Das 'Prinzip Störung' in den Geistes- und Sozialwissenschaften 9783110314076, 9783110312980

This collected volume aims to generate a concise theoretical presentation of the "perturbation principle" in t

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German Pages 271 [272] Year 2013

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Table of contents :
I. Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften – Einleitung
II. Irritation – Systemtheoretische Grundlagen
Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ‚Störung‘ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur
‚Entstörung‘ und Dispositiv – Diskursanalytische Überlegungen zum Darstellungstabu von Kriegsverbrechen im Literatursystem der frühen Bundesrepublik
Noise – Rauschen zwischen Störung und Geräusch im 19. Jahrhundert
Produktive Störungen: Pause, Schweigen, Leerstelle
III. Gender trouble in der Zwischenwelt – Weiblicher Vampirismus als Störung der Geschlechterordnung
‚Ruhestörer‘ von Heine bis Harden. Perturbation als Eskalation in der deutsch-jüdischen Moderne
Notbremsen, Skandale und Gespenster: Dramaturgien der Störung bei Bertolt Brecht und Heiner Müller
Das Kind (?) Oskar. Totale Verweigerung und anarchische Aufstörung in Günter Grass’ „Die Blechtrommel“
„Das Mittelalter ist keine Epoche. Mittelalter ist der Name der menschlichen Natur.“ – Aufstörung, Verstörung und Entstörung in Juli Zehs „Corpus Delicti“
IV. Recherchen zur Entstehungsgeschichte von Monika Marons Roman „Flugasche“ – Ein Beispiel für „Aufstörung“ und Aushandlung gesellschaftlicher Toleranzgrenzen in einer geschlossenen Gesellschaft
Punktzeit als (Ver-)Störung. Über filmische Narrative absoluter Feindschaft
Stolpersteine – Bodenbilder: Wahrnehmungs- und Erinnerungsverstörungen
Tod – Störung – Raum. Die Thematisierung des Todes in der material-kerygmatischen Katechese
Beiträgerinnen und Beiträger
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Das 'Prinzip Störung' in den Geistes- und Sozialwissenschaften
 9783110314076, 9783110312980

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart und Gangolf Hübinger

Band 133

Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistesund Sozialwissenschaften

Herausgegeben von Carsten Gansel und Norman Ächtler

De Gruyter

ISBN 978-3-11-031298-0 e-ISBN 978-3-11-031407-6 ISSN 0174-4410 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt

I. Carsten Gansel/Norman Ächtler Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften – Einleitung

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II. Gerhard Preyer Irritation – Systemtheoretische Grundlagen

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Carsten Gansel Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ‚Störung‘ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungsund Symbolsystems Literatur

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Norman Ächtler ‚Entstörung‘ und Dispositiv – Diskursanalytische Überlegungen zum Darstellungstabu von Kriegsverbrechen im Literatursystem der frühen Bundesrepublik

.. . . . . . . . . . . . . . .

Arndt Niebisch Noise – Rauschen zwischen Störung und Geräusch im 19. Jahrhundert Heiner Apel/Andreas Corr/Anna Valentine Ullrich Produktive Störungen: Pause, Schweigen, Leerstelle

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III. Verena Ronge Gender trouble in der Zwischenwelt – Weiblicher Vampirismus als Störung der Geschlechterordnung

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Inhalt Burkhard Meyer-Sickendiek ‚Ruhestörer‘ von Heine bis Harden. Perturbation als Eskalation in der deutsch-jüdischen Moderne

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Hans-Christian Stillmark Notbremsen, Skandale und Gespenster: Dramaturgien der Störung bei Bertolt Brecht und Heiner Müller

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Elisabeth Herrmann Das Kind (?) Oskar. Totale Verweigerung und anarchische Aufstörung in Günter Grass’ „Die Blechtrommel“

Sonja E. Klocke „Das Mittelalter ist keine Epoche. Mittelalter ist der Name der menschlichen Natur.“ – Aufstörung, Verstörung und Entstörung in Juli Zehs „Corpus Delicti“

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Matthias Braun Recherchen zur Entstehungsgeschichte von Monika Marons Roman „Flugasche“ – Ein Beispiel für „Aufstörung“ und Aushandlung gesellschaftlicher Toleranzgrenzen in einer geschlossenen Gesellschaft

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Lars Koch Punktzeit als (Ver-)Störung. Über filmische Narrative absoluter Feindschaft

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IV.

Silke Tammen Stolpersteine – Bodenbilder: Wahrnehmungs- und Erinnerungsverstörungen

Franz-Josef Bäumer Tod – Störung – Raum. Die Thematisierung des Todes in der material-kerygmatischen Katechese

Beiträgerinnen und Beiträger

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Carsten Gansel / Norman Ächtler

Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften – Einleitung. Das ‚Prinzip Störung‘ ist bereits seit einiger Zeit in den Fokus der Geistes- und Sozial­ wissenschaften gerückt. Mehrere Initiativen und Tagungen haben sich mit der Materie in den letz­ten Jahren auseinandergesetzt. 1 So heterogen sich die jeweiligen Ansätze in thematischer Schwerpunktsetzung, konzeptueller Qualität und theoretischer Reichweite ausnehmen, so schneiden sich die jeweiligen Prämissen doch in zwei wesentlichen Punkten. Dies betrifft zunächst die erkenntnisleitende Ausgangsbasis. Diese hat das Forschungs­ feld bekanntlich in der kybernetischen bzw. kommunikationswissenschaftlichen Grundlagenforschung. Es waren die Untersuchungen von Claude E. Shannon und Warren Weaver zur mathematischen Fundierung der Informationstheorie, 2 die die klassische Begriffsdefinition von Störung stifteten und in ihrem berühmten Flussdiagramm der Kommunikation 3 zu einem der inzwischen basalen Bildcodes mediengestützter Verständigung verdichteten. 4 Im Gefolge von Shannon und Weaver wird unter Störung jenes Phänomen verstanden, das diese mit dem Begriff noise im Sinne von ‚Rauschen‘ belegt haben. Dieser Ansatz ist insbesondere in der Medienwissenschaft fruchtbar gemacht worden. 5 Sehr vereinfacht dargestellt, bezeichnen zugehörige Beschreibungsmodelle noise übereinstimmend als „Differenz zum Signal“ 6 , als nicht-intentionales, akzidentelles Hindernis für einen ungestörten Informationstransfer zwischen Sender und Empfänger, das seinen Ort üblicherweise im Übertragungskanal hat, seinen Ursprung jedoch auch im Adressanten und/oder Der vorliegende Band geht im Kern auf die Tagung „Perturbationen oder Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften“ zurück, die unter der Leitung der Herausgeber vom 5. bis 7. Juli 2010 auf Schloss Rauischholzhausen bei Gießen stattgefunden hat. 2 Vgl. Shannon, Claude E./Weaver, Warren: The Mathematical Theory of Information. Urbana: University of Illinois Press 1949. 3 Das Kommunikationsmodell findet sich im Beitrag von Arndt Niebisch auf S. 83 in diesem Band. 4 Vgl. dazu Schüttpelz, Erhard: Eine Ikonographie der Störung. Shannons Flußdiagramm der Kommunikation in ihrem kybernetischen Verlauf. In: Transkribieren – Medien/Lektüre. Hrsg. von Ludwig Jäger/Georg Stanizek. München: Fink 2002, S. 233 – 280. 5 Vgl. hierzu den wegweisenden Sammelband von Kümmel, Albrecht/Schüttpelz, Erhard (Hgg.): Signale der Störung. München: Fink 2003. 6 Kümmel, Albrecht: Störung. In: Grundbegriffe der Medientheorie. Hrsg. von Alexander Roesler/Bernd Stiegler. Paderborn: Fink 2005, S. 229 – 235, hier: S. 230.

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Carsten Gansel / Norman Ächtler

im Adressaten haben kann. Arndt Niebisch wird diesen Aspekt in seinem Beitrag zum vorliegenden Band kritisch vertiefen. Den zentralen gemeinsamen Untersuchungsgegenstand bilden in dieser ursprünglichen Perspektive die Trägermedien der Kommunikation beziehungsweise die Art und Weise, wie diese sich im Zustand der Störung materialisieren: „In ihren Unfällen wird die Medialität von Medien sichtbar.“ 7 Störung verstanden als indefinites Hintergrundgeräusch bzw. als eine „Diffusion des Unterscheidbaren“ 8 in der Wahrnehmung gerät dort auch in das Blickfeld der Ästhetik, wo die Bedeutungsleere des Phänomens als bedeutungsträchtiges künstlerisches Mittel zu tragen kommt. Wenn etwa, wie Martin Seel aufzeigt, im Kunstwerk ein ‚arrangiertes Rauschen‘ als „Zeichen eines Prozesses der Gestaltungsfindung und des Gestaltungsverlusts“ 9 gesetzt wird, um die Gemachtheit wie die Opazität des Artefakts zu explizieren. Das Spiel mit den diffusen Rändern der Wahrnehmung gehört seit jeher zu den zentralen Mitteln einer selbstreflexiven Ästhetik. Einen diesbezüglichen Sonderfall beschreibt Silke Tammens Beitrag über die raumgreifenden Bodenreliefs von Thomas Kilpper, deren autoreferentielle Struktur nicht nur in der Aufhebung der Distanz von Betrachter und Kunstwerk besteht, sondern auch in dem mit ihrer Begehbarkeit verbundenen Verlust an Überblick bei gleichzeitiger Aufwertung des Tastsinns für die Werkerfahrung. Die Fragmentierung der visuellen Ebene und die künstlerische ‚Zerstörung‘ vormals funktionaler Fußböden intendiert hier die synästhetische Verunsicherung des anwesenden Rezipienten. Das kreative Spiel mit den Grenzen und Leerstellen der Wahrnehmung im hier skizzierten Sinn lässt sich mit Andreas Hiepko und Katja Stopka auf die prägnante Formel bringen: „Rauschen ist, was den Künstler fasziniert und den Nachrichtentechniker stört.“ 10 Die zweite Gemeinsamkeit aktueller Forschungsansätze zu Phänomenen der Störung liegt in der Tendenz zu einer signifikanten semantischen Erweiterung der Begriffskonnotation. Neuere epistemologische und semiologische Definitionen verändern bzw. erweitern die Perspektive und untersuchen die Kategorie der Störung in ihrer Eigenschaft als eine Grundvoraussetzung von Kommunikation und als „zentrales Verfahren der sprachlichen Sinnproduktion“ 11. So hat Ludwig Jäger aufgezeigt, wie das permanente Wechselspiel von Störimpuls und ‚transkriptiver‘ Bearbeitung Kommunikationsprozesse nicht nur anzuregen vermag, sondern auch eine selbstreflexive Dimension einzieht, also Kom Kümmel, Albrecht/Schüttpelz, Erhard: Medientheorie der Störung/Störungstheorie der Medien. Eine Fibel. In: Kümmel/Schüttpelz, Signale. 2003, S. 9 – 13, hier: S. 10. 8 Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens. München: Hanser 2000, S. 232. 9 Ebd., S. 244. 10 Hiepko, Andreas/Stopka, Katja: Einleitung. In: Rauschen – Seine Phänomenologie und Semantik zwischen Sinn und Störung. Hrsg. von Andreas Hiepko/Katja Stopka. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 9 – 18, hier: S. 11. Auf welche Weise Störung, verstanden im Anschluss an das klassische Modell von Shannon und Weaver, zum literarischen Gegenstand und hermeneutischen Schlüssel werden kann, zeigt Arndt Niebisch in seinem Beitrag zu Edgar Allan Poe aus diesem Band. 11 Jäger, Ludwig: Störung und Transparenz: Skizze zur performativen Logik des Medialen. In: Performativität und Medialität. Hrsg. von Sybille Krämer. München: Fink 2004, S. 35 – 73, hier: S. 41. 7

Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften – Einleitung.

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munikation über Kommunikation auslöst. Dieses Wechselspiel kommt in erster Linie auf der Ebene zwischenmenschlicher Redeentfaltung zu tragen, wie Heiner Apel, Andreas Corr und Anna Valentine Ullrich in ihrem Beitrag aus linguistischer Perspektive weiter vertiefen. Es wirkt sich darüber aber immer auch auf kollektive Verständigungsprozesse aus und liegt deshalb, so Jäger, „prinzipiell der Bearbeitung und Konstitution von Sinn im semantischen Haushalt von Kulturen zugrunde“. 12 Damit ist ein Ansatz angeschnitten, der über im engeren Sinn kommunikations- und medientheoretische Interessenfelder hinausweist und die Kategorie der Störung auch für kulturwissenschaftliche Fragestellungen fruchtbar macht. Gesellschaftssysteme erneuern sich beständig gerade auch in der Auseinandersetzung mit ihren anthropologischen, soziopolitischen, technisch-ökonomischen, ökologischen oder auch kulturellen ‚Störfällen‘. Dies ist in jüngster Zeit mehrfach Gegenstand interdisziplinären Austauschs geworden. 13 Konsens besteht zum einen darin, dass überindividuell wirksame Einschnitte wie Skandale, Revolutionen oder Katastrophen – aber auch anthropologische ‚Grenzsituationen‘ (Karl Jaspers) wie der Tod, auf dessen Deutung in der katholischen Katechese Franz-Josef Bäumers religionswissenschaftlicher Essay eingeht – kollektive normalisierende Aushandlungsprozesse anstoßen und zu strategischen Passungsleistungen führen können. Daraus ergibt sich zum anderen die Erkenntnis, dass Störungen folglich mit ein Grund dafür sind, dass stabile Gemeingefüge wie die westlichen Demokratien keine statischen Gebilde darstellen, sondern eine dynamische, akkommodable Stabilität ausprägen. Von diskursanalytischer Seite hat dies insbesondere Jürgen Link u. a. mit Blick auf den Normalismusdiskurs von Gemeinschaften aufgezeigt. 14 Gesellschaftssysteme, in denen eine Flexibilität sozialer ‚Toleranzgrenzen‘ (Link) gegenüber ‚Denormalisierungen‘ aller Art nicht gegeben ist, wie es etwa in den geschlossenen Gesellschaften des Realsozialismus in Europa der Fall gewesen war und heute noch z. B. für China zutrifft, müssen demgegenüber einen enormen Aufwand betreiben, um die auf Langfristigkeit angelegte Gültigkeit ihrer normativ gesetzten Stabilitäts- bzw. Normalitätspostulate zu erhalten. Die Anstrengungen der DDR-Staatssicherheit zur Kontrolle von unbotmäßigen Künstlern und Autoren ist ein inzwischen gut dokumentiertes historisches Beispiel für diesen Aufwand. Carsten Gansel und Matthias Braun geben anhand der Eingriffe des MfS in den Entstehungsprozess des letzten Teils der „Wundertäter“-Trilogie (1980) von Erwin Strittmatter bzw. des kritischen Umweltromans „Flugasche“ von Monika Maron (1981) exemplarische Einblicke in typische institutionelle Strategien und Handlungsweisen zur Gänge­ lung von Autoren und zur Beeinflussung von Buchpublikationen in einem politisch gelenkten Literatursystem. Ebd., S. 48. Vgl. z. B. Fleischhack, Julia/Rottmann, Kathrin (Hgg.): Störungen. Medien – Prozesse – Körper. Berlin: Reimer 2011; sowie das Themenheft 2 „Störfälle“ der Zeitschrift für Kulturwissenschaften (2011). 14 Vgl. dazu allgemein Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus: Wie Normalität produziert wird. 3., ergänzte, überarbeitete und neu gestaltete Ausgabe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. 12 13

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Carsten Gansel / Norman Ächtler

Es ist das Verdienst der vorliegenden kulturwissenschaftlichen Forschungsliteratur, die prospektive Dimension gesellschaftlicher ‚Störfälle‘ für unterschiedliche Bereiche hervorgehoben zu haben. An was es den bisherigen Näherungen an Phänomene der Störung aus diesem Bereich allerdings mangelt, ist ein konsistentes Theoriedesign, das über den gemeinsamen Bezug auf die ältere kommunikationstheoretische Forschung hinausgeht und terminologische wie konzeptionelle Grundlagen für eine konzisere Beschreibung des ‚Prinzips Störung‘ bereitstellt. Auch der vorliegende Band kann nur einige weitere Schritte in Richtung auf eine allgemeinere kulturwissenschaftliche Kategorisierung von Phänomenen der Störung gehen. Orientierung bietet hierfür insbesondere die Systemtheorie, wie Carsten Gansel in seinem Beitrag zur Diskussion stellt. 15 Mit dem evolutionslogischen Konzept der ‚Irritation‘ bzw. ‚Perturbation/Störung‘ gibt die Systemtheorie eine vorläufige Antwort auf konzeptuelle Fragestellungen, die eine breite Anschlussbasis für Zugänge aus unterschiedlichen Disziplinen eröffnet. Niklas Luhmann versteht Irritation generell als ein konstruktives Prinzip, das systemischen Differenzierungs- und Adaptionsprozessen überhaupt zugrunde liegt und dauerhaften Anlass für systemische Kommunikation wie Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung bietet. Störungen sind demnach Indikatoren für Ereignisse in der Umwelt eines psychischen oder sozialen Systems, die eine kommunikative Bearbeitung innerhalb des Systems in Form von ‚Selbstirritation‘ herausfordern. 16 Durch Selbstirritation kann ein System wiederum dazu motiviert werden, die eigenen Strukturelemente neu zu koppeln. Damit wird Irritation/Störung zu einer Grundvoraussetzung systemischer Evolution, zum Motor für „die Sicherung der unaufhörlichen Erneuerung der Systemelemente“, und dies, wie Luhmann an unterschiedlichen Gegenständen immer wieder verdeutlicht hat, sowohl auf der Ebene individueller psychophysischer Systeme als auch im sozialstrukturellen Bereich. 17 Das Konzept der ‚Irritation‘ für sich hat Luhmann selbst allerdings nicht exklusiv ins Zentrum einer gesonderten Betrachtung gestellt. Gleichwohl, so arbeitet Gerhard Preyer in seinem gesellschaftswissenschaftlichen Grundlagenbeitrag heraus, handelt es sich bei Irritationen/Störungen um ein wichtiges Element in Luhmanns Theorie sozialer Systeme. Die systemtheoretische Grundüberlegung vom Zusammenhang zwischen Störimpuls, Selbstirritation und Systemevolution macht das ‚Prinzip Störung‘ z. B. an Theoreme und Kategorien der Diskursanalyse anschließbar, die insbesondere Jürgen Link – es wurde bereits darauf hingewiesen – im Anschluss an Michel Foucault näher beleuchtet hat. Tatsächlich, so erläutert Norman Ächtler anhand seiner Näherung an die struktu Vgl. u. a. bereits Gansel, Carsten: Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Störung – Adoleszenz und Literatur. In: Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung: Bilder von Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur. Hrsg. von Carsten Gansel/Pawel Zimniak. Heidelberg: Winter 2011, S. 15 – 48. 16 Vgl. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 118. 17 Vgl. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987, S. 79. 15

Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften – Einleitung.

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rellen Ursachen für die Tabuisierung von Kriegsverbrechen im Literatursystem der frühen Bundesrepublik, erweist sich das ‚Prinzip Störung‘ als einer der wenigen signifikanten Schnittpunkte zwischen den in ihren Grundsätzen und Schlussfolgerungen voneinander eher entfernt liegenden Theoriemodellen. Der systemtheoretische Ansatz gibt aber auch die Schnittstelle zwischen kulturwissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Forschungsgebieten, darauf weist Carsten Gansel in seinem Aufsatz hin. Wie psychische Systeme auf Irritationen aus der Umwelt zu reagieren vermögen und wie sich dies im Fall einer Autorin auf das Symbol- und Handlungssystem Literatur auswirken kann, verdeutlich er exemplarisch am Beispiel von Christa Wolfs autobiographischer Erzählung „Störfall“ (1987) über die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Mit dem Literatur- bzw. Mediensystem als Teilsystem(e) von Gesellschaften ist ein tertium comparationis eines großen Teils der hier versammelten Aufsätze benannt. Insbesondere die Literaturwissenschaft hat die Systemtheorie bereits seit längerem als Ausgangspunkt für innovative Analysemodelle produktiv rezipiert. 18 Ein in der Literaturwissenschaft inzwischen bewährtes, von Luhmann ausgehendes, dessen Prämissen jedoch um handlungstheoretische Elemente ergänzendes Beschreibungsmodell ist ein Begriff von Literatur, der diese als ein Handlungs- und Symbolsystem begreift. 19 Mit diesem um die Akteure des Literaturbetriebs erweiterten Literaturbegriff lassen sich in störungstheoretischem Kontext interessante Phänomene sowohl auf der Ebene der Texte (‚Ästhetik/ Poetologien der Störung‘) als auch auf der Ebene der Interaktionen zwischen Literaturproduzenten, den Organen und Medien der Literaturvermittlung und den Rezipienten (Provokationen, Skandale etc.) ermitteln. Dasselbe Modell lässt sich ebenso auf die Massenmedien applizieren. Für Störungen im Bereich des Handlungssystems Literatur interessieren sich Burkhard Meyer-Sickendiek und Sonja Klocke. In kritischer Auseinandersetzung mit Luhmann zeichnet Meyer-Sickendieks Aufsatz über prominente ‚Ruhestörer‘ (Marcel Reich-Ranicki) unter den deutsch-jüdischen Feuilletonisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts die Geschichte einer Eskalation systemimmanenter Aufstörung nach, die ihre Gründe u. a. im Teufelskreis aus einer zunehmenden Radikalisierung journalistischer Agitation auf der einen und einem verschärften öffentlichen Antisemitismus auf der anderen Seite hatte. Sonja Klocke widmet sich Juli Zeh als einer wichtigen Vertreterin der engagierten deutschsprachigen Gegenwartsliteratur und bindet Zehs dystopischen Roman „Corpus Delicti“ (2009) ein in aktuelle Debatten um Sicherheitsstaat und Persönlichkeitsrechte. Für die Untersuchung künstlerischer Symbolsysteme, also der literarischen und me Vgl. grundlegend Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993; Fohrmann, Jürgen/ Müller, Harro (Hgg.): Systemtheorie der Literatur. München: Fink 1996; sowie jüngst Werber, Niels (Hg.): Systemtheoretische Literaturwissenschaft. Begriffe – Methoden – Anwendungen. Berlin/New York: de Gruyter 2011. 19 Vgl. allgemein bereits Schmidt, Siegfried J.: Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991. Vgl. dazu auch die Beiträge von Carsten Gansel und Norman Ächtler in diesem Band. 18

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Carsten Gansel / Norman Ächtler

dialen Texte, wurde ein weiterer zentraler Leitgedanke der Systemtheorie fruchtbar gemacht: die bereits bei Luhmann angesprochene Funktion von Kunst und Literatur als ein Medium der Beobachtung zweiter Ordnung. 20 Gemeint ist damit, dass die polyvalente Dialektik von künstlerischer Form und Referentialität Perspektiven auf die Wirklichkeit eröffnet, die im Akt der Rezeption wiederum kritisch hinterfragt werden können. Auf diese Weise vermögen Kunst und Literatur gewissermaßen zu Beobachtungen ihrer Beobachtungen anzuregen und können damit auch bei den Rezipienten zu veränderten Sichtweisen auf die Realität führen. Neben dem intrinsischen Irritationspotential, das solchen Beobachtungsbeobachtungen per se innewohnt, gehen von künstlerischen Texten bzw. Artefakten seit jeher auch intentionale Störimpulse aus, etwa in Form von aufstörenden Themen, Gestalten oder Darstellungsweisen. So gesehen bietet es sich an, beispielsweise die Antidramatik von Bertolt Brecht oder Heiner Müller zwischen Verfremdungseffekt und Desubjektivierung unter dem Gesichtspunkt von Störung zu fassen, wie es HansChristian Stillmark in seinem Essay vorschlägt. Pointiert hat Albert Kümmel auf die Bedeutung von Tricksterfiguren aller Art für eine Kulturgeschichte der Störung hingewiesen. 21 Gerade solche künstlerischen ‚Figurationen der Störung‘ können zu Beobachtungen zweiter Ordnung provozieren. Einigen Ausprägungen in literarischen und filmischen Texten und Genres gehen die Beiträge von Elisabeth Herrmann, Verena Ronge und Lars Koch nach. So zeigt Verena Ronge in ihrer Motivgeschichte des weiblichen Vampirs eine literarische Tradition auf, die das Fabelwesen seit dem frühen 19. Jahrhundert bis zu Elfriede Jelinek nicht nur als eine Grenzgängerin zwischen Leben und Tod zeichnet, sondern vor allem als Verkörperung von gesellschaftlichen Normverletzungen. Dies gleich in mehrerer Hinsicht, indem die Vampirin nämlich traditionelle Geschlechterordnung (männlich – weiblich), Geschlechterrollen (aktiv – passiv) und Geschlechternormen (heterosexuell – homosexuell) radikal in Frage stellt. Inwieweit Figurengestaltung als genuiner Bestandteil einer Poetik der Störung zu werten ist, arbeitet Elisabeth Herrmanns Re-Lektüre des Romans „Die Blechtrommel“ (1959) von Günter Grass heraus. Im Protagonisten Oskar Mazerath als amoralischem Gnom und unzuverlässigem Erzähler ist ein Störungspotential angelegt, das sich sowohl auf der Handlungs- als auch auf der narratologischen Ebene des Romans auswirkt. Der medienwissenschaftliche Essay von Lars Koch führt schließlich in ein verhältnismäßig neues Kinogenre ein. Mit Blick auf Filme über Amokläufer und terroristische Schläfer diskutiert Koch, dass es sich bei den um dieses Figural gebauten Geschichten letztlich um konservative Narrative von Störung und erfolgreicher Re-Normalisierung handelt. Bei aller definitorischen Zurückhaltung ergeben sich aus den theoretischen Grundlagen, von denen die im vorliegenden Band zusammengebrachten kulturwissenschaftlichen Vgl. z. B. Böhme, Hartmut: Zur Gegenstandsfrage der Germanistik und Kulturwissenschaft. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 42, 1998, S. 476 – 485; vgl. bereits Luhmann, Niklas: Literatur als fiktionale Realität. In: Ders.: Schriften zur Kunst und Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 276 – 291. 21 Vgl. Kümmel, Störung. 2005, S. 230: „Jeder Trickstermythos muß als implizite Störungstheorie gelesen werden.“ 20

Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften – Einleitung.

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Disziplinen ausgehen, und aus dem Themenspektrum, das die hier versammelten Beiträge ausbreiten, einige Gesichtspunkte, die für eine genauere Definition des ‚Prinzips Störung‘ im kulturwissenschaftlichen Kontext gewinnbringend stark gemacht werden können: Gemeinsam ist den Ansätzen aus System-, Kommunikations- und Medientheorie, aus Sprach- und Literaturwissenschaft wie Diskursanalyse, dass ‚Störung‘ nicht mehr nur als mediale Dysfunktion, als Hindernis oder Unfall für und im Zeichentransfer gefasst wird, sondern eine produktive und gleichsam stabilisierende Bedeutung zugeschrieben bekommt. Als Marker von Sinngrenzen sorgen Störungen für eine fortgesetzte Anpassung dieser Grenzen an die aktuellen Bedingungen von Kommunikation. Dies gilt sowohl für den Bereich des zwischenmenschlichen Informationsaustauschs als auch für soziale Systeme. Deutlich wird auch, dass die unterschiedlichen Ansätze das kulturelle Feld und seine künstlerischen Hervorbringungen als besonderen Ort und bevorzugte Medien von Störungen betonen. Eine kultur- und gesellschaftswissenschaftliche Theorie der Störung kommt ohne die Verbindung von Systemstörung und Systemstabilisierung folglich nicht aus. In diesem Kontext fasst die Kategorie der ‚Störung‘ Phänomene, die als auslösende Faktoren individuellen wie gesellschaftlichen Entwicklungs- beziehungsweise Wandlungsprozessen vorausgehen, indem sie 1) einen reibungslosen Kommunikationsprozess behindern, und das auf eine Weise, dass 2) die Bedingungen von Kommunikation – ihre Medialität, ihre diskursiven Regeln – evident und zum Gegenstand selbstreflexiver systemischer Introspektion werden, also 3) Anlass bieten für Akte erneuerter und erneuernder Selbstverständigung und damit 4) die Dynamisierung und Flexibilisierung von Sinngrenzen notwendig halten. Systemische Stabilität ist zu verstehen als Resultat kontinuierlicher semiologischer bzw. diskursiver Korrektur- oder Anpassungsleistungen sozial interagierender Entitäten gegenüber Störungen aller Art. Insofern ist ‚Störung‘ auch als ein Medium gesellschaftlicher (Selbst)Verständigung zu verstehen.

Gerhard Preyer

Irritation – Systemtheoretische Grundlagen

1. Zur Fragestellung Der gegenwärtige Forschungstand zur Globalisierung belegt, dass die dadurch beschriebenen Vorgänge nicht zu einer Homogenisierung der gesellschaftlichen Kommunikation führten. Die Analyse der Hybridisierung, Post-Hybridisierung (Global Mélange), des Synkretismus und der Kreolisation von Kulturen und Ethnien sind uns mittlerweile vertraute sozialwissenschaftliche Ansätze und Forschungsstrategien. Globalisierung – oder besser: Glokalisierung – bewirkt keine räumliche Integration der gesellschaftlichen Kommunikation, sondern es zeichnet sich eine heterarchische Ordnung aller sozialen Systeme ab. Gesellschaftliche Kommunikation hat kein Steuerungszentrum mehr. Das schließt Gegenreaktionen nicht aus. 1 Wir leben mittlerweile in einer mobilisierten Gesellschaft, von der Ökonomie, Politik, Recht, Solidarität und die kulturelle Kommunikation erfasst sind. 2 Dadurch verändert Zum Begriff der „Glokalisierung“ vgl. Robertson, Roland: Glocalization: Time-Space and Homogeneity-Heterogeneity. In: Global Modernities. Hrsg. von Mike Featherstone u. a. London: Sage Publications 1995, S. 25 – 44; außerdem Nederveen Pieterse, Jan: Globalization and Culture. Global Mélange. Lanham: Rowman & Littlefield 2004, S. 64 – 69; Ders.: Ethnicities and Global Multiculture. Pants for an Octopus, Lanham: Rowman & Littlefield 2007; Ders.: Multipolarity means Thinking Plural. In: ProtoSociology 26, 2009: Modernization in Times of Globalization I, S. 19 – 35. Zu diesem Ansatz auch Preyer, Gerhard: Globalisierung und Multiethnizität. Jan Nederveen Pieterses Beitrag zur Analyse struktureller Evolution. In: Ders.: Gesellschaft im Umbruch II. Jenseits von National- und Wohlfahrtsstaat. Frankfurt/M.: Humanities Online 2009, S. 48 – 73. Zur Soziologie der Globalisierung des Weiteren Preyer, Gerhard: Soziologische Theorie der Gegenwartsgesellschaft (3 Bde.). Mitgliedschaftstheoretische Untersuchungen, Wiesbaden: VS Verlag Sozialwissenschaften 2006, S. 181 – 260; zu den evolutionären Folgeproblemen Ders.: Soziologische Theorie der Gegenwartsgesellschaft III. Mitgliedschaft und Evolution. Wiesbaden: VS Verlag Sozialwissenschaften 2008, S. 295 – 311. Zur Dezentrierung sozialer Ordnung vgl. Willke, Helmut: Heterotopie. Studien zur Krisis der Ordnung moderner Gesellschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. Vgl. auch das Projekt der ProtoSociology „Globalisierung, Modernisierungstheorie, Multiple Modernities“ unter ‹http://www.gesellschaftswissenschaften.uni-frankfurt.de/institut_1/gpreyer/soziologie/globalisierung_modernisierungstheorie_multiple_modernities.html›. 2 Zu den Paradoxien der Kommunikationsgesellschaft und ihrer soziologischen Untersuchung

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Gerhard Preyer

sich Gesellschaft und Interaktion derart, dass ein strukturelles Gefälle zwischen beidem entsteht. Interaktionen sind anzufangen und zu beenden, Gesellschaft als das umfassende soziale System ist aber nicht kommunikativ erreichbar. Sie hat keine Adresse. Das wird durch die Selektionen der neuen Zeitordnung verstärkt, die eine grundsätzlich veränderte Teilnahmebedingung an der gesellschaftlichen Kommunikation durchsetzt. Kommunikation läuft mittlerweile zwischen den Kontinenten in Realzeit ab. Das führt zu dem Problem des Umgangs mit einer erhöhten Geschwindigkeit, die von unserer erlebbaren biologischen Zeit erheblich abweicht. Kommunikation in Realzeit verändert strukturell die Anschlussrationalitäten und die Selektion der Teilnahme an der gesellschaftlichen Kommunikation. Tiefenschärfe gewinnen die damit einhergehenden Untersuchungen dann, wenn wir davon ausgehen, dass alle sozialen Systeme fortlaufend über ihre Mitgliedschaftsbedingungen zu entscheiden und diese Entscheidungen in Kraft zu setzten haben. Die Hybridisierung des synkretistischen (hybriden) Multikulturalismus und die Umstellung auf eine kognitive Orientierung der Teilnehmer an der gesellschaftlichen Kommunikation wird aber die Bindungen an die Herkunftswelten der sozialen Gruppen nicht auflösen. 3 Damit gehen neue Freund-Feind-Konstellationen einher. Der kurze deskriptive Befund der Veränderung der gesellschaftlichen Kommunikation belegt, dass wir mit einer Vermehrung von Irritationen (Perturbationen) konfrontiert sind, die nicht mehr durch eine stereotype Lebensform und durch die uns vertrauten Regelungsmodelle absorbierbar sind. Für die Untersuchung und Systematisierung der zu beobachtenden Irritationen der gesellschaftlichen Kommunikation halte ich es für fruchtbar, einen systemtheoretischen Anschnitt auszuprobieren. Operative Schließung (Diskontinuität von und Komplexitätsgefälle zwischen System und Umwelt), Ausdifferenzierung, Binnendifferenzierung und strukturelle Kopplung sind die Grundbegriffe der Systemanalyse. 4 Sie möchte ich erläutern (1.), um die Platzierung des Begriffs der Irritation in der Systemtheorie zu verdeutlichen (2.). In einem weiteren Schritt gehe ich auf die Beziehung zwischen Irritation und struktureller Kopplung ein (3.). Als Schlussschritt möchte ich meinen mitgliedschaftstheoretischen Zugang zu Systemtheorie und der Selbstirritation der gesellschaftlichen Kommunikation skizzieren (4.). 5 Der theoretische Kontext könnte uns einen Zugang zum Verständnis von Irritation und Katastrophe eröffnen und erklären helfen, dass es ohne Irritation keine soziale Ordnung und Selbstbeobachtung sozialer Systeme geben kann (5.). Als Schlussschritt gehe ich auf den Begriff der Selbstbeschreibung in der Systemtheorie ein, da alle Kommunikationen über Gesellschaft die Beschreibung eines Kommunikationssystems ist. vgl. Münch, Richard: Die Dialektik der Kommunikationsgesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991; Ders.: Dynamik der Kommunikationsgesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995; sowie Hondrich, Karl Otto: Der kommunizierende Mensch – und seine Missverständnisse. In: Ders.: Der Neue Mensch. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 139 – 162. 3 Zum Forschungsstand der Untersuchung über Multikulturalismus vgl. Halstead, Mark: In Defense of Multiculturalism: In: Philosophy of Education in the Era of Globalization. Hrsg. von Yvonne Raley/Gerhard Preyer. New York: Routledge Publisher 2010, S. 181 – 197. 4 Hinzuzufügen wären noch Interpenetration und Systemrationalität. 5 Zur mitgliedschaftstheoretischen Version der Theorie sozialer Systeme vgl. Preyer: Sozio­lo­gi­ sche Theorie der Gegenwartsgesellschaft III. 2008, S. 45 – 56.

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Selbstbeschreibungen sind die Darstellung der Einheit eines Systems im System. Mit der Analyse des Begriffs der Selbstbeschreibung hat Luhmann die Kulturtheorie und Kultursoziologie innoviert und den Kulturbegriff in seine Gesellschaftstheorie eingeordnet. Dadurch hat er der Selbstverständigung der soziologischen Theorie ein neues Profil gegeben, das darüber hinaus von allgemeinem Interesse ist (6.). An der Platzierung des Irritationsbegriffs in der Systemtheorie und seiner Reinterpretation in der Soziologie der Mitgliedschaft lässt sich verdeutlichen, dass sich soziale Systeme nur durch Irritationen und Grenzziehungen reproduzieren können. Die Fruchtbarkeit des Anschnitts hätte sich im Fortgang der Forschung zu erweisen. 2. Zum Systembegriff Die gegenwärtige Systemtheorie geht davon aus, dass Systeme umweltbezogene Entitäten sind, denen nichts in der Umwelt entspricht. Sie sind durch ihre Innen-Außen-Differenzierung selbstreferenzielle und selbstdeterminierte Systeme (nichttriviale Maschinen). Ihre Bestandteile systematisieren wir nicht als unteilbare Einheiten, sondern sie kommen durch ihre Relationierung und selbstreferenzielle Konditionierung zustande (Schließung). Differenzierung ist die Wiedereinsetzung der Unterscheidung von System – Umwelt im System. Sie ist keine Zerlegung des Ganzen in Teile, sondern jedes Teilsystem rekonstruiert die anderen sozialen Systeme (Teilsysteme) als umfassendes soziales System, dem es angehört, durch seine eigene System-Umwelt-Differenz. Es ist insofern im Blick zu behalten, dass die System-Umwelt-Differenz nicht mit der System-System-Beziehung zu verwechseln ist. Jedes System ist ein System in einer Umwelt. Das hat weitgehende epistemologische Folgen, da jede System-Umwelt-Differenz ihre Weltselektion am Leitfaden einer besonderen Unterscheidung vornimmt, z. B. durch Begriffe. 6 Systemdifferenzierung. Systembildung bedeutet die operative (doppelte) Schließung von Systemen nach Innen und Außen (Grenzziehung). 7 Diese Grenze können sie nicht überschreiten. Es sind keine Membranen, die einen inneren vor einem äußeren Bereich schützen, sondern es sind operative Grenzen, d. h. jede Operation (Ereignis) ist von der Grenze gleich nahe und gleich weit entfernt. Operationen sind zeitpunktbezogene Ereignisse, die mit ihrem Eintreten wieder verschwinden. Sie sind nur mit der Unterscheidung vorher-nachher zu beobachten und zu beschreiben. Die operative Schließung löst die Selbstbeobachung sozialer Systeme aus. Die Selbstreferenz der Beobachtung kann nur Unterscheidungen in andere Unterscheidung transformieren, d. h. Information verarbeiten, ohne dass sie dabei einen Umweltkontakt herstellt. Gleichzeitig setzt jede operative Schließung eine funktionierende physische Welt voraus. Daraus ist zu folgern, dass Rationalität nicht durch Konsens zu begründen ist. Vgl. dazu Luhmann, Niklas: Rationalität in der modernen Gesellschaft. In: Ders.: Ideenevolution: Beiträge zur Wissenssoziologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 186 – 233, S. 219 f. 7 Zu der Grenzerhaltung von Innen und Außen vgl. Preyer, Soziologische Theorie der Ge­gen­ warts­gesellschaft. 2006, S. 41 – 43.

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Ausdifferenzierung. Durch ihre Schließung sind soziale Systeme selbstreferenziell bestimmt. Selbstreferenz besagt, dass die Ausdifferenzierung eines Systems sich dadurch vollzieht, dass es in der Bestimmung seiner Bestandteile und Operationen auf sich selbst Bezug nimmt. Ausdifferenzierung heißt somit Grenzziehung, um in Systemen Irritationen zu vermeiden, ohne sie verhindern zu können. Sie betrifft ihre Identität (Einheit). Binnendifferenzierung heißt Subsystemdifferenzierung, um beobachtete Störun­gen zu absorbieren. Eine Strategie der Binnendifferenzierung sozialer Systeme ist die Externalisierung. Soziale Systeme können sich nur durch die Unterscheidung zwischen System und Umwelt selbst beobachten. 8 Erst durch diese Selbstbeobachtung treten sie in eine Differenzordnung zu ihrer Umwelt ein. Wäre das nicht so, würden sie in Rauschen zerfallen. Damit geht einher, dass Systeme über einen Negationsspielraum verfügen. Sie schließen aus, indem sie einschließen. Nur durch die Nutzung von Negationsspielräumen können sich soziale Systeme in der Zeit restabilisieren. Daraus folgt, dass sie nicht über ihre Innenstabilität disponieren können. Soziale Systeme sind als umweltbezogene Systeme an das Bewusstseinsystem (mentales System) und untereinander gekoppelt. Sie können nicht an natürliche Gegebenheiten gekoppelt sein. Soziale Systeme haben sich als Ereignisse zu reproduzieren, die durch ihr Eintreten sofort wieder verschwinden. Strukturen erlauben dagegen Reversibilität. Reversible Struk­ turen entstehen dadurch, dass die systemeigenen Strukturen und die Restabilisierung (Retention) der System-Umwelt-Relation in der Zeit gebunden werden. Dadurch wird Unwahrscheinliches in Wahrscheinliches umgewandelt. Das gilt für alle Systeme, auch für Maschinen, biologische -, mentale -, Bewusstseins- und neurologische Systeme. Soziale Systeme sind von der Anlage her konservativ, unruhig und sie haben keinen opera­tiven Endzustand. Daran erkennen wir, dass sie sich nur durch Strukturbeschränkungen restabilisieren können. Solche Beschränkungen erlauben eine Restabilisierung der Projektion von Erwartungen in der Zeit, durch die sich Kommunikation stabilisiert, ohne dass dadurch ihre Restabilisierung zu gewährleisten wäre. Strukturfestlegung kann sowohl zu inneren als auch zu äußeren Anpassungsproblemen führen, die Stabilitätsprobleme einleiten, sie dramatisieren oder auf sich beruhen lassen. Die theoretische Signifikanz der funktionalen Analyse ist die Relationierung der Bestandteile von Systemen. Sie bezieht sich aus meiner Sicht auf die (fortlaufende) Ab­ stimmung von zwei Erfordernissen: 1. Es besteht das Erfordernis reproduzierbare Problemlösungen zu finden. Es ist durch eine Selektionsverstärkung ausgelöst. 2. Im Unterschied zu den reproduzierbaren Problemlösungen ist die Nichtnegierbarkeit der System-Umwelt-Relation für die zeitbezogene Reproduktion von Systemen zu erhalten. Es besteht somit der funktionale Imperativ, dass Problemlösungen auf die Systemerhaltung abzustimmen sind. Diese Beobachtung ist auf einer mehrstufigen Kybernetik zu systematisieren vgl. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 1120 – 1126; Preyer, Soziologische Theorie der Gegen­warts­ge­sell­schaft III 2008, S. 38 – 43.

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Soziale Systeme erreichen nicht ihre Umwelt. Diese hat aber eine Auswirkung auf sie. Umwelt kann soziale System irritieren (stören). Die Selektionsverstärkung der Struktur und die System-Umwelt-Relation sind zwar zu unterscheiden, aber die Struktur kann die System-Umwelt-Relation nicht negieren. Erst durch die systemeigenen Operationen, die Selektion der Strukturen und die Restabilisierung der System-Umwelt-Relation in der Zeit emergieren reversible Strukturen (Erwartungen). Die systemtheoretischen Voraussetzungen oder ein systemtheoretischer Zugang zur Irritation betrifft die Selbstkonstitution sozialer Systeme wie sie in der Analyse der Beziehung zwischen Selbstreferenz, Negationsspielräumen und struktureller Kopplung zwischen Sys­ temen, die operative Grenzen etabliert, deutlich wird. Die Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdreferenz tritt bereits dadurch auf, wenn eine Mitteilung als Handlung beobachtet wird, z. B. als Gruß zur Eröffnung einer Kommunikation. Kommunikationssysteme flaggen sich sozusagen als Handlungssysteme. Kommunikation wird der Handlung vorgeordnet. 9 Das setzt die Fähigkeit der Unter­ scheidung von Selbst- und Fremdreferenz bei den Kommunikationsteilnehmern vor­aus, die Kommunikation fortlaufend zu reproduzieren hat. Damit stellt sich autokatalytisch die Systembildung als System-Umwelt-Differenzierung ein. Diese Selbst- und Fremdreferenz haben die Gesellschaftsmitglieder handhaben zu können. Sie ist eine allgemeine Mit­gliedschafts- und Teilnahmebedingung jeder gesellschaftlichen Kommunikation. 3. Irritation In der System-Umwelt-Relation sozialer Systeme zum Bewusstseinssystem liegen strukturelle Invarianten vor, wie z. B. das Tempo der Veränderungen von Bewusstseinszuständen, die von der Kommunikation nicht überfordert werden dürfen. Es ist eher unwahrscheinlich, dass Kommunikation mit Umweltsystemen abgestimmt werden kann, die sich permanent in andere Zustände versetzen. Kommunikation hat sich deshalb auf ständige Irritationen durch ihre Umwelt einzustellen. Kopplungen bestehen aber nicht nur zwischen dem Bewusstseins- und den sozialen Systemen, sondern auch zwischen sozialen Systemen selbst. Strukturelle Kopplung. Strukturelle Kopplung ist nach der Definition von Humberto Romesin Maturana eine Einschränkung von Strukturen, damit ein System seine selbstrefe Dazu Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhr­kamp 1984, S. 191 – 243, hier: S. 228 f.: „Was eine Einzelhandlung ist, lässt sich des­halb nur auf Grund einer sozialen Beschreibung ermitteln. Das heißt nicht, dass Handeln nur in sozialen Si­tuatio­nen möglich wäre, aber in Einzelsituationen hebt sich eine Einzelhandlung aus dem Verhaltensfluss nur erhaus, wenn sie sich an eine soziale Beschreibung erinnert. Nur so findet die Handlung ihre Einheit, ihren Anfang und ihr Ende, obwohl die Autopoiesis des Lebens, des Bewusstseins und der sozialen Kommunikation weiter läuft. Die Einheit kann, mit anderen Worten, nur im System gefunden werden. Sie ergibt sich aus Abzweigmöglichkeiten für anderes Handeln.“

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renzielle Operation fortführen kann. 10 Bei sozialen Systemen sind diese Einschränkungen Erwartungen. Insofern ist jedes System an seine soziale und nichtsoziale Umwelt angepasst. 11 Seine Anpassung hat zugleich eine Varietät der Systemzustände bereitzustellen. Soziale Systeme können sich aber nicht an eine Umwelt anpassen, da diese Varietät zu gering ist. Soziale Systeme und Bewusstseinssysteme sind strukturell gekoppelt. Diese Kopplung erklärt uns, warum Systeme eigendeterminiert sind und sich in einer Richtung verändern, die von der Umwelt unabhängig ist. Soziale Systeme werden sozusagen von der Umwelt toleriert. Die Systeminnenseite der strukturellen Kopplung ist durch den Begriff der Irritation zu bezeichnen. 12 Selbstreferenz. Soziale Systeme haben ihre Umweltdifferenz aufrecht zu erhalten. Sie steigern dadurch zugleich ihre Irritierbarkeit. Das können sie nur durch ihre Selbstreferenz. Das hat zur Folge, dass sie ihre Umweltbeobachtung durch die Zentrierung auf Differenz zu verstärken haben. D. h. es ist davon auszugehen, dass die operative Grenzziehung für alle Systeme gilt. Insofern bezeichnet die Wahrnehmung (Beobachtung, Beschreibung) von Irritation in sozialen Systemen ihre Umwelt. Systeme sind von ihrer Anlage her unruhig. Irritation ist somit ein Systemzustand, der zur Fortsetzung der selbstreferenziellen Operation veranlasst, und er dient ihrer Selbstbeobachtung. Er lässt es jedoch offen und entscheidet noch nicht darüber, ob dazu Systemstrukturen zu ändern sind oder nicht. Auf Irritationen können die Mitglieder sozialer Systeme und die Teilnehmer an Kommunikationen erst dann reagieren, wenn Erwartungserwartungen in Systemen aufgebaut sind, die sich in der Zeitdimension projizieren lassen. Irritation ist somit ein systeminterner Zustand, für den es in der Umwelt keine Entsprechung gibt. Die Umwelt muss nicht selbst irritiert sein, um Irritation auszulösen. Das Ozonloch ist z. B. nicht über sich selbst irritiert. Das verdeutlicht, dass Irritationen erwartungsabhängig sind. Sie sind nur insofern Irritationen, wenn sie die Selbstreferenz, somit die Selbstirritation der Mitglieder, des Systems und somit seine Reproduktion und Restabilisierung betreffen. Die Auslösung von Irritation erfolgt in den strukturellen Kopplungen von System-System-Beziehungen. Nur in der Beziehung zwischen Systemen können Irritationen ausgelöst werden. Insofern sind die Mitglieder sozialer Systeme nur durch Erwartungsentäuschungen irritierbar. Irritation hat aber immer auch eine zeitliche Dimension, da die Projektion von Erwartungen nur in der Zeit erwartbar oder enttäuschbar ist. Das ist die Erklärung dafür, das selbstreferenzielle Systeme immer mit der Projektion von Erwartungen und der Erwartung von Regelmäßigkeiten beschäftigt sind. Dass kann nur aus Anlass von Irritationen geschehen. Insofern gibt es ohne Irritation keine Ordnung (Regelung). Jede soziale Ordnung, das hat bereits Émile Durkheim erkannt 13, verbindet immer beides, Anomisches (auctoritas) und Nomisches (potestas). Selektive Beobachtung. Gehen wir davon aus, dass es keinen allwissenden Beobach Maturana, Humberto Romesin: Biologie der Realität. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 165. Zur strukturellen Kopplung vgl. z. B. Luhmann, Gesellschaft. 1997, S. 92 – 120. 12 Zum Begriff vgl. Luhmann, Niklas: Die Behandlung von Irritation: Abweichung oder Neu­heit. In: Ders. Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 4. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 55 – 100. 13 Vgl. Durkheim, Émile: Le Suicide, Paris: Alcan 1897. 10 11

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ter gibt, so kommt es bei ausgelösten Irritationen nicht auf die Differenz von System und Umwelt an, sondern nur auf das, was in Systemen selektiv beobachtet (registriert) und kommuniziert wird. Die Selbstreferenz der Systemoperation reagiert unmittelbar auf bestimmte nicht typisierbare Reize. In der Irritierbarkeit sind Systeme – Bewusstseinssysteme wie soziale Systeme – selbstreferenziell. Die Irritation stellt sich aus dem internen Vergleich von zunächst unspezifischen Reizen mit etablierten Erwartungen (Struktur) ein. In der Umwelt liegt keine Irritation vor, sondern Irritation ist immer Selbstirritation des Systems. Sofern in Systemen Irritation beobachtet wird, so können die Mitglieder sozialer Systeme für die Bearbeitung und Absorption von Irritation drei Optionen wahrnehmen: 1. Sie können den Anlass der Irritation in sich selbst finden und z. B. lernen. Es kann Struktur (Erwartung) geändert werden, so dass die Irritation erwartungskonform ausfällt oder 2. sie können den Anlass der Umwelt zurechnen und ihn herunterspielen. Es wird an der Erwartung festgehalten und die Enttäuschung wird externalisiert, d. h. sie wird der Umwelt zugerechnet. 3. Der Anlass kann auch als Zufall behandelt werden, man kann ihn nutzen oder auch beseitigen. Diese Optionen und Vorgänge beruhen auf der Unterscheidung zwischen Selbst- und Fremdreferenz als einer allgemeinen Kommunikationsfähigkeit; alle Mitglieder sozialer Systeme müssen sie handhaben können. Durch ihren notwendigen Umweltbezug stellt sich für soziale Systeme das Problem der Dauerirritation ein. Beobachtbar ist nur das, was in sozialen Systemen kommuniziert wird. Mit der Expansion der Kommunikation vermehrt sich zugleich ihre Irritierbarkeit. 14 Sie erhöht damit zugleich das Risiko, dass die Kommunikation zusammenbricht. Kom­ munikation beruht nicht auf Konsens, sondern auf einer selektiven Gestaltung ihrer Anschlussrationalität. Jedes soziale System hat seine rekursive Geschlossenheit zu sichern. Es sichert aber diese Selbstreferenz, vergleichbar dem Gehirn, durch Unruhe. Kommunikation erfordert immer ihre Selbstbeobachtung. Sie erfolgt durch die Beobachtung der Entscheidung über Kommunikation und Nichtkommunikation, der Beschränkung ihrer Teilnahmebedingungen und der Unterscheidung zwischen Anfang, Ende und Fortgang. Das setzt die Teilnehmer unter Druck. Diese Selbstbeobachtungen lösen die Selbstirritierbarkeit von Kommunikation aus, da die Erwartungserwartungen der Kommunikationsteilnehmer immer auch enttäuscht werden können. Ohne die Ent­ scheidung über die Teilnahmebedingungen gibt es keine Kommunikationen und sozialen Systeme. Sie haben sich deshalb selbstreferenziell zu konditionieren, ohne dass sie dabei ihre Umwelt erreichen können. Soziale Systeme steigern ihre Irritierbarkeit, in dem sie räumliche Grenzen durch Teilnahmebedingungen ersetzten. Das wird durch funktionale Differenzierung zum Normalfall, da die Gesellschaftsmitglieder nicht mehr, wie im Falle der Differenzierung durch die soziale Schichtung an soziale Orte gebunden sind. Teil Zu der veränderten Ausgangslage vgl. Münch: Dialektik. 1991; Münch, Dyna­mik.1995.

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nahmebedingungen sind der Veränderung ausgesetzt und sind nicht zeitunabhängig zu gewähren. Die Entscheidung über die Teilnahmebedingungen an den gesellschaftlichen Kommunikationssystemen ist somit ihre selbstreferenzielle Unruhe, die durch ihre notwendigen Beschränkungen fortlaufend eintritt. 4. Mitgliedschaft und Irritation Evolutionstheorie. Niklas Luhmann hat die Evolutionstheorie dahingehend umgearbeitet, dass Adaptation und natürliche Selektion keine grundlegenden Funktionen des evolutionären Geschehens sind. Beide Begriffe sind insofern irreführend, da sie davon ausgehen, dass Systemoperationen ihre Umwelt erreichen können. 15 Er ergänzt die evolutionären Funktionen der Variation und Selektion durch die Funktion der Restabilisierung (Retention), da positive und negative Selektionen nicht festlegen, ob und wie das System Struktu­ren verändert. Die Unterscheidung der evolutionären Funktionen ist selbst das Er­geb­nis von Evolution. Dadurch ist erklärbar, wie sich Evolution durch die Differenzierung komplexer Anwendungsfelder für die Differenzierung der evolutionären Funktionen der Variation, Selektion und Restabilisierung beschleunigt. Der Anspruch der Theorie ist es, un­geplante Strukturänderungen zu erklären. Die grundlegende Frage der Evolutionstheorie ist: Wie werden die verschiedenen Funktionen besetzt und wie ist ihre Trennung zu interpretieren? Das erklärt ihre Zirkularität, da Operationen, Strukturen und Systeme nicht unabhängig voneinander auftreten können. Eine Evolution von Gesellschaft kann es nicht geben, sondern nur die Evolution des Gesellschaftssystems. Mitgliedschaft als Differenzordnung. Aus mitgliedschaftstheoretischer Sicht ist die grundlegende Selbstirritation sozialer Systeme die Entscheidung über Mitgliedschaft und ihre Operationalisierung. Sie legt die Teilnahmebedingungen an der gesellschaftlichen Kommunikation fest, die immer nur selektiv und restriktiv erfolgen kann. Die Operationen sozialer Systeme halten immer eine Differenzordnung aufrecht. Die­se Differenz wird durch die Entscheidung über Mitgliedschaft und über Kommunikation und Nichtkommunikation herbeigeführt. Das ist beobachtbar. Dabei handelt es sich um ein Ereignis, das keine Dauer hat. Von Variation ist nur dann zu sprechen, wenn die Entscheidung über Zugehörigkeit unerwartet ausfällt. Das wird in der Regel der Situation zugeschrieben und bleibt meistens folgenlos. Es ist nicht auszuschließen, dass die Mitglieder von sozialen Systemen auf die Entscheidung mit Ja/Nein reagieren, ohne dadurch eine Strukturänderung einzuleiten. Insofern stützt sich die Entscheidung (das System, die Operationalisierung) auf eine Zufallsvariation, deren Anlässe nicht steuerbar sind. Die Variationen können aber ein Strukturmuster erkennen lassen, das vom Gewohnten abweicht. Dann und nur dann stellt sich die Frage der positiven und negativen Selektion. So kann z. B. Inklusion und Exklusion zum Thema werden oder in Vergessenheit geraten. Es kann zu Verlegenheiten kommen, denen man nur durch die Abweichung vom Gewohnten abhelfen kann. Luhmann, Gesellschaft. 1997, vor allem S. 413 – 505.

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Für die Selbstreferenz (Selbstdetermination) besteht ein Zusammenhang 1. zwischen der Trennung von Variation und Selektion und der Restabilisierung (Ver­ festigung) sowie 2. zwischen der Schließung der Mitgliedschaftserweiterung und dem damit ein­her­ gehenden Unterscheidungsbewusstsein der Beobachtung der gesellschaftlichen Kom­ munikation. Angesprochen sind damit die kollektiven Identitäten der Mitglie­der sozialer Systeme. Diese sind als die Innengrenzen der Innen-Außen-Differenzie­rung zwischen System und Umwelt aufzufassen. Sie legen die Reichweite der Dazugehö­rig­ keit und der Solidarität der Mitglieder sozialer Systeme fest. Die Außengrenze wird durch die Präferenz für die uns Nächsten, z. B. der Verwandtschaft, im Freun­deskreis und unter Kollegen, und Diskriminierung von Fremden gezogen. Diese Differenzordnung in der Kommunikation ist aber mit Angst vor dem Fremden besetzt. Das Fremde ist das Unverständliche und Unheimliche. Das erklärt, warum es von verschiedenen Ausgangspunkten bei der Erweiterung der gesellschaftlichen Kom­munikation zur Auslösung von Irritationen in der Kommunikation zwischen den Mitgliedern von unterschiedlichen sozialen Systemen kommt. Damit gehen (vermutlich) universell verbreitete Initiationsriten der Teilnahme an Kommunikationen einher, durch die man sich Fremden annähert. Sie haben die Funktion Kommunikation in ihrem Ablauf erwartbar zu halten und durch ihre Sequenzen zu stabilisieren. Diejenigen, die sich z. B. an die Begrüßungs-, Verabschiedungsrituale und andere Verhaltensnormierungen halten, werden für kalkulierbar gehalten, da sie sich erwartungskonform verhalten. Das schließt jedoch Opportunismus und Heuchelei der Kommunikationsteilnehmer nicht aus. Eine evolutionstheoretische Untersuchung hat darauf zu achten, wie Variation und Selektion getrennt werden. Die Trennung ist als Zufall und als Auslöser der Selbstirritation der gesellschaftlichen Kommunikation zu behandeln, die nicht systemisch koordinierbar ist. Die Selbstirritation sozialer Systeme und die damit einhergehende Strukturbildung ist auch die Erklärung dafür, dass Evolution zu keinen perfekten Zuständen führt. Die grundlegende Operation sozialer Systeme ist das Kondensieren, Konfirmieren und Modifizieren der Entscheidung über Mitgliedschaft, die sie fortlaufend in eine selbsterzeugte Ungewissheit versetzen. Sie operationalisiert die Teilnahmebedingungen an der gesellschaftlichen Kommunikation. Dadurch stellen sich Grenzen gegenüber der nichtberücksichtigten Umwelt ein. Insofern stabilisiert sich gesellschaftliche Kommunikation durch eine Verstärkung von Selbstirritation (Abweichungen). Die Entscheidung über Mitgliedschaft ist die grundlegende Operation sozialer Systeme, durch die sie selbstkonstituiert sind. Durch sie irritieren sie sich fortlaufend selbst. Sie ist die Differenzordnung, die jedes soziale System in der Zeit zu reproduzieren hat. Durch diese Entscheidung versetzen sich soziale Systeme in den Ausnahmezustand, in dem sie sich selbstbeobachten. Die Variation, Selektion und Restabilisierung der Entscheidung über Mitgliedschaft sollte als eine evolutionäre Universalie eingestuft werden.

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5. Irritation und Katastrophe Die gesellschaftliche Evolution führt durch die Irritierbarkeit sozialer Systeme eine bedingte größere Komplexität und eine Steigerung der Irritierbarkeit der gesellschaftlichen Kommunikation herbei. Im Falle der funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems können die Teilsysteme ihre interne Unordnung steigern und sich zugleich dagegen immunisieren. Irritation ist unter der Voraussetzung von funktionaler Differenzierung nichts anderes als eine Variation von Beschränkungen dessen, was im System-SystemBezug realisierbar ist. Das erklärt auch die Hilflosigkeit der Steuerungsambitionen der Funktionssysteme, die uns immer wieder vor Augen geführt wird, z. B. in der Bekämpfung von Kriminalität, der Steuerung des Wirtschafts- durch das politische System und der politischen Planung des Universitätssystems. Verbreitungsmedien. Es spricht viel dafür, dass es ohne Verbreitungsmedien (Sprache, Schrift, Buchdruck, Funk und die digitalen Kommunikationstechnologien) keine Evolution des Gesellschaftssystems gegeben hätte. Ohne die Ausbreitung von Kommunikation wäre sie vermutlich sehr schnell zum Stillstand gekommen. Im Zuge der Durchsetzung von funktionaler Differenzierung etablierten sich durch den Buchdruck die Massenmedien als ein Funktionssystem eigener Art. Sie übernehmen die Beschreibung von Welt und Gesellschaft. Diese Verbreitungsmedien versorgen Kommunikation fortlaufend mit Irritation. In der Systemtheorie hat es sich eingebürgert, die Einrichtung einer neuen Form der Stabilisierung eines Kommunikationssystems und der gesellschaftlichen Dif­fe­ren­ zie­rungsformen Katastrophe zu nennen. Dirk Baecker hat die durch die Ver­brei­tungs­ medien ausgelösten Irritationen der gesellschaftlichen Kommunikation unter dem Gesichtspunkt des Überschusses und der Katastrophe untersucht, die sie für die jeweilige Gesellschaft auslösen. Die Kommunikationssysteme der Stammesgesellschaften wurden durch Sprache, die der Hochkulturen durch die Erfindung der Schrift und die moderne Gesellschaft durch den Buchdruck innoviert und resystematisiert. Baecker verfolgt das Problem, wie der Überschuss der Verbreitungsmedien die Form der Kommunikation festlegt, insofern durch ihn Selektionen wirksam werden, die sie strukturell verändern. 16 Aufgrund des Überschusses der Verbreitungsmedien stellen sich zwangsläufig Irritationen der Kommunikation ein. Dieser Überschuss und die ausgelösten Irritationen dramatisieren die Anschlussrationalität und die Fortführung der Kommunikation, da sie andere (neue) Selbstverständlichkeiten ihrer Gestaltung mit sich bringen. Dadurch tritt eine evolutionäre Situation ein, in der die Überschüsse der Verbreitungsmedien nicht mehr oder nur noch schwer absorbierbar sind. Sie erfordern aber auch eine nicht selbstverständliche, nurmehr konditionierbare Restabilisierung ihrer Selektionen. Die Verbreitungsmedien verändern nicht nur die sozial-strukturelle Semantik, sondern sie stellen eine höhere Komplexität gesellschaftlicher Kommunikation her, die besondere Anschlussprobleme mit sich bringt. Baecker, Dirk: Studien zur nächsten Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007, S. 147 – 174.

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Funktionssysteme. Die veränderte Grundsituation, die mit der funktionalen Dif­ ferenzierung des Gesellschaftssystems einhergeht, betrifft die Nichtregulierbarkeit der Komplexität der Funktionssysteme. Dies möchte ich die fortlaufende Selbstirritierung der gesellschaftlichen Kommunikation unter dieser Voraussetzung nennen. Die teilsystemspezifische Kommunikation ist deshalb von der Anlage her von „Katastrophen“ bedroht. Das Wissenschaftssystem vermehrt und vernichtet gleichzeitig Wissen. Es hat keine aristotelische und keine cartesianische Grundlage mehr. Das Wirtschaftssystem programmiert zugleich die Abwertung seiner Leistungen, sei es durch Preiszerfall, Arbeitslosigkeit und den Überschuss von Kapital, das nicht angelegt wird. Das politische System programmiert seine Ineffektivität, da es durch Demokratisierung den anstehenden Entscheidungsbedarf nicht bewältigen kann und sich durch eine Gesetzesflut blockiert. Das Rechtssystem wird zunehmend überfordert, da an es Erwartungen gerichtet werden, die es nicht erfüllen kann. Es stellt sich dabei die Frage, ob Recht überhaupt anzuwenden ist. Die heranwachsenden Generationen sind mit einer Ausdehnung ihrer Lebenserwartung ohne einen klaren Zuschnitt konfrontiert. Zu erwähnen ist in diesem Kontext, dass unter der Voraussetzung von funktionaler Differenzierung der Kommunikation von Differenzen eine Konfliktaufwertungsfunktion zukommt. Dadurch werden Diskriminierungen kommuniziert, durch welche die gesellschaftliche Kommunikation mit Verneinungen versorgt wird. Die Kommunikation von Konflikten trägt zur Selbstbeobachtung bei. Dafür liegen triviale Belege nahe, z. B. eine lesbische Frau wird aus dem Gefängnis entlassen und findet keine Beschäftigung, einem Verfassungsgegner wird die Einstellung in den öffentlichen Dienst verweigert, eine Türkin flüchtet aus der ehelichen Wohnung und ein Afrikaner findet keine Unterkunft. Das sind zunächst Ereignisse, die übergangen werden können. Ihre Artikulation von Seiten der Hilfsorganisationen und in den Massenmedien vermag diesen Ereignissen aber eine allgemeine gesellschaftliche Bedeutung zu verleihen. Sie werden zu Konflikten aufgewertet, dramatisiert und entsprechend kommuniziert. Protest als Kommunikation hat dann die Funktion, den entsprechenden Ereignissen mehr Bedeutung zu geben als sie haben. Gerade Protest und die Suche nach Protestthemen, gegen was auch immer, eignet sich dazu gesellschaftliche Kommunikation zu irritieren. 17 Die durch funktionale Differenzierung eintretenden Irritationen sind vermutlich dadurch zu erklären, dass sich die Durchsetzung der politischen Demokratie, die geldgesteuerte Marktwirtschaft, die nicht durch Dogmen eingeschränkte wissenschaftliche Forschung, die Vermehrung der subjektiven Rechte, der Zugang zu den freien Massenmedien, die Forderung nach dem Neuen in der ästhetischen Kommunikation, die sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchsetzte, und die Erziehungsprogramme für alle Gesellschaftsmitglieder nicht wechselseitig ergänzen und befördern. Die wechselseitigen Abhängigkeiten und Eigendynamiken der Funktionssysteme sind ihrerseits nicht kalkulierbar. Sofern man ihnen mit den erforderlichen großen Ver­ ein­fachungen begegnet, stellen sich zwangsläufig Enttäuschungen ein. Das schließt nicht Über Protestbewegungen vgl. Luhmann, Gesellschaft. 1997, S. 847 – 865.

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aus, dass die damit einhergehenden Enttäuschungen und Irritationen übergangen werden. Zur funktionalen Differenzierung gehört, dass die Beobachtung auf eine Be­obachtung zweiter Stufe umgestellt wird. Funktionale Differenzierung kann aber nur durch die Unterbrechung der Interdependenzen zwischen den Funktionssystemen aufrecht erhalten werden. Dadurch wird eine neuartige Grenzziehung in der gesellschaftlichen Kommunikation etabliert. Die Funktionssysteme können deshalb ihre eigene Unordnung vermehren und sich zugleich gegen sie abschotten. Daraus folgt, dass funktionsspezifische Kommunikation nicht mehr im Namen der Gesellschaft sprechen kann. Sie kann nur noch Kommunikation irritieren. Ökologische Kommunikation. Einem Problem wird sich kein soziales System entziehen können, das der Klimakatastrophe. Sie wird zur Dauerirritation der gesellschaftlichen Kommunikation, obwohl wir auch daran zweifeln können, ob ihre Beschreibung durchgängig überzeugend ist, da wir mit der Umwelt nicht kommunizieren können. Zu erwarten ist in dieser Situation ein verschärfter Kampf um knappe Ressourcen, der unsere gegenwärtige Einbildungskraft übersteigt. Davon ist die System-Umwelt-Relation direkt betroffen. Ökologische Kommunika­ tion ist keine Kommunikation, da soziale Systeme ihre nicht-soziale Umwelt („Welt“) nicht erreichen. Es ist deshalb auch schwer zu erkennen, ob und wie der Umgang mit der Umwelt sozialer Systeme erlernt werden könnte. Der Ausnahmezustand wird durch diese neue Grundsituation zum Dauerzustand, da die Disposition über und der Kampf um freie Ressourcen den Verteilungsspielraum wesentlich einschränkt. Treten soziale Systeme in eine Umweltbeziehung ein, die ihre eigenen Ressourcen für die Aufrechterhaltung der Differenzordnung zwischen System und Umwelt in Frage stellt, so können die sozialen Systeme nicht mehr auf Problemlösungen zurückgreifen, die sich bereits bewährt haben. Insgesamt spricht viel dafür, dass sich die organisatorische Architektur der gesellschaftlichen Kommunikation verändert. Es betrifft dies auch das Problem, ob funktionale Differenzierung evolutionär überleben wird. Wir erkennen das künstliche dieser Differenzierungsform und man fragt sich nach ihrem Nutzen. Es könnte sein, dass die nächste Gesellschaft eine Gesellschaft jenseits der traditionalen Ordnung und der funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems sein wird. Die Mutter aller Fragen ist, warum haben soziale Systeme überhaupt evolutionär überlebt und sich nicht durch ihren Negationsspielraum und ihre Selbstirritation selbst zerstört? Das führt uns zur Analyse der Selbstkonstitution sozialer Systeme zurück, da sie ohne Irritationen nicht lernen können. Insofern verleihen sie ihnen auch Stabilität. Vermutlich haben soziale Systeme nur deshalb überlebt, da sie ihre eigenen Irritationen verarbeiten und über die Verbreitungsmedien fortlaufend Zukunftsprojektionen vornehmen konnten, so dass Erwartungen und Mitgliedschaft ihrerseits erwartbar waren.

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6. Selbstbeschreibung Luhmann hat der soziologischen Theoriebildung den neuen Begriff der Selbstbeschreibung hinzugefügt. Selbstbeschreibungen sind Kommunikationen über die Gesellschaft in der Gesellschaft, aber nicht mit der Gesellschaft. Mit der Gesellschaft kann man nach Luhmann nicht kommunizieren, da Gesellschaft als System nicht kommunikativ erreichbar ist. Sie besteht aus Kommunikation, aber sie ist nicht der Adressat von Kommunikation. Kommunikation bedarf einer Adresse, aber Gesellschaft hat keine Adresse. 18 Insofern geht Luhmann bei der Analyse der Kommunikation über Gesellschaft von der Selbstbeschreibung des Gesellschaftssystems als einem Kommunikationssystem aus. Selbstbeschreibungen sind Beobachtungen der gesellschaftlichen Kommunikation, denen sie sich nicht entziehen kann. Dabei ist zwischen der Selbstbeobachtung als die Zuschreibung einer einzelnen Operation zu der Struktur eines Systems und der Selbstbeschreibung als der Darstellung der Einheit des Systems im System zu unterscheiden. Die Selbstbeschreibung ist eine Operationsweise eines Systems, die eine systemeigene Identität hervorbringt und sich selbst thematisiert. Das gilt unabhängig davon, ob ihr die Beobachter zustimmen oder nicht. Selbstbeschreibung heißt aber nicht Konsensfähigkeit, da die Anfertigung, Fortschrift und Kommunikation dieser Beschreibungen von besonderen Voraussetzungen abhängt, z. B. der formalen Fähigkeiten der Bearbeitung von Texten, der Kenntnis der Traditionen und ihrer Semantik sowie besondere professionellen Kommunikationsfähigkeiten. Aus der evolutionären Perspektive entsteht erst mit der Schrift ein Bedarf an elaborierten Selbstbeschreibungen, die ihrerseits von Experten bearbeitet werden. Damit geht einher, dass sich jede Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung ihrerseits der Beobachtung und Beschreibung aussetzt. Erst mit der Einrichtung der funktionalen Differenzierung geht einher, dass eine Mehrheit von Selbstbeschreibungen angefertigt und kommuniziert werden. Die Eigenart der Selbstbeschreibung als Text und seiner Beobachtung hat davon auszugehen, dass jede Beobachtung ein unterscheidendes Bezeichnen ist. Es zieht eine Grenze zum Nichtbezeichnenden. Insofern impliziert jede Beschreibung eine Ausgrenzung und damit eine Invisibilisierung der Welt sowie des jeweiligen unterscheidenden Beobachters. Selbstbeschreibungen haben somit immer einen blinden Fleck. Der Text kann seine Grenze zur Welt nicht überschreiten. Er mag auf sie verweisen, das kann er aber nur durch seine Unterscheidungen, die als Unterscheidungen eine Selektion des Umweltbezugs und kein direkter Zugang zu seiner anderen Seite sind. Als Text kann er nur angefangen, beendet und kommuniziert werden. Selbstbeschreibungen sind system- und kontextabhängige Operationen. Sie stellen somit keine Realität dar, sondern sind Konstruktionen aus der Perspektive eines Systems, z. B. des Wissenschafts-, Rechts-, Religions-, Kunst-, Erziehungs- und des politischen Systems. Luhmann wendet sich vor allem gegen die Karriere des Kulturbegriffs in der Soziolo­ gie und der Kulturtheorie. „Kultur“ ist einer „der schlimmsten Begriffe, die gebildet worden sind.“ „Ebenso wie im Falle von Religion muss auch im Falle von Kunst die Beobachtung als Kultur, eine Art Beobachtung zweiter Ordnung, verheerende Folgen gehabt Ebd., S. 866 f.

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haben“. 19 „Schlimm“ (schlecht) ist der Begriff „Kultur“ nach Luhmann, da er die Selbstbeschreibung der Gesellschaft, somit den kontingenten Beobachtungsstandpunkt, verdeckt, der dadurch unsichtbar gemacht werde. Die (theoretisch) „verheerenden Folgen“ bestanden im 19. Jahrhundert (bis in die Gegenwart) darin, dass Kultur zu einem Seinsbereich (Wertsphären; Wertphilosophie, Südwestdeutsche Schule des Neokantianismus) hypostasiert und entsprechend verklärt wurde. Die wissenssoziologischen Erklärung dafür ist, dass der Kulturbegriff den gebildeten europäischen Eliten dazu diente, historische und nationale Vergleiche anzustellen und ihren sozialen Status zu etablieren und zu sichern. 20 Luhmann ordnet jedoch seine Rekonstruktion des Kulturbegriffs als einen „historischen Begriff“ in die Systemtheorie ein. Sie ist das Gedächtnis des Gesellschaftssystems als eine „Sinnform der Rekursivität sozialer Kommunikation.“ 21 Die Semantik der Kultur setzt die Kommunikation von Information der Kontingenz aus, da die kommunizierten Information in der Zeit immer wieder anders beobachtet werden kann. Kultur kann sich somit der reflexiven Beobachtung (der Beobachtung von Beobachtung) nicht entziehen. Sie ist „eine Perspektive für die Beobachtung von Beobachtern“. Hervorzuheben ist, dass „die universalistische Perspektive ‚Kultur‘ gesellschaftsgeschichtliche Wurzeln hat.“ 22 Insofern scheitert ihre Vergegenständlichung und ihre Definition. Mit dem Kulturbegriff geht der historische Relativismus und die Selbstverortung der eigenen Kultur in einem historischen Kontext einher. Für die Bildungseliten war seid dem 18. Jahrhundert der Eurozentrismus selbstverständlich. Diese Selbstreferenz war zugleich ein blinder Fleck, da man dadurch nicht die Eigenart von Kultur als ein reflexives Operieren erkannte. Im Hinblick auf die Gegenwartsgesellschaft ist festzuhalten, das gilt im allgemeinen für die moderne Gesellschaft, dass sie ihre Selbstbeschreibung nicht gefunden hat. Es liegt mittlerweile nahe, dass sie eine allgemeingültige Selbstbeschreibung nicht finden kann. Verbreitet sind die Begriffe der Wissensgesellschaft, der Mediengesellschaft, der Kommunikationsgesellschaft, aber auch der Ruf nach Werten und Kultur. Diese Beschreibungen haben keine theoretisches Profil bekommen und dienen der journalistischen Rhetorik. Die seit dem 18. Jahrhundert angefertigten Selbstbeschreibungen der gesellschaftlichen Kommunikation haben versucht, die durch funktionale Differenzierung ausgelöste Selbstirritation unsichtbar zu machen, z. B. durch die unsichtbare Hand des liberalen Gesellschaftsmodells, die Perfektibilität des Menschen, die sozialistischen Utopien und das Keynesianische Gesellschaftsmodell der Wohlfahrtsökonomie in der Folge des New Deals. Mittlerweile beobachten wir die Verbreitung eines Katastrophenbewusstseins. Das ist dadurch zu erklären, dass sich durch die Komplexitätssteigerung, die mit funktionaler Differenzierung einhergeht, das Kontingenzbewusstsein der Gesellschaftsmitglieder steigert. Stabilisierung in der Zeit hat mit der Erwartung des Unerwartbaren zu rechnen, um es paradox auszudrücken. Insofern scheitern auch alle ge Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 398, 341. Zum Kulturbegriff vgl. Luhmann: Kultur als historischer Begriff. In: Luhmann, Ge­sell­schafts­ struk­tur Bd. 4. 1999, S. 31 – 54. 21 Ebd., S. 47. 22 Ebd., S. 54.

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samtgesellschaftlichen Prognosen. Aber nur durch die damit einhergehende gesteigerte Selbstirritierung der gesellschaftlichen Kommunikation kann gelernt werden. Wir sollten vor allem lernen, der alteuropäischen Tradition nicht mehr unreflektiert zu folgen. Sie verhindert die Beschreibung der strukturellen Probleme der gesellschaftlichen Kommunikation unter der Voraussetzung von funktionaler Differenzierung, da sie nach einer Einheitsformel des modernen Gesellschaftssystems sucht. Dies ist aber gerade dadurch ausgezeichnet, dass es keine Einheitsformel hat und alle pars pro toto-Setzungen aus der Perspektive der Teilsysteme versagen. Welche Einstellung wir zu dieser gesteigerten Irritierbarkeit auch ausbilden mögen, eines wird uns zunehmend bewusst: Die nüchterne Einsicht in die strukturellen Veränderungen der sozialen Systeme und ihrer Mitgliedschaftsbedingungen ist immer auch eine Selbsterkenntnis der Gesellschaft, die sie zu anderen Selbstbeschreibungen führen kann.

Carsten Gansel

Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ‚Störung‘ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur

1. Ein Blick auf den Alltag macht anschaulich, dass Störungen allgegenwärtig sind. Damit einher geht das Bemühen, Normalität zu erhalten oder in dem Fall, da diese aus dem Gleichgewicht gerät, sie möglichst schnell wiederherzustellen. Beständig arbeiten gesellschaftliche wie psychische Systeme sich an unterschiedlichen Formen von Störungen ab, unabhängig davon, ob diese nun behindernd, aufstörend oder gar zerstörend wirken, gewollt oder ungewollt sind, eine kurzzeitige Unterbrechung darstellen oder gar einen Zusammenbruch zur Folge haben. 1 Bestimmte aufstörende Geschehnisse, Handlungen, Ereignisse wird man ignorieren können, andere entfalten eine Wirkung, die es schlichtweg unmöglich macht, über sie hinwegzugehen. Grundsätzlich gilt dabei: Das Auftreten wie die Erfahrung einer Störung fordern Maßnahmen zur Entstörung heraus, deren Intensität, Umfang, Ausrichtung, Dauer nicht zuletzt davon bestimmt ist, ob der Störvorgang als intentional oder nicht-intentional wahrgenommen wird. Unabhängig davon erlangt die Störung Bedeutsamkeit erst dadurch, dass man sie als solche wahrnimmt bzw. erkennt und sich mit ihr auseinandersetzt. Auch in dem Fall, da sich wieder Normalität einstellt und die Entstörungsmaßnahmen erfolgreich waren, können Störungen Spuren in Form von nicht kaschierbaren Brüchen, Rissen oder irreversiblen Folgen hinterlassen. In Abhängigkeit von ihrer wahrgenommenen oder wirklichen Intensität bleiben Störungen im individuellen oder kommunikativen Gedächtnis und können über ihr Auftreten hinausgehend zur Auseinandersetzung motivieren, Aufmerksamkeitsschwellen heben und der Selbstvergewisserung etwa über Diese Überlegungen bildeten den Ausgangspunkt eines in den Jahren 2007 bis 2009 entwickelten transdisziplinären Vorhabens an der Justus-Liebig-Universität Gießen unter dem Titel „Störung – Wahrnehmung, Gestaltung, System“ (Gießen 2009, unv.). Siehe dazu auch das CfP zur Tagung „Perturbationen oder Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften: Hybridisierung, Grenzräume, Figurationen der Störung“ (05. – 07.07.2010) auf Schloss Rauischholzhausen. An den Vorhaben waren neben dem Verfasser federführend Peter v. Möllendorff, Silke Tammen und Franz-Josef Bäumer beteiligt, denen die vorliegende Darstellung vielfältige Anregungen verdankt.

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individuelle Maßstäbe, gesellschaftliche Normen oder kulturelle Muster dienen, die gegebenenfalls neu vermessen, ersetzt und überwunden werden. Die Tatsache, dass Störungen in der Lage sind, eingeschliffene Denk- und Verhältnisdispositionen aufzubrechen und Neuerungen in Gang zu bringen, hat bislang allerdings nicht dazu geführt, Störungen positiv zu verorten. Weithin gilt ,Störung‘ als pejorativer Begriff, der in Verbindung steht mit Devianz, Dysfunktion, Unfall. Ausgehend von diesen Überlegungen soll es nachfolgend um die Frage gehen, welche Rolle für psychische wie gesellschaftliche Systeme Phänomene spielen, die heuristisch unter der Kategorie der ‚Störung‘ zusammengefasst werden können. Dazu geht es zunächst darum, den Begriff selbst zu diskutieren. Dabei spielen vor allem systemtheoretische Ansätze eine Rolle. Ausgehend davon soll dann exemplarisch gezeigt werden, in welcher Weise die Kategorie ‚Störung‘ sich für die Analyse des Handlungs- und Symbolsystems Literatur produktiv machen lässt. 2. Die Kategorie ‚Störung‘ wird neben den Geistes- und Sozialwissenschaften auch in der Biologie, der Medizin oder der Psychologie genutzt. Nehmen wir ein erstes Beispiel: Die biologische Forschung bezeichnet Störungen „als nicht zur normalen Umwelt von Organismen, Populationen oder zum normalen Haushalt von Ökosystemen gehörende Faktoren oder Faktorenkomplexe, häufig vom Menschen ausgelöst, die reversible oder irreversible Veränderungen in den Eigenschaften dieser Systeme bewirken“. 2 Als Störung im ökologischen Sinne wird von daher ein „Eingriff oder ein Einfluß“ verstanden. Solche Eingriffe können Feuer, Windbruch, Mahd sein, aber natürlich auch radikalere Einflüsse, die durch menschliches Handeln entstehen, wie dies etwa bei der durch die Explosion der Ölbohrplattform Deepwater Horizon ausgelösten Ölpest im Golf von Mexiko 2010 der Fall war oder bei den Folgen der Nuklearkatastrophen von Tschernobyl im April 1986 und Fukushima im März 2011. Stock u. a. schlagen daher für die naturschutzorientierte Forschung vor, den Begriff ‚Störung‘ erst in der „wertenden Beurteilung einer Reizwirkung“ anzuwenden und zwischen „Störreiz“ und „Störwirkung“ zu unterscheiden. 3 Entsprechend wird die Wirkung eines Störreizes an den Reaktionen eines Individuums oder einer Gruppe von Individuen gemessen. Anhand der Reaktionen sei es möglich, Rückschlüsse auf die Intensität der Einflussgröße zu ziehen. Bei brütenden Vögeln führt beispielsweise die Annäherung von Menschen zu einem drastischen Anstieg der Herzschlagfrequenz. 4 Nicht in jedem Fall geklärt ist allerdings, ob eine erhöhte Herzschlagfrequenz Stock, Martin u. a.: Der Begriff Störung in naturschutzorientierter Forschung: ein Diskussions­ beitrag aus ornithologischer Sicht. In: Zeitschrift für Ökologie und Naturschutz 1994, H. 3, S. 49 – 57, hier: S. 49. 3 Ebd., S. 50. 4 Vgl. ebd. 2

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Folgen zeitigt und der ‚Einfluss‘ daher als ‚Störung‘ zu interpretieren ist. Offensichtlicher werden die Folgen von anthropogenen Beeinträchtigungen in dem Fall, da es um die individuelle Fitness geht, mithin Fragen der Fortpflanzung bestimmter Tierarten untersucht werden. Bekannt ist, dass die im Strandbereich der Nordsee brütenden Seeregenpfeifer Brutplätze auf Strandwällen und in Primärdünen bevorzugen. Es sind dies allerdings Plätze, die oftmals von Touristen zum Sonnenbad genutzt werden. Dieser Eingriff führt zu einer Reduzierung des Brutraumes und schlägt sich in einem letztlich verringerten Bruterfolg nieder. Durch natürliche Anpassung vermögen sich Populationen allerdings in einer veränderten Umwelt einzurichten. Erst in dem Fall, da ein Reiz „eine nicht kompensierbare, nachteilige Wirkung auf einer Ebene hervorruft, kann und muß […] von einer Störung gesprochen werden“. 5 Die definitorische Bestimmung von Störung im biologischen Zusammenhang setzt also einmal mehr auf die dysfunktionale Seite. Dies ist auch in neueren Forschungen im Bereich der Psychologie und Psychiatrie der Fall, die sich mit der Adoleszenz beschäftigen. Wenn die Adoleszenz in modernen Gesellschaften als Phase einer ‚emotionalen und kognitiven Krise‘ gilt, in der es zu Grenzüberschreitungen, häufig auch zur Regellosigkeit kommt, dann erscheint es produktiv, Adoleszenz in Verbindung mit der Kategorie ‚Störung‘ zu bringen. Aus gesellschaftlicher, institutioneller oder auch familialer Sicht, mithin aus dem Blickwinkel von psychischen wie gesellschaftlichen (Teil)Systemen, werden nämlich Grenzüberschreitungen während der Adoleszenz zunächst als Störungen im negativen Sinne wahrgenommen. Sie gelten in ihren unterschiedlichen destruktiven Potenzialen als riskant. Das zeigt sich vor allem darin, dass in der medialen Darstellung bevorzugt Potentiale von Störung und krisenhafte Entwicklungen während der Adoleszenz in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten. Gemeint ist damit das Spektrum von Essstörungen über Jugendkrawalle, Koma-Saufen, körperbezogene Manipulationen, zunehmende Gewalt insbesondere bei männlichen Adoleszenten wie Hooligans oder politisch intendierten Aktionen. Dabei ist davon auszugehen, dass Risikohandeln eingebettet ist in kulturell und sozial spezifische Verhältnisse und Konfliktlagen zwischen den Generationen. Insofern kann es zu vielfältigen Störungen in und durch das adoleszente Verhalten kommen. Wenngleich im öffentlichen Bewusstsein Grenzüberschreitungen und Risikoverhalten als aufstörende Aktivitäten eher pejorativ aufgefasst werden, zeigt sich aber, dass die gesellschaftliche und politische Akzeptanz von adoleszentem Risikoverhalten keineswegs darin aufgeht. Selbst im Bereich politischer Kommunikation verbinden sich positiv konnotierte Erwartungen an die Funktionalität gesellschaftlicher Bewegungen als Input des politischen Systems mit der Akzeptanz von Störungen, die von diesen gesellschaftlichen Bewegungen ausgehen. Unterschiedliche politische Kulturen bilden von daher ganz unterschiedliche Bewertungen und Inklusionen solcher Irritationen aus. Grenzüberschreitungen und Risikoverhalten gelten zudem in besonderem Maße als Voraussetzung wie Movens für kulturelle Wandlungsprozesse und die Entstehung des Neuen. 6 Ebd., S. 53 King, Vera: Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Opladen: Leske & Budrich 2002.

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Jüngste Untersuchungen insbesondere von Psychologen, Medizinern und Neurobiologen betonen aus diesem Grund die Notwendigkeit, die Phase der Adoleszenz als eine „normale Krise“ aufzufassen und warnen davor, sie zu pathologisieren. Herausgestellt wird gleichwohl der Umstand, dass die Adoleszenzkrise mit „Störungen einher [geht], die zwischen normalen und krankhaften Verhaltensmustern angesiedelt sind“. Krise wird dabei verstanden als „plötzliche oder fortschreitende Verengung der Wahrnehmung, der Wertesysteme sowie der Handlungs- und Problemlösungsfähigkeiten.“ Eine Krise, die zeitlich begrenzt ist, stellt „bisherige Erfahrungen, Normen, Ziele und Werte infrage und hat für die Person einen bedrohlichen Charakter.“ 7 Fegert u. a. verweisen auf grundlegende Untersuchungen von Remschmidt, der die Adoleszenzkrise als eine „fehlgeschlagene Bewältigung der altersspezifischen Entwicklungsaufgaben“ bestimmt hat. Vergleichbar sieht Resch in der Adoleszenzkrise „Störungen, die den Jugendlichen daran hindern, seine alterstypischen und situationsgemäßen Lebensvollzüge zu bewerkstelligen“. 8 Auch in diesem Fall wird also mit dem Begriff ‚Störung‘ das Dysfunktionale betont. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Adoleszenz bei etwa 80 % der Jugendlichen keine Zeit der schweren Störungen darstellt. Zusammengefasst: Offensichtlich wird die Kategorie ‚Störung‘ in naturwissenschaftlichen Kontexten trotz eines zunehmend differenzierten Gebrauchs bevorzugt als Gegenbegriff zu Ungestörtheit, Ordnung, Harmonie, Gleichgewicht genutzt. Im Unterschied dazu soll es im vorliegenden Zusammenhang aus geisteswissenschaftlicher Perspektive darum gehen, Störungen in ihrer Produktivität wahrzunehmen und als konstruktives Moment zu begreifen. Insofern ist die bevorzugt pejorative Bedeutung durch eine offenere bzw. positivere Begriffsbestimmung zu ersetzen und zu erweitern. Dies hat freilich zur Folge, den metaphorischen Gebrauch des Begriffs aufzugeben und Störung als Kategorie schärfer theoretisch zu bestimmen. 9

Fegert, Jörg M. u. a. (Hgg.): Adoleszenzpsychiatrie. Psychiatrie und Psychotherapie der Adoleszenz und des jungen Erwachsenenalters. Stuttgart: Schattauer 2009, S. 184. 8 Ebd. 9 Zur Produktivität der ‚Kategorie Störung‘ und ihrer Rolle siehe u. a. Gansel, Carsten: Feenhaft und wunderbar, aber keck ins gewöhnliche alltägliche Leben tretend“ – Störungen im romantischen Raum und die Phantastik. In: Störungen im Raum – Raum der Störungen. Hrsg. von Carsten Gansel/Pawel Zimniak. Heidelberg: Winter 2012, S. 15 – 40; Ders.: Aufstörung und Denormalisierung als Prinzip? Zu aktuellen Entwicklungen zwischen KJL und Allgemeinliteratur. In: Zwischen didaktischem Auftrag und grenzüberschreitender Aufstörung? Zu aktuellen Entwicklungen in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von Carsten Gansel/Pawel Zimniak. Heidelberg: Winter 2011, S. 13 – 36; Ders.: Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Störung – Adoleszenz und Literatur. In: Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung – Bilder von Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur. Hrsg. von Carsten Gansel/Pawel Zimniak. Heidelberg: Winter 2011, S. 15 – 48; Ders.: Adoleszenzkrisen und ,Figurationen der Störung‘ – Von ,adoleszenten Aufstörern‘ bis zu ,terroristischen Zerstörern‘ in der deutschen Literatur ab 1900. In: ebd., S. 261 – 288. 7

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3. In dem Fall, da darauf abgezielt wird, die Produktivität der Kategorie ‚Störung‘ für die Geistes- und Sozialwissenschaften stärker zu konturieren, wird man davon ausgehen können, dass es a) unterschiedliche Intensitätsgrade von Störung gibt, die sich b) in verschiedenen Räumen und c) in einer zeitlichen Dimension vollziehen. Fragen (a) nach der Intensität von Störung sind in Verbindung mit den jeweiligen Systemen zu stellen und machen eine Unterscheidung hinsichtlich der Quantität wie auch der Qualität der Störung möglich (Grade, Arten und Formen der Störung). Bei den Graden einer Störung kann man auf einer aufsteigenden Skala folgende Stufen ausmachen: a) „Aufstörung“ im Sinne von Aufmerksamkeit erregen, integrierbar/restitutiv. b) „Verstörung“ im Sinne einer tiefgreifenden Irritation, reparierbar/regenerativ c) „Zerstörung“ im Sinne nachhaltiger Umwälzung, nicht integrierbar/irreversibel. Zudem stellen sich in Verbindung mit der Intensität der Störung Fragen der folgenden Art, die immer auch Auskunft über die Spezifik des Systems geben: – Welche Spielräume hat das jeweilige System für Störungen, ab welcher Intensität von Störung reagiert das System? – Gibt es Teilbereiche, die in besonderer Weise ‚störempfindlich‘ und solche, die relativ resistent sind? Was sind die (innersystemischen) Gründe dafür? – Welche Faktoren von Störungen wirken besonders intensiv? – Was führt dazu, dass Störungen in einem Teilbereich auf weitere Teilbereiche des Systems übergreifen und auf welche Weise geschieht dies? – Unter welchen Bedingungen führen Störungen zu einem Zusammenbruch des Systems? Fragen nach (b) dem Ort der Störung bzw. der Topizität betreffen die Lokalisierung der auftretenden Störung innerhalb eines konkreten (Teil)Systems. In diesem Rahmen ist die ‚Beschaffenheit‘ des Ortes, an dem die Störung auftritt bzw. wahrgenommen wird, zu untersuchen. In vielen Fällen wird davon auszugehen sein, dass das Störungsphänomen an den Grenzen zwischen (Teil)Systemen zu verorten ist und in Folge einer ‚Kollision‘ zwischen den (Teil-)Systemen entsteht. In diesem Zusammenhang bietet es sich an, den Begriff der ‚Schwelle‘ zu nutzen, der einen Raum kennzeichnet, der durch die Überschneidung und Überlappung von (Teil)Systemen gekennzeichnet ist. Es handelt sich also um einen Ort, an dem die Störung sich gewissermaßen ‚einnistet‘, und der daher zum ‚Raum der Störung‘ wird. 10 Konsequent weiter verfolgt, lässt sich auch ‚Kultur‘ bzw. das kulturelle Feld als einer jener „Dritten Räume“ ungebändigter Kommunikation (H. Bhabha) auffassen, in bzw. auf dem es zu einem permanenten Wechsel von Aufstörung und der Aushandlung von Siehe dazu Gansel, Carsten: Störungen im Raum – Raum der Störungen. Vorbemerkungen. In: Gansel/Zimniak, Störungen im Raum. 2012, S. 9 – 15; sowie Gansel, „Feenhaft“. 2012.

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gesellschaftlichen Toleranzgrenzen kommt. Insofern ist Kultur über Grenzen definiert, die „nicht nur Ordnung und Chaos, sondern auch Eigenes und Fremdes, Hier und Dort, befriedete und feindliche Sphären trennen“ 11. Kultur als Zwischenraum bzw. kulturelle Zwischenräume lassen sich somit auch als ‚Räume der Störung‘ beschreiben. In allen Gesellschaften, so hat bereits der Kulturanthropologe Victor Turner festgestellt, gibt es liminale Bereiche, in denen Entstrukturierung von Ordnung und das Durchspielen von Störungen in spezifischer Weise geprobt werden. 12 In Gestalt von Kunst, Musik und Literatur leisten sich Gesellschaften zudem mediatisierte Strukturen, deren ‚Störcharakter‘ toleriert, in unterschiedlichem Maße kontrolliert und in differenter Skalierung erwünscht ist. Als kommunikative Konfliktzonen werden kulturelle Zwischenräume wiederum von Akteuren bevölkert, die über medial oder performativ sublimierte Formen des Aufstörens dazu beitragen, den Prozess gesellschaftlicher Selbstverständigung voran zu treiben. Handlungsrollen und Kulturpraktiken des Störens machen in diesem Bereich modellhaft wie stellvertretend das Infragestellen und Überschreiten der temporär gesetzten Toleranzgrenzen von Systemen möglich. Mit anderen Worten: Kulturelle Zwischenräume sind der bevorzugte Ort, in dem Störungen offenbar und gegebenenfalls symbolisch ausgehandelt werden. Fragen nach (c) der Temporalität von Störung betreffen nicht nur den Zeitpunkt des Auftretens einer Störung und ihren zeitlichen Verlauf, sondern auch mögliche zeitliche Unterbrechungen des Störungsprozesses. In diesem Fall ist zu bedenken, ob ein einmal unterbrochener Störvorgang in gleicher oder anderer Weise wieder aufgenommen werden kann. Mit Blick auf die Verhinderung, die Beherrschbarkeit oder das Ausnutzen von Störungen ist zu fragen, ob Störungen dieser Art antizipierbar sind. Während eine gedankliche Vorwegnahme bzw. Vorausdeutung von Störungen schwierig ist, erscheint der gegensätzliche Prozess, nämlich die retrospektive Vergewisserung über vergangene Störungen, leichter realisierbar. Freilich ist auch in diesem Fall zu bedenken, dass es Phänomene der Erinnerungsstörung im Sinne von „Tricks der Erinnerung“ (Uwe Johnson) ebenso gibt wie den sogenannten floating gap. 13 Damit ist auf in diesem Rahmen nicht Böhme, Hartmut: Vom Cultus zur Kultur(wissenschaft). – Zur historischen Semantik des Kulturbegriffs. In: Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft . Positionen, Themen, Perspektiven. Hrsg. von Renate Glaser/Matthias Luserke. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 48 – 68, hier: S. 54. 12 Vgl. Turner, Victor: From Ritual to Theatre: The Human Seriousness of Play. New York: PAJ Publications 1982. 13 Vgl. dazu auch Gansel, Carsten: Die „Grenzen des Sagbaren überschreiten“ – Zu ‚Formen der Erinnerung’ in der Literatur in der DDR. In: Rhetorik der Erinnerung – Gedächtnis und Literatur in den ‚geschlossenen Gesellschaften‘ des Real-Sozialismus zwischen 1945 bis 1989. Hrsg. von Carsten Gansel. Göttingen: v+r unipress 2009, S. 19 – 38; Ders.: Zwischen offiziellem Gedächtnis und Gegen-Erinnerung – Literatur und kollektives Gedächtnis in der DDR. In: Gedächtnis und Literatur in den ‚geschlossenen Gesellschaften‘ des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989. Hrsg. von Carsten Gansel. Göttingen: v+r unipress 2007, S. 13 – 37. An neueren Beiträgen siehe Ders.: „Als Kind liebt man, was man kennt“ – Kindheit erinnern und erzählen bei Jenny Erpenbeck. In: Lebensalter – Zeitalter. Zum Werk von Jenny Erpenbeck. Hrsg. von Friedhelm Marx/Julia Schöll. Göttingen: Wallstein 2013 [in Vorbereitung]. 11

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weiter zu diskutierende Fragen nach dem Zusammenhang von Störung und kulturwissenschaftlicher Erinnerungsforschung verwiesen, bei der nicht zuletzt auch die Rolle von auf- bis zerstörenden Traumata in den Blick gerät. 14 4. Wenn es darum geht, Störungen gegenüber naturwissenschaftlichen oder auch den in der Einleitung zu diesem Band genannten kybernetischen Modellen nicht mehr nur als destruktive Elemente anzusehen, sondern darum, ihre Ursachen zu untersuchen und zu betonen, in welcher Weise Störungen als Indikator für und Motor von Entwicklungen zu fassen sind, können die Vorschläge von Ludwig Jäger als grundlegend angesehen werden. 15 Jäger geht aus sprachtheoretischer Perspektive 16 von der Überlegung aus, dass Störungen und ihre transkriptive Bearbeitung „ein zentrales Verfahren der sprachlichen Sinnproduktion darstellen“. Und dies auch in den Fällen, da es sich um sogenannte „pathologische Defekte“ der Kommunikation handelt. 17 Das Postulat, dass die „Identität des Zeichens“ stets von seiner „augenblicklichen parasemischen Umgebung“ abhängt, ist schon in den semiotischen Schriften von Ferdinand de Saussure und Charles Sanders Peirce zu finden. 18 Hieraus ergibt sich Jägers These, wonach gelingenden Kommunikationsprozessen notwendig eine transkriptive Metaebene eingezogen sein muss, deren Zweck darin liegt, die überlieferten Sprachzeichen zu rekontextualisieren, also in den jeweils gegebenen kontemporären Sinnzusammenhang zu bringen. Vgl. dazu u. a. die profunde Arbeit von Ächtler, Norman: Generation in Kesseln. Das Soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 1945 – 1960. Göttingen: Wallstein 2013. Zum Umgang mit traumatischen Erfahrungen im Kontext Krieg siehe auch: Gansel, Carsten: Zwischen Störung und Affirmation? Zur Rhetorik der Erinnerung im Werk von Günter Grass. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie, Sonderheft 2012, S. 173 – 198. 15 Vgl. Jäger, Ludwig: Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen. In: Performativität und Medialität. Hrsg. von Sybille Krämer. München: Fink 2004, S. 35 – 73; Verstehen und Störung. Skizze zu den Voraussetzungen einer linguistischen Hermeneutik. In: Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens. Hrsg. von Fritz Hermanns. Tübingen: Niemeyer 2007, S. 25 – 42. 16 Einen weiteren produktiven Ansatz von Seiten der Sprachwissenschaft hat Christina Gansel entwickelt. Im Zusammenhang mit Fragen der Textlinguistik zeigt sie, wie Irritationen zur „Überprüfung von Kommunikationsmöglichkeiten“ und damit zur Veränderung der Struktur von Texten einer Textsorte führen können. Der Begriff der Irritation wird dabei in Anlehnung an Luhmanns Evolutionstheorie mit den Mechanismen der Evolution (Variation und Selektion) sowie der Funktion evolutionärer Prozesse (Restabilisierung) in Verbindung gebracht (vgl. Gansel, Christina: Textsortenlinguistik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011; siehe bereits Dies.: Textsorten in Reisekatalogen – Wirklichkeitskonstruktion oder realitätsnahe Beschreibung. In: Textsorten und Systemtheorie. Hrsg. von Christina Gansel. Göttingen: v+r unipress 2008, S. 155 – 170). 17 Jäger, Störung. 2004, S. 41. 18 Ebd., S. 40. 14

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Während die Übersetzungsarbeit des Adressaten im hermeneutischen Entwurf und dessen beständiger Erweiterung beziehungsweise Revidierung besteht, reflektiert der Adressant in der nachgeschalteten „Selbstlektüre“ seiner Aussagen die Arbitrarität der verwendeten Zeichenfolgen und refundiert darüber den „intentionalen Ursprung“ seiner Rede. 19 Von diesen Überlegungen ausgehend, unterscheidet Jäger zwei Formen von Störung: Der erste Typ hat sich aus der Rezeption von Shannons Flussdiagramm der Kommunikation in Kybernetik und Medientheorie entwickelt. 20 Unter dem Begriff des ‚Rauschens‘ (noise) werden hier Phänomene bestimmt, die als „Differenz zum Signal“ 21 zu verstehen sind, als mediale Hindernisse für ungestörte Kommunikation. 22 Als Beispiele für Störfaktoren dieser Art wären etwa das Eigenrauschen von Radioempfängern, Bildstörungen im TV oder Funklöcher im Mobilfunknetz zu nennen, aber auch Räuspern, Versprecher oder Missverständnisse in gesprochener Rede. 23 Gegenüber diesem Begriff von Störung als Unfall im Verständigungsvorgang („Störung u(nfall)“) und als selbstreferenzieller Modus von Medialität beschreibt Jäger eine andere Form von Störung, der er eine „konstruktive Funktion“ im Kommunikationsprozess beimisst. Diese zweite Ausprägung ist in dem hier in Rede stehenden Zusammenhang von größerer Relevanz. Ihr konstruktives Potential entfalten diese Störungen, indem sie als „Auslöser der Bearbeitung von Redesequenzen im Interesse der Klärung der Redeintention“ wirken. 24 Derartige transkriptive Störungen („Störung t(ranskriptiv)“) sind nicht mehr nur als ein den Informationsaustausch behindern­des und die sprachlichen Signifikanten aus dem Zustand ihrer medialen Transparenz reißen­des ‚Rauschen‘ zu fassen, sondern als „Produktivitäts-Prinzip sprachlicher Sinngenese“ 25 . Die „Time-out-Phasen“, die solche Unterbrechungen generieren, lösen den reziproken Vorgang von kritischer Verstehensanstrengung und reflexiver Selbstlektüre überhaupt erst aus. 26 Jäger geht weiter davon aus, dass „kommunikative Verläufe“ in mindestens „zwei Vgl. ebd. S. 41/42, 47. Vgl. dazu auch den Beitrag von Heiner Apel, Andreas Corr und Anna Ullrich in diesem Band. 20 Vgl. Schüttpelz, Erhard: Eine Ikonographie der Störung: Shannons Flußdiagramm der Kommunikation in ihrem kybernetischen Verlauf. In: Transkribieren – Medien/Lektüre. Hrsg. von Ludwig Jäger/Georg Stanizek. München: Fink 2002, S. 233 – 280. 21 Kümmel, Albrecht: Störung. In: Grundbegriffe der Medientheorie. Hrsg. von Alexander Roesler/Bernd Stiegler. München: Fink 2005, S. 229 – 235, hier: S. 230. 22 Vgl. auch die Einleitung zu diesem Band. 23 Zu Artikulations- und anderen Störungen in psycho- und neurolinguistischer Forschung vgl. Springer, Luise: Störung und Repair: Diskursive Verfahren der Verständigungssicherung. In: Signale der Störung. Hrsg. von Albrecht Kümmel/Erhard Schüttpelz. München: Fink 2003, S. 43 – 57. 24 Jäger, Störung. 2004, S. 46. Vgl. hierzu auch Springer, Störung. 2003. 25 Jäger, Störung. 2004, S. 41. 26 Damit rückt Störung auch bei Jäger als ein stabilisierender Faktor im Sinne von Niklas Luhmanns Begriff der „Irritation“ in den Blick. Man könnte es vereinfacht auch so sagen: Störung 1 = noise (Kybernetik/Medientheorie), Störung 2 = Irritation (Geistes- und Sozialwissenschaften).

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Zuständen“ existieren können: Das ist zunächst ein Zustand der Ungestörtheit. In dieser Situation sind die „verwendeten sprachlichen (symbolischen) Mittel als solche nicht thematisch, weswegen ein unmittelbares ‚looking through‘ auf die Semantik des Kommunizierten möglich ist“. Einen derartigen kommunikativen Zustand bezeichnet Jäger als „Zustand der medialen Transparenz“, als einen Zustand, in dem das „jeweilige Zeichen/ Medium mit Bezug auf den Gehalt, den es mediatisiert (distribuiert, archiviert, konstituiert) verschwindet, transparent wird“. Von diesem Zustand setzt Jäger einen „Zustand der Unterbrechung des Transparenz-Modus“ (durch den Redner oder einen Interaktanten) ab. In dieser Situation kommt ein „‚looking at‘ auf bestimmte thematisierte Ausschnitte der Rede in ihrer materialen Präsenz“ zustande, weil diese aus dem „kommunikativen Verlauf gelöst und Gegenstand transkriptiver Bearbeitung werden“. 27 Transkription meint insofern nach Jäger den Übergang von Störung zu Transparenz. Eine Störung würde in diesem Sinne ein transkriptives Verfahren der Remediation in Gang setzen, bei dem das „Zeichen/Medium als (gestörter) Operator in den Fokus der Aufmerksamkeit tritt“. Ausgehend davon wird Störung wie folgt gefasst: „Störung soll also [...] jeder Zustand im Verlauf einer Kommunikation heißen, der bewirkt, dass ein Medium (operativ) seine Transparenz verliert und in seiner Materialität wahrgenommen wird, und Transparenz jeder Zustand, in dem die Kommunikation nicht ‚gestört‘ ist, also das Medium als Medium nicht im Fokus der Aufmerksamkeit steht.“ 28

Der Zustand der Störung wird von daher unter Bezug auf Alfred Schütz als das „Relevantwerden des Mediums“ verstanden und der „Zustand der Transparenz“ als sein „Wiedereintritt in den Modus der Vertrautheit“. Es ist also die funktionale Kette von Störung – Transkription – Transparenz, die „die Prozesse kultureller Semantik in Gang hält und stabilisiert.“ 29 Jägers Überlegungen lassen sich nicht zuletzt in der Alltagspraxis belegen. So verweist etwa Marcel Beyer in einem Gespräch über Kindheit auf den Autor Michael Leiris und sein autobiographisches Lebensprojekt. Leiris würde hier eine Episode mitteilen, in der er als kleiner Junge das erste Mal darauf hingewiesen worden sei, dass er ein Wort völlig falsch ausspricht. Beyer kommentiert die dadurch ausgelöste Störung so: „Diese Situation wird für ihn ein Entdecken der Sprache und zugleich ein Entdecken der Welt der Älteren: Ich selbst mit meiner Sprache herrsche nicht mehr über die Welt, sondern werde in Relation zu anderen gesetzt. Es geht dabei aber auch ganz stark um die Entdeckung der Sprache als Material, um Freude daran, dass durch Regelverletzungen beim Sprechen Irritationen möglich werden.“ 30

Jäger, Störung. 2004, S. 60/61. Ebd., S. 62. 29 Ebd., S. 63, 65. 30 „guten abend, meine damundhern“. Das Schreiben und die frühen Jahre – Marcel Beyer, Kathrin Schmidt und Malin Schwerdtfeger im Literaturen-Gespräch. In: Literaturen 2001, H. 9, S. 16 – 18, hier: S. 16 [Hervorhebung: C.G.] 27 28

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Beyer markiert hier einen Prozess, der freilich nicht nur in der Ontogenese – hier der Sprachentwicklung des Kindes – permanent abläuft. Durch die gesetzte Irritation wird für einen kurzen Zeitraum ein Teil des Mediums Sprache relevant. Nach dem offensichtlichen Lernvorgang, der ein „Entdecken der Welt der Älteren“ bedeutet, wird dann ein „Zustand der Transparenz“ wiederhergestellt. 5. Ludwig Jägers Überlegungen, die auf Sprache und Kommunikation ausgerichtet sind, beziehen sich in einzelnen Aspekten auf den systemtheoretischen Ansatz von Niklas Luhmann. Für die Kategorie ‚Störung‘ sind dessen Überlegungen von entscheidender Bedeutung. Zunächst ist zu betonen, dass Luhmann Evolution als einen Vorgang der unablässigen Selektion, der kommunikativen Differenzierung von „Ordnung und Störung, von Information und Rauschen“ sowie der Grenzziehung zwischen System und Umwelt fasst. Danach bedeutet „Grenzerhaltung“ immer auch „Systemerhaltung“. 31 Es stellt sich nun die Frage, welche Rolle in diesem Kontext Störungen bzw. Irritationen zwischen den Teilsystemen spielen. Mit Blick auf gesamtgesellschaftliche Prozesse liefert Luhmann selbst ein treffendes Beispiel: „Die Funktionssysteme irritieren einander nicht nur wechselseitig, sie werden auch irritiert durch soziale Bewegungen, die ihre eigene Entstehung der Irritation durch die Funktionssysteme verdanken.“ 32 Wollte man Beispiele für die Plausibilität dieser Aussage geben, dann reichte ein Verweis auf das Entstehen von Zusammenschlüssen des Protestes, angefangen von der 1968er-Bewegung in der Bundesrepublik oder dem Prager Frühling 1968 über die friedliche Revolution in der DDR 1989 bis hin zu jüngsten Entwicklungen, die als „Arabischer Frühling“ bezeichnet werden und in Tunesien oder Ägypten das scheinbar stabile Gesellschaftsganze nicht nur aufstören, sondern die überkommenen Strukturen teilweise zerstörten. In diesem Zusammenhang hat Luhmann herausgestellt, dass autopoietische Systeme über strukturelle Kopplungen nicht nur sporadisch von Einwirkungen betroffen sind, sondern dass das „Bewusstsein, das soziale Kommunikationssystem oder das Gehirn ständig mit Irritation versorgt“ werden. 33 Als irritierend oder „aufstörend“ begreift er Phänomene, die einen „Informationsverarbeitungsprozess in Gang setzen, der im System operativ gehandhabt werden kann“. Psychische Systeme bzw. das Bewusstsein reagieren auf Störungen, indem sie die Wahrnehmung auf die entsprechende Störstelle lenken und sie zum Gegenstand von Kommunikation machen: „Man fragt zurück, man thematisiert Vgl. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988, S. 122, 35, 95, 237.  32 Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft Bd. 4. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 90. 33 Luhmann, Niklas: Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: Carl-Auer Verlag 32006, S. 124. 31

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eine Störung.“ 34 Ganz entscheidend ist zudem der Umstand, dass Störungen immer an bestimmten Erwartungshaltungen gemessen werden, die im System gültig sind und die sich bislang für die Existenz des Systems bewährt haben. In diesem Sinne gibt eine „Störung [...] aus einem Bereich von Möglichkeiten das eine oder das andere, was aktuell ist, in das System“ 35 . Wenn auf diese Weise „Such- oder Identifikationsvorgänge“ eingeleitet werden, dann sind dies ausgesprochen produktive Vorgänge. Irritationen bzw. Störungen garantieren insofern die „Fortsetzung der autopoietischen Operationen“ eines Systems.  36 Die Frage dabei ist, in welcher Weise das System in Reaktion auf Störungen veranlasst wird, seine Strukturen zu ändern oder aber darauf verzichtet. Damit ist auf den Zusammenhang von Irritation und die durch sie eingeleiteten Lernprozesse verwiesen. Das System kann nämlich einerseits durch die Irritation angeregt werden, zu lernen und seine Strukturen neu zu koppeln. Es kann aber auch andererseits die Irritation ignorieren, sie als einmaliges Ereignis einordnen und darauf setzen, dass sie sich nicht wiederholt. In der Chance, die Entscheidung offen zu halten und eine der beiden Möglichkeiten zu wählen, liegt nach Luhmann eine „Garantie für die Autopoiesis des Systems und zugleich die Garantie seiner Evolutionsfähigkeit“. 37 Der nun naheliegenden Annahme, dass Störungen in der Umwelt von irritierten Systemen zu suchen sind, hat Niklas Luhmann deutlich widersprochen. 38 Zu betonen gilt statt dessen, dass der Begriff der Irritation als System-zu-System-Beziehung zu fassen ist. „Somit gibt es in der Umwelt des Systems keine Irritation, und es gibt auch keinen Transfer von Irritation aus der Umwelt in das System. Es handelt sich immer um ein systemeigenes Konstrukt, immer um Selbstirritation – freilich aus Anlaß von Umwelteinwirkungen.“ Irritationen ergeben sich nach Luhmann also aus einem „internen Vergleich von (zunächst unspezifizierbaren) Ereignissen mit eigenen Möglichkeiten, vor allem mit etablierten Strukturen, mit Erwartungen“ 39. Wenn es sich bei Störungen also immer um „Selbstirritation“ handelt, dann steht das gesellschaftliche oder psychische System jeweils vor der Entscheidung bzw. hat die Möglichkeit, die „Ursache der Irritation in sich selber zu finden und daraufhin zu lernen oder die Irritation der Umwelt zuzurechnen und sie

Ebd., S. 127. Eben diese Überlegung spielt auch im Ansatz von Ludwig Jäger eine Rolle. Ebd., S. 126/127. 36 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 790. 37 Ebd. Betont werden muss freilich, dass die Autopoiesis nicht von der Lernfähigkeit eines Systems abhängt. Allerdings hängt die Steigerung der Intensität von Störungen bzw. Irritationen mit der „Steigerung der Lernfähigkeit“ zusammen. Darunter versteht Luhmann die Fähigkeit, eine „Ausgangssituation im System zu vermehren und im Abgleich mit vorhandenen Strukturen solange weitere Irritationen zu erzeugen, bis die Irritation durch angepaßte Strukturen konsumiert ist“ (ebd.). 38 Siehe auch den Beitrag von Gerhard Preyer in diesem Band. 39 Luhmann, Gesellschaft. 1998, S. 118. Das ist letztlich auch der Grund dafür, „weshalb sich die in einer Gesellschaft wahrnehmbaren Irritationen mit den Formen der Systemdifferenzierung ändern“ (ebd., S. 791). 34 35

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daraufhin als ‚Zufall‘ zu behandeln oder ihre Quelle in der Umwelt zu suchen und auszunutzen oder auszuschalten.“ 40 Der Vorschlag von Luhmann, Irritation bzw. Störung als eine System-zu-System-Beziehung zu begreifen, lässt sich nun in diachroner und synchroner Perspektive auch für das Handlungs- und Symbolsystem Literatur produktiv machen. Es ist bekannt, dass eine an die Systemtheorie anschließende empirische Literaturwissenschaft Gesellschaft als ein aus psychischen Systemen bestehendes Gesamt-System begreift, das sich in soziale, durch Kommunikation miteinander verbundene Subsysteme aufgliedert. Siegfried J. Schmidt hat in instruktiven Arbeiten gezeigt, wie es seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert im Prozess von gesellschaftlicher Modernisierung zur Ausbildung eines eigenständigen ‚Handlungs- bzw. Sozialsystems Literatur‘ gekommen ist. 41 Damit ist ein spezifischer Kunstbereich gemeint, der durch systemspezifische Handlungen geprägt ist, die wiederum die innere Struktur des Systems ausmachen. Die innere Struktur lässt sich modellhaft durch die Handlungsrollen von Literatur-Produktion, Literatur-Vermittlung, Literatur-Rezeption, Literatur-Verarbeitung mit den entsprechenden Institutionen bzw. Berufsgruppen kennzeichnen. Ihre kommunikative Interaktion definiert u. a., was die jeweils erlaubten ‚Handlungsspiele‘ um Literatur sind. Unter dem Symbolsystem Literatur versteht man demgegenüber die Texte selbst mit ihren Stoffen, Themen, Darstellungsweisen, Gattungen. Vereinfacht gesagt, lässt sich das Verhältnis zwischen Handlungssystem und Symbolsystem folgendermaßen beschreiben: In historischer Perspektive gelten für das ‚Handlungssystem‘ bestimmte Kriterien, Regeln, Bewertungsmaßstäbe des Umgangs mit literarischen Texten. Im Anschluss an Luhmann lassen sich nun Aussagen über die Systemlogik eines Systems bzw. seiner Teilsysteme ableiten, die zueinander ihre jeweilige Umwelt bilden und sich voneinander wiederum durch eigene Besonderheiten unterscheiden und abgrenzen. Luhmann beschreibt die Systemlogik von funktional ausdifferenzierten Teilsystemen in den Kategorien a) Funktion, b) Leistung, c) Medium, d) Code und e) Programm. Wollte man diese Kategorien auf das Handlungs- und Symbolsystem Literatur in Anwendung bringen, dann könnte man die jeweiligen Parameter wie folgt beschreiben: Während die Funktion (a) der Wissenschaft darin besteht, neues ‚wahres‘ Wissen zu erzeugen, zielt Literatur darauf ab, die Welt bzw. die Wirklichkeit zu beobachten und über die Präsentation von Geschichten mit interessanten Stoffen und Themen Kommunikation über diese zu ermöglichen. Der Aspekt Leistung (b) sagt etwas über die Beziehungen von Systemen aus: Die einen stellen für die anderen Leistungen zur Verfügung. So dient Literatur der Unterhaltung von Rezipienten (psychischen Systemen), ihr kann aber auch von Seiten des politischen Systems eine aufklärerische bzw. systemstabilisierende Bedeutung zugeschrieben und abverlangt werden. 42 Das Medium (c) meint in der Systemlogik ein symbolisch Ebd., S. 118/119. Vgl. Schmidt, Siegfried J.: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989; Ders.: Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991. 42 Dies ist bevorzugt in sogenannten ‚geschlossenen Gesellschaften‘ der Fall. Siehe dazu beispielsweise Gansel, Carsten: Parlament des Geistes? Literatur zwischen Hoffnung und Repression 40 41

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generalisiertes Medium, d. h. ein Erfolgsmedium. 43 Es konditioniert die Motivationen und Selektionen unbestimmter Kommunikationen – einem Autor geht es letztlich darum, dass seine Texte von der Literaturkritik anerkannt werden und gleichzeitig möglichst breite Leserkreise erreichen. Wenn dies so ist, besteht die Chance, gesellschaftliche Anerkennung zu finden, symbolisches Kapital zu generieren und gegebenenfalls Ruhm zu erlangen. Der Code (d) bildet die binäre Leitdifferenz des Systems. Programme (e) schließlich sind die flexibelsten Bereiche funktional ausdifferenzierter Systeme. Sie versorgen das System mit den zulässigen Regeln des Kommunizierens. 4 4 Im Handlungs- und Symbolsystem Literatur finden sich die Programme in den Gattungs- und Genrekonventionen ebenso manifestiert wie in den jeweiligen Autorpoetiken. Dabei handelt es sich um flexible Größen, die sich in einem ständigen Prozess des historischen Wandels befinden. Mit Blick auf die hier nur knapp skizzierten Kategorien a) Funktion, b) Leistung, c) Medium, d) Code und e) Programm ist davon auszugehen, dass es synchron wie diachron zu Irritationen bzw. Störungen kommen kann. Im literarischen Handlungssystem nun können Störungen auf den Ebenen der Produktion, Distribution oder Rezeption/Verarbeitung auftreten. Im Symbolsystem, also den Texten selbst, betreffen Störungen das ‚Was‘ und ‚Wie‘ der literarischen Darstellung. Dies soll nachfolgend an zwei Beispielen erläutert werden. 6. Bei dem ersten Beispiel handelt es sich um Christa Wolfs Erzählung „Störfall. Nachrichten eines Tages“ (1987), mit der die Autorin auf die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl unmittelbar reagierte. Wenn nun für den in Rede stehenden Gegenstand zunächst Störungen im Symbolsystem Literatur diskutiert werden sollen, dann bietet es sich an, mit dem von Paul Ricœur entworfenen dreistufigen Modell der Mimesis des literarischen Textes zu arbeiten. Ricœur fragt zunächst nach dem Verhältnis zwischen der kulturellen Präfiguration eines Textes (Mimesis I) und seiner spezifischen Konfiguration (Mimesis II). Präfiguration meint dabei den Bezug auf die „außerliterarische Wirklichkeit“, nämlich das, was man vereinfacht „Stoff“ nennen könnte. Konfiguration bezeichnet den Prozess, in dem die im Rahmen der Mimesis I jeweils ausgewählten Elemente „syntagmatisch miteinander verknüpft und zu einer bestimmten Geschichte geformt“ werden. Auf diese Weise entsteht mit dem literarischen Gebilde eine „narrative Struktur, in der jedes Element (1945 – 1961). Berlin: BasisDruck 1996; Ders.: Von der Einpassung über den Protest zum Ausbruch – Jugendkonfigurationen in der Literatur in der DDR vor und nach 1968. In: Der Geist der Unruhe. 1968 im Vergleich. Wissenschaft – Literatur – Medien. Hrsg. von Rainer Rosenberg u. a. Berlin: Akademie Verlag 2000, S. 267 – 290. 43 Wenn von „Erfolgsmedien“ die Rede ist, dann ist auf Niklas Luhmanns Medienbegriff abgehoben. Luhmann unterscheidet nämlich folgende Medien: a) Sprache, b) Verbreitungsmedien, c) Erfolgsmedien. Erfolgsmedien sind nach Luhmann Liebe (Intimsystem), Macht (Politik) oder Geld (Wirtschaft). Siehe Luhmann, Soziale Systeme. 1988. 44 Vgl. Krause, Detlef: Luhmann-Lexikon. Stuttgart: Lucius & Lucius 2005.

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seinen Platz und damit seine Bedeutung erhält“ 45 . Im gegebenen Zusammenhang, der literarischen Verarbeitung von Störungen, sind für die Präfiguration und Konfiguration nun die bereits skizzierten Fragen nach a) unterschiedlichen Intensitätsgraden von Störung, b) nach der Topizität der Störung und c) der jeweils zeitlichen Dimension maßgeblich. Es steht außer Frage, dass Ereignisse mit einem hohen Intensitätsgrad an Störung auf psychische Systeme einen starken Reiz ausüben können. Das Reaktorunglück von Tschernobyl im April 1986 war ein solches Ereignis. Die Katastrophe entfaltete in der damals noch durch den Kalten Krieg geprägten Welt eine in hohem Maße aufstörende, verstörende und nicht zuletzt zerstörende Wirkung. Auf der sogenannten INES-Skala („International Nuclear Event Scale“), der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse, wurde das Reaktorunglück als bis zu diesem Zeitpunkt einziges Ereignis mit dem Höchstwert 7 (katastrophaler Unfall) eingestuft. Das bedeutet: schwerste Freisetzung von radioaktivem Material, Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt in einem weiten Umfeld, gesundheitliche und ökologische Spätschäden über große Gebiete hinweg, ggf. in mehr als einem Land. 46 Mit anderen Worten: Es war die Intensität des Vorfalls, die für die Systeme Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur, Medien wie auch psychische Systeme einen aufstörenden Charakter hatte. Die Meldungen in den westlichen Medien, deren Drastik sich vom 26. April 1986 beständig steigerte, machen das anschaulich. Anders in den Medien des Real-Sozialismus, in denen nur sehr selektiv Nachrichten über die Reaktorkatastrophe kommuniziert wurden und es den Versuch gab, die Auswirkung des Störfalls herunter zu spielen. Es wurde zwar durchaus ein „Informationsverarbeitungsprozess in Gang“ (Luhmann) gesetzt, und insofern kam es dazu, dass das Ereignis Tschernobyl in den jeweiligen Systemen „thematisiert“ und „operativ gehandhabt“ wurde. Ob Tschernobyl allerdings ein Ereignis war, das nachhaltige Lernprozesse in Gang gebracht hat, ist zu bezweifeln. Wirklich einschneidend hat Tschernobyl wohl weder in der östlichen noch in der westlichen Welt gewirkt. Dazu ist es erst mit der Atomkatastrophe von Fukushima im März 2011 gekommen. Gleichwohl erzeugte die Intensität des Ereignisses von Tschernobyl zunächst eine weltweite Irritation. Tschernobyl war ein Ereignis, das vor allem auch in Literatur und Kunst wahrgenommen wurde. Zu denken ist an die sogenannten Aschebilder von Günther Uecker. Uecker selbst hat herausgestellt, dass die Aschebilder eine direkte Reaktion auf den Störfall von Tschernobyl gewesen sind. „Kann Furchtbarkeit auf Asche gründen“, fragt er zunächst und notiert sodann: „Welche Gründe sind es, die den Menschen bewahren, in seiner Lebens- und Zerstörungsgeschichte. Viele meiner Aschebilder entstanden nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl, als ich sprachlich nicht mehr mitteilen konnte, was mich da erschütternd berührte, ich Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart: Metzler 2005, S. 152. Siehe dazu Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung Bd. I: Zeit und historische Erzählung. München: Fink 1988. 46 Die „International Nuclear Event Scale“ (INES) wird heute weltweit genutzt, um eine Vergleich­barkeit von Vorkommnissen im Zusammenhang mit den Nukleartechniken zu erreichen. Vgl. ‹http://www.ensi.ch/de/notfallschutz/ines-skala/› (Letzer Zugriff am 19.08.2012). 45

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auswich und dachte: wenn ich es versuche, mit Bildern auszudrücken, wird es mir möglich. Der ganze Zyklus der Aschemenschen ist eigentlich aus der Verzweiflung des gefährdeten Seins entstanden.“ 47

Als die wohl erste umfangreichere literarische Reaktion ist Christa Wolfs Erzählung „Störfall“ zu werten, die bereits wenige Monate nach dem Ereignis im Aufbau Verlag erschien. 48 Im Sinne von Niklas Luhmann geriet die Wahrnehmung des Reaktorunglücks bei dem autopoietischen psychischen System Christa Wolfs in den Status einer „tiefgreifenden“ Selbstirritation aus „Anlass von Umwelteinwirkungen“ (Tschernobyl). Dabei war Tschernobyl keineswegs nur Ausgangspunkt einer entsprechenden literarischen ‚Themensetzung‘. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, führte die Katastrophe auch zu einer spezifischen Konfiguration des Textes, betraf also in hohem Maße das ‚Was‘ und ‚Wie‘ des Erzählens, mithin das Symbolsystem. Aber worum geht es in „Störfall“: Eine weibliche Ich-Erzählerin berichtet von ihrem Tagesablauf jenseits der professionellen Arbeit am Schreibtisch, sie zieht Unkraut im Garten, kocht Aal ein, geht zur Post, verjagt Hühner, spricht mit den Nachbarn. In diese alltäglichen Verrichtungen dringen nun zwei Nachrichten ein, die zu einer Verstörung führen: Die Erzählerin erfährt an diesem Tag durch Radio und Fernsehen von der Katastrophe in Tschernobyl. Gleichzeitig hat sich ihr Bruder einer komplizierten Gehirnoperation zu unterziehen. Die alltäglichen Beschäftigungen werden in der Folge sämtlich unter dem Blickwinkel der beiden Ereignisse reflektiert und bewertet. Die Nachrichten – nicht nur des ablaufenden Tages – funktionieren wie ein „glühende(r), pulsierende(r) Kern“ (11), sie strahlen auf alles aus, was getan, gedacht, empfunden wird. Bereits die ersten drei Seiten (9 – 11) machen die Besonderheit der Konfiguration anschaulich. Dies allerdings nicht so sehr im Sinne einer Einleitung, sondern als direkter Einstieg in den Aufbau eines motivischen Netzwerkes. Es wird ein Geflecht entworfen, das bereits wesentliche Problemstellungen anschlägt, die das reflektierende Ich bewegen. Dabei lassen sich Schlüsselund Kernwörter finden, um die herum im weiteren Text Beziehungen aufgebaut werden. Nehmen wir nur die ersten drei Sätze: „Eines Tages, über den ich in der Gegenwartsform nicht schreiben kann, werden die Kirschbäume aufgeblüht gewesen sein. Ich werde vermieden haben, zu denken ‚explodiert‘; die Kirschbäume sind explodiert, wie ich es noch ein Jahr zuvor, obwohl nicht mehr ganz unwissend, ohne weiteres nicht nur denken, auch sagen konnte. Das Grün explodiert: Nie wäre ein solcher Satz dem Naturvorgang angemessener gewesen als dieses Jahr, bei dieser Frühlingshitze nach dem endlos langen Winter“ (9).

Der erste Satz verweist auf das gewählte Erzähltempus, nämlich das ungewohnte Perfekt und außerdem das Futur II. Die Entscheidung hat einen Grund: Dem Ich gelingt es angesichts der durch die Irritation in Gang gebrachten Selbstreflexion nicht, das herkömm Uecker, Günther In: Wolf, Christa/Uecker, Günther: Störfall. Aschebilder. Ausgew. und Hrsg. von Manfred Jendryschik/Reinhardt O. Cornelius-Hahn. Halle: Edition Cornelius 2010, S. 5. 48 Wolf, Christa: Störfall. Nachrichten eines Tages. Berlin/Weimar: Aufbau 1987. [Seitenangaben nachfolgend im Text.] 47

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liche Erzähltempus Präteritum zu gebrauchen, weil in diesem Fall Vorgänge als in der Vergangenheit abgeschlossen betrachtet werden. Eben dies ist der Ich-Erzählerin angesichts des globalen Ausmaßes der Störung nicht möglich. Die Wahl des Perfekts verhindert es, Abstand zum Vorfall Tschernobyl aufzubauen. Es werden die Nähe und Unmittelbarkeit der Ängste als solche unmittelbar fühlbar, ebenso wie die bis in die Gegenwart und Zukunft hineinreichende Gefahr. Bewusst wird einer Distanz oder Souveränität, wie sie die Wahl des Präteritums bedeuten könnte, entgegengearbeitet und der Leser in den Diskurs hineingezogen. Die gewählte Form kann wiederum auf die Leser irritierend wirken und macht damit die Emotionen der Erzählerin erfahrbar. Die ausgelöste Irritation führt also dazu, dass das Ich sich nunmehr das Medium Sprache im Sinne von Sprechen und Schreiben bewusst macht und es thematisiert. Im Sinne Jägers verliert die Sprache ihre mediale Transparenz und wird statt dessen in ihrer Materialität wahrgenommen. Es kommt folglich zum „Relevantwerden des Mediums“ Sprache (Jäger). Das Ich erkennt, dass angesichts der Störung neue Formen des Sprechens, Denkens, Schreibens gefunden werden müssen. Man wird – so bereits der erste Satz – über das Ereignis eben nicht in der „Gegenwartsform“ schreiben können. Die Wahl des Futur II im Zustandspassiv („werden die Kirschbäume aufgeblüht gewesen sein“) macht das Reflexivwerden weiter anschaulich. Auch der zweite Satz ist im leserseitig eher ‚aufstörenden‘ Futur II gehalten. Im Wortspiel mit der doppeldeutigen Semantik des Verbs „explodieren“ wird darüber hinaus offenbar, auf welche Weise die hier praktizierte – damals irritierende Form – der Vernetzung zustande kommt: Die Ich-Erzählerin aktualisiert im Text Sememe (Bedeutungsvarianten) eines Wortes, die eigentlich in antonymischer Beziehung zueinander stehen, weil sie sich auf unterschiedlich zu bewertende Erscheinungen der Wirklichkeit beziehen: „explodieren“1 – Reaktor, „explodieren“2 – Kirschbäume, Grün, Natur. Das reflektierende Ich hat angesichts des Vorfalls gewissermaßen einmal mehr ihre sprachliche Unschuld verloren und sieht sich gezwungen, Möglichkeiten eines exakten, angemessenen Bezeichnens von Erscheinungen und Ereignissen der Realität zu bedenken. Ins Bewusstsein gehoben wird – für Christa Wolf kennzeichnend – die Gefahr, ‚falsch‘ zu benennen und unüberlegt Sprache zu benutzen. Bereits am Textbeginn ist also auf die Rolle von Sprache verwiesen. Die im Text dann weiter durchgezogene Irritation wird bereits auf der ersten Seite über die Intensitätsgrade Aufstörung und Verstörung bis zur Zerstörung getrieben. Was „gemeinsam mit dem spaltbaren Material in einem Reaktorgehäuse“ weggesprengt (10), mithin also zerstört ist, das sind die Zukunftsvisionen, das ist jene utopische Vision, an die Christa Wolf und mit ihr ihre Ich-Erzählerin geglaubt hat, der Kommunismus! Im Weiteren sind es nicht allein die Wahl der Handlungen und Ereignisse sowie ihre Strukturierung, die zu einer Vernetzung führen, sondern vor allem die sprachliche Gestaltung der Reflexionen, der Einbau von Liedzeilen (Franz Schuberts „In einem Bächlein helle“) oder die Anspielung auf andere literarische Texte (Stephan Hermlins „Die Vögel und der Test“). Liedzeilen, die das Ich beim Duschen zunächst einfach vor sich her singt, wirken plötzlich aufstörend und pro-

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vozieren eine erneute Reflexion: „In einem Bächlein helle [...] die launische Forelle“ (11). Forelle und Fisch assoziieren einmal mehr zusätzliche, dem Kontext entsprechende Merkmale: „Speicherfisch für radioaktive Zerfallsprodukte“ (ebd.). Die Umwertung erfolgt aus der durch die Reaktorkatastrophe ausgelösten Sorge und Angst und aus dem Wissen um den Abbau radioaktiver Stoffe. Die graphische bzw. phonemische Form des Wortes bleibt in diesem Fall erhalten („Fisch“), obwohl sich der Merkmalsatz verändert hat und damit auch das Verhältnis des Ich zu diesem Lebensmittel. In gleicher Weise funktioniert dies bei dem Lexem „Pilz“. Es kommt zur Hervorhebung eines Merkmals, das ansonsten nur für eine bestimmte Art von Pilzen – etwa Giftpilze – zutrifft. Für das Ich – das sei nochmals betont – führt die wahrgenommene Störung zur Aufhebung von Transparenz und dazu, dass die Sprache selbst zum hinterfragbaren Medium wird. Sprache ist in „Störfall“ daher durchweg Mittel und Gegenstand der Darstellung. Beide Ebenen sind untrennbar miteinander verschränkt. Fast automatisch führt das Bemühen, Sprache so genau wie möglich einzusetzen, zur Reflexion über ihre Möglichkeiten. Bei dem Bestreben, exakt die tatsächlichen Sachverhalte in ihrer globalen Dimension zu benennen, verbietet sich eine den Gegenständen unangemessene „Übersetzung“ in Literatur- wie Alltagssprache, weil die Gefahr der Verhüllung besteht. Wenn bislang dem Bereich der Atomforschung vorbehaltene Wörter wie GAU, Cäsium, Jod 131, Halbwertzeit, Becquerel in den Text drängen, dann ist das ein Ausdruck des ganzen Ausmaßes, in dem das alltägliche Leben durch die Reaktorkatastrophe gestört worden ist. Dabei ist die Katastrophe nur ein Glied in einer langen Kette. Die Funktion, aufzustören und sensibel dafür zu machen, dass dem Atomunglück wie dem sich abzeichnenden Weltzustand nicht mit alten Denk- und Bildkategorien beizukommen ist, erfüllen die Vielzahl an literarischen Zitaten. Aus Brechts „Erinnerung an die Marie A.“ werden nur die letzten beiden Zeilen reflektiert: „doch jene Wolke blühte nur Minuten und als ich aufsah schwand sie schon im Wind“ (62). Damit ist auf das Geschehen um die Reaktorkatastrophe verwiesen. Goethes „Mailied“ und die Zeilen „Wie herrlich leuchtet mir die Natur“ kann unter den neuen Bedingungen nicht mehr wie früher rezipiert werden und führt das Ich zu der Frage, „was wir mit den Bibliotheken voller Naturgedichte machen“ (44). Bei der Suche nach angemessenen Worten für die entstandene Weltsituation geht es dem Ich weniger um das dichterische Wort denn um die Rolle von Sprache in der Menschheitsentwicklung. Die Erzählerin sieht sich an die Anfänge der Evolution zurück geführt und nimmt bewusst wahr, wie Sprache Entwicklung erst ermöglicht hat, Menschen durch Kommunikation zueinander führt, aber gleichzeitig auch Mittel der Abgrenzung und Trennung gewesen ist: „Der Anderssprechende war der Fremde, war kein Mensch, unterlag nicht dem Tötungstabu“ (90). Es ist nur natürlich, wenn das Ich vom „Doppelgesicht der Sprache“ (ebd.) spricht. Von hier aus werden Relationen zur biblischen Mythologie hergestellt und ihrer Deutung der sozialen Rolle von Sprache. Der Turmbau zu Babel und der sagenhafte Begründer des babylonisch-assyrischen Reiches Nimrod werden als Beispiele dafür angeführt, wie Sprache eint und trennt, wie mit ihr Missbrauch getrieben werden kann und auf welche Weise „Sprachverwirrung“ (92) entsteht. Wiederum werden von diesem Punkt aus Verbindungen in die Gegenwart des Ich hergestellt, zur basic language

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ebenso wie zu Türmen in Form von Raketen, die in den Himmel geschickt werden. Das Nachdenken über Sprache führt schließlich zu dem, was mit „Wort-Ekel“ (107) gefasst wird und immer auch die Zweifel an der eigenen Person meint. Von hier aus wird dann ein neues ‚Thema‘ angeschlagen, das beim Ich – wie bei der Autorin – ein gewichtiges aufstörendes Potential besitzt: die Frage nach dem „blinden Fleck“ der eigenen Person und die Suche nach „Abgründe(n) in mir selbst“ (46). Christa Wolfs „Störfall“ ist ein exemplarisches Beispiel dafür, wie Ereignisse – in diesem Fall von zerstörender Intensität – zu einer Selbstirritation des Individuums führen können und sich dies darüber hinaus auf das ‚Was‘ und ‚Wie‘ der Textgestaltung auswirkt. Eine Frage ist nun, wie mit diesem aufstörenden ‚Angebot‘ in der literarischen wie gesellschaftlichen Kommunikation umgegangen wird. Wenn Luhmann davon spricht, dass soziale Systeme kommunizieren und es innerhalb dieser Kommunikation zu Störungen kommen kann, dann ist es erforderlich, seinen Kommunikationsbegriff zu bestimmen, da er von anderen abweicht. Luhmann versteht Kommunikation als eine dreifache Selektion von a) Information, b) Mitteilung und c) Verstehen. 49 Verstehen wiederum ist die Grundlage für Anschlusskommunikationen. Ausgehend von der vorgeschlagenen Logik des Literatursystems kann man sich nun die dreifache Selektion in folgender Weise vorstellen: Autorinnen und Autoren beobachten ihre Umwelt, aus der sie Informationen als Stoffe und Themen selektieren (Präfiguration). Diese verarbeiten und gestalten sie in Mitteilungen (Texten) auf der Grundlage von Codes und Programmen, die sie flexibel variieren und verändern (Konfiguration). Im Rezeptionsvorgang schließlich kommt es nicht nur zur „Aktualisierung des literarisch Darstellten“, sondern auch zu einer „ikonischen Bereicherung“ (Ricœur). 50 Aufstörungen sind nun auch auf der Ebene der Rezeption bzw. Refiguration möglich. Belege dafür, ob und in welcher Weise es in den Kommunikationen zu Störungen gekommen ist, finden sich beispielsweise in den Reaktionen der Literaturkritik. Mitzudenken ist in diesem Fall, dass Wolfs Text 1987 in der DDR erschien, in der als einer ‚geschlossenen Gesellschaft‘ die diskursiven Toleranzgrenzen normativer gezogen waren als etwa in der Bundesrepublik. Zudem sahen, wie oben bereits erwähnt, die Instanzen von Partei und Staat Funktion und Leistung von Literatur bevorzugt darin, den Offizialdiskurs zu legitimieren. Im Fall von Christa Wolfs „Störfall“ zeigte sich nun innerhalb der Literaturkritik ein eher untypisches Vorgehen. Anders als bei literarischen Texten, die wie Monika Marons Umweltroman „Flugasche“ (1981) 51 zu langwierigeren Aufstörungen führten und die Toleranzgrenzen des Systems nach innen wie außen markierten, gab es um „Störfall“ keine Auseinandersetzung und kam es nicht zur Zensurierung. Gleichwohl aber zeigte sich Unsicherheit, wie mit dem Textangebot umzugehen sei. Die kurze Entstehungszeit von „Störfall“ führte eine Reihe von Rezensenten zu der Position, dass es sich bei dem Text „nur“ um eine sehr aktuelle Reaktion auf ein Zeitereig Vgl. dazu Gansel, Christina: Textlinguistik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, S. 25 – 30. 50 Ricœur, Zeit. 1988, S. 127. Siehe dazu auch Erll, Gedächtnis. 2005, S. 153 ff. 51 Vgl. dazu den Beitrag von Matthias Braun in diesem Band. 49

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nis handle, die Verständigung darüber flüchtig erfolgt war und noch nicht abgeschlossen sei. Dies zeige sich im vermeintlich fragmentarischen Charakter der literarischen Form. 52 Letztlich kann man davon sprechen, dass weite Teile der Literaturkritik versuchten, Christa Wolfs Erzählung ‚transparent‘ im Sinne von Ludwig Jäger zu machen. Dies zeigte sich auch bei den Versuchen, eine Art Fabel im klassischen Sinne zu liefern: „Geschildert wird der Tagesablauf eines weiblichen Ich-Erzählers [...] Diese Alltäglichkeit wird durchkreuzt von zwei ‚unerhörten Begegnungen‘.“ 53 Auf diese Weise wird das Aufstörende des Textes gewissermaßen überschrieben. Denn: Der Text führt den umgekehrten Vorgang vor. Die alltäglichen Beschäftigungen werden unter dem Blickwinkel der Nachrichten reflektiert und bewertet. Die Tatsache, dass in die Gedanken- und Gefühlsgänge des reflektierenden Ichs auch Material gerät, das literarisch ungeformt bleibt, also Umgangssprachliches, Wissenschaftssprache, Zitierungen aus Lehrbüchern, Medienverlautbarungen, wurde der kurzen Entstehungszeit des Textes zugeschlagen, die eine poetische Sprache nicht habe entstehen lassen. Solche Argumente zu nutzen, bedeutete, am aufstörenden Charakter des Textes und seiner Form vorbei zu gehen. 54 Zu fragen war schon damals, ob das radikale Bekenntnis zur eigenen Subjektivität angesichts einer existentiellen Katastrophe nicht gerade dazu drängen musste, in den Text alles einzubeziehen, was verfügbar war und die Chance bot, die eigene Lage wie auch die der Welt als Ganzes individuell erfahrbar zu machen. 7. Christa Wolfs „Störfall“ ist ein Beispiel dafür, in welcher Weise eine als existentiell erfahrene Störung Folgen für das ‚Was‘ und ‚Wie‘ der literarischen Darstellung nach sich zog, die Zerstörung sich also auf das Symbolsystem ‚auswirkte‘. Im Handlungssystem Literatur wie auch dem Gesellschaftssystem insgesamt hielt sich die durch den Text in Gang gebrachte Aufstörung in Grenzen. Instanzen des Systems Politik etwa sahen sich nicht veranlasst, einzugreifen. Dies war beim dritten Teil von Erwin Strittmatters Roman „Der Wundertäter“ anders. Der Roman zeigt, wie literarische Texte über Stoff und Darstellungsweise zu Störungen bis in höchste Bereiche der Politik führen konnten und wie versucht wurde, bereits auf den Entstehungsprozess ‚entstörend‘ einzuwirken. So stellte Klaus-Dieter Schönewerk heraus, dass „manche Assoziationsketten fragmentarisch [bleiben]“ (Nachdenken über Geschichte und menschliche Verantwortung. In: Neues Deutschland (24.08.1987), S. 4). 53 Kaufmann, Hans: Dringliches Forschen. Rezension zu: Christa Wolf: Störfall. Nachrichten eines Tages. Aufbau-Verlag Berlin und Weimar. In: NDL 1987, H. 8, S. 134 – 140, hier: S. 135. Vergleichbar argumentierten die Rezensionen von Christel Berger: Streitbare Verlautbarungen für Gegenwart und Zukunft. Zu Christa Wolfs „Die Dimension des Autors“ und „Störfall“. In: Berliner Zeitung (29.04.1987); Walther, Klaus: Ein Tag wie tausend Jahre. In: Wochenpost 1987, H. 23, S. 15; Karradt, Sabine: Beunruhigende Fragen. In: Der Morgen (09./10.05.1987). 54 Vgl. mit Blick auf das westdeutsche Literatursystem den Beitrag von Norman Ächtler in diesem Band. 52

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Als Mitte Mai 1980 der dritte Band von Erwin Strittmatters „Wundertäter“ erschien, war der Endpunkt unter ein Projekt gesetzt, das weitaus mehr als andere Romanvorhaben den Autor selbst wie auch die (Teil)Systeme von Politik, Kultur und Literatur in der DDR aufgestört hatte. 55 Zu Ende des Jahres glaubte Strittmatter einen vorläufigen Schlusspunkt unter die Geschichte des dritten Bandes zu setzen und resümierte am 20. Dezember im Tagebuch: „Die Erregung, in die mich die fünf Jahre lange Arbeit am Roman versetzte, der Kraftaufwand, ihn schließlich gedruckt zu bekommen, und die Hinterhältigkeit, mit der man seine Verbreitung bremste, scheinen nun in mir abzuklingen. Es wird mir wohl wieder gelingen, mich besser zusammenzufassen.“ 56

Und in der Tat waren Entstehen wie Drucklegung dieses Textes in besonderer Weise von Vorgängen begleitet, die einmal mehr zeigen, wie innerhalb des Gesellschaftsgefüges DDR das Handlungs- und Symbolsystem Literatur in der Lage war, ein aufstörendes Potential zu entfalten, das in andere Teilbereiche der Gesellschaft übergriff. Mit den Verhältnissen in der DDR vertraut und die „Grenzen des Sagbaren“ (Christa Wolf) vor Augen, war Strittmatter bewusst, dass entscheidende Aspekte seines Romans explosiv auf jene wirken würden, die Literatur eben nicht in der Funktion sahen, Wirklichkeit kritisch zu beobachten, und eine entsprechende Wirklichkeitsdarstellung zu verhindern suchten. Forciert wurde ein eher simples Nützlichkeitsgebot wie die Frage nach dem Gebrauchswert von Literatur –Kategorien, die mit literarischer Autonomie wenig zu tun haben. Mitzudenken ist zudem, dass in der DDR jede Entscheidung für und gegen einen Text zunächst eine Entscheidung über die vermutete (aufstörerische) Wirkung war. Genau dies spielte bei dem Prozess eine Rolle, den Strittmatters „Wundertäter III“ bis zur Drucklegung durchlief. Nach der Begutachtung im Aufbau Verlag wurde in einem nächsten Schritt ein Außengutachten eingeholt, das mit Heinz Plavius ein renommierter Literaturkritiker und -wissenschaftler verfasst hatte. Plavius gehörte zu jenen Kritikern, die beharrlich existierende Dogmen in der Literatur- und Kulturpolitik argumentativ zu unterlaufen suchten. Offensichtlich ist, dass er in Hinblick auf die Begutachtung des „Wundertäters“ mit Autor und Verlag im Bunde war und sein Gutachten ‚strategisch‘ konzipiert hatte. Da absehbar war, dass es in diesem Fall – anders als üblich – weitere Gutachten geben und das Manuskript durch diverse Abteilungen im ZK der SED gehen würde, hatte Plavius gar nicht erst versucht, die neuralgischen Punkte des Romans zu kaschieren, sondern war frontal darauf zugesteuert. Sofort nach der Betonung der Bedeutsamkeit des Romans für die DDR-Literatur wurde Plavius konkret:

Die Darstellung folgt meinem Beitrag Gansel, Carsten: „weil es sich um sogenannte heiße Eisen handelt“ – Erwin Strittmatters „Wundertäter III“ (1980) oder Zur Geschichte einer Aufstörung. In: Es geht um Erwin Strittmatter oder Vom Streit um die Erinnerung. Hrsg. von Carsten Gansel/Matthias Braun. Göttingen: v+r unipress 2012, S. 173 – 209. 56 Strittmatter, Erwin: Die Lage in den Lüften. Aus Tagebüchern. Berlin: Aufbau 1990, S. 242. 55

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„Der Roman – und das deutete sich bereits im II. Band an – greift Probleme und Konflikte aus der Wirklichkeit des realen Sozialismus auf, die bisher in der DDR-Literatur nur in Ansätzen auftauchen, die teilweise gemieden werden, weil es sich um sogenannte heiße Eisen handelt. Versuche in dieser Richtung haben entweder zum Dissens geführt oder sie waren aus einer Position des Räsonnements geschrieben und für beide Arten kann nur ein Mangel an kommunistischer Überzeugung und Parteilichkeit als Ursache in Betracht gezogen werden. Indem Erwin Strittmatter – wie nachzuweisen sein wird – von konsequent parteilichen Positionen ausgeht, muß er sich nicht bei jedem Problem und Konflikt aus unserer täglichen Realität ängstlich umsehen, er ist nicht auf Deckung durch Autoritäten angewiesen, seine Haltung ist ungebrochen, sie stimmt in sich. Seine nicht zu bezweifelnde Parteinahme für unsere sozialistische Sache befähigt ihn zu einem hohen Maß von Kritik an Zuständen, die durchaus nicht nur peripheren Charakters sind.“ 57

Mit dieser Argumentation war von vornherein schweres Geschütz aufgefahren, indem nämlich die Grundposition des Autors, „seine Parteinahme für unsere Sache“, als unumstößliche Voraussetzung gesetzt wurde. Bereits auf der dritten Seite wandte Plavius sich dann der sogenannten Risse-Geschichte zu, von der er wusste, dass sie zu den ‚heißeren Eisen‘ gehörte, weil sie massiv an bisherigen Tabus innerhalb der DDR und ihrer Literatur rüttelte: „Einen ungleich wichtigeren Platz nimmt in immer neuen Anläufen die Risse-Geschichte ein. Auch von ihr ist Büdner persönlich betroffen, einmal, weil Risse sein erster Kumpel vor Ort ist. Aber der verweigert ihm Hand und Wort in der Annahme, er habe es mit einem Spitzel oder Antreiber zu tun. Büdners Betroffenheit wächst, als er Risses tragische Geschichte erfährt. Sie begann, als seine Tochter vor den Augen der Mutter von sowjetischen Soldaten vergewaltigt wurde und dabei umkam. Risses Frau verfällt darüber in geistige Verwirrung und muß in eine Anstalt. Risse selbst wird zum Quartalssäufer und nimmt jeweils in diesem Zustand private Rache. Für Büdner wird es zu einer inneren Aufgabe, diesen verwickelten Knoten von persönlicher Verwirrung, von historischer Schuld und von ideologischer Belastung wenigstens soweit zu entwirren, daß die Beteiligten damit leben können. Er sucht das, indem er die Geschichte schreibt und durchdenkt und verwirft, indem er sie von den anderen beurteilen läßt und wieder schreibt. Sie wird endlich zum zentralen Diskussions- und Arbeitsgegenstand in seiner Berliner Zeit, in der Zusammenarbeit mit dem großen Lukian List (dies das zweite aus Sympathie, wenn auch nicht aus blinder, errichtete Denkmal für Bertold Brecht). Hier wird – im Zuge der dialektischen Verfremdung aus der Risse- die Rassegeschichte, sie wird – im Gegensatz zu den bisherigen sentimental geratenen Fassungen – intellektualistisch und der Roman endet mit dem optimistischen Vorsatz, sie nun, nach allen Erfahrungen und Versuchen schreiben und bewältigen zu können, denn, fragt er Rosa, ‚welcher Generation nach uns wird es erlaubt sein?‘ – über dieses Thema zu schreiben.“ 58

Das Gutachten von Heinz Plavius war nolens volens ein geschickt aufgebautes Plädoyer für den Druck des Manuskripts, Einschränkungen fanden sich keine. Dies war mit ein Plavius, Heinz: Gutachten zu Erwin Strittmatters: Der Wundertäter. 1978. In: BArch, DR 1/2120a (Wundertäter 3), Blatt 370 [Hervorhebungen: C.G.]. 58 Ebd., Blatt 327, S. 373. 57

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Grund, warum der Verlag sich veranlasst sah, weitere Gutachten einzuholen. Der Auftrag zur Begutachtung erging an Anneliese Löffler, die seit 1972 Professorin an der Humboldt-Universität Berlin war und zu den einflussreichsten Gutachterinnen gehörte. 59 Die zehnseitige Einschätzung war dann allerdings nicht – wie sonst üblich – als Gutachten ausgewiesen, sondern überschrieben mit „Notizen zu dem Buch von Erwin Strittmatter: Wundertäter. 3. Band“. 60 Auch bei Löffler ging es zentral um die Risse-Geschichte und deren Kern, die Vergewaltigung durch sowjetische Soldaten. Allerdings wurde die Kritik abgeschliffen durch die Anmerkung, Strittmatter habe versucht, die angesprochene Problematik differenziert zu gestalten. Dennoch gelangte die Gutachterin abschließend zu der Überzeugung, dass die Darstellung „unter dem Gesichtspunkt politischer Verantwortung [...] nicht zu akzeptieren“ sei. Ab Anfang März 1979 bekamen die Auseinandersetzungen um Strittmatters Roman eine neue Qualität und wurden auf einer höheren politischen Stufe verhandelt. Zu diesem Zeitpunkt zog die Kulturabteilung des ZK der SED unter Leitung von Kurt Hager den Vorgang an sich. Hager selbst nahm sich dem Fall an und vereinbarte einen Gesprächstermin zu den Problemen um die Druckgenehmigung des „Wundertäters“. Das Gespräch zwischen Strittmatter und Hager fand am 19. April 1979 statt und dauerte drei Stunden. Strittmatter, der mit dem Schlimmsten für das Geschick seines Romans rechnete, war überrascht, dass sein Gegenüber „einsichtiger und toleranter“ war als vermutet. Schon bald war klar, dass Hager die Druckgenehmigung erteilen wollte. Dieser machte aber auf mögliche Folgen beim sowjetischen Botschafter aufmerksam, der bereits im Falle von Heiduczeks „Tod am Meer“ eingegriffen hätte. Der Abdruck des Romans zöge eine Kraftprobe in dieser Richtung nach sich. Auch im Politbüro müsse er nach Verbündeten suchen. „Der Roman würde auf krasse Ablehnung und begeisterte Zustimmung stoßen“, so Hager. Es sei mit Protesten von Kreis- und Bezirksfunktionären zu rechnen, „ich müßte mich auf eine heftige Diskussion und auf eine schärferer Kritik als beim OLE BIENKOPP gefaßt machen“, so Strittmatters Tagebucheintrag. Schließlich wollte Hager das Manuskript ein zweites Mal (!) lesen und eine „Liste machen mit Ausdrücken, die ich vielleicht mildern sollte, und ob es nötig wäre, die Vergewaltigung der Risse-Tochter dreimal zu beschreiben, wie das geschehen wäre“. 61 Die Reaktion von Kurt Hager unterstrich einmal mehr, dass und inwiefern Strittmatters Manuskript die politischen Instanzen irritierte. Der Autor hatte mit der Geschichte um die Vergewaltigung der Risse-Tochter durch sowjetische Soldaten an ein Tabu gerührt. Vor ihrer Einsetzung als Professorin an der Humboldt-Universität war Anneliese Löffler in vielfältigen Funktionen im Partei- und Staatsapparat tätig. Volker Braun karikierte sie in seinem „Hinze-Kunze-Roman“ (1985) als „Frau Professor Messerle“. Siehe auch Walther, Joachim: Sicherungsbereich Literatur. Schriftsteller und Staatssicherheit in der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin: Christoph Links 1999. Anneliese Löffler – damals noch Anneliese Große – hatte bereits 1972 das Außengutachten für Strittmatters „Wundertäter II“ geschrieben. Siehe BArch, DR 2103a, Blatt 426 – 432. 60 Löffler, Anneliese: Notizen zu dem Buch von Erwin Strittmatter: Wundertäter. 3. Band. In: BArch, DR 1/2120a (Wundertäter 3), Blatt 360 – 369. 61 Strittmatter, Die Lage in den Lüften. 1990, S. 188, 189.

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Auch hier wurde mit dem „Wundertäter“ ein Informationsverarbeitungsprozess in Gang gesetzt und durch die verschiedenen Vertreter des politischen Systems versucht, die offensichtliche Störung „durch Umlenkung der Wahrnehmung auf die Störstelle“ (Luhmann) zu bewältigen. Das Gespräch war Ausdruck des Versuchs, die Störung in der „Kommunikation kommunikativ“ zu behandeln. Anders gesagt: Wenn die gesellschaftlichen Instanzen in der DDR – wie in diesem Fall die von Hager geführte Abteilung Kultur des ZK der SED – Erwin Strittmatter, seinem Roman und den darin dargestellten Problemen eine solche Aufmerksamkeit widerfahren ließen, ja über viele Monate bemüht waren, den Autor zur Veränderung der ursprüngliche Textfassung zu bewegen, dann konnte dies nur bedeuten, dass vor dem Hintergrund der gültigen politischen wie literarischen Vereinbarungen, der gesetzten Werte und Normen und der verfügten politischen Verbindlichkeiten der Text in den Status einer Irritation geraten war und als Störung bewertet wurde. In der Folgezeit spielte die Abteilung Kultur des ZK der SED wie auch das Ministerium für Kultur mögliche Varianten für den Umgang mit dem Manuskript durch. Im Ergebnis lag mit dem 18. April 1979 eine vierseitige Konzeption mit „Überlegungen zum Erscheinen bzw. Nichterscheinen des Wt.“ vor. Bereits in der Prämisse des Papiers wurde die Bedeutsamkeit der Entscheidung über das Erteilen oder Verweigern der Druckgenehmigung in internationale (!) Kontexte gestellt: „Ausgehend von der Verantwortung, die eine Entscheidung über die Herausgabe des Wt. zum heutigen Zeitpunkt in der gegenwärtigen internationalen Situation bedeutet [sic], sind drei Varianten durchdacht worden: 1. Nichterscheinen 2. Erscheinen, begleitet von kritischen Rezensionen in ausgewählten Organen 3. Erscheinen bei totaler Ignorierung in der Öffentlichkeit und evtl. begrenzter Zahl Über diese Varianten müßte möglichst im April abschließend beraten und entschieden werden.“ 62

Das Papier machte darauf aufmerksam, dass letzte Korrekturen vom Autor und vom Verlag am 16. April in der Druckerei eingehen könnten und in diesem Fall die Möglichkeit bestände, das Imprimatur bis zum 25. April zu erteilen. Der Leiter der Druckerei sollte den Andruck aber erst veranlassen, wenn eine Nachricht von den „verantwortlichen Genossen des Ministeriums für Kultur“ einginge. 63 Die Konsequenzen bei Nichterscheinen des Buches wurden von Hager als problematischer eingeschätzt als jene „Auswirkungen bei Erscheinen des Buches“. Eine Verweigerung der Druckgenehmigung zöge den „Bruch zwischen dem Autor und uns“ nach sich und es sei nicht auszuschließen, dass Strittmatter durch die „Massenmedien des Gegners benutzbar würde“. Eine Entscheidung gegen den Text stieße im Kreis der Schriftsteller wie auch anderer Künstler auf Unverständnis, in der Akademie der Künste entstände eine „komplizierte Lage“ und es müsse damit gerechnet werden, dass der Präsident des Schriftstellerverbandes, Hermann Kant, Abteilung Kultur: Überlegungen zum Erscheinen bzw. Nichterscheinen des Wt., 18.04.1980. In: BArch, DY 30/IV B2/2.024/98 (Büro Hager), S. 1. 63 Ebd. 62

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„sein Amt zur Verfügung stellt“. Auch in der Öffentlichkeit – vor allem der Intelligenz, der studentischen Jugend, der allgemeinen Leserschaft – entstünden „Fragen größeren Ausmaßes“. Zu vermuten sei eine einsetzende „gegnerische Propaganda“, die eine solche Entscheidung „als Beweis für die ‚Verhärtung‘ unserer Kulturpolitik ausschlachten“. 64 Insofern maß der Parteiapparat dem literarischen Text ein erhöhtes Störpotential zu. Bei einer Abwägung der Folgen kam für das Büro Hager aber letztlich nichts Anderes in Frage, als die Druckgenehmigung zu erteilen und in diesem Fall das Erscheinen durch entsprechende Rezensionen zu ‚begleiten‘. „Am sinnvollsten erscheint es“, so der Vorschlag, „anläßlich der Herausgabe des Buches eine gründliche kritische Rezension im ND zu veröffentlichen, z. B. von Genossen Dr. Kähler, um die Partei und die Öffentlichkeit politisch zu orientieren.“ 65 Die Überlegungen in der von Kurt Hager geleiteten Abteilung Kultur des ZK der SED machen deutlich, dass in Teilen der SED längst Klarheit darüber bestand, in welchem Umfang der ‚Kommunikationsraum DDR‘ aufgebrochen war und sich in Richtung Westen geöffnet hatte. Dieser Prozess hatte schon am Ende der 1960er Jahre eingesetzt und bekam in Folge der Ausbürgerung von Wolf Biermann im Jahre 1976 eine erhöhte Dynamik. Die von der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik sensibel registrierten Störungen der Normalität wirkten wiederum in die DDR zurück, sie erweiterten die Spielräume der Autoren und führten – so kann man sagen – langfristig zu einer Zerstörung des Systemzustands. Obwohl also Hager längst die Notwendigkeit der Erteilung einer Druckgenehmigung einsah, zog sich die Entscheidung weiter hin. Stattdessen gab es am 12. Juli 1979 ein erneutes Gespräch mit Strittmatter. Hager fertigte einen Tag nach der Verständigung am 13. Juli 1979 ein Gedächtnisprotokoll an, das auf immerhin neun Seiten den Verlauf wie die Ergebnisse der Zusammenkunft protokollierte. Einmal mehr ging es um die Risse-Geschichte, die Strittmatter unbedingt abschwächen sollte: „Vor allen Dingen ging es um die sogenannte Risse-Geschichte, die sich von Seite 318 bis zum Schluß des Buches durchzieht und wie gekannt die Folgen einer Vergewaltigung der Tochter Risses durch Sowjetsoldaten darstellt. Zum anderen ging es um eine bestimmte ironisierende Betrachtungs- und Darstellungsweise der Partei, vor allem um nicht zulässige Bemerkungen über den Friedenskampf der Partei. Selbst bei äußerst weitherziger Einstellung könne man an diesen Seiten des Buches nicht vorbeigehen.“ 66

Fasst man die Ergebnisse des Gesprächs zusammen, dann bleibt festzuhalten, dass Hager erfolgreich auf Strittmatter einwirkte und ihn letztlich zu Veränderungen veranlasste. Das aufstörende Potential der Risse-Geschichte war Schritt für Schritt – inhaltlich wie formal – in den verschiedenen Korrekturfassungen abgedämmt worden. In der Endfassung findet sich im 32. Kapitel nur noch ein Bruchstück der ursprünglichen Geschichte:

Ebd., S. 2 f. Ebd., S. 3. 66 Hager, Kurt: Gedächtnisprotokoll über das Gespräch mit Genossen Strittmatter am 12.07.1979. 13. Juli 1979. In: BArch, DY 30/IV B2/2.024/98 (Büro Hager), S. 1. 64 65

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„Bevor Büdner auf das einging, was nicht ungeschehen gemacht werden konnte, beschrieb er verständnisvoll die Umstände, die das Begehren der Sowjetsoldaten hervorgebracht hatten, ihren Haß auf die Deutschen, die ihnen die Heimatdörfer zur Trümmerwüste gemachte hatten, den langen Feldzug ohne Urlaub, schließlich die Sieges- und die Sinnenfreude. Gewiß war jeder von den drei Jungsoldaten in seinem Heimatdorf ein zwar wilder, aber doch lieber Junge gewesen, und eigentlich hatten sie der Risse-Tochter nur angetragen, was Burschen den Mädchen auf den Dörfern nach jeder Tanzmusik antragen, und die Risse-Emma hatte sich wohl auch nur gewehrt, weils ihr von drei Burschen zugleich und so brünstig in fremdländisch angetragen wurde, doch ihre Widersetzlichkeit hatte die tierische Lust der Burschen gesteigert, hatte sie zu Böcken werden lassen, die einander ein Weibstier zutrieben. Schuldlose brachten eine Schuldlose um! Menschlich war die Handlung knapp zu verstehen, politisch wurde sie vielleicht einerseits zum Triumph der Arier und andererseits zum Anlaß eines Vorwurfs gemacht: Leute, die auszogen Verbrecher zu bestrafen, wurden selbst zu Verbrechern und säten neue Zwietracht.“ 67

Was Strittmatters Figur hier von der Geschichte preisgibt, das läuft in dieser Form fast schon auf eine Rechtfertigung der Vergewaltigung hinaus. Und die nachfolgende Äußerung von Friede verstärkt diesen Eindruck noch: „Friede hob die Hand: ‚Mir scheint, es is zuwenig gesagt ieber Schuld, Siehne und Widerschuld; die sind nämlich vequickt und verstrickt wie ein Wollfanden in am lanagen Strumpf, zwee rechts, zwee links. Die Geschichte is zu kleene.‘“ 68

Erwin Strittmatter konnte, so lässt sich resümieren, dem über Monate ausgeübten Druck nicht standhalten, und hatte um den Preis des Nichterscheinens am Manuskript Veränderungen vorgenommen, die seiner ursprünglichen Absicht zuwider liefen. Allem Anschein nach sahen die politischen Instanzen in der DDR aber immer noch hinreichend „Sprengstoff“ in dem Roman. So schreibt Strittmatter am 11. Dezember in sein Tagebuch: „Das wurde mir übermittelt: Es ist eine Schande, daß wir dieses Scheiß-Buch (WUNDERTÄTER III) drucken müssen, sagte mein ehemaliges Freundchen Professor Doktor Hänschenklein vor Literaturwissenschaftlern.“ 69

Mit der Erteilung der Druckgenehmigung am 28. August 1979 war die Geschichte um den Roman allerdings keineswegs beendet. Vielmehr setzte eine weitere Stufe der Auseinandersetzung mit dem „Wundertäter III“ ein, die sich nunmehr auf Fragen der möglichen Wirkung in der DDR und den Umgang mit dem Text richtete. Da die Erstauflage in dem Plan für 1980 mit immerhin 60.000 Exemplaren ausgewiesen war, erschien es den Instanzen von Partei- und Staatsapparat dringlich, nunmehr die Rezeption des Textes literaturkritisch zu ‚begleiten‘ und entsprechende Rezensionen in den wichtigsten Publikationsorganen zu planen. Strittmatter, Erwin: Der Wundertäter. Dritter Band. Berlin/Weimar: Aufbau 1980, S. 334. Ebd. 69 Strittmatter, Die Lage in den Lüften. 1990, S. 201. 67 68

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Wie weit höchste Instanzen von Partei und Staat gingen, um mögliche aufstörende Folgen des „Wundertäter“ zu verhindern, lässt sich an einem persönlichen Schreiben ablesen, das Kurt Hager kurz vor der Auslieferung des Romans an Erich Honecker schickte. Der Brief sei vollständig wiedergegeben: „Lieber Erich Anbei einige Anmerkungen zu Strittmatters Buch. Bei der Lage der Dinge bleibt m. E. keine andere Wahl als in den sauren Apfel zu beißen, also Variante 2 zu akzeptieren (‚Erscheinen‘ begleitet von kritischen Rezensionen im ND, [unleserlich], NDL, Sonntag) Von der bereits dem Autor bekannten 1. Auflage von 60 Tausend Exemplaren wäre ein ‚Abkauf‘ von 20 000 Exemplaren möglich ohne dass es auffallen würde. Weitere Maßnahmen zur unauffälligen Reduzierung der Wirkung des Buches halte ich für möglich. Ich bitte dich um Mitteilung ob Du mit diesem Vorgehen einverstanden bist. Kurt Hager“. 70

Erich Honecker markierte mit dicker Unterstreichung die Variante 2 und notierte: „Einverstanden E. Honecker 24.4.80“. 71 8. Ausgehend von einer Diskussion des Begriffs ‚Störung‘ bestand das Ziel darin, die Kategorie genauer zu bestimmen. Dabei wurde insbesondere auf Überlegungen zur Irritation bzw. Störung aufgebaut, wie sie Niklas Luhmann in seiner Systemtheorie entwickelt hat. Schließlich sollte an Christa Wolfs „Störfall“ und Erwin Strittmatters „Wundertäter III“ gezeigt werden, in welcher Weise die Kategorie ‚Störung‘ sich für den Einsatz in den Geisteswissenschaften eignet und es möglich macht, Entwicklungen bzw. Wandlungen im Handlungs- und Symbolsystem Literatur zu fassen. Die Tatsache, dass in diesem Fall auf Beispiele aus dem Literatur- und Gesellschaftssystem der DDR abgehoben wurde, bedeutet keineswegs, dass literarische Texte einzig in ‚geschlossenen Gesellschaften‘ in der Lage sind, Störungen auszulösen. Das derzeit konzipierte Vorhaben wird entsprechend auf Entwicklungen in Ost und West nach 1945 ausgerichtet sein. 72

Hager, Kurt: Brief an Erich Honecker, 24.04.1980. In: BArch, DY/IV B2/2.024 Ebd. 72 Siehe dazu auch den Beitrag von Norman Ächtler in diesem Band. 70 71

Norman Ächtler

‚Entstörung‘ und Dispositiv – Diskursanalytische Überlegungen zum Darstellungstabu von Kriegsverbrechen im Literatursystem der frühen Bundesrepublik.

1. In Bezug auf Phänomene der Kategorie ‚Störung‘ zeichnet sich in den Geistes- und Sozialwissenschaften seit einiger Zeit eine Perspektivenverschiebung ab. Diese besteht darin, dass Störungen nicht mehr so sehr als ein destruktives Element (technischer) Kommunikation gewertet, auf ihre Ursachen bzw. Quellen und hinsichtlich der Möglichkeiten ihrer Behebung untersucht werden, wie es das Anliegen der kybernetischen Tradition seit Shannon und Weaver 1 über Michel Serres 2 bis hin zu Friedrich Kittler 3 gewesen war. Vielmehr geraten derartige Phänomene inzwischen verstärkt als Impulsgeneratoren für die „Entstehung neuer Ordnung“ 4 , insbesondere für evolutive Prozesse semiologischer, kommunikativer oder epistemologischer Art in den Blick. Neben neueren Ansätzen der Medien- 5 wie der Kommunikationstheorie 6 hat die Sys Vgl. dazu Schüttpelz, Erhard: Eine Ikonographie der Störung. Shannons Flußdiagramm der Kommunikation in ihrem kybernetischen Verlauf. In: Transkribieren – Medien/Lektüre. Hrsg. von Ludwig Jäger/Georg Stanizek. München: Fink 2002, S. 233 – 280. 2 Vgl. Serres, Michel: Der Parasit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987 [frz. EA 1980]. 3 Vgl. Kittler, Friedrich: Signal-Rausch-Abstand. In: Materialität der Kommunikation. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 342 – 359. 4 Kümmel, Albrecht/Schüttpelz, Erhard: Medientheorie der Störung/Störungstheorie der Medien. Eine Fibel. In: Signale der Störung. Hrsg. von Albert Kümmel/Erhard Schüttpelz. München: Fink 2003, S. 9 – 13, hier: S. 9. 5 Für eine Medientheorie, die Störungen als Modus untersuchen, in dem die medialen Voraussetzungen von (technischer) Kommunikation sichtbar werden, vgl. neben Kümmel/Schüttpelz, Signale. 2003 auch Rautzenberg, Markus: Die Gegenwendigkeit der Störung. Aspekte einer postmetaphysischen Präsenztheorie. Zürich/Berlin: diaphanes 2009; Geimer, Peter: Was ist kein Bild? Zur „Störung der Verweisung“. In: Ordnungen der Sichtbarkeit: Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie. Hrsg. von Peter Geimer. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 313 – 341; Schneider, Birgit: Interferenzen technischer Bilder zwischen Ästhetik und Störung. In: Störungen. Medien – Prozesse – Körper. Hrsg. von Julia Fleischhack/Kathrin Rottmann. Berlin: Reimer 2011, S. 125 – 139. 6 Vgl. insbesondere die Untersuchungen von Ludwig Jäger (u. a. Störung und Transparenz.

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Norman Ächtler

temtheorie mittlerweile ein fundiertes Beschreibungsmodell für ‚produktive Störungen‘ elaboriert. Dieses Modell geht von Niklas Luhmanns Begriff der ‚Irritation‘ oder ‚Perturbation‘/‚Störung‘, verstanden als ein konstruktives Prinzip systemischer Autopoiesis, aus. 7 Während Luhmann selbst das Prinzip der Irritation eher peripher abhandelt, hat Carsten Gansel dies von Seiten der systemtheoretisch orientierten Literatur- und Kulturwissenschaft an unterschiedlichen Gegenständen als ein zentrales Element der Herstellung, Aushandlung und Aneignung von Wirklichkeit durch Individuen wie gesellschaftliche Entitäten herausgestellt. 8 Gegenüber Gansels Erweiterung der kommunikations- und systemtheoretischen Basis des ‚Prinzips Störung‘ insbesondere um evolutionspsychologische und neurophysiologische Gesichtspunkte 9 zielt der vorliegende Beitrag auf eine Ergänzung durch eine diskurstheoretische Perspektive. Davon ausgehend, soll ein Aspekt des ‚Prinzips Störung‘ vertieft werden, der ebenfalls bei Luhmann angedacht ist, aber einer genaueren konzeptuellen Ausfächerung bedarf. Es geht um die Korrelation von sozialem System und Kultur bzw. Literatur. Die Wechselbeziehung von Gesellschaft und Kultur wird im Folgenden allgemein als ein Verhältnis von Kommunikationsbegrenzung und Kommunikation entgrenzendem – und damit latent störungsaffinem – Potenzial bestimmt. Demgegenüber handelt es sich bei Literatur um eines jener medialen Subsysteme, deren Funktionalität in der „ständigen Erzeugung und Bearbeitung von Irritation“ und damit „im Dirigieren der Selbstbeobachtung des Gesellschaftssystems“ besteht. 10 Literatur erfüllt diese Funktion, indem sie neue Themen aus dem potentiell subversiven kulturellen Reservoir schöpft, reizverstärkend gestaltet und als Kommunikationsofferten öffentlich macht. Gesellschaftssysteme wiederum können in unterschiedlicher Weise auf solche literarisch-kulturellen Irritationsimpulse ‚entstörend‘ reagieren, etwa in Form von repressiven, neutralisierenden oder positiven Anschlusskommunikationen. Skizze zur performativen Logik des Medialen. In: Performativität und Medialität. Hrsg. von Sybille Krämer. München: Fink 2004, S. 35 – 73; Verstehen und Störung. Skizze zu den Voraussetzungen einer linguistischen Hermeneutik. In: Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens. Hrsg. von Fritz Hermanns. Tübingen: Niemeyer 2007, S. 25 – 42). 7 Zum Begriff der ‚Irritation‘ bei Luhmann vgl. den Beitrag von Gerhard Preyer in diesem Band. 8 Vgl. neben dem Beitrag im vorliegenden Band z. B. Gansel, Carsten: Archivöffnungen als Aufstörung. Literatur aus der DDR als Irritation für die Literaturgeschichtsschreibung und das kulturelle Gedächtnis. In: SICHTUNGEN: Archiv. Bibliothek. Literaturwissenschaft 10/11, 2009, S. 139 – 162; Ders.: Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Störung – Adoleszenz und Literatur. In: Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung: Bilder von Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur. Hrsg. von Carsten Gansel/Pawel Zimniak. Heidelberg: Winter 2011, S. 15 – 48; Ders.: Aufstörung und Denormalisierung als Prinzip? Zu aktuellen Entwicklungen zwischen KJL und Allgemeinliteratur. In: Zwischen didaktischem Auftrag und grenzüberschreitender Aufstörung? Zu aktuellen Entwicklungen in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von Carsten Gansel/Pawel Zimniak. Heidelberg: Winter 2011, S. 13 – 36. 9 Vgl. bes. Gansel, Zwischenzeit. 2011, S. 44 – 48. 10 Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. Wiesbaden: VS 42009, S. 118/119.

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In diesem Zusammenhang ergeben sich einige signifikante Analogien zu aktuellen Fragestellungen der diskursanalytisch argumentierenden Kulturwissenschaft. So unterschiedlich die theoretischen Prämissen auch sein mögen, in Bezug auf die soziale Bedeutung von Kultur bzw. Literatur gibt es deutliche Berührungspunkte zwischen diskurs- und systemtheoretischen Ansätzen. Mehr noch, das ‚Prinzip Störung‘ markiert eine Schnittstelle, an der es zu produktiven Synergien beider Forschungsrichtungen kommen kann. Diese Schnittstelle soll im Folgenden näher beleuchtet werden. 2. Der Prozess der (Selbst)Irritation von Gesellschaften durch das Subsystem Literatur wird an einem konkreten Beispiel aus der jüngeren deutschen Literaturgeschichte zu illustrieren sein, dem Umgang mit dem Tabu der Darstellung von Kriegsverbrechen im Literatursystem der frühen Bundesrepublik. Hierzu einige Anmerkungen und Überlegungen vorweg: Zu den literaturgeschichtlichen Allgemeinplätzen über die westdeutsche Literatur der frühen Nachkriegszeit gehört der Befund, sie habe sich gar nicht oder, wenn überhaupt, nicht angemessen mit den nationalsozialistischen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg auseinandergesetzt. Fritz J. Raddatz hat diese Kritik in seinem bekannten Verdikt aus dem Almanach der Gruppe 47 bereits 1962 vorweg genommen: „Die wichtigen Autoren Nachkriegsdeutschlands haben sich allenfalls mit dem Alp der Knobelbecher und Spieße beschäftigt.“ 11 Mit Blick auf die Kriegsliteratur resümierte der Autor und Kritiker Peter Jokostra im Gedenkjahr 1975 entsprechend: „Der Kriegsroman wurde als suspekt deklariert, es wurde nicht mehr nach ihm gefragt. Das Thema wurde tabu, ehe auch nur eine Schmutzecke der deutschen Vergangenheit ausgeräumt werden konnte.“ 12 Diese Feststellungen treffen insofern zu als in der Tat „die Säle voll Haar und Zähnen in Auschwitz“ 13 ebenso wenig literarisch verarbeitet worden waren wie das spätestens mit den beiden Wehrmachts-Ausstellungen der 1990er Jahre 14 öffentlich voll zutage tretende Ausmaß des militärischen Beitrags zu den genozidalen Verbrechen in Osteuropa. Was sich, eingedenk dieses Sachverhalts, empirisch jedoch widerlegen lässt, sind Behauptungen, wonach die Vernichtungsdimension der Kriegführung im Osten in den Kriegsromanen vor 1960 gänzlich verschwiegen worden sei. Dagegen stehen zahlreiche Texte, in denen Verbrechen gegen Kriegsgefangene und die russische Zivilbevölkerung Raddatz, Fritz J.: Die ausgehaltene Realität. In: Almanach der Gruppe 47 (1947–1962). Hrsg. von Hans Werner Richter. Reinbek: Rowohlt 1962, S. 52 – 59, hier: S. 55. 12 Jokostra, Peter: Dreißig Jahre nach dem Ende. Der Zweite Weltkrieg in der deutschen Prosa. In: Dokumente. Zeitschrift für übernationale Zusammenarbeit 31, 1975, S. 107 – 111, hier: S. 110. 13 Raddatz, Realität. 1962, S. 55. 14 Vgl. Heer, Hannes/Naumann, Klaus (Hgg.): Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944. Hamburg: Hamburger Edition 1995. 11

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sowie gegen Juden wohl nur eine nebensächliche Rolle spielen, als Erfahrungsdimension der deutschen Soldaten aber präsent gehalten werden. 15 Im Rahmen des vorliegenden Beitrags werden drei herausragende Textbeispiele vorgestellt: die Kriegsromane von Heinrich Böll und Erich Maria Remarque, „Wo warst du, Adam?“ (1951) bzw. „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“ (1954), sowie der Bestseller „Am grünen Strand der Spree“ von Hans Scholz (1955). Vorwürfe, wie sie von Seiten der Literaturwissenschaft erhoben wurden, 16 können auf den großen zeitlichen Abstand, mangelnde Textkenntnisse und nicht zuletzt auf ideologiekritische Aufmerksamkeitsdefizite zurückgeführt werden. Letztere mögen ebenso in der Argumentationsführung von zeitgenössischen Kritikern wie Raddatz und Jokostra oder auch Reinhard Baumgart 17 eine gewichtige Rolle gespielt haben. Es nimmt trotzdem Wunder, dass selbst diesen relativ zeitnah zurückblickenden, literarisch versierten Zeitzeugen offenbar nicht mehr vor Augen stand, dass und in welchem Umfang die Kriegsliteratur Verbrechen der Deutschen reflektiert hatte. Die Ursachen für diese Diskrepanz zwischen literarischem Kommunikationsangebot und öffentlicher (Nicht)Wahrnehmung sind gewiss nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. In erster Linie hängt die Verdrängung mit dem spezifischen Opferdiskurs jener Jahre zusammen, an dem der überwiegende Anteil der Kriegsromane partizipierte. Dieser Diskurs konzentrierte sich weitgehend auf die Figur des Soldaten als Leidtragenden von Krieg und Gewaltherrschaft. Andere Opfergruppen wurden durch den Fokus der Autoren auf das Schicksal der eigenen Erfahrungsgemeinschaft perspektivisch an den Rand der Aufmerksamkeit abgedrängt. 18 Ein anderer, damit zusammenhängender Grund, so die hier vertretene These, war bereits in den endogenen Strukturen des Literatur- bzw. Kultursystems angelegt sowie in jenem spezifischen Wechselverhältnis zwischen Literatur und Gesellschaft, das nachfolgend genauer beschrieben werden soll. Auf der Grundlage des hier verfolgten störungstheoretischen Ansatzes lässt sich die These zuspitzen: Zahlreiche Autoren thematisierten in ihren Texten zwar Kriegsverbrechen; insofern erfüllen die Werke bis zu einem gewissen Grad die soziale Beobachterfunktion, die die Systemtheorie ihnen im Sinn eines Die folgenden Aussagen basieren auf der Auswertung von über vierzig Kriegsromanen und einigen literarisierten Kriegstagebüchern, die ich im Rahmen meiner Dissertation vorgenommen habe (vgl. Ächtler, Norman: Generation in Kesseln. Das Soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 1945 – 1960. Göttingen: Wallstein 2013). 16 Vgl. z. B. Pfeifer, Jochen: Der deutsche Kriegsroman 1945–1960. Ein Versuch zur Vermittlung von Literatur und Sozialgeschichte. Königstein/Ts.: Scriptor 1981; Bance, Alan: The Brutalization of Warfare on the Eastern Front: History and Fiction. In: The Second World War in Literature. Hrsg. von Ian Higgins. Edinburgh/London: Scottish Academic Press 1986, S. 97 – 114; Briegleb, Klaus: „Neuanfang“ in der westdeutschen Nachkriegsliteratur – Die Gruppe 47 in den Jahren 1947–1951. In: Bestandsaufnahme – Studien zur Gruppe 47. Hrsg. von Stephan Braese. Berlin: Schmidt 1999, S. 35 – 63. 17 Vgl. Baumgart, Reinhard: Unmenschlichkeit beschreiben: Weltkrieg und Faschismus in der Literatur. In: Merkur 19, 1965, S. 37 – 50. 18 Vgl. dazu ausführlich Ächtler, Generation. 2013. 15

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„Sichtbarmachen[s] des Unsichtbaren“ 19 zuschreibt. Die verschiedenen Handlungsebenen des Literatursystems der frühen Bundesrepublik, insbesondere die an der Grenze zwischen Literatur und Öffentlichkeit angesiedelte Literaturkritik, überblendeten diese heiklen Aufdeckungen aber durch verschiedene entstörende Anschlusskommunikationen, die sich wie „Filter“ 20 über die Textinhalte legten, bevor sie diese für weitere Anschlusskommunikationen ‚freigaben‘. Im Anschluss an die folgenden theoretischen Ausführungen stellt der Anwendungsteil am Beispiel der drei Romane von Böll, Remarque und Scholz die inkriminierenden Inhalte der Kriegsromane vor und zeigt anhand der von diesen Texten jeweils ausgelösten kommunikativen Abwehrmechanismen des Literatursystems, wie ein wichtiges soziales Subsystem der bundesrepublikanischen Gesellschaft mit derartigen Irritationen entstörend umzugehen verstand. Präferierte Lesarten, Selbstzensur, öffentliches Verschweigen oder kritische Verrisse trugen sicherlich in erheblichem Maße dazu bei, dass unerwünschte, ‚störende‘ Facetten der Kriegsromane – und das heißt: unerwünschte Aspekte der jüngsten deutschen Vergangenheit – zugunsten eines „stabilen Gesellschaftszustands“ 21 einer kollektiven Ignoranz und mittelfristig dem kulturellen Vergessen anheimfielen. 3. Zwei wichtige Anregungen hat die Literaturwissenschaft von der Systemtheorie aufgenommen, die auch diskursanalytische Konzepte im Zusammenhang mit den Kategorien ‚Dispositiv‘ und ‚Interdiskurs‘ berühren. 22 Gemeint ist zunächst die Erweiterung des Literatur-Begriffs um seine sozial- und handlungspraktische Dimension. Es gilt mittlerweile als Konsens, dass ein stark textzentrierter Literaturbegriff zu kurz greift. Stattdessen herrscht nunmehr ein Verständnis vor, das Literatur als ein Symbol- und Handlungssystem begreift. Demnach sind die literarischen Artefakte eingebettet in den erweiterten Kontext eines Sozialsystems, das durch verschiedene Handlungsrollen bzw. ‚Aktanten‘ strukturiert ist – Individuen, Berufsgruppen, Institutionen, die den Bereichen der Produktion, Vermittlung, Rezeption und Verarbeitung von Literatur zuzuordnen sind. 23 Aus dem kommunikativen Handeln dieser systemischen Aktanten ergeben sich dann die jeweils in einem gegebenen kommunikativen Kontext dominanten Codes, die die Selektion der operativen Konstituenten des Systems steuern (Binärcodes wie schön/ Luhmann, Niklas: Schriften zur Kunst und Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 201. Vgl. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 588. 21 Vgl. ebd., S. 498. 22 Die systemtheoretischen Überlegungen zum Thema habe ich ausführlicher dargelegt im Aufsatz Ächtler, Norman: Forciertes Vergessen. Eine systemtheoretische Perspektive auf das Darstellungstabu von Kriegsverbrechen im westdeutschen Literatursystem der 1950er Jahre. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 58, 2011, H. 4, S. 399 – 412. Hier soll es primär um die diskursanalytische Erweiterung bzw. Ergänzung des Modells mit Blick auf denselben Untersuchungsgegenstand gehen. 23 Vgl. Schmidt, Siegfried J.: Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft. Frankfurt/M. 1991.

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hässlich, interessant/langweilig, darstellbar/nichtdarstellbar o.ä.) und die der referentiellen Unterscheidung zwischen System (Literatur) und Umwelt (Nicht-Literatur) zugrunde liegen. 24 Eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Literaturwissenschaft wird ihr Augenmerk u. a. auf diese Selektionskriterien richten und danach fragen, welche Relevanz sie für die jeweiligen Aktanten der literarischen Kommunikation haben. So ist für die Leitcodes des Literatur- und Kunstsystems zunächst davon auszugehen, dass sie auf den verschiedenen Ebenen der Handlungsrollen unterschiedlich zu tragen kommen können. Insbesondere die Ebene der individuellen Operationen des Autors ist hier von den anderen Ebenen abzuheben. 25 Da Gesellschaft und Literatursystem als eine hierarchische Beziehung von System und Subsystem zu denken sind, 26 müssen vor allem aber auch die Einflüsse des jeweils übergeordneten Sozialsystems und seiner Selektionsvorgaben auf die literarische Kommunikation in Betracht gezogen werden. 27 Zwar handelt es sich bei Kommunikation um einen grundsätzlich endlosen, offenen Prozess der Informationsgenerierung und -vermittlung, ein soziales System wird jedoch durchaus „eigene Grenzen entwickeln und sich daran halten, weil die Zumutbarkeit der Kommunikation im System eingeschränkt werden kann.“ 28 Angesichts der Theorie der funktionalen Differenzierung gehören Fragen nach hierarchischen oder gar Machtstrukturen bei Niklas Luhmann zu den nebengeordneten Gegenständen. Demgegenüber bildet Macht eine der zentralen Kategorien in Michel Foucaults Denken – und dies gerade auch im Zusammenhang mit jenen mehr oder weniger geschlossenen kommunikativen Formationen der Wissensvermittlung, die im Zentrum der Diskursanalyse stehen. 29 Es ist der gesellschaftliche Diskurs, „worum und womit man kämpft; er ist die Macht, deren man sich zu bemächtigen sucht“, so Foucault. Hierzu werde „die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und

Vgl. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 301 – 318; Plumpe, Gerhard/Werber, Niels: Literatur ist codierbar. Aspekte einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft. In: Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven. Hrsg. von Siegfried J. Schmidt. Opladen: Westdeutscher Verlag 1993 S. 9 – 43. 25 Vgl. Esposito, Elena: Code und Form. In: Systemtheorie und Literatur. Hrsg. von Jürgen Fohrmann/Harro Müller. München: Fink 1996, S. 56–81, hier: S. 61/62. 26 Vgl. Ort, Claus-Michael: Sozialsystem ‚Literatur‘ – Symbolsystem ‚Literatur‘. Anmerkungen zu einer wissenssoziologischen Theorieoption für die Literaturwissenschaft. In: Schmidt, Literaturwissenschaft. 1993, S. 269 – 294, hier: S. 278. 27 Vgl. Luhmann, Gesellschaft. 1998, S. 603/604. 28 Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987, S. 200. 29 Zum Zusammenhang von Diskurs, Wissen und Macht vgl. Jäger, Siegfried: Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse. In: Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse Bd. 1: Theorien und Methoden. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Hrsg. von Reiner Keller u. a. Wiesbaden: VS 2006, S. 82 – 114. 24

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kanalisiert.“ 30 Ähnlich wie für Luhmann vollzieht sich dieser Ermächtigungsprozess aufgrund von Differenzialcodes; Foucault spricht von „Prozeduren der Ausschließung“ bzw. von „Grenzziehungen“. 31 Zu diesen „Ausschließungssystemen“ gehört u. a. auch die Entscheidungsgewalt über Zulassung oder Verbot von Diskursbeiträgen. 32 Bei Foucault schlägt sich die Aushandlung der Möglichkeitsbedingungen und Grenzen sozialer kommunikativer Interaktion auch explizit auf einer Handlungsebene nieder. In diesem Zusammenhang hat er den Begriff des ‚Dispositivs‘ geprägt. Dieser ist insoweit an die genannten handlungstheoretischen Überlegungen anschlussfähig, als er kommunikative Prozesse und aktantielle Konstellationen miteinander verschränkt. Unter einem Dispositiv versteht Foucault allgemein eine synergetische Formation aus strategisch manipulierten „Kräfteverhältnissen“ diskursiver (z. B. wissenschaftliche, philosophische, juristische Aussagekomplexe) und nicht-diskursiver Art (z. B. Institutionen, administrative Maßnahmen, Rituale), „die Typen von Wissen stützen und von diesen gestützt werden.“ 33 Jürgen Link hat im Anschluss an Foucault herausgearbeitet, auf welche Weise solche Wissensdispositive gesellschaftliche Macht ausstrahlen bzw. von gesellschaftlichen Kräften zur Machtausübung (aus)genutzt werden können. Demnach erweisen sich Dispositive in Bezug auf die sozialen Individuen von enorm subjektkonstituierendem und -formierendem Einfluss. 34 Dispositive sind als intentionale Beziehungsnetze zwischen den heterogenen Spezialdiskursen bestimmter gesellschaftlicher Teilsysteme (z. B. Wissenschaft, Justiz, Ökonomie), diskursiven Praktiken (z. B. mediale Kommunikation, Öffentlichkeitsarbeit, Lehrgänge) und sozialen Handlungen (Erziehungspraktiken, Sanktionen) zu verstehen. Diese entwickeln sich aus den Überschneidungen jener Strategien, die die Eliten von Gesellschaftssystemen zur Erhaltung und Legitimierung ihrer Monopole der Macht und des Wissens im Zusammenhang mit bestimmten sozialen Diskursfeldern (z. B. Sexualität, Bildung) ersinnen. 35 Dispositive wirken also

Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt/M.: Fischer 92003, S. 11. Vgl. ebd., S. 16. 32 Vgl. Link, Jürgen/Link-Heer, Ursula: Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse. In: LiLi 77, 1990, S. 88 – 99, hier: S. 90; vgl. Foucault, Ordnung des Diskurses. 2003, S. 16. 33 Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve 1978, S. 123. Oder, wie Siegfried Jäger präzisiert: „Ein Dispositiv ist der prozessierende Zusammenhang von Wissen, welches in Sprechen/Denken – Tun – Vergegenständlichung eingeschlossen ist“ ( Jäger, Diskurs. 2006, S. 108); vgl. auch Ders.: Dispositiv. In: Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken. Hrsg. von Marcus S. Kleiner. Frankfurt/M./ New York: Campus 2001, S. 72 – 89, hier: 76. 34 Link, Diskursanalyse. 2006, S. 419. 35 Vgl. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus: Wie Normalität produziert wird. 3., ergänzte, überarbeitete und neu gestaltete Ausgabe. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006; Ders. u. a. (Hgg.): ‚Normalität‘ im Diskursnetz soziologischer Begriffe. Heidelberg: Synchron 2003. 30 31

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„transversal“, 36 indem sie zu einem bestimmten Zweck Verbindungen zwischen sozialen Teilsystemen stiften. Als zentrales, soziale Kohäsion fundierendes Dispositiv hat Link das Prinzip des ‚Normalismus‘ herausgearbeitet. Es geht dabei um die kollektive Konsensfindung darüber, was innerhalb eines Gemeinwesens als ‚normal‘ anerkannt und integriert oder für ‚abnormal‘ befunden und ausgeschlossen wird. Dieser diskursive Prozess der Selbstverortung und Selbstdefinition wird in modernen Gesellschaften seit jeher von statistischen Dispositiven getragen, die auf Verteilungstheorien (Spezialdiskurse) gründen, fortwährende Datenerhebungen (soziale Handlung) zur Folge haben und sich in einer medienwirksamen Kurvenikonographie (diskursive Praktik) und ggf. in Anordnungen des Gesetzgebers (soziale Folgehandlung) niederschlagen. 37 Dispositive setzen, in den Spezialdiskursen, „Sagbarkeits- und Wissbarkeitsgrenzen mit Machteffekten“ und bringen „monopolistische Sprecher (Experten)“ mit einer primären, „disponierenden“ Definitionshoheit über diese Grenzen hervor. In Bezug auf die gesellschaftliche Mehrheit der „Laien“ sind sie deshalb von „subjektbildender Effektivität“, weil diese zu bewusst oder unbewusst ablaufenden Passungsleistungen – Anschlusskommunikationen, Verhaltensweisen, Mentalitäten usw. – genötigt sind, wollen sie ihre Chancen auf soziale Partizipation nicht gefährden. 38 Wenn deshalb gilt, dass diskursive Formationen auf diese Art die an ihnen beteiligten und sie kommunikativ vorantreibenden Subjekte selbst hervorbringen, 39 dann ist das systemtheoretische Prinzip der Autopoiesis mithilfe der diskursanalytischen Kategorie des Dispositivs zumindest mit Blick auf soziale Systeme schlüssig um seine Handlungsebene ergänzt. Vor allem aber sind im Dispositiv alle jene Mechanismen zusammengedacht, die auf den verschiedenen Strukturebenen eines sozialen Systems anlaufen, wenn es eine ‚Störung‘ registriert. Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 22012, S. 49. 37 Vgl. Link, Normalismus. 2006; Link u. a., ‚Normalität‘. 2003. 38 Vgl. Link, Jürgen: Dispositiv und Interdiskurs: Mit Überlegungen zum ‚Dreieck‘ Foucault – Bourdieu – Luhmann. In: Foucault in den Kulturwissenschaften: Eine Bestandsaufnahme. Hrsg. von Clemens Kammler/Rolf Parr. Heidelberg: Synchron 2007, S. 219 – 238, Zitate: S. 223, 233/234; vgl. Ders.: Diskursanalyse unter besonderer Berücksichtigung von Interdiskurs und Kollektivsymbolik. In: Keller u. a., Handbuch. 2006, S. 407 – 430, hier: S. 418/419. 39 Vgl. Agamben, Giorgio: Was ist ein Dispositiv? Zürich/Berlin: Diaphanes 2008, S. 23/24. Während es Foucault um eine Geschichte des Subjekts in seinen soziokulturellen Rahmenbedingungen geht, betont Agamben in seinem Essay die repressive und zunehmend desubjektivierende Funktion sozialtechnologischer Dispositive. Er definiert diese als „Gesamtheit von Praxen, Kenntnissen, Maßnahmen und Institutionen, deren Ziel es ist, das Verhalten, die Gesten und die Gedanken der Menschen zu verwalten, zu regieren, zu kontrollieren und in eine vorgeblich nützliche Richtung zu lenken“ (ebd.). Umgekehrt gilt, so hat Andreas Reckwitz betont, dass ein gesellschaftlich durchdringendes Dispositiv immer auch das Merkmal der „sozialen Affektivität“ bzw. eine „affektive Struktur“ aufweisen muss: „Damit es sozial angenommen wird und sich durchsetzt, ist neben reinen Herrschaftseffekten entscheidend, dass es ein kulturelles Imaginäres aufspannt und die Teilhabe an ihm Faszination und Befriedigung, das heißt einen dauerhaften affektiven Reiz, verspricht“ (Reckwitz, Erfindung. 2012, S. 50/51). 36

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4. System- wie Diskurstheorie gehen also übereinstimmend von einem Spannungsverhältnis zwischen der prinzipiellen Unabschließbarkeit von Kommunikation – dem „großen unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen“ des/der ungezügelten Diskurse/s, wie Foucault formuliert 40 – und der Tendenz zu ihrer Kanalisierung bzw. Begrenzung im Rahmen binnensystemischer Verständigung aus. Den Überschuss an noch nicht selektierten und diskursiv codierten Fakta, die als potentielle Gegenstände den latenten „Themenvorrat“ für mögliche Kommunikationen bilden, belegt Luhmann nun mit dem Begriff „Kultur“. 41 Dieses Reservoir an Thematisierungsmöglichkeiten, so hat Albrecht Koschorke ausgeführt, fluktuiert in den liminalen Bereichen struktureller Kopplung zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen und trägt in besonderem Maße zur Ausbildung und Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Semantik bei. 42 Mit Koschorke argumentiert, erscheint Kultur nicht mehr nur als der ‚gepflegte‘ Überbau einer Gesellschaft, 43 sondern vielmehr als Austragungsort permanenter „symbolischer Machtkämpfe um den Geltungsradius“ von Systemrationalitäten, als „Schauplatz, auf dem sich die Differenz von […] Nicht-Code und Code auffaltet.“ 44 So betrachtet, lässt sich das Verhältnis von Gesellschaft und Kultur also auch über die Wechselbeziehung von Kommunikationsbegrenzung und Kommunikation entgrenzendem Potenzial bestimmen. Diese Art der reziproken Bezogenheit weist ferner auf den übergeordneten Code binnendifferenzierter Sozialsysteme hin. Dieser ist folglich als die Differenz von ‚kommunizierbar/nicht-kommunizierbar‘ zu bestimmen. Aus diesem Spannungsverhältnis ergibt sich die spezifische Systemstelle, die Luhmann wie auch Link der Kunst bzw. Literatur in modernen, offenen Gesellschaften einräumen. Sie geht von der zweiten einflussreichen literaturbezogenen Prämisse der Systemtheorie aus: der Definition des literarischen Artefakts als Medium struktureller Kopplung und Impulsgenerator für systeminterne und systemübergreifende Kommunikation. Nach Luhmann werden Kunst und Literatur aufgrund der Verfügung über den latenten Über-

Foucault, Ordnung des Diskurses. 2003, S. 33. Vgl. Luhmann, Soziale Systeme. 1987, S. 224. 42 Vgl. Koschorke, Albrecht: Codes und Narrative: Überlegungen zur Poetik der funktionalen Differenzierung. In: Grenzen der Germanistik: Rephilologisierung oder Erweiterung? DFGSymposion 2003. Hrsg. von Walter Erhart. Stuttgart/Weimar: Metzler 2004; S. 174 -185. Vgl. bereits Luhmann, Soziale Systeme. 1987, S. 224. 43 Vgl. Burkart, Günter: Niklas Luhmann: Ein Theoretiker der Kultur? In: Luhmann und die Kulturtheorie. Hrsg. von Günter Burkart und Gunter Runkel. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 11 – 39, hier: S. 14/15. 44 Koschorke, Codes. 2004, S. 179. Ähnlich auch Burkart, der jedoch ein wechselseitiges Hervorbringungsverhältnis zwischen Kommunikation und Kultur annimmt: „Indem Kommunikation laufend Selektionen aus der Kultur vornimmt, werden ständig strukturbildende Entscheidungen darüber getroffen, was in Zukunft zum legitimen Themenvorrat gehört und was nicht mehr dazu gehört. Kommunikation produziert also Kultur, die wiederum in Kommunikationen zurückfließt“ (Burkart, Niklas Luhmann. 2004, S. 20; vgl. ebd., S. 18). 40 41

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schuss an Thematisierungsmöglichkeiten und aufgrund ihres „entlarvenden“ 45 Wirklichkeitsbezugs vermittels der Differenz von elaborierter Form und in ihr evoziertem Kontext 46 zu Impulsgeneratoren für das, was er als „Irritationen“ oder „Störungen“ bezeichnet: also jene Systemzustände gesteigerter Selbstreferenz, die „zur Fortsetzung der autopoietischen Operationen des Systems“ anregen. 47 Es handelt sich dabei stets um Formen der Selbstirritation, weil ihre Auslöser „in den Themen und Beiträgen der Kommunikation zu suchen sind“ 48; genauer: in Beiträgen, die den in einem gegebenen diskursiven Kontext gültigen Leitcode von ‚kommunizierbar/nicht-kommunizierbar‘ brechen, indem sie Neues aus dem kulturellen Möglichkeitsreservoir schöpfen. Störung in diesem Sinn verstanden ist, wie Carsten Gansel hervorgehoben hat, 49 nicht mehr negativ konnotiert, sondern verweist auf einen wichtigen konstruktiven Faktor von Kommunikationsprozessen. Tatsächlich differenzieren moderne, offene Gesellschaftssysteme mit Kunst oder Literatur – und heute allen voran den elektronischen Massenmedien – sogar bestimmte Teilsysteme aus, „um sich selber zu beobachten: in sich selbst gegen sich selbst.“ Hier wird nach Luhmann „Widerstand von Kommunikation gegen Kommunikation“ inszeniert, der „die Gesellschaft mit Realität [versorgt], die sie anders nicht konstruieren könnte“. 50 Demnach besteht die gesellschaftliche Funktion der Kunst also u. a. in der „Konfrontierung der (jedermann geläufigen) Realität mit einer anderen Version derselben Realität“, in einer Perspektive auf die Wirklichkeit, „von der aus sie beobachtet werden kann in ihrer Gewöhnlichkeit, ihrer Härte, ihrer Banalität“. 51 Zu einem ähnlichen Befund kommt die diskursanalytische Literaturwissenschaft. Während Foucaults unscharfem und daher oftmals falsch verwendetem Schlagwort von der Literatur als einem ‚Gegendiskurs‘ die Hypertrophierung einer vermeintlich reinen „Selbstbezüglichkeit der Literatur“ 52 zugrunde liegt, betont Jürgen Link die sozi Luhmann, Schriften. 2008, S. 145. Vgl. ebd., S. 150/151. 47 Luhmann, Gesellschaft. 1998, S. 790. 48 Luhmann, Soziale Systeme. 1987, S. 237. Diesen Aspekt betonen Gansel wie Preyer (vgl. u. a. die Beiträge im vorliegenden Band). Demgegenüber hat Albrecht Koschorke zu bedenken gegeben, dass Luhmann eine Antwort auf die Frage, wie der Zusammenhang zwischen Umweltreizen und der Irritation eines rein selbstreferenziellen Systems zu denken wäre, schuldig geblieben sei (vgl. Koschorke, Albrecht: Die Grenzen des Systems und die Rhetorik der Systemtheorie. In: Widerstände der Systemtheorie: Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann. Berlin: Akademie Verlag 1999, S. 49 – 60, hier: S. 54/55). 49 Vgl. Gansel, Zwischenzeit. 2011, S. 42. 50 Luhmann, Gesellschaft. 1998, S. 864/865. Vgl. mit Blick auf die Funktion der Massenmedien auch Luhmann, Realität. 2009, S. 119: „Als faktischer Effekt dieser zirkulären Dauertätigkeit des Erzeugens und Interpretierens von Irritation durch zeitpunktgebundene Information […] entstehen die Welt- und Gesellschaftsbeschreibungen, an denen sich die moderne Gesellschaft […] orientiert.“ 51 Luhmann, Schriften. 2008, S. 144, 287. 52 Foucault, Michel: Funktionen der Literatur. In: Ethos der Moderne: Foucaults Kritik der Aufklärung. Hrsg. von Eva Erdmann u. a. Frankfurt/M./New York: Campus 1990, S. 229 – 234, hier: S. 231. 45 46

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ale Bedeutung von Literatur als „elaborierter Interdiskurs“. 53 Bestand für Foucault das kritische Potenzial von Literatur im Wesentlichen darin, die Sprache gegenüber ihrer Funktion als Medium der lebensweltlichen Diskurse immer wieder auf ihr „rohes Sein“ zurückzuführen, 54 hat Link wiederholt auf die doppelte soziale Funktionalität von Literatur hingewiesen. Demnach ist es insbesondere die Literatur, die das in Spezialdiskursen aufgehobene Wissen zu kommunizieren und über allgemein verständliche und subjektiv „er-lebbare Applikations-Vorgaben“ in den gesellschaftlichen Alltagsdiskurs zu (re)integrieren vermag. 55 Diese interdiskursive Vermittlungsrolle hat aber auch eine subversive Kehrseite. Als „kulturelle[r] Raum semiotischen Probehandelns“ 56 wird Literatur gerade deshalb zu einem Medium gesellschaftlicher Selbstverständigung, weil Autoren stets aufs Neue das subversive Unterlaufen von normativ gesetzten Kommunikationscodes gestalten und verhandeln und diskursive Randphänomene auf irritierende Weise ins Zentrum der Aufmerksamkeit einer größeren Öffentlichkeit rücken. Für Link besteht deshalb die Hauptfunktion von Literatur in offenen Gesellschaften in der „Bereitstellung von Applikations-Vorlagen für Denormalisierungen“ und in der „Markierung von Normalitätsgrenzen“. 57 Aus all dem geht zum einen hervor, dass Systemstabilität als eine dynamische Größe und Störungen als Motor dieser Dynamik zu verstehen sind. 58 Wie Luhmann so Vgl. Link, Jürgen: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse: Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hrsg. von Jürgen Fohrmann/Harro Müller. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 284 – 307, hier: S. 286. 54 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994 [frz. EA 1966], S. 76; vgl. ebd. S. 365/366: „Literatur unterscheidet sich mehr und mehr vom Diskurs der Vorstellungen, schließt sich in eine radikale Intransitivität ein. Sie löst sich von allen Werten, die im klassischen Zeitalter sie zirkulieren lassen konnten (der Geschmack, das Vergnügen, das Natürliche, das Wahre), und läßt in ihrem eigenen Raum alles entstehen, was dessen spielerische Verneinung sichern kann (das Skandalöse, das Häßliche, das Unmögliche). Sie bricht mit jeder Definition der ‚Gattungen‘ als einer Ordnung von Repräsentationen angepaßten Formen und wird zur reinen und einfachen Offenbarung einer Sprache, die zum Gesetz nur die Affirmation – gegen alle anderen Diskurse – ihrer schroffen Existenz hat.“ Zu Foucaults Begriffsverwendung im Kontext des Gesamtwerks vgl. allgemein Geisenhanslüke, Achim: Gegendiskurse. Literatur und Diskursanalyse bei Michel Foucault. Heidelberg: Synchron 2008. 55 Vgl. Link, Literaturanalyse. 1988; Link/Link-Heer, Diskurs/Interdiskurs. 1990, Zitat: S. 92. Koschorke spricht in diesem Zusammenhang vom literarischen Text als einem „Hypercode“ sozialer Kommunikation, weil er sich aufgrund seiner Polyvalenz dem Zwang systemischer Binärcodes per se entziehe (vgl. Koschorke, Codes. 2004, S. 181; vgl. Koschorke, Grenzen. 1999, S. 50). 56 Frank, Gustav/Lukas, Wolfgang: ,Grenzüberschreitungen‘ als Wege der Forschung. In: Norm – Grenze – Abweichung: Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien und Wirtschaft. Hrsg. von Gustav Frank/Wolfgang Lukas. Passau: Stutz 2004. S. 19 – 27, hier: S. 20. 57 Link, Normalismus. 2006, S. 41. 58 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme. 1987, S. 79; Luhmann, Gesellschaft. 1998, S. 491. 53

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apostrophiert auch Link die nur scheinbar paradoxe Doppelfunktion von Denormalisierungen als Störfaktoren und negativer Bedingung von Stabilität: Normalität wäre, so Link, „ohne komplementäre Anormalität schlechthin undenkbar.“ 59 Dementsprechend sieht er z. B. einen wesentlichen Grund für den historischen Erfolg liberal-demokratischer Gesellschaftsmodelle in der Flexibilisierung einstmals normativ festgezogener Normalitätsgrenzen. 60 Normalitäten sind demnach „stets dynamische (historisch stark variable und evoluierende) soziale Gegenstände.“ 61 Im Gegensatz etwa zu den ‚geschlossenen Gesellschaften‘ des Realsozialismus etablierten sich in westlichen Systemen relativ offene Toleranzgrenzen, deren Verlauf einer permanenten öffentlichen Aushandlung unterliegt. Gerade in der massenmedial geprägten Gegenwart sind Deviationen Teil der Tagesordnung. Es gehört zur Systemlogik, dass in den Massenmedien nur zum Ereignis wird, was ‚Nachrichtenwert‘ im Sinn von Aufmerksamkeitswert hat. 62 „Abweichungsmanagement ist daher eine soziale Dauerbeschäftigung sowohl für Individuen in deren sozialer Selbstdarstellung, als auch für die Reproduktion sozialer Strukturen.“ 63 Nicht zuletzt deshalb, so lässt sich mit Andreas Reckwitz schlussfolgern, ist das ‚Neue‘ und ‚Abweichende‘ inzwischen sogar zum Fundament eines gesellschaftlich hegemonialen ‚Kreativitätsdispositivs‘ geworden, in dem das Neue über seinen „Charakter als willkommene Abweichung vom Üblichen“ qualifiziert wird: „Es fördert die Abweichungen vom Standard […], es verlangt das Überraschende und Unberechenbare und ermutigt jene kreativen Subjekte, Praxen, und Kollektive, denen dies virtuos gelingt.“ Mit Blick auf die Künste treibt Reckwitz deshalb die Überlegungen Links weiter und betont die spezifische Erwartungshaltung eines flexiblen Normalismusdiskurses gegenüber dem künstlerisch-ästhetischen Subversionsvermögen. Diese rechne nicht nur immerzu mit der Lancierung von Denormalisierungen, sondern „prämiere“ diese längst entsprechend ihres Aufmerksamkeitswerts. 64 Die Irritation diskursiver Toleranzgrenzen lässt sich also als ein wesentliches Mittel von gesellschaftlichem Wandel bestimmen. Fortwährende diskursive Störungen treiben ein unablässiges Wechselspiel zwischen der „Begrenzung [und] Entgrenzung des Sagbaren“ 65 an, fordern ein beständiges Ausloten bestehender kollektiver Konsensus heraus: „Denormalisierung löst im Normalismus Alarm aus und provoziert normalisierende (adjustie-

Link, Normalismus. 2006, S. 355. Mit Luhmann gesprochen: In der „Stärkung der Konfliktfähigkeit und Konflikttoleranz in der Gesellschaft (oder anders gesagt: durch Verzicht auf die Externalisierung aller Konflikte, wie sie für segmentäre Gesellschaften charakteristisch ist)“ (Luhmann, Gesellschaft. 1998, S. 464). 61 Link, Normalismus. 2006, S. 39. 62 Vgl. dazu Maier, Michaela u. a.: Nachrichtenwerttheorie. Baden-Baden: Nomos 2010. 63 Bohn, Cornelia: Mediatisierte Normalität. Normalität und Abweichung systemtheoretisch betrachtet. In: Link u. a. (Hgg.), Normalität. 2003, S. 39 – 50, hier: S. 45. Vgl. Luhmann, Realität. 2009, S. 35: „Massenmedien halten […] die Gesellschaft wach. Sie erzeugen eine ständig erneuerte Bereitschaft, mit Überraschungen, ja mit Störungen zu rechnen.“ 64 Reckwitz, Erfindung. 2012, S. 45, 46/47. 65 Jäger, Diskurs. 2011, S. 94.

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rende) Maßnahmen.“ 66 Damit ist wiederum auf die Hauptfunktion verwiesen, die Michel Foucault Dispositiven beimisst. Diese liege darin, „zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt […] auf einen Notstand (urgence) zu antworten.“ 67 5. Literatur, soviel ist system- wie diskurstheoretischen Theoremen zu entnehmen, kann als sozialer Störfaktor und Stabilitätsgarant zugleich fungieren. Literarische Texte bergen grundsätzlich das Potenzial in sich, über neue Inhalte und Darstellungsweisen den vorherrschenden Binärcode der gesellschaftlichen Kommunikation zu strapazieren, die Unterscheidung von ‚kommunizierbar/nicht-kommunizierbar‘ immer wieder in Frage zu stellen. Werden die Toleranzgrenzen der Diskurse gesprengt und das System auf diese Weise zur Selbstreferenz gereizt, stellt sich die Frage nach der Intensität des Impulses und den Konsequenzen für das System. 68 Literaturproduzenten mögen mit ihren künstlerischen Kommunikationsofferten Provokation oder Affirmation intendieren. Was der Autor aber nicht kann, ist „unter Bedingungen der Schrift darüber verfügen, wie der Text, den er der Öffentlichkeit ausgesetzt hat, gelesen und weiterverarbeitet wird.“ 69 Zum Schluss steht folglich die Frage nach systemischen Strategien und Maßnahmen der ‚Entstörung‘. Dies sei anhand der Rezeptionsgeschichte der drei (Kriegs)Romane von Heinrich Böll, Erich Maria Remarque und Hans Scholz und ihrer Darstellung von Kriegsverbrechen exemplarisch diskutiert. Eine Störung kann zum Beispiel, so Luhmann, lediglich als „momentane Inkonsistenz“ aufgefasst werden, die sich vergessen oder verdrängen lässt. 70 Elena Esposito hat das Vergessen als die entscheidende Stabilisierungsfunktion des Gedächtnisses von sozialen Entitäten und als Voraussetzung systemischen Progresses näher beschrieben und bietet damit nicht zuletzt einen anschlussfähigen systemtheoretischen Erklärungsansatz für die kollektive Amnesie gegenüber den NS-Verbrechen: Link, Normalismus. 2006, S. 40. Mit Alois Hahn ließe sich zugespitzt behaupten, dass gesellschaftlicher Dissens geradezu als ein Merkmal für eine funktionierende freie Öffentlichkeit zu werten ist (vgl. Hahn, Alois: Aufmerksamkeit und Normalität. In: Link u. a. (Hgg.), Normalität. 2003, S. 23 – 37, hier: S. 32/33). 67 Foucault, Dispositive. 1978, S. 120. Zu beachten ist dabei, dass auch das strategische Netzwerk des Dispositivs selbst aufgrund von Irritationen in ständigem Wandel begriffen ist: „Diese Veränderungen machen sich ihrerseits als Störungen bemerkbar, die wiederum Änderungen und Justierungen anderer Teile des Dispositivs notwendig machen“ (Raffnsøe, Sverre/Gudmand-Høer, Marius/Sørensen Thaning, Morten: Foucault Studienbuch. München: Fink 2011, S. 229). 68 Vgl. Luhmann, Niklas: Einführung in die Systemtheorie. Heidelberg: Carl-Auer 2006, S. 127. 69 Schöning, Matthias: Kommunikation/Handlung – ‚Literatursystem‘ der DDR. In: Systemtheoretische Literaturwissenschaft. Begriffe – Methoden – Anwendungen. Hrsg. von Niels Werber. Berlin/New York: de Gruyter 2011, S. 205 – 218, hier: S. 207. 70 Luhmann, Gesellschaft. 1998, S. 791. 66

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Norman Ächtler „In einem System ist das Vergessen die Regel und dies bildet die Grundlage dafür, dass es sich mit neuen Ereignissen auseinander setzen kann. Die Hauptfunktion des Gedächtnisses besteht notwendig in der Verhinderung von Blockaden in der Auseinandersetzung des Systems mit der Welt […].“ 71

Der Umgang der Literaturkritik mit Bölls Kriegsroman „Wo warst du, Adam?“ gibt einen interessanten Beleg für die Strategie der Entstörung durch Verdrängung. Die Rezeption des Texts zeugt von der Tendenz zum Verschweigen und Verdrängen unerwünschter Kommunikationsangebote durch das Literatursystem der frühen Bundesrepublik bzw. durch eine zentrale Institution seines kommunikativen Dispositivs. Sodann kann die kulturelle Störung als Bedrohung wahrgenommen und als solche „ausgeschaltet“ werden. 72 Ein derart nachdrücklicher Umgang mit diskursiven Grenzverletzungen ist eher ein Merkmal von geschlossenen Gesellschaften und obliegt dort im Wesentlichen den Zensurbehörden. 73 Im Westen ist dies auf seine Weise mit Erich Maria Remarques „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“ geschehen. Die Publikationsgeschichte des Romans bietet ein Fallbeispiel von „informeller Verlagszensur“ 74 , also für die prophylaktische „Ausschaltung“ von potentiell verstörenden Irritationsofferten. Die „Sichtbarmachung“ von bislang „Unsichtbarem“ kann aber auch die Auslösung weiterer Irritationen zur Folge haben, „Lernprozesse“ anstoßen und schließlich zu grundlegenden Veränderungen in der Struktur von systemischen Hegemonialdiskursen führen. 75 Hans Scholz’ Bestseller „Am grünen Strand der Spree“ und die mehrteilige TV-Verfilmung aus dem Jahr 1960 zeigen exemplarisch, dass ein literarischer Text – und vor allem seine massenmediale Adaption – mittelfristig eine wirkungsmächtige Irritation des Literaturund Gesellschaftssystems der Bundesrepublik nach sich ziehen konnten. Esposito, Elena: Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 28/29. Vgl. Luhmann, Gesellschaft. 1998, S. 579. 72 Luhmann, Gesellschaft. 1998, S. 119. 73 In der DDR etwa, so hat Carsten Gansel herausgearbeitet, wurde „kein Manuskript zum Buch […], das in der Lage war, das kollektive bzw. kulturelle Gedächtnis ernsthaft zu erschüttern“ (Gansel, Carsten: Zwischen offiziellem Gedächtnis und Gegen-Erinnerung – Literatur und kollektives Gedächtnis in der DDR. In: Gedächtnis und Literatur in den ‚geschlossenen Gesellschaften‘ des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989. Hrsg. von Carsten Gansel. Göttingen: v+r unipress 2007, S. 13 – 37, hier: S. 36). 74 Schneider, Thomas/Howind, Angelika: Die Zensur von Erich Maria Remarques Roman über den zweiten Weltkrieg „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“ 1954 in der BRD. Mit einem Seitenblick auf die Rezeption in der DDR. In: Militärische und zivile Mentalität. Ein literaturkritischer Report. Hrsg. von Ursula Heukenkamp. Berlin: Aufbau 1991, S. 302 – 330, hier: S. 303. 75 Luhmann, Gesellschaft. 1998, S. 790. Gansel unterscheidet ebenfalls ‚Intensitätsgrade‘ von Störungen in einem heuristischen Dreischritt aus Aufstörung – Verstörung – Zerstörung (siehe u. a. seinen Beitrag in diesem Band). Mit Blick auf die Terminologie wäre allerdings zu überlegen, ob der Begriff ‚Zerstörung‘ zumindest im engeren systemtheoretischem Kontext nicht insofern irreführend ist, als nach Luhmann zwar „die Destruktion des Systems durch die Umwelt“ möglich ist (Luhmann, Einführung. 2006, S. 120), das Konzept der Störung/Irritation sich aber auf die Selbstreferenz des Systems bezieht. Damit ist erneut die Frage nach dem Verhältnis von Grenze und Irritation tangiert, die Koschorke aufgeworfen hat (vgl. Koschorke, Grenzen. 1999). 71

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6. Kriegsverbrechen der Wehrmacht bzw. die Verstrickung von Wehrmachtsangehörigen in oder zumindest das Wissen über die nationalsozialistische Vernichtungsideologie und -politik tauchen in Kriegsromanen zumeist in drei verschiedenen narrativen Thematisierungsformen auf, die sich durch den Grad an Mittelbarkeit der Darstellung unterscheiden: 1) Als Auskünfte in Figurendialogen; dafür gibt „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“ mit den Gesprächen zwischen Remarques Protagonisten Ernst Graeber und zwei NS-Verbrechern Beispiele. 2) Aus der Augenzeugenperspektive; dies ist bei Hans Scholz der Fall, der seinen Roman mit dem „Tagebuch des Jürgen Wilms“ beginnen lässt. 3) In Form von Innenweltdarstellungen bzw. Soziogrammen der Tatbeteiligten; ein derartiges Täterprofil liefert Heinrich Böll in „Wo warst du, Adam?“. Bölls Roman 76 ist zeitlich am Anfang der hier besprochenen Textreihe anzusiedeln. Der Autor war um die Anprangerung der NS-Verbrechen und des Holocaust bereits in seinen frühen Texten nie verlegen; die meisten freilich wurden nicht veröffentlicht. 77 „Wo warst du, Adam?“ ist der erste Kriegsroman, in dem ein deutsches Vernichtungslager zum Thema wird. Im selben Zug lässt Böll keinerlei Zweifel an der „Komplizenschaft“ 78 des Militärs mit den zentralen Instanzen der Judenvernichtung. Der Text zeichnet sich durch eine lose Episodenstruktur mit wechselnden Protagonisten aus, die weitgehend nur durch den Schauplatz zusammengehalten werden. Die einzelnen Handlungsstränge spielen sämtlich an der Ostfront in Ungarn 1944 – mit der Ausnahme des 7. Kapitels, das die Überführung einer Gruppe von 67 Juden in ein KZ und ihre augenblickliche Exekution schildert. Böll unterläuft das Redeverbot über die Beteiligung der Wehrmacht an solchen Aktionen auf subtile Weise. Die beiden Fahrer des Transports werden über die Beschreibung ihrer Uniformen als gewöhnliche Soldaten ausgewiesen. Es sind Männer „in Feldgrau“ (255), keine SS-Schergen, die die Juden ins Vernichtungslager bringen. Die Fahrt zur ‚Endlösung‘ wird zum Soziogramm der „absoluten Durchschnittlichkeit“ 79 der Täter. Die beiden Männer pfeifen und singen Schlager am Steuer und erfreuen sich am starken Motor des LKWs. Während einer Pause schmieren sie sich „in aller Ruhe“ Butterbrote und essen „gemütlich“ (270). Dabei lesen sie Briefe aus der Heimat und tauschen Familienfotos von Frauen und Kindern aus. Nebenbei bringen sie die verzweifelt schreienden Insassen ihres Wagens zum Schweigen: Des weiteren im Lauftext zitierte Ausgabe: Böll, Heinrich: Wo warst du, Adam? (1951). In: Ders.: Werke. Kölner Ausgabe Bd. 5. Hrsg. von Robert C. Conrad. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2004, S. 180 – 329. 77 Vgl. Reid, J. H.: „Mein eigentliches Gebiet…“ – Heinrich Bölls Kriegsliteratur. In: Von Böll bis Buchheim. Deutsche Kriegsprosa nach 1945. Hrsg. von Hans Wagener. Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1997, S. 91 – 109. 78 Schlant, Ernestine: Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust. München: C.H. Beck 2001, S. 50. 79 Reid, Gebiet. 1997, S. 106. 76

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Norman Ächtler „Aus dem Inneren des grünen Möbelwagens kamen ein sehr heftiges, dunkles Gemurmel und die schrillen Schreie einer Frauenstimme. […] Der Fahrer – er hieß Schröder – hatte keine Lust, die schweren Polstertüren hinten zu öffnen, es schien ihm nicht der Mühe wert, er nahm seine Maschinenpistole und schlug ein paarmal heftig mit dem stählernen Griff gegen die Wand des Möbelwagens, es wurde sofort still. […] Plorin war mit dem Essen fertig, trank jetzt Kaffee und rauchte und hatte das Bild des dreijährigen Mädchens mit dem Kaninchen vor sich liegen. ‚Wirklich ein nettes Kind‘, sagte er und hob für einen Augenblick seinen Kopf. ‚Sie sind jetzt still – hast du kein Bild von deiner Frau?‘“ (271)

Die Fahrer liefern ihre Fracht nach längerer Fahrt sachgerecht im KZ ab, doch erst eine Stunde später werden die Juden aus dem Wagen gelassen. Es stellt sich heraus, dass sechs Menschen bereits während der Fahrt gestorben sind. Ihre Leichen werden direkt ins Krematorium verbracht, die Überlebenden umgehend erschossen: „Draußen fing die Metzelei an“ (287). Wirft man nun einen Blick auf zeitgenössische Rezensionen des Romans, so fällt auf, dass unter elf in der Werkausgabe abgedruckten zeitgenössischen Besprechungen nur eine einzige auf die Vorgänge des 7. Kapitels aufmerksam macht. 80 Das Holocaust-Thema verschwand hinter einer poetologischen und motivgeschichtlichen Debatte, die von der inhaltlichen Brisanz des Romans nichts nach außen dringen ließ. Öffentlich verhandelt wurde an dem Text nicht der Code von ‚kommunizierbar/nicht-kommunizierbar‘, dieser war bereits im Verschweigen zu tragen gekommen. Die Kritiker zogen sich bei ihren Bewertungen vielmehr auf den ureigenen Code des Kunstsystems „schön/hässlich“ im Sinne von „gut/schlecht dargestellt“ zurück. Erörtert wurden Bölls Fähigkeiten als Romancier und ob die episodische Schreibweise dem Krieg als Gegenstand gerecht werde. Während Ingeborg Bachmann und Alfred Andersch die offene Romanstruktur als erzählerische „Schwäche“ (454) monierten, erschien anderen Kritikern gerade das Fragmentarische des Texts ein adäquater Ausdruck für das Kriegserlebnis. Als Kern dieses Kriegserlebnisses wurde aber nicht die Entgrenzung der Gewalt festgemacht. Der Zweite Weltkrieg findet sich vielmehr durchweg aus seinem historisch-politischen Kontext abgehoben und in ein dominantes existenzphilosophisches Deutungsmuster jener Jahre eingepasst, das in einem der Motti angelegt ist, die Böll seinem Roman voranstellt, SaintExupérys Satz: „Der Krieg ist eine Krankheit. Wie der Typhus“ (180). Fast alle Kritiker ziehen ihre Besprechungen von diesem Zitat ausgehend auf: Der Krieg wird beschrieben als ein „Krankheitszustand des Menschen, der jede geistige Ordnung im Leben in Frage“ stelle und eben dadurch als lediglich „andere Daseinsform des Menschlichen“ aufzufassen sei (443). Als ein „Tummelplatz der Sünde“ (449), der „die innere Gefährdung des heutigen Menschen so deutlich offenbar“ mache (451), wird der Krieg als „Anlaß zur Prüfung des Menschen“ (454) stilisiert. Dieses gängige enthistorisierende Deutungsmuster bleibt

Im Folgenden zitiert nach dem Anhang der Werkausgabe von „Wo warst du, Adam?“ (Böll, Adam. 2004, S. 442 – 456).

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konzentriert auf den Soldaten oder allgemein: auf den ‚Einzelnen‘ als Opfer der totalen Mobilmachung. 81 Für andere Opfergruppen scheint da kein Platz zu sein, geschweige denn für explizite Schilderungen. Im Gegenteil, wie Alfred Anderschs Rezension deutlich macht: „Die Stärke Bölls liegt in den langsamen Sätzen und im Piano (eine außerordentliche Stärke, wenn man bedenkt, daß die gesamte moderne Literatur sozusagen als Allegro con brio und Fortissimo komponiert ist) – bei dramatischen Steigerungen ist dem Autor äußerste Vorsicht anzuraten. Bei der um den Tod der weiblichen Hauptfigur herum unerhört groß angelegten Szene wird sehr augenfällig, daß ein so reiner Prosaist wie Böll sich immer erst einen Ruck geben muß, um sich zum Drama zu entschließen. Und das Zwanghafte ist der Szene dann anzumerken.“ (445/446)

Der Essay ist ein paradigmatischer Beleg für die Dialektik von „Hinsehenmüssen und Wegschreiben“ 82 , die das Werk vieler zeitgenössischer Autoren dieser Generation prägte. Andersch nähert sich dem KZ-Kapitel auf rhetorisch hochstilisierte Weise, um es dann – ohne nähere Inhaltsangabe – poetologisch zu verwerfen. Weder das KZ noch die Massenerschießung werden hier angesprochen, weder Ethnie noch Todesart der Jüdin Ilona bezeichnet. Stattdessen wirft Andersch dem Verfasser einen erzählökonomischen Lapsus vor. 83 Die Besprechung macht besonders deutlich: Bölls literarischer Irritationsimpuls wurde vom Literatursystem nicht weitergetragen. Die Literaturkritik als wirkungsmächtiger Teil seines kommunikativen Dispositivs normalisierte den irritierenden literarischen Reiz, indem sie die Störung umschiffte und ins Leere laufen ließ. Statt die kontroverse Dimension des Textes für Anschlusskommunikationen von Seiten einer breiteren Leserschaft aufzudecken, tat sie bereits unmittelbar nach der Veröffentlichung ein Übriges, um die Aufmerksamkeit von diesem Aspekt des Böllschen Romans abzulenken und ihn dadurch dem kulturellen wie sozialen Vergessen anheim zu gegeben. 7. Mit dem Remarque-Verleger Joseph C. Witsch rückt eine weitere zentrale Handlungsrolle innerhalb des kommunikativen Dispositivs des Literatursystems in den Blick. Die prophylaktische Selbstzensur, die der Verlagsleiter von Kiepenheuer & Witsch gegenüber dem Autor durchsetzte, verweist darauf, dass die Urfassung des Texts offenbar als derart brisant eingeschätzt wurde, dass sie nur in zurechtgestutzter Fassung in den öffentlichen Diskurs eingespeist werden durfte. In die Entscheidung spielten auch wirtschaft Vgl. dazu Ächtler, Generation. 2013, bes. Kap. II. 3.2. Briegleb, „Neuanfang“. 1999, S. 56. 83 Ironie der Geschichte, erging es Alfred Andersch mit seinem eigenen literarischen Versuch einer Auseinandersetzung mit dem Holocaust, dem Roman „Efraim“ (1967), ganz ähnlich. Die darin thematisierte Judenvernichtung wurde von dem Gros der Rezensenten zugunsten anderer inhaltlicher und poetologischer Schwerpunktsetzungen weitgehend ausgeblendet (vgl. Schlant, Sprache. 2001, S. 212/213). 81 82

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liche Erwägungen hinein. Remarques KZ-Epos „Der Funke Leben“ (1952) war nur ein sehr geringer Erfolg beschieden gewesen. Einen erneuten Flop wollte der Verlag vermeiden. Nicht zuletzt deshalb sollten die umfangreichen Streichungen und Modifikationen für die Druckfassung von „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“ systematisch Tabuthemen des westdeutschen Vergangenheitsdiskurses tilgen, die der Roman berührte: Kriegsverbrechen, Antisemitismus, Kommunismus, Desertion und Widerstand. Die Änderungsvorschläge richteten sich in erster Linie gegen alle Stellen, die die Wehrmacht in diesem Zusammenhang in ein zu schlechtes Licht rückten. Dies betrifft zunächst die Figur des Landsers Steinbrenner. In ihm ist die Verquickung von Armee, Nationalsozialismus und Vernichtungspolitik personifiziert. Die 1989 rekonstruierte Originalfassung 84 weist Steinbrenner als fanatischen NS-Anhänger aus, Goldenes Abzeichen der HJ an der Brust (16) und NS-Rassenideologie im Kopf (367/368). Entsprechend drangsaliert er fortwährend zwei andere Mitglieder der Kompanie, den „ViertelJuden“ Hirschland und den aus einer Strafkompanie entlassenen Kommunisten Immermann. Als ehemaliger SS-Angehöriger war Steinbrenner vor seiner Abstellung zu Ernst Graebers Wehrmachtseinheit an Verbrechen in Konzentrationslagern und im russischen Hinterland beteiligt; über seine Selbstauskünfte erhält Graeber annähernde Kenntnis von den wahren Dimensionen des Vernichtungskriegs: „Dieser Zwanzigjährige hatte mehr Männer getötet als ein Dutzend alter Soldaten zusammen. Nicht im Kampf; hinter der Front und in Konzentrationslagern. Er hatte sich mehr als einmal damit gebrüstet und war stolz, besonders scharf gewesen zu sein.“ (58)

Steinbrenners mörderische Betätigungen stehen, und das macht die Figur erst eigentlich zum Reizthema, in keinem Widerspruch zu seinen militärischen Fähigkeiten. Im Roman ist er nicht allein ein einfaches reguläres Mitglied der Wehrmacht; er verfügt auch über Führungsqualitäten, die ihn im Kampfgeschehen auszeichnen: „Er war ein guter Soldat“ (57). Aufgrund des vermeintlich zu nachsichtigen Umgangs des Militärs mit den Russen meldet sich Steinbrenner schließlich zu seiner SS-Division zurück: „Da ist mehr los. Und man hat bessere Chancen. Alles im größeren Stil. Keine langweiligen Kriegsgerichte für jeden lausigen Russen. Sie werden sie zu ganzen Ladungen los. Vor nicht allzu langer Zeit dreihundert polnische und russische Verräter an einem Nachmittag. Sechs Mann haben das Deutsche Kreuz dafür bekommen. Hier fallen dir höchstens ein paar poplige Partisanen in die Finger – dafür kriegt man keine Auszeichnungen. […] In den Säuberungsbataillonen und im SS-Sicherheitsdienst kriegen sie Hunderte und Hunderte. Da kann ein Mann weiterkommen!“ (368)

Am Beispiel von Graebers Einheit zeichnet Remarque den blutigen Alltag des Ostfeldzugs in expliziten Szenen nach. So beginnt der Roman mit der Bergung von Leichen aus dem Winterkrieg 1943 – „Nur die Deutschen wurden begraben. Die Russen wurden in Des weiteren im Lauftext zitierte Ausgabe: Remarque, Erich Maria: Zeit zu leben und Zeit zu sterben. Köln: Kiepenheuer & Witsch 62009.

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eine offene Koppel geworfen. […] Es war nicht nötig, sie zu begraben“ (12) –, gefolgt von der Exekution mehrerer Zivilisten als vermeintliche Partisanen (25/26). Das Wissen um das selbst begangene oder zumindest an der Front verteidigte Unrecht löst in Graeber einen Reflexionsprozess über seine Mitverantwortung für die NSGräuel aus: „Wie weit werde ich zum Mitschuldigen, wenn ich weiß, dass der Krieg nicht nur verloren ist, sondern auch, dass wir ihn verlieren müssen, damit Sklaverei und Mord, Konzentrationslager, SS und SD, Massenausrottung und Unmenschlichkeit aufhören […]?“ (185). Dieser Denkprozess bringt ihn, befeuert durch Gespräche mit Regimekritikern und Dissidenten, zu der Erkenntnis, dass Soldaten Mörder sind, und über Erwägungen zur Fahnenflucht zu einem Akt des Widerstands. Am Ende des Romans tötet Graeber seinen Kontrahenten Steinbrenner, der ohne Befehl vier gefangene russische Zivilisten erschießen will: „‚Mörder‘, sagte er noch einmal und meinte Steinbrenner und sich selbst und unzählige andere‘“ (394). Fast alle hier genannten Zitate und andere Stellen ähnlichen Gehalts wurden für die ursprüngliche Kiepenheuer-Fassung 85 gestrichen. Es ging darum, „der Erwartungshaltung der Leser und ihren Lesegewohnheiten Rechnung“ zu tragen, 86 also darum, ganz im Sinne Luhmanns größeren Irritationen des Publikums durch die Enttäuschung der geläufigen Erwartungen an das Kommunikationsangebot eines Romans über Krieg und Nazizeit vorzubeugen. 87 Dieses Kommunikationsangebot hatte hauptsächlich die Vorstellung von einer „sauber“ gebliebenen Wehrmacht zu bedienen, die einen „Rest von Normalität in Nazideutschland“ behauptete und damit eine Generalapologie für eine ganze Generation von Veteranen aussprach: „Remarques Roman stellte diese Konstruktion in Frage. Er störte.“ 88 Aufgrund der Tatsache, dass Remarque die Veränderungen im Wesentlichen stillschweigend hinnahm, 89 brachte der Verlag 1954 eine Fassung auf den Buchmarkt, die die ursprünglich intendierte antimilitaristische, radikalpazifistische Aussage in wesentlichen Punkten veränderte. Mehr noch, da der Mittelteil des Romans, der Ernst Graebers Erlebnisse in seiner unter dem alliierten Bombenkrieg leidenden Heimatstadt erzählt, gegenüber den entschärften rahmenden Passagen von der Ostfront weitgehend unangetastet blieb, wurde nicht nur die dialektische Struktur der Handlungsabschnitte eliminiert. „Aus dem Buch ‚der Täter‘ war unterderhand auch noch ein Buch ‚der Opfer‘ geworden.“ 90 Derart entschärft, konnte der Text wiederum zum Gegenstand einer Literaturkritik werden, der es vorgeblich um eine angemessene – und das heißt dem zeitgenössischen

Vgl. Remarque, Erich Maria: Zeit zu leben und Zeit zu sterben. Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1954. 86 Schneider/Howind, Zensur. 1991, S. 315. 87 Vgl. Luhmann, Gesellschaft. 1998, S. 118. 88 Heer, Hannes: Vom Verschwinden der Täter. Der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei. Berlin: Aufbau 2004, S. 191. 89 Vgl. Schneider, Thomas. „Und Befehl ist Befehl. Oder nicht?“ Erich Maria Remarque: Zeit zu leben und Zeit zu sterben (1954). In: Wagener, Böll. 1997, S. 231 – 247, hier: S. 240. 90 Heer, Verschwinden. 2004, S. 188. 85

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Hegemonialdiskurs genehme – Darstellung des Kriegs aus deutscher Sicht ging. 91 Daran änderten auch die Berichte über die Zensurmaßnahmen nichts, die auf die Lücken aufmerksam machten. Zurecht stellte der „Spiegel“, der bereits kurz nach der Veröffentlichung der deutschen Ausgabe Rückübersetzungen der inkriminierten Stellen aus ausländischen Fassungen brachte, zur Debatte, ob die Streichungen „zur Schonung des Lesers oder des Autors vorgenommen“ worden waren. 92 Auch der Störversuch, der einige Monate später von Seiten der DDR-Kritik lanciert wurde, sorgte für keine kontroversen Anschlusskommunikationen. Franz Carl Weiskopf veröffentlichte in der „Neuen Deutschen Literatur“ eine ausladende Polemik, die auch in der westdeutschen Zeitschrift „Die Kultur“, zu dieser Zeit ein Hauptorgan der „Gruppe 47“ um Hans Werner Richter, abgedruckt wurde. Darin legt Weiskopf anhand eines genauen Abgleichs von englischer und deutscher Ausgabe bereits sämtliche getilgte Stellen offen, die erst in der Neuausgabe von 1989 zugänglich gemacht wurden. Auch Remarque selbst wird aufgrund seines Schweigens über die Affäre zum Ziel des Angriffs, „denn er hat alle von uns festgenagelten Verfälschungen seines ursprünglichen Romantextes gut[ge]heißen. […] Weiterschweigen heißt seine Schuld eingestehen.“ 93 Eine Reaktion löste diese Initiative im Literatursystem allerdings nicht mehr aus. 94 8. Während das westdeutsche Literatursystem das Irritationspotenzial der Romane von Böll und Remarque registrierte und mit normalisierenden, entstörenden Anschlusskommunikationen und -handlungen reagierte, soll mit Hans Scholz’ Bestseller „Am grünen Strand der Spree“ 95 zum Abschluss ein Text behandelt werden, dessen Rezeptionsgeschichte ein Vgl. z. B. die Kampagne der Zeit gegen Remarque, wo zunächst das „Gruppe 47“-Mitglied Herbert Eisenreich in seiner Rezension Remarque vorhält, „ohne ausreichende sittliche Legitimation“ geschrieben zu haben: „[D]eswegen stimmt es [das Buch, N.Ä.] von Grund auf nicht. Ihm, dem Autor, haben unsere Sünden niemals wehgetan, und über ein solches Manko vermag auch Routine nicht hinwegzutäuschen“ (Eisenreich, Herbert: Im Osten nichts Neues. In: Die Zeit (28.10.1954), S. 8). In der nachfolgenden Besprechung des Kriegsfilms „Der letzte Akt“ (1955) über den Untergang des Dritten Reichs, an dessen Drehbuch Remarque mitgeschrieben hatte, unterstellt Paul Hühnerfeld dem Autor mit Blick auf das Skript und die Romane Der Funke Leben wie Zeit zu leben und Zeit zu sterben sodann „eine verantwortungslose Leichtsinnigkeit hinsichtlich der Beschreibung von Phänomenen, wo exaktes Wissen notwendig gewesen wäre“ (Hühnerfeld, Paul: Der letzte Akt – ein Film. Das Inferno wurde zur Groteske. In: Die Zeit (28.04.1955), S. 20). 92 N.N.: Remarque – Liquidation mit dem Rotstift. In: Der Spiegel (15.12.1954), S. 43/44, hier: S. 44. 93 Weiskopf, F.C.: Die politischen Valenzen des Dr. Witsch oder Der kastrierte Remarque. In: Die Kultur 3, 1955, H. 47, S. 4/5, hier: S. 5; zuerst in NDL 1955, H. 2, S. 99 – 107. 94 Vgl. Schneider/Howind, Zensur. 1991, S. 313; Schneider, Befehl. 1997, S. 241/242. 95 Desweiteren im Lauftext zitierte Ausgabe: Scholz, Hans: Am grünen Strand der Spree. Hamburg: Hoffmann & Campe 1960 [EA 1955]. 91

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Beispiel dafür gibt, dass literarische Texte auch am Anfang von Veränderungen in den Kommunikationsprozessen einer Gesellschaft stehen können. Die Publikationsgeschichte des Romans weist zunächst einige vielsagende Parallelen zu den Texten von Böll und Remarque auf. Hans Scholz hatte den brisantesten Teil seines Romans, das einleitende „Tagebuch des Jürgen Wilms“, noch gegen die von seinem Lektor bei Hoffmann & Campe angestrebte Streichung der gesamten Passage zu verteidigen. Die Selbstzensur sollte „zur Schonung bundesbürgerlicher Nerven“ dienen, wie der „Spiegel“ berichtete. 96 Auch in diesem Fall hatte der Lektor offenbar ein gesellschaftliches ‚Störpotenzial‘ erkannt und wollte Irritationen von Seiten des kommunikativen Dispositivs vermeiden. Was aber erzählt das „Tagebuch des Jürgen Wilms“? Der Unteroffizier, der in russischer Gefangenschaft verschollen ist, beschäftigt sich in seinen nachgelassenen Aufzeichnungen mit nichts anderem als mit der Beteiligung der Wehrmacht an der Judenvernichtung! Den grausigen Höhepunkt seiner Notate bildet das Protokoll einer Massenerschießung von 1800 Männern, Frauen und Kindern, deren Augenzeuge er ist. Hier nur ein Auszug: „Rückten immer gruppenweise vor, vier, vielleicht fünf Personen, familienweise, sippenweise, gaben sich die Hände und hielten sich fest aneinander, die Kinder in die Röcke der Mütter gekrallt, lösten sich miteinander von der großen Menschenmenge ab und schritten zum Rand vor. Mußten dann auseinandertreten, jeder zu seinem Schützen. Lettische Zivilisten waren das mit weißen Binden. […] Gaben Einzelfeuer. Ins Genick jeweils, ins Genick. Kleine Peitschenschläge. Ging schnell. Winkten schon die Nächsten heran […] Deutsche Polizisten führten die Aufsicht in alten grünen Uniformen. Ich stand oben am Grabenrand, sah das, sah das und glaubte es nicht. Auf der Stelle unglaublich!“ (76)

Der Augenzeuge Wilms fordert explizit ein, was so viele deutsche Soldaten zumindest in der öffentlichen Erinnerung verweigerten: „Sieh in die Grube, scheener Herr aus Daitschland! Sieh hin zum Donnerwetter noch einmal!“ (77). Dargeboten werden die von Wilms festgehaltenen Ereignisse von Hans-Joachim Lepsius, einem 1954 aus der Sowjetunion entlassenen Spätheimkehrer. Dieser verliest das Tagebuch, das ihm der Kamerad vor seinem Verschwinden anvertraut hatte, bei einem redeund trinkseligen „Vier-Herren-Abend“ (13) in einer Westberliner Bar. Es handelt sich um ein geselliges Veteranentreffen, wie die bundesdeutsche Gesellschaft jener Jahre zahllose kannte. Diese Herrenrunde bildet den narrativen Rahmen des Romans. Die Unterhaltung verknüpft die Kriegserlebnisse der Freunde – dazu zählt auch ein Bericht über die Liquidation von Partisanen durch die Wehrmacht (109 – 113) – mit ganz unterschiedlichen Geschichten und Anekdoten aus verschiedenen Milieus, Ländern und Zeiträumen so lose wie virtuos zu einem Panorama des mittleren 20. Jahrhunderts. Das Holocaust-Kapitel und die Kriegsgeschichten sind nur eine Facette in einem zunehmend amüsanter werdenden erzählerischen Reigen. Insofern gehört das Werk auch nur bedingt zur Gattung des Kriegsromans. Aus heutiger Sicht spiegelt diese wie selbstverständlich erfolgte Einbettung des Tagebuchs in das Anekdotenrepertoire eines klandestinen Veteranenabends den Er N.N.: Boccaccio in der Bar. In: Der Spiegel (21.03.1956), S. 44 – 46, hier: S. 45.

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fahrungs- bzw. Wissenshorizont der ehemaligen Wehrmachtssoldaten anschaulich wider, zu dem die Beteiligung der Wehrmacht an der Judenvernichtung nachweislich gehörte. 97 Für die zeitgenössische Literaturkritik bot Scholz’ heterogener „Novellenkranz“ 98 die Möglichkeit, es in Bezug auf die inkriminierenden Abschnitte bei vagen Andeutungen zu belassen. 99 Es dürfte denn wohl eher an der hochgelobten Erzählstruktur des Buches mit dem Untertitel „So gut wie ein Roman“ gelegen haben, dass „Am grünen Strand der Spree“ trotz seines knapp neunzigseitigen Holocaust-Einstiegs zu einem Bestseller und Scholz dafür 1956, im Jahr der von Gert Westphal inszenierten Hörspielfassung des Südwestfunks, sogar mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet wurde. 100 Im Roman möchte der Vorleser Lepsius das Tagebuch von Jürgen Wilms als Grundlage für eine Filmproduktion anbieten. Dieses Vorhaben kommentiert der Filmschaffende Hesselbarth abschlägig: „Das Drehbuch sehe ich vor mir, hingegen den Produzenten, der das machen würde, wird kein Mensch je zu Gesichte bekommen“ (86). In der Tat sah es Mitte der 1950er Jahre noch nicht danach aus, dass sich die maßgeblichen Instanzen des Filmwesens auf solche hochbrisanten thematischen Experimente einlassen würden. Die Filmpolitik der frühen Bundesrepublik hatte gerade in Bezug auf kriegsbezogene Sujets ein weit vernetztes Mediendispositiv etabliert. Verschiedene Ministerien, die im Aufbau begriffene Bundeswehr und staatliche Stiftungen der Filmförderung sorgten gemeinsam mit der FSK durch verschiedene Maßnahmen verdeckter Zensur dafür, dass in Kriegsfilmen die nationalsozialistischen „Verstrickungen der Wehrmacht, insbesondere das Thema Kriegsverbrechen, nicht vorkamen“. 101 Scholz weist selbst durch die Figur des Schauspielers Bob Arnoldis auf diesen Umstand hin. „[M]ilitärische Beratung? Das ist doch jetzt die Masche beim Film“, so Arnoldis. „Wir haben hier nämlich abrüstende Pazifisten und aufrüstende Heldensöhne gleichzeitig zu sein. Man ist prinzipieller Kriegsgegner, aber, bei Lichte besehen, mehr des vorigen Krieges als des nächsten“ (26). Es ist bezeichnend, dass noch ein halbes Jahrzehnt vergehen musste, bis ein solcher Stoff zum Impuls für eine gesellschaftliche Anschlusskommunikation werden konnte, und zwar in Form seiner Verfilmung im neuen Massenmedium Fernsehen. Der renommierte Regisseur Fritz Umgelter, der bereits ein Jahr zuvor den Bestseller von Joseph Martin Bauer „So weit die Füße tragen“ äußerst erfolgreich als TV-Mehrteiler realisiert hatte, drehte eine Adaption von „Am grünen Strand der Spree“, die Anfang 1960 in fünf Folgen ausgestrahlt wurde. Mit dem „Tagebuch des Jürgen Wilms“ als ers Vgl. Neitzel, Sönke/Welzer, Harald: Soldaten: Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben. Frankfurt/M.: Fischer 42011, S. 156/157. 98 Korn, Karl: Berliner Dekameron 1955. In: FAZ (28.01.1956), S. 24. 99 Vgl. neben dem „Spiegel“ z. B. Schwab-Felisch, Hans: „Am grünen Strand der Spree“ – Zu dem Berlin-Buch eines neuen Autors. In: Die Zeit (20.10.1955), S. 7; Kaiser, Joachim: So gut wie ein Ufa-Film. In: Texte+Zeichen 2, 1956, H. 5, S. 536 – 542. 100 Vgl. Spiegel, Boccaccio. 1956, S. 44. Die „Spiegel“-Rezension gibt auch einen Überblick über weitere Besprechungen des Romans. 101 Hugo, Philipp von: Beobachten, bürgen und zensieren – Filmpolitik mit dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre. In: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 31, 2003, S. 62 – 91, hier: S. 84. 97

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tem Teil präsentierte Umgelter seine Produktion mit einem Paukenschlag: Der Film zeigt in einer 20-minütigen Sequenz in unkommentierter Deutlichkeit Massenerschießungen von Juden unter der Aufsicht von Wehrmachtseinheiten. 102 Damit brach Umgelter erstmals im Rahmen einer aufwändigen TV-Produktion des westdeutschen Fernsehens das „Bildertabu“ über den Holocaust und „desavouierte“ den Mythos von der „sauberen“ Wehrmacht gleich mit. 103 Seine Darstellung der Judenvernichtung auf einer massenmedialen Basis lässt sich als Beleg für die zunehmenden „medialen Kontrollverluste“ 104 der bundesdeutschen Filmpolitik anführen; sie trug entscheidend zur Auslösung der Debatte um die Thematisierung der Shoah in den Künsten bei. Es ist die „Durchsetzung der Akzeptanz von Themen“, auf der der „gesellschaftsweite Erfolg von Massenmedien“ beruht. 105 So sind in Umgelters Verfilmung „alle Fragen nach der Darstellbarkeit des ‚Holocaust‘ aufgeworfen, um die in den sechziger Jahren […] erbittert gestritten werden sollte“. 106 Das Massenmedium Fernsehen, so kommentierte der „Spiegel“, erwies sich dabei als geeigneter als das kommerzielle Kino, um von der Literatur aufgeworfene Tabuthemen zu visualisieren: „Und noch etwas kann das Fernsehen, was der Film nicht kann: Es kann politisch unbequem sein, ohne Gefahr zu laufen, vor leere Stuhlreihen oder in den Wirkungsbereich von Stinkbomben und weißen Mäusen zu geraten. Zumindest kann es die Vorstellungskraft derer beleben, die millionenfachen Mord für eine Frage der Arithmetik halten.“ 107

Der „Spiegel“ betont hier nichts anderes als den Wirkungszusammenhang von Irritation und systemischer Selbstreferenz, von medialer Aufstörung und gesellschaftlicher Anschlusskommunikation. Insofern markiert „Am grünen Strand der Spree“ in medien- und erinnerungsgeschichtlicher Perspektive die Diskursverschiebung, zu der es in der öffentlichen Kommunikation über die NS-Vergangenheit am Übergang von den 1950er zu den 1960er Jahren kam, und steht folglich mit am Anfang jener „kollektiven Lernprozesse“, die „zu einem immer umfassenderen Einstellungswandel im Sinne einer strikten Abgrenzung vom Dritten Reich führten.“ 108 Vgl. Am grünen Strand der Spree. DVD 1. ARD Video 2010 [Erstausstrahlung: NWRV 1960], 1:09:45 – 1:27:53. 103 Seibert, Peter: Bruch mit dem Bildertabu: Der Beginn des visuellen Erinnerns im westdeutschen Fernsehen an den nationalsozialistischen Völkermord. In: Erinnerungsarbeit. Grundlage einer Kultur des Friedens. Hrsg. von Bernhard Nolz/Wolfgang Popp. Münster: Lit 2000, S. 125 – 140, hier: S. 127. 104 Bösch, Frank: Am Ende einer Illusion: Mediale Kontrollverluste in der frühen Bundesrepublik und der DDR. In: Archiv für Mediengeschichte 4, 2004, S. 195 – 205. 105 Luhmann, Realität. 2009, S. 22. 106 Seibert, Bruch. 2000, S. 139; vgl. auch Hickethier, Knut. Nur Histotainment? Das Dritte Reich im bundesdeutschen Fernsehen. In: Der Nationalsozialismus, die zweite Geschichte: Überwindung, Deutung, Erinnerung. Hrsg. von Peter Reichel u. a. München: C.H. Beck 2009. S. 300–317, hier: S. 303/304. 107 Telemann: Imperfektion. In: Der Spiegel (30.03.1960), S. 61. 108 Wolfrum, Edgar: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Bonn: bpb 2007, S. 181. 102

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Wie an der „Spiegel“-Besprechung bereits gesehen, erweist sich das Feuilleton dabei wiederum als ein Seismograph für die allgemeinen Tendenzen der beginnenden Bewusstseinsveränderung jener Jahre. Hatten die Rezensenten auf das Erscheinen von Scholz’ Roman wie bei Böll noch weitgehend mit der Strategie des kollektiven Ignorierens reagiert, wird nun, fünf Jahre später, an seiner Verfilmung gerade die Explizität der HolocaustReferenz gewürdigt: „Der Regisseur, Fritz Umgelter, hat die Wahl gehabt, auszuweichen oder standzuhalten. Er hielt der Wahrheit und der Wirklichkeit stand. Das Fernsehen war auf seiner Seite“, kommentierte z. B. die „FAZ“. Und weiter: „Vielleicht sind wir alle erst jetzt gereift genug, dem Schrecken direkt ins Auge zu sehen. Seit dem Dokumentarfilm ‚Nacht und Nebel‘ hat man auf dem Bildschirm nichts Grauenvolleres gesehen. […] Der Trägheit mitten ins Herz traf diese Sendung auch deshalb, weil Scholz Nuancen kennt und nicht in Schwarz-Weiß zeichnet. Wie viele der ‚anständigen Deutschen‘ mögen sich in dem Obergefreiten Wilms wiedererkannt haben, einem Manne, der ‚sein dämliches Halt erst geschrien hat, als schon alles geschehen war‘…“ 109

9. Die Ausführungen des vorliegenden Beitrags zielten am Beispiel des Umgangs mit dem Thema Kriegsverbrechen im westdeutschen Literatursystem der Nachkriegszeit auf die Verdeutlichung folgender Aspekte einer system- wie diskurstheoretisch fundierten Theorie der Störung: 1) Grundsätzlich ist zu konstatieren, dass mit der kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Kategorie ‚Störung‘ eine weitere Schnittstelle zwischen System- und Diskurstheorie gegeben ist. 110 Beide Forschungsrichtungen beschreiben Phänomene, die sich mit der Kategorie ‚Störung‘ begrifflich zusammenbringen lassen. Systemtheoretisch wie diskursanalytisch argumentierende Ansätze erachten solche Phänomene (Irritation der systemischen kommunikativen Selbstreferenz – Infragestellung diskursiver Toleranzgrenzen) als Impulsgeber für gesellschaftliche Entwicklungs- und Wandlungsprozesse und somit als wichtige Faktoren einer dynamisch konstituierten sozialen Stabilität. 2) Mit der diskursanalytischen Kategorie des ‚Dispositivs‘ wird es möglich, das kooperative Zusammenspiel der systemischen Handlungsrollen, die diskursiven Praktiken und konkreten Maßnahmen begrifflich zu fassen, zu denen es kommt, wenn ein Handlungssystem aufgrund einer Irritation kommunikative Selbstverständigung für nötig erachtet und zwingenden Handlungsbedarf (auch das meint frz. urgence) sieht. Die Ausdrucksformen und Wirkungsweisen des Handlungssystems Literatur

N.N.: Wider die Trägheit – Tagebuch des Fernsehers. In: FAZ (28.03.1960), S. 16. Zu Überschneidungen und Differenzen vgl. allgemein Kammler, Clemens u. a. (Hgg.): Foucault-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2008, S. 213 – 218.

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auf diese Art in den Blick zu bekommen, kann, wie gezeigt, rezeptionsgeschichtliche Fragestellungen um neue Facetten ergänzen. 3) Störung und Entstörung erweisen sich im kommunikativen Prozess als zwei Seiten derselben Medaille. In Bezug auf literaturgeschichtliche Gegenstände hat die Forschung traditionell ein starkes Gewicht auf die Untersuchung der Handlungsrolle der Produktion und die Texte gelegt und das Augenmerk auf Poetologien der Störung etwa im Sinne strukturalistischer Deviationsmodelle gerichtet. Wie bereits Wolfgang Iser betont hat, lassen sich künstlerische Verfahren aber nur dann als ‚Abweichungen‘ von einer ‚normalen‘ diskursiven Praxis im Sinne eines poetischen Prinzips fassen, wenn geklärt ist, was denn in einem gegebenen gesellschaftlichen Kontext unter ‚normal‘ zu verstehen sei. 111 Deshalb ist ein erweiterter Literaturbegriff vonnöten, der Autoren und Werke in ihre sozialsystemische Umwelt einbettet. Die Reaktionen des Literatursystems bzw. seines kommunikativen Dispositivs aus den Instanzen der Vermittlung und der Rezeption samt deren Strategien und Maßnahmen der Entstörung – oder zur Beförderung von Störungsangeboten! – zu untersuchen, gibt Aufschluss über die Intensität und den Wirkungsgrad künstlerisch-störender Kommunikationsofferten.

Vgl. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. München: Fink 31990, S. 145 – 151; vgl. außerdem Ibler, Reinhard: Die ‚produktive Störung‘: Zu Jan Mukařovskýs Konzept der Nichtintentionalität in der ästhetischen Wahrnehmung. In: Literatura a filozofie (Zdenek Mathauser). Kolektivní monografie. Brno: Masarykova univerzita 2008, S. 45 – 57.

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Noise – Rauschen zwischen Störung und Geräusch im 19. Jahrhundert

1. Geräusch, Störung, Rauschen Der amerikanische Mathematiker Claude E. Shannon formulierte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Theorie, die Kommunikation und Information gänzlich unhermeneutisch als statischen Selektionsprozess beschrieb. 1 Demnach wählt eine Informationsquelle Elemente aus, die dann von einem Sender durch einen Kanal gesendet und von einem Empfänger in einem weiteren Selektionsprozess, der Impulse aus dem Kanal ausliest, empfangen werden. 2 Information Source

transmitter

receiver

signal

destination

received signal

message

message

noise source

Abb. 1: Claude E. Shannon, Schematisches Diagramm eines allgemeinen Kommunikationssystems

Die Trias von Sender, Kanal und Empfänger hatte nicht nur nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung von Kommunikationstechnologien, sondern schlug sich auch in Kyber­netik, Linguistik und Kommunikationstheorie nieder. Für die gegenwärtige kulturwissenschaft Claude E. Shannon veröffentlichte 1948 „A Mathematical Theory of Communication“. (Shannon, Claude E.: Mathematical Theory of Communication. Urbana: University of Illinois 1949) Diese Theorie hat viele strukturelle Ähnlichkeiten zu Shannons Papier „Theory of Secrecy Systems“, das von 1945 stammt, jedoch, da es als geheim klassifiziert war, erst 1949 publiziert wurde (vgl. Shannon, Claude. E.: Communication Theory of Secrecy Systems. In: Bell System Technical Journal 28 (1949), H.4, S. 656 – 715). 2 Vgl. Shannon, Mathematical Theory. 1949, S. 4 – 6.

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liche Diskussion ist dieses Modell ebenfalls zentral, weil es ermöglicht, Kommunikation posthermeneutisch und posthuman zu denken. Denn was hier kommuniziert, sind nicht notwendigerweise selbstbewusste Subjekte, es können auch Funkstationen, Computerserver, oder Waffensysteme sein. Zudem ermöglicht diese Theorie, Störung beziehungsweise noise als ein zentrales Moment der Datenvermittlung zu thematisieren. Für Shannon ist „noise“ eine allgegenwärtige Bedrohung, die die Übertragung von Informationen verkompliziert. 3 Noise besteht aus externen Elementen, die den Kanal gewissermaßen verschmutzen und die beim Empfangen vom Empfänger wieder herausgefiltert werden müssen. Das Modell, das Shannon vorstellt, findet zwar zunächst seine primäre Verwendung im Funkwesen und auf anderen Gebieten der Elektrotechnik, aber bereits Shannon und noch wesentlich vehementer sein Kollege Warren Weaver attestieren ihrer Theorie eine Allgemeingültigkeit, die sie auf alle Formen von Kommunikation anwendbar machen soll. 4 In der Tat fand Shannons Analyse nicht nur Zuspruch in technischen und kommunikationswissenschaftlichen Bereichen, sondern wurde auch von Kultur- und Literaturwissenschaftlern rezipiert. Besonders die Medientheorie Friedrich Kittlers geht in vielfacher Hinsicht von dieser mathematischen Theorie der Kommunikation aus. 5 Für Kittler ist Shannons Modell zentral, weil es ihm ermöglicht, Kommunikation und Verstehen nicht mehr primär als menschliche Aktivitäten, sondern als Medieneffekte zu denken. Friedrich Kittler war bei weitem jedoch nicht der Erste, der Shannons Theorie benutzt hat, um sie für die Analyse von kulturellen Artefakten, Prozessen, Institutionen oder „Aufschreibe­ systemen“ zu verwenden. Schon Umberto Eco eröffnet sein Buch „Das offene Kunstwerk“ mit einer Diskussion von Shannons Theorie und verwendet dessen Begriff der Störung, um die interpretative Unschärfe, die zentral für seine Rezeptionsästhetik ist, zu erklären. 6 Am nachhaltigsten dürfte jedoch die Schule der „Konkreten Poesie“ Shannon an kulturwissen Vgl. ebd., S. 34. Warren Weaver gab mit seinem Text „Recent Contributions to the Mathematical Theory of Communication“ eine Zusammenfassung von Shannons Theorie, die auch ohne große mathematische Kenntnisse zugänglich ist. Dieser Text trug sicherlich zu der Verbreitung von Shannons Kommunikationstheorie bei. Weaver bemüht sich zu zeigen, dass die All­ge­ meingültigkeit der Theorie gerade darin begründet ist, dass Shannon die technische Seite von Kommunikation untersucht (vgl. Weaver, Warren: Recent Contributions to the Mathematical Theory of Communication. In: Shannon, Mathematical Theory. 1949, S. 94 – 117). 5 Shannons Modell einer bedeutungsunabhängigen Beschreibung von Kommunikation ist zentral für Kittlers nichthermeneutische Analyse von Aufschreibesystemen. Kittlers Aufsatz „Signal-Rausch-Abstand“ macht diese Verbindung explizit (Kittler, Friedrich: Signal-RauschAbstand. In: Kittler, Friedrich: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig: Reclam 1993, S. 161 – 181). Für eine weitere Diskussion des Einflusses von Shannon auf Kittler siehe beispielsweise: Winthrop-Young, Geoffrey: Friedrich Kittler zur Einführung. Hamburg: Junius 2005; Gains, Nicholas: Radical Post-humanism, Friedrich Kittler and the Primacy of Technology. In: Theory, Culture & Society 22 (2005), H. 3, S. 25 – 41; Krämer, Sybille: Friedrich Kittler – Kulturtechnik als Zeitachsenmanipulation. In: Medientheorien: Eine philosophische Einführung. Hrsg. von Alice Lagaay/David Lauer. Frankfurt/M./New York: Campus 2004, S. 201 – 225. 6 Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977. 3

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Noise zwischen Störung und Geräusch

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schaftliche aber auch poetologische Programme angeschlossen haben. Hier ist es besonders der Mathematiker und Philosoph Max Bense, der eine informationstheoretische Ästhetik im expliziten Rückgriff auf Shannon formuliert. 7 Für diese Ästhetik ist der noise-Begriff von zentraler Bedeutung, weil er die Komplexität und Unbestimmtheit von ästhetischen Phänomenen mit mathematischen Prozeduren generier- und beschreibbar macht. In diesem Zusammenhang sind auch die Arbeiten des französischen Philosophen Michel Serres bedeutsam. 8 Serres modifiziert Shannons Ansatz auf sowohl theoretisch als auch sprachlich komplexe Weise. Er nähert sich in seiner Kommunikationstheorie dem Rauschen durch das Wort „parasite“ an, das im Französischen als adjektivischer Zusatz benutzt wird, um Signale von Störgrößen zu unterscheiden („signal“/„signal parasite“). Für Serres ist der parasite nicht einfach ein störendes Element, das in die Kommunikation eindringt, sondern ein Element, das aus der Komplexität der Kommunikation selbst emergiert. Der Parasit geht in diesem Sinne eine Symbiose mit seinem Wirt, bei Serres die Kommunikation selbst, ein. 9 Alle diese Ansätze von Eco und Bense bis zu Serres und Kittler haben gemeinsam, dass sie von Shannons Begriff des noise ausgehen und sich dazu entscheiden, diese Kategorie als eine Art technische Störung zu fassen. Dieses Verfahren ist durchaus folgerichtig, wenn man den ingenieurwissenschaftlichen Kontext von Shannons Arbeiten berücksichtigt. Es vernachlässigt jedoch ein weites semantisches Feld, in das Shannons noise-Begriff eingebettet ist. Dies ist umso evidenter, wenn man berücksichtigt, dass die Bedeutung von technischer Störung beim noise erst relativ neuen Datums ist und auf die Entwicklung der modernen Nachrichtentechnik zurückgeht. Die primäre Bedeutung von noise dagegen ist „Geräusch“, also ein unangenehmer, störender Ton. Die Zuspitzung im Deutschen auf die (technische) Störung wird der Polysemie des englischen Terms nicht gerecht. Die Konsequenz ist, dass man im Deutschen wohl eine höhere kategoriale wie analytische Trennschärfe erreicht; diese nimmt dem noise-Begriff jedoch die Eleganz der Mehrdeutigkeit, die es im Englischen ermöglicht, eine Trias von akustischem Geräusch, romantischem Rauschen und technischer Störung in einem Wort zu bündeln. Diese Bündelung ist nicht als ein bloßes „Gleichmachen“ zu verstehen, zu dem die englische Sprache einlädt; sie verweist vielmehr auf Strukturähnlichkeiten zwischen Geräusch und Störung. In diesem Aufsatz möchte ich aufzeigen, dass das semantische Feld des Begriffs „noise“, in dem das akustische Geräusch mit so etwas wie einer informationstheoretischen Störung verschaltet ist, nicht erst von der Informationstheorie erzeugt wurde, sondern bereits im 19. Jahrhundert insbesondere von Physiologen entfaltet wurde. Weiterhin werde ich anhand von Edgar Allan Poes Kurzgeschichte „Murders in the Rue Morgue“ 10 zeigen, dass dieser Text bereits eine „Hermeneutik des Noise“ entwirft, die als eine Vorstufe der gegenwärtigen medientheoretischen Diskussionen angesehen werden kann. Vgl. Bense, Max: Einführung in die informationstheoretische Ästhetik. Grundlegung und Anwendung in der Texttheorie. Reinbek: Rowohlt 1969. 8 Von besonderem Interesse ist hier Serres, Michel: Der Parasit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981. 9 Vgl. ebd., S. 29. 10 Poe, Edgar Allan: Murders in the Rue Morgue. In: Ders.: Tales. New York: Wiley & Putnam 1845, S. 116 – 150. 7

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86 2. Das akustische Geräusch und die physiologische Störung

Im 19. Jahrhundert fand eine radikale Demystifizierung des menschlichen Subjekts statt. Die res cogitans, als Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion im Gefolge von Descartes zunächst frei von jeder empirischen Störung vorgestellt, wird in den psychotechnischen Labors nun verstärkt in Frage gestellt und zum Bestandteil eines neuronalen Kommunikationssystems erklärt, das durchaus anfällig für Störungen und Selbsttäuschungen ist. Wissenschaftler wie Fechner, Helmholtz, Wundt oder Mach zergliedern das Subjekt in verschiedene, technisch analysierbare Sinneswahrnehmungssysteme. Vor diesem Hintergrund ist es folgerichtig, dass Helmholtz monumentale Werke zur Optik und zur Akustik vorlegte. Besonders Helmholtz’ Überlegungen zur Akustik sind für ein Verständnis der Unterscheidung von Geräusch und Ton zentral. Helmholtz entwickelte seine Theorie der Akustik in der „Lehre von den Tonempfindungen“ von 1863. 11 In diesem Buch definiert er Akustik als die Theorie von den Bewegungen elastischer Körper und erklärt, dass die Empfindungen von Ton und Geräusch von unterschiedlichen Frequenzstrukturen abhängen: „Um das Wesen des Unterschieds zwischen Klängen und Geräuschen zu ermitteln, genügt in den meisten Fällen schon eine aufmerksame Beobachtung des Ohres allein, ohne daß es durch künstliche Hilfsmittel unterstützt zu werden braucht. Es zeigt sich nämlich im Allgemeinen, daß im Verlaufe eines Geräusches ein schneller Wechsel verschiedenartiger Schallempfindungen eintritt. [...] Ein musikalischer Klang dagegen erscheint dem Ohre als ein Schall, der vollkommen ruhig, gleichmäßig und unveränderlich dauert, so lange er eben besteht, in ihm ist kein Wechsel verschiedenartiger Bestandteile zu unterscheiden. Ihm entspricht also eine einfache und regelmäßige Art der Empfindung, während in einem Geräusche viele verschiedenartige Klangempfindungen unregelmäßig gemischt und durch einander geworfen sind.“ 12

Helmholtz stellt fest, dass unterschiedliche, regelmäßige und unregelmäßige Vibrationen der Luft verschiedenen Empfindungen des Tons oder Geräuschs korrespondieren. Die ästhetische Differenz zwischen Ton und Geräusch wird hier ablesbar in den messbaren Differenzen der beiden Phänomene. Die Unterscheidung zwischen musikalischem Ton und nicht-musikalischem Geräusch entspricht einer objektiven, physikalischen Unterscheidung: Während ein Ton eine klare, sich wiederholende Struktur hat, besteht das Geräusch aus einer unregelmäßigen Zusammensetzung von Schallschwingungen. Daher kann es auch nicht in ein symbolisches Notensystem aufgenommen werden, das von einer verlässlichen Wiederholbarkeit von Frequenzstrukturen abhängt. Das Geräusch ist aber nicht nur problematisch, weil es physikalisch gesehen „unordentlicher“ ist als der Ton, son­­dern weil es auch auf einer physiologischen Ebene eine Störung verursacht. Helmholtz, Hermann: Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Musiktheorie. Braunschweig: Vieweg 1865. 12 Ebd., S. 14. 11

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„Bei fortdauernd gleichmäßiger Einwirkung des Lichtreizes führt also dieser Reiz selbst eine Abstumpfung der Empfindlichkeit herbei, wodurch das Organ vor einer zu anhaltenden und heftigen Erregung geschützt wird. Anders verhält es sich dagegen, wenn wir intermittierendes Licht auf das Auge wirken lassen, Lichtblitze mit zwischenliegenden Pausen. Während der Pausen stellt sich die Empfindlichkeit einigermaßen wieder her, und der neue Reiz wirkt also viel intensiver, als wenn er in derselben Stärke dauernd eingewirkt hätte. Jedermann weiß, wie äußerst unangenehm und quälend eine flimmernde Beleuchtung ist, selbst wenn sie an sich verhältnismäßig sehr schwach ist, z. B. von einer kleinen flackernden Kerze herrührt. Auch mit den Tastnerven verhält es sich ähnlich. Reiben mit dem Nagel ist für die Haut viel empfindlicher, als dauernde Berührung einer Stelle mit demselben Nagel bei demselben Drucke. Das Unangenehme des Kratzens, Reibens, Kitzelns beruht darauf, daß sie alle eine intermittierende Reizung der Tastnerven hervorbringen. Ein knarrender, intermittierender Ton ist für die Gehörnerven dasselbe, wie flackerndes Licht für die Gesichtsnerven und Kratzen für die Haut. Es wird dadurch eine viel intensivere und unangenehmere Reizung des Organs hervorgebracht, als durch einen gleichmäßig andauernden Ton.“ 13

Zunächst ist dieses Zitat bemerkenswert, weil es die störenden Effekte im akustischen Bereich anhand eines optischen Beispiels expliziert und somit eine synästhetische Komponente in Helmholtz’ Denken zeigt. Irritationen, Reizungen und Störungen sind nicht etwas, von dem nur das akustische Organ sondern auch die taktile und optische Empfindung betroffen sein können. Dementsprechend geht es auch hier nicht unmittelbar um das Geräusch, sondern darum wie man eine physiologische Irritation oder Störung allgemein erklären kann. Der Grund für eine Irritation basiert für Helmholtz nicht auf verschiedenen Formen eines ästhetischen oder hermeneutischen Verstehens, sondern kommt durch eine klare physiologische Reaktion auf eine spezifische Form der Überstimulation zustande. Unregelmäßige, aber konstant wiederholte, unter Umständen mit hoher Frequenz auftretende Sinnesreizungen irritieren – sie „nerven“. Dies ist nicht nur eine sehr anschauliche Darstellung einer weitbekannten Empfindung, hier findet sich auch Helmholtz’ Feststellung wieder, dass ein ästhetisch wahrnehmbarer Stimulant (der Ton) eine regelmäßige Struktur hat. Dies bedeutet in informationstheoretischer Perspektive, dass ein Ton wenig Information besitzt, also aus erwartbaren Redundanzen besteht, während ein unästhetischer Reiz (das Geräusch) eine sensorische Überforderung darstellt, weil hier ein Durcheinander von Frequenzen das menschliche Wahrnehmungssystem in einen Alarmzustand versetzt. Nach Helmholtz kann ein unregelmäßiges Geräusch nie zu ästhetischer oder hermeneutischer Kontemplation führen. Störung und Ton stehen hier nebeneinander, sie werden als polare Größen aufgebaut, wobei das Geräusch zu einem Phänomen wird, dessen Kom­ plexität so hoch ist, dass es keinen symbolischen Gehalt zu transportieren vermag und das Ohr lediglich unangenehm reizen beziehungsweise stören kann. 14 Ebd., S. 255. Dies ist sicherlich eine vereinfachte Darstellung von Helmholtz’ Position. Helmholtz’ großes Verdienst bestand u. a. darin, dass er Elemente wie die Klangfarbe analysierbar gemacht hat.

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Helmholtz widmet sich in seinen Überlegungen primär dem Feld der Musik. Die Geräusche und Töne des alltäglichen Lebens werden nicht systematisch thematisiert. Er entwirft seine Akustik jedoch in einer Zeit, in der durch die industrielle Revolution eine Vielzahl von neuen Geräuschen, ausgelöst besonders durch die moderne Massenproduktion und die neuen Verkehrsmittel, in das Alltagsleben einbrachen. In den USA löste diese Seite der gesellschaftlichen Modernisierung eine Kampagne gegen Alltagslärm aus, in der sich Helmholtz’ Vorstellung von der hohen Komplexität des Geräuschs spiegelt. Der Text von John H. Girdner „The Plague of Noise“ über die Lärmverschmutzung der Städte belegt beispielhaft, auf welche Weise das Geräusch bzw. die Störung im späten 19. Jahrhundert pathologisiert wurde: „The act of hearing should not require attention. Under ordinary circumstances, no effort calling out consciousness of the operation is elicited. The vibrations, or sound waves, are conducted to the sensorium, where they are interpreted and duly considered. But when a Bale of discordant sounds and noises of every degree of harshness and force is poured into the auditory canals, an effort, indeed, is required to catch the sounds we wish to interpret, and to eliminate those which are not only of no consequence, but positively painful. This sustained effort of selection and elimination is an incalculable strain and source of exhaustion to our nervous energy. The fact that persons who live in the midst of confusing and discordant noises, as do the dwellers in large cities, become in time accustomed to them, is no proof that the noises are any the less destructive and exhausting to the brain and nervous system. Such persons have only become expert in discriminating and selecting the sounds in which they be interested at the moment.“ 15

In seinem 1896 erschienen Artikel fordert der Arzt und aktive Anti-Lärm-Lobbyist Girdner einen störungsfreien Kanal als die Bedingung, die eine reibungslose Kommunikation garantiert. Das Empfangen von Information soll nach Girdner mit einem Minimum an Aufmerksamkeit geschehen können, das heißt ohne Störungen, die das Subjekt dazu nötigen, die richtige Botschaft aus einem verrauschten Kanal erst selektieren zu müssen. Die Umwelt einer modernen Stadt – in diesem Fall New York – fordert eine große Menge von Aufmerksamkeit und Konzentration, ein Umstand, den Girdner als Ursache für Stress identifiziert, den er als einen wichtigen Faktor für die Entstehung von Krankheiten betrachtet. Girdners Verständnis von Geräusch – beziehungsweise von Störung (beide fallen hier semantisch zusammen) – als etwas, das kommunikative Prozesse kompliziert, nähert sich Shannons noise-Begriff an. Noise ist ein Element, das die Selektion der korrekten Botschaft aus einem Kanal erschwert. Es ist auffallend, dass Girdner diese Komplikation nicht einfach als etwas versteht, was kompensiert werden könnte. Für Girdner bleiben Geräusche immer Störungen, die pathologische Effekte hervorrufen. Auch wenn Individuen sich auf die Störungen einstellen, bleiben sie immer negativ von dem Geräusch betroffen. Girdner ist sich sicher, dass der Mensch nicht dafür geschaffen ist, permanente Dennoch ist zu betonen, dass die Unterscheidung von Ton und Geräusch für Helmholtz’ Musikästhetik zentral ist. 15 Girdner, John H.: The Plague of City Noises. In: The North American Review 163, 1896, S. 296 – 304, Zitat: S. 297 f.

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Störungen auszuhalten, nicht weil es so schwer wäre, Geräuschen zuzuhören (wie bei Helmholtz), sondern weil Geräusche Kommunikation stören. Mit dem Hinweis auf Ähnlichkeiten zwischen Shannons, Helmholtz’ und Girdners Positionen möchte ich nicht behaupten, dass es im 19. Jahrhundert eine Informationstheorie avant la lettre gab, sondern darauf hinweisen, dass das posthermeneutische Verständnis von Kommunikation, das gegenwärtige medientheoretische Diskussionen kennzeichnet, nicht aus dem technischen a priori des informationstheoretischen Paradigmas hervorgeht, sondern sich bereits in der Psychophysik des 19. Jahrhunderts niederschlug. Auch die Literatur jener Zeit thematisiert das Phänomen bereits in diesem Sinn. Um die Annäherung von Geräusch, Rauschen und Störung im 19. Jahrhundert exemplarisch zu verdeutlichen, ist es lohnenswert, einen Blick in Edgar Allan Poes Erzählung „Murders in the Rue Morgue“ zu werfen. Anhand einer detaillierten Textanalyse lässt sich zeigen, dass auch Poe bereits Störung, Rauschen und Geräusch im Zusammenhang betrachtet. Das Besondere an „Murders in the Rue Morgue“ ist, dass Poe dabei eine Art Hermeneutik der Störung entwirft, während Helmholtz und Girdner Geräusch, Störung und Rauschen zu ästhetischen, hermeneutischen oder kommunikativen Barrieren erklären. In Poes Kriminalgeschichte wird noise nicht verworfen, sondern vom Detektiv für das Verständnis und letztlich für die Lösung des Mordfalles genutzt. Poes Text, so meine These, kann man als eine medientheoretische Urszene betrachten, die auf die Relevanz einer Hermeneutik der Störung für medientheoretische Fragestellungen verweist. 3. Der Detektiv und das Rauschen E. A. Poe ist keine zentrale Figur im gegenwärtigen Diskurs um Störung oder Geräusch. In vielen seiner Texte kommt den subtilen, störenden Elementen des täglichen Lebens aber eine zentrale Funktion zu. Seine Protagonisten werden zwar nicht von lauten Städten oder Maschinengeräuschen heimgesucht, die jene neurasthenischen Anfälle hervorrufen, vor denen Ärzte wie Girdner warnten. Vielmehr werden sie Opfer von sich subkutan einschreibenden Irritationen und Hintergrundgeräuschen beziehungsweise Hintergrundstörungen. So z. B. das tote, schlagende Herz in „The Tell-Tale-Heart“, die regelmäßig ertönende Standuhr in „The Masque of the Red Death“, das kaum hörbare Kratzen der scheintoten Schwester in „The Fall of the House of Usher“ und nicht zu vergessen das berühmte Klopfen des Rabens. Poes Sensitivität für das Geräusch schließt jedoch auch Geräusche als komplexe Störungselemente mit ein. 16 Ein Hören und Erkennen von Störung beziehungsweise Rauschen ist schließlich von zentraler Bedeutung für die Kurzgeschichte „Murders in the Rue Morgue“ (1814). Für eine detaillierte Diskussion solcher Hintergrundgeräusche vgl. meinen Aufsatz: Niebisch, Arndt: Ticken vs. Rauschen. Geräusche bei Poe und Kafka. In: Komparatistik. Jahrbuch der deutschen Gesellschaft für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft (2007), S. 77 – 87.

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„Murders in the Rue Morgue“ ist die Geschichte, mit der Poe den Detektiv C. Auguste Dupin einführt und das Genre der populären Kriminalerzählung begründet. Dupin liest in einer Zeitung von den grausamen Morden an Mademoiselle L’Espanaye und ihrer Tochter. Ihre Leichen wurden schrecklich verstümmelt in ihrer verwüsteten Wohnung aufgefunden. Die Polizei ist ratlos; sie kann nicht erklären, wie der Mörder in die Wohnung eindringen und wieder entfliehen konnte. Aufgrund der Zeitungsberichte und durch einen Besuch des Tatorts gelingt es Dupin, ausreichende Hinweise zu sammeln, um zu begreifen, dass diese Tat kein Mord, sondern ein tragischer Unfall war, der durch einen entflohenen Orang-Utan verursacht wurde. Das schreckliche Verbrechen in der Rue Morgue, das von einem Affen und nicht von einem menschlichen Wesen begangen wurde, ist von Anfang an eine Szene des Hörens, wie der Zeitungsbericht, den Dupin zu lesen bekommt, klar darlegt: „This morning, about three o’clock, the inhabitants of the Quartier St. Roch were aroused from sleep by a succession of terrific shrieks, issuing, apparently, from the fourth story of a house in the Rue Morgue, known to be in the sole occupancy of one Madame L’Espanaye, and her daughter, Mademoiselle Camille L’Espanaye. After some delay, occasioned by a fruitless attempt to procure admission in the usual manner, the gateway was broken in with a crowbar, and eight or ten of the neighbors entered, accompanied by two gendarmes. By this time the cries had ceased; but, as the party rushed up the first flight of stairs, two or more rough voices, in angry contention were distinguished and seemed to proceed from the upper part of the house. As the second landing was reached, these sounds, also, had ceased and everything remained perfectly quiet.“ 17

Poe gestaltet die Mordszene also nicht als ein optisches Spektakel, sondern als ein akustisches Ereignis, von dem die Zeugen nur wiedergeben können, was sie gehört haben. Der Gendarm erinnert sich daran, dass er zwei Stimmen hörte: eine Stimme, die ganz klar die französischen Worte „sacre“ und „diable“ äußerte, und eine eigentümliche andere, unverständliche Stimme, der er kein Geschlecht zuordnen und deren Sprache er nur raten kann – seiner Meinung nach Spanisch. Ein Nachbar, Henri Duval, gibt einen ähnlichen Zeugenbericht ab, vermutet aber, dass die Sprache der Schreie Italienisch gewesen sei – eine Sprache, die er nicht spricht. Der holländische Restaurateur Oldenheimer, der kein Französisch versteht, hält die Laute für Französisch. Der englische Schneider William Bird ist sich sicher, dass die Worte Deutsch waren, obwohl er des Deutschen nicht mächtig ist. Ohne Englisch sprechen zu können, identifiziert der spanische Bestatter Alfonzo Carcio die Laute als solche. Der Italiener Alberto Montani schließlich tippt auf Russisch, natürlich ebenfalls ohne diese Sprache zu beherrschen. 18 Die Berichte unterscheiden sich nicht voneinander in dem faktischen Inhalt ihrer Aussagen. Alle Zeugen sagen klar, dass sie eine französische Stimme erkennen und weitere Laute hören, die sie nicht identifizieren können. Das Problem ist, dass sie nicht bei dieser Annahme stehen bleiben. Die Wahrheit, dass die Zeugen einfach pure, sinnlose Poe, Murders. 1845, S. 124. Vgl. ebd., S. 129.

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Geräusche hören, ist für sie nicht denkbar. Die Kategorie des Rauschens entzieht sich ihrer analytischen und hermeneutischen Fähigkeiten. Die Aktivität des Hörens fordert hier eine unmittelbare Interpretation, wobei Störungen oder eine gestörte Kommunikation als eine Möglichkeit einfach ausgeschlossen wird. Hören funktioniert hier als ein Störungsfilter, der versucht allen akustischen Empfindungen einen Sinn zu verleihen. Von einer informationstheoretischen Perspektive aus ist dies keine große Überraschung. Wenn man sich in einen kommunikativen Prozess einschaltet, nimmt man an, dass von der Infor­mationsquelle ein Signal gesendet wird. Der Empfänger ist eingeschaltet und durchsucht den Kanal nach potenziell bedeutenden Zeichen ab. Genau diese Vorstellung konstituiert den hermeneutischen Ausgangspunkt von Shannons Modell. Obwohl für Shannon Bedeu­tung keine entscheidende Größe darstellt, setzt er ein Signal voraus, das für einen Emp­fänger bestimmt und das als Botschaft dekodierbar ist. Das Problem von Poes Ohrenzeu­gen ist jedoch, dass dies hier nicht der Fall ist und sie Geräusche mit einer wirklichen Nachricht verwechseln. Das Rauschen wird von vornherein als Signal interpretiert. Die Ironie dieser Geschichte besteht eben darin, dass der Detektiv den Fall kaum hätte lösen können, wenn die Affenschreie nicht so unverständlich gewesen wären. Die Einsicht, dass hier keine Sprache gesprochen wurde, bringt Dupin zu der Erkenntnis, dass es sich bei dem vermeintlichen Täter nicht um einen Menschen handelte. Explizit weist er darauf hin, dass es sich nur um Rauschen, also um keine selektierbare Botschaft, handelte: „No words – no sounds resembling words – were by any witness mentioned as distinguishable.“ 19 Dupins besondere Fähigkeit, die er auch in der Folgegeschichte „The Purloined Letter“ demonstriert, ist, dass er eine spezifische Beobachtungsposition einnimmt, die nicht an einer kommunikativen Situation beteiligt ist, sondern die Wahrnehmung dieser Situation von außen ermöglicht. Im Gegensatz zu Helmholtz und Girdner bietet uns Poe eine Möglichkeit an, das Rauschen, das Geräusch beziehungsweise die Störung in ein Verstehen zu überführen und so eine Hermeneutik des noise zu entwickeln. Für Shannon bedeutet das Empfangen von Informationen die Selektion von Signalen. Der Empfänger hat die Aufgabe, ein übertragenes Signal im Hintergrundrauschen zu finden und zu dekodieren. Durch einen gestörten Kanal zu kommunizieren bedeutet also, durchaus auch in Girdners Verständnis, immer von der Störung wegzuhören. Das bedeutet auch, dass in einer Situation, in der es nur Störung, also kein selektierbares Zeichen gibt, ein hermeneutisches Problem entsteht. Der Selektionsprozess kann nicht abgeschlossen werden, da kein Signal zu finden ist. In einem Kommunikationszusammenhang, an dem hermeneutisch trainierte Empfänger beteiligt sind, wird, wie wir in „Murders in the Rue Morgue“ gesehen haben, zur Not eine Botschaft „erfunden“. Nur der Detektiv ist fähig, dieses Problem zu umgehen.

Ebd., S. 135.

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4. Hermeneutik der Störung und Medientheorie Die interessante und signifikante Differenz zwischen Dupin und den Zeugen ist, dass Dupin nicht hört. Er ist kein Ohrenzeuge, er erhält seine Daten durch die Zeitungen und durch die Inspektion des Tatorts. Er befindet sich damit in einer anderen Beobachtungsposition als die Zeugen. Er erkennt, dass der französische Sprecher nicht fähig war, die Laute als seine Muttersprache zu identifizieren und kann darum die Aussage des holländischen Restaurateurs, er vermute eine auf Französisch schreiende Person, als falsch ausklammern. Auch das Englische kam nicht in Frage, da der britische Schneider William Bird nichts verstehen konnte. Alberto Montani wiederum hätte seine Muttersprache Italienisch wiedererkennen müssen, und so weiter. Weil Dupin davon absieht, das akustische Phänomen zu interpretieren, kann er die Geräusche als Rauschen identifizieren. Seine reflexive Distanz wird durch einen Wechsel in der Beobachtungsperspektive erzeugt, die ihn von der unmittelbaren Erfahrung entkoppelt. Informationstheoretisch gesprochen, erkennt Dupin, dass alle Zeugen Fehler bei der Selektion des Signals gemacht haben. Die Laute sind nicht als übertragenes Signal, sondern als Störung aufzufassen; folglich kann Dupin davon ausgehen, dass es wahrscheinlich gar kein Signal gab. Der entscheidende Unterschied zwischen dem Detektiv und den Zeugen ist, dass er nicht Teil der kommunikativen Situation war und dadurch in der Lage ist, das mediale System an sich zu beobachten. Poes Geschichte läuft auf eine äußerst interessante Konsequenz hinaus: Innerhalb eines Kommunikationsprozesses ist noise nicht unmittelbar als solches wahrnehmbar, weil die Teilnehmer dazu neigen, von ihm „wegzuhören“. Aus diesem Grund verbannte Helmholtz die Irritation aus dem Reich des kontemplativen Hörens. In diesem Sinn betont auch Timothy Campbell in seinem Buch „Wireless Writing in the Age of Marconi“, dass das Weghören vom Rauschen der Übertragung eine grundsätzliche Voraussetzung für den effektiven Gebrauch des drahtlosen Telegraphen war. 20 Die Wahrnehmung von Rauschen reizt immer dazu, eine Botschaft zu finden, ein Signal zu imaginieren. Zu verstehen, dass etwas, was gehört wurde, Störung bzw. Rauschen war, bedarf einer weiteren Beobachtungsperspektive, die eine Außenansicht auf die gesamte Kommunikationssituation ermöglicht. Natürlich gibt es Momente, in denen wir Störungen sehen oder hören, aber diese Störungen sind nicht mehr das Rauschen eines Kanals, sondern indizieren den Abschluss oder die Unterbrechung von Kommunikation. Hier sind Störung und Kommunikation medientechnisch oder physiologisch getrennt – beispielsweise stellt das Ohr fest, dass vor lauter Rauschen keine Botschaft wahrgenommen werden kann, oder der Computer identifiziert eine Zeichenkette auf einem Speichermedium als unlesbar. In diesen Fällen wird Störung erkennbar und kann so neutralisiert und behoben werden. Dabei werden aber stets Zeichen erzeugt, die Rauschen als „Störung“ denotieren. Störungen in der informationstheoretischen Bedeutung von noise geraten nur ins Bewusstsein, wenn sie gleichzeitig Campbell, Timothy: Wireless Writing in the Age of Marconi. Minneapolis: Minnesota UP 2006, S. 73.

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mit der Kommunikation auftreten und wir die Chance haben, aus ihnen potenziell ein Signal zu selektieren. Wenn wir das Knistern in einer Radioübertragung wahrnehmen, aber immer noch hören, was der Radiomoderator uns mitteilt, haben wir schon Störung und Signal voneinander unterschieden, verstehen die Mitteilungen des Sprechers und ignorieren das Rauschen. Das führt zu einem anderen Störungsbegriff als jenen, den die Philosophin Sybille Krämer in ihrer Medientheorie entwirft. Störung ist für Krämer ein zentrales Moment medientheoretischer Reflexion, weil die Störung die Transparenz des Mediums durchbricht und die Materialität der Kommunikation in den Vordergrund rückt. 21 Das Problem bei diesem Gedanken ist, dass Störungen, wenn man von Shannons noise-Begriff ausgeht, durchaus unproblematisch von dem Empfänger verarbeitet werden können. Das Rauschen eines Kanals konstituiert nicht notwendigerweise eine Unterbrechung oder gar ein Zusammenbrechen des Mediums. Zu sagen, dass beispielsweise eine Radiosendung gestört ist, ist keine unmittelbare Erkenntnis, sondern setzt bereits eine klare Vorstellung davon voraus, was eine gestörte und was eine ungestörte Übertragung ist. Beispielsweise ist es möglich, Rauschen störungsfrei über das Radio zu senden. Für den Zuhörer ist es in diesem Fall äußerst schwierig zu entscheiden, ob eine Störung vorliegt. Störung ist also nicht wie Krämer annimmt etwas unmittelbar erkennbares, sondern impliziert eine durchaus avancierte Beobachterperspektive. Die Differenz zwischen Störung und ungestörter Kommunikation wird besonders in avantgardistischen Kontexten problematisch, in denen nicht klar ist, was zu erwarten ist. Es ist vorstellbar, dass ein Wiedergabefehler bei einer Performance von digitaler Musik nicht als Störung auffällt, sondern vom Publikum als intendierter Effekt wahrgenommen wird. Nur der Künstler hat die Möglichkeit zwischen Störung und Signal zu unterscheiden, aber auch nur, wenn er nicht mit Zufallsgeneratoren arbeitet. Tritt dagegen eine Störung auf, bei der also nicht deutlich wird, dass es sich um eine solche handelt, kommt es zu einem hermeneutischen Kurzschluss, der uns dazu verleitet, Botschaften zu imaginieren. Aus diesem Grund kann Störung nur ein Objekt medienphilosophischer Forschungen und nicht eine unmittelbare Erfahrung sein. Die Störung als solche ist Teil einer kommunikativen Situation, aber nie Teil eines erfolgreichen Verstehens. Um die Wechselwirkung von Signal und Störung, um Störung in ihrer störenden Eigenschaft zu beschreiben, bedarf es einer Perspektive, die das Kommunikationssystem als Ganzes betrachten kann. Dies ist genau der Trick von Poes Geschichte. Innerhalb der kommunikativen Situation kann Rauschen nicht als solches perzipiert werden; eine analytische Metaebene ist hierfür notwendig. Shannons im zweiten Weltkrieg entstandene Arbeiten zur Kryptographie machen deutlich, dass diese Annahme durchaus auch im informationstheoretischen Diskurs Resonanz findet. Für Shannon machen sowohl der Interzeptor als auch der Dekodierer, also Freund und Feind, eine rekursive Verästelung des Kommunikationsflusses notwen Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung: Kleine Metaphysik der Medialität. Frank­ furt/M.: Suhrkamp 2008, S. 81.

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dig. Wie Erhard Schüttpelz in seinem Aufsatz „Ikonographie der Störung“ 22 gezeigt hat, kann die Entscheidung von gelungener und gestörter Kommunikation nicht innerhalb des Flusses Sender-Kanal-Empfänger entschieden werden, sondern muss von einem „observer“ bestimmt werden, der Sender und Empfänger übergeordnet ist. 23 correction data

observer

M Source

M’ TRANSMITTER

receiver

M correcting device

Abb. 2: Claude E. Shannon, Schematisches Diagramm eines korrektiven Systems 24

Ist dieser Beobachter nicht gegeben, lässt sich nichts anderes wahrnehmen als eine Vielzahl von Impulsen. Man kann dann wie Kafkas Protagonist K. in „Das Schloss“ dem ästhetischen Reiz des weißen Rauschens der Telefonleitungen verfallen. 25 Aber die Unterscheidung zwischen Störung und Signal ist weniger vom Empfänger zu leisten als von einem übergeordneten Beobachter, der wie Poes Detektiv oder der Kryptoanalyst bei Shannon einen globaleren Zugang auf ein Mediensystem hat als die Elemente, die unmittelbar in den Kommunikationsfluss verschaltet sind. Die Tatsache, dass sich Poe ausführlich mit Geheimschriften und Codes beschäftigte, macht es nur evident, dass „Murders in the Rue Morgue“ in diesem Kontext zu diskutieren ist. 26 Die Frage nach dem noise, also dem was Kommunikation verkompliziert, was aus sinnvoller, ästhetischer oder auch nur korrekter Informationsübertragung ausgeschieden wird, ist ein medientheoretisches Problem. Das Bewusstsein dafür, dass in kommunikativen Zusammenhängen nicht nur hermeneutische Signale übertragen werden, sondern auch immer ein Rauschen mitschwingt, ist keine Erfindung Shannons, sondern lässt sich bereits für das 19. Jahrhundert nachweisen. Neben Helmholtz und Poe lassen sich ähnli Schüttpelz, Erhard: Eine Ikonographie der Störung. Shannons Flußdiagramm der Kom­mu­ ni­kation in ihrem kybernetischen Empfang. In: Transkribieren. Medien/Lektüre. Hrsg. von Ludwig Jäger/Georg Stanitzek. München: Fink 2002, S. 233 – 280. 23 Shannon, Mathematical Theory. 1949, S. 37. 24 Edd. 25 Vgl. Kafka, Franz: Das Schloss. Frankfurt/M.: Fischer 2002, S. 36. 26 Eine detaillierte Diskussion von Poes Beschäftigung mit der Kryptographie findet sich in: Rosenheim, Shawn J.: The Cryptographic Imagination: Secret Writings From Edgar Allen Poe to the Internet. Baltimore: Johns Hopkins UP 1997. 22

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che Vorstellungen über nicht-hermeneutische Inhalte in der Kommunikation z. B. auch in Carl von Clausewitz’ Werk „Vom Kriege“ finden, wo dieser sich sehr differenziert über die Kommunikation auf dem Schlachtfeld auslässt, und bekennt, dass eindeutigen Botschaften zu misstrauen ist, weil es auf dem Schlachtfeld keine klaren, „unverrauschten“ Botschaften gibt. Für Clausewitz ist die Klarheit einer Nachricht immer der Beweis für ihre Unrichtigkeit. 27 Eine Hermeneutik der Störung, die ich als die Grundlage gegenwärtiger, medienanalytischer Diskurse begreife, enthält eine Paradoxie. Die Hermeneutik ist, zugespitzt formuliert, genau jene Wissenschaft, die versucht, den Sinn jenseits oder inmitten des Rauschens zu finden. Die Störung als Rauschen hingegen ist etwas, was gänzlich ohne Sinn auskommt. In der Kommunikations- beziehungsweise Informationstheorie ist die Störung das dem Signal oder der Botschaft Entgegengesetzte, das keinen Sinn transportiert, sondern Daten und Datenverarbeitung irritiert. Sicherlich, die Existenz der Störung macht Hermeneutik erst notwendig, aber eine Hermeneutik der Störung geht als Konzept nicht auf, da in der Störung ja eben kein Sinn zu verorten ist. Die Hermeneutik der Störung ist folglich keine Strategie des Verstehens von semiotischem Material, sondern besteht in einem epistemischen Bewusstsein, das sich darüber im Klaren ist, dass Kommunikationskanäle nicht nur Sinn und Daten verarbeiten, sondern auch non-sense, also Störung oder noise, senden können. Dieses Wissen ist nicht trivial, sondern fundamental für den Umgang mit und die Entwicklung von modernen Mediensystemen, in deren Aufbau Sinn immer ein Sekundäres ist.

Siehe für eine detaillierte Analyse meinen Aufsatz: Niebisch, Arndt: Military Intelligence. On Carl von Clausewitz’s Hermeneutics of Disturbance and Probability. In: Enlightened War: German Theories & Cultures of Warfare from Frederick the Great to Clausewitz. Hrsg. von Elisabeth Krimmer/Elizabeth Simpson. Rochester: Camden House 2011, S. 258 – 278.

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Heiner Apel, Andreas Corr, Anna Valentine Ullrich

Produktive Störungen: Pause, Schweigen, Leerstelle

1. Absenz und Störung Dieser Beitrag folgt der These, dass Pausen, Schweigen und Leerstellen in der Interaktion keine Unfälle, keine Regelverstöße, keine zu vermeidenden Abbrüche oder Lücken von Kommunikation sind, sondern vielmehr als wesentlicher, produktiver Bestandteil interaktionaler Prozesse aufzufassen sind. 1 Denn indem das scheinbare ‚Nichts‘ transkriptive Störungen produziert, wird es thematisierbar, verhandelbar, bearbeitbar. Es wird zum Anknüpfungsmoment für weitere Kommunikationen und dient so der Ausgestaltung einer interaktiven Semantik. Dieser Gedanke soll im Folgenden plausibel gemacht werden. Ziel unseres Aufsatzes ist es hierbei, für die Beschreibung von Absenz-Phänomenen in der Kommunikation einen Begriff der Störung heranzuziehen, der die diskursiven Funktionen der Abwesenheit von Sprache, Text und Bild hervorzuheben vermag. Zu diesem Zweck wenden wir uns in einem ersten Schritt drei divergenten Perspektiven auf Absenz zu, um die Vielfalt der ‚Spielarten des Nichts‘, die in verschiedensten Disziplinen bereits eingehend untersucht worden sind, verdeutlichen zu können. Als wichtige Bezugspunkte unserer Argumentation erweisen sich hierbei aus sprechwissenschaftlicher Sicht die Sprechpausen, aus linguistischer Perspektive insbesondere das Schweigen (respektive die Unvollständigkeit bzw. Ellipse) und mit einem medientheoretischen Fokus die Leerstelle. In einem zweiten Schritt erläutern wir anhand des Begriffs der transkriptiven Störung im Anschluss an Ludwig Jäger, inwiefern mittels eines transkriptionstheoretischen Gerüsts die genannten kommunikativen Erscheinungen und die ihnen gemeinsamen Funktionen (medien-)übergreifend beschrieben werden können. Mit anderen Worten: Trotz der Heterogenität der Momente der Absenz in der Kommunikation können diese, wie wir meinen, sinnvoll durch die Transkriptionstheorie (genauer: durch den hier entwickelten Störungsbegriff) zusammengeführt werden. Gegen Ende des Textes illustrieren wir den Nutzen eines solchen Ansatzes anhand kurzer Beispiele.

Vgl. zur Diskussion dieser beiden Positionen etwa: Schmitz, Ulrich: Beredtes Schweigen – Zur sprachlichen Fülle der Leere. Über Grenzen der Sprachwissenschaft. In: Schweigen. Hrsg. von Ulrich Schmitz. Oldenburg: Redaktion OBST 1990 (= Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie [OBST] Bd. 42), S. 5 – 58. .

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2. Pause – Sprechpausen „Sprechpausen sind“, das hat Ines Bose bereits 1994 festgehalten, „nicht einfach Leerstellen im Sprechverlauf, sondern Abschnitte großer Informativität für den Hörer und deshalb notwendige Konstituenten gesprochener Sprache.“ 2 Sprechpausen gehören u. a. in der Sprechwissenschaft, der Phonetik, der Psycholinguistik oder der Gesprächsforschung zu den Gegenständen der wissenschaftlichen Betrachtung. Hier wird häufig zwischen einer Form- und einer Funktionsperspektive unterschieden. In der Formperspektive werden Pausen hinsichtlich ihrer Ausführung, ihrer Dauer und ihrer Position klassifiziert. 3 In der Funktionsperspektive steht die Frage im Vordergrund, welche Aufgaben Sprechpausen innerhalb mündlicher Kommunikation erfüllen. 4 Mit Bose kann dazu festgehalten werden, dass Sprechpausen „wichtige und auffällige Gliederungssignale [sind], in denen sich zum einen Planung und Selektion im Produktionsprozeß widerspiegeln und die zum anderen die gesprochenen Äußerungen hörerspezifisch segmentieren und dadurch einen wesentlichen Beitrag zum Textverständnis leisten.“ 5 In einer psycholinguistischen Betrachtungsweise werden Sprechpausen als kognitive Pausen gesehen, in denen Sprachplanungsprozesse ihren Ausdruck finden. 6 Darüber hinaus stehen Sprechpausen als kommunikative Pausen im Fokus: sie erhöhen die Textverständlichkeit, indem sie als Gliederungssignale zwischen syntaktischen Einheiten fungieren und somit kommunikativ relevante Phrasen in Äußerungen markieren. Zudem können in einer rhetorischen Verwendung Sprechpausen das Beanspruchen der Sprecherrolle signalisieren oder unwilliges, vorsichtiges Sprechen andeuten bzw. spannungsvolle Verzögerungen vor wichtigen Informationen anzeigen. 7 Ein wesentlicher funktionaler Aspekt von Sprechpausen ist ihre Verwendung im Gespräch: sie haben eine gesprächsorganisierende Funktion und sind relevant für Prozesse des Sprecherwechsels. Verfolgt man diesen Ansatz weiter, so ergeben sich verschiedene Klassifizierungen für Pausen im Gesprächsverlauf. Jörg Bergmann unterscheidet beispielsweise redezuginterne Sprechpause, freie Gesprächspause und Redezugvakanz. 8 Katrin Mei Bose, Ines: Zur temporalen Struktur frei gesprochener Texte. Frankfurt/M.: Wiss. Buch­ handlung Hector 1994, S. 12. (= Forum phoneticum Bd. 58). 3 Vgl. z. B. Kowal, Sabine: Über die zeitliche Organisation des Sprechens in der Öffentlichkeit. Pausen, Sprechtempo und Verzögerungen in Interviews und Reden von Politikern. Bern u. a.: Huber 1994. 4 Vgl. Auer, Peter/Selting, Margret: Der Beitrag der Prosodie zur Gesprächsorganisation. In: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Halbband 2. Hrsg. von Klaus Brinker u. a. Berlin/New York: de Gruyter 2001 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft Bd. 16.2), S. 1122 – 1131. . 5 Bose, Zur temporalen Struktur. 1994, S. 10. 6 Vgl. O’Connell, Daniel C./Kowal, Sabine: Communicating with One Another. Toward a Psychology of Spontaneous Spoken Discourse. New York: Springer 2008. 7 Vgl. Schwitalla, Johannes: Gesprochenes Deutsch. Eine Einführung. Berlin: Schmidt 2006, S. 76. 8 Vgl. hierzu Bergmann, Jörg R.: Schweigephasen im Gespräch – Aspekte ihrer interaktiven 2

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se versucht sich von dieser eher formalen, an der Gesprächsoberfläche orientierten Differenzierung zu lösen, um darüber hinaus „auch die Interpretationen und Bestimmungen des Schweigens von seiten [sic!] der Teilnehmer [am Gespräch – H. A.] selbst mit ab[zu] bilden.“ 9 Sie greift damit die Klassifikation Bergmanns auf, differenziert aber im Gegensatz dazu Abbruch (eines Gesprächs), Hesitationspause, Schweigezug und Gesprächsflaute. 10 Ihre Arbeit führt die Überlegungen Bergmanns gut 14 Jahre später weiter, sodass sie rückblickend festhält: „[D]as Modell Bergmanns [lenkt den Blick zu Recht] auf die weithin unbeachtete und dabei doch entscheidende Rolle, die die formale Gesprächsorganisation bei der Erkennung des Nichts (‚nothing‘) als ein – nunmehr ganz bestimmtes – Etwas (‚something‘) spielt [...].“ 11

Um die Sprechpause als Absenzphänomen mit dem Begriff der Störung zu verknüpfen, eignet sich die von Bergmann als Redezugvakanz bezeichnete Form der Gesprächspause. Eine Redezugvakanz entsteht dadurch, „daß ein Redezug, zu dessen Übernahme einer der angesprochenen Rezipienten verpflichtet wurde, […] vakant bleibt.“ 12 D. h.: Ein Gesprächspartner spricht sein Gegenüber direkt an und erwartet eine Antwort, diese bleibt jedoch aus. Hier tritt also durch die Vakanz der Antwort eine Störung im Gesprächsverlauf auf. Diese Störung kann jedoch behoben werden. Für die Bearbeitung der als Störung aufgefallenen Gesprächspause können verschiedene Interventionsarten wirksam werden. Möglich ist es, a) die Redezugvakanz durch eine reine Wiederholung des Redeangebots zu bearbeiten, b) eine Selbstkorrektur (z. B. Reformulierungen) anzubieten, c) korrekturinitiierende Interventionen 13 (z. B. Fokussierungsaufforderungen durch Nachfragen oder Insistieren auf einer Antwort) durchzuführen oder d) Interpretationsangebote des Schweigens als Möglichkeit der Aufhebung der Redezugvakanz vorzuschlagen (d. h. ganz konkret als Sprecher bzw. Fragender Vermutungen zur Entstehung oder zum Grund des Schweigens bzw. des Nicht-Antwortens zu formulieren). 14 Diese vier Formen von Interventionstypen zeigen die Möglichkeit der gemeinsamen Bearbeitung bzw. des gemeinsamen Behebens der Störung im Gespräch. Gemeinsam aus dem Grund, da hier der Sprecher den ausbleibenden Redezug (d. h. die Vakanz) offen legt und so dem Rezipienten die Möglichkeit gibt, sein Schweigen zu beenden bzw. die offen gelassene Antwort nachzureichen. Der Sprecher signalisiert durch eine der vier Interventionsmöglichkeiten, dass er eine Antwort respektive eine Reaktion erwartet und veranlasst somit den Rezipienten, darauf (möglichst) adOrga­nisation. In: Beiträge zu einer empirischen Sprachsoziologie. Hrsg. von Hans-Georg Soeff­ner. Tübingen: Narr 1982, S. 143 – 184. 9 Vgl. Meise, Katrin: Une forte absence. Schweigen in alltagsweltlicher und literari­scher Kom­ munikation. Tübingen: Narr 1996, S. 83. 10 Vgl. ebd., S. 36 – 67. 11 Ebd., S. 82. Hervorhebungen im Original. 12 Bergmann, Schweigephasen. 1982, S. 154. 13 Als einer Korrektur bedürftig wird hier allein das Nicht-Antworten des Gesprächspartners gesehen. 14 Vgl. Bergmann, Schweigephasen. 1982, S. 166 – 180.

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äquat zu reagieren und zu antworten. Auf dieser Ebene der Betrachtung entsteht die Möglichkeit eines Einsatzes der Theorie der Transkription von Ludwig Jäger, um Prozesse der Bezugnahme beschreiben zu können, die sich an Sprechpausen im Gespräch entzünden. Dies kann mithilfe des Störungsbegriffs im Sinne der Transkriptionstheorie geschehen. In den Abschnitten 5 und 6 wird differenzierter darauf eingegangen. 3. Schweigen – Pragmatik der Absenz Auch aus der linguistischen bzw. aus einer stärker sprachtheoretisch orientierten Perspektive beschäftigt man sich intensiv mit recht unterschiedlichen Figurationen der Absenz und der „Möglichkeit, daß durch nichts etwas gesagt wird […].“ 15 Bemerkenswert mag dies zunächst insofern erscheinen, als Absenz mit Blick auf Kommunikation ja gerade bedeutet, dass nicht sprachlich codiert wird, dass – wie es bereits anhand der sprechwissenschaftlichen Sicht auf Gesprächspausen deutlich geworden ist – Sprache fehlt und der Interessensbereich orthodoxer Linguistik scheinbar verlassen wird. Eine in diesem Zusammenhang typische Sichtweise auf das Verhältnis von Sprache und Nicht-Sprache, Artikulation und Nicht-Artikulation ist von der Annahme geprägt, dass sprachliche Absenz lediglich den Hintergrund bilde, vor dem das Sprechen auf- und ausgeführt werde. Dies wiederum impliziert unweigerlich: Stille, Schweigen und generell Leerstellen im Gesprächsverlauf ergeben die (in der Sprachbetrachtung zu marginalisierende) Negativ-Folie, auf der sich das demgegenüber positiv konnotierte Sprechen entfaltet. 16 Bei genauerer Betrachtung stellt man jedoch fest, dass Absenzen letztlich auf jeder Ebene der Sprachbeschreibung thematisiert werden; allein aus diesem Grund spielen sie sprachtheoretisch eine nicht zu verachtende Rolle. Das stetige Wechselspiel zwischen Absenz und Rede, zwischen ‚Sprache‘ und ‚Nicht-Sprache‘ als der üblichen terminologischen Opposition für die „Komplementärkräfte im Kommunikationsgeschehen“ 17 findet sich auf sprachstruktureller, semantisch-logischer und insbesondere pragmatischer Ebene wieder. In Anlehnung an Schmitz kann man daher verkürzend von der Syntax, Semantik und Pragmatik der Absenz sprechen. 18 Es sind insbesondere grammatische Auslassungen (exemplarisch verdeutlicht an der Kategorie der Ellipse) und aus pragmatischer Sicht das Schweigen als kommunikativer Akt, die sich im vorliegenden Zusammenhang als interessant erweisen. Demgegenüber sollen semantische Absenzen wie z. B. Konnotationen oder Andeutungen im Folgenden außen vor gelassen werden. Schmitz, Beredtes Schweigen. 1990, S. 24. Vgl. Lagaay, Alice: How to Do – and Not to Do – Things with Nothing. Zur Frage nach der Performativität des Schweigens. In: Performanzen des Nichttuns. Hrsg. von Barbara Gronau/ Alice Lagaay. Wien: Passagen 2007, S. 21 – 32, S. 26/27. 17 Mayer, Heike: Schweigen. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 8: Rhet-St. Hrsg. von Gert Ueding. Tübingen: Niemeyer 2007, S. 686 – 706, S. 686. 18 Vgl. hierzu ausführlich: Schmitz, Beredtes Schweigen. 1990, S. 30 – 33. Vgl. ebenso: Schröter, Melani: Die Vielfalt des „Nichts“. In: Zeitschrift für Angewandte Linguistik, 2005, H. 42, S. 43 – 61, S. 44/45. 15 16

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Bei der Diskussion syntaktischer Absenz-Phänomene werden insbesondere solche sprachlichen Formen in den Blick genommen, bei denen rein grammatikalisch betrachtet etwas getilgt wird, also absent bleibt, oder innerhalb derer es zu Satzabbrüchen kommt. Es geht folgerichtig um Begriffe wie Ellipse, Aposiopese, Analepse, Katalepse etc. Mit Blick auf explizit schriftsprachliche Standards gelten derartige syntaktische Beschreibungsformate gemeinhin als Solözismus, als sprachliche Fehlleistung also, die zu vermeiden ist. Sofern sie nicht künstlerisch-wertvoll als Stilmittel im Sinne rhetorischer Kunstgriffe eingesetzt werden, werden sie etwa aus Sicht der klassischen (Schul-)Grammatik als Normverstoß gewertet. Beispielhaft kann dies an dem Terminus der Ellipse verdeutlicht werden, der durchaus negativ besetzt ist. Denn: „Ausschließlich solche Äußerungen werden Ellipsen genannt, die als unvollständig und damit als grammatisch nicht wohlgeformt erscheinen. […] In der Grammatik gilt die Ellipse […] von Anfang an als rein syntaktisches und zwar – da eben syntaktisch unvollständig – vermeintlich defizitäres Phänomen […].“ 19

Den Ellipsenbegriff als Mangelerscheinung von einer Normalform abzuheben, ist dabei nicht nur wesentlicher Bestandteil des Denkschemas antiker Grammatik. Eine derartige Sichtweise spiegelt sich auch in den Ansätzen generativer Syntaxmodelle wider, in denen Ellipsen als unvollständige Oberflächenphänomene aufgefasst werden, die sich von einer tiefenstrukturell vorliegenden Normalform ableiten lassen. Nach dieser Argumentation stellen Ellipsen nicht mehr als die Tilgung struktureller Erfordernisse eines im Hintergrund wirkenden, virtuell-präsenten und vor allem vollständigen Satzes dar. 20 Neuere Ansätze im Rahmen der funktionalen Grammatik legen jedoch nahe, dass es sich bei Ellipsen gerade nicht um bloße Störfaktoren innerhalb der ansonsten flüssigen Rede handelt, sondern vielmehr um Konstruktionen, die durchaus interaktiv relevante Funktionen bieten – etwa mit Blick auf Anschlussmöglichkeiten für Gesprächspartner oder Kohärenzbildung innerhalb eines Gesprächs. Demgemäß erhalten Ellipsen aus dieser Sicht einen unabhängigen Status und sind nicht von wie auch immer gearteten vollständigen Satz- oder Äußerungsschemata abhängig. Entgegen der in der generativen Grammatik vorherrschenden Meinung und dem dort vertretenen Ableitungstheorem 21 werden Ellipsen daher in funktionalen Ansätzen als „Normalfälle des Äußerns“ 22 betrachtet. Insofern stößt man in der Diskussion um den Status sprachlicher Ellipsen auf solche Ab Buss, Mareike: Die Ellipse – ein linguistischer Kategorienfehler? In: TRANS – Internet­zeit­ schrift für Kulturwissenschaften 15, 2004. ‹http://www.inst.at/trans/15Nr/06_2/buss15.htm› (5.10.2010). 20 Vgl. Corr, Andreas: Fragmente zwischen Störung und Anschlussfähigkeit – Theoretische Un­ ter­suchungen zur Ellipse als Absenz-Phänomen. In: Figuren der Absenz – Figures de l’absence. Hrsg. von Anke Grutschus/Peter Krilles. Berlin: Frank &Timme 2010, S. 87 – 102, S. 89 – 92. 21 Vgl. exemplarisch: Klein, Wolfgang: Ellipse, Fokusgliederung und thematischer Stand. In: Ellipsen und fragmentarische Ausdrücke Bd. 1. Hrsg. von Reinhard Meyer-Hermann/Hannes Rieser. Tübingen: Niemeyer 1985, S. 1 – 24. 22 Hoffmann, Ludger: Ellipse im Text. In: Text – Verstehen. Grammatik und darüber hinaus. Hrsg. von Hardarik Blühdorn u. a. Berlin/New York: de Gruyter 2006, S. 90 – 107, S. 92.

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senz-Phänomene, die zunächst als Störung im herkömmlichen Sinne – in diesem Falle: syntaktisch defizitäre Phänomene – interpretiert werden und deren interaktionale Motiviertheit erst auf den zweiten Blick sichtbar wird. Wenigstens ebenso zahlreich wie die Auseinandersetzungen mit syntaktischen Kurzformen, sind die – entsprechend nur schwer überschaubaren – Ansätze hinsichtlich des (beredten) Schweigens: So findet man bei eingehender Recherche u. a. geschichtswissenschaftliche, psychologische, philosophische, theologische, literaturwissenschaftliche, rhetoriktheoretische, aber eben auch sprachwissenschaftliche Untersuchungen, die sich mit dem Schweigen als einem einerseits kulturhistorischen, andererseits kommunikativen Phänomen auseinandersetzen. 23 Auch und gerade aus pragmatischer Sicht setzt man sich seit einiger Zeit mit unterschiedlichen Funktionen und Typen des Schweigens – und als Subtyp: des Verschweigens 24 – als Absenz-Phänomen auseinander, die letztlich darauf hindeuten, dass das Schweigen „nicht einfach als Abwesenheit von Sprache aufzufassen ist.“ 25 Ein bestehender Konsens der pragmalinguistisch-orientierten Forschung scheint in diesem Zusammenhang die Auffassung zu sein, Schweigen sinnvollerweise als kommunikativen Akt aufzufassen. Diesbezüglich ist auch die Rede von Schweige-Handlungen, Schweigen als indirektem Sprechakt 26 , der Performativität des Schweigens oder gar einer Sprechakttheorie des Schweigens 27. Als wesentliche Merkmale bedeutsamer Schweigehandlungen gelten allgemein die folgenden Charakteristika, die offenkundig eng miteinander verwoben sind. 28 So wird erstens die Materialabstinenz des Schweigens betont: Schweigend kommuniziert man, ohne dass sprachlich codiert wird; Schweigen ist in diesem Sinne Nicht-Äußern und kann daher gelten als „das einzige Zeichen ohne materiellen Träger […].“ 29 Zweitens ist die grundsätzliche Ambiguität des Schweigens als Kontextabhängigkeit hervorzuheben. Anders formuliert: Wie Schweigen verstanden wird, ist in hohem Maße vom sprachlichen, situativen und auch kulturellen Umfeld abhängig; denn: „Da Schweigen nicht codiert ist, kann es alles bedeuten […].“ 30 Drittens lässt sich die Länge bzw. die Dauer einer sprachlichen Lücke als Indikator auffassen, durch den etwa „beredtes Schweigen“ von einer bloßen Rede-Pause abgrenzbar wird. Viertens und letztens geht es um die Fülle bzw. Leere des Schweigens insofern, als dabei die Frage im Zentrum des Interesses steht, inwiefern Schweigen Räume eröffnet, die durch andere kommunikative Elemente, wie etwa Ges Vgl. hierzu u. a. den folgenden Überblicksartikel: Mayer, Schweigen. 2007, S. 686 – 706. Der wesentliche Unterschied zwischen Schweigen und Verschweigen liegt darin, dass Letzteres durchaus mit Artikulation einhergehen kann. Vgl. Schröter, Vielfalt. 2005, S. 45. 25 Mayer, Schweigen. 2007, S. 688. 26 Vgl. Schmitz, Beredtes Schweigen. 1990, S. 16. 27 Vgl. Lagaay, How to Do. 2007, S. 25. 28 Vgl. hierzu: Heinemann, Wolfgang: Das Schweigen als linguistisches Phänomen. In: „… wortlos der Sprache mächtig“ – Schweigen und Sprechen in der Literatur und sprachlicher Kommunikation. Hrsg. von Helmut Eggert/Janusz Golec. Stuttgart/Weimar: Metzler 1999, S. 301 – 314, S. 305/306. Vgl. ebenso: Schröter, Vielfalt. 2005, S. 43 – 45. 29 Schmitz, Beredtes Schweigen. 1990, S. 31. 30 Ebd. 23 24

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tik und Mimik, auf- und ausgefüllt werden. Auf diesen Charakteristika des Schweigens aufbauende Typologien und Taxonomien unterschiedlicher Schweigeakte befassen sich typischerweise mit den Ursachen und Motiven, aber auch mit den Funktionen und Wirkungen des Schweigens. 31 Betrachtet man die pragmalinguistische Diskussion um das Schweigen und die hiermit verbundenen Typologisierungsversuche insgesamt, so treten unserer Ansicht nach zwei Gesichtspunkte deutlich hervor, die wiederum für den hier behandelten Zusammenhang von Bedeutung sind: So erscheint erstens das Schweigen, das in der Literatur oftmals auch negativ konnotiert als die Kehrseite der Sprache abgehandelt wird, aus dem Blickwinkel linguistischer Pragmatik gerade nicht als ein unstrukturiertes, einförmiges Nichts. Ganz im Gegenteil: Schweigen kann augenscheinlich vielfältige kommunikative Funktionen erfüllen. Je nach Situation kann man mittels Schweigen Aufmerksamkeit erregen, Sympathien erlangen, verunsichern, provozieren, betonen, die eigene soziale Stellung zum Ausdruck bringen, aber auch Trauer oder Ehrerbietung, etwa im Rahmen einer Schweigeminute, zeigen. 32 Allein diese wenigen Beispiele, die hier ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit genannt werden, lassen im Sinne Lagaays offen zu Tage treten, „dass das Schweigen nicht einfach als das Andere des Sprechens zu bezeichnen ist. […] Vielmehr sind Schweigen und Sprechen immer miteinander verbunden, jedes Sprechen impliziert verschiedene Arten gleichzeitigen (Ver-)Schweigens.“ 33 Laut Schmitz ist es sogar dieses „Wechselspiel von Sprache und Schweigen, das Kommunikation erst ermöglicht.“ 34 Anders formuliert: Schweigen als kommunikativen Akt zu begreifen, heißt, es nicht einfach als das Gegenteil von Sprache wahrzunehmen, sondern als ein wichtiges Element der Rede. Zweitens wird jedoch ebenso deutlich, dass die Darstellung des Schweigens als Handlung eines Sprechers genau dann zu kurz greift, wenn der Rolle des Rezipienten und seiner Interpretationsleistung im Kommunikationsgeschehen keine Beachtung geschenkt wird. Denn die Momente sprachlicher Absenz erhalten „erst kommunikativen Sinn, wenn ihnen (den formalen Sprech-Unterbrechungen) von seiten [sic!] der Rezipienten über Inferenzierungen und Conclusionen [sic!] Sinn zugeordnet wird […].“ 35 Mit anderen Worten: Schweigen ist immer erst dann Schweigen, wenn jemand es als solches auffasst. 36 Die Vermutung liegt daher nahe, dass eine Theorie „des Schweigens sich vielleicht mehr an der Perspektive des Empfängers als an der des Sprechers orientieren wird.“ 37

Vgl. hierzu exemplarisch: Ephratt, Michal: The Functions of Silence. In: Journal of Pragmatics 40, 2008, H. 11, S. 1909 – 1938. 32 Vgl. Mayer, Schweigen. 2007, S. 687.  33 Lagaay, How to Do. 2007, S. 27. 34 Schmitz, Beredtes Schweigen. 1990, S. 5. 35 Heinemann, Schweigen. 1999, S. 309. 36 Fleur Ulsamer betont in diesem Zusammenhang, dass Schweigen nur dann bedeutsam wird, wenn der Rezipient Rede bzw. Kommunikation erwartet. Vgl. hierzu: Ulsamer, Fleur: Lin­ guistik des Schweigens. Eine Kulturgeschichte des kommunikativen Schweigens. Frankfurt/M. u. a.: Lang 2002, S. 47. 37 Lagaay, How to Do. 2007, S. 24. 31

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4. Unbestimmtheitsstelle und Leerstelle Nach Pause und Schweigen geht es im Folgenden um ein drittes Absenzphänomen, um die Leerstelle, die hier in erster Linie im Bereich des Schriftlichen betrachtet wird. Das Konzept der Leerstelle entstammt dem rezeptionsästhetischen Ansatz von Wolfgang Iser. Bekanntlich ging dieser von Roman Ingardens Kategorie der Unbestimmtheitsstelle aus. Ingarden charakterisiert diese folgendermaßen: „Die Seite oder Stelle des dargestellten Gegenstands, von der man auf Grund des Textes nicht genau wissen kann, wie der betreffende Gegenstand bestimmt ist, nenne ich eine ‚Unbestimmtheitsstelle‘.“ 38 Es handelt sich dabei um Auslassungen in Texten, Nicht-Gesagtes, inhaltliche Lücken und Sprünge, die die Interpretationsaktivität des Rezipienten herausfordern (z. B. in der Text­ sorte des Fortsetzungsromans). Iser geht nun in seiner Fassung der Leerstelle über Ingardens Ansatz hinaus: Während Ingarden Lücken im Text als Möglichkeit für den Leser betrachtet, diese aufzufüllen, sieht Iser Leerstellen als notwendigen Interaktionsort und damit als Bedingung von Kommunikation. Sinn konstruiert sich demnach in der Interaktion zwischen Text und Leser. 39 Der Leser interpretiert und überbrückt die Leerstellen in Abhängigkeit vom Gesamtzusammenhang des Textes: „[D]enn als ‚Pausen des Textes‘ sind sie nichts; doch diesem ‚nichts‘ entspringt ein wichtiger Antrieb der Konsti­ tu­tionsaktivität des Lesers.“ 40 Das literarische Werk ist folglich angewiesen auf die Ergänzungsleistung des Rezipienten. So erweist sich die Leerstelle „als eine elementare Kommunikationsbedingung.“ 41 Diese zur Analyse literarischer Texte entworfenen Termini der Unbestimmtheitsstelle bzw. der Leerstelle wurden in der Kunstgeschichte und Filmwissenschaft aufgegriffen und für außersprachliche Absenzerscheinungen fruchtbar gemacht. Generell gab es im Lauf der Geschichte der Bildenden Kunst stets Formen der Thematisierung von Absenz im Sinne einer expliziten, materiellen Abwesenheit des Mediums Bild. Sie zeigten sich etwa als Akte der Bildverweigerung oder -verbergung bis hin zur Bildzerstörung – meist aus religiösen, kultischen oder politischen Gründen. Mit Beginn der modernen Kunst, so hat Ulrike Lehmann vorgeschlagen, kann auch von einer Ästhetik der Absenz gesprochen werden. Hier steht eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Möglichkeit des Verschwindens von und in Bildern im Vordergrund. Künstler setzen sich in Reaktion auf Ingarden, Roman: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Tübingen: Niemeyer 1968, S. 49/50. 39 Vgl. Winkgens, Meinhard: Leerstelle. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hrsg. von Ansgar Nünning. Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, S. 362/363. 40 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München: Fink 1976, S. 302. Vgl. Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte. In: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. Hrsg. von Rainer Warning. München: Fink 1975, S. 228 – 252, S. 235 – 241. Zu verschiedenen Arten von Leerstellen in literarischen Texten vgl. Dotzler, Bernhard J.: Leerstellen. In: Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel. Hrsg. von Heinrich Bosse/Ursula Renner. Freiburg: Rombach 1999, S. 211 – 229, S. 223 – 229. 41 Iser, Akt. 1976, S. 294. 38

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die allgemeine Bilderflut in unterschiedlicher Weise mit der Abwesenheit von Bildlichem in ihren Werken auseinander. 42 Zur theoretischen Auseinandersetzung mit konkreten Abwesenheiten, mit Lücken in Bildern, lässt sich folgendes festhalten: Ingarden selbst wendet die Unbestimmtheitsstelle unter anderem auf den Fall des Bildes an. Analog zur Struktur von Texten beschreibt er Bilder als nicht in allen Hinsichten bestimmt. Wir sehen als Betrachter eines Bildes z. B. nicht die Rückseite einer dargestellten Person. Das Bild ist wie der literarische Text auf die verschiedenen subjektiven Auffüllungen des Gesehenen, die über das Bildobjekt an sich hinausgehen, durch das Publikum angewiesen. 43 Unbestimmtheit kann, wie Boehm entwickelt, sowohl als generelle Eigenschaft von Bildern auftreten als auch bewusst vom Bildproduzenten zum Thema gemacht werden. 4 4 Im Rahmen eines rezeptionsästhetischen Zugangs zum Kunstwerk hat sich der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp mit dem Iserschen Konzept der Leerstelle beschäftigt. Kemp geht es um den Betrachteranteil am Kunstwerk, um seine aktive Vervollständigung des Bildes, das auf einen Kontext angewiesen ist. Im Fokus steht also der implizite Betrachter, seine Funktion, die im Werk angelegt ist. Die Interpretation eines Bildes ist von verschiedenen Faktoren beeinflusst: Zunächst ist das Bild stets in einen Kontext eingebunden. Weiterhin nimmt der Rezipient das Bild unter speziellen Zugangsbedingungen, etwa räumlichen, kunstsoziologischen oder anthropogenen, wahr. Als Rezeptionsvorgaben/-angebote des Bildes selbst fungieren beispielsweise die Perspektive des Kunstwerkes, der Bildausschnitt oder auch die Verteilung und Relation der Handlungsträger zueinander im Bild. 45 Leerstellen und damit gerade die nicht sichtbaren Teile eines Bildes regen die kognitive Aktivität des Betrachters an. 46 Dieser vollendet das unvollständige Kunstwerk durch seine Vorstellungskraft und Interpretation. Somit sind Leerstellen nicht als Behinderung von Kommunikation zu betrachten, sondern als Ermöglichung – abhängig von einem generellen Wechselverhältnis bestimmter und unbestimmter Anteile im Kunstwerk: 47 „Es geht nicht darum, dass wir zu jeder dargestellten Person ihre nicht sichtbare Rückseite ergänzen oder in Gedanken einen Weg fortsetzen, den der Rahmen abschneidet [...]. Das Vgl. Lehmann, Ulrike: Ästhetik der Absenz. Ihre Rituale des Verbergens und der Verweigerung. In: Ästhetik der Absenz. Bilder zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Hrsg. von Ulrike Lehmann/Peter Weibel. München: Klinkhardt & Biermann 1994, S. 42 – 73, S. 42 – 44. 43 Ingarden, Roman: Untersuchungen zur Ontologie der Kunst. Musikwerk – Bild – Architektur – Film. Tübingen: Niemeyer 1962, S. 238 – 241. 44 Vgl. Boehm, Gottfried: Unbestimmtheit. Zur Logik des Bildes. In: Bild und Einbildungskraft. Hrsg. von Bernd Hüppauf/Christoph Wulf. München: Fink 2006, S. 243 – 253, S. 244. 45 Vgl. Kemp, Wolfgang: Kunstwerk und Betrachter: Der rezeptionsästhetische Ansatz. In: Kunst­ geschichte. Eine Einführung. Hrsg. von Hans Belting u. a. Berlin: Reimer 2003, S. 247 – 265, S. 249 – 255. 46 Vgl. Huber, Hans Dieter: Bild Beobachter Milieu. Entwurf einer allgemeinen Bildwissenschaft. Ostfildern-Ruit: Hatje-Cantz 2004, S. 81. 47 Vgl. Kemp, Wolfgang: Verständlichkeit und Spannung. Über Leerstellen in der Malerei des 19. Jahrhunderts. In: Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. Hrsg. von Wolfgang Kemp. Berlin: Reimer 1992, S. 307 – 332, S. 313 – 316. 42

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Kunstwerk erhebt den Anspruch auf Kohärenz – das macht seine ‚Leerstellen‘ zu wichtigen Gelenkstellen oder Auslösern der Sinnkonstitution.“ 48

Mit Bezug auf das Medium Film unterscheidet Fabienne Liptay zwei Arten von Absenzen: Einerseits Leerstellen wie Filmschnitte, die unbewusst und automatisch durch den Rezipienten ergänzt werden, und andererseits (ver-)störende Leerstellen, die der Regisseur gezielt als künstlerisches Irritationsmoment einsetzt – etwa, wenn die Sprechhandlung des Films kurzzeitig außerhalb des Kamerabildes im Off stattfindet oder umgekehrt eine Handlung zu sehen ist, der Ton jedoch fehlt. 49 Auch im Bereich des Filmischen zeigt sich, wie bereits beim Bild beschrieben, eine Differenzierung zwischen Leerstellen als (medialem) Normalfall auf der einen Seite und Leerstellen als zu thematisierende, bewusst eingesetzte Störfälle auf der anderen Seite. Die Diskussion des Unbestimmtheits- und Leerstellenkonzepts sowie seine Anwendung auf unterschiedlichste kulturelle Phänomene, von Bildern über Filme bis hin zur Architektur 50 , lässt sich in einigen Schwerpunkten zusammenfassen: Absenzen werden nicht mehr als Manko von Kommunikation begriffen. Vielmehr stellen sie Anschlussmöglichkeiten für die Rezipienten dar, Momente, in denen sie kreativ tätig werden können und das Werk ergänzen. Hier steht stets die Rolle des Rezipienten im Vordergrund. Hinzu kommen eine soziale Bedingtheit sowie bestimmte Kontextbedingungen, die die Interpretationen der Rezipienten leiten und prägen. 51 5. Ein Störungskonzept: Die Transkription Die drei vorgestellten disziplinären Perspektiven auf unterschiedliche Erscheinungsformen von Absenz werden im Weiteren zueinander in Beziehung gesetzt und unter einem neuen theoretischen Blickwinkel zusammengeführt. Es handelt sich dabei um ein Störungskonzept, das von Jäger im Rahmen seiner Theorie der transkriptiven Logik kultureller Semantik 52 entwickelt wurde. Der Erkenntnisgewinn der Verknüpfung von Absenztheorien mit dem transkriptiven Konzept von Störung, wie sie im Folgenden unternommen wird, liegt unseres Erachtens in der Re-Lektüre und Neubewertung von Abwesen Kemp, Kunstwerk. 2003, S. 254/255. Vgl. Liptay, Fabienne: Leerstellen im Film. Zum Wechselspiel von Bild und Einbildung. In: Bildtheorie und Film. Hrsg. von Thomas Koebner/Thomas Meder. München: edition text + kritik 2006, S. 108 – 134, S. 110. 50 Vgl. Reblin, Eva: Lücken im Konkreten – die Leerstellen der Stadt. In: Wolkenkuckucksheim 14, 2009, H. 1. ‹http://www.tu-cottbus.de/theoriederarchitektur/Wolke/wolke_neu/inhalt/ de/heft/ausgaben/109/Reblin/reblin.php› (1.09.2010). 51 Vgl. zum letzten Aspekt: Huber, Bild. 2004, S. 86/87. 52 Vgl. Jäger, Ludwig: Transkriptive Verhältnisse. Zur Logik intra- und intermedialer Bezug­ nahmen in ästhetischen Diskursen. In: Transkription und Fassung in der Musik des 20. Jahrhunderts. Beiträge des Kolloquiums in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Hrsg. von Gabriele Buschmeier u. a. Stuttgart: Franz Steiner 2008, S. 103 – 134. 48 49

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heitserscheinungen als verschiedenartige Störmomente von Kommunikation im Sinne Jägers. Es wird folglich um eine Konturierung und terminologische Fassung von Absenzen als Störungen mithilfe des transkriptiven Ansatzes gehen. Zunächst wird dazu Jägers Theorie in ihren Grundzügen skizziert, um dann auf den speziellen Aspekt der Störung innerhalb der Transkription einzugehen. Daran schließt sich die Anwendung des transkriptionstheoretischen Vokabulars auf Absenzen an. Mit seiner Transkriptionstheorie legt Jäger ein Erklärungsmodell vor, wie Bedeutung in verschiedenen Medien gestiftet wird. Ihm zufolge generiert sich Sinn in Vorgängen der Bezugnahme, Bearbeitung und Umschreibung in und zwischen Medien, die er unter dem Terminus der Transkription zusammenfasst. Der Prozess der Transkription kann wie folgt gekennzeichnet werden: Eine Skriptur – d. h. ein Produkt eines medialen Systems wie mündliche Äußerungen, Texte, Lieder, Bilder etc. – wird aus einem Kontext herausgelöst, bearbeitet und in einen neuen Zusammenhang eingefügt. Durch diese transkriptive Bearbeitung entsteht eine Re-Semantisierung und auch Re-Adressierung der Skriptur. Sie wird für ein anderes Publikum in einem neuen Zusammenhang lesbar und zugänglich. Das Verfahren des Bearbeitens stellt laut Jäger einen grundlegenden Prozess aller Medien dar, um Sinn zu erzeugen. Dabei sind transkriptive Bezugnahmen prinzipiell unabschließbar, da Skripturen in einer Kultur immer wieder aufgegriffen und erneut semantisch verhandelt werden können. 53 Ein entscheidendes Moment der Sinngenerierung im transkriptiven Prozess ist die Störung. Störung wird in klassischen Kommunikationsmodellen meist als Unfall – nach Jäger Störungu – konzeptionalisiert. Sie erscheint als Unterbrechung des kommunikativen Ablaufs, als Defekt. Dieser Sichtweise entspricht im sprachwissenschaftlichen Kontext etwa die oben dargelegte klassische Diskussion der Ellipse als Fehler. Solchen Sichtweisen setzt Jäger die Idee der transkriptiven Störung gegenüber: Alle medialen Verfahren durchlaufen im Sinne der transkriptionstheoretischen These prinzipiell zwei Aggregatzustände. Transkription lässt sich, so Jäger, auffassen als der Übergang von transkriptiver Störung zu dem, was er als Zustand der Transparenz bezeichnet. Jäger formuliert: „Während Störung t als Ausgangspunkt das transkriptive Verfahren der Remediation in Gang setzt und das Zeichen/Medium als (gestörter) Operator von Sinn in den Fokus der Aufmerksamkeit tritt, lässt sich Transparenz als der Zustand im Prozess medialer Performanz ansehen, an dem das jeweilige Zeichen/Medium mit Bezug auf den Gehalt, den es mediatisiert […], verschwindet, transparent wird.“ 54

Was bedeutet dies nun genau? In der Sprach- und Kommunikationstheorie, aber auch in traditionellen Auffassungen der Psycho- und Neurolinguistik steht der Begriff Störung zumeist als Hyperonym für jegliche Defizienz in der Kommunikation und dient so, wie Vgl. ebd. Jäger, Ludwig: Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen. In: Performativität und Medialität. Hrsg. von Sybille Krämer. München: Fink 2004, S. 35 – 73, S. 61. Hervorhebung im Original.

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Luise Springer es formuliert, „quasi als Schublade für defizitäre Sprachäußerungen und pathologische kommunikative Prozesse […].“ 55 Anders ausgedrückt sind Störungen im herkömmlichen Sinne, es wurde oben bereits darauf verwiesen, meist ungewollte sprachliche Handlungen, die die flüssige, reibungslose Rede unterbrechen und letztlich nicht nur zu vermeiden sind, sondern auch der (gleichsam unerwünschten) Reparaturhandlung bedürfen: „Der erfolgreiche und ungehinderte Austausch von Information, durch den sprachliche Verständigung im ungestörten Standardfall charakterisiert sein soll, wird durch Rauschen (‚noise‘) gestört, das im Interesse der Wiederherstellung ungestörten Informationsaustausches getilgt werden muss.“ 56

Diese „defizitorientierte […] Position“ 57 und negative Konnotation des Begriffs Störung kontrastiert Jäger in seinem Ansatz mit einer positiv besetzten Variante des Störungsbegriffs, der Störungt. Störungt als transkriptive Form der Störung bringt zum Ausdruck, dass es sich bei Störungszuständen von Kommunikation eben nicht um Interaktionsabbrüche handelt. Wenn beispielsweise in einer Kommunikationssituation ein Gesprächsteilnehmer den vom anderen Sprecher verwendeten Ausdruck semantisch nicht verstanden hat, nachfragt, um Reformulierung bittet und so in der folgenden Sprechhandlung die Bedeutung des Ausdrucks wechselseitig geklärt und Verständigung über einen Aspekt hergestellt wird, so kann hier von einem transkriptiven Vorgang gesprochen werden. Seman­tik wird in diesem Fall im Kontext des jeweiligen Wissens und Sinnverständnisses der Inter­aktionspartner hinterfragt und diskutiert. Die Störung bedeutet demzufolge keine Be­en­digung der Kommunikation, sondern stellt den Ausgangspunkt einer transkriptiven Be­arbeitung dar. Insofern wird die Störung bei Jäger positiv gewendet zu einem produkti­ven Moment von Kommunikation, in dem Sinn ausgehandelt und hinterfragt werden kann. Jäger greift mit dem Begriff der Störungt ein wesentliches Moment medialer Prozesse auf, wenn er Störung im Rahmen der transkriptionstheoretischen Beziehungs- und Verfahrenslogik neu definiert als grundlegendes Verfahren der Verständnissicherung und gerade nicht als defizitäres Phänomen. 58 Als Stillstellung des Gesprächs fungiert die transkriptive Störung als Ausgangspunkt transkriptiver Bearbeitungsschleifen 59: „Störungsindizierte Time-out-Phasen etablieren also gleichsam eine semantische Aushandlungsbühne für die sprachliche Sinnkonstitution.“ 60 In diesen Störungsphasen finden also Bearbeitungen, Erläuterungen und Paraphrasen der in der Kommunikation behandelten Inhalte statt, da erst ein gemeinsam geteilter Sinnhorizont hergestellt wer Springer, Luise: Störung und Repair. Diskursive Verfahren der Verständigungssicherung. In: Signale der Störung. Hrsg. von Albert Kümmel/Erhard Schüttpelz. München: Fink 2003, S. 43 – 57, S. 43. 56 Jäger, Störung. 2004, S. 42 f. 57 Springer, Störung. 2003, S. 43. 58 Vgl. hierzu ausführlich: Jäger, Störung. 2004, S. 46 ff. 59 Vgl. ebd., S. 41 ff. 60 Ebd., S. 46. Hervorhebung im Original. 55

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den muss. Der Zustand der Störung kann schließlich wieder in einen Modus der Transparenz übergehen. Dies geschieht, sobald die in Frage stehende Semantik des Sprechakts nicht weiter thematisiert werden muss, da im andauernden Kommunikationsprozess erneut Konsens erzielt wurde. Zusammenfassend kann der Begriff Störung t wie folgt charakterisiert werden: Störungen im transkriptionstheoretischen Sinne bilden den Ausgangspunkt transkriptiver Handlungen; erst Störungen lösen transkriptive Verfahren der Weiterverarbeitung einer Äußerung – des Kommentierens, Paraphrasierens, Re-Formulierens, Re-Adressierens etc. – aus. Die Bearbeitung und Re-Formulierung vorausgegangener Äußerungen ist sodann im Sinne der These sprachlicher Transkriptivität nicht nur eine korrigierende Operation, sondern erfüllt eine konstruktive Funktion. 6. Absenz als produktive Störung Angewendet auf die oben beschriebenen Absenz-Phänomene bedeutet diese Neukonzeptionierung des Störungsbegriffs im Rahmen der Transkriptionstheorie zunächst einmal nicht mehr, als dass man in die Lage versetzt wird, die Unterscheidung verschiedener Aggregatzustände der Kommunikation auf Absenzen in verschiedenen Medien zu übertragen: Erstens werden die divergenten Figuren der Absenz als unsichtbarer Normalfall beschreibbar, die unbemerkt aufgefüllt werden und so erst kommunikative Funktionen erfüllen, etwa bei der Gesprächsorganisation im Falle der Sprechpausen, durch interaktional-motivierte Ellipsen oder unmerklich wirksame Filmschnitte. Zweitens geraten sie als produktive und nicht zuletzt künstlerisch eingesetzte Störfälle im Sinne transkriptiver Störungen in den Blick. In Momenten der Redezugvakanz, im Falle unerwarteten Schweigens und auch hinsichtlich eines leeren Bildes erweisen sich Irritationen nicht einfach als Mängel und Störungen im üblichen Sinne, sondern als produktive Elemente medialer Sinn-Inszenierung – und dies insofern, als sie Anschlussmöglichkeiten für die kommunikative Weiterverarbeitung liefern. Die Pause „im Gespräch läßt sich nicht nur als korrekturbedürftiges Element betrachten, sondern auch […] als korrekturinitiierendes Element: Das Schweigen des Gegenüber gibt Anlaß, den eigenen vorausgegangenen Beitrag zu überprüfen und […] zu revidieren.“ 61 Mit Blick auf eben jenes Schweigen lässt sich zudem betonen: „Gerade der Kontrast von Artikulation und Nichtartikulation, immer neu erzeugt und vielfach in sich verwickelt, macht Bedeutung, mithin Verständigung möglich.“ 62 Und auch die so häufig umschriebene Leerstelle erweist sich fortan „als eine elementare Kommunikationsbedingung.“ 63 Dies sollen zwei Beispiele verdeutlichen: Im ersten Fall stellt Margarethe OlbertzSiitonen in der Auswertung von (intra- und interkulturellen) Gesprächen zwischen finnischen und deutschen Muttersprachlern fest, dass „die analysierten Pausen [...] gewis Meise, Une forte absence. 1996, S. 62. Hervorhebungen im Original. Schmitz, Beredtes Schweigen. 1990, S. 11. 63 Iser, Akt. 1976, S. 294. 61 62

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se Gegensätze im Zeitempfinden“ 64 illustrieren können. Konkret zeigte sich dies daran, dass Pausen in Gesprächsbeiträgen finnischer Muttersprachler zumeist länger waren als die Pausen in Gesprächsbeiträgen deutscher Muttersprachler: in finnischen Gesprächen traten nur Pausen auf, die ‚mittellang‘ (0.5 – 0.75 Sekunden) oder meist sogar ,lang‘ (ca. 1 Sekunde) waren, während in den deutschen Gesprächen nur eine ,mittellange‘ Zäsur auftrat und die restlichen Pausen kürzer waren. 65 Diese kulturspezifisch unterschiedlich lang empfundenen Pausen können Störungen innerhalb solcher interkulturellen Gespräche verursachen: „Zäsuren innerhalb von finnischen Beiträgen könnten – da in der deutschen Wahrnehmung zu lang – deutscherseits als Zeichen für das Ende des Turns missinterpretiert werden und hier zu unintendiert unrechtmäßigen Beitragsübernahmen führen. Aber auch interturne Pausen kommen als Problemauslöser in Frage: Es ist vorstellbar, dass Finnen aufgrund konventionell längerer Pausen vor Sprecherwechseln aus deutscher Sicht kein Interesse am angebotenen Rederecht zeigen und das Wort praktisch gar nicht ergreifen können, da ihre deutschen Gesprächspartner bereits weiter sprechen, um kein (für diese) peinliches Schweigen aufkommen zu lassen.“ 66

Hier tritt unseres Erachtens aus der Perspektive der deutschen Sprecher eine Störungu im Gespräch auf: der finnische Gesprächspartner schweigt (zu) lange bzw. nimmt das angebotene Rederecht nicht an. Aus der Sichtweise der finnischen Sprecher ist die eigene Sprechpause jedoch vollkommen unauffällig und stellt damit den unsichtbaren Normalfall dar. Erst die unangemessene Reaktion des deutschen Gesprächspartners führt zu einer Störung des Gesprächsverlaufs aus finnischer Sicht und ergibt somit wiederum eine Störungu. Erst wenn das durch die wechselseitig funktional unterschiedlich interpretierte Länge der Pausen entstandene Störungsmoment thematisiert, d. h. im Gespräch aufgegriffen und bewusst gemacht wird, kann diese Störungu in eine Störungt überführt werden. Hier ergäbe sich u. U. im Rahmen interkultureller Trainings die Möglichkeit, Angehörige unterschiedlicher (Sprach-)Kulturen dementsprechend zu sensibilisieren und dahingehend zu schulen, dass solche Störungsmomente erkannt, bearbeitet und damit transparent gemacht werden können. Augenfällig ist darüber hinaus das Moment der Rezipientenperspektive in der Interpretation von Absenzen: für den finnischen Sprecher hat die Pause eine normale Länge, für den deutschen Sprecher ist sie außergewöhnlich lang und stellt einen Grund zur Intervention dar. Ein Beispiel für die Produktivität von Störungen, die durch Absenzen entstehen, liefert Bergmann in der Beschreibung einer der oben genannten Interventionsmöglichkeiten Olbertz-Siitonen, Margarethe: Unterschiede im Unterbrechungs- und Schweigeverhalten als mögliche Ursachen für Probleme in der Kommunikation zwischen Finnen und Deutschen. In: Sprechsprachliche Kommunikation. Probleme, Konflikte, Störungen. Hrsg. von Lutz Christian Anders/Ursula Hirschfeld. Frankfurt/M.: Peter Lang 2003 (= Hallesche Schriften zur Sprechwissenschaft und Phonetik Bd. 12), S. 249 – 258, S. 256. 65 Vgl. ebd., S. 254 f. 66 Ebd., S. 256. Hervorhebung durch die Autoren. 64

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nach Redezugvakanzen: der expliziten Formulierung von Interpretationen 67. Er stellt einen Gesprächsausschnitt vor, in dem „Sprecher I das Schweigen, das sich nach seiner Frage entwickelt, durch eine metakommunikative Charakterisierung der eigenen Äußerung [beendet], in der er einen möglichen Grund für das Ausbleiben der erwarteten Antwort zur Sprache bringt.“ 68 Sprecher I fragt: wen n de so dem E l ma r jet zt d ie Sit uation b e sch reib en w ü rde st w ie w ü rd ste d a s t u n . Es folgt eine Pause von 0.3 Sekunden, nach der Sprecher I fortfährt: i s en bi s sel u n f a i r – weitere Pause von 0.3 Sekunden – d a s zu f ra g en . 69 Sprecher I formuliert also, nachdem Sprecher II nicht auf seine Frage reagiert, eine Annahme, warum Sprecher II nicht antwortet, indem er seine Frage als ein wenig unfair einschätzt. Dies geschieht mit dem Ziel, Sprecher II zu einer Antwort zu veranlassen bzw. das Nicht-Antworten zu thematisieren. Zugleich markiert er seine Interpretation durch die zweite, redezuginterne Pause als vorsichtiges Sprechen 70 und zeigt damit, dass er sich der Problematik seiner Fragestellung durchaus bewusst ist. Gleichzeitig fordert diese Empathiegeste Sprecher II zu einer Reaktion auf. Dieses Vorgehen deckt sich unseres Erachtens mit der Jägerschen Konzeption einer Störungt. Durch das Interpretationsangebot des Sprechers (im Beispiel hier: i s en bi ssl u n f a i r (0 . 3) d a s zu f ra g en) können auf einer Mikroebene der Konversation Bedeutungen geklärt und offengelegt werden. Insofern wird das Schweigen auf eine direkte Frage (d. h. die Redezugvakanz) durch diese Form der Interventionsmöglichkeit 71 zum Auslöser der Bearbeitung der Störung, die im jeweiligen Gespräch neue, gewinnbringende und vielfältige Bedeutungsfacetten evozieren kann. Abschließend stellt sich nun insbesondere die Frage, welchen Mehrwert man durch solch eine Anwendung des transkriptionstheoretischen Ansatzes auf das, was wir Phänomene der Absenz genannt haben, erhält. In erster Linie wird die Transkriptionstheorie, mit der sich die Eigenheiten und Funktionsweisen sehr unterschiedlicher medialer Kommunikationsformen beschreiben lassen, im hier vorgestellten Gedankenspiel als ein übergreifendes Theoriedach, als eine Art (medien-)theoretische Klammer für die divergenten Phänomene der Absenz verstanden, die sich durch den von Jäger entwickelten Begriff der Störungt entfalten kann. Das durch Absenz-Phänomene geprägte interaktive Geschehen wird im Sinne der Transkriptionstheorie als bedeutungsschaffender Prozess beschreibbar: In und durch Absenzen als produktive Störungen finden transkriptive Bearbeitungsvorgänge allererst statt; sie fungieren als Fingerzeige für die Notwendigkeit der transkriptiven Weiterverarbeitung, als produktive Unterbrechungen der flüssigen Rede, in denen die klärende Ausarbeitung der Rede- und Schweigeintentionen vorangetrieben werden kann. Sie sind folglich – dies ein zentraler Gedanke, der durch die Transkriptionstheorie deutlich wird – grundlegend interaktional motiviert. Transkriptive Störun Bergmann, Schweigephasen. 1982, S. 178. Ebd. 69 Vgl. ebd. 70 Im Sinne der Verwendung als Form einer rhetorischen Pause – vgl. Schwitalla, Gesproche­nes Deutsch. 2006, S. 128. 71 D. h. durch das Formulieren von Interpretationen des Schweigens. 67 68

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gen sind nicht einfach von außen auftretende Missgeschicke, sondern können von beiden Gesprächspartnern lokalisiert, thematisiert und weiterverarbeitet werden. Außerdem geraten die für alle Absenz-Phänomene bedeutsamen Interpretationsleistungen der Rezipienten in den Blick: Wie etwa anhand der Vorstellung des Schweigens als kommunikative Handlung deutlich wird, gehört zu den Lücken verbaler Kommunikation stets auch jemand, der sie (aufgrund seiner Erwartungshaltung) als solche bemerkt und interpretiert. Eine Theorie, die das Schweigen und alle übrigen Formen medialer Absenz thematisiert, muss sich daher zwingend an der Perspektive des Empfängers neben der des Sprechers orientieren; genau dies wird durch die transkriptionstheoretische Störungskonzeption geleistet. Unter Rückgriff auf einen transkriptionstheoretischen Zugang kann daher eine Vorstellung der vielfältigen Phänomene der Absenz entwickelt werden, in der diese nicht lediglich als Kehrseite, als Negativ-Folie des Medialen skizziert werden – und somit als etwas, das womöglich gar außerhalb der Kommunikation liegt. Vielmehr werden sie beschreibbar als Normalfälle des (Nicht-)Äußerns einerseits und als produktive Störungen unterschiedlicher Kommunikationsformen andererseits. Das Spiel mit den Phänomenen der Absenz erscheint so letztlich als eine grundlegende Eigenart der Sprache im Speziellen und auch anderer medialer Zusammenhänge allgemein. Sprechpausen, Schweigen, Leerstellen durch eine transkriptionstheoretische Brille zu betrachten, heißt, diese als bedeutsame Irritationsmomente fortwährender Transkriptionsverfahren im komplizierten Wechselspiel menschlicher Kommunikation zu begreifen. Die divergenten Phänomene der Absenz sind in dieser Hinsicht „nicht etwa als (bloße) […] ‚Performanzprobleme‘ zu betrachten, sondern als interaktive Ressourcen […].“ 72 Mit anderen Worten: Sie werden „nicht als ein Mangel (nämlich als Abwesenheit von Sprache), sondern als konstitutives Element menschlicher Kommunikation aufgefaßt.“ 73

Günthner, Susanne: Eine Sprachwissenschaft der „lebendigen Rede“. Ansätze einer Anthro­ po­logischen Linguistik. In: Sprache und mehr. Ansichten einer Linguistik der sprach­lichen Praxis. Hrsg. von Angelika Linke u. a. Tübingen: Niemeyer 2003, S. 189 – 207, S. 200. 73 Schmitz, Beredtes Schweigen. 1990, S. 27. 72

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Gender trouble in der Zwischenwelt – Weiblicher Vampirismus als Störung der Geschlechterordnung

1. Einleitung Wie kaum eine andere Figur hat der Vampir im letzten Jahrzehnt eine mediale Auferstehung erlebt, die ihresgleichen sucht. Als Verkörperung des geheimnisvoll-romantischen Liebhabers hat er nicht nur im Zuge der aktuell immer weiter um sich greifenden Vampir-Hysterie in den Kinderzimmern schmachtender Teenager Einzug gehalten, sondern ist auch als „Werbeträger für Zahnpasta, Staubsauger und Löschpapier“ 1 erfolgreich. Die Vielfalt der Vermarktung scheint grenzenlos und macht deutlich, dass die Figur des Vampirs eine ungebrochene Faszination ausübt, wie nicht zuletzt ein Blick auf den aktuellen Erfolg von Stefenie Meyers „Twilight“-Serie deutlich macht. Im Gegensatz zu Meyer, die den Vampir als domestiziertes Wesen zeigt und ihn durch die Verdammung der Sexualität von seiner bedrohlichen Dimension befreit, ist der Vampir aus literaturgeschichtlicher Sicht untrennbar mit Sexualität und Geschlechtlichkeit verbunden. Die Gender Studies – und hier insbesondere Judith Butler – bieten nun einen möglichen theoretischen Zugriff, um das dem Vampir inhärente „Störungspotential“ sichtbar zu machen. Sie liefern eine Antwort auf die Frage, inwieweit der Vampir Geschlechterrollen subvertiert und damit die herrschende Ordnung der Geschlechter in Frage stellt. Gemeinsamer Ausgangspunkt der teilweise kontrovers geführten Diskussionen ist die aus dem Wissen um die soziale Konstruiertheit der Geschlechterverhältnisse resultierende Ablehnung essentialistischer und biologistischer Theorien, die „unter Bezugnahme auf die unterschiedlichsten Wissenschaftsbereiche den menschlichen Körper als […] universelle, kulturübergreifende Konstante“ 2 verstehen und „sowohl das System der Zweigeschlechtlichkeit als auch historisch begründete Differenzen zwischen den Geschlechtern […] an der Anatomie festmach[en].“ 3 Ausdruck und Pütz, Susanne: Vampire und ihre Opfer. Der Blutsauger als literarische Figur. Bielefeld: Aisthesis Verlag 1992, S. 7. 2 Macha, Hildegard/Claudia Fahrenwald: Körper, Identität und Geschlecht zwischen Natur und Kultur. In: Körperbilder zwischen Natur und Kultur. Interdisziplinäre Beiträge zur Genderforschung. Hrsg. von Hildegard Macha/Claudia Fahrenwald. Opladen: Leske & Budrich 2003, S. 15 – 42, hier S. 29. 3 Ebd.

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Folge der Ablehnung dieser Anthropologisierung der Geschlechterdifferenzen ist die begriffliche Trennung zwischen dem biologischen Geschlecht (sex) und der soziokulturellen Geschlechtsidentität (gender). Während das deutsche Wort „Geschlecht“ diese Differenzierung nicht zulässt, wird durch die aus dem Englischen übernommene Unterscheidung deutlich, dass das soziale Geschlecht nicht die zwangsläufige Konsequenz des anatomisch-biologischen Geschlechtskörpers ist, sondern vielmehr ein gesellschaftlich erworbenes und damit veränderbares Produkt: „Die geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen an Frauen und Männer stellen eine kulturabhängige Definition von Verhalten dar, das als den Geschlechtern in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit angemessen gilt.“ 4 Eine Radikalisierung erfährt die gender-Debatte durch die Rezeption dekonstruktivistischer Theoreme, die eine grundsätzliche Neudefinition des Verhältnisses von Körper und Geschlecht erforderlich machen. Im Rahmen einer dekonstruktivistischen (Re-)Lektüre werden nicht nur klassische Binäroppositionen wie Natur und Kultur in ihrer Konstruiertheit aufgedeckt und zur Disposition gestellt, sondern auch die Unmittelbarkeit und Selbstursprünglichkeit des Körpers, denn: „Nicht nur die soziale Geschlechtsidentität, sondern auch die körperliche Geschlechtsidentität sind aus dekonstruktivistischer Perspektive gesellschaftlich und damit diskursiv konstruiert.“ 5 Damit erweist sich auch die Vorstellung eines vorgängigen, natürlichen Körpers, wie sie die Unterscheidung von sex und gender impliziert, als Konstrukt. 6 Vertreten wird die These der Konstruiertheit von Geschlechtsidentität und biologischem Geschlecht von Judith Butler. In ihrem Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ stellt sie die provokative Frage: „Werden die angeblich natürlichen Sachverhalte des Geschlechts nicht in Wirklichkeit diskursiv produziert, nämlich durch verschiedene wissenschaftliche Diskurse, die im Dienste anderer politischer und gesellschaftlicher Interessen stehen? Wenn man den unveränderlichen Charakter des Geschlechts bestreitet, erweist sich dieses Konstrukt namens ‚Geschlecht‘ vielleicht als ebenso kulturell hervorgebracht wie die Geschlechtsidentität. Ja, möglicherweise ist das Geschlecht (sex) immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen, so daß sich herausstellt, daß die Unterscheidung zwischen Geschlecht und Geschlechtsidentität letztlich gar keine Unterscheidung ist.“ 7

Wenn das Geschlecht laut Butler nun allerdings nicht natürlich gegeben ist, sondern vielmehr Effekt gesellschaftlicher Bezeichnungs-, Regulierungs- und Normierungsverfahren, stellt sich die Frage, warum es als natürlich gegeben erscheint. Butlers Antwort ist die Folgende: Das Geschlecht erscheint als natürlich gegeben, weil es vom Einzelnen im Rahmen der gesellschaftlichen Diskurse wiederholt und so mit dem Anschein des Lerner, Gerda: Die Entstehung des Patriarchats. München: dtv 1997, S. 301. Macha/Fahrenwald, Körper. 2003, S. 30. 6 Vgl. Maihofer, Andrea: Geschlecht als Existenzweise. Macht, Moral, Recht und Ge­schlech­ terdifferenz. Frankfurt/M.: Helmer 1995, S. 40 f. 7 Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 23 f.

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Natürlichen versehen wird. Indem Menschen sich so verhalten, als gäbe es von Natur aus „Männer“ und „Frauen“, schaffen und bestätigen sie die soziale Fiktion eines natürlichen geschlechtlichen Wesenkerns. 8 Wie zu zeigen sein wird, durchbricht der Vampir diese scheinbare Natürlichkeit des Geschlechts. Bevor es im folgenden darum gehen wird, die damit vorgenommene Positionierung des Vampirs „zwischen“ den Geschlechtern genauer zu betrachten, möchte ich zunächst auf die verschiedenen „Dimensionen der kulturellen Aneignung“ 9 des Vampirismus eingehen. Wirft man einen Blick auf die Ursprünge dieses Motivs dann zeigt sich, dass die literarische Welt durchzogen ist von gespenstischen „Doppel- und Wiedergängern, Vampiren, Werwölfen, belebten Statuen etc. […]“ 10 , deren Geschichte so weit zurückreicht wie die Schrift selbst. 11 Der Vampir ist dabei im heutigen Sprachgebrauch eine Bezeichnung für einen Verstorbenen, der nachts sein Grab verlässt, um Lebenden das Blut auszusaugen. Diese Vorstellung vom nächtlichen Wiedergänger verweist auf einen Volksglauben, der aus den Ländern Südosteuropas stammt. Zu Anfang des 18. Jahrhunderts dokumentiert der österreichische Militärkommandant Serbiens einige „äußerst merkwürdige Erscheinungen“ 12 in zwei von Österreich okkupierten Dörfern. Hier berichten die Einwohner, „daß als ‚sogenan[n]te Vampyrs‘ wiedergehende Tote ‚einige Persohnen durch ausßaugung des Bluts umgebracht haben sollen‘.“ 13 Wie den angefertigten Protokollen zu entnehmen ist, folgt der Anzeige die Exhumierung der Toten. Diese fördert einige Besonderheiten der Leichnahme zu Tage: „[D]er Cörper ausser der Nasen, welche etwas abgefallen, gantz frisch; Haar und Bart, ja auch die Nägel […] an ihme gewachsen; die alte Haut […] hat sich hinweg geschellet, und eine frische neue darunter hervor gethan; das Gesicht, Hände und […] Füsse, und der gantze Leib waren beschaffen, daß sie in seinen Lebzeiten nicht hätten vollkommener seyn können. […]. Nachdem […] der Pövel aber mehr und mehr ergrimter als bestürtzter wurde, haben sie [sic] gesamte Unterthanen in schneller Eil einen Pfeil gespitzet, solchen, dem TodtenCörper zu durchstechen, an das Hertz gesetzet […].“ 14

Vgl. Bublitz, Hannelore: Judith Butler zur Einführung. Hamburg: Junius 2002, S. 73. Ruthner, Clemens: Am Rande. Kanon, Kulturökonomie und die Intertextualität des Mar­gi­ nalen am Beispiel (österreichischer) Phantastik im 20. Jahrhundert. Tübingen: Francke 2004, S. 131. 10 Ruthner, Clemens: Unheimliche Wiederkehr. Interpretationen zu den gespenstischen Ro­man­ figuren bei Ewers, Meyrink, Soyka, Spunda und Strobl. Meitingen: Corian-Verlag Wim­mer 1993, S. 9. 11 Vgl. ebd. 12 Rohrbacher, Stefan/Schmidt, Michael: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek: Rowohlt 1991, S. 131. Siehe dazu auch Schroe­der, Aribert: Vampirismus. Seine Entwicklung vom Thema zum Motiv. Frankfurt/M.: Aka­de­mi­ sche Verlagsgesellschaft 1973, S. 45 ff. 13 Zitiert nach Schröder, Vampirismus 1973, S. 131. 14 Hamberger, Klaus: Mortuus non mordet. Dokumente zum Vampirismus 1689 – 1791. Wien: Turia & Kant 1992, S. 44 f. 8

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Durch diesen Eintrag wird der Vampir aktenkundig und tritt „aus dem Gruftdunkel regionaler Folklore quasi ins Leselicht einer entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit“ 15 . Die amtlichen Berichte, die die unerklärlichen Todesfälle detailliert dokumentieren, verbreiten sich durch ihre Veröffentlichungen in Zeitschriften in ganz Europa und werden „zu einer Art ‚early media-event‘“ 16 . Im Zuge dieser Welle von journalistischen bzw. wissenschaftlichen Artikeln diskutiert „[d]ie aufgeklärte Öffentlichkeit Westeuropas […] diese Ereignisse mit dem Ziel, den Aberglauben durch eine natürliche Erklärung der Beobachtungen zu entkräften“ 17. Gleichzeitig wird durch die detaillierte Beschreibung des (scheinbar nicht stattfindenden) körperlichen Verfalls sowie der Verweis auf die bevorzugte Methode zur Vernichtung des vermeintlich Untoten, die Pfählung, ein erstes verbindliches Motivtableau installiert, das die narrative Grundstruktur für die weitere literarische Verarbeitung des Motivs festlegt. Neben dieser folkloristisch-mythologischen Etablierung und Deutung des Vampirmotivs lassen sich auch verschiedene psychologische Erklärungsmuster finden. Psychologisch interpretiert verkörpert der Vampir eine Figur, durch die – ebenso wie bei anderen Phänomenen abergläubischen Ursprungs – innerpsychische Konflikte ausgelebt werden, die nicht bewusst sind. So werden auf die Figur des Vampirs sowohl Ängste als auch verworfene Wünsche und Begierden projiziert, die in den unbewussten Bereich der Psyche verdrängt worden sind. Oliver Claes interpretiert den Vampirismus dabei unter Rückgriff auf Freuds Abhandlungen zur Sexualtheorie 18 als Rückfall in die „erste Phase der prägenitalen Sexualorganisation“ 19, in der „Nahrungsaufnahme und Sexualität, Lustempfinden und Vernichtungswunsch noch ununterscheidbar verbunden sind.“ 20 Vor diesem Hintergrund lässt sich das vampirische Saugen als Wunsch der Einverleibung auslegen. Ein Indiz für diese Verdrängungstheorie ist die ambivalente Besetzung des Motivs: „Da die vom ‚Ich‘ gelenkte Zensur eine unverschleierte Darstellung des zu Grunde liegenden Wunsches nicht erlaubt, ist die Psyche […] zu einem Kompromiß zwischen dem im Unbewußten lokalisierten Bedürfnis und der im vorbewußten Bereich vollzogenen Hemmung desselben gezwungen, der sich in einer Verknüpfung gegensätzlicher Eigenschaften niederschlägt. Infolgedessen verspürt das Subjekt bei einer ‚Konfrontation‘ mit diesen Erscheinungen ein Gefühl der Anziehung und des Ekels, empfindet ihre äußere Gestalt als schön und hässlich zugleich.“ 21

Ruthner, Am Rande. 2004, S. 131. Ebd., S. 132. 17 Claes, Oliver: Fremde. Vampire. Sexualität, Tod und Kunst bei Elfriede Jelinek und Adolf Muschg. Bielefeld: Aisthesis 1994, S. 10. 18 Siehe dazu Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Frankfurt/M.: S. Fischer 1961, S. 98. 19 Claes, Fremde. 1994, S. 17. 20 Ebd. 21 Pütz, Vampire. 1992, S. 19. 15 16

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Der/die „Infizierte“ ist hin- und hergerissen zwischen dem Lustempfinden und Zerstörungswut: „Er muß beißen, um saugen zu können; als Beißender will er das geliebte Objekt vernichten, als Saugender genährt werden. Damit verkörpert er die Ambivalenz von Liebe und Lust, ihre unauflösliche Bindung an Gewalt und Vernichtung.“ 22 Gleichzeitig transportiert die Vampirmetapher – wie vor allem Begriffe wie „Ansteckung“ oder „Infektion“ deutlich machen – „konkrete Ängste vor den Folgen sexueller Aktivität.“ 23 So weist Claes darauf hin, dass in Bram Stokers „Dracula“ unter anderem „die Angst vor der Syphilis ihren literarischen Ausdruck“ 24 fand. Damit lässt sich zunächst festhalten, dass der Vampir als dämonische Figur, als Grenzgänger zwischen Leben und Tod, immer schon das Andere verkörpert, das in verschiedenen Diskursen mit unterschiedlicher Bedeutung belegt werden kann: „Als Signifika(n)t mit vager Referenz hält er im kulturellen Gedächtnis eine Leerstelle des Anderen, des Ir(r)-Rationalen frei.“ 25 So wird der Vampir, selbst ohne Spiegelbild, zum Spiegel gesellschaftlicher bzw. subjektiver Zustände. 26 Zum einen verweist die „Vampir-Folklore“ zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf den schwelenden Konflikt zwischen West- und Osteuropa, die Konfrontation zwischen Aufklärung und Aberglauben. Der Konflikt zwischen Ost und West erwächst u. a. aus der Tatsache, dass sich die südslawischen Gebiete, die nach den Feldzügen gegen die Türkei unter österreichischer Besatzung standen, in einer äußerst labilen Phase des Umbruchs befanden: „Im Zuge der österreichischen Okkupation kommt es zur De-Islamisierung, zum schwelenden Religionsstreit zwischen katholischer und orthodoxer Kirche sowie generell zu einer Art Kulturkampf zwischen den ‚befreiten‘ Südslawen und ihren neuen österreichischen ‚Kolonisatoren‘.“ 27

An dieser „Militärgrenze des christlichen Abendlandes“ 28 startet nun das Kolonialisierungsprogramm des aufgeklärten Westens gegen den abergläubischen Osten: „Wie wir der zeitgenössischen Auffassung entnehmen können, legte dieses Paradigma den Gedanken nahe, daß man die unwissenden und abergläubischen osteuropäischen Wilden – die jedoch keineswegs als ‚edel‘ angesehen wurden! – zivilisieren müsse. Den Intellektuellen jener Zeit zufolge konnte diese aufklärerische Mission, dieser Zivilisierungsprozeß, im sozialen Sinne nur von ‚oben‘ und im geographischen Sinne nur aus dem ‚Westen‘ kommen.“ 29

Claes, Fremde. 1994, S. 18. Ebd. 24 Ebd., S. 18 f. 25 Ruthner, Clemens: Sexualität, Macht, Tod/t. In: Kakanien revisited, 2002, S. 1 – 16, hier S. 2. 26 Vgl. Ruthner, Am Rande. 2004, S. 150. 27 Ebd., S. 136. 28 Ebd. 29 Klaniczay, Gábor: Heilige, Hexen, Vampire. Vom Nutzen des Übernatürlichen. Berlin: Wa­ gen­bach 1991, S. 88. 22 23

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Dabei ist es vor allem die „Umkehr des christlichen Glaubens an die Auferstehung“ 30 , die der Vampir unterläuft. Denn während im Christentum erst die Teilnahme an der heiligen Kommunion und die dabei stattfindende Einverleibung des (verwandelten) Fleisches und Blutes Christi das ewige Leben verspricht, widersetzt sich der Vampir diesem Ritual, da er auch ohne die Rettung durch Gott über ewiges Leben verfügt. Zum anderen markiert der Kampf gegen die als „das Unbewusste“ bestimmten Vampire im psychologischen Diskurs die Angst vor dem eigenen Irrationalen, die die Etablierung der Psychoanalyse auslöste. 2. Vampirismus und Gender In der damit vorgenommenen Determinierung des Vampirs als „Das Andere“ ist immer zugleich eine geschlechtliche Perspektivierung angelegt. Im binär angelegten abendländischen Diskurs ist es die Frau, die im Gegensatz zu dem auf Einheit, Identität, Homogenität und Rationalität festgelegten Mann als das Andere eben dieser Festschreibungen bestimmt wird. Dieser Gegensatz zwischen dem durch Ratio und einen ordnenden Ver­stand ge­kenn­zeichneten Mann und der naturverhafteten Frau zieht sich durch den gesam­ten abend­ländischen Diskurs. Bereits in der Antike tritt das Weibliche als „der Stoffursprung alles Seins, als eine chaotische, dämonische, durch den rationalen Verstand nicht zu ordnende Welt“ 31 in Erscheinung. Der Begriff des „Dämonischen“ zeigt dabei deutlich, dass das Konzept der Weiblichkeit einen Restbestand jenes „fremden, geheimnisvollen und bedrohlichen Moments“ 32 beinhaltet, das außerhalb der kultivierenden Vergesellschaftungsprozesse zu stehen scheint. Während der Mann im abendländischen Geschichtsverständnis zum Subjekt und damit zum Motor der Geschichte erklärt wird, verkörpert die Frau diejenigen Prozesse, „welche außerhalb einer wie auch immer gearteten subjektiven Verfügungsgewalt über Natur ablaufen.“ 33 Der Vampir ist somit – wie Clemens Ruthner treffend beschreibt – immer auch ein „Geschlechtsdämon“. 34 Dieser geschlechtliche Zuschnitt des Motivs wird vor allem beim Blick auf die literarische Ver- und Bearbeitung des Vampirstoffs deutlich. Denn neben der durch die Dokumentarisierung und Archivierung der geschilderten vampiristischen Zwischenfälle in den slawischen Dörfern ausgelösten publizistisch-wissenschaftlichen Aneignung des Vampirismus findet im 18. Jahrhundert eine umfangreiche Literarisierung des Motivs statt. So erscheint 1748 das erste Vampirgedicht in deutscher Sprache „Mein liebes Mägdchen glaubte“ (auch: „Der Vampir“) von August Ossenfelder: Claes, Fremde. 1994, S. 11. Wartmann, Brigitte: Die Grammatik des Patriarchats. Die „Natur“ des Weiblichen in der bürgerlichen Gesellschaft. In: Ästhetik und Kommunikation 47, 1982, S. 12 – 32, hier S. 19. 32 Wartmann, Brigitte: Verdrängung des Weiblichen in der Geschichte. Verdrängung der Weiblichkeit aus der Geschichte. Bemerkungen zu einer „anderen“ Produktivität der Frau. In: Weiblich-Männlich. Kulturgeschichtliche Spuren einer verdrängten Weiblichkeit. Hrsg. von Brigitte Wartmann. Berlin: Ästhetik und Kommunikation 1980, S. 7 – 33, hier S. 8. 33 Wartmann, Verdrängung. 1980, S. 11. 34 Vgl. Ruthner, Am Rande. 2004, S. 151. 30 31

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„Wenn ich dich werde küssen Und als ein Vampir küssen: Wann du dann recht erzitterst Und matt in meine Arme, Gleich einer Todten sinkest Alsdenn will ich dich fragen, Sind meine Lehren besser, Als deiner guten Mutter?“ 35

Bei Ossenfelder ist es die vampiristisch fordernde Sexualität eines männlichen Ichs, die das „liebe Mägdchen“ entgegen ihrer christlich-sittlichen Grundsätze, verkörpert durch die Figur der Mutter, verführt. Während der literarische Vampir hier zunächst in seiner männlichen Form auftaucht, verschiebt sich der Fokus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom männlichen auf den weiblichen Vampir. 36 Dieser Paradigmenwechsel verläuft dabei analog zu der Dämonisierung der Frau in den Künsten zwischen Romantik und Decadence. 37 So kommt um 1900 die Figur der femme fatale auf, die in der mit ihr verbundenen Inszenierung von Sexualität Parallelen zu den weiblichen Vampirinnen bei Stoker und Le Fanu aufweist, auf die im folgenden genauer eingegangen wird. Definiert werden kann die femme fatale Carola Hilmes zufolge zunächst als „[…] meist junge Frau von auffallender Sinnlichkeit, durch die ein zu ihr in Beziehung geratender Mann zu Schaden oder zu Tode kommt. Die Verführungskünste einer Frau, denen ein Mann zum Opfer fällt, stehen in den Geschichten der femme fatale im Zentrum.“ 38

Die Auseinandersetzung mit der Inszenierung und Darstellung der Frau in Literatur und Kunst kann dabei als Versuch männlicher Wissenschaftler angesehen werden, einen exklusiven Blick auf weibliche Sexualität zu erhalten. In diesem Sinne stellt Catani fest, dass sich diese „ästhetische Figuration weiblicher Sinnlichkeit als Reaktion auf die Tabuisierung weiblicher Libido durch Wissenschaftler wie Krafft-Ebing, Freud und Möbius verstehen“ 39 lässt. Denn während die herrschende restriktive Sexualmoral jegliche Form von Körperlichkeit tabuisiert, findet in Kunst und Literatur eine umso facettenreichere Darstellung eben dieser verdrängten Aspekte statt. Catani weist allerdings zu Recht darauf hin, dass diese ästhetische Inszenierung der Libido nicht zur Emanzipation der Frau Ossenfelder, August: Mein liebes Mägdchen glaubte. Zit. n. Sturm, Dieter/Völker, Klaus: Von denen und Menschensaugern. Dichtungen und Dokumente. München: Hanser 2006, S. 22. 36 Siehe dazu auch Flocke, Petra: Vampirinnen: Ich schaue in den Spiegel und sehe nichts. Die kulturellen Repräsentationsformen der Vampirin. Tübingen: konkursbuch Verlag 1999, S. 97 und Praz, Mario: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik. München: Hanser 1994, S. 91. 37 Vgl. Ruthner, Am Rande. 2004, S. 156. 38 Hilmes, Carola: Die femme fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur. Stuttgart: Metzler 1990, S. 10. 39 Catani, Stephanie: Das fiktive Geschlecht. Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885 und 1925. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 93. 35

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beiträgt, da sie immer schon mit einer Pathologisierung und Dämonisierung der Weiblichkeit einhergeht und die literarische Darstellung der Frau zum anderen immer ein „Resultat zumeist männlicher Phantasien bleibt.“ 40 Zwei prominente Vampirromane machen die beschriebene Dämonisierung der Frau sichtbar: Bram Stokers 1897 entstandener Roman „Dracula“ und Joseph Sheridan Le Fanus „Carmilla“ aus dem Jahr 1872. Hier treten Frauen in Erscheinung, die mit dem Ausleben ihrer Sexualität und dem damit verbundenen Anspruch auf Dominanz gegen die gesellschaftlichen Regeln verstoßen, denn: Die Rolle, die die Frau im 19. Jahrhundert eigentlich (d. h. entsprechend dem patriarchalen Machtdiskurs) verkörpern soll, ist die des „Engels im Hause.“ 41 Sandra Gilbert und Susan Gubar beschreiben diese Situation folgendermaßen: “[F]rom the eighteenth century on, conduct books for ladies had proliferated, enjoining young girls to submissiveness, modesty, self-lessness; reminding all women that they should be angelic […]. ‘[E]ternal feminine’ virtues of modesty, gracefulness, purity, delicacy, civility, compliancy, reticence, chastity, affability [and] politeness.” 42

Hier wird eine idealisierte Vorstellung von Weiblichkeit entworfen, die jegliche Körperlichkeit ausklammert. Die Frau erscheint als fürsorgende Mutter und aufopferungsvolle Ehefrau, die auf den Radius des Hauses beschränkt ist und ihre Sexualität vollständig und ausschließlich in den Dienst der Fortpflanzung stellt. Ein lustvolles Erleben der eigenen Körperlichkeit außerhalb dieses Reproduktionsdiskurses findet nicht statt. Die beiden Vampirinnen in „Carmilla“ und „Dracula“ unterlaufen nun eben dieses entsexualisierte und domestizierte Bild der Frau. In „Dracula“ ist es neben dem Grafen (der dem Roman zwar seinen Namen gibt, ansonsten allerdings ein eher blasser Nebendarsteller bleibt, der lediglich als Katalysator der Ereignisse dient) vor allem Lucy, die als infizierte Vampirin ihre Umwelt verstört. Das ihr zugeschriebene Bedrohungspotential beruht dabei vor allem auf der Tatsache, dass Lucy die traditionellen Normen des weiblichen Sexualverhaltens übertritt. An Stelle einer passiven empfangenden Frau tritt den Männern hier eine Frau entgegen, deren Sexualverhalten als geradezu aggressiv bezeichnet werden kann. Sie drückt ihre Lust deutlich aus und wird damit zur bewussten Normbrecherin, die sich nicht mehr auf ihre Rolle als liebende Hausfrau und Mutter festschreiben lässt. Die Verwandlung wird vor allem in den Szenen deutlich, in denen Lucy versucht ihren Ehemann Arthur zu verführen und auf ihre Seite zu ziehen: „In einer Art Halbschlaf öffnete sie die Augen, die jetzt glanzlos und stechend blickten, und sagte mit einer sanften und wollüstigen Stimme, wie sie mir bei ihr noch nie aufgefallen war: ‚Arthur! Mein Liebling, ich freue mich so über dein Kommen. Küß mich!‘“ 43 Ebd., S. 94. Klemens, Elke: Dracula und ‚seine Töchter‘. Die Vampirin als Symbol im Wandel der Zeit. Tübingen: Narr 2004, S. 39. 42 Gilbert, Sandra/Gubar, Susan: The Madwomen in the Attic: The Woman Writer and the Nine­teenth-Century Literary Imagination. New Haven: Yale UP 1979, S. 23. 43 Stoker, Bram: Dracula. Frankfurt/M.: Insel 1988, S. 236. 40 41

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„Als sie dann mit ausgestreckten Armen und lüsternem Lächeln auf ihn zuging, wich er zurück und schlug die Hände vor das Gesicht. Sie kam jedoch immer näher und lockte ihn mit sinnlicher, wollüstiger Stimme: ‚Komm zu mir, Arthur! Laß die anderen stehen und komm zu mir! Meine Arme sehen sich nach dir. Komm, dann können wir zusammen liegen. Komm, meine Gatte, komm!‘“ 4 4

Dieses Verhalten macht sie zu einer Gefahr für die Männerwelt. Denn anstatt sich dem moralischen Korsett zu fügen wird ihr Körper „[…] explizit als ein sexuell verlockender, lustvoller Körper wahrgenommen. Das weibliche Böse ist verführerisch und der in seiner sexuellen Verführbarkeit ,schwache‘ Mann ist in Gefahr, dieser Verführung zu erliegen […]. Folglich ordnet das Patriarchat in diesem Fall die Täterrolle eindeutig der Frau und die Opferrolle dem Mann zu.“ 45

Ein ähnliches Bild finden wir auch bei Le Fanu, der mit „Carmilla“ den Prototyp der lesbischen Vampirin entwirft. 46 In der scheinbar „autobiographischen“ Erzählung schildert die Protagonistin Laura die Begegnung mit einer geheimnisvollen Fremden, die nach einem Kutschunfall in das Schloss ihres Vaters zieht. Im Verlauf der Erzählung gerät Laura zunehmend in den Bann der verführerischen Vampirin Carmilla und schwankt – entsprechend der bereits konstatierten Ambiguität der durch den Kontakt mit Vampiren ausgelösten Gefühle – zwischen Anziehung und Abneigung: “She used to place her pretty arms about my neck, draw me to her, and laying her cheek to mine, murmur with her lips near my ear, ‘Dearest, your little heart is wounded; think me not cruel because I obey the irresistible law of my strength and weakness; if your dear heart is wounded, my wild heart bleeds with yours. In the rapture of my enormous humiliation I live in your warm life, and you shall die – die, sweetly die – into mine. I cannot help it; as I draw near to you, you, in your turn, will draw near to others, and learn the rapture of that cruelty, which yet is love; so, for a while, seek to know no more of me and mine, but trust me with all your loving spirit.’” 47 “In these mysterious moods I did not like her. I experienced a strange tumultuous excitement that was pleasurable, ever and anon, mingled with a vague sense of fear and disgust. I had no distinct thoughts about her while such scenes lasted, but I was conscious of a love growing into adoration, and also of abhorrence. This I know is paradox, but I can make no other attempt to explain the feeling.” 48 “Sometimes […] my strange and beautiful companion would take my hand and hold it with fond pressure, renewed again and again; blushing softly, gazing in my face with languid and burning eyes, and breathing so fast that her dress rose and fell with the tumultuous respiration. It was like the ardour of a lover; it embarrassed me; it was hateful and yet overpow Ebd., S. 307 f. Klemens, Dracula. 2004, S. 111. 46 Vgl. Schoder, Angelika: Blutsaugerinnen und femme fatales. Weibliche Vampire bei Leopold von Sacher-Masoch, Joseph Sheridan Le Fanu und Bram Stoker. Diedorf: Ubooks 2009, S. 42. 47 Le Fanu, Joseph Sheridan: Carmilla. Kansas City: Valancourt Books 2009, S. 22. 48 Ebd. 44 45

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Verena Ronge ering; and with gloating eyes she drew me to her, and her hot lips travelled along my cheek in kisses; and she would whisper, almost in sobs, ‘You are mine, you shall be mine, and you and I are one for ever.’” 49

Während bei „Dracula“ die weibliche Vampirin erst als Infizierte ins Spiel kommt (also von einem männlich-patriarchalen Schöpfer erst geschaffen werden muss), wird das weibliche Opfer in „Carmilla“ von einer weiblichen Vampirin bedroht. Durch die damit erlangte Eigenständigkeit der weiblichen vampirischen Existenz ist die Bedrohung durch die Vampirin noch tiefgreifender, da nicht nur die Befreiung der weiblichen Sexualität die stabilen Rollenmuster gefährdet. Obwohl auch Carmilla ihren männlichen Jägern zum Opfer fällt, steht am Ende des Romans nicht die Wiederherstellung der alten Ordnung. Das Opfer, Laura, sinkt nicht (wie bei „Dracula“) in die Arme ihrer männlichen Retter, sondern lebt in unzerstörbarer Symbiose mit Carmilla weiter. Somit ist die Angst des Mannes vor der Vampirin immer auch die Angst des Mannes vor der machtvollen Frau, die sich seinen Verfügungswünschen entgegen stellt und die ihr zugedachte Rolle des „Engels im Haus“ nicht erfüllt: „Sie [die Vampirinnen – V.R.] agieren nicht als Popanze der Folklore […], sondern als das vergeistigte Kondensat einer Angst, gegen die kein Kraut gewachsen ist. […]. Bei ihm [dem weiblichen Vampir – V.R.] handelt es sich eben nicht um einen aus dem Grab gestiegenen Dämon, sondern um eine Metapher für die Erfahrung der Bedrohung männlicher Potenz.“ 50

Damit zeigt sich in aller Deutlichkeit das dem Motiv innewohnende Störungspotential: Die Vampirinnen stellen die Geschlechterordnung (männliche Herrschaft vs. weibliche Untergebenheit) und die Geschlechternormen (Homosexualität vs. Heterosexualität) radikal in Frage. Diese Aussage (und der mit ihr implizierte Begriff der Störung) lässt sich nun mit Rückgriff auf Judith Butler weiter differenzieren und theoretisch untermauern. Wie bereits beschrieben, stellt sich Butler gegen die Annahme der Unmittelbarkeit und Selbstursprünglichkeit des Körpers und rückt damit zugleich die Veränderbarkeit von Geschlechterzuschreibung in den Mittelpunkt: Geschlecht ist nicht natürlich gegeben 51, es ist sozial Ebd., S. 23. Brittnacher, Hans Richard: Phantasmen der Niederlage. Über weibliche Vampire und ihre männlichen Opfer um 1900. In: Poetische Wiedergänger. Deutschsprachige VampirismusDiskurse vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Julia Bertschik/Christa Agnes Tuczay. Tübingen: Narr Francke 2005, S. 163 – 183, hier S. 174. 51 An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass Butler die Existenz eines biologischen Körpers nicht negiert und eine „Frau ohne Unterleib“ (Duden, Anne: Die Frau ohne Unterleib: Zu Judith Butlers Entkörperung. Ein Zeitdokument. In: Feministische Studien 11, 1993, H. 2, S. 24 – 33) herbeizitiert, wie ihr oftmals vorgeworfen wird. Sie macht in ihrem zweiten Buch „Körper von Gewicht“ vielmehr deutlich, dass „eine Kategorie zu hinterfragen und sie zu verschieben nicht dasselbe sei, wie sie unbrauchbar zu machen“ (Frei Gerlach, Franziska: Schrift und Geschlecht. Feministische Entwürfe und Lektüren von Marlen Haushofer, Inge­borg Bachmann und Anne Duden. Berlin: Erich Schmidt 1998, S. 135). 49

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erzeugt. Gleichzeitig wird diese Konstruiertheit von Geschlecht allerdings verschleiert und als naturhaft ausgegeben. Eine Strategie, um Geschlechterstereotypen zu stabilisieren und gerade nicht als Fabrikation erscheinen zu lassen, ist das Tabu der Homosexualität: „Doch was bestimmt den manifesten und latenten Text der Körperpolitik? Wir haben bereits das Inzesttabu und das vorgängige Tabu gegen die Homosexualität als generative Momente der Geschlechteridentität betrachtet, d. h. als Verbote, die die Identität gemäß den kulturell intelligiblen Rastern einer idealisierten Zwangsheterosexualität hervorbringen. Diese Disziplinarproduktion der Geschlechteridentität bewirkt eine falsche Stabilisierung der Geschlechteridentität im Interesse der heterosexuellen Konstruktion und Regulierung der Sexualität innerhalb des Gebietes der Fortpflanzung. Die Konstruktion der Kohärenz verschleiert jede Diskontinuitäten der Geschlechteridentität, wie sie umgekehrt in den hetero-, bisexuellen, schwulen und lesbischen Zusammenhängen wuchern, in denen die Geschlechtsidentität nicht zwangsläufig aus dem Geschlecht folgt und das Begehren oder die Sexualität im allgemeinen nicht aus der Geschlechtsidentität zu folgen scheinen; […].“ 52

Um diese „Diskontinuitäten der Geschlechteridentität“ dennoch sichtbar zu machen, verweist Butler auf die Travestie, d. h. die wiederholte Parodie der „Vorstellun[g] von einer ursprünglichen oder primären geschlechtlich bestimmten Identität“ 53: „Tatsächlich besteht ein Teil des Vergnügens, das Schwindel-Gefühl der Performanz, darin, daß man entgegen den kulturellen Konfigurationen ursächlicher Einheiten, die regelmäßig als natürliche und notwendige Faktoren vorausgesetzt werden, die grundlegende Kontingenz in der Beziehung zwischen biologischem Geschlecht (sex) und Geschlechtsidentität (gender) anerkennt. Statt des Gesetzes der heterosexuellen Kohärenz sehen wir, wie das Geschlecht und die Geschlechtsidentität ent-naturalisiert werden, und zwar mittels einer Performanz, die die Unterschiedenheit dieser Kategorien eingesteht und die kulturellen Mechanismen ihrer fabrizierten/erfundenen Einheit auf die Bühne bringt.“ 54

Durch den in der Travestie sichtbar gemachten Unterschied zwischen der Anatomie des Darstellers und der dargestellten Geschlechtszugehörigkeit tritt dabei nicht nur die „Imitationsstruktur der Geschlechtsidentität“ 55 zu Tage, sondern auch die Illusionshaftigkeit der Existenz eines diesen parodistischen Identitäten zu Grunde liegenden Originals. Indem die Imitation die Bedeutung des Originals verschiebt und in Bewegung bringt, wird zugleich der Mythos der Ursprünglichkeit selbst imitiert. 56 Als „Imitation einer Imitation“ offenbart die Geschlechterparodie damit, „dass die ursprüngliche Identität, der die Geschlechtsidentität nachgebildet ist, selbst nur eine Imitation ohne Original ist.“ 57 Genau diese Travestie der Geschlechter findet auch in und durch die Figur der weiblichen Vampirin statt. So werden sowohl Carmilla als auch Lucy einerseits weiblich attri Butler, Unbehagen. 2003, S. 199/200. Ebd., S. 201. 54 Ebd., S. 202 f. 55 Ebd., S. 202. 56 Ebd., S. 203. 57 Ebd. 52 53

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buiert, indem vor allem ihre Schönheit und Zurückhaltung betont wird, gleichzeitig werden ihnen männliche Eigenschaften zugeschrieben: Sie sind sexuell aktiv und aggressiv. Damit werden die herrschenden Geschlechternormen empfindlich gestört und in Frage gestellt, wie Emily Mai betont: “Carmilla has awakened Laura’s sexuality, freeing her from the strict gender constraints to which she had previously been tied.” 58 “Carmilla’s c/overt sexuality (and her suggestion of its latent existence in Laura) seems, then, to represent the ways in which she defies gender norms – for while her sexuality in and of itself is represented as a masculine trait (suggested by Laura’s suspicion that Carmilla may be a boy in disguise), the ways in which it plays out are rather feminine.” 59

Carmilla definiert Geschlechternormen nicht nur, wie von Mai angedeutet, neu, indem sie männliche und weibliche Attribute kombiniert, sie subvertiert die Ordnung noch weitgehender, da sie sich als lesbische Vampirin gegen die von Butler angenommene „Zwangs­ heterosexualität“ 60 stellt, die eine Stabilisierung der Normen sichern soll. Gleich­zeitig unterläuft die Vampirin diese Zwangsmatrix, indem sie die Möglichkeit der Fort­pflan­zung außerhalb dieser patriarchal kontrollierten und reglementierten Grenzen zeigt. Denn: „Ein Vampir kann selbständig Nachkommen erzeugen, indem er Menschen ‚beißt‘. Er kann dies potenziell in unbegrenzter Häufigkeit tun. Diese als absolut zu bezeichnende Reproduktionspotenz erfolgt in Form einer absoluten Mutterschaft, d. h. ohne die Abhängigkeit von einem Sexualpartner.“ 61

Obwohl deutlich geworden ist, dass sich sowohl Carmilla als auch Lucy den Zwängen des Patriarchats widersetzen, ist das diesen Figuren innewohnende subversive Störungspotential begrenzt, da beide ganz im Sinne der bereits beschriebenen femme fatale am Paradigma männlicher Macht orientiert bleiben, indem sie als dämonische Bedrohung einer „entarteten“ Weiblichkeit gezeigt werden. Während die weiblichen Vampirinnen in der Literatur um 1900 damit „faszinieren­d[e] bis trivial[e] Feindbilde[r] einer männlichen Literatur“ 62 bleiben, wird das Motiv der Blutsaugerin in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem zur subversiven Dekonstruktion tradierter Weiblichkeitsbilder genutzt: „Vorgefundene Weiblichkeitsbilder werden umgedeutet in ein selbstbewußtes Konzept weiblicher Autonomie, Aggression und Sinnlichkeit. Wofür der Vampirismus ein ironisches Modell sein könnte.“ 63 Diese Nutz Mai, Emily: Writing the Vampire. Constitutions of Gender in Carmilla, Dracula, and Buffy the Vam­pire Slayer, S. 11. ‹http://discoverarchive.vanderbilt.edu/jspui/bitstream/1803/2976/1/ FINAL%20DRAFT.pdf› (Zugriff am 3.12.2012). 59 Ebd., S. 6. 60 Siehe dazu Butler, Unbehagen. 2003, S. 39. 61 Klemens, Dracula. 2004, S. 112. 62 Ruthner, Am Rande. 2004, S. 157. 63 Perthold, Sabine: Rote Küsse. Frauen-Film-Schaubuch. Tübingen: konkursbuch Verlag 1990, S. 7. 58

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barmachung des Motivs zur Markierung eines kulturellen Zwischenraums, in dem Störungen auftreten und ausgehandelt werden, findet sich auch bei Elfriede Jelinek und ihrem Stück „Krankheit oder moderne Frauen“. 3. Elfriede Jelineks Stück „Krankheit oder moderne Frauen“ Bei Jelinek treffen zwei männliche und zwei weibliche Protagonisten aufeinander, die sich zu Beginn des Stücks in klassisch heterosexuellen Paarbeziehungen befinden: Die Hausfrau und Mutter Carmilla ist mit dem Steuerberater Benno Hundekoffer liiert, die Krankenschwester Emily mit dem Gynäkologen und Zahnarzt Dr. Heidkliff. Nach­dem Carmilla ihr sechstes Kind zur Welt gebracht hat, stirbt sie. Ihr Tod markiert jedoch nicht das Ende, sondern initiiert vielmehr eine Neubesetzung der Paarkonstellationen. Emily, die nicht nur Krankenschwester, sondern zugleich auch Vampirin ist, beißt Carmilla und zieht sie auf ihre Seite: Die beiden werden ein Paar und verlassen ihre Männer. Wirft man nun einen Blick auf die Darstellung der Geschlechterverhältnisse wird schnell deutlich, dass bei Jelinek Krieg herrscht: „[…] Krieg zwischen den Geschlechtern. Gewalt bestimmt die Beziehung zwischen Frauen und Männern […]. Die Illusionen von Liebe, Ehe und Familie werden demontiert, es toben wörtlich genommen Geschlechterkämpfe […] als Auseinandersetzung auf Leben und Tod.“ 6 4

Diese Manifestation von Macht bestimmt auch das Verhältnis zwischen Carmilla und Benno Hundekoffer. Carmilla übernimmt dabei die Rolle der braven Hausfrau, die sich selbst als minderwertig erlebt und dankbar ist, dass sie Kinder zur Welt bringen darf. Ein Verständnis von sich selbst und damit eine eigenständige Identität jenseits weiblicher Rollenklischees hat sie nicht, wie sich aus folgenden Aussagen ergibt: „CARMILLA […]: Ich bin nichts Halbes und nichts Ganzes. Ich bin dazwischen. Ich bin von liebenswürdiger Geringfügigkeit.“ 65 „CARMILLA: Ich bin gottlos ich bin eine Dilettantin des Existierens. Ein Wunder, daß ich spreche. Ich bin restlos gar nichts.“ 66 „CARMILLA: Ich hoffe, der Arzt kommt bald zu mir und macht dein Werk fertig. […]. Wie heiße ich doch gleich? Ich vergesse es immer wieder.“ 67

Im Gegensatz dazu besitzen die Männer ein sehr klares Bild von sich. Während Carmilla durch ihre körperliche Mangelhaftigkeit bestimmt ist, verfügen die Männer über ein

Claes, Fremde. 1994, S. 64. Jelinek, Elfriede: Theaterstücke. Reinbek: Rowohlt 1992, S. 201. 66 Ebd., S. 203. 67 Ebd., S. 205. 64 65

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souveränes Selbst. Hier lässt sich eine Verbindung zu Freud ziehen, der in seinen Ausführungen über die Weiblichkeit folgende Aussage trifft: „Wollen Sie mehr über die Weiblichkeit wissen, so befragen Sie Ihre eigenen Lebenserfahrungen, oder Sie wenden sich an die Dichter, oder Sie warten, bis die Wissenschaft Ihnen tieferer und besser zusammenhängende Auskünfte geben kann.“ 68

Mit diesem Rat beschließt er seinen fiktiven, ausschließlich für männliche Zuhörer bestimmten Vortrag über die Weiblichkeit. Doch die Bescheidenheit, die er hier an den Tag legt, täuscht. Denn er beansprucht nicht mehr und nicht weniger, „als das Rätsel aller Rätsel durchdrungen, den Schleier aller Geheimnisse gelüftet zu haben.“ 69 Das Rätsel, von dem Freud hier spricht, ist das Rätsel der Weiblichkeit und die Lösung dieses Rätsels ist denkbar einfach: Es ist das „schiere Nichts“ 70 , das er hinter dem verhüllenden Schleier des weiblichen Geschlechts ans Licht bringt. Im Gegensatz zum Jungen, der über ein sichtbares Genital verfügt, entdeckt das Mädchen beim Blick auf den eigenen Körper lediglich eins – nichts. Dieser „Sachverhalt“ dient Freud als Grundlage für seine geschlechtsspezifischen Modelle der psychosexuellen Sozialisation. Dabei kommt er zu der Erkenntnis, dass der Junge „beim Anblick des weiblichen Genitals nichts als das Fehlen seines eigenen [entdeckt] und beginnt […], um sein kostbares Stück zu fürchten“ 71, während das Mädchen die Tatsache ihrer Kastration erkennt und ihr weiteres Leben vom Penisneid bestimmt wird. Damit legt er die Grundlage für eben diese Mangelhaftigkeit der Frau, die sich auch bei den Figuren Jelineks erkennen lässt. Denn im Gegensatz zum „Mangelwesen“ Frau kontrollieren die Männer sowohl die Umwelt als auch ihren eigenen Körper. So bei Jelinek etwa Heidkliff: „HEIDKLIFF: […] Ich biete einen Anblick. In mir Ruhe. Ich schaue aus mir heraus und sehe an meinen Begrenzungsmauern herunter. Ich entstehe durch das, was sich an meiner Mittelachse angelagert hat: Material. Ich bin aus nächster Nähe wie aus der Ferne sichtbar. […] Ich spreche jetzt.“ 72

Auch die Frau fällt in den männlichen Verfügungsbereich. Während Carmilla die damit einhergehende Unterdrückung zunächst widerspruchslos hinnimmt, hat Emily längst begonnen aufzubegehren. Als Vampirin konterkariert sie nicht nur per se ‚typisch weibliche‘ Eigenschaften, die die liebende und sorgende Hausfrau und Mutter Carmilla verkörpert. Indem sie sich als Schriftstellerin bezeichnet, verstößt sie durch die Abkehr von der Reproduktion (von Nachkommen) zur Produktion (von Text) zudem gegen das Recht des Mannes auf Schrift und Sprache. „Ich bin eigentlich Schriftstellerin. Ich habe nicht Freud, Sigmund: Die Weiblichkeit. Frankfurt/M.: S. Fischer 1969, S. 565. Vinken, Barbara: Dekonstruktiver Feminismus – Eine Einleitung. In: Dekonstruktiver Fe­ mi­nismus. Literaturwissenschaft in Amerika. Hrsg. von Barbara Vinken. Frankfurt/M.: Suhr­kamp 1992, S. 7 – 29, hier S. 7. 70 Ebd., S. 10. 71 Ebd., S. 8. 72 Jelinek, Theaterstücke. 1992, S. 193.

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Kinder, nicht Zeit, nicht Rat, nicht Mann. […] Es mangelt mir nicht an Bewegung. Ich renne dem Fleisch hinterher. Ich bin nicht nur Fadenspenderin eines Helden!“ 73 Um den damit verbundenen Anspruch auf Eigenständigkeit zu untermauern, fordert sie ein weiteres männliches Privileg – den Besitz eines Phallus. Als Supplement des nicht vorhandenen Körperteils wünscht sie den Einbau ausfahrbarer Eckzähne zur Demons­ tration phallischer Macht. „EMILY: Ich wünsche mir diese beiden wesentlichen Zähne ausfahrbar gemacht! Sie sollen hervorlugen und wieder verschwinden können. Wie ich ja auch. Ich brauche einen ähnlichen Apparat wie ihr Männer ihn habt! Ich möchte imponieren können. Ich möchte Lust vorzeigen können! Ich habe Säfte, aber die gelten im Alltag wenig. Ich möchte auch nach einem Prinzip funktionieren dürfen!“ 74

Auch bei Carmilla setzt nach Emilys Biss ein Gesinnungswechsel ein. Sie verwandelt sich von der treusorgenden Mutter in eine Kindsmörderin, die ihre eigenen Kinder tötet, in der Tiefkühltruhe zwischenlagert und der neuen Geliebten als Gabe anbietet. Dieser Ausbruch der Frauen aus der monogamen, heterosexuellen Ehe und ihr Anspruch auf die Macht des Körpers und des Geistes bringen die Geschlechterverhältnisse ins Wanken. Der darauf einsetzende Versuch der Re-Arretierung ist ebenso rigide wie unausweichlich: Heidkliff und Hundekoffer schließen sich zusammen, um den ‚Störfaktor Frau‘ gewaltsam auszuschalten. Am Ende sterben beide Frauen, ihr Ausbruchversuch ist gescheitert. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass das Motiv der Vampirin bei Jelinek wichtige Funktionen übernimmt. Zunächst lässt sich feststellen, dass Jelinek das Motiv nutzt, um eine „Analyse weiblicher Sexualität unter den Bedingungen der Herrschaft des Mannes“ 75 vorzunehmen. Es gelingt in ihrem Stück, die in ihren literarischen Arbeiten immer wieder vorgenommene Analyse der Bedingungen weiblicher Identitätsfindung unter der Vorherrschaft des Patriarchats mit der Vampirmetapher zu verbinden. Jelinek zeigt in aller Deutlichkeit, dass eine weibliche Menschwerdung zum Scheitern verurteilt ist. Denn: Ein Subjekt kann die Frau nicht werden, ihr bleibt lediglich die Rolle der Vampirin; ein Zwischenwesen, das nicht da, aber auch nicht weg ist. Die beiden Vampirinnen besetzen somit einen Ort, der eigentlich keiner ist – sie sind das „Dazwischen“. Durch diese Verortung in einem Zwischenraum stehen sie zugleich außerhalb und innerhalb des Diskurses. Sie stören diesen, ohne ihn verändern zu können. Als Vampirinnen leben sie auf der Schwelle zwischen Leben und Tod, sie sind Grenzgängerinnen, die das System, das sie ausschließt, nicht sprengen können, weil es sie gleichzeitig ernährt. 76 Somit fungiert die

Ebd., S. 209. Ebd., S. 222. 75 Claes, Fremde. 1994, S. 65. 76 Vgl. Kyora, Sabine: Untote. Inszenierungen von Kultur und Geschlecht bei Elfriede Jelinek. In: Grenzüberschreitungen: „Feminismus“ und „Cultural Studies“. Hrsg. von Hanjo Berressem u.a. Bielefeld: Aisthesis 2001, S. 35 – 55, hier S. 41. 73 74

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Vampirin als Metapher der Ausbeutung; als „Metapher der in einer männlich bestimmten Kultur verhinderten und verweigerten weiblichen Menschwerdung.“ 77 Auch die Sprache der Vampirinnen verweist auf diese Positionierung im Dazwischen. So wird zum einen jeder Versuch der Frauen, eine eigene Sprache zu implementieren, von den Männer zurückgewiesen: „HEIDKLIFF: […] Ihr habt Lippen und nutzt sie wofür? Wozu? Zum Sprechen!“ 78 Anstatt es zu wagen, das Wort zu ergreifen, sollen die Frauen lieber ihren „Primärtugenden“ nachgehen: „HEIDKLIFF: […] Seid hygienisch! Folgt eurer Natur! Putzt! Putzt“ 79. Zum anderen zeigt sich, dass die Frauen selbst an den Stellen, an denen sie trotz Sprechverbot zu Wort kommen, auf eine Sprache angewiesen sind, die nicht die ihre ist. Ganz im Sinne des lacanschen „La femme n’existe pas“ 80 sprechen Carmilla und Emily zwar, doch es ist eine zitierte, benutzte, uneigentliche Sprache. Lacan geht davon aus, dass die Frau vom sprachlichen Diskurs ausgeschlossen ist. Er erklärt den Vater zum Repräsentanten der symbolischen Ordnung – zum „représentant originel“ 81 –, der nicht ein Teil der dualen Mutter-Kind-Beziehung ist, sondern „jener Dritte, der im ‚Namen des Gesetzes‘ (‚nom du père‘), dem auch er untersteht, der Symbiose von Mutter und Kind ein ‚Nein‘ (‚non du père‘) entgegenbringt“ 82 und es somit aus der imaginären Beziehung zur Mutter befreit: „Mittels der Verinnerlichung der väterlichen/gesetzlichen Instanz […] entkommt das […] Subjekt aus der Abhängigkeit der Spiegelfunktion, in der es sich nur als Objekt des Begehrens der Mutter definieren konnte.“ 83 Dabei gibt Lacan zu bedenken, dass es sich bei dieser Vaterfigur nicht um den realen Vater handelt, sondern vielmehr um einen „symbolischen Vater“, der als entpersonalisierte Autorität die allem Individuellen vorausgehende Ordnung repräsentiert. Trotz der damit konstatierten Apersonalität – und der zugleich implizierten Geschlechtsneutralität – kann die Instanz des „symbolischen Vaters“ aufgrund der patriarchalen Strukturierung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse bei Lacan nur durch eine männliche Gestalt repräsentiert werden. 84 Für die Frau ist in dieser Ordnung kein Platz vorgesehen. So bestehen die von den weiblichen Figuren geäußerten Textstücke aus literarischen Intertexten, aus Werbeslogans und Versatzstücken theoretischer Studien. Carmilla verwandelt das descartessche Motto „Ich denke also bin ich“ in eine Aussage über ihre eigene Identitätsgrundlage: Ich bin krank, also bin ich. 85 Dass diese Identitätsbegründung – die Krankheit als Existenzberechtigung – nicht trägt, zeigt sich schnell. Denn die Frau ist im männlichen Diskursuniversum immer schon als krank bestimmt: Claes, Fremde. Vampire. 1994, S. 65. Jelinek, Theaterstücke. 1992, S. 245. 79 Ebd., S. 241. 80 Lacan, Jacques: La femme n’existe pas. In: alternative 108/109, 1976, S. 161 – 163, hier S. 160. 81 Weber, Samuel: Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse. Wien: Passagen 2000, S. 276, FN 24. 82 Pagel, Gerda: Lacan zur Einführung. Hamburg: Junius 1991, S. 107. 83 Lindhoff, Lena: Einführung in die feministische Literaturtheorie. Stuttgart: Metzler 1995, S. 82. 84 Vgl. ebd., S. 81. 85 Siehe dazu Jelinek, Theaterstücke. 1992, S. 232 f. 77 78

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Die Hysterie als „Frauenkrankheit“, die Monatsblutungen – sie ist der Körper, der krank ist. Somit ist die Flucht in die Krankheit lediglich ein Notbehelf, der immer schon auf einen männlich definierten Platz verweist. Eine wirkliche Alternative jenseits männlicher Zuschreibungsmuster bietet die Krankheit nicht. Diese sprachliche Zitat- und Montagetechnik charakterisiert aber nicht nur das Sprechen der Vampirinnen, sondern beschreibt zugleich Jelineks eigenes poetologisches Verfahren. Wie die Vampirinnen eignet sie sich in einem Akt des Aussagens Material an und schafft damit ihre Texte. So bemerkt Jelinek in einem Interview mit Blick auf die Entstehung ihres Romans „Die Klavierspielerin“: „In diesem Buch habe ich mich und meine Mutter ausgesaugt. Schriftsteller sind ja Vampire.“ 86 Die Vampirin ist damit mehr als ein auf der Textebene auftauchendes Motiv, es ist eine Selbstcharakterisierung der Autorin, eine Reflexion des poetologischen Verfahrens und damit ein „metaliterarische[s] Selbstportrait“ 87. Zugleich reflektiert Jelinek damit die Grenzen, die nicht nur die Vampirinnen zu spüren bekommen, sondern mit denen sie selbst als weibliche Schriftstellerin konfrontiert wird. „Für eine Frau ist schon das Schreiben ein gewalttätiger Akt, weil das weibliche Subjekt kein sprechendes ist. […]. Sobald aber das Werk einer Frau aggressiv und anklagend wird, wie meines, wird man zur Megäre, zur Unperson, gegen die man Auslöschungsphantasien hegt.“ 88

Damit lässt sich festhalten: Das Störungspotential der weiblichen Vampirin liegt vor allem darin begründet, dass der vampirische Körper sich einer eindeutigen geschlechtlichen Zuordnung entzieht. Bereits „[…] seine bloße Existenz [negiert] den Wahrheitsgehalt und Absolutheitsanspruch der etablierten sexuell-biologischen Geschlechterdifferenzie­ rung.“ 89 Damit entlarvt die Vampirin Geschlecht im Sinne Butlers als bloßes Konstrukt, „indem sie zwar als ‚weiblich‘ definiert ist, eine Geschlechtsunterscheidung […] jedoch obsolet ist.“ 90 Die Figur der Vampirin ist somit in einem „konzeptionellen Zwischenraum“ 91 angesiedelt, der eine „Bedrohung für den Mann und die männlichphallische Machtposition“ 92 darstellt, da er im wahrsten Sinne des Wortes ein „unnatürlicher“ Körper ist: Ein Körper ohne eindeutige Zuordnung, ausgestattet mit männlichen und weiblichen Attributen sowie der Fähigkeit, sich außerhalb des „normalen“ Reproduktionszyklusses fortzupflanzen: “Vampires complicate this picture of human sexual encounters – while vampires use their quasi-sexual act as a means of reproduction, the sex of the other individual is irrelevant to Löffler, Sigrid: Der sensible Vampir. In: Emma, 1985, H. 10, S. 32 – 37, hier S. 35. Ruthner, Am Rande. 2004, S. 168. 88 Winter, Riki: Gespräch mit Elfriede Jelinek. In: Elfriede Jelinek. Hrsg. von Kurt Bartsch/Günther A. Höfler. Graz: Dorschl 1991, S. 9 – 19, hier S. 14 f. 89 Klemens, Dracula. 2004, S. 25. 90 Ebd. 91 Ebd., S. 20. 92 Ebd. 86 87

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Verena Ronge the proceedings; a male vampire need not have a female victim, and vice versa. Furthermore, without the need for heterosexually-based marriage systems, vampires need not reproduce gender in the way that humans must – a female vampire need not be feminine in order to attract a victim, etc.” 93

Auch (und vor allem) bei Jelinek erscheint die weibliche Vampirin als subversive Randfigur, die es erlaubt, gesellschaftliche Zustände zu kritisieren und gleichzeitig eine Re­ flexion über die Problematik der weiblichen Identitätsfindung und des weiblichen Kunstschaffens auszulösen. In einer Art Mimikry liefert Jelinek ein „Theater ‚für ver­ges­se­ne Szenen‘“ 94 , ein Theater der gesellschaftlichen Zurichtungsmechanismen, die im und durch das Bild der Vampirin hör- und sichtbar werden. Die Vampirin dient als Figur, die ge­sellschaftliche und kulturelle Grenzen aufzeigt, diese überschreitet und wenn auch nicht zum Einsturz bringt, so doch sichtbar macht. Als machtvolles Wesen stellt sie die herrschende Geschlechterordnung in Frage, bringt geschlechterspezifische Rollenmuster in Bewegung und deckt zugleich die Machtdiskurse auf, die über den Körper der Frau ausgetragen werden. Jelinek nutzt dieses der Figurentradition des weiblichen Vampirs in­hä­ren­te Störungspotential, um die mit dem Schleier scheinbarer Natürlichkeit überdeckten diskursiven Ein- und Ausschlussmechanismen aufzudecken. Verborgenes wird auf die Bühne gebracht, ohne dabei den Anspruch zu erheben, einen Gegenentwurf von Weiblich­keit (oder Männlichkeit) zu liefern, der Gefahr läuft, als essentialistische Falle abgestem­pelt zu werden. Es geht somit nicht um Errichtung einer Utopie, sondern um die Darstellung der „kranken“ Zustände im Hier und Jetzt, wie Elfriede Jelinek selbst betont: „Meine Stärke ist es leider nicht, Utopien zu liefern, ich kann nur den schlechten Ist-Zustand beschreiben, und zwar polemisch, satirisch, überspitzt, indem ich die Wirklichkeit so beuge, daß sie zur Kenntlichkeit entstellt wird.“ 95

Mai, Writing. S. 1 f. Breuer, Ingo: Zwischen ‚posttheatralischer Dramatik‘ und ‚postdramatischem Theater‘. Elfriede Jelineks Stücke der neunziger Jahre. In: Trans, 2001, H. 9, o. S. 95 Jelinek, Elfriede: Die Frau ist nur, wenn sie verzichtet zu sein. Ein Gespräch. In: Die Philosophin, 1993, H. 8, S. 94 – 98, hier S. 98. 93 94

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‚Ruhestörer‘ von Heine bis Harden. Perturbation als Eskalation in der deutsch-jüdischen Moderne

1. Zum Begriff der Störung: Grenzen des systemtheoretischen Konzeptes „Zu den wichtigsten Leistungen der Kommunikation gehört die Sensibilisierung des Systems für Zufälle, für Störungen, für ‚noise‘ aller Art. Mit Hilfe von Kommunikation ist es möglich, Unerwartetes, Unwillkommenes, Enttäuschendes verständlich zu machen. ‚Verständlich‘ heißt dabei nicht, daß man auch die Gründe zutreffend begreifen und den Sachverhalt ändern könnte. Das leistet die Kommunikation nicht ohne weiteres. Entscheidend ist, daß Störungen überhaupt in die Form von Sinn gezwungen werden und damit weiterbehandelt werden können.“ 1

In diesem Zitat aus Niklas Luhmanns Band „Soziale Systeme“ ist ein Verständnis von Störungen angelegt, das den historischen wie alltäglichen Erfahrungen nicht unbedingt zwingend entspricht. Denn so funktional die Störung aus systemtheoretischer Sicht auch immer erscheinen mag: Offen bleibt die Frage, warum systemimmanente Störungen auch katastrophisch enden können, wenn diese nach Luhmann doch zumeist „in die Form von Sinn gezwungen werden“, um somit „weiterbehandelt werden zu können“. Dass es statt zu einer sinnreichen „Weiterbehandlung“ bei zahlreichen Störungsfällen vielmehr zu einem nachhaltigen Konflikt zwischen Störer und Gestörtem, ja gar zu einer Eskalation kommen kann, diese Möglichkeit scheint aus systemtheoretischer Sicht fast ausgeschlossen. Denn bei Luhmann gelten externe „Irritationen“ bzw. „Störungen“ primär als Ursache für den selbstreferenziellen Prozess systemischer Autopoiesis, sind also letztlich systembildend bzw. systemerhaltend. Die Eskalation hingegen verdeutlicht, dass die Kategorie der „Störung“ nicht nur den systembildenden Prozess der Kommunikation in Gang setzt, sondern nach wie vor auch als Voraussetzung für das Scheitern der Kommunikation zu verstehen ist. Der vorliegende Essay will diesen Prozess der Eskalation systemimmanenter Störungen anhand eines kulturgeschichtlichen Beispiels nachvollziehen, bei dem interkulturelle Differenzen im Mittelpunkt von Störungsprozessen stehen. Er widmet sich dabei einer Kategorie, die Marcel Reich-Ranicki mit Blick auf Heinrich Heine entwickelte: den Begriff des Ruhestörers. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 237.

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Die Geste der Ruhestörung ist nicht nur etwas „Unerwartetes, Unwillkommenes, Enttäuschendes“ im Sinne des einführenden Zitats aus Luhmanns „Soziale Systeme“. Die Ruhestörung stellt vielmehr eine der notwendigsten und zugleich tragischsten Ausdrucksformen deutsch-jüdischer Autoren der Moderne dar. Diese Geste nachzuvollziehen heißt, einen mit Heinrich Heine einsetzenden „perturbativen“ Prozess zu beobachten, der aus bis heute nicht hinreichend geklärten Gründen in der Katastrophe des Holocaust endete. Drei Fragen interessieren mich in diesem Essay: A) Warum hat sich die Geste der Ruhestörung in der Zeit so unterschiedlich entwickelt: Warum durfte Heinrich Heine noch Dinge tun und sagen, die für ihm nachfolgende Intellektuelle wie Kurt Eisner, Alfred Kerr, Maximilian Harden oder schließlich Kurt Tucholsky katastrophale Folgen hatten? B): Warum hat sich die Geste der Ruhestörung im Raum so unterschiedlich entwickelt: Warum also gab es diese Eskalation in der Berliner Moderne, warum jedoch kaum in der Wiener Moderne? Und C): Warum wurde die Geste der Ruhestörung trotz drohender Eskalation nicht vermieden; gibt es also gewissermaßen eine „perturbative“ Logik des Zwangs? Diese Fragen verfolge ich aus der Perspektive deutsch-jüdischer Satiriker bzw. Intellektueller. Aus heuristischen Gründen werden dagegen die hinlänglich bekannten Faktoren dieser Eskalation, also die Genese des modernen Antisemitismus‘, in diesem Essay nur angedeutet. 2 Beginnen wir mit dem Begriff des ‚Ruhestörers‘ selbst. Marcel Reich-Ranicki fragte in einem 1972 entstandenen Essay nach dem Zusammenhang von Heines frechem und vorlautem Witz und seiner gescheiterten Assimilation: Heine sei bis heute eine kontroverse Figur, das heißt: „eine Provokation und eine Zumutung“ – eine Einschätzung, die Reich-Ranicki im Begriff des „Ruhestörers“ zusammenfasste. Dabei war Heine aus Sicht Reich-Ranickis kein Einzelfall: Neben ihm wirkte etwa auch Ludwig Börne „als Ruhestörer, als Provokateur“. 3 Ruhestörer waren nach Reich-Ranicki aber auch „Publizisten wie Maximilian Harden, Kritiker wie Alfred Kerr, Satiriker wie Karl Kraus, Feuilletonisten wie Kurt Tucholsky“. 4 Mit dem Begriff des Ruhestörers bezeichnet er also „Juden in der deutschen Literatur“, wobei sich der Begriff aus zweierlei Prämissen ableitet. Zum einen: „Die Juden wurden verfolgt, weil sie anders waren. Und sie waren anders, weil sie verfolgt wurden.“ 5 Zum anderen: „Da die Haltung der Juden innerhalb der nichtjüdischen Umwelt eine Abwehrhaltung einschloß und einschließen mußte, war auch die Position der Juden in der deutschen Literatur, will mir scheinen, fast immer und im hohen Maße eine Gegenposition.“ 6 Eine weitere, ähnlich chiastisch formulierte Überlegung schließt sich an: „Mußten sie Ruhestörer werden, weil ihre Liebe nicht erwidert wurde? Oder wurde Bzgl. einer umfangreicheren Analyse dieses Problems verweise ich auf meine 2009 im FinkVerlag publizierte Habilitationsschrift mit dem Titel: Was ist literarischer Sarkasmus? Ein Beitrag zur deutsch-jüdischen Moderne. Paderborn: Fink 2009. 3 Reich-Ranicki, Marcel: Über Ruhestörer. Juden in der deutschen Literatur. München: Piper 1993, S. 59. 4 Ebd., S. 57. 5 Ebd., S. 44. 6 Ebd., S. 28. 2

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ihre Liebe nicht erwidert, weil sie Ruhestörer waren? Wahrscheinlich gilt das eine ebenso wie das andere.“ 7 Die Geste der Ruhestörung bezieht Reich-Ranicki auf eine publizistische Tätigkeit, die sich zwischen Polemik und Sarkasmus verorten lässt, wie seine Ausführungen zu Heine verdeutlichen: „Ein geborener Provokateur war er und ein ewiger Ruhestörer. Er traf die schmerzhaftesten Wunden seiner Zeitgenossen, ohne die Folgen, die für ihn selber entstehen mußten, zu bedenken.“ 8

In der Tat traf Heine „die schmerzhaftesten Wunden seiner Zeitgenossen“. Schon Jost Hermand konnte in seinen detaillierten Nachforschungen zur zeitgenössischen Rezeption zeigen, welch enorme Empörungen Heines satirische Publizistik unter dessen Zeitgenossen auslöste. 9 Beleuchtete Hermand die hinlänglich bekannten Invektiven gegenüber Heines vermeintlicher Frivolität und Charakterlosigkeit 10 , so zeigte Jefferson Chases Studie zur Kritik am sogenannten „Judenwitz“ 11 zudem, dass sich diese publizistische Opposition gegen Heine in hohem Maße auch auf seine satirische Schreibart bezog. Diese wirkte störend, da Heines Witz nach Einschätzung seiner Zeitgenossen nichts Humorvolles besaß, nichts „Erhebendes, Begeisterndes und Versöhnendes“, im Gegenteil: „Zerstören ist seine Lust“ 12 , so lautet die Kritik Wolfgang Menzels, „der allzu stoische Hohn und die sarkastische Mitleidlosigkeit schließen eine gewisse Zartheit der Empfindung aus.“ 13 Dabei ist es weniger der Lyriker denn vielmehr der Publizist Heine, welcher „Sarkasmen gegen Deutschland sprüht“, wie Menzel formuliert. Heinrich Heine gilt insofern als der erste „jüdelnde“ Störenfried, ein „Geist, der stets verneint“, dessen Publizistik „voll Bitterkeit und Hohn, voll Ironie und Laune“ sei, herabgesunken „bis zur leeren Spielerey und Ebd., S. 57/58. Reich-Ranicki, Marcel: Heinrich Heine, das Genie der Hassliebe. In: ebd., S. 76 – 90, hier S. 78. 9 Hermand, Jost: Heines frühe Kritiker. In: Der Dichter und seine Zeit. Politik im Spiegel der Literatur. Hrsg. von Wolfgang Paulsen. Heidelberg: Stiehm 1970, S. 118. 10 Schon Karl Rosenkranz betonte in seiner „Ästhetik des Häßlichen“ von 1853 die Frivolität des Heineschen Witzes: „Heine wird eben dadurch oft so gemein, dass er den Gelüsten nicht widerstehen kann, dem Witz auch das Heilige mit rücksichtsloser Roheit zu opfern und dann wirklich frivol zu werden. Seine Poesie würde ohne diese frivolen Ausläufer viel mehr Poesie sein“ (Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Leipzig: Reclam 1990, S. 216). 11 Diesbezüglich darf nicht vergessen werden, dass die in der Hegelschule einsetzende und bis heute übliche Unterscheidung von Humor und Sarkasmus von den konfessionellen bzw. ethnischen Stereotypen des preußischen wie bayerischen Antisemitismus nicht zu trennen ist. Steht doch, wie Jefferson Chase zu zeigen vermochte, hinter dem Sarkasmus im neunzehnten Jahrhundert immer auch das Bild des „unversöhnten“ Juden, wie umgekehrt entsprechend der wohlwollend-gutmütige und daher heitere Humor auch auf die versöhnte Seele des Christen zurückgeführt worden ist. Vgl. Chase, Jefferson S. : Inciting Laughter. The Development of „Jewish Humor“ in 19th Century German Culture. Berlin/New York: de Gruyter 2000. 12 Zit. nach: Heinrich Heines Werk im Urteil seiner Zeitgenossen Bd. 2. Hrsg. von Eberhard Galley/Alfred Estermann. Hamburg: Hoffmann & Campe 1981, S. 133. 13 Ebd., S. 138. 7

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Frivolität.“ 14 Neben dem Humor ist Heine zudem die Nähe zur romantischen Ironie kategorisch abgesprochen worden: „Unter den literarischen Liberalen erblicken wir zunächst jene Spötter, die mit einer geistreichen Bosheit, wie sie der guthmüthige Jean Paul noch nicht kannte, alle Thorheiten und Schwächen, die uns noch vom vorigen Jahrhundert ankleben, unerbittlich geißeln. Ich nenne Börne, Heine, den Verfasser von Welt und Zeit. Ich könnte noch viele andre minder geistvolle Satyriker nennen.“ 15

Wie Gunnar Och zeigen konnte, entwickelte die preußische wie bayerische Publizistik als Reaktion auf Heine die Kategorie des „Judenwitzes“ 16 , deren Beispiel anfänglich der dritte Teil von Heinrich Heines „Reisebildern“ mit dem Titel „Die Bäder von Lucca“ gewesen ist. Am Anfang unserer Thematik steht also jener Skandal, den „Die Bäder von Lucca“ aufgrund der bösartigen Anspielungen Heines auf die Homosexualität August Graf Platens von Hallermünde auslösten. Danach gelten Heinrich Heine, Ludwig Börne und der Berliner bzw. Wiener Journalist Moritz Gottlieb Saphir, also drei durchaus unterschiedliche Autoren, als Vertreter eines mehr oder minder identischen Witzes. Und angesichts eben dieser Angriffe Heines auf Platen werden frecher Sarkasmus, verletzende Polemik und Frivolität zu dessen wichtigsten Kennzeichen. Dem entspricht die angedeutete Wandlung des Humorbegriffs von der Laune hin zur herzlichen Komik, die sich im Zuge der Heine-Kritik des neunzehnten Jahrhunderts deutlich verstärkt. In scharfem Kontrast zum Begriff des Humors entwickelte das neunzehnte Jahrhundert die Kategorie „Judenwitz“, die schon 1877 im „Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm“ als „stachlichter, bissiger witz, wie er vorzüglich den juden eigen“ 17 sei, definiert wird. 2. ,Ruhestörer‘: Zur ambivalenten Vorgeschichte einer Kategorie Reich-Ranicki meinte mit seinem Wort von den Ruhestörern nicht allein Heinrich Heine, sondern auch Autoren wie Alfred Kerr, Maximilian Harden, Karl Kraus oder Kurt Tucholsky. Damit bezog er sich auf eine äußerst ambivalente Diskussion, die mit unserer Frage nach der Eskalation sehr viel zu tun hat. Im Mittelpunkt dieser in der BRD der 1960er Jahre geführten Kontroverse stand die These, dass die Weimarer Republik nicht allein an mangelnder republikanischer Gesinnung und Überzeugung der deutschen Bevölkerung, an halbherzigem Demokratieverständnis und politischer Unterschätzung der nationalsozialistischen Bedrohung scheiterte, sondern auch am störenden Kurs deutsch-jüdischer Ebd., Nr. 217, S. 3. Ebd., Nr. 216, S. 2. 16 Vgl. dazu: Och, Gunnar: „Judenwitz“ – zur Semantik eines Stereotyps in der Literaturkritik des Vormärz. In: Juden und jüdische Kultur im Vormärz. Jahrbuch Forum Vormärz Forschung  e. V. 4, 1998, S. 181 – 199. 17 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch Bd. 10. Vierten Bandes Zweite Abtheilung. H – Juzen. Bearbeitet von Moriz Heyne. Leipzig: Hirzel 1877, Sp. 2358. 14 15

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Intellektueller. Die Verschärfung des politischen Tons gegenüber der gemäßigten Realpolitik der Sozialdemokratie unter Friedrich Ebert, die vor allem von den USPD-nahen Autoren der „Weltbühne“ um Jacobsohn und Tucholsky ausging, sei demnach ein nicht zu unterschätzender Faktor hinsichtlich der Stärkung der politischen Ränder gewesen und habe schließlich zur Eskalation des gründerzeitlichen Antisemitismus, zur nationalsozialistischen Machtergreifung und zum Einsturz der jungen Republik beigetragen. Der prominenteste Vertreter dieser These war Golo Mann, der 1961 in seiner Essaysammlung „Geschichte und Geschichten“ schrieb: „Ja, es gab jüdische Literaten, die ihren alten Glauben längst verloren hatten, die den christlichen nicht im Ernst bekannten, die wohl auch zu intelligent waren, um die marxistische Pseudo-Religion auf die Dauer bekennen zu können, kurzum, die eigentlich im positiven Sinne des Wortes an gar nichts glaubten und die nichts anderes bieten konnten, als Kritik, als Witz, als Hohn. Auch unter ihnen gab es Männer von hoher Begabung, denken wir etwa an Kurt Tucholsky. Gestehen wir aber ein, daß es ihnen an Takt, an Bescheidenheit, an dem Rückhalt einer festen bejahenden Tradition, wohl auch an Schöpferkraft fehlte, gestehen wir ein, daß im Seelenhaushalt einer Nation es wohl einige solcher Kritiker, einige solcher Versemacher, einige solcher Soziologen geben darf, aber nicht zu viele von ihnen und daß es in den zwanziger Jahren eher zu viele als zu wenige von ihnen gab.“ 18

Noch deutlicher sprach dies der Mitbegründer der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Paul Sethe, drei Jahre später in der „Zeit“ aus, und zwar wiederum mit Blick auf Tucholsky und dessen Bildband „Deutschland Deutschland über alles“. Der Artikel trägt den Titel „Tucholskys tragische Irrtümer“; er ist in seinem Urteil weit radikaler als Golo Mann: „Während [des Staates] Führer sich in schwerem Ringen gegen Hugenberg und Hitler verbrauchten, stand Tucholsky dabei und verspottete sie. Sie hätten Hilfe gebraucht. Erhalten haben sie Verachtung und Gelächter. Gerade deshalb ist die Lektüre dieses Buches so nützlich. Man begreift wieder einmal, warum die Republik [...] gescheitert ist. Ihre Kräfte hätten ausgereicht, sich der Reaktion und dem Nationalsozialismus zu erwehren. Im Zweifrontenkrieg gegen rechts und links ist sie verblutet.“ 19

Ähnlich wie Golo Mann und Paul Sethe argumentierte bereits die 1960 an der Universi­ tät Freiburg entstandene Habilitationsschrift Kurt Sontheimers über „Antidemokrati­ sches Denken in der Weimarer Republik“. Die Frage, die Sontheimer aufwirft, lässt sich auf ein mit dem Sarkasmus eng verbundenes Problem fokussieren: die Vulnerabilität po­ litischer Systeme. Durfte man als kritischer Intellektueller der Weimarer Republik von der extremen Ironieform des Sarkasmus publizistischen Gebrauch machen, fragt Sont­heimer, wenn dessen polarisierende Sprengkraft dem so fragilen Konstrukt der jungen Repu­blik doch mehr schadete als nutzte? Wäre Solidarität mit der sozialdemokratischen Ebert-Regierung nicht weit hilfreicher gewesen? Im Zentrum der Kritik steht auch bei Sont­heimer Mann, Golo: Geschichte und Geschichten. Frankfurt/M.: Fischer 1962, S. 191 f. Paul Sethe: Tucholskys tragische Irrtümer. I in: Die Zeit (3.04.1964), S. 7.

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die verletzende bzw. subversive Störkraft des sarkastischen Kulturkritikers. Sie ist Sontheimers Anhaltspunkt, um Linksintellektuellen wie Tucholsky, Ossietzky oder Heinrich Mann ebenfalls eine Mitschuld am Zusammenbruch der Weimarer Republik zuzuweisen: „Gehörten die Intellektuellen diesen Schlages nicht auch zu jenen, die durch ihre scharfe Polemik und Satire – sie richtete sich ja keineswegs nur gegen Nationalisten und Faschisten – die Republik unterhöhlt hatten? Schmähten sie nicht unablässig die Parteien, die im Rahmen der republikanischen Ordnung die kapitalistischen Interessen vertraten; gossen sie nicht unaufhörlich die ätzende Säure ihrer Kritik über eine im System gefangene Sozialdemokratie, von der sie behaupteten, daß sie die Seele verloren und nur ihr Körpergewicht bewahrt habe?“ 20

Diese Diskussion ist erkennbar geprägt von der 1959 bei Rowohlt erschienenen Tucholsky-Biographie von Klaus-Peter Schulz, der in ähnlicher Weise behauptete, dass Tucholsky mitschuldig gewesen sei an der Eskalation des antisemitischen Ressentiments in der Weimarer Republik. 21 Die Diskussion der 1960er Jahre ist also stark auf Tucholsky bezogen, sie kreist um die Frage nach seiner Verantwortung, und sie ist wohl nicht zu trennen von jenem „muffigen“ Klima der frühen BRD, dessen ungebrochen antisemitische Obertöne Gerhard Zwerenz in seiner umfangreichen Tucholsky-Biographie zwar überaus polemisch, aber doch wohl treffend beschrieb. 22 Dagegen muss man unbedingt betonen, dass Reich-Ranicki mit seinem Essay nicht ins gleiche Horn des Geschichtsrevisionismus stieß, sondern im Gegenteil einen Paradigmenwechsel hinsichtlich der Diskussion um die deutsch-jüdische Moderne auslöste: Ruhestörung, Provokation, Polemik und vor allem sarkastischer Witz werden ab den 1970er Jahren zunehmend zu einem Qualitätsmerkmal deutsch-jüdischer Literatur. 3. Ruhestörung als nachhaltiges Image deutsch-jüdischer Autoren Ich zitiere als Beleg für die mit Reich-Ranicki einsetzende Positivierung von Sarkasmus, Provokation und „deutsch-jüdischer Ruhestörung“ einige stellvertretende Beispiele: „Unbändig, sarkastisch und provokativ“, so schrieb Frank Hellberg, „attackierte [Walter Meh­ring] in Berlin das Bürgertum mit seinen Werten und Idealen; die Verhöhnung traf direkt und abrupt – geschoßartig.“ 23 Auch Joseph Roths „Berliner Saisonbericht“ zeigt nach Einschätzung Klaus Westermanns „mit bitterer Ironie oder tiefem Vgl.: Sontheimer, Kurt: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933. München: dtv 1992, S. 304. 21 Schulz, Klaus-Peter: Kurt Tucholsky in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek: Rowohlt 1959. 22 Zwerenz, Gerhard: Kurt Tucholsky: Biographie eines guten Deutschen. München: Bertelsmann 1979, S. 233 – 241. 23 Hellberg, Frank: Walter Mehring, Schriftsteller zwischen Kabarett und Avantgarde. Bonn: Bouvier 1983, S. 63. 20

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Sarkasmus Zeichen der Zeit auf “. 24 Ähnlich lobte Wolfgang Haug die „witzig-sarkastischen Kriminalsonette“Ludwig Rubiners. 25 „Sarkastisch-provozierend richtete sich Einstein gegen die Bedingungen der neuen Demokratie“, so schrieb Hanne Bergius mit Blick auf Carl Ein­steins satirische Wochenschrift „Der blutige Ernst“ vom Frühjahr 1919. 26 Ingrid Heinrich-Jost sprach von den „mit sezierendem Sarkasmus vorgetragenen Impressionen“Alfred Döb­lins, die dieser unter dem Pseudonym „Linke Poot“ bis 1922 in der „Neuen Rundschau“ unter dem Titel „Der deutsche Maskenball“ veröffentlichte, 27 und Walter Muschg umschrieb Döblins expressionistische Kurzprosa der 1910er Jahre als „Verbindung hellsichtiger Verzücktheit mit naturalistischem Sarkasmus.“ 28 Dabei beziehen sich derlei Zus­chreibungen nicht nur auf expressionistische Autoren. Walter Grab betonte den „unbarmherzigen Sarkasmus“, mit dem Karl Kraus „in seinem Drama ‚Die letzten Tage der Menschheit‘ […] jüdische Literaten, Schieber und Spekulanten“verspottete; 29 Steven M. Lowenstein sprach von Maximilian Hardens „sarkastischen Spitzen gegen die Persönlichkeit Wilhelms II.“; 30 und über die Theaterkritiken Alfred Kerrs schrieb Hugo Fetting: „Sie waren nie trocken und matt, lehrhaft oder verstandesdürr, sondern eigenwillig und geistreich, emotionsgeladen und emphatisch, voll von beißender Ironie und schneidendem Spott, nicht selten eben auch gepfeffert mit kaltem Zynismus und verletzender Bosheit.“ 31 Westermann, Klaus: Vorwort. In: Roth, Joseph: Berliner Saisonbericht. Unbekannte Reportagen und journalistische Arbeiten 1920 – 1939. Hrsg. von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1984, S. 15. 25 Haug, Wolfgang: „Politik ist die öffentliche Verwirklichung unserer sittlichen Absichten“. In: Rubiner, Luwig: Künstler bauen Barrikaden. Texte und Manifeste 1908–1919. Hrsg. von Wolfgang Haug. Darmstadt: Luchterhand 1988, S. 12. 26 Bergius, Hanne: Das Lachen DADAs: Die Berliner Dadaisten und ihre Aktionen. Gießen: Anabas 1989, S. 217. 27 Heinrich-Jost, Ingrid: Linke Poot – Alfred Döblins satirische Kommentare zur Zeit (1919 – 1922). In: Juden in der Weimarer Republik. Hrsg. von Walter Grab/Julius H. Schoeps. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 88 – 106, hier S. 89. 28 Muschg, Walter: Nachwort des Herausgebers. In: Döblin, Alfred: Die Ermordung einer Butterblume. Ausgewählte Erzählungen 1910 – 1950. Olten/Freiburg i.B.: Walter 1962, S. 421. 29 Grab, Walter: „Jüdischer Selbsthass“ und jüdische Selbstachtung in der deutschen Literatur. In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Zweiter Teil. Hrsg. von Hans Otto Horch/Horst Denker. Tübingen: Niemeyer 1989, S. 313–336, hier S. 314. 30 „Harden begann als Anhänger Bismarcks und war, trotz seiner sarkastischen Spitzen gegen die Persönlichkeit Wilhelms II., lange Zeit ein Verteidiger der Monarchie und Fürsprecher eines starken und aggressiven Deutschland“ (Lowenstein, Steven M.: Der jüdische Anteil an der deutschen Kultur. In: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit Bd. III: Umstrittene Inte­ gration 1871 – 1918. Hrsg. von Steven M. Lowenstein u. a. München: Beck 1997, S. 302 – 332, hier S. 318). 31 Fetting, Hugo: Der Theaterkritiker Alfred Kerr. Einige Nachbemerkungen des Herausgebers. In: Kerr, Alfred: Mit Schleuder und Harfe. Theaterkritiken aus drei Jahrzehnten. Hrsg. von Hugo Fetting. Berlin: Severin & Siedler 1982, S. 624. 24

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Auch mit Blick auf die Nachkriegsliteratur lässt sich diese Umwertung eindeutig feststellen: „Der Beschreibung der Vergangenheit, der Wahrnehmung seiner Umwelt und der Einschätzung seiner Gegenwart“, so heißt es im von Andreas Kilcher herausgegebenen „Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur“, „widmete sich [Jakov Lind] stets mit ‚gebotenem Sarkasmus‘.“ 32 Robert Neumann verstand es gemäß der gleichen Quelle, sein Schicksal als dasjenige eines um die Jahrhundertwende in Wien geborenen Juden „mit einer gehörigen Prise Ironie und Sarkasmus als lebenspralle Welt voller Leiderfahrungen und Glücksmomente zu beschreiben“ 33; und auch die Texte Friedrich Torbergs oder Paul Celans lyrisches Spätwerk sind laut „Kindlers Literatur Lexikon“ von „zunehmendem Sarkasmus“ geprägt. 34 Ähnlich heißt es in einem dem Werk Albert Drachs gewidmeten Rückblick des „Spiegel“: „Er war der Großmeister jenes systematischen Sarkasmus, der deutschen Zungen gar nicht liegt und aus scharfer Lebenserfahrung kommt: Drach, österreichischer Anwalt und Jude, zog für ein halbes Dutzend Romane die Robe des Anklägers an und plädierte in der grotesk überzogenen, mithin entsetzlich komischen Sprache seiner Profession.“ 35

Selbst wenn diese große Tradition jüdischer Satire mit dem Holocaust weitestgehend vernichtet worden ist, sind deren Dokumente dennoch ein wesentlicher Beitrag für die Modernisierung der im neunzehnten Jahrhundert zunächst epigonal werdenden deutschen Literatur. Die Frage, die man ungeachtet dieser wichtigen Honorierung sarkastischer Ironiker dennoch stellen muss, betrifft die so vollkommen unterschiedliche Kultivierung eben dieses sarkastischen Tons, wenn man diesbezüglich die deutsch-jüdische und die österreichisch-jüdische Moderne vergleicht. Wir haben es mit den gleichen Formen ruhestörenden Witzes zu tun: dem Kabarett, dem periodischen Witzblatt, dem Feuilleton, der satirischen Wochenschrift. Die zentralen Medien des sarkastischen Witzes finden sich seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts sowohl in Wien als auch in Berlin, also in beiden großen Metropolen der jüdischen Sozialisation. Aber es ist zweifellos so, dass der jüdische Witz trotz seiner vermeintlich störenden Frechheit in der Wiener Moderne weit besser integriert worden ist. Dies zeigt ein kurzer Vergleich des Feuilletons der Gründerzeit.

Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren der deutschen Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hrsg. von Andreas B. Kilcher. Stuttgart/ Weimar: Metzler 2000, S. 389. 33 Vgl. Jens, Walter (Hg.): Kindlers Neues Literatur Lexikon Bd. 3 (Bp – Ck) bzw. Bd. 16 (St – Va). München: Kindler 1998, S. 777 bzw. S. 708. 34 Der Spiegel (3.4.1995), S. 273. 35 Ebd., S. 450. 32

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4. Zwei Foren der Perturbation: Das Wiener und Berliner Feuilleton im Vergleich Freilich gibt es zwischen dem wesentlich von Heinrich Heine geprägten Feuilleton des Vormärz und dem der Gründerzeit einen wichtigen Unterschied: anders als zu Zeiten Heines und Börnes ist in der Gründerzeit ein Großteil der überregionalen Tageszeitungen in deutsch-jüdischem Besitz. Schon 1856 gründete der Bankier und Industrielle Leopold Sonnemann (1831–1899) die „Frankfurter Handelszeitung“, aus welcher 1867 die „Frankfurter Zeitung“ wurde – ein Trend, der sich nach der Reichsgründung bzw. seit der Doppelmonarchie in den Metropolen Berlin und Wien fortsetzte. 1872 gründete Rudolf Mosse (1843 – 1920) das „Berliner Tageblatt“ und 1889 gemeinsam mit Emil Cohn die „Berliner Morgenzeitung“, welche als Konkurrenzunternehmen zu der von Leopold Ullstein (1826 – 1899) seit 1887 herausgegebenen Berliner Abendpost gedacht war, 1904 übernahm Mosse zudem die „Berliner Volkszeitung“. 1894 kaufte Ullstein die „Berliner Illustrierte Zeitung“, zudem setzte er ab September 1898 der „Berliner Abendpost“ die „Berliner Morgenpost“ an die Seite und dominierte so neben Rudolf Mosse und August Scherl (1849 – 1921) die Zeitungslandschaft Berlins. Auch in Wien hatten die bedeutendsten neugeschaffenen Zeitungen jüdische Gründer: Am 1. September 1864 rief Max Friedländer (1829 – 1872) zusammen mit Michael Etienne und Adolf Werthner die „Neue Freie Presse“ ins Leben, welche später unter der Herausgeberschaft von Eduard Bacher (1846 – 1908) und Moritz Benedikt (1849–1920) das führende Blatt für Politik, Finanzen und Kultur in Mitteleuropa wurde. Moritz Szeps (1835 – 1902) brachte das „Neue Wiener Tageblatt“ ab dem 10. März 1867 heraus; die „Wiener Allgemeine Zeitung“ wurde 1880 von Theodor Hertzka (1845 – 1924) gegründet und bis 1896 von diesem als Herausgeber geleitet; das „Neue Wiener Journal“ wurde am 22. Oktober 1893 von Jakob Lippowitz (1865 – 1934) ins Leben gerufen. 36 So vergleichbar die Medienlandschaft, so unterschiedlich die Rezeption ruhestörender Publizistik, wenn man das gründerzeitliche Wien und das gründerzeitliche Berlin vergleicht. Die Differenz betrifft die „Heineschen“ Gesten der Störung, des sarkastischen Kommentars und der Provokation, die in Wien zweifellos weit besser integriert waren als in Berlin, die aber in Berlin auch weitaus radikaler gewesen sind. Wir kommen damit zurück auf die anfangs genannten Überlegungen: Wann und warum führen Störungen innerhalb eines Systems zu einer Eskalation? Was diese Frage wenn nicht beantwortbar so doch beurteilbar macht, ist ein Vergleich der jüdischen Publizistik, wenn man diesbezüglich das Österreich des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts und das Deutsche Reich der gleichen Zeitepoche in den Blick nimmt. Ich ziehe dabei Hildegard Kernmayers Studie zum „Judentum im Wiener Feuilleton (1848 – 1903)“ heran, da Kernmayer in dieser Studie einen für unsere Frage wichtigen Umbruch innerhalb der österreichischen Entwicklung sah: Nach Kernmayer steht Moritz Gottlieb Saphir, dessen in Wien publizierter „Humorist“ eine wichtige vor- und nachmärzliche Tageszeitung darstellt, Für eine genauere Erörterung dieser wichtigen Differenz der Akkulturation deutsch-jüdischer Satiriker in der Berliner bzw. Wiener Moderne vgl. generell: Meyer-Sickendiek, Sarkasmus. 2009.

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noch für den „Aufbruch aus einer ‚identischen‘ Vergangenheit“ 37 während Journalisten wie Ferdinand Kürnberger, Sigmund Schlesinger und Friedrich Schlögl in ihren Feuilletons ein „vergleichsweise ungebrochenes bürgerliches Selbstbewusststein“ 38 widerspiegelten. Demgegenüber sei, so Kernmayer, eine erste Phase der Gefährdung des Liberalismus, bedingt durch die Folgewirkungen des liberalen Prinzips der Egalität, schon bei Daniel Spitzer und Ludwig Speidel angelegt. Sowohl bei Speidel wie bei Spitzer dienten die bürgerlich-liberalen Ideologeme nurmehr zur Aufrechterhaltung der politischen Hegemonie des Bürgertums. Diese erste Gefährdung lässt Kernmayer schließlich mit Blick auf das Feuilleton Theodor Herzls in eine nachhaltige Krise des bürgerlich-liberalen Identitätskonzepts münden: „Wie für viele assimilierte Juden“, so heißt es bei Kernmayer, „konvergiert auch für Herzl der Wandel seines Selbstbildes ‚allmählich mit der Erfahrung der Krise des Liberalismus und dem gewalttätigen Angriff des Antisemitismus‘.“ 39 Eine vergleichbar krisenhafte Entwicklungslinie läßt sich zweifellos auch mit Blick auf das Berliner Feuilleton, also von Heine und – dem auch in Berlin tätigen – Moritz Saphir über Oscar Blumenthal, Paul Lindau und Julius Stettenheim bis hin zu Kerr und Harden beobachten. Allerdings sieht Kernmayer das entscheidende Zeichen dieser Krise im Übergang vom „bürgerlich-realistischen“ Feuilleton zur „impressionistischen Prosaskizze Altenbergscher Prägung.“ 40 Dies mag mit Blick auf das Wiener Feuilleton stimmig sein. Für das Berliner Feuilleton der gleichen Zeit liegt der entscheidende Anhaltspunkt der Krise jedoch nicht im impressionistischen, sondern vielmehr im agitatorischen Ton. Schon 1902 wird ein dem Begriff der Krise entsprechender Wandel des Feuilletons von dem Berliner Dramatiker Hermann Sudermann registriert. Mit Blick auf Siegfried Jacobsohn, Maximilian Harden, Alfred Kerr und andere Autoren des Berliner Feuilletons sprach Sudermann von einer „Verrohung in der Theaterkritik“ 41. Diese These lässt sich anhand eines Vergleichs zwischen dem Begründer des satirischen Feuilletons in Deutschland – Heinrich Heine – und Autoren wie Maximilian Harden, Alfred Kerr oder auch Kurt Tucholsky durchaus nachvollziehen. Denn so beißend, so streit- und angriffslustig Heines publizistisches wie poetisches Oeuvre angesichts der systematischen Polemik gegen öffentliche Personen bzw. der satirischen Verspottung kultureller Ideale oder religiöser Werte sein mag: Heine ist als „Ruhestörer“ nicht vergleichbar mit Kerr oder Harden, wenngleich Marcel Reich-Ranicki dies etwas großzügig vereinheitlichend behauptete. Bei Heine handelt es sich im Unterschied zu Kerr oder Tucholsky nicht um einen Satiriker der Agitation, sondern um einen Satiriker der Provokation. Um diesen Unterschied mit Wayne Booth zu formulieren: Heines Satire steht in der Regel im Zeichen der „unstable

Kernmayer, Hildegard: Judentum im Wiener Feuilleton (1848 – 1903): Exemplarische Untersuchungen zum literarästhetischen und politischen Diskurs der Moderne. Tübingen: Niemeyer 1998, S. 121. 38 Ebd., S. 130. 39 Ebd., S. 228. 40 Ebd., S. 212. 41 Hermann Sudermann: Verrohung in der Theaterkritik. Berlin/Stuttgart: Cotta 1902, S. 10. 37

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irony“. 42 Hinter Heines Personalsatire steht weder eine genuine Programmatik noch eine feste Überzeugung oder politische Position, an Stelle dessen tritt vielmehr ein zumeist ironisch gebrochener Weltschmerz. Wie wichtig diese Vermeidung agitatorischer Gesten im Namen der literarischen Provokation für Heine war, dies verdeutlicht vor allem das 1844 entstandene Versepos „Deutschland. Ein Wintermärchen“. Denn das Zusammenspiel von Gedanke, Traum und Tat, wie es in dessen VI. und VII. Caput ausgeführt wird, markiert eben diese feine Grenze zwischen einer provokanten und einer agitatorischen Form der Satire. Heines Verzicht auf die Agitation zugunsten der Provokation lässt sich an der Allegorie des Liktors als Ausführendem der Tat in Caput VI und VII feststellen, insofern Heine vor dieser an die agitatorische Demagogie erinnernde Konsequenz bewusst zurückschreckt. 43 5. Die Perturbation in der Krise: Zum Wandel des publizistischen Tons in der Dreyfus-Ära Heines Satire ist zwar störend, sie verfolgt jedoch anders als später Kerr, Harden oder Tucholsky niemals das Ziel der Mobilisierung einer Gesellschaftsschicht, ist niemals wirklich parteiisch und meidet stets die rhetorische Demagogie. Freilich weiß auch der durch das Studium der französischen Frühsozialisten um Saint-Simon und die Demagogenverfolgung von 1832 44 politisierte Heinrich Heine schon sehr genau um die Möglichkeiten der satirisch-polemischen Agitation: Man denke neben „Deutschland. Ein Wintermärchen“ auch an seine politischen Gedichte gegen Friedrich Wilhelm IV. („Der Kaiser von China“) 45 oder Ludwig von Bayern 46 , die ja Heines politische Verfolgung veranlassten, oder an Heines Lieblingsmetapher der Trommelei. 47 Und nicht von ungefähr sind Heines In der „stable irony“ gibt es eine feste Position oder Perspektive, von welcher aus die eigentliche Bedeutung erschlossen werden kann, dagegen gibt es in der „unstable irony“ keine Position, die nicht selbst wieder ironisch gebrochen ist. Vgl. dazu: Booth, Wayne C.: A Rhetoric of Irony, Chicago: University of Chicago Press 1974, S. 1 ff., S. 240 ff. 43 Dethlefsen, Dirk: Die „unstäte Angst“: Der Reisende und sein Dämon in Heines Deutschland. Ein Wintermährchen. In: Heine-Jahrbuch 28, 1989, S. 211 – 221. 44 In der Folge des Hambacher Festes wurde die in den Karlsbader Beschlüssen von 1819 festgelegte Demagogenverfolgung, die sich gegen liberale und nationale Bewegungen richtete, 1832 noch einmal erneuert. 45 Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe Bd. 2: Neue Gedichte. In Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut herausgegeben von Manfred Windfuhr. Hamburg: Hoffmann & Campe 1986, S. 122. Im Folgenden zitiert als „DHA + Bandangabe“. 46 Die Polemik gegen König Ludwig I. von Bayern erwuchs aus dem Ärger Heines darüber, dass dieser ihm die schon sicher geglaubte Professur nicht verliehen hatte. Dafür bedachte er später auch den Monarchen mit einer ganzen Reihe spöttischer Verse, etwa in „Lobgesänge auf König Ludwig“: „Das ist Herr Ludwig von Bayerland./Desgleichen gibt es wenig;/Das Volk der Bavaren verehrt in ihm/Den angestammelten König.“ (Anhang zu Neue Gedichte, zit. nach: DHA 2, S. 142). 47 Auf welche bekanntlich Tucholsky im Essay „Was darf Satire?“ zurückgreift: „Die Satire beißt, 42

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Charakterisierungen etwa Lessings oder Goethes stets von einem gleichsam elegischen Wissen darum geprägt, dass die Tradition des aufklärerischen Witzes oder der leicht frivolen Heiterkeit Goethes in Deutschland nicht mehr existierten, sondern durch eine langsam sich ankündigende, blutig-ernste „Berserkerwuth“ verdrängt wird, wie diese in dem furiosen Ende von „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“ prophetisch angekündigt ist: „Es werden Kantianer zum Vorschein kommen, die auch in der Erscheinungswelt von keiner Pietät etwas wissen wollen, und erbarmungslos, mit Schwert und Beil, den Boden unseres europäischen Lebens durchwühlen, um auch die letzten Wurzeln der Vergangenheit auszurotten.“ 48 Heine ist jedoch eher ein Prophet denn ein Repräsentant dieser agitatorischen Töne, dieser ersten Anflüge einer satirisch-publizistischen Demagogie. 49 Dass sich dagegen nach Heine der Ton ändert, hat zweifellos mit dem einsetzenden Antisemitismus der Gründerzeit zu tun. Daneben ist auch der Einfluss der Dreyfus-Affäre und die damit verbundene Genese des kritischen Intellektuellen zu nennen. Die heftigen Debatten um die Schuld oder Unschuld des aus dem Elsass stammenden jüdischen Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus (1859–1935), der bekanntlich wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslanger Verbannung und Haft verurteilt wurde, hatten nicht nur Auswirkungen auf die junge französische Republik, sondern auch auf die Publizistik des wilhelminischen Deutschlands. Diese Auswirkungen sind speziell am Wirken Emile Zolas zu erkennen, dessen Gestus der Anklage auch und gerade im bürgerlich-liberalen Feuilleton der Jahrhundertwende entscheidend nachgewirkt hat. Thomas Sparr hat in einem Beitrag zum Sammelband „Jüdische Selbstwahrnehmung“ nachdrücklich betont, dass Dreyfus „in der Geschichte der jüdischen Selbstinterpretation seit der Jahrhundertwende zum entscheidenden Bezugspunkt“ geworden sei: „Dreyfus war das Modell, nach welchem man das Bild des modernen Juden schuf, als Fremdbild wie als Selbstbild.“ 50 Und doch sind die Gründe der Eskalation auf publizistischem Gebiet weit komplizierter. Denn entscheidend dürfte sein, dass jene Ruhestörung, wie sie Heine vornahm, für Autoren wie etwa Kerr, Harden oder Eisner nicht mehr möglich war. Dies verdeutlichen zwei Pressekampagnen der Zeitschriften „Die Zukunft“ und „Vorwärts“. Sie richteten sich gegen zwei sehr enge Freunde Kaiser Wilhelms II., Friedrich Alfred Krupp und Philipp Eulenburg, die in vorgeblich homosexuelle Beziehungen verstrickt und daraufhin durch Kurt Eisner (Krupp) bzw. Maximilian Harden (Eulenburg) publizistisch entlarvt worden waren. Die Kampagnen ähneln im Prinzip der Heine-Platen-Kontroverse, da es ebenfalls um die Unterstellung von Homosexualität ging. Sie sind zudem erkennlacht, pfeift und trommelt die große, bunte Landsknechttrommel gegen alles, was stockt und träge ist.“ (Tucholsky, Kurt: Gesamtausgabe Texte und Briefe Bd. 3. Hrsg. von Antje Bonitz u.a. Reinbek: Rowohlt 1996, S. 82 f.). 48 DHA Bd. 8/1, S. 117. 49 Natürlich ist Heine auch in diesem Falle beides, also Pionier wie Kritiker dieser „Berserkerwuth“ einer vor allem an Börne (vgl. DHA 11, S. 119) sowie der jungdeutschen Tendenzpoesie (DHA 4, S. 86) bemerkten agitatorischen Literatur. 50 Spaar, Thomas: Dreyfus in Deutschland. Zur Rezeption der Dreyfus-Affäre. In: Jüdische Selbstwahrnehmung. La prise de conscience de l’identité juive. Hrsg. von Hans Otto Horch/ Charlotte Wardi. Tübingen: Niemeyer 1997, S. 169 – 180, hier S. 180.

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bar aus dem agitatorischen Geist der Dreyfus-Affäre von 1896 erwachsen, und erinnern außerdem an den so genannten „Queensberry-Prozess“ von 1895, in dem Oscar Wilde ebenfalls wegen Homosexualität zu zwei Jahren Zuchthaus mit Zwangsarbeit verurteilt wurde. Allein ihre Folgen sind fataler. 6. Warum Heines Polemik in der Moderne unmöglich wurde: Die Beispiele Eisner, Harden und Kerr Vor dem Hintergrund der mit dem Reichsstrafgesetzbuch von 1872 gegebenen Strafbarkeit homosexueller Praktiken hatte der deutsch-jüdische Sozialdemokrat und spätere bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner am 15. November 1902 im Artikel „Krupp auf Capri“ in der sozialdemokratischen Zeitschrift „Vorwärts“ die homosexuellen Neigungen des führenden deutschen Industriellen, des Kommerzienrats Friedrich Alfred Krupp, enthüllt. Zu einer Eskalation kam es nach dem Selbstmord Krupps in der folgenden Woche, also am 22. November 1902, weil Kaiser Wilhelm II. in der Grabrede behauptete, die Angriffe des „Vorwärts“ hätten den Selbstmord Krupps verschuldet. Das Blatt habe Krupp „mit den vergifteten Pfeilen seiner Verleumdungen […] um seinen ehrlichen Namen [gebracht] und ihn durch die hierdurch hervorgerufenen Seelenqualen [getötet].“ 51 Schon 1905 warnte Wilhelm II. Nicholas Murray Butler, den Präsidenten der Columbia Universität in New York, vor den Gefahren der „jüdischen Presse“ und ihrer am Pariser Vorbild orientierten Agitation. Der „nächste Konflikt in Europa“ werde aus Paris kommen. Schon die russische Revolution von 1905 sei die Folge jüdischer Hetze, denn auch die Juden in Russland arbeiteten Hand in Hand mit ihren Brüdern in Frankreich, „die die gesamte Presse unter ihrem schändlichen Einfluß“ hätten. 52 Gleiches drohe nun auch dem Kaiserreich: „Wenn Sie einen russischen Juden nehmen und ihn in Berlin die Theorie der Anarchie studieren lassen, und schicken ihn dann nach Paris, um das Laster in der Praxis kennenzulernen, dann erhalten Sie einen Teig, aus dem keine Nation mehr ein verdauliches Brot backen kann. Im letzten Jahr waren es neunzehntausend solche Personen, die von Deutschland nach Paris gegangen sind.“ 53

Diese erste wirklich deutliche Partizipation eines politischen Machthabers am antisemitischen Diskurs 54 verfestigte sich ein Jahr später, denn auch der Eulenburg-Skandal von 1906 wurde vom Kaiser mit Blick auf Maximilian Harden als Produkt „jüdischer Frech Vgl.: Krupp und die Hohenzollern in Dokumenten. Hrsg. von Willi A. Boelcke. Frankfurt/M.: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion 1970, S. 168. 52 Vgl.: Cecil, Lamar: Wilhelm II. und die Juden. In: Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890 – 1914. Hrsg. von Werner E. Mosse. Tübingen: Mohr Siebeck 1976, S. 313 – 347, hier S. 337 f. 53 Ebd. 54 Nach Einschätzung John C.G. Röhls begann mit Kaiser Wilhelm II. die Entwicklung großer Teile der bürgerlichen und militärischen Eliten der Kaiserzeit von einem eher gewöhnlichen zu jenem eliminatorischen Antisemitismus der Weimarer Zeit, vgl. Röhl, John C.G.: Kaiser Wilhelm II. 51

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heit, Verleumdung und Lüge“ 55 identifiziert. In der Tat stammte der folgenschwere Artikel „Krupp auf Capri“ aus der Feder eines deutsch-jüdischen Publizisten. 56 Ich zitiere die entscheidende, d. h. skandalisierende Eisner-Passage: „Seit Wochen ist die ausländische Presse voll von ungeheuerlichen Einzelheiten über den ‚Fall Krupp‘. Die deutsche Presse dagegen verharrt in Schweigen. Wir haben vor einiger Zeit die Angelegenheit angedeutet, mochten sie aber nicht näher erörtern, ehe uns nicht ganz einwandfreie und vollständige direkte Informationen zur Verfügung standen. Nunmehr aber muß der Fall in der Öffentlichkeit mit der gebotenen ernsten Vorsicht erörtert werden, da er nicht nur ein kapitalistisches Kulturbild krassester Färbung bietet, sondern auch vielleicht den Anstoß gibt, endlich jenen § 175 aus dem deutschen Strafgesetzbuch zu entfernen, der nicht nur das Laster trifft, sondern auch unglückselige Veranlagung sittlich fühlender Personen zu ewiger Furcht verdammt und sie zwischen Gefängnis und Erpressung in endloser Bedrohung fest hält.“ 57

Die Lektüre allein dieser Passage verdeutlicht, dass Eisner damit eher kritisch gegen den umstrittenen § 175 vorgehen wollte; zudem veröffentlichte er diesen Artikel anonym. Und wenn man diesen Artikel mit Heines Platen-Polemik vergleicht, dann wird offensichtlich, dass Heines Kommentare zur Homosexualität Platens weit bissiger und polemischer waren, wie das folgende Zitat aus „Die Bäder von Lucca“ zeigt: „Ohne auf dieses Geschwätz zu achten, fuhr der Markese fort im Deklamiren von Gaselen und Sonetten, worin der Liebende seinen Schönheitsfreund besingt, ihn preist, sich über ihn beklagt, mit ihm äugelt, eifersüchtelt, schmächtelt, eine ganze Scala von Zärtlichkeiten durchliebelt und zwar so warmselig, betastungssüchtig und anleckend, dass man glauben sollte, der Verfasser sey ein manntolles Mägdlein.“ 58 und der deutsche Antisemitismus. In: Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus. Hrsg. von Wolfgang Benz/Werner Bergmann. Bonn: bpb 1997, S. 252 – 285. 55 Cecil, Wilhelm II. 1976, S. 336. 56 Dass Kurt Eisner der Urheber des so folgenreichen Artikels „Krupp auf Capri“ war, ergibt sich unter anderem aus den Darlegungen seines engen Freundes Friedrich Stampfer: Erfahrungen und Erkenntnisse. Aufzeichnungen aus meinem Leben. Köln: Verlag für Politik und Wirtschaft 1957, S. 98 ff.: „Eines Tages kam Eisner aufgeregt zu mir und sagte, nun habe er Material, um den entscheidenden Schlag gegen § 175 zu führen. Friedrich Alfred Krupp, der Kanonenkönig und Kaiserfreund, sei in Capri in eine derartige Affäre verwickelt und von der Regierung aufgefordert worden, das Land zu verlassen. […] Ich warnte Eisner. Zwar zweifelte ich keinen Augenblick an seinen guten Absichten, aber mir graute vor dem Skandal. Und würde das Zentralorgan der Partei durch Enthüllungen solcher Art nicht selbst zum Rang eines Skandalblattes herabsinken? Eisner ließ sich nicht halten. Aber am Tag nach der Veröffentlichung kam die Nachricht, daß Friedrich Alfred Krupp – einem Schlaganfall erlegen sei.“ Zur Krupp-Affäre siehe zudem Calogeras, Roy C.: Die Krupp-Dynastie und die Wurzeln des deutschen Nationalcharakters. Eine psychoanalytische Kulturstudie. München/Wien: Verlag Internationale Psychoanalyse 1989, S. 106 – 116. 57 Eisner, Kurt: Krupp auf Capri. In: Vorwärts (15.11.1902), S. 2 f. Vgl. bereits Ders.: Herr Krupp auf Capri. In: Vorwärts (30.10.1902), S. 2. 58 DHA 7, S. 130.

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Der Befund ist also paradox: Wenngleich Heines Anspielungen auf Platen weit bösartiger sind, so sind die Konsequenzen für das jeweilige „Opfer“ – hier Platen, da Krupp – im Falle Eisners weit dramatischer. Offenkundig also erlangt die durchaus vergleichbare Anspielung auf homosexuelle Neigungen gerade vor dem Hintergrund der mit dem Reichsstrafgesetzbuch von 1872 gegebenen Strafbarkeit homosexueller Praktiken eine gänzlich andere Qualität. Die provokante Anspielung Heines wird aber nicht nur in deren „Wiederholung“ durch Kurt Eisner zum spektakulären Skandal. Zu einem ähnlichen, dem Ausmaß nach jedoch weit größeren politischen Skandal führten im Jahre 1906 die Essays Maximilian Hardens, seines Zeichens enger Freund Bismarcks und Herausgeber der Wochenzeitschrift „Die Zukunft“. Harden bezichtigte Fürst Philipp zu EulenburgHertefeld (1847 – 1921), ranghohes Mitglied des Preußischen Herrenhauses, preußischer Gesandter in München und von 1894 bis 1902 deutscher Gesandter in Wien, der Homosexualität und des Meineids und warf ihm unheilvollen politischen Einfluss auf Wilhelm II. vor. Daraufhin kam es zu drei Aufsehen erregenden Prozessen gegen den engen Berater des Kaisers, bei denen eine Verurteilung Eulenburgs zwar ausblieb, das Ansehen Wilhelms II. und des Hofes jedoch nachhaltig erschüttert wurde. 59 Wie im Falle der Krupp-Affäre, so geht es auch im Eulenburg-Skandal um ein äußerst bedrohliches Spiel mit einem für den Betroffenen wahrlich vernichtenden Wissen. Einen Eindruck vermittelt der 1906 veröffentlichte Artikel „Dies irae“. Darin richtet Harden seine erste versteckte und doch folgenschwere Drohung an Eulenburg und dessen „Schätzchen“ Kuno von Moltke, die unter den anspielungsreichen Pseudonymen „Der Süße“ und „Der Harfner“ auftreten. Dies ist wohl nur für wenige Eingeweihte verständlich, diente also eher dazu, beide Personen durch die Andeutung einer Enthüllung vor einer weiteren Einflussnahme auf den Kaiser zu warnen. Provokativ in einer auch im Vergleich zu Heinrich Heine neuen Form ist dies allemal, denn Harden bedient sich hier einer bis dato unbekannten Form der Drohung: „November 1906. Nacht. Offenes Feld im Ufergebiet. Der Harfner: ‚Hast Dus gelesen?‘ Der Süße: ‚Schon Freitag.‘ Der Harfner: ‚Meinst Du, daß noch mehr kommt?‘ Der Süße: ‚Wir müssen mit der Möglichkeit rechnen; er scheint orientiert, und wenn er Briefe kennt, in denen von Liebchen die Rede ist … ‘ Der Harfner: ‚Undenkbar! Aber sie lassens überall abdrucken. Sie wollen uns mit Gewalt an den Hals.‘ Der Süße: ‚Eine Hexenzunft. Vorbei! Vorbei!‘ Der Harfner: ‚Wenn er nur nichts davon erfährt!‘“ 60

Dieses anspielungsreiche und insofern sarkastische Spiel mit einer für den Betroffenen gefährlichen Information findet sich fünf Jahre später in ähnlicher Form in Alfred Kerrs Bloßstellung eines außerehelichen Liebesantrags des Berliner Polizeipräsidenten Traugott von Jagow. Dieser Fall besaß zwar nicht den strafrechtlichen Hintergrund des § 175, war aber dafür in ihrer anzüglich-polemischen Rhetorik weitaus radikaler. Jagow suchte un-

Vgl. dazu: Weller, B. Uwe: Maximilian Harden und die „Zukunft“. Bremen: Schünemann Universitäts Verlag 1970, S. 161 ff. 60 Harden, Maximilian: Dies irae. In: Die Zukunft 57, 1906, S. 291.

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ter Berufung auf sein Zensoramt „Fühlung mit Schauspielerkreisen“ 61, weshalb er unter anderem die österreichische Schauspielerin Tilla Durieux zu einem gemeinsamen Treffen einlud, ohne freilich zu ahnen, dass diese die Gattin von Kerrs Verleger Paul Cassirer war. So durchsichtig Jagows Einladung zu einem persönlichen Treffen gewesen sein mag, diese Affäre wurde dennoch von allen Beteiligten gütlich beigelegt, und es hätte keine Notwendigkeit bestanden, sie erneut aufzugreifen. Kerr allerdings ließ es sich unter Androhung seines Ausscheidens aus der Redaktion nicht nehmen, den Privatbrief Jagows 1911 im „Pan“ zu veröffentlichen und überaus spöttisch als ersten Schritt zu einer möglichen Affäre zu durchleuchten, womit er angesichts der Bekanntheit und der Stellung von Jagows aus einer privaten eine politische Affäre machte. Der entsprechende Artikel des „Pan“ mit dem Titel „Vorletzter Brief an Jagow“ ist ein weiteres Beispiel der sich radikalisierenden Fronten: „So voller Hingabe sind Sie hinter ihrem Ziel her, hinter den Pflichten gegen die Kunst. Darf man, lieber Herr und Präsident, ein paar Betrachtungen daran knüpfen? Wollen Sie mir gefälligst sagen, was der Zensorberuf mit Schauspielerinnen zu tun hat? […] Ich dachte, sie hätten’s mit den Stücken. Wollen Sie gefälligst mitteilen, wozu Sie mit Darstellern jene ,Fühlung‘ brauchen, – die sie bei der Fühlung mit einer Darstellerin beginnen? (Es ist auffallend). Herr von Jagow, wollen Sie gefälligst äußern: warum erbaten Sie niemals von dem erfahrenen Emanuel Reicher die Erlaubnis, ihn um ½ 5 am Sonntag zu besuchen?“ 62

Dass sich angesichts dieser Skandale Fronten formieren, verdeutlicht Ludwig Rubiners Hymnus auf Alfred Kerr in „Der Dichter greift ein in die Politik“. Es sei gut, dass „die Literatur in die Politik sprengt“, denn: „Uns macht nur die (einzig) sittliche Kraft der Destruktiven glücklich.“ 63 Speziell die Eulenburg-Affäre verdeutlicht in ihrem gesamten Verlauf die Tatsache, dass die Geste frecher Polemik, mit der Heine seiner Zeit einen äußerst erfrischenden Tonfall in die deutsche Literatur brachte, in einen als Eskalation beschreib­ baren Prozess eingetreten war. Denn zweifellos nahm diese Affäre in ihrem Verlauf Dimensionen an, die Harden selbst nicht beabsichtigt hat, die ihn also schließlich mehr und mehr zu dem paradoxen passiven Täter einer Dynamik werden ließen, die sich nicht mehr steuern ließ. Entscheidend aus unserer Sicht ist dabei die Tatsache, dass sich die Tragik dieser Dynamik nicht allein auf die einzelnen Autoren, also auf Kurt Eisner, Maximilian Harden oder Alfred Kerr beschränken lässt. Mit der Krupp-, der Eulenburg- und der Jagow-Affäre verliert die Polemik im Stile Heines ihren durchaus frechen Charme und wird nunmehr zum offenen Konflikt. „Verehrte gnädige Frau, Da ich die Theaterzensur auszuüben habe, hätte ich gern auch persönliche Fühlung mit Schauspielerkreisen. Es wäre mir eine Freude, unser heutiges Gespräch fortzusetzen. Würde Ihnen mein Besuch genehm sein? Etwa Sonntag ½ 5?“ Zitiert nach: Kerr, Alfred: Die Welt im Licht. Hrsg. von Friedrich Luft. Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1961, S. 357. 62 Ebd., S. 357 f. 63 Rubiner, Ludwig: Der Dichter greift ein in die Politik. In: Ich schneide die Zeit aus. Expressio­ nis­mus und Politik in Franz Pfemferts ‚Aktion‘. Hrsg. von Paul Raabe. München: dtv 1964, S. 64 – 70, hier S. 67. 61

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7. Perturbation als Kompensation: Zur psychologischen Funktion der Störungsgesten Nun muss man die Hintergründe dieses Wandels betonen. Natürlich hat die Eskalation der Störungsgeste zu tun mit dem agitatorischen Prinzip, welches von der Provokation als Geste zu unterscheiden ist. Eben dies ist jedoch ein Prozess, der sich in identischer Form auf der Seite des sich in den Gründerjahren formierenden Antisemitismus entwickelte: Hier reicht eine stetige Linie von den Hep-Hep-Unruhen des Jahres 1819 über die zahlreichen antisemitischen Ausschreitungen während der revolutionären Vorgänge 1848 64 bis zu Richard Wagners „Das Judenthum in der Musik“ von 1850 65 , und von August Rohlings antisemitischem Pamphlet „Der Talmudjude“ von 1871 66 über die einflussreichen Beiträge Heinrich von Treitschkes in den „Preußischen Jahrbüchern“, nach welchen bekanntlich „die Juden […] unser Unglück“ 67 seien, bis hin zu Eugen Dührings 1881 erschienener Schrift „Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage“. 68 Und ebenso stetig führte jene judenfeindliche Mobilmachung, welche in den agitatorischen Predigten Adolf Stoeckers ihren Ausdruck und in dessen 1878 gegründeter „Christlich-Sozialer Arbeiterpartei“ ihre erste parteipolitische Ausprägung fand, 69 über den von Treitschke geschürten „Antisemitismusstreit“ der Berliner Intellektuellen hin zu Theodor Fritschs „Antisemiten-Katechismus“ von 1887 70 und seinem später so einflussreichen „Handbuch der Judenfrage“ von 1896 71. Auf dieser Welle bewegte sich auch die Grabrede Wilhelms II. Gerade angesichts dieser zunehmenden Formierung des Antisemitismus sei eine Frage erlaubt, die aus diesem Zusammenspiel von Störlust und Störverbot herrührt: Weshalb bediente sich ein Autor wie Heine der sarkastischen Ironie, obwohl er wusste, dass sein Publikum diese extreme Ironieform nicht wirklich teilte? Und wieso hielten Autoren wie Eisner, Harden oder Kerr sowie später natürlich auch Tucholsky trotz der vehementen Widerstände des Berliner Lesepublikums weiterhin an Sarkasmus und bissigem Witz fest? Warum blieben jüdische Intellektuelle scharfe und bissige Satiriker, obwohl jede Vgl. Brenner, Michael: Zwischen Revolution und rechtlicher Gleichstellung. In: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit Bd. II: Emanzipation und Akkulturation 1780 – 1871. Hrsg. von Michael Brenner u.a. München: Beck 1996, S. 287 – 325. 65 Wagner, Richard: Das Judenthum in der Musik. Leipzig: Verlagsbuchhandlung von J. J. Weber 1869. 66 Rohling, August: Der Talmudjude. Zur Beherzigung für Juden und Christen aller Stände. Münster: Adolph Russel 1877. 67 Zitiert nach: Der Berliner Antisemitismusstreit 1879 – 1881: Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Hrsg. von Walter Boehlich. Frankfurt/M.: Insel 1965, S. 11. 68 Dühring, Eugen: Die Judenfrage als Racen-Sitten- und Culturfrage. Mit einer weltgeschichtlichen Antwort. Karlsruhe/Leipzig: Reuther 1881. 69 Vgl. Boehlich, Walter: Nachwort. In: Boehlich, Antisemitismusstreit. 1965, S. 237 ff. 70 Fritsch, Theodor: Antisemiten-Katechismus: Eine Zusammenstellung des wichtigsten Materials zum Verständnis der Judenfrage. Leipzig: Beyer 1893. 71 Fritsch, Theodor: Handbuch der Judenfrage: Die wichtigsten Tatsachen zur Beurteilung des jüdischen Volkes. Leipzig: Hammer 1919. 64

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Fortführung des Sarkasmus den sich seit der Reichsgründung stetig formierenden Antisemitismus forcierte? Sind diese gefährlichen Kontinuierungen des „Judenwitzes“ auch ein Indiz für die Zwanghaftigkeit der Ruhestörung? Ist das stetige Zitieren und Aktualisieren sarkastischer Ironie, bei welcher sich der Sprecher in die unangenehme Rolle des Störenfrieds und Nestbeschmutzers begibt, Zeichen für eine Art Wiederholungszwang? Diese Fragen, die meines Erachtens für eine Erörterung der Ruhestörung entscheidend sind, lassen sich ebenfalls nicht länger systemtheoretisch, sondern meines Erachtens nur mittels einer subtilen Psychologie beantworten. Wir müssen in diesem Kontext die Geste der Ruhestörung als eine Kompensationsstrategie verstehen. Das heißt schlicht, dass es bei der Geste der Störung darauf ankommt, nicht nur deren Außenwirkung, sondern auch deren Innenwirkung in den Blick zu nehmen. Was nach außen als Störung erscheint, dies kann nach Innen dazu führen, erlittene Verletzungen auszugleichen, zu kompensieren. Diese kompensatorische Funktion der Störung ist vielleicht am ehesten dem von Lutz Röhrich geprägten Bild vom Witz als dem „Ventil in einer Krisensituation“ vergleichbar. 72 Röhrich illustrierte diesen kompensatorischen Witz am Beispiel der angesichts der Pest erzählten Novellen Boccaccios. Ich selbst habe diese Denkfigur des Ventils an anderer Stelle auf eine ökonomische Funktion im psychoanalytischen Sinne hin gedeutet 73 , also auf eine vor allem in Freuds Aufsatz „Jenseits des Lustprinzips“ dargelegte Logik des Wiederholungszwangs bezogen. In „Jenseits des Lustprinzips“ beschreibt Freud eine Störung des energetischen Gleichgewichts, bedingt durch eine sogenannte Reizschutzdurchbrechung, d. h. eine zu exzessive Anflutung von Erregungsenergien, wie sie in Folge eines Unfalls oder einer Gewalterfahrung hervorgerufen wird. Die ökonomische Tätigkeit besteht dann in dem Versuch, diese anflutende bzw. in Folge einer schrecklichen Erfahrung einbrechende Energiemenge nachträglich zu binden. Der in diesem Zusammenhang entwickelte Begriff des Wiederholungszwangs hat zweierlei Funktionen. Zum einen beschreibt er den Versuch des psychischen Apparats, traumatisch eingebrochene Reizmengen nachträglich unter Angstentwicklung zu bewältigen. Zum anderen bezeichnet er im Rahmen der Freudschen Todestriebkonzeption einen destruktiven, dem Leben entgegengesetzten Trieb, also eine zweite Form der Störung. Dem traumatisierten Neurotiker geht es demnach nicht darum, freigewordene Besetzungsenergie abzuführen: Diese Aktivität stünde quasi noch diesseits des Lustprinzips. Sein Bestreben ist vielmehr, energetische Minusbilanzen durch eine bestimmte Form der zwanghaften Wiederholung auszubalancieren, also eine Störung des energetischen Gleichgewichts durch eine erneute Wiederholung dieser Störungen nachträglich auszugleichen. Für die hier verfolgte Fragestellung ließen sich diese Überlegungen dahingehend konkretisieren, dass die Geste der Störung nicht nur als lustvolle Aktivität, sondern auch als kompensatorische Überwindung zurückliegenden Leids und Unrechts, also als komisierende Wiederholung des Unlustvollen, ja gar des Schmerzvollen begriffen werden muss. Röhrich, Lutz: Der Witz. Figuren, Formen, Funktion. Stuttgart: Metzler 1977, S. 34. Es gibt zu dieser kompensatorischen Funktion der Ironie bzw. des Sarkasmus kaum einschlä­gi­ge Forschung, verwiesen sei daher erneut auf: Meyer-Sickendiek, Sarkasmus. 2009, S. 153 – 189.

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Wir können entsprechend auch den Sarkasmus als eine Bewältigungsstrategie verstehen, als eine spezifische Umgangsform mit einem als schrecklich, ja gar als traumatisierend empfundenen Lebensereignis oder einer Lebensphase. Erst das erklärt die so überaus erstaunliche Kontinuierung des sarkastischen Witzes, der sich ungeachtet der zunehmend aggressiver werdenden Widerstände einer sowohl deutschen wie österreichischen Öffentlichkeit von Heinrich Heine bis hin zu Kraus oder Tucholsky stetig gesteigert und radikalisiert hat. Zweifelsohne folgen diese kontinuierlichen sarkastischen Kommentare auch jenem gleichsam zwanghaften Impuls, wie er nach Freud dem Wiederholungszwang innewohnt 74: Obgleich man als Ruhestörer auf die Widerstände des Hörers stößt, muss man den sarkastischen Spruch bzw. den bissigen Kommentar bringen. Wie wichtig diese Differenz von Außen- und Innenwirkung für den Ruhestörer ist, verdeutlicht die folgende Prosanotiz Heinrich Heines von 1843/44: „[…] ich möchte meine Feinde lieben, kann sie aber nicht lieben ehe ich mich gerächt – dann aber öffnet sich ihnen mein Herz – solange man sich nicht gerächt, bleibt immer eine Bitterkeit im Herzen.“ 75

Ich fasse zusammen: Es reicht meines Erachtens nicht aus, das Prinzip der Störung nur anhand der Kategorie der Provokation zu denken. Denn zumindest angesichts des von mir ausgewählten Beispiels – der deutsch-jüdischen bzw. österreichisch-jüdischen Moderne – wäre mittels der Kategorie der Provokation allein nicht zu klären, warum diese Moderne in einer Eskalation endete. Will man verstehen, warum systemimmanente Störungen eskalieren können, dann empfiehlt es sich, die Differenz von Provokation und Agitation zu denken und nachzuvollziehen. Man kann dies sehr gut, wenn man etwa Heinrich Heine und Kurt Tucholsky oder auch schon Alfred Kerr vergleichend diskutiert. Damit ist aber noch nicht wirklich verstanden, warum sich solche Mechanismen – trotz ihrer unverkennbar sich abzeichnenden Gefahren – nur schwer vermeiden lassen. Ich habe dies anhand der Kategorie der Kompensation zu erhellen versucht, die schon Maturana seinem Störungsmodell einschrieb, die ich jedoch anders denke als Maturana es tat. Kompensation ist ein Paradox der Störung, keine Funktion. Denn die Kompensation bezeichnet das zentrale Problem, dass der Störer in seiner Störung nach außen zwar ein Ärgernis darstellt, nach innen hin jedoch gewissermaßen für Linderung, Ausgleich, Genugtuung und Ruhe, also letztlich für Entstörung sorgt. Darin liegt, wenn man so will, die große Tragik jener Ruhestörer, an die in diesem Essay in aller Vorläufigkeit erinnert worden ist.

Freud, Sigmund: Jenseits des Lustprinzips. In: Ders.: Studienausgabe Bd. III: Psychologie des Unbewußten. Hrsg. von Alexander Mitscherlich u.a. Frankfurt/M.: Fischer 2000, S. 211 – 272. 75 DHA 10, S. 335. 74

Hans-Christian Stillmark

Notbremsen, Skandale und Gespenster: Dramaturgien der Störung bei Bertolt Brecht und Heiner Müller

1. Der Dramatiker und sein Ort der Störung Untersucht man das Problem der ‚Perturbation‘ in den Beziehungen zwischen den Künsten und anderen kulturellen Kontexten, so stößt man unweigerlich auf die Funktionsbeschreibungen dramaturgischer und theatralischer Zusammenhänge. Es ließe sich zweifellos einiges über die spezifisch gesellschaftliche Funktion des Theaters in unterschiedlichsten Zeiten und Räumen hier zusammentragen und es wären komparatistische Untersuchungen in der Theatergeschichte von der Antike bis in die Gegenwart denkbar. Besonders seitdem sich die Künste gegenüber den gesellschaftlichen Zuständen nonkonformistisch emanzipierten, ist das ‚Prinzip Störung‘ im Verhältnis zu den jeweils herrschenden symbolischen, religiösen und anderen ideengeschichtlichen sowie sonstigen ideologischen Ordnungen unübersehbar geworden. Jegliche Konzepte avantgardistischer Poetiken und Dramaturgien fallen hier ins Auge und sind unter dem Gesichtspunkt innovativer, reformatorischer und revolutionärer Veränderung häufig dargestellt und untersucht worden. Die aufklärerische Funktion des modernen Zeitalters hat es sich ja auf die Fahnen geschrieben, mit dem Licht der Vernunft die bisherigen Verdunkelungen und Vernebelungen zu durchleuchten. Unter dem Aspekt der Kritik, insbesondere der Gesellschafts- und Kulturkritik, sind immer wieder verschiedenste Segmente des Kulturellen einer Bestandsaufnahme unterzogen worden. Gerade die autopoietischen Zusammen­hänge von Tradition und Innovation sowie die Dialektik von Kontinuität und Dis­konti­nui­tät bzw. die von Evolution und Revolution lassen das ‚Prinzip Störung‘ zu einem grund­ legenden Entwicklungsimpuls anschwellen. Insofern scheint mir der Ansatz wegweisend, nicht mehr wie bisher dramaturgisch Neues unter dem Zeichen sozialer Emanzipation, geschlechtsspezifischer Dissoziation, oder macht- bzw. zeichenpolitischer Dekonstruktion zu demonstrieren, sondern die Störung selbst als strukturelles Dispositiv poetischer Diskurse herauszustellen. Das auf-, ver-, wenn nicht gar zer-störende Moment des Eingriffs in kontinuierliche Zustände oder Abläufe zu betonen, ist nun auch mein Anliegen. Ich möchte dies anhand des Wandels von dramaturgischen Arbeitspositionen dreier Autoren in der deutschen Dramatik des 20. Jahrhunderts demonstrieren. Die Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder paradigmatische Fülle; ich verfolge hier lediglich eine Linie von

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analogen Dramaturgien, die sich von dem Verständnis ihrer Hervorbringer her als revolutionär ausgewiesen haben. Es geht mithin um die Ausbildung von Standpunkten, die mit dem Drama und dem Theater Einfluss auf Gesellschaft nehmen wollten und genauer: auf ein marxistisch verstandenes dialektisches soziales Denken und Handeln. Aus einer systemtheoretischen Perspektive geht es darum zu zeigen, wie Dramatiker durch Störungen der kommunikativen Beziehungen in das eingreifen wollen, was Kommunikation bewirkt: auf soziale Verhältnisse. Vorweg sei ferner betont, dass ich die Hoffnung auf eine mögliche Wirksamkeit, die die ausgewählten Autoren mit ihrer theatralischen Intervention verbunden haben, nicht in der gleichen Weise teile. Ich bin vielmehr mit Niklas Luhmann der Ansicht, dass die durch Kommunikation produzierte moderne Gesellschaftlichkeit mit mannigfaltigen und teilweise unüberschaubaren Beziehungen ausgestaltet ist, von denen die künstlerischen und theatralischen Verhältnisse im Vergleich mit ökonomischen, machtpolitischen oder juristischen Relationen eine eingeschränkte kulturelle Wirkungsmacht besitzen. Mit meiner Auswahl von Bertolt Brecht, Heiner Müller und Volker Braun beziehe ich mich auf unterschiedliche Generationen, die mehr oder minder in einem Lehrer-Schüler-Verhältnis zueinander standen. Brechts Aufforderung aus der „Maßnahme“: „Ändere die Welt, sie braucht es“ 1 haben alle drei Dramatiker in unterschiedlichem Ausmaß gehuldigt; den Störfaktor Theater auf den Umbau der Gesellschaft zu richten, haben alle drei in wichtigen Perioden ihres Schaffens favorisiert. Mir geht es aber nicht um die reine Lehre des wie auch immer gearteten linken Engagements, es geht mir vor allem um die Abweichungen, um die Hybridisierung der dramatischen und theatralischen Praxis. Ich betone dabei die Differenz von dramatischer und theatralischer Produktion, weil Brecht und auch Müller als Theaterleiter und Regisseure gearbeitet haben und auch Volker Braun lange Jahre als Dramaturg am Berliner Ensemble nicht nur dort eine Gage erhielt. Alle drei Autoren haben mehrere revolutionäre Veränderungen der kulturellen und sozialen Kontexte nicht nur erlebt, sondern auch zu gestalten versucht. An der Wandlung ihrer Positionen lässt sich die Schwellensituation nachvollziehen, die die Künste und die Kulturen im 20. Jahrhundert in Mitteleuropa durchlaufen haben. Sie kamen in ihrer revolutionären Praxis vor allem mit ihren unmittelbaren politischen Verbündeten in Konflikt und erlebten mit ihren Vorschlägen Ablehnung, Widerstand und auch Rückschläge sowie Verbote. Indem Brecht, Müller und Braun eine dominierende Kultur der Deutschen attackierten und gleichzeitig neu zu etablieren suchten, bekannten sie sich zum ,Prinzip Störung‘ in einer offensiven Weise. Generell gilt für die drei Dramatiker: Mit ihrer jeweiligen revolutionären Dramaturgie störten sie die bisher sanktionierten und etablierten Signifikationen sowie den damit verbundenen kommunikativen Umgang. Die Arbeit an den Metaphern, Zeichen und Symbolen sollten der Intention ihrer Urheber nach anstößig, skandalträchtig, aufstörend und beunruhigend wirken. Demonstrieren will ich die dramatischen und theatralischen Perturbationen auf mehreren Ebenen. Ich halte dazu in einer ersten Perspektive die collagenhafte Darbietung von 1

Brecht, Bertolt: Die Maßnahme. Zwei Fassungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 54/55.

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dramatischen Narrationen für geeignet. Es betrifft dies also den Punkt der Handlung, die in einem nichtaristotelischen Sinn verkürzt, montiert, geschnitten, oder aber auch ganz außer Kraft gesetzt wird. Zum Zweiten behaupte ich, dass die Auflösung des handelnden Subjekts, insbesondere des Helden und also der zentralen Hauptgestalt im Drama, für das ‚Prinzip Störung‘ bei meinen ausgewählten Beispielen von Belang ist. Drittens ist es das Geschichtsdrama als Genre selbst, das sich hier in einer Krise zeigt und als Schwelle begriffen werden kann. Das Geschichtsdrama stellt sich in dieser Betrachtung als „liminale Zone“ (variiert im Sinne Turners) und somit als ein Übergangsraum dar, der von Störungen durchzogen ist. In diesem Raum werden von Seiten der Autoren in Richtung der Adressaten Ver-Störungen produziert. Als Adressaten gelten dabei aus dem Blickwinkel des dramatischen Autors sowohl die Zuschauer wie die an der Institution Theater beteiligten Produzenten. Die Kunst des Darstellens wie die Kunst des Zuschauens galt es bekanntlich nach Ansicht Bertolt Brechts gleichermaßen zu entwickeln. Der Umgang mit dem Publikum als strategisch-konzeptioneller Ort, auf den die störenden Eingriffe gerichtet sind, wäre die vierte Ebene meiner Betrachtung. Hier geht es, um mit Brechts Terminologie zu sprechen, um die „Kleine“ wie die „Große Pädagogik“ 2 sowie um deren Derivate bei seinen „Schülern“. Wirkungsästhetisch ist damit die theatralische Störung auf den kleinen umgrenzten Raum des Theaters, wie auch auf die gesamte gesellschaftliche Öffentlichkeit gerichtet. In beiden Räumen soll die Perturbation Arbeit an der Änderung der Welt leisten. In dieser wirkungsästhetischen Perspektive sind die Reaktionen der Zuschauer, Kritiker, Politiker als perturbative Faktoren in Betracht zu ziehen. Diese Faktoren im Einzelnen abzuhandeln, sprengt freilich die vorliegende begrenzte Darstellung, deshalb konzentriere ich mich hier auf die primären Momente des Perturbativen, die ich auf der Seite der dramatischen und theatralischen Produktion untersuche. 2. Beispiel Brecht: „Ich glaube an die sanfte Gewalt der Vernunft“ Bertolt Brecht war seit seinen Anfängen ein Feind des etablierten bürgerlichen Theaters. Er war bestrebt, dessen Dramaturgie wirkungsvoll entgegenzuwirken und er scheute keine Gelegenheit, dies auch nachdrücklich publik zu machen. Seine ätzende Warnung an das Theaterpublikum, an der Garderobe mit dem Hut nicht auch den Verstand abzugeben, seine Aufforderung, nicht so „romantisch“ zu „glotzen“ 3 , sein furios gegen die herrschenden Tabus kalkuliertes Künstlerschicksal „Baal“, die frühen Skandale in der Regie eigener und fremder Stücke, seine Aufsehen erregenden Selbstinszenierungen ab den zwanziger Jahren – all das ist bekannt. Es sind beim Dramatiker Brecht im Hinblick Vgl. Mittenzwei, Werner: Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welt­rätseln Bd. 1. Ber­lin/Weimar: Aufbau 1986, S. 340 ff. 3 Brecht hatte 1922 anlässlich der UA seines Stückes „Trommeln in der Nacht“ im Zu­schau­­er­ raum Plakate hängen lassen mit Sprüchen wie: „Glotzt nicht so romantisch“ oder „Jeder Mann ist der beste in seiner Haut“. Vgl. Hecht, Werner: Brecht-Chronik 1898 – 1956. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 144. 2

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auf sein Konzept der Störung fünf verschiedene Phasen unterscheidbar. Da Brecht seine „Versuche“ zeitlich immer mehrgleisig betrieb, lassen sich diese Phasen nicht eigentlich auf eine strenge Abfolge festlegen. Mir sind hier auch die Modi wichtiger, die die jeweiligen Eingriffe kenntlich machen. Sie sollen hier kurz skizziert werden. Für die 1. Phase ist vor allem die Kritik an der bürgerlich-wilhelminischen Rauschästhetik 4 hervorzuheben. Die Kritik am Spießbürger, am hohlen Schein, an der überkommenen Lebensabgewandtheit der Kunst, an der illusionistischen Lebens- und Kunstproduktion hieß u. a. den hohen Theaterraum durch den Boxring zu ersetzen. Die störenden Abläufe in der Kunstproduktion und Kunstrezeption war den russischen Futuristen ein Manifest wert, das sie 1912 unter den Titel „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“ setzten. Ebenso bezog Brecht seine Störungen vorrangig gegen die Kontinuität des Kunstbetriebs und insbesondere gegen das herrschende kulinarische Theater, das nach Brechts Meinung die Wirklichkeit ausblendete. Er attackierte das rauschhafte Betäuben und das kritiklose Bewahren von unhaltbaren Zuständen mit allen literarischen Mitteln. Er verfasste eine Art „Gegenlyrik“, die die Pose der Erbaulichkeit attackierte und formulierte im „Lesebuch für Städtebewohner“ (1926/27): „Laßt eure Träume fahren, dass man mit euch/Eine Ausnahme machen wird. […] Laßt nur eure Hoffnungen fahren […] Ihr müsst euch ganz anders zusammennehmen/Daß man euch in der Küche duldet. […] Die Esser sind vollzählig/Was hier gebraucht wird, ist Hackfleisch.“ 5

Auf einen kurzen Nenner gebracht heißt das: die Störung bezog sich auf die Funktion von Kunst bei der Diskussion um die Vorstellung des richtigen oder sinnerfüllten Lebens. Die einst als zielführend angesehenen klassischen Ideale erwiesen sich aus Brechts Sicht als Verbrämungen eines erbarmungslosen Überlebenskampfs. Die brutale Öffentlichkeit dieser Kämpfe duldete kein augenschließendes Genießen, das Pathos war hohl, das Mitleid eher aufgesetzt und folgenlos. Unvereinbar mit dem Großstadtleben und der Vermassung wurden die Kategorien des aristotelischen Theaters vom Scheppern der Blech­bläser verhöhnt, verworfen und destruiert. Symbolisch erfährt die Bühne schon von vornherein strategische Störungen. Der Boxring wurde bereits erwähnt, durch die Erfindung des Brechtvorhangs betonte der Augsburger die Illusionsproduktion des Theaters. Die naturalistisch aufgezogene Vierte Wand wurde damit wieder abgerissen. Die Tren­nung des inneren Bühnenraums und des äußeren Zuschauerraums erfuhren in dieser Konsequenz eine Aufhebung. Tendenziell wurde damit der Konflikt zwischen Bühne und Pub­likum zur Metaebene theatralischer Kommunikation in eine neue Aufmerksamkeit geho­ben. Es wurde zusätzlich zu den auf der Bühne verhandelten Konflikten zwischen den Figu­ ren ein Feld von Auseinandersetzungen thematisiert. Es handelte sich damit um Störun­ Der Begriff ist von Frank Raddatz als zentrale Kategorie in Brechts Denken beschrieben worden. Vgl. Raddatz, Frank: Der Demetrius-Plan oder Wie sich Heiner Müller den Brecht­thron erschlich. Berlin: Verlag Theater der Zeit 2010, S. 23. 5 Brecht, Bertolt: Lesebuch für Städtebewohner 8. In: Ders.: Werke Bd. 11: Gedichte 1. Berlin: Aufbau 1988, S. 163/164. 4

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gen, die vor allem den bürgerlichen und kulinarischen Theaterbetrieb der 1920er Jahre attackierten. Genaugenommen sind die Störungen im Kern Verschiebungen, die in den späteren Jahren als „Verfremdungen“ und „V-Effekte“ theoretisiert und von seinen Schülern ausbuchstabiert werden: Der Boxring als Affront gegen die Loge, die Bettleroper gegen die reichen Leute, das Didaktische gegen das Kulinarische, das Sachliche gegen den Rausch usw. – die Frontstellungen könnten fortgesetzt werden. Brechts Kampf für die Ent­wicklung neuer Darstellungs- und Zuschaukünste strebte danach, am Beginn der 1920er Jahre das dominierende bürgerliche Theater in seinen alten Funktionen zu zerstören und neu auszurichten. Die Freude am Skandal der geplatzten Uraufführung des „Lebens Eduards des Zweiten“ (1923/24) wog für ihn den Regieerfolg desselben Stücks auf. Auch auf die weiteren Phasen vorausblickend sei hier schon bemerkt: Die störenden Erneuerungen in der Darstellungskunst sind gerade durch die von Brecht betriebene Schauspieltechnik des Zeigenden Gestus und des Neben-der-Rolle-Stehens fast sprichwörtlich geworden. Sie nehmen hier ihren Ausgangspunkt. Die 2. Phase der Brechtschen ‚Stördramatik‘ beginnt am der Ende der Weimarer Republik. Nun beginnt Brecht verstärkt, das Lehrtheater als Transmission des dialektischen Denkens in die geschichtsbildenden Kräfte zu konzeptualisieren. Brecht blieb also nicht bei der Kritik an den künstlerischen Hervorbringungen der bürgerlichen Kultur stehen. Es war nur eine Frage der Zeit bis er mit seinem Sinn für kausale Zusammenhänge auf Verhältnisse stieß, die sich der Figuration über eine Person verweigerten. Formulierungen wie „Das Petroleum sträubt sich gegen die fünf Akte“ 6 oder „Weiß ich was ein Mensch ist? […] Ich kenne nur seinen Preis“ 7 lassen Interessen erkennen, die über eine ökonomische Grundierung von Figuren reflektieren und die wirklichen Zusammenhänge ins Theater bringen wollen. Die „Maßnahme“ (1930) und „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ (1931) stehen sich hier in der Anwendung von unterschiedlichen Dramaturgien in ausgeprägter Weise gegenüber. Beide signalisieren als Dekonstruktionen des Helden, dass diesem die bisherige Verantwortung für das Handeln weitgehend entzogen wird. Die bisherige zentrale Figur des Helden wurde in Brechts dialektischem Theater weitgehend zum Funktionieren im gesellschaftlichen Nexus reduziert. War bei „Mann ist Mann“ (1927) der Einzelne noch in seinem Untergang in der Massengesellschaft interessiert verfolgt worden, so ist die Auslöschung der Gesichter – siehe „Die Maßnahme“ – auch für die zukünftigen Aufgaben als geschichtlich notwendige Haltung favorisiert worden. Was tun in einer Situation, in der die geschichtsbildenden Koordinaten einen großen Einzelnen nicht mehr benötigen und die Klasse selbst zunehmend gesichtslos wird? Als Antwort auf den Ausfall des Einzelnen, der im Drama der Veränderung seine Souveränität verliert, bot sich der Kontroll-Chor als neue Instanz, die die Klassensituation zum Ausdruck bringen sollte, an. Diese Konstellation wird 40 Jahre später in Heiner Müllers „Mauser“ (1970) aufgenommen, wo das Drama der Revolution zwischen Figu Vgl. Brecht, Bertolt: Über Stoffe und Form. In: Ders.: Werke Bd. 21: Schriften 1. Große kom­mentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht u. a. Berlin/Frank­ furt/M.: Aufbau/Suhrkamp 1992, S. 302 – 304, hier S. 303. 7 Brecht, Maßnahme. 1998, S. 54.

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ren mit dem Namen „A“, „B“ und dem „Chor“ verhandelt werden. Blickt man mit dem Abstand von 80 Jahren auf diese Frage zurück, so scheint sie vorschnell gestellt und auch beantwortet worden zu sein, denn der Einzelne trägt für sein Handeln nach wie vor die Verantwortung. Dies ist freilich nicht damit zu verwechseln, dass er allein für den Gesamtzustand der Welt verantwortlich sei. Der hier nur angedeutete Konflikt lässt keine rigorosen Vereinfachungen zu. Müllers Statement zur „Verabschiedung des Lehrstücks“ (1977) historisierte das Problem des fehlenden dramatischen Subjekts nach der BiermannAusweisung auf seine Weise: „Die christliche Endzeit der MASSNAHME ist abgelaufen […] die gelernten Chöre singen nicht mehr.“ 8 Für Brecht galt es aber dennoch mit dem neuen Subjekt der proletarischen Klasse und deren Partei die als tödlich empfundene Kontinuität zu erschüttern. Der bürgerliche Staat, der sich schon in der „Dreigroschenoper“ (1928) mit dem Verbrechen liierte, ist nicht nur aufzustören, er ist für den Brecht der 2. Phase gänzlich zu zerstören. Hier soll die Theaterkunst als Transmissionsriemen in den Auftrag der Parteiarbeit gestellt werden. Ein Theater, das nur noch Beteiligte kennt, richtet seine Kräfte auf die Veränderung der Welt. Die aus der Antike teilweise übernommene Vorstellung von Gruppen, die einander in sokratischen Dialogen unterweisen, steht dabei allerdings der Lehre einer zentralistischen Partei entgegen. Ästhetisch reformierte Brecht mit seinen „Versuchen“ 9 das Drama, politisch kam er dabei aber in Konflikt mit den konservativen Kunst- und Kulturvorstellungen der KPD. Das Projekt der Kunst einer neuen Gesellschaft war bekanntlich damals in der KPdSU wie auch in der KPD heftig umstritten. 10 Insofern verwundert es nicht, dass die heftigsten Kritiken an der „Maßnahme“ u. a. von der Parteipresse der KPD geführt wurden. Systemtheoretisch ist damit eine äußerst interessante Situation entstanden: Die Störungen, die Brecht vermittels von Kunstprojekten inszenierte, widersprachen jenen störenden Eingriffen in Taktik und Strategie, auf die sich „seine“ revolutionäre Partei ausgerichtet hatte. Als 1930 bei der Uraufführung des Stückes „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ in Leipzig von den Gegnern Brechts aus der Nazi-Partei ein Skandal inszeniert wurde, sah sich Brecht, der bereits seit Mitte der 1920er Jahre auf den schwarzen Listen der NSDAP geführt wurde, einer besonderen Situation gegenüber: Seine szenische „Störung“, die die Bürgerlichkeit attackierte, wurde von den antibürgerlichen Nazis behindert und „gestört“. Gleichzeitig wurde seine Provokation von den antikapitalistischen Kräften, in deren Dienst er sich gestellt hatte, abgelehnt. Die Anstößigkeit hatte hier wiederum ganz andere Gründe als jene Kritik von

Müller, Heiner: Verabschiedung vom Lehrstück. In: Ders.: Werke 8: Schriften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 187. 9 Die gleichnamige Publikationsreihe, die Brecht ab 1930 herausgab, stellte sich ganz in den Dienst seiner neuen antiaristotelischen Dramaturgie. Siehe: Brecht, Bertolt: Versuche 1 – 3. Berlin: Gustav Kiepenheuer 1930. 10 Siehe zur Geschichte des sozialistischen Realismus unter dem Stichwort „Realismus/realis­ tisch“ In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hrsg. von Karlheinz Barck u. a. Stuttgart/Weimar: Metzler 2003/2010, Bd. 5, S. 149 – 197, bes. 178ff. 8

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den Genossen, die im Zusammenhang mit der „Maßnahme“ deutlich wurde. 11 War es bei „Mahagonny“ die Realismus–Auffassung und der Streit über die künstlerischen Mittel der theatralischen Antibürgerlichkeit, so wurde in der „Maßnahme“ die dargestellte politische Aktion (insbesondere Mord am Jungen Genossen) als Ganzes als verfehlt von der Partei kritisiert. Diese Situation ist im Hinblick auf die Kulturpolitik der KPD und der späteren SED als Kontinuität in Brechts Arbeit zu beobachten. Das generelle Verbot, die „Maßnahme“ überhaupt aufzuführen, ist damit auch symptomatisch für die Lösung eines solchen innerparteilichen Störungskonflikts. Und auch noch später wird Brecht vergleichbar opportunistische Haltungen einnehmen, etwa im Fall des Formalismus-Vorwurfs gegen die Oper „Die Verurteilung des Lukullus“ (1951), die er mit Paul Dessau erarbeitet hatte. Zu nennen wäre auch das Zurückstellen des eigenen Rosa-Luxemburg-Projekts, das er seit 1927 in Analogie zur französischen Jeanne d’Arc oder zur Maria-Gestalt der Katholiken für die kommunistische Bewegung plante und 1952 endgültig auf Eis legte mit der Bemerkung: „Ich werde doch den Fuß nicht abhacken, nur um zu beweisen, daß ich ein guter Hacker bin.“ 12 Mit dem Exil und im Kampf gegen den Faschismus erfolgte eine opportunistische Wendung gegen die eigenen Überzeugungen, die eine 3. Phase im Brechtschen Schaffen eröffnete. Der Dramatiker rückte von zentralen Aspekten der eigenen Störungspoetik ab zugunsten einer Volksfrontstrategie. In einer Situation, in der die Partei zerschlagen, ihr Wirken nur noch aus der Illegalität heraus möglich war, die Brechtschen Werke zu den verbrannten Büchern gehörten und auf dem Index der NS-Kulturpolitik standen, hieß es für den Exilanten Brecht umzudenken. Der strategische Eingriff wurde taktisch überdacht und neu ausgeführt. Ging es in den zwanziger Jahren um die Einbeziehung der neuen Massenmedien Radio und Film in die moderne Dramaturgie, um den als überkommen und verlogen empfundenen Apparat des bürgerlichen Theaters zu zerstören, so kam es Anfang der 1930er Jahre darauf an, mit allen verfügbaren Mitteln den Aufstieg des Nationalsozialismus zu stoppen. Wurden vorher alle Kräfte gegen den unpolitischen oder gegnerischen Kunstbetrieb eingesetzt, so mussten jetzt die vereinzelten und beschädigten Restbestände der Nazi-Gegner gesammelt und gebündelt werden. Dazu taugte die attackierende Antiaristotelik ebenso wenig wie das dialektische Lehrtheater. Der Volksfrontgedanke fand in dem Stück „Die Gewehre der Frau Carrar“ (1937) dramaturgisch auch den deutlichsten Ausdruck. Mit der „Carrar“ legte Brecht ein an aristotelische Dramatik angelehntes Werk vor. Wie so oft bei Brecht steht eine mütterliche Figur 13 im Mittelpunkt des Dramas. Anhand der Frau Carrar wird die Wirksamkeit einer Störung in einladend identifikatorischer Weise für das Publikum nachvollziehbar dargestellt. In den aktuellen Frontstellungen gegen den sich ausbreitenden Faschismus in Europa erzwang die Lage, die Differenzen in den ästhetischen Überzeugungen und Werten hintenan zu Vgl. Mittenzwei, Brecht. 1986, S. 289. Bertolt Brecht zit. nach: Schumacher, Ernst: Mein Brecht – Erinnerungen 1943 bis 1956. Berlin: Henschel 2006, S. 218. 13 Es wäre einen eigenen Essay wert, die Bewertung des Mütterlichen bei Brecht und in Ausfor­ mung seiner Ver-Störungen zu untersuchen. 11 12

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stellen. Die Zerrissenheit in der Menschengestaltung, die Angriffe auf die als bürgerlich gekennzeichnete illusionistische Dramaturgie und rauschästhetischen Institutionen wurden vermieden zugunsten einer psychologisch sauber geführten Heldengestaltung mit Menschen „aus Fleisch und Blut“. Rücknahme, Zugeständnis, Tribut an die Situation – wie immer man diesen Vorgang bewerten und beurteilen will, die Kalkulation, nur ein „guter Hacker“ zu sein, war Brecht zu leichtgewichtig, als dass er auf seinen bisherigen störungspoetischen Standpunkten weiter beharren wollte. Zu stören galt es nunmehr vor allem den immer stärker werdenden Nationalsozialismus. Mit dem Exil und der Entfernung von den Institutionen, die Brecht eigentlich ändern wollte, vollzog sich eine Entwurzelung von der Hauptquelle der störenden Inspiration. Das Ausbleiben der klassenbewussten Aktion in Deutschland, die Erfolge der Hitlerfaschisten, die Querelen der Emigration, das Stillhalten am Gängelband parteilicher Disziplinierungen zähmten mitunter die auf Störung angelegten Impulse Brechts. Diese vierte Phase, in der Brecht nach eigenem Bekunden „öfter als die Schuhe die Länder“ 14 wechselte, ist gekennzeichnet durch lähmende Kompromisse; kleine und operative Formen wie die „Flüchtlingsgespräche“ (1940) und die Gedichte aus den verschiedenen Stationen des Exils waren die vergleichsweise kümmerlichen Ergebnisse, die einer Existenz weit entfernt von den eigentlichen Kämpfen in stoischer Haltung abgetrotzt wurden. In den „Svendborger Gedichten“, den Elegien von Hollywood und den Notaten des Arbeitsjournals sind Brechts Klagen über seine unbefriedigende Situation deutlich nachzuvollziehen. Der gewisse Stolz, mit dem Brecht im „Arbeitsjournal“ seine im Exil verfassten Stücke aufzählte, täuscht nur bedingt darüber hinweg, aus welch einer verunsichernden Lage heraus überhaupt eine solche Aufzählung nötig war. Unversöhnlich blieb Brechts Frontstellung gegenüber dem Faschismus, „Nachsicht“ prägte die Haltung gegenüber den in der gleichen Frontstellung befindlichen Genossen und Nichtgenossen. Mit ihnen war die Wirksamkeit von perturbativen und irritierenden Poetik-Konzepten langwierig zu verhandeln. Becher, Lukács und Thomas Mann waren dennoch seine Freunde nicht. In diesem Abschnitt des Exils stand die Arbeit an den Parabelstücken im Vordergrund. Hier dominierte wieder der zerrissene Mensch, der unter den gegebenen Umständen der Klassengesellschaft sich entfremdet wurde. „Der gute Mensch von Sezuan“ (1939), „Mutter Courage und ihre Kinder“ (1939), „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ (1940), „Der Kaukasische Kreidekreis“ (1944) führen das Weiterwirken der Zerrissenheit parabelhaft vor. Schließlich ist es über das Exil hinaus der Intellektuelle, der Mensch als lehrendes und lernendes Wesen, der im „Das Leben des Galilei“ (1939/43/45) und in „Turandot oder Der Kongreß der Weißwäscher“ (1953) beispielhaft zur Diskussion gestellt wird. Angereichert mit den Innovationen des epischen Theaters entwickelte sich hier eine Darbietungsform, die den Zuschauer, wie man heute formulieren würde, mitnimmt und die nicht so sehr Wert legt auf den deutlichen Zusammenstoß, der dann Verstörungen in einem grundsätzlichen Sinne auslöst. Vorgeführt werden gegenwärtige Haltungen, die aus Brecht, Bertolt: An die Nachgeborenen. In: Ders.: Werke Bd.12: Gedichte 2. Berlin: Aufbau 1988, S. 85/86.

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einem verfremdeten Kontext aktualisiert worden sind, die die Distanz erleichtern, ohne die Identifikation gänzlich auszuschließen. Es sind Kompromissformeln, die ihre eigene Fragilität aufscheinen lassen. Die letzte Phase umfasst Brechts Wirken als Theaterleiter, Regisseur, geachtetes Akademiemitglied und Stalinpreisträger in der DDR. Eingangs beschäftigte Brecht sich nach seiner Rückkehr aus dem Exil wieder und diesmal voller Elan mit dem Projekt der „Großen Pädagogik“. In den Arbeitsjournalen, Notaten und Schriften ist zugleich die Kompromissbereitschaft ablesbar, die Brechts Taktieren und Agieren bestimmte. Es ist hier nur daran zu erinnern, dass Brecht unter den Bedingungen der Formalismus-Debatte seine Auffassungen durchzusetzen hatte. Seine Parabelstücke waren, wie man am Beispiel der „Mutter Courage“ erkennen konnte, trotz Publikumserfolg nur schwer in der Öffentlichkeit des „Neuen Deutschland“ zu etablieren. Symptomatisch für die innere Zerrissenheit Brechts selbst sind die Vorstellungen, die er 1948 in einer Diskussion mit Studenten in Leipzig fast unmittelbar nach der Ankunft aus dem Exil äußerte: Hier ist die Überlieferung durch Heiner Müller zitiert: „Brecht habe zunächst einmal gesagt, er spricht nur, wenn keine Journalisten dabei sind. Also sind alle Journalisten rausgegangen, deswegen ist das nicht tradiert. Diese Studenten fragten: ‚Herr Brecht, was wollen Sie hier in der sowjetischen Besatzungszone?‘ Und Brecht sagte: ‚Ich will ein eigenes Haus, ein eigenes Theater zur wissenschaftlichen Erzeugung von Skandalen.‘ Das ist eine schöne Formulierung. Die ist aber leider nie aufgeschrieben worden. Wieso Skandal, die Leipziger waren etwas irritiert. Und er sagte, was dieses Land braucht, sind zwanzig Jahre Ideologiezertrümmerung, und das ist die Aufgabe des Theaters in diesem Land.“ 15

Bekannt ist auch der Gedanke von Brecht, dass die Keller noch nicht ausgeräumt seien, und schon müsste man die neuen Häuser auf die alten Fundamente setzen. Das zielte natürlich auf die verschobene Abrechnung mit dem Faschismus im Alltag der Deutschen. Der Widerstandswille der kleinen Leute gegenüber der Obrigkeit, die er mit der Inszenierung von Hauptmanns „Biberpelz und roter Hahn“ (1950/51) stärken wollte, steht dafür. Bemerkenswert ist hier der Einsatz der von ihm eigentlich abgelehnten naturalistischen Dramaturgie, die für seine Politik der kleinen Schritte oder die „Kleine Pädagogik“ stand. Seinen Absichten am nächsten kam die Bearbeitung des „Hofmeister“ von Lenz (1951), die er als die Katastrophe des deutschen Intellektuellen innerhalb der deutschen Misere inszenierte. Für das Thema ‚Störungen‘ wird deutlich, dass der späte Brecht sehr wohl die Zuspitzung und auch die Debatte vermied, dass er sich lieber auf die „sanfte Gewalt der Vernunft“ („Galilei“) bezog. Er setzte nun auf einen Zeitvorrat und somit auf einen längeren Atem. Er wollte seine Genossen Kontrahenten in die DDR-interne Debatte einbeziehen. So war er an der Mitgestaltung des Neuen beteiligt, ohne diese durch konfrontative Störungen grundsätzlich in Frage zu stellen. Geist, Macht, Kastration. Heiner Müller im Gespräch mit Alexander Kluge (Sendung im Magazin „Zehn vor Elf “ vom 08.03.1993) In: Müller, Heiner: Werke 12: Gespräche 3. Frank­ furt/M.: Suhrkamp 2008, S. 301 – 311, hier S. 306.

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3. Theaterarbeit Heiner Müllers: von der Mitgestaltung zur Verweigerung Bei Heiner Müller sind ebenfalls mehrere Phasen darzustellen, die ich hier nicht vollständig erläutern will. Ausgangspunkt ist in seinem öffentlichen Schaffen der Bedarf der DDR-Kulturpolitik nach Darstellungen des gesellschaftlich Neuen auf den Bühnen des Landes. Die Institution Theater war in den Nachkriegsjahren bis in die 1950er Jahre hinein im Unterschied zu gegenteiligen Behauptungen 16 in ihrer Ausgestaltung immer noch stark von ihrer Anpassung und Zurichtung auf die NS-Zeit gekennzeichnet. Sie war in der Phase des Aufbaus mitnichten zerschlagen worden. Zwar waren die Intendanzen und Dramaturgien in den Häusern von neuen Leitungen besetzt worden, zwar gab es die Kontrolle der Partei mit einer neuen Leitungsstruktur über die Theater. Die alten Spielweisen und die Modi der Begegnung mit dem Publikum blieben aber gegenüber den äußeren Veränderungen resistent. Das Neue, der revolutionäre Umwälzungsprozess der Gesellschaft und vor allem der Menschen in der SBZ/DDR war auf den Bühnen aber bis tief in die 1950er Jahre hinein noch nicht wirklich sinnfällig geworden. Welche neuen Haltungen konnten und sollten favorisiert werden? Der Streit um die neue Spielweise markierte den Willen der Kulturpolitik zum Umbau der Theater. Die Stücke aus der sowjetischen Dramatik und die Stanislawski-Methode, ein Mitbringsel der Genossen aus dem Moskauer Exil Fritz Erpenbeck, Gustav von Wangenheim, Friedrich Wolf und Maxim Vallentin stellte schon eine Störung in dem sich etablierenden DDR-Schauspieltheater dar. Indem die in Sowjetrussland beliebte und von Konstantin Stanislawski entwickelte psychologische Spielweise den deutschen Darstellern angepriesen wurde, sahen sich andere Ansätze zur Erneuerung in den Hintergrund oder gänzlich aus den Theatern gedrängt. Brechts Theater war in den Nachkriegsjahren keineswegs stilbildend und hatte sich noch nicht durchgesetzt als neue Dramatiker mit neuen Stücken auf die neue Wirklichkeit zu reagieren begannen. Im Gegensatz zu Kollegen wie Erwin Strittmatter, Friedrich Wolf, Harald Hauser, Helmut Baierl, Helmut Sakowski, Hedda Zinner, oder Peter Hacks knüpften Heiner und Inge Müller direkt an Brechts Theater an und entwickelten das, was später missverständlich in Ost und West als das „Didaktische Theater“ bezeichnet wurde. Sie versuchten dabei den Prozess der Herstellung der neuen Gesellschaft nicht als bereits schon vollzogen darzustellen, sondern betonten, dass dieser Prozess und seine Konflikte nicht auf dem Theater, sondern nur von der Gesellschaft entschieden werden kann. Dementsprechend zeigten sie keinen idealen Helden, dem nachzueifern wäre in ihren Stücken, sondern verwiesen eher auf die Widersprüche in den Figuren selbst, die den noch zu bewerkstelligenden Prozess der Revolution vor sich hatten. Störend und verstörend erwies sich ein derartiges Heldenbild in einem Kontext, der Vorbilder auf der Bühne einforderte. Da in den frühen Stücken Heiner Müllers alle Figuren gleichsam von den widerstreitenden Seiten in sich zerrissen vorgestellt wurden, kollidierte dies mit den an der klassischen Ästhetik orientierten Heldenbildern. Der Abschluss ihrer Stücke sah zudem keine Lösung vor, die ein gesamtgesellschaftliches Idealbild metaphorisch enthielt, son Vgl. Autorenkollektiv unter der Leitung von Werner Mittenzwei: Theater in der Zeitenwende. Zur Geschichte des Dramas und des Theaters in der DDR 1945 – 1968. Berlin: Henschel 1972.

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dern eher einen Verweis auf die „Mühen der Ebenen“, die sich in ihrer Gesamtheit noch nicht einmal überschaubar darboten. Bekanntlich hatten Inge und Heiner Müller gerade den Heinrich-Mann Preis 1959 erhalten, als Walter Ulbricht das Ende des „didaktischen Theaters“ besiegelte. 17 Es sei dies nicht der Weg zur sozialistischen Nationalliteratur. Wie diese aussehen sollte, konnte allerdings der Parteichef auch nicht sagen. Wenn in späteren Jahren in der DDR solche Forderungen wie folgt aufgestellt wurden, kennzeichnet das die teilweise abgründigen Kontexte, in denen Abweichler nur sehr schwer Störungen produzieren konnten. Hans Grümmer, es hätten auch beliebige andere kulturpolitische Verantwortliche gewählt werden können, formulierte 1963: „In der Literatur und in der darstellenden Kunst kann sich Schönheit nur in schönen Charakteren und schönen Handlungen darstellen.“ 18 Der Skandal um Müllers Stück „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ (1961), der Vorwurf ein konterrevolutionäres Stück geschrieben zu haben, machte sich an der unverhüllten und eben auch „unschönen“ Sicht auf die Wirklichkeit fest, die mit ironischen und zynischen Zuspitzungen den gewalttätigen Kollektivierungsprozess auf dem Lande veranschaulicht hatte. Als „konterrevolutionär“ war von den Kritikern des Stückes vor allem die Darstellung der Partei gekennzeichnet worden. 19 Kurz nach dem Mauerbau wurde eine derartige Sicht, die den Riss in den Figuren zeigte und die schon beim Stück „Der Lohndrücker“ (1957) unübersehbar gewesen war, von den kulturpolitischen Zensoren als unangemessen und nicht hinnehmbar bewertet. Im „Lohndrücker“ zeigte sich der allgemein als vorbildlich zu geltende Aktivist keineswegs als klassenbewusster Proletarier. Der Aktivist Balke hatte in Müllers Stück während der Nazi-Zeit seinen späteren Parteisekretär Karras aufgrund von Sabotage verraten. Als Karras es ablehnte sich mit dem ehemaligen Verräter einzulassen und dieser ihm vorwarf nicht besser als die Nazis zu sein, wurde ein Tabu berührt, das das Stück an den Rand des Verbots brachte. Diese Vorgeschichte der Figur passte nicht zum neuen Helden in der DDR. Die Gleichsetzung von Kommunisten und Faschisten war in der DDR unannehmbar. In der „Umsiedlerin“ war keine Figur von vorzeigbarer Qualität, die dem Selbstbild der SED entsprochen hätte. Beim Publikum kam diese Sicht, wie sich erst 14 Jahre später in der Uraufführung zeigen sollte, überaus gut an. Die Folgen für Müller waren 1961 der Ausschluss aus dem Schriftstellerverband, mehrere Jahre Isolation, Publikationsverbot, Aufführungsverbot seiner Stücke bis 1973. Sie wirkten sich aber bis fast an das Ende der DDR aus. Die sich bei Müller anschließende Antike-Rezeption und die Weiterentwicklung der Brechtschen Lehrstückdramaturgie blieben deshalb auch ohne Realisierung auf dem Theater. Auf die Frage, warum sich die Theater so schwer mit seinen Stücken tun, antwortete Vgl. Stichwort „Theater“ In: Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten. Hrsg. von Michael Opitz/Michael Hofmann. Stuttgart/Weimar: Metzler 2010, S. 335 – 338. 18 Grümmer, Hans: Unser Theater auf parteilichem Kurs. In: Theater der Zeit 5, 1963, S. 4. 19 Das gesamte Ausmaß der Kritik der SED und ihrer Institutionen ist ausführlich aufgearbeitet in: Braun, Matthias: Drama um eine Komödie. Das Ensemble von SED und Staatssicherheit, FDJ und Ministerium für Kultur gegen Heiner Müllers „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ im Oktober 1961. Berlin: Ch. Links 1996. 17

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der Dramatiker in einer seiner damals seltenen Stellungnahmen. „Ein Euphemismus: im allgemeinen tun sie mit meinen Stücken gar nichts.“ 20 Zweifellos ist es schwer bis unmöglich aus der Situation einer solchen Ausgrenzung heraus, einen perturbativen Vorstoß zu entwickeln, der zudem auch noch das Siegel der Systemtreue für sich ausweisen will. Erst mit Übersetzungen und Bearbeitungen, die der Autor damals u. a. im Auftrag von Benno Besson anfertigte, kommt Müller mit dem Theater wieder in Berührung. Für die Problematik der „Störung“ ist dabei eines der aus heutiger Sicht unbekanntesten Stücke – „Horizonte“ von 1969 – von besonderem Reiz. Damals bezeichnete Müller es als seine wichtigste Arbeit und zugleich bemerkenswerten Misserfolg. 21 Interessant ist bei „Horizonte“ der Grundeinfall: „Ausgehend von Shakespeares Sommernachtsraum und dem Modellbegriff der Kybernetik lässt [der Autor, HCS] die leitenden Mitarbeiter eines Betriebes und ihre Frauen während des gemeinsamen Urlaubs in einem Rollenspiel, das von der wenig beschäftigten Frau des Werksdirektors inszeniert wird, ihre vom Arbeitsalltag verdrängten oder vertagten Probleme verhandeln; einer spielt (optimiert) den anderen, Identitätsfindung durch Identitätsverlust in Verwechslung und Verkleidung. Das war 1968.“ 22

In der Rotbuchausgabe von Müllers Werken ist vom Stück nur der 1. Akt publiziert. Es ist damit gerade einmal verdeutlicht, dass es das Projekt einmal gab. Erst 1989 hat sich Heiner Müller entschlossen, in der Reihe seiner Shakespeare-Bearbeitungen das Stück unter dem Titel „Waldstück“ zu publizieren. Müller distanzierte sich später erneut davon und gab an, er habe es seinerzeit mit „opportunistischen Hintergedanken“ 23 verfasst. In seiner Autobiographie schrieb er dazu: „Die Arbeit war ein aussichtloser Versuch, unter staatlicher Kontrolle das Experiment UMSIEDLERIN zu wiederholen.“ 24 Der Herausgeber der Suhrkamp-Ausgabe Frank Hörnigk hält sich ebenso mit Kommentaren und Bewertungen um das Stück zurück und hat sich dazu entschlossen, beide Fassungen fast ohne Kommentar zu publizieren. Wichtig erscheint aber aus heutiger Sicht unter dem Aspekt der „Störung“, die eingreifende Wirkungsästhetik Müllers in Erinnerung zu rufen. Das Stück wollte nicht etwa alle Probleme der Gesellschaft als gelöst vorführen, sondern die Akteure und Zuschauer in das verwickeln, was der Philosoph Wolfgang Heise später als „Laboratorium sozialer Fantasie“ 25 bezeichnet hatte. Es sollte darauf ankommen, im Nachdenken über das Stück eingeschliffene Denk- und Verhaltensmuster kritisch zu reflektieren und dabei neue Möglichkeiten des sozialen Lebens zu erkunden. Das hätte zur Folge gehabt, dass sich für die soziale Entwicklung als hinderlich erweisende Strukturen Müller, Heiner: Ein Diskussionsbeitrag. In: Theater der Zeit 10, 1972, S. 9. Ebd. 22 Müller, Heiner: Horizonte. In.: Ders.: Werke Bd. 4: Die Stücke 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001, S. 49. 23 Vgl. Ebd., S. 568. 24 Müller, Heiner: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1994, S. 238. 25 Heise, Wolfgang: Diskussionsbeitrag zum Dialog der Theaterleute mit Philosophen, Politikern und Naturwissenschaftlern. Brecht-Dialog 1968. In: Material zum Theater 59, 1975, S. 13. 20 21

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diskutiert worden wären, was zur Frage der Macht, die dann von der Partei aufgeworfen wäre, geführt hätte. Die „Große Diskussion“, die das Brechtsche Projekt der „Großen Pädagogik“ wiederbeleben wollte, blieb aber aus. Im Mittelpunkt des dramatischen Konzepts der Störung stand das Leiten des sozialen Lebens durch eine Streitkultur, die die bisherige befehlsgewohnte Diktatur der zentralistisch geführten Partei abgelöst hätte. Das Konzept wurde später „demokratischer Sozialismus“ genannt, wäre aber als Anwendung und Beteiligung von den Betroffenen am, wie man damals gesagt hätte, „dialektischen und historischen Materialismus“ praktiziert worden. Das Lehren und Lernen im und mit dem Theater wurde jedoch abgebrochen. Das Scheitern dieses Projekts, das die Arbeit der Berliner Volksbühne mit der Laienspielbewegung und dem Ende des Bitterfelder Wegs kurzgeschlossen hatte, ist weitgehend vergessen worden. Daran zu erinnern heißt, den theatergeschichtlich für die DDR wichtigen Versuch Benno Bessons in der Nachfolge Brechts den Volkstheatergedanken mit dem Lehrstück-Versuchen zu verbinden. Es ist überaus aufschlussreich, dass das „Horizonte/Waldstück“-Projekt auf die Bemühungen von Partei- und Staatsführung um die Kybernetik und Systemtheorie reagierte, die am Ausgang der Ära Ulbricht standen. Mit der Applikation der beiden Querschnittswissenschaften sollte das „Neue Ökonomische System der Planung und Leitung“ (NÖSPL) in die Praxis umgesetzt und befördert werden. Vor allem der Philosoph Georg Klaus hatte das nötige Grundlagenwissen in verschiedenen Publikationen verbreitet. Seine Kybernetik und seine Spieltheorie fußte auf Shannon, Carnap und Steinbuch, nicht jedoch auf Norbert Wiener. 26 Gewissermaßen war die Systemtheorie von Georg Klaus durchaus ein Vorläufer von Niklas Luhmanns Kommunikationsauffassung. Heiner Müller wollte mit seinem Stück die selbstregulierenden Systeme in den geschlossenen Regelkreisen der sozialistischen Produktion auf die kulturelle und soziale Entwicklung des DDR-Sozialismus transferieren. Bessons Inszenierung sah dazu vor, die ersten Reihen der Zuschauer am Schluss des Stücks auf die Bühne zu fahren und das Stück in seine zweite Phase d. h. sogleich in die Optimierung des Publikums zu überführen. „Horizonte/Waldstück“ muss deshalb durchaus in die Nähe des Brechtschen Lehrstücktheaters gestellt werden. Die Ereignisse von 1968 in der ČSSR, die eine Reform des sozialistischen Systems hatten scheitern lassen, waren schließlich auch die Hauptgründe, dass Ky­ber­ne­tik und Systemtheorie vom Fokus an die Peripherie der Gesellschaftswissenschaften verbannt wurden. Vom Stück gab es nur einige wenige Aufführungen. Es war künstlerisch umstritten. Die Terminologie der „wissenschaftlich-technischen Revolution“ erwies sich im Stück und in den Aufführungen als hölzern und wenig theaterwirksam. Zudem gab es einen urheberrechtlichen Streit, der die Urfassung durch den Leiter des Arbeitertheater Gerhard Winterlich und dessen Nutzung durch Besson und Müller betraf. Müller bezeichnete die Inszenierung als „Bessons wichtigste Arbeit in der DDR – ein (unser gemeinsamer) Misserfolg.“ 27 Vgl. Klaus, Georg: Kybernetik und Erkenntnistheorie. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften 1966; Ders.: Spieltheorie in philosophischer Sicht. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften 1968. 27 Müller, Diskussionsbeitrag. 1972, S. 9. 26

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Man kann die Bemühungen Müllers um die Fortsetzung des Brechtschen Lehrstücks – und „Horizonte/Waldstück“ wäre hier hinzuzusetzen – als Versuch sehen, die „Kleine“ wie die „Große Pädagogik“, also den Umbau des Theaters und den Umbau der Gesellschaft unter den Bedingungen der sozialistischen Kulturpolitik vom Theater her erneut in Gang zu setzen. Zweifellos war dies ein utopisches Unterfangen und es ist nach dem Prager Frühling vielleicht nur mit der Agonie des Systems Ulbricht zu erklären, dass es in dieser Perspektive noch ein dramaturgisches Nachspiel fand. In der Prosa war mit Christa Wolfs „Kein Ort nirgends“ (1979) das Scheitern des sozialistischen Brandenburg verharmlosend in den romantisch-literaturgeschichtlichen Raum verschoben worden. Es gehört zu den realsozialistischen Paradoxien, dass das Konzept der permanenten Einmischung und Störung seitens der Kunst in die gesellschaftlichen Institutionen, um deren Umbau zu bewirken, zwar durch die Ideologie der Partei gefordert, in der Praxis aber vehement bekämpft wurde. Spätestens dann, wenn die Frage der Macht gestellt war, musste das Wahrheitsmonopol der Partei ins Wanken geraten und das wurde bis zum Ende der DDR nie zugelassen. Das in der Dramatik anzutreffende Konzept der Perturbation stellte aber die Machtfrage in Permanenz und arbeitete einer Aufhebung des Staates gemäß einem selbstregulierenden System entgegen. Per Kunstausübung und Kulturpraxis in einem weitverstandenen und -definierten Sinn wäre so die Parteiarbeit als revolutionäre Transformation sich selbst aufbauend und unterlaufend zu einer historisch völlig neuen Systematik generiert. Da diese Gedanken teilweise Eingang in die Parteidokumente fanden und von marxistischen Philosophen wie Georg Klaus propagiert wurden, war die Versuchung groß, sich darauf einzulassen. In seinem „Diskussionsbeitrag“ von 1972 formulierte der Autor nicht ohne Hoffnung: „Die Institutionen, die den kollektiven Lernprozeß zu organisieren hätten, die Formulierung von Ergebnissen, die Aufhebung von Erfahrungen in Produktion, verbrauchen ihre besten Kräfte für die Herstellung eines oberflächlichen Konsensus, der den Meinungsstreit beendet, bevor er begonnen hat, konträre Standpunkte nivelliert, bevor sie formuliert sind.“ 28

Der Schub, den Honeckers Machtantritt auch im Hinblick auf eine Lockerung der Zensur versprochen hatte, konnte diese Illusionen nur noch verstärken. Aus Müllers damaligem Blickwinkel sind diese Jahre bei allem Zwiespalt wahrscheinlich als relativ glückliche Jahre betrachtet worden. Die Beharrungskräfte und die Macht der Gewohnheiten wurden aber von den Aktivisten dieser „systemtheoretischen“ Wende unterschätzt. Die Notbremsen der Apparate, die Reaktionen auf Störungen und Einmischungen, die sich hinter einem undurchschaubaren Genehmigungs- oder Zensurwesen verschanzten, schließlich die offensichtlichen Zügelungen und Dezimierungspraktiken, wie sie mit FormalismusDebatte (1951), dem „Kahlschlag“-Plenum (1965), der Biermann-Ausweisung (1976), der Relegation von Autoren aus dem Schriftstellerverband (1979), der öffentlichen Anprangerung und Verurteilung, wie sie etwa auf der „Kulturkonferenz der FDJ“ (1982) vorgenommen wurden, ragen als Spitzen dieser Disziplinierungsmaßnahmen und Selbstregulierungen eines in immer stärkere Erstarrung hinübergehenden Machtsystems heraus. In Ebd.

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Reaktion auf 1976 schrieb Müller schließlich die „Hamletmaschine“. Er formulierte darin die Absage an die autopoietische Revolte. Das Projekt, mit der Störung einen Reformprozess der Gesellschaft in Gang zu setzen, wurde hier als unrealisierbar begraben. Es ist hier das Ende des Geschichtsdramas durch Müller konsequent bedacht worden. Weder kann die zentrale Hauptfigur eine eigene Identität und Kontur ausbilden, noch besteht eine Handlungsperspektive durch die Maschine und ihre gewalttätige Politik, in die der Autor eingepasst ist. Aus „Hamlet“ wird der „Hamletdarsteller“, der wiederum als Inkarnation des „Autors“ fungiert. Die „Zerreißung der Fotografie des Autors“ 29 wiederholt das gescheiterte Experiment mit der einstigen Schwellenfigur Hamlet in der Gegenwart Geschichte zu machen. Die Geschichte selbst verfügt in diesem Stück über kein handlungsfähiges Subjekt. Die Figuren, die in einer früheren Epoche, nach eigenen Intentionen Politik gestaltet hatten, sind durch die Maschine substituiert worden. Nicht zufällig begegnen im parallel entstandenen Theaterstrück „Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei. Ein Greuelmärchen“ (1977), das die Perversion einer instrumentierten Aufklärung darstellt, Lessings Gestalten Nathan und Emilia Galotti auf einem Autofriedhof in Dakota einem Roboter, dem letzten Präsidenten der USA. In der Folgezeit bis 1989 entstehen bei Müller Texte, die immer weniger als Dialoge fungieren und einer konturierten Figur zuzuschreiben wären. Selbst in den letzten DDRTexten „Wolokolamsker Chaussee I – V“ (1986 – 1989), die in der Ära Gorbatschow die letzten Residuen der Hoffnungen zu mobilisieren suchten, waren die dramatisch Agierenden gestaltlos und nur von den Inszenierungen mit einem Gesicht auszustatten gewesen. Die Handlung entsprach ebenso provokativ dem allgemeinen Stillstand und der Stagnation in der realsozialistischen Welt. In ihr dominierten Erinnerungskonstrukte, die das „Eigentliche“ längst hinter sich hatten. Die zermürbende Arbeit an der Formulierung, das Feilschen um die Druckgenehmigung, der Kampf um Öffentlichkeit und gegen die Aufführungs- und Publikationsverbote, der sich in den Autobiographien und Arbeitsbüchern Müllers und auch Volker Brauns wiederlesen lässt, illustrieren die Agonie der letzten 20 Jahre eindringlich. Wie Müller im Gespräch mit Jan Hoet ausführte, gibt es eine interessante Bindung von Kunst an diktatorische Gesellschaftsstrukturen: „Wichtig ist, daß die Kunst immer mit dem Unmöglichen zu tun hat und das Unmögliche will und das Unmögliche versucht. Und Politik muß mit dem Möglichen rechnen, deswegen ist das eigentlich der größte Gegensatz. Kunst sollte immer eine Störung sein von Politik, von Verfestigung, und manchmal geht das einfach durch einen Witz, durch eine Provokation.“ (Hervorhebung HCS.) 30

Es wird deutlich, dass „Störungen“ in Diktaturen höchst unwillkommen sind. Eine Dramaturgie, die auf Intervention und auf Perturbation setzt, muss dementsprechend damit rechnen, dass sie von der Macht behindert, bekämpft und verboten wird. Müller, Heiner: Hamletmaschine. In: Müller, Werke 4. 2001, S. 552. Müller, Heiner: Blick in die Produktion – Ein Gespräch mit Adolf Stock und Jan Hoet. In: Müller, Werke 12. 2008, S. 166.

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4. Das Prinzip Störung im neuen Raum nach 1989 Auch in Volker Brauns Dramen ist die Arbeit an den „offenen Enden der Revolution“ als perturbativer Eingriff zu bewerten. In der Nachfolge von Brecht und Müller setzt auch er auf Verfahren, die als Collagen auf eine durchgehende Fabel verzichten, auf Panoramen, die auf der Demonstration von widersprüchlichen und teilweise unentscheidbaren Haltungen bestehen. Bereits in seinem frühesten Stück „Die Kipper“ von 1963 beginnt das „Eigentliche“ für die Hauptgestalt Paul Bauch erst am Ende des Dramas. Er verlässt seinen bisherigen Arbeitsplatz und steht vor der ungelösten Frage, was er mit seinem Leben „im langweiligsten Land der Erde“ 31 nun anfangen werde. Das „Eigentliche“ oder das „Gewollte“ ist dementsprechend auch die Formel, die den utopischen Abstand benennt, zu dem die Braunschen Figuren trotz aller Reibungen und Anstrengungen nicht kommen. Bemerkenswert ist, dass relativ frühzeitig im Braunschen Erstling eine Störung in Sicht kommt, die für die Dramatik in der DDR von besonderer Bedeutung ist. Sie kann als Ausfall von Handlung beschrieben werden, da sie das Begehren von Autoren und ihren Figuren anzeigt, sich selbst in eine revolutionäre Veränderung zu begeben, die sie in ihrer Iden­ti­tät betrifft. Dabei geht es nicht mehr um die Erringung eines Siegs mit der Waf­fe oder mit dem Werkzeug in der Hand. Auch die Geschichte eines Menschen ist nicht mehr ein­fach zu erzählen, verstörend sind die denkbaren Situationen, die sich an den Gren­zen des diskursiven Raums vollziehen. Hier wird das Schreiben, Theater-Spielen, Arbei­ten, ja, das ganze Leben problematisiert, ohne dass eine erkennbare Finalität auch nur for­mu­ lier­bar wäre. Eine andere Identität als die gesellschaftlich zugewiesene einzunehmen, das wäre ein Zielpunkt des nunmehr unüberschaubaren Begehrens. In den 1980er Jahren zerfal­len aber auch bei Braun der utopische Ort und die Dekonstruktion des Geschichtsdramas. In Stücken wie „Guevara oder Der Sonnenstaat“(1984) und „Übergangsgesellschaft“ (1987) problematisieren sich bei Braun als Schwelle und kündigen von dem, was sich 1989 ereignet: die Implosion der ausgehöhlten Institutionen. Der neue Raum nach 1989 sieht nun aber für die Dramatiker anders als erhofft, erdacht und befürchtet aus. Ich würde diesen Raum im Hinblick auf das einstmals geschichtsmächtige dramatische Subjekt als mit „Gespenstern“ gefüllt charakterisieren. Sowohl Müller als auch Braun verabschieden sich vom Drama, indem sie auch für das Menschenbild keine utopische Richtung mehr weisen können. Es ist ihnen nunmehr nicht mehr möglich, über die Störung vom Drama vermittelt über das Theater die Gesellschaft in einem verändernden Sinne zu erreichen. Im offenen System, das dem geschlossenen der Diktatur folgte, sind keine wirklichen Eingriffe vorstellbar, mit denen hier soziale und/oder ästhetische Innovationen in Gang zu setzen wären. Der Stellenwert der kulturellen Institutionen ist konzeptionell nicht in vergleichbarer Weise an das machtpolitische Gestalten des sozialen Raums gebunden. Zudem muss auch der mediale Wandel ins Kalkül gezogen werden, der die Gesellschaft seit dem Informationszeitalter erreicht hat. Braun, Volker: Die Kipper. In: Ders.: Texte in zeitlicher Folge Bd. 1. Halle/Leipzig: Mitteldeutscher Verlag 1989, S. 126.

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Im Stück „Iphigenie in Freiheit“ von 1990 entwirft Braun ein Szenarium, das sich nur noch an Situationen anhaftet, die ein konfliktgeladenes Geschehen hinter sich haben. „Spiegelzelt“, so die erste Szene, nimmt eine Selbstbegegnung des ehemals dramatischen Subjekts auf und erinnert an die Konstellation der „Hamletmaschine“ Heiner Müllers. Die Befreiung der Schwester, die im zweiten Teil durch Orest und Pylades vollbracht wurde, führt eine in das alte Rollenbild zurück gezwungene Iphigenie vor, die von einer Barbarei in eine andere verbracht wurde. Die Begegnung zwischen den Geschwistern findet auf dem Gelände eines ehemaligen KZ statt, das für einen Supermarkt umgerüstet wird. Hier gibt es nichts mehr zu tun, die Handlungen, die ja identisch mit den Dramen sind, sind im Begriff sich zu erübrigen, was dann im letzten Teil als Atomisierung im Staub eines Rollfelds zur Anschauung gebracht wird. Die gegenläufige Bewegung ist hier verstörend: waren bei den antiken Kosmologien die Schöpfungen aus dem chaotischen Staub gewonnen worden, so sind in Brauns Text die Menschen in ihrem ökologischen Raubbau an der Grenze der eigenen Substanz angelangt. Subjekte und deren Handlungen, die das Drama in ihrer Raumzeit konstituierten, haben weder Ort noch Zeit und sind in ihrem Identitätsverlust zu beobachten. Eine gespenstische Situation, die dem einstigen Hohelied der Humanität Goethes den Rücken zukehrt. Sowohl Braun wie auch Heiner Müller sehen ihre Arbeit in einen geisterhaften Kontext versetzt, der am ehesten zur Lyrik tendiert. Müllers letztes Stück scheut sich nicht, diese neue Arbeitssituation auch im Titel zu signalisieren. „Germania 3. Gespenster am toten Mann“(1996). Die Zahl drei ist nach dem „Leben in zwei Diktaturen“, wie der Untertitel seiner Autobiografie „Krieg ohne Schlacht“ (1992) lautet, logisch: Sie verweist auf seinen dritten Versuch, die proletarische Tragödie zu erfassen und zeigt den Anschluss an „Germania. Tod in Berlin“ aus dem Jahre 1971 und erinnert die mit dem Werk vertrauten Rezipienten an die Szenenfolge „Wolokolamsker Chaussee“. Das Stimmengewirr der Toten, die sich im Text verweben und sich einer Befreiung verweigern, kennzeichnet den widersinnigen Schlusspunkt der einstigen Befreiungsarbeit. Der Text des Dramas gerät immer stärker zur Illustration des eigenen Nachdenkens und eröffnet einen fast lyrisch zu charakterisierenden, subjektiven Raum. Nicht mehr die sozialen Kämpfe von geschichtlich bedeutsamen Gruppen oder Individuen besetzen das Feld der vermeintlich objektivsten Gattung. Das Drama ist vielmehr in die Darstellung der gescheiterten Utopie, ja des verfehlten Ausgangspunkts, der die Utopie rechtfertigen könnte und damit auf die Ausbreitung eines Irrtums konzentriert. Verfehlt die Idee, verfehlt die Organisation, verfehlt das Konzept – Geschichte verweigert sich Brechts „eingreifendem Gestus“. In Anlehnung an Derridas „Marx’ Gespenster“ liest sich hier eine uneingelöste Geschichte von Bedrängungen, von denen man nicht loskommt, neu. Es ist das eigene Material, das sich nur noch zur Selbstverständigung eignet, nicht aber einen wirklichen Anlass störender Eingriffe in den öffentlichen Raum mehr erlaubt. Derrida geht in seiner Analyse auf den Charakter von Ideen, Wünschen, Absichten, Obsessionen, Zielvorstellungen, Utopien ein, die, einmal formuliert, nicht mehr aus der Welt zu schaffen und auch nicht mehr zurückzunehmen sind. Sie führen ein geisterhaftes Dasein, begleiten und figurieren das Denken und geben dem gesellschaftlich Unbewussten deshalb eine mitunter quälende

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Gestalt gerade weil es regelmäßig von der Wirklichkeit durchkreuzt wird. Es geht nach Derrida bei der „Produktionsweise des Gespenstes“ um die Arbeit von Trauer und ihren Zusammenhang mit dem Trauma. „Die Trauer folgt immer einem Trauma. An anderer Stelle habe ich zu zeigen versucht, dass die Trauerarbeit keine Arbeit unter anderen ist. Sie ist die Arbeit selbst, die Arbeit im Allgemeinen, ein Zug anhand dessen man vielleicht den Begriff der Produktion neu überdenken sollte – in dem, was ihn ans Trauma, an die Trauer, an die idealisierende Iterabilität der Exappropriation bindet und damit an die gespenstig-spektrale Spiritualisierung, die in jeder techné am Werk ist.“ 32

Das „Gespenst des Kommunismus“, das im „Kommunistischen Manifest“ in Sichtweite gerät, hat bei Volker Braun, der Derridas Arbeit noch nicht kennen konnte, eine weitere Ausprägung bekommen. Er hat seine eigenen Gespenster, nicht wie man von dem ehemaligen Studenten der Philosophie erwarten kann, aus den Schriften des utopischen Sozialismus abgeleitet. Er hat sie vielmehr aus den Glutkernen des mythischen Beginns heraus destilliert. Wie schon oben bei Müller beobachtet, mehren sich am Beginn der 1990er Jahre die auch für Braun gespensterhaften Zustände. Eine von Müller häufig zitierte Sentenz aus Brechts „Fatzer“-Fragment unterstreicht den Befund: „Wie früher Geister kamen aus Vergangenheit/So jetzt aus Zukunft ebenso.“ 33 Der Fotoband Heiner Müllers: „Ein Gespenst verlässt Europa“ 34 ist der Demontage der Marx-Engels-Plastik am nunmehr auch geschleiften „Palast der Republik“ gewidmet. Es ist vielleicht kein Zufall, dass gerade dieses Motiv als Titelcover der Derrida-Schrift vom Fischer Verlag ausgewählt wurde. Die Geister scheinen sich hier von Marx kommend, über Brecht, Müller und Braun bei Derrida in die Hände zu spielen. Die eigene Arbeit mit dem Gespenstermaterial war den Dramatikern anscheinend schon lange bewusst. In Müllers Stück „Traktor“ von 1955/1961 und 1974 erscheint über die dürftige Fabel hinaus ein Text: „Das Bedürfnis nach einer Sprache, die niemand lesen kann, nimmt zu. Wer ist niemand. Eine Sprache ohne Wörter.“ 35 Eine solche Sprache kann freilich auch niemanden wirklich stören …

Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 157. Müller, Heiner: Was wird aus dem größeren Deutschland? Ein Gespräch mit Alexander Weigel für Sinn und Form 4/1991. In: Ders: Gesammelte Irrtümer Bd. 3. Frankfurt/M.: Verlag der Autoren 1994, S. 123 – 128, hier S. 128. 34 Vgl. Müller, Heiner: Ein Gespenst verlässt Europa. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1990. 35 Müller, Heiner: Traktor. In: Müller, Werke 4. 2001, S. 491. 32 33

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Das Kind (?) Oskar. Totale Verweigerung und anarchische Aufstörung in Günter Grass’ „Die Blechtrommel“

1. Ein schwer zu interpretierender Roman Günter Grass’ 1959 erschienener Roman „Die Blechtrommel“ hat in den über 50 Jahren, die seit seiner Entstehung vergangen sind, eine rege und höchst kontroverse Rezeption erfahren. 1 Interpretationen unterschiedlicher thematischer Schwerpunktsetzungen und methodischer Perspektivierungen haben versucht, das Werk in seiner Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit zu durchdringen, oder haben es – auf der Grundlage der Erfahrung einer unbefriedigenden oder gar zum Scheitern verurteilten Analyse – zu einem „prinzipiell interpretationsfeindlich[en] Text“ erklärt. 2 Was aber kennzeichnet einen Text als „interpretationsfeindlichen“ Roman? Schnell sehen wir uns hier auf ein – trotz postmoderner und post-postmoderner Lese- und Interpretationserfahrungen weiterhin bestehendes – hermeneutisches Grundbedürfnis verwiesen, dem Text, sei es in seinem Handlungsverlauf, seiner Aussage oder Symbolhaftigkeit, sowohl Logik, Schlüssigkeit als auch zumindest eine gewisse Sinnhaftigkeit in seiner Aussage zuzusprechen. Eben diesem Bedürfnis aber entzieht sich Grass’ Erstlingswerk aufgrund der Vielzahl der darin enthaltenen Widersprüche und Brüche, der Abwesenheit einer logisch realistischen Handlung sowie dem Mangel an Identifikationsmomenten und einer klar definierbaren Aussage. Mit der im Folgenden vorgenommenen Untersuchung des offensichtlich schwierigen Erstlingswerks von Günter Grass soll der Vielzahl der vorliegenden Interpretationen nicht einfach eine weitere Lesart hinzugefügt werden; es geht vielmehr darum, der Eine umfassende, wenn auch nicht vollständige, bibliographische Auflistung der Kritiken, Zeitungsartikel, Reden und Gespräche, Sammelbände und Einzeluntersuchungen zum Werk von Günter Grass findet sich bei Paaß, Michael: Kulturelles Gedächtnis als epische Reflexion. Zum Werk von Günter Grass. Bielefeld: Aisthesis 2009, S. 502 – 212. 2 Der Ausdruck stammt von Klaus Wagenbach, der mit dieser Bezeichnung vier Jahre nach dem Erscheinen von Grass’ Erstlingswerk eine erste Bilanz der bis dato vorliegenden Interpretations­ versuche vorgenommen hat. Wagenbach, Klaus: Günter Grass. In: Deutsche Literatur. 53 Porträts. Schriftsteller der Gegenwart. Hrsg. von Klaus Nonnenmann. Olten/Freiburg: Winter 1963, S. 118−126, hier S. 120/121. Bis heute nehmen Wissenschaftler auf diese Aussage bestätigend Bezug.

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Beobachtung sowie dem Verdikt der „Interpretationsfeindlichkeit“ dieses Werks auf den Grund zu gehen. Im Besonderen wird nachzuweisen sein, dass der Eindruck der Uneindeutigkeit bzw. Undeutbarkeit auf ein spezifisches Strukturprinzip des Romans zurückzuführen ist. Kurz auf den Nenner gebracht, stelle ich die These auf, dass Günter Grass’ Roman „Die Blechtrommel“ dann, und vielleicht nur dann, eine in sich schlüssige Interpretation zulässt, wenn man ihn – was in der Reihe der bislang vorliegenden Analysen noch nicht geschehen ist – als einen ‚Roman der Störung‘ zu akzeptieren gewillt ist. Damit soll „Die Blechtrommel“ als ein praktisches Beispiel der im vorliegenden Band diskutierten Störfunktion von Literatur vorgestellt werden, das sich deshalb besonders eignet und sich sogar als eine Art Prototyp erweisen könnte, weil der Roman erstens selbst in der Geschichte seiner Rezeption in höchstem Grad Störungen erzeugt hat und darüber hinaus Störung sowohl auf einer inhaltlichen als auch auf einer figurativen Ebene thematisiert. Zudem verfügt „Die Blechtrommel“ über spezifische narrative Strukturen und Techniken, die dazu beitragen, eine vom Autor im Prozess des Schreibens etablierte Theorie der Störfunktion von Literatur zur praktischen Anwendung zu bringen. Damit ist die Untersuchung nicht einem einschlägigen methodischen Ansatz verpflichtet, sondern setzt sich zum Ziel, in der Zusammenführung sowie Erweiterung vorhandener Forschungserkenntnisse das in der „Blechtrommel“ von Grass theoretisch entworfene und zugleich praktizierte literarische Verfahren – nämlich den Entwurf einer ‚Poetologie der Störung‘ – nachzuzeichnen und den Roman damit lesbar zu machen. 2. Eine Rezeptionsgeschichte der Aufstörung Auch wenn der „Blechtrommel“ von Seiten der literarischen Öffentlichkeit einige Anerkennung entgegen gebracht worden war, bildete Grass’ Debütroman als ein nach eigenen Aussagen des Autors bewusst konzipiertes „Schreiben gegen den Zeitgeist“ 3 von Anfang an und bereits vor seinem Erscheinen – nämlich bei der Verleihung des Preises der Gruppe 47 im Jahr 1958 – einen Stein des Anstoßes. Die öffentliche Haltung gegenüber dem Werk oszillierte dabei zwischen Beifall, Lob und Enthusiasmus einerseits sowie Skepsis, Ablehnung und Empörung andererseits und legte den – schon damals Text und Autor generalisierend in eins setzenden – schnellen Schluss nahe: Grass könne man nur mögen oder nicht mögen. Erst recht im Erscheinungsjahr 1959 wurde das Buch sowohl zur literarischen Sensation als auch zum Skandalroman erklärt und führte schließlich zum politischen Eklat, als der Bremer Senat dem Schriftsteller Günter Grass den von der Jury zugesprochenen Bremer Literaturpreis verweigerte. 4 Wer ein Jahr jünger ist, hat keine Ahnung. Ein ZEIT-Gespräch zwischen Martin Walser und Günter Grass. In: Die Zeit (14. 07.2007), S. 59. 4 Eine ausführliche Darstellung des Vorgangs gibt der Bremer „Weser-Kurier“ vom 30.12.1959, abgedr. in: Arnold, Heinz Ludwig/Görtz, Franz Josef (Hgg.): Günter Grass – Dokumente zur politischen Wirkung. Stuttgart u.a.: Edition Text + Kritik 1971, S. 267−273. 3

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Unschwer ist zu erkennen, dass sich die kontroverse Diskussion und Abwehrhaltung gegen den Roman insbesondere im ersten Jahrzehnt nach der Herausgabe aus der wahrgenommenen „fehlenden moralischen Grundhaltung“, „einer übertriebenen Drastik“ sowie der „Obszönität“ und „Geschmacklosigkeit der pornographischen Darstellung“ ebenso wie aus den vielen „blasphemischen Bemerkungen“ nährte, 5 an denen sich die zeitgenössische Leserschaft und eine Vielzahl von Kritikern störten und den Roman und seinen Autor deshalb mit heftigen verbalen Angriffen attackierten. Nur selten wurde dabei zwischen den moralischen und literarischen Qualitäten des Werks unterschieden. Der junge Autor jedoch fand mit seinem provokativen Roman in der Rolle des „Störenfried[s]“ und „Hai[s] im Sardinentümpel“, wie Hans Magnus Enzensberger in seiner Rezension von 1959 feststellte, 6 schnell seinen Platz in einer sich trauer- und gedächtnislos in Wiederaufbau und Wirtschaftswunder neu konstituierenden Nachkriegsgesellschaft und konnte den – vom Autor selbst so bezeichneten – Ehrgeiz, „den Kleinbürgern aller Länder verquer zu sein“ 7 in die Tat umsetzen. Interessant war dabei zu beobachten, dass sich das deutsche Publikum weitaus heftiger an „der Geschichte aus der tiefsten deutschen Provinz“ 8 rieb als die internationale Leserschaft, die dem Werk vor allem in seiner „Verbindung des schlechthin Phantastischen mit dem höchsten Realismus“ sowie als „gewagte[m] artistische[m] Spiel“, das sich darin übte, „Weltgeschichte als blutig-komische Farce“ 9 zu präsentieren, Weltrang zusprach. Während in den 1970er Jahren die durchaus umfangreiche Forschung zum Roman in Deutschland stark differierte und zu teilweise sehr konträren und in sich widersprüchlichen Deutungen oder abstrusen Sondermeinungen neigte, zeichnete sich ab den 1980er Jahren insofern eine Trendwende innerhalb der Forschung ab, als Texte und Monographien zu einzelnen Motivkomplexen des Werks entstanden, die vorangegangene Arbeiten kritisch miteinbezogen und diese entweder widerlegten oder mit denselben – wenigstens mit Blick auf einzelne Aspekte des Werkes – einen Konsens bilden konnten. 10 Zu den zitierten Stellungnahmen aus Rezensionen der 1960er Jahre siehe im Einzelnen die Wiederabdrucke in Neuhaus, Volker: Günter Grass. Die Blechtrommel. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam 2005, S. 96 – 158. 6 Enzensberger, Hans Magnus: Wilhelm Meister auf Blech getrommelt. Über Günter Grass. Süddeutscher Rundfunk Stuttgart (18.11.1959). Wiederabgdr. in: Günter Grass: Die Blechtrommel. München: dtv 2009, S. 805 – 812, hier S. 805. 7 Grass, Günter: Rückblick auf die Blechtrommel – oder Der Autor als fragwürdiger Zeuge. Ein Versuch in eigener Sache. In: ebd., S. 785 – 804, hier S. 785. 8 Neuhaus, Erläuterungen. 2005, S. 159. 9 Ebd., S. 161. 10 Vgl. Neuhaus, Volker: Günter Grass. 2. überarb. und erw. Aufl. Stuttgart/Weimar: Metzler 1992, S. VII. Zur Rezeptionsgeschichte der „Blechtrommel“ siehe auch Michaelis, Rolf: „Brauchen täten wir ihn schon, aber wollen tun wir ihn nicht. Günter Grass und die Aufnahme seiner Werke vor allem bei Kritikern der Bundesrepublik.“ In: Text + Kritik. Günter Grass. Heft 1. Sechste Auflage. Neufassung 1988, S. 120 – 127 sowie Zimmermann, Harro: Günter Grass unter den Deutschen. Chronik eines Verhältnisses. Göttingen: Steidl 2006, S. 71 – 84. 5

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Insbesondere als Beitrag zum Thema Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg hat „Die Blechtrommel“ schon lange ihren festen Platz im Kanon der Literaturgeschichte sowie der Schullektüre gefunden und bleibt doch bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts ein Störfaktor im Literaturbetrieb; dies nicht allein aufgrund von Tabuverletzungen und Widersprüchlichkeiten auf der Inhaltsebene, sondern insbesondere wegen seiner Widersprüche und gar Fehldeutungen evozierenden Wirkung innerhalb der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Werkes. Nury Kim hat darauf hingewiesen, dass „Die Blechtrommel“, als ein Buch, das größtes Aufsehen erregt hat, seinen Erfolg vor allem „dem mangelhaften Verständnis der Leser“ 11 verdankt. Tatsächlich hat sich damit Enzensbergers frühe Prophezeiung, dass es sich bei der „Blechtrommel“ um einen nicht klein zu kriegenden „Brocken“ handelt, „an dem Rezensenten und Philologen mindestens ein Jahrzehnt lang zu würgen haben“ 12 werden, nicht nur bewahrheitet, vielmehr hat die Geschichte der „Blechtrommel“Rezeption Enzensbergers Voraussage um vier weitere Jahrzehnte überboten. Dass es sich bei den widersprüchlichen Äußerungen über das Werk nicht nur um kontroverse Auffassungen unter den Rezensenten, Kritikern und Literaturwissenschaftlern handelt, sondern sich die Auffassung eines einzelnen Rezipienten bei mehrfacher Lektüre ändern bzw. revidieren kann, dafür hat Marcel Reich-Ranicki mit seinem radikalen Verriss des Grass’schen Debüts im Jahr 1960 13 und der drei Jahre später im Westdeutschen Rundfunk formulierten Relativierung desselben ein Beispiel gegeben. 14 Die Frage, was es denn eigentlich ist, das uns als Leser an diesem Roman stört und was uns in der Beurteilung desselben eine ambivalente oder unschlüssige Position beziehen lässt, ist nach wie vor aktuell und soll im Folgenden weiter untersucht werden. Allerdings wird sich die Analyse der dem Roman eigenen Störfaktoren im vorgegebenen Rahmen auf die wesentlichsten Aspekte beschränken müssen. 3. Figurationen der Störungen auf der Handlungsebene

Festzuhalten ist zunächst, dass die Handlung des Romans mit der zeitlichen Einbettung in die Epoche des Nationalsozialismus sowie dessen Vor- und Nachgeschichte eine Zeitspanne umfasst, die historisch gesehen durch größte Irritationen, Brüche, Verluste und Zerstörungen sowie größtmögliche Unmenschlichkeit gekennzeichnet ist: die Jahre 1899−1954. 15 Zugleich ist die Handlung mit Grass’ Heimatstadt Danzig an einen Ort Kim, Nury: Allegorie und Authentizität. Zwei ästhetische Modelle der Aufarbeitung der Vergangenheit: Günter Grass’ Die Blechtrommel und Christa Wolfs Kindheitsmuster. Frank­ furt/M. u. a.: Peter Lang 1995, S. 69. 12 Enzensberger, Blech. 2009, S. 805. 13 Vgl. Reich-Ranicki, Marcel: Auf gut Glück getrommelt. In: Die Zeit (01.01.1960). Wiederabgedr. in: Ders.: Günter Grass. Aufsätze. Zürich: Ammann 1992, S. 13 – 18. 14 Vgl. Reich-Ranicki, Marcel: Selbstkritik eines Kritikers. Westdeutscher Rundfunk Köln (22.05.1963). Wiederabgedr. in: ebd., S. 21 – 28. 15 Zum Aspekt der erzählerischen Ausgestaltung des in der Blechtrommel markierten historischen Zeitraums und insbesondere der Funktion der Parallelisierung der politischen Ereignisse 11

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verlegt, an dem diese Brüche und Zerstörungen umso eklatanter sichtbar geworden sind, als es sich um einen Ort handelt, der in seiner damaligen Existenz und Sonderstellung als Grenzraum, Freistaat, multikulturelle Oase und politische Heterotopie mit den Geschehnissen des Zweiten Weltkriegs ausgelöscht wurde und nicht allein für die Romanfiguren und den Autor, sondern für viele andere auch zu einer für immer verlorenen Heimat geworden ist. 16 Tatsächlich ist es aber nicht das zeitliche und räumliche Setting, das die eigentliche Irritation des Lesers durch den Roman auslöst. Im Gegenteil: Danzig wurde in der Forschung sowie von Grass selbst in den „Hundejahren“ als repräsentativer Ort des Weltgeschehens bezeichnet. 17 Es ist vielmehr das Nichteinlösen der an ihn gestellten Erwartung, eben diese Umbrüche, Verluste, Zerstörungen und Untaten, die der Nationalsozialismus und als Folge davon der Zweite Weltkrieg verursachten, auch darzustellen. Anstelle dessen führt Grass mit der Reduzierung der realgeschichtlichen Ereignisse auf individuelle und fingierte Erlebnisse die Nazizeit in diejenige Alltäglichkeit zurück, aus der sie entstanden ist. Grass selbst hat dies als einen Versuch gekennzeichnet, nicht die historischen Ereignisse, sondern vielmehr die irrationalen Erklärungen ihrer Ursachen und Zusammenhänge zu „entdämonisieren“ 18 . Verstörend an diesem Roman ist also, dass er sich auf das Kleine, Private, Individuelle und, wie in der Forschung immer wieder betont wurde, Kleinbürgerliche beschränkt 19, anstatt die Schrecken erregenden Großereignisse der Zeitgeschichte zu fokussieren. Mehr­ noch: Der Roman konkretisiert und verengt die gesellschaftspolitische Wirkungsgeschichte des Nationalsozialismus auf die erdichtete Individualgeschichte sowie den scheinbar begrenzten Wahrnehmungshorizont eines Kindes bzw. des „ewig Dreijährigen“. Minimalisierung und Reduktion sind sowohl auf der Handlungs- als auch auf der Figurenebene zum Konzept erhoben, indem die wenig spektakuläre, wenn auch höchst sonderbare Lebensgeschichte des Zwergs Oskar Matzerath erzählt wird, bzw. indem der Protagonist diesselbe im Prozess der Niederschrift seiner Erinnerungen wiedergibt. mit der privaten Geschichte siehe Moser, Sabine: Günter Grass. Romane und Erzählungen. Berlin: Erich Schmidt 2000, S. 43 – 46. 16 Auf die erzählerische Bedeutung des literarischen Raums Danzig als „Kristallisationsraum deutscher Geschichte im osteuropäischen Kontext“ geht Edgar Platen einleitend zu seiner Untersuchung einer literarischen Ästhetik und Ethik bei Günter Grass ein. Platen, Edgar: Perspektiven literarischer Ethik. Erinnern und Erfinden in der Literatur der Bundesrepublik. Tübingen/Basel: Francke 2001, S. 212 – 215. 17 Vgl. ebd., S. 214 u. 226 sowie Grass, Günter: Hundejahre. In: Ders.: Werkausgabe in zehn Bänden Bd. 3. Hrsg. von Volker Neuhaus. Darmstadt: Luchterhand 1987, S. 141 – 835, hier S. 519. 18 Rudolph, Ekkehart (Hg.): Protokoll zur Person. Autoren über sich und ihr Werk. München: List 1971, S. 67. 19 Eine spezifische Untersuchung des kleinbürgerlichen Milieus und seiner Bedeutung im Werk von Günter Grass findet sich bei Jendrowiak, Silke: Günter Grass und die ‚Hybris‘ des Kleinbürgertums. Die „Blechtrommel“. Bruch mit der Tradition einer irrationalistischen Kunst- und Wirklichkeitsinterpretation. Heidelberg: Winter 1979.

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Trotz der repräsentativen Darstellung von Alltäglichkeit und der Banalität des kleinbürgerlichen Lebens ist Oskars fiktive Autobiographie von Anfang an – und schon im Rückgriff auf die Geschichte seiner Großeltern sowie die unglaubwürdig anmutende Entstehungsgeschichte seiner Mutter, Agnes Bronski, auf dem Kartoffelacker – als eine Geschichte der außergewöhnlichen Vorfälle und irritierenden Ereignisse, als Geschichte der Anomalie und Störung gekennzeichnet. Deutlich markiert ist dies vorab mit der Verortung der Rahmengeschichte in einer psychiatrischen Einrichtung. Der Eingangssatz des Romans: „Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt“ 20 , kann hierfür als Schlüsselsatz gelten. Das Eingeständnis des Ich-Erzählers, der zugleich handelnde Person ist, signalisiert, dass es sich um eine von juristischer Instanz für unzurechnungsfähig erklärte, psychisch kranke Person handelt, deren im Folgenden zur Niederschrift gebrachten Ausführungen nur bedingt Glauben geschenkt werden kann. Wir wissen als Leser also von vornherein, wo Oskar Matzeraths Geschichte in der Gegenwart endet, nämlich in der psychiatrischen Anstalt, und sind somit dazu angehalten, die geschilderte Lebens- und Entwicklungsgeschichte des kleinwüchsigen Kindes und Jugendlichen konsequent als eine Entwicklungsgeschichte der Störung und, wie es im Text heißt, als „Krankheitsgeschichte“ 21 zu lesen. Dies wird durch die Handlung des Romans insofern unterstützt, als Oskar zum einen in die nach traditionellem Verständnis unklare Familienkonstellation eines Dreiecksverhältnisses hineingeboren wird, die für Oskar zum permanenten Unsicherheitsfaktor hinsichtlich seiner Herkunft und Identität wird: Er weiß nicht, welcher der beiden Partner seiner Mutter – der Ehemann oder der geliebte Cousin – sein Vater ist. Zum anderen widerfährt dem Kind Oskar und später dem Jugendlichen und Erwachsenen eine Vielzahl traumatisierender Ereignisse. Zu nennen sind hier der Tod der Mutter als Oskar zwölf Jahre alt ist, die Ermordung seiner beiden Väter während des Kampfs um die Stadt Danzig sowie der Selbstmord des Oskar regelmäßig mit neuen Trommeln beliefernden jüdischen Spielwarenhändlers Markus während der Reichskristallnacht. Weitere Ereignisse, wie der skurrile Tod seines Verwandten und Freundes Herbert und schließlich der tragische Verlust seiner engsten Vertrauten und Freundin Roswitha Raguna durch eine Granate kommen hinzu. Zu erwähnen sind des Weiteren der Selbstmord des Gemüsehändlers und Homosexuellen Greff, das als Kindesmissbrauch zu deutende Verhältnis zwischen dessen Frau Lina Greff und Oskar, die ständige drohende „Euthanasie“ durch die Nazis sowie schließlich die Vertreibung und Flucht in den Westen. 22 Dass all diese Erlebnisse den Protagonisten Oskar in seiner Entwicklung geprägt haben, ist stark anzunehmen, ein Verweis darauf ist in der strikt anti-psychologisierenden Erzählweise des Romans jedoch

Grass, Günter: Die Blechtrommel. München: dtv 2009, S. 9. Ebd., S. 539, 546. 22 Eine synoptische Auflistung markanter Ereignisse sowie der Schicksalsschläge, die Oskar treffen, in Verbindung mit den Daten und Schauplätzen, an denen sich diese ereignen, bieten Jahnke, Walter/Lindemann, Klaus: Günter Grass: Die Blechtrommel. Acht Kapitel zur Erschließung des Romans. Paderborn: Schöningh 1993, S. 97 – 106. 20 21

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konsequent ausgespart. In seinem Mitgefühl für den „Kleinen“ stark ausgebremst sieht sich der Leser zudem durch die gefühlslose Kälte, mit der Oskar all diese Vorfälle schildert. Besonders irritierend ist die Schilderung des initialen und handlungskonstituierenden Sturzes von der Kellertreppe, die vom erwachsenen Oskar als wohlüberlegte Handlung des Dreijährigen dargestellt wird, mit der sich dieser dazu entschließt, einen radikalen Entwicklungsstopp herbeizuführen, um sich der als unzulänglich, kindisch und unreif erfahrenen Erwachsenenwelt dauerhaft zu entziehen. Tatsache ist, dass Oskars Entwicklung durch die körperliche Behinderung insofern einen abnormen Verlauf nimmt, als er aufgrund seiner Kleinwüchsigkeit zum Außenseiter und Opfer Gleichaltriger wird, auf Schulbildung verzichtet, sich stattdessen kriminellen Machenschaften hingibt und sich vorübergehend zum Anführer einer anarchistischen Jugendbande erhebt. Als er sich später von dem Liliputaner und Theaterdirektor Bebra zu einer Karriere beim Fronttheater anheuern lässt und mit anderen Kleinwüchsigen während des Kriegs im Dienst der Nazis als Künstler durch Europa reist, hat Oskar das bei seiner Geburt formulierte Lebensziel seines Vaters, er solle im Erwachsenenalter dessen Kolonialwarengeschäft übernehmen, endgültig desavouiert. Immer wieder wurde „Die Blechtrommel“ in der Forschung als Parodie des Bildungsoder Künstlerromans gelesen. 23 Ohne die Diskussion im Einzelnen an dieser Stelle neu aufzunehmen, ist in der Tat festzuhalten, dass der Roman geradezu den Prototyp eines Anti-Entwicklungsromans darstellt. Nury Kim hat in seiner ausführlichen Abhandlung über die „Blechtrommel“ Oskar Matzeraths „Wachstumsgeschichte“, die in Wahrheit eine Nicht-Wachstumsgeschichte ist und bei einer Größe des Protagonisten von 1,23 m endet, als eine von Grass kunstvoll in Szene gesetzte generalisierende Allegorie und Kritik an der Verantwortungslosigkeit und Unreife der Deutschen während der Nazizeit sowie der Nicht-Entwicklungsfähigkeit und Unbelehrbarkeit der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft gedeutet. 24 Allerdings vermag eine solche Interpretation nur unzureichend die Wohl die früheste Bezugnahme auf den Bildungsroman findet sich titelgebend mit dem Verweis auf Wilhelm Meister bei Enzensberger, Blech. 2009, S. 812. Bildungsromanspezifische Charakteristika und Anspielungen der „Blechtrommel“ diskutieren Just, Georg: Darstellung und Appell in der „Blechtrommel“ von Günter Grass. Darstellungsästhetik versus Wirkungsästhetik. Frankfurt/M.: Athenäum 1972, S. 65/66; Mannack, Eberhard: Die Auseinanderset­zung mit literarischen Mustern. Günter Grass: „Die Blechtrommel“. In: Zwei deutsche Litera­turen. Zu Günter Grass, Uwe Johnson, Herman Kant, Ulrich Plenzdorf, Christa Wolf. Mit einer Bibliographie der schönen Literatur in der DDR (1968 – 1974). Hrsg. von Eberhard Mannack. Kronberg: Athenäum 1977, S. 66 – 83, hier S. 69 – 71; Krumme, Detlef: Lesemodelle. Elias Canetti. Günter Graß [sic]. Walter Höllerer. München/Wien: Hanser 1983, S. 103 – 111; sowie Bernhardt, Rüdiger: Erläuterungen zu Günter Grass. Die Blechtrommel. Hollfeld: Bange 2008, S. 31/32. Parodistische Anspielungen sowie eine kritische Bezugnahme des Romans als Gegenposition zum Genre des Bildungsromans sowie eines bürgerlich-idealistischen Kulturerbes untersuchen Jendrowiak, Hybris. 1979, S. 222 – 241 sowie Kim, Allegorie. 1995, S. 42 – 56. Neuhaus, Günter Grass. 1992, S. 28 – 36 diskutiert darüber hinaus Aspekte des Künstlerromans in der „Blechtrommel“. 24 Kim, Allegorie. 1995, S. 83 – 87. 23

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Tatsache zu erklären, dass die verhinderte Entwicklung des Protagonisten eine von ihm selbst verursachte und vorsätzliche ist. Tatsächlich ist Oskar Matzerath nicht Repräsentant einer nicht stattfindenden Entwicklung im Sinne einer eklatanten Unreife und Unzurechnungsfähigkeit, sondern er erweist sich vielmehr als unberechenbar, indem er seine Nicht-Entwicklung dazu nutzt, selbst zum massiven Störelement der dargestellten Gesellschaft zu werden. Was psychologisch als schlüssige Konsequenz – Störerfahrung evoziert Aktionen der Störung – und somit als sowohl körperliche als auch psychische Reaktion und Fehlentwicklung gedeutet werden könnte, die auf eine mehrfache Störungserfahrung zurückzuführen ist, wird im Roman ganz anders dargestellt: die von Oskar erlebten Störfälle – und wie anzunehmen wäre: Traumatisierungen, die aber eben nicht als solche geschildert werden –, sind laut Aussage des Ich-Erzählers letztendlich alle von Oskar selbst initiierte oder zumindest von ihm mitzuverantwortende Ereignisse. Es handelt sich bei Oskars Nicht-Entwicklung, seiner Wachstumsverweigerung und seinen zerstörerischen Taten also nicht um eine Kette von Kausalzusammenhängen, deren Ursache-WirkungVerhältnis für den Leser durch psychologisierende Innenschau ersichtlich und nachvollziehbar gemacht wäre, sondern es handelt sich um bewusste, angeblich bereits vom dreijährigen Kind wohlüberlegte Akte der Provokation und Destruktion zum Zwecke der vorsätzlichen Aufstörung des familiären und gesellschaftlichen Umfelds. Den Protagonisten Oskar aufgrund seiner abwehrenden und zerstörerischen Grundhaltung deshalb als Repräsentanten einer nihilistischen Lebenseinstellung oder – etwa in allegorischer Gleichsetzung mit Hitler – als Inkarnation des Bösen oder Satanischen zu betrachten, wie es in der Forschung geschehen ist 25 und es dem Leser vom Romanhelden selbst nahe gelegt wird 26 , ist jedoch ebenfalls nicht schlüssig, weil wir als Leser nicht wissen, ob der Erzähler Oskar die Wahrheit über den Protagonisten Oskar sagt, sondern wir vielmehr ausdrücklich dazu angehalten sind, dies grundlegend zu bezweifeln. Die fehlende psychologische Transparentmachung der Handlungsmotivationen ebenso wie die im Roman nicht vollzogene Differenzierung zwischen erzählter und erzählender Figur legen es deshalb nahe, den Protagonisten Oskar weniger als ein sich im Laufe des Romans entwickelndes bzw. in seiner Entwicklung verhindertes Individuum, als vielmehr eine von Grass gezielt eingesetzte Figuration der Störung zu deuten. Ein Blick auf den Romanhelden sowie auf die Erzählerfigur soll dies näher erläutern.

Zur Nihilismuskritik siehe Arnold, Heinz Ludwig: Blech getrommelt. Günter Grass in der Kritik. Göttingen: Steidl 1997, S. 18 sowie Neuhaus, Günter Grass. 1992, S. 47/48, der betont, dass die einzige Utopie in Oskars Leben die Selbstauflösung und Annullierung ist, der Wunsch, nie geboren zu sein. Rock und Grab stehen in diesem Zusammenhang laut Neuhaus als Todesmetaphern. Zu Oskar als Inkarnation des Bösen vgl. Brode, Hanspeter: Die Zeitgeschichte im erzählerischen Werk von Günter Grass. Versuch einer Deutung der „Blechtrommel“ und der „Danziger Trilogie“. Frankfurt/M./Las Vegas: Peter Lang 1977, S. 81; Krumme, Lesemodelle. 1983, S. 99/100; sowie Zimmermann, Günter Grass. 2006, S. 73. 26 Der Text weist zahlreiche Inbezugsetzungen Oskars mit dem Satanischen und Bösen auf: Vgl. Grass, Blechtrommel. 2009, S. 165, 221, 222, 368, 678, 679, 680, 681, 748. 25

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4. Das Kind Oskar als Figuration der Störung Die Bewertung von Günter Grass’ Roman „Die Blechtrommel“ als schwer deutbarer oder „interpretationsfeindlicher“ Roman hängt eng mit der Schwierigkeit der Interpretation der Hauptfigur zusammen. Von traditionellen Romanhelden unterscheidet sich Oskar dadurch, dass er in keiner Weise ein positiver Held und eine Identifikation mit ihm schier unmöglich ist. Wo dies im dritten Buch vorübergehend als Möglichkeit aufscheint und wir Mitleid mit dem erwachsenen Oskar Matzerath haben, weil er Schwäche zeigt und uns dadurch menschlicher erscheint, erfahren wir dies wiederum als einen „die Wirkung [des Romans] störende[n] Konzeptionsbruch“. 27 Zunächst ist der kleine Oskar mit der rot-weißen Blechtrommel eine irritierende Gestalt im Roman, weil er schon als Kind – das traditionell als Inbegriff des Unschuldigen gilt – alles andere als unschuldig ist und sich als Störenfried, Rebell und Widersacher entpuppt, der sich vielerlei Vergehen, darunter der mutwilligen Zerstörung, des Verrats sowie des fünffachen „Mordes“ schuldig macht – wobei wirkliches Vergehen und fingierte Schuld fließend ineinander überzugehen scheinen und für den Leser im Roman nicht klar ersichtlich ist, an welchen der Vergehen Oskar tatsächlich die Schuld trägt, ob diese symbolisch zu verstehen ist oder Oskar sich deshalb selbst für schuldig erklärt, um entweder seine Allmacht unter Beweis zu stellen oder, wie im so genannten „Ringfingerprozess“, der den Mord an der Krankenschwester Dorothea Köngetter aufklären soll, um sich der Gesellschaft endgültig zu entziehen und Zuflucht in der psychiatrischen Heilanstalt zu finden. 28 Die totale Verweigerung Oskars, sich als Kind in die Familie und später als ein NichtHeranwachsender in die Gesellschaft zu integrieren, wird durch die Absolutsetzung des Infantilen erreicht, die den Leser gleichermaßen irritiert wie die spätere Darstellung der dem infantilen Jugendlichen nicht zugetrauten Sexualität, die sich nicht nur in der Phantasie des Jungen abspielt, sondern sich in skurrilen bis abstoßenden Praktiken präsentiert. Insbesondere die Allmachtsphantasien des Adoleszenten, die sich in der wechselweisen Identifikation mit Rasputin (als Repräsentant der Sphäre des Biotischen und Sexuellen), mit Goethe (als Repräsentant von Vernunft und Bildung) und mit Jesus (als Heilsbringer der Menschheit) äußern, führen dazu, dass der Leser der Hauptfigur des Romans nicht nur mit Skepsis und Abneigung begegnet, sondern sich am Ende verleitet sieht zu glauben, dass der erwachsene Oskar tatsächlich nicht nur aufgrund eines Fehlurteils in einer Irren Just, Darstellung. 1972, S. 88. In seiner wortspielerischen Uneindeutigkeit aufschlussreich ist mit Blick auf die Frage nach Oskars Schuld die folgende Passage am Ende des Romans, in der „der wichtigste Zeuge im Ringfingerprozess“, Gottfried von Vittlar, und Oskar Matzerath in der so genannten „Anbetung eines Weckglases“ Oskars Anklage durch ein in Szene gesetztes Verhör vorbereiten: „Schuldig bei Nachfrage. Unschuldig ohne Nachfrage. Schuldig weil, kam zu Fall weil, wurde schuldig trotz, sprach mich frei von, wälzte ab auf, biß mich durch durch, hielt mich frei von, lachte aus an über, weinte um vor ohne, lästerte sprechend, verschwieg lästernd, spreche nicht, schweige nicht, bete“ (Grass, Blechtrommel. 2009, S. 752). Die von ihm selbst veranlasste Anklage Oskars im Mordprozess wird von Vittlar als „erfundenes Spiel“ bezeichnet (ebd., S. 748).

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anstalt einsitzt, sondern wirklich geisteskrank ist. Gestützt wird diese Annahme durch romanimmanente Anspielungen wie etwa den Bemerkungen der Hausmitbewohner, die der Meinung sind, dass „das Oksarchen nicht ganz klar im Kopf ist und eigentlich nach Silberhammer gehört oder nach Tapiau in die Anstalt“ 29 ebenso wie durch Marias Beschimpfung ihres Stiefkindes Oskar, das sich als biologischen Vater ihres Sohnes wähnt, als „übergeschnappten Gnom, den man in die Klappsmühle stecken müsse“ 30 . Auffallend ist, das Oskars Verhalten von Kindesbeinen bis in die isolierte Bettlägerigkeit im Zimmer der Heilanstalt durchgehend als ein Akt der Provokation, des radikalen Protests und einer zuweilen bis zur Todessehnsucht reichenden absoluten Verweigerung der „Teilhabe an der Welt“ 31 gekennzeichnet ist. Besonders deutlich zeigt sich dies an den beiden für Oskar charakteristischen Verhaltensweisen: dem Trommeln sowie dem Glaszerschreien, die für Oskar nicht nur identitätskonstituierend und existentiell sind, sondern die er im Laufe seines Lebens bis zur Kunstfertigkeit ausbildet. Beides sind Instrumente der Destruktion, mit denen Oskar nicht nur seinen Willen durchsetzt und Macht auf seine Umwelt ausübt, sondern bestehende Ordnungssysteme – von der Familie, Schule, über die Langfuhrer Gesellschaft bis hin zum sich formierenden Nationalsozialismus und schließlich der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft der 1950er Jahre – zu untergraben und in Chaos zu versetzen vermag, indem er ihre das Individuum entmündigende und massenhypnotisierende Wirkungsweise durchschaut und sich dieselbe zu Nutze macht. Besonders anschaulich dargestellt ist dies im ersten Buch des Romans in der Szene des anfangs taktstörenden und schließlich umstürzlerischen Trommelns unter der Tribüne, auf der die Nationalsozialisten ihren Aufmarsch inszenieren, sowie im dritten Buch mit dem die tränenlose Nachkriegsgesellschaft in kindliches Heulen versetzenden Getrommel Oskars im Zwiebelkeller. Die Tatsache, dass Oskars Lebensinhalt und der eigentliche Sinn seiner Existenz allein in einer bis zur radikalen Verweigerung und vorsätzlichen Destruktion reichenden Aufstörung bestehen, 32 lässt den Protagonisten nebst seiner an den Tag gelegten Emotionslosigkeit vor allem dann als Unmenschen und Monster erscheinen, wenn man Oskar Matzerath als eine dem Realen nachgebildete fiktive Figur betrachtet. 33 Der Roman verweist jedoch wiederholt auf eine andere Deutungsmöglichkeit: Nicht zufällig konfrontiert der Ich-Erzähler Oskar den Leser im zweiten Buch mit der aufstörenden Frage, ob er bereit sei, in ihm „einen Menschen zu sehen“ 34 und spricht am Ende des Romans selbst von seiner „fragwürdige[n] Existenz“ 35 . Diese Formulierungen machen Ebd., S. 373. Ebd., S. 378. 31 Neuhaus, Günter Grass. 1992, S. 29. An zwei Stellen im Buch äußert Oskar konkret den Gedanken an Selbstmord: Grass, Blechtrommel. 2009, S. 392, 416. 32 Vgl. Grass, Blechtrommel. 2009, S. 108: „Mein Werk war also ein zerstörerisches. Und was ich mit dem Trommeln nicht klein bekam, tötete ich mit meiner Stimme.“ 33 Neuhaus, Günter Grass. 1992, S. 56 spricht von Oskar als einem „der menschlichsten Charak­ tere in der „Blechtrommel““. 34 Grass, Blechtrommel. 2009, S. 335 35 Ebd., S. 776. 29

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hellhörig und müssen als gezielte Aufforderung des Autors an den Leser verstanden werden, Oskars provozierende Wirkung wörtlich zu nehmen, und die Figur Oskar sowohl als Romanhelden als auch als Erzähler kritisch zu hinterfragen. Einen Schritt in die richtige Richtung ist bereits Hans Mayer gegangen, indem er Oskar als eine „Kunstfigur in einem durchaus neuen und folgenreichen Sinn“ 36 bezeichnet hat. Und auch Rolf Geißler konstatierte: „Oskar ist kein ideologischer, sondern ein erzähltechnischer Antipode zum Nationalsozialismus.“ 37 Tatsächlich eröffnet sich eine erweiterte Dimension des Romans, wenn man die Figur Oskar nicht als Individuum, sondern als Verkörperung, Gestaltwerdung und als das In-Aktion-Treten eines spezifischen Erzählprinzips versteht: nämlich dem der konsequenten Aufstörung und Dekonstruktion von Sinnhaftigkeit. 5. Irritierende und aufstörende narrative Strategien Eine solche Aufstörung erzeugt „Die Blechtrommel“ mit Blick auf die Hauptfigur sowie auf die Konzeption des Romans als ganzem durch seine außergewöhnliche Erzählperspektive. Wie bereits erwähnt, nimmt der Roman trotz seiner Konzeption als fiktionale Autobiographie keine als solche markierte Trennung zwischen Erzähler und erzählter Figur, zwischen Erzählperspektive und Erlebnisperspektive vor. Unabhängig davon, ob Oskar die Ereignisse der Binnengeschichte – die Zeit vor seiner Geburt bis zu seiner Flucht und Gefangennahme in Paris im Jahr 1954 – erzählt, oder ob er auf die aktuelle Situation der Rahmenhandlung in der psychiatrischen Anstalt Bezug nimmt: Er erzählt stets aus der Perspektive eines quasi auktorialen Ich-Erzählers, der sich selbst Subjekt und Objekt zugleich ist. Deutlich wird dies in der zwischen erster und dritter Person alternierenden Bezugnahme auf sich selbst, die sich durch den gesamten Roman hindurchzieht. 38 Tatsächlich ist die spezifische Wahrnehmung des Kindes damit aber nicht ausgespart, sondern die Perspektiven des erlebenden Kindes und Jugendlichen sowie des erzählenden Erwachsenen erweisen sich als deckungsgleich – und zwar deshalb, weil Oskar nach eigener Aussage bereits zum Zeitpunkt seiner Geburt den Entwicklungsstand eines Erwachsenen erreicht hat und deshalb keine Entwicklung mehr durchlaufen muss: „Damit es sogleich gesagt sei: Ich gehöre zu den hellhörigen Säuglingen, deren geistige Entwicklung schon bei der Geburt abgeschlossen ist und sich fortan nur noch bestä Mayer, Hans: Felix Krull und Oskar Matzerath. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1969, S. 52. Geißler, Rolf: Der moderne Roman im Unterricht – Zum Beispiel Die Blechtrommel von Günter Grass. In: Zeigen und Erkennen. Aufsätze zur Literatur von Goethe bis Jonke. Hrsg. von Rolf Geißler. München: dtv 1979, S. 115 – 129, hier S. 121. 38 Zur Funktion der Erzählerfigur sowie dem Wechsel zwischen erster und dritter Person siehe die Ausführungen von Arnold, Heinz Ludwig: Der allmächtige Erzähler. In: Text + Kritik. 1988, S. 73 – 75; Arker, Dieter: Nichts ist vorbei, alles kommt wieder. Untersuchungen zu Günter Grass’ „Blechtrommel“. Heidelberg: Winter 1989, S. 78 – 91 u. S. 101 – 120; Jahnke/ Lindemann, Erschließung. 1993, S. 9 – 17; sowie Neuhaus, Günter Grass. 1992, S. 24/25. 36 37

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tigen muss.“ 39 Diese Allwissenheit, der entgegen der in der Forschung häufig vertretenen Meinung kein phantastisches Element inhärent ist, 40 sondern die vielmehr eine erzählperspektivische Besonderheit darstellt, versetzt sowohl das Kind als auch den Erwachsenen Oskar in die Lage, aus einer gesellschaftlich marginalisierten Position heraus – sei es als Kind vom Gitterbett, unter der Tischdecke hervor oder durch den Spalt der Schranktür hindurch sowie im Erwachsenenalter als Blick vom weißen Bett durch das Guckloch des Anstaltszimmers – als Belauscher, Beobachter und Aufstörer aufzutreten. Kontrastiert ist die allwissende Position des Protagonisten und Erzählers jedoch zugleich durch die nicht alters- und entwicklungsbedingte, sondern vielmehr auf die geringe Körpergröße des Protagonisten zurückzuführende permanente Perspektive des „Kleinseins“, die – wie Edgar Platen betont hat 41 – ebenfalls erzähltechnisch zu verstehen ist. Es ist der Blick von hinten und unten, der Blick „hinter die Kulissen, Fassaden und Masken“ 42 , mit dem Oskar nicht nur bei seinem Trommelmanöver unter der Tribüne während des Aufmarschs der Nationalsozialisten, sondern durch den ganzen Roman hindurch als (un-) heimlicher Beobachter und Zeuge der Zeitgeschichte erscheint, den man wegen seiner Größe gerne übersieht und wegen seines augenscheinlich geringen Alters nicht ernst nimmt. Allerdings erweist sich auch in der Narration das ‚Prinzip Störung‘ als strukturbildend: Oskar kann man nicht trauen. Die zu Beginn des Romans betonte Unzuverlässigkeit des Erzählers ist in der „Blechtrommel“ Prinzip. Dabei besteht die Unzuverlässigkeit jedoch nicht, wie in anderen – insbesondere postmodernen – Romanen, in einem lückenoder fehlerhaften Erzählen oder in einer die zeitliche sowie örtliche Logik durchbrechenden Unstimmigkeit, sondern in der Verweigerung von Eindeutigkeit und Stellungnahme. Dies gilt sowohl auf der Erzählebene als auch auf der Ebene der Motivik und Symbolik. So fungieren die Ambivalenz und Doppelbezüglichkeit der im Roman verwendeten Motivik als bewusst eingesetzte Störmomente. Besonders deutlich wird dies an der Mehrfachbesetzung der bereits erwähnten Motive des Trommelns und des Glaszersingens, die einzig mit Blick auf ihre dekonstruktive Wirkung eine koheränte Deutung zulassen. In seiner Viel- oder Uneindeutigkeit ebenfalls schwer zu fassen ist das Motiv der Schwarzen Köchin: Es scheint Oskar Matzeraths allgegenwärtige, jedoch nicht näher begründete Angst ebenso wie sein uneingestandenes Schuldgefühl zu repräsentieren, kann aber auch als ein konstruierter Fluchtantrieb oder eine diffuse Entscheidungsinstanz gelesen werden, die seinen Handlungen zugrunde liegt. Am ehesten erhält das Motiv eine schlüssige Bedeutungszuschreibung in Oskars eigener Interpretation als Gegenfigur zu der Geborgenheit verkörpernden Großmutter. 43 In der Symbolik des gleichnamigen Kinderspiels thematisiert das Motiv sowohl die Angst vor dem eigenen Ausgegrenztsein als auch den Grass, Blechtrommel. 2009, S. 52. Verweise auf phantastische Elemente in der „Blechtrommel“ finden sich u. a. bei Enzensberger, Blech. 2009, S. 808; Brode, Zeitgeschichte. 1977, S. 68; Arnold, Blech. 1997, S. 14/15; sowie Neuhaus, Erläuterungen. 2005, S. 161. 41 Platen, Perspektiven. 2001, S. 226/227. 42 Neuhaus, Günter Grass. 1992, S. 31. 43 Vgl. Grass, Blechtrommel. 2009, S. 776. 39

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menschlichen Drang, sich an massenpsychologisch motivierten Ausgrenzungshandlungen zu beteiligen. Darüber hinaus kann das Motiv der schwarzen Köchin als einer durchweg gestaltlosen Figur als Sinnbild des blinden Motivs schlechthin verstanden werden. 4 4 Ähnlich wie in postmodernen Romanen werden in der „Blechtrommel“ narrative Strukturen der Desorientierung und Verunsicherung dazu verwendet, die Aufmerksamkeit des Lesers zu schärfen. Anders jedoch als in postmodernen Romanen geschieht dies nicht als Reflex auf eine als unzuverlässig, fragmentarisch und nicht deutbar wahrgenommene Welt. 45 Vielmehr werden die Technik eines unzuverlässigen, uneindeutigen und eines durch weitere Erzählerinstanzen, (wie die des Pflegers Bruno Münsterberg oder die des Kronzeugen Gottfried Vittlar) zusätzlich gebrochenen Erzählens ebenso wie die programmatisch vollzogene Absage an die Erwartung des Lesers an eine a priori gegebene Sinnhaftigkeit des Textes als narrative Strategien eingesetzt, um den Leser dahingehend aufzustören, dass er die gängige Interpretation der historischen Ereignisse als schicksalhaft gegebene Wirklichkeit in ihrer Konstruiertheit durchschaut und auf ihre Gültigkeit hin überprüft. 46 Zurecht stellen Walter Jahnke und Klaus Lindemann fest: Die „kaleidosko Ursprünglich stammt die Bezeichnung „Schwarze Köchin“ sowie die sich im Roman wiederholende und zum Ende hin verstärkt auftretende Phrase „Ist die Schwarze Köchin da? Ja-ja-ja!“, aus einem alten Kinderlied, das aus zwei Strophen besteht und folgenden Wortlaut hat: „Ist die Schwarze Köchin da? Nein, nein, nein! Dreimal muß ich ’rum marschieren, ’s vierte Mal den Topf verlieren, ’s fünfte Mal komm mit./Ist die Schwarze Köchin da? Ja, ja, ja! Da steht sie ja, da steht sie ja, pfui, pfui, pfui.“ Das Lied wird während eines Kinderspiels gesungen, bei dem ein Kind um einen Kreis läuft, den die Mitspieler bilden. Während des Singens und Laufens berührt das laufende Kind ein anderes, welches daraufhin mitlau­fen darf. Die Reihe der zum Mitlaufen aufgeforderten Kinder erweitert sich so lange, bis nur noch ein Mitspieler übrig ist. Das Kind, das als letztes im Kreis verbleibt, ist die als solche stigmatisierte „Schwarze Köchin“. Vgl. „Volksliedarchiv“ ‹http://www.volksliederarchiv.de/text1355.html› (Zugriff am 10.10.2012) sowie „‚Die schwarze Köchin‘ im Roman ‚Die Blechtrommel‘“ ‹http://suite101.de/ article/die-schwarze-koechin-im-roman-die-blechtrommel-a79632› (Zugriff am 10.11.2012). 45 Entsprechend deutet Dieter Stolz den „bewußt unzuverlässig[en], inkonsequent[en] und explizit lügnerisch[en]“ Erzähler der„Blechtrommel“ als einen Versuch, „der Bewußtseinslage der bis heute anhaltenden Moderne mit den Mitteln der Fiktion gerecht zu werden“. Stolz, Dieter: Vom privaten Motivkomplex zum poetischen Weltentwurf. Konstanten und Entwicklungen im literarischen Werk von Günter Grass (1956 – 1986). Würzburg: Königshausen & Neumann 1994, S. 254, 255. 46 Ausgehend von einem strukturalistischen Interpretationsansatz untersucht Han­ne­lo­re Schwart­ze-Köhler in ihrer ebenso umfangreichen wie akribischen Monographie zu Gün­ter Grass „Die Blechtrommel“ das narratologische Verfahren des Romans und kommt eben­falls zu dem Schluss, dass es sich bei diesem Werk nicht um einen postmodernen Roman han­delt, auch wenn er gewisse strukturelle Ähnlichkeiten, wie z. B. die Absage an eine teleologische Vorgehensweise, Intertextualität sowie parodistische Anspielungen aufweist (vgl. Schwart­zeKöhler, Hannelore: „Die Blechtrommel“ von Günter Grass. Bedeutung, Erzähltechnik und Zeitgeschichte. Strukturanalysen eines Bestsellers der literarischen Moderne. Berlin: Frank & Timme 2009, S. 373). Allerdings zieht die Verfasserin keine tiefergehenden Schlüsse für die Interpretation des Romans mit Blick auf die Funktion der in der „Blechtrommel“ zur Anwendung kommenden dekonstruktivistischen narrativen Strategien. 44

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pische […] Auflösung der Erzähler- und Figurenrolle Oskars [lässt] letztlich keine Sichtweise irgendeines dargestellten Sachverhalts als authentisch beschrieben erscheinen [...].“ 47 Entsprechend fordert die in der Darstellungsweise wie in der Rhetorik Oskars bewusst mehrschichtig und offen gehaltene Erzählform den Leser zu einer permanenten Infragestellung seiner eigenen perspektivischen Betrachtungsweise und Deutung des Romangeschehens ebenso wie zu dessen Parallelsetzung mit der Zeitgeschichte heraus. Als besonders irritierend erweist sich Oskars Erzählperspektive und Erzählweise vor allem auch dadurch, dass sie in keiner Weise den Anspruch einer „political correctness“ erfüllt, sondern sowohl eine „amoralische“ als auch eine „apolitische Perspektive“ aufweist. 48 Oskar ist kein Widerstandskämpfer, sondern ein Widersacher, der zugleich Mitläufer ist. Seine Funktion im Roman ist nicht die einer Repräsentations- oder Stellvertreterfigur, sondern die eines literarischen Mediums, das dazu eingesetzt wird, auf spezifische Verhaltensmuster aufmerksam zu machen und durch Aufstörung gängige Denkmuster und Anschauungen als solche zu kennzeichnen. Dies bedeutet letztlich, dass die Entlarvung der NS-Zeit, wie Edgar Platen feststellt, nicht vordergründig gesellschaftskritisch, weltanschaulich oder argumentativ, sondern „erzähltechnisch und fiktiv“ 49 erfolgt. Es handelt sich dabei um ein „antiideologisches“ und, wie zu ergänzen ist, antiideologisierendes „Erzählen“ 50 , das den Leser dazu auffordert, die im Roman nur lose vollzogene Verbindung von Privatgeschichte und Weltgeschehen selbst herzustellen und die weltpolitischen Ereignisse auf ihre individuellen sowie kleinräumlichen Ursprungs-, Entwicklungs- und Wirkungsgeschichten hin zu befragen. Dabei handelt es sich bei der im Roman konsequent zur Anwendung gebrachten aufstörenden Erzählweise gerade nicht um ein narratologisches Experiment oder postmodernes Spiel, 51 sondern um einen erzähltechnischen Kunstgriff, in dem sich ein mit der „Blechtrommel“ entworfenes, zugleich aber für Grass’ gesamtes Werk grundlegendes poetologisches Selbstverständnis manifestiert. Jahnke/Lindemann, Erschließung. 1993, S. 16/17. Hier stimme ich mit Georg Just überein ( Just. Darstellung. 1972, S. 88) und widerspreche deutlich der Interpretation von Volker Neuhaus, der, im Gegensatz zu Just, Oskar als eine intakte „moralische Instanz“ begreift (Neuhaus, Günter Grass. 1992, S. 56). Insbesondere in der Reflexion seiner (Mit-)Schuld am Tod seiner engsten Familienangehörigen und Vertrauten auf der Erzählebene ebenso wie im Gespräch mit Bebra im dritten Buch, zeigt Oskar keinerlei moralisches Empfinden. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang eine genaue Differenzierung zwischen Oskar als Romanfigur, Erzählfigur und der durch die literarische Figur zum Ausdruck gebrachten Aussage des Romans. Auch sehe ich Oskar Matzerath nicht in der Funktion eines Moralisten, Kritikers oder Mahners im Buch, sondern als einen voyeuristischen Beobachter der eigenen Welt. 49 Platen, Perspektiven. 2001, S. 228. 50 Ebd. 51 Unter Betonung der humoristischen Darstellungsweise des Romans sowie der inszenierten Naivität seines Protagonisten deutet André Fischer „Die Blechtrommel“ als ludistische Selbst­ reflexion von Literatur und spricht dem Text jede mimetische Funktion ab. Vgl. Fischer, André: Inszenierte Naivität. Zur ästhetischen Simulation von Geschichte bei Günter Grass, Albert Drach und Walter Kempowski. München: Fink 1992. 47 48

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6. Eine Poetik der Störung Indem Günter Grass seinen Protagonisten und Erzähler gleich zu Beginn und mehrfach im Roman darauf verweisen lässt, dass die Schilderung seiner Biographie sich sowohl aus Erinnerungen als auch aus Lügen zusammensetzt, 52 betont der Autor nicht nur den fiktionalen Charakter des autobiographischen Schreibens seiner Romanfigur, sondern er erhebt in der den Roman einleitenden metapoetischen Reflexion die dem Genre Autobiographie eigenen Merkmale der Subjektivierung, der Erweiterung der Wirklichkeit durch Fiktion sowie der Unzuverlässigkeit des Gesagten zugleich zum Strukturprinzip des gesamten Romans. Mit der Verortung des fiktiven Schreibprozesses in der psychiatrischen Anstalt als einem außergesellschaftlichen, isolierten Raum, in dem als selbstverständlich vorausgesetzte Strukturen, Normen und Denkweisen ihre Gültigkeit verlieren, wird dieser Aspekt noch weiter verstärkt. Setzt man Oskars in diesem außergesellschaftlichen Rahmen stattfindendes, durch provozierendes Trommeln in Gang gesetztes, das Gedächtnis aufstörendes und zugleich aktivierendes Schreiben mit der Literatur insgesamt als einem ebenfalls heterotopen, sowohl auf Erinnerung als auch auf Erfindung und Fiktion gründenden Raum gleich, so stellt sich damit die Frage nach der Funktion von Literatur sowie der Angemessenheit des Schreibens als Akt der Aufarbeitung von Vergangenheit ebenso wie als Mittel der Darstellung von Störungen und Brüchen. Mit der missgebildeten, provozierenden und zerstörerischen Gestalt des im Roman als Figuration der Romanstruktur gestalteten Hauptfigur Oskar gibt Grass eine Antwort auf diese Frage: Ein Roman über Störung muss eben diese Störung auch auf der Erzählebene reflektieren. Schreiben ist für Grass somit ein Akt der Destruktion im konstruktiven Sinn, nämlich die Auflösung vorgegebener Ordnungen zum Zweck der kritischen Reflexion und Erkenntnis. 53 Literatur ist einerseits eine Erweiterung der Wirklichkeit durch „Lüge“, d. h. Fiktion, ebenso wie sie andererseits eine Verzerrung und Deformierung der erlebten Wirklichkeit durch Reduktion, Minimalisierung, Beispielhaftigkeit und Übertreibung ist. Beides dient dem Zweck der Sichtbarmachung und Veranschaulichung des dargestellten Themenkomplexes. Als Roman über Anomalie und Störung reflektiert „Die Blechtrommel“ sowohl auf der Erzählebene als auch auf einer metapoetischen Ebene die Angemessenheit des eigenen Verfahrens, indem der Roman sowohl auf der Inhalts- als auch der Erzählebene mit traditionellen Erwartungen bricht, gültige Denkmuster unterläuft und sich einer eindeutigen Zuschreibung seiner Symbolhaftigkeit und Bedeutung entzieht. Er verunsichert den Leser, und der Autor übt damit Kritik an der unausgesprochen vorausgesetzten Möglichkeit zu deuten und dem blinden Vertrauen in die Sinnhaftigkeit des Textes. Damit erweist sich der Roman jedoch nicht als „prinzipiell interpretationsfeindlich“, indem er sich durch passive Unbestimmtheit einer eindeutigen Interpretation entzieht, sondern er provoziert

Grass, Blechtrommel. 2009, S. 9, 318. Auf ähnliche Weise bestätigt dies die titelgebende Bezeichnung von Günter Grass’ Essaysamm­ lung „Der Autor als fragwürdiger Zeuge“, hrsg. von Daniela Hermes. München: dtv 1997.

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durch aktive Deutungsverweigerung und markiert damit seine „Interpretationsfeindlichkeit“ als eine bewusst kalkulierte. Grass’ Intention der mit diesem Roman entworfenen Poetologie einer Störung ist es, bestehende Sinnkonstruktionen zu zerschlagen, um damit die Strukturen ihrer Kon­s­truk­ tion analysieren, sowie ihre Brüchigkeit offenlegen zu können. Als Roman über Oskar Matzeraths den Mainstream konterkarierendes, aufrührerisches Trommeln unterminiert „Die Blechtrommel“ die zeitgeschichtlich als gültig erachteten Ordnungen und macht eine Analyse derselben dadurch erst möglich.

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„Das Mittelalter ist keine Epoche. Mittelalter ist der Name der menschlichen Natur.“ – Aufstörung, Verstörung und Entstörung in Juli Zehs „Corpus Delicti“

1. Einleitung Der stetig fortschreitende Prozess der Globalisierung, das Ende des Kalten Kriegs und nicht zuletzt die Anschläge auf das World Trade Center im Jahr 2001 verweisen nicht nur selbst bereits auf Störungen in dem Sinne, dass sie die Toleranzgrenzen sowohl einzelner Personen als auch ganzer gesellschaftlicher Teilsysteme irritieren, 1 sondern sie haben im Zusammenhang mit dem von den USA angeführten sogenannten War on Terror zu radikalen Veränderungen im weltweiten Machtgefüge geführt. Sowohl der 11. September 2001 als auch der darauf folgende Kampf gegen den internationalen Terrorismus können als religiös-fundamentalistische Versuche verstanden werden, überkommen geglaubte dichotomische Schemata zu (re-)aktivieren und in großen Teilen der Weltbevölkerung zu manifestieren. Dies hat weitreichende Folgen nicht nur für das Verhältnis zwischen einzelnen Nationalstaaten und für die interne Organisation von beispielsweise NATO oder UNO, sondern auch für den Umgang nationaler Regierungen mit ihren Bürgerinnen und Bürgern. Mit Verweis auf das Schlagwort Freiheit ist dabei insbesondere die Balance zwischen der Wahrung der Bürgerrechte und einem gestiegenen Bedürfnis nach Si Zur Kategorie Störung siehe vor allem die Beiträge von Carsten Gansel, der an unterschiedli­ cher Stelle Möglichkeiten diskutiert hat, die Bedeutung von Störungen im Handlungs- und Symbolsystem Literatur herauszuarbeiten. Gansel unterscheidet im Anschluss an system­ theoretische Prämissen Störungen generell nach Intensität, Ort und Zeitpunkt ihres Auftre­tens. Für diesen Beitrag sind insbesondere die Überlegungen zur Intensität hilfreich, wobei Gansel die folgenden Intensitätsgrade unterscheidet: „Aufstörung“ im Sinne von Aufmerksamkeit erregen; „Verstörung“ im Sinne einer tiefgreifenden Irritation; und Zerstörung im Sinne nachhaltiger Umwälzung. Vgl. neben Gansels Beitrag im vorliegenden Band u.a. bereits ders.: Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Störung – Adoleszenz und Literatur. In: Zwischenzeit, Grenzüberschreitung, Aufstörung. Bilder von Adoleszenz in der deutschsprachigen Literatur. Hrsg. von Carsten Gansel/Pawel Zimniak. Heidelberg: Winter 2011, S. 17 – 40; Ders.: Adoleszenzkrisen und Aspekte von Störung in der deutschen Literatur um 1900 und um 2000. In: ebd., S. 269 – 296. Zum systemtheoretischen Ansatz vgl. auch den Beitrag von Gerhard Preyer in diesem Band.

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cherheit nicht nur in den USA und Großbritannien, sondern auch in der Bundesrepublik Deutschland ins Blickfeld geraten. Auch hier kann das Verhältnis des Staats zu seiner Bevölkerung, die er als Bedrohung seiner selbst empfindet und daher meint kontrollieren zu müssen, mittlerweile als gestört bezeichnet werden. 2 Vor diesem Hintergrund widmet sich dieser Beitrag Juli Zehs Roman „Corpus Delicti“ (2009) 3 und fragt, welche Funktion dieser literarische Text im Sinne eines „Signals der Störung“ 4 in der gegenwärtigen Gesellschaft übernimmt. Zusammen mit diversen Interviews und politischen Essays, in denen Juli Zeh sich an verschiedenen Stellen geäußert hat, sowie ihrer mit Ilija Trojanow publizierten programmatischen Schrift „Angriff auf die Freiheit“ (2009) partizipiert „Corpus Delicti“ auf selbstreflexive Weise am gegenwärtigen Diskurs zum Thema Bürgerrechte beziehungsweise zum Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Zeh zwingt die Rezipienten ihrer Schriften gewissermaßen, sich mit den von ihr beklagten rechtsstaatlichen Fehlentwicklungen auseinanderzusetzen. Indem sie damit den bis dato gültigen gesellschaftlichen Konsens auf den Prüfstand stellt, greift sie störend ins aktuelle Leben ein. Da „Corpus Delicti“ ferner Störungen innerhalb der im Text imaginierten Sozialordnung, einer dystopischen Fortentwicklung der Gesellschaft der gegenwärtigen Bundesrepublik, verhandelt, nimmt der Roman am aktuellen, in der Bundesrepublik Deutschland geführten Diskurs zum Thema Sicherheit und Individualrechte teil. 5 Die durch weite Teile der Politik im Namen der Terrorabwehr derzeit propagierte schrittweise Aufweichung der individuellen Freiheitsrechte hat laut Trojanow und Zeh bereits zu einem spürbaren gesellschaftlichen Wandel geführt: Rasterfahndungen, biometrische Reisepässe, Telefonüberwachungen, Online-Durchsuchungen und die bereits zur Normalität gewordenen Videoüberwachungen sprechen eine deutliche Sprache. 6 In „Corpus Delicti“ thematisiert Zeh die Gefahren des Fortschreitens dieser sich in der Gegenwart bereits abzeichnenden Prozesse. Sie malt aus, wozu es führen kann, wenn eine Gesellschaft ihre Toleranzgrenzen gegenüber staatlicher Kontrolle graduell ausweitet: zum „Umbau des Rechtsstaats in einen Präventivstaat“. 7 Gerade diejenigen, die diesem Umbau tatenlos gegenüberstehen, weil sie sich der damit drohenden schleichenden Erosion des Rechtsstaats nicht (mehr) bewusst sind, sollen, so die These, durch „Corpus Delicti“ ebenso wie durch Zehs Essays aufgeweckt werden. Dabei will die Autorin jedoch keinesfalls destruktive Störphänomene etablieren, welche die existierende Ordnung und Verfassung Siehe dazu Trojanow, Ilija/Zeh, Juli: Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Über­wachungs­ staat und der Abbau der bürgerlichen Rechte. München: Hanser 2009. 3 Zeh, Juli: Corpus Delicti. Ein Prozess. Frankfur/M.: Schöffling 2009. Alle Seitenzahlen im fortlaufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe. 4 Kümmel, Albert/Schüttpelz, Erhard: Medientheorie der Störung/Störungstheorie der Me­dien. Eine Fibel. In: Signale der Störung. Hrsg. von Albert Kümmel/Erhard Schüttpelz. München: Fink 2003, S. 9. 5 Zu Fragen von Utopie und Dystopie in „Corpus Delicti“ siehe Smith-Prei, Carrie: Relevant Utopian Realism: The Critical Corporeality of Juli Zeh’s Corpus Delicti. In: Seminar 48, 2012, H. 1, S. 107 – 123. 6 Trojanow/Zeh, Angriff. 2009, S. 55 – 61. 7 Ebd., S. 82. 2

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infrage stellen würden. Es geht also nicht um eine Störung, die im Sinne von Luhmann als konstitutiv für die Entstehung einer neuen Ordnung angesehen werden könnte. 8 Vielmehr kann Zehs Vorhaben mit Gansels Verständnis der „Aufstörung“ erklärt werden, denn die Autorin sieht offenbar die Notwendigkeit, mit ihren literarischen und essayistischen Beiträgen auf den politischen Diskurs einzuwirken und bei einem möglichst breit angelegten Publikum ein Bewusstsein für die gegenwärtige Gefährdung der bestehenden rechtsstaatlichen Grundprinzipien zu erlangen. Indem sie in „Corpus Delicti“ die bereits begonnene Entwicklung fiktiv weiterspinnt und radikalisiert nutzt Zeh das literarische Feld als Austragungsort ihres Kampfes um die Einhaltung von Menschen- und Bürgerrechten. Das damit angestrebte Aufrütteln und Verstören der Leser zielt dabei eindeutig auf den Erhalt des gegenwärtigen Rechtsstaats und auf die Festigung der existierenden Verfassung, welche die Einhaltung eben dieser Rechte (noch) garantiert. Nach einem kurzen Abriss der für das Verständnis des Romans erforderlichen inhaltlichen Aspekte erläutere ich unter Zuhilfenahme einiger ausgewählter Beispiele die Signifikanz der beiden Ebenen, auf denen Zehs „Corpus Delicti“ eine literarische Form der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung darstellt: Innerhalb der fiktiven, zukünftigen Welt des Romans unterlaufen einige Figuren bewusst deren Normen und erzeugen damit Störungen im sozialen System; durch den deutlichen Bezug zur gegenwärtigen Gesellschaft und zu den bestehenden Diskussionen zum Thema werden gleichzeitig in der heutigen Bundesrepublik Deutschland gültige Normen verhandelt. Innerhalb dieser Konstellation ist insbesondere eine Analyse der narrativen Funktion der Hauptfigur Mia vielversprechend. Da diese im Rahmen des Romans als „terroristisch“ bezeichnet wird, muss nach dem Subversionspotential der porträtierten „Methodenfeindin“ (206) und „Terroristin“ (215, 227, 251f., 256) gefragt werden. Dabei wird auch deutlich, dass der Prozess der Grenzverschiebung von Normen eine Voraussetzung für die angesetzte Definition von Terrorismus darstellt, wodurch auch die Verhandelbarkeit von Normen und Grenzen in den Fokus rückt. 2. Zur Rolle des fiktiven Vorworts und des Gerichtsurteils für die „METHODE“ Die Welt in Juli Zehs Roman „Corpus Delicti“, laut Bucheinband ein „Science-FictionSzenario“, ist angesiedelt in der Mitte des 21. Jahrhunderts und leicht erkennbar als gedankliche Fortführung der Gesellschaftsstruktur einer heutigen westlich-liberalen Demokratie. Die Romanwelt erscheint als literarisch ausgestaltetes Horrorszenario, wie es die Autorin als Konsequenz des mangelnden Einsatzes der bundesrepublikanischen Bürger im beginnenden 21. Jahrhundert für Bürger- und Menschenrechte sowie für den Erhalt ihrer Privatsphäre – nicht zuletzt auch im medizinischen Bereich – imaginiert. Auf dieses Manko hat Juli Zeh bereits 2007 in einem Beitrag für Die Wochenzeitung „Die Zeit“ hingewiesen. Darin beleuchtet sie den Zustand der vom Sicherheitswahn infizierten Bürger unter Zuhilfenahme medizinischen Vokabulars und stellt einen direkten Zu Vgl. z.B. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998.

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sammenhang zwischen der Aushebelung der Bürgerrechte und der Demontage des in der Bundesrepublik etablierten Krankenversicherungssystems her: „Die Diagnose vorab. Sie lautet: Erosion des demokratischen Denkvermögens im fortgeschrittenen Stadium. Symptome: Scheinlogik auf Seiten der politischen Akteure, Indifferenz bis zum politischen Autismus bei den Bürgern. Krankheitstypische Äußerungen von infizierten Personen: ‚Der Rechtsstaat muss verteidigt werden, aber in Zeiten wie diesen hat Sicherheit Vorrang‘ (ein eifriger Minister). Oder: ‚Dann sollen sie halt Festplatten scannen – das betrifft ja nicht Leute wie mich, die nichts zu verbergen haben‘ (ein unbescholtener Bürger). Verbreitungsgrad des Syndroms: epidemisch. […] Die Regierung hat nicht weniger vor, als das Privateste, Intimste, das uns zu eigen ist, zur Staatssache zu erheben: den menschlichen Körper. Dabei wird die Idee einer flächendeckenden (von Beitragszahlern finanzierten!) Krankenversicherung in ihr Gegenteil verkehrt. Nicht das Krankenkassensystem schuldet uns Beistand in der Not – sondern wir schulden dem System die unbedingte Aufrechterhaltung unserer Gesundheit!“ 9

Juli Zeh sieht die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, ihre Politiker wie ihre Bürger bereits erkrankt und in ihrem Demokratiebewusstsein gestört. Sollten keine Sofortmaßnahmen zur Heilung ergriffen werden, ließe sich schließen, bewegt sich diese Gesellschaft unweigerlich auf eben den Zustand hin, den die Autorin in „Corpus Delicti“ imaginiert. In dieser nur etwa ein halbes Jahrhundert in die Zukunft versetzten Welt sind im Namen von Sicherheit und Vernunft Religionen durch den unbedingten Glauben an die Unfehlbarkeit der Wissenschaft, an Fortschritt und insbesondere Gesundheit – kurz: das, was im Roman die sogenannte „METHODE“ umfasst – ersetzt worden. Nur die gemeinschaftstragende METHODE garantiert laut einem ihrer vehementen Vertreter „jedem Einzelnen ein möglichst langes, störungsfreies, das heißt gesundes und glückliches Leben“ (36). Krankheiten zu vermeiden ist das oberste Ziel der METHODE, die sich schnell als die alles beherrschende Doktrin dieser Gesellschaft entpuppt, welche geschützt wird vom sogenannten „Methodenschutz“. Insbesondere hat der Methodenschutz in dieser Gesundheitsdiktatur, in der die Grußformel „Santé!“ zwingend gilt, die Einhaltung der täglich zu absolvierenden Trainingseinheiten, die angeordnete Ernährung durch Pillen und Pasten, sowie allgemeine Gesundheitsvorschriften genauestens zu überwachen. Der im Oberarm eines jeden Bürgers implantierte obligatorische Chip, der sämtliche relevanten Daten seines Trägers speichert und diesen jederzeit lokalisierbar macht, erleichtert die Arbeit des Methodenschutzes immens. Der Überwachungsapparat hat Zugang zur „Datenspur eines Menschen, [die – S.K.] Millionen von Einzelinformationen enthält, aus denen sich jedes beliebige Mosaik zusammensetzen lässt“ (226). Hier ist der Prozess der Auflösung sämtlicher Bürgerrechte also an sein konsequentes Ende gekommen. Jeder, der sich den Anforderungen und Maßnahmen der METHODE widersetzt, Zweifel an ihr verlautbaren lässt oder gar – wie die gleichnamige Terroristengruppe – ein „Recht auf Krankheit“ (83) fordert, gilt dem Methodenschutz als Staatsfeind und Terrorist. Da es so gut wie un Zeh, Juli: Vom Sozialstaat zum Kontrollsystem. In: Die Zeit (05.10.2007). ‹http://www.zeit. de/online/2007/41/meldepflicht-patienten?page=all› (Zugriff am 3.11.2010).

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möglich ist, dem Überwachungsapparat Fehler nachzuweisen, sind die Bewohner dieser Gesundheitsdiktatur seiner Willkür ausgeliefert. Die Protagonistin Mia Holl lebt bis kurz vor Einsetzen der Romanhandlung angepasst, „mit Idealbiographie“ (19) und vom Methodenschutz unbehelligt im Einklang mit der METHODE. Als einziger Störfaktor im Leben der erfolgreichen Biologin entpuppt sich ausgerechnet ihr Bruder Moritz, ein Philosoph und nicht-militanter Kritiker der METHODE. In verschiedenen Analepsen, innerhalb derer auch der verstorbene Moritz selbst zur Sprache kommt, offenbart sich nach und nach seine Tragödie: Entgegen seiner vehementen Unschuldsbezeugungen, jedoch legitimiert durch einen DNA-Test, der sich schließlich als fehlerhaft erweist und damit das Dogma der Unfehlbarkeit von Wissenschaft und Justiz offenbart, wird Moritz wegen Vergewaltigung und Mord zum Scheintod durch Einfrieren verurteilt. Er kann sich dem Vollzug dieses Urteils zwar durch seine von Mia unterstützte Selbsttötung entziehen, doch die Tragödie hinterlässt ihre Spuren in deren Leben. 10 Das Schicksal ihres Bruders bringt Mia dazu, die bis dato akzeptierten Normen und Gewissheiten zu hinterfragen. Infolge dessen widersetzt sich die Biologin – zunächst unbewusst, dann zunehmend gezielter und reflektierter – der METHODE und wird damit zu einem vom Methodenschutz ernst genommenen und daher zu überwachenden Störfaktor. Die Trauer um den Bruder, die Schuldgefühle ihm gegenüber und nicht zuletzt die durch das Urteil entstandenen Zweifel an der METHODE führen zu einer tiefen Depression, aufgrund derer Mia die streng kontrollierten Gesundheitsvorschriften und ihre täglichen Trainingseinheiten vernachlässigt. Als sie beginnt, auf individuelle Rechte und Rückzugsmöglichkeiten in so etwas wie eine Privatsphäre zu bestehen, wird sie vor Gericht zitiert. Was folgt, ist eine Darstellung des immer offener zu Tage tretenden und die Protagonistin zunehmend bedrohenden Konflikts zwischen der Einzelperson Mia Holl und dem System. Überzeugt von der Unschuld ihres Bruders will Mia Moritz’ unrechtmäßige Verurteilung vor Gericht beweisen. Zu diesem Vorgehen wird sie zusätzlich von ihrem Pflichtanwalt mit dem bezeichnenden Namen Rosentreter angetrieben. Er will die METHODE Indem in der Welt von „Corpus Delicti“ die Selbsttötung untersagt ist, betont der Text das Abwenden der geschilderten Gesellschaft von der laut Michel Foucault seit dem 19. Jahr­hundert vorherrschenden Vorstellung, dass das Individuum ein Recht auf den Freitod als eine individuelle und private Entscheidung hat. Im Roman hingegen wird der Gedanke, dass der „Freitod als Garant der persönlichen Freiheit zu betrachten“ (209) sei, mit einer auf die Vernichtung des Staates abzielenden Terrorgruppe in Verbindung gebracht. In der Roman-Gesellschaft fällt wieder dem Souverän die Entscheidung über Leben und Tod zu. Da die Methode sich auf die „absolute Wertschätzung des menschlichen Lebens stützt, kann keine Todesstrafe“ verhängt werden (231). Indem ersatzweise der Scheintod durch Erfrieren in Kraft tritt, treibt der Text die Vorstellung eines modernen Staats, in dem laut Foucault die wichtigste Funktion in der Erhaltung von Leben besteht, auf die Spitze. Gleichzeitig macht der Text auch auf die Bedrohung aufmerksam, die von Suizidgefährdeten für die Gesellschaft ausgeht: „Nichts fürchtet ein Sicherheitsapparat so sehr wie Menschen, die mit dem Leben abgeschlossen haben. Es macht sie unkontrollierbar. Selbstmordattentäter“ (195). Vgl. dazu Foucault, Michel: The History of Sexuality. An Introduction Bd. 1. New York: Vintage Books 1990 [frz. EA 1976], S. 138 – 139.

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aus reinem Eigennutz überwinden: Ihm ist aufgrund immunologischer Inkompatibilität mit seiner großen Liebe eine Beziehung mit dieser Frau untersagt. Angespornt durch seine privaten Interessen gelingt Rosentreter der Unschuldsnachweis tatsächlich – mit für Mia fatalen Folgen: das Vorgehen muss als Angriff auf den unfehlbaren Staat und seine METHODE interpretiert werden, führt zum Entstehen von Widerstandsgruppen, die sowohl Moritz als auch Mia zu Märtyrerfiguren stilisieren, und lässt die bisher eher unpolitische Biologin zur Staatsfeindin werden, die vernichtet werden muss. Die von Mia ausgehende, an den Fundamenten des Staates rüttelnde Störung überschreitet die Vorstellungskraft der Protagonistin, weswegen sie die Gefahr, in der sie sich befindet, nicht erkennt. Um den Kollaps der METHODE zu vereiteln, initiiert eine Interessengruppe aus karrierebewussten Systemträgern, Ausführungsorganen und Spitzeln eine gnadenlose Kampagne gegen die Protagonistin – mit dem Ziel, die Person Mia Holl nicht nur psychisch zu vernichten, sondern zu eliminieren. Zu den involvierten Akteuren zählen sowohl der unter anderem für die tonangebende Zeitung „Der gesunde Menschenverstand“ (138) tätige Journalist Heinrich Kramer und die Justiz, als auch andere überzeugte Fanatiker und verängstigte Mitläufer. Zwar überraschend, der Logik der METHODE allerdings entsprechend, entgeht Mia am Ende dem Scheintod aufgrund einer Begnadigung. Nicht zuletzt aufgrund der Folter, der sie im Strafvollzug ausgesetzt war, ist sie jedoch nicht mehr als ein psychisches und physisches Wrack – das Corpus Delicti der porträtierten Gesellschaft und ihres Strafvollzugs, freigegeben zur Umerziehung und Zwangs-Resozialisation. Wie im Untertitel „Ein Prozess“ bereits angedeutet, fokussiert „Corpus Delicti“ auf den Prozessverlauf. Dem Haupttext vorangestellt findet sich neben einem „Vorwort“ (7) bereits das fiktive Gerichtsurteil gegen die dreißigjährige Mia Holl, ergangen „Im Namen der Methode“ (9). Der Leser erfährt somit bereits zu Beginn der Lektüre, dass die Protagonistin „wegen methodenfeindlicher Umtriebe in Tateinheit mit der Vorbereitung eines terroristischen Krieges […] zum Einfrieren auf unbestimmte Zeit verurteilt“ wird (10). Damit steht nicht nur die Hauptstörerin der METHODE und ihres Systems fest, sondern auch der Ausgang des Prozesses, so dass der Text sich auf die Beschreibung des vermeintlichen Tathergangs konzentrieren kann. Doch die Wahrnehmung des Geschehens wird nicht nur durch das Wissen um Mias Verurteilung beeinflusst. Vielmehr ist durch das sogenannte „Vorwort“ der Rahmen geschaffen, in den der Leser verschiedene Textdetails entsprechend einordnen soll. Dabei handelt es sich um ein Zitat aus einem Bestseller der Gesundheitsdiktatur, Heinrich Kramers in 25. Auflage erschienenes Standardwerk „Gesundheit als Prinzip staatlicher Legitimation“ (8). Der Verfasser, ein einflussreicher Medienmogul und Methodenfanatiker, postuliert in pseudo-wissenschaftlichem Ton: „Gesundheit ist ein Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens – und nicht die bloße Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit könnte man als den störungsfreien Lebensfluss in allen Körperteilen, Organen und Zellen definieren […] Gesundheit ist nicht Durchschnitt, sondern gesteigerte Norm und individuelle Höchstleistung. […] Gesundheit führt über die Vollendung des Einzelnen zur Vollkommenheit des gesellschaftlichen Zusammenseins“ (7).

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Der durch Vorwort und Urteil geschaffene Rahmen fungiert für den folgenden Haupttext komplexitätsreduzierend, da er vielfältige Anspielungen auf die sich anschließende Prozess-Inszenierung bietet. So lenkt bereits der soeben angeführte, kurze Textausschnitt die Aufmerksamkeit auf einige im Roman relevante Themen wie beispielsweise die Definition von Gesundheit und Krankheit in der Gesundheitsdiktatur und deren gesellschaftliche Relevanz. Vorwort und Urteil zielen folglich auf die Lenkung der Lektüre, dienen der Konkretisierung der auktorial intendierten Rezeptionsperspektive. Indem Gesundheit auf dieselbe Ebene wie störungsfreier Lebensfluss gestellt wird, folgt im Umkehrschluss zwingend die Gleichsetzung von Krankheit und Störung. Impliziert Gesundheit gesteigerte Norm, meint Krankheit Abweichen von der Norm. Indem der Staat Normen für Gesundheit und Krankheit definiert, manifestiert er – um mit Michel Foucault zu sprechen – seine Biomacht, also die Macht zu qualifizieren, zu messen, zu begutachten und zu hierarchisieren. 11 Normabweichungen in Form von Krankheit betreffen dann folglich nicht nur den individuellen Körper; vielmehr stellen sie aufgrund der Vernetzung von Individuum und Gesellschaft einen Angriff auf den Staat dar, denn in der Krankheit werden nach Foucault die Normen, die als Instrumente des Machterhalts dem Staat dienen, außer Kraft gesetzt. 12 In „Corpus Delicti“ erinnert die Richterin Sophie Mia Holl beispielsweise: „Es liegt in Ihrem Interesse, jede Form von Krankheit zu vermeiden. In dem Punkt decken sich Ihre Interessen mit jenen der METHODE, und auf diese Übereinstimmung stützt sich unser gesamtes System. Es besteht eine enge Verbindung zwischen dem persönlichen und dem allgemeinen Wohl, die in solchen Fällen keinen Raum für Privatangelegenheiten lässt“ (58).

Mit dem totalitären Anspruch der METHODE, als erste Staatsform das Interesse des Individuums mit dem des Staats zur hundertprozentigen Deckung zu bringen und diesen Zustand als ‚normal‘ festzusetzen, wird die Verpflichtung der Bürger zu bedingungslosem Gehorsam gegenüber dem Staat gerechtfertigt. 13 Krankheit und ihre Vermeidung durch Gesundheitsvorsorge können somit nicht länger als Privatangelegenheit angesehen werden. Vielmehr zeugen mangelnde Selbstprüfung und Erkrankung von Nachlässigkeit gegenüber dem eigenen Körper und von Fahrlässigkeit gegenüber Staat und Gesellschaft. Der kranke Körper wird somit zum Politikum und Krankheit wird assoziiert mit Schuld. Foucault, Michel: Discipline And Punish. The Birth of the Prison. New York: Vintage Books 1995 [frz. EA1975], S. 184; Foucault, History. 1990, S. 144. Foucaults Auffassung wird interessanterweise auch innerhalb der Disability Studies vertreten. Siehe beispielsweise Davis, Lennard J.: Constructing Normalcy. The Bell Curve, the Novel, and the Invention of the Disabled Body in the Nineteenth Century. In: The Disabilities Studies Reader. Hrsg. von Lennard J. Davis. New York/London: Routledge 1997, S. 9 – 28, hier: S. 10. 12 Foucault, History. 1990, S. 144. 13 Heinrich Kramer führt in einem Fernsehinterview in der fiktiven Talkshow WAS ALLE DENKEN aus: „Die METHODE […] definiert die Übereinstimmung von allgemeinem und persönlichem Wohl als ‚normal‘. Wer sich selbst nicht als normal in diesem Sinne begreift, wird es auch in den Augen der Gesellschaft nicht sein“ (87) 11

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Die Anfänge dieser Entwicklung sind, so hat Juli Zeh mehrfach betont, bereits seit einigen Jahren in der auch in der Realität zu beobachten. 14 Der Erkrankte stellt einen Störfaktor dar und steht in der Logik der METHODE folgerichtig unter Terrorismusverdacht. Bereits vor der Lektüre des Haupttexts von „Corpus Delicti“ ist damit betont, dass in der porträtierten Gesundheitsdiktatur der Kranke eine signifikante Störfigur darstellt und somit zum Staatsfeind wird, der bekämpft werden muss. Weitergeführt wird diese Denkweise nicht zuletzt durch den Namen des Verfas­sers des fiktiven Standardwerks, der sich bei näherem Hinsehen als aufschlussreich erweist: be­reits im 15. Jahrhundert tat sich ein Dominikanermönch namens Heinrich Kramer, bekannt auch unter dem lateinisierten Namen Henricus Institoris (1430 – 1505), als Au­tor des berüchtigten „Malleus Maleficarum“ („Hexenhammer“) hervor. In dem in über dreißig Auf­lagen weit verbreiteten und für die Hexenprozesse im Europa des späten Mittel­alters und der Frühen Neuzeit einflussreichsten Werk präsentiert Kramer, seit 1474 auch von Rom belobigter Inquisitor, die bestehenden Vorurteile und begründet die Recht­mäßig­keit der Hexenverfolgung mit vermeintlich wissenschaftlichen Argumenten. 15 Das „Malleus Male­ficarum“ galt aufgrund der einzigartigen Verbindung von theologischen Beden­ken mit populären Vorstellungen zur gefährlichen schwarzen Magie als ausgesprochen praxis­ nahes Werk. Die darin detailliert dargelegten Regeln ermöglichen das scheinbar zweifelsfreie Erkennen von Hexen, sowie deren systematische Verfolgung und Vernichtung. 16 Siehe dazu auch Zeh, Sozialstaat. 2007. Zeh betont hier: „‚Krankheit‘ wird potenziell mit ‚Schuld‘ identifiziert, und um innerhalb dieses Zusammenhangs die Spreu vom Weizen zu trennen, bedarf es einer perfiden Form von Selektion.“ 15 „[…] Heinrich Kramer’s Malleus Maleficarum (The Hammer of [Female] Witches) was un­ doubted­ly a best seller. Before the end of the seventeenth century, more than thirty editions of Kramer’s antiwitchcraft treatise were published, and about thirty thousand exemplars of the Malleus circulated throughout Europe. The Malleus is probably still the best-known premodern treatise on witchcraft today“ (Herzig, Tamar: Witches, Saints, and Heretics. Heinrich Kramer’s Ties with Italian Women Mystics. In: Magic, Ritual, and Witchcraft 1, 2006, H. 1, S. 24 – 55, hier S. 27). Siehe auch: Jerouschek, Günter/Behringer, Wolfgang: ‚Das unheilvollste Buch der Weltliteratur?‘ Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Malleus Male­ficarum und zu den Anfängen der Hexenverfolgung. In: Kramer (Institoris), Heinrich: Der Hexenhammer: Malleus Maleficarum. Übersetzt von Günter Jerouschek u.a. München: dtv 2000, S. 9 – 98; Schnyder, André: Malleus Maleficarum. Kommentar zur Wiedergabe des Erstdrucks von 1487. Göppingen: Kümmerle 1993, S. 452 – 453; Peters, Edward: The Medieval Church and State on Superstition, Magic and Witchcraft: From Augustine to the Sixteenth Century. In: Witchcraft and Magic in Europe 3: The Middle Ages. Hrsg. Von Karen Jolly u.a. London: Athlone 2002, S. 173 – 245, hier S. 239; Broedel, Hans Peter: To Preserve the Manly Form from so Vile a Crime: Ecclesiastical Anti-Sodomitic Rhetoric and the Gendering of Witchcraft in the Malleus Maleficarum. In: Essays in Medieval Studies 19, 2002, S. 136 – 148, hier S. 136. 16 Kramer, Heinrich/Sprenger, Jakob: Malleus Maleficarum. Übersetzt ins Englische von Mon­ tague Summers. New York: Cosimo 2007; Broedel, Hans Peter: The Malleus Maleficarum and the Construction of Witchcraft. Theology and Popular Belief. Manchester/New York: Manchester University Press 2003. Wenngleich als Autoren sowohl Kramer als auch Sprenger genannt werden, geht der überwiegende Teil der Forschung heute davon aus, dass Kramer 14

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Das als Vorwort zu „Corpus Delicti“ fungierende, fiktive Zitat aus „Gesundheit als Prinzip staatlicher Legitimation“ greift den pseudo-wissenschaftlichen Ton seines dogmatischen Vorgängers auf und etabliert somit ideologische Nähe zwischen Hexen, Kranken und Methodenfeinden, also allen Normabweichlern, die ein bestehendes System irritieren. Gleichzeitig weist die Komposition von einleitendem „Vorwort“ plus Gerichtsurteil gegen Mia Holl bereits auf die Bedeutung des fiktiven Standardwerks und die dort offerierte Legitimierung der METHODE für die „Hexenverfolgung“ der Protagonistin Mitte des 21. Jahrhunderts voraus. 3. ‚Hexenjagd‘ und Folter im 21. Jahrhundert Die gewollte Assoziation des Prozesses „METHODE gegen Mia“ mit der spätmittelalterlichen Hexenverfolgung wird narratologisch durch die Gestaltung von Raum, Handlung und Figuration untermauert. Wenden wir uns zunächst der Figur zu. In einer Gesundheitsdiktatur, die auf optimiertem Funktionieren ihrer Bürger basiert und in der Kranke als Staatsfeinde gelten, macht die an einer starken Depression leidende, arbeitsunfähige und ihre Gesundheitsvorsorge vernachlässigende Mia sich schuldig. Indem sie die Grenzen des Systems nicht nur auslotet, sondern sogar wiederholt überschreitet, stellt sie einen Störfaktor im System dar. Zudem wird die Protagonistin wiederholt explizit mit den Attributen einer Hexe und folglich mit den Stereotypen einer traditionellen, typischerweise weiblichen und den hegemonialen Glauben invertierenden Störfigur versehen: „Die Hexe ist ein Heckengeist. Ein Wesen, das auf Zäunen lebt. […] Zäune und Hecken sind Grenzen, Mia. Die Zaunreiterin befindet sich auf der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis. […] Sie weiß nicht, zu welcher Seite sie gehört. Ihr Reich ist das Dazwischen. […] Wer keine Seite wählt […], ist ein Außenseiter. Und Außenseiter leben gefährlich. […] Sie sind Fallobst“ (144). 17

Mia erscheint nach dem Verlust ihres Bruders durch die Fehlleistung der METHODE nicht mehr länger als vom Verstand gesteuerte, methodentreue Naturwissenschaftlerin, der alleinige Autor ist, der sich von einem Co-Autor Sprenger aufgrund dessen Bekanntheitsgrad und Ruf eines bedeutenden dominikanischen Theologen zusätzliches Prestige für sein Werk erhoffte. Vgl. dazu: Jerouschek, Günter: 500 Years of the Malleus Maleficarum. In: Malleus Maleficarum 1487 von Heinrich Kramer (Institoris). Nachdruck des Erstdruckes von 1487 mit Bulle und Approbatio. Hrsg. von Günter Herouschek. Hildesheim u.a.: Olms 1992, S. xlii – xliii; Springer, Klaus-Bernward: Dominican Inquisition in the Archdiocese of Mainz (1348 – 1520). In: Praedicatores, Inquisitores I: The Dominicans and the Medieval Inquisition, Acts of the 1st International Seminar on the Dominicans and the Inquisition, 23 – 25 February 2002. Rome: Istituto Storico Domenican 2004, S. 345 – 351. 17 Vgl. auch Heinrich Kramer, der Mia „in gespieltem Entsetzen“ unterstellt, ihn mit einem „Hexenfluch“ belegt zu haben und darauf mit einer bekannten mittelalterlichen ExorzismusFormel, „Vade retro!“ reagiert (232). Zu den Charakteristika der Hexenfigur siehe auch Herzig, WitcheS. 2006, S. 24.

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sondern als Gefühlsmensch, der zwar auf die METHODE vertrauen möchte, dies aber aufgrund seiner Gefühlslage nicht mehr kann. Ihr bisher gültiges Wertesystem ist aufgrund der in „Corpus Delicti“ dargestellten Ereignisse aus den Angeln gehoben. Sie findet sich daher im Dazwischen, im Grenzraum zwischen Anhängern und Kritikern der METHODE und wird aus deren Sicht zur „tickenden Zeitbombe“ und „Terroristin“ (215). Die im angeführten Zitat konstituierte Dichotomie Zivilisation/Wildnis wird an anderer Stelle von Kramer auf die Formel „Meine präzise Logik gegen Ihre aufgewühlten Emotionen“ bzw. „das männliche gegen das weibliche Prinzip“ (203) gebracht. Damit reiht sich der Methodenfanatiker in das spätmittelalterliche Gedankengut seines Namensvetters ein, der in „Malleus Maleficarum“ Frauen aufgrund ihrer physischen, psychischen, intellektuellen und moralischen Unterlegenheit und insbesondere wegen ihrer Glaubensschwäche als für die schwarze Magie anfälliger bezeichnet als Männer, welche aufgrund ihres Wissens Machtpositionen bekleideten. 18 Gleichzeitig verweist „Corpus Delicti“ mit dieser Wiederkehr der strukturellen Verschränkung des Prinzips männlich/ weiblich mit dem binären Gegensatz Logik/Emotion nicht nur auf die Entgegensetzung von (passiver) weiblicher Natur und (aktivem) männlichen Geist, sondern insbesondere auf die Gleichsetzung des Weiblichen mit dem A-Normalen, dem Verrückten und dem Irrationalen vis-à-vis der männlichen Norm. Die durch Heinrich Kramers „Malleus Maleficarum“ propagierte misogyne Konfiguration der Hexerei, die insbesondere in der Charakterisierung der diabolischen, weiblichen Hexe Ausdruck findet, hat somit nicht nur signifikant zur Uniformität des Diskurses um Hexen und Hexenprozesse bis ins siebzehnte Jahrhundert beigetragen, sondern sie affirmiert gleichzeitig die traditionelle, strukturelle Minderbewertung des Weiblichen, welches in seiner angeblichen Naturnähe und seiner Abweichung von der männlichen Norm über ein besonders großes Störpotential verfügt. Diese Einstellung zum Weiblichen schlägt sich insbesondere auch in der modernen Naturwissenschaft nieder. Bereits 1602/03 imaginierte Roger Bacon in „Temporis Partus Masculus“ eine „männliche Wissenschaft“, welche die Natur, so Bacon wörtlich, zur „Sklavin“ der Wissenschaft degradiert. 19 Der von Bacon imaginierte Idealzustand findet in Zehs Gesundheitsdiktatur die perfektionierte Form, denn seiner Prognose entsprechend ist die Natur in „Corpus Delicti“ auf radikalste Weise gezähmt, geformt, und „durch

Zusätzlich zu wiederholten Hinweisen, die das Werk durchziehen, widmet Kramer ein gesam­ tes Kapitel seiner Erklärung dem Umstand, dass Frauen sehr viel anfälliger für die schwarze Magie und die Hexerei seien als Männer (Teil I. Frage VI: Concerning Witches who copulate with Devils. Why Superstition is chiefly found in Women). Kramer/Sprenger, Malleus Maleficarum. 2007. Den Zusammenhang von Geschlecht und systematischer Hexenverfolgung beleuchten auch: Bailey, Michael D.: The Feminization of Magic and the Emerging Idea of the Female Witch in the Late Middle Ages. In: Essays in Medieval Studies 19, 2002, S. 120 – 134; Whitney, Elspeth: The Witch ‚She‘/the Historian ‚He‘: Gender and the Historiography of the European Witch-Hunts. In: Journal of Women’s History 7, 1995, H. 3, S. 91 – 93. 19 Bacon, Roger: Temporis Partus Masculus (1602/03), zitiert nach Fox Keller, Evelyn: Liebe, Macht und Erkenntnis. Männliche oder weibliche Wissenschaft? München: Hanser 1986, S. 43. 18

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den männlichen wissenschaftlichen Verstand“ unterworfen worden; 20 „das männliche gegen das weibliche Prinzip“ (203) hat laut Kramer gesiegt. Wer also, wie Mia und zuvor ihr Bruder Moritz, die wenigen verbliebenen, natürlichen Wälder und Flüsse im Sperrgebiet unrechtmäßig aufsucht, widersetzt sich den Normen und Gesetzen der auf der METHODE basierenden Gesellschaft, die auf Zähmung und Unterwerfung der Natur abzielt. Auch nach dem Tod ihres Bruders verlässt Mia bei ihren einsamen Ausflügen an den Fluss vorübergehend den wissenschaftlich kontrollierten Raum der Gesundheitsdiktatur. In einem binären System, das zwischen gutem, kontrollierten Raum und schlechtem, unkontrollierten Sperrgebiet ebenso radikal unterscheidet wie zwischen Freunden und Feinden der METHODE, wird die Protagonistin zu einer gefährlichen, das System untergrabenden Grenzgängerin, die im Dazwischen beheimatet ist: eine Hexenfigur und Terroristin, oder – um mit Homi Bhabha zu sprechen – „neither One nor the Other but something else besides, in-between.“ 21 In diesem dritten Raum, einem „in-between“, das durch Mias ständige Versuche, gesellschaftliche Toleranzgrenzen neu auszuhandeln, charakterisiert ist, lebt die Protagonistin ihr Störpotential unter extremer Gefahr aus. Sie kann mit Gansel als aufstörende, vielleicht sogar verstörende Figur verstanden werden. Da sie weder mit der Terrorgruppe „Recht auf Krankheit“ assoziiert und das bestehende System gewaltsam zerstören, noch die bestehende Ordnung erhalten will, sitzt Mia damit zwischen allen Stühlen. Im Gegensatz zum dritten Raum, also einem „liminal space“ oder „beyond“ im Sinne Homi Bhabhas, wo feste Identitäten tatsächlich aufgebrochen und damit Möglichkeiten für kulturell hybride Formen gefunden werden können, die auch darauf abzielen, binäre Positionen wie männlich/weiblich, Kultur/Natur, Gesundheit/Krankheit zu durchdringen, 22 ist Mias Dazwischen jedoch ein Ort, an dem sie zum Scheitern verurteilt ist. Ihre fragile Position tritt am deutlichsten in ihrer in Kramers Zeitung „Der gesunde Menschenverstand“ publizierten, verzweifelten Absage an das System zutage. „Ich entziehe einem Körper das Vertrauen, der […] eine kollektive Vision vom Normalkörper darstellen soll. Ich entziehe einer Normalität das Vertrauen, die sich selbst als Gesundheit definiert. […] Ich entziehe einem Recht das Vertrauen, das seine Erfolge einer vollständigen Kontrolle des Bürgers verdankt. […] Ich entziehe einem Staat das Vertrauen, der besser weiß, was gut für mich ist, als ich selbst.“ (186 – 187)

In ihren Aussagen beharrt die Protagonistin auf jenen fundamentalen Individualrechten, die mit Verweis auf Sicherheitsnotwendigkeit und Terrorabwehr in diesem Staat bereits restlos abgeschafft sind. Indem Mia öffentlich an den Fundamenten der METHODE rüttelt, stellt dieser narrative Höhepunkt auch ihr ultimatives Auf- und Verstören des fiktiven Gesellschaftssystems dar. Die auf der METHODE fußende Gesundheitsdiktatur reagiert der Logik ihres Systems zufolge konsequent mit dem Einsatz des gesamten staatlichen Apparats gegen die Ebd. Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. New York: Routledge 2004 [EA1994], S. 313. 22 Ebd. 5. 20 21

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Mia. Dabei wird ihr Störpotential zunehmend innerhalb ihrer Persönlichkeit lokalisiert. Auch in dieser Hinsicht folgt die Figuration Mias der klassischen Kramerschen Hexenfigur, welche laut „Malleus Maleficarum“ die Ursache des von ihr angeblich ausgehenden Übels in sich trägt. Eine solche Konfiguration erleichtert die Verfolgung, Verurteilung und Eliminierung der irritierenden Figur nicht nur, sondern sie wird aus quasi-moralischer Perspektive sowohl im Mittelalter, als auch in der Gesundheitsdiktatur des 21. Jahrhunderts geradezu zwingend notwendig: Indem der Störfaktor Hexe beziehungsweise Terroristin als gefährlichster weil aus „infektiösen Gedanken“ (200) bestehender Virus identifiziert wird, muss sie vernichtet werden, um dem Ausbruch einer Epidemie entgegenzuwirken. Es bleibt zu fragen, worin für den heutigen Leser das Verstörende dieser romanhaften Darstellung eines Staats liegt, in dem der vermeintliche Verstand die Natur besiegt hat und in dem Methodenabweichler als Terroristen gelten und ähnlich der Hexen verfolgt werden. Das Verstörende dürfte zum einen in der ideellen und methodischen Anbindung ans Mittelalter zu finden sein. Gegen Mia, Opfer einer „Hexenjagd“ (252) wird expressis verbis ein „Hexenprozess“ (243) geführt. Die moderne Version der Hexenverfolgung und -verurteilung benötigt Dank der ihr zur Verfügung stehenden technischen Mittel keinen Scheiterhaufen mehr: Die mit der brutalen mittelalterlichen Tötungsmethode assoziierte Hitze wird durch Kälte ersetzt, denn unter dem Deckmäntelchen der absoluten Wertschätzung menschlichen Lebens verlegt dieser Staat sich auf das zum Scheintod führende Einfrieren auf unbestimmte Zeit (231). Während der Souverän, insbesondere die mächtige Kirche, zur Zeit der Hexenprozesse des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit seine Macht aus der Entscheidungsgewalt über Leben und Tod erhielt, sichert sich der Souverän in „Corpus Delicti“ die ultimative Macht durch die Ausübung einer Foucaults Biomacht evozierenden, diese jedoch auch gleich wieder pervertierenden Form der Gewaltausübung. Die Foucaults Verständnis zugrundeliegende Verwaltung und Unterwerfung der Körper aller Bürger und das kalkulierte Management allen Lebens übersteigt in „Corpus Delicti“ aufgrund der Mitte des 21. Jahrhunderts womöglich zur Verfügung stehenden Technologien im Scheintod sogar die Schwelle des Todes. In den Worten von Mias verstorbenem Bruder Moritz: „Wer stirbt, entwischt. Wer eingefroren wird, gehört endgültig dem System. Als Jagdtrophäe“ (231). Somit wird individuelles Leben nicht nur selbst nach dem Scheintod noch vom Staat verwaltet und überwacht, sondern es geht endgültig in Systembesitz über. 23 In dieser Konstellation deutet sich bereits an, dass die Veränderungen von den spätmittelalterlichen Hexenprozessen zu Mias Gerichtsverfahren Mitte des 21. Jahrhunderts als marginal anzusehen sind. Auch die Prozessmethoden und die Machtverhältnisse vari Vgl. dazu Foucault: „The old power of death that symbolized sovereign power was now carefully supplanted by the administration of bodies and the calculated management of life.“ „Power would no longer be dealing simply with legal subjects over whom the ultimate dominion was death, but with living beings, and the mastery it would be able to exercise over them would have to be applied at the level of life itself; it was the taking charge of life, more than the threat of death, that gave power its access even to the body“ (Foucault, History. 1990, S. 139 – 140; S. 142 – 143).

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ieren nur wenig: Als Mia sich weigert, ein sogenanntes „Geständnis“ abzugeben, wird ihr ausgerechnet vom Journalisten Heinrich Kramer mit mittelalterlichen Foltermethoden gedroht. 24 Indem Kramer diese Aufgabe übernimmt, unterstreicht er sowohl die Abwesenheit rechtsstaatlicher Prinzipien als auch seine Machtposition. Gleichzeitig verdeutlicht er, dass vom 15. ins 21. Jahrhundert lediglich eine Machtverschiebung von der Kirche zu den Medien zu konstatieren ist, weswegen der Namensvetter des Dominikanermönchs Kramer in Zehs Roman sich durch seine, „den wichtigsten Teil des medialen Diskurses“ (35) ausmachende Berichterstattung für die Zeitung „Der gesunde Menschenverstand“ und durch seine Auftritte in den gleichgeschalteten Medien die Macht sichert. So hat Kramer, gerechtfertigt durch die zuerkannte Aufgabe der Medien, als vierte Gewalt im Staat zu fungieren, wie selbstverständlich Zugang zu internen Gerichtssitzungen, Gerichtsverhandlungen oder den Abhörprotokollen von Gesprächen, die Mia Holl mit ihrem Anwalt führt, 25 womit auch die moderne westliche Demokratien konstituierende Gewaltenteilung in Juli Zehs dystopischem Gesellschaftsentwurf als Makulatur erscheint. Entsprechend der realen Machtverhältnisse übernimmt Kramer die „Aufklärung“ über die modernen Foltermethoden der Gesundheitsdiktatur und schildert deren typischen Ablauf: „An den technischen Details hat sich wenig geändert. Da funktioniert im Wesentlichen alles wie vor fünfzig Jahren. Man stellt sie auf eine Kiste, nackt, versteht sich, und zieht Ihnen eine schwarze Kapuze über den Kopf. An Ihren Fingern, Zehen und primären Geschlechtsteilen werden Kontakte befestigt, Wäscheklammern nicht unähnlich. […] Die Stromstärke wird stufenlos hochgefahren. Zwei gut ausgebildete Ärzte vom Universitätsklinikum sorgen dafür, dass Sie nicht […] draufgehen.“ (235)

Für den impliziten Leser dürfte der Hauptstörfaktor von Kramers Schilderung im Wiedererkennungswert liegen. „Corpus Delicti“ stellt somit eine Form der Selbstbeobachtung von Gesellschaft dar, denn hier werden die Folgen von Entwicklungen imaginiert, die bereits begonnen haben: So zieht die beschriebene Szene ihre Kraft aus der Evokation der Bilder von Folterungen in Institutionen wie Guantanamo oder Abu-Ghraib, die sich transnational ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt haben. Die Positionierung des Folteropfers auf einer Kiste, Einzelheiten wie die Kapuze über dem Kopf und insbesondere Auch in diesem Punkt ist die Anlehnung an „Malleus Maleficarum“ deutlich, da Heinrich Kra­ mer insbesondere in Teil III. Frage XIII „Of the Points to be Observed by the Judge before the Formal Examination in the Place of Detention and Torture“ explizit die Folter zur Erlangung eines „freiwilligen Geständnisses“ befürwortet (vgl. Kramer/Sprenger, Malleus Maleficarum. 2007, S. 222 – 224). Mia verweist in „Corpus Delicti“ explizit auf den Fortbestand der mittel­ alterlichen Prozessmethoden (vgl. 235). 25 Kramer wird im Roman eingeführt, indem er mit der größten Selbstverständlichkeit und mit der „trügerische[n] Gelassenheit einer Raubkatze“ (15) einen Sitzungssaal des Gerichts betritt und betont: „‚Das Auge der vierten Gewalt schläft nie‘“ (16). Kramer rechtfertigt Mia gegenüber das Abhören ihrer Gespräche mit dem Anwalt: „‚Eine notwendige Sicherheits­maßnahme. Für Methodenfeinde gelten die Gesetze des Ausnahmezustandes.‘ – ‚Ich bin nicht als Methodenfeind, sondern wegen Suizidgefahr hier.‘ – ‚Das ist in etwa dasselbe‘“ (206). 24

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die Methode des Elektroschocks erinnern an den Fall des irakischen Abu-Ghraib-Insassen Satar Jabar. Auch an anderer Stelle angeführte Foltermethoden, denen Mia unterzogen wird, sowie die Folgen der Folter erinnern an wohlbekannte Zeitungsberichte. Dazu zählen Schlafentzug, Folter durch Licht und Dunkelheit, flackerndes Licht und Kälte ebenso wie die von Mia als „Kollateralschäden“ (242) bezeichneten Krämpfe, Spasmen, Schmerzen und Bewusstlosigkeit (238 – 241). Generell nimmt der Text somit Bezug auf die seit dem 11. September 2001 nicht nur, aber vor allem in den USA geführte Diskussion um die Rechtmäßigkeit von Folter und um die Normen dafür, was tatsächlich Folter konstituiert – als Stichwort sei hier nur das sogenannte waterboarding angeführt. Der Hinweis auf die Anwesenheit von Ärzten bei der Folter erfüllt dabei gleich mehrere Funktionen: Zum einen erscheint die Folter in Zehs Gesundheitsdiktatur, in der Leben als höchstes Gut gilt, dahingehend perfektioniert, dass im Unterschied zum Vorgehen der USA im Irak Gefangene nicht mehr systematisch zu Tode gefoltert werden. Im Gegensatz zu den Ärzten, die nach Aussage des Arztes und Bioethikers Steven Miles an den Folterungen in Abu Ghraib beteiligt waren, haben die Ärzte in „Corpus Delicti“ die Aufgabe, das Ableben der Gefolterten gerade noch zu verhindern. 26 Gleichzeitig verweist der Text durch die Anwesenheit der Mediziner bei der Folter auf die seit dem 20. Jahrhundert noch intensivierte strukturelle Verwobenheit verschiedener staatlicher Institutionen wie Medizin, Jurisprudenz und Strafvollzug – eine Konstellation, auf die Foucault bereits in seiner Vorstellung eines multidimensionalen Netzwerks von Wissen und Macht verwiesen hat. 27 4. „Das Mittelalter ist der Name der menschlichen Natur“ Für den Leser von „Corpus Delicti“ ergibt sich nun eine Konstellation, in der die imaginierte Science-Fiction-Diktatur sowohl am ausgehenden Mittelalter als auch in der Gegenwart des beginnenden 21. Jahrhunderts angebunden ist. Damit wird gleichzeitig Kritik an der Gegenwart und ihrem Umgang mit Menschen- und Bürgerrechten geübt und auch eine Warnung für die Zukunft ausgesprochen, womit Zehs Welt mehr als nur eine Zukunftsprojektion darstellt. Vielmehr geht es hier um Strukturen, die seit dem Mittelalter fest etabliert sind – oder in Mias Worten sogar dem Naturzustand entspre Zur Teilnahme von Ärzten an Folterungen in Kriegsgebieten siehe Miles, Steven H./Freed­man, Alfred M.: Medical Ethics and Torture: Revising the Declaration of Tokyo. In: The Lancet (24.01.2009), S. 344 – 348. ‹http://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS01406736(09)60097-0/fulltext› (Zugriff am 5.11.2010). Zur Rolle von Ärzten in Gefängnissen der USA und bei Exekutionen in den USA siehe O’Neill, Desmond/Collins, Ronon: Medical Ethics and Prisoners. In: The Lancet (14.03.2009), S. 896. ‹http://www.thelancet.com/ journals/lancet/article/PIIS0140-6736(09)60549-3/fulltext› (Zugriff am 5.11.2010); Gawande, Atul: When Law and Ethics Collide – Why Physicians Participate in Executions. In: The New England Journal of Medicine (23.3.2006), S. 1221 – 1229. ‹http://www.nejm.org/ doi/full/10.1056/NEJMp068042› (Zugriff am 5.11.2010). 27 Foucault, Discipline. 1995, S. 184 – 194. 26

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chen: „Das Mittelalter ist keine Epoche. Mittelalter ist der Name der menschlichen Natur“ (235). Mia evoziert hier Thomas Hobbes’ Vorstellung vom menschlichen Naturzustand, der vom Krieg aller gegen alle geprägt ist und vor dessen Gewalt das verängstigte Individuum – demnach per se kein soziales Wesen – nur durch einen allmächtigen Staat geschützt werden kann. 28 Gleichzeitig verweist sie darauf, dass der Souverän auch Mitte des 21. Jahrhunderts nach wie vor mit uneingeschränkter Gewalt herrschen kann, da der Staat selbst außerhalb des Gesellschaftsvertrags der Gesundheitsdiktatur etabliert und damit dem Recht übergeordnet ist. Ähnlich wie Hobbes’ Souverän ist auch die METHO­DE mit einem Gewaltmonopol ausgestattet, was unter anderem bedeutet, dass sie allein über Gesetze bestimmt und richtet, allein entscheidet, was als Doktrin gelten soll, und dass es dem Untertan nicht erlaubt ist, die Staatsgewalt der Ungerechtigkeit oder gar Fehlerhaftigkeit zu bezichtigen. 29 Und wie Hobbes’ Untertanen, die dem Krieg aller gegen alle entkommen wollen, unterwerfen sich die Bürger der METHODE aus Angst vor angeblichen Terroristen und Staatsfeinden unter ihren Mitmenschen dem staatlichen Gewaltmonopol und akzeptieren die sich daraus ergebenden Einschränkungen ihrer Freiheit und ihrer Individualrechte als Preis, den sie für vermeintliche Sicherheit zahlen müssen. 30 Auch an dieser Stelle liegt die verstörende Wirkung des Texts in der Warnung an die impliziten Leser der realen Gegenwart, ihren durch Gewaltenteilung gekennzeichneten Rechtsstaat sowie ihre Bürgerrechte nicht fahrlässig im Kampf gegen Terror oder Krankheit für eine angeblich größere Sicherheit und bessere Gesundheit einzutauschen. Trotz der Anlehnung an Hobbes’ Leviathan unterscheidet sich Juli Zehs Gesundheitsdiktatur in einem wesentlichen Punkt: Im Gegensatz zur „Zivilisation“ der METHODE Siehe dazu Hobbes, Thomas: Leviathan. Hrsg. von Crawford Brough Macpherson. London: Penguin 1985, S. 183 – 188. Hobbes führt darin aus: „Againe, men have no pleasure, (but on the contrary a great deale of griefe) in keeping company; […] Hereby it is manifest, that during the time men live without a common Power to keep them all in awe, they are in that condition which is called Warre; and such a warre, as is of every man, against every man“ (ebd., S. 185). Zum Gesellschaftsvertrag siehe ebd., S. 192 – 193. Bei Juli Zeh lässt nicht nur Mia, sondern auch ihr Erzfeind Kramer Hobbes anklingen: „Jeder von uns ist Egoist, und eine gelegentliche Kollision unserer Wünsche mit der allgemeinen Übereinkunft kann als alltäglich gelten“ (86). „Nach den großen Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts hatte ein Aufklärungsschub zur weitgehenden Entideologisierung der Gesellschaft geführt. […] Zur großen Überraschung aller Beteiligten fühlten sich die Menschen zur Jahrtausendwende jedoch nicht auf einer höheren Zivilisationsstufe, sondern vereinzelt und orientierungslos, sprich: nah am Naturzustand. […] Angst regierte das Leben […]“ (88). 29 Vgl. Hobbes, Leviathan. 1985, S. 228 – 239; vgl. Zeh, Corpus Delicti. 2009, S. 103, S. 161. 30 „And because the End of this Institution, is the Peace and Defence of them all; and whosoever has right to the End, has right to the Means; it belongeth of Right, to whatsoever Man, or Assembly that hath the Soveraignty, to be Judge both of the meanes of Peace and Defence; and also of the hindrances, and disturbances of the same; and to do whatsoever he shall think necessary to be done, both before hand, for the preserving of Peace and Security, by prevention of Discord at home and Hostility from abroad; and, when Peace and Security are lost, for the recovery of the same“ (Hobbes, Leviathan. 1985. S. 232 – 233). Vgl. Zeh, Corpus Delicti. 2009, S. 138 – 140. 28

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lehnte bereits Hobbes die Folter ab, da diese – fußend auf der Überzeugung, dass das Recht der Selbstverteidigung unveräußerlich sei – einen Angriff des Souveräns auf den Untertan dargestellt und eine Verletzung des Gesellschaftsvertrags bedeutet hätte. Aufgrund des mit der Folter assoziierten Eingriffs in die körperliche Integrität eines Menschen hat Hobbes also selbst für den potentiellen Straftäter einen solchen Eingriff als Rückfall in den Naturzustand vor dem Gesellschaftsvertrag und damit als illegitim erachtet. So gestand Hobbes dem Individuum das Recht zu, gegen den Souverän aufzubegehren, um sein eigenes Leben zu verteidigen, wenn dieses in Gefahr geraten sollte; ein Recht, das in Zehs Romanwelt wieder außer Kraft gesetzt ist. 31 Auf der a priori gesetzten Deckung von Individualinteresse und Interesse der Allgemeinheit in der METHODE aufbauend wird argumentiert, dass die Folter und das Verhängen der Höchststrafe, also eine Verurteilung zum Scheintod, als Indiz für den Respekt vor dem eigenen Willen des Angeklagten ausgelegt werden kann (255). Selbst die Gepflogenheit der mittelalterlichen Hexenprozesse, die Angeklagten „laufen [zu] lassen, wenn sie die Folter überstanden“ (243), auf die Mia verweist, sind außer Kraft gesetzt. Die Auf- und Verstörung, die von „Corpus Delicti“ ebenso wie von Juli Zehs Essays ausgehen kann, liegt demnach in der Aufforderung an ihre Leser, eine Welt wie die von der Autorin imaginierte zu verhindern. Gerade indem „Corpus Delicti“ die Grenzen der Möglichkeiten zur Störung und zum subversiven Unterlaufen von Normen gestaltet und verhandelt, wird die Notwendigkeit, die gegenwärtige Gesellschaft aufzustören untermauert. Kümmel und Schüttpelz verweisen bereits auf den Umstand, dass „sich die Zeitlichkeit der Störung als prägnante Nachträglichkeit“ entfaltet. 32 Für „Corpus Delicti“ besagt dies: Zeh prognostiziert eine Entwicklung, die vermutlich von der breiten Bevölkerung erst im Nachhinein als Beeinträchtigung des gegenwärtigen Rechtsstaats erfahren werden kann. Zeh nutzt demnach die literarische Form, um sowohl auf die graduelle Aufweichung (noch) bestehender Normen von Rechtsstaatlichkeit als auch auf die mit einem Aufweichen dieser Standards verbundenen Gefahren hinzuweisen. Folgt man Zehs Appel, bleibt eine Zukunft gestaltbar, die im Sinne Bhabhas zu verstehen ist als „interstitial future“, die Zwischenräume kreativ bildet, die aus den Anforderungen der Vergangenheit und der Gegenwart hervorgeht und die gerade durch die beständig andauernde Aushandlung gesellschaftlicher Toleranzgrenzen gegenüber dem Staat und seinen Institutionen Zukunft (wieder) zu einer offenen Frage werden lässt. 33 Mit „Corpus Delicti“ unterstreicht Juli Zeh folglich die ihrer Meinung nach dringliche Notwendigkeit, in die gegenwärtige Diskussion um das zukünftige Verhältnis von Individuum und Staat einzugreifen. Begreift man wie Trojanow und Zeh den Umgang westlicher Demokratien mit ihren Bürgern, aber auch mit den Bürgern anderer, vermeintlich nicht-demokratischer Staaten, als Zeichen einer Zerstörung des demokratischen Selbstverständnisses und der rechtsstaatlichen Errungenschaften, so müssen die aufstörenden „Subjects have Liberty to defend their own bodies, even against them that lawfully invade them“ (Hobbes, Leviathan. 1985. S. 268 – 269). 32 Kümmel/Schüttpelz, Medientheorie. 2003, S. 11. 33 Vgl. Bhabha, Location. 2004, S. 313; S. 314. 31

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Schriften dieser Autoren als Versuch der Entstörung der gestörten und von Zerstörung bedrohten Demokratien verstanden werden. Sie zielen auf eine Aufstörung von Lesern und Öffentlichkeit ab. 34 In ihrer in „Corpus Delicti“ imaginierten Welt verdeutlicht Zeh den Effekt, den die Infragestellung der Grenzen von derzeit im Fluss befindlichen Vorstellungen über Ordnung, Rechtsstaat, Privatsphäre und Gemeinschaft ihrer Meinung nach haben wird. Die Verstörung für die westlichen Gesellschaften der Gegenwart soll somit in der Erkenntnis bestehen, dass die Tradition der Hexenjagd, die in unserer realen Welt noch relativ harmlos mit dem Einführen von gesetzlichem Rauchverbot, Krankenversicherungskarte inklusive Chip, maschinenlesbarem Pass, Überwachung des Internets durch den Verfassungsschutz und Speicherung elektronischer Daten begonnen hat, in einen Terrorstaat münden kann, der seine Bürger perfekt überwacht und bei Zuwiderhandlungen bedroht. Mit der von ihren Schriften ausgehenden Auf- und Verstörung will Zeh folglich gleichzeitig hemmend auf den Prozess des Demokratieabbaus einwirken und die Diskussion um das Verhältnis von Individualrechten und Staat fördern.

Trojanow/Zeh, Angriff. 2009, S. 16; S. 19.

34

Matthias Braun

Recherchen zur Entstehungsgeschichte von Monika Marons Roman „Flugasche“ – Ein Beispiel für „Aufstörung“ und Aushandlung gesellschaftlicher Toleranzgrenzen in einer geschlossenen Gesellschaft.

1. Zensur als generelle Kontrolle von Kommunikation Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Zensur reicht bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Zu diesem Zeitpunkt erschienen erste Materialsammlungen, welche die politisch brisante Zensur der Vormärzepoche dokumentierten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben die Arbeiten von Heinrich Hubert Houben bis in die 1960er Jahre hinein den Zensurdiskurs und insbesondere die Beschäftigung mit konkreten Zensurfällen bestimmt. 1 Seitdem ist dem Phänomen Zensur aus unterschiedlichsten disziplinären Perspektiven u. a. der allgemeinen Geschichte, Literatur-, Rechts- und Kirchengeschichte, wie auch der Soziologie und Publizistik Beachtung geschenkt worden. Nichts desto Trotz ist eine Geschichte der Zensur ein wissenschaftliches Desiderat geblieben. Im literarisch bzw. literaturhistorisch orientierten Verständnis versucht Zensur sowohl den kommunikativen Aspekt literarischer Äußerungen als auch deren prinzipiellen Autonomie-Anspruch zu stören bzw. zu unterbinden. Die sogenannte schöngeistige Literatur, um die es uns im vorliegenden Zusammenhang geht, wurde und wird auch heute noch in erster Linie als Meinungsäußerung vor dem jeweils gültigen gesellschaftlichen Normenhorizont und erst in zweiter Hinsicht als ästhetisches Produkt betrachtet. Aus historischer Perspektive lassen sich Normen und Normenwandel genauer fassen, die für Zündstoff sorgten und für Kollisionen zwischen Literatur und konfessionellen oder staatlichen bzw. politischen Institutionen verantwortlich sind. Auch die Kon­ trollsysteme und ihre Elemente (Gesetzte, Vorschriften, Zensurinstitutionen), die solche Kollisionen zu verhindern suchen oder im Nachhinein mit Sanktionen belegen, häufig mittels repressiver Maßnahmen, sind auf diese Weise in ihrem jeweiligen Kontext rekonstruierbar und in ihrer Wirkung zu beurteilen. Diesem Ansatz folgend, lässt sich literarische Zensur definieren als „Gesamtheit aller formellen und informellen Mechanismen

Vgl. Plachta, Bodo: Zensur. Stuttgart: Reclam 2006, S. 10.

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mit dem Zweck, die Produktion oder Distribution von Literatur zu verhindern, zu kontrollieren oder fremdzubestimmen.“ 2 In der DDR existierten über die Jahrzehnte hinweg mindestens vier wichtige Zensurinstanzen: die Schere im Kopf des Autors (Selbstzensur), die Verlagslektorate, die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur als höchstes staatliches Zensurorgan und das allmächtige Politbüro der SED. Ganz allgemein gesagt bedeutete Zensur im DDR-Kulturbetrieb die Unterdrückung kritischer bzw. vom sozialistischen Realismus abweichender Äußerungen in Schrift, Bild, Wort und Ton durch Beeinflussung, Disziplinierung und Maßregelung der Künstler und Schriftsteller durch die genannten Institutionen bzw. in ihrem Auftrag agierenden Personen. Niklas Luhmann zufolge sind „Störungen“ Indikatoren für Ereignisse in der Umwelt eines Systems, die eine kommunikative Bearbeitung innerhalb des Systems, in Form von „Selbstirritation“ hervorrufen. 3 Auf die schönen Künste übertragen, rechnet Luhmann die Auslösung von Irritationen zu ihren vornehmsten Aufgaben und weist zugleich darauf hin, dass moderne Gesellschaftssysteme Formen negierender Selbstbeobachtung ausdifferenzieren, gerade um „Widerstand von Kommunikation gegen Kommunikation zu inszenieren und damit die Gesellschaft mit Realität zu versorgen, die sie anders nicht konstruieren könnte.“ 4 Diese Überlegung und die damit verbundenen produktiven Herausforderungen lagen für die SED-Kulturfunktionäre außerhalb ihrer eindimensionalen Betrachtungsweise, wie sie vormodernen Gesellschaftstypen eigen ist. Folglich wurden vom Machtapparat „Störungen“ im Literaturbetrieb der DDR nicht als ein produktiver Prozess eines permanenten Wechsels von Aufstörung und Aushandlung gesellschaftlicher Toleranzgrenzen verstanden. 5 Die SED-Staatspartei stufte diese Vorgänge regelmäßig als Angriffe auf ihr Wahrheitsmonopol ein, welche es um des eigenen Machterhaltes zu verhindern galt. Vor diesem Hintergrund halte ich es für lohnenswert, einem erweiterten Zensurbegriff zu folgen, der unter Zensur eine generelle Kontrolle von Kommunikation versteht, die das Ziel verfolgt, die öffentliche Wirkung bestimmter Meinungen und Ansichten zu unterbinden oder zu behindern. Zensur wird damit zu einem Mittel für eine soziale Kontrolle, die die jeweiligen Machtverhältnisse in ihrem Bestand garantieren soll. So gesehen geht es bei Zensurfällen bzw. -vorgängen nicht mehr nur um einen mehr oder weniger präzise beschreibbaren institutionalisierten Prozess zwischen demjenigen, der Zensur ausübt (der sich „gestört“ fühlt) und demjenigen, der zensiert wird (der „Aufstörung“ verursacht), sondern um einen komplexen Prozess von gesellschaftlicher Kommunikation, der nicht nur für totalitäre Gesellschaften konstitutiv ist. Guggenbühl, Christoph: Zensur und Pressefreiheit. Kommunikationskontrolle in Zürich an der Wende zum 19. Jahrhundert. Zürich: Chronos 1996, S. 30. 3 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 118. Zum systemtheoretischen Ansatz vgl. ausführlich die Beiträge von Gerhard Preyer und Carsten Gansel in diesem Band. 4 Luhmann, Gesellschaft. 1998, S. 790 bzw. 865. 5 Zu den diskursanalytischen Grundlagen der folgenden Ausführungen vgl. den Beitrag von Norman Ächtler in diesem Band. 2

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Um gestörte Kommunikationsprozesse im Literaturbetrieb einer geschlossenen Gesellschaft wie der DDR gründlich erforschen zu können, braucht es viel Zeit und Raum. Beides stand bisher nur begrenzt zur Verfügung. Dementsprechend kann es zunächst einmal nur darum gehen, das Potential der einschlägigen Quellen aus den verschiedensten Institutionen an einem einzigen Beispiel vorzustellen. Dabei handelt es sich um das literarische Debüt der 1941 geborenen und in Ostberlin aufgewachsenen Monika Maron, den Roman „Flugasche“. 2. Zur Entstehungsgeschichte von Monika Marons Roman „Flugasche“ Monika Maron hatte ihren Roman „Flugasche“zunächst im reformerischen Geist der frühen 1970er Jahre begonnen und erst nach der Biermann-Ausbürgerung im Herbst 1976 kompromisslos zu Ende geschrieben. 6 Der Text, ursprünglich unter dem Arbeitstitel „Abgang“ begonnen, nach langen Debatten im Greifenverlag in „Und morgen komme ich wieder“ verändert und letztendlich unter dem Titel „Flugasche“ 7 1981 nur im Westen erschienen, ist der Roman eines Umbruchs, einer schwierigen Selbstbehauptung. Dabei überlagern sich mehrere Erzählebenen. Die junge Journalistin Josefa Nadler schreibt, frei von innerer Selbstzensur, 8 eine Reportage über „die schmutzigste Stadt Europas“. 9 Gemeint ist hiermit die Industriestadt Bitterfeld. Die Protagonistin berichtet von einem veralteten, maroden Kraftwerk und dessen giftigen Asche-Emissionen, von ihren Begegnungen mit den Arbeitern dieses Werkes, die nur mehr sarkastisch reagieren auf eine aus der Hauptstadt kommende Journalistin, die vorgibt, „die Wahrheit“ schreiben zu wollen. Josefa Nadler reflektiert über die vorgefundene Grauheit des alltäglichen Lebens und der Entfremdung der Städter von ihrer Umwelt, über den körperlichen Raubbau der noch immer stattfindenden Schwerstarbeit, von dem durch Menschen produzierten unsäglichen Dreck, von den riesigen Mengen der titelgebenden Flugasche, die in dem sächsisch-anhaltinischen Chemiedreieck Tag für Tag in die Luft gepustet werden und damit die Menschen und ihre Umwelt krank machen. Auf einer zweiten Erzählebene lernen wir eine Josefa kennen, die zwischen Beruf und Privatleben ihre oft anarchischen Wünsche und Sehnsüchte nach Freizügigkeit und Autonomie zu realisieren versucht. Eine junge Frau, die sich in dem Maß zunehmend ra Die Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976 war eine die Literaten und Künstler der DDR aufwühlende Schikane. Die daraufhin von einigen Schriftstellern verfasste Petition erfolgte primär aus der berechtigten Furcht, dass mit der Ausbürgerung eines Kollegen die ureigenen Interessen infrage gestellt wurden. Mit dem Satz: „Unser sozialistischer Staat […] müsste im Gegensatz zu anachronistischen Gesellschaftsformen eine solche Unbe­quem­lichkeit gelassen nachdenkend ertragen können“, gingen die Schriftsteller dann aber weit über die eigenen Probleme hinaus, stellte diese Äußerung doch im Kern das praktizierte Politikverständnis der SED-Führung infrage. 7 Zu den Beweggründen, den Romantitel mehrfach zu verändern, gibt das vorliegende Material keine weiteren Hinweise. 8 Unter innerer Selbstzensur ist die bereits genannte „Schere im Kopf des Autors“ zu verstehen. 9 Maron, Monika: Flugasche. Frankfurt/M.: Fischer 1981, S. 36. 6

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dikalisiert, in dem die Widerstände ihrer zumeist männlichen Umgebung wachsen. Josefa Nadler erlebt den Prozess persönlicher Distanzierungen, die Isolation, in der sie sich ­– halb hineingedrängt, halb Ruhe suchend – wiederfindet. Ihr Rückzug, ihre erschöpfte, frustrierte Müdigkeit wird von der Autorin am Ende des Romans mit einem Hauch konkreter Utopie kontrastiert. Während die Genossen der Parteigruppe von Josefas Redaktion noch über ihren Parteiausschluss aus der SED beraten, hat zwischenzeitlich der „höchste Rat“ 10 (das Politbüro der SED) die Stilllegung des verschlissenen Kraftwerkes beschlossen. Der kleine thüringische Greifenverlag, bekannt für die Herausgabe mancher problematischer Bücher in der DDR, 11 hatte im Frühjahr 1976 von Monika Maron ein Exposé und eine Leseprobe für einen Roman erhalten. Nach gründlicher Prüfung beider Texte war der Verlag zu der Auffassung gelangt, dass es sich bei der Autorin um „ein bedeutendes literarisches Talent“ 12 handele. Dieser Eindruck bestätigte sich für die Verlagsleitung mit der Einreichung eines Teilmanuskripts und dann erneut mit der Ablieferung einer vollständigen Erstfassung im Frühjahr 1978. Dessen ungeachtet notierte die Verlagsleitung nur wenig später, dass sich mit der Autorin erhebliche Probleme eingestellt hatten. Zum einen habe sich im Laufe des Schreibprozesses die Handlungsweise ihrer Hauptfigur zunehmend radikalisiert und zum anderen „geriet die Autorin in einen immer tieferen Widerspruch zur Politik unserer Partei. Sie sprach ihr die Fähigkeit ab, die Gesellschaft auf revolutionäre Weise zu führen. Überall sah sie Kleinbürgerlichkeit, Stagnation, Unaufrichtigkeit“, 13 ist in der verlagsseitig angelegten Dokumentation zu Monika Marons Roman zu lesen. Im Zeitraum vom Sommer 1978 bis zum Frühjahr 1979 führte der thüringische Greifenverlag mit seiner Autorin etliche Arbeitstreffen durch, in denen auch über die Anregungen der vom Verlag bestellten Gutachter gesprochen wurde. Ziel der Gespräche war es, die Autorin von zahlreichen inhaltlichen Veränderungen zu überzeugen, um dem Manuskript die politische Schärfe zu nehmen. Dazu gehörte nach Auffassung des Verlags die Streichung ganzer Szenen, wie etwa die Schilderung der Einlasskontrolle in das ZK-Gebäude oder auch jene Passagen, in denen die Abgehobenheit der Parteiführung vom Volk beschrieben wurde. 14 Bei der Schilderung des Besuches ihrer Heldin Josefa im Haus des Zentralkommitees der SED war Monika Maron auf gar keinen Fall gewillt, auf den Vorschlag des Verlages einzugehen. Bei der Schilderung der Isolierung der Parteiführung signalisierte sie zumindest die Bereitschaft, die Beschreibung abzumildern, »ohne sich jedoch [zum Ärger des Verlages, M.B.] zu einer konsequenten Änderung zu entschließen«. 15 So können wir dann beispielsweise über Josefas Gang zum ZK lesen: Diese Formulierung taucht mehrfach im Text, letztmalig auf S. 243 auf. Vgl. Wurm, Carsten u.a.: Der Greifenverlag zu Rudolstadt 1919 – 1993.: Wiesbaden: Harrassowitz 2001. 12 Greifenverlag: Verlagsgutachten zu Monika Maron „Und morgen komm ich wieder“ v. 16.07.1979: BStU, MfS, AOP 6784/89, Bd. 1, Bl. 115 – 118, hier Bl. 118. 13 Greifenverlag Rudolstadt: Dokumentation zur Arbeit mit dem Manuskript „Und morgen komm ich wieder“ von Monika Maron; BStU, MfS, AOP 6784/89 Bd. 3, Bl. 194 – 200, hier Bl. 194. 14 Maron, Monika: Flugasche. Frankfurt/M.: Fischer 1981. S. 176 f. 15 Greifenverlag Rudolstadt: Dokumentation zur Arbeit mit dem Manuskript „Und morgen komm ich wieder“ von Monika Maron; BStU, MfS, AOP 6784/89 Bd. 3, Bl. 194 – 200, hier Bl. 197. 10 11

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„Durch eine kleine Tür in der Längsfront betrat Josefa das Gebäude, […] links ein Fenster in einer Holzwand, die Anmeldung. Josefa stellte sich vor den Schalter, der so gebaut war, dass die Verständigung des Pförtners mit dem Besucher und die Verständigung des Besuchers mit dem Pförtner nur durch eine Öffnung zwischen dem unteren Rand der mattierten Glasscheibe und der hölzernen Brüstung und durch ein geräuschdurchlässiges Sieb in der Mitte der Scheibe möglich war. Zu wem möchten Sie, den Ausweis bitte, sagte der Beamte und sah dabei auf den Spalt zwischen der Scheibe und dem Holz, durch den Josefa ihren Ausweis reichen sollte. […] Der Beamte schob durch den Schlitz unterhalb der Glasscheibe einen Schein, der Josefa zum Passieren des Haupteinganges berechtigte, und sagte, der Genosse erwartet sie, Eingang um die Ecke. […] In der hohen, mit Teppichen und Porträts geschmückten Eingangshalle verglich ein Soldat sorgfältig Josefa mit ihrem Ausweis und den Ausweis mit dem Passierschein, durchblätterte jede Seite sorgfältig und ernst. Der Soldat gab Josefa den Ausweis und den Schein zurück, legte die rechte Hand an den Mützenschirm, sagte nichts. In der hinteren Ecke des Foyers fand Josefa den Paternoster.“ 16

Spätestens seit Ende 1977 war die Berliner Zentrale der Staatssicherheit mindestens durch einen ihrer hochkarätigen IM nicht nur über die einzelnen Entwicklungsstufen von Monika Marons Manuskript informiert, 17 sie versuchte über diesen IM auch Einfluss auf das Manuskript zu nehmen. Zum Leidwesen des inoffiziellen Mitarbeiters und seines Führungsoffiziers stellte sich aber heraus, dass das Wort anderer Freunde bei der Autorin ein viel größeres Gewicht besaß als die Hinweise und Ratschläge des IM. Das MfS sprach in diesem Zusammenhang von Personen, die „eine stärkere Ausstrahlungskraft besitzen.“ 18Außerdem war die MfS-Kreisdiensstelle Rudolstadt durch den Cheflektor des Greifenverlages, Ernst Karl Wenig, der als GMS (Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit) für das MfS Spitzeldienste leistete, stets gut informiert. Im Rahmen der späteren Manuskriptbearbeitung versuchte die Berliner MfS-Zentrale auch über den GMS Wennig ihre Änderungswünsche durchzusetzen. 19 Nach Informationen der für die Spionageabwehr zuständigen Diensteinheit des MfS hatte Monika Maron schon 1977 Zweifel daran geäußert, ob ihr Roman überhaupt in der DDR erscheinen werde. „Im Falle der Ablehnung hat sie die Absicht, ihn in der BRD zu veröffentlichen. Als zusätzliche Handlung für diesen Fall hat sie sich vorgenommen, demonstrativ aus der SED auszutreten“, verriet der IM. 20 Außerdem ist diesem Bericht zu entnehmen, „die Maron besitze Rudolf Bahros bekanntestes Buch ‚Die Alternative‘, teile dessen Auffassungen und habe Bahros Ansichten auch in ihrem Bekanntenkreis weiter verbreitet. 21 Maron, Flugasche. 1981, S. 176 f. Beispielsweise befindet sich in den MfS-Unterlagen zu Monika Maron eine komplette Fabel­ erzählung des beabsichtigten Romans. Vgl. HA II/1: Auskunftsbericht v. 6.01.1978; BStU, MfS, AOP 6784/89 Bd. 1, Bl. 9 – 15, hier Bl. 10 f. 18 Ebd. Bl. 12. 19 Information v. 20.06.1979: BStU, MfS, AOP 6784/89 Bd. 1, Bl. 69 f. 20 Ebd. 21 Ebd. – Rudolf Bahro (1935 – 1997) hat in seinem, im Sommer 1977 nur im Westen erschie­ne­ 16 17

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Von der Abteilung „Agitation“ des MfS 22 liegt eine Einschätzung der 1. Fassung des Romans aus dem September 1978 vor. Diese Einschätzung liest sich wie eine einzigartige Auflistung von Mängeln. Beispielsweise entspreche das Manuskript nicht einer Literatur, wie sie der Kulturideologe Hans Koch im SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ forderte: eine Literatur, „die mit Enttäuschung fertig zu werden hilft, die Verzweiflungen auslotet, um aus ihnen empor zu reißen, die alle – aber auch alle – Gefühlslagen eines unendlich schwierigen historisch schöpferischen Prozesses sich zu eigen macht – eine solche Literatur wird gebraucht.“ 23 Ferner weist das Gutachten daraufhin, dass das „eigentliche Thema dieses Romans, die Auseinandersetzung Intellektueller mit der sozialistischen Gegenwart, häufig im Gespräch und Programm der DDR-Verlage [ist].“ 24 Erinnert wird in diesem Zusammenhang an „Tod am Meer“ von Werner Heiduczek, „Versteckspiel“ von Bodo Homburg. Erich Loests „Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene“ und Klaus Poches nur im Westen erschienenes Buch „Atemnot“. Nach Ansicht der Abteilung Agitation des MfS überwiegen in den genannten Büchern, wie auch in Monika Marons Text unangebrachte „pessimistische Tendenzen“. 25 Trotz der kritischen Einwände empfahl das Gutachten, die Gesprächsbereitschaft der Autorin zu nutzen. Ziel der Konsultationen mit der Autorin solle es sein, die Aussagen des Romans zu „objektivieren und damit seine Wirkung zu verstärken.“ 26 Auf keinen Fall sollte es darum gehen, die Veröffentlichung des Buches zu verhindern. Zwei Jahre nach der Biermann-Ausbürgerung war dem Machtapparat vor allem daran gelegen, in der Kulturszene einstweilen jeden neuen Skandal zu verhindern. In diesem Kontext bevorzugte das MfS, wie auch in zahlreichen anderen Fällen eine enge Zusammenarbeit mit dem Leiter der HV Verlage, Klaus Höpcke. Einer Aktennotiz des MfS entnehmen wir: „Zum Gen. Höpcke besteht von Seiten des Gen. Gütling [zuständiger MfS-Offizier, nen Buch „Die Alternative“, von marxistischen Positionen ausgehend, das Gesellschaftssystem sowjetischen Typs als „asiatische“ Entfremdung und die Herrschaft der Staatsparteien in den sozialistischen Ländern als entscheidendes Entwicklungshemmnis der weiteren menschlichen Emanzipation beschrieben. Bereits nach der Veröffentlichung von Buchauszügen im „Spiegel“ wurde Bahro vom MfS verhaftet und schließlich wegen „Übermittlung von Nachrichten für eine ausländische Macht und Geheimnisverrat“ zu acht Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Nach starken internationalen Protesten konnte Bahro im Herbst 1979 in die Bundesrepublik ausreisen. 22 Bei der Abteilung Agitation handelte es sich um eine zentrale Diensteinheit des MfS, die für die Erarbeitung von Ausstellungen, Printpublikationen und Spielfilmen zur Tätigkeit des MfS sowie für die Platzierung solcher Themen in den Medien sorgte. Vgl. MfS-Lexikon. Begriffe, Personen und Strukturen der Staatssicherheit der DDR. Hrsg. von Roger Engelmann u. a. Berlin: Ch. Links 2011, S. 19 f. 23 Koch, Hans: In: „Neues Deutschland“ (15.04.1978), S. 4. 24 MfS, Abteilung Agitation: Einschätzung des Romanmanuskriptes „Josefa“: BStU, MfS, AOP 6784/89 Bd. 3, Bl. 98 – 107, hier Bl. 101. 25 Ebd. 26 Ebd.

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M.B.] ein offizieller Kontakt. […] Dieser Weg ist nach Angaben des Gen. Gütling gangbar und wird häufig genutzt.“ 27 Von weiterer Bedeutung scheint uns in diesem Kontext auch das abschließende Ergebnis der Abteilung „Agitation“ zu Monika Marons Text zu sein, wenn es da heißt: „Objektive sowie subjektive Tatbestandsmerkmale entsprechend dem § 106 des StGB [Staatsfeindliche Hetze, M.B.] der DDR konnten nicht konkret erarbeitet werden.“ 28 Im April 1979 legte Monika Maron dem Greifenverlag unter dem Titel „Und morgen komme ich wieder“ ihr überarbeitetes Manuskript mit der Bemerkung vor, „nun nichts mehr ändern zu können.“ Aus den Verlagsaufzeichnungen geht hervor, dass die Leitung des Greifenverlags ebenfalls zu der Auffassung gelangt war, dass „nochmalige Änderungsvorschläge zu nichts führen würden.“ 29 Schließlich handelte es sich bei der nun vorliegenden Fassung um das Ergebnis zahlloser Arbeitstreffen von mehreren Verlagsmitarbeitern mit Monika Maron. Dazu gehörten auch Gespräche mit der Autorin, in denen es um das Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit ging. Monika Maron hatte in diesem Zusammenhang erklärt: „Natürlich weiß ich, dass es Unsinn wäre, Ideale gegen die Wirklichkeit auszuspielen. Darum geht es mir nicht. Wir sind schließlich von vielen historischen Umständen abhängig. Aber aus Furcht vor diesem Ausspielen kann man doch nicht aufhören, an unsere Ideale zu denken, über sie zu sprechen, sie lebendig zu erhalten und weiter auszuformen. […] Sie zu verschweigen hieße für mich, die vorhandene Wirklichkeit, den gegenwärtigen Zustand, als Ideal zu nehmen. Und dass die Menschen an den Entscheidungen mehr beteiligt werden und dann die Entscheidungen als Resultate ihres Handelns erleben, das kann und sollte auch bei uns schon in höherem Maße als es geschieht verwirklicht werden.“ 30

Pflichtgemäß holte der Verlag die erforderlichen Außengutachten ein. Der Gutachter Heinz Plavius schrieb beispielsweise: „Er [der Roman] kann als eine Wortmeldung dieser neuen Art kritischen Umgangs mit unserer sozialistischen Wirklichkeit angesehen werden.“ 31 Die Gutachterin Siegrid Töppelmann befürwortete ebenfalls die Veröffentlichung des Manuskripts, hielt aber eine gründliche Durcharbeitung für angebracht, „um das Manuskript auch künstlerisch unangreifbar zu machen. Es fiele mir dann leichter, seine Veröffentlichung zu empfehlen, zu der es jedoch unbedingt kommen sollte.“ 32 Nachdem auch der dritte Gutachter, der Schriftsteller Karl Heinz Berger befand: „Es wäre HA II/1: Aktenvermerk v. 13.09.1978: BStU, MfS, AOP 6784/89 Bd. 1, Bl. 30. Abt. Agitation: Einschätzung des Romanmanuskriptes »Josefa« von Monika Maron v. 13.09.1978: BStU, MfS, AOP 6784/89 Bd. 3, Bl. 98 – 107, hier Bl. 98. 29 Greifenverlag: Dokumentation v. 27.08.1979; BStU, MfS, AOP 6784/89 Bd. 3, Bl. 194 – 200, hier Bl. 199. 30 Greifenverlag: Gutachten zu Monika Maron „Und morgen komm ich wieder“ v. 16.07.1979: BStU, MfS, AOP 6784/89 Bd. 3, Bl. 115 – 118, hier Bl. 117. 31 Heinz Plavius: Gutachten zu Monika Maron. o. D. [ Juli 1979]: BStU, MfS, AOP 6784/89 Bd. 3, Bl. 150 – 155, hier Bl. 155. 32 Siegrid Töppelmann: Gutachten zu Monika Maron „Abgang“ v. 12.01.1979: BStU, MfS, AOP 6784/89 Bd. 3, Bl. 166 – 171. 27 28

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jammerschade, wenn das beachtliche Erzähltalent der Autorin sich nicht in einer Buchveröffentlichung bestätigen sollte“ 33 , erfolgte Ende April 1979 die offizielle Abnahme des Manuskripts im Greifenverlag. Drei Monate später lag ein sogenanntes Abschlussgutachten von Dr. Marianne Schmidt vom Leipziger Literaturinstitut vor. Auch ihr Votum war positiv ausgefallen, sodass der Einreichung eines Druckantrags durch den Greifenverlag bei der obersten staatlichen Zensurbehörde, der Hauptverwaltung Verlage im Ministerium für Kultur, nichts mehr im Weg stand. Seinem Antrag legte der Verlag ein eigenes Gutachten bei. Dort heißt es: „Der Verlag steht bei diesem Roman vor keiner leichten Entscheidung. Das beachtliche literarische Talent Monika Marons ist ebenso zu berücksichtigen wie die Tatsache, dass sie sich für die Ausprägung sozialistischer Inhalte unseres Lebens leidenschaftlich engagiert. Anderseits greift sie bestimmte Fragen mit Unbedenklichkeit und auch mit losem Mundwerk auf, was einen Teil der Leser gewiss schockieren wird. Die von der Autorin nunmehr vorgenommenen Veränderungen scheinen uns aber ausreichend zu sein, die Herausgabe vorzusehen.“ 34 Einen Monat später, im August 1979, führte der Cheflektor Ernst Karl Wenig 35 ein weiteres Gespräch mit Monika Maron, um, wie es hieß, „ihre Entwicklung zu verfolgen und sie über das Abschlussgutachten der Genossin Marianne Schmidt zu informieren.“ 36 Deren Gutachten schloss mit der Bemerkung ab: „Sicher wird es beim Erscheinen des Buches Diskussionen und nicht nur reine Begeisterung geben, aber darauf ist die Autorin sicher mehr gefasst als Josefa auf die Folgen ihrer Reportage. Aus allem geht wohl hervor, dass ich gegen den Druck nichts einzuwenden hätte.“ 37 Dem Gespräch zwischen dem Cheflektor Wenig und Monika Maron war eine Konsultation der Verlagsleitung bei der Hauptverwaltung Verlage vorausgegangen. 38 Dort teilten die Genossen ganz und gar nicht die positiven Voten der Gutachter, auf die allesamt die Bezeichnung sozialistischer Literaturwissenschaftler zutraf. Die Hauptver Karl-Heinz Berger: Bemerkungen zu „Und morgen komm ich wieder“ o. D. [1979]: BStU, MfS, AOP 6784/89 Bd. 3, Bl. 124 – 127. 34 Greifenverlag: Verlagsgutachten zu Monika Maron „Und morgen komm ich wieder“ v. 16.07.1979: BStU, MfS, AOP 6784/89 Bd. 3, Bl. 115 – 118, hier Bl. 118. 35 Ernst Karl Wenig (1923 – 1985) hatte in Leipzig Journalistik und in Jena Germanistik studiert. Er war bereits Mitte der 1950er Jahre schon einmal Cheflektor des Greifenverlages. In den 1960er Jahren war er zeitweilig in der Redaktion der SED-Bezirkszeitung Volkswacht beschäftigt und trat Mitte der 1960er Jahre erneut in den Greifenverlag ein. 1979 beklagte er sich bei Klaus Höpcke über seinen Verlagschef, den Sorben Hubert Sauer. Der war 1979 bei der HV Verlage wegen etlicher Streitigkeiten um verschiedene Druckgenehmigungen in die Kritik geraten und im Herbst 1979 durch Wenig abgelöst worden. Sowohl Wenig als auch Sauer waren beim MfS als IM registriert. Wenig für die KD Rudolstadt und Sauer für die Abt. XV der BV Gera (Westarbeit) des MfS. 36 Greifenverlag: Dokumentation v. 27.08.1979: BStU, MfS, AOP 6784/89 Bd. 3, Bl. 194 – 200, hier Bl. 199. 37 Marianne Schmidt: Gutachten zu Monika Marons: „Und morgen komme ich wieder“ v. 10.07.1979: BStU, MfS, AOP 6784/89 Bd. 3, Bl. 119 – 123, hier Bl. 123. 38 Ob der Verlagsleiter Sauer oder der Cheflektor Wenig zu der Konsultation gefahren war, geht aus den Unterlagen nicht hervor. 33

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waltung Verlage empfahl vielmehr der Leitung des Greifenverlages, „gemeinsam mit der Autorin eine Überarbeitung des Manuskriptes vorzunehmen.“ 39 Der bereits erwähnte Leiter der Hauptverwaltung und damit zugleich im Rang eines stellvertretenden Kulturministers agierende Klaus Höpcke, gab der Verlagsleitung diverse Änderungsvorschläge mit auf den Weg. Sie betrafen, so Höpcke gegenüber seinem Vorgesetzten, dem DDR-Kulturminister Hans Joachim Hoffmann, „sowohl die künstlerische Gestaltung als auch die politisch-ideologische Aussage.“ 40 Im Einzelnen wurden „Veränderungen der epischen Gestaltung von Figuren sowie der Aussagen zur Wirkung der Industriearbeit in der sozialistischen Gesellschaft, zur Verabsolutierung von Problemen der Medienpolitik oder des demokratischen Zentralismus für notwendig erachtet. Dabei spielten subjektivistische Haltungen der Autorin eine Rolle.“ 41 Bloß keine neuen „Aufstörungen“ durch problemorientierte Gegenwartsromane schien im Kulturministerium die Devise zu sein. Angesichts dieser Vorgaben notierte die Verlagsleitung nach ihrer Unterredung mit Monika Maron: „Ihr Skeptizismus ist unverändert, hat sich vielleicht noch verstärkt, und das lässt uns fragen, ob es nicht ratsam wäre, dass sich gesellschaftliche Kräfte in Berlin selbst um die Autorin kümmern und politisch mit ihr arbeiten. Der […] Verlag schafft das nicht allein. Unsere Gesellschaft sollte um dieses literarische Talent kämpfen. Nicht nur weil Monika Maron die Tochter unseres ehemaligen Innenministers Karl Maron ist, sondern auch wegen ihres – wenn auch zum Teil linksradikalen – Engagements ist ihr Platz auf unserer Seite, selbst wenn sie zur Zeit daran zweifelt.“ 42

Das klingt so als habe man in Rudolstadt nicht länger die kulturpolitische Verantwor­ tung für die weitere Entwicklung der Autorin und ihres Manuskripts tragen wollen. Außerdem ver­suchte die Verlagsleitung von vornherein jeglichen Verdacht von sich zu weisen, über meh­rere Jahre mit einer oppositionellen Schriftstellerin zusammen gearbeitet zu haben. Aus der Verlagsdokumentation erfahren wir außerdem, dass Monika Maron bei diesem Ge­spräch den Verlag darüber informiert hat, dass sich sowohl der Rowohlt als auch der Piper-Verlag in der Bundesrepublik für ihr Manuskript interessierten. Ernst Karl Wenig habe daraufhin die Autorin geradezu beschworen, ihr Buch auf gar keinen Fall einem Westverlag zur Verfügung zu stellen. 43 Neue Konflikte und langwierige Aushandlungsprozesse waren vorprogrammiert. Im Januar 1980 übergab der Greifenverlag das entgegen der ursprünglichen Ankündigung der Autorin doch noch einmal von ihr selbst zumindest in Teilen überarbeitete Manuskript erneut an die Hauptverwaltung Verlage. Dabei räumte der Verlag ein, nicht alle von der Kontrollbehörde geforderten Veränderungen bei der Autorin durchgesetzt zu haben, wies Klaus Höpcke an Minister Hans-Joachim Hoffman: Hausmitteilung v. 12.02.1980; BStU, MfS, AOP 6784/89 Bd. 1, Bl. 229 f., hier Bl. 229. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Greifenverlag: Dokumentation v. 27.08.1979: BStU, MfS AOP 6784/89 Bd. 3, Bl. 194 – 200, hier Bl. 199. 43 Ebd., Bl. 200. 39

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aber gleichzeitig daraufhin, „dass Frau Maron zu keiner weiteren Arbeit an dem Manuskript bereit sei.“ 44 Die Hauptverwaltung Verlage gelangte daraufhin zu der Ansicht, „dass sich die Gesamtaussage nicht wesentlich verändert hat und einer Druckgenehmigung in dieser Form noch nicht zugestimmt werden kann.“ 45 Außerdem entschieden die Berliner Genossen entgegen der Bitten der Verlagsleitung, dass der Greifenverlag weiterhin versuchen sollte, die Autorin zu weiteren Änderungen zu bewegen. Gegen Ende der 1970er Jahre war der Literaturbetrieb in der DDR durch das Erscheinen von Erich Loests Roman „Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene“ und „Tod am Meer“ von Werner Heiduczek, beide erst nach langen Querelen im Mitteldeutschen Verlag erschienen, erheblich „aufgestört“ worden. Hatte bei Loest vor allem die getreue Abbildung alltäglicher DDR-Verhältnisse zu Irritationen geführt, so war es bei Heiduczek neben dem Tabubruch der Schilderung des Verhaltens sowjetischer Besatzungssoldaten in der DDR auch die Besessenheit seines Helden nach einem wahrhaftigen Rechenschaftsbericht über seinen scheinbar so glanzvollen Aufstieg als Schriftsteller, der sich in Wahrheit aus Irrtümern und Versäumnissen, Beschönigungen und diversen Anpassereien zusammensetzte. Nach dem Erscheinen beider Bücher wurden nicht nur die Verantwortlichen im Mitteldeutschen Verlag mit disziplinarischen Maßnahmen überzogen; die Parteiführung warf auch den Kulturfunktionären in der Hauptverwaltung Verlage mangelnde Wachsamkeit vor. Im Fall von Heiduczeks Roman trat sogar der SED-Generalsekretär Honecker in Aktion, nachdem der sowjetische Botschafter Abrassimow persönlich die Darstellung von Besatzungsoffizieren bei der Umgestaltung in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone scharf kritisiert hatte. Grund genug für Klaus Höpcke und seine Mitarbeiter in der Hauptverwaltung Verlage, die Zensurkriterien zwar wieder zu verschärfen, möglichst aber keine generellen Veröffentlichungsverbote auszusprechen. In diesem Zusammenhang oblag es Anfang 1980 dem neuen Verlagsdirektor des Greifenverlages, Ernst Karl Wenig, Monika Maron mitzuteilen, dass ihr Manuskript entsprechend einer Entscheidung der Hauptverwaltung Verlage „in dieser Form nicht erscheinen wird“. 46 Ein letzter Versuch der Autorin, die oberste Zensurbehörde zu einer Korrektur ihrer Entscheidung zu bewegen, wurde von dieser abermals zurückgewiesen. Dort bestand man zwar freundlich aber auch ohne jegliche Konzessionen weiterhin auf einer Überarbeitung des Manuskripts, zu der wiederum die Autorin ihrerseits nicht bereit war. 47

Klaus Höpcke an Minister Hans-Joachim Hoffman: Hausmitteilung v. 12.02.1980: BStU, MfS, AOP 6784/89 Bd. 1, Bl. 229 f., hier Bl. 229. 45 Ebd. 46 Ernst Karl Wenig: Aktennotiz über ein Gespräch mit Monika Maron am 4.03.1980; TH StA Rudolstadt, Bestand Greifenverlag 776. 47 Klaus Höpcke an Minister Hans-Joachim Hoffman: Hausmitteilung v. 12.02.1980: BStU, MfS, AOP 6784/89 Bd. 1, Bl. 230. 44

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3. „Aufstörung“ des Verlages und des Literaturbetriebes Einem MfS-Bericht der Hauptabteilung XX können wir entnehmen, dass Monika Maron im Frühjahr 1980 auf der Leipziger Buchmesse für einen kleinen Skandal sorgte, indem sie gemeinsam mit dem Gutachter Heinz Plavius und der Schriftstellerin Katja Lange 48 den Messestand des Greifenverlages aufsuchte. Einem MfS-Bericht zufolge habe Monika Maron dort den Verlagsleiter und den Vertriebsleiter des Verlags wegen ihrer dogmatischen Haltung und wegen ihrer Unfähigkeit, sich für gute Literatur einzusetzen, beschimpft. Dabei sei sie von Heinz Plavius unterstützt worden, der immer wieder wissen wollte, „wieso sich der Verlag erdreiste, Einwände gegen ein Manuskript zu haben, für das er, Plavius, ein positives Gutachten geschrieben habe.“ Aus dem Bericht geht weiterhin hervor, dass Monika Maron im Verlauf des Gesprächs mehrfach ihren Standpunkt bekräftigt habe, an ihrem Manuskript kein einziges Wort mehr zu ändern. In dem Bericht heißt es: „Entweder es erscheine in der jetzt vorliegenden Fassung in der DDR, oder sie verzichte auf die Veröffentlichung in der DDR und gebe es an einen Verlag außerhalb der DDR.“ Auf die Einwände von Verlagsdirektor Wenig gegen eine Veröffentlichung im Westen habe Monika Maron geantwortet, so der Berichterstatter, dass man sich auf Grund ihrer familiären Herkunft nicht trauen werde, ein Ordnungs- oder Strafverfahren gegen sie einzuleiten. „Wenn doch, dann würde der Skandal eben um einiges größer, als er es durch die Erstveröffentlichung ihres Manuskriptes im Westen schon sein wird“, hielt der Bericht fest. 49 Mit dieser Einlassung hatte Monika Maron präzise die Zwickmühle beschrieben, in der sich der SED-Machtapparat in dieser Situation befand. Wollte er die entstandene „Aufstörung“ nicht zu einer „Dauerstörung“ seines Literaturbetriebs werden lassen, musste er sich zumindest in Einzelfällen flexibel zeigen. Das konnte u. a. dazu führen, noch vor Kurzem unvorstellbare Kompromisse einzugehen und Zugeständnisse zu machen, um die gestörte Kommunikation zwischen Autor und Machtapparat und damit zugleich das kulturpolitische Klima im Lande nicht weiter aufzuheizen. Diese Handlungsweise war den sich verändernden politischen Rahmenbedingungen in Europa (KSZE-Prozess) geschuldet. Sie beruhte nicht auf einem neuen Politikverständnis der SED-Parteiführung oder gar eines etwaigen Lernprozesses der führenden Genossen. Diese taktisch motivierte Flexibilisierung der Politik führte innerhalb des Machtapparates, hier vor allem zwischen den Bereichen der Kultur- und Staatssicherheitspolitik zu regelmäßigen Kommunikationsstörungen. 50 Beispielsweise wurde das Büro für Urheberrechte angewiesen, vor dem geplanten deutsch-deutschen Spitzentreffen von Generalsekretär Honecker und Bundeskanzler Schmidt 51 die Autorin zu keinem persönlichen Gespräch

Später Katja Lange-Müller. HA XX: Information v. 24.03.1980: BStU, MfS, AOP 6784/89 Bd. 3, Bl. 233 f. 50 Vgl. Braun, Matthias: Dramaturgie der Repression. Ein Kulturkonflikt in der späten DDR. Göt­tingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013 [im Erscheinen]. 51 Das für den Sommer 1980 am Werbelinsee vereinbarte Treffen wurde kurzfristig abgesagt und fand erst im Dezember 1981 statt. 48 49

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wegen der von ihr beabsichtigten und vom Büro für Urheberrechte nicht genehmigten Veröffentlichung ihres Romans in der Bundesrepublik einzuladen. 52 Im weiteren Verlauf des „Falls Maron“ führte die Politik der friedlichen Koexistenz zu zwei weiteren bemerkenswerten Ergebnissen. Erstens stimmte der Greifenverlag auf Weisung der Hauptverwaltung Verlage entgegen vorheriger Festlegungen einer Vertragskündigung „unter der Maßgabe, dass Ihnen [der Autorin, M.B.] die gezahlten Honorare verbleiben“ 53 , zu. Zweitens konnte Monika Marons Roman ohne Zustimmung des Büros für Urheberrechte unter dem Titel „Flugasche“ im April 1981 in der Bundesrepublik erscheinen. 54 Entgegen mancher Ankündigungen staatlicher Einrichtungen gegenüber der Autorin, wurden gegen sie keine strafrechtlichen Maßnahmen eingeleitet, obwohl die Schriftstellerin eindeutig gegen die Gesetze der DDR verstoßen hatte und dies auch dem Büro für Urheberrechte gegenüber offen zugab. 55 Der für den Kulturbereich zuständige ZK-Sekretär Kurt Hager, wurde über den Gang der Dinge von der Leiterin der Kulturabteilung des ZK auf dem Laufenden gehalten. 56 4. Zerstörungsversuche im politisch-operativen Zusammenwirken von Partei, Staat und MfS Ungeachtet der zentralen staatlichen Entscheidungen in Sachen „Flugasche“ sammel­te die po­li­ti­sche Geheimpolizei der DDR weiterhin belastendes Material zu der Autorin und ent­wickel­te repressive Szenarien. So existierte bereits vor dem Erscheinen des Romans im Westen beim MfS der Plan, strafrechtliche Maßnahmen gegen die Autorin einzuleiten, falls das Buch dort illegal, also ohne Genehmigung der DDR-Behörden, erscheinen sollte. Im Frühjahr 1981 lag im MfS ein weiterer Plan vor, der im Rahmen der politisch operativen Zusammenarbeit (POZW) mit dem Leiter der Hauptverwaltung Verlage, Klaus Höpcke „zur Verunsicherung“ von Monika Maron von der Staatssicherheit entwickelt worden war. Das Ziel dieses Maßnahmeplans bestand darin, die Schriftstellerin zu einer ständigen Ausreise aus der DDR zu bewegen. Dieses Beispiel zeigt einmal mehr, dass die Staatssicherheit zur Durchsetzung ihrer sicherheitspolitischen Interessen in der Regel auf Helfer bzw. Unterstützer aus dem Bereich der staatlichen Institutionen bzw. der Partei angewiesen war. Dem MfS-Szenario zufolge sollte der „Buchminister“ Höpcke oder einer seiner Vertreter Monika Maron erklären, „dass weder ihr Roman ‚Flugasche‘ noch andere ihrer Werke in der DDR erscheinen werden.“ 57 Die daraus zu erwartende Verunsicherung Monika HA II/6: Aktenvermerk v. 14.08.01980: BStU, MfS, AOP 6784/Bd. 1, Bl. 245. Greifenverlag an Monika Maron v. 31.03.1980: BStU, MfS, AOP 6784/89 Bd. 3, Bl. 61. 54 Anlage zum Brief von Ursula Ragwitz an Kurt Hager v. 10.02.1981; SAPMO-BArch, DY 30/23285. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 HA II: Vorschlag zur Realisierung operativer Maßnahmen im OV „Wildsau“ v. 7.04.1981; BStU, MfS, AOP 6784/89 Bd. 3, Bl. 78 f. 52 53

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Marons, so die Überlegung des MfS, sollte dann genutzt werden, um ihr durch zuverlässige IM klar zu machen, dass sie keinerlei Perspektive als Schriftstellerin mehr in der DDR habe und somit die Stellung eines Ausreiseantrags als einzige mögliche Alternative bleibe. Die zwischenzeitlich von der juristischen Abteilung des MfS angefertigte Stellungnahme zum überarbeiteten Romanmanuskript gelangte, im Gegensatz zu dem Gutachten der Abteilung „Agitation“ zur Erstfassung von 1978 zu dem Ergebnis, dass „die staatliche Ordnung der DDR sowie die Tätigkeit staatlicher Einrichtungen und gesellschaftlicher Organisationen sowie deren Maßnahmen herabgewürdigt werden. Somit stellt dieses Manuskript im Falle seiner öffentlichen Zugänglichmachung eine Schrift im Sinne des § 220 Abs. 2 [Öffentliche Herabwürdigung, M.B.] des Strafgesetzbuches dar. Es entspricht auch den Tatbestandsanforderungen eines Manuskriptes im Sinne des § 219 Abs. 2 Ziff. 2 des StGB [Ungesetzliche Verbindungsaufnahme, M.B.], das es im Falle seiner widerrechtlichen Weitergabe ins Ausland geeignet ist, den Interessen der DDR zu schaden.“ 58

Nach dem Debakel der Verhaftung dreier junger Schriftsteller durch die Staatssicherheit im Herbst 1980, sie waren nach massiven in- und ausländischen Protesten auf Weisung des SED-Generalsekretärs wieder freigelassen worden, 59 war eine erneute Kriminalisierung einer jungen Schriftstellerin für die Partei jedoch keine Option mehr. Daran konnte auch das besonders denunziatorische Gutachten des IM „Uwe“ alias Uwe Kant nichts ändern. Beispielsweise können wir bei „Uwe“ lesen: „Es handelt sich nicht um berechtigte Kritik an einzelnen Mängeln und Schwächen, son­dern um die provozierende Aufbauschung von Mängeln und Schwächen, um das Ganze, unser System und seine führenden Vertreter, zu treffen. Damit ist prinzipiell die Frage ver­neint, ob dem Manuskript durch Streichungen oder Änderungen zu helfen sei. Der Stand­punkt der Autorin ist feindlich, wobei sie sich besonders den Arbeitern anzubiedern sucht.“ 60

Abschließend vermerkt „Uwe“ abschätzig: „Das Manuskript ist nicht talentlos, aber es gehört in die Reihe jener Machwerke, die nicht um des Lebens und der realistischen Wiedergabe willen, sondern um der uns feindlichen Tendenz willen geschrieben sind und die Wirklichkeit verzerren.“ 61 Offensichtlich fühlte sich hier ein mittelmäßiger DDRSchriftsteller höchst persönlich durch den literarischen Text einer Kollegin hochgradig „aufgestört“. Das das MfS im Falle von Monika Maron, der Stieftochter eines langjährigen, linientreuen DDR-Innenministers, nicht einfach nach eigenem Ermessen handeln konnte, HA IX: Stellungnahme zu dem Manuskript „Flugasche“ von Monika Maron v. 16.04.1980: BStU, MfS, AOP 6784/89 Bd. 3 , Bl. 27 – 29, hier Bl. 29. 59 Bei den drei Schriftstellern handelte es sich um Frank Wolf Matthies, Thomas Erwin und Lutz Rathenow. Sieben europäische PEN-Zentren hatten gegen diese Verhaftungen protestiert. Christa Wolf wandte sich in dieser Angelegenheit schriftlich an den SED-Generalsekretär. Den Protestbrief hat Stefan Hermlin persönlich im Büro Honecker abgegeben. 60 Die ganze Passage ist vom MfS dick unterstrichen worden. 61 Gutachten des IM „Uwe“ der HA XX/7 zum Romanmanuskript o. D.: BStU, MfS AOP 6784/89 Bd. 1, Bl. 172 – 177, hier Bl. 176 f. 58

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geht aus einer anderen Stasi-Unterlage hervor. „Entsprechend Äußerungen des Genossen Oberst Stange soll das Mitglied des Politbüros, Genosse Hager, ebenfalls bezüglich des Vorgehens eine Absprache mit Genossen Höpcke durchgeführt haben.“ 62 Der Inhalt des Gesprächs zwischen Hager und Höpcke ist nicht überliefert. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass die Parteiführung eine dauerhafte Ausreise Monika Marons aus der DDR für die beste Lösung hielt, das „aufgestörte“ kulturpolitische Feld wieder zu beruhigen. Dieses Verfahren gehörte in den 1980er Jahren zur gängigen Praxis des Machtapparats: ein fein gestaffeltes System von Privilegien und Sanktionen. Die Veröffentlichung von Monika Marons Roman „Flugasche“ in der Bundesrepublik erwies sich als eine vielfältige „Grenzüberschreitung“. Nicht unwesentlich trug dazu der Vorabdruck des Romans in der „FAZ“, vor allem aber die breite Behandlung des Romans im Rundfunksender „RIAS“ bei. 63 Von dieser, in die DDR zurückwirkenden Resonanz fühlte sich der SED-Machtapparat derart „aufgestört“, dass er den Greifenverlag anwies, sogar einen kleinen Text der Autorin aus dem druckfertigen Band „Berlin - ein Reiseverführer“ wieder herauszunehmen. 64 Der Autorinnenintention entsprechend sollte „Flugasche“ nicht nur als ein „ÖkoRoman“ gelesen, sondern auch als ein Buch über die Emanzipation einer jungen Frau verstanden werden. Für die mediale Rezeption in der Bundesrepublik stand jedoch die ökologische Stoßrichtung im Vordergrund des Interesses. Entgegen aller Schwierigkeiten kehrte Monika Maron jedoch zunächst einmal der DDR nicht den Rücken. Erst in den späten 1980er Jahren verließ sie, mit einem mehrjährigen Ausreisevisum für sich und ihre Familie ausgestattet, faktisch die DDR. Spätere Aushandlungsversuche von Seiten der Ostberliner Administration, den unveränderten Roman doch noch publizieren zu wollen – die alten Normen hatten längst ihre Gültigkeit verloren – schlugen sowohl für den Aufbauverlag als auch den Buchminister und seinen Apparat fehl. Doch das ist schon wieder eine neue Geschichte zum Thema „Aufstörung“ und Aushandlung gesellschaftlicher Toleranzgrenzen im DDR-Literaturbetrieb, die hier nicht mehr erzählt werden kann.

HA II: Absprachebericht v. 5.05.1981; BStU, MfS, AOP 6784/89, Bd. 3, Bl. 82 f. Vgl. HA II/6: Information v. 9.04.1981; BStU, MfS, AOP 6784/89, Bd. 3, Bl 261 f. 64 Ernst Karl Wenig an HV Verlage und Buchhandel v. 6.01.1981; SAPMO-BArch , DR 1/2247. 62 63

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Punktzeit als (Ver-)Störung. Über filmische Narrative absoluter Feindschaft

1. Einleitung Ein Beitrag mit dem Untertitel „Über filmische Narrative absoluter Feindschaft“, der im Kontext eines Bandes zum „Prinzip Störung“ publiziert wird, sieht sich mindestens vor eine dreifache Aufgabe gestellt: Zum einen muss er deutlich machen, was mit Typologien absoluter Feindschaft gemeint ist, er muss also seine thematischen „Störenfriede“ genauer profilieren. Zum zweiten muss er veranschaulichen, wer wodurch und worin gestört wird, er muss also eine Umwelt der Störungsaktivität genauer konturieren. Zum dritten sollte ein solcher Beitrag das Beobachterverhältnis beschreiben, auf Grundlage dessen spezifische Praktiken und Ereignisse als Störungen registriert werden. Notwendig ist es also zu fragen, wie sich der Inhalt der Beobachtung zu seiner medialen Rahmung verhält. Genau diesen drei Erfordernissen soll im Folgenden Rechnung getragen werden, wobei es allerdings in der Reihenfolge der Aufgabenfelder zu einer neuen Anordnung kommen wird. Zunächst folgen einige Anmerkungen zum Verhältnis von Störung und Spielfilm, danach sind im Hauptteil die Narrative absoluter Feindschaft zu spezifizieren. Ziel wird es sein, Schläfer und Amokläufer als Figurationen zu beschreiben, die diffuse gesellschaftliche Angstintensitäten in konkretere Furchtszenarien überführen und damit einen Beitrag zur medialen Selbstbeschreibung der Gesellschaft leisten. Abschließend soll der kursorische Versuch unternommen werden, Schläfer und Amokläufer in einem politischen Denken zu situieren, das im Begriff „Prävention“ seinen Leitfokus hat und Gouvernementalität im Rekurs auf Bedrohung organisiert. 2. Der populäre Spielfilm als störungsaffines Medium Weit davon entfernt, das Kino ideologiekritisch unter dem Label „Kulturindustrie“ subsumieren zu wollen, soll der dort gezeigte populäre Spielfilm nachfolgend als ein Medium begriffen werden, dem im 20. und vielleicht auch noch im 21. Jahrhundert die Funktion zukommt, fundamentale gesellschaftliche Konfliktlagen zur Sprache zu bringen und symbolischen Lösungen zuzuführen. Folgt man Lorenz Engell in seinen Überlegungen zur gesellschaftlichen Relevanz des Kinos, so hat sich dieses über die letzten rund

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100 Jahre hinweg im Fokus auf gesellschaftliche Veränderungsprozesse immer wieder als Seismograf, Katalysator und Reflexionsmedium von als krisenhaft erlebten Ausnahmezuständen erwiesen. 1 Der Film ist nicht nur privilegierter „Speicher des Zeitgeistes“ (Fritz Lang), sondern fungiert in seiner Eigenschaft als bedeutungsgenerierendes und massenwirksames politisches Phänomen zugleich auch als Beitrag zu einer komplexen Signifikationsdynamik, die im Zuge einer Politik des Kulturellen die kommunikative Bewertung kultureller, sozialer und politischer Irritationen vorantreibt. Als „(popular-) kulturelle Ware und ästhetisches Artefakt“ 2 ist der Spielfilm demnach relational auf den diskursiven und dispositiven Ermöglichungszusammenhang der Zeit bezogen, in der er entstanden ist. Er über­setzt politische oder soziale Ereignisse gemäß seinen formalen Möglichkeiten auf dem Wege direkter Bezugnahme oder über Techniken der Substitution, Überzeichnung oder Verstellung in seinen eigenen audiovisuellen Kosmos. Als Teil der Repräsentations­ordnung einer Gesellschaft artikulieren sich in der filmischen Bildwelt – wie stark ästhetisch gebrochen auch immer – „aktuelle soziale Diskurse“ und „gesellschaftliche Kon­flikte“ 3 . In einem solchen „Krisenkino“ 4 werden zurückliegende Einschnitte normalisierend evoziert und künftige Konfliktlagen antizipiert bzw. imaginiert. Filme sind – diese These hat Frederic Jameson 1992 in seinem Buch über „The Geopolitical Aesthetic“ ausbuchstabiert 5 – gleichsam als kognitive Karten des politisch Unbewussten zu lesen, die im Modus des Fiktionalen grundlegende Verteilungen der Macht gemäß den Codes ihrer dispositiven Programmierung zur Ansicht bringen und Anschlusskommunikation ermöglichen. Im geschützten Raum kinematografischer Fiktion kann der Erkenntnismodus des „Was wäre wenn…?“ unbehelligt durchgespielt werden; gerade die populärkulturelle Imagination ist damit eine Projektionsfläche, auf der die schlimmsten Ängste einer Epoche als ästhetisches Ausgangsmaterial in Szene gesetzt werden können. Die filmische Popkultur wird so zu einem Medium des „Gefahrensinns“ 6 , die in ihren Geschichten von Infiltration, Infektion und Konfrontation zeigt, welchen Anfeindun Vgl. hierzu höchst differenziert Engell, Lorenz: Ausfahrt nach Babylon. Die Genese der Medien­ kultur aus Einheit und Vielheit. In: Ausfahrt nach Babylon. Essais und Vorträge zur Kritik der Medienkultur. Hrsg. von Lorenz Engell. Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2000, S. 263 –  305. 2 Mattl, Siegfried/Timm, Elisabeth/Wagner, Birgit: Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft – Zur Einführung. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 2, 2007, H. 2: Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft, S. 7 – 10, hier S. 7. 3 Mai, Manfred/Winter, Rainer: Kino, Gesellschaft und soziale Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Soziologie und Film. In: Das Kino der Gesellschaft – die Gesellschaft des Kinos. Interdisziplinäre Positionen, Analysen und Zugänge. Hrsg. von Manfred Mai/Rainer Winter. Köln: Halem 2006, S. 7 – 23, hier S. 10 f. 4 Vgl. Koch, Lars/Wende, Wara (Hgg.): Krisenkino. Filmanalyse als Kulturanalyse: Zur Kon­ struktion von Normalität und Abweichung im Spielfilm. Bielefeld: transcript 2010. 5 Jameson, Frederic: The Geopolitical Aesthetic. Cinema and space in the world system. Bloomington: Indiana UP 1992. 6 Vgl. Engell, Lorenz/Siegert, Bernhard/Vogl, Joseph: Editorial. In: Archiv für Mediengeschichte, 9, 2009: Gefahrensinn, S. 5 – 8.

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gen und Unfällen die scheinbare Sicherheit der gesellschaftlichen Normalität ausgesetzt sein könnte. Zu denken ist bei einer solchen Einspeisung in das kulturelle Imaginäre an Katastrophenfilme wie etwa „Armageddon“ (USA 1998) und „Deep Impact“ (USA 1998), Bio-Thriller wie „Outbreak“ (USA 1995), Alien-Filme wie „War of the Worlds“ (USA 2005) und – hier rücken Aspekte des eigentlichen Themas unvermittelt in den Fokus – Terror-Thematisierungen wie „The Siege“ (USA 1998) und „The Sum of all Fears“ (USA 2002). Insbesondere die beiden zuletzt genannten Genres, der Alien- bzw. der Terror-Film, inszenieren den Konflikt, der die bis dato gültige Normalität erschüttert, als einen brutalen Auslesekampf, in dem sich eine menschliche Gemeinschaft dazu genötigt sieht, einen vermeintlich radikal anderen, radikal bösen Feind abzuwehren, um so das eigene Überleben zu sichern. In diesem Sinne geht es in diesen Terminations-Narrationen um die Aushandlung einer „zentralen biopolitischen Phantasie der Moderne: Dass nämlich das Überleben der einen Art nur durch die Vernichtung der anderen gewährleistet werden kann. Es muss getötet werden, um leben zu können.“ 7 Besondere Evidenzeffekte erzielen die Survival-Genres durch die spezifische mediale Form des Kinos selbst. Dieses ist nicht nur dramaturgisch, sondern auch wahrnehmungsästhetisch ein Störungsmedium: Es erzählt nicht nur permanent vom Einbruch der Anomalie – und produziert damit selbst wieder störungsanfällige Erwartungshaltungen in Form von Genre-Konventionen –, es zeigt ihn auch. Insbesondere das filmische Be­we­g ungsbild – davon berichtet die filmische Frühgeschichte ebenso wie das aktuelle Blockbuster-Kino – besitzt eine große Affinität zu den sensationellen Bildbereichen des gesellschaftsstürzend Katastrophischen wie des intim Gefährlichen. Zur Darstellung dieser Inhalte bedient sich der populäre Film bei Schnitt- und Vertonungs-Techniken der Immersion, die ein enormes Emotionalisierungspotenzial realisieren, Identifikation initiieren und analytische Distanznahme erschweren, indem sie die vierte Wand zwischen diegetischer Filmhandlung und Rezeptionssituation sinnlich perforieren. Ist damit das Kino einerseits ein Ort, an dem spezifische Gefahrenhorizonte imaginiert und Erwartungshaltungen mit großer Überzeugungskraft in ihrer punktuellen Brüchigkeit vorgeführt werden können, so zeitigt das Genre des Katastrophen- und Krisenfilms andererseits in der Summe der von ihm erzählten Geschichten gleichzeitig einen ganz gegenteiligen Effekt: Der spezifische Reiz, der für viele Zuschauer von den erzählten Geschichten ausgeht, liegt neben den ästhetischen Sensationen, mit denen diese ausgestattet sind, auf der narrativen Ebene darin begründet, dass jeder diegetischen Anomalie auf dem Wege einer Reihe dramatischer Verkettungen eine Rückkehr zum status quo ante nachfolgt. Das Krisenkino steht damit in der Regel unter einem restitutiven, konservativen Regime, das einen spezifischen Zugriff auf die „Aufteilung der sinnlichen Welt“ 8 und das Schicksal der in ihr handelnden Akteure hat, und den Modus der Störung

Horn, Eva: Der Anfang vom Ende. Worst-Case-Szenarien und die Aporien der Voraussicht. In: ebd., S. 91 – 100, hier S. 96. 8 Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002.

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als Verfahren der weitestgehenden Re-Normalisierung darstellt. 9 Zugrunde liegt demensprechend ein kulturnarratologisches Konzept von Störung, das auf die Unterbrechung von Kommunikations- und Handlungsroutinen fokussiert: Populäre Medien leisten einen integralen Beitrag zur Selbstbeschreibung der Gesellschaft 10 , indem sie Narrative der Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und des Eigenen und Fremden, des Normalen und Unnormalen bereit stellen. Das Muster, in dem die Plausibilität solcher Narrative gemeinhin perpetuiert wird, vollzieht sich als Wiederherstellung einer Ordnung, die zuvor durch einen Akt der Gewalt oder ein anderes unvorhergesehenes Ereignis unterbrochen wurde. Indem im populären Film Störungen auf der Ebene der Histoire gemeinhin als revidierbar dargestellt werden, befördern sie letztlich die Evidenz von dominanten Selbstbeschreibungsformeln. Umso nachhaltiger muss der verunsichernde Effekt von solchen Spielfilmen sein, die sich diesem konventionalisierten Diktat einer dramaturgischen Re-Normalisierung verweigern und stattdessen davon erzählen, dass Normalität eine politisch-soziale Fiktion ist und der Eindruck von Sicherheit und Erwartbarkeit alleine von der Unkenntnis der Latenz gegenwärtiger Feindschaft herrührt. 3. Figurationen der Störung: Schläfer und Amokläufer Die office-, campus- und school-shootings, die seit rund 20 Jahren in steigender Frequenz die Zeitungsschlagzeilen bevölkern, auf der einen Seite, die Anschläge von New York, London und Madrid auf der anderen, haben die Begriffe „Amoklauf “ und „Terroranschlag“ zu schwarzen Löchern der westlichen Gegenwartskultur werden lassen, die in paradigmatischer Weise die Auslegungsbedürftigkeit der modernen Lebensverhältnisse heraufbeschwören. Treten Amokläufer und Schläfer in Aktion, wird aus dem Störfall der verstörende Ernstfall. Das besondere Angst- und Verunsicherungspotenzial dieser beiden Figurationen resultiert aus einem erklärungsbedürftigen Ausbruch radikaler Feindschaft, der – so Joseph Vogl mit Blick auf den Amok – „aus der Mitte der Gesellschaft selbst stammt.“ 11 Das zerstörerische Andere ist im Fall von Amokläufer und Schläfer eben nicht das ganz Andere, das über einen Akt der Negation genau zu bestimmen wäre, sondern Teil des kollektiven Selbst. Verstanden als Wiederkehr der verdrängten Peripherie im Zentrum gibt es im Falle des Schläfers bzw. des Amokläufers keine Demarkationslinie mehr, die es gestatten würde, den gesellschaftsfeindlichen Gewalttäter „genau auszumachen, [denn] er befindet sich selbst im Herzen jener Kultur, die ihn bekämpft.“ 12 Beide Zum Zusammenhang von De- und Renormalisierung vgl. Link, Jürgen: Über die normalisierende Funktion apokalyptischer Visionen. Normalismustheoretische Visionen. In: Archiv für Mediengeschichte, 9, 2009: Gefahrensinn, S. 11 – 22. 10 Zum aus Luhmanns Systemtheorie abgeleiteten Begriff der gesellschaftlichen Selbstbeschreibungsformel vgl. Kieserling, André: Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung. Beiträge zu einer Soziologie des soziologischen Wissens. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004. 11 Vogl, Joseph: Gesetze des Amok. Über monströse Gewöhnlichkeiten. In: Neue Rundschau 111, 2000, H. 4, S. 77 – 91, hier S. 85. 12 Baudrillard, Jean: Der Geist des Terrorismus. München/Wien: Passagen 2003, S. 16. 9

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Figurationen beharren zudem darauf, dass sie sich nicht nach den üblichen system-immanenten Verrechungsmethoden normalisieren lassen, sondern als untauschbarer Rest das System stören wollen und werden. Die Substantialität dieses störenden Rests ist die plötzliche, nicht voraussehbare Gewalt des Anschlags, die sich in einem zivilen Milieu als unvermittelter Ausbruch von Chaos und Tod manifestiert. Schläfer und Amokläufer sind als Hybrid-Figuren zu begreifen, die – wie auch der martialischen Sicherheitsdoktrin der Bush-Regierung, veröffentlicht im September 2002, zu entnehmen ist – nicht mehr zwischen legitimer Kampfzone und Hinterland, zwischen Kombattanten und Unbeteiligten unterscheiden: “Enemies in the past needed great armies and great industrial capabilities to endanger America. Now, shadowy networks of individuals can bring great chaos and suffering to our shores for less than it costs to purchase a single tank. Terrorist are organized to penetrate open societies and to turn the power of modern technologies against us.” 13

Die von Amokläufer und Schläfer ausgeübte Gewalt ist nicht unbedingt der Motivation nach, aber im Hinblick auf die von der Umgebungsgesellschaft wahrgenommene Art ihrer Realisierung vergleichbar. Schläfer und Amokläufer üben – hier kann eine begriffliche Differenzierung von Jan Phillip Reemtsma hilfreich sein – autotelische Gewalt aus: „Autotelische Gewalt zielt auf die Zerstörung der Integrität des Körpers [...]. Autotelische Gewalt zerstört den Körper nicht, weil es dazu kommt, sondern um ihn zu zerstören. (...) Autotelische Gewalt ist die Gewalt, die uns am meisten verstört, die sich dem Verständnis, auch dem Erklären weitestgehend zu entziehen scheint.“ 14

Diese Gewalt-Form, die sich nur schwer Zweck-Mittel-Relationen zurechnen lässt, findet in unserer massenmedialen Alltagskommunikation kaum einen Ort, an dem sie ungeschminkt zur Sprache kommen kann. Einzig die Populärkultur eröffnet eine Bühne, auf der sie ab und an die sozialen Fiktionen symbolischer Eindeutigkeit durchstößt und als Einbruch des Realen für Unruhe sorgt. Das Besondere der Gewalttaten absoluter Feinde ist ihre auf Vernichtung abzielende Vehemenz und Direktheit. Wie Carl Schmitt in seiner „Theorie des Partisanen“ darstellt, üben absolute Feinde Gewalt nicht gemäß der Clausewitz’schen Logik zur Erreichung eines klar umgrenzten, realpolitischen Ziels aus. Vielmehr sind sie von einem Furor motiviert, der im Namen höchster Werte der korrumpierten, dekadenten Welt der Anderen insgesamt den Krieg erklärt: „Die Feindschaft wird so furchtbar werden, dass man vielleicht nicht einmal mehr von Feind oder Feindschaft sprechen darf und beides sogar in aller Form vorher geächtet und verdammt wird, bevor das Vernichtungswerk beginnen kann. Die Vernichtung wird dann The National Security Strategy of the United States of America, September 2002, ‹http://www.whitehouse.gov/nsc/nss.html› (Zugriff am 10.10.2010). 14 Reemtsma, Jan Philipp: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition 2008, S. 116/117. 13

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Lars Koch ganz abstrakt und ganz absolut. Sie richtet sich überhaupt nicht mehr gegen einen Feind, sondern dient nur noch einer angeblich objektiven Durchsetzung höchster Werte, für die bekanntlich kein Preis zu hoch ist. Erst die Ableugnung der wirklichen Feindschaft macht die Bahn frei für das Vernichtungswerk einer absoluten Feindschaft.“ 15

Die von absoluten Feinden ausgehenden Bedrohungsszenarien sind zugleich post-probabilistisch, katastrophisch und irritieren unseren risikokalkulierenden Umgang mit Zukunft nachhaltig, weil ihr Ereignischarakter spätmoderne Zeitbudgets auf Punktzeit schrumpfen lässt: „Augenblicklich erreicht die Gewalt ihren Höhepunkt. Sie will nicht martern oder quälen, sondern sofort töten. Wie das Attentat ist der Amoklauf Gewalt ohne Vorwarnung.“ 16 Ein gutes Beispiel hierfür ist die in die Filmgeschichte eingegangene Abschluss-Sequenz aus Abel Ferraras Film „The Funeral“ (USA 1996), der von dem Verfall einer Mafia-Familie erzählt, die vom alternden Patron immer weniger zusammen gehalten werden kann. 17 Nachdem die Spannungen unter den Söhnen immer weiter angewachsen sind, kommt es im Finale des Films zum Amoklauf des depressiven Chez (Chris Penn), der alle männlichen Familienmitglieder tötet und in der filmischen Darstellung genau jene „Plötzlichkeit“ im Sinne Karl Heinz Bohrers zur Ansicht bringt, welche autotelische Gewalt und moderne Zeiterfahrung sinnlich kurzschließt. Stumm, ohne eine Miene zu verziehen, betritt er das Haus der Familie, zieht eine Waffe und eröffnet das Feuer. Die gesamte Filmhandlung der rund 90 Minuten davor schrumpft hier zusammen auf den einen Moment eruptiver Gewalt. Wie „The Funeral“ nahelegt, erhalten Schläfer und Amokläufer für das Kino eine besondere ästhetische Valenz, weil sich in der Kombination von Plötzlichkeit und Stummheit – die Gespenstigkeit der Amok-Szene ergibt sich auch aus der Wortlosigkeit der Tat – ein Moment des Dämonischen manifestiert, von dem schon Sören Kierkegaard zu berichten wusste, sein Auftreten impliziere einen enormen Überwältigungseffekt: „Nicht das entsetzlichste Wort, das aus dem Abgrund der Bosheit hervorspringt, vermag die Wirkung hervorzubringen, wie die Plötzlichkeit des Sprunges, die innerhalb des Bereiches des Mimischen liegt. Ob auch das Wort entsetzlich sein mag, ob es auch ein Shakespeare, ein Byron, ein Shelley sein mag, der das Schweigen bricht, das Wort bewahrt doch immer seine erlösende Macht; denn alle Verzweiflung und alles Grauen des Bösen zusammengefasst in einem einzigen Wort ist nicht so grauenvoll, wie es das Schweigen ist.“ 18 Schmitt, Carl: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. Berlin: Duncker & Humblodt 1975, S. 59 f. 16 Sofsky, Wolfgang: Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg. Frankfurt/M.: S. Fischer 2002, S. 40. 17 „The Funeral“, der den Amoklauf in einer angespannten Familienkonstellation lokalisiert, passt nur bedingt in den Fokus der hier vorgetragenen Überlegungen. Er wird herangezogen, weil die finale Sequenz filmästhetisch genau den Zusammenhang zwischen Plötzlichkeit, Dämonie und Angst trifft, auf den es hier ankommt. Soziologisch müsste der Amok-Begriff natürlich weiter ausdifferenziert werden. 18 Kierkegaard, Sören: Der Begriff der Angst. In: Ders.: Die Krankheit zum Tode und Anderes. Hrsg. von Herrmann Diem/Walter Rest. München: dtv 2005, S. 441 – 640, hier S. 601. 15

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Dieses Schweigen, das mehr sagt als tausend Worte, ist ein „Abbruch von Beziehungen“ 19 im Medium der Nicht-Sprache, die Verweigerung einer Adresse, an die die Fragen nach dem „Warum?“ der Tat und die Gegenreden über eine vermeintlich falsche Wahrnehmung der strukturellen Gewalt der Gesellschaft gerichtet werden könnten. Die zeitliche Unbestimmtheit des In-Aktion-Tretens macht die Phantasmen des Schläfers und des Amokläufers filmisch de facto zu Figurationen des Terrors im Sinne Anne Radcliffes, die diesen in ihrem Essay „On the Supernatural in Poetry“ (1826) vom Horror abgesetzt und an den Modus der ungewissen, gleichwohl aber bangen Erwartung gebunden hatte. 20 In der Imagination von Schläfer und Amokläufer artikuliert sich so ein Wissen um den „verborgene[n] Einschluss einer gefährlichen Zukunft in der Gegenwart“ 21, das unsere Medienerzählungen in besonderer Weise affiziert. Amok und Terror stellen Denormalisierungsereignisse par excellence dar, die eine Absage an die „Kontinuität des Zeitbewusstseins“ 22 personifizieren und – indem sie figurale Phantasmen vorführen – ein latentes Wissen davon anzeigen, dass an der äußeren gesellschaftlichen Grenze geopo­litische und der inneren gesellschaftlichen Grenze sozioökonomische Spannungsintensi­tä­ten von enormer Wucht nach einer Kanalisierung suchen. Das besondere Angstpotenzial von Schläfern und Amokläufern resultiert aus der schockierenden Wucht der Tat in Korrelation zur Unterbestimmtheit der jeweiligen Akteure: „Es ist“ – so Gilles Deleuze – „ein dürftiges Konzept zur Herstellung eines Ungeheuers, verschiedene Bestimmungen aufzuhäufen oder das Tier überzudeterminieren. Besser lässt man den Untergrund aufsteigen und die Form schwinden.“ 23 Schläfer und Amokläufer machen Angst, weil sie anders als die offiziellen Fratzen der Feindschaft – Bin Laden, Saddam Hussein oder Kim Jong Il – nicht lesbar sind, weil in der Gefahrenanamnese das Zusammenspiel von „Ordnung und Ortung“ (Carl Schmitt) fehlläuft. Deutlich wird dieser Befund, der sich – zeitgeistig begleitet von einer Inflation von Hermeneutiken des Verdachts – als Problematisierung des Begriffs „Vertrauen“ darstellt, in einer Szene aus Spike Lees Spielfilm „Inside Man“ (USA 2005): Beim fluchtartigen Verlassen der Bank sind Bankräuber und Geiseln gleichermaßen in Arbeitsoveralls und Masken gekleidet und damit für die Polizei nicht mehr zu unterscheiden. Der nachfolgende Versuch, die wimmelnde Masse der äußerlich anonymisierten Körper erkennungsdienstlich zu ordnen und zu orten, zu unterscheiden, wer Freund und wer Feind ist, scheitert, weil weder physiognomisch noch habituell eine Differenz festgemacht werden könnte, die Rückschlüsse auf Intentionen zulassen würde. Die Proliferation der Unterscheidungsproblematik, die sich in „Inside Man“ vom eigentlichen Terrorkontext emanzipiert und sich im Bankräuber-Gen Benjamin, Walter: Zur Kritik der Gewalt. In: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. II.1. Hrsg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 179 – 203, hier S. 184. 20 Vgl. Radcliffe, Anne: On the Supernatural in Poetry. In: The New Monthly Magazine 7, 1826, S. 145–152. 21 Engell/Siegert/Vogl, Editorial. 2009, S. 7. 22 Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981, S. 43. 23 Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München: Wilhelm Fink 1992, S. 50.

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re refiguriert, zeigt, wie omnipräsent die Figuren Schläfer und Amokläufer im populären Film der letzten Jahre sind. Es braucht keine konkrete inhaltliche Referenz, um das angstimprägnierte Bedrohungspotenzial der Unlesbarkeit dramaturgisch einsetzen zu können. Bringt diese Nicht-Lokalisierbarkeit und Unlesbarkeit des Feindes, die die Sehnsucht nach Unterscheidung und Identifikation umso dringlicher erscheinen und jeden potenziell verdächtig werden lässt, an sich schon ein Moment tiefer Beunruhigung mit sich 24 , so verstärkt sich dieses zudem noch durch die zeitliche Durchkreuzung von Normalzeit und Tatzeit: Für den terroristischen Schläfer wie für den Amokläufer gilt, dass ihr Ver­ letzungsextremismus darin besteht, dass auf ihren jeweiligen avant coup keine Reaktion und keine zeitnahe Gegengewalt folgen kann. Die Handlungsmöglichkeiten der Opfer von Akten absoluter Feindschaft bestehen nicht in der gewaltsamen Verteidigung oder planbaren Abwehr. Die soziale, politische und polizeiliche Antwort auf die Plötzlichkeit der Gewalt ist stets eine des après coup, eine des unwiederbringlichen und hoffnungslosen Zu-spät. Wie Peter Sloterdijk im Hinblick auf den Terror feststellte, besteht zwischen Aktion und Reaktion eine fundamentale Asymmetrie, die aus dem „Auslöschungswissen“ 25 der Akteure herrührt. Prägnant kommt dies in einer Szene aus dem an das Columbine-HighschoolMassaker angelehnten Film „Elephant“ (USA 2004) von Gus van Sant zum Ausdruck, in der einer der beiden späteren Amokläufer die Schulmensa besucht und – von den anderen Schülern völlig unbemerkt – sein Einsatzgebiet akribisch kartiert. Indem die Kamera den wissenden Zuschauer auf die ahnungslosen Gesichter der späteren Opfer blicken lässt, reproduziert er genau jenen kollektiven Erwartungsaffekt der Angst, der aus dem Verhältnis von spezifischem Amok-Wissen und Nicht-Lokalisierbarkeit des Amok-Ortes resultiert. Soll es dennoch möglich sein, gegenüber der konstitutiven Latenz von Amokläufern und Schläfern Strategien der Abwehr zu implementieren, die ihre Nachhaltigkeit nicht aus einer Praktik totaler Abriegelung beziehen, so bedarf es einer möglichst konkreten Vorstellung darüber, wer wann und wo angreifen könnte. „Abwehr ist damit immer auch ein epistemologischer Vorgang, ein Prozess der Erzeugung und Formatierung von Wissen: in diesem Fall des Wissens vom Feind.“ 26 Nimmt man vor dem Hintergrund dieser Überlegungen Carl Schmitts berühmtes Diktum, wonach der Feind unsere eigene Frage als Gestalt ist, ernst 27, dann bekommt das Nachdenken über absolute Feindschaft eine zweite Ebene, die – hier kehrt der Blick wiederum von der Peripherie ins Zentrum zurück – die Konstitution der westlichen Gesellschaften selbst betrifft. Zur Debatte steht So auch Carl Schmitt, der betont, dass es „die Unbestimmtheit des Feindes [ist,] die Angst hervorruft (es gibt keine andere Angst und es ist das Wesen der Angst, einen unbestimmten Feind zu wittern)“ (Schmitt, Carl: Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947 – 1951. Berlin: Duncker & Humblot 1951, S. 36). 25 Sloterdijk, Peter: Luftbeben. An den Quellen des Terrors. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 14. 26 Horn, Eva: Der Feind als Netzwerk und Schwarm. Eine Epistemologie der Abwehr. In: Abwehr. Modelle, Strategien, Medien. Hrsg. von Claus Pias. Bielefeld: transcript 2009, S. 39 – 51, hier S. 40. 27 „Und wer kann mich wirklich in Frage stellen? Nur ich mich selbst. Oder mein Bruder. Das ist es. Der Andere ist mein Bruder“ (Schmitt, Carl: Ex Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945/47. Berlin: Duncker & Humblot 1947, S. 89). 24

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dann nicht mehr allein die Aktion des Feindes, die in unseren Medienerzählungen zudem merkwürdig entpolitisiert erscheint, sondern die kulturelle und politische Verfasstheit der westlichen Gesellschaften selbst. Hier wird insbesondere das auf Vorüberlegungen von Deleuze/Guattari und Blanchot rekurrierende Konzept Giorgio Agambens relevant, der im Hinblick auf die Sichtbarmachung der latenten Exterritorialisierungspraktiken der Gesellschaft die Figur des „Homo Sacer“ 28 profiliert hat, einen Typus des nackten Lebens, der als eingeschlossener Ausgeschlossener konstitutiv für die soziale und politische Kohärenz der Gesellschaft ist: „Der Feind ist das gespeicherte Wissen von Ausschlussprozessen.“ 29 Eine zentrale These dieses Beitrags ist nun, dass pop-kulturelle Erzählungen über Schläfer und Amokläufer genau dies leisten: Arbeit am Begriff und Profil von Feindschaft. Dass es sich dabei nicht um die Verarbeitung eines ganz Anderen handelt, sondern um die mediale Evokation einer Irritation, die von den sozialen Prozessen der westlichen Gesellschaft als ein ihr Äußeres selbst produziert wird, zeigt sich, wenn die Attribute etwas genauer in den Blick geraten, die die Repräsentationen der beiden Angst-Figurationen im Spielfilm in ihrem Verhältnis zur Gesellschaft näher bestimmen. 4. Amokläufer und Schläfer als Figurationen absoluter Feindschaft Zunächst einmal ist festzustellen, dass sich Amokläufer wie Schläfer durch eine Konsequenz des Handelns auszeichnen, die die an Dekonstruktion und Kulturrelativismus geschulte Selbst- und Weltwahrnehmung der westlichen Gesellschaft irritiert. Beide Figurationen rekurrieren in ihrem Tun auf einen eigentümlichen, elitären Wahrheitsbegriff, der gerade in der deutschen Tradition kulturkritischen Denkens eine lange Geschichte hat und in der literarisch-politischen Kristallisation der Konservativen Revolution der 1920er Jahre eine enorme Resonanz erfuhr: Wahr ist das, so predigte etwa Ernst Jünger in der Phase seines politischen Aktivismus, wofür man zu sterben bereit ist. Nicht wofür man marschiert, ist ihm wichtig, sondern dass man überhaupt marschiert. Worauf es ankommt, ist das existenzielle Moment der Entschlossenheit, die Bereitschaft zu Eindeutigkeit. So opak die Beweggründe von Amokläufern und Schläfern realiter sein mögen, deuten die spärlichen charakterlichen Zeichnungen ihrer filmischen Doppelgänger in genau jene Richtung, die Jünger vorgibt. So legitimieren beide Film-Figurationen ihr Handeln aus einem Leiden an der „atonalen Welt“, an einer Welt, der ein Punkt, ein Ort möglicher Unterbrechung fehlt. 30 Die „äußerste Komplexität der Welt“ – so auch Niklas Luhmann – erzeugt eine „unbestimmte Angst“ 31, die die Koordinaten der Orientierung ins Rutschen geraten Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002. 29 Vogl, Joseph: Warum brauchen Völker Feinde? In: Soll und Haben. Fernsehgespräche. Hrsg. von Alexander Kluge/Joseph Vogl. Zürich/Berlin: diaphanes 2009, S. 155 – 166, hier S. 156. 30 Vgl. Badiou, Alain: Logiques des mondes. L’être et l’evénement Bd. 2. Paris: Seuil 2006, S. 442 – 445. 31 Luhmann, Niklas: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. Stuttgart: UTB 2000, S. 1. 28

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lässt und so die klärende Tat als Transformation von Undurchsich­tigkeit in Eindeutigkeit attraktiv erscheinen lässt. Als Akteure, die mit ihren Aktionen eine „negation of a given order“ (Ernesto Laclau) artikulieren, werden Schläfer und Amokläu­fer so zu Vehikeln literarisch-medialer und theoretischer Transgressionsphantasien, die eine andere Gesellschaft jenseits aktueller Normierungsdiskurse imaginieren. Hierher rührt ihr implizites Faszinationspotenzial für die Gegenwartskultur: Das Auftreten von Schläfern und Amokläufern beinhaltet das implizite Versprechen, die überbordende Komplexität der geopolitischen Kultur des Spätkapitalismus zu stören. 32 Damit bieten Schläfer und Amokläufer als populärkulturelle Re-Figurationen der Angst eine Projektionsfläche, auf der die aus der Unübersichtlichkeit und Nichtrepräsentierbarkeit des Weltsystems resultierende, diffuse Angst in konkrete Furchtszenarien rückübersetzt werden kann. Dementsprechend lassen sich beide Figurationen jenseits ihrer scheinbar „problemlos[en] Leibhaftigkeit“ 33 als Repräsentationen unterschwelliger sozio-ökonomischer und politischer Friktionen lesen 34 , die im Untergrund der vermeintlichen Konsensgesellschaften des Westens ein Eigenleben führen. Eine solche Lektüre, die sich nicht für die Stimmigkeit psychologischer Fallgeschichten interessiert, sondern danach fragt, welche Anschlusskommunikationen das Auftreten von Schläfern und Amokläufern in den Diskursen unserer Gegenwartskultur ermöglicht bzw. voraussetzt, soll abschließend anhand zweier Filmbeispiele erprobt werden. Zunächst zur Figur des Schläfers, die – man denke an die Fernsehserien „24“ (USA 2001 – 2009), „Sleeper Cell“ (USA 2005 – 2006) und „Jericho“ (USA 2006 – 2008) oder an Spielfilme wie „Panic Room“ (USA 2002), „Body of Lies“ (USA 2007) oder „Traitor“ (USA 2008) – in den Bildwelten der Gegenwart nahezu omnipräsent ist. Der Schläfer beerbt als Faszinationsgestalt die Figur des kommunistischen Verschwörers, wie er im Spielfilm der 1950er und 1960er Jahre profiliert wurde 35 , transponiert den an diesen gekoppelten paranoischen Impuls einer dezidiert militärischen Denkweise aber in eine zivile Aufklärungslogik und verpflanzt ihn in die vertrauten Settings der Vor- und Innenstädte. Vertraute Stadt-Topografien werden so zu unheimlichen urbanen Einsatzzonen: „Der Schläfer ist jedermanns Nachbar und gerade damit eine höchste, weil unmerkliche Gefahr. [...] Seine Geschichte ist die Geschichtslosigkeit, seine Kennung die Unauffälligkeit, seine Gefährlichkeit das Nichtstun. Er übernimmt den Posten eines unsichtbaren Feinds, und gerade weil er – bis auf weiteres, bis zu seinem Weckruf – unnachweisbar bleibt, löst er alle möglichen Autoimmunreaktionen aus. [...] Er repräsentiert so etwas wie Systemangst, dass heißt eine Angst davor, dass wir hier, in dieser Gesellschaft, tagtäglich unbestimmte Gefahrenadressen produzieren.“ 36 Vgl. Jameson, The geopolitic Aesthetic. 1993. Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. Berlin: Duncker & Humblot 2009, S. 82. 34 Jameson, Frederic: Das politische Unbewusste. Literatur als Symbol sozialen Handelns: Reinbek: Rowohlt 1988, S. 15f. 35 Bourke, Joanna: Fear. A cultural history. London: Counterpoint 2005, S. 365. 36 Vogl, Joseph: Die Unheimlichkeit des Terrorismus. Terroristen und Homo Barbarus. In: Kluge/Vogl, Soll und Haben. 2009, S. 181 – 184, hier S. 182. 32 33

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Setzt sich das Schläfer-Phantasma als Figur gefährlicher Mimikry in Szene, so reagiert die Umgebungsgesellschaft hierauf mit Verfahren der „Abwehr“ 37, die zunächst einmal immer auf Praktiken der Ortung aufbauen. Den interiorisierten Feind zu markieren, ihn kenntlich zu machen, ist zentrale Aufgabe von Polizei und Geheimdiensten. Das Kino greift die sich auftuende Spaltung zwischen Oberfläche und submedialem Raum auf, unterwirft sie einer Dramaturgie des Indizienparadigmas und koppelt die zur Ansicht gebrachte Spurenlese an Verfahren der Wahrheitsproduktion, deren zentrale Praktik die der Folter ist. Folter ist seit 2001 – herausgefordert durch die Realitätsreferenz Abu Ghraib, aber begründet auch in der Sehnsucht, das Wahrheitsversprechen unbedingter Feindschaft im Medium des Schmerzes als ideologische Verwirrung zu desavouieren – als gewalttätige Produktion von Selbstpreisgaben und Geständnissen zu einem zentralen Sujet aktueller Spielfilme und Fernsehserien geworden. Während die extrem erfolgreiche Fernsehserie „24“ im Hinblick auf die Frage nach Rechtfertigung brutalster Verhörmethoden eine ambivalente Haltung einnimmt und immer wieder die utilitaristische Denkfigur „Einen opfern, Tausende retten“ ins Spiel bringt, tendieren aktuelle Filmproduktionen wie „The Road to Guantanamo“ (UK 2006), „Rendition“ (USA 2007) oder „Unthinkable“ (USA 2010) dazu, die folter-affine Rationalität des Gefahrenvorgriffs in ihrem Spannungsfeld zur Rechtsordnung zu untersuchen und vor allem die normativen Kosten herauszustellen, die die offensive Preisgabe von Bürgerrechten nach sich zieht. Eng verknüpft mit der immer wieder als Bestandteil eines „ticking-bomb-Szenarios“ inszenierten Erörterung der Legitimität eines unbedingten „Willens zum Wissen“ (Foucault) ist die Reflexion auf einen Denkstil im permanenten Alarmzustand, der im Namen der „Verteidigung der Gesellschaft“ die Grenzen zwischen Wachsamkeit und Paranoia fließend werden lässt und – wie Jeff Renroes Spielfilm „Civic Duty“ (USA 2006) zeigt – Verfolgungswahn als ins Extrem gesteigerte Variante patriotischer Bürgerpflicht in Anschlag bringt. Völlig im Konsens mit Foucaults Einsicht, dass Souveränität „immer von unten (entsteht), kraft des Willens derjenigen, die Angst haben“ 38 , ist in dem vom amerikanischen Justizministerium 2002 herausgegebenen „Citizen’s Preparedness Guide“ zu lesen: “Your federal, state, and local law enforcement and government agencies are working hard every day to prevent terrorism in America. But there are some things that you can do, too: Know the routines. Be alert as you go about your daily business. This will help you to learn the normal routines of your neighborhood, community, and workplace. Understanding these routines will help you to spot anything out of place. Be aware. Get to know your neighbors at home and while traveling. Be on the lookout for suspicious activities such as unusual conduct in your neighborhood, in your workplace, or while traveling. Learn to spot suspicious packages, luggage, or mail abandoned in a crowded place like an office building, an airport, a school, or a shopping center. Take what you hear seriously. If you hear or know of someone who has bragged or talk-

Vgl. Pias, Abwehr. 2009. Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975 – 1976). Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 116.

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Lars Koch ed about plans to harm citizens in violent attacks or who claims membership in a terrorist organization, take it seriously and report it to law enforcement immediately.” 39

In „Civic Duty“ werden die patriotischen Aufträge des Justizministeriums zum Ausgangspunkt eines Plots, der von dem paranoiden Verdacht eines arbeitslosen weißen Mittelklasse-Amerikaners gegen seinen arabischstämmigen Nachbarn erzählt. Inszenatorisch präsentiert sich „Civic Duty“ als eine Kombination des panoptischen Settings von Hitchcocks „Rear Window“ (USA 1954) mit einer aus dem Film „Falling-Down“ (USA 1993) bekannten Amok-Dramaturgie, wobei der gegendiskursive clou des Films in der Un­schuld des Verdächtigen und dem Schuldigwerden des Protagonisten besteht. Hauptfigur von „Civic Duty“ ist Terry (Peter Krause), ein zutiefst verunsicherter Mann, der mit seinem Job seine berufliche wie auch sexuelle Potenz verloren hat. Den Modus der Wach­samkeit präsentiert der Film dementsprechend als eine Praktik des imaginären empowerments, die der Protagonist nutzt, um sich selbst in der Beobachtung des Nachbarn einen neuen Wert zu geben. Damit spiegelt der Film exakt die Psychogenese der Regierung Bush, die in ihren ersten Amtsmonaten ob des extrem knappen und verfassungsrechtlich umstrittenen Wahlergebnisses einen zögerlichen Eindruck machte, bevor sie 9/11 dazu nutzte, landesweit Tatkraft und Zustimmung zu mobilisieren. „Civic Duty“ realisiert den Zusammenhang von individueller Krise, Zukunftsangst und Interpellation in Form der Kombination einer aus dem Off eingespielten Rede George W. Bushs mit dem Bild eines Fahn­dungsplakats, auf das Terry aufmerksam wird, nachdem er in einem Postgebäude eine Reihe von Bewerbungen aufgegeben hat. In der Szene, die aus der Fokalisierung Terrys erzählt wird, fungiert dieser als selbstempfundener Adressat eines vom „ideologischen Staatsapparat“ 40 ausgehenden Speech-Acts, der die allgemeine Form der Verunsicherung politisch vereindeutigt und damit einen Beitrag zur Formatierung von Subjektivität und zur Kalibrierung von Handlungsneigung leistet. 41 Die quasi-halluzinatorische Interpel­lation als Subjekt, die von dem Fahndungsplakat ausgeht, quittiert Terry mit einem zustimmenden Nicken, eine Geste, die wiederum extra-diegetisch auf die Akklamations-Bekundungen während George W. Bushs „With us or with the enemy“-Rede vom 20. September 2001 verweist. 42 Die Nachfolgeszene zeigt Terry dann nach der Zwischenblende eines den Himmel durchquerenden Flugzeugs bei der Zubereitung des Abendessens. Seine Frau, eine Fotografin, macht währenddessen Fotos von ihm. Auf diese Weise schließt der Film politische Subjektvorgabe, aus Verunsicherung resultierende subjektive Empfänglichkeit und imaginiertes Selbstbild der Stärke zusam United for a Stronger America – Citizen’s Preparedness Guide. Hrsg. von U.S. Department of Justice, National Crime Prevention Council, USA Freedom Corps. Washington: Bureau of Justice Assistance 2002, S. 2. 40 Vgl. Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg/Berlin: VSA 1977. 41 Vgl. Crandall, Jordan: Bereitschaft. In: Wörterbuch des Krieges. Hrsg. von Multitude e. V./ Unfriendly Takeover. Berlin: Merve 2008, S. 62 – 86, hier S. 73. 42 In Ausschnitten zu betrachten unter ‹http://www.youtube.com/watch?v=-23kmhc3P8U› (Zugriff am 10.10.2012). 39

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men. Im nachfolgenden Gespräch kommt dann die Rede auf den neuen Nachbarn, „a middle-eastern guy“, den Terry verdächtigt, seiner Frau begehrliche Blicke hinterher zu werfen. Ausgehend von dieser anfänglich in einem Rivalitätsverhältnis verorteten Aufmerksamkeitskonstellation, verwickelt sich Terry in einem Indizienprozess, der immer paranoidere Züge annimmt und selbst von einem eingeschalteten FBI-Agenten nicht mehr aufgehalten werden kann. Ganz im Gegenteil: Die mit unruhiger Handkamera eingefangenen Ermittlungen nehmen umso drastischere Formen an, je negativer das Feedback von Terrys Frau als eigentlicher Referenz des virilen Wiederaufbaus wird. Terry, dessen neues Motto „We have to be the eyes and ears now!“ lautet, macht auch vor einem Einbruch in die Wohnung des Nachbarn nicht halt. Die Dynamik eskaliert, als der sich belästigt fühlende Chemie-Student in einem Streitgespräch die Beobachtungsaktivität Terrys provokativ als homoerotische Affektion auslegt. Terry sieht rot und eröffnet mit vorgehaltener Waffe eine Befragung, die sich zu einer stundenlangen Geiselnahme auswächst. Während der Befreiungsaktion kommt dann bezeichnender Weise Terrys Frau ums Leben, als sich ein Schuss aus der Waffe ihres Mannes löst. „Civic Duty“ führt einerseits vor, welche Rückkopplungseffekte die von der Regierung Bush betriebene Militarisierung des Alltäglichen nach sich zieht. Andererseits zeigt der Film in der Figur des vermeintlichen Schläfers, dass der Feind expressis verbis als unsere eigene, Gestalt gewordene Frage zu begreifen ist. Gerade weil der Feind strukturell unterbestimmt bleibt, weil er nicht im finalen Sinne dingfest gemacht werden kann, entsteht ein Gefahrensinn, der jede Frage nach der Verhältnismäßigkeit als Verharmlosung negiert und den Zusammenhang von „flüssiger Moderne“ 43 , Angst und Gewalt bloßlegt. Das spezifische Noch-Nicht der von der Figur des Schläfers ausgehenden Gefahr legitimiert eine Politik der Prävention, die sich als „Falte“ im Sinne von Gilles Deleuze 4 4 denken lässt, als Modus einer Verwerfung des Rechtssystems. Ebenso wie für den Schläfer, so ist auch für den Amokläufer die Tat ein kommu­ni­ kativer Akt, dessen Übersetzung allerdings noch größere Rätsel als im Falle des Terror­ anschlags aufgibt. Seit dem Beginn der westlichen Kulturgeschichte des Amoks, die Christina Barz mit dem Fall des Walter Seifert im Jahre 1964 beginnen lässt 45 , stehen Beobachter ratlos vor Ereignissen, die sich als „typische Katastrophe[n] in westlichen Gesellschaften“ 46 auf einer Beobachter-Ebene erster Ordnung nur sehr schwer narrativ renormalisieren lassen, auf der Beobachter-Ebene zweiter Ordnung allerdings eine intrinsische Verbindung zum Schläfer-Phantasma aufweisen, vor allem dann, wenn man auf Zum Angst-Potenzial einer Moderne, in der sich die für das 20. Jahrhundert typischen Ordnungmuster des Sozialen und Politischen verflüssigen, vgl. Bauman, Zygmunt: Liquid Fear. Cambridge: Polity 2006. 44 Vgl. Deleuze, Gilles: Die Falte. Leibnitz und der Barock. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000. 45 Walter Seifert hatte 1964, mit einer Lanze und einem selbstgebastelten Flammenwerfer bewaffnet, eine Schule im Kölner Vorort Volkhoven betreten, dort zwei Lehrerinnen getötet und mehreren Schülern schwere Verbrennungen zugefügt. Vgl. Bartz, Christina: Amok: Muster und Genealogie einer publizistischen Debatte 1964 bis heute. In: LiLi 40, 2010, H. 157: Deutsche Debatten, S. 60 – 75. 46 Vogl, Joseph: Epoche des Amok. In: Transkriptionen 1, 2003, S. 11 – 14, hier S. 11. 43

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die Medienerzählungen schaut, die von ihrem Auftreten initiiert werden. Zunächst als Phänomen malaiischer Kriegspraktiken in portugiesischen, englischen und holländischen Reiseberichten des 16. und 17. Jahrhunderts beschrieben, später in medizinisch-psychiatrischen Diskursen als pathologischer Körperzustand verortet und auch in die literarische Fiktionalität einwandernd 47, realisiert sich die Ausbreitungsgeschichte des Amoks seit den 1960er Jahren als massenmediales Phänomen. 48 Dies insbesondere auch dadurch, dass sich die Erschütterungswirkung des Ereignisses als Zusammenspiel von Tat und Berichterstattung darstellt, geknüpft an das Eingeständnis, dass zwar das „Das“ konstatiert, aber kaum das „Warum?“ befriedigend geklärt werden kann. Als dauerhafte Störung des Normalen, die in spezifischer Weise kollektive Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte auseinander treten lässt, wird der Amok zur Herausforderung und zum Attraktor des Populären, das sich einerseits vor allem auf die Verunsicherung arti­kulierende „Inszenierung einer hyperbolischen Kriegslandschaft mitten in einem scheinba­ren Frieden“ 49 fokussiert. Gus van Sants „Elephant“ etwa zeigt den Amoklauf zweier Schü­ler an einer Highschool als genau dies: ein generalstabsmäßig geplanter An­griff, der aber kein Motiv erkennen lässt. Die vermeintlichen Indizien, die der Film vorführt – der unvermeidliche Ego-Shooter etwa oder eine Faszination der beiden Täter beim Schauen alter NS-Aufnahmen im History-Channel – werden nur zitiert, um sie in ihrem Missverhältnis zu der sich am Schluss des Films Bahn brechenden Gewalt vorzuführen. Die Tat selbst wird in so prosaischen Bildern gezeigt, das sozialpsychologische Erklärungsmuster zwangsläufig verblassen und man unweigerlich Zuflucht bei allgemeinen Reflexionen über den Einbruch des Realen oder den Zusammenhang von Unfall und Moderne suchen möchte. „Elephant“ reproduziert damit genau jene doppelte Erschütterungswirkung, die den Amok zu so einem irritierenden Ereignis macht: Er erzeugt einen Riss, der ebenso die Biografien der Opfer aus der Bahn fallen lässt, wie er die gängigen Normalisierungserzählungen in ihrer Hilflosigkeit vorführt. Einen etwas einfacheren Weg nehmen Filme wie „Taxi Driver“ (USA 1976) oder „Falling Down“ (USA 1993), die weiße Männer mittleren Alters in den Mittelpunkt ihrer Narrationen stellen und die von ihnen begangenen Amokläufe einer kulturkritischen Imprägnierung unterziehen. Travis Bickle (Robert de Niro), die Hauptfigur in „Taxi Driver“, wie auch der von Michael Douglas gespielte William Foster aus „Falling Down“, der aufgrund des programmatischen Nummernschilds seines Wagens weithin als „D-Fense“ in die Geschichte der Amokfiguren eingegangen ist, starten ihre Feldzüge gegen die Gesellschaft als Akte der Selbstverteidigung, als Gegenwehr gegen eine unverständliche Umwelt, die sie als Bedrohung ihrer Lebensbedingungen wahrnehmen. Vor allem Travis Bickle realisiert in seinen der Tat vorausgehenden Reden ein Motiv der Reinigung, das in einem symbolischen Akt den status quo ante wieder einsetzen und da Vgl. Vogl, Joseph: Zur Geschichte von Gefahr und Gefährlichkeit: Amok. In: Sicherheit und Risiko. Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert. Hrsg. von Herfried Münkler u. a. Bielefeld: transcript 2010, S. 239 – 260. 48 Vgl. Christians, Heiko: Amok. Geschichte einer Ausbreitung. Bielefeld: Aisthesis 2008. 49 Vogl, Epoche des Amok. 2003, S. 14. 47

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mit die Komplexität und vermeintliche Verdorbenheit der Gegenwart auf die Eindeutigkeit einer imaginierten besseren Vergangenheit zurückführen will. Paradigmatisch für dieses Projekt einer gewaltsamen Realisierung restitutiver Kulturkritik steht Bickles paradigmatischer Appell „Just go out and do somethin’!“ Der Film überführt diesen Appell zunächst in einem traditionsreichen Brückenschlag 50 zum „Kult der Waffen“ 51, rechtsreaktionärer Kreise in den USA bevor es dann, nach einem gescheiterten Attentatsversuch auf den Präsidentschaftskandidaten Palantine, zum finalen Gewaltakt kommt. Sehr viel stärker als „Elephant“ interessiert sich „Taxi Driver“ für die psychische Struktur seiner Hauptfigur. Ein letztes Mal kehrt im vorliegenden Zusammenhang die Denkfigur von der Peripherie im Zentrum wieder: Bickle, der als Soldat am Vietnam-Krieg teilgenommen und im Nachkriegsamerika nicht mehr recht Fuß gefasst hat, figuriert als lebendes Trauma, das vom eigentlichen Skandalon des Krieges und dem dort stark beschädigten US-amerikanischen Selbstbild schweigt und stattdessen die Zustände an der Heimatfront als nicht akzeptabel brandmarkt. So perspektiviert, erweist sich der Wille zur Tat als Versuch, die eigene Identität in einer idealisierten Rolle als Held neu zu integrieren, indem er – wie es Helmut Lethen einmal im Hinblick auf die männlichen Reaktionsmuster nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg beschrieben hat – an die Stelle des kreatürlichen Leidens an der Niederlage die Coolness der gepanzerten „kalten Persona“ 52 setzt. Die Rollenwahl des Travis Bickle, die im amerikanischen Western und hier namentlich in den Darstellungen Clint Eastwoods unzählige Muster vorfindet, ebenso wie der Umstand, dass „Falling Down“ den Amoklauf von D-Fense in einem Fast-Food-Restau­ rant beginnen lässt und sich damit an den realen Fall des Vietnam-Veteranen James Huberty anlehnt, der 1984 in einer McDonalds-Filiale 22 Menschen tötete, zeigt einmal mehr, wie sehr sich die realen und die fiktionalen Geschichten absoluter Feindschaft gegenseitig durch­dringen. Bickle, der sich selbst mit dem Thomas-Wolfe-Zitat „There ist no escape. I’m god’s lonely man“ charakterisiert, figuriert ebenso wie der mit dem Motto „Don’t forget me!“ in die Schlacht ziehende D-Fense, als die auf die Exterritorialisierungspraktiken der Gesellschaft verweisende Personalisierung eines Unbehagens, das sich angesichts eines Lebens in der verwalteten Welt latent einschleicht, und in spezifischen Rahmenkonstellationen von Potenzialität in Aktualität übergeht. Die Tat setzt dann an die Stelle der Anonymität bürokratischer Strukturen das persönliche und damit immer auch vermeintlich authentische Moment eines Blutrausches, der in seinen medialen Umschriften als eine „Metapher für Überzivilisiertheit“ 53 aufgefasst werden kann.

Stichworte bzw. Referenzfilme wären hier die „Turner-Diaries“, die gewaltsame Erstürmung des Davidianer-Gebäudes in „Waco“ sowie der Anschlag auf die FBI-Zentrale in „Oklahoma City“. 51 Christians, Amok. 2008, S. 266. 52 Vgl. Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994. 53 Ebd., S. 207. 50

Lars Koch

232 5. Gouvernementalität als Bedrohung

Bleibt abschließend zu fragen, inwieweit Angst im Zeitalter der „flüssigen Moderne“ zu einer Schlüsseltechnologie der Macht geworden ist. Die massenmedial als Trauma kommunizierten Terroranschläge und Amokläufe der Vergangenheit erzeugen – niedrig in der In­ten­sität, aber desto größer in der Kontinuität – Effekte der Entdifferenzierung, Entindi­vidualisierung und Entpolitisierung, die den status quo stabilisieren, gerade indem sie seine gewaltsame Infragestellung behaupten und die geopolitische bzw. sozialökonomische Komplexität der Tatentstehung in unterkomplexe Ursachen-Wirkungs-Zusammenhänge übersetzen. Typische massenmediale Erklärungsmuster – religiöse Verblendung im einen Fall, falscher Medienkonsum im anderen – streben eine Renormalisierung des Kontinuitätsbruchs an, indem sie den komplexen Entstehungszusammenhang der Gesellschaftsfeindschaft auf eine individualpathologische Ebene herunter brechen und im Zuge dessen einen vermeintlich sinnvollen, zugleich aber ansatzlosen Aktivismus propagieren. Die Logik absoluter Feindschaft verbreitet so Angst als Kondensat kommunikativer Praktiken und wird dabei aufgrund ihrer prospektiven Logik von einer „Rhetorik der Dringlichkeit“ 54 bestimmt, deren massenmedialer Emotionalisierungsgrad in seiner mittelfristigen Wirkungsweise die tautologische Botschaft „Wir leben in gefährlichen Zeiten, weil die Zeiten gefährlich sind“ kommuniziert und damit in der medialen Zirkulation letztendlich Bedrohungen ohne Eigenschaften produziert. Der Leitaffekt der Gegenwart ist, wie es Brian Massumi formuliert, „vage und grell zugleich: nichts ist so drastisch wie Panik, nichts so unbestimmt wie eine Wahnvorstellung. Die derart induzierte Angst ist nicht mit einer Phobie zu verwechseln, denn anders als diese ist Angst ohne spezifisches Objekt. Es handelt sich nicht um eine akute, sondern um eine diffuse Angst, um ein ständig präsentes, fluktuierendes Angst­niveau [...].“ 55

Gegenwärtige Sicherheitskonzepte prozessieren Gefahrenabwehr daher als kommunizierte Antizipation zukünftiger Gefahrenkonstellationen, Sicherheit bekommt so eine imaginative Komponente, exemplarisch ausgedrückt in den Treffen, die das Pentagon Ende 2001 zusammen mit Regisseuren und Drehbuchautoren aus Hollywood veranstaltete, um ge­mein­sam denkbare Terror-Szenarien durchzuspielen. Komplementär zur Evaluierung mög­licher Gefahrensettings greift ein Politikverständnis um sich, das situative Konstellationen in ihren Entstehungsbedingungen zu kontrollieren trachtet. Wie Foucault zeigt, ist das neuzeitliche Regieren „ein System, das sich im wesentlichen um ein eventuelles Ereignis dreht, das geschehen“ 56 könnte. In einer Zeit, in der nicht mehr der als Barbar lokalisierbare Feind „an den Grenzen der Staaten herumstolpert und gegen die Mauern der Horn, Der Feind als Netzwerk und Schwarm. 2009, S. 39. Massumi, Brian: Everywhere you want to be. Einführung in die Angst. In: Karten zu Tausend Plateaus. Hrsg. von Clemens Carl Härle. Berlin: Merve 1993, S. 66 – 103, hier S. 88 f. 56 Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität Bd. 1: Sicherheit, Territorium, Bevöl­ kerung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 57. 54 55

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Städte anrennt“ 57, stellen Präventionslogiken einen Versuch dar, gegenwärtige Zukunft in zukünftige Gegenwart zu überführen und dabei ein höchstes Maß an Kontrolle und Planbarkeit zu erreichen. Die von westlichen Regierungen im Schulterschluss mit den sensationalistischen Massenmedien betriebene Politik der Angst funktioniert dementsprechend als Akzeptanzmanagement für Formen „präventive[r] Normalisierungen“ 58 , d. h. für den Versuch, negativ gedeutete Zukunft gar nicht erst eintreten zu lassen. 59 Terror und Amok irritieren das in der Moderne dominante Umgehen mit Gefahr, weil beide Anschlagsformen als „reale Möglichkeiten“ (Carl Schmitt) entgegen verbreiteter Kausallogiken schwer kalkulierbar und als Ereignis kaum auf individuelles Agieren zurückrechenbar sind. In gewisser Weise fällt die diffuse Angst vor Terror hinter die Moderne zurück, die seit der Psychologisierung des Bösen im Zeitalter der Aufklärung konsequent zwischen intentionaler Bedrohung und kontingenter Gefahr zu unterscheiden sucht. Prävention, die eigentlich nur Ziele der Vermeidung kennt, setzt vor diesem Hintergrund einen enormen, nie abschließbaren Aktionismus frei. Die mediale Dauerpräsenz der beiden Angst-Figuren des Schläfers und des Amokläufers führt indessen zu einer Gesellschaft im permanenten Alarmzustand, die sich in der Auslegung von Ereignissen und sozialen Prozessen immer mehr von Zweifelsfällen umstellt sieht, die eine spezifische Handlungslogik implizieren: „‚Im Zweifelsfall‘ – das heißt wer auf Nummer sicher gehen will, wird Situationen immer häufiger als Zweifelsfälle deuten.“ 60 Der populäre Spielfilm spielt hierbei eine ambivalente Rolle. Einerseits bebildert er eben jene Phantasmen, die Angst machen, und liefert so einen Beitrag zur Organisation von Gouvernementalität als Bedrohung. Positiv gewendet gibt er andererseits den Anstoß dazu, angstbesetzte Machttechniken zu hinterfragen. Wie schon Siegfried Kracauer glaubte, „ist es allein das Kino, das in gewissem Sinne der Natur den Spiegel vorhält und damit die ‚Reflexion‘ von Ereignissen ermöglicht, die uns versteinern würden, träfen wir sie im wirklichen Leben an.“ 61 Wenn eine solche Reflexionsherausforderung gelingt, wenn das „verworfene Wissen“ 62 um die Kontingenz unserer Freund-Feind-Unterscheidungen deutlich wird, werden Spielfilme zu Störfällen ganz eigener Art.

Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. 2002, S. 232. Link, Über die normalisierende Funktion apokalyptischer Visionen. 2009, S. 21. 59 Die Paradoxien eines solchen Präventionsdenkens wiederum sind auch dem populären Spielfilm nicht fremd, wie beispielsweise Steven Spielbergs „Minority Report“ (USA 2002) zeigt. 60 Reemtsma, Vertrauen und Gewalt. 2008, S. 177. 61 Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 395. 62 Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. 2002, S. 21. 57 58

Silke Tammen

Stolpersteine – Bodenbilder: Wahrnehmungs- und Erinnerungsverstörungen

1. Über den Astronomen und Denker Thales von Milet wird berichtet, er sei bei der Betrachtung eines Sternenhimmels zum großen Gelächter einer thrakischen Magd in einen Brunnen gefallen. 1 Sein Denken und Erkenntnistrachten hatte sich zu weit von seinen Füßen entfernt. Erst eine Störung, die im Gehhindernis und dem von ihm ausgelösten Stolpern liegt, dann der peinliche Sturz, vermochten eine Wahrnehmungsänderung zu erzeugen und die Aufmerksamkeit neu zu justieren – auf das ‚Naheliegende‘ hin. Das Stolpern erscheint als eindrücklicher Un-Fall innerhalb einer breiten Skala von Phänomenen, die gemeinhin als Störung bezeichnet werden. Seine Auslöser – etwa Bananenschale oder Tigerfell („Dinner for One“) – bieten Anlaß zu Gelächter, Denkanstößen und künstlerischen Interventionen. 2 Deren Bekannteste ist das seit 1994 laufende und zeitweilig umstrittene Erinnerungsprojekt von Gunter Demnig, der „Stolpersteine“ stolperfrei, da bündig im Pflaster oder Asphalt, vor den ehemaligen Wohnhäusern der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung verlegt bzw. verlegen läßt. Die „Stolpersteine“ sollen Seh- und Geh-Routinen unterbrechen und damit zu einem mentalen Stolpern und aktiven Gedenken anleiten, das den alltäglich-gegenwärtigen Gehweg punktuell und imaginativ auf einen Erinnerungsraum hin öffnet. 3 Seitdem sich in Europa die gleichförmigen Vgl. Blumenberg, Hans: Das Lachen der Thrakerin: Eine Urgeschichte Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987. Zum Motiv des Stolperns ausgehend von Thales’ Unfall Chihaia, Matei: Stolpern fördert. Ein Augenblick des Erinnerns in ‚Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘. In: ff. Erinnerung. Hrsg. von Sebastian Glück/Julia Meer. Wuppertal: Stadt Wuppertal 2012, S. 14 – 15. — Meinem Doktoranden Lutz Hengst sei an dieser Stelle herzlich Dank gesagt für seine kritische und konstruktive Lektüre meines Beitrags. 2 Mit realen Schlaglöchern in Toronto, Montreal, New York und Los Angeles spielt das Fotografenpaar Claudia Ficca und Davide Luciano aus Montreal, indem sie bei laufendem Verkehr und innerhalb weniger Minuten kleine Szenen um die Löcher arrangieren und fotografieren, z. B. eine „Alice“, die ein weißes Kaninchen vor sich her auf ein Schlagloch zutreibt; vgl. ‹http://www.mypotholes.com› (Zugriff am 23.01.2011). 3 Stolpersteine: Gunter Demnig und sein Projekt. Hrsg. vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln. Red. Karola Fings. Köln: Emons 2007.

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Steine mit ihren beschrifteten Messingoberflächen verbreiten, ist diese Form der sanften Störung der Gehwege allerdings so erwartbar geworden, dass echte Überraschungen wohl kaum noch eintreten; als ein in den Augen Demnigs und seiner zahlreichen Unterstützer ‚störendes‘ Moment verbleibt einzig die sporadisch geäußerte Kritik an einer Unangemessenheit dieser Gedenkform, die das Treten der Namen der Verstorbenen mit Füßen stillschweigend akzeptiert. 4 Das Hauptinteresse meines Beitrags gilt dem Zusammenhang von Bodenbildern, ihren Orten und Geschichtserinnerung. 5 Diesen komplexen Zusammenhang bearbeitete der 1956 in Stuttgart geborene Thomas Kilpper in drei monumentalen Arbeiten. 6 Er verwandelte die Fußböden leerstehender und teils zum Abriss bestimmter, geschichtsträchtiger Orte – den Eichenparkettboden der Basketballhalle eines US Army Camps in Oberursel (1998, Abb. 1) 7, den Mahagoniparkettboden von „Orbit House“ in London (2000, Abb. 2) 8 und den PVC-Boden der Kantine des Hauptgebäudes des MfS Eine fundierte Kritik äußert Ulrike Schrader: Die ‚Stolpersteine‘ oder: Von der Leichtigkeit des Genkens. Einige kritische Anmerkungen. In: Glück/Meer, ff. Erinnerung. 2012, S. 25 – 26. Demnigs Idee wurde mehrfach kopiert: Zwei Projekte in Wien („Steine der Erinnerung“, ab 2005 und „Erinnern für die Zukunft“ seit 2008) widmen sich Wiener Opfern des Nationalsozialismus; auf Initiative des Festkommitees Leichlinger Karneval wurden „Schmunzelsteine“ für verstorbene Karnevalisten verlegt. Einen solitären Nachfolger fanden Demnigs „Stolpersteine“ z. B. im „Stein des Anstoßes“, den Ursula Ertz (Wiembeck) für Maria Rampendahl gestaltete, eine 1681 der Hexerei in Lemgo angeklagt Frau. Mit Rampendahls Anklage endeten die Hexenprozesse in der Stadt. Der Stein, dessen Inschrift mit dem Satz beginnt „Ich werde keinen Fußbreit weichen“, ist östlich des Lemgoer Rathauses auf dem Boden angebracht, steht aber so hoch, dass man kaum über ihn stolpern kann. Letztlich stehen alle „Stolpersteine“ als Namen, Daten und Orte nennende epitaphienartige Memorialmedien in der Tradition der Bodengräber. Während in der Gegenwart Unsicherheit über die Angemessenheit eines Gedenkens mit den Füßen besteht, war das Betreten von Grabplatten im Mittelalter zum Zeichen der humilitas des Verstorbenen geradezu erwünscht. Man machte sich allenfalls aus praktischen Gründen Gedanken um das Stolpern. So bestimmte der Zisterzienserorden im Jahre 1194: „Lapides qui positi sunt super tumulos defunctorum in claustris nostris coaequentur terrae, ne sunt offendiculo pedibus transeuntium.“ „Die Steine, die in unseren Kreuzgängen über die Gräber der Verstorbenen gelegt sind, sollen dem Boden angeglichen werden, um den Füßen der Hinübergehenden keinen Anstoß zu bieten.“ Zit. und Übers. nach Bauch, Kurt: Das mittelalterliche Grabmal. Berlin: De Gruyter 1976, S. 8. 5 In diesem Zusammenhang sei auf ein Desiderat des Katalogs zur Ausstellung „Das Gedächtnis der Kunst“ verwiesen. Weder spielen darin Bodenbilder noch bild- oder medientheoretische Fragen nach einer Störung, ja Störungsbedürftigkeit des trägen kollektiven Gedächtnisspeichers eine Rolle (vgl. Das Gedächtnis der Kunst. Geschichte und Erinnerung in der Kunst der Gegenwart. Hrsg. von Kurt Wettengl. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2000). 6 Kilppers Schaffen erfuhr noch keine kunsthistorische Würdigung; neben Selbstaussagen des Künstlers unter ‹http://www.Kilpper-projects.net› (Zugriff am 21.01.2013) liegen nur kleinere Beiträge anlässlich der jeweiligen Installationen und Ausstellungen vor. 7 Nollert, Angelika u. a.: Thomas Kilpper. Don’t look back. Lautertal: Lautertal-Druck 1999. 8 Lynas, Donna/Mullholand, Neil: Thomas Kilpper, The Ring. London: South London Gallery 2000. 4

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Abb. 1: Thomas Kilpper, „Don’t look back“, 1998

Abb. 2: Thomas Kilpper, „The Ring“, 2000

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Abb. 3: Thomas Kilpper, „State of control“, 2009, Arbeitsprozess

Hauptquartiers in Berlin (2009, Abb. 3) 9 in monumentale Druckstöcke für Bildcollagen. Kilpper bringt Bilder dort hervor, wo niemals Bilder vorgesehen waren; Bilder, deren Raum- und Geschichtsbezüge verschwommen und daher irritierend erscheinen. Fundstücke aus den unterschiedlichsten medialen Überlieferungszusammenhängen – häufig fotografische ‚Ikonen‘ kollektiver Erinnerungen der jüngeren Zeitgeschichte – werden mit privat erscheinenden Bildern und Textfragmenten gemischt. Kilpper nimmt diese Vorlagen als Dias auf und projiziert sie dann auf die Böden, um die Schattenbilder direkt in den Fußboden zu schnitzen. Er nimmt von einzelnen Motiven Drucke auf Papier oder billigen, schon gemusterten Werbefahnen ab und hängt sie sowohl im Innenraum als auch an der Fassade des jeweiligen Gebäudes aus. In diesem Arbeitsschritt wird der feste Zusammenhang von Bild und Boden ebenso wie das jeweilige Bildsystem zerrissen. Kilpper stört mit den von tausenden Füßen betretenen, geglätteten und in ihrer Nutzungsgeschichte abgetretenen Böden die quasi sedimentäre Schichtung von ortsgebundenen Erinnerungsbildern auf und fügt ortsfremde Bilder hinzu; er geht Geschichte grob-handwerklich, u. a. mit der Kettensäge ‚auf den Grund‘ und stellt sie als locker assoziativen Verbund von Fragmenten aus.

Thomas Kilpper, State of Control, Katalog der Ausstellung des Neuen Berliner Kunstvereins. Hrsg. von Marius Babias. Köln: König 2009.

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Der Zusammenhang von Bodenbildern, ihren Orten und Geschichtserinnerung, von Gehen und Sehen soll im Folgenden unter dem Vorzeichen eines vielfacettigen Störungsbegriffs betrachtet werden, der bewußt eine allzu enge Festschreibung vermeidet, Störung aus kunstwissenschaftlicher Sicht aber grundsätzlich als positiv, intentional und reflexiv wirkend faßt. 10 Bodenbilder können mehrfach störend wirken: 1. die konkrete Ver-Störung des Begehers eines Bodenbildes durch dessen Materialität oder Bildstrukturen, die die Wahrnehmung eines festen Bodenkontakts unterlaufen und in Taumel, Schwindel etc. münden können. 2. durch ein Sujet, das als störend im Sinne einer Unangemessenheit gegenüber dem umgebenden Ort empfunden wird. 2. Bevor ich mich näher mit der ersten Bodenarbeit Kilppers, „Don’t look back“, beschäftige, seien einige Gedanken über das Phänomen der bebilderten Böden und ihr Potential, zu verstören und gedanklich zum Stolpern zu bringen, vorausgeschickt. Bilder am Boden stellen die Wahrnehmung vor eine andere und ungewohntere Aufgabe als Wand- oder Deckenbilder. Wenn sie nicht gerade als moralisch-didaktische Orientierungsanleitungen wie die mittelalterlichen Bodenlabyrinthe konzipiert sind, 11 bilden Gegen einen intentionalen Störungsbegriff vgl. Geimer, Peter: Was ist kein Bild? Zur ‚Störung der Verweisung‘. In: Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie. Hrsg. von Peter Geimer. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 313 – 341, hier: S. 313/314: „Störungen sind der Inbegriff dessen, was sich nicht herstellen läßt. Sie treten ein. Ihr Charakteristikum ist: Abwesenheit von Intention. Intendierte Störungen sind von vornherein bereits entstört.“ Das Wechselspiel von Störung und Entstörung kennzeichnet allerdings so stark die Kunst seit der Moderne, dass man m.E. ruhigen Gewissens mit einem Störungsbegriff arbeiten kann, der weniger mechanisch gefasst ist als bei Geimer – ein Störungsbegriff, der auch weniger auf die schnell verpuffende Provokation oder den Skandal abhebt, sondern das reflexive Potential einer künstlerisch erzeugten Störung betrachtet. Der kunstwissen­schaftliche Umgang mit dem Begriff der Störung ist schillernd und liefert kaum Orientierungs­punk­te für mein Interesse an Bodenbildern. Implizit wird das Phänomen ‚Störung‘ in bildtheoretischen Ansätzen zu Transparenz und Opazität der Malerei oder der Neuen Medien thematisiert, wenn z. B. bei Mersch die Rede von „störender Materialität“ und „Blickbrechung“ die Rede ist. (Mersch, Dieter: Bild und Blick. Zur Medialität des Visuellen. In: Media Synaesthetics. Konturen einer physiologischen Medienästhetik. Hrsg. von Christian Filk u. a. Köln: Halem 2003, S. 95 – 122, hier: S. 104, S. 109) Für Siegert und Didi-Huberman liegt die Störung hingegen in scheinbar nebensächlichen Details oder Zonen im Tafelbild, die nicht restlos im Bildsinn aufgehen, damit einen krisenhaften Moment der Wahrnehmung auslösen, der den Betrachterblick auf die Materialität der Bildfläche und damit auf die mediale Bedingtheit des Bilds wie der Wahrnehmung umlenken kann. (Siegert, Bernhard: Der Blick als Bild-Störung. In: Blickzähmung und Augentäuschung: zu Jacques Lacans Bildtheorie. Hrsg. von Claudia Blümle. Zürich: diaphanes 2005, S. 103 – 126; Didi-Huberman, Georges: Die Frage des Details, die Frage des pan. In: Was aus dem Bild fällt. Hrsg. von Edith Futscher. München: Fink 2007, S. 43 – 86). 11 Kern, Hermann: Labyrinthe. München: Prestel 1983. 10

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Abb. 4: Barbara Kruger, Teppich aus der „Dialogkollektion“, Vorwerk 1992

Bodenbilder eine visuelle Irritation, die sich besonders dann verschärft, wenn Vorlagen am Boden reproduziert werden, die auf eine andere Sehordnung eingerichtet waren. So spielt etwa Barbara Kruger mit diesem Effekt, wenn sie im Gewebe eines Teppichs das dokumentarisch erscheinende Foto eines flächenfüllend und frontal platzierten Gesichts reproduziert (Abb. 4). 12 Über die den Gegenblick aus dem Bild heraus verhindernde Augenbinde ist ein rot unterlegter Spruch gesetzt, der sich den Konturen von Binde und Gesicht darunter nicht anpasst und die Gewissheit über die Unterworfenheit und Blindheit dieser hilflosen, aber doch unheimlichen Präsenz erschüttert: „All that seemed beneath you/is speaking to you now. All/that seemed blind is fol-/lowing in your footsteps.“ Es ist zwar fraglich, ob dieser Künstlerteppich realiter betreten wird, die Imagination spielt diese Möglichkeit aber unwillkürlich durch; Folter und mit Füßen getretene Menschenwürde, die sich traditionell mit dem Betreten eines zum Fußabtreter entwürdigten Abbilds verbindet, können hier assoziiert werden. 13 Das Antlitz auf dem Boden und die von ihm ausgehende Verunsicherung über seine Betretbarkeit verdienen ein eigenes Kapitel in der noch ungeschriebenen Geschichte der Bilder zu und unter unseren Füßen, 14 in der ein Verständnis von Störung als intentional und reflexiv wirkend die bis dato dominierenden ikonographischen Ansätze fruchtbar erweitern könnte. Mit Blick auf die Köpfe am Boden wäre der Bogen zu spannen von einer durch Galen überlieferten Anekdote über den Philosophen Diogenes, der auf den mit 2 x 3 Meter. Ob das Bildmotiv von Kruger direkt für die auf die Herstellung hochwertiger Teppiche spezialisierte Firma entworfen wurde oder schon in einer anderen medialen Form existierte, konnte ich nicht klären. 13 Man denke an das Eingangsmosaik mit dem Bildnis George H. W. Bushs und seiner Inschrift „Bush is Criminal“, das 1991 im Eingang des Bagdader Hotel Al-Rasheed ausgelegt und von vielen westlichen Besuchern über- und umgangen wurde. 14 Brock, Bazon: Die Welt zu Deinen Füßen. Den Boden im Blick. Naturwerk, Kunstwerk, Vorwerk. Köln: DuMont 1999. Es fehlt eine epochenübergreifende Studie, die sich mit diesem Phänomen bildgeschichtlich und bildtheoretisch beschäftigen würde. 12

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Abb. 5: Anonymus, Kreidebild als Hommage an Miroslaw Kloses zwei Tore während des Spiels Deutschland – Costa Rica während der WM 2006

Götterbildern dekorierten Böden eines Hauses keinen Ort zum Aus­spucken gefunden haben soll, 15 bis hin zur Lässigkeit, mit der die ephemeren Kreidemalereien von Straßenkünstlern betreten werden können. (Abb. 5) Doch das Unbehagen eines hinreichend sensiblen Betrachters gegenüber dem Bild zu oder unter seinen Füßen hängt nicht allein mit der Dekorumsproblematik zusammen, sondern mit der Raumwahrnehmung. Wo wir vor Bildern auf einem Bildschirm oder an einer Wand eine körperliche Distanz einhalten können oder sollten, da also, wo wir den Grund unter den Füßen oder den Stuhl unter dem Hinterteil im Moment des Bildstudiums oder Kunstgenusses vergessen dürfen, ist dies zwangsläufig anders bei einem Bodenbild. Wenn wir den Boden, aus dem wir ein mehr oder weniger bewusstes Körper-, Orientierungs- und Ortsgefühl und damit Sicherheit beziehen, mit Objekten oder Bildern teilen, zumal mit reliefierten oder merkwürdig flauschig-weichen Bildern, die den Boden uneben machen, dann kann dies ‚stören‘ und in dieser Störung der Wahrnehmungsroutine eine eher selten eingeübte Koordination von Augen und Füßen einfordern und den Rezipienten zwingen, die distanzschaffende Kraft des Sehens in ein Verhältnis zum häufig ignorierten Tastsinn zu bringen. Er ist in den klassischen Sinneshierarchien eben ganz ‚unten‘ angesiedelt. Unfreiwillig aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist eine Beobachtung Rudolf Arnheims: „Wenn [...] der Fußboden als Bildträger benutzt wird, hat er zwei widersprüchliche Funktionen. Unsere Füße kommen den Augen ins Gehege. Wie unbehaglich muß es gewesen sein, auf dem Fußboden einer pompeijanischen Villa über das Mosaik der Alexanderschlacht hinwegzustolpern!“ 16 Das Unbehagen des großen, in klaren Bildstrukturen denkenden Kunstwissenschaftlers und Filmtheoreti Galen, Protrepticus ad medicinam 9 nach Dunbabin, Katherine M.D.: Mosaics of the Greek and Roman World. Cambridge: University Press 1999, S. 326, Anm. 44. Zum Nachleben dieses topischen Bedenkens vgl. Rudolph, Conrad: The ‚things of greater importance‘: Bernhard of Clairvaux’s Apologia and the medieval attitude towards art. Philadelphia: University of Philadelphia Press 1990, S. 329/330. 16 Arnheim, Rudolf: Die Macht der Mitte: eine Kompositionslehre für die bildenden Künste. Köln: DuMont 1983, S. 23. 15

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kers wäre natürlich zu historisieren: In einer spätantiken Kultur, die sich nach Susanne Muth auf ein „Leben im Mythos“, im Kokon von Wand- wie Bodenbildern eingerichtet hatte, mag die Wahrnehmung eines dramatisch bewegten Bodenmosaiks keineswegs als Verstörung eines Raumerlebens empfunden worden sein. 17 Überdies wirkt das Bild der Alexanderschlacht wie ein von der Wand auf den Boden geratenes Bild, und man kann – mit Arnheim gesprochen – tatsächlich nur auf ihm herumstolpern, ohne dass sich ein immersiver Effekt ergäbe. Das Mosaikbild bleibt dem Boden und damit den Füßen seiner Begeher fremd. Anders verhält es sich zwar mit illusionistischen Gestaltungen des Bodens in Form abgelegter Gegenstände (asarotos oikos-Böden der Antike), die aber die konkrete Raumwahrnehmung des Rezipienten erst einmal nicht stören, da sie ein Kontinuum zwischen Bild- und aktueller Raumerfahrung vorspiegeln. 18 Verstören kann eher der Effekt eines z. B. zu Wasser verfremdeten 19 oder unebenen Bodens, der Stolperfallen bis hin zu veritablen Löchern birgt, aus denen allerhand Unheimliches, Untotes oder Vergangenes aufsteigen kann. 20

Muth, Susanne: Erleben von Raum – Leben im Raum. Zur Funktion mythologischer Mosaikbilder in der römisch-kaiserzeitlichen Wohnarchitektur. Heidelberg: Tonio Hölscher 1998, S. 339/340: „Bei der Frage nach der psychologischen Dimension eines solchen Lebens umgeben von Bildern ist schließlich aber auch die spezifische Psychologie der Bilder am Boden in den Blick zu nehmen: die Wirkungsmechanismen von Mosaikbildern unterscheiden sich zweifelsohne von denen der Bilder etwa an den Wänden. Es bleibt im einzelnen zu diskutieren, welche Qualität dem Erleben von Bildern zukommt, über die man schreitet und auf denen man steht, in die man gewissermaßen eintritt und Teil ihrer Welt wird. Gerade unter diesen Perspektiven der Wirkung der Bilder auf den Betrachter eröffnet sich ein noch weites Feld künftiger Untersuchungen.“ 18 Vgl. Hagenow, Gerd: Der nichtausgekehrte Speisesaal. In: Rheinisches Museum für Philologie 121, 1978, S. 260 – 275; Dunbabin, Mosaics. 1999, S. 26/27. 19 Einen interessanten Fall stellt der romanische Mosaikboden in der Krypta von San Savino in Piacenza dar, wo ein geordnetes System von Zodiakusbildern in Medaillons auf eine von Wellen belebte Meeresfläche gesetzt wurde, aus deren Tiefe eine gefährliche Sirene ragt. (Vgl. Nicklies, C.E.: Cosmology and the Labors of the Months at Piacenza: the Crypt Mosaic at San Savino. In: Gesta 34, 1995, S. 108 – 125.) Eine Wissensordnung schwimmt hier auf dem topischen, unruhigen und sündenfälligen ‚Meer der Welt‘. Grundsätzlich zur Codierung mittelalterlicher Kirchenpavimente als Zone des Irdischen vgl. Meiri-Dann, Naomi: Twelfth Century North Italian Mosaic Pavements – are they really marginal? In: The Metamorphosis of Marginal Images: from Antiquity to Present Time. Hrsg. von Nurith Kenaan-Kedar/Asher Ovadiah. Tel Aviv: Tel Aviv University 2001, S. 183 – 194 und Barral i Altet, Xavier: ‚Le pavement est comme une mer‘: a propos d’un motif roman très venetien. In: Hadriatica, attorno a Venezia e al Medioevo tra arti, storia et storiografia. Hrsg. von Ennio Concina. Padova: Il Poligrafo 2003, S. 55 – 58. 20 Z. B. die aus schwarzen oculi aufsteigenden Skelette, die Gian Lorenzo Bernini für die Fußböden der Chigi- und der Cornarokapellen in Rom entwarf. In der Gegenwart ist vor allem an die anamorphotisch konstruierten, monumentalen trompe-l’œil des britischen Kreidekünstlers Julian Beever zu denken, der überraschende und schwindelerregende Öffnungen in die Wege von Fußgängerzonen malt. 17

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3. Thomas Kilppers Arbeiten funktionieren anders: Sie machen Böden nicht nur weitgehend unbrauchbar oder schränken ihre störungsfreie Betretbarkeit ein, sondern erscheinen insofern komplexer als viele Bilderböden, als sie einen Erfahrungsraum zwischen Gegen­ wart und Vergangenheit eröffnen, in dem Gewissheiten über den ‚Boden der geschicht­li­ chen Tatsachen‘ verstört werden und es weder Illusionismen der geschilderten Art noch klar bestimmbare Bildordnungen gibt. Im Jahr 1998 suchte Kilpper zur Realisierung eines überdimensionalen Holzschnitts ein passendes Gebäude mit Parkettboden und fand im Fußboden der Turnhalle von „Camp King“ in Oberursel den idealen Druckstock. Kilppers Arbeit wurde anfangs wohl nur deshalb gebilligt, weil das Gebäude zum Abriss bestimmt war. Und erst die pragmatische Ortswahl führte den Künstler zu einer Erforschung der Örtlichkeit und inhaltlichen Auseinandersetzung mit ihr. 21 Die US-Armee war nicht erste Nutzerin des Geländes: Erste Häuser waren 1938 für die „Deutsche Bau- und Siedlungsausstellung“ in Frankfurt am Main errichtet worden. Im Anschluss an die Ausstellung nach Oberursel verbracht bildeten sie zusammen mit neu errichteten Gebäuden den „Reichssiedlungshof“, dessen Wohn- und Wirtschaftsgebäude der Universität Frankfurt als „Reichssiedlungsschule“ zur Weiterbildung von Architekten und Handwerkern, aber auch von Baubeamten und Bürgermeistern dienen sollten. Ab 1939 wurde das Gelände als ein Durchgangslager und Verhörsort der Deutschen Luftwaffe für Kriegsgefangene, vor allem Piloten, genutzt. 1945 wurde das Lager dann zum „Interrogation Center“ der US-Armee mit Geheimdienstabteilungen der CIA (Central Intelligence Agency) und CIC (Counter Intelligence Corps). Hier wurden Gefangene, unter ihnen NS-Prominenz wie Albert Speer, in Vorbereitung auf die Nürnberger Prozesse vernommen. Das nach dem 1944 gefallenen Colonel Charles B. King „Camp King“ genannte Gelände verblieb bis 1993 in der Hand der amerikanischen Streitkräfte. Nach deren Abzug erwarb die Stadt Oberursel das Grundstück vom Bund, um dort ab 1999 ein Wohnareal zu schaffen. Die Fachwerkbauten des „Reichssiedlungshofes“ wurden restauriert, ein guter Teil der Gebäude aus der Zeit der militärischen Nutzung und auch die Basketballhalle mit Kilppers Bodenarbeit wurden abgerissen. Kilpper schreibt rückblickend: „Bei „Don’t look back“ stand ich einem riesigen Raum und einer monströsen Geschichte gegenüber: […] In der ehemaligen Basketballhalle habe ich 300qm Parkett zerschnitten und umgewandelt in einen Druckstock. Mittels Holzschnitt habe ich mich in diesen Ort eingeschrieben und ihn quasi besetzt, um mich so seiner Geschichte anzunähern und in den Prozeß seiner Transformation – von militärischer Nutzung, Leerstand, zu Abriss, Neubau und ziviler Nutzung – zu intervenieren. Bildträger waren modernste Fasern und digital bearbeitete Poster aus der Werbung.“ 22 Zur Geschichte des Geländes, den Werktitel Kilppers aufgreifend, vgl. Figna-Giapoulis, Christiane: „Don’t look back?“ Neubaugebiet Camp King: ein geschichtsreiches Areal wird zum modernen Wohnungsumfeld. In: Jahrbuch Hochtaunuskreis 13, 2005, S. 178 – 184. 22 ‹www.kilpper-projects.net/dont-look-back/de/beschreibung.htm› (Zugriff am 21.01.2013). 21

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Abb. 6: Kilpper bei der Arbeit von „Don’t look back“

Abb. 7: Abzüge von „Don’t look back“

Kilpper fräste und schnitzte sich mit Kettensäge, Oberfräse und Beitel über mehrere Monate in den Eichenboden. 23 (Abb. 6) Die spiegelverkehrt eingeschnittenen Bilder und Texte wurden in einem nächsten Schritt in Ausschnitten auf Gardinen, Vorhänge, Laken und Papier gedruckt, oftmals also auf einem schon bebilderten Untergrund. Diese Monumentaldrucke wurden schließlich wie trocknende Wäsche an durch den Raum gespannten Seilen und an den Wänden aufgehängt. (Abb. 7) Überdies fertigte Kilpper einen 11 x 22 Meter großen Druck des gesamten Bodens an. Er wurde wie ein Hausbesetzerlaken an der Fassade des Oberurseler Rathauses ausgehängt. Die wildbewegte Bild-Text-Collage, die Kilpper auf seiner Homepage mit eingeblendeten Ziffern Wie tief er ins Parkett arbeitete, ist mir nicht bekannt, aber diese Frage erscheint mir nicht unwesentlich im Hinblick auf das reale Stolperpotential des Bodens.

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Abb. 8: „Don’t look back“ im Überblick

als Orientierungshilfe für einige, aber längst nicht alle Szenen zeigt (Abb. 8), läßt sich am einfachsten in dieser Form analysieren, die einen distanzierenden Überblick bietet, während in der Sporthalle ein haptisch bestimmter Nahblick regierte, der Boden zwar betretbar aber nie zur Gänze rezipierbar war und die Abzüge nur in Ausschnitten studiert werden konnten. Optisch dominiert der schwarze Schriftzug, der am breitesten das Holz des Parketts freistehen lässt und damit wohl auch die größten Stolperkanten bot. Der Schriftzug fragt: „Wo bitte schön kann ich meine Grauwerte wieder finden?“ Der Titel des Werks „Don’t look back“ schneidet im letzten Drittel senkrecht in diese normale Leserichtung; ebenso der leicht nach links aus der Mitte versetzte Name „DJ Loco“, der wie eine verkappte Signatur anmutet. Man kann, wenn man will, mit der Lektüre des Bodenbilds in der linken oberen Ecke beginnen, wo ein bildeinwärts gewandter Mann in schwarzer Robe steht, auf den es aus einer Wolke heraus regnet. Es soll sich um den Urgroßvater Kilppers handeln, der Missionar in China war. In seiner bildeinwärts gewandten Haltung erscheint er als eine geradezu klassische Figur, die dem Betrachter einen Einstieg in ein Bildsystem anbietet. Dieses Betrachtungsangebot – Sehen mit den Augen eines Ahnen Kilppers und eines Missionars aus dem fernen China in ein deutsches Geschichtsbilderchaos hinein – kann nur als Distanzierungsangebot gleich zu Beginn verstanden werden. Rechts davon stehen zwei Gebäude, auf deren Dächern das Wort „POW“ als comicsprachliches Klangbild für einen Knall oder aber als Abkürzung für „Prisoners of War“ steht. Sicher sind Häuser auf dem Gelände des späteren Camp King gemeint, wofür die direkt darunter situierte Szene spricht: Zu sehen ist, so Kilpper auf seiner Homepage, ein „gefangener amerikanischer Pilot freundschaftlich untergehakt mit zwei Soldaten der Wehrmacht“. Daneben sieht man Hans Scharff, den nationalsozialistischen Chefvernehmer der Gefangenen mit Töchter-

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chen auf dem Arm. Hinter Scharff stürzt ein amerikanischer Pilot mit gebrochenem Propellerblatt, das er sich am „N“ des „Schön“ gestoßen hat, nach unten. Seine letzten Worte „Meet you at the lemon squeezer“ in einer Sprechblase bleiben rätselhaft. Rechts daneben ein Blatt mit einem weiteren lässigen Spruch, der auf die Werte der sogenannten Soldatenehre im gegenseitigen Respekt der Feinde anspielt: „You had your Job and I had mine. But after that we had a damned good time.“ Darunter ein Strichmännchen mit gesenktem Kopf auf einer Bank. Im Modus eines einfachen Graffiti wird hier wohl eine Zelle dargestellt, die mit „Der Kooler“ bezeichnet ist. Es folgt ein weiteres Strichmännchen mit „rauchendem Kopf“ auf einem Stuhl, unter dem wiederum „P[risoner] o[f] w[ar]“ steht. Ihm gegenüber sitzt ein „Interpretor on duty“ lässig rauchend am Schreibtisch, der als „Gefr[eiter] Scharff“ ausgewiesen wird. Unterzeichnet erscheint dieses Blatt mit „Under Protest and Duress this 13th day of June 1944. Colonel AC“. Nach Angaben Kilppers handelt es sich um eine Seite aus einem „Gästebuch“ der Deutschen. Es folgt ein Gruppenfoto des Offiziersstabs der Abteilung „Fremde Heere Ost“ des NS-Geheimdienstes. An diese Gruppe lehnt sich ihr Chef Reinhard Gehlen, der von einer Schreibarbeit aufblickt. Nach Kriegsende gründete er in Oberursel den westdeutschen Nachrichtendienst, Vorläufer des späteren Bundesnachrichtendienstes. Die nebenstehende Gruppe geistlicher Würdenträger könnte als Anspielung auf das Arrangement der katholischen Kirche mit dem nationalsozialistischen Regime zu verstehen sein. Eine Basketballszene, in der sich auch der frühere Topspieler Michael „Air“ Jordan befinden soll, schließt – mit einem weiteren männlichen, noch unidentifizierten Porträt – die obersten Bildreihen ab. Unter der Basketballszene stehen zwei Bilder dicht aneinander: Das Pulitzer-Preis gekrönte Foto des Fotografen Eddie Adams aus dem Jahre 1968, das die Erschießung des Vietkong Gefangenen Nguyễn Văn Lém durch den Polizeichef Nguyễn Ngọc Loan in Saigon am 1. Februar 1968 zeigt; dies wieder ein (reichlich vager) Ortsbezug insofern in Oberursel US-Soldaten während des Vietnamkriegs im Anti-Guerillakampf ausgebildet wurden. Daneben ein ebenfalls ins kollektive politische Bildgedächtnis eingegangenes Pressebild aus einer Serie von Fotos des Tatorts der Schleyer-Entführung von 1977: Autos mit zerschossenen Scheiben und ein am Boden liegender Fahrer. Schleyer stand wie Gehlen für eine personelle Machtkontinuität zwischen Drittem Reich und BRD, da er trotz seiner SS-Mitgliedschaft mit Führungsposition in Osteuropa späterer Präsident des Bundesdeutschen Arbeitgeberverbands wurde. Zwei sehr bekannte Fotos mit einem starken dokumentarischen Appeal und Schockcharakter, in denen sich die Erinnerung an Vietnamkrieg und RAF-Terror in einer ambivalenten Bezüglichkeit verdichtet, werden ausgerechnet mit einer Sportszene der 1980er Jahre gekoppelt. „Air“ Jordan hatte während seiner Laufbahn die Position eines ‚Shooting Guard‘ inne, ein auf Distanzwürfe spezialisierter Verteidiger. Vermutlich beleuchtet Kilpper hier die Rolle des Fotojournalismus kritisch als eine rastlose Suche nach dem ‚Hit‘ und nach der Einschlägigkeit des Bilds. Große schwarze Punkte, die sich zwischen Erschießungs- und Entführungsszene befinden und einer anderen Bildebene anzugehören scheinen, erinnern an Einschusslöcher. Leitmotiv dieser Bildzone des Bodens ist demnach das Schießen, ein Echo auf die Flieger im linken Quadranten.

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Wenn wir das „Don’t“ ignorieren und zurückschauen, dann verlassen wir den Sektor des Dokumentarischen und historisch Lesbaren und dringen in eine surreal anmutende Zone des Bodens vor. An eine hässliche groteske Figur mit extrem nach oben gebogener Nase, die kleine Klötzchen herumzuwirbeln scheint, schließt sich eine Art Hundehütte an, eine Menschengruppe und eine große Ziege. Über dem etwas stur dastehenden Tier und der Inschrift „Dj Loco“ sehen wir den Kopf von Kilppers Vater, der Angehöriger der Wehrmacht war, eng in das „Kann“ eingeblendet. Es folgen ein Panzer, ein Mann mit Pinocchio-Nase, heruntergelassenen Hosen und erigiertem Penis, welcher auf den Panzer zielt oder das Rohr des Panzers ist und für die militärische Phallokratie steht. Im lärmenden „POW“ und Knattern des zwischen den Worten „Schön“ und „Kann“ entfalteten Luftkriegs, dem Bild des Lagerführers Scharff als Vater einer Tochter und dem Bild von Kilppers Vater dominiert die Thematik zeugungsfähiger und zugleich zerstörerischer Männlichkeit. Unter diesen Szenen erscheint das IG-Farbenhaus in Frankfurt, daneben eine überraschend idyllische Hausmusikszene mit Frau am Klavier und Blockflöte spielenden Kindern – eine andere, nostalgisch stimmende Musik als die mit dem „DJ Loco“ zu assoziierenden Klänge! Nehmen wir uns eine andere Wortkombination vor, nicht das „Schöne Können“ im Zeichen der kriegerischen Männer, sondern das „Schön Meine“, dann werden wir in eine mit Kilpper verknüpfte Frankfurter Ortsbezogenheit gebracht: Auf das „Meine“ folgt eben das erwähnte Haus der Firma „IG Farben“ – wie „Camp King“ ein Ort höchst wechselhafter Nutzungen, in dem sich u. a. das Hauptquartier der amerikanischen Militärregierung befand – die, so könnte man hier assoziieren, den Frieden brachte, der schließlich die bildlich benachbarte Hausmusikidylle erst ermöglichte. Das “Meine“ kann sich wiederum klanglich auf den Main beziehen, der unterhalb der Darstellung der Frankfurter Altstadt mit der Paulskirche fließt. Ein Atelier mit gerahmten Bildern und einer vor ihnen postierten nackten Frau verweist auf Kilppers Zeit als Meisterschüler für Bildhauerei an der Städelschule in Frankfurt 1998, also just in dem Jahr, als er „Camp King“ entdeckte. Der Main und die heimelig engen Häuser der Stadt bilden eine friedvolle Ruhezone. Der Fluss mündet in einen Boxzweikampf, über dem das Wort „wieder“ uns sagt, dass das Thema des Konflikts nun erneut anhebt. Auf die Boxer folgt eine in den fallenden Linien des expressionistischen Holzschnittstils gestalteter Schrägblick von oben in einen Innenraum, den Kilpper als „psychoanalytische Praxis“ bezeichnet. Vom Zweikampf der Boxer kommen wir zum Dialog zwischen Arzt im Sessel und einem auf einer Couch ausgestreckten Mann. Unter der Thematik der subjektiven Wahrheitssuche tut sich ein kontrastiver Bezug zum schreibenden Gehlen und der Verhörthematik des Blatts in der oberen Bildzeile auf. Die Präsenz des Worts „Wieder“ passt gut zur Erinnerungsarbeit, ebenso das „Finden“ darunter. Die vorletzte Szene zeigt ein zweites Mal Kilppers Vater, hier als Späher im Schützengraben. Er trennt das Wort „Fin-Den“ und befindet sich außerdem unter dem „back“. Ein zweites Mal wird uns nahegelegt, den Aufruf „Sieh nicht zurück“ zu missachten. Mit dem väterlichen Blick aus dem Schützengraben queren wir den therapeutisch in die Erinnerung geleiteten Mann auf der Couch, die rätselhafte Szenerie um die Ziege her-

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um, das Reich der Träume und des Unterbewussten, das so assoziativ funktioniert wie auch die reale Collage. Wir landen beim „K“ des „Kann“, aber auch „K“ wie Kilpper und nochmals beim Vater des Künstlers. Einer Auseinandersetzung mit der Vaterfigur ist demnach nicht zu entrinnen. Die rechte untere Ecke ist dann vergleichsweise einfach gestaltet: „Grauwerte finden“ und eine Gruppe von Neonazis, die man allein an der Phalanx von Springerstiefeln zu erkennen vermeint, ein Bildformular, das seit den 1990er Jahren immer wieder in der Pressefotografie verwendet wird. Die Stiefel stehen fest auf dem Boden faschistischen Geschichtsverständnisses und haben dort ihre Identität gefunden. Diese Füße tragen die dominierende Idee von Gewalt und Krieg in die Gegenwart und verkörpern ein Schwarz-Weiß-Denken, das so gar nichts von einer Suche nach Grauwerten hat. Kilpper vergleicht sein Arbeiten „mit dem Prozess von Archäologie und Psychoanalyse“: „Leben in verlassene, heruntergekommene und verschlossene Orte bringen, Geschichte freilegen und Bewußtsein schaffen über die vielfältigen Entwicklungen eines Ortes und die mit ihm verbundenen Menschen. Die leeren Gebäude [...] gleichen in gewisser Weise unzugänglichen, verschütteten Stätten – oder verdrängten Teilen unserer Erinnerung: hier hat sich einst Leben abgespielt. Es gerät schnell in Vergessenheit und wird nicht mehr wahrgenommen. Ich versuche soviel wie möglich davon wieder auszugraben und ans Licht zu bringen. Allerdings eher im Sinn eines freien Erzählers als im streng archäologischen, soziologischen oder psychoanalytischen Sinne. Ich flechte in mein Erzählen des Ortes auch erfundene oder stark mit meiner Biografie verbundene Geschichten ein.“ 24

„Erzählen“ trifft das, was wir auf dem Boden von „Camp King“ antreffen, nicht wirklich: Wie ein wahnsinniger „DJ-Loco“ eben (ein verbreiteter DJ-Name) hat Kilpper in der verlassenen Halle visuell gelärmt, gesampelt 25 , hat Stile gemischt, Geschichte ‚aufgelegt‘ und in den Boden ‚gescratcht‘. Wenn wir in diesem Metaphernbereich bleiben wollen, dann nimmt sich der die Collage durchziehende Schriftzug so aus, als versuche da einer in verzweifelter Höflichkeit, aber doch lautstark, das Getöse, Menschen- und Stimmengewirr dieser Disko zu durchdringen und zu seinen „Grauwerten“ zu finden. Eine erste und sicherlich nicht erschöpfende Bildlektüre hat gezeigt, dass der Satz („Wo bitte schön kann ich meine Grauwerte wieder finden“) auch in aufgesplitterter Form ‚Sinn‘ macht, insofern er ikonotextuelle Assoziationsfelder begleitet oder sogar eröffnen kann. Semantische Eindeutigkeit gibt es nicht, denn es wirken nicht nur die bildlichen Kraftfelder auf einzelne Pesch, Martin: Keine Atempause. Geschichte wird gemacht. In: Nollert, Kilpper. 1999, o.S. „Er [Kilpper – S.T.] hat den Geschichte zeigenden Motiven durch den Akt der körperlichen Arbeit seine Prägung gegeben. Er hat sie sich im wahrsten Sinne des Wortes angeeignet. Das Gefühl des Überwältigtwerdens von der Geschichte hat er in der Arbeit an diesem Holzschnitt in die Energie des Überwältigens umgewandelt.“ 25 Zu diesem Verfahren kurz auch Pesch. Atempause. 1999, o. S.: „Seine Arbeitsweise ist auch mit der des Sampelns im Hip Hop zu vergleichen. Genauso wie dort afroamerikanische Musiker bestimmte Elemente einer ‚weiß‘ geprägten Popgeschichte verwenden, um einer eigenen Tradition bewußt zu werden, verwendet Kilpper Samples aus der ‚offiziellen‘ Geschichte, um sie mit seiner eigenen zu konfrontieren [...].“ 24

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Worte ein, sondern, wie noch zu zeigen ist, bleibt der Sinn der ganzen Frage verschwommen. Überdies wird sie senkrecht gequert von dem Befehl „Don’t look back“. Aber jegliche Suche (hier nach den verlorenen Grauwerten) kann ohne Rückschau nicht gelingen! Die verwirrende Warnung vor der Rückschau birgt in sich wiederum ein starkes, wenngleich enigmatisches Assoziationspotential, da sie den Titel diverser bekannter Songs bildet, z. B. der 1996er Hit der Band Oasis, „Don’t look back in anger“. Kilppers Arbeit mit collagierten Fragmenten aber näherstehend sind Bilder, die in den berühmten Dokumentarfilm „Dont look back“ von D. A. Pennebaker über Bob Dylans England-Tour 1965 führen. Der Film beginnt mit dem Vorläufer eines Musikvideos, in dem Dylan den „Subterranean Homesick Blues“ singt und dabei Schilder mit Wortfragmenten des Songs in die Kamera hält. Aber was ist mit den verlorenen „Grauwerten“ gemeint? Ein Wort, das sowohl eine sanfte Tonigkeit und Unentschiedensein zwischen Schwarz und Weiß assoziieren und auch an die Floskel „Ich kann mich grau erinnern“ denken lässt. „Grauwert“ meint als technischer Begriff in der Typografie wiederum etwas ganz anderes, nämlich eine klare Lesbarkeit. Hier betrifft der Grauwert den Zeilenabstand oder die Stärke der Buchstaben, mit denen erreicht werden kann, dass das Schriftbild heller oder dunkler erscheint. Grauwerte sind also in jedem Fall eine Frage der Wahrnehmung, und um deren radikale Subjektivität geht es ja Kilpper. Gab es diese Grauwerte noch in Kindertagen und sind sie ihm, der ein linker und politisch handelnder Mensch ist, in der Auseinandersetzung mit der Täterschaft der Vätergeneration abhanden gekommen, eine Generation, die – wie die oberen Bilder des Bodens zeigen – sich sowohl mit dem Feind, als auch mit den neuen politischen Verhältnissen der Nachkriegszeit zu arrangieren wusste? Die „Grauwerte“ eines Scharff oder Schleyer will Kilpper sicherlich nicht. Gegen ein Finden der „eigenen Grauwerte“ spricht auch die Macht der schwarz-weißen Fotografien, deren formale Grauwerte durch die Überführung in das gröbere Medium des Holzschnitts erst einmal stark gemindert werden. Einige der Bilder – der Boxkampf, der Basketball, der Tatort der Schleyer-Entführung – fordern außerdem Parteilichkeit ein, ein Schwarz-Weiß-Denken im Sinne von Sieg oder Niederlage, Gut oder Böse. Wie soll man sich also zwischen den Grauwerten der Väter und dem Schwarz-Weiß, dem Links-Rechts-Denken der 1960er und 1970er Jahre positionieren? Was können da noch „meine Grauwerte“ sein? Vielleicht liegt in der rastlosen Suche, in die Kilpper seine Betrachter verwickelt, das Ziel, vielleicht liegt der Grauwert im ganzen Bodenbild, der Mischung harter und weniger harter Kontraste. Je näher man an ein einzelnes Bildelement herantritt, umso schärfer wird die Wahrnehmung, verlangt eine Identifikation, eine Bewertung des Ausschnitts. Nimmt man größere Areale in den Blick verschwimmt diese Klarheit wieder und setzt Ratlosigkeit angesichts chaotischer Geschichtskleinteiligkeit ein. Kilpper reaktiviert mit seinem politisch motivierten Einsatz des Mediums Druckgraphik die frühen Funktionen des Holzschnitts, dessen Texte und Bilder zur Unterhaltung, Belehrung, schnellen Information, Propaganda und Prophetie eingesetzt worden waren. Er setzt vordergründig ganz altmodisch auf eine Lesbarkeit der Graphik und unterläuft diese durch die monumentale Dimension, ein Zuviel an Information, die Sprengung ein-

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facher Ordnungen. Die Dialektik vom Prägen der Geschichte und Geprägtwerden durch Geschichte und die Metaphorik des Erinnerns als Einprägeakt dramatisiert Kilpper nicht nur durch einen monströsen Holzschnitt, dessen Anfertigung körperlich fordernd war. Er führt auch vor, dass die aktive Erinnerung Arbeit ist, Bewegung erfordert, Fragen aufwirft und keineswegs in eine beruhigende neue Ordnung führen muss. Kilppers Boden öffnet einen beunruhigten, verunklärten und nur temporär existenten Erfahrungsraum zwischen Vergangenheit und Gegenwart, auf dem die metaphorischen Sedimentierungen der Geschichte(n) ausgegraben und wie aufgewirbelt erscheinen. An dem für ein Basketballspiel unbrauchbar gemachten, zwar noch betretbaren, aber reliefierten Boden konnte sich leicht ein Zeh stoßen, ein Schuhabsatz hängen bleiben, ein Fuß stolpern. Dieser Boden lässt an Marcel Prousts Erleben der ungleichen Pflasterung des Anwesens von Guermantes denken, der dabei die ebenfalls ungleiche Pflasterung des Baptisteriums von San Marco in Venedig assoziierte bzw. diese spürte. 26 Die in der „Suche nach der verlorenen Zeit“ aktivierte „mémoire du corps“, die nur durch die ‚niederen‘ Sinne aktiviert werden kann, dieses Körpergedächtnis eines jeden Begehers des Bilderbodens ist ein jeweils individuelles, teilt mit Kilpper nur einige gemeinsame Referenzpunkte in den vielreproduzierten Medienbildern. Jeder ging auf diesem nicht mehr existenten Boden einen anderen Weg, wobei sich an Bilder, die das Lebensgefühl unterschiedlicher Jahrzehnte prägten, unwillkürlich ganz eigene Erinnerungsfragmente heften, das Bodenerlebnis der BasketballHalle die Erinnerung an andere Räume und Böden auslösen konnte. Kilppers Umgang mit Erinnerungsorten, deren Geschichtsträchtigkeit er in einer Bilderflut sichtbar werden lässt, erteilt dem aufrecht stehenden Denkmal oder dem ordentlich mit einer Gedenktafel beschrifteten Ort und damit der Vorstellung einer allgemein verbindlichen ‚Lesbarkeit‘ von Erinnerung eine Absage, setzt an ihre Stelle die Irritation körperlicher Wahrnehmung, die idealerweise den Gehenden zu einer Reflexion des eigenen, subjektiven Standortes im doppelten Sinn führt. Rutschten Soldaten als Basketballspieler bis 1993 mit den quietschenden Sohlen ihrer Turnschuhe auf dem glatten Parkett mit seiner Lineatur und damit Spielregeln und den spezifischen Choreographien ihres Sports verpflichtet herum, konnte man über diesen Boden nach Kilppers Bearbeitung nur noch vorsichtig gehen, wie tastend, vielleicht sogar stolpern. Flüssige Lesbarkeit im doppelten Verständnis einer jederzeit sinntransparenten Zusammenarbeit von bildlichen und schriftlichen Elementen und einer historischen Linearität wird verunmöglicht, der Lektüreakt in den des Sehens und Gehens, des neugierigen Umherschweifens oder auch gebannten Verharrens verwandelt. Die Materialität und Räumlichkeit dieses künstlerischen Kommunikationsakts schiebt sich vor eine einfache Transparenz von Bild und Schrift auf einen klaren ‚Sinn‘ hin, und kann das einsetzen, was Aleida Assmann bezüglich der den Blick bannenden, momentan ‚opaken‘ Visualität von Schrift einen Akt „wilder Semiose“ nannte, der nicht vorhersagbar, nur performativ herstellbar ist. 27 Nach Weinrich, Harald: Lethe: Kunst und Kritik des Vergessens. München: Beck 1997, S. 191. Assmann, Aleida: Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose. In: Materialität der Kommunikation. Hrsg. von Hans U. Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 237 – 251.

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Die Bodenarbeit Kilppers überdauert den Abriss der Turnhalle in einer neuerlichen medialen und vom Künstler unterstützten Transmutation, die von der Stadt Oberursel angeregt wurde. Der Parkettboden wurde in 120 Einzelteile zersägt, und es wurden von den Einzelteilen Negativformen in Silikon gegossen, die dann wiederum mit Feinbeton gefüllt wurden. (Abb. 9) Die entstandenen Platten, die den Boden in grauem Hochrelief wiedergeben, sind im August 2002 unweit der Halle vor einem Kinderhaus wieder zusammengeführt worden. Pikanterweise ist das Haus eines jener Fachwerkhäuser aus der Ära des „Reichssiedlungshofs“, die saniert worden waren. Dort firmiert „Don’t look back“ nun als „Streetballfield“, und ein Hinweisschild erklärt in wohlmeinender Didaktik die „wichtigsten“ Bildteile. Was Kilpper in der Turnhalle an ortsspezifischen Erinnerungsfragmenten hervorgekratzt und mit Bildern aus seinem persönlichen Erinnerungsschatz verwirbelt hatte, erscheint nun förmlich festzementiert, verbacken zu einer Erinnerung nicht nur an Geschichte(n), sondern auch an den verlorenen Boden der Halle. Auf Kilp­pers Frage nach den individuellen „Grauwerten“ antwortet das uniforme Grau des Betons nun unfreiwillig ironisch. Eine neue Generation wird zum Spielen einer schnelleren und ‚härteren‘ Variante des Basketballs auf ein Geschichtsfeld geschickt, in dem sich viel Unverständliches, Fernes, auch Obszönes und Gewaltsames findet. Keinen scheint das mehr zu stören – solange sich kein Kind beim Spiel das Knie an der Geschichte der Älteren blutig stößt.

Abb. 9: Betonabguss von „Don’t look back“ als „Streetballfield“

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4. Der Wunsch nach neuen Formen des geschichtlichen Erinnerns und Gedenkens rückt seit der allmählichen Verabschiedung eines traditionellen Denkmalbegriffs die Böden städtischer Räume 28 und historischer Gebäude immer mehr in den Blick. 29 Der schillernde Begriff ‚Störung‘ kann dabei Effekte beschreiben, die auf ganz unterschiedlichen, pragmatischen, gesellschaftlich-politischen und ästhetischen Ebenen wirken. Wir finden eine ganze Skala von ‚entstörter‘ Störung bis Zerstörung vor: An dem einen Ende der Skala gibt es Demnigs stolperfreie Stolpersteine oder die anlässlich der 900-Jahresfeier Oldenburgs im Jahr 2008 vorgenommene Installation von neunzehn dreifach verglasten, bruchund rutschsicheren Vitrinen, in denen bei Baumaßnahmen entdeckte Fundstücke in der Nähe ihrer Fundorte reliquienartig ausgestellt werden 30: Die Vitrinen gewähren einen nur durch die aufgebrachten Anti-Rutsch-Punkte getrübten, ansonsten überschaubaren und beruhigenden Blick auf Alltagsobjekte und sparen dabei das schwierige 20. Jahrhundert komplett aus. Ähnlich auch die in Böden des öffentlichen Raums sichtbar gemachten Dimensionen der Grundrisse verlorener historischer Bauten, deren Linienverläufe dem aktuellen Boden etwas Palimpsestartiges verleihen. 31 Auf der anderen Seite der Skala finden wir wuchtige und pathetische Gesten im Umgang mit geschichtsträchtigen Böden vor, wie Hans Haackes Zertrümmerung des Marmorbodens des deutschen Biennale-Pavillions in Venedig (1993), den die Nationalsozialisten anstelle des Parketts installiert hatten 32 , oder Via Lewandowskys „Roter Vgl. Rottmann, Kathrin: Pflastersteine – Dinge im Kontext revolutionärer Ereignisse. In: ‚Die Tücke des Objekts‘: Vom Umgang mit Dingen. Hrsg. von Katharina Ferus u. a. Berlin: Reimer 2009, S. 72 – 91. 29 Aus meiner Betrachtung nehme ich die Bodenarbeiten in Gallerien und Museen aus, da sie – als ‚Kunst‘ markiert und ‚umgehbar‘ – ein geringeres Irritationspotential besitzen. Ein Beispiel, das sich mit Erinnerung beschäftigt, ist Raffael Rheinsbergs Arbeit „Gebrochen Deutsch“ (1992/1993): In der Kunsthalle zu Kiel hat Rheinsberg auf ca. 3 x 5 Meter mehr als 1700 Fragmente ausrangierter Straßenschilder aus Ost-Berlin, deren Namen er teilweise noch mit schwarzer Farbe übermalt hat, zu einem neuen ‚Text‘, einem zwar linear angeordneten, aber unverständlichen Kauderwelsch ausgelegt. 30 Zum Projekt „Geschichte unter den Füßen“ vgl. ‹http://www.oldenburg.de/?id=4029› mit einem Link zur Beschreibung und Lage aller Vitrinen (Zugriff am 29.01.2013). 31 Im Rahmen der Planungen des 10jährigen Jubiläums des Mauerfalls 1999 wurden Pflastersteinstreifen im Auftrag der Berliner Senatsbauverwaltung auf 7,5 Kilometern an stark von Fußgängern frequentierten Straßen zwischen den Bezirken Mitte und Kreuzberg verlegt. In die Pflasterstreifen, die sich vom Asphalt abheben, sind immer wieder Eisentafeln inseriert mit der leicht erhabenen Inschrift „Berliner Mauer 1961 – 1989“. Auf dem Platz zwischen der 2001 eingeweihten Neuen Dresdener Synagoge der Architekten Wandel, Hoefer, Lorch und Hirsch und dem Gemeindezentrum wird der zwischen beiden Neubauten verlaufende Grundriss der 1938 zerstörten Semper-Synagoge durch Metallschienen und Kies aus Bruchglas markiert. 32 Zur Installation „Germania“ vgl. Haacke, Hans: „Gondola! Gondola!“. In: Bodenlos, Aus­stel­ lungs­katalog Biennale Venedig 1993. Hrsg. von Klaus Bußmann/Florian Matzner. Ostfildern/ Stuttgart: Cantz 1993, S. 7 – 17; und Bodenlos. Hans Haacke im Gespräch mit Bernd Busch. 28

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Teppich“ im Berliner Verteidigungsministerium (2003), der auf die blutigrot-verfremdete Wirkung einer Ikone des deutschen kollektiven Kriegsgedächtnisses – den Luftblick aus Fliegerperspektive auf die zerbombte Großstadt – setzt. 33 Ganz anders funktionieren Jochen Gerz’ listigere Arbeiten im öffentlichen Raum wie das Harburger „Mahnmal gegen den Faschismus“ (1986) oder „2146 Steine – Mahnmal gegen Rassismus Saarbrücken“ (1990 – 1993), deren Irritation u. a. in der Unsichtbarkeit im Boden gelagerter Sprache und Erinnerungen liegt. 34 Kilppers Arbeiten sind im Unterschied zu allen genannten Beispielen eines am und im Boden siedelnden Spiels mit Erinnerung und Gedenken anders gelagert, da sie mit der Druckgraphik ein dem Boden völlig fremdes Medium nutzen. Ihre kleinteilige, bildlastige Ästhetik, die zu Entschlüsselungs- und Zuordnungsleistungen einlädt, hat nichts mit den zitierten zeitgenössischen Bodenarbeiten gemein und erinnert – zwar nicht in der Bildordnung, aber doch in der schieren Informationsmenge – eher an die den Betrachter überfordernden monumentalen Bodenmosaiken des Mittelalters wie die in den Domen von Otranto und Siena. 35 Durch die willkürlich anmutende Collagierung der Bilder eines kollektiven mit dem kommunikativen wie individuellen Gedächtnis 36 enttäuscht Kilpper bewusst das Bedürfnis der Besucher seiner Installationen nach aufklärerisch wirkender und trennscharfer Information über Ortsgeschichte. Dies kann besonders dort irritieren, wo die Erinnerung an Geschichte noch frisch ist, wie die Bodenarbeit „State of control“ In: Erde. Hrsg. von Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH, Bonn. Wiss. Red. Bernd Busch. Köln: Wienand 2002, S. 291 – 295. 33 Tammen, Silke: Die „wollige Unschärfe“ der Erinnerung. Via Lewandowskys ‚Roter Teppich‘ im Berliner Bundesministerium der Verteidigung. In: Das Reale und die (neuen) Bilder. Denken oder Terror der Bilder. Hrsg. von Helga Finter. Frankfurt/M.: Peter Lang 2008, S. 109 – 127. 34 Das Hamburg-Harburger „Mahnmal gegen den Faschismus“, eine zwölf Meter hohe, bleiummantelte Säule, konzipierte Gerz 1986 mit Esther Shalev-Gerz. Die Passanten wurden explizit zur Beschriftung der Säule eingeladen, die bis 1993 im Boden sukzessive versenkt wurde. Sie zeigt neben ernsthaften Unterschriften gegen den Faschismus Graffiti aller Art und Haken­ kreuze und wirkt so wie ein Pfahl im Fleische politisch ‚korrekten‘ Gedenkens. 1990 erforschte Gerz ohne Auftrag Namen und Zahlen der Friedhöfe jüdischer Gemeinden der BRD und damaligen DDR. Mit acht Studenten der Hochschule für Bildende Kunst Saar entfernte Gerz in nächtlichen Aktionen Pflastersteine vom Saarbrücker Schlossplatz, gravierte ihre Unterseiten mit den Namen der Friedhöfe und setzte die Steine wieder ein. Bis 1993 kamen 2146 Steine zusammen. Als die Aktion bekannt geworden war, führte die auch mit der Landesregierung geführte Diskussion über die Sichtbarmachung des Werks zur Umbenen­nung des Schlossplatzes in „Platz des unsichtbaren Mahnmals“ – eine Entstörung des vormals Beunruhigenden? Vgl. dazu Steinhauser, Monika: Erinnerungsarbeit. Zu Jochen Gerz’ Mahnmalen. In: Daidalos 49, 1993, S. 104 – 113. 35 Haug, Walter: Das Mosaik von Otranto, Darstellung, Deutung und Bilddokumentation. Wiesbaden: Reichert 1977; Studi interdisciplinari sul pavimento del Duomo di Siena: iconografia, stile, indagini scientifiche: atti del convegno internazionale di studi. Hrsg. von Marilena Caciorgna u. a. Siena: Cantagalli 2005. 36 Vgl. den Überblick bei Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005.

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Abb. 10: Thomas Kilpper, „State of control“ im Überblick

(2009) im 800 Quadratmeter großen Speisesaal (1. Stock) des Hauptgebäudes der MfSZentrale in Berlin zeigt (Abb. 3, 10). Abzüge einzelner Teile der Bodenarbeit wurden im Festsaal (3. Stock) aufgehängt, ebenso ein Gesamtpanorama als zusammengenähtes Banner an der Außenfassade des Gebäudes an der Ecke Normannenstraße/Ruschstraße (Abb. 11). Als eine Zone der Geselligkeit, der Verköstigung wie der Empfänge scheint der Kantinenboden – von der Tradition der repräsentativen Mosaike der Antike her gedacht – für eine panoramische Bodenarbeit geradezu prädestiniert. Thematischer ‚roter Faden‘ ist die kontrollierende Überwachung durch verschiedene Regierungen. Zwischen abstrakten wabenartigen Strukturen, die an Maschendraht erinnern und einen Bezug zum ‚Fahndungsnetz‘ nahelegen, sind Bilder ortsbezogener Aktivitäten (z. B. eine Abhörszene, die Aufbewahrung von Geruchsproben und Bilder von Erich Mielke) situiert, die sich mit Bildern nach Fotos von Antifaschisten der 1930er Jahre, von Angehörigen der RAF, von Philosophen wie Bertrand Russel und Jean Paul Sartre (im Gefängnis Stammheim 1974), von DDR- und BRD-Politikern (z. B. der ehemalige Innenminister Wolfgang Schäuble, dieser ist sowohl mit seinem vom Chaos Computer Club veröffentlichten Fingerabdruck als auch im Bildnis vertreten) und Opfern unterschiedlichster polizeilich-staatlicher Verfolgungen (z. B. der lebenslänglich in den USA inhaftierte indianische Aktivist Leonard Peltier oder der 2005 in einer Dessauer Polizeizelle verbrannte Oury Jalloh). Es treten Medienbilder wie etwa Tornado-Kampfflieger beim Einsatz für den G8-Gipfel von Heiligendamm 2007 hinzu. Einige andere Bilder fallen aus dem Reigen medienbekannter Zeitgenossenschaften

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Abb. 11: Thomas Kilpper, „State of control“, Banner aus den Abzügen an der Außenfassade des Gebäudes an der Ecke Normannen­straße/Ruschstraße

heraus 37 und lassen sich als werk­immanente Kommentare zu medialen Aspekten der Arbeit lesen: Der erwähnte Fingerabdruck Schäubles lässt sowohl Kilppers Verfahren des Abdrucks assoziieren, als auch das Misslingen eines Schutzes von Daten; das 1935 von den Nationalsozialisten zerstörte Denkmal für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von Mies van der Rohe steht für eine gegenüber der Bodenarbeit Kilppers ältere Form des Gedenkens und dessen Gefährdetsein. Zwei Szenen im linken unteren Quadranten des Werks rücken die Böden in den Fokus, indem sie die Begehung von Tatorten thematisieren. Explizit wird dies vermittelt über das Schild „Tatort. Nicht betreten“ im Vordergrund einer Fotografie des Gefängnisses Weiterstadt nach dem Bombenanschlag der RAF (1993) und ein wenig weiter durch den Tanz Erich Mielkes und seiner Frau im Festsaal des MfS (1980er Jahre). Der Kopf des Graphikers und Vorreiters der politischen Fotomontage, John Heartfield, bringt eine künstlerische Bezugsgröße für Kilpper ins Spiel. 38 Eigensinnig verweigert sich Kilpper in einem Berlin, das mehr und mehr einer Gedenkstättenlandschaft gleicht, einer zwischen ‚damals und jetzt‘, ‚uns und den Anderen‘ Ein Hinweis auf den Künstler findet sich in dem seltsam beliebig anmutenden Foto der Freunde Kilppers im Düsseldorf der 1980er Jahre. 38 Heartfield, der aus dem britischen Exil in die junge DDR ‚heimkehrte‘ und dem die Mitgliedschaft in der SED aus ‚Sicherheitsgründen‘ verweigert wurde, fügt sich aber auch in das thematische große Muster des „State of Control“. 37

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trennenden und eine ‚Moral von der Geschichte‘ stiftenden Haltung. 39 Kilpper ging es nicht darum, aus der MfS-Kantine einen Gedächtnisort im herkömmlichen Sinn zu machen – hierfür gibt es bekanntlich seit 1990 die „Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße“ in einem Teil der zum „Stasi-Museum“ umgewidmeten Räume –, sondern er interessierte sich für einen ‚Ort im Ort‘, der eben nicht das Pathos der Stasi-Akten-Archive oder des MfS-Gefängnisses besitzt. Zugleich wird die erinnerungskulturell bedingte Erwartung nach einer klaren Korrelation von Bildern und Orten enttäuscht. Ein derartig ‚grauwertiger‘ Relativismus der Bilder und Schicksale, der Täter und der Opfer unter dem diffusen und durch medienreferentielle Aspekte gesprengten Thema „State of Control“ = „Stand der Kontrolle“, aber auch „Staat der Kontrolle“ kann allerdings jene Betrachter der Abzüge und Begeher des Bodens verstören, die ihr eigenes, durch Stasi-Verfolgungen traumatisiertes Körpergedächtnis an das einstmalige Gehen über Böden des MfS in den Fußsohlen mitführen. Der Blick eines in der BRD aufgewachsenen Künstlers schnitt sich – im Herstellungsverfahren buchstäblich über die Projektionen vorgefundener Bilder (Abb. 3) – in einen authentischen DDR-Boden ein. Er hinterlässt im Gegensatz zu den nur erinnerbaren Fußspuren der MfS-Mitarbeiter und ihrer Opfern und zu den von der Stasi gesicherten Spuren und Informationen zwar sichtbare Fährten; diese aber verwirren und fordern jeden einzelnen Betrachter zu jeweils persönlichen Differenzierungsleistungen auf. In dieser Verweigerung gegenüber eindeutiger Ortsspezifik des Werks oder einer damit verbundenen künstlerischen Spurensicherung 40 liegt nur eine und vielleicht noch nicht einmal die interessanteste Ebene des Werks. Im Reigen der oben genannten, sich auf die Medialität des Werks beziehenden Bilder gibt es ein weiteres Detail, das den vielleicht doch irgendwann überforderten oder von der beliebig erweiterbaren Maßlosigkeit der Bildassoziationen gelangweilten Blick zum ‚Stolpern‘ bringt (Abb. 12): Relativ zentrumsnah im Gesamtpanorama liegt das vergleichsweise kleine Bild des kopfhörerbewehrten Antlitzes des 2007 gestorbenen Schauspielers Ulrich Mühe in seiner Rolle als isoliert und konzentriert in einer Dachkammer lauschender Stasihauptmann Gerd Wiesler aus dem Film „Das Leben der Anderen“ (2006) von Florian Henckel von Donnersmarck. Wiesler wandelt sich während der Beobachtung ei Vgl. kritisch zu dieser Arbeit als einem „thematisch eingefärbten Bilderbrei“, der keine Bildkritik zu leisten vermag, Manias, Astrid: Der Klebstoff der Legenden. In: artnet.de (22. Juli 2009). ‹http://www.artnet.de/magazine/thomas-kilpper-im-ehemaligen-ministerium-furstaatssicherheit-der-ddr-berlin/› (Zugriff am 29.01.2013): „Seine Kunst klebt auf einen Stapel geschichtlicher Legenden eine vollkommen unnötige Kunstlegende auf.“ Eine ernsthafte Diskussion über Kilppers Arbeit steht noch aus. Die Ausführungen von Marius Babias als Herausgeber des Katalogs zu „State of Control“ dürfte eine Akzeptanzbereitschaft durch Kilppers Kritiker kaum erhöhen, wenn dort die Druckgraphik Kilppers als „mittelalterliche [sic! – S.T.] Technik als implizite Kritik an der digitalen Ideologie des Informationszeitalters“ bezeichnet wird, mittels derer Kilpper die Stasi-Debatte „entdämonisiere“ und gar „versachliche“.Babias, Marius: Geschichte ist Montage. In: Babias, Kilpper. 2009, S. 7 – 10, hier S. 10. 40 Vgl. dazu das demnächst abgeschlossene Dissertationsprojekt von Lutz Hengst: ‚Ich war gestern‘. Zwischen Mimikry und Musealisierung – die Kunst der Spurensicherung. 39

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Abb. 12: Thomas Kilpper, „State of control“, Detail: Ulrich Mühe als Stasihauptmann Gerd Wiesler im Film „Das Leben der Anderen“

nes anderen, ihm fremden Künstlerlebens und wird zum Verräter an seiner eigenen Behörde. Der Kopf des Lauschenden, vor ihm ein Aufnahmegerät, ziert sowohl die Cover der DVD als auch des Begleitbuchs zum Film und besitzt insofern eine hohe Wiedererkennbarkeit. Mit der Doppelfigur Mühe/Wiesler schreibt Kilpper der Bodenarbeit die Erinnerung an einen ebenso gefeierten wie umstrittenen, zum Medienereignis gewordenen Film und einen Konflikt ein: Mühe erklärte in dem Begleitbuch (Suhrkamp) zum Film, dass seine Ex-Ehefrau, die Schauspielerin Jenny Gröllmann, ihre Theaterkollegen als „IM“ bespitzelt habe. Nach einer durch Gröllmanns Anwalt 2006 erwirkten einstweiligen Verfügung gegen den Verkauf des Buchs mussten die entsprechenden Aussagen geschwärzt werden. Auch die Ausführungen von Donnersmarcks im Audio-Kommentar der 2006 erschienenen DVD-Fassung des Films über das gerichtliche Verbot, Gregor Gysi als „IM Notar“ zu bezeichnen, obwohl die Birthler-Behörde eine Tätigkeit Gysis als „IM“ bestätigt habe, wurden durch eine Unterlassungsforderung Gysis zensiert, eine Auslieferung dieser DVD-Version gestoppt. In der DVD-Version von 2007 fehlen diese Passagen. Der Film, das scheint hier eine wichtige Aussagedimension, war sowohl auf der Ebene der Diskussion um Authentizität und Angemessenheit der künstlerischen Darstellung von Gegenwartsgeschichte als auch auf persönlicher Ebene Teil der deutschen Debatte um den Umgang mit der Stasi-Vergangenheit geworden. Der formal nicht von den anderen Bildern historischer Akteure unterscheidbare Kopf Mühes/Wieslers wirkt wie ein Beobachter der anderen Art. Sieht man die Gestalt als die Filmfigur Wiesler, verweist sie auf einen Belauscher der Künste und Kunstschaffenden; identifiziert man in der Person den Schauspieler Ulrich Mühe, entdeckt man damit einen Kunstschaffenden, der möglicherweise selbst der Beobachtung ausgesetzt war. Damit verhält sich diese Figur wie eine verdeckt ‚eingeschleuste‘ Beobachterinstanz in einem Bildsystem, das ansonsten Bilder reproduziert, die mit einem explizit dokumentarischen

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Anspruch aufgenommen und verbreitet wurden. Der Wirkungsweise einer mise en abyme vergleichbar, wird über den Anblick einer bekannten, semantisch gewissermaßen ‚doppelbelichteten‘ und ambiguen Lauscher-Figur, von der der Betrachter wissen kann, dass sie im Film Künstler überwacht, die als Bodenbild aber gleichzeitig selbst ein Mosaikstückchen innerhalb eines künstlerischen Bildsystems darstellt, eine kritische Perspektive auf Authentizitätsansprüche der fotografischen wie filmischen Medialisierung von Zeitgeschichte ermöglicht. Ein wahrlich ‚verräterisches‘ Detail stört das Gefüge von ansonsten – zumindest von ihrem Ursprung her – dokumentarisch gedachten Bildern und lädt ein zur Reflexion auch über Kilppers weiterführenden Medialisierungsschritt, nämlich den collagierenden Ausstieg aus dem Dokumentarischen, den Verzicht auf ein erzählerisches Muster wie es etwa der Film „Das Leben der Anderen“ bot und damit die Perturbation narrativ geordneter Sedimentschichten des kulturellen Bildgedächtnisses. Der bildsystemische ‚Doppelagent‘ Mühe/Wiesler, der wie die wachsame Spinne im Netz der Bilder sitzt, ist als medienreflexiv wirkendes Detail und damit als ‚Bildstörung‘ im bildtheoretischen Sinne zu werten, 41 in der auch auf die alte Sinneskonkurrenz zwischen Sehen und Hören angespielt wird: Im Film wird Wieslers Wandlungsprozess entscheidend eingeleitet durch den Höreindruck eines vom ihm abgehörten Musikstücks, der „Sonate vom guten Menschen“. Im Detail, so zeigt sich, werden die Grenzen der monumentalen Arbeit Kilppers deutlich. Ein aufmerksames Hinhören vermag wirksamer zu sein als die leere Evidenzbehauptung der dokumentarischen Bilder.

Zum Detail als Bildstörung vgl.: Was aus dem Bild fällt. 2007 und die Ausführungen in Fußno­ te 10.

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Tod – Störung – Raum. Die Thematisierung des Todes in der material-kerygmatischen Katechese.

1. Tod als Störung Innerhalb der Religionspädagogik ist es üblich, didaktische Arrangements theologischer oder theologisch relevanter Themen prioritär unter fachwissenschaftlichen und pädagogischen bzw. bildungstheoretischen Gesichtspunkten zu untersuchen und zu beurteilen. Dass im vorliegenden Aufsatz eine kulturwissenschaftlich angeregte Methode angewendet wird, deren heuristisch hermeneutische Grundlage die Metapher bildet, ist eher ungewöhnlich und bedarf einer einleitenden Erläuterung. Es gibt gute Gründe, den Tod mit der Metapher der Störung zu belegen. Sie erlaubt es, das vielschichtige und vielgestaltige Phänomen des Todes perspektivenreich und differenziert in den Blick zu nehmen: Theologisch betrachtet ist der Tod Störung der guten Schöpfungsordnung Gottes. Biologisch und medizinisch gesehen ist der Tod die irreversible und totale Zerstörung der Funktionsfähigkeit eines Lebewesens. Anthropologisch betrachtet stört der Tod grenzenloses menschliches Streben nach Erkenntnis und zerstört zwischenmenschliche Beziehungen. In der Vergegenwärtigung der eigenen Sterblichkeit kann er das gewohnte Alltagsleben mit seinen Selbstverständlichkeiten aufstören. Er ist das Ergebnis zerstörerischer Kräfte, sei es durch menschliche Gewalt, Naturkatastrophen oder tagtäglich sich ereignende Unglücksfälle. In jedem Fall stört oder zerstört er gar das lebensnotwendige Vertrauen in die Sicherheit menschlichen Lebens. Die beständige Störung des Lebens durch den Tod bedarf Strategien der Entstörung. Ihre Grenzen und Möglichkeiten liegen im Phänomen des Todes selbst und seiner Wirkung auf die Lebenden sowie in der Perspektive, unter der man ihm begegnet. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit der Tod als Störung in der material-kerygmatischen Katechese gezeigt 1 wird, und welche Strategien der Entstörung zur Anwendung kommen. Im Blick auf die Ergebnisse dieser Frage werde ich dann einige schlussfolgernde Über-

Vgl. Prange, Klaus: Die Zeigestruktur der Erziehung. Grundriss der Operativen Pädagogik. Paderborn: Schöningh 2005; Prange, Klaus/Strobel-Eisele, Gabriele: Die Formen des pädago­ gischen Handelns. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer 2006.

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legungen dazu anstellen, ob das Zeigen dem Phänomen des Todes als Störung gerecht wird, und welche Strategien der Entstörung gezeigt werden. Zuvor ist jedoch zu klären, was ich im Folgenden unter Metaphern zu verstehen gedenke und inwieweit die Metapher der Störung dem Phänomen des Todes und einer weiteren Analyse des Zeigens von Tod und Sterben über das bereits einleitend Gesagte hinaus zuträglich ist. 2. Metapher Man kann metaphorische Redeweise, das Sprechen in Bildern und Vergleichen 2 als uneigentliche Redeweise verstehen und damit als defizitären Sprachgebrauch gegenüber begrifflichem Reden abqualifizieren. Metaphorisch von einer Sache zu sprechen hieße dann, in uneigentlicher Weise sich zu äußern mit dem Effekt, dass man die Sache selbst, auf die sich der metaphorische Sprachgebrauch richtet, nicht erfasst. Davon würde sich das begriffliche Sprechen positiv abheben, weil es die Dinge selbst in eindeutiger Weise sprachlich zugänglich und kommunizierbar macht. Dieser Sichtweise folge ich nicht. Vielmehr gehe ich hier mit Blick auf die Auffassung von Hans Blumenberg u. a. 3 davon aus, dass die metaphorische Redeweise die einzig angemessene Form sprachlicher Zugangs- und Verständigungsweise zu komplexen und kontingenten Phänomenen ist, die sich nicht unmittelbar begrifflich fassen lassen. Sie ist die „spezifische Ausdrucksgestalt“ des endlichen Menschen, der „unter dem Druck befristeter Lebenszeit gehalten ist, sich in den Grenzen seiner Situation einen Reim auf die Welt und Ordnung der Dinge zu machen.“ 4 In diesem Sinne kann man sagen, dass die Metapher entstört, ohne dass sie die Störung eliminieren würde. Sie entstört über die Anerkennung der Störung, ohne sich ihr zu unterwerfen, bewahrt die Neugier und das Fragen. Zu dieser gewissermaßen erkenntnistheoretischen Entstörungsleistung der Metapher ist die Berücksichtigung ihres Gebrauchs hinzuziehen. In Anlehnung an Peter Szondi 5 ist hier im Blick auf die eingangs formulierte Fragestellung zu untersuchen, wie Metaphern im Bemühen um das Zeigen des Todes und seines Verständnisses gebraucht werden und was man also mit ihnen in Interaktionszusammenhängen bewirkt.

Zwischen Bild, Vergleich und Metapher wird hier nicht weiter begrifflich differenziert. Vgl. dazu Meyer, Urs: Stilistische Textmerkmale. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstän­ de – Konzepte – Institutionen Bd. 1. Gegenstände und Grundbegriffe. Hrsg. von Thomas Anz. Stuttgart/Weimar: Metzler 2007, S. 81 – 110. 3 Vgl. Blumenberg, Hans: Theorie der Unbegrifflichkeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007; Ders.: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998; Ders.: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986 u. ö.; Konersmann, Ralf: Vorwort: Figuratives Wis­ sen. In: Wörterbuch der philosophischen Metaphern. Hrsg. von Ralf Konersmann. Darm­ stadt: Wis­senschaftliche Buchgesellschaft 2007, S. 7 – 21. 4 Konersmann, Vorwort. 2007, S. 12. 5 Szondi, Peter: Einführung in die literarische Hermeneutik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1975. 2

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Man hat dabei demnach drei Aspekte zu berücksichtigen: die Angemessenheit der Metapher für das Zeigen der zu bezeichnenden „Sache“, ihre Auswahl und mit der Auswahl ihren Gebrauch, schließlich die mit ihrem Gebrauch erzeugte Wirkung des Zeigens. 3. Zur metaphorischen Sagbarkeit des Todes Der Begriff des Todes ist recht einfach und übersichtlich: vollständiger Ausfall notwendiger Körperfunktionen, Unumkehrbarkeit, Universalität und Kausalität. In dieser begrifflichen Fassung ist der Tod die Zerstörung individuellen Lebens, dem niemand entgeht. Das Phänomen des Todes selbst ist vielförmig und unbegreiflich, stört das Leben Hinterbliebener in vielfältiger Weise unterschiedlich intensiv auf und zeitigt mannigfache Strategien der Störungsbewältigung. Es ist nicht zuletzt die Erfahrung der unüberschreitbaren Grenze einerseits, die der Tod den Lebenden setzt, und andererseits seine Unausweichlichkeit, die ihn zu einem unauflösbaren Rätsel machen 6 , zum störenden Begleitphänomen des Lebens. Darin fordert er zu interpretatorischen Bewältigungsversuchen heraus, die begrifflich nicht zu leisten sind. Das verlangt metaphorische Anstrengungen, die es möglich machen, den Tod interpretierend zu entstören, ohne seine Rätselhaftigkeit zu verleugnen, und ohne ihm das Moment des störenden Begleitphänomens des Lebens zu nehmen. Wie das unauflösbare Rätsel „Tod“ in der material-kerygmatischen Katechese gezeigt wird, soll im Folgenden zur Darstellung kommen. 4. Das Zeigen des Todes in der material-kerygmatischen Katechese Die material-kerygmatische Katechese, „material“ steht für die Glaubenslehre der Kirche und ihre Praxis, „kerygmatisch“ für ihre Verkündigung, war in den ’50er und ’60er Jahren des 20. Jahrhunderts das dominierende didaktische Modell für den katholischen Religionsunterricht an allen Schulen der Bundesrepublik Deutschland, an denen katholischer Religionsunterricht zum ordentlichen Fächerkanon gehörte. Nach diesem Modell war der Religionsunterricht als „Kirche in der Schule“ 7 konzipiert. Sein Ziel bestand in der Glaubensunterweisung, d. h. Schülerinnen und Schüler zu gläubigen und tätigen Kirchenmitgliedern zu erziehen. 8 Das charakteristische Unterrichtsbuch für die Mittelstufenklassen war der sog. „Grüne Katechismus“ 9. Für Lehrer und Eltern wurden in den folgenden Jahren zusätzliche Hilfen für die Arbeit mit dem Katechismus in Form von mate Vgl. Jankélévitch, Vladimir: Kann man den Tod denken?. Wien: Turia & Kant 2003; Janké­ lé­vitch, Vladimir: Tod. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2007. 7 Hilger, Georg/Kropac, Ulrich: Konzeptionelle Entwicklungslinien. In: Religionsdidaktik. Ein Leitfaden für Studium, Ausbildung und Beruf. Hrsg. von Georg Hilger u. a. München: Kösel 2001, S. 49 – 62, S. 50. 8 Vgl. Kalloch, Christina u. a.: Lehrbuch der Religionsdidaktik. Für Studium und Praxis in ökumenischer Perspektive. Freiburg i. Br.: Herder 2009, S. 94. 9 Vgl. Katholischer Katechismus der Bistümer Deutschlands. Freiburg i. Br.: Herder 1955. 6

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rialreichen Hand- und Arbeitsbüchern bereitgestellt. 10 Katechismus und Zusatz­material geben einen guten Einblick darin, wie der Tod unterrichtlich thematisiert werden sollte. Der Katechismus ist in vier Hauptteile gegliedert. Der Tod bildet im Rahmen des Lehrstücks von den letzten Dingen, dem vierten Teil, ein eigenes Thema. Unterschieden wird dabei zwischen dem individuellen Tod und dem allgemeinen Ende der Welt, wobei die Abhandlung des individuellen Tods im Zusammenhang mit dem Sterben geschieht. Der Tod in seiner phänomenalen Vielgestaltigkeit erscheint also bereits eingeschränkt auf Sterben und Tod des einzelnen. Dabei wird ein enger, geradezu kausal anmutender Zusammenhang zwischen Leben, Sterben und Tod hergestellt: „Wie man glaubt, so lebt man. Wie man lebt, so stirbt man. Wie man stirbt, so bleibt man.“ 11 Was das bedeutet, findet sich vorher lehrhaft erklärt: „Wir wissen nicht, wann und wo wir sterben werden. Eines aber wissen wir: Wenn wir als Kinder Gottes sterben, sind wir auf ewig gerettet; wenn wir aber in der Todsünde sterben, sind wir auf ewig verloren. Darum müssen wir immer als Kinder Gottes leben. Dann sind wir jederzeit zum Sterben bereit. [...] Sofort nach dem Tode kommt unsre Seele vor Gottes Gericht. Sie muß Gott Rechenschaft geben über alle Gedanken, Worte und Werke und über die Unterlassung des Guten. Dieses Gericht ist das B e s o n d e r e G e r i c h t. [...] Nach dem Besonderen Gericht kommt die Seele entweder in den Himmel oder in das Fegefeuer oder in die Hölle.“ 12

Der Tod selbst wird in diesem Kontext mit der Metapher des Tores belegt: „Nun ist der Tod für den, der in Christus stirbt, das T o r z u m e w i g e n L e b e n.“ 13 Und, so ließe sich hinzufügen, für den, der nicht in Christus stirbt, das Tor zum Fegefeuer oder zur Hölle. Der Himmel wird als „Ort oder Zustand“, das Fegefeuer als „Reinigungsort“ 14 bezeichnet. Die Hölle lässt sich ebenfalls als Ort assoziieren. Sie wird aber nicht ausdrücklich als Ort be Es seien lediglich die Werke angeführt, die für die hier anstehende Untersuchung thematisch relevant sind und herangezogen werden: Katechetisches Handbuch zum katholischen Katechismus für die Bistümer Deutschlands. Bd. 2.: Von der Kirche und den Sakramenten. 2. Halbband: Von den Sakramenten. Hrsg. von Alfred Barth. Stuttgart: Schwabenverlag 1957; Katechetisches Handbuch zum katholischen Katechismus für die Bistümer Deutschlands Bd. 3: Vom Leben nach den Geboten Gottes. Von den letzten Dingen. Hrsg. von Alfred Barth. Stuttgart: Schwabenverlag 1957; Handbuch zum Katholischen Katechismus Bd. II: Von der Kirche und den Sakramenten. 2. Halbband: Lehrstücke 69 bis 90. Hrsg. von Franz Schreibmayr u. a. Freiburg i. Br.: Herder 1966; Handbuch zum Katholischen Katechismus Bd. III: Vom Leben nach den Geboten Gottes. Von den letzten Dingen. 2. Halbband: Lehrstücke 114 bis 136. Hrsg. von Franz Schreibmayr/Klemens Tilmann. Freiburg i. Br.: Herder 1962; Vorlesebuch zum katholischen Katechismus Bd. II: Von der Kirche und den Sakramenten. Hrsg. von Peter Eismann/Jan Wiggers in Verbindung mit dem Deutschen Katechetenverein. München: J. Pfeiffer 1956; Familienbuch zum Katechismus. Hrsg. von den Bischöfen der Deutschen Diö­ ze­sen. Freiburg i. Br.: Herder 1965. 11 Katechismus. 1955, S. 253. 12 Ebd., S. 252. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 255 (Hervorhebung von mir). 10

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zeichnet. Vielmehr werden die Strafen ausgemalt unter Vorstellungen ‚sozialer‘ Zugehörigkeit bzw. ‚sozialen‘ Ausgeschlossenseins. Die „Verdammten in der Hölle [sind von Gott] verstoßen; [...] getrennt von Christus und ausgeschlossen aus der Gemeinschaft der Heiligen.“ 15 Raummetaphern sind damit zugleich Metaphern von Beziehung und Zugehörigkeit. Das diesseitig geführte Leben findet nach dem Durchgang durch das Tor des Todes und nach dem „Besonderen Gericht“ eine Entsprechung im Himmel, im Fegefeuer oder in der Hölle. Das stellt der Katechismus als Wissen hin. 16 Damit werden die Vorstellungen vom Leben nach dem Tod und der Tod selbst einschließlich des Sterbens gleichgewichtig als Erkenntnisgegenstände wie die der empirisch erfahrbaren Wirklichkeit ausgegeben und als ebensolche Wissensbestände vermittelt. Letztlich wird damit dem Tod das Rätselhafte genommen und somit auch dem Leben das Geheimnishafte entzogen. Das metaphorische Sprechen von Tod und Sterben, endlichem Leben und ewigem Leben nach dem Tod wird hier in begriffliche Rede gefasst, in der das, was eigentlich nur umschreibend zu bedenken und zu interpretieren ist, gewissermaßen als empirisch fassbar und erkennbar vorgestellt wird. Dass mit dieser Form des Zeigens von Tod und Sterben nicht einfach nur ‚Wissen‘ vermittelt werden soll, sondern dass die sich begrifflich ausgebende metaphorische Redeweise von Tod und Sterben als Tor zum ewigen Leben zugleich einen Appell zur konkreten Lebensführung und das Zeigen sozialer Ordnungsvorstellungen enthält, wird sehr deutlich, wenn man die zusätzlichen Materialien zum Katechismus für Eltern und Lehrer genauer betrachtet. Sie geben Auskunft darüber, was unter einem guten Leben und einem guten Sterben als Garanten für den Übergang zum Leben im Himmel zu verstehen ist. So macht Alfred Barth in seinem Katechetischen Handbuch deutlich: „Die Unabänderlichkeit des Schicksals nach dem Tode fordert höchste Verantwortung im Leben vor dem Tode, ein Leben nach den Sakramenten der Kirche mit Christus – damit wir in die Kunst des christlichen Sterbens durch die Kunst des christlichen Lebens eingeübt sind.“ 17

Es geht darum, dass der Mensch in das allumfassende Gnadenleben der Kirche hineinwächst, darin stirbt, „so wird alles in ihm von diesem höheren Leben geordnet. Er ‚stirbt‘ in das höhere Leben hinein. Was aber vom höheren Leben ausgeschlossen, was ‚verweltlicht‘ wird, unterliegt dem Tode [...]. Nichts im Leben darf ungeordnet bleiben – außerhalb des Ganzen.“ 18 Zur Veranschaulichung für ein Leben und Hineinsterben in das „höhere Leben“ und für ein Leben zum Tode führt Barth Beispiele aus den Naturwissenschaften an: „D i e w e i ß e n B l u t k ö r p e r c h e n haben nur eine kurze Lebensdauer. Wenn sie ihre Gestalt verlieren, tritt ihre Substanz in den Aufbau der Organ- und Gewebszellen ein. Sie leben also ihrer Substanz nach im Leben des Ganzen weiter – sie sterben in das übergeordnete Leben hinein. Ebd., S. 256. Ebd., S. 252. 17 Ebd., S. 256. 18 Ebd., S. 252. 15 16

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Das höhere Leben der staatenbildenden Tierarten – der Ameisen und Bienen – ist das Leben der Gemeinschaft. Die Arbeitsbienen nehmen nicht mehr teil an dem Gesamtleben der Erhaltung der Art – sie haben eine Sonderaufgabe, sind aus dem Gesamtleben ausgeschieden, unfruchtbar, sie stellen ein ‚verweltlichtes‘ Leben dar, das nicht mehr teil hat am ganzen Leben. Der Mensch lebt in verschiedenen Lebensschichten und ist für das höhere Leben bestimmt. Wenn er zeitig genug in das Gnadenleben hineinwächst, so wird alles in ihm in diesem höheren Leben geordnet. Er ‚stirbt‘ in das höhere Leben hinein. Was aber vom höheren Leben ausgeschlossen, was ‚verweltlicht‘ wird, unterliegt dem Tode, der Zerstörung [...] – ein wunderbares Gleichnis, das uns das ‚Tägliche Sterben‘ ebenso veranschaulicht wie das Sterben am Ende des Lebens.“ 19

Kirche und Welt werden einander gegenübergestellt, wobei die Kirche für die höhere Ordnung steht, in die man sich einzufügen hat. Was außerhalb der Kirche steht, die Welt, ist für sich alleine genommen Tod bringend. Damit wird die Thematisierung von Sterben und Tod zugleich zu einem Zuweisungsakt zur Kirche hin. Die Metaphern des Raumes werden damit zu Metaphern zur Differenzierung des sozio-kulturellen Raums und seiner positiven bzw. negativen Bewertungen sowie zu Appellen an die zu Unterrichtenden, sich der Kirche durch eine entsprechende Lebensführung zuzuordnen. Die Störung des Todes besteht in seiner drohenden, potentiellen Endgültigkeit der Zerstörung. Entstörung des Todes geschieht im gläubigen Leben in und mit der Kirche, programmatisch und plakativ zusammengefasst im o. g. Dreiklang ‚Glauben-Leben-Sterben‘. Das sieben Jahre später erschienene Handbuch zum Katholischen Katechismus zeichnet sich im Unterschied zum Katechetischen Handbuch durch einen reflektierten metaphorischen Sprachgebrauch aus. 20 Es enthält, über Barths Handbuch hinausgehend, auch einen eigenen Abschnitt, der sich den kindlichen Auffassungsweisen vom Tod widmet.  21 Insgesamt ist das Handbuch von dem Bemühen geprägt, die kindliche Erfahrungs- und Denkwelt zu berücksichtigen. Zudem wird der Tod als Tod des Individuums differenzierter dargeboten: „Der Tod ist sehr verschieden. Für die einen kam er ganz unerwünscht: sie suchten ihm mit allen Mitteln zu entgehen. Er kam und brachte viel Leid. Für die anderen war der Tod eine Erlösung: bei Schwerkranken. Ihr Leiden ist vergangen.“ 22

Gleichwohl ist auch hier der Zusammenhang von Leben und Sterben und das damit zusammenhängende Motiv von der ‚ars moriendi‘ leitend. „Wir müssen das christliche Sterben lernen [...]. Der Tod kommt bestimmt. Du weißt nicht wo, du weißt nicht wann, aber er kommt. Gott will, daß auch ihr dann als Gotteskinder sterbt. Aber das geht nicht von selbst [...]. Wir müssen uns dafür bereiten, wir müssen das Barth, Katechetisches Handbuch Bd. 3. 1957, S. 597. Ebd., S. 600. 21 Ebd., S. 597. 22 Ebd., S. 505.

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christliche Sterben lernen. Wie geht das wohl? [...] Wir müssen als Gotteskinder leben. Dazu hat Gott schon den Anfang gemacht. Ihr habt seit der Taufe das Gnadenleben in euch, seid mit Christus verbunden, lernt mit ihm zu leben. Wer als Gotteskind lebt, der wird sicher auch im Tod mit Christus verbunden sein. Wer nicht als Gotteskind, sondern in der Todsünde stirbt, der geht ohne das Gnadenleben, ohne Christus in den Abgrund des Todes und ist ewig verloren. [...] Wir wollen den Tod als das Meisterstück unseres Lebens betrachten. Da fassen wir unser Leben zusammen, um es Gott hinzugeben. Der Christ schenkt sich oft im Leben Gott, besonders bei der heiligen Messe [...].“ 23

Dabei besteht die ‚ars moriendi‘ im Leben mit der Kirche. Tätige Kirchenmitgliedschaft und das Leben nach ihren Geboten werden zum Synonym für die Einübung in das christliche Sterben, die wiederum davor bewahrt, in den „Abgrund des Todes“ gerissen zu werden. Dass das Sterben als Grenze verstanden wird, auf der man sich zur Kirche hin oder zur „Welt“ hin entscheiden kann, auf dem Weg ins Jenseits oder gar zur Gesundung hin befindet, zeigen die Begleitbücher zum Lehrstück 87 des „Grünen Katechismus“ 24 über das „Sakrament der Krankensalbung“. So sehr die Autoren einerseits darum bemüht sind, magische Vorstellungen von der Krankensalbung abzuwehren in dem Sinne, dass sie ein Wundermittel der Heilung sei, 25 so wenig scheuen sie davor zurück, mit Hilfe drastischer Beispielerzählungen über das Sterben mit und ohne Beistand dieses Sakraments die Notwendigkeit eines Lebens mit der Kirche für ein gutes Sterben anschaulich vorzuführen. Ich führe sie hier an, um genauer angeben zu können, was unter Welt im Gegensatz zur Kirche verstanden wird: Kirchlicher Beistand in Gestalt des Sakraments der Krankensalbung macht das Sterben zu einer Grenze, auf der zwischen Diesseits und Jenseits, Heil und Unheil, Last und Erleichterung entschieden wird, zumindest der Möglichkeit nach. Der Katechismus beschreibt die Wirkung dieses Sakraments als Stärkung, Wegzehrung, Heilung, Erleichterung, gar Gesundung. 26 Er setzt bei den Schülerinnen und Schülern voraus, dass sie bereits um dieses Sakrament und seine Spendung wissen. Die Katechese soll die „lebendige Tiefe des Vorgangs, das konkrete Wirken Christi im Sakrament, welche Krankheit und Tod bestehen lässt“ 27, vor Augen führen. Neben Erzählungen über Kranke und Sterbende, die selbstverständlich unter dem Beistand der Salbung standen, werden auch Beispiele angeführt, die zeigen sollen, welch dramatische Auswirkungen anfängliche oder gar endgültige Ablehnung der Krankensalbung durch einen Priester für Sterbende begleiteten oder nach sich zogen. Sie sind insofern von Bedeutung als an ihnen deutlich wird, was unter „Welt“ als nicht zur Kirche zugehörendem Ort genauer zu verstehen ist. Außerdem zeigen sie einen besonderen Charakterzug der Katechesen über ‚die letzten Dinge‘ und

Ebd., S. 507. Vgl. Katechismus. 1955, S. 178 – 181. 25 Barth, Katechetisches Handbuch Bd. 3. 1957, S. 597. 26 Vgl. Katechismus. 1955, S. 178 f., 181. 27 Vgl. Handbuch zum Katholischen Katechismus Bd. III,2. 1962, S. 513 ff. 23 24

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das Sakrament der Krankensalbung, die ein oberflächlicher, erster Blick auf den „Grünen Katechismus“ allein nicht zu sehen gibt, nämlich katholischen Antimodernismus. 28 Das Vorlesebuch zum Katholischen Katechismus erzählt unter dem Titel „Die entscheidende Letzte Stunde“ 29 vom Großmeister der belgischen Freimaurer, Pierre Theodore Verhaegen. Er hatte, so die Erzählung, „durchgesetzt und zum ewigen Gebot der Freimaurer erhoben, daß am Sterbebett jedes Logenbruders künftig drei Logenbrüder wachen und sorgen müßten, daß kein Priester an ihr Sterbebett gerufen werden könne.“ 30 Verhaegen wird zudem als gefeierter „Held“ des liberalen belgischen und französischen Bürgertums und der liberalen Presse dargestellt, der siegesgewiss mit beträchtlichem Erfolg gegen Kirche und Papst selbst in Italien antritt. Auf dem Heimweg von Rom verbrüht er sich mit einem heißen Grog „Kehle, Schlund und Magen“ so schwer, dass „kein Arzt mehr helfen“ konnte: „Der Tod stand vor der Türe [...]. Da kamen die drei Logenbrüder mit starren Gesichtern, Wache bei dem Sterbenden zu halten. Nun wußte er sicher, woran er war. Da ging in dem Sterbenden eine große Wandlung vor sich [...]. In wenigen Stunden hatte er sich dazu durchgerungen, nun doch einen Priester holen zu lassen. Und er bat um die Erfüllung dieses Wunsches. Aber – es war zu spät. Die drei Logenbrüder bestanden darauf, wie es vereinbart worden war: Sie hatten das Recht und die heilige Pflicht darüber zu wachen, daß kein Geistlicher mehr an das Sterbebett kam [...]. An den eisigen Mienen seiner Logenbrüder prallte sein Leiden, seine verzweifelte Not ab. Niemand weiß, was in diesen letzten Stunden in ihm vorging. Erst am Tage der Beerdigung fand man die Spuren seines Todeskampfes. Mit den Fingernägeln fand man in die Tapete geritzt: Ich bereue und widerrufe: Verhaegen.“ 31

Mit dieser Erzählung wird nicht nur ein Schreckensbild des Sterbens ohne kirchlich priesterlichen Beistand gezeichnet und eine Bekehrung zur Kirche geschildert, sondern hier wird auch deutlich gemacht, was man unter „Welt“ als einem der Kirche gegenüber gegnerisch, gar feindlich eingestellten Ort zu verstehen hat, nämlich die bürgerlich liberale Gesellschaft und ihr Pressewesen. An der katechetischen Bearbeitung der Thematik von Sterben und Tod wird eine antimodernistische Grenzziehung vorgenommen. Die Freimaurer, hier in der Person Verhaegens, stehen für den kirchlich bekämpften Liberalismus schlechthin. Eine narrativ subtil vermittelte, antimodernistische Grenzziehung wird auch mit folgender Erzählung vorgenommen: „I n e i n e m K r a n k e n h a u s w a r e n z w e i j u n g e M e n s c h e n in einem Zimmer – beide vom Tode gezeichnet. Ein Priester wurde höhnisch empfangen. Nach einigen Besuchen nahm der eine seinen Kirchenaustritt zurück, trat aus dem Leichenverbrennungsverein aus – war bereit, die heiligen Sakramente zu empfangen, und ist als guter Christ gestorben.“ 32 Vgl. ebd., S. 502/503. Ebd., S. 505. 30 Ebd., S. 391. 31 Ebd., S. 507. 32 Vgl. Handbuch zum Katholischen Katechismus Bd. II,2. 1966, S. 605. 28 29

Thematisierung des Todes

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Auch hier handelt es sich um eine Bekehrung im Angesicht des Todes, die zugleich dadurch antimodernistisch konnotiert wird, dass im Zuge des Wiedereintritts des Sterbenden in die Kirche seine Zugehörigkeit zum und sein Austritt aus dem „Leichenverbrennungsverein“ erwähnt werden. Die Feuerbestattung war im 19. Jahrhundert ein Kampfmittel der Freimaurer gegen die katholische Kirche. Sie wurde nicht zuletzt wegen der mit ihr propagierten Leugnung der christlichen Auffassung von der Unsterblichkeit der Seele und des Auferstehungsglaubens Anfang des 20. Jahrhunderts kirchlich offiziell verboten; aufgehoben wurde das Verbot erst 1963. 33 Das Sterben wird narrativ als Grenzort der Zuordnung und als Abgrenzung gezeigt. Angesichts von Sterben und Tod entscheiden sich endgültig diesseitige Zugehörigkeiten zur antimodernistisch begriffenen Welt oder zur Kirche, finden jeweilige Entsprechungen jenseits des Todes und zeitigen je nach Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zur Kirche ein christliches, gutes Sterben oder ein Sterben voll Angst und Schrecken, in dem die Entscheidung für die Kirche und ihren priesterlichen Beistand durchaus auch zu spät fallen kann, wie es mit dem Beispiel des zweiten jungen Menschen verdeutlicht wird. Er weist den Priester mehrfach entschieden zurück. Sein Gesundheitszustand verschlechtert sich dramatisch. „Jetzt wollte er, man soll den Priester rufen – fragte inzwischen wiederholt, ob der Priester noch nicht da sei – er wolle christlich sterben. Als er konnte, wollte er nicht; als er wollte, konnte er nicht [...]. Es gibt Sterbebetten, von denen man heimkehrt wie von einem feierlichen Gottesdienst – und andere, von denen man heimkehrt wie von einem Ort des Grauens.“ 34

5. Das Zeigen von Tod und Sterben als doppelte Entstörung Die Untersuchung der Thematisierung von Tod und Sterben in der material-kerygmatischen Katechese hat deutlich gemacht, dass die katholische Auffassung von und die Umgangsweise mit Sterben und Tod den Störer und Zerstörer Tod in doppelter Hinsicht entstört. Das Zeigen dieser Thematik mit Hilfe von Metaphern des Raums und veranschaulichendem Erzählmaterial macht den Tod und insbesondere die an ihm sich entzündende Frage nach einem Jenseits des Todes zum einen zu einem vermeintlichen Zeigeobjekt mit geradezu empirischer Gewissheit und zum anderen zum Medium, an dem sich die Zugehörigkeit zur Kirche wirkmächtig entscheidet. Nicht zuletzt veranschaulichendes Erzählmaterial für den katechetischen Unterricht trägt in dieser Thematik dabei den antimodernistischen Kampf der Kirche aus und wird damit zu einem Mittel der Grenzziehung und der Zuordnung zur bzw. des Ausschlusses von der Kirche. Betrachtet man die Moderne (hier verstanden als liberal demokratische Auffassung mit dem Recht auf Presse- und Religionsfreiheit und der Trennung von Staat und Kirche) als chronische Vgl. Güthoff, Elmar: Feuerbestattung. In: Lexikon für Theologie und Kirche Bd. 3. Freiburg i. Br.: Herder 32006, S. 12065 f. 34 Barth, Katechetisches Handbuch Bd. 2,2. 1957, S. 468. 33

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Störung der katholischen Kirche bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil, kann man sagen, dass der Tod zum einen entstört wird und zum anderen der Tod selbst zum Mittel wird, die Moderne als Störerin der Kirche zu entstören. Die metaphorische Rede von Sterben und Tod ist keineswegs ein das Rätselhafte des Todes offen haltendes, interpretierendes Umschreiben des Phänomens, sondern ein an die zu Unterrichtenden gerichteter, starker Appell zu einem Leben in und mit der Kirche, in dem der Tod kein störendes Rätsel der Zerstörung des Lebens mehr darstellt.

Beiträgerinnen und Beiträger Norman Ächtler, Dr., Studium der Deutschen Literatur, Kunst- und Medienwissenschaft sowie Geschichte an den Universitäten Konstanz und Amherst/Mass., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Letzte Veröffentlichung: Norman Ächtler/Monika Rox-Helmer (Hg.): Zwischen Schweigen und Schreiben – Interdisziplinäre Perspektiven auf zeitgeschichtliche Jugendromane von Kirsten Boie und Gina Mayer. Frankfurt/M.: Peter Lang, 2013 (= Literarisches Leben heute Bd. 3). Heiner Apel, Dipl. Sprechwiss., Studium der Sprechwissenschaft und Phonetik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ist Lehrkraft für besondere Aufgaben für den Ergänzungsbereich „Präsentation, Rhetorik, Kommunikation“ am Institut für Sprach- und Kommunikationswissenschaft der RWTH Aachen. Letzte Veröffentlichung: Heiner Apel: Strategien zur Prophylaxe von Stimmerkrankungen und zur Schonung der Stimme im Unterricht. In: Gaul, Magnus/Lang, Simone (Hg.): Voice Coaching. Zum richtigen Umgang mit der Stimme im Lehrberuf. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2012, S. 160 – 176. Franz-Josef Bäumer, Prof. Dr., Studium der katholischen Theologie und Pädagogik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, ist Professor für Religionspädagogik und -didaktik am Institut für Katholische Theologie im Fachbereich 04, Geschichts- und Kulturwissenschaften, der Justus-Liebig-Universität Gießen. Letzte Veröffentlichung: Franz-Josef Bäumer: ‚Religion zeigen‘. Elementarisierung als Planungsmodell und als didaktisches Prinzip des Religionsunterrichts. Religionspädagogische Beiträge 67/2012, 3 – 15. Matthias Braun, Dr., Studium der Theologie, Theater- und Literaturwissenschaft, ist wissenschaftlicher Mitarbeiterin der Forschungsabteilung  der Stasi-Unterlagenbehörde und Redakteur der wissenschaftlichen Reihe der BStU. Letzte Veröffentlichung: Carsten Gansel/Matthias Braun (Hrsg.): Es geht um Erwin Strittmatter oder Vom Streit um die Erinnerung. Göttingen: V&R unipress 2012. Andreas Corr, M.A., Studium der Kommunikationswissenschaft, Psychologie und Politischen Wissenschaft an der RWTH Aachen. Letzte Veröffentlichung: Andreas Corr: Über die konservative Traditionslinie populärer Sprach- und Stilratgeber. In: Sprachreport 1 – 2 (2013), S. 13 – 18. Carsten Gansel, Prof. Dr., Studium der Germanistik, Slawistik, Pädagogik. Professor für Neuere Deutsche Literatur und Germanistische Literatur- und Mediendidaktik am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Mitglied des P.E.N.

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Zu den Autoren.

Letzte Publikation: Carsten Gansel/Elisabeth Herrrmann (Hg.): Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen: V&R unipress 2013 sowie Ders./Matthias Braun (Hrsg.): Es geht um Erwin Strittmatter oder Vom Streit um die Erinnerung. Göttingen: V&R unipress 2012. Elisabeth Herrmann, Prof. Dr., ist Associate Visiting Professor für neuere deutsche und skandinavische Literaturen und Kulturwissenschaften an der University of Alberta in Edmonton, Kanada. Jüngste Veröffentlichung: Carsten Gansel/Elisabeth Herrrmann (Hg.): Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen: V&R unipress 2013 sowie Embracing the Other: Conceptualizations, Representations, and Social Practices of [In]Tolerance in German Culture and Literature. Special Issue of Seminar. A Journal of Germanic Studies. Guest editors Elisabeth Herrmann and Florentine Strzelczyk. Volume 48, Number 3, September (2012). Sonja E. Klocke, Dr., Studium der Germanistik, Amerikanistik und Anglistik. Promotion in Modern German Literature and Culture (Indiana University, Blooming­ton, USA). Assistant Professor am Department of German an der University of Wiscon­sin – Madison (USA). Zuletzt Publikationen zu Thomas Brussig, Emine Sevgi Özdamar, Kathrin Schmidt, Verena Stefan und Juli Zeh. Lars Koch, Dr., Studium der Allgemeinen Literaturwissenschaft, Philosophie und Geschichte, ist Principal Investigator der ERC Starting Grant-Forschergruppe „The Principle of Disruption. A Figure Reflecting Complex Societies“ an der Universität Siegen. Letzte Veröffentlichung: Lars Koch (Hg.): Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2013. Burkhard Meyer-Sickendiek, PD Dr., Heisenberg-Stipendiat an der Freien Universität Berlin am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie. Letzte Veröffentlichung: Lyrisches Gespür. Vom geheimen Sensorium moderner Poesie, München: Fink-Verlag 2012. Arndt Niebisch, PhD., promovierte an der Johns Hopkins University, Baltimore mit einer Arbeit über die Strörungsästhetik des italienischen Futurismus und deutschen Dadaismus. 2007 wurde er Assistant Professor of German and European Studies and der University of North Carolina at Greensboro und seit 2012 ist er Universitätsassistent am germanistischen Institut der Universität Wien. Zu seinen Publikationen zählen die Monographie „Media Parasites in the Early Avant-Garde“ und die Edition der technischen und wissenschaftlichen Texte des Dadaisten Raoul Hausmann. Gerhard Preyer, Prof. Dr., Professor für Soziologie, Institut für Soziologie, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Frankfurt/M., Herausgeber der Zeitschrift Protosociology. An International Journal of Interdisciplinary Research and Project, www.protosociology.de. Letzte Veröffentlichungen: Gerhard Preyer: Rolle, Status, Erwartungen und soziale Gruppe. Mitgliedschaftstheoretische Reinterpretationen.

Zu den Autoren.

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Wiesbaden: Springer/VS Verlag für Sozialwissenschaften, Ders. ed., Donald Davidson on Truth, Meaning, and the Mental, Oxford GB: Oxford University Press. Verena Ronge, Dr., Studium der Kommunikationswissenschaften, Germanistik und Soziologie an der Universität Duisburg-Essen, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Pädagogik der Universität Duisburg-Essen. Letzte Veröffentlichung: „Hysterischer Vampirismus“  als Strategie weiblicher End-Fremdung? – Elfriede Jelineks „Krankheit oder Moderne Frauen“. In:  Chassagne, J.P. (Hg.): Fremdheit der Formen, Formen der Fremdheit. Saint-Étienne: Publications de l’Université de SaintÉtienne, 2013, S. 219 – 229. Hans-Christian Stillmark, Dr., Studium der Germanistik und der Geschichte an der Pädagogischen Hochschule Potsdam, ist Mitarbeiter am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam. Letzte Veröffentlichung: Peter Jehle (Koordination), Wolfram Adolphi, Thomas Pappritz, Klaus Schulte, Ilse Schütte, Hans-Christian Stillmark (Hg.): Zukunft aus der Vergangenheit? Zum künstlerischen und kulturellen Erbe der DDR, Das Argument 295. 53. Jg., Heft 6, Argument Verlag Karlsruhe 2011. Silke Tammen, Prof. Dr., Studium der Kunstgeschichte, Mittleren und Neueren Geschichte an den Universitäten Marburg und Trier, ist Professorin für Kunstgeschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Letzte Veröffentlichung: Kristin Böse/Silke Tammen (Hg.): Beziehungsreiche Gewebe. Textilien im Mittelalter. Frankfurt/M.: Peter Lang, 2013. Anna Valentine Ullrich, M.A., Studium der Kommunikationswissenschaft, Baugeschichte und der Internationalen Technischen und Wirtschaftlichen Zusammenarbeit an der RWTH Aachen, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Deutsche Philologie am Institut für Sprach- und Kommunikationswissenschaft der RWTH Aachen. Letzte Veröffentlichung: Anna Valentine Ullrich: Bildtransfers als transkriptive Prozesse: ein Beschreibungsmodell. In: Baleva, Martina u.a. (Hrsg.): Image Match. Visueller Transfer, ›Imagescapes‹ und Intervisualität in globalen BildKulturen. München: Fink 2012, S. 309 – 324.