre Aufgabe der Philosophie als »survey of science« ist für Whitehead, die jeweils notwendigen Abstraktionen der Einzelwissenschaften kritisch zu analysieren und vor dem Hintergrund der Komplexität der gesamten menschlichen Erfahrung zu überprüfen (Whitehead 1929: 15 und 1938: 2). Allerdings geht Erfahrung für Whitehead weit über die Grenzen der im Empirismus ausschlaggebenden Form der sinnlichen Wahrnehmung und ihrer Potenzierung durch technische Instrumentarien hinaus. Erfahrung umfasst auch un- und vorbewusste Formen von Fühlen, Erleben und Wissen, die – in Whiteheads Worten – in den Bereich der von Kant nicht zugelassenen blinden Anschau12 | »Ein nicht-anthropomorpher Geist wäre nicht dazu in der Lage, den Begriff der Ordnungsentropie zu verstehen, der – wie wir gesehen haben – untrennbar verbunden ist mit dem intuitiven Erfassen menschlicher Zwecke.«

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ungen fallen. Dazu gehören ästhetische und mystische Erfahrung, Zustände am Rande des Bewusstseins und emotionale Erlebnisse. Demnach soll die Philosophie »naturwissenschaftliche Theorien und alles, was sonst noch die menschliche Erfahrung ausmacht«, interpretieren (Hampe 1990: 16) und dies in einem rationalen, methodisch strukturierten System auf bereiten. Ein solches Unterfangen ist historisch offen, nicht nur weil wissenschaftliche Theorien entlang kultureller und ideengeschichtlicher Prozesse entwickelt werden, sondern auch weil die Sachverhalte und Phänomene, auf die sich solche Theorien beziehen, selbst geschichtlich und somit im Werden sind. Auch sogenannte Naturgesetze unterliegen der Veränderung und sind nicht ein für allemal gegeben (Wiehl 1971: 24-34 und Whitehead 1933: 112). Somit verabschiedet sich Whitehead vom Ideal des epistemologischen Fortschritts als progressiver Annäherung an eine bessere und umfassendere Erklärung von Phänomenen. Unbestimmtheit und Unsicherheit sind nicht nur in der provisorischen oder konstitutiven Unangemessenheit epistemologischer Instrumente und Methoden begründet, sondern liegen in der grundsätzlichen historischen Offenheit des Realen, das Whitehead als Werdensprozess (process of becoming) versteht. Jeder Erkenntnisprozess und somit jede wissenschaftliche Theorie ist eine auf Abstraktion beruhende Interpretation von Sachverhalten, die als relevant erachtet und aus dem Ganzen der Erfahrung isoliert und analysiert werden. So ist die Annahme, es gäbe neutrale Tatsachen, die sich uns vor jeder Relevanzzuschreibung aufzwingen, eine Illusion (Whitehead 1933: 155): Vielmehr sind bloße Tatsachen – Whitehead nennt sie »stubborn facts« – das Ergebnis einer Betrachtung, die von internen Relationen zugunsten der Umwelt und aller anderen Sachverhalte abstrahiert (Whitehead 1938: 9). Um dies in Analogie zum Critical Realism zu setzen, entspricht bei Whitehead die Ebene bloßer Tatsachen der des Empirischen (empirical), das aber hochgradig abstrakt ist und weder »the real« noch »the actual« einschließt.13 Die ästhetische Erfahrung einer durchgehenden Vernetzung von Entitäten und Prozessen ist vorgängig gegenüber jeder analytischen Erfassung einzelner »Fakten«. Andere Wissensformen 13 | Diese drei Ebenen haben bei Whitehead eine etwas andere Bedeutung als im Critical Realism. »The real« umfasst alle Möglichkeiten der Verwirklichung, sowohl reelle (d.h. wirksame) als auch bloß mögliche Potenzialitäten. Mögliche Potenzialitäten beziehen sich auf alle möglichen, weil logisch denkbaren Kombinationen von Relata, während reelle Potenzialitäten nur diejenigen Kombinationen einschließen, die bereits verwirklicht wurden und daher auf zukünftige Instantiierungen wirksam sind. »The actual« bezieht sich (in Anlehnung an Aristoteles und Hegel) primär auf das Wirkliche, d.h. auf das, was sich im Prozess der Aktualisierung (der Verwirklichung) befindet und nur sekundär auf vergangene Verwirklichungen. Schließlich fasst das Empirische die Ebene der Wahrnehmungsdaten, die Muster und Relationen, die in komplexeren Objekten und Phänomenen durch Wiederholung manifestiert werden.

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als der formal-empirisch gesicherte Zugang der (Natur-)Wissenschaften sind daher notwendig für die Erfassung der Komplexität von Erfahrung, die über das »Empirische« (die bloße Sinneswahrnehmung) deutlich hinausgeht. Das Problem der Abstraktion liegt nicht so sehr in der unvermeidbaren Ausschließung von Teilaspekten, sondern vielmehr in der Ausblendung jener Ausschließung selbst. Whitehead nennt diese Ausblendung »Fehlschluss der deplatzierten Konkretheit« ( fallacy of misplaced concreteness, Whitehead 1925: 51 und 1929: 7), bei dem das Abstrakte fälschlicherweise für das Konkrete gehalten wird und an dessen Stelle tritt.14 Ein solcher Fehler ist kein bloß epistemologischer Irrtum, sondern hat ontologische und sogar ethische Folgen. Denn für Whitehead liegen Epistemologie und Ontologie sehr nah beieinander: Ideen und Theorien sind wirksame Faktoren in der Welt, die sich materialisieren und Wirklichkeit (mit-)konstituieren. Dies bedeutet nicht, dass das Reale bloß sozial konstruiert ist und keine Materialität hat, sondern umgekehrt, dass Relevanzzuschreibungen und Abstraktionen den auch materiellen Status von »Tatsachen« bestimmen und das Ausgegrenzte in die (nicht nur theoretische, sondern auch pragmatische und politische) Irrelevanz verschwinden lassen. Wenn zum Beispiel in einer Kosten-Nutzen-Analyse nicht-monetarisierbare (weil nicht-arithmomorphische) Werte als Null in die Berechnung einfließen oder zukünftige Schäden in der Erwartung von Zinssteigerung und Wachstum zum heutigen Wert abdiskontiert werden, konstituiert dies Wirklichkeit in einem fast wortwörtlichen Sinn.15 Der neuzeitliche Naturbegriff resultiert aus einer solchen unreflektierten Abstraktion. Die Annahme einer passiven und teilbaren Materie, in die Relationen als bloß äußerliche Verbindungen hineinprojiziert werden, lässt sich für Whitehead keineswegs aus unserer unmittelbaren Erfahrung im erweiterten Sinne ableiten. Vielmehr beruht sie auf einer allgemein akzeptierten und daher nicht weiter reflektierten epochalen Weltsicht, die Whitehead szientistischen Materialismus nennt: »the ultimate fact of an irreducible brute matter, or material, spread throughout space in a flux of configurations. In itself such a 14 | Lawson bezieht sich auf dieses Konzept in seiner Kritik der ökonomischen Abstraktion: »Solchen Ereignisregularitäten eine Existenz unabhängig von den Mechanismen (und den Bedingungen, unter denen Mechanismen isoliert werden können) zuzuschreiben, bedeutet einen – wie Whitehead ihn nennt – Fehlschluss der deplatzierten Konkretheit zu begehen: Etwas wird als getrennt von seinen notwendigen Beziehungen zu anderen Dingen behandelt, womit eine Abstraktion konkreter wird als sie ist« (Lawson 2003: 290). In der Tat ist das Konkretum für Whitehead der Knoten aller aktualer (wirklicher und wirksamer) Relationen. 15 | Das Beispiel stammt nicht von Whitehead. Es sind vielmehr Georgescu-Roegen und Daly, die Whiteheads Konzept der deplatzierten Konkretheit umfassend gegen die Mainstreamökonomik verwendet haben.

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material is senseless, valueless, purposeless. It just does what it does do, following a fixed routine imposed by external relations which do not spring from the nature of its being. It is this assumption that I call ›scientific materialism‹«16 (Whitehead 1925: 17). Die durchaus metaphysische Annahme des szientistischen Materialismus von getrennten, passiven Materieteilchen unterminiert zunächst epistemologisch die Grundlage der induktiven Methode selbst, da die kausale Verbindung getrennter Entitäten keineswegs empirisch zugänglich ist, wie Hume folgerichtig gezeigt hat: »Äußere Gegenstände, wie sie den Sinnen erscheinen […] [bieten] keine Vorstellung von Kraft oder notwendiger Verknüpfung« (Hume 1751: Abschnitt VII, Teil I, S. 74). Diese äußeren Gegenstände, wie sie den Sinnen erscheinen, sind für Whitehead jedoch keine primären unmittelbaren Wahrnehmungsobjekte, sondern bereits durch Abstraktion gewonnene und isolierte Daten.17 Wie auch im Critical Realism ist die Ebene des Empirischen keineswegs identisch mit der des Realen, sondern resultiert aus einer nicht-explizierten Abstraktion. Somit tritt sie anstelle des Realen und reproduziert den Irrtum der deplatzierten Konkretheit. Wie der Critical Realism ist Whitehead ebenfalls überzeugt, dass Kausalität durchaus ontologisch begründbar ist und dass sie nicht bloß aus der wiederholten zeitlichen Folge von Phänomenen per Inferenz abgeleitet wird. Anders als der Critical Realism versucht er aber die Bedingungen der Denkbarkeit einer solchen Kausalität philosophisch zu artikulieren und Kausalität als interne Relation einer »aktiven« Aufnahme analog zum Phänomen der Erfahrung zu erklären, wie ich im Folgenden erläutern werde. Da aber eine solche aktuale Wirksamkeit nicht auf der Ebene der empirischen Wahrnehmung zugänglich ist, auf der sich stattdessen nur die Wiederholung von ähnlichen Mustern und Verknüpfungen manifestiert, muss sie durch Bezugnahme auf das Ganze der Erfahrung und durch spekulative Rekonstruktion erschlossen werden. Dem Critical Realism zufolge soll nach der Wirkungsweise eines Gegenstandes bzw. der generativen Mechanismen gesucht werden, die beobachtbaren Regelmäßigkeiten unterliegen. Die Identifizierung der spezifischen Me16 | Sinngemäß kann man dies so übersetzen: »die letztgültige Tatsache einer bloßen Rohmaterie bzw. eines Materials, das in einem Fluss der Konfigurationen im Raum verteilt ist. An sich ist ein derartiges Material bewusstlos, besitzt keinen Wert und ist nicht zweckorientiert. Es tut nur, was es eben tut, und folgt dabei einer fixen Routine, die ihm durch externe Relationen aufgezwängt wird, die nicht aus seiner internen Beschaffenheit entspringt. Es ist diese Auffassung, die ich als ›szientistischen Materialismus‹ bezeichne.« 17 | So auch Krämer: »Eine Induktion ist aber nur möglich, wenn die Einzeldaten nicht in dieser Weise eigenständig sind und es in dem unmittelbar Gegebenen einen wesentlichen Bezug auf Vergangenheit und Zukunft gibt« (Krämer 1994: 205).

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chanismen erfolgt dabei in den Einzelwissenschaften und nicht durch eine philosophische Untersuchung. Was letztlich die Mechanismen sind, inwieweit sie sich von den beobachtbaren Gegenständen und Phänomenen unterscheiden, bleibt etwas obskur. Whitehead skizziert eine Ontologie, die nach den Bedingungen der ontologischen Möglichkeit – und Denkbarkeit – eines solchen Kausalitätsverständnisses fragt und die selbstverständliche Annahme von »Objekten« und »Gegenständen« zunächst ebenfalls infrage stellt. Die Identifizierung spezifischer Relationen, deren kausale Wirksamkeit von besonderer Relevanz für die Erklärung eines Phänomens ist, erfolgt durch eine interpretative Herangehensweise: Durch Herantasten kann man Einflüsse und Relationen identifizieren, die eine viel stärkere Relevanz für ein Phänomen haben als alle anderen, mit denen es (durchaus auch qua interner Relationen) ebenfalls verbunden ist. Der Weg wissenschaftlicher Forschung ist somit hermeneutisch, da es um die Rekonstruktion von Geschichten, Relationen und signifikanten Verbindungen geht, die in einen sinnvollen und plausiblen Zusammenhang gebracht werden und am Ganzen der Erfahrung geprüft werden.

3.2 Ontologie und Naturphilosophie Der neuzeitliche Naturbegriff ist laut Whitehead Resultat einer binären Spaltung (»bifurcation of nature«, Whitehead 1920: 26ff.) zwischen den sogenannten primären Eigenschaften, die »an sich« in den Dingen zu finden und quantitativ messbar sind, und den sekundären Eigenschaften, die erst im Subjekt der Wahrnehmung in Erscheinung treten und unabhängig davon nicht existieren. Die Trennung zwischen diesen zwei Eigenschaftskategorien bahnte den Weg für die mathematische Betrachtung des Gegenstandes und dessen quantitative bzw. tabellarische Systematisierung. Dies geschah allerdings auf Kosten anderer Aspekte, die diesem Ansatz nicht genügten: Gerüche, Farben, Geschmacksqualitäten, aber auch innere Zustände, Emotionen und Empfindungen konnten nicht auf diese Weise beschrieben werden und entzogen sich daher einem Mathematisierungsversuch. Natur und Erfahrung sind hingegen für Whitehead untrennbar, sie implizieren einander. In unserer unmittelbaren Erfahrung sind wir mitten in einer Welt aus Farben, Lauten und weiteren Sinnesobjekten (Whitehead 1925: 89); alles was wahrgenommen wird, ist in der Natur: »For us the red glow of the sunset should be as much part of nature as the molecules and electric waves by which men of science would explain the phenomenon«18 (Whitehead 1920: 29). 18 | »Für uns sollte das Rot des Sonnenuntergangs genauso Teil der Natur sein wie die Moleküle oder elektrischen Wellen, mit denen die Wissenschaftler dieses Phänomen erklären.«

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Überdies kann auf dieser Grundlage einer Spaltung der Natur das Lebendige nicht adäquat verstanden werden, denn es wird nur als eine gut funktionierende Maschine beschrieben, aus der Empfindungen und Wahrnehmungen ausgeschlossen bleiben. Zwischen der mechanistischen Physik und der Subjektphilosophie bleibt für eine Theorie des Lebendigen kein Platz übrig, wie Hampe zeigt: »Sie musste auf Mechanik plus Theorie des Geistes reduziert werden« (1990: 169). Leben kann aber nur unter Einbeziehung der Kategorie der Zeit als Dauer verstanden werden. Organismen (ver-)brauchen Zeit und können als solche nur über Zeitausdehnung begriffen werden. Will man am neuzeitlichen Materialismus festhalten, so muss man von der Zeit abstrahieren, denn der »Zeitpunkt«, zu dem ein Materieteil als Ganzes betrachtet wird, entsteht nur durch eine Reduktion der Dimension Zeit auf eine Ausdehnung gleich Null. Dies impliziert, dass die Zeit nur als Bewegung des Materieteils im Raum von einem Zeitpunkt zum anderen betrachtet wird. Diese Betrachtung führte im 17. Jahrhundert zu der Vorstellung einer Welt, die aus der Abfolge augenblicklicher Materiekonfigurationen besteht. Wie man aber von einem Augenblick zum nächsten kommen kann, d.h., wie diese miteinander verbunden sind, kann der Materialismus nicht erklären. Um Zeit als Fluss zu verstehen, müssen wir uns – der Spaltung der Natur folgend – eher an die Subjektphilosophie wenden, in der nicht umsonst Zeit schon seit Augustinus als das Merkmal des inneren subjektiven Prozesses einer Seele oder Psyche betrachtet wurde. So konnte die zeitliche Dimension aus der Natur ausgeklammert und in das Subjekt exportiert werden. Zeit als kontinuierlicher Prozess und als Dauer blieben der inneren Dimension des Wahrnehmens und Denkens vorbehalten, und das Konzept interner, konstitutiver Relationen umfasste nur den Übergang zwischen den verschiedenen Bewusstseinszuständen. Wie Hampe gezeigt hat, brauchten die jungen Naturwissenschaften die Entwicklung einer Philosophie des wahrnehmenden Subjektes als Pendant für ihre »reduzierte« Naturauffassung, um die Ausschließung aus dem Einzugsbereich des wissenschaftlichen Zugangs von allem Lebendigen, Empfindendem und Erfahrendem zu rechtfertigen. In der »Entdeckung der Subjektivität« wollten die Philosophen »eher eine Müllkippe ausfindig machen, auf der sie all das, was nicht in die neue Physik passt, abladen« konnten (Hampe 1990: 168). Wenn man aber jenseits der Spaltung von Natur die Ausdehnung der Zeit ontologisch erfassen will, müssen Zeitvolumen genauso wie beim Raum als überlappend, d.h. als sich übereinander ausdehnend, betrachtet werden. Ausgehend von einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Zeitbegriff der neuzeitlichen Physik und deren Kritik in der Relativitätstheorie, auf die ich hier nicht im Detail eingehen kann, kommt Whitehead zu dem Schluss, dass Natur als Verlauf (passage of nature) zu verstehen und daher Permanenz eine Konse-

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quenz des Werdens ist.19 Wenn wir das Fortwähren eines Gegenstandes nicht als völlig zeitlos – als einen ewigen Augenblick – betrachten wollen, können wir uns die zeitliche Ausdehnung eines Materieteils nur als die Folge der internen Relationen vorstellen, die dieses Teil mit sich selbst hat: »Time would have to be expressible in terms of the relations of a bit of matter with itself«20 (Whitehead 1920: 24). Nimmt man die Zeit als ausgedehnte Dimension ernst, so kann man nicht mehr die letzten Grundelemente der Welt als Materieteile denken: Vielmehr muss man von ausgedehnten und intern verbundenen Ereignissen ausgehen: »The true relata are events«21 (Whitehead 1920: 24). Die innere Verbindung der sich selbst verwirklichenden Fundamentalereignisse macht den Verlauf der Natur aus. Anders als im Critical Realism sind hier Ereignisse fundamentalontologisch gemeint – sie sind also nicht identisch mit den Phänomenen, die die Naturwissenschaften als Ereignisse beschreiben, und sind auch nicht bloß die kleinsten Bauteile des Universums. Fundamentalereignisse sind die einzigen wirklichen und wirksamen Entitäten, die durch ihre internen Relationen die Komplexität der Welt hervorbringen. Dass es etwas gibt und nicht vielmehr nichts, ist für Whitehead keine Selbstverständlichkeit einer permanenten Welt im Sinne der Substanzmetaphysik, sondern das Ergebnis einer konstanten Hervorbringungstätigkeit, welche den Verlauf der Natur vorantreibt. Der Verlauf der Natur besteht aus Entstehen und Vergehen, aus atomaren Vollzügen, die genau dieses Übergehen, dieses »Passieren« – im doppelten Sinne von Geschehen und Vergehen – hervorbringen. Während im Verständnis des Critical Realism nur bestimmte Relationen intern, und zwar im Sinne einer Ko-Implikation von Funktionen, zu sein scheinen,22 sind in Whiteheads Ereignisontologie zunächst alle Rela19 | Weitet man den Ausdehnungsbegriff auf die Zeit aus, d.h. unterstellt man keine Reihe von getrennten Zeitpunkten, deren Verbindung sonst nicht zu erklären wäre, muss man von ausgedehnten Ereignissen ausgehen, die einander überlappen. Wie der Ablauf zustande kommt, kann nur durch die innere Verbindung einzelner Ereignisse erklärt werden. Diese Verbindung, die den »Verlauf der Natur« (passage of nature) ausmacht, von dem die Zeit der Physik ein derivativer Begriff ist, wird von Whitehead als kausal verstanden. 20 | »Zeit ließe sich in Form der Beziehungen ausdrücken, die ein Materiestück zu sich selbst unterhält.« 21 | »Die wahren Relata sind Ereignisse.« 22 | »Zwei Typen von Relationen müssen unterschieden werden: externe und interne. Zwei Objekte oder Aspekte sind extern miteinander relationiert, wenn keines der beiden durch ihre gemeinsame Beziehung konstituiert wird. Beispiele hierfür sind Brot und Butter, Kaffee und Milch, der bellende Hund und der Postbote oder zwei aneinander vorbeilaufende Fremde. Im Unterschied dazu sind zwei Objekte intern miteinander relationiert, wenn das, was sie sind, aus ihrer Beziehung zueinander resultiert. Das Ver-

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tionen ontologisch intern, da sie zukünftige Ereignisse kausal konstituieren, wenn auch mit unterschiedlicher Relevanz und Bedeutsamkeit.23 Komplexe Gegenstände und Objekte sind das Ergebnis einer spezifischen Organisationsform von Relationen, die immer wieder hervorgebracht wird. Ein Tisch ist das, was er ist, weil die Organisationsstruktur der Relationen, die ihn zum Tisch machen, ständig und mit vernachlässigbaren Variationen reproduziert wird. Was wir als eine permanente Entität mit spezifischen Eigenschaften wahrnehmen, besteht aus der unaufhörlichen Wiederholung (im Sinne von re-enacting) ähnlicher Relationsmuster. Nicht umsonst wird Whiteheads Philosophie sehr stark auch von der Quantenphysik rezipiert. Im Unterschied zu dieser sind aber die Fundamentalereignisse bei Whitehead nicht die kleinsten Bestandteile der Welt, sondern Vollzüge unterschiedlicher Größenordnung. Weniger fundamentalontologisch betrachtet, eignet sich diese Perspektive insbesondere, um die organischen Prozesse von Lebewesen zu verstehen: Die komplexe Struktur eines Organismus resultiert aus der kontinuierlichen Reproduktion ähnlicher Relationsmuster, wobei einige relativ konstant sind, während andere große Variabilität aufweisen.

3.3 Ursachenlehre und interne Relationen Die Verbindung zwischen den durations ist für Whitehead eine besondere kausale Relation, die nicht die externe Verursachung zwischen Materieteilen, sondern analog zum humeschen Affektionsbegriff eine interne Kausalität bezeichnet. Verursachung kann für Hume nicht empirisch beobachtet, sondern nur per Inferenz auf die Verknüpfung zwischen Phänomenen zurückgeführt werden, da in der Wahrnehmung der Übergang von dem einen zu dem anderen nur als zeitliche Reihenfolge offenbar wird (Hume 1739: Teil III, Abschnitt II, S. 73ff. und Teil III, Abschnitt VI, S. 116ff.). Whitehead stimmt mit Hume zwar überein, dass Verursachung, ausgehend von einer materialistischen Auffassung der Natur, in der Tat nicht begründet werden kann. Denn genau die Verneinung einer Aktivität in der Materie wird bei Hume zum Argument für die Unbegründbarkeit der Kausalrelation: Die Wirkung eines Ereignisses auf ein anderes, dem die Ursache zugeschrieben werden könnte, lässt sich empirisch hältnis von Grundherr und Pächterin, von Kapitalistin und Lohnarbeiterin, Lehrerin und Schülerin, zwischen einem Magnet und seinem Feld kommen hierfür in Frage.« (Lawson 2003: 254) 23 | Relevanz ist nicht bloß eine Zuschreibung im Auge des Betrachters. Da für Whitehead alles Wirkliche interne Relationen zu virtuell allem Anderen besitzt, stellt sich die Relevanzfrage auch ontologisch: Welche Relationen und Ursachen sind stärker bzw. einflussreicher im Prozess der Selbstverwirklichung von neuartigen Entitäten?

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nicht nachweisen (Hume 1751: Abschnitt IV, Teil I, S. 35ff.). Da passive Materie und generell »inanimate objects« für Hume keine Aktivität besitzen, können sie auch keine Wirkung auf andere Phänomene ausüben. Diese Unbegründbarkeit resultiert für Whitehead allerdings aus den Annahmen des neuzeitlichen Naturbegriffs sowie aus einem naiven Verständnis von Zeit als bloßer Aufeinanderfolge von punktuellen und extern verbundenen Ereignissen (vgl. Whitehead 1927: 35). Der Übergang von einem Ereignis zum nächsten lässt sich nur durch die Einbeziehung eines Prinzips aktiver Wirkung erklären, wie auch Dorothy Emmet hervorhebt: »For a cause-event to have an effect, and not just a de facto successor, some stronger view of the cause-event actively producing the effect is needed«24 (Emmet 1984: 162). In diesem Sinne bewegt sich Whitehead auf einem ähnlichen Pfad wie der Critical Realism, für den Dinge keine passiven Objekte, sondern »causal agents« sind (vgl. Lindner 2014). Anders als der Critical Realism erklärt Whitehead diese Aktivität jedoch ontologisch als Selbstgestaltungstätigkeit der Fundamentalereignisse, die Dinge und Objekte hervorbringen. Laut Whitehead hat Hume allerdings selbst einen Weg aus diesem Dilemma gewiesen, indem er von einer zweiten Form der kausalen Wirkung sprach, ohne diese allerdings in Verbindung mit der ersten zu bringen. Diese bezieht sich auf den Affektionsbegriff, der von Hume selbst für die Entstehung von sekundären Qualitäten verantwortlich gemacht wird (Hampe 1990: 57f.). Affektion bezeichnet für Hume eine Veränderung der Subjektivität, die Spontaneität und subjektive Aktivität impliziert; sie erklärt die Entstehung der Impressionen aus der Wahrnehmung und wird auf die Aktivität des Körpers zurückgeführt. So verstanden ist Kausalität eine interne Relation, die sich in der Zeitlichkeit der Erfahrung manifestiert. Vor allem am Modell des Gedächtnisses wird deutlich, dass kausale Relationen sehr wohl erfahrbar sind, wie Dorothy Emmet kommentiert: »If Hume wanted direct experience of causation he should have looked at memory«25 (Emmet 1984: 176). Kausalität ist der interne Übergang von einem vergangenen (bereits gewordenen) zu einem gegenwärtigen (werdenden) Zustand (ebd.: 177) und erzeugt den Verlauf der Natur. In der Erinnerung wirkt eine vergangene Erfahrung intern auf die Gestaltung der gegenwärtigen Erfahrung, ohne diese jedoch vollständig determinieren zu können, denn die Form, mit der diese neue Erfahrung gefühlt wird, hängt von dem werdenden Zustand und nicht vollständig von den vergangenen Erinnerungen ab.

24 | »Damit ein ursächliches Ereignis eine Wirkung und nicht nur einen faktischen Nachfolger hat, muss es als etwas betrachtet werden, das aktiv die Wirkung produziert.« 25 | »Für eine direkte Erfahrung von Verursachung hätte sich Hume dem Gedächtnis zuwenden müssen.«

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Die zeitliche Folge des Gedächtnisses wird als unumkehrbarer kausaler Prozess im Sinne einer Abstammung und Vererbung aus der Vergangenheit dargestellt. Vergangene Entitäten sind in jedem werdenden Ereignis immanent präsent. Daher spricht Whitehead von konstitutiven internen Relationen. Die Abfolge von überlappenden durations ist aufgrund ihrer kausalen internen Verbundenheit kumulativ und daher irreversibel: Sie entwickelt sich nur in eine Richtung, die des »Fortschritts zum Neuen« (advance into novelty). Auf Grundlage dieses spekulativen Versuchs, Zeit ontologisch zu denken, oder vielmehr, Sein kohärent als Zeit zu denken, kommt Whitehead zu dem Schluss, dass die aktive Wirksamkeit vergangener Ereignisse in neue, werdende Ereignisse ebenfalls aktiv aufgenommen und organisiert wird, sodass kohärente Formen überhaupt entstehen können. Erfahrung wird als Modell dieser Wirksamkeit zugrunde gelegt, wobei Erfahrung hier als technischer Begriff zu verstehen ist (interne, konstitutive Relationen, die aktiv in eine neue Gestalt gebracht werden) und weder Psyche noch Bewusstsein voraussetzt.26 Diese aktive Tätigkeit, die an der Erfahrung modelliert wird, nennt Whitehead mit Bezugnahme auf Bacon »taking into account«. Aus der Perspektive des Verlaufs der Natur handelt es sich um Kausalvektoren, die in eine neue Form aufgenommen und koordiniert werden. Wenn man an Kants Transzendentale Ästhetik denkt, so ist hier ebenfalls die Kombination von Gegenstand und Form das Spezifische der Erfahrung, wobei die Form der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen Ordnung und Struktur verleiht. Anders als bei Kant haben wir es hier allerdings nicht mit sinnlicher Wahrnehmung zu tun. Whitehead spricht von einem »Erfassen« (prehension), welches er von bewusstseinsmäßigem Erschließen (apprehension) unterscheidet. Obwohl das Vokabular anthropomorph klingt, handelt es sich nicht um eine Form von Panpsychismus, nach dem Bewusstsein allen ontologischen Ebenen zugeschrieben wird. Im Gegenteil: Die Form der Kausalität nach dem Modell der Affektion – ontologisch verstanden – ist die Grundlage für die Entstehung von Bewusstsein bei komplexeren Organismen. Bereits auf fundamentalontologischer Ebene kann bloße Wirkursächlichkeit den Verlauf der Natur nicht zufriedenstellend erklären. Virtuell unendliche Kausalvektoren können nicht automatisch eine neue Gestalt hervorbringen, sie würden sich vielmehr gegenseitig neutralisieren und zu »cross-currents 26 | Es handelt sich hier um eine ontologische Analyse, die nicht bloß anthropomorph im Sinne einer Projektion in die »Natur« als separate ontologische Ebene erfolgt. Nimmt man die Kritik an der Spaltung der Natur ernst, kann man diese Trennung nicht mehr aufrechterhalten. Erfahrung ist in ihrer Struktur nicht außerhalb der Natur, sondern eine ontologische Form der Relation, die interne Relationen und aktive Formung (Gestaltung) vergangener Einflüsse in sich verbindet. Bewusstsein ist somit eine besondere, hochkomplexe Manifestation dieser spezifischen Relationsform.

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incompatibilities«27 führen (Whitehead 1929: 247). Damit die Kausalwirkung zur Hervorbringung neuer Gestalten beitragen kann, wird ein Konzentrationspunkt der Vektoren benötigt, der die Wirkungskräfte anzieht und durch Selektion und Kanalisierung ordnet. Dieses verwickelte Netz mannigfaltiger Bedingungen kann kein einfaches Ergebnis von zufälligen Verbindungen sein, denn der Prozess, in dem aus der Vielfalt unzähliger sich reziprok widersprechender Bedingungen eine kohärente Einheit entsteht, bedarf einer Orientierung aus seinem noch nicht verwirklichten Ganzen heraus. In diesem antizipierten Ganzen als Selektions- und Konzentrationspunkt kristallisiert sich eine Form von Zwecktätigkeit, die weder intentional noch bewusst ist, aber die vergangenen Einflüsse in eine neue kohärente Gestalt zusammensetzt. Es handelt sich um eine Protoform von Teleologie, die intern, pluralistisch und partikular ist, aber auf der Einbeziehung von internen Relationen und der Antizipation möglicher zukünftiger Zustände beruht. Es geht hier eben nicht um eine allgemeine Zweckorientierung »der« Evolution oder »der« Natur, sondern um zwecktätige Selbstverwirklichungsprozesse. Whitehead erklärt dadurch beide Formen des Kausalitätsverständnisses: Wiederholung von Mustern, die wir durch unsere Sinneswahrnehmung erkennen, und die Wirksamkeit von Fundamentalereignissen, die diese hervorbringen. Letztere sind aber keine »Mechanismen«, sondern Gestaltungsprozesse, in denen aus virtuell unendlichen Kausalvektoren kohärente Strukturen hervorgebracht werden, indem Formen und Relationen mit relativer Stabilität wiederholt werden. Auf empirischer Ebene wird aber nur die Wiederholung von Mustern und die Reproduktion des Ähnlichen beobachtet. Der Zugang zu der fundamentalontologischen Wirksamkeit ist nicht unmittelbar empirisch gegeben, sondern nur durch Spekulation und die intern und phänomenologisch zugängliche Erfahrung des Gedächtnisses rekonstruierbar.

3.4 Lebewesen als zwecktätige kreative Prozesse Verlässt man die spekulative Perspektive fundamentalontologischer Voraussetzungen, tritt Teleologie wieder auf der ontologischen Ebene von Lebewesen auf, und zwar als notwendige Bedingung, um überhaupt Leben adäquat verstehen zu können. Auf dieser Ebene erst wird sie überhaupt erfahrbar (im erweiterten Sinne von Erfahrung, denn »empirisch beobachtbar« ist Zwecksetzung genauso wenig wie Freiheit, folgt man Kant).28 Die verschiedenen onto27 | Damit gemeint sind unvereinbare und sich gegenseitig ausschließende Faktoren. 28 | Whitehead entwickelt ein spekulatives Argument für Teleologie. Es wäre durchaus möglich, ein transzendentalpragmatisches oder ein phänomenologisches Argument zumindest auf der ontologischen Ebene von Lebewesen und Tieren zu entwickeln, wie ich ansatzweise an anderer Stelle versucht habe (Muraca 2010: Kap II und V).

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logischen Ebenen und komplexen Entitäten (Planeten, Tiere, Pflanzen, Berge etc.) ergeben sich für Whitehead aus der unterschiedlichen Form der Organisation interner Relationen. Nicht-lebendige Strukturen bestehen aus einer relativ konstanten Wiederholung ähnlicher Relationsmuster, die als gemeinsames Formelement immer wieder aktualisiert wird. Der Hauptunterschied zwischen nicht-lebendigen und lebendigen Strukturen liegt in der jeweiligen Fortdauernsstruktur: Während bei nicht-lebendigen, komplexen Entitäten Einflüsse ausgeblendet werden, die sie aus dem Gleichgewicht bringen würden, sodass diese zur relativ konstanten Wiederholung gleicher Muster tendieren, folgen Lebewesen der gefährlichen Strategie einer möglichst breiten Offenheit gegenüber der Umwelt und ihren Einflüssen. Selbstgestaltung erweist sich bei Lebewesen somit als relevant für den gesamten Organismus und gewinnt dadurch eine erfahrbare, wenn auch nicht empirisch messbare Dimension. Whiteheads Verständnis von Leben ist erstaunlich nah an den neueren Ansätzen der Chaos- und Selbstorganisationstheorie. Um Begriffe wie Teleonomie oder aber die bloß metaphorische Verwendung teleologischer Begriffe kommt die Biologie nicht herum. Während einige Denker wie u.a. Mahner und Bunge jegliche teleologische Sprache als religiöses Residuum abtun, haben zahlreiche andere Forscherinnen gezeigt, dass Leben sich gänzlich ohne Rekurs auf teleologische Begriffe nicht verstehen lässt (vgl. Koutroufinis 2007). Zumindest als notwendige Grenzbegriffe im Sinne Kants müssen sie daher epistemologische Verwendung finden. Aus Angst vor einer Universalteleologie, die in der Tat intelligent design oder religiösen Weltdeutungen Tür und Tor öffnen könnte, werden teleologische Begriffe jedoch eher vermieden. Das ist aber nicht notwendig, wenn man eine ontologische Grundlage für eine pluralistische interne Teleologie liefert, die solche Gefahren umgeht. Gerade Antizipation und Zwecktätigkeit scheinen notwendige Bedingungen für Leben zu sein. Denn anders als anorganische, offene Selbstorganisationssysteme suchen Lebewesen – wie bereits erwähnt – aktiv nach Störungen, die sie aus ihrem internen entropischen Gleichgewicht bringen. Ich folge an dieser Stelle Evelyn Fox Keller in ihrer Unterscheidung zwischen Zwecktätigkeit und Zwecksetzung (agency versus intentionality). Zwecktätigkeit bezeichnet eine aktive, interne Gestaltungsaktivität, die über bloße Zweckmäßigkeit hinausgeht (die »Form« und das Aussehen von Teleologie hat), zugleich aber auch keine Intentionalität oder bewusste Zwecksetzung impliziert (Keller 2005; Muraca 2007). Wie Keller gezeigt hat, werden bei der Selbstorganisationstheorie die Grenzen des Experiments so gezogen, dass das aktive »Selbst«, das die Störungen des Systems intentional verursacht, außerhalb des Systems steht: Es handelt sich nämlich in diesem Fall um die Forscherinnen! Diese Form von »agency« ist bei Lebewesen aber Teil des Systems selbst. Die Suche nach Ernährung, Wärme, Energie ist eben diese aktive Suche nach Störungen, die das System fern vom entropischen Gleichgewicht hält.

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Leben ist für Whitehead das Ergebnis einer gelungenen Strategie, hohe Komplexität mit Fortbestehen zu verbinden. In einem Lebewesen werden neuartige Elemente aus der Umwelt aufgenommen und mit den Organismus konstituierenden (Mit-)Gliedern in Einklang gebracht, sodass die gesamte Struktur selbst Neuigkeit hervorbringen kann, um sich mit den Neuigkeiten der Umwelt auseinanderzusetzen, anstatt diese mittels Abstraktion außer Acht zu lassen (Whitehead 1929: 102). Lebewesen kanalisieren die große Anzahl von Einflüssen in neue originelle Gestalten: »Apart from canalization, depth of originality would spell disaster for the animal body. With it, personal mentality can be evolved, so as to combine its individual originality with the safety of the material organism on which it depends«29 (ebd.: 107). Nur unter dieser Bedingung kann sich in spezifischen Fällen auch Bewusstsein entwickeln. Aufgrund dieser Offenheit sind Lebewesen viel mehr als andere Entitäten auf den wesentlichen Austausch mit der Umwelt angewiesen, um ihre durch neue Einflüsse aus dem Gleichgewicht geratende Stabilität immer wieder herzustellen. Lebewesen riskieren ständig, aus dem fragilen Gleichgewicht zwischen Neuigkeit und Fortbestehen zu fallen. Der Stoffwechsel ist die einzige Möglichkeit, dieses Gleichgewicht durch ein enges Interagieren mit der Umwelt wieder herzustellen (ebd.: 106). In Whiteheads Definition wird Leben nicht als Eigenschaft bestehender Wesen oder Prozesse, sondern als eine Aktivität, eine Quasi-Handlung bestimmt, die nicht objektiv beschrieben werden kann, sondern in ihrem Verhalten erkennbar wird: Leben ist ein Prozess, der operiert, als wäre es eine katalytische Handlung, ein Verstärker für die Entstehung von Neuartigkeit: »Life acts as though it were a catalytic agent«30 (ebd.).31 Der Critical Realism erklärt die kausale Komplexität, die auch »Leben« als Eigenschaft charakterisiert, hingegen auf der Grundlage von Emergenz – ein Begriff, der in den Lebenswissenschaften mittlerweile fest etabliert ist. Emergenz soll »eine Passage eröffnen, die zwischen der Skylla des atomistischeliminativen Materialismus und der Charybdis holistischer Lebens- bzw. Geistphilosophien hindurchführt« (Lindner 2014: 214). Demnach lassen sich emergente Eigenschaften, die sich in einer komplexeren Struktur manifestieren, nicht auf die Eigenschaften ihrer Bestandteile reduzieren. Für den Critical 29 | Sinngemäß kann man die Passage wie folgt übersetzen: »Ohne die Fähigkeit zu Kanalisieren wäre die Hervorbringung radikaler Neuartigkeit für einen lebendigen Organismus fatal. Durch Kanalisierung kann sich hingegen eine zentrale geistige Koordinierung entwickeln, die die individuelle Neuartigkeit mit der Stabilität des materiellen Organismus kombiniert, von der sie abhängt.« 30 | »Leben handelt, als wäre es ein katalytischer Akteur.« 31 | Es handelt sich nicht umsonst um eine »Als-ob«-Betrachtung, weil keine empirische Beobachtung von Zwecktätigkeit möglich ist.

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Realism sind zudem die emergenten Eigenschaften eines Objektes »gleichbedeutend seinen causal powers« (Lindner 2014: 215, vgl. Elder-Vass 2010: 17). Mit Elder-Vass gesagt: »Auf jeder Ebene besitzen Entitäten eigenständige Kausalkräfte, und zwar aufgrund der spezifischen Weise, in der sie ihre, einer tieferen Ebene angehörigen Bestandteile organisieren« (Elder-Vass 2010: 50). Zum einen bietet die Verwendung des Emergenzbegriffs aber per se keinen Schutz gegen den epistemologischen Reduktionismus: Wenn emergente Eigenschaften dispositional aufgefasst werden (Entitäten auf niedrigeren ontologischen Ebenen haben die Disposition, bestimmte Eigenschaften zu manifestieren, wenn sie in bestimmten relationalen Zusammenhängen auftreten), so wird indirekt eine Rückführung auf die Bestandteile ermöglicht, die oft durch strategische Sprachanwendung kaschiert wird (vgl. Hoyningen-Huene 1994). Zu sagen, bestimmte Eigenschaften seien Entitäten inhärent, aber nur dispositional, bedeutet immer noch, sie auf die ontologisch niedrigstufigeren Ebenen zurückzuführen und ihre Manifestation auf der Grundlage von nicht weiter erläuterten kausalen Mechanismen erklären zu wollen. Die »causal powers« der Teile klingen aber so nicht weniger mysteriös als manche vitalistische Erklärungen von Kräften. Die Emergenztheorie bleibt außerdem aus einer prozessphilosophischen Perspektive in der unkritisch reproduzierten Annahme der neuzeitlichen Substanzmetaphysik verfangen, derzufolge permanente Entitäten und Objekte Eigenschaften besitzen. Selbst das Verständnis von internen Relationen im Critical Realism integriert nicht den ontologischen Relationismus: denn die sogenannten internen Relationen bestehen im Grunde eigentlich extern zwischen Entitäten, die sich auf der niedrigeren ontologischen Stufe befinden (somit sind sie »intern« nur aus der Perspektive der höherstufigen Entität, die sie einschließt). Whiteheads Prozessphilosophie leistet hingegen in der Tat eine Synthese von Materialismus und Geistphilosophie, die weder einem naiven Holismus verfällt noch auf die Einführung von übernatürlichen Kräften wie im Vitalismus rekurriert. Da die fundamentalontologische Ebene aus sich selbst hervorbringenden Ereignissen und nicht aus Entitäten besteht, haften Eigenschaften nicht an Objekten, nicht mal an den kleinsten Partikeln. Was wir Eigenschaften nennen, sind Relationen, die Dinge und Objekte überhaupt erst konstituieren: Relationen haben ontologische Priorität, d.h., dass aus Relationen erst Entitäten hervorgehen und nicht andersherum. Es gibt keine kleinste Entität, die causal powers besitzt und dispositional komplexere Relationen ermöglicht. Etwas ist, was es ist, aufgrund seiner spezifischen Relationen und der Art und Weise, in der diese strukturiert und organisiert sind.32 So entsteht auch Neuartigkeit, nicht weil sie dispositional in der Beschaffenheit niedrig32 | Hiermit wäre der Critical Realism einverstanden, würde aber die Relationen letztlich auf die dispositionalen Eigenschaften der Teile zurückführen – selbstverständlich

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stufiger Strukturen enthalten war, sondern weil sie durch neue Kombinationen hervorgebracht und durch Wiederholung und Antizipation stabilisiert wird (novelty by combination). Whitehead nennt komplexe Strukturen wie Bäume oder Tiere »societies«, um auf ihre relationale Beschaffenheit hinzuweisen. Solche »societies« haben unterschiedliche Organisationsformen – metaphorisch kann Whitehead sagen, dass Pflanzen »Demokratien« sind, da sie anders als Tiere kein hierarchisches Organisationszentrum besitzen. Die Art und Weise, wie Lebewesen sich selbst immer wieder regenerieren, reproduzieren und entwickeln, lässt sich mit der Konstitution von Gesellschaften vergleichen (es geht hier um einen Vergleich und nicht um eine Reduktion!), in denen verschiedene Strukturen, mehr oder weniger koordiniert und organisiert, relational andere hervorbringen und durch ständige Vermittlungen eine provisorische und offene Kohärenz ermöglichen. Die Unterscheidung ist somit nicht »in kind«, sondern graduell, wobei wichtige Schwellen entscheidend sind, wie die höhere Selbstbestimmung und Antizipationsfähigkeit bestimmter Organismen, oder aber die strengere hierarchisch organisierte Kohärenz eines »animal body« versus der losen Formen des Zusammenhaltes, wie in einem Ökosystem oder aber auch in menschlichen Gesellschaften, in denen vor allem die Wiederholung von Praktiken Regelmäßigkeiten hervorbringt, die wir Institutionen nennen.33 Die Definition von Teilen und Ganzem ist von den gegenseitigen Relationen zwischen komplexen Strukturen abhängig und immer relativ zu der jeweiligen Position in diesem relationalen Feld. Je nach Relationen lassen sich somit unterschiedliche »Ganzheiten« feststellen: Einige entsprechen genauer unserer Vorstellung eines hierarchisch strukturierten Ganzen, das wie ein Organismus im Sinne eines biologischen Körpers funktioniert und in dem die Teile dem Ganzen untergeordnet sind. Selbst in diesem Fall beruhen die Relationen zwischen Ganzem und den Teilen auf einer engen Gegenseitigkeit, denn Teil und Ganzes konstituieren jeweils die Umwelt für einander. Für Whitehead stimmt nicht nur die Aussage, das Ganze sei mehr als die Summe seiner Teile, vielmehr sind die »Teile« selbst je nach Ganzem, in dem sie sich befinden, konstitutiv und wesentlich unterschiedlich. Demnach ist z.B. ein Elektron in einem lebendigen Körper in seiner relationalen Beschaffenheit anders als eines, das sich in einer anorganischen Umwelt befindet (Whitehead 1925: 79). Das »Wo« im raumzeitlichen relationalen Feld bestimmt das »Was«. auch unter Einbeziehung einer Abwärtsverursachung, also nicht bloß in die eine Richtung wie im traditionellen Reduktionismus. 33 | Bevor man in Versuchung kommt, Whitehead soziobiologische Anwandlungen vorzuwerfen, sei angemerkt, dass seine Philosophie genau das Gegenteil im Visier hat: Nicht Gesellschaften sollen auf der Grundlage der Funktionen von Organismen modelliert werden, sondern vielmehr soll die Untersuchung von Organismen deren wesentlich soziale (innere) Struktur berücksichtigen.

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Da wir weder von einem statischen Geflecht noch von universell gegebenen raumzeitlichen Referenzkoordinaten ausgehen können, ist jedoch keine raumzeitliche Stelle einfach situiert (ebd.: 49). Die Priorität des Ganzen impliziert keine Reduktion der (Mit-)Glieder zu bloßen Teilen, denn die makroskopischen Organismen sind in ihrer aktuellen Wirklichkeit von den sie konstituierenden (Mit-)Gliedern abhängig (Whitehead 1929: 91).34 Es handelt sich um gegenseitige Interdependenz. Kausalität ist demnach nicht nur aufwärts durch die verschiedenen ontologischen Ebenen wirksam, sondern auch abwärts: Komplexe Strukturen und sogenannte »Ganzheiten« bestimmen somit kausal ihre (Mit-)Glieder. Höhere ontologische Ebenen sind zwar von den niedrigeren unmittelbar abhängig, wie Spash mit dem Critical Realism zu Recht formuliert: So ist Gesellschaft (und mit ihr der menschliche Geist) abhängig von ökologischen und biologischen Bedingungen und diese wiederum von physikalischen Bedingungen. Aber auch das Gegenteil stimmt: Bestimmte spezifische Relationen und relationale Zusammenhänge sind nur in bestimmten komplexeren Strukturen möglich und von ihrer Gesamtstruktur abhängig. So führt die Zerlegung des biologischen Zusammenhangs eines Lebewesens zu einer qualitativen Veränderung seiner Bestandteile, da diese durch die Gesamtheit ihrer Relationen konstituiert sind. Der Unterschied liegt weniger in der ontologischen Stratifizierung als in der Beschaffenheit verschiedener Organisationsstrukturen und ihrer relativen Offenheit: Physikalische Strukturen weisen eine relativ konstante Wiederholung gleicher Relationsmuster (ontologisch, nicht epistemologisch gemeint), wenige Abweichungen und so gut wie keine Neuartigkeit auf. Biologische Strukturen sind dagegen offener, flexibler und kreativer. Sie sind daher für ihre Stabilität auf die Konstanz physikalischer Prozesse angewiesen. Leben ist kein Baukastensystem, sondern eine andere spezifische Organisationsform, welche die relationale Beschaffenheit ihrer (Mit-)Glieder bestimmt und viel näher an sozialen Strukturen als an physikalischen Prozessen liegt.

4. S chlussfolgerung Spash weist zu Recht darauf hin, dass die ökologische Ökonomik eine epistemologische und ontologische Grundlage braucht, die mit ihrer präanalytischen Vision vereinbar ist. Er findet sie im Critical Realism. Eine solche Grundlage besitzt sie aber bereits in der bioökonomischen Theorie von Nicholas Georgescu-Roegen, die maßgeblich auf Whiteheads Philosophie beruht. Geor34 | Whitehead verwendet den Begriff »member« statt »parts« oder »components«, um auf die Aktivität hinzuweisen, die sie charakterisiert, indem sie die komplexe Struktur aufrechterhalten.

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gescu-Roegen vereinfacht Whiteheads Theorie, sodass sie als Basis für die ökologische Ökonomik fungieren kann, und vermittelt sie bis in die ökonomische Modellierung. In der Überarbeitung der klassischen Produktionsfunktion, die Georgescu-Roegen ausgehend von seiner Flow-Fonds-Theorie artikuliert, findet sich die Kategorie der Zeit als Kontinuum, als »T«, und somit die Idee der Unumkehrbarkeit und kreativen Transformation ökonomischer Prozesse wieder. Der Entropiebegriff wird aus dem naiven Verständnis einer absoluten Grenze menschlicher Kreativität herausgelöst und öffnet als Brückenbegriff zwischen subjektiver und objektiver Zeitauffassung interessante Deutungsmöglichkeiten im Sinne der politischen Ökologie, die sich mit gesellschaftlichen Naturverhältnissen befasst. Studien zum sozialen Metabolismus beruhen ebenfalls auf seiner Theorie. Ausschlaggebend und einzigartig sind dabei das Verständnis von Zeit als Kontinuum und die damit verbundene Deutung von Leben als teleologisch, ohne deshalb in vitalistische Kurzschlüsse zu verfallen. Gerade aus diesem Grund ist Whiteheads Philosophie eine bessere Basis für die ökologische Ökonomik als der Critical Realism, auch wenn sie aufgrund ihrer Komplexität Ökonominnen lange Zeit unzugänglich blieb. Aber Komplexität per se ist kein Argument, da auch Bhaskars Artikulation des Critical Realism nicht weniger komplex oder leichter zugänglich ist. Ein weiterer Grund, aus dem Whiteheads Philosophie lange mit Skepsis betrachtet wurde, ist der Vorwurf des Panpsychismus oder eines erneuten Vitalismus, der leider auch durch zahlreiche Sekundärliteratur von Wissenschaftlerinnen, die sich als Prozessphilosophinnen bezeichnen, legitimiert wurde. Dies beruht jedoch auf einem Missverständnis: Wenn überhaupt, kann man von einem Panexperentialismus sprechen, da Erfahrung – und nicht Bewusstsein oder Geist – durchgehend auf allen ontologischen Ebenen zu finden ist und als Grundlage von interner Kausalität und aktiver Wirksamkeit dient. Whitehead entwickelt eine prozessuale, pluralistische Ontologie interner konstitutiver Relationen, die anders als bei Hegel nicht monistisch ist und eine Alternative zu jedem logischen und ontologischen Atomismus bereitstellt. Aktivität als Selbstgestaltung und Zwecktätigkeit ist nicht auf die Ebene menschlicher Handlung begrenzt, sondern eine notwendige Voraussetzung, um Lebewesen überhaupt zu erfassen. Dies wird aus der Notwendigkeit abgeleitet, Zeit und Werden als etwas Ursprünglicheres als das Sein zu denken. Gerade dieses Verständnis von Zeit als irreversiblem Kontinuum ist eine wesentliche ontologische Bedingung der ökologischen Ökonomik, die in der Kategorie der Entropie ihren Ausdruck findet. Mit Whitehead lässt sich Entropie weniger räumlich (im Sinne absoluter Grenzen), sondern vielmehr als Merkmal zeitlicher qualitativer Prozesse verstehen. Selbst die wesentliche Unterscheidung zwischen erneuerbaren und nicht-erneuerbaren Ressourcen bezieht sich weniger auf ihre spezifischen Eigenschaften als auf die zeitlichen Prozesse ihrer Entste-

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hung und Regenerationsmöglichkeit sowie auf die (Ir-)Reversibilität ihrer Verwandlung. Während der Critical Realism sicherlich eine bessere Grundlage für die ökologische Ökonomik bieten kann als der logische Empirismus und ein radikal verstandener Sozialkonstruktivismus, scheint mir Whiteheads Philosophie in ihrer Vermittlung durch Georgescu-Roegens Bioökonomie näher an der präanalyitischen Vision der ökologischen Ökonomik zu sein und eine bessere Basis für die theoretische Begründung von Zeit und Leben zu bieten.

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3. Kritik

Critical Realism als theoretische Ressource zur Analyse von Intersektionalität Sue Clegg

Mein Beitrag beschäftigt sich mit einem der bedeutendsten und einflussreichsten theoretischen Ansätze innerhalb des zeitgenössischen Feminismus – demjenigen der Intersektionalität. Diese Perspektive wurde von schwarzen Wissenschaftlerinnen mit dem Ziel entwickelt, auf wesentliche politische wie auch theoretische Leerstellen innerhalb des Feminismus sowie anderer Stränge antirassistischer und kritischer Theorie hinzuweisen (Crenshaw 1989). So besteht eine Errungenschaft intersektionaler Analyse darin, aktivistische politische Anliegen mit poststrukturalistischen Einsichten zu verbinden. Wie Ka­ thy Davis (2008) darlegt, gelingt es der Intersektionalität auf bemerkenswerte Weise, die augenscheinlichen Unvereinbarkeiten zwischen beiden Projekten zu überwinden. Intersektionalität nimmt sich des politischen Projekts an, soziale und materielle Effekte der Kategorien Gender, Race und Klasse sichtbar zu machen. Dabei schließt sie methodisch allerdings an das poststrukturalistische Projekt der Dekonstruktion von Kategorien, der Demaskierung von Universalismen sowie der Erforschung mitunter widersprüchlicher Machtmechanismen und -dynamiken an. (Davis 2008: 74)

Es handelt sich um eine zugleich kraftvolle und verführerische Kombination. Davis zufolge sind die Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten innerhalb intersektionaler Analyse weniger ein Problem als vielmehr eine Quelle von Produktivität. Diese Widersprüche und Spannungen möchte ich genauer in den Blick nehmen und zeigen, dass sie zwar der Popularität des intersektionalen Ansatzes zuträglich sind, dessen explanatorisches Potenzial jedoch beschränken. Die Kritik an Lücken und Fallstricken intersektionaler Analyse ist nicht neu. Ich möchte jedoch darlegen, dass wir den Critical Realism und insbesondere die Arbeiten von Margaret Archer (1988, 1995, 2000 und 2012) als theoretische Ressource nehmen können, um das Forschungsprojekt – oder genauer

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die Forschungsprojekte – der Intersektionalität neu zu justieren. Die intersektionale Perspektive generiert zahlreiche Fragestellungen, die unterschiedlichen Analyseebenen zugehören. Anstatt deren Vermengung (conflation) zu feiern, eröffnet der Critical Realism Wege, um diese Ebenen analytisch zu differenzieren. Er kann dazu beitragen, eine Reihe von Kurzschlüssen (elisions) zwischen strukturellen Prozessen und der Identitätsarbeit einzelner Personen zu vermeiden – oder genauer zwischen den emergenten Eigenschaften von sozialen Strukturen, Kultur und Akteuren (Archer 1995).1 Schließlich behaupte ich, dass es einer angemessenen Konzeption von Handlungsfähigkeit bedarf, wenn wir den normativen Implikationen von Intersektionalität gerecht werden wollen (Archer 2000). Entsprechend gliedert sich mein Beitrag in vier Teile: Der erste beschäftigt sich mit der Entstehung sowie den Widersprüchen und Kurzschlüssen des intersektionalen Ansatzes. Teil zwei führt Schlüsselkonzepte des Critical Realism ein. Im dritten Abschnitt geht es um eine Analyse von Handlungsfähigkeit, da individuelles und kollektives Handlungsvermögen zentral sind, um die Relevanz der intersektionalen Perspektive zu verstehen. In Kapitel vier möchte ich schließlich auf die These zurückkommen, dass der Critical Realism bessere theoretische Instrumente als der Poststrukturalismus bereitstellt – ungeachtet der vielen wichtigen Einsichten, die poststrukturalistische feministische Theoretikerinnen zur Analyse und zum Verständnis der Verschränkung von Geschlecht/race/Klasse und anderen Markern struktureller und kultureller Differenz beigesteuert haben.

1. I ntersek tionalität Um die aktuellen Debatten um Intersektionalität zu verstehen, ist es notwendig, ihren historisch-spezifischen Entstehungskontext zu reflektieren. Intersektionalität bezeichnet weniger eine einheitliche Theorie als vielmehr eine Reihe konkreter soziopolitischer Probleme und Situationen, die es zu analysieren gilt. Sie kann als Erweiterung eines interdisziplinären feministischen Forschungsprogramms begriffen werden, das seit den späten 60er-Jahren zunehmend an Einfluss gewann. Prägnant formuliert dies Heidi Mirza (2009) in der Einleitung einer Sonderausgabe von Race, Ethnicity and Education zum Thema schwarzer und postkolonialer Feminismen: Die Erfahrungen von Frauen, die im Rahmen von Gesetzgebung und politischer Praxis kollektiv als »schwarz« oder »asiatisch« definiert werden, variieren hinsichtlich Alter, 1 | Archer (1995) spricht von structural emergent properties (SEPs), cultural emergent properties (CEPs) und people’s emergent properties (PEPs) – Anm. die Hg.

Critical Realism als theoretische Ressource zur Analyse von Intersektionalität Sexualität, körperlicher Befähigung, Religion oder Kultur erheblich. So bestimmen Rassismus, patriarchale Herrschaft, soziale Klasse und andere Unterdrückungssysteme gemeinsam die jeweils relative Position dieser Frauen, und stellen auf diese Weise spezifische und vielfältige Muster von Ungleichheit und Diskriminierung her. Es ist die kulturelle und historische Spezifik von Ungleichheit, deren Bedeutung schwarze, postkoloniale und antirassistische Feministinnen betonen, wenn sie gegenüber dem mainstream feministischer Analyse einen stärker holistischen, intersektionalen Ansatz entwickeln. (Mirza 2009: 3)

Diese Aussage mag zunächst wenig kontrovers erscheinen. Am letzten Satz sowie dem Verweis auf den »mainstream feministischer Analyse« lassen sich jedoch die Umstände ablesen, unter denen Intersektionalität zu einem notwendigen Korrektiv wurde. Bereits zu Beginn der zweiten Frauenbewegung wurde über das Spannungsverhältnis zwischen der Idee eines einheitlichen politischen Subjekts »Frau« und den gelebten Realitäten tatsächlicher Frauen diskutiert. Zunehmend wurden Erfahrungen von Differenz und Unterdrückung artikuliert, die sich nicht einfach auf das Geschlechterverhältnis zurückführen lassen, wobei der mainstream feministischer Theorie als einseitig universalistisch in seiner Ausrichtung wahrgenommen wurde. So sind Auseinandersetzungen über Formen von Differenz, die auf Sexualität, race, Klasse und anderen Herrschaftskategorien beruhen, sowie über die Frage, wie diese zu theoretisieren seien, seit jeher Teil der komplexen und streitbaren Geschichte der Frauenbewegung. Die Hauptkritik am Feminismus der 1970erJahre richtete sich gegen dessen Tendenz zur Essenzialisierung und Generalisierung der Erfahrungen weißer Mittelschichtsfrauen (Segal 1989 und 1999). Problematisch an dieser Kritik war jedoch, dass sie politische Forderungen neuer Kollektivakteure (Frauengruppen), die sich gegen spezifische Formen von Unterdrückung richteten, mit allgemeinen Fragen weiblicher Identität vermengte. Die besondere Brisanz dieser Debatten begründete sich wesentlich aus der Rolle des Persönlichen innerhalb des Feminismus (David 2003) sowie dessen Übersetzung ins Politische durch Prozesse der Bewusstseinsbildung (consciousness raising). Das implizierte, dass im Feminismus unmittelbare persönliche Erfahrung und Identität auf eine Weise aufgewertet wurden, die in anderen politischen Projekten der Linken nicht zu finden war. In der Klassenpolitik beispielsweise war – mit Ausnahme ihrer lukácsianischen Variante – das Persönliche nie in gleichem Maße Thema, da Klasse nicht als einheitliche Identität aufgefasst wurde – obwohl natürlich feministische Kritik darauf hingewiesen hat, dass Klassenpolitik de facto die Interessen weißer, häufig organisierter Facharbeiter repräsentierte. Im schlimmsten Fall reduzierte sich die Formulierung »das Persönliche ist politisch« auf eine Form erbittert ausgefochtener Identitätspolitik, in der beliebige Unterdrückungskonstellationen einander übertrumpften und Gruppenzugehörigkeit es illegitim erscheinen

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ließ, über mehr als die eigene Erfahrung zu sprechen. Blindheit gegenüber den eigenen Privilegien wurde in erster Linie weißen Mittelschichtsfrauen vorgeworfen, die zweifellos viele der frühen Frauengruppen dominiert hatten (Rowbotham 1990). Wie wir sehen werden, treten diese Kontroversen in gängigen Verwendungsweisen von Intersektionalität erneut zum Vorschein. Trotz des poststrukturalistischen Bruchs mit Universalismus und »Erfahrung« bleibt die Spannung zwischen strategischem Universalismus und Differenz beständig erhalten. Toril Moi beispielsweise leistet in ihrem Buch Sexus, Text, Herrschaft: Feministische Literaturtheorie einen wichtigen theoretischen Beitrag zur Destabilisierung der Kategorie Frau, beharrt jedoch gleichzeitig auf deren strategischer politischer Bedeutung. Die Forderung nach einer Theoretisierung von Differenzen zwischen Frauen sowie der unterschiedlichen Unterdrückungsverhältnisse, denen Frauen unterliegen, wurde demnach nicht erst mit Aufkommen des Begriffs der Intersektionalität laut. Bereits im Jahr 1974 beginnt beispielsweise das Manifest des Combahee River Collective mit den Worten: »Als schwarze Feministinnen und Lesben, die wissen, dass sie einen ganz bestimmten revolutionären Auftrag zu erfüllen haben« – und beschreibt dann im Weiteren alle großen Herrschaftssysteme als »miteinander verflochten« (interlocking) (Eisenstein 1978). Der Begriff der Intersektionalität selbst fand vergleichsweise spät Eingang in die Literatur. Geprägt wurde er Ende der 1980er-Jahre von der Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw mit dem Ziel, besagte Erfahrungen und die ihnen zugrundeliegenden Mechanismen zu theoretisieren. Mithilfe dieses Begriffs gelang es Crenshaw, innerhalb feministischer wie auch antirassistischer Theorie und Praxis Aufmerksamkeit für die Marginalisierung schwarzer Frauen zu erzeugen, die aus der Behandlung von Geschlecht und race als separaten Kategorien resultierte. So heißt es bei ihr: Da die intersektionale Erfahrung mehr ist als die Summe aus Rassismus und Sexismus, kann die spezifische Unterordnung schwarzer Frauen nur dann angemessen erfasst werden, wenn Intersektionalität in die Analyse einbezogen wird. (Crenshaw 1989: 140)

Crenshaw begründet diese Sichtweise anhand einer sorgfältigen Analyse des Antidiskriminierungsrechts und der Art und Weise, in der dieses schwarze Frauen unsichtbar macht. So wurde beispielsweise ein Gerichtsverfahren gegen General Motors, in welchem der Firma vorgeworfen wurde, ihr Senioritätssystem schreibe die Diskriminierung schwarzer Frauen fort, mit der Begründung eingestellt, es sei keine Diskriminierung aufgrund von Geschlecht nachzuweisen. Denn GM hatte weiße (wenn auch nicht schwarze) Frauen bereits vor Verabschiedung des Civil Rights Act2 beschäftigt. Den Klägerinnen 2 | Allgemeines Gleichstellungsgesetz von 1964, Anm. der Übersetzerin.

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wurde empfohlen, ihren Fall im Rahmen einer Sammelklage gegen rassistische Diskriminierung erneut vor Gericht zu bringen, wodurch die geschlechtsspezifische Dimension verloren ging. Auch in anderen Fällen wurde schwarzen Frauen auf vergleichbare Weise juristische Anerkennung verweigert, sodass weiße Frauen faktisch zur Standardbestimmung geschlechtsspezifischer und schwarze Männer zur Standardbestimmung rassistischer Diskriminierung wurden. Crenshaw stand allerdings auch einem Großteil feministischer Theorie kritisch gegenüber. Sie warf weißen Feministinnen vor, dass – allen Anknüpfungen an die Geschichte schwarzer Frauen, insbesondere an Sojourner Truths Ain’t I a Woman? zum Trotz – die Bedürfnisse, Interessen und Erfahrungen schwarzer Frauen keinen Eingang in politische Forderungen sowie die Theoretisierung sozialer Positionen gefunden hätten (Crenshaw 1989: 153). Ein weiteres Beispiel hierfür aus den 1970er-Jahren ist die theoretische Aufmerksamkeit, die der Verbannung von Frauen in die private Sphäre des Haushalts zuteil wurde. Diese Debatten hatten wenig zur Geschichte schwarzer Frauen und den Umständen zu sagen, unter denen diesen eine »Privatsphäre« verwehrt wurde. Zugleich kritisierte Crenshaw auch antirassistische Politik und Theorie für deren Versäumnis, Geschlecht sowie die spezifischen Erfahrungen schwarzer Frauen einzubeziehen. Seit Ende der 1980er-Jahre ist Intersektionalität zu einem weitverbreiteten Begriff geworden, dessen Vieldeutigkeit es gestattet, allgemeine wie auch spezialisierte Interessen feministischer Theoretikerinnen mit aktivistischen Anliegen zusammenzubringen (Davis 2008). Entscheidend ist, dass Intersek­ tionalität von Beginn an eine Reihe verschiedener Debatten integrierte: über historisch sedimentierte Strukturen multipler Unterdrückung, über Identitäten und Erfahrungen, über schwarze Frauen als politische Subjekte und Möglichkeiten der Theoretisierung ihrer spezifischen Anliegen, über das Maß, in dem feministische und antirassistische Politik dazu beigetragen hat, die spezifischen Überkreuzungen von race, Geschlecht und anderen Unterdrückungsformen zu ignorieren, sowie schließlich über die politischen Konsequenzen, die sich aus diesen verschiedenen Analyseperspektiven ergeben. Die Breite und Tiefe der Auseinandersetzungen, die sich hinter dem Begriff der Intersektionalität verbergen, machen theoretische Verkürzungen besonders problematisch. Aus diesem Grund möchte ich einige Begriffe des Critical Realism aufgreifen, um analytische Unterscheidungen zwischen Analyseebenen einzuführen, die in den Bereich der Intersektionalität – als disziplinenübergreifendes Forschungsprogramm und nicht als abgeschlossene Theorie – fallen. Es geht mir nicht darum, eine kritisch-realistische Version von Intersektionalität vorzulegen, denn von einem einheitlichen Untersuchungsgegenstand kann keine Rede sein. Die Fragen, die in den Debatten über Intersektionalität aufgeworfen werden, betreffen verschiedene Zeiträume und Untersuchungsebenen und sind offen für unterschiedliche normative Schlussfolgerungen.

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Weder macht es Sinn, strukturelle Probleme auf individuelle Erfahrungen zu reduzieren, noch lassen sich Erfahrungen aus Strukturen herauslesen – und gerade aus diesem Grund hat der Critical Realism viel zu bieten.

2. C ritical R ealism und morphogene tische A nalyse Der Critical Realism stellt eine Reihe theoretischer Begriffe bereit, die sich grundlegend auf die Möglichkeit soziologischen Arbeitens richten – eine Rolle, die Roy Bhaskar (1975) als Zuarbeit (underlabouring) beschrieben hat. Da Historizität für ein jedes Verständnis der Funktionsweisen multipler Unterdrückungsverhältnisse entscheidend ist, möchte ich Margaret Archers (1995) Konzeption der Geschichtlichkeit von Emergenz stark machen. Mit ihrem morphogenetischen Ansatz plädiert Archer für eine analytische Unterscheidung zwischen Struktur und Handlungsfähigkeit sowie deren jeweiligen emergenten, irreduziblen und selbstständigen kausalen Eigenschaften. Sie kritisiert sowohl Aufwärts- und Abwärtskonflationierung als auch Zentralkonflationierung3, die sie bei Sozialtheoretikerinnen wie Giddens am Werk sieht, die statt einer emergentistischen eine »flache« Ontologie voraussetzen. Die Aufwärtskonflationierung impliziert die Vorstellung, Gesellschaft sei lediglich die Summe individueller Verhaltensweisen, wohingegen die Abwärtskonflationierung Gesellschaft reifiziert und individuelles Handeln auf seine gesellschaftlichen Bestimmungen verkürzt. Zentralkonflationierung schließlich behauptet eine Untrennbarkeit von Struktur und Handlungsfähigkeit, da jeder Aspekt von Struktur handlungsabhängig sei. Archer zufolge bleibt eine derart konflationistische Analyse faktisch einer Soziologie der Präsenz verhaftet, in der Strukturen lediglich in gegenwärtigen Handlungsvollzügen (enactments) existieren. Im Unterschied dazu geht es ihrem morphogenetischen Ansatz fundamental um Historizität. Zeit wird zum Schlüsselkonzept, um zu verstehen, wie strukturelle Bedingungen zum Zeitpunkt 1 und soziokulturelle Interaktionen zwischen den Zeitpunkten 2 und 3 entweder zu struktureller Veränderung (Morphogenese) oder zu struktureller Reproduktion (Morphostase) zum Zeitpunkt 4 führen.

3 | Vgl. hierzu die Einleitung in diesem Band, S. 24-26.

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Abbildung 1 soziale Bedingung T1

sozio-kulturelle Interaktion T2

T3 strukturelle Veränderung (Morphogenese) strukturelle Reproduktion (Morphostase)

T4

Vgl. Archer 1995: 157

Es ist wichtig zu sehen, dass es sich hier um einen analytischen und nicht um einen philosophischen Dualismus handelt. Die Hauptmerkmale dieses Ansatzes sind Historizität, Emergenz und Vermittlung. Entscheidend ist, dass er uns ermöglicht, Strukturwandel in seiner Temporalität zu erforschen und gleichzeitig an der irreduziblen und fortdauernden Bedeutung sowohl von Handlungsfähigkeit als auch Strukturen festzuhalten. Struktureigenschaften jedweder Gesellschaft sind fortwährend handlungsabhängig. Dennoch ist es möglich, in Form eines analytischen Dualismus zwischen »Struktur« und »Handlungsfähigkeit« zu unterscheiden und das Zusammenspiel zwischen beiden zu untersuchen, um auf diese Weise die Strukturierung und Restrukturierung sozialer Ordnungen zu erfassen. Möglich ist das im Wesentlichen aus zwei Gründen. Erstens handelt es sich bei »Struktur« und »Handlungsfähigkeit« um unterschiedliche Sorten emergenter Eigenschaften […]. Zweitens – und dies ist wesentlich für die Operationalisierbarkeit dieser explanatorischen Strategie – kommen »Struktur« und »Handlungsfähigkeit« zu unterschiedlichen Zeitpunkten zum Tragen, denn (i) Strukturen gehen zwangsläufig den Handlungen voraus, die sie transformieren, während (ii) strukturelle Entwicklungen diesen Handlungen ebenso notwendig nachfolgen. (Archer 2012: 52)

Entscheidend ist dies für ein Verständnis der Strukturierung zum Zeitpunkt 1, die schwarze Frauen (und andere Akteure) mit Bedingungen konfrontiert, die sie nicht selbst gewählt haben und auf die sie reflexiv reagieren. Die Forschung zeigt, dass die strukturierenden Bedingungen zum Zeitpunkt 1 vielfältig sind und sich bestimmte Bereiche, insbesondere was race und Geschlecht anbelangt, Veränderungen hartnäckig widersetzen. Wir haben es hier mit einer long durée der Reproduktion zu tun, die beispielsweise in Hinblick auf vergeschlechtlichte Machtverhältnisse Phasen der Morphostase impliziert. Ihr Ausgang ist nicht vorherbestimmt; doch muss eine jede Erklärung von Veränderung oder Stillstand sowohl strukturierende Bedingungen als auch individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit in Betracht ziehen.

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Archer (1988) interessiert sich allerdings nicht nur für strukturelle Eigenschaften und Emergenz, sie nimmt auch Kultur ernst und führt eine wichtige analytische Unterscheidung zwischen kulturellem System und dem Soziokulturellen ein. »Kulturelles System« bezieht sich auf existierende Intelligibilia, auf Ideen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt artikuliert werden können (unabhängig davon, ob das auch tatsächlich geschieht), sowie auf logische Beziehungen zwischen diesen Elementen und dem System, die sich in Hinblick auf Widerspruch und Wandel, wechselseitige Verstärkung und Reproduktion analysieren lassen. Das »Soziokulturelle« referiert dagegen auf die Einschreibungen von Ideen in menschliche Beziehungen oder anders gesagt darauf, wie Ideen aufgegriffen und mobilisiert werden. Das kulturelle System einfach im Soziokulturellen aufgehen zu lassen, würde einem epistemischen Fehlschluss gleichkommen, denn damit würde Kultur auf unser Verständnis von ihr reduziert. Die soziokulturelle Interaktion zwischen den Zeitpunkten 2 und 3 erfordert, dass wir sowohl dem kulturellen System als auch dem Soziokulturellen Aufmerksamkeit schenken, und kann wiederum entweder zu Morphogenese oder Morphostase führen. Der analytische Dualismus bietet eine wertvolle Ressource für intersektionales Denken, denn er trägt zur Entflechtung von Struktur und Handlungsfähigkeit bei und macht auf diese Weise beide der Erklärung zugänglich. Dagegen erweist sich das konflationistische Vorgehen für die Theoretisierung von Überkreuzungen als besonders problematisch, sobald Herrschaftsstrukturen als etwas betrachtet werden, das lediglich im Moment des Handlungsvollzuges, im »doing gender«, »doing race« oder anderen Unterdrückungspraktiken präsent ist. Candice West und Sarah Fenstermaker (1995) beispielsweise haben eine wertvolle Kritik an mathematischen Metaphern der feministischen Theorie und damit auch der Bedeutung von Intersektionen als Schnittmengen entwickelt. Doch schlagen sie einen ethnomethodologischen Ansatz vor, demzufolge »Eigenschaften des sozialen Lebens erst im situierten Verhalten der Gesellschaftsmitglieder ›objektiven‹ und ›sachlichen‹ Status erlangen« (West/ Fenstermaker 1995: 19). So werden verschiedene Formen von Unterdrückung simultan daraufhin untersucht, wie sie im Hier und Jetzt durch die fortwährende Aktivität von Akteuren hergestellt werden. Es handelt sich um eine Zentralkonflationierung, der es nicht mehr möglich ist, zwischen Struktur und Handlungsfähigkeit zu unterscheiden, sodass jede geschichtliche Gewordenheit und damit auch die Möglichkeit einer erklärenden Analyse verloren geht. Diese fehlende analytische Trennschärfe erweist sich auch als großes Problem, wenn eine analytisch nützliche Kategorie wie die der Frauen beibehalten werden soll. Denn »die Frau« existiert in der Praxis natürlich nie getrennt von anderen sozialen Eigenschaften – daher auch der Vorwurf des Essenzialismus gegenüber frühen Feministinnen, die den Begriff »Frau/Frauen« zur Beschreibung von Geschlechterherrschaft nutzten. Dagegen unternimmt Lena

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Gunnarsson (2011) aus Perspektive des Critical Realism eine sorgfältige Verteidigung der Kategorie Frauen, die auf den Ausgangspunkt feministischer Theorie zurückverweist: nämlich dass Frauen unterdrückt und ausgebeutet werden »aufgrund der Tatsache ihres Frauseins« (Gunnarsson 2011: 24). In Anlehnung an Andrew Sayer (1992) argumentiert Gunnarsson, abstrakte Kategorien wie Geschlecht, race oder Klasse seien für die Theoretisierung von Unterdrückungsstrukturen unentbehrlich, da sich diese gerade nicht auf die Ebene der gelebten Realität von Individuen reduzieren lassen. Wenn wir den Begriff »Frauen« verwenden, beziehen wir uns also auf eine Abstraktion als Teil eines Erklärungsansatzes. Struktur und Handlungsfähigkeit analytisch zu trennen, ist unerlässlich für die Analyse der von Crenshaw identifizierten multiplen Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse. Denn die konkreten Realitäten von race, Klasse und Geschlecht sind zwar auf der Ebene gelebter Erfahrung miteinander verwoben, um aber strukturellen Wandel und Stillstand zu erfassen, müssen wir in der Lage sein, zwischen Struktur und Handlungsfähigkeit zu unterscheiden. Vertreterinnen des Critical Realism erkennen nicht nur Ereignisse, sondern auch Mechanismen als real an – und die Sozialtheorie muss um ein Verständnis der vielfältigen Bestimmungen des Konkreten ringen, indem sie dafür notwendige Abstraktionen einführt. Die Bedeutung von Historizität ist ein gemeinsamer Nenner vieler intersektionaler Theoretikerinnen, wenn auch nicht immer unbedingt in der hier dargestellten Art und Weise. Bevor ich mich weiter mit dem Erklärungspotenzial der morphogenetischen Analyse beschäftige, möchte ich zunächst noch Archers spezifisches Konzept von Handlungsfähigkeit vorstellen, da dieses unverwechselbare Merkmale besitzt und mit poststrukturalistischen Theorien von Identität bricht, auf denen ein wesentlicher Teil intersektionaler Analyse beruht.

3. H andlungsfähigkeit Zentral für Archers (2000) Theorie der Handlungsfähigkeit (agency) ist ein Primat der Praxis gegenüber der Sprache sowie die Annahme, Akteure besäßen sui generis Eigenschaften und Potenziale, die sich weder auf soziale Struktur noch auf Kultur reduzieren lassen. Archer bricht also mit dem entkörperten und männlich konnotierten »Subjekt der Moderne«: Die Metaphysik der Moderne generierte das Modell eines zweckrationalen Menschen, der seine Ziele durch reinen logos realisieren kann – eine Rationalität, die mithilfe der formalen Manipulation linguistischer Symbole Wahrheit herstellt. (Archer 2000: 23)

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Demgegenüber entwickelt Archer in ihrem Buch Being Human: The Problem of Agency eine Potenzialtheorie aktiv handelnder Menschen, deren Eigenschaften und Fähigkeiten (powers) aus ihren Weltbeziehungen hervorgehen und relative Autonomie sowohl gegenüber Gesellschaft als auch Biologie besitzen: Menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten werden weder als vorgängig noch als sozial hergestellt verstanden. Vielmehr bilden sie sich erst in unseren Weltbeziehungen heraus, sind somit relativ unabhängig von Biologie wie auch Gesellschaft und besitzen Kausalkräfte (causal powers), um beide zu transformieren. (Ebd.: 87)

Indem Archer die Relevanz verkörperter menschlicher Potenziale und einen Primat der Praxis – Marx’ »fortwährend praktische Aktivität in der materiellen Welt« (ebd.: 122) – betont, entwickelt sie eine Theorie der Entstehungsbedingungen des Selbst, die von dessen notwendigen Weltbeziehungen ausgeht. Dabei unterscheidet Archer zwischen Selbstkonzepten, die notwendigerweise sozial sind, und einem dem Sozialen vorgelagerten Selbstsinn. Neben diskursiv hergestellten Subjektivitäten gibt es also auch einen verkörperten Selbstsinn, der durch die einzelne Lebensgeschichte hindurch eine gewisse Kontinuität besitzt. Eine konsistente Analyse der Entwicklung sozialer Akteure und ihrer Handlungsfähigkeit muss, so Archer, auf diesem nicht-diskursiven, fortdauernden Selbstsinn auf bauen. Entsprechend entwickelt Archer ein Modell personaler und sozialer Identität, das Individuen und Kollektivakteuren die Fähigkeit zugesteht, kreativ in der Welt zu handeln und auf diese Weise Bedingungen sowohl für Veränderung und Wandel als auch sozialen Stillstand zu schaffen. Menschen sind in ihren Weltbeziehungen wesentlich evaluativ, und der »innere Dialog« (internal conversation) ist entscheidend, um zu verstehen, wie Menschen Bindungen und Selbstverpflichtungen (commitments) eingehen: Der »innere Dialog« ist die Art und Weise, in der unsere personalen emergenten Fähigkeiten in und gegenüber der Welt – in ihrer natürlichen, praktischen und sozialen Trinität – ausgeübt werden. 4 Er ist nicht nur ein Fenster zur Welt, sondern bestimmt unser In-der-Welt-Sein, auch wenn wir dessen zeitliche und räumliche Bedingungen nicht frei wählen können. Es ist maßgeblich dieser »innere Dialog«, der unsere konkrete Einzigartigkeit als Individuen begründet. Darüber hinaus ist er jedoch zwangsläufig auch ein Dialog über die Wirklichkeit. Denn die dreieinige Welt (triune world) konfrontiert uns mit drei Anliegen, denen wir, so wie wir beschaffen sind, gar nicht entkommen können: unserem körperlichen Wohlbefinden, unserer performativen Kompetenz und unserem Selbstwert. (Ebd.: 318) 4 | Zu Archers Konzept der »drei Ordnungen der Wirklichkeit« vgl. ihren Beitrag in diesem Band, besonders S. 131f., Anm. die Hg.

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In Archers Ansatz sind Menschen Wesen mit einem ausgeprägten evaluativen Weltbezug (strong evaluators). Sie besitzen eine ganze Reihe persönlicher Potenziale und Fähigkeiten, darunter körperliches, praktisches und diskursives Wissen, mit denen sie der dreifachen Ordnung der natürlichen, praktischen und sozialen Welt gegenübertreten. Über diese Potenziale und Fähigkeiten definieren Menschen im inneren Dialog reflexiv ihre wichtigsten Bindungen und Verpflichtungen (commitments), was wiederum eine wesentliche Grundlage für kollektive Handlungsfähigkeit (corporate agency) darstellt. Organisierte Interessensgruppen verkörpern die Bildung einer neuartigen emergenten Eigenschaft von Menschen, nämlich ihre Fähigkeit zur Einwirkung auf systemische Stabilität und Veränderung. Nur solche Akteure, die sich ihrer Ziele bewusst sind, diese gegenüber sich selbst und anderen artikulieren können und sich organisiert haben, sind dazu in der Lage, die strukturellen und/oder kulturellen Merkmale, um die es jeweils geht, durch gemeinsam abgestimmtes Handeln (concerted action) zu verändern oder zu erhalten. Zu diesen kollektiven Akteuren gehören Lobbygruppen, gemeinnützige Vereine, Bürgerinitiativen und soziale Bewegungen. (Ebd.: 265)

Reflexivität und innerer Dialog versetzen Menschen in die Lage, die zentralen Anliegen zu identifizieren, denen sie sich verpflichtet fühlen. Dabei beinhaltet Archers Perspektive auf menschliche Akteure ein ausgearbeitetes Konzept von Emotionen erster und zweiter Ordnung. Die von manchen Feministinnen – z.B. in Julie Nelsons (2003) Beitrag zur Debatte um den Wert des Critical Realism für feministische Ökonomik – geäußerte Auffassung, der Critical Realism klammere eine Auseinandersetzung mit Emotionen aus, ist demnach eine Fehleinschätzung (Clegg 2006). Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, bieten Archers Überlegungen eine vielversprechende Grundlage für eine feministische Theoretisierung von Handlungsfähigkeit, die sowohl mit dem universalen Subjekt der Moderne als auch mit der poststrukturalistischen Problematik einer Auflösung des politischen Subjekts des Feminismus bricht (Clegg 2006). Während die poststrukturalistische Analyse erfolgreich Aspekte der Flüssigkeit und Fragmentierung sozialer Identitäten herausgearbeitet hat, fehlen ihr die theoretischen Ressourcen, den wirkmächtigen personalen Selbstsinn zu erfassen, den sie stattdessen negieren muss. Auf der Ebene der Ontologie ist dies der Tatsache geschuldet, dass der Poststrukturalismus trotz der vermeintlichen Offenheit seiner Sowohl-als-auch-Formulierungen (Davies 1997 und 2004) grundlegend von einem Primat des Diskursiven ausgeht und somit ein vordiskursives Selbst bestreitet. Mit diesen Unterscheidungen im Gepäck möchte ich nun auf den zentralen Gegenstand meines Beitrags zurückkommen: den Critical Realism als Ressource zur Theoretisierung der vielfältigen Überkreuzungen, auf die uns intersektionale Analyse hinweist.

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4. I ntersek tionalität und C ritical R ealism Wie gesehen findet der intersektionale Ansatz großen Anklang, da er konkurrierende Stränge feministischer Theorie erfolgreich zusammenzubringen vermag. Ihm ist es gelungen, politische Forderungen nach einem besseren Verständnis der vielfältigen Quellen von Unterdrückung sowie der gelebten Erfahrungen dieser Realitäten mit den vornehmlich dekonstruktivistisch und poststrukturalistisch geprägten theoretischen Anliegen akademischer Feministinnen zu verbinden. Die sozialen Realitäten, die intersektionale Analyse zu thematisieren sucht, sind auch für die soziologische Theorie von beträchtlicher Bedeutung. Bis heute hat Crenshaws Aufsatz nichts an Aktualität eingebüßt, denn er hilft uns zu verstehen, wie und warum soziostrukturelle, kulturelle und gelebte Realitäten zu theoretisieren sind, und zeigt zugleich die Leerstellen innerhalb existierender Theorien auf. Das betrifft z.B. die Erklärung von Prozessen innerhalb des kulturellen Systems, aufgrund derer bestimmte Kategorien – in Crenshaws Fall »schwarze Frauen« – zugunsten anderer negiert werden. Wie bereits gesehen läuft die intersektionale Analyse allerdings Gefahr, analytische Unterscheidungen zwischen Struktur, Kultur und Handlungsfähigkeit zu verschleifen, und – indem undifferenziert über Unterdrückungserfahrungen und -strukturen gesprochen wird – deren jeweilige geschichtliche Gewordenheit zu ignorieren. An anderer Stelle (Clegg 2006) habe ich dargelegt, dass in konkreten Analysen häufig große Gemeinsamkeiten zwischen Theoretikerinnen verschiedener Traditionen bestehen. Während genealogische Studien eine Fülle wertvoller empirischer Einsichten anzubieten haben, bleibt ihr Erklärungspotenzial häufig unausgeschöpft, da Poststrukturalistinnen aus Furcht vor dem Determinismus einen metatheoretischen Bogen um Fragen der Kausalität machen. Tatsächlich bestreiten Poststrukturalistinnen die epistemologische und ontologische Legitimität solcher Auseinandersetzungen. Demgegenüber rückt der Critical Realism nicht nur mit Archers morphogenetischem Ansatz Geschichtlichkeit ins Zentrum der Analyse, sondern präsentiert auch ein allgemeines philosophisches Erklärungsmodell für die Sozialwissenschaften, das auf den Zwillingsideen der Retroduktion und Retrodiktion beruht (Bhaskar 1986: 68). Theoretische Erklärung ist retroduktiv und besteht in der Identifikation und Analyse von Kausalkräften (causal powers), der zugrundeliegenden Mechanismen sowie der jeweiligen Entitäten, die diese Kräfte und Mechanismen besitzen. Retrodiktion richtet sich dagegen auf konkrete Phänomene, indem eine Vielzahl an kausalen Kräften untersucht wird, die innerhalb des chaotisch offenen Systems der sozialen Welt wirken. So folgt die genealogische Analyse einer retrodiktiven Logik, da sie zeigt, wie sich bestimmte Phänomene im Verlauf der Zeit herausbilden. Retrodiktion ist für die intersektionale Analyse deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie aufzeichnet, wie verschiedene Unterdrü-

Critical Realism als theoretische Ressource zur Analyse von Intersektionalität

ckungsformen »spezifische und vielfältige Muster von Ungleichheit« (Mirza 2009: 3) herstellen. In anderen Worten, sie nutzt Abstraktionen und das Wissen um mannigfaltige Mechanismen, um das Konkrete zu rekonstruieren. Auf diese Weise kommt es zur vermeintlich paradoxen Situation, dass sich Autorinnen, die in der Analyse spezifischer Ungleichheitsmuster weitgehend übereinstimmen, auf philosophischer Ebene grundlegend widersprechen. Es ist daher immer wichtig, sich über die Ebene zu verständigen, auf der theoretische Uneinigkeit herrscht, insbesondere wenn Forschungsprogramme im Sinne von Lakatos produktiv sein sollen, d.h. neue und zugleich bearbeitbare Fragen hervorbringen. Sowohl feministische als auch intersektionale Ansätze begegnen einem verwandten philosophischen Problem in Bezug auf Handlungsfähigkeit, Mitsprache (voice) und Wissen. Im Poststrukturalismus wird dieses Problem durch die Dekonstruktion des Subjekts kurzerhand aus der Welt geschafft, sodass sich Handlungsfähigkeit und Mitsprache auf Subjektivierungen reduzieren, die fortwährenden Prozesse der Herstellung eines »Selbst« ohne ontologischen Status. Wie Kathy Davis betont hat, teilen Intersektionalität und Poststrukturalismus zwar das Anliegen, einen vereinheitlichenden Begriff der Frau zu dekonstruieren, Poststrukturalistinnen sind jedoch darüber hinaus an einer Dekonstruktion aller möglichen Differenzen interessiert, inklusive der Probleme, die intersektionale Theoretisierungen überhaupt erst notwendig gemacht haben. Hier besteht die Gefahr, dass die Strukturen und Erfahrungen, auf die Crenshaw und Mirza referieren, auf etwas bloß Diskursives reduziert werden. Das umgekehrte Problem ist in Standpunktepistemologien (voice epistemologies) anzutreffen, insbesondere in starken Spielarten derselben, die Wissen mit Sein gleichsetzen und bestimmten Kategorien von Wissenden epistemische Privilegien einräumen. So hat Jennifer Nash (2008) auf das Problem hingewiesen, dass »schwarze Frauen« zum intersektionalen Subjekt par excellence avanciert sind. Es handelt sich hier nicht um ein rein theoretisches Problem, sondern vielmehr um eines, das auch in Medien und aktivistischen Debatten auftaucht: Der Slogan »check your privilege« ist Teil des populären Arsenals von Intersektionalität geworden (Williams 2013). Hier zeigen sich frappierende Ähnlichkeiten mit früheren Formen von Identitätspolitik, welche die epistemische Angemessenheit eines Arguments davon abhängig machen, wer spricht. Der Critical Realism lehnt nun den epistemischen Relativismus keineswegs per se ab, schließlich ist alles Wissen menschliches Wissen und daher sozial produziert. Aber aus seiner Perspektive ist Wissen immer Wissen über etwas, ist grundsätzlich fehlbar und kann als solches beurteilt werden. Obwohl es zur ontologischen Eigenart der sozialen Welt gegenüber der Natur gehört, dass sie handlungsabhängig und daher von kürzerer Dauer ist, können dennoch Urteile über den Wahrheitsgehalt konkurrierender Erklärungen gefällt werden. Bei genauerer Betrachtung ist dies auch keineswegs verwunderlich,

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denn das Bedürfnis nach intersektionaler Theoriebildung speist sich daraus, dass diese bessere Erklärungsmodelle für die Erfahrungen diverser Gruppen sowie die Ursprünge und Langlebigkeit spezifischer Unterdrückungsformen anbietet, die sich nicht auf Geschlecht (oder race) reduzieren. Wenn wir das akzeptieren, kann eine Theorie jedoch gerade nicht allein anhand von Merkmalen ihrer Vertreterinnen beurteilt werden. Das gilt auch dann, wenn sich mit der Erfahrung einer Gruppe soziologisch gut begründen lässt, warum es ganz bestimmte kollektive und individuelle Akteure – in unserem Fall schwarze Frauen – waren, die neue Argumente vorbrachten. Zwar sind es historisch häufig neue soziale Akteure, die bessere Theorien hervorbringen, Identität schließt jedoch keineswegs die Frage nach der Gültigkeit einer Theorie aus. Im Austausch mit Tony Lawson (1999 und 2002) führt Sandra Harding (1999 und 2003) aus standpunkttheoretischer Perspektive überzeugende Argumente an, warum wichtige Erkenntnisse von unterschiedlich positionierten Akteursgruppen produziert werden. Zwischen Lawson und Harding besteht hier kein Widerspruch, genauso wenig wie in der Frage des Begründungsrelativismus ( judgmental relativism)5; die Meinungsverschiedenheit ist vielmehr auf metatheoretischer Ebene angesiedelt und betrifft die Rolle und Natur legitimer ontologischer Behauptungen. Wenn der Critical Realism als besserer philosophischer Ansatz stark gemacht werden soll, dann darf diese Ebene nicht mit spezifischen Erklärungsansätzen verwechselt werden, die prinzipiell fehlbar sind. Hardings Analyse der Ursachen, warum feministische Kämpfe sich historisch an der epistemologischen Front verorteten, ist ein solcher spezifischer Erklärungsansatz. Dies schließt jedoch ontologische Argumente über die Stratifizierung von Realität und die Beschaffenheit von Erklärungen als solchen, wie sie mit den Begriffen der Retroduktion und Re­ trodiktion (Bhaskar 1986) eingeführt wurden, keineswegs aus. Wenn wir nun zu den Problemen zurückkehren, deren Theoretisierung die intersektionale Perspektive mit guten Gründen anstrebt, können wir sehen, dass der Critical Realism wichtige Ressourcen anzubieten hat – insbesondere was die analytische Trennschärfe zwischen Struktur und Handlungsfähigkeit anbelangt, die es ermöglicht, Struktur- und Akteursbildungen in ihrer zeitlichen Eigenständigkeit zu analysieren. Historisch verfestigte, multiple Unterdrückungsstrukturen führen uns eine Reihe von Kontexten vor Augen, die für die morphogenetische Analyse sowohl auf kultureller als auch sozialer Ebene wie geschaffen sind. Crenshaw kann so gelesen werden, dass sich Widersprüche im kulturellen System auf der Ebene soziokultureller Praktiken entfalten und infrage gestellt werden. Gleichzeitig plädiert sie auf der Ebene der Strukturbildung dafür, konkrete Organisationen wie General Motors sowie deren Einstellungspraktiken in ihrem zeitlichen Wandel zu analysieren. Crenshaw 5 | Den beide ablehnen – Anm. d. Hg.

Critical Realism als theoretische Ressource zur Analyse von Intersektionalität

identifiziert schwarze Frauen als neuen Kollektivakteur und zeigt, wie deren Aktivitäten mit der Zeit zu rechtlichen und institutionellen Veränderungen geführt haben. Dies ist genauso wichtig wie die Frage, was sich aufgrund soziostruktureller Restriktionen nicht geändert hat. Es geht dabei nicht um eine Ausarbeitung intersektionaler Theorie im Sinne eines einheitlichen Zusammenhangs von Aussagen, sondern um eine Präzisierung von Problemen, für die gezeigt werden kann, wie spezifische Überkreuzungen im historischen Kontext operieren. Dies ist meines Erachtens die Strategie, die Theoretikerinnen wie Mirza und Crenshaw verfolgen. Und Historizität steht im Zentrum dieses Projekts. Für eine angemessene Untersuchung von Erfahrungen und Identitäten bedarf es aus Sicht des Critical Realism darüber hinaus einer adäquaten Theorie der Person. Diese erschließt die Anliegen, die Menschen in ihren natürlichen, praktischen und sozialen Weltbeziehungen verfolgen, die Bedingungen, unter denen ihre Kausalkräfte ausgeübt werden, und schließlich auch, wie sie als zutiefst wertende Wesen (strong evaluators) dazu kommen, etwa race und Geschlecht zu Schlüsselaspekten ihrer personalen und mitunter auch politischen Identität zu machen. Der Fokus intersektionaler Theorie auf konkrete Fälle macht deutlich, dass es sich hierbei weder um eine einfache noch um eine isolierte Übung handelt. In Hinblick auf die Entstehung neuer politischer Subjekte schlägt der Critical Realism vor, die Ausbildung kollektiver Handlungsfähigkeit im Zusammenhang mit den emergenten Kräften von Akteuren zu verstehen. Dafür ist eine Analyse sozialer Bewegungen und der Bedingungen, unter denen sie florieren, unerlässlich. Was verschiedenen Beiträgen zur Intersektionalität ihre Kraft verleiht, ist die Art und Weise, in der sie kollektive Handlungsfähigkeit strategisch verwenden: nicht bloß um partikulare Interessen (namentlich von schwarzen Frauen und women of color) zu stärken, sondern um die Agenda zu erweitern und allgemeine Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit zu entwickeln. Patricia Hill Collins beispielsweise beschäftigt sich in ihrem Buch Black Sexual Politics mit lokalen Erscheinungsformen weitreichender globaler Phänomene, die universalistische Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit implizieren. Kollektive Akteure werden dabei nicht anhand ihrer persönlichen Merkmale definiert, sondern anhand ihrer Wertvorstellungen und ihres Engagements für soziale Gerechtigkeit. Eine sorgfältige Analyse von Intersektionen kann also die Tendenz zur Zersplitterung überwinden, die sowohl Standpunktepistemologien als auch additiven Konzepten von Mehrfachdiskriminierung inhärent ist. Das geschieht nicht automatisch, aber es ist eindeutig die Absicht von Patricia Hill Collins und – nach einer gründlichen Lektüre – auch von Kimberlé Crenshaw. Wie Andrew Sayer in seinem Buch Why Things Matter to People gezeigt hat, lassen sich derartige Festlegungen am besten innerhalb einer Sozialwissenschaft verstehen, die für Werte und menschliches Wohlergehen ( flourishing)

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aufgeschlossen ist. Vertreterinnen des Critical Realism sind seit jeher bemüht, die Trennung von Fakten und Werten, die philosophisches und sozialwissenschaftliches Denken lähmt, zu dekonstruieren und ihrer Unangemessenheit zu überführen. Es ist dies kein Alleinstellungsmerkmal des Critical Realism, sondern ein gemeinsamer Nenner mit anderen Ansätzen kritischer Theorie. Normative Argumentationen und Schlussfolgerungen gehören genauso zu jeder politischen Praxis wie die Kraft der Dekonstruktion. Judith Butler beispielsweise argumentiert in Bodies That Matter: Eine Voraussetzung in Frage zu stellen ist nicht das gleiche, wie sie abzuschaffen; vielmehr bedeutet es, sie von ihren metaphysischen Behausungen zu befreien, damit verständlich wird, welche politischen Interessen in und durch diese metaphysische Platzierung abgesichert wurden. Das erlaubt dem Begriff, ganz verschiedene politische Ziele zu besetzen und zu bedienen. (Butler 1993: 56)

Ich möchte jedoch behaupten, dass emanzipatorischer Politik – die Motivationskraft hinter jeder Form intersektionaler Theorie – besser mit Analysen gedient ist, die Akteuren Handlungsfähigkeit zuschreiben. Die Spannung zwischen poststrukturalistischen Konzepten des Selbst als Produkt von Subjektivierungsprozessen (Davies 1997 und 2004) und aktivistischen Bestrebungen nach einer besseren Welt lässt sich weder einfach in einen Essenzialismusvorwurf gegenüber der frühen Frauenbewegung auflösen, auch wenn dieser empirisch gut gedeckt erscheinen mag. Noch kann bestritten werden, dass konkrete Untersuchungen häufig zu kurz greifen, weil sie die komplexen strukturellen Wirkungsweisen von race, Klasse und anderen Unterdrückungsverhältnissen nicht hinreichend berücksichtigen. Genau das macht die Forschung immer kompliziert und unvollständig. Nichtsdestotrotz ist es für substanzielle Analysen vorteilhaft, wenn sie nicht durch unangemessene Theoretisierungen von Struktur und Handlungsfähigkeit behindert werden. An dieser Stelle wird die Tragweite des morphogenetischen Ansatzes deutlich, da er Gesellschaft und individuelle Erfahrung weder aufeinander reduziert noch sie in einer endlosen und unstrukturierten Gegenwart miteinander vermengt. Stattdessen bietet er analytische Werkzeuge, um die Geschichtlichkeit von Emergenz zu untersuchen. All das bedeutet jedoch nichts, wenn unsere Theorie der Person zu dünn ist, um unsere Fähigkeit zu aktivem Handeln sowie unsere ethische Urteilskraft zu fassen, was Archer (2000) über Emotionen erster und zweiter Ordnung sowie Reflexivität tut. Selbstverständlich gibt es auch innerhalb des Critical Realism Differenzen beispielsweise hinsichtlich der relativen Bedeutung von habituellem Handeln und Reflexivität bzw. wie diese jeweils zu theoretisieren sind.6 Zwar muss jede Theorie letztlich unvoll6 | Vgl. hierzu Archers Beitrag in diesem Band.

Critical Realism als theoretische Ressource zur Analyse von Intersektionalität

ständig bleiben, das heißt aber nicht, dass – im begründungsrelativistischen Sinne – jede Theorie gleich gut wäre. Der Critical Realism fungiert einerseits als Zuarbeiter (under-labourer) für Wissenschaft, andererseits hat er – wie in Archers Fall zu sehen war – substanzielle Thesen über die Beschaffenheit von innerem Dialog und situierter Reflexivität anzubieten. In beiden Rollen kann er einen Beitrag zur Analyse von Intersektionalität leisten – Intersektionalität verstanden als fruchtbares Forschungsprogramm und nicht als Theorie. Was Feminismus und intersektionales Denken für eine Verteidigung von Handlungsfähigkeit sowie der sorgfältigen Analyse historischer Strukturbildungen und -reproduktionen besonders reizvoll macht, ist ihre Fähigkeit, emanzipatorische normative Ziele zu begründen. Ein philosophischer Ansatz, der nicht in der Lage ist, die Möglichkeiten individueller und kollektiver Handlungsfähigkeit angemessen zu theoretisieren, wird weder wissenschaftlichen noch politischen Anforderungen gerecht. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe (Clegg 2006), gibt es in der substanziellen Analyse weitreichende Übereinstimmungen mit dem Poststrukturalismus. Ich plädiere jedoch dafür, dessen nietzscheanisches Erbe abzulegen und mit ihm die Vorstellung, das individuelle Subjekt sei Fiktion, der Wille zur Macht konstituiere Identität und Realität und die Wissenschaft habe keine besondere epistemologische Relevanz. Intersektionale Theoretikerinnen verdanken dem Poststrukturalismus viele nützliche methodologische Werkzeuge, doch sind diese keineswegs sein exklusives Eigentum. Nehmen wir beispielsweise das Bewusstsein für die Bedeutung von Diskursen und deren Analyse: Der Critical Realism beschäftigt sich sowohl mit dem Diskursiven als auch mit der kritischen Dekonstruktion von Kategorien, wie ich es z.B. in meinen Arbeiten zur Soziologie der höheren Bildung getan habe (Clegg 2004 und 2012). Während Davis’ (2008) Überlegungen zur Produktivität von Intersektionalität als Forschungsprogramm soziologisch aufschlussreich sind, hätte ein Forschungsprogramm mit einer philosophischen Grundlage, die einer expliziten Klärung ihres Verhältnisses zur menschlichen Praxis verpflichtet ist, noch mehr Potenzial. Eben diese Grundlage stellt der Critical Realism bereit. Aus dem Englischen von Anne Ware

L iter atur Archer, Margaret S. (1988): Culture and Agency. The Place of Culture in Social Theory, Cambridge: Cambridge University Press. Dies. (1995): Realist Social Theory. The Morphogenetic Approach, Cambridge: Cambridge University Press.

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Dimensionen der Intersektionalität Kritisch-realistische und poststrukturalistische Perspektiven Ina Kerner

Feministische Theorien standen von Anbeginn, vor allem aber seit ihrer langsam einsetzenden Akademisierung in den 1970er-Jahren in einem engen, wenngleich nicht immer spannungsfreien Verhältnis zur feministischen politischen Praxis; die theoretische wie die empirische Geschlechterforschung unserer Tage wurzelt in Erfahrungen, Reflexionen und Aspirationen der Frauenbewegungen des späten 20. Jahrhunderts und hat diese bis heute in ihren zentralen Entwicklungen begleitet. Dabei ist die Theorie der Praxis manchmal vorangeschritten, manchmal beobachtend gefolgt, zum Teil wollte sie eher inspirieren, zum Teil vor allem kritisieren, mal war das Verhältnis enger, mal war es temporär gestört.1 Feministische Theorien kamen dabei immer im Plural vor. Zum einen ließen sie sich von unterschiedlichen vor-feministischen Theorieströmungen inspirieren (und schrieben sich zum Teil transformierend in diese ein), etwa vom Marxismus, vom politischen Liberalismus, von der Psychoanalyse oder auch von der Dekonstruktion. Zum anderen stellten sie z.T. sehr unterschiedliche geschlechtsbedingte Erfahrungen der Ungleichbehandlung, der Unterdrückung, der Missachtung und des Ausschlusses in den Mittelpunkt der Reflexion; und auch dies wirkte sich auf die Theoriebildung aus. Beleuchteten manche Theoretikerinnen vor allem die Lebenssituation bürgerlicher Ehefrauen und problematisierten hier etwa finanzielle Abhängigkeitsverhältnisse und das zermürbend Repetitive der monetär allenfalls indirekt vergoltenen Haushalts- und Pflegearbeiten, die traditionellerweise von bürgerlichen Ehegattinnen erwartet wurden, kam für andere Frauen aus ökonomischen Gründen ein Leben ohne Erwerbsarbeit nie infrage; wieder anderen war eine sogenannte Liebesheirat aus rechtlichen Gründen, beispielsweise 1 | Für einen ausführlichen Einblick in die Geschichte des (nicht nur) deutschsprachigen Feminismus vgl. u.a. Holland-Cunz (2003) und Hark (2005); für einen knapperen Überblick über zentrale theoretische Positionen der letzten Jahrzehnte auch Kerner (2011).

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aufgrund ins Recht eingelassener heteronormativer Grundvorstellungen, von vornherein nie vergönnt. Und bestand für manche Frauen die Einschränkung ihrer reproduktiven Rechte vor allem im fehlenden Zugang zu Kontrazeptiva oder einem Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen, litten andere unter den Folgen ihrer Zwangssterilisation. Die Ursprünge jener Positionen, die heute unter dem Begriff der Intersektionalität zusammengefasst werden, liegen in genau dieser Diversität negativer weiblicher Erfahrungen und deren theoretischer Reflexion – gekoppelt an die Diagnose, dass sich der Mainstream der feministischen Theorie über lange Zeit als Spiegel der Probleme weißer heterosexueller Frauen aus der Mittelschicht darstellte, einer Gruppe also, die persönlich kaum mit Phänomenen wie rassistischer Diskriminierung, Armut, sozialer Stigmatisierung oder Heterosexismus konfrontiert war und auf dieser Grundlage die eigenen geschlechtsbedingten Negativerfahrungen leicht als »rein« geschlechtsbedingt kodieren und darstellen konnte. Vor diesem Hintergrund kommt es nicht von ungefähr, dass in einem der inzwischen vielzitierten Urtexte intersektionaler Positionen, dem 1977 veröffentlichten Text »A Black Feminist Statement« des Bostoner Combahee River Collective, eine dezidiert integrale feministische Analyse und Politik gefordert wurde: Eine allgemeine Beschreibung unserer gegenwärtigen Politik wäre, dass wir aktiv gegen rassiale (racial), geschlechtliche, heterosexuelle und klassenbezogene Formen der Unterdrückung kämpfen. Daneben sehen wir es als unsere besondere Aufgabe an, eine integrative Analyse und Praxis zu entwickeln, die darauf basiert, dass die zentralen Unterdrückungssysteme ineinandergreifen. Die Synthese dieser Unterdrückungsformen bringt unsere Lebensbedingungen hervor. (Combahee River Collective 2000: 272) 2

Inzwischen ist die Einsicht in das Ineinandergreifen verschiedener Unterdrückungssysteme von den Rändern des Feminismus in deren Zentrum vorgerückt; und wird seit einigen Jahren im Anschluss an die US-amerikanische Rechtstheoretikerin Kimberlé Crenshaw zumeist als Intersektionalität bezeichnet.3 In der Anfangszeit war dabei vergleichsweise offen, worauf genau 2 | Für frühe intersektionale Analysen aus dem deutschsprachigen Raum vgl. Opitz (1992), Hügel/Lange/Ayim et al. (1993), Uremović/Oerter (1994), FeMigra (1994) und Steyerl (2003). 3 | Crenshaw selbst hat den Begriff bereits 1989 eingeführt (vgl. Crenshaw 1989). Zu seiner Kritik und Alternativbezeichnungen vgl. u.a. Walgenbach (2007), Puar (2007: 211ff.) und Erel/Haritaworn/Gutiérrez Rodriguez et al. (2011); zu seiner analytischen Reichweite Kerner (2009a). In den englischsprachigen Gender Studies gilt der Begriff mitunter schon wieder als veraltet und überholt (vgl. hierzu kritisch Taylor/Hines/Casey 2011: 3).

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dieser Begriff zu beziehen sei. Entsprechend monierte etwa die Philosophin Ladelle McWhorter noch im Jahr 2004 die Vielzahl unterschiedlicher Bezugsebenen vorliegender Intersektionalitätsdiagnosen, die von sozialen Strukturen über historische Bedeutungen bis hin zu politischen Machtverhältnissen reichten und diskursive, materielle wie konkrete lokale Praktiken umfassten (McWhorter 2004: 38). Nur vier Jahre später erklärte Kathy Davis allerdings just diese Bedeutungsoffenheit zum Erfolgsrezept des Konzepts (Davis 2008: 69); und inzwischen ist man sich im Feld der zur Intersektionalitätsforschung erweiterten Gender Studies relativ einig, dass es unterschiedliche Zugänge zu Intersektionalitätsfragen gibt. Leslie McCall hat an diesem Punkt eine dreigliedrige Systematisierung vorgeschlagen, die mittlerweile ihrerseits als kanonisiert betrachtet werden kann: die Unterscheidung zwischen anti-, intra- und interkategorialer Komplexitätsproduktion durch intersektionale Analyserahmen. Antikategoriale – präziser ließe sich sagen: kategorisierungskritische – Ansätze dekonstruieren herkömmliche Analysekategorien wie etwa Geschlecht, »Rasse« oder Ethnizität auf Grundlage der Einsicht, dass solche Kategorien problematische Homogenisierungen komplexer Sachlagen implizieren und damit selbst zur (epistemischen) Produktion von Macht und Ungleichheit beitragen (McCall 2005: 1773). Als Beispiel kann hier Judith Butlers berühmt gewordenes Buch Das Unbehagen der Geschlechter dienen (Butler 1990). Intrakategoriale Ansätze hinterfragen ebenfalls herkömmliche Kategorisierungen und mit ihnen einhergehende Einteilungen der Menschheit in distinkte Gruppen. Dies tun sie allerdings weniger in antikategorialer Absicht als vielmehr mit dem Ziel, bestehende Kategorisierungsmuster zu verfeinern, um bislang ausgeblendete Untergruppen samt der mit ihnen korrespondierenden Erfahrungen sichtbar zu machen: in der Regel durch die Reklamation genusgruppeninterner Macht- und Ungleichheitsverhältnisse und die Betonung, dass es wissenschaftlich wie auch politisch unabdingbar sei, beispielsweise die Lebensrealität von bürgerlichen Frauen und von Arbeiterinnen oder auch von Heteras und von Lesben zu unterscheiden; und dass sich dementsprechend auch das feministische Projekt ausdifferenzieren müsse, etwa durch die Entwicklung und Etablierung eines schwarzen Feminismus als Antwort auf den de facto weißen Mainstreamfeminismus (McCall 2005: 1773f.). Die Erklärung des Combahee River Collective ist ein gutes Beispiel für solchermaßen intrakategoriale Vorgehensweisen. Es zeigt, dass intrakategoriale Untergruppenbildungen und Verfeinerungsprozesse grundsätzlich nie abschließbar sind, dass sie aber dennoch – anders als antikategoriale Positionen – mit standpunkttheoretischen Grundüberzeugungen harmonieren. McCalls interkategorialer Zugang zu Intersektionalität schließlich, den sie als quantitative Ungleichheitsforscherin ihrer eigenen Arbeit zugrunde legt, ist stark methodologisch bzw. forschungspraktisch motiviert und dementsprechend auch weniger bewegungspolitisch reflektiert und eingebunden als die anderen beiden Zugän-

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ge. Hier geht es darum, vorliegende Kategorien – und auf ihnen gründende Sozial- und Strukturdaten – dazu zu verwenden, komplexe Vergleiche von Ungleichheitsrelationen zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen anzustellen und Veränderungen von Ungleichheitskonfigurationen nachvollziehen zu können (ebd.: 1773). McCall selbst etwa hat Einkommensdifferenzen mit Blick auf Geschlecht, Klasse bzw. Bildungsabschluss und »Rasse« in vier jeweils distinkte wirtschaftliche Konstellationen repräsentierenden Städten untersucht und konnte vor diesem Hintergrund Aussagen darüber treffen, welche Konstellationen spezifische Ungleichheiten (z.B. zwischen Männern und Frauen oder zwischen Weißen und Schwarzen) besonders fördern, welche aber auch ihrem Abbau zuträglich sind (ebd.: 1798ff.). McCalls interkategorialer Zugang ist eines von vielen Beispielen für die in den vergangenen Jahren unternommenen Bemühungen, die intersektionale Methodenentwicklung in den Sozialwissenschaften voranzutreiben. Von den gruppenbezogenen Analysen der Anfangsphase intersektionaler Überlegungen setzt man sich hierbei zunehmend zugunsten sach- und themenorientierter Zugänge ab (vgl. Hancock 2007). Und auch die von McWhorter noch beanstandete Pluralität intersektionaler Bezugsebenen wird zunehmend als unhintergehbar betrachtet und zum Anlass genommen, unterschiedliche – zumeist drei – intersektionale Ebenen zu unterscheiden und im Verhältnis zu analysieren. So hat Patricia Hill Collins in ihrem weit verbreiteten Buch Black Feminist Thought bereits in den frühen 1990er-Jahren das Konzept der Herrschaftsmatrix (matrix of domination) eingeführt, mit dem sie die spezifische Organisation hierarchischer Machtbeziehungen einer jeden Gesellschaft bezeichnet. Matrizes der Herrschaft sind Collins zufolge zum einen durch ein je spezifisches Arrangement sich überschneidender Unterdrückungssysteme wie »Rasse«, soziale Schicht, Geschlecht, Sexualität, Staatsbürgerstatus, Ethnizität und Alter gekennzeichnet, zum anderen durch eine spezifische Organisation ihrer vier Machtbereiche: dem strukturellen Bereich, der sich auf Arenen wie Beschäftigung, Regierung, Bildung, Recht, Wirtschaft und Wohnen bezieht und in dem Macht durch Gesetze und policies ausgeübt wird, dem disziplinarischen Bereich, in dem Macht ausgeübt wird durch bürokratische Hierarchien und Überwachungstechniken, dem hegemonialen Bereich, in dem Ideen und Ideologien dahingehend wirken, dass abweichende Meinungen entpolitisiert werden oder aber in dem sich soziale Gruppen mit denselben Effekten gegenseitig kontrollieren, und schließlich dem interpersonalen Bereich, der Alltagsrassismus, Alltagsdiskriminierungserfahrungen und widerständige Reaktionen darauf umfasst (vgl. Collins 1991 und 2000). Evelyn Nakano Glenn hat einen mehrdimensionalen Ansatz der sozialen Konstruktion und Institutionalisierung von Geschlecht und »Rasse« vorgelegt, der die Ebenen der Repräsentation, der Mikrointeraktion sowie der Sozialstruktur unterscheidet (Glenn 1999). Floya Anthias unterscheidet in ihrem intersektionalen Ana-

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lyserahmen die Ebenen der Erfahrung, der Handlung sowie der Struktur und der Institutionen (Anthias 1998), Nina Degele und Gabriele Winker haben eine von Pierre Bourdieu inspirierte praxeologische Methode intersektionaler Mehrebenenanalysen entwickelt, bei der sie Identitätskonstruktionen, Gesellschaftsstrukturen und symbolische Repräsentationen berücksichtigen (Winker/Degele 2009 und 2011), und ich selbst habe im Anschluss an Michel Foucault vorgeschlagen, Intersektionen von Rassismus und Sexismus hinsichtlich epistemischer, institutioneller und personaler Aspekte zu thematisieren (Kerner 2009b und 2012); weitere Beispiele ließen sich leicht ergänzen. In ihrem Beitrag zu diesem Band unterbreitet auch Sue Clegg einen Vorschlag, Intersektionalität nicht eindimensional, sondern mit Blick auf unterschiedliche Ebenen zu fassen; dabei rekurriert sie vor allem auf die kritisch-realistische Position von Margaret Archer. Ausgangspunkt ihrer Ausführungen ist ein deutlich artikuliertes Unbehagen an bereits vorliegenden intersektionalen Arbeiten. Hierbei bezieht sie sich allerdings weitgehend auf jene Varianten, die sich durch die Kombination von »aktivistische[n] politische[n] Anliegen mit poststrukturalistischen Einsichten« (in diesem Band: 273) auszeichnen, also auf bewegungsnahe anti- und intrakategoriale Ansätze. Sozialwissenschaftliche Zugänge zur Intersektionalität, die über gruppenbezogene und kategorisierungskritische Analysen hinausgehen, mehrere Ebenen (zumindest Struktur und Handlung) einbeziehen und damit für Cleggs eigene intersektionale Überlegungen vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten bieten würden, finden in ihren Ausführungen leider kaum Erwähnung, obwohl sich beispielsweise McCall sogar explizit auf den Critical Realism bezieht (McCall 2005: 1793f.). Cleggs Unbehagen an der von ihr berücksichtigten Auswahl an Arbeiten aus dem Feld der Intersektionalitätsforschung rührt nun daher, dass diese Arbeiten entweder strukturelle Probleme auf individuelle Erfahrungen reduzierten oder aber Erfahrungen aus Strukturen ableiteten, in beiden Fällen also zwei distinkte Ebenen verwischten (in diesem Band: 274). Im Anschluss an Archer hingegen sei es möglich, strukturelle Prozesse und die Identitätsarbeit einzelner Personen sowohl analytisch zu unterscheiden als auch hinsichtlich ihres Zusammenspiels zu thematisieren. Ferner biete der Critical Realism eine Theorie der Handlungsfähigkeit an; und eine solche sei für jedes sozialwissenschaftliche Unterfangen mit emanzipativem Anspruch, und mithin auch für die Intersektionalität, unerlässlich (ebd.). In ihrem Aufsatz fächert Clegg ihr Unbehagen in vier Aspekte auf, bevor sie abschließend die analytischen Vorzüge des Critical Realism für die Intersektionalitätsforschung umreißt. Im Folgenden werde ich zunächst auf jeden dieser Aspekte sowie die benannten Vorzüge eingehen, um im nächsten Schritt meinen eigenen, mehrdimensionalen Zugang zu Intersektionen von Rassismus und Sexismus vorzustellen, der an Michel Foucaults Machtanalytik

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anschließt. Abschließend werde ich diesen mit kritisch-realistischen Überlegungen kontrastieren.

1. C leggs U nbehagen an der I ntersek tionalität Der erste Aspekt, den Clegg ausführt, ist die bereits benannte Verwischung distinkter Ebenen. Im Anschluss an Archer moniert sie grundsätzlich die Reduktion des Sozialen auf individuelles Verhalten (Aufwärtskonflationierung), sozialdeterministische Konzepte des Person-Seins und Handelns (Abwärtskonflationierung) sowie die Leugnung der Unterscheidbarkeit von Handlung und Struktur (Zentralkonflationierung; in diesem Band: 278f.). Konkretisiert mit Bezug auf Fragen der Intersektionalität verhandelt Clegg diesen Punkt anhand einer Auseinandersetzung mit dem Doing-Difference-Ansatz von Candace West und Sarah Fenstermaker (West/Fenstermaker 1995). In einem im Jahr 1995 erschienenen Aufsatz haben diese die bereits in den 1980er-Jahren entwickelten ethnomethodologischen Überlegungen zum Doing Gender von West und Don Zimmerman, in denen Geschlecht statt als individuelle Eigenschaft als Effekt von Handlungen und Interaktionen auf der Mikroebene gefasst wird (West/Zimmerman 1987), um die gesellschaftlichen Differenzkategorien der Klasse und der »Rasse« erweitert. Ihr zentrales Anliegen dabei ist, zu zeigen, dass und inwiefern Dynamiken von Geschlecht, »Rasse« und Klasse auf simultane Weise in menschlichen Institutionen und Interaktionen figurieren (West/Fenstermaker 1995: 14). Sie zeigen auf, dass es zumeist naturalisierte Kategorisierungen sind, die der Produktion und Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ungleichheit dienen, etwa wenn in den USA insbesondere schwarze Männer immer wieder die Erfahrung machen müssen, ohne erkennbaren Anlass polizeilich kontrolliert zu werden (ebd.: 25). Ferner legen sie dar, dass auch Klassendifferenzen performativer Reifizierung bedürfen, um nicht zu verwischen. Als Beispiel führen sie den Fall einer Hausangestellten an, deren Arbeitgeberin darauf besteht, dass jene selbst bei einem Ausflug an den Strand ihre Uniform trägt, da sie in Freizeit- oder Badekleidung nicht als Angestellte erkennbar wäre, sondern von Dritten als eigenständiger Badegast wahrgenommen werden könne; und schließlich betonen sie, dass auch in diesem Falle Naturalisierungsprozessen eine große Bedeutung zukommt (ebd.: 26f.). Clegg nun wirft West und Fenstermaker Zentralkonflationierung vor, denn weder Struktur noch Handlung könnten hier unabhängig voneinander in Betracht gezogen werden; ferner mache ihr Analysefokus die Geschichtlichkeit von Emergenz, d.h. die Entstehung gegenwärtiger Konfigurationen, unsichtbar (in diesem Band: 280). Bereits in den unmittelbaren publizierten Reaktionen auf Doing Difference war moniert worden, dass der Ansatz auf die Handlungsebene reduziert

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sei und die Ebene der Struktur vernachlässige. Patricia Hill Collins etwa hat argumentiert, dass West und Fenstermaker die institutionelle Machtbasis gesellschaftlicher Differenzverhältnisse ausblendeten. Damit griffen sie analytisch zu kurz; denn Unterdrückung entstehe durch das Zusammenspiel zweier Ebenen, der Makroebene verschränkter Unterdrückungssysteme wie »Rasse«, Klasse und Geschlecht, die wiederum differente soziale Positionen erzeugten, und intersektionalen Prozessen auf der Mikroebene, die dafür sorgen, dass Individuen und gesellschaftliche Gruppen jeweils spezifische soziale Positionen einnehmen (Collins 1995); ähnliche Einwände haben u.a. Lynn Weber (1995) und Howard Winant (1995) vorgebracht. Zu West und Fenstermakers Verteidigung ließe sich an diesem Punkt vorbringen, dass ihr Aufsatz zwar eindeutig auf die Mikroebene konzentriert ist und die Makroebene in der Tat kaum behandelt, dass sie dabei aber nicht beanspruchen, ein umfassendes Bild »verschiedene[r] Formen von Unterdrückung« (in diesem Band: 280 [Hervorh. d. Verf.]) zu zeichnen, wie Clegg unterstellt, sondern dass es ihnen vielmehr darum geht, gegen biologische und rollentheoretische Denkmodelle anzuschreiben, indem sie die Performativität gesellschaftlicher Differenzierungen hervorheben. Freilich drängt sich hier der Hinweis auf, dass es nicht lediglich performative Prozesse sind, die gesellschaftliche Differenzierungen schaffen, sondern dass hierbei auch Institutionen und Strukturen eine bedeutende Funktion zukommt. Das macht Cleggs Kritik an West und Fenstermaker, diese leugneten mit ihrer Konzentration auf die Handlungsebene die Unterscheidung von Handlung und Struktur, jedoch nicht plausibler; deutlich wird an dieser Kritik allenfalls, dass sich Cleggs Ansprüche an die Reichweite einer Theorie von jenen Wests und Fenstermakers unterscheiden. Denn freilich ist deren Ansatz auf die Interaktionsebene konzentriert, und sicher ist Clegg darin zuzustimmen, dass der Ansatz kaum dazu beiträgt, die historische Entwicklung aktueller Dynamiken von Geschlecht, »Rasse« und Klasse zu erhellen. Das scheint jedoch auch nicht der Anspruch zu sein, der dem Aufsatz zugrunde liegt. Anders ist das bei anderen, zudem weit einflussreicheren Ansätzen im Feld der Intersektionalitätstheorie, beispielsweise jenem von Collins. Deren Arbeiten diskutiert Clegg jedoch leider nicht aus kritischrealistischer Perspektive. Der zweite Aspekt ihres Unbehagens an der Intersektionalität betrifft die antikategoriale Kritik der Kategorie »Frau«, die dazu führe, dass »Geschlecht« nicht nur auf der Mikroebene individueller Erfahrungen, sondern auch als Grundkategorie gesellschaftlicher Analysen auf der Makroebene infrage gestellt würde – was wiederum derartige Analysen verunmögliche. Kategorien interessieren Clegg in diesem Zusammenhang in erster Linie als Abstraktionen, die dem Zweck wissenschaftlicher Erklärung dienen. Vor diesem Hintergrund sei es problematisch, die Mikro- und die Makroebene dahingehend zu verwischen, dass etwa aus der Einsicht der Intersektionalität von Unter-

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drückungserfahrungen die Unmöglichkeit erwachse, spezifische Unterdrückungssysteme in ihrer jeweiligen Eigenart zu analysieren (vgl. ebd.: 280f.). Auch an diesem Punkt wäre es sicher produktiv gewesen, wenn Clegg die skizzierte und im Kontext der Intersektionalitätsforschung längst kanonisierte Mikro-/Makro-Unterscheidung von Collins und deren Analyse verschränkter Unterdrückungssysteme in der Herrschaftsmatrix zum Ausgangspunkt ihrer Argumentation gemacht hätte, anstatt sich Lena Gunnarssons Beharren auf der Unterdrückung von Frauen als Frauen anzuschließen, einer Position, die zwar die Bedeutung der strukturellen Positionierung für die je individuelle Existenz (zum Beispiel als Frau) betont (Gunnarsson 2011: 32f.), jedoch erstens makrosoziologische Grundeinsichten struktureller Verschränkungen ignoriert und zweitens die Machteffekte, die von gesellschaftlich wirksamen Kategorisierungen selbst ausgehen (können), unerwähnt lässt. Dass Kategorien immer Abstraktionen darstellen, ist vermutlich weitgehend unumstritten. Dass sie dadurch »unschuldig« und unproblematisch würden, allerdings nicht. Anlass der Entwicklung und Artikulation intersektionaler feministischer Positionen war doch gerade der Umstand, dass die bis dato vom feministischen Mainstream zur politischen und wissenschaftlichen Verwendung herangezogenen Abstraktionen innerfeministisch ausschließende und hierarchisierende Effekte zeitigten und mit Blick auf gesamtgesellschaftliche Analysen rassistische und klassenbezogene Machtverhältnisse eher perpetuierten als kritisch zu fassen ermöglichten. Mit ihrem unkritischen Zugriff auf Kategorien wie Geschlecht und »Frauen« fällt Clegg damit hinter den Ausgangspunkt intersektionaler Erwägungen selbst zurück. Wie bereits erwähnt, berücksichtigt Clegg in ihrer Diskussion intersek­ tionaler Ansätze vor allem intrakategoriale und antikategoriale Varianten. Der dritte Aspekt ihres Unbehagens bezieht sich auf intrakategoriale Varianten – genauer auf die hier zuweilen zugrunde gelegte Standpunkttheorie oder, noch genauer, die Validierung sozialwissenschaftlicher Wahrheitsansprüche durch zugeschriebene epistemische Privilegien; und generell gesprochen auf die Politisierung der Intersektionalitätsforschung in dem Sinne, dass sie zum Austragungsort identitätspolitischer Kämpfe innerhalb der Universitäten wird. Nun ist Clegg durchaus darin zuzustimmen, dass Identität »jedoch keineswegs die Frage nach der Gültigkeit einer Theorie aus[schließt]« (in diesem Band: 286) – die Geltung einer Theorie allein von der Identität (oder der gesellschaftlichen Positionierung) ihrer Autorin abhängig zu machen, ist im besten Falle vorschnell, ansonsten der Tendenz nach autoritär. Als autoritäre Geste ließe sich jedoch auch die Klage über den vergleichsweise hohen Politisierungsgrad der Intersektionalitätsforschung interpretieren, das Beharren darauf, dass sozialwissenschaftliche Konkurrenzkämpfe in erster Linie den Wahrheitsgehalt miteinander im Wettstreit liegender Erklärungen zum Gegenstand haben sollten, so, als ob es in diesen Kämpfen nicht häufig auch um die Bestimmung

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allgemein akzeptierter Forschungsprioritäten und den Zugang zu Ressourcen (Stellen, Ruhm, Gelder etc.) ginge. Man muss nicht unbedingt die Gegenthese vertreten, dass die Reise des Intersektionalitätsbegriffs in den Mainstream der Geschlechterforschung, die zumindest im deutschsprachigen Raum in der Tat weitgehend ohne eine komplementierende diversitätsorientierte Personalpolitik stattgefunden hat, die Entpolitisierung des Feldes darstelle (vgl. hierzu Erel et al. 2011). Die spezifische Historizität dieses Forschungsfeldes auszublenden, verkennt jedoch, dass sich die Konstellationen gesellschaftlicher Ungleichheit, die nach wie vor Ausgangspunkt intersektionaler Zugänge sind, seit jeher auch auf die Welt der Wissenschaft selbst erstrecken. Dass auch dies längst Bestandteil der Intersektionalitätsforschung ist, versteht sich vor diesem Hintergrund übrigens fast von selbst (vgl. u.a. Ahmed 2012 und Gutiérrez y Muhs et al. 2012). Bei Clegg hingegen erscheint die Akademie vor allem als Ort der distanzierten Gesellschaftsbetrachtung – und Intersektionalität ist eher ein Forschungsprogramm (in diesem Band: 289) denn ein wissens- und identitätspolitisches Kampffeld im Hochschulkontext. Das ist kein Einwand gegen Clegg. Aber es ist ein Verweis auf die umkämpfte und zum Teil hochgradig politisierte institutionelle Lage der Intersektionalitätsforschung – eine Lage, der mit Argumenten für oder wider spezifische Forschungsparadigmen kaum beizukommen ist. Der vierte, letzte und vielleicht gewichtigste Aspekt von Cleggs Unbehagen an der Intersektionalität ist vor allem auf antikategoriale Ansätze bezogen – an diesem Punkt knüpft sie an ihre frühere, bereits im Zuge der feministischen Auseinandersetzung mit dem Poststrukturalismus formulierte Kritik subjektkritischer Positionen an (Clegg 2006) und verhandelt dabei zum einen subjekttheoretische, zum anderen handlungstheoretische Gesichtspunkte. Wie bereits erwähnt, brauchen emanzipative Sozialwissenschaften Clegg zufolge eine Theorie der Handlungsfähigkeit. Eine solche wiederum erfordere eine Subjekttheorie, die Subjekten einen »wirkmächtigen personalen Selbstsinn« (in diesem Band: 283) zuschreibt, der sie zur Reflexivität sowie zur Identifikation und Kommunikation ihres jeweiligen politischen Willens befähigt (ebd.: 282f.). Der Poststrukturalismus negiere einen derartigen Selbstsinn – da er von einem Primat des Diskursiven ausgehe, jede vordiskursive Subjektkonzeption ablehne und Handlungsfähigkeit auf Prozesse der Subjektivierung reduziere (ebd.: 283 und 285). Die Diskussion um just diese Thesen ist keinesfalls neu (vgl. u.a. Benhabib et al. 1993). Im deutschsprachigen akademischen Feminismus war sie Bestandteil der heftigen Streits der langen 1990er-Jahre und ist als solche in die feministische Diskursgeschichtsschreibung eingegangen (vgl. Hark 2005: 269-319); mittlerweile liegen diverse Arbeiten vor, die sich erfolgreich bemühen, den vormaligen Kampfplatz neu zu vermessen bzw. hinter sich zu lassen (vgl. u.a. Allen 2008 und Meißner 2010). Vor diesem Hintergrund sei an dieser Stelle lediglich auf zwei Punkte verwiesen. Erstens ist nicht einleuch-

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tend, dass der Poststrukturalismus (in seinen im Kontext von feministischer Theorie und Intersektionalitätsforschung affirmierten Versionen) tatsächlich jede individuelle und kollektive Handlungsfähigkeit undenkbar mache und Subjekte im Sinne der Abwärtskonflationierung allein als Diskurseffekte verstehe. Vielmehr geht es dem Poststrukturalismus in seinen foucaultianischen Varianten darum, Machteffekte auf der Ebene der Subjektkonstitution und damit der Selbstverhältnisse kenntlich zu machen. Solche Effekte bewirken, dass wir gesellschaftliche Normen – beispielsweise von weißer, bürgerlicher Weiblichkeit, von schwarzer Männlichkeit etc. – internalisieren, performieren und damit reproduzieren.4 Die genannten Effekte können besonders in jenen Fällen, in denen der Normkonformismus nicht gelingt, Reaktionen der Angst, der Scham, der Aggression oder gar der Depression hervorrufen; ebenso wie Widerstand, ein individuelles und durchaus auch kollektives Auflehnen gegen bestimmte Formen, subjektiviert zu werden (vgl. u.a. Foucault 1987). Subjekte nicht vordiskursiv zu denken, bedeutet vor diesem Hintergrund, die Machteffekte gesellschaftlich wirksamer Normen und Diskurse auf Individuen ernst zu nehmen sowie in Betracht zu ziehen, dass solche Effekte Auswirkungen auf ihr Handeln haben können – es bedeutet aber nicht, grundsätzlich die menschliche Handlungsfähigkeit zu leugnen. Und auch in den an Derrida orientierten Varianten des Poststrukturalismus meint Dekonstruktion nicht Destruktion, sondern im Gegenteil eine ständige Kritik des Unumgänglichen, dessen Unumgänglichkeit jedoch keinesfalls dazu führt, dass es dadurch unproblematisch würde – »Dekonstruktion ist […] eine unaufhörliche Kritik dessen, was man nicht nicht wollen kann«, hat Gayatri Spivak diesen Gedanken bündig formuliert (Spivak 1996: 28). 4 | Margaret Archer, auf die sich Clegg in weiten Teilen ihrer Argumentation bezieht, trifft alternativ zu poststrukturalistischen Ansätzen eine analytische Unterscheidung zwischen einem Selbstsinn (sense of self ) als vorsozialer menschlicher Universalie und den sozialen, kulturell variablen Aspekten der personalen Identität (Archer 2000: 255ff.). Dagegen ließe sich einwenden, dass vermutlich auch ein Selbstsinn nie in »Reinform«, sondern immer in kulturellen Interpretationen erscheint; und dass er ferner ständig sozial affiziert wird. Die schmerzlichen Effekte gesellschaftlicher Normen, Diskurse und Praktiken, die bestimmten Personen nicht lediglich ein spezifisches Set von Eigenschaften und damit eine spezifische Rolle zuschreiben, sondern ihnen den Status des Menschseins absprechen und damit gerade die Ebene des Sinns für das eigene Selbst tangieren, wurden mit Bezug auf kolonialen und postkolonialen Rassismus eindrücklich u.a. von W.E.B. Du Bois (1903) und von Frantz Fanon (1952) beschrieben; mit Bezug auf Sexualität von Judith Butler (1990). Freilich ließe sich diesen Arbeiten aus kritisch-realistischer Perspektive die Konflationierung unterschiedlicher Dimensionen des Person-Seins vorwerfen: Stellen sie doch gerade den analytischen Mehrwert ihrer Unterscheidung infrage.

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Der zweite Punkt, auf den hier verwiesen sei, betrifft Cleggs Insistieren auf der Notwendigkeit einer Theorie der Handlungsfähigkeit; ein Insistieren, das auf die Aussage zuläuft, radikaler Politik wie auch intersektionaler Theorie sei am besten mit Analysen gedient, die Akteuren Handlungsfähigkeit zunächst einmal zuschreiben (in diesem Band: 288). Hier drängt sich die Frage auf, wer feministischen Akteuren die Handlungsfähigkeit tatsächlich je überzeugend abgesprochen hätte. Wenn man den Feminismus einschließlich seiner intersektionalen Varianten wie eingangs vorgeschlagen als bewegungspolitisch verwurzelt versteht, erscheint Feminismus als immer schon aktivistisch – und damit als grundsätzlich handlungsfähig und seiner Handlungsfähigkeit bewusst. Nun hat vielleicht nicht jede bislang vorgelegte feministische und intersektionale Position den Schwerpunkt auf die theoretische Ausarbeitung dieser Handlungsfähigkeit gelegt; und zuweilen mag eine Fokussierung auf Formen von Macht und Herrschaft den Eindruck erzeugen, politischer Fortschritt oder auch nur Widerstand seien unvorstellbar und dem Feminismus blieben vor allem die Mittel der Selbstviktimisierung und der moralisierenden Anklage.5 Interessanterweise aber scheint die feministische Praxis bislang oft gut ohne theoretische Fundierung ihrer selbst ausgekommen zu sein; die Kraft des Faktischen konnte also mögliche Lücken in der Theoriebildung klar kompensieren. Was vor diesem Hintergrund die Zuschreibung und Theoretisierung von Handlungsfähigkeit bewirken soll, bleibt unklar. In Konstellationen, in denen tatsächlich von massiven lähmenden Subjektivierungseffekten ausgegangen werden muss, erscheinen vor allem Theoretisierungen solcher Effekte und Überlegungen über erfolgversprechende Gegenstrategien hilfreich; arbeitsmarktpolitische Kämpfe profitieren im Zweifelsfalle von Studien und Theorien über den Arbeitsmarkt, bildungspolitische Kämpfe von bildungspolitischen Reflexionen etc. Eine Theorie der Handlungsfähigkeit hingegen mag wissenschaftlich gesehen ein lohnendes Unterfangen sein – die These, radikale Politik und Intersektionalitätstheorie kämen schlecht ohne sie aus, überzeugt weniger. Wie nun elaboriert Clegg die analytischen Vorzüge des Critical Realism für die Auseinandersetzung mit Intersektionalität? Leider bleibt sie bei der Beantwortung dieser Frage vergleichsweise vage – und die Aspekte, die sie tatsächlich nennt, scheinen kaum spezifisch auf Fragen der Theoretisierung von Intersektionalität bezogen, sondern beziehen sich auf gesellschaftskritische Theoretisierungen im generellen Sinne. Zugleich rennt Clegg mit ihnen diverse offene Türen ein. Dies gilt sicher für den bereits erwähnten Aspekt der Unterscheidung struktureller Prozesse von der Ebene der Identität. Genau solche Unterscheidungen werden in den unterschiedlichsten sozialwissenschaft5 | Für eine kritische Auseinandersetzung mit der Figur des »Opferfeminismus« vgl. Hark/Kerner (2007a und 2007b).

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lichen Zugängen zur Intersektionalität seit geraumer Zeit nachvollzogen – mit oder ohne direkten Rekurs auf den Critical Realism. Die anderen beiden Aspekte, denen Clegg einige Aufmerksamkeit widmet, sind jener einer starken Theorie der Handlungsfähigkeit und jener einer historisierenden Analyseperspektive. Mit Bezug auf die Theorie der Handlungsfähigkeit kann an dieser Stelle nur wiederholt werden, dass Clegg nicht wirklich spezifiziert, inwiefern die intersektionale feministische Theorie, Forschung und Praxis von einer solchen Theorie tatsächlich profitieren würde, worin genau ihr analytischer Mehrwert bestünde. Vielmehr besteht Anlass zur Befürchtung, dass der Critical Realism den Blick auf Subjektivierungseffekte eher verstellt als erhellt – und das Gleiche gilt für den Blick auf widerständiges, potenziell subversives Handeln auf der Mikroebene.6 Cleggs Hinweis auf die Vorzüge einer historischen Analyseperspektive, die nachzuvollziehen versucht, wie gegenwärtige Strukturen und Konfigurationen entstanden sind, welchen Veränderungsprozessen sie in der Vergangenheit unterworfen waren und welche Rolle dabei emanzipatives politisches Handeln gespielt hat, ist hingegen kaum etwas entgegenzusetzen; und in der aktuellen Intersektionalitätsforschung ein Weg, der auf vielfältige Weise beschritten wird. In dieser Hinsicht sind die zahlreichen Studien zu nennen, die im akademischen Rahmen der intersektional informierten (Geschlechter-) Geschichte betrieben werden. In den Sozialwissenschaften haben sich bis dato u.a. Patricia Hill Collins (Collins 1991 und 2000), mit quantitativem Fokus Leslie McCall (McCall 2005) und im deutschen Sprachraum vor allem Cornelia Klinger und Gudrun-Axeli Knapp (vgl. u.a. Knapp 2008, Klinger 2008 und Klinger/Knapp 2007) um historisierende Zugänge verdient gemacht. Clegg selber bietet jenseits ihres Plädoyers für derartige Untersuchungen leider keine Einschätzung darüber an, inwiefern die hier bereits vorliegenden Arbeiten im Sinne des Critical Realism revidiert werden müssten oder auch noch ergänzt werden könnten.

2. I ntersek tionalität nach F oucault Mein eigener Zugang zu Fragen der Intersektionalität geht auf die Arbeit an dem Buch Differenzen und Macht. Zur Anatomie von Rassismus und Sexismus (Kerner 2009b) zurück, in dem ich bemüht war, die Funktionsmechanismen sowie das Verhältnis von Rassismus und Sexismus umfassend und angemessen komplex zu erhellen; und mit dem ich zugleich das Ziel verfolgt habe, bereits vorliegende Literatur aus unterschiedlichen Kontexten (feministische Analysen, Rassismusforschung, intersektionale Ansätze) mit divergierenden 6 | Zumindest Archer legt Wert darauf, agency als grundsätzlich kollektives Unterfangen zu verstehen (Archer 2000: 267).

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Bezugsebenen (strukturelle Prozesse und Institutionen, Repräsentationen und Diskurse, die Mikroebene der Individuen) systematisierend zusammenzuführen. Rassismus und Sexismus habe ich dabei in einem weiten, an das Alltagsverständnis angelehnten Sinne als Machtverhältnisse verstanden, die unter Rückgriff auf kategoriale Differenzpostulate funktionieren, die Untergruppen von Menschen betreffen. In der jüngsten Ausgabe des Brockhaus wird Sexismus als »jede Art der Diskriminierung, Unterdrückung, Verachtung und Benachteiligung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts« sowie als »die Ideologie, die dem zugrunde liegt« beschrieben (2006: 106). Analog dazu kann auch der Begriff Rassismus gefasst werden; wobei hier den implizierten Formen der Diskriminierung, Unterdrückung, Verachtung und Benachteiligung Differenzkonstruktionen im Zusammenhang von »Rasse« und Ethnizität, aber auch Nationalität und Religion zugrunde liegen. Die Beschäftigung mit Rassismus und Sexismus bedeutet eine bewusste Fokussierung der theoretischen Arbeit auf die problematischen Aspekte gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse – und beansprucht nicht, die gesellschaftliche Bedeutung solcher Prozesse vollständig nachzuvollziehen. In den machtanalytischen Arbeiten von Michel Foucault habe ich das theoretische Rüstzeug gefunden, diese Machtverhältnisse hinsichtlich dreier Dimensionen, nämlich einer epistemischen, einer institutionellen und einer personalen Dimension, zu thematisieren. Foucault hat bereits in den frühen 1970er-Jahren einen analytischen Bezug zwischen Wissen und Macht hergestellt (Foucault 1971). Wenig später, im Zuge seiner Überlegungen zur Disziplinarmacht, hat er die Machteffekte von Institutionen in den Blick genommen (Foucault 1975) und sich im Zusammenhang seines neu eingeführten Begriffs der Biomacht mit Individual- und Kollektivkörper betreffenden Aspekten der Sexualität, des Geschlechts und des Rassismus beschäftigt (Foucault 1976 und 1975-76). In seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität hat er Fragen an der Schnittstelle von Ökonomie und Staat thematisiert (Foucault 1977-1978 und 1978-1979) und in den frühen 1980er-Jahren schließlich, als er über Subjektivierungsprozesse arbeitete, nahm er Identitätseffekte der Macht in den Blick (u.a. Foucault 1987).7 Foucaults Machtverständnis war, das zeigt schon dieser telegrammhafte Schnelldurchlauf durch seine Arbeiten, dezidiert weit. Dabei hat er Machtwirkungen nicht nur als negativ oder repressiv, sondern auch als positiv bzw. als produktiv verstanden. Außerdem revidierte er die konventionelle sozialwissenschaftliche Auffassung, dass als Quellen der Machtausübung immer menschliche Akteure veranschlagt werden müssen; und zwar indem er nachvollziehbar machte, inwiefern auch die strukturierenden Effekte

7 | Für eine ausführliche Darstellung dieser Stationen von Foucaults machtanalytischen Arbeiten vgl. Kerner (2009b: 20ff.).

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von Wissenssystemen und Institutionen als Machtwirkungen verstanden werden können (und sollten). Unter Bezugnahme auf Foucaults Ausführungen über die Art und Weise, wie sich Macht-Wissen in Institutionen einschreibt und wie sowohl Diskurse als auch institutionelle Formationen Prozesse der Subjektkonstitution beeinflussen, schlage ich ein mehrdimensionales Konzept vor, das heuristisch drei Dimensionen der Macht unterscheidet: eine epistemische, eine institutionelle und eine personale Dimension der Macht. Dabei gehe ich davon aus, dass zwischen diesen Dimensionen vielfältige Wechselwirkungen bestehen. Die epistemische Dimension ist auf Wissen und Diskurse sowie auf Symbole und Bilder bezogen. Die institutionelle Dimension betrifft Institutionengefüge, die Ungleichheit erzeugen oder stabilisieren. Die personale Dimension schließlich verweist auf Einstellungen, vor allem aber auch auf Identitäten und Subjektivitäten von Personen, ferner auf Handlungen und Interaktionen. Was nun folgt aus dieser heuristischen Unterscheidung verschiedener Dimensionen von Rassismus und Sexismus intersektionalitätstheoretisch?8 Bezogen auf die epistemische Dimension lässt sich sagen, dass wir »rassifizierte« und ethnisierte Geschlechtsnormen sowie vergeschlechtlichte »Rasse«- und Ethnizitätszuschreibungen identifizieren können – hier impliziert Intersektionalität also eine Pluralisierung bzw. interne Ausdifferenzierung gängiger Differenzkategorien – mit McCall gesprochen so etwas wie die gesellschaftliche Produktion intrakategorialer Vielfalt. Ein Beispiel sind die medialen Debatten, die in den vergangenen Jahren zum Thema des demografischen Wandels stattgefunden haben. Über inländische, gut ausgebildete Frauen aus der Mittelschicht hieß es dort vielfach, sie bekämen zu wenige Kinder – für Frauen, die ihre Kinder fremdbetreuen lassen, kursiert zudem der abwertende Begriff der »Rabenmutter«. Weibliche Stereotype, die Frauen aus den sogenannten Unterschichten und sogenannten migrantischen Parallelgesellschaften betreffen, sahen und sehen hingegen oft ganz anders aus: Hier wird eher eine zu starke Orientierung auf Mutterschaft und Familienleben moniert, die Aspekten wie Erwerbsorientierung und gesellschaftlicher Integration im Wege stünde. Rassistische Zuschreibungen erweisen sich in intersektionaler Betrachtung auf ähnliche Weise geschlechtlich ausdifferenziert. So werden muslimische Frauen, die das Kopftuch tragen, häufig viktimisiert, indem das Kopftuch pauschal zum Merkmal einer frauenfeindlichen Religion und Kultur erklärt wird; muslimische Männer erscheinen im Rahmen dieser Logik des Othering bzw. der Islamisierung von Sexismus entsprechend pauschal als 8 | An dieser Stelle sei betont, dass ich den Intersektionalitätsbegriff nicht für geeignet halte, das Verhältnis von Rassismus und Sexismus umfassend zu bestimmen. Für eine Differenzierung von Ähnlichkeiten, Unterschieden, Kopplungen und Intersektionen von Rassismus und Sexismus vgl. Kerner (2009b: 310-376 und 2009a).

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unterdrückende Patriarchen. Derartige Zuschreibungen bzw. die Lebensumstände, auf die sie verweisen, sind untereinander oftmals hierarchisiert; es bedarf empirischer Untersuchungen, derartige Asymmetrien konkret zu bestimmen. Institutionell läuft die Intersektionalität von Rassismus und Sexismus auf ein komplexes Ineinandergreifen von Institutionengefügen hinaus, die Verhältnisse der Privilegierung und Benachteiligung organisieren, ein Ineinandergreifen beispielsweise von Familienstrukturen, Bedingungen am Arbeitsmarkt und Migrationsregime. Zu seinen Effekten zählt unter anderem der Umstand, dass Haushaltsarbeit trotz zunehmender Berufstätigkeit von Frauen bis dato weitgehend feminisiert geblieben ist. Zwar gibt es immer mehr Einpersonenhaushalte, und es verabschieden sich immer mehr heterosexuelle Kleinfamilien vom Hausfrau-Ernährer-Modell. Pflege, Erziehung und Hausarbeit werden jedoch oftmals nicht intern umverteilt, sondern entweder weiterhin von der Frau erbracht – Stichwort: Doppelbelastung – oder aber, bei entsprechenden finanziellen Möglichkeiten, externalisiert; und zu diesem Zweck prekär beschäftigt werden in vielen Fällen Migrantinnen. Derartige Arrangements mögen Mittelschichtsfamilien nötig erscheinen, weil Vollzeitberufstätigkeit und Beschäftigungen mit Aufstiegsmöglichkeiten häufig mit extensiven Arbeitszeiten einhergehen; finanziell möglich sind derartige Arrangements oft nur deshalb, weil die externen Haushaltshilfen irregulär und damit vergleichsweise günstig beschäftigt werden können. Dass es überhaupt eine Nachfrage nach derartigen Beschäftigungsverhältnissen gibt, liegt nicht zuletzt daran, dass sie insbesondere für illegalisierte Migrantinnen eine der wenigen Möglichkeiten sind, überhaupt ein Einkommen zu erwirtschaften. In diesem Falle kreuzen sich also spezifische Settings der Regulierung von Arbeitszeiten und der Migration mit Organisationsformen des häuslichen Lebens und erzeugen gemeinsame Effekte.9 Und zu diesen Effekten zählt neben der anhaltenden Feminisierung der Haushaltsarbeit auch die Entstehung eines informellen, prekarisierten Markts für Tätigkeiten in Privathaushalten sowie die Verzögerung von Reformen der Arbeitszeitregelungen im Zusammenhang regulärer Beschäftigungsverhältnisse von Fach- und Führungskräften. Bezogen auf die personale Dimension schließlich verweist Intersektionalität nicht zuletzt auf Prozesse der Subjektivierung bzw. der Identitätsformation mit mehrfachen Referenzpunkten, Prozesse, für die Encarnación Gutiérrez Rodríguez den Begriff der »Geschlechtsethnisierung« geprägt hat (Gutiérrez Rodríguez 1999: 205). Im Rahmen einer Untersuchung der Identitätsbildungsprozesse von Frauen, die nach Deutschland migriert waren, hat Gutiérrez Rodríguez gezeigt, dass die Ausbildung einer Geschlechtsidentität 9 | Für eine ausführlichere intersektionale Analyse transnationaler Versorgungsketten vgl. Lutz (2007).

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immer auch Ethnisierungsprozesse beinhaltet, denn ethnisch neutrale Geschlechtsnormen gibt es nicht. Ob Individuen ihre eigene Ethnisierung als solche wahrnehmen oder nicht, läge weiterhin an ihrer sozialen Positionierung; Mitglieder ethnischer Minoritäten würden in jedem Falle als stärker ethnisch markiert wahrgenommen als Mitglieder der majorisierten ethnischen Gruppe. Wichtig für ein intersektionales Verständnis von Sexismus ist dieser Befund vor allem deshalb, weil er nahelegt, dass Prozesse der geschlechtlichen und der ethnischen Identitätsbildung nicht klar unterschieden werden können, da sie ineinander verschränkt sind. Wenn man unterstellt, dass sexistische und rassistische Denkweisen individuelle Subjektivierungsprozesse massiv beeinflussen können, hat dies weitreichende Implikationen. Bezogen auf die personale Dimension rassistisch-sexistischer Intersektionen spielen neben Identitätsbildungsprozessen auch Handlungen eine Rolle. Handlungen und insbesondere Formen politischen Engagements, die auf eine singuläre Diversitätsachse wie etwa Geschlecht abzielen, können nämlich auch hinsichtlich anderer Diversitätsachsen nennenswerte Effekte erzeugen – und diese Effekte können in die unterschiedlichsten Richtungen gehen. Als Beispiel kann hier Alice Schwarzers konsequentes Eintreten gegen das muslimische Kopftuch angeführt werden (Schwarzer 2002: 172ff.). Man kann ihr sicherlich unterstellen, dass sie dabei primär von einem Interesse an weiblicher Selbstbestimmung geleitet ist, die sie durch den Islam behindert sieht. Versteht man den bundesdeutschen Kopftuchdiskurs allerdings nicht allein als Geschlechterdiskurs, sondern auch als Diskurs um religiöse Diversität, erscheint Schwarzers Position nicht länger allein als konsequenter Einsatz für weibliche Selbstbestimmung, sondern auch als Reproduktion antimuslimischer Denkfiguren, als Othering des Sexismus. Denn weder integriert sie die Geschlechterhierarchien des Katholizismus in ihren Kampf an der Schnittstelle von Androzentrismus und Religion, noch räumt sie die Möglichkeit ein, dass Frauen das Kopftuch selbstbestimmt tragen. Schwarzers Feminismus erzeugt damit intersektionale Effekte, wenngleich er gerade nicht von einer intersektionalen Analyse getragen scheint.

3. F oucault versus C ritical R ealism Andrew Sayer hat die These vertreten, dass Foucaults Machtanalytik und der Critical Realism parziell durchaus vereinbar seien (Sayer 2012). Clegg bescheinigt entsprechend den genealogischen Momenten der foucaultianischen Herangehensweise eine (der Intersektionalitätsforschung zuträgliche) retrodiktive Logik – denn auch in der Genealogie gehe es um den Versuch, konkrete Phänomene mithilfe einer Analyse multipler kausaler Kräfte zu erhellen (in die-

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sem Band: 284).10 Different scheint mir jedoch der wissenspolitische Anspruch kritisch-realistischer versus foucaultianischer Analysen. Clegg zufolge geht es dem Critical Realism in methodologischer Hinsicht in erster Linie darum, »ein allgemeines philosophisches Erklärungsmodell für die Sozialwissenschaften« (ebd.: 284) zu offerieren; das Ziel produktiver Forschungsprogrammatiken bestehe vor allem darin, »neue und zugleich bearbeitbare Fragen hervor[zu]bringen« (ebd.: 285). Die Sozialwissenschaften erscheinen hierbei als Instrument der ihrem Gegenstand gegenüber externen – wenngleich nicht unkritischen – Beobachtung der sozialen Welt. Der Anspruch foucaultianischer Analysen hingegen ist anders gelagert. Michel Foucault hat seit den frühen 1970er-Jahren Phänomene als machtdurchzogen beschrieben, die mit dem bis dato vorliegenden machttheoretischen Vokabular gar nicht erfasst werden konnten. Er hat ihre Verfasstheit entnaturalisiert beziehungsweise entnormalisiert, als problematisierungs- und damit als kritikwürdig ausgewiesen und auf diese Weise der gesellschaftswissenschaftlichen, jedoch auch der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zugeführt. Wenn man »über das Problem der Macht« in die Analyse einsteigt, hat Foucault in seinem 1978 gehaltenen Vortrag »Was ist Kritik?« erklärt, nehme man eine »Ereignishaftigkeitsprüfung« vor (Foucault 2010: 251). Man wolle nicht wissen, »was wahr oder falsch, begründet oder nicht begründet, wirklich oder illusorisch, wissenschaftlich oder ideologisch, legitim oder missbräuchlich ist« – vielmehr wolle man wissen, »welche Verbindungen, welche Verschränkungen zwischen Zwangsmechanismen und Erkenntniselementen aufgefunden werden können, welche Verweisungen und Stützungen sich zwischen ihnen entwickeln, wieso ein bestimmtes Erkenntniselement – sei es wahr oder wahrscheinlich oder ungewiss oder falsch – Machtwirkungen hervorbringt und wieso ein bestimmtes Zwangsverfahren rationale, kalkulierte, technisch effiziente Formen und Rechtfertigungen annimmt« (ebd.: 251f.). Getragen ist diese zunächst einmal analytische Operation von einem Interesse an den Lücken und Widerständen, die sich mit Blick auf das genannte Zusammenspiel identifizieren lassen; neben der »Auffindung der Akzeptabilität eines Systems« geht es um die »Auffindung der Akzeptanzschwierigkeiten« (ebd.: 254). An diesem Punkt nun verlässt die kritische Praxis ihren externen Beobachtungsposten, wächst gewissermaßen über diesen hinaus und wird zur bewussten Intervention im Machtspiel der Akzeptabilitäten. Es ginge darum, so Foucault über die kritische, historisch-philosophische Praktik, »sich seine eigene Geschichte zu machen: gleichsam fiktional die Geschichte zu fabrizieren, die von der Frage nach den Beziehungen zwischen den Rationalitätsstrukturen des wahren Dis10 | Zur Kombinierbarkeit weiterer poststrukturalistischer Positionen mit dem Critical Realism, vor allem jener von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau, vgl. Pühretmayer (2010).

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kurses und den daran geknüpften Unterwerfungsmechanismen durchzogen ist« (ebd.: 249). Das fiktionale Fabrizieren, das er hier zur Kernaufgabe der Kritik erklärt, ist nun nicht als Akt des wilden Fabulierens zu verstehen, sondern vielmehr als Arbeit an einer Gegengeschichte, die gesellschaftlich etablierte und (macht-)wirksame Denk- und Erklärungsmuster infrage stellt, indem sie diese mit einer Alternative konfrontiert. Die Aufgaben kritischer Wissenschaften, die sich an Foucault orientieren, gehen damit über das Deuten, Begründen und Aufwerfen operationalisierbarer Forschungsfragen deutlich hinaus: Denn (zusätzlich) geht es darum, die Grammatik etablierter Deutungs- und Begründungsmuster sowie die gängige Art des Fragenstellens in spezifischen Wissensfeldern zu hinterfragen. Dass ein solches Hinterfragen oftmals Widerstand erzeugt, ist alles andere als ein Geheimnis. Dass in der Geschlechterforschung seit ein paar Jahren ein intersektionaler Turn zu verzeichnen ist, kann vor diesem Hintergrund nur als Erfolg gewertet werden. Welche Rolle der Critical Realism in diesem Feld in den kommenden Jahren einnehmen wird, ist noch nicht abzusehen – verbürgt ist allerdings, dass Clegg bis dato nicht die einzige geblieben ist, die sich einer solchen Verbindung angenommen hat. Angela Martinez Dy, Lee Martin und Susan Marlow etwa haben sich in diesem Sinne um Möglichkeiten einer kausalen Erklärung der gelebten Erfahrung sozialer Privilegierung und Benachteiligung bemüht – den wichtigsten Beitrag des Critical Realism zur Intersektionalitätstheorie sehen sie im Bereitstellen eines alternativen ontologischen Rahmens (Martinez Dy/Martin/ Marlow 2014: 464). Inwieweit und inwiefern sich eine konkrete intersektionale Analyse und deren Theoretisierung auf dieser Grundlage von bereits vorliegenden mehrdimensionalen Ansätzen unterscheiden würde, lassen sie jedoch genauso offen wie Clegg. Dass der Critical Realism mit dem sozialwissenschaftlichen Strang der Intersektionalitätsforschung grundsätzlich kompatibel ist, braucht vor diesem Hintergrund nicht infrage gestellt zu werden. Inwiefern er diese Forschung tatsächlich auf ein neues Gleis zu setzen in der Lage ist, ihr richtungsweisende Impulse geben oder wenigstens die bisherige Forschung theoretisch innovativ untermauern kann, muss indessen noch aufgezeigt werden.

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Wie weit reichen soziale Konstruktionen? Kritik und Naturalismus Andrew Sayer

Als Vertreter des Critical Realism, der seit vielen Jahren kritische Sozialwissenschaft zu betreiben versucht, habe ich häufig Arbeiten der Kritischen Theorie herangezogen, um mir über Natur und Zweck dieser Art Forschung klar zu werden. Obwohl ich dieser Literatur einige wichtige Einsichten verdanke, so erschien sie mir immer auch auf eigenartige Weise beschränkt. Gleichzeitig ist die empirisch ausgerichtete kritische Sozialforschung, verglichen mit den 1960ern und 1970ern, in den letzten dreißig Jahren zunehmend ängstlicher und vorsichtiger geworden: Sie verhält sich der sozialen Welt gegenüber nicht annähernd mehr so kritisch wie die Werke der sozialwissenschaftlichen Gründerväter im 18. und 19. Jahrhundert (Sayer 2011). Innerhalb der englischsprachigen Sozialwissenschaft und Philosophie war Habermas während dieses Zeitraums der einflussreichste Vertreter Kritischer Theorie. Einiges an seinen und den von ihm beeinflussten Arbeiten finde ich merkwürdig: • das Ausmaß, in dem sie damit beschäftigt sind, Wesen, Legitimation und Zweck der Sozialtheorie durch immer neue Interpretationen der Klassiker zu definieren und zu verteidigen; Kritische Theorie als solche scheint ihren Blick lieber nach innen zu richten und über Gesellschaftskritik zu reflektieren, anstatt diese zu praktizieren; • ihre Vermeidung von Ontologie und damit einhergehend des Naturalismus, sodass all diese Diskussionen über Kritik nichts oder nur wenig über Wohlergehen (well-being), Entfaltung (flourishing) und Leid aussagen; • ihre Tendenz, prozeduralen und formalen Kriterien der Kritik den Vorzug zu geben und substanziellen Fragen, was gut oder schlecht ist, auszuweichen, was sowohl kantianischen Einflüssen geschuldet ist als auch dem Bemühen, Parteilichkeit, Ethnozentrismus und einer Verengung menschlicher Möglichkeiten zu entgehen;

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• der Vermeidung von Ontologie entspricht eine Konzentration auf »horizontale« intra- und interdiskursive Vernunftbeziehungen, während »vertikalen« Beziehungen zwischen Diskursen und ihren Referenzobjekten nur geringe Bedeutung beigemessen wird; • ihre überwiegend abstrakte Ausrichtung und Scheu vor empirischen Bezügen, die ihre Behauptungen veranschaulichen und als Beispiele dienen könnten. Im Critical Realism hingegen nimmt die Beschäftigung mit Ontologie einen zentralen Stellenwert ein (vgl. Bhaskar 1975, 1979 und Collier 1994). In der Epistemologie ist dieser Ansatz großzügig und fallibilistisch; er betont die Vermitteltheit und Fehlbarkeit unserer Erkenntnis, gerade weil die Welt nicht unserem Denken entspringt: Wenn wir in der Lage sind, uns über die Welt zu täuschen, muss es etwas von unserem Denken Unabhängiges geben, über das wir uns täuschen können. Grundsätzlich zeichnet sich Realismus durch die Forderung aus, diese Unabhängigkeit ernst zu nehmen, ohne deshalb in den Defätismus zu verfallen, es ließe sich überhaupt kein verlässliches Wissen über die Welt erlangen. Neben unserer Fähigkeit, die Welt unterschiedlich zu interpretieren (construe), können wir Dinge auch sozial konstruieren (construct). Damit uns dies gelingt, müssen wir allerdings, wie bei jedem Konstruktionsprozess, Rücksicht auf die (physischen und ideellen) Eigenschaften der Materialien nehmen, die wir verwenden. Wunschdenken funktioniert selten: Der Grad unseres Erfolgs gibt uns über die Angemessenheit unserer Erkenntnis und Praxis Auskunft. Der Critical Realism hat insofern eine naturalistische Seite, als seine Ontologie uns darauf lenkt, welche Art Wesen wir sind: Wenn es um ethische Vernunft geht, ist Aufmerksamkeit gegenüber den Fähigkeiten und Verletzlichkeiten von Menschen und anderen fühlenden Wesen (sentient beings) unverzichtbar. Anstatt Vernunft als freischwebende Rationalität zur einzig sicheren Quelle von Kritik zu erheben, bezieht der Critical Realism andere Formen der Weltauslegung und -erfahrung ein, seien es die Natur- und Sozialwissenschaften oder alltägliche Emotionen und Praktiken. Wenngleich ich als Critical Realist schreibe, bin ich von drei weiteren wichtigen Strömungen beeinflusst, die diese Perspektive ergänzen: dem Neoaristotelismus, insbesondere von Martha Nussbaum, aber auch von Alasdair MacIntyre, Charles Taylor und Joseph Dunne; der feministischen care-Ethik; und von Adam Smiths Theorie der ethischen Gefühle.1 Folglich schlage ich auch keine »reine« kritisch-realistische Perspektive kritischer Sozialwissenschaft vor. Ich werde mich auf einige Gedanken aus meinem Buch Why Things Matter to Peo1 | Vgl. Nussbaum 2001, MacIntyre 1999, Dunne 2009, Taylor 1993, Kittay 1999, Tronto 1994 und Smith 1759.

Wie weit reichen soziale Konstruktionen?

ple: Social Science, Values, and Ethical Life (2011) stützen und versuchen, diese ein wenig weiterzuentwickeln, indem ich zentrale Unterschiede zur Tradition der Kritischen Theorie benenne. Dabei gebe ich in Form einer Diskussion verschiedener Fehlschlüsse zunächst einen kurzen Überblick über die Hauptelemente einer aus meiner Sicht tragfähigen und gerechtfertigten kritischen Sozialwissenschaft. Es folgt eine Erörterung relevanter Aspekte des Critical Realism und des Naturalismus, von der ich dann zu einer Diskussion von Werten, dem Wesen kritischer Sozialwissenschaft und einer kurzen Darstellung meiner Bedenken gegenüber der Diskursethik übergehe. Abschließend werden verschiedene kritische Standpunkte der Sozialwissenschaft überprüft. Doch als Erstes muss der Weg dafür geebnet werden.

1. D er schol astische F ehlschluss und seine G eschwister [Die Kritik hat sich] in die »kleine Welt« des Wissenschaftsbetriebs zurückgezogen, wo sie sich mit sich selbst vergnügt, ohne jemals irgendjemandem gefährlich werden zu können. (Bourdieu 2001: 2)

Als »scholastischen Fehlschluss« bezeichnet Pierre Bourdieu die unbewusste Neigung von Wissenschaftlerinnen, die besonderen Eigenschaften der eigenen kontemplativen und diskursiven Beziehung zur Welt auf ihre Forschungsgegenstände zu projizieren (Bourdieu 1997). Der scholastische Fehlschluss kann auch als eine der Zielscheiben angesehen werden, auf die Marx seine Thesen über Feuerbach richtet. Er ist besonders verbreitet in der Philosophie, der kontemplativsten und diskursivsten aller Disziplinen, und damit auch in der Kritischen Theorie: Die unreflektierte Projektion einer von Vernunft und Kontemplation geprägten Lebensweise auf die sozialen Akteure lässt diese hauptsächlich als Denkende erscheinen – und nicht als Tätige, deren Empfindungsvermögen über die Fähigkeit zur Vernunft hinausreicht. Wie Bourdieu zeigt, tun Menschen vieles »automatisch«, auf Basis von Dispositionen und Fertigkeiten, die sie in früheren sozialen Praktiken erworben haben und derer sie sich nur teilweise bewusst sind. Darüber hinaus bekräftigt die »Distanz gegenüber dem Notwendigen« (beispielsweise als Zeit für abstrakte und nicht-instrumentelle Tätigkeiten) symbolische Herrschaft ebenso, wie es die Geringschätzung des Konkreten und Empirischen in manchen akademischen Schriften tut. Während dieser Fehlschluss offenkundig ist, lassen sich vor allem in der eher philosophisch orientieren Sozialtheorie noch verschiedene andere, dazu komplementäre Orientierungen finden. Erstens besteht die Neigung, Ursachen immer als etwas Feindliches sowie Körper und Emotionen als Quellen von Heteronomie zu betrachten. Die

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Vernunft soll demgegenüber Autonomie spenden, indem sie (scheinbar) der Kausalität entkommt und dennoch irgendwie fähig ist, unsere Handlungen zu lenken. Diese Dichotomie von Vernunft und Verursachung bietet uns keine Möglichkeit zu verstehen, wie wir in die Welt eingreifen, wie wir sie beeinflussen und von ihr beeinflusst werden, indem wir Impulse sowohl geben als auch aufnehmen, also gleichzeitig kausale Akteure und kausalen Prozessen Unterworfene sind. Auf philosophischer Ebene wird diese Dichotomie von der Tendenz gestützt, Diskurse als etwas a-kausales, vom Reich der Ursachen radikal Verschiedenes zu betrachten. Für Vertreterinnen des Critical Realism dagegen sind Ursachen ganz einfach alles, was Veränderung hervorbringt oder verhindert. Während also Diskurse und sinnhaftes Handeln, im Unterschied zu rein physischen Prozessen, in ihren wesentlichen Bedeutungen nur durch Verstehen (im Original deutsch) zu erfassen sind, können sie doch zugleich auch Ursachen von Verhalten sein. Gingen wir nicht davon aus, dass Gründe und andere diskursive Elemente Menschen dazu veranlassen (d.h. verursachen) können, auf bestimmte Weise zu denken, zu fühlen und zu handeln, worin bestünde dann der Zweck von Diskursen?2 Zweitens wird der menschliche Geist (mind) auf seine Fähigkeit zu verstandesmäßiger Reflexion reduziert, während seine Interaktion mit dem Körper und sein emotionales Vermögen als nebensächlich oder, schlimmer noch, als eine Bedrohung für die Vernunft erscheinen. Unabhängig von der Frage ihrer intellektuellen Rechtfertigbarkeit lässt sich diese Abneigung gegenüber Körper und Emotion soziologisch mit der sozialen (Klassen-)Distanz zwischen Akademikerinnen und denjenigen erklären, deren Arbeit und Verhältnis zur Welt vornehmlich praktisch ist. Die Bewahrung akademischer Kühle und professioneller Ernsthaftigkeit – Bourdieu zufolge handelt es sich um Strategien der Distinktion – führt leicht zu einer Flucht vor Verletzlichkeit, Emotionalität, Liebe, Kindlichkeit und Hilflosigkeit, sodass Sozialtheorie und Philosophie einen ziemlich autistischen, hochtrabenden und maskulinistischen Charakter bekommen. Dieser Blick auf die Welt entspricht den Funktionen der linken Hirnhälfte – logisch und fokussiert, aber ohne die Kontextsensitivität, Empa2 | Eine Erklärung für die Weigerung, sich Gründe und andere diskursive Elemente als etwas Kausales vorzustellen, ist das Unvermögen, die herrschende positivistische Auffassung von Kausalität als strikten Regelmäßigkeiten einer Kritik zu unterziehen. In der Tat weisen Diskurse und ihre Wirkungen keine Regelmäßigkeiten auf. Der Critical Realism zeigt, dass diese Kausalitätskonzeption inkohärent ist, und plädiert statt dessen für eine Vorstellung von kausalen Kräften, deren Aktivierung kontingent ist und die in ihren Wirkungen, sobald sie aktiviert sind, vom Kontext abhängen, sodass Kausalität keineswegs mit empirischen Regelmäßigkeiten einhergehen muss. Es kann daher auch singuläre Ursachen – ob materiell oder diskursiv – geben (Bhaskar 1979 und Harré/ Madden 1975).

Wie weit reichen soziale Konstruktionen?

thie und Anteilnahme, die mit der rechten Hirnhälfte in Verbindung gebracht werden. Wie die Neurowissenschaft gezeigt hat, ist die erstere auf letztere angewiesen: Ohne die rechte Hirnhälfte können wir nicht gut urteilen oder gelingende Interaktionen mit anderen haben (Damasio 1994). Dies zu betonen bedeutet keine romantische Ablehnung der Vernunft, denn wir benötigen Vernunft und Wissenschaft, um unser Verständnis dieses Sachverhalts zu vertiefen. Drittens kann diese Wertschätzung des erwachsenen, implizit männlichen und unabhängigen logischen Geistes leicht zu einer Sichtweise des menschlichen Lebens führen, die unsere existenzielle Abhängigkeit von anderen, unser Bedürfnis nach Fürsorge und emotionaler Intelligenz außer Acht lässt. Auch gerät so die Art und Weise aus dem Blick, in der unsere Fähigkeiten als Erwachsene, einschließlich unseres Vermögens zu unabhängigem Denken und zum Verstehen anderer, von unserer Erziehung abhängen. Die psychoanalytischen Stränge innerhalb der Kritischen Theorie sprechen dies zwar an, verbleiben dabei allerdings eher im Dialog mit ihren Ahnherren (in diesem Fall Freud), als dass sie sich mit den Ergebnissen der neueren empirischen Forschung befassen. Unsere soziale Natur geht zuerst auf unsere frühkindliche Abhängigkeit von der Fürsorge anderer und erst danach auf kommunikative Interaktion zurück. Beide Zusammenhänge sind wichtig, und es ist gefährlich, den ersteren als nur vorübergehend bedeutsam abzutun. Die Pathologien der zeitgenössischen Männlichkeit in vielen Gesellschaften haben viel mit der Verdrängung und Verleugnung dieser Verletzlichkeit, Abhängigkeit und Kognitionsfähigkeit der rechten Gehirnhälfte zu tun. Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass Kritische Theorie sich ihrer Reflexivität rühmt, zugleich jedoch diese Einseitigkeit verkörpert. Im Endeffekt verleiten uns der scholastische Fehlschluss und die mit ihm verbundenen Orientierungen zu Folgendem: Wenn wir kritische Standpunkte entwickeln, von denen ausgehend Gesellschaften, Praktiken und Diskurse bewertet werden können, vernachlässigen wir naturalistische Kriterien. Um jedoch eine angemessene kritische Sozialwissenschaft auszuarbeiten, müssen wir all diesen Neigungen entgegenwirken. Axel Honneths anerkennungstheoretische Arbeiten sind auch deshalb eine begrüßenswerte Entwicklung innerhalb der Kritischen Theorie, weil sie uns näher an Naturalismus und eudämonistische (d.h. das Wohlergehen betreffende) Kriterien heranführen. Beispielsweise erkennen sie die Bedeutung an, die rückhaltlose Liebe für Individuen in ihrer Kindheit hat (vgl. Honneth 1992 und 2000). Honneths Arbeiten sind daher für die kritische Sozialwissenschaft wesentlich brauchbarer als die Diskursethik.

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2. C ritical R ealism und N atur alismus Wie bereits erwähnt, geht es im Critical Realism hauptsächlich um Ontologie. Anders als im logischen Empirismus hängt Kausalität ihm zufolge nicht von der logischen Beziehung zwischen Aussagen oder Regelmäßigkeiten ab, sondern von den Eigenschaften und Beziehungen der Dinge. Kommt diese Philosophie in der Sozialwissenschaft zum Einsatz, stellt sie folgende Art »retroduktiver« Fragen (Sayer 2000): • Was ist es, das x ermöglicht y zu tun? • Was hat es mit Menschen und Gesellschaften auf sich, dass erstere zu kulturellen und ethischen Wesen werden? • Was an den Menschen führt dazu, dass Anerkennung – oder überhaupt etwas – für sie wichtig ist (matter to them)? Um die beiden letzteren Fragen zu beantworten, müssen wir unsere Natur als menschliche Wesen in Betracht ziehen. Diese Fragestellung lässt bei vielen die Alarmglocken läuten: Wir sind kulturelle und geschichtliche Wesen, so der Einwand; uns eine Natur zuzuschreiben birgt das Risiko einer Stillstellung, welche die historischen Spezifika unserer eigenen Kultur universalisiert und zur Norm macht. Diese Gefahren bestehen zweifelsohne, doch ist die Aussage, wir seien kulturelle Wesen, bereits eine Aussage über unsere Natur und verschleiert bloß eine realistische Frage: Was an menschlichen Wesen (und einigen anderen Spezies) versetzt sie in die Lage, Kulturen zu entwickeln? Nicht jedes Objekt oder jede Spezies besitzt ein Vermögen der Akkulturation. Wird unsere Natur (im Sinne ihrer Konstitution und Fähigkeiten, nicht bloß ihrer Biologie) vernachlässigt, bringt das ebenfalls Risiken mit sich. Nicht selten werden die Ängste, die dieser Vernachlässigung zugrunde liegen, durch die falsche Annahme verstärkt, Natur sei unveränderlich. Doch kann sie umgewandelt werden, wenngleich in Einklang mit ihren Eigenschaften. Versuche, die menschliche Natur zu beschreiben, werden zuweilen als »philosophische Anthropologie« bezeichnet, was in manchen Kreisen zu einem pejorativen Begriff geworden ist. Ich schlage hingegen etwas anderes vor, nämlich ein empirisches Verständnis, das entsprechend den Fortschritten relevanter Forschung immer wieder revidiert wird.3 Sicherlich lauert hierbei die Gefahr, gravierende Fehler zu machen, doch sind die Risiken größer, wenn wir weiterhin so tun, 3 | Während ich den Ausdruck »philosophische Anthropologie« in meinem Buch von 2011 noch verwendet habe, bin ich mittlerweile davon abgekommen. Und zwar nicht nur weil dieser Ausdruck als vereinfachend und ungeklärt – ungeprüft? – abgewertet wird, sondern auch weil Behauptungen über unsere Natur nicht weniger auf empirischer Forschung beruhen oder gar »philosophischer« sind als andere empirische Aussagen.

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als könnten wir ohne ein solches Verständnis auskommen. Dann nämlich erscheint es möglich, Misshandlung und Gewalt willkürlich als etwas sozial Gutes »zu konstruieren«. Marx pochte in realistischer Manier darauf, diesen Fragen nachzugehen, insbesondere im Hinblick auf das Empfindungsvermögen (sentience). In den Feuerbachthesen schlägt er vor, »Sinnlichkeit« nicht als bloße Fähigkeit zur Kontemplation, sondern »als praktische menschlich-sinnliche Tätigkeit«, als zugleich sinnstiftend und kausal wirksam zu betrachten. In den Ökonomischphilosophischen Manuskripten bietet er auch eine grundlegende Erklärung dafür an, warum uns Dinge wichtig sind (why things matter to us): »Der Mensch als ein gegenständliches sinnliches Wesen ist daher ein leidendes und, weil sein Leiden empfindendes Wesen, ein leidenschaftliches Wesen.« (Marx 1844: 579) Marx-Forscherinnen – ebenso wie kritischen Theoretikerinnen – dürfte das wohlbekannt sein. Es gibt allerdings noch eine weniger bekannte, aber bemerkenswerte Passage in einem Brief an Lasalle. Nach dem Tod seines achtjährigen Sohnes Edgar schreibt Marx: Bacon sagt, daß wirklich bedeutende Menschen so viel Relationen zur Natur und der Welt haben, so viel Gegenstände des Interesses, daß sie jeden Verlust leicht verschmerzen. Ich gehöre nicht zu diesen bedeutenden Menschen. Der Tod meines Kindes hat mir Herz und Hirn tief erschüttert, und ich fühle den Verlust noch so frisch wie am ersten Tag. Meine arme Frau ist auch völlig downbroken. (Marx 1855: 617)

Dies legt einen anderen Akzent auf den sozialen Charakter unserer Natur, als Marx es in seinen öffentlichen Äußerungen getan hat. Wir sind nicht bloß soziale Wesen, indem wir zusammen leben, Arbeitsteilungen ausbilden usw. Wir sind es auch als relationale Wesen, die von klein auf Bindungen (attachments) mit anderen eingehen, von denen unser Überleben, unsere Identität und unsere grundlegende ontologische Sicherheit abhängen. Diese Bindungen lassen sich nicht gänzlich auf kommunikative Interaktionen mit »Gesprächspartnerinnen« reduzieren, wie es der scholastische Fehlschluss nahelegt. Unser Bindungsbedürfnis ist vielmehr einer der Gründe für unsere Verletzlichkeit und vice versa. Margaret Archer folgend, lässt sich hinzufügen, dass wir Wesen sind, die kontingenterweise zu Verpflichtungen und Anteilnahmen (commitments and concerns) neigen, egal ob diese sich auf Arbeit, Gerechtigkeit, Politik, Religion, Kunst, Musik, Sport, Wissenschaft, Philosophie oder irgendetwas anderes beziehen, das von Archäologie und Bienen bis zu Yoga und Zoologie reichen mag (Archer 2000). Diese Praktiken können in unserem Leben derart wichtig werden, dass der Zugang zu ihnen wie auch ihr Gelingen für unsere Außerdem sehe ich nicht, warum »Anthropologie« von Biologie, Neurowissenschaft und Psychologie geschieden werden sollte.

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Identität und unser Wohlergehen entscheidend sind. Es handelt sich hierbei nicht um »apriorische« philosophische Aussagen, sondern um empirische Befunde, die angefochten werden können. Da wir sowohl verletzlich als auch mit Fähigkeiten ausgestattet sind und immer zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, balancieren, sind wir notwendigerweise evaluative Wesen (Archer 2000). Sonst wäre auch Normativität zwecklos. Als soziale Wesen, die wir sind, ist es für uns besonders wichtig, andere und ihr Verhalten zu bewerten. Diese Fähigkeit zur Bewertung manifestiert sich nicht nur in unserem bewussten Verhältnis zu unseren Lebensumständen, sondern auch im fortlaufenden halb-bewussten, nicht-diskursiven praktischen Handeln. Und zwar durch unsere emotionalen, affektiven, physischen Reaktionen, die stark von in vorhergehenden Praktiken erworbenen Dispositionen abhängen (Murdoch 1970). All dies – unsere Fähigkeit zur sinnlich-menschlichen Tätigkeit, unser Vermögen zu leiden (und folglich auch zur Entfaltung), unsere Abhängigkeit von und unser Bedürfnis nach anderen als zutiefst soziale Wesen wie auch unsere Emotionen – sind objektive Eigenschaften, obgleich die Weise, in der sie sich ausformen, kulturell spezifisch ist. Wir haben unterschiedlich akkulturierte Naturen. Kulturelle Wesen zu sein, erfordert eine bestimmte neuronale Ausstattung und soziale Erziehung. Dass uns überhaupt etwas wichtig ist, setzt unsererseits Bedürftigkeit, Mangel und Begehren voraus sowie die Fähigkeit zu Entfaltung und Leid. Wohlergehen und Entfaltung sind objektive4 Daseinszustände, die wir (stets fehlbar) aufzufinden und herzustellen bestrebt sind. Unsere Intentionen lassen sich nur verwirklichen, wenn sie mit jenen Fähigkeiten vereinbar sind. Die Tatsache, dass solche Zustände im Allgemeinen sozial konstruiert werden, ändert nichts daran. Weil Kinder eine verletzliche Natur haben, ist elterliche Liebe ihrem Wohl zuträglicher als Vernachlässigung und Misshandlung, unabhängig davon, ob dies diskursiv anerkannt wird oder nicht. Auch die Tatsache, dass Formen des Wohlergehens kulturspezifisch variieren, macht diese nicht weniger objektiv. Und genauso wenig folgt daraus, dass jede Lebensform der menschlichen Entfaltung zuträglich ist – als ob unsere Natur beliebig formbar und frei von Schranken wäre. Entfaltung ( flourishing) bedeutet nicht bloß die Abwesenheit von Leid: Wie Aristoteles betonte, gehören zu ihr auch Entwicklung und Gebrauch von Fähigkeiten. Was wir mit unserem Leben tun können bzw. müssen, ist für unsere Entfaltung zentral. Es handelt sich hierbei nicht nur um eine Frage der Ressourcenverteilung oder Anerkennung, so wichtig diese auch sind, son4 | Ich verwende »objektiv« hier im ontologischen Sinn von Dingen, die unabhängig von unserem Wissen existieren können, nicht im epistemologischen Sinn von »wahrem Wissen«.

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dern um eine Frage der Beteiligung (contribution) oder allgemeiner der »Befähigungen« (capabilities) – wie etwa am Gemeinschaftsleben teilzunehmen, Gewalt und Gefahren zu vermeiden, unsere Körper, Vorstellungskräfte und Sinne einsetzen zu können, an relevanten politischen Entscheidungen teilzuhaben etc. (vgl. Sen 1999 und Nussbaum 2000). Nussbaum erklärt, ihre Liste von Befähigungen sei provisorisch und Resultat einer kulturvergleichenden Diskussion von Wohlergehen. Sie sei »dicht und unbestimmt«: dicht in dem Sinne, dass sie die Vielschichtigkeit menschlicher Entfaltung anerkennt; bewusst unbestimmt, um verschiedene kulturelle Formen dieser Vielschichtigkeit zuzulassen. Sen und Nussbaum sind sich des Phänomens der »adaptiven Präferenzen« wohl bewusst: Menschen, insbesondere in benachteiligten Positionen, akzeptieren diese Positionen, anstatt Widerstand zu leisten. Wie Bourdieu verschiedentlich gesagt hat, »verweigern sie, was ihnen verweigert wird«. Doch im Einklang mit ihren aristotelischen Prägungen reduzieren Sen und Nussbaum Wohlergehen nicht auf eine subjektive Frage des »Glücklichseins« (happiness). Wem Teilhabemöglichkeiten an der politischen Gestaltung des Gemeinwesens verweigert wurden, der kann diese Chancen, sobald sie gewährt werden, vielleicht nicht gleich zu schätzen wissen – nachdem die gesamte Erziehung die eigene Irrelevanz und Wertlosigkeit vermittelt hatte. Welche Präferenzen adaptiv und welche mit Entfaltung konform sind, muss durch eine offene demokratische Diskussion entschieden werden, die für empirische Belege und Experimente empfänglich ist. Anstatt den Kopf in den Sand zu stecken und zu behaupten, alles sei subjektiv oder empirische Befunde seien unverlässlich, und dann jedweden Vorschlag zur Verpflichtung auf menschliche Entfaltung abzulehnen, sollten wir die Herausforderung der capabilities-Thesen annehmen. Erachten wir z.B. die Fähigkeit, unsere Körper, Vorstellungskraft und Sinne einzusetzen, als wichtig für unser Wohlergehen oder nicht? Leid oder Entfaltung zu beschreiben bedeutet, Behauptungen aufzustellen, die zugleich untrennbar faktisch wie auch evaluativ sind. So widersetzt sich die Aussage der Sozialarbeiterin: »Dieses Kind wird misshandelt« jeder Tatsachen-Werte-Unterscheidung. Im Fall von »dichten ethischen Begriffen« wie Misshandlung, Erniedrigung, Vernachlässigung oder Rassismus können Beschreibung und Wertung nicht voneinander getrennt werden. Wer nicht weiß, dass Leid, Erniedrigung etc. schlecht sind, weiß nicht, was sie sind. Ohne auf Entfaltung und Leid zu referieren, kommen wir bei der Beschreibung sozialer Phänomene nicht weit. Wenn wir Menschen fragen, wie es ihnen geht, erwarten wir einen Hinweis darauf, wie gut oder schlecht es um sie steht. Würde Ihre Ärztin Ihnen sagen, Ihr Blutdruck liege bei 190/100, sich dann aber weigern, ihnen mitzuteilen, ob dies gut oder schlecht ist, und zwar weil eine solche Aussage ein »nicht objektives« Werturteil sei, würden Sie eine andere Ärztin aufsuchen.

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Ich bin mir darüber im Klaren, dass viele Kritische Theoretikerinnen eine strikte Unterscheidung von Tatsachen und Werten ebenfalls ablehnen. Meine Gründe dafür sind allerdings – übereinstimmend mit Realismus und Naturalismus – primär ontologische. Der Glaube, wir könnten die lebendige Welt ohne Werturteile verstehen, ist nicht etwa deshalb falsch, weil Werturteile ein bedauerlicherweise unvermeidbares Übel wären, sondern weil sie notwendig sind, um Daseinszustände zu beschreiben – und natürlich zum Leben selbst. Bei guter oder schlechter Gesundheit zu sein, ist ein Daseinszustand, der nur intersubjektiv verstanden werden kann, aber dennoch nicht einfach willkürlich »konstruiert« ist. »Objektivität« im epistemologischen Sinne eines Wahrheitswertes hat keine notwendig negative – oder positive – Beziehung zu Werten (Anderson 2004). Objektivität als Wertfreiheit zu definieren, ist daher ein Fehler. Es besteht keinerlei Notwendigkeit, Tatsachen und Werte zu trennen oder sie einander entgegenzusetzen. Sicherlich sind Bewertungen fehlbar, doch gilt dies auch für Tatsachenbehauptungen; es gibt hier keinen radikalen Unterschied. Der Wunsch nach absoluten Wahrheitsgarantien ist verfehlt, und die notwendig folgende Enttäuschung führt leicht zu einem weltabgewandten Skeptizismus oder Relativismus. Zweifelsohne wird der Einwand kommen, ein jedes Kriterium des Wohlergehens sei für kritische Sozialwissenschaft problematisch, da wir diesbezüglich keine vollständige Beschreibung abgeben können, die für alle Menschen, Kulturen, Zeiten und Orte Gültigkeit besitzt. Das stimmt natürlich, doch sollten wir uns vor dem Alles-oder-nichts-Fehlschluss hüten: Aus der Tatsache, dass wir nicht alles über unser Wohlergehen sagen können, folgt keineswegs, dass wir gar nichts Verlässliches darüber wissen.5 Es gibt eine Reihe wesentlicher Elemente des Wohlergehens, von denen einige zu Rechten erhoben wurden, die wir kennen und die wir nicht übergehen dürfen. Wie können kritische Sozialwissenschaftlerinnen Adjektive wie »rassistisch« verwenden, ohne etwas über das menschliche Vermögen zu Entfaltung und Leiden zu unterstellen?

5 | Kant war in dieser Hinsicht zu pessimistisch: »Es ist uns nicht einmal recht bekannt, was der Mensch anjetzo wirklich ist, ob uns gleich das Bewußtsein und die Sinne hiervon belehren sollten; wie viel weniger werden wir erraten können, was er dereinst werden soll. Dennoch schnappet die Wißbegierde der menschlichen Seele sehr begierig nach diesem von ihr so entfernten Gegenstande, und strebet, in solchem dunklen Erkenntnisse, einiges Licht zu bekommen.« (Kant 1775, NTH, zitiert nach Wood: 2003)

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3. W erte und Tugenden Mit dieser naturalistischen Basis kritischer Bewertung ist eine spezifische Sichtweise von Werten verbunden. Die bekannte Dichotomisierung von Werten und Tatsachen ist Ergebnis eines zweihundertjährigen Prozesses, in dessen Verlauf viele Philosophinnen und Sozialwissenschaftlerinnen versucht haben, Werte aus den Sozialwissenschaften zu verbannen. Dieser Prozess hat jedoch noch eine andere Seite, die seltener zur Kenntnis genommen wird: die Ent-Rationalisierung von Werten. Um diese problematische Trennung zu korrigieren, müssen Werte wieder an Bewertungen gekoppelt werden. Werte sind Abstraktionen von bestimmten Bewertungen, die sich als Wertorientierungen oder Haltungen sedimentieren und dann wiederum rekursiv die Bewertungen bestimmter Sachverhalte beeinflussen. Der Zirkel ist allerdings keineswegs geschlossen, da sich Bewertungen auf Dinge beziehen, die unabhängig von ihrer Bewertung existieren können – wie z.B. das Verhalten anderer. Insbesondere in der Ethik sind Bewertungen nicht bloß konventionell, sondern eudämonistisch. Werte haben daher eine direkte oder indirekte Beziehung zu Wohlergehen oder Leiden als objektiven Daseinszuständen. Selbstverständlich sind die Bewertungen Gegenstand von Auseinandersetzungen. Aber das trifft, wie bereits betont, auf Tatsachenaussagen ebenfalls zu und ist nichts Außergewöhnliches. Abbildung 1

WERTE abstrakt

Abstraktion und Sedimentierung beeinflussen

beeinflussen

(BE)WERTUNGEN konkret

OBJEKTE

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Obgleich Werte der Tendenz nach konkrete Bewertungen prägen, können Menschen feststellen, dass beobachtete Praktiken oder Situationen sich nicht in ihre üblichen Bewertungen einfügen. (Wenn wir ein spezifisches Urteil treffen, stützen wir uns nicht auf einen, sondern auf viele Werte, sodass Konflikte zwischen ihnen möglich sind.) Daher kann unerwartet tugendhaftes Verhalten, das ein Mitglied der verachteten Gruppe an den Tag legt, auch eine Rassistin dazu veranlassen, ihre Vorurteile infrage zu stellen. Andrew Collier, ein Philosoph des Critical Realism, hat gezeigt, dass ethisches Verhalten von Aufmerksamkeit gegenüber der jeweils gegebenen Situation abhängt. Deutlich wird das an Tugendbegriffen wie »›rücksichtsvoll‹ oder ›rücksichtslos‹, ›achtsam‹ oder ›unachtsam‹, ›sensibel‹ oder ›unsensibel‹« (Collier 1999: 16). Wenn wir uns fragen, was wir tun oder wie wir etwas beurteilen sollen, ist es entscheidend, soviel wie möglich über die gegebene Situation herauszufinden und sie zu erörtern (vgl. Collier 1999 und 2004). Im Englischen bezeichnen wir ethische Verhaltensweisen oder Individuen häufig als »vernünftig« (reasonable), und zwar nicht nur, wenn sie der Vernunft folgen, sondern auch, wenn sie dem Wohlergehen ihrer Mitmenschen Aufmerksamkeit schenken und den Bedürfnissen und Verletzlichkeiten anderer gegenüber offen sind. Es handelt sich um ein ethisches Urteil über den Charakter, das, wie Adam Smith (1759) betont hat, Empathiefähigkeit voraussetzt.6 Es gibt keine Gerechtigkeit, wenn wir nicht in unserem Tun den Menschen »gerecht werden«, indem wir Aufmerksamkeit gegenüber ihren vorhandenen Fähigkeiten und Verletzlichkeiten zeigen.7 Wer Normen blind und ohne Rücksicht auf derartige Besonderheiten befolgt, wird von uns als »unvernünftig« angesehen. Wie der berüchtigte Fall Adolf Eichmanns gezeigt hat, kann dies zu hochgradig unethischem Verhalten führen. Jaret Zigon formuliert es so: Moralität sollte besser als dialogischer Prozess verstanden werden, in dem Menschen in ständiger Interaktion mit ihrer Welt und ihren Mitmenschen stehen, und nicht als festgelegte Klasse von Überzeugungen, aus denen angemessene Antworten auf bestimmte Situationen ausgewählt werden (2008: 155). Soziologisch gesehen sind Tugenden und Laster Dispositionen – erworbene und verkörperte Neigungen, sich auf bestimmte Weise zu verhalten und von daher Teil unseres Habitus, auch wenn Bourdieu eigenartigerweise wenig aus dessen ethischer Seite gemacht hat. Tugenden und Laster haben eine emotionale Dimension, doch sollten Emotionen wiederum nicht als der Ver6 | Smiths bevorzugter Ausdruck war »sympathy«. Er meinte damit allerdings primär die Fähigkeit, sich in die Gedanken, Gefühle und Situationen anderer hineinzuversetzen, und weniger das »Mitgefühl«, das daraus folgen kann, aber nicht muss. 7 | Ähnliche Überlegungen finden sich bei Nussbaum (2006 und 2014). Ich zeige, dass gleiche soziale Bedingungen (equality of condition) ebenfalls für das Wohlergehen wichtig sind (Sayer 2011 und 2014).

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nunft entgegengesetzt betrachtet werden. Wie Martha Nussbaum schreibt, haben sie einen kognitiven Aspekt und sind oftmals intelligente und verkörperte Antworten auf unsere körperlichen, sozialen und kulturellen Anliegen (Nussbaum 2001 und 2014, siehe auch Archer 2000). Ohne sie wäre das Leben sehr kompliziert, denn tatsächlich erschweren, wie der Zustand des Autismus zeigt, eingeschränkte Fähigkeiten zu empathisch-emotionalem Verstehen die Teilnahme am sozialen Leben. Dies erinnert auch an Adam Smiths Sichtweise ethischer Gefühle als fehlbarer und dennoch häufig intelligenter Antworten auf Ereignisse. Die für die Sozialwissenschaft am besten geeignete Strömung der Moralphilosophie sind weder Deontologie, Utilitarismus oder Diskursethik, sondern die Tugendethik, weil sie die Bildung der Subjekte durch Sozialisation betont. Wir kommen nicht als bereits selbstständige Erwachsene auf die Welt, die über eine autonome, von Sozialisation und sozialem Kontext unabhängige Fähigkeit zur Vernunft verfügen. Was wir sind und wie wir denken und handeln, hängt vielmehr großenteils davon ab, was wir durch unsere Teilnahme am sozialen Leben von Geburt an geworden sind. Einblicke darin verschaffen uns auf ihre je eigene Weise die Neurowissenschaft, die Entwicklungs- und Sozialpsychologie sowie die Soziologie. Die Literatur der care-Ethik kann als Ergänzung hierzu betrachtet werden, da sie uns besser verstehen lässt, wie Menschen ethische Subjekte werden (bzw. es nicht werden). Zusammengenommen ermöglicht diese Forschung eine Erklärung des offenen Prozesses menschlicher Entwicklung und wie wir dazu kommen, eine so ungeheure kulturelle Vielfalt auszubilden. Philosophie und philosophisch orientierte Sozialtheorie, wie es die Kritische Theorie ist, sollten dies zur Kenntnis nehmen. Während die Kritische Theorie »horizontale« Beziehungen innerhalb von Diskursen und zwischen Sprecherinnen hervorhebt sowie (auf idealisierte Weise) deren Suche nach Problemlösungen in Situationen, in denen kein anderer Zwang als der des besseren Arguments besteht, unterstreicht der Critical Realism auch die Bedeutung der »vertikalen« Beziehung des Subjekts zum Objekt. Ein »vernünftiger« Mensch wendet sich anderen nicht nur als Gesprächspartner zu, sondern als Personen mit spezifischen Fähigkeiten, Verletzlichkeiten und einer Biografie sowie unter Berücksichtigung des konkreten Kontextes. Entsprechend ist von einem doppelten Wertbezug auszugehen: vertikal auf wertgeschätzte Objekte (Personen oder Praktiken), horizontal auf andere in einer Wertegemeinschaft. So muss auch die Bedeutung, die sozialen Normen in den Sozialwissenschaften typischerweise beigemessen wird, abgeschwächt werden.8 Im schlimmsten Fall kann die Auffassung, Ethik und 8 | Normen unterscheiden sich von (individuellen) Werten darin, dass sie die spezifische Eigenschaft besitzen, von Anderen vorgeschrieben zu sein. Werte können als Normen formalisiert werden, wie auch Normen umgekehrt Werte beeinflussen können.

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Moralität beruhten auf Normen im Sinne reiner Konventionen, faktisch für deren Entnormativierung sorgen, da Werte und Bewertungen dann auf das reduziert werden, »was wir gerade so tun«, anstatt ihren eudämonistischen Gehalt zu bewahren. »Konvention ist nicht Moral […]. Erstere zu attackieren bedeutet nicht, letztere anzugreifen.« (Brontë 1847: 5)9 Günstigenfalls beruhen Normen auf Formalisierungen praktischer Klugheit, sind in Erfahrung verankert und dienen als Faustregeln für konkrete Praktiken. Deshalb hat Aristoteles die Bedeutung der praktischen Erfahrung für die Ausbildung von Tugenden auch derart betont. Natürlich kann Erfahrung die in sie Involvierten ebenso dazu bringen, Laster auszubilden. Wenn wir Tugenden von Lastern unterscheiden wollen, müssen wir uns mit Fragen des Wohlergehens beschäftigen. Wie bei jeder Art von Wissen werden wir auch hier auf manches stoßen, dessen wir uns sicher sind, auf manches, dem wir zögerlich gegenüber stehen, und auf anderes, das uns unbekannt ist – nicht zuletzt, weil Entfaltung aufgespürt und erzeugt werden muss und es Aspekte von ihr gibt, die wir erst noch finden müssen. Wir sollten uns also weniger mit den Objekten der Logik und stattdessen mehr mit der Logik der Objekte befassen. Auch wenn prozedurale Gerechtigkeit ihre Vorteile hat, ist Vertrauen in die horizontale Dimension der Vernunft kein Ersatz für Vertrauen in deren vertikale Dimension. Diese Differenz lässt sich auch so beschreiben, dass der Critical Realism bzw. die naturalistischen Ansätze das »Über-etwas« (aboutness) von Diskursen, Werten und Vernunft betonen. Dahinter steht nicht die Annahme eines privilegierten Weltverhältnisses, das letzte und absolute Wahrheiten liefern würde, sondern lediglich die These, dass bestimmte Selbst-, Handlungs- und Weltverständnisse, wie fehlbar auch immer, praktisch angemessen sein können. Die dadurch hergestellte Übereinstimmung zwischen Praxis und Kontexten ist hinreichend, um in den meisten Fällen erfolgreiches Handeln und Entfaltung zu ermöglichen. Die Abtrennung der Werte von den Objekten der Bewertung und/oder von den Subjekten lässt sie als beliebig und – wenn sie die Form von Vorschriften annehmen – unbegründet erscheinen. Die Reduzierung konkreter, dichter ethischer Begriffe wie »lieb« oder »grausam« auf dünne ethische Begriffe wie »gut« und »böse«, »richtig« und »falsch« bringt sie in einen scheinbaren Gegensatz zur Vernunft. Von ihrem Objekt und vom Subjekt geschieden, wird Vernunft auf formale Rationalität und logische Widerspruchslosigkeit verengt. Diese beiden Reduktionismen, die der Tatsachen-Werte-Dichotomie entsprechen, haben den Sozialwissenschaften enormen Schaden zugefügt und die kritische Haltung, die in ihren Gründungswerken so sinnfällig war, unterminiert.

9 | Ich danke Dimitri Mader für seinen Hinweis auf das Zitat.

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Dass fehlgeleitete Vorstellungen über die menschliche Natur (z.B. vom Eigennutz als ausschließlicher Handlungsmotivation) weit verbreitet sind, bedeutet nicht, wir sollten das ganze Thema besser meiden oder es gäbe darüber nichts zu wissen. Denn auch hier gilt: Falsche Vorstellungen setzen voraus, dass es etwas gibt, worüber Täuschungen möglich sind (vgl. auch Midgley 1984). Zweifelsohne hatten viele Philosophinnen falsche Vorstellungen über die menschliche Natur (beispielsweise Kant über die Fähigkeiten von Afrikanerinnen). Das Unvermögen in der männlich geprägten Kultur der Moderne, unsere Verletzlichkeit und Abhängigkeit anzuerkennen, hat zu einer Form der Abspaltung geführt, in der diese Eigenschaften als negative erschienen und auf die kolonisierten Anderen projiziert wurden. Wie Anthony Appiah gezeigt hat, war das Problem hierbei jedoch nicht der Naturalismus oder der Universalismus, sondern ein fehlgeleiteter Naturalismus und ein Mangel an Universalismus (2005: 250) – oder, in den Worten des Critical Realism, ein Aufmerksamkeitsdefizit gegenüber dem Anderen. Insbesondere aufgrund der hier skizzierten Bedeutung des Naturalismus mögen Poststrukturalistinnen im Critical Realism die Gefahr des Essenzialismus wittern. Auch wenn die Bezeichnung »essentialistisch« auf vielfältige Weise verwendet wird – oftmals einfach abwertend und ohne Erklärung, wo­ rin die begangene »Sünde« besteht –, zeigt sie doch im Allgemeinen zweierlei Sorgen an: zum einen die Befürchtung, Phänomene, vor allem zwischen Menschen, würden als homogen behandelt und Differenz verleugnet; zum anderen den Argwohn des Determinismus, wonach jedes Objekt, sofern es spezifische Eigenschaften hat, sich unvermeidlich in einer fixierten Weise verhält. Der Critical Realism (und andere naturalistische Philosophien) behaupten in der Tat, wir und andere Spezies würden bestimmte Eigenschaften – Kausalkräfte und Empfänglichkeiten – besitzen, von denen einige recht markant sind. Daraus folgt jedoch erstens nicht, dass dieser Ansatz Homogenität unterstellt: Er kann ohne Probleme anerkennen, dass Differenz alle Ebenen der Wirklichkeit durchzieht, dass alles, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß, variiert und dass die Angemessenheit jedweder Ontologie spezifischer Objekte überprüft und nicht einfach unterstellt werden sollte. Keine menschliche Eigenschaft, sei sie anderen Spezies ähnlich oder nicht, existiert daher in exakt derselben Form oder im gleichen Ausmaß in allen Individuen – und zwar aus Gründen, die sowohl mit Biologie und kultureller Differenz als auch mit deren Zusammenspiel bei der Ausformung unserer Geist-Körper (mind-bodies) zu tun haben. In Anbetracht der großen Bedeutung, die Aufmerksamkeit gegenüber Besonderheiten von Personen, Praktiken und Situationen in der Ethik hat, ist es aus Sicht des Critical Realism für ethisches Verhalten unabdingbar, Vielfalt und Differenz anzuerkennen. Zweitens und den Determinismusvorwurf betreffend: Die meisten Fähigkeiten (Kausalkräfte und Empfänglichkeiten) können aktiviert werden oder

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auch nicht. Fast alle Menschen sind körperlich zu Gewalt gegenüber anderen in der Lage, aber nur die wenigsten aktivieren diese Kausalkraft. Es ist kontingent, ob solche Kräfte aktiviert werden, und selbst wenn dies geschieht, hängen ihre Wirkungen vom Kontext ab und mit welchen anderen Kausalkräften und Empfänglichkeiten sie zusammentreffen. Darüber hinaus entstehen viele unserer Fähigkeiten nur unter spezifisch kontingenten Umständen, aufgrund bestimmter Wechselwirkungen zwischen physiologischen und kognitiven sozialen Prozessen, die insbesondere von unserer Bildung und Sozialisation abhängen – beispielsweise davon, ob wir in einer alphabetisierten oder nichtalphabetisierten Gesellschaft aufgewachsen sind. In der Spielart des Critical Realism hat der Naturalismus nichts Deterministisches und lässt sich auch nicht auf Biologismus reduzieren.

4. E in qualifizierter e thischer N atur alismus Ich schlage also einen qualifizierten Naturalismus vor, der die beiden üblichen Fallstricke, entweder kulturelle Vielfalt zu ignorieren und/oder die Möglichkeit von Neuerung auszuschließen, vermeidet. Unter »Natur« verstehe ich hier nicht nur die Biologie, sondern die Gesamtheit der Prozesse – kulturelle, soziale, kognitive, biologische und materielle –, die uns konstituieren. Die zentralen Bestimmungen dieses Naturalismus sind: 1. Die Natur bzw. das Sein des Menschen ist ein mit Schranken versehener und bedingter, zugleich jedoch offener Prozess des Werdens, der durch das kontingente Zusammenspiel und die gemeinsame Entwicklung kognitiver, sozialer und biologischer Fähigkeiten und Prozesse bestimmt wird. Die Ethik muss die je nach Lebensabschnitt unterschiedlich kultivierten Naturen von Menschen, wie auch deren Fähigkeit zu Leiden und Entfaltung, in all ihren Varianten in den Blick nehmen. Was für eine able-bodied Person ethisch ist, mag es für jemanden mit einer Behinderung nicht sein. 2. Menschliche Kulturen kennen viele verschiedene Konzeptionen von Bedürfnissen, Wohlergehen oder »dem Guten«. Während es auf der Ebene der Interpretation also eine gewisse Vielfalt gibt, ist nicht alles, was als gut behauptet wird, auch wirklich gut, sodass die Möglichkeit von Fehlkonzeptionen anerkannt werden muss. Anders gesagt, weil wir nicht beliebig formbar oder gleichgültig gegenüber der Behandlung durch andere sind, kann das, was für gut befunden wird (construed as good), unter Umständen nicht als etwas Gutes verwirklicht werden (constructed as good). Nicht jede Form von Leid und Einschränkung kann als gut durchgehen, sodass Widerstand gegen herrschende Fehlkonzeptionen zu erwarten ist.

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3. Manchmal sind verschiedene kulturelle Formen tatsächlich Formen der gleichen Sache. Kulturen mögen anderen auf verschiedene Weise Respekt zollen, aber der Wert, den sie darauf legen, zeigt etwas Gemeinsames: die Bedeutung von Respekt. Darüber hinaus lassen unterschiedliche kulturelle Formen objektiv unterschiedliche Formen von Entfaltung und Leid zu: Eine hauptsächlich dionysische Kultur gestattet andere Formen als eine primär apollinische. 4. Einige Praxisformen weisen einen hohen Grad kultureller Autonomie auf und sind biologisch keineswegs notwendig, obwohl sie physiologisch und psychologisch günstige Auswirkungen haben, die als Bewertungskriterien dienen können. Soweit Mitglieder bestimmter Kulturen sich auf solche Praktiken – etwa im Rahmen einer Religion – festlegen, sodass diese Teil ihrer Identität werden, verursacht eine Verweigerung der Möglichkeit sie auszuüben objektives Leid. Diese Auffassung des Wohlergehens ist zugleich objektivistisch und pluralistisch, aber nicht relativistisch. Es gibt viele mögliche Formen der Entfaltung, von denen einige vielleicht noch gar nicht entdeckt sind, aber nicht alles kann als Entfaltung durchgehen. Dieser qualifizierte ethische Naturalismus ist auch mit Sens und Nussbaums capabilities approach vereinbar (vgl. Sen 1999 und Nussbaum 2000).

5. H abermas ’ D iskurse thik Im Anschluss an diesen Überblick über kritisch-realistische und verwandte naturalistische Zugänge zur Kritischen Theorie möchte ich kurz erläutern, was ich an Habermas’ Arbeiten zu Kritik und Diskursethik problematisch finde. Habermas versucht Standpunkte der Kritik nicht in Konzeptionen des menschlichen Wohlergehens, sondern in den Voraussetzungen von Diskursen als solchen zu fundieren. Während seine Argumente in sich schlüssig sind und eine Aufwertung der deliberativen Demokratie sicherlich attraktiv ist, bleibt sein Ansatz, wie viele Kommentatorinnen festgestellt haben, formal und inhaltsleer: Gut ist, was immer im zwanglosen deliberativen Diskurs unter Gleichen als gut definiert wird. Wie bei ihrer kantianischen Vorläuferin handelt es sich im Grunde genommen auch hier um eine prozedurale Ethik. Sie abstrahiert vom tatsächlichen Gehalt jedes ethischen Diskurses, lässt ihn damit offen und schneidet ihn von den Kontexten des Entfaltens und Leidens, der emotionalen Vernunft, der materiellen Praxis und Phronesis ab.10 Ohne Berück10 | Habermas beansprucht eine Korrektur des kantianischen Modells unsituierter Subjektivität, indem er einräumt, dass unsere Handlungsfähigkeit sich durch Soziali-

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sichtigung der Tatsache, dass wir leidensfähige und entfaltungsfähige soziale Tiere sind, ist jedoch nicht ersichtlich, warum wir überhaupt motiviert sein sollten, mit anderen zu deliberieren. Jeder solche Diskurs müsste sich auf Evidenzen, Standards und Normen berufen, deren Auswirkungen auf das Wohlergehen darzulegen wären, einschließlich der Auswirkungen wertgeschätzter kultureller Praktiken. Selbst da, wo interne Standards von Praktiken als Kriterien herangezogen würden – das Wohl der Kirche, des Sports, der Disziplin oder dergleichen – müssten die Praktiken selbst gerechtfertigt werden, und dafür wiederum müssten letztlich Aussagen über menschliche Entfaltung gemacht werden. Habermas jedoch ist außerordentlich zurückhaltend mit Aussagen darüber, worum es im Diskurs gehen könnte, als ob vertikale Beziehungen der Referenz oder des Über-etwas (aboutness) nicht ebenfalls eine Rolle spielten (Collier 2003). In Anbetracht ihrer Kritik an Foucault kann Habermas’ Schriften, nicht ohne Ironie, Kryptonormativität vorgeworfen werden. Während die Diskursethik also eine interessante Reflexion zweiter Ordnung auf Kritik darstellt, weicht sie zugleich der wichtigsten Frage aus: Was ist gut oder richtig, und warum?11 Es ist also wenig verwunderlich, dass die Diskursethik so geringen Einfluss auf konkrete Untersuchungen kritischer Sozialwissenschaft hatte. So erstrebenswert die deliberative Demokratie ist – nicht zuletzt intrinsisch, weil sie uns dazu befähigt, rational, gerecht und mit Respekt gegenüber anderen zu handeln –, so ist sie doch zur Förderung der menschlichen Entfaltung weder notwendig noch hinreichend. Die Distanz der Diskursethik zum alltäglichen Leben, die sich in ihrem eigenen Diskurs und Duktus sowie ihrer offenkundigen Geringschätzung empirischer Beispiele und des Wohlergehens zeigt, ist ihre Achillesferse.12

6. S chluss Worin besteht der Kern von Kritik? Hier einige mögliche Kandidatinnen: Erstens in der Verringerung gesellschaftlicher Täuschungen durch das Identifizieren von falschen, unsere Praktiken leitenden Überzeugungen wie sation in Lebensformen entwickelt, die durch kommunikative Interaktion strukturiert sind. Aber selbst dies beinhaltet noch einen linguistischen Reduktionismus und scholastischen Fehlschluss, denn die Rolle von Körpern, Emotionen, Fürsorge und materiellem Handeln innerhalb der Sozialisation wird ignoriert (vgl. Habermas 1993 und Cooke 1999). 11 | Für Aristotelikerinnen ist eine strikte Trennung zwischen dem Richtigen und dem Guten von geringer Bedeutung. 12 | Zur Kritik an Habermas siehe Dews (1999), insbesondere die Essays von Maeve Cooke und Dieter Henrich, sowie Freundlieb et al. (2004).

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die des Rassismus. Eine Spielart hiervon wird zuweilen als »Ent-Naturalisierung« bezeichnet, womit die Darlegung der Kontingenz oder historisch-kulturellen Spezifität sozialer Phänomene gemeint ist: Die Welt war bereits anders und kann auch wieder anders werden. Obschon dieser Kritikmodus für die kritische Sozialtheorie wesentlich ist und ihm deshalb auch häufig radikale Konsequenzen unterstellt werden, kommen wir damit in Wirklichkeit nicht sehr weit. Auch eine Faschistin kann zustimmen, dass eine andere Welt möglich ist. Dasselbe gilt für eine Konservative, wobei sie zugleich behaupten wird, dass wir bereits in der besten aller möglichen Welten leben. Zweitens, und damit verbunden, wird Kritik zuweilen als Offenlegung bzw. Kritik von Widersprüchen und Irrationalitäten bestimmt, wie sie etwa der Krisenanfälligkeit des Kapitalismus zugrunde liegen. Warum diese Widersprüche allerdings ein tatsächliches Problem für die Menschen darstellen sollten, bleibt dabei zu erklären. Drittens ist es möglich, die Ideologiekritik im marxistischen Sinne einzubeziehen. Sie identifiziert nicht nur falsche, Herrschaft bekräftigende Überzeugungen, sondern erklärt, warum diese geteilt werden und in welcher Weise sie einen selbstbestätigenden Charakter haben, indem sie nämlich die Umstände (»realer Schein«) aufrechterhalten, die eben jene falschen Überzeugungen befördern. Wie Bourdieu schreibt, sollte Kritik in der Lage sein, »die scheinbare Wahrheit der von ihr widerlegten Theorie zu erklären« (1998: 221). Dieser zweite explanatorische Schritt ist unerlässlich, aber die Gründe, aus denen falsche Überzeugungen ein Problem sind, bleiben weiterhin unklar. So wichtig all diese Merkmale sind, sie gehen noch immer nicht weit genug, denn sie lassen die Kritik von Ungerechtigkeit, vermeidbarem Leid und eingeschränkter Entfaltung außen vor. Dieses eudämonistische Element ist in der tatsächlich betriebenen kritischen Sozialwissenschaft, wenn nicht gar in ihren Begründungen, durchaus präsent, und zwar in Form gängiger Begriffe wie »Ausbeutung«, »Unterdrückung«, »Rassismus«, »Misshandlung«, »Veranderung« (othering), die allesamt inhärent evaluative Ausdrücke sind. Dennoch gehen kritische Sozialwissenschaftlerinnen selten über diese Begriffe hinaus und verteidigen die ihnen zugrunde liegenden Bewertungen. Vielleicht glauben sie, dass die Leserinnen ihre Bewertungen bereits akzeptiert haben oder dass diese zu offenkundig sind, um verteidigt werden zu müssen. Vielleicht fürchten sie auch, das Aufwerfen solcher Themen könnte den Vorwurf nach sich ziehen, eigene Wertungen in die Analyse einzubringen – als ob solche Werte nur eine Verzerrung einer ansonsten objektiven Untersuchung darstellen würden. Oder sie werden gefragt, »wo denn ihre Kritik herstammt«, was wiederum implizieren würde, Bewertungen seien wegen ihres »subjektiven« und willkürlichen Charakters problematisch, nähmen einen imaginären archimedischen Punkt in Anspruch oder zwängen einen repressiven Universalismus auf. Entsprechend

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halten radikale Forscherinnen es für taktisch klug, nicht zu viel von ihrem kritischen Standpunkt preiszugeben. Denn je mehr sie das tun, desto eher laufen sie Gefahr, als »subjektiv« oder autoritär – die eigene Sichtweise anderen aufzwingend – abgetan zu werden. Im Ergebnis vermittelt ein Großteil der kritischen Sozialwissenschaft der Leserin ein vages negatives Gefühl hinsichtlich der analysierten Phänomene, versucht aber nicht darzulegen, in welcher Hinsicht genau und aus welchen Gründen diese Phänomene problematisch sind. Daher kann er als kryptonormativ bezeichnet werden. In meinen Augen sollten wir analysieren, was am Gegenstand problematisch ist, auf den solche Kritiken des Leidens (ill-being) zielen. Insofern wir dies tun, sind eine Auseinandersetzung mit empirischen Befunden und ein qualifizierter Naturalismus unabdingbar. Mitunter können die politische und die Moralphilosophie eine solche Analyse liefern, aber unter der unseligen, im 19. Jahrhundert vollzogenen Scheidung der Philosophie von empirisch ausgerichteter kritischer Sozialforschung hat nicht nur der Dialog zwischen beiden, sondern auch der Gehalt der separierten Disziplinen gelitten. Kritische Sozialwissenschaft und Kritische Theorie müssen wieder zusammenfinden. Aus dem Englischen von Johanna M. Müller

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Aufgaben und Grenzen der kritischen Gesellschaftstheorie Zu Andrew Sayers Versuch, Kritik und Naturalismus zu verbinden Robin Celikates Das theoretische und soziologische Projekt des Critical Realism ist von Beginn an mit einem doppelten Ziel verbunden: der Rehabilitierung einer realistischen Ontologie und der Entwicklung einer in diesen Rahmen passenden naturalistischen Auffassung von Normativität, die als Grundlage der kritischen Bewertung sozialer Verhältnisse fungieren kann. In diesem Projekt nimmt das Werk Andrew Sayers eine besondere Stellung ein, die sich insbesondere dem breiten theoretischen Horizont des Autors verdankt, der aristotelische Motive – vor allem wie sie im von Martha Nussbaum und Amartya Sen vertretenen Fähigkeitenansatz entwickelt worden sind – mit Überlegungen aus der feministischen Care-Ethik und den machttheoretischen Analysen Michel Foucaults und Pierre Bourdieus verbindet. Dabei ist Sayers Werk immer auch auf die Rehabilitierung alltäglicher Praktiken der Kritik und des Urteilens ausgerichtet, also darauf, der Alltagsnormativität (lay normativity) einen systematischen Ort im Theoriegebäude des Critical Realism einzuräumen. Wie diese knappe Charakterisierung bereits nahelegt, gehen in Sayers Ansatz Philosophie und Sozialwissenschaften eine enge Verbindung ein, die in starkem Kontrast zu den im disziplinären Alltag vorherrschenden Tendenzen der Arbeitsteilung und wechselseitigen Ignoranz steht. Diese Verbindung richtet sich gleichermaßen gegen die empirische Gehaltlosigkeit des Mainstreams der »Praktischen« Philosophie, die damit freilich jeden Praxisbezug zu verlieren droht, und gegen den Antinormativismus der vermeintlich wertfreien empirischen Sozialwissenschaften, gleichermaßen gegen die individualistischen und rationalistischen Tendenzen der gegenwärtigen Moralphilosophie und gegen die Abstraktion von den Erfahrungen und Fähigkeiten der individuellen Akteure in einer auf Makrostrukturen fokussierten Soziologie (vgl. etwa Sayer 2011, Kap. 8).

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Bereits Sayers zentraler Beitrag zur Debatte um die moralische Dimension des Klassenbegriffs und die normativen Implikationen sozialer Ungleichheit – sein Buch The Moral Significance of Class (2005) – folgt dem methodologischen Imperativ »Alltagsnormativität ernst zu nehmen« (Sayer 2005: 5, siehe auch Sayer 2011: 2). Die Soziologie kann dem zufolge die ethischen Erfahrungen und Praktiken des Alltagslebens nicht einfach ignorieren. Andererseits wäre es naiv, nicht anzuerkennen, dass diese Erfahrungen und Praktiken teilweise inkohärent und zudem nicht unabhängig von der Klassenposition der Akteure sind. Damit positioniert sich Sayer im sozialtheoretischen Feld zwischen jenen, die, wie Pierre Bourdieu, dazu tendieren, die Handlungsfähigkeit und Reflexivität der »gewöhnlichen« Akteure zu unterschätzen, und jenen, die sich, wie Luc Boltanski (und natürlich auch eine Reihe inzwischen klassischer Autoren wie Antonio Gramsci, Harold Garfinkel und Michel de Certeau), gegen die Konzeptionalisierung von »gewöhnlichen« Akteuren als »kulturelle Trottel« (cultural dopes) wenden (vgl. Sayer 2012b). In Why Things Matter to People (2011) führt Sayer das Projekt, »Alltagsnormativität ernst zu nehmen«, systematisch weiter, indem er aus der methodologischen Ausrichtung am moralischen und ethischen Selbstverständnis der Akteure – an dem, what we care about – ableitet, dass das Verhältnis zur Welt als eines der Sorge – im Sinne von concern und care – und wir selbst als Lebewesen zu verstehen sind, für die das Streben nach einem gelingenden Leben grundlegend und handlungsleitend ist. Wie Sayer schreibt: »Dinge haben für Menschen eine Bedeutung und beeinflussen, ›wie es ihnen geht‹« (ebd.: 1). Für das Verständnis der reflexiven und kritischen Fähigkeiten der Akteure folgt daraus, dass diese nicht reduzierbar sind auf den »praktischen Sinn«, wie Bourdieu ihn versteht – nämlich als verinnerlichter und wesentlich präreflexiver Sinn für das Spiel und seine unhinterfragt akzeptierten Regeln, der es den Akteuren erlaubt, sich in der sozialen Welt »wie ein Fisch im Wasser« zu bewegen (Bourdieu und Wacquant 1996: 161). Obwohl Sayer die generative und kreative Dimension des bourdieuschen Habitusbegriffs betont (Sayer 2011: 74ff.),1 zieht er selbst doch die aristotelische Kategorie der phronesis vor (ebd.: 70ff.), mit der er eine Art der praktischen Vernunft meint, die sowohl verkörpert und sozial kontextualisiert als auch reflexiv und kritisch ist. Zugleich will Sayer – und hierin überschneidet sich sein Ansatz mit einem Kerngedanken sowohl Bourdieus als auch der Kritischen Theorie (vgl. Celikates 2009: Teil III) – gegen eine einseitige Zelebrierung der individuellen Urteilskraft und der sozialen Alltagspraktiken der Kritik jedoch auch an der 1 | An anderer Stelle kritisiert Sayer an Bourdieu die »Unterschätzung der Rationalität und Reflexivität von Akteuren« (Sayer 2005: 16; siehe auch Sayer 2011: 116) – und in der Tat scheint Bourdieu lay reflexivity und lay normativity in seinem Ansatz zumindest nicht systematisch berücksichtigen zu können (vgl. Celikates 2009: Teil I).

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grundlegenden Einsicht festhalten, dass die Defizite und Unzulänglichkeiten der phronesis keine bloß kontingenten Fehlleistungen oder Versehen darstellen, die sich dem Individuum zurechnen lassen. In vielen Fällen müssen diese Defizite vielmehr auf Machtrelationen zurückgeführt werden – und zwar auf Machtrelationen, die gerade deshalb besonders schwer und aus der Teilnehmerperspektive vielleicht überhaupt nicht zu identifizieren sind, weil sie das Funktionieren der praktischen Vernunft selbst prägen (ebd.: 87). Aus diesem Grund kann eine kritische Sozialwissenschaft nicht vollkommen von sozialen Strukturen und Machtverhältnissen abstrahieren und allein auf individuelle Fähigkeiten und unverbunden nebeneinanderstehende Handlungskontexte fokussieren. Soziale Strukturen und insbesondere strukturelle Machtverhältnisse – von denen der Mainstream der Politischen Philosophie und auch der Fähigkeitenansatz von Sen und Nussbaum Sayer zufolge abstrahieren – spielen für die Ermöglichung oder Beschränkung der Entwicklung und Ausübung menschlicher Fähigkeiten eine zentrale Rolle und müssen daher in den bewertenden Fokus der kritischen Sozialwissenschaften gerückt werden (Sayer 2012a). Allerdings konzipiert Sayer die normative Grundlage der kritischen Sozialwissenschaft auf eine Weise, die sich deutlich von der Kritischen Theorie, aber auch von den Ansätzen Foucaults und Bourdieus unterscheidet.2 Die kritische Kraft der Sozialwissenschaften ist Sayer zufolge nämlich untrennbar mit substantiellen Werturteilen verbunden, und diese Werturteile können – da sie wesentlich »dichte« ethische Begriffe wie »grausam« oder »entwürdigend« beinhalten – nur als Urteile darüber verstanden werden, ob bestimmte soziale Verhältnisse zum menschlichen Wohlergehen beitragen oder menschliches Leid (re-)produzieren. Daher plädiert Sayer für einen soziologisch modifizierten oder »qualifizierten Naturalismus« (Sayer 2005: 218ff.) – also für eine sozialtheoretisch informierte Form der Kritik, die auf die Natur des Menschen bezogene evaluative Urteile über soziale Verhältnisse fällt. Trotz der von Sayer zugestandenen Kultur- und Gesellschaftsabhängigkeit dessen, was in einem konkreten Kontext als »Natur« gilt oder aus »der Natur des Menschen« folgt, liegt dem gesellschaftskritischen Projekt Sayer zufolge letztlich eine naturalistische und in diesem Sinne objektivistische Auffassung des menschlichen Wohlergehens zugrunde. Wird diese Grundlage nicht anerkannt, kann sich die kritische Gesellschaftstheorie eigentlich nur noch in »kryptonormativem« Ikonoklasmus oder theoretischen Reflexivitätsschlaufen und methodologischen Debatten verlieren: »Die Kritische Theorie und die kritische Sozialwissenschaft […] haben stets damit gerungen, die von ihnen entwickelten Kritiken zu rechtfertigen. […] Das rührt daher, dass es ihnen auf2 | Vgl. zu Sayers Konzeption einer kritischen Sozialwissenschaft auch Sayer 1992: Kapitel 9, insb. 251ff., sowie Sayer 2009.

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grund einer übertriebenen Sorge vor Ethnozentrismus oder anderen Fehldeutungen des Soziallebens an einer angemessenen Vorstellung menschlicher Fähigkeiten und Verwundbarkeiten mangelt. In der Folge wurden ihre Kritiken übervorsichtig und zogen sich auf eine selbstbezügliche Reflexivität zurück.« (Sayer 2011: 11)3 Die kritische Pointe seines Ansatzes wird Sayer zufolge also erst dann sichtbar, wenn man sie als Alternative zum theoretischen Projekt der Kritischen Theorie versteht, die mit der Reformulierung zentraler Kategorien der kritischen Gesellschaftstheorie einhergeht – etwa mit der Ersetzung von »objektiven Interessen« durch basale menschliche Bedürfnisse und Fähigkeiten als normative Basis für die Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse. Diese Umstellung geht einher mit dem Vorwurf des »scholastischen Fehlschlusses« (ein Begriff, den Sayer von Bourdieu übernimmt) an die Adresse derer, die seines Erachtens eine zu rationalistische und reflexivitätsfixierte oder »abstrakte« Vorstellung der Beziehung des Menschen zu sich selbst, zu anderen und zur Welt haben, die im Widerspruch steht zu konstitutiven Formen der Bezogenheit, des Abhängigseins und des Sorgens. Sich substanzieller Urteile zu enthalten, stellt angesichts dieser Lage keine Option dar, denn: »Wir müssen wissen, wo Strukturen und Normen menschliches Wohlergehen fördern und wo nicht und daher auch beurteilen, ob deren Rechtfertigungsmuster tatsächlich legitim sind.« (Ebd.: 179) Sayer plädiert also für eine wohlergehens- und bedürfnisbasierte Form der Sozialkritik, die die Akteure primär als bedürftige und abhängige Wesen versteht (ebd.: 139). Die Kritik tatsächlichen Leidens und nicht die Ermöglichung von Reflexion und Reflexivität ist daher die vorrangige Aufgabe der kritischen Sozialwissenschaft (ebd.: 21). 3 | Ich klammere für den Moment die Frage ein, inwiefern angesichts der gut dokumentierten Einseitigkeiten der philosophischen und sozialwissenschaftlichen Theoriebildung sinnvoll von einer »übertriebenen Ethnozentrismusangst« gesprochen werden kann. In Sayers Werk findet sich keine substanzielle Auseinandersetzung mit Kolonialismus oder postkolonialer Theorie; und die Behauptung, ethnozentrische Auffassungen etwa der Aufklärungsphilosophie seien nicht aufgrund ihres Bezugs auf die menschliche Natur oder ihres Universalismus problematisch, sondern nur aufgrund ihrer falschen Auffassung der menschlichen Natur bzw. des Universalismus (in diesem Band: 329), ist angesichts des Stands der Debatte kein besonders überzeugender Anfang. Vgl. zu Sayers Kritik an Foucault, dem er – wie vor ihm bereits Taylor und Habermas – »Kryptonormativismus« und die Vernachlässigung der Relevanz »dichter ethischer Begriffe« für die Gesellschaftskritik vorwirft, Sayer 2014a. In Sayers Kritik an Boltanski findet sich mehr oder weniger derselbe Vorwurf: »Ohne Annahmen über die Natur des Guten bleibt uns nur eine formalistische und kryptonormative Analyse, die mehr mit Ikonoklasmus als mit gerechtfertigter Kritik gemein hat.« (Sayer 2012b: 800)

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In seinem Beitrag zu diesem Band greift Sayer diese Kritik an der Kritischen Theorie auf. Allerdings geht er dabei in mehrfacher Hinsicht an der spezifischen Stoßrichtung sowohl der klassischen als auch der gegenwärtigen Kritischen Theorie vorbei. So ist es etwas merkwürdig, dass Sayer die »Vermeidung von Ontologie und damit einhergehend des Naturalismus« in Habermas’ Werk »merkwürdig« findet (in diesem Band: 315), ohne genauer auf die Argumente einzugehen, die Habermas zu dieser Position geführt haben (und die nicht identisch mit den Argumenten sind, die ich etwas weiter unten ausführen werde). Leider ist seine Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie insgesamt vor allem an der Diskursethik orientiert und richtet sich damit am Diskussionstand der 1980er-Jahre aus – die Kritik der Diskursethik als relativ formalistisch und potenziell gehaltlos4 hat nun doch seit einiger Zeit auch innerhalb der Kritischen Theorie zu substanziellen Weiterentwicklungen geführt. Da Sayer positiv auf Honneth verweist (in diesem Band: 319) – dessen philosophisches Werk ja mit einer Kritik der Diskursethik einsetzt –, wäre seine Einschätzung des Potenzials der Kritischen Theorie vielleicht anders ausgefallen, hätte er nicht nur Honneths jüngere Arbeiten zur Kenntnis und dessen Ausarbeitung eines historischen Ansatzes der immanenten und rekonstruktiven Kritik ernst genommen (vgl. Honneth 2011, Celikates 2013b), sondern auch das soziologisch informierte und keineswegs nach innen gerichtete Werk so unterschiedlicher Autorinnen wie Nancy Fraser, Amy Allen und Rahel Jaeggi. Vor diesem Hintergrund ist schwer zu verstehen, warum die einzige Alternative zur angeblichen Substanzlosigkeit der Kritischen Theorie (welcher?) in einer Renaturalisierung der normativen Grundlagen der Kritik bestehen sollte. Dies ist vor allem deshalb relevant, weil Sayers ethischer Naturalismus – also seine Annahme, die Bedeutung normativer Urteile im Rahmen der Gesellschaftskritik lasse sich letztlich nur mit Bezug auf die Natur des Menschen explizieren – in Probleme führt, die innerhalb der Kritischen Theorie ebenfalls seit geraumer Zeit diskutiert werden. Sayer ist vorsichtig genug, um anzumerken, dass sich die Kritik bestimmter Verhaltensweisen als »unnatürlich« nicht aus dem von ihm vertretenen qualifizierten Naturalismus ableiten lässt, denn »die Kategorie des ›Unnatürlichen‹ ist leer« (Sayer 2011: 108). Welcher Art ist dann aber der Hinweis auf die normative Signifikanz der menschlichen Natur – vor allem der menschlichen Bedürfnisse? Aufgrund der von Sayer zugestandenen kulturellen Vermitteltheit sowie der grundlegenden Rolle sozialer Strukturen und Praktiken bleibt unklar, wie genau sich substanzielle normative Urteile direkt aus der menschlichen Natur ableiten lassen und warum etwa Soziologinnen zu einer solchen Ableitung besonders qualifiziert sein sollten. 4 | Auf die Tatsache, dass Sayer in seiner Kritik an der Gehaltlosigkeit von Habermas’ Ansatz mit keinem Wort auf dessen Rolle als öffentlicher Intellektueller eingeht, kann ich hier nur hinweisen.

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Sayers naturalistische und bedürfnisbasierte »Kritik vermeidbaren Leids« (Sayer 2011: 21) gerät zudem in ganz ähnliche Probleme, wie die, auf die Raymond Geuss – im vermutlich auch heute noch besten Buch über die Idee einer Kritischen Theorie – bereits vor über 30 Jahren hingewiesen hat: Die Kritik überflüssigen Leidens (oder, etwa im Werk Marcuses, der »zusätzlichen Unterdrückung«) setzt voraus, dass es der Gesellschaftskritikerin möglich ist, die Bedürfnisse der Gesellschaftsmitglieder ebenso objektiv festzustellen wie die Funktionsnotwendigkeiten der Gesellschaft: »Unglücklicherweise sind diese beiden Begriffe – die ›Wünsche und Bedürfnisse von Personen‹ und die ›Erfordernisse der Ökonomie‹ hoch problematisch« (Geuss 1981: 46). Der Bezug auf objektive Interessen soll ebenso wie der auf natürliche Bedürfnisse einen relativ interpretationsunabhängigen Standpunkt der Gesellschaftskritik ermöglichen – dass ein solcher Standpunkt existiert, lässt sich jedoch mit guten (methodologischen, empirischen und normativen) Gründen bestreiten. Gerade im Verzicht auf substantielle normative Annahmen über das Wesen des Menschen oder des für den Menschen Guten besteht dann auch einer der Hauptgründe dafür, die Frage nach den Kriterien für die Bewertung, Überprüfung und Validierung der Einschätzungen der Kritischen Theorie zu prozeduralisieren und in gesellschaftliche Selbstverständigungsdiskurse zu verlagern. Die Umstellung von einer substanzialistischen auf eine prozedurale Perspektive hat natürlich auch Auswirkungen auf die Kritik im Namen von Bedürfnissen: Anstatt sozial vermittelte Bedürfnisse auf der Grundlage einer privilegierten Einsicht in die menschliche Natur und die verzerrenden Einflüsse sozialer Strukturen – und damit den »falschen Gehalt« dieser Bedürfnisse – zu kritisieren, sollte die Kritische Theorie sich auf die falsche Naturalisierung von Bedürfnissen konzentrieren, also auf gesellschaftlich produzierte Missverständnisse ihres Status als etwas, das gegeben bzw. natürlich und damit jenseits der Politik situiert ist. Das Ziel ist dann kaum Reflexivität um der Reflexivität willen, sondern die Ermöglichung einer inklusiven und reflexiven Bedürfnisinterpretation, die nicht auf die inhaltlichen Vorgaben der Sozialwissenschaften angewiesen ist. Natürlich gesteht auch Sayer zu, dass die Sozialwissenschaftlerinnen sich täuschen können: »Die jeweilige Diagnose ist mit denjenigen zu diskutieren, die untersucht werden, und, da Sozialwissenschaftlerinnen gleichermaßen fehlbar sind, gegebenenfalls zu korrigieren« (Sayer 2011: 251). Im Folgenden führt Sayer dann jedoch eine Unterscheidung zwischen »agentieller Autorität« und »epistemischer Autorität« ein und schreibt den gewöhnlichen Akteuren zwar erstere zu – »Jene Akteure, deren Leben Untersuchungsgegenstand ist, haben agentielle Autorität hinsichtlich des Entscheidens wie sie auf die Einschätzung ihrer Situation reagieren.« (Sayer lässt hier offen, was genau die Alternative ist und ob diese jemals in der theoretischen Diskussion vertreten wurde.) –, aber eben nicht unbedingt letztere, denn die Akteure könnten ja

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falsch liegen mit ihrer Interpretation des Wohlergehens und der sozialen Institutionen und Praktiken, die dieses befördern oder untergraben.5 Dass auch die Akteure falsch liegen können, bestreitet freilich kaum jemand; nur kann man bezweifeln, dass sich aus der Fallibilität der Akteure eine besondere epistemische Autorität derjenigen ergibt, die philosophische Konzeptionen des Guten und des Wohlergehens und auf deren Basis Ansichten über basale menschliche Bedürfnisse (ob nun in Form von Listen oder nicht) entwickeln. Eine Alternative zu Sayers substanzialistischem Ansatz stellt hier ein negativer, minimalistischer und prozeduralistischer Ansatz dar, der sich im umfassenderen theoretischen Kontext einer bestimmten Auffassung Kritischer Theorie situieren lässt (vgl. Celikates 2013a). Dieser Ansatz kann zunächst durch zwei Merkmale gekennzeichnet werden: die Betonung der Kontextabhängigkeit sowie der Umstrittenheit und Anfechtbarkeit (im Sinn von contestedness und contestability). Erstens muss dieser Sichtweise zufolge die Rede von Bedürfnissen, etwa nach Anerkennung, als wesentlich kontextabhängig verstanden werden. Wie Nancy Fraser (2003: 68) mit Bezug auf die anerkennungstheoretische Diskussion schreibt: »Entsprechend hängt […] alles gerade von dem ab, was gegenwärtig unzureichend anerkannte Menschen brauchen, um wieder als Gleichberechtigte am Gesellschaftsleben partizipieren zu können. Und es gibt keinen Grund anzunehmen, daß sie alle unter allen Umständen dasselbe brauchen. […] Welche Leute welche Art(en) von Anerkennung und in welchen Kontexten brauchen, hängt von den Hindernissen ab, denen sie auf dem Weg zur partizipatorischen Parität gegenüberstehen. Dies läßt sich indes nicht durch abstraktes philosophisches Räsonnement bestimmen […].« Aussagen über die Natur des Guten oder des Menschen sind in diesem Modell weder notwendig noch besonders hilfreich. Zweitens verdankt sich die Betonung der Umstrittenheit und Anfechtbarkeit der Einsicht, dass sich der Bezug auf Bedürfnisse (oder gar das Gute und die menschliche Natur) immer nur als Teil der Auseinandersetzung verstehen lässt, obwohl die durch diesen Bezug in Anschlag gebrachte »Aura der Faktizität« gerade suggeriert, es handele sich um externe Referenzpunkte. Die Identifikation, Zuschreibung und Interpretation von Bedürfnissen ist, von wenigen Ausnahmen (wie einfachsten, aber sozialtheoretisch kaum informativen Aussagen wie »Menschen brauchen Sauerstoff, um zu überleben«) abgesehen, alles andere als selbstevident oder jenseits der Auseinandersetzung angesiedelt.6 Daher lässt sich von den sozialen und politischen Auseinander5 | So bemerkt Sayer (2011: 232): »Vor einigen Jahrzehnten dachten viele Leute, Rauchen wäre gut für ihre Gesundheit, doch irrten sie, denn die Auswirkungen des Rauchens hingen nicht von ihren subjektiven Einschätzungen ab.« 6 | So hat Sayer sicher recht, wenn er behauptet: »All dies – unsere Fähigkeit zur sinnlich-menschlichen Tätigkeit, unser Vermögen zu leiden (und folglich auch zur Entfal-

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setzungen um die legitime Interpretation und autoritative Definition individueller und sozialer Bedürfnisse – einschließlich grundlegender Unterscheidungen wie jener zwischen »bloßen« Präferenzen und Wünschen und »echten« Bedürfnissen – nicht abstrahieren. Wie Nancy Fraser in zwei ihrer frühen Aufsätze argumentiert (Fraser 1989: Kap. 7 und 8), die noch immer exemplarisch sind für das hier vertretene Verständnis von kritischer Theorie, sind Bedürfnisinterpretationen politisch umkämpft (wobei sie sich insbesondere auf die feministische Kritik an Vorannahmen wohlfahrtsstaatlicher Bürokratien über »die Bedürfnisse von Frauen« bezieht): Eine Politik der Bedürfnisinterpretation kann »die Prozesse bloßlegen, mit denen die wohlfahrtsstaatlichen Praktiken die Frauen und die Bedürfnisse der Frauen nach gewissen spezifischen – und im Prinzip anfechtbaren – Interpretationen konstruieren, auch wenn sie diesen Interpretationen eine Aura der Faktizität verleihen, die ihre Anfechtung entmutigt.« (Fraser 1989: 225) Diese Politik tritt in Konflikten zwischen Sozialen Bewegungen und staatlich installierten oder selbsternannten »Bedürfnisexperten« besonders deutlich hervor, kann aber auch in viel alltäglicheren und weniger offensichtlich politischen Kontexten im Spiel sein. Um dieser Problematik gerecht zu werden, schlägt Fraser eine Unterscheidung vor zwischen juridischen, administrativen und therapeutischen Versuchen des Managements von Bedürfnisbefriedigung auf der einen Seite und der Politik der Bedürfnisinterpretation auf der anderen. Während erstere meist auf monologische und einseitige Formen der administrativen Bedürfnisdefinition hinausläuft, die zumindest im Prinzip unabhängig von den tatsächlichen Sichtweisen der betroffenen Individuen und Gruppen sind, sollte die zweite als auf dialogische und partizipative Prozesse der Bedürfnisinterpretation ausgerichtet verstanden werden, in denen die Betroffenen tatsächlich eine Stimme haben müssen. Daraus folgt freilich auch eine normative Konsequenz: Bedürfnisinterpretationen können nur dann als adäquat und legitim erachtet werden, wenn die Betroffenen, um deren Bedürfnisse es geht, effektiv an ihnen teilnehmen können (auch wenn diese Teilnahme an sich freilich noch keine hinreichende Bedingung für die Adäquatheit und Legitimität der Bedürfnisinterpretation darstellt). Eine weitere normative Konsequenz besteht darin, dass zwischen besseren und schlechteren Formen der Bedürfnisinterpretation auch diesem Modell zu-

tung), unsere Abhängigkeit von und unser Bedürfnis nach anderen als zutiefst soziale Wesen wie auch unsere Emotionen – sind objektive Eigenschaften, obgleich die Weise, in der sie sich ausformen, kulturell spezifisch ist.« (In diesem Band: 322) Die Frage ist nur, ob daraus irgendetwas normativ Gehaltvolles folgt, vor allem wenn man seine ergänzende Bemerkung ernst nimmt, dass wir »unterschiedlich akkulturierte Naturen« haben.

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folge – anders als Sayer zu meinen scheint 7 – relevante Unterschiede bestehen. Zu behaupten, dass Bedürfnisse diskursiv interpretiert werden müssen, heißt selbstverständlich nicht, dass die eine Interpretation ebenso gut ist wie die andere. Die Teilnehmerinnen an diesen Diskursen können und sollten ebenso wie kritische Sozialwissenschaftlerinnen die Frage stellen, auf welche Weise diese Interpretationen zustande gekommen sind: Wie exklusiv oder inklusiv waren die entsprechenden Diskurse? Wie hierarchisch oder egalitär waren die Beziehungen zwischen den Teilnehmerinnen? Welche Möglichkeiten der Kontestation standen ihnen offen und wurde darauf reflektiert, dass nicht allen immer das Vokabular zur Verfügung steht, um die eigenen Bedürfnisse angemessen zu interpretieren und für diese Interpretationen auch Gehör zu finden? In Auseinandersetzungen um die Anerkennung von Bedürfnissen geht es immer auch um diese Fragen. Und es sind diese Fragen – und nicht die Frage nach dem Wesen des Guten oder der menschlichen Natur – die im Zentrum des prozeduralistischen und minimalistischen Ansatzes stehen. Darüber hinaus kann man durchaus mit Sayer behaupten, Kritik müsse am Leiden – an den negativen Erfahrungen – der Subjekte ansetzen, ohne daraus dann abzuleiten, die Aufgabe der kritischen Sozialwissenschaft sei es, positive Auffassungen des Guten und des Wohlergehens zu entwickeln. Wie Sigmund Freud immer wieder betont hat, sollten Analytikerinnen weitgehend auf normative Setzungen, etwa auf die Ausbuchstabierung eines substanziellen Ideals des gelungenen Selbstseins, verzichten und konsequent negativ ansetzen, nämlich am Leiden der Subjekte: Es sei dann diesen überlassen, die Frage nach dem guten oder richtigen Leben zu beantworten.8 Ganz ähnlich sollte auch die Kritische Theorie verfahren: sich also nicht auf substanzielle Werte und Normen (oder Vorstellungen des guten und richtigen Lebens) berufen, die in konstruktivistischer Theoriearbeit oder mit Bezug auf vermeintliche Einsichten in die menschliche Natur gerechtfertigt werden müssten, sondern am Leiden, oder 7 | Vgl. Sayer (2011: 136): »Hierbei besteht die Gefahr eines epistemischen Fehlschlusses: aus der korrekten Annahme, menschliches Wohlergehen sei immer kulturell definiert oder konzeptualisiert – nämlich durch partikulare kulturelle Diskurse –, wird fälschlicherweise geschlossen, diese wären auch dazu in der Lage, den von ihnen definierten Zustand erfolgreich und exklusiv zu determinieren, so dass kulturelle Diskurse niemals fehlgehen können.« Sayer hat hier anscheinend Honneth im Verdacht, diesen Fehlschluss zu begehen – davon ist Honneth freilich weit entfernt. 8 | So schreibt Freud in seinen berühmten Vorlesungen (1917: 450): »Und überdies kann ich Ihnen versichern, daß Sie falsch berichtet sind, wenn Sie annehmen, Rat und Leitung in den Angelegenheiten des Lebens sei ein integrierendes Stück der analytischen Beeinflussung. Im Gegenteil, wir lehnen eine solche Mentorrolle nach Möglichkeit ab, wollen nichts lieber erreichen, als daß der Kranke selbständig seine Entscheidungen treffe.«

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weniger pathetisch: am (wie auch immer diffusen und schwach ausgeprägten) Problembewusstsein der Adressaten anknüpfen und sich auf Werte und Normen nur dann und insofern beziehen, als sie Teil des Selbstverständnisses der Adressaten sind. Der Rückgriff auf den Analysanden nicht von Beginn an verfügbare theoretische Modelle und Begrifflichkeiten ist für die Analytikerinnen ebenso wie für die Kritischen Theoretikerinnen dabei unverzichtbar. Dem Wert der Autonomie beziehungsweise der Mündigkeit kommt jedoch insofern eine Sonderstellung zu, als damit ein bestimmter Modus bezeichnet ist, in dem wir uns zu Werten und Normen verhalten; und die Befähigung zu diesem Modus ist das Ziel sowohl der Analyse als auch der Kritik. Die primäre Aufgabe der Kritischen Theorie ist es, diesem Verständnis nach daher, jene sozialen Bedingungen zu kritisieren, die als Blockaden der sozialen Praktiken der Rechtfertigung und der Kritik wirken, in denen sich die autonomen und reflexiven Fähigkeiten der Akteure aktualisieren (vgl. Celikates 2009: Teil III). Auf diese Weise versucht die Kritische Theorie, der Gefahr des epistemischen und praktischen Paternalismus ebenso zu entgehen wie der spiegelbildlichen Gefahr einer Idealisierung der sozialen Verhältnisse und der reflexiven Fähigkeiten der Akteure. Für die Kritische Theorie bedeutet dies, dass sie als Beitrag zur gesellschaftlichen Selbstverständigung zu verstehen ist. Gesellschaftskritik wird so, ob nun als alltägliche Praxis oder als Kritische Theorie, als Teil der »kollektiven Reflexion auf die Bedingungen kollektiven Zusammenlebens« verstanden (Walzer 1987: 45). Die Kritische Theorie darf dann nicht mehr nur über und für die Akteure sprechen, sondern ist konstitutiv auf einen Dialog mit ihnen verwiesen. Ihre Aufgabe besteht in der Artikulation, Explikation und »Förderung« der in den sozialen Praktiken der Kritik und den mit ihnen verbundenen Deutungsmustern angelegten reflexiven und normativen Potenzialen mit dem Ziel, die sozialen Bedingungen einer egalitären (zumindest: weniger inegalitären) Praxis der Kritik zu etablieren. Diese Aufgabe kann die Theorie aber nur zu erfüllen hoffen – und hier kommen Kritische Theorie und Critical Realism wieder überein –, wenn sich Philosophie, Gesellschaftstheorie und empirische Sozialwissenschaften wieder und verstärkt dem nur gemeinsam zu bewältigenden Projekt zuwenden, die faktische Kraft des Normativen gegen die normative Kraft des Faktischen zur Geltung zu bringen. Jeder Versuch, dieser Aufgabe nachzukommen, wird mit Konflikten um Selbstverständnisse und Selbstmissverständnisse behaftet bleiben. Daher gilt auch für die sozialwissenschaftliche Praxis wie für alle Praktiken der Selbstverständigung, dass die von der Kritischen Theorie vorgenommenen Rekonstruktionen immer auch als Problematisierungen der thematisierten Selbstdeutungen und Praktiken fungieren und so die Möglichkeit ihrer Veränderung eröffnen. Indem sie den Alltagsrealismus der Akteure mit der Unzumutbarkeit der Realität konfrontieren (Boltanski 2008), ermöglichen sie einen Perspektivenwechsel und die Einnahme einer an-

Aufgaben und Grenzen der kritischen Gesellschaf tstheorie

deren Position gegenüber den eingespielten Handlungsweisen und Diskursen, sodass diese als auch anders mögliche – also als kontingente – Formen der Organisation und der Repräsentation der sozialen Welt begriffen werden können. Sayer findet das unzureichend: Kritik könne nicht allein in Denaturalisierung bestehen (Sayer 2011: 223ff.), denn daraus, dass eine andere Welt möglich sei, folge ja noch nichts, vor allem nichts darüber, welche Welt denn besser wäre – und dies sei eine letztlich ethische Frage, die man ohne Bezug auf eine Konzeption menschlichen Wohlergehens und des Guten nicht beantworten könne. Dass aus der von der Kritischen Theorie formulierten Kritik an Blockaden sozialer Reflexionsprozesse dem hier vertretenen Modell zufolge nicht direkt folgt, welche andere Einrichtung der Welt besser wäre, ist jedoch gerade der entscheidende Vorteil: Es ist nicht Aufgabe der Kritischen Theorie oder Sozialwissenschaft, diese Frage zu beantworten, sondern der Akteure selbst. Daher ist es auch nicht zutreffend, wie Sayer zu behaupten, es gehöre quasi zum Wesen der Kritischen Theorie, »der wichtigsten Frage aus[zuweichen]: Was ist gut oder richtig, und warum?« (In diesem Band: 332) Kritische Theoretikerinnen sind schlicht nicht die richtigen Adressaten für diese Frage, denn anders als Sayers Critical Realism reklamieren sie keine besonderen Einsichten in die Natur des Menschen oder das für ihn Gute. Das bedeutet freilich nicht, dass nicht auch Kritische Theoretikerinnen substanzielle Beiträge leisten können zur sozialen Debatte darüber, wie die Gesellschaft gerechter, inklusiver und vielleicht auch »besser« im umfassenden Sinn des Guten werden kann – gegen Kritik in diesem Sinn ist gar nichts einzuwenden, und Sayer selbst hat kürzlich wieder gezeigt, wie wichtig derartige öffentliche Interventionen sein können (vgl. Sayer 2014b). Allerdings wäre es problematisch, diese Interventionen anders denn als Beitrag zur gesellschaftlichen Selbstverständigung zu verstehen, in der auch Vertreterinnen des Critical Realism keine epistemisch oder anders begründete Sonderstellung zukommt. Letztlich ist es die Aufgabe der Kritischen Theorie, die kritische und reflexive Teilnahme der »gewöhnlichen Akteure« an der gesellschaftlichen Selbstverständigung zu ermöglichen, nicht diese Selbstverständigung an ihrer Stelle in die vermeintlich richtige Richtung zu lenken.

L iter atur Boltanski, Luc (2008): Soziologie und Sozialkritik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010. Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc (1992): Reflexive Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. Celikates, Robin (2009): Kritik als soziale Praxis, Frankfurt a.M.: Campus.

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Soziologie Uwe Becker

Die Inklusionslüge Behinderung im flexiblen Kapitalismus 2015, 216 S., kart. 19,99 E (DE), 978-3-8376-3056-5 E-Book PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3056-9 EPUB: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-7328-3056-5

Gabriele Winker

Care Revolution Schritte in eine solidarische Gesellschaft 2015, 208 S., kart. 11,99 E (DE), 978-3-8376-3040-4 E-Book PDF: 10,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3040-8 EPUB: 10,99 E (DE), ISBN 978-3-7328-3040-4

Andrea Baier, Tom Hansing, Christa Müller, Karin Werner (Hg.)

Die Welt reparieren Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis 2016, 352 S., kart., zahlr. farb. Abb. 19,99 E (DE), 978-3-8376-3377-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3377-5

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Soziologie Carlo Bordoni

Interregnum Beyond Liquid Modernity 2016, 136 p., pb. 19,99 E (DE), 978-3-8376-3515-7 E-Book PDF: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3515-1 EPUB: 17,99 E (DE), ISBN 978-3-7328-3515-7

Sybille Bauriedl (Hg.)

Wörterbuch Klimadebatte 2015, 332 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3238-5 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3238-9

Mathias Fiedler, Fabian Georgi, Lee Hielscher, Philipp Ratfisch, Lisa Riedner, Veit Schwab, Simon Sontowski (Hg.)

movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung Jg. 3, Heft 1/2017: Umkämpfte Bewegungen nach und durch EUropa April 2017, 236 S., kart. 24,99 E (DE), 978-3-8376-3571-3

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