Spatial Turn: Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften [2., unveränderte Auflage 2009] 9783839406830

Warum reden alle vom Raum? Ist die Zeit der wissenschaftlichen Vorherrschaft der Zeit vorüber? Was tritt unter den Bedin

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen
I Der Spatial Turn in den Kultur- und Sozialwissenschaften
Die Karte als Operations- und Imaginationsmatrix. Zur Geschichte eines Raummediums
Bildwissenschaft. Spatial Turns in vier Einstellungen
„Trägheit des Raums“. Fernand Braudel und die Spatial Stories der Geschichtswissenschaft
Der Spatial Turn und das Interesse an der Globalisierung in der Geschichtswissenschaft
„Bringing space back in“ – Zur Relevanz des Raums als soziologischer Kategorie
Kontrolle und Organisation des Raums durch Funktionssysteme der Weltgesellschaft
Die Geo-Semantik der Netzwerkgesellschaft
Cybernetic Localism: Space, Reloaded
Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen
II Der Spatial Turn und die Humangeographie
Vom „Zeitgeist“ zum „Raumgeist“. New Twists on the Spatial Turn
Der Spatial Turn, von der Geographie her beobachtet
Eine selbst erzeugte Überraschung: Zur Renaissance von Raum als Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft
Raumbilder der Gesellschaft. Zur Räumlichkeit des Sozialen in der Systemtheorie
Körper, Raum und mediale Repräsentation
Raum
Zeit : Raum
Sach- und Personenregister
Autorinnen und Autoren
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Spatial Turn: Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften [2., unveränderte Auflage 2009]
 9783839406830

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Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.) Spatial Turn

Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.)

Spatial Turn Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften

Diese Arbeit ist im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 615 der Universität Siegen entstanden, wurde gefördert von der VolkswagenStiftung und ist unter Verwendung der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt worden.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld 2. unveränderte Auflage 2009 Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Tristan Thielmann unter Verwendung eines Motivs von Planet Love (Venus) Lektorat & Satz: Jörg Döring, Tristan Thielmann und Stefan Eichhorn Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-683-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen JÖRG DÖRING/TRISTAN THIELMANN

7

I Der Spatial Turn in den Kultur- und Sozialwissenschaften Die Karte als Operations- und Imaginationsmatrix. Zur Geschichte eines Raummediums JÖRG DÜNNE

49

Bildwissenschaft. Spatial Turns in vier Einstellungen GUILIANA BRUNO

71

„Trägheit des Raums“. Fernand Braudel und die Spatial Stories der Geschichtswissenschaft ERIC PILTZ

75

Der Spatial Turn und das Interesse an der Globalisierung in der Geschichtswissenschaft MATTHIAS MIDDELL

103

„Bringing space back in“ – Zur Relevanz des Raums als soziologischer Kategorie MARKUS SCHROER

125

Kontrolle und Organisation des Raums durch Funktionssysteme der Weltgesellschaft RUDOLF STICHWEH

149

Die Geo-Semantik der Netzwerkgesellschaft NIELS WERBER

165

Cybernetic Localism: Space, Reloaded MANFRED FASSLER

185

Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen STEPHAN GÜNZEL

219

II Der Spatial Turn und die Humangeographie Vom „Zeitgeist“ zum „Raumgeist“. New Twists on the Spatial Turn EDWARD W. SOJA Der Spatial Turn, von der Geographie her beobachtet GERHARD HARD

241

263

Eine selbst erzeugte Überraschung: Zur Renaissance von Raum als Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft MARC REDEPENNING

317

Raumbilder der Gesellschaft. Zur Räumlichkeit des Sozialen in der Systemtheorie ROLAND LIPPUNER

341

Körper, Raum und mediale Repräsentation BENNO WERLEN

365

Raum NIGEL THRIFT

393

Zeit : Raum MIKE CRANG

409

Sach- und Personenregister

439

Autorinnen und Autoren

453

Einleitung: Was lesen wir im Raume? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen JÖRG DÖRING / TRISTAN THIELMANN

1 Wortgeschichte/Entstehungskontexte Die Geschichte des Begriffs spatial turn reicht bis in das Jahr 1989 zurück. Gemessen an seiner Verbreitung seither, begegnet uns der Wortkörper zunächst an erstaunlich unscheinbarer Stelle: Als Zwischenüberschrift des Kapitels „History: Geography: Modernity“ seines Buches Postmodern Geographies1 greift der nordamerikanische Humangeograph Edward W. Soja eher beiläufig auf die Formulierung zurück: „Uncovering Western Marxism’s spatial turn“.2 In dem folgenden, nur dreieinhalb Seiten umfassenden Unterkapitel kritisiert Soja die seinerzeit kurrente Geschichtsschreibung des Historischen Materialismus und mahnt eine Neubewertung des französischen Soziologen Henri Lefebvre an, der in seinem Hauptwerk La production de l’espace3 (1974) als erster die Raumvergessenheit des westlichen radical thought überwunden habe. Als Begriff spielt spatial turn im weiteren Verlauf des Buches Postmodern Geographies ersichtlich keine große Rolle mehr.4 Ein früheres Vorkommen des Wortkörpers als dieses konnte bislang nicht nachgewiesen werden.5 Daran ist zweierlei bemerkenswert: 1 2 3

4

5

Soja: Postmodern Geographies. Ebd., S. 39. Lefebvre: La Production de l’espace. Die Wirkungsgeschichte des Buches hat stark mit seiner Übersetzung ins Englische zu tun: The Production of Space, Oxford/Cambridge, MA 1991. Es gibt nur noch drei weitere Belegstellen innerhalb des Buches – jedes Mal wird der Begriff unspezifisch gebraucht. Vgl. Soja: Postmodern Geographies, S. 16, 50, 154. Auch sein Urheber kann sich nicht entsinnen, den Begriff zuvor bereits gebraucht zu haben. Mündliche Auskunft von Edward W. Soja am 14.

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1. Der Begriff geht auf einen Geographen zurück. Die teils vehemente Kritik, die seit geraumer Zeit gerade von humangeographischer Seite am spatial turn als kultur- und sozialwissenschaftliche Paradigmenbehauptung geäußert wird,6 muss vor diesem Hintergrund letztlich auch als geographische Selbstbeobachtung, genauer: als innerfachliche Auseinandersetzung darum verstanden werden, ob der Geographie als einer der klassischen Raumwissenschaften ausgerechnet ein spatial turn gut zu Gesicht steht. 2. Mit der Rede vom turn war ursprünglich gar kein Kuhnscher Paradigmenwechsel gemeint.7 Erst recht nicht jene epochale transdisziplinäre Umwälzung, die Soja heute mit dem Begriff verbunden wissen will.8 Beflügelt von der Resonanz, die seine Wortschöpfung gefunden hat, begreift Soja den spatial turn mittlerweile als eine Art master turn, einsam herausragend aus dem Gewimmel niederer Diskursmoden („It’s not some innocent little turn“9). Da, wo der Begriff entsteht, lässt sich noch nicht erahnen, welche Geltungsansprüche ihm im Verlauf seiner Verwendungsgeschichte noch aufgebürdet werden. In seinem Ursprungskontext bezeichnet spatial turn gerade nicht die Mutter aller Kehren, sondern ist vorerst kaum mehr als ein explorativer Verständigungsbegriff in der Debatte unter postmarxistischen Theoretikern. Das hat sich auch im Kontext der zweiten Belegstelle nicht geändert. Häufiger noch als die Zwischenüberschrift bei Soja wird ein Zitat des Literaturwissenschaftlers Fredric Jameson von 1991 mit dem Wortursprung in Zusammenhang gebracht:10 „A certain spatial turn has often seemed to offer one of the more productive ways of distinguishing postmodernism from modernism proper […].“11 Die Moderne habe die Kategorie der Zeit

Oktober 2006. Der Begriffsschöpfung ging freilich eine längere Explorationsphase voraus. Denn sein Anliegen, Lefebvre als Überwinder des antispatialen Dogmas innerhalb des westlichen Marxismus zu positionieren, hatte er schon seit 1980 wiederholt und mit ähnlicher Argumentation vorgebracht (vgl. z.B. Soja: „The Socio-Spatial Dialectic“). Allerdings war seinerzeit von einem spatial turn noch nicht die Rede. 6 Vgl. die Beiträge von Hard, Redepenning, Lippuner und Werlen in diesem Band. Vgl. auch Crang/Thrift: „Introduction“, Lippuner/Lossau: „In der Raumfalle“ und ähnlich Lossau/Lippuner: „Geographie und Spatial Turn“; Dix: „Cultural Turn und Spatial Turn“; Miggelbrink: „Die (Un-)Ordnung des Raumes“; Schlottmann „Rekonstruktion alltäglicher Raumkonstitutionen“; zuletzt Lossau: „‚Mind the Gap‘“. 7 Vgl. Kuhn: „Neue Überlegungen zum Begriff des Paradigma“. 8 Vgl. den Beitrag von Soja in diesem Band. 9 Edward W. Soja, zitiert nach Hahnemann: „Der Geocode der Medien“. 10 Vgl. Smith: „The End of Geography and Radical Politics in Baudrillard’s Philosophy“, S. 305. 11 Jameson: Postmodernism, S. 154.

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privilegiert – die anbrechende Postmoderne stehe für eine „spatialization of the temporal“12 – ohne dass sich schon abzeichnete, wie die gewünschte Verräumlichung des Zeitlichen sich methodisch traktieren ließe. Die Letztreferenz für diese postmoderne Konturierung des Begriffs ist seither zumeist ein schillerndes Foucault-Zitat von 1967, das – etwas vage – einen mesohistorischen Vergleich skizziert: „Die große Obsession des 19. Jahrhunderts war bekanntlich die Geschichte […] Unsere Zeit ließe sich dagegen eher als Zeitalter des Raumes begreifen.“13 Auch in dem Verwendungskontext bei Jameson fällt auf, dass der Begriff spatial turn unterbestimmt, regelrecht defensiv verwendet wird (a „certain“ spatial turn […] „seemed to offer“). Ganz sicher ist man sich noch nicht, ob die postmoderne Moderne-Kritik mit einem Paradigmenwechsel annonciert werden muss. Ausdrücklich paradigmatisches Gewicht wird dem Begriff erst 1996 zugesprochen: „Contemporary critical studies have experienced a significant spatial turn. In what may be seen as one of the most important intellectual and political developments in the late twentieth century, scholars have begun to interpret space and the spatiality of human life with the same critical insight and emphasis that has traditionally been given to time and history on the one hand, and to social relations and society on the other.“14

So steht es im Klappentext von Edward W. Sojas Thirdspace, dem Folgeband zu Postmodern Geographies. Den Klappentext hatte Soja seinerzeit selbst verfasst, wie er heute gern einräumt.15 Im Buchinneren ist der Begriff – gemessen an der wissensgeschichtlichen wie politischen Bedeutung, die dem spatial turn im Klappentext zugesprochen wird – wiederum auffällig unterrepräsentiert.16 Das spricht dafür, dass der humangeographische Urheber mit seinem Begriff weiterhin wenig systematische Ansprüche verband, wohl aber ein Label platzierte, das seiner Agenda – der Wiederbeachtung des Raums in der kritischen Sozialtheorie – zu mehr Beachtung verhelfen sollte. Die Erfolgsgeschichte des spatial turn als Wortkörper verweist seither unter anderem auf einen paratextuellen Effekt zurück.

12 13 14 15 16

Ebd., S. 156. Foucault: „Von anderen Räumen“, S. 317. Soja: Thirdspace, o.S. Mündliche Auskunft von Edward W. Soja am 14. Oktober 2006. Es gibt fünf Belegstellen: Vier davon machen eher kursorisch von dem Begriff Gebrauch, z.B. „the creative spatial turn […] in the recent Chicana and Chicano literature“ (Soja: Thirdspace, S. xi; vgl. auch ebd., S. 42, 47, 49). Nur eine bezieht sich explizit auf den im Klappentext angesprochenen Zusammenhang (ebd., S. 169).

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2 Viele Spatial Turns Inzwischen wird ein spatial turn auch für die Theologie und die Organisationslehre proklamiert.17 In den Kultur- und Sozialwissenschaften gibt es ohnehin kaum noch eine Disziplin, die nicht entweder ihren spatial turn eingeläutet hat, den in anderen Fächern ausgerufenen kommentiert oder sich zu ihm positioniert.18 Die Diskussionen darum sind seit etwa zehn Jahren im Schwange und durch eine Merkwürdigkeit gekennzeichnet: Über den spatial turn wird in aller Regel innerfachlich diskutiert, aber mit Rekurs auf ein transdisziplinäres Raumparadigma, das sich wiederum nirgendwo so recht begründet findet. Jeder rechtfertigt seinen je besonderen spatial turn – in der Annahme, in den anderen Fächern sei er längst durchgesetzt. Ein Beispiel für viele: „Diese Fokussierung auf die räumliche Dimension der Medien könnte sich zu einem ‚spatial turn‘ in der Kommunikations- und Medienwissenschaft entwickeln. Ein solcher ‚spatial turn‘ wurde in den letzten Jahren für die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften diagnostiziert […]“19

Zum Beleg wird auf einen kulturgeographischen Sammelband verwiesen.20 Schlägt man dort aber nach, wiederholt sich bloß der Befund: „[…] the recent ‚spatial and cultural turns‘ in the humanities and social sciences have repositioned the field [of cultural geography; J.D./T.T.] as one of considerable import to contemporary debates in Anglo-American human-geography.“21

Wiederum sind nur innerfachliche Konsequenzen einer Entwicklung angesprochen, deren transdisziplinärer Charakter als gegeben unterstellt wird 17 Vgl. Bergmann: „Theology in it’s Spatial Turn“ und Sydow: „Towards a Spatial Turn in Organization Science?“ 18 Hier nur eine Auswahl: für die Geschichtswissenschaft vgl. Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit und Gotthard: „Wohin führt uns der ‚spatial turn‘?“; für die Soziologie vgl. Löw: Raumsoziologie und Schroer: Räume, Orte, Grenzen; für die Literaturwissenschaft vgl. Stockhammer: TopoGraphien der Moderne, Böhme: Topographien der Literatur oder Joachimsthaler: „Text und Raum“; für die Kunstwissenschaft vgl. Dacosta Kaufmann: Toward a Geography of Art; für die Medien- und Kommunikationswissenschaft vgl. Falkheimer/Jansson: Geographies of Communication; für die Philosophie vgl. Holenstein: Philosophie-Atlas; für die postcolonial studies vgl. Bhaba: Die Verortung der Kultur; für die urban studies vgl. Gunn: „The Spatial Turn: Changing Histories of Space and Place“; für die gender studies vgl. Hipfl: „Mediale Identitätsräume“; für die Kulturwissenschaften im ganzen vgl. Weigel: „Zum ‚topographical turn‘“ und zuletzt die Anthologie von Dünne/Günzel: Raumtheorie. 19 Hipfl: „Mediale Identitätsräume“, S. 17. 20 Duncan u.a.: A Companion to Cultural Geography. 21 Ebd., S. 1.

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(hier sogar ganz ohne Beleg …). So entsteht eine Verweiskette mit Selbstverstärkereffekt. Irgendwann hat die Konjunktur der wissenschaftlichen Rede vom „Raum“, über „(andere) Räume“ und „Verräumlichung“ ein bestimmtes Emergenzniveau erreicht, so dass man tatsächlich davon überzeugt ist, es gäbe den spatial turn. Es ist jedenfalls auffällig, dass – trotz der Fülle an Literatur, die diese Raumkonjunktur bislang hervorgebracht hat und trotz der hochfrequenten Nutzung des Begriffes – bislang keine selbständige Anthologie zum spatial turn erschienen ist, auch international nicht. Der Grund mag darin liegen, dass es trotz der vielfach vollmundigen Paradigmenbehauptung sich als schwer erweist, einen common ground dafür auszumachen, was die vielen einzelwissenschaftlichen Begründungen für einen spatial turn miteinander gemein haben. Der vorliegende Band versucht, diese Lücke zu schließen22 – auch auf die Gefahr hin, es könnte sich herausstellen, dass es den einen spatial turn nicht gibt, sondern viele verschiedene. Der Band verfolgt zwei Ziele, denen jeweils eine Abteilung gewidmet ist: In der ersten Abteilung soll ein gemeinsames Forum geboten werden für die je fachspezifisch perspektivierten Positionen zum spatial turn. Es versammelt Beiträge aus der kulturwissenschaftlich perspektivierten Literaturwissenschaft/Filmwissenschaft, der Geschichtswissenschaft, der Soziologie, der Medienwissenschaft und der Philosophie. Wo immer eine Disziplin durch zwei Beiträge repräsentiert ist, waren wir bemüht, uns bei der Auswahl durch das Prinzip der maximalen Kontrastierung leiten zu lassen, damit die Beiträge das Spektrum der spatial-turn-Diskussion innerhalb der jeweiligen Fächer aufzeigen. Das zweite Ziel besteht in einer erstmals angemessenen, der Sache nach unverzichtbaren Beteiligung der Humangeographie an den Diskussionen um einen transdisziplinären spatial turn. Bislang hat die fächerübergreifende Raumkonjunktur einerseits kulturwissenschaftliche Bände hervorgebracht, die die Raumspezialisten aus der Humangeographie entweder ganz aussperren oder ihnen kaum mehr als eine Nebenrolle zuweisen.23 Andererseits geographische Sammelbände, die zwar auf einen kulturwissenschaftlichen spatial turn rekurrieren, in denen die Raumspezialisten aus der Humangeographie aber lieber unter sich bleiben.24 Längst scheint es geboten, diese Diskussionen zusammenzuführen. Und das nicht nur aufgrund einer besonderen Gegenstandskompetenz der Humangeographen.

22 Anfang 2009 erschien bei Routledge ein Sammelband mit einem ähnlichen Anliegen: Warf, Barney/Arias, Santa (Hrsg.): The Spatial Turn: Interdisciplinary Perspectives, London 2009. 23 Vgl. z.B. Hofmann u.a.: Raum – Dynamik (kein geographischer Beitrag); Mein/Rieger-Ladich: Soziale Räume und kulturelle Praktiken (ein geographischer Beitrag); Geppert u.a.: Ortsgespräche (zwei geographische Beiträge); Günzel: Topologie (zwei geographische Beiträge). 24 Vgl. Gebhardt u.a.: Kulturgeographie.

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Auch weil die Auseinandersetzung über Nutzen und Nachteil eines Raumparadigmas jenseits der Humangeographie auch innerhalb der internationalen Humangeographie mittlerweile erbittert geführt wird. Die einen begrüßen die jüngste Raumemphase in den Kultur- und Sozialwissenschaften und wollen sie weiter forcieren.25 Die anderen machen sich – den knappen Debattenanteilen zum Trotz – inzwischen auch jenseits ihrer Fachgrenzen als scharfe Kritiker des „Räumelns“ in den anderen Disziplinen vernehmbar.26 Auch um diese innergeographische Diskussion um den spatial turn adäquat abzubilden, räumt der vorliegende Band den humangeographischen Beiträgen eine eigene, etwa gleichumfängliche Abteilung ein. Wenn hier weiterhin von spatial turn die Rede sein wird, dann soll eine Unterscheidung maßgeblich sein: die von Label und Agenda. Der Band dient ausschließlich dem Ziel zu ermitteln, welche Forschungsagenda aus jeweiliger Fachperspektive mit der „räumlichen Wende“ gemeint ist. Zum Label spatial turn – dem Aspekt von Begriffsmarketing im wissenschaftlichen Feld gewissermaßen – hier nur so viel: Es gehört mittlerweile fast zum guten Ton, sich über das Label lustig zu machen, und das zumeist gar nicht so sehr um der Sache willen, sondern weil der spatial turn an einer regelrechten Inflation kulturwissenschaftlicher Wende-Bekundungen teilhat, die im Verdacht stehen, aus rein forschungsstrategischen Gründen lanciert zu werden.27 Mit dem spatial turn konkurrieren zeitgleich noch der performative, der iconic, der pictorial, der mnemonic, der translational turn in den Kulturwissenschaften.28 Die Liste ließe sich fortsetzen. Es versteht sich, dass angesichts dieser Fülle von turns Skepsis um sich greift, wie es um Reichweite und Nachhaltigkeit jeweils bestellt sein kann. Karl Schlögel, der – im Gegensatz zum späteren Soja – mit seiner Rede vom spatial turn gerade kein Großparadigma ins Auge fasst, spricht gar von ermäßigten Begründungsstandards unter inflationären Bedingungen: Je mehr Kehren ausgerufen werden, umso weniger Schaden mag jede einzelne unter ihnen anrichten.29 Da hilft es dem spatial turn nur wenig, dass die Metapher von der Wende/Kehre selber eine räumliche Denkfigur vorstellt. Heute weiß jeder, dass die Reichweiten solcher Kehren nicht mehr an den linguistic turn der 70er Jahre heran reichen werden, und dass man durchaus zu gleicher Zeit

25 Vgl. den Beitrag von Soja in diesem Band. 26 Vgl. die Liste der Beiträge in Fn. 6; vor allem Lippuner/Lossau: „In der Raumfalle“. 27 Vgl. Kohl: „Keine Wende ohne Migrationshintergrund“. 28 Vgl. die Zusammenstellung und „Kartierung“ der turns in Bachmann-Medick: Cultural Turns. 29 Schlögel: „Kartenlesen, Augenarbeit“, S. 265: „Die unentwegte Rede von turns […] hat das Gute an sich wie alles Inflationäre: es entwertet Ansprüche, es senkt den Preis des Labels.“

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etwa bild- wie raumwissenschaftliche Interessen verfolgen kann.30 Der Spott über die vielen turns klingt unterdessen selber etwas pflichtschuldig und wohlfeil. Deshalb kein Wort mehr über das Label. Zielführender erscheint uns, das Spektrum dessen abzubilden, wie der Begriff spatial turn gebraucht wird. Die Geltungsansprüche, die mit ihm verbunden werden, und die Vorstellungen von seiner Reichweite differieren enorm. Sie reichen – wie angedeutet – von der Idee eines master turn als Großparadigma31 bis hinunter zu einer ostentativen Bescheidenheitsgeste, die mit spatial turn eher einen Initialbegriff, eine heuristische Plattform, einen auch absehbar transitorischen „Wechsel der Blickrichtung“ (Karl-Heinz Kohl) meint. Noch einmal Karl Schlögel: „Der turn ist offenbar die moderne Rede für gesteigerte Aufmerksamkeit für Seiten und Aspekte, die bisher zu kurz gekommen sind, zufällig oder aus systemisch-wissenschaftslogischen Gründen.“32 Dieser unterschiedliche Begriffszuschnitt hat ganz konkrete Auswirkungen auf die jeweilige Forschungsagenda, die hier kenntlich werden sollen.

3 Begriffsumfang In der Diskussion um Nutzen und Nachteil eines Raumparadigmas in den Kultur- und Sozialwissenschaften zeichnet sich eine weitere Ausdifferenzierung des Begriffsfeldes ab. Neben spatial turn wird mitunter auch vom topographical turn33 oder seit neuestem von topological turn34gesprochen. Beide Begriffe werden auch in dem vorliegenden Band thematisiert35 – sie spiegeln bestimmte Prämissen des je fachperspektivischen Zugriffs auf den Gegenstandsbereich Raum: Den topographischen Aspekt akzentuiert vor allem die literatur- und kulturwissenschaftliche Diskussion; die topologische Fundierung von Raumbegriffen und Raumbeschreibungen wird – wie der Beitrag von Stephan Günzel zeigt – mit Blick auf die mathematische wie die phänomenologische Begriffstradition von philosophischer Seite gefordert. Weil diese Begriffe sich erst im Zuge der in Rede stehenden Raumkonjunktur in den Kultur- und Sozialwissenschaften ausdifferenziert haben, werden sie hier umfangslogisch dem Oberbegriff spatial turn subsumiert. Erst dessen Unterbestimmtheit hat die beiden Konkurrenzbegriffe auf den Plan gerufen. Deshalb ist gerechtfertigt, dass topographical wie auch topological turn in diesem Band mitverhandelt werden. 30 Der Philosoph und Medienwissenschaftler Stephan Günzel in diesem Band ist ein gutes Beispiel dafür. 31 Vgl. den Beitrag von Soja in diesem Band. 32 Schlögel: „Kartenlesen, Augenarbeit“, S. 265. 33 Vgl. Weigel: „Zum ‚topographical turn‘“. 34 Vgl. Günzel: Topologie. 35 Vgl. u.a. die Beiträge von Dünne und Günzel in diesem Band.

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4 Trotz time-space compression: Der wiedergefundene Raum Wenn es eine Gemeinsamkeit gibt, die die hier versammelten je fächerspezifischen Begründungen für einen spatial turn eint, dann ist es die Skepsis gegenüber der Rede vom „Verschwinden des Raumes“36 oder dem „Ende der Geographie“37. Insofern wäre der spatial turn als Reaktionsbildung auf dieses seit den späten 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts vor allem in der postmodernen Medientheorie verbreiteten Postulats zu verstehen. Warum aber sollte der Raum verschwunden sein? Die postmoderne Medientheorie radikalisierte ein Argument, das in Umlauf war, seit man die raumprägenden Konsequenzen von Elektrifizierung und Eisenbahn im 19. Jahrhundert beobachtete38: eine medien- wie verkehrstechnisch induzierte Verdichtung all unserer raumzeitlichen Wahrnehmungshorizonte – jene berühmte „time-space compression“39, von der der Geograph David Harvey als erster gesprochen hat (freilich ohne damit seine eigene Disziplin für obsolet erklären zu wollen). Telekommunikationsfortschritte, die mikroelektronische Revolution, das Internet habe diese Entwicklung an ihr Ende getrieben, so die medientheoretische Überbietungsrhetorik. Der unterstellten Ortlosigkeit von McLuhans „global village“ sei nurmehr mit einer „Ästhetik des Verschwindens“40 beizukommen. Statt Kompression jetzt also eine regelrechte Implosion des Raumes im Zuge des digitalen Medienumbruchs. Die Verlustdiagnose wurde dabei mal kulturkritisch, mal in lustvoll apokalyptischer Erwartung gestellt. Auch diese Unentschiedenheit ist kennzeichnend für das Avantgardestadium der emphatischen Rede vom Cyberspace. Die Kritik an dieser jüngsten Variante der alten These vom Verschwinden des Raumes jedenfalls kennzeichnet fächerübergreifend den Diskurs um den spatial turn. Deshalb lässt sich mit gutem Recht sagen, dass der spatial turn – bei aller Verschiedenheit der je fachspezifischen Begründungsmuster – auch durch einen mediengeschichtlichen Subtext gekennzeichnet ist. Indem seine Befürworter sich aufgerufen fühlen, die „Grenzen der Enträumlichung“41 aufzuzeigen, tragen sie bei zu einer – wenn man so will: Reterritorialisierung der Diskurse um den digitalen Medienumbruch. Ebensowenig wie der physische Raum verschwindet, bleibt auch der „space of flows“ – Manuel Castells’ räumliche Metapher für die elektronischen Kommunikationsnetzwerke des Informationszeital36 Virilio: „Das dritte Intervall“, S. 348. 37 Vilém Flusser, zitiert nach Werlen: Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen, Bd. 2, S. 218; Virilio: „Eine überbelichtete Welt“. 38 Vgl. Kaschuba: Die Überwindung der Distanz. 39 Vgl. Harvey: The Condition of Postmodernity, S. 240-307. 40 Virilio: Ästhetik des Verschwindens. 41 Ahrens: Grenzen der Enträumlichung.

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ters42 – an eine gewisse, irreduzible Materialität gebunden. Zur Produktion von Mikroprozessoren werden Rohstoffe benötigt, die knapp werden können (um das Coltan wird seit vielen Jahren im Kongo ein blutiger Bürgerkrieg geführt43): Das ist die global-ökonomische und -politische Seite der vermeintlichen Deterritorialisierung im Cyberspace. Und wer mobil Telefonierende belauscht (freiwillig oder unfreiwillig), wird Zeuge einer offenbar unvermeidlichen Verortungskommunikation („Wo bist Du gerade?“)44, ganz so als sei die technisch ermöglichte „time-space compression“ nur vermittels einer Standortversicherung des fernmündlichen Gegenüber sozial zu ertragen. Auch in der Netzwerkgesellschaft bleibt Territorialität als eines der organisierenden Prinzipien sozialer Beziehungen elementar von Bedeutung. Durch gesteigerte Kommunikationsgeschwindigkeiten werden Räume nicht ausgelöscht, sondern zu anderen. Physische Territorialität wird sozio-technisch reorganisiert. Die Orte der Lebenswelt bleiben, aber sie sind nurmehr als medialisierte zu denken. Kaum ein Vertreter der spatial-turn-Perspektive, der nicht auf das verräterisch räumliche Konnotationsfeld der Internetmetaphorik hinwiese: Datenautobahn, global village, Cyberspace, chatrooms, Homepage, Portal, Fenster etc.45 Insofern musste der Raum gar nicht erst wiedergefunden werden, er war nie wirklich verschwunden. Den Befürwortern gilt diese fächerübergreifende spatial-turn-Perspektive als notwendige Korrektur einer postmodernen Raumignoranz – ihren Kritikern mittlerweile als Hyperkorrektur.

5 Raum als Text: Der topographical turn in den Kulturwissenschaften Die Rede vom topographical turn geht auf die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel zurück, die 2002 in der Zeitschrift KulturPoetik einen programmatischen Aufsatz veröffentlichte, der seither die zentrale Referenz darstellt.46 Er wird zumeist als kontinentaleuropäische Antwort auf den Raumdiskurs in den anglo-amerikanischen cultural studies rezipiert.47 Und das nicht zu unrecht. Denn der Text enthält an zentraler Stelle eine Kritik an dem präskriptiven Theoriedesign der cultural studies, das Weigel als politisches Projekt versteht, in dem Gegendiskurse über Ethnizität und Partizipation in räumlichen Begriffen 42 Vgl. Castells: „Space of Flows, Space of Places“. 43 Harden: „The Dirt in the New Machine“. 44 Vgl. Konitzer: „Telefonieren als besondere Form gedehnter Äußerung und die Veränderung von Raumbegriffen im frühen 20. Jahrhundert“. 45 Vgl. Becker: „Raum-Metaphern als Brücke zwischen Internetwahrnehmung und Internetkommunikation“. 46 Vgl. Weigel: „Zum ‚topographical turn‘“. 47 Vgl. Stockhammer: TopoGraphien der Moderne, S. 18f.; Dünne/Günzel: Raumtheorie, S. 12f.

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verhandelt würden (etwa die Figur des „Zwischenraums“ als Metapher zur Verortung der postkolonialen Subjekte).48 Hier beargwöhnt sie einen in gewisser Weise instrumentellen Umgang mit Theoriebeständen, die aus Europa stammen, bis zur Unkenntlichkeit anverwandelt würden, bis sie „als scheinbar geschichts- und kulturneutrale Instrumente verwendet“ und ihren politischen Zwecken zugeführt werden können.49 Demgegenüber bringt sie die kontinentaleuropäische Tradition der philosophischen, soziologischen und anthropologischen Konzeptualisierung des Raumes in Stellung, die für ein genuin kulturwissenschaftliches Raumdenken konstitutiv wäre. Damit will sie auch einen unkritischen Re-Import der gleichsam entwurzelten und verfremdeten Theoriebestände via cultural studies nach Europa verhindern helfen. Insofern könnte man zugespitzt sagen, dass der topographical turn seinerseits ein theoriepolitisches Projekt darstellt, dass den anglo-amerikanisch verursachten spatial turn an seine europäischen Wurzeln erinnern soll – ein selbstbewusstes Statement im Standortwettbewerb um die Ressourcen Aufmerksamkeit und kanonische Geltung. Dabei wird aber auch eine interessante Inkonsequenz deutlich: Gerade indem Weigel die Traditionsbestände, die sie verteidigen will, so deutlich territorial markiert und ihre Migration in andere Wissenschaftskulturen beargwöhnt,50 bleibt sie ihrerseits jenem Denken verhaftet, das sie den cultural studies zum Vorwurf macht: nämlich Fragen von kultureller „Identität in räumlichen topoi (‚Gemeinplätzen‘) zu modellieren.“51 Dieser instruktive Nebenwiderspruch soll aber hier des Weiteren außer acht gelassen werden. Wichtiger als diese theoriepolitischen Implikationen sind die methodologischen Konsequenzen, die sich aus Weigels Projekt eines kulturwissenschaftlichen topographical turn ergeben. Sie setzt den Akzent der topographischen Wende auf das „graphein“, das in „Topo-Graphie“ enthalten ist und damit – deutlicher als das unterbestimmte Attribut „spatial“ es vermag52 – den Raumanalysen der Kulturwissenschaft einen erkennbaren Gegenstand zuweist: „Der Raum ist hier nicht mehr Ursache oder Grund, von der oder dem die Ereignisse oder deren Erzählung ihren Ausgang nehmen, er wird selbst vielmehr als eine Art Text betrachtet, dessen Zeichen oder Spuren semiotisch, grammatologisch oder archäolo48 Vgl. Weigel: „Zum ‚topographical turn‘“, S. 155f. 49 Ebd., S. 159. 50 Ebd.: „In der Übertragung werden die Konzepte indifferent gegenüber der kulturellen Topographie, der sie entstammen.“ 51 Stockhammer spricht diese Konsequenz nicht aus, liefert aber den für das Argument entscheidenden Hinweis. Vgl. Stockhammer: TopoGraphien der Moderne, S. 19. 52 Weigel selber markiert nicht explizit den Gegensatz zwischen „topographical“ und „spatial“, sondern subsumiert – anders als wir in Abschnitt 3 (s.o.) – die gesamte aktuelle Raumdiskussion in den Wissenschaften unter dem von ihr lancierten Begriff topographical turn.

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gisch zu entziffern sind.“53 Anders ausgedrückt: Der kulturwissenschaftliche Analyse zugänglich wird der Raum erst dort, wo er oder etwas an ihm sich in Text verwandelt hat (oder in etwas Textanaloges), das lesbar ist wie eine Sprache (auch ein Bild kann in diesem Sinne lesbar sein). Nur als Gegenstand in einer „Semiosphäre“54 – die sinnstrukturierte Welt der Bedeutungen im Gegensatz etwa zum metrischen Raum der Physik – kann Raum ein Korpus kulturwissenschaftlichen Fragens werden. Damit bleibt in methodologischer Hinsicht der topographical turn dem älteren „Kulturals-Text“-Paradigma eng verbunden.55 Stockhammer macht mit Recht darauf aufmerksam, dass es für die methodische Operation der Lektüre oder Entzifferung zunächst ganz und gar unerheblich bleibt, ob es der Raum selbst ist, der als beschrifteter lesbar wird, oder eine Repräsentation des Raumes, die ihn uns textförmig verfügbar macht. Und auch in dem interessantesten aller Fälle, dass Räume in ihrem Gemacht-Sein überhaupt nur als Produkt graphischer Operationen verständlich werden, stellt die TopoGraphie (nicht der Topos, nicht das Spatium) den einzig maßgeblichen kulturwissenschaftlichen Gegenstand dar. Auf der Basis dieses zugleich weit gefassten wie verbindlichen Textbegriffs sind es hierzulande – wenig überraschend – vor allem die kulturwissenschaftlich gewandelten Philologien, die in ihrer Forschungspraxis Weigels Idee eines topographical turn gefolgt sind.56 Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der Landkarte zuteil, die als Zeichenverbundsystem begriffen wird, das Raumordnungen herstellt. Die Landkarte aus Papier, die Rauminformationen graphisch konventionalisiert, speichert und transportabel macht, gilt seit der Frühen Neuzeit bis zum Ende des 20. Jahrhunderts (als die rechnergestützten Geographischen Informationssysteme an ihre Stelle zu treten begannen) als nachhaltigstes Ergebnis solcher kulturtechnischer Verfahren, mit deren Hilfe Raum in Text, in Lesbarkeit verwandelt werden konnte. Dabei erfordert die kulturwissenschaftliche Analyse von Karten eine doppelte Perspektive: zum einen auf die Karte als je historisches Datum, das nicht einfach einen Raum repräsentiert, sondern als „Raum der Repräsentation“57 die je historisch-spezifische Aufzeichnungsform räumlichen Wissens vorstellt; zum anderen auf das Handeln, das der Umgang mit Karten in Gang setzt, die Praxen der Lektüre dieses Zeichenverbundsystems, die gleichfalls in hohem Maße kulturtechnisch vermittelt sind. Hartmut Böhme spricht davon, dass der praktische Um-

53 54 55 56

Weigel: „Zum ‚topographical turn‘“, S. 160. Lotmann: „Über die Semiosphäre“. Vgl. Bachmann-Medick: Kultur als Text; Joachimsthaler: „Text und Raum“. Vgl. v.a. den voluminösen Band von Böhme: Topographien der Literatur. Vgl. auch Borsó/Görling: Kulturelle Topographien; Dünne u.a.: Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten; und zuletzt Stockhammer: Kartierung der Erde. 57 Siegert: „Repräsentationen diskursiver Räume: Einleitung“, S. 7.

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gang mit Karten eine dreifache Lesekompetenz erfordere58: (1.) die Fähigkeit, die a-perspektivische, zwei-dimensionale Topographie der Karte in ein räumliches Vorstellungsbild zu übersetzen; (2.) dieses Vorstellungsbild gegebenenfalls handlungspraktisch mit dem realen Umgebungsraum in Einklang zu bringen: Das erzeugt dann jene sonderbare deiktische Geste mit dem Finger auf der Karte, die von dem Satz: „Ich bin hier“ begleitet wird, so dass die angestammte Ortsungebundenheit der sprachlichen Deixis – angezeigt in den relationalen Zeigewörter wie „hier“ und „dort“ – für einen Moment suspendiert erscheint.59 Und (3.) sollte die kartographische Information in „leibliche Richtungsräumlichkeit“ übersetzt werden können, damit die Karte nicht nur ihrer Orientierungsfunktion gerecht wird, sondern auch eine zielführende Mobilisierung des Handelnden, der sie liest, ins Werk setzt. In diesem Sinne wären die Kartentexte immer auch als Performative zu verstehen, die einen bestimmten Aktionsraum erzeugen. Stellvertretend für diesen sehr ertragreichen Zweig des topographical turn – der kulturwissenschaftlichen Analyse von Karten – untersucht Jörg Dünne in seinem Beitrag für diesen Band die doppelte Operationalität von Karten in der Frühen Neuzeit: einerseits als Machttechnik des Wissens, die Raum beherrschbar macht; andererseits als ikonisch bzw. symbolisch kodierte Matrix des räumlich Imaginären. Trotz ihrer irreduziblen Differenz erzeugen diese beiden Artikulationsweisen des Raummediums Karte nur im Verbund die bis heute wirkmächtige Vorstellung des Territoriums. Am anderen Ende des Spektrums, innerhalb dessen Raum als lesbarer Text konzeptualisiert wird, ist der Beitrag der Filmwissenschaftlerin Giuliana Bruno angesiedelt. Sie parallelisiert die Rezeptionspraxen von uns als Kinogängern – unsere Wahrnehmung von der Graphie des Films – mit der Art und Weise, wie man ein architektonisches oder städtebauliches Ensemble liest: Beides – der Film wie die Architektur – wird gewissermaßen durchquert und erst im Vollzug dieser Passage lesbar. Die Engführung zweier Raumpraxen soll Architektur als diejenige Kunstform in den Vordergrund rücken, die dem Kino am nächsten steht. Bruno will so die Filmwissenschaft aus jahrzehntelanger literaturwissenschaftlicher Vormundschaft befreien. Diese Neuperspektivierung nennt sie zwar spatial turn, der Sache nach aber treibt sie das Raum-als-Text-Paradigma des kulturwissenschaftlichen topographical turn auf die Spitze, insofern nun auch der gebaute Umgebungsraum des Subjekts der lesbaren Topographie hinzugerechnet wird: Graphie zwar nicht im buchstäblichen Sinne verstanden als Schrift, sondern im Kontext von Architektur als überaus beständige, kulturell verbindliche „Kerbung“ des Raumes, durch die Handlungspotentialitäten codiert werden. So wie der gebaute Raum „Skripte und 58 Böhme: „Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie“, S. XIX. 59 Vgl. Stockhammer: TopoGraphien der Moderne, S. 13.

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Choreographien des Handelns“60 bereitstellt, produziert die Verlaufsform der kinematographischen Erfahrung gleichsam ein mentales Itinerar. Im Rahmen dieser kulturwissenschaftlichen Modellierungen des Gegenstands Raum bleibt noch die Frage zu klären, wie der topographical turn an humangeographische Forschungspraxis anschließt. Für die Literaturwissenschaften mag die Beschäftigung mit Karten den Charme des Neuen verströmen, für die Humangeographie sind solche Korpora je schon fachkonstitutiv. Der Humangeograph John Agnew hat zur Beobachtung dieses Verhältnisses eine Unterscheidung vorgeschlagen (die zwar ursprünglich auf das Verhältnis von Geographie und Sozialwissenschaft gemünzt war, sich aber mühelos auch auf das Raumdenken in den Kulturwissenschaften erweitern lässt): Die Modellierung des Forschungsgegenstands Raum außerhalb der Geographie erfolge entweder „implicitly geographical“ (der Normalfall, weil der Objektbereich Raum nun einmal nicht zu haben sei, ohne geographische Annahmen ins Spiel zu bringen, die dann aber nicht als solche gekennzeichnet werden) oder aber durch „explicit reference to geography“.61 Gemessen an dieser Unterscheidung (die auch als Skala darstellbar wäre), ist das kulturwissenschaftliche Raumdenken im Kontext des topographical turn noch immer eher auf der Seite „implicitly“ angesiedelt.

6 Im Raume lesen wir die Zeit: Die Popularisierung des spatial turn durch die Geschichtswissenschaft Anders die Geschichtswissenschaft, sofern sie sich dem spatial turn verschrieben hat. Sie geizt gerade nicht mit explizit fachgeographischen Referenzen. Wenn man nur den Eindruck von Zitierhäufigkeit zu Grunde legt, dann steht unter allen Disziplinen, die an der fächerübergreifenden Raumdebatte partizipieren, die Geschichtswissenschaft der humangeographischen Forschungstradition am nächsten. Dass die zeitgenössische Humangeographie hierzulande damit gleich ein doppeltes Problem hat, nämlich a) dass sie ihrerseits lieber von den Sozialwissenschaften beachtet sein möchte, und b) dass die Beachtung seitens der Geschichtswissenschaft tatsächlich eher die Traditionsbestände humangeographischer Forschung meint als den vermeintlichen state-of-the-art – sei hier vorläufig außer acht gelassen.

60 Böhme: „Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie“, S. XIV. 61 Agnew: „The Hidden Geographies of Social Science and the Myth of the ‚Geographical Turn‘“, S. 379.

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Natürlich ist Zitierhäufigkeit allein als Indiz für Fächerkoalitionen selber ein fragwürdiges Kriterium. Denn ein Gutteil der explizit fachgeographischen Referenzen in der spatial-turn-Diskussion innerhalb der Geschichtswissenschaft geht auf ein einzelnes Werk zurück, das seinerseits häufig zitiert wird, und das sogar außerwissenschaftlich – auf dem Sachbuchmarkt – einige Beachtung gefunden hat: Das Buch Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, das der Osteuropahistoriker Karl Schlögel 2003 veröffentlicht hat.62 Es hat innerhalb wie auch jenseits der Geschichtswissenschaft die Frage nach einem spatial turn regelrecht popularisiert. Dabei erhebt es – vielleicht ist auch das kennzeichnend für die Debatte um den spatial turn – zunächst gar keinen systematischen Anspruch, weist ihn sogar nicht ohne Koketterie zurück („Wer will, kann das als spatial turn bezeichnen […]“63), um sich vielmehr ganz der Überzeugungskraft seiner historiographischen Narration anzuvertrauen. Der anstößige Begriff Narration ist hier ganz bewusst gewählt, weil er sich erklärtermaßen mit den Ansprüchen des Verfassers deckt, dem als erwünschtem Kollateraleffekt des spatial turn vor allem eine „Erneuerung der geschichtlichen Erzählung selbst“64 am Herzen liegt. Als regulative Idee schwebt ihm ein zeitgemäßes Substitut für die „Große Erzählung“ vor. Gegen Ende des Buches spricht er „die Frage nach der Möglichkeit einer Großen Erzählung nach dem Ende der Großen Erzählung“65 ausdrücklich an. Schlögels Darstellungsprinzip ist nicht die kohärente Narration, vielmehr ein Mosaik aus knapp fünfzig Einzelstudien, die – locker sortiert entlang thematischer Längsschnitte wie „Kartenlesen“, „Augenarbeit“ oder „Europa diaphan“ – die Wiederkehr des Raumes in die Geschichtswissenschaft gewissermaßen vor Ort behandeln; die am historischen Material selbst die unauflösliche Einheit von Geschehen, Zeit und Raum gleichermaßen entfalten sollen. Geschichte hat – neben ihrem zeitlichen Index – immer auch ihren Schauplatz („History takes place“), so Schlögels Credo, deshalb sei jede historiographische Darstellung defizitär, die nicht auch die je historisch-konkrete Ortsverhaftung des zu rekonstruierenden Geschehens mitexpliziere. Auch Schlögel studiert Karten, z.B. diejenigen, die die Juden des Ghettos von Kowno ab 1941 heimlich als Dokumentation ihres eigenen Untergangs produzierten; er stellt den „Philo-Atlas“ vor, einen Auswanderungs-Ratgeber für jüdische Emigranten 1938, der die Karte der Welt an Zufluchtsorten ausrichtet – für Schlögel so etwas wie ein „Baedeker der Flucht“66; er zeigt am Beispiel der Belagerung Sarajevos 1994-98, wie in Bürgerkriegssituationen – bei etwa gleich verteilter Orts- und Geländekenntnis – sich ganz unterschiedli62 63 64 65 66

Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Ebd., S. 12. Ebd. Ebd., S. 503. Ebd., S. 127.

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che mental maps in den Köpfen von Belagerern und Belagerten ausprägen. Er will die Augensinne des Historikers schärfen zur Wahrnehmung ephemerer Oberflächenphänomene, die eine historische Schichtung zu erkennen geben könnten. So liest er die Spuren in den Pflastersteinen der Trottoirs großer Städte als „Gravierung der longue durée“67. Und im Berliner Adressbuch von 1932 erkennt er ein ortsspezifisches „Dokument der Gleichzeitigkeit“, in dem sich „Menschenlandschaften“ abbilden.68 Methodisch renobilitiert er die praktische Ortskunde, den Spaziergang, die Exkursion ins Feld als Ergänzung (und Fortführung) des Quellenstudiums: „Hinab vom Hochsitz der Lektüre“ – so hat der Historikerkollege Jürgen Osterhammel seine Rezension von Schlögels Buch überschrieben.69 Den Schulterschluss mit der Geographie vollzieht Schlögel auf doppelte Weise: Zum einen lobt er ausgiebig die Schriften der anglo-amerikanischen New Cultural Geography, die er als wesentliche Inspirationsquelle seiner Wiederentdeckung des Raumes für die Geschichtswissenschaft namhaft macht (Edward W. Soja, Derek Gregory, Denis Cosgrove u.v.a). Neben der Popularisierung des spatial turn hat Schlögels Buch auch stark zur Verbreitung dieser geographischen Forschungsrichtung außerhalb der Geographie beigetragen.70 Zum anderen besitzt Schlögel die souveräne Unverschämtheit des geographiehistorischen Eklektikers, aus der deutschen Tradition sich ausgerechnet Friedrich Ratzel als Gewährsmann zu wählen – den von der Fachgeschichtsschreibung gründlich diskreditierten Anthropogeographen, den Schlögel als letzten Ausläufer einer hermeneutischen Traditionslinie innerhalb der deutschen Fachgeographie feiert, die bis zu Carl Ritter zurückreiche und nur deshalb in Vergessenheit geraten konnte, weil sie durch Haushofer und die nationalsozialistische Geopolitik instrumentalisiert worden war. Hier genau liegt das mittlerweile vielfach geäußerte Unbehagen der deutschsprachigen Humangeographie gegenüber dieser Umarmung von historiographischer Seite begründet: ein spatial turn à la Schlögel mag vielleicht geographisches Denken popularisieren, aber genau das falsche.71 Er wiederbelebt die erfolgreich zu Grabe getragene Vorstellung des Geographen als Kulturmorphologen und Landschaftsbetrachter und wirft die geographische Fachdiskussion auf ein Stadium zurück, das man vor mehr als dreißig Jahren (mit dem Ende des Landschaftsparadigmas) 67 68 69 70

Ebd., S. 279. Ebd., S. 329. Osterhammel: „Hinab vom Hochsitz der Lektüre“. Demgegenüber blieb der von deutschen Humangeographen als Gesprächsangebot konzipierte Band von Gebhardt u.a.: Kulturgeographie, der – parallel zu Schlögels Im Raume lesen wir die Zeit – den Anschluss der deutschen Kulturgeographie an die Diskussionen innerhalb der New Cultural Geography dokumentieren sollte und sich ausdrücklich auch an die kulturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen wendete, vergleichsweise resonanzarm. 71 Vgl. z.B. den Beitrag von Werlen in diesem Band.

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glücklich hinter sich gelassen zu haben glaubte.72 Schlögel wird von den deutschen Humangeographen im übrigen bislang heftiger gescholten als die kulturwissenschaftlichen Raumleser des topographical turn, dabei lassen sich forschungspraktisch nicht viele Differenzen ausmachen: beide Spielarten sind – wie gesehen – deutlich dem Raum-als-Text-Paradigma verhaftet. Das Schlögel-Bashing liegt vordergründig sicher daran, dass Schlögel in seiner Begründung eines historiographischen spatial turn die Geographen ausdrücklich adressiert (Agnews „explicit reference“). Vielleicht aber hat es auch damit zu tun, dass Schlögel den deutschen Humangeographen auf besonders schmerzhafte Weise vor Augen führt, dass (1.) die Geographen selber für das Raum-als-Text-Paradigma mithaften, und (2.) Potentiale zur Popularisierung geographischen Denkens offenbar eher in überkommenen Beständen der Fachtradition auszumachen sind als in der zeitgenössischen Forschungspraxis. Es soll hier nicht verschwiegen werden, dass Schlögels Versuch, Ratzels Anthropogeographie methodisch mit Walter Benjamins Passagenwerk engzuführen, auch innerhalb der Geschichtswissenschaft einigermaßen singulär geblieben ist. Niemand hingegen bestreitet Schlögels Rolle als Impulsgeber für die spatial-turn-Debatte. Der Beitrag von Matthias Middell in diesem Band führt den Erfolg von Schlögels Buch unter anderem auf den Umstand zurück, dass es „auf plausible Weise die Vorzüge des Erschleichens geographischer Diskussionsbestände“ darbiete. Damit mache Schlögel immerhin eine lange verdrängte Tradition der Beziehung von Geographie und Geschichte wieder kenntlich.73 72 Vgl. den Beitrag von Hard in diesem Band. 73 Vgl. den Beitrag von Middell in diesem Band. Was mit „Erschleichen“ noch gemeint sein könnte (obwohl Middell davon nicht spricht): Den nicht nur eklektischen, mitunter auch eigenwilligen Umgang Schlögels mit den geographischen Diskussionsbeständen, mag ein kleines textkritisches Detail verdeutlichen. Das Ratzel-Zitat, das Schlögels Buch zu seinem schönen programmatischen Titel verhalf, hat Schlögel an keiner Stelle wörtlich nachgewiesen. Seine Karriere in der spatial-turn-Diskussion hat das geflügelte Wort seither als unbelegtes angetreten. Viele Historiker übernehmen es, auch bei den Geographen kursiert es bislang nur als Schlögel-Referenz. Wo es zu finden sein könnte, darüber gibt bislang nur der legendäre Zettelkasten von Hans-Dietrich Schultz, dem Polyhistor der deutschen Geographiegeschichte, Auskunft. (Die Rückfrage bei Schlögel blieb ergebnislos.) Und diese Auskunft überrascht: Nachweisen konnte Schultz nicht etwa den klangvollen Wortlaut „Im Raume lesen wir die Zeit“, sondern zugespitzt gesagt – eine Prosavariante des Satzes. Bei Ratzel steht: „Wir lesen im Raum die Zeit“ (Ratzel: „Geschichte, Völkerkunde und historische Perspektive“, S. 28). Ganz so jambisch-beschwingt wie der Buchtitel klingt das Originalzitat nicht. Eine minimale Retouche, um Ratzel coverfähig zu machen? Solange der Buchtitel tatsächlich nicht als wörtliches Zitat nachweisbar ist, kann der Eindruck entstehen, dass Schlögel u.a. auch ein ästhetisches Verhältnis zur Geographiegeschichte unterhält. (Ein herzlicher Dank an Hans-Dietrich Schultz, HU Berlin.)

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Die Gründe jedenfalls, die Schlögel für die Wiederkehr des Raumes in die Geschichtswissenschaft geltend macht, werden auch von anderen Historikern im Umkreis der spatial-turn-Diskussion geteilt: 1. der Zweifel an der lange unangefochtenen Privilegierung der Zeit gegenüber dem Raum im Kategoriengefüge der Historiker, die als spätes Erbe des Historismus erkannt wird, insofern der „klassische Historismus Geschichte als die Entfaltung menschlichen Wollens in der Zeit“ verstand und jegliche „Vorstellung einer Begrenzung oder gar Determinierung des Handelns der Akteure durch Natur und Umwelt“ strikt ablehnte74. 2. die Globalisierungserfahrungen, die das Modernisierungsparadigma in eine Krise gestürzt haben, insofern Konstellationen eines räumlichen Nebeneinander sich nicht mehr länger durch ein hierarchisches Verhältnis von „fortschrittlich“ oder „rückständig“ beschreiben lassen. Die Transnationalisierung der Geschichtsschreibung schärft den Blick auch für die Historizität (und Kontingenz) von Territorialitätsregimen75 wie beispielsweise dem Nationalstaat, der im Zusammenhang mit dem Modernisierungsparadigma lange Zeit als das scheinbar konkurrenzlose Raummaß für die Historiker angesehen wurde.76 3. ein wieder erwachtes geschichtswissenschaftliches Interesse am geographischen Materialismus. „Doch hart im Raum stoßen sich die Sachen“, zitiert Schlögel Schiller77. Schlögels Interesse am geographischen Materialismus – gemäß seinem Darstellungsziel der neuen „Großen Erzählung“ – ist dominant ereignisgeschichtlich motiviert („Lehrstück II Ground Zero“78). Aber auch die internationale Geschichte revitalisiert behutsam den Begriff der „relativen geographischen Lage“ als Restriktion oder Kondition (nicht Determinierung) für politisches Handeln.79 Gerade auch die Relativierung des Nationalstaats 74 Osterhammel: „Die Wiederkehr des Raumes“, S. 374. Lange vor den Debatten um den spatial turn hat bereits Koselleck auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht. Vgl. auch Koselleck: „Raum und Geschichte“, S. 81f. 75 Vgl. den Beitrag von Middell in diesem Band. 76 Vgl. Brenner: „Beyond State-centrism“. 77 Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S. 11f. 78 „Der 11. September 2001 hat uns an einen Raum erinnert, den wir längst vergessen hatten, dessen Bewältigung aber zu den Voraussetzungen unserer Zivilisation gehört […] Wir werden daran erinnert, dass nicht alles Medium und Simulation ist, dass Körper zermalmt und Häuser zerstört werden, nicht nur Symbole; wir nehmen zur Kenntnis, dass es Ozeane gibt und dass es nicht gleichgültig ist, ob ein Land von Ozeanen umgeben ist oder nicht; […].“ (Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S. 30f.) 79 „Staaten sind im Raum positioniert und durch Entfernungen voneinander getrennt. Die relative geographische Lage bestimmt politische Handlungsmöglichkeiten, keineswegs aber auf eine monokausale Weise, sie ist kein Schicksal der Nationen, weist aber Chancen und Beschränkungen zu.“ (Osterhammel: „Raumbeziehungen“, S. 288.)

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als Raummaß, die von der transnationalen Geschichtsschreibung angestoßen wird, lässt die ältere geohistorische Frage nach dem Anteil geographischer Bedingungen an den Strukturen der „longue durée“ wieder dringlich erscheinen, eben weil sie neue Raumtypen sichtbar macht, an denen sich transnationale Verflechtungsgeschichten explizieren lassen.80 In bezug auf diese dritte Begründungsfigur zur Erklärung des spatial turn in der Geschichtswissenschaft bildet der Beitrag von Eric Piltz in diesem Band eine interessante fachinterne Kontroverse ab: Während Schlögel, Osterhammel und andere die jüngste Enttabuisierung eines moderaten geographischen Materialismus als Beobachtungsgewinn einschätzen, will Piltz die Géohistoire Braudels als Referenz für den gegenwärtigen geschichtswissenschaftlichen spatial turn nur bedingt gelten lassen. Die Geohistorie alten Typs bleibe den geographischen Konditionen des Raumes gewogener als den kulturellen Praktiken seiner Aneignung und Umnutzung – kurzum: gerade den nicht-materiellen Prägefaktoren des Raumes, der in seinem sozialen Gemacht-Sein fokussiert wird. Darin sieht Piltz den eigentlichen Erkenntnisnutzen einer spatial-turn-Perspektive.

7 Die Persistenz des Raumes: Macht der spatial turn selbst vor der Systemtheorie nicht halt? Auf der Agnew-Skala tendierte die Soziologie lange Zeit entschieden in Richtung des Pols: „implicit reference to geography“. Manche Autoren gehen noch weiter und behaupten: der Nachweis von „no reference“ sei fachgeschichtlich geradezu gründungskonstitutiv gewesen. Um die Autonomie des Sozialen unter Beweis zu stellen, soll das Soziale von jeder möglichen Determination durch Biologie, vor allem aber auch durch Raum abgelöst gedacht werden können.81 Wenn die räumlichen Bezüge des Handelns doch einmal thematisch wurden (wie in Simmels „Soziologie des Raumes“), dann durfte „Raum“ keinesfalls der Status einer erklärenden Variable zugeschrieben werden.82 In der Frühzeit der Soziologie sollte damit die Differenz gegenüber der anthropogeographischen Rede von der „Macht des Raumes“ markiert werden. Durch die forcierte Arbeitsteilung konnten fortan auch alle Probleme mit dem ontologischen Status des Raumbegriffs (welcher Raum ist gemeint: der Boden/die Erdoberfläche,

80 Vgl. Horden/Purcell: The Corrupting Sea. 81 Vgl. Stichweh: „Raum und moderne Gesellschaft“, S. 93f. 82 Vgl. den Beitrag von Schroer in diesem Band.

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Raum als Öko-System, Raum als Vorstellungsbild, „Raum“ als Metapher für soziale Positionen?83) auf die Fachgeographen abgewälzt werden. Wenn auch spätestens seit Goffmann, Giddens und Bourdieu nicht mehr ernsthaft von einer „Raumvergessenheit“ der Soziologie84 gesprochen werden kann, fällt dennoch auf, dass die seit den 80er Jahren beobachtbare Versozialwissenschaftlichung der Humangeographie (z.B. in Gestalt der Sozialgeographie Benno Werlens85) von Seiten der Soziologie nur merkwürdig implizit zur Kenntnis genommen wurde. So behauptete Stichweh noch 2003, dass „es keine signifikante Episode in der Geschichte soziologischen Denkens zu geben scheint, in der die Geographie ein bedeutsamer Kontaktpartner und Konkurrent war.“86 Beide Befunde: ein neu erwachtes Interesse der Soziologie an Fragen des Raumes und zugleich die offenbar nur schwer irritierbare Indifferenz gegenüber dem sozialgeographischen Gesprächsangebot bestätigen sich anhand Martina Löws Raumsoziologie von 2001: einerseits die wenn nicht Gründungsschrift, so doch das bis heute am meisten beachtete Buch zur „Raumwende“ innerhalb der jüngeren Soziologie; andererseits finden sich darin kaum explizit geographische Referenzen, obwohl Werlens Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen dazu reichlich Anlass geboten hätte.87 Bei allen (teils gravierenden) Differenzen im Detail88, soll an dieser Stelle nur von der geteilten Basisannahme die Rede sein: Beide, Löw wie Werlen, eint die handlungstheoretische Fundierung, die einen relational konzipierten Raumbegriff erforderlich macht. Beide verabschieden sich von der Vorstellung eines Behälterraumes als vorausgesetzter Umwelt des Handelns, stattdessen fokussieren sie das soziale Gemacht-sein von Räumen. Bei Löw wird diese Raumproduktion „Beziehungsraum“ bzw. „Spacing und Syntheseleistung“89 genannt, bei Werlen „alltägliches Geographie83 84 85 86 87 88

Vgl. Hard/Bartels: „Eine ‚Raum‘-Klärung für aufgeweckte Studenten“, S. 16. Vgl. Werlen/Reutlinger: „Sozialgeographie“, S. 50. Werlen: Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen, Bd. 1 u. 2. Stichweh: „Raum und moderne Gesellschaft“, S. 94. Werlen: Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen, Bd. 1 u. 2. Die – in dem Maße, in dem die handlungstheoretisch orientierte Raumsoziologie das Gesprächsangebot der Sozialgeographie weiterhin nur halbherzig annimmt – immer deutlicher herausgearbeitet werden. 2005 noch gab Werlen sich zuversichtlich, die Sozialgeographie werde „zu einem wichtigen Informationsort für die sozialwissenschaftlichen Fragehorizonte, die sich seit der ‚Neuentdeckung‘ des Raumes für die Sozialtheorie öffnen“ (Werlen/ Reutlinger: „Sozialgeographie“, S. 50). Namentlich war hier Löw genannt. Mittlerweile grenzt er seine Sozialgeographie von der Raumsoziologie strikt ab, weil Löw nicht konsequent genug handlungstheoretisch verfahre und deshalb in altgeographischen Irrtümern über den Raumbegriff befangen bleibe. Mit anderen Worten: Die Sozialgeographie beachte unterdessen die soziologischen Standards besser als die Soziologie selbst. Vgl. den Beitrag von Werlen in diesem Band. 89 Löw: Raumsoziologie, S. 158ff.

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Machen“ bzw. Raum „als Ergebnis und Mittel von handlungsspezifischen Konstitutionsprozessen“.90 Es kennzeichnet interessanterweise beide in diesem Band vertretenen soziologischen Beiträge, dass sie das tacit agreement , das zwischen Löws Raumsoziologie und der „raumorientierten Handlungswissenschaft“ (wie Werlen seine Sozialgeographie verstanden wissen will) besteht, nämlich: Raum relational zu konzipieren, nicht uneingeschränkt teilen: Markus Schroer spricht von der Gefahr eines gewissermaßen handlungsemphatischen „Raumvoluntarismus“91, die durch die Verabsolutierung eines relationalen Raumverständnisses gegeben sein könnte – so als ob, nur weil jeder Raum sozial erzeugt ist, wir auch jeden Raum sozial erzeugen könnten. Dem stünde in vielen sozialen Kontexten die Ohnmachtserfahrung entgegen, in einem „Machtbehälter“-Raum92 befangen zu sein (Schule, Militär, Lager), in dem das „Spacing“ keine lustvolle Raumaneignung vorstellt, sondern in dem wir platziert werden. Damit wird der Raum zwar nicht im ontologischen Sinne in den Container-Raum zurückverwandelt, aber ein Sprecher, der diese Erfahrung explizierte, würde sich dieser Container-Semantik gegebenenfalls bedienen. Mit dem Begriff des „Raumvoluntarismus“ wird jedenfalls das relationale Raumverständnis Löws als Hyperkorrektur des alten Raumdeterminismus qualifiziert: „Die kommunikative Herstellung eines sozialen Raums muss nicht, kann aber ein ganz bestimmtes raumphysikalisches Substrat erzeugen, und von diesem materiellen Raum gehen ganz bestimmte soziale Wirkungen aus […] Diese materielle Seite des Raums darf in einer soziologischen Raumanalyse nicht unberücksichtigt bleiben, wenn man sich nicht allein auf die soziale Herstellung des Raums kaprizieren will. Es geht nicht nur darum zu sehen, wie der Raum sozial hergestellt wird, sondern auch darum zu berücksichtigen, was der Raum selbst vorgibt. Das hat nun nichts mit Raumdeterminismus zu tun, sondern damit, dass räumliche Arrangements nicht ohne Wirkung auf unser Verhalten bleiben. Die Fülle möglicher Verhaltensweisen wird durch Raum selektiert und damit Kontingenz bewältigt.“93

Auch hier ist also – ähnlich wie schon bei den Historikern – eine vorsichtige Rehabilitierung des geographischen Materialismus zu beobachten (hier allerdings als neuerliche Wendung im Vollzug des soziologischen spatial turn). Schroer scheut sich nicht, von der „Persistenz“94 des physisch-materiellen Raumes zu sprechen, die die Soziologie zur Kenntnis zu nehmen hätte. Damit wären wir dann – makrosoziologisch betrachtet –

90 91 92 93 94

Werlen/Reutlinger: „Sozialgeographie“, S. 49. Schroer: Räume, Orte, Grenzen, S. 175. Vgl. Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft, S. 189. Schroer: Räume, Orte, Grenzen, S. 177f. Vgl. den Beitrag von Schroer in diesem Band.

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wiederum nicht weit entfernt von der „relativen geographischen Lage“ der Geopolitik und deren Umweltrestriktionen. Das allein wäre für einen aufgeklärten Sozialgeographen schon schwer genug zu ertragen (wie wir noch sehen werden95). Was aber, wenn auch noch die Systemtheorie – zu Luhmanns Lebzeiten in dem Ruf stehend, der Garant eines strikt raumabstinenten gesellschaftstheoretischen Denkens zu sein – in ihrer zeitgenössischen Variante Raum als konditionierendem Faktor der Form von Sozialsystemen das Einfallstor öffnet? Auch wenn dieser theoriebautechnische Zug des Luhmann-Schülers Rudolf Stichweh noch nicht von allen Systemtheoretikern mitvollzogen wird, ist es verführerisch, ihn symptomal dem sozialwissenschaftlichen spatial turn zuzuschlagen (obwohl Stichweh ein solch pompöses Wort niemals als Selbstbeschreibungsformel verwenden würde). Stichweh gestattet der Systemtheorie, räumlichen Differenzen in der Umwelt der Gesellschaft kausale Bedeutung für Sozialsysteme zuzuschreiben, was die für Luhmann noch unantastbare Unterscheidung von Umwelt und Gesellschaft (im Medium Sinn operierende soziale Systeme, für die Raum als Umweltphänomen gerade nicht als grenzbestimmend angesehen werden darf) in Frage stellt: „Das Vorhandensein einer Küstenlinie, die Bedeutung eines Gebirgsriegels, Nord-Süd- oder Ost-West-Erstreckungen von Kontinenten und die damit zusammenhängende Frage nach der Sequenz von Vegetationszonen – Phänomene diesen Typs muß eine Ökologie sozialer Systeme analytisch einzubauen imstande sein, und dabei hilft der unbestreitbare Befund der Autonomie der Grenzbildung sozialer Systeme wenig. Die Soziologie wird in diesem Zusammenhang ihr von Simmel bis Luhmann scheinbar gesichertes Dogma der Abhängigkeit der kausalen Wirkung des Raumes von kommunikativen Operationen seiner Definition oder Bestimmung aufgeben müssen. Viele der kausalen Wirkungen räumlicher Unterschiede sind unabhängig davon, ob die Gesellschaft von ihnen weiß und ihnen über Themen der Kommunikation Wirksamkeit verleiht.“96

Auch in der systemtheoretischen Variante gilt der spatial turn als Rehabilitierung eines moderaten geographischen Materialismus – und wurde in dieser Version schon 1998 vorgetragen. Der Beitrag von Rudolf Stichweh für diesen Band besteht nun in einer kybernetischen Reformulierung der Vorstellung von den kausalen Wirkungen z.B. einer Küstenlinie auf ein Sozialsystem, die die determinierende Kraft der Raumwirkungen durch das Instrument der Kontrolle gleichsam ausbalancieren soll. Dem Raum wird zwar weiterhin unhintergehbar konditionale Relevanz für die Gesellschaft zugesprochen, er restringiert die Form von Sozialsystemen, aber Kommunikation, Information und Sinn gelten nun als jene Größen, denen 95 Vgl. die Beiträge von Hard, Redepenning, Lippuner, Werlen in diesem Band. 96 Stichweh: „Raum, Region und Stadt in der Systemtheorie“, S. 192.

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in der soziokulturellen Evolution zunehmend die Kontrolle räumlicher Konditionen gelingt. Mit diesem Evolutionsversprechen steigender Kontrolle fällt die Anerkennung räumlicher Konditionen für Sozialsysteme umso leichter, denn das potentiell Bedrohliche an den kausalen Wirkungen räumlicher Unterschiede, von denen die Kommunikation nichts ahnt – in dem Zitat von 1998 schwingt es noch mit – scheint gebannt, weil im Schwinden begriffen. Wir haben es hier offenbar mit einer Variante des spatial turn zu tun, die den Raum theoriebautechnisch aufwertet, um damit die „Überwindung des Raumes“ durch gesteigerte Kontrolle besser erklären zu können. Noch einen Schritt weiter im material thinking geht man in den Medienwissenschaften.

8 Der Geocode der Medien: Real Virtuality statt Virtual Reality? In fast allen medienwissenschaftlichen Teildisziplinen scheint derzeit ein spatial turn Einzug zu halten: Sei es in Form der Rekonzeptualisierung des musikalischen Aufführungsortes als Folge der Krise in der Musikindustrie,97 in Form der Reterritorialisierung der Netzkunst durch „Locative Media Art“98 oder in Form der verschiedenen neuen geomedialen Gegenstandsbereiche, wie Geospatial Web, Geosurveillance, Geocaching oder Geotainment.99 Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, dass die jeweilige räumliche Hinwendung einen längeren medienhistorischen Vorlauf vorzuweisen hat. So lässt sich beispielsweise der von Julian Kücklich ausgerufene spatial turn in den videogame studies bereits seit der für das Fach frühen Diskussion (1995) um das räumliche Narrativ und die cognitive mappings bei Nintendo-Spielen nachzeichnen.100 Oder müsste man den spatial turn, das gesamte Feld der Medienwissenschaft betrachtend, nicht noch wesentlich früher datieren? Dieser Frage trägt Niels Werber in seinem Beitrag Rechnung, indem er in seiner Suche nach einem genuinen „Geocode der Medien“ aufzeigt, dass der aus Marshall McLuhans Medientheorie erwachsende spatial turn die

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„Früher ging man auf Tour, um die Alben-Verkäufe anzukurbeln. Heute macht man ein Album, um einen Grund zu haben, auf Tour gehen zu können.“ (Hans Niewandt in: Kulturzeit, 3sat-Sendung vom 20. August 2007.) 98 Vgl. Tuters/Varnelis: „Beyond Locative Media“. 99 Vgl. Scharl/Tochtermann: The Geospatial Web; Sui: Geosurveillance; „Geotainment – Geoinformation für interaktive Medien und Computerspiele“, Symposion des Kompetenznetzwerks Geoinformationswirtschaft und des Hasso-Plattner-Insituts der Universität Potsdam vom 3. Mai 2007. 100 Vgl. Kücklich: „Perspectives of Computer Game Philology“; Fuller/ Jenkins: „Nintendo and New World Travel Writing“.

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Folge einer Semantik ist, die Beschreibungen von Medien produziert und nicht allein von den Medien selbst hervorgerufen wurde. Werber weist dies anhand des Begriffs der Netzwerkgesellschaft nach, der je nach Beschreibungssemantik völlig unterschiedliche räumliche Konzepte impliziert: das der Territorialisierung bei Michael Geistbeck und Carl Schmitt, das der Deterritorialisierung bei Michael Hardt und Antonio Negri, das der Heterotopisierung bei Hartmut Böhme. „Medien werden so mit einem sozialen bias ausgestattet“101, so der Bochumer Literatur- und Medienwissenschaftler. Werber bezweifelt zwar nicht, dass gerade Medientechniken die soziale Evolution vorangetrieben und das gesellschaftliche Verhältnis zum Raum verändert haben; er stellt allerdings die Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft an den Anfang seiner Überlegungen und fragt von dort aus, welche Medien wie benutzt werden und welchen Geocode sie dabei implementieren. Es geht ihm also um einen semantischen statt eines medialen bias der Codierung des Raums. Marshall McLuhan ist dabei ein gutes Beispiel dafür, dass in ein und derselben Medientheorie auch ganz unterschiedliche Selbstbeschreibungssemantiken aktiviert werden können. Denn die „neue Welt des globalen Dorfes“ entstand aus heutiger Sicht betrachtet vielleicht nur in einem ersten Zwischenschritt aus der „Aufhebung des Raumes“ durch elektronische Medien102 – und hier insbesondere durch Telstar, den ersten zivilen Kommunikationssatelliten, der das globale Dorf im wahrsten Sinne erst anschaulich machte.103 50 Jahre nach dem Sputnik-Schock, Jahrzehnte nach den ersten Wetter-, Kommunikations- und Spionagesatelliten tritt erst jetzt die mediale Materialität der Satellitentechnologie allmählich ins kulturelle Bewusstsein, wird deutlich, dass sie nur mittelbar zur Überwindung des Raums als vielmehr zur Ortung des eigenen Selbst dient.104 Es ist dies die uralte 101 Vgl. den Beitrag von Werber in diesem Band. 102 McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 97, 99. Der Telstar-Satellit steht bei McLuhan neben dem elektrisch-mechanischen Medium Film und dem Fliegen als Transportmedium als Sinnbild für das elektronische Medium überhaupt: „Der Familienkreis hat sich erweitert. Der weltweite Informationswirbel, den die elektrischen Medien – der Film, Telstar, das Fliegen – erzeugt haben, übertrifft bei weitem jedwelchen Einfluß, den Mutti und Vati heute ausüben können. Der Charakter wird nicht mehr allein von zwei ernsthaften, linkischen Experten geformt. Nun bildet ihn die ganze Welt.“ (McLuhan/Fiore: Das Medium ist Massage, S. 14.) 103 Vgl. Moody: The Children of Telstar. Über den Fernmeldesatelliten Telstar I wird am 23. Juli 1962 erstmals eine Live-Fernsehsendung aus den USA in das Eurovisionsnetz übertragen. „When Telstar beamed pictures of a fluttering American flag from Maine to Europe that day, it extended the reach of television, like a ‚hello‘ to the global village that McLuhan had envisioned.“ (Ebd., S. 18.) 104 Vgl. Parks: Cultures in Orbit. Zur Materialität des Telstar-Satelliten vgl. Oakley: Project Telstar, S. 63: Demnach dienten 93 Prozent der verbauten Halbleiterelemente der Telemetrie und Navigation. Nur 7 Prozent der

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Orientierung an Himmelskörpern und Sternbildern, die heute durch das Global Positioning System (GPS) perfektioniert wurde.105 Denn neben der time-space compression liefert dieses Medium vor allem einen „Modus der Erkenntnis, der auf Entfernung beruht“106. Damit ist es nicht mehr nur Werkzeug, sondern eine Weise der Welterzeugung.107 Mehr als eine einzelne Technologie, wie etwa die satellitengestützte Nachrichtenübertragung, ist erst das gesamte „Large Technological System“ in der Lage, eine mythologische Struktur zu erzeugen und dadurch wiederum weiteres Systemwachstum zu generieren.108 Erst durch den Satellitenblick konnte sich eine globale Geo-Forschung entwickeln, war der Klimawandel darstellbar und validierbar, entstand in den 1970er Jahren ein neues ökologisches Bewusstsein. Durch die mit dem Bild vom blauen Planeten verbundene Vorstellung globaler Interdependenz wurde überhaupt erst der Legitimationsrahmen für interdisziplinäre EcoscienceForschung geschaffen.109 „Seit den frühen sechziger Jahren ist […] eine umgekehrte Astronomie entstanden, die nicht mehr den Blick vom Erdboden zum Himmel richtet, sondern einen Blick vom Weltraum aus auf die Erde wirft.“110

Wir haben es ganz im Sinne des Wissenschaftshistorikers Thomas Samuel Kuhn mit einem Paradigmenwechsel in der Geschichte der menschlichen Selbstwahrnehmung zu tun.111 So wie der neuzeitliche Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild durch Kopernikus’ „De Revolutionibus Orbium Coelestium“ mehr als 200 Jahre später zu einer „kopernikanischen Wende“ in der Erkenntnistheorie führte, hat die Satellitentechnologie eine „kopernikanische Revolution des Blicks“112 ermöglicht, die sich heute in einem spatial turn der Medienwissenschaft manifestiert. Bereits McLuhans Understanding Media, dessen Erfolg in den Kulturwissenschaften einen spatial turn überhaupt erst notwendig machte, war von der All-Bringung des Telstar-Satelliten 1962 geprägt.113 In seinem

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Rechenleistung des Telstar I waren für die „eigentliche“ Funktion, die Kommunikationsübertragung, bestimmt. Vgl. Thielmann: „Der ETAK Navigator“, S. 202ff. Sachs: „Satellitenblick“, S. 319. Vgl. Krämer: „Das Medium als Spur und als Apparat“ sowie den Beitrag von Dünne in diesem Band. Vgl. Hughes: Networks of Power. Vgl. Sachs: „Satellitenblick“, S. 328ff. Sloterdijk: Versprechen auf Deutsch, S. 57. Vgl. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Sloterdijk: Versprechen auf Deutsch, S. 57. Das als Mediengegenwartsbeschreibung konzipierte Understanding Media betrachtete dabei das „Pfingstwunder weltweiter Verständigung und Einheit“ durchaus nicht als technische Segnung. Im Gegenteil, McLuhan bedenkt es mit beißendem Spott: „Der Zustand der ‚Schwerelosigkeit‘ […]

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1964 erschienen zentralen Werk hat McLuhan mit Verweis auf die Satellitentechnologie erstmals Medien als Extension des menschlichen Körpers, ja als „Ausweitung unseres Nervensystems“ beschrieben: „Eine so starke, neue Intensität der Nähe, wie sie Telstar zwangsläufig bringt, verlangt eine grundlegende Umgruppierung aller Organe […].“114 Medienwissenschaft war demnach schon immer „space-biased“,115 angefangen von den Äthertheorien eines urgründigen Weltmediums über die Magischen Kanäle bis hin zu Google Earth.116 Doch erst allmählich scheint sich diese Lesart durchzusetzen. Ein exponierter Vertreter einer kybernetischen Medienanthropologie, der schon früh eine „Renaissance der Nahwelt“ durch die CyberModerne proklamierte,117 ist Manfred Faßler. In seinem Entwurf eines „Cybernetic Localism“ wendet sich Faßler strikt gegen McLuhans These. Statt als „extension of man“118 betrachtet er die räumliche Modellbildung als Key Virtual. Der durch Vernetzung verschwundene territoriale Raumbezug kehrt demnach mit dem spatial turn als Community-Raum, als kollaborative Verräumlichung zurück. Raum wird zum Schaltungsversprechen: „Media-Community-Space is the Message.“119 Software ist hier wie auch bei dem britischen Geographen Nigel Thrift eine neue Form des Menschseins, eine „extension of human spaces“120. Beide zählen in ihrer jeweiligen Disziplin zu den Vertretern, die den paradigmatischen Wandel von der Virtual Reality zur Real Virtuality bereits vollzogen haben, allerdings in ganz unterschiedlicher Weise: Während Faßler sich auf die Suche nach der Remediatisierung der ortsbasierten sozialen Welt im Cyberspace macht, untersucht Thrift umgekehrt die Respatialisierung von Akteuren in/durch/mittels Medien. Dennoch ist beiden Texten inhärent, was konstitutiv für eine space-biased Medienwissenschaft sein sollte: dass „code/space“121 – Raummedien wie auch Medienräume – nicht-deterministisch und nicht-universell, sondern ständig vor Ort im Werden begriffen sind.

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findet vielleicht eine Parallele im Zustand der ‚Sprachlosigkeit‘, der der menschlichen Gesellschaft immerwährende Harmonie und ewigen Frieden bringen könnte.“ (McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 86.) Ebd., S. 104. Vgl. hierzu insbesondere Innis: The Bias of Communication. Vgl. Thielmann: „Die Wiederkehr des Raummediums Äther“. Faßler/Halbach: „CyberModerne“. Vgl. McLuhan: Understanding Media. Vgl. den Beitrag von Faßler in diesem Band. Thrift/French: „The Automatic Production of Space“, S. 330. „Code/space is qualitatively different to coded space, in which software influences the production of space, in that code and space are mutually constituted – produced through one another. This mutual constitution is dyadic so that if either the code or space ‚fail‘, the production of space ‚fails‘.“ (Dodge/Kitchen: „Flying Through Code/Space“, S. 195.)

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Die neuen kartographischen Aneignungsformen wie Google Maps, Mashups etc. sind hierbei nicht nur ein vulgärräumliches Desiderat des spatial turn.122 So zeigt Nigel Thrift in seinem Beitrag, dass sich aus „spekulativen Kartographien“ erst die Weise, den Raum neu zu denken, herauskristallisiert. Der spatial turn ist hier (1.) Abkehr von der Suche nach einem transzendentalen Ort, (2.) Abkehr „von der Suche nach einem Raum, der jenseits des Metrischen liegt“, (3.) Abkehr „vom Raum als Lage unabhängig von Bewegung“ und (4.) Abkehr „von der Idee des Raums als irgendwie von der Zeit Getrenntem“.123 Auch wenn die Geographie Vorbehalte hat, dies als spatial turn zu bezeichnen, kommt sie doch nicht umhin, einen „turn to the noncognitive“ zu diagnostizieren124 – womit die Hoffnung verbunden zu sein scheint, eine hochinklusive, weil nicht negationsfähige Formel gefunden zu haben. So ist der spatial turn für Thrift deshalb so folgenreich, weil „er Begriffe wie Materie, Leben und Intelligenz in Frage stellt und dies durch die Betonung der unnachgiebigen Materialität der Welt, in der es keine präexistierenden Objekte gibt.“125 Folgt man Thrifts und auch Faßlers Ansatz, könnte eine in Operationsketten denkende Medienwissenschaft den lang gehegten Dualismus zwischen Produktion und Distribution/Rezeption, zwischen dem Lokalen und Globalen, zwischen Ort und Raum zu überwinden helfen.126 Denn, wie der kurze Rückblick auf McLuhan zeigt, je nach bias der Selbstbeschreibungssemantik kann Medienwissenschaft ganz unterschiedliche Geocodes aktivieren: den der Virtual Reality wie der Real Virtuality. Eine space-biased Medienwissenschaft oder künftige Mediengeographie bietet damit die Chance, die derzeit auseinander driftenden raumparadigmatischen Debatten um den spatial, topographical und topological turn zu vereinen.

9 Who is afraid of the spatial turn? Der Humangeograph als verschwiegener Souverän der „Raum“-Konzeptgeschichte Das Bild, das sich darbietet, will man in toto das Verhältnis der Humangeographie gegenüber dem spatial turn (den spatial turns) beschreiben, ist reichlich zerklüftet. Die Ausdifferenzierung innerhalb der Humangeographie ist so dramatisch vorangeschritten, dass man den Kollektivsingular, 122 Vgl. den Beitrag von Günzel in diesem Band. 123 Vgl. den Beitrag von Thrift in diesem Band. 124 Thrift/French: „The Automatic Production of Space“, S. 330. Vgl. auch Dave: „Space, Sociality, and Pervasive Computing“, S. 382. 125 Vgl. den Beitrag von Thrift in diesem Band. 126 Vgl. Christophers: „Media Geography’s Dualities“, S. 159f.

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der die regulative Idee von der Einheit des Faches noch mitführt, nicht mehr ungestraft verwenden kann. Deshalb ist, auch wenn wir in diesem Band immerhin sieben Geographen versammeln, das Sample weit davon entfernt, repräsentativ zu sein.127 Bestimmt wäre es einem der feldgewandten und mit den fachinternen Schulbildungszusammenhängen erfahrenen Humangeographen als Herausgeber besser gelungen, eine halbwegs repräsentative Auswahl zu treffen. Aber aus Gründen, über die wir nur spekulieren können, die man aber glaubt zu erahnen, wenn man die Beiträge liest, haben die Humangeographen, wenigstens die deutschsprachigen unter ihnen, offenbar kein gesteigertes Interesse verspürt, einen solchen Band zu konzipieren. Unsere Zusammenstellung mag deshalb grobschlächtig oder naiv erscheinen oder beides. Aber wir behaupten dennoch, dass bestimmte Tendenzen der humangeographischen Positionierung gegenüber der Raumkonjunktur in den anderen Fächern sich damit abbilden lassen. In Blackwell’s The Dictionary of Human Geography, der 4. Auflage von 2000128, fehlt zwischen „Spatial structure“ und „Spatiality“ das Lemma spatial turn. Die Volltextsuche zeigt, dass in dem ganzen Nachschlagewerk auch der Wortkörper nicht einmal erwähnt wird. Das spricht dafür, dass der Begriff – mindestens bis dahin – innerfachlich als vollkommen irrelevant angesehen wurde.129 Warum sollte ausgerechnet die Humangeographie – hier trauen wir uns, noch einmal den Kollektivsingular zu gebrauchen – einen spatial turn praktizieren? Auch zeigt es, dass die Humangeographie Übergriffe anderer Disziplinen in den eigenen grundbegrifflichen Bestand nicht wirklich beobachtungswürdig findet. Vielleicht hat sie es zu oft erlebt und sitzt es einfach aus. Die geographischen Positionen gegenüber dem spatial turn, die in diesem Band versammelt sind, lassen sich leicht in drei Gruppen unterteilen: a) die emphatische Position, die von Ed Soja, dem Wortschöpfer des spatial turn, vertreten wird. Für ihn ist der Begriff großflächig durchgesetzt. Nicht ohne Stolz führt er die neuesten Disseminationserfolge auf. Er hält den spatial turn mittlerweile tatsächlich für ein neues transdisziplinäres Großparadigma. Er versteht ihn ausdrücklich im Singular. Ihm ist bewusst, dass seine eigenen Kollegen, die Humangeographen, zu den wenigen akademischen Milieus gehören, in denen der spatial turn noch 127 Die Autoren selber schätzen sich als nicht besonders repräsentativ ein. Vgl. den Beitrag von Hard in diesem Band. 128 Johnston u.a.: The Dictionary of Human Geography. Im deutschsprachigen Lexikon der Geographie hingegen findet sich zwar auch kein Lemma zum spatial turn, wohl aber ein Unterkapitel zum Lemma „Raumwissenschaft“, das mit „Die Sozialwissenschaften im ‚spatial turn‘“ überschrieben ist. Vgl. Dürr: „Raumwissenschaft“, S. 116. 129 Daran scheint sich erst in allerjüngster Zeit etwas zu ändern. Vgl. z.B. Dix: „Cultural Turn und Spatial Turn“ und Pickles: „Social and Cultural Cartographies and the Spatial Turn in Social Theory“.

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immer am stärksten abgelehnt wird (siehe die Ignoranz des Dictionary of Human Geography). Mit den Gründen dafür hält er sich nicht mehr auf. Die Mentorfunktion für die anderen, am spatial turn partizipierenden Disziplinen scheint ihm unterdessen wichtiger als die Anerkennung im eigenen Fach. Die neuen Binnenwendungen, die der spatial turn im Begriff ist zu nehmen, betreffen die Verräumlichung von Bourdieus KapitalBegriff (spatial capital) und einer räumlichen Fassung des Gerechtigkeitsbegriffes (spatial justice). b) die strategisch-neutrale Position, die hier von Nigel Thrift und Mike Crang vertreten wird. Beide Beiträge – Thrift, der den spatial turn als Teil eines soziotechnisch angeleiteten material thinking versteht, und Crang, der am Schluss des Bandes die Kategorie Zeit als blinden Fleck eines den Raum strategisch priorisierenden spatial turn wieder reetabliert – durchmustern unaufgeregt die Raumdiskussionen der Nicht-Geographen auf der Suche nach anschlussfähigen Beständen. Sie registrieren als Geographen bisweilen amüsiert (nicht empört) die Ignoranz der emphatischen Raumdilettanten der anderen Fächer, aber lassen sich trotzdem, wo immer möglich, auf die Begrenzungen des eigenen geographischen Denkens aufmerksam machen. Ein Zitat aus dem Vorwort ihrer Anthologie Thinking Space, in der explizit nicht-geographisches Raumdenken als Stimulans und Informatorium für Geographen zusammengetragen ist (von Benjamin, Simmel, Bakhtin über Deleuze, de Certeau, Foucault bis hin zu Latour, Said und Virilio): „[…] this spatial turn was not a cause for a disciplinary triumphalism that others were turning to geography since much of it seemed resolutely ignorant of geographers and geography as a discipline. Indeed, it seemed at various times to show both deliberate ignorance of geography while – lest anyone might become chauvinistic or proprietary over the claims of the discipline – also displaying how limited much geographical thought had been.“130 c) die aversiv-souveräne Position, die hier von den deutschsprachigen Humangeographen Gerhard Hard, Marc Redepenning, Benno Werlen und Roland Lippuner eingenommen wird. Das soll nicht heißen, dass sie mit einer Stimme sprechen oder ihre Argumente austauschbar wären. Es ist vielmehr der Konsens der Zurückweisung des außergeographischen spatial turn in allen seinen Spielarten und der Anspruch, den heute erreichten humangeographischen Forschungsstand zu verteidigen gegenüber einem sorglos-uninformierten Umgang von Nicht-Geographen mit Alt-Beständen der eigenen Fachgeschichte.

130 Crang/Thrift: Thinking Space, S. xi.

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Es ist sehr bezeichnend, dass das Interesse der Fachfremden an der eigenen Disziplin überwiegend als amüsant bis störend empfunden wird, jedenfalls keinen Selbstbewusstseinsschub auslöst. Ein in den hier versammelten Beiträgen manifest werdender Widerspruch zur Fremdwahrnehmung der Geographie ist in dieser Hinsicht sehr instruktiv: Stichweh deutet ein Forschungsprogramm an, dass die Ambiguitäten der modernen Gesellschaft gegenüber dem Raum am Beispiel der GeographieGeschichte analysieren könnte.131 Die Krisen und die ausgesprochenen Selbstbewusstseinsschübe in der Geschichte der Geographie wären in diesem Sinne als historisch-konkreter Ausdruck für das je spezifische Raumverhältnis der Gesellschaft anzusehen. Stichweh jedenfalls ist wie selbstverständlich davon überzeugt, dass ein spatial turn in den Kulturund Sozialwissenschaften heute zu einem neuerlichen Selbstbewusstseinsschub der Geographie Anlass bieten müsste. Was er dann jedoch an Phänomenen aufzählt, die die Geographen stolz machen sollen, weil Fachfremde sie für faszinierend erachten, gibt genau den Grund dafür an, warum die Humangeographie auf diesen Selbstbewusstseinsschub gerne verzichtet: (1.) Die „Konjunktur biogeographischen Denkens in der Evolutionsbiologie“; (2.) Die „Wiederkehr eines geographischen Determinismus bei Autoren, die ökologisch inspirierte Weltgeschichte schreiben.“ Hier wird auch noch ein Geograph als Popularisierer dieser Position namhaft gemacht – bezeichnenderweise ein physischer Geograph, der als Bestellerautor dem Lesepublikum die Wiederkehr des geographischen Determinismus schmackhaft zu machen versucht: Jared Diamond132; (3.) „Die schnell wachsende Bedeutung von Karten als einer Dienstleistung der Geographie“ für die Gesellschaft: Hier also wäre die Geographie zum Kartograph für die Gesellschaft herabdefiniert (wo sie doch ihrerseits lange Zeit die Kartographie als Hilfswissenschaft für sich selber angesehen hat). Die Umarmung von unberufener Seite, die die Geographie als Hilfswissenschaft preist, kann jedenfalls bei den Geographen keinen Begeisterungssturm auslösen. Die Reaktion auf solche Avancen in dem Beitrag von Gerhard Hard ist in gewisser Weise bezeichnend für die aversiv-souveräne Position: sie weiß sich immer schon und mit guten Gründen dem fachgeschichtlichen Stadium entrückt, dem gerade die außergeographische Faszination gilt. (Leider gilt das fachfremde Interesse nie dem erreichten Forschungsstand.) Mit lustvoll-polemischer Schärfe wird noch jede spatial-turn-Praxis als ahnungslose Revitalisierung altgeographischer Ideen entzaubert: Schlögels emphatisches Lesen im Raume entspreche den „Selbstpanegyriken“ der deutschen Landschaftsgeographie mit ihrer „üppigen Metaphorik“ von „Spiegel, Ausdruck, Palimpsest“. Martina Löws relationaler Raum, unvor131 Vgl. den Beitrag von Stichweh in diesem Band. 132 Vgl. Diamond: Arm und Reich; ders.: Kollaps.

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sichtigerweise am Beispiel des „Partyraums“ expliziert, wird als Aufguss des „irdisch erfüllten“ altgeographischen Erdraums geziehen, in dem sich Materielles und Soziales noch munter mischen durften. Stichwehs plötzliches Interesse für Küstenlinien und Hanglagen konfrontiert er mit gleichlautenden Erwägungen schon bei Carl Ritter, dem Ahnherrn der wissenschaftlichen Geographie im vorvergangenen Jahrhundert. Diamond hingegen lege das „altgeographische Genre der erdgebundenen Universalgeschichte“ wieder auf. So hat die Geographie-Geschichte alles immer schon mal gesehen, nur weiß es keiner von den ahnungslosen spatial-turnEmphatikern, vor allem auch deshalb, weil die Humangeographie lange Zeit eben nicht im Fokus kultur- wie sozialwissenschaftlicher Aufmerksamkeit stand: „So kann die Geographie außerhalb der Geographie immer wieder neu erfunden werden.“133 – von Stadtsoziologen, Germanisten, Naturphilosophen, manchmal sogar von emphatischen Geographen selber: Sojas Thirdspace wird als bizarre Rückwärts-Neuerfindung der Geographie bezeichnet. Das Kultur-als-Text-Paradigma des kulturwissenschaftlichen topographical turn mag als charmante Stadtschwärmerei im Medium von folk science und common sense für Hard noch durchgehen; es ist lediglich geographisch irrelevant. Weil die hier bei Hard, Redepenning, Lippuner und Werlen vertretene Humangeographie sich strikt als Sozialwissenschaft konzipiert und nur als solche noch selbst legitimieren will, wird den Soziologen des spatial turn die Missachtung ihrer eigenen Standards noch sehr viel strenger zur Last gelegt. Der Handlungstheoretiker Werlen tut das im Hinblick auf die handlungstheoretisch gemeinte Raumsoziologie von Löw und Schroer; die eher systemtheoretisch orientierten Ansätze von Hard und Redepenning gehen mit Stichweh hart ins Gericht, Lippuner gelingt es, Luhmann systemtheorieintern zu kritisieren. Vor dem Hintergrund der eigenen geographischen Fachgeschichte, in der die Ausdifferenzierung der Humangeographie zur Sozialgeographie als strikte Sozialwissenschaft gegen starke innerfachliche Widerstände historisch erst erkämpft werden musste, entsteht der Eindruck, die Sozialgeographen verübelten heute den Soziologen, gerade jene Lektion zu verraten, die sie selber so spät gelernt und durchgesetzt hatten – zugespitzt gesagt: Konvertiten sind besonders strenggläubig. Im Hinblick auf das Forschungsdesign der hier versammelten Ansätze von deutschsprachiger Humangeographie fällt auf, dass die methodischen Unterschiede zwischen handlungs- und systemtheoretischer Modellierung forschungspraktisch gar nicht so ins Gewicht fallen: sowohl Werlen, als auch Hard, Redepenning und Lippuner: alle untersuchen konsequenterweise nur Raumsemantiken: bei Werlen sind es die „alltäglichen Praktiken des Geographie-Machens“, bei Hard sind es Klüters „Raumabstraktio133 Vgl. den Beitrag von Hard in diesem Band.

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nen“134, bei Redepenning „raumbezogene Semantiken als Selbstbeschreibungsformeln der Gesellschaft“. Nicht zuletzt, um die möglichen Motive für einen spatial turn bei Nicht-Geographen zu erklären, könnte sich die Analyse solcher Raumsemantiken als höchst aufschlussreich erweisen: Raumsemantiken vereinfachen, sind höchst anschlussfähig an alltagsweltliche Verkürzungen, sie umgrenzen und bergen in Zeiten der Unübersichtlichkeit, sie reduzieren soziale Komplexität durch eine metonymische Zuschreibungspraxis der Regionalisierung („Du Ossi“), sie prätendieren Natur- und Sachzwang, sie machen „glücklich“135. Hard erspart uns nicht den Hinweis darauf, dass der spatialisierende Diskurs in seiner Funktionalität, komplexe Sach- und Sozialinformationen in eine einfachere Semantik zu übersetzen, strukturell genauso reduktiv verfahre wie der sexistische oder rassistische Diskurs. Angesichts der langen fachgeschichtlichen Bedeutung spatialisierender Diskurse darf man in dieser provokanten Engführung ein Element lustvollen geographischen Selbsthasses erkennen. Und das vor dem Horizont einer Selbstabschaffung und Auflösung in eine „reine“ Sozialwissenschaft, was konstitutionstheoretisch nur konsequent wäre. Hard treibt die Delegitimierung des (Noch-) Faches auf die Spitze, wenn er in Bezug auf die Frage nach den Spuren sozialer Ungleichheit aber wirklich alle anderen Korpora (von Haaren bis Hosen, von Geräuschen bis Gerüchen) als Analysegegenstand interessanter findet als den (alt-)geographischen Gegenstand „räumliche Strukturen“. Den in dieser Hinsicht radikalsten Schritt geht Lippuner – nicht in diesem Band – sondern in einem Aufsatz, der etwas früher erschienen ist (der Sache nach aber später geschrieben sein dürfte)136: Darin entwirft er eine systemtheoretische Sozialgeographie, die nur noch solche Raumsemantiken zu untersuchen sich vornimmt, die keinen Bezug zu physischer Umwelt und Natur mehr aufweisen. Raumkonstrukte ohne jede Markierung im physischen Raum, nur noch als Strukturbild der immateriellen sozialen Welt. Werlens Minimalanforderung für das, was Sozialgeographie genannt werden kann: die Untersuchung des Verhältnisses von „Gesellschaft und Erdraum“, wäre damit negiert. Konsequenterweise schließt Lippuner mit der Frage, ob eine solch radikale Gegenstandskonstruktion die Selbstbeschreibung „Geographie“ noch erlaube.137

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Vgl. Klüter: Raum als Element sozialer Kommunikation. Vgl. den Beitrag von Redepenning in diesem Band. Lippuner: „Kopplung, Steuerung, Differenzierung“. Aber man darf unbesorgt sein: an die tatsächliche Selbstabschaffung des Faches scheint auch bei Lippuner noch nicht gedacht. Eher an eine Rückwärts-Neuerfindung, denn er greift zur Beschreibung dieser radikal enträumlicht gedachten Raumkonstrukte des Sozialen tatsächlich auf die schöne altgeographische Metapher „Landschaft der sozialen Systeme“ zurück (ebd., S. 182). So lange die Landschaft im Spiel ist, darf Geographie nicht sterben.

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Für die verschiedenen spatial turns der Nichtgeographen scheint vorerst das Gegenteil zutreffend: Sie mobilisieren gerade jene (Komplexität reduzierende, kontingenzunterbrechende, Naturzwang prätendierende, jedenfalls:) heillos reduktive Raumsemantik, um dem von der time-space compression angedrohten Raumverschwinden etwas beglückend Physisches, Versammelndes und Integrierendes gegenüberzustellen. Judith Miggelbrink nennt diesen stärksten Grund für die gegenwärtigen spatial turns sehr treffend: den „geographischen Reflex“.138 Auf Deterritorialisierungserfahrungen oder -befürchtungen reagieren wir mit (primitivsemantischer) Reterritorialisierung. Dass sich dieser geographische Reflex auch auf das Interesse für die Wissenschaft Geographie erstrecken kann, wird nicht verwundern. Gerade weil die Geographie durch ihre Fachgeschichte hindurch immer jenen unregierbaren „ontologischen Slum“139 mit der prekären Durchmischung von physisch und sozial dargestellt hat, beglückt und integriert sie offenbar genau so komfortabel wie die Raumsemantik selbst. Das Fach selbst ist eine „Coping-Strategie“140 zur Ermöglichung weicher Einheitsperspektiven. Deshalb lassen sich so schnell auch so viele Fachfremde dafür begeistern wie die durch die medial induzierte Enträumlichungsbedrohung Entsetzten aus Kultur- und Sozialwissenschaft, die auf Zeit ihre spatial turns veranstalten und dabei die Geographie je neu erfinden. Die deutschsprachige Humangeographie hat darunter zu leiden wie zu lesen ist. Der Kulturgeograph Denis Cosgrove hingegen bekennt sich in einem Interview offensiv zu dem ontologischen Slum, weil diese Allzuständigkeit der Geographie vielleicht gerade auch ihr Faszinosum und Alleinstellungsmerkmal darstellt: er nennt es (nach David Livingstone) das „geographical experiment: the relationship between various aspects of the human world – whether these are economic, social, cultural or imaginative – and the natural world. Now, I know all these discussions about how you can’t make these separations and so on, but it seems to me this is where geography brings added value, because nature is at once material and cultural within geography. And when you talk to people in the humanities, when you talk to people in the arts, when you talk to people outside geography – let’s say in cultural studies – that’s often what they see is valuable in geography – that connection we still have to the natural sciences and environmental sciences.“141

138 139 140 141

Miggelbrink: „Die (Un-)Ordnung des Raumes“, S. 104. Hard nach W.V.O. Quine. Vgl. den Beitrag von Hard in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Redepenning in diesem Band. Freytag/Jöns: „Vision and the Cultural in Geography“, S. 209.

WAS LESEN WIR IM RAUME? Ň 39 Die Abschnitte 1-7 und 9 wurden von Jörg Döring, der Abschnitt 8 wurde von Tristan Thielmann verfasst. Die Verfasser danken sehr herzlich: der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die den Druck dieses Buches ermöglichte; der VolkswagenStiftung, die die internationale Konferenz „Der Geocode der Medien. Eine Standortbestimmung des Spatial Turn“ an der Universität Siegen vom 12. bis 14. Oktober 2006 finanziert hat und uns Gelegenheit gab, viele Autoren dieses Buches persönlich kennen zu lernen; Daniel Seibel für Lektorat und Korrekturen. Ganz besonderer Dank aber gilt Stefan Eichhorn, unserem Mitstreiter im Forschungsprojekt „Kulturgeographie des Medienumbruchs analog/digital (Media Geography)“ am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg SFB/FK 615 „Medienumbrüche“ der Universität Siegen, der unserer Anthologie zu einem Index verhalf.

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D ER S PATIAL T URN IN DEN K ULTUR - UND S OZIALWISSENSCHAFTEN

Die Karte als Operations- und Imaginationsmatrix. Zur Geschichte eines Raummediums JÖRG DÜNNE

Die folgenden Überlegungen zur Bedeutung der Kartographie innerhalb des aktuellen Raumdenkens in den Kulturwissenschaften setzen sich zunächst (vgl. Kap. 1 und 2) mit einigen paradigmatischen theoretischen Positionen zur Kartographie in neueren raumtheoretischen Ansätzen auseinander. Das Ziel der daran anknüpfenden Überlegungen zur Kartographie als Medientechnik in der Frühen Neuzeit (vgl. Kap. 3) besteht jedoch weniger darin, aus diesen Positionen eine systematische Frageperspektive auf kartographisch konstituierte Räume schlechthin abzuleiten. Es geht vielmehr um die historische Fragestellung, welche Räume sich über welche Medien zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt konstituieren können, oder, anders ausgedrückt, um medienhistorische Möglichkeitsbedingungen für kulturelle Topographien.1 Diese Position soll als Folie dienen, vor deren Hintergrund eine Neuperspektivierung der aktuellen Raumdiskussion möglich wird: Thesenhaft möchte ich behaupten, dass der aktuell diskutierte spatial turn, dessen Verfechtern vor allem im angelsächsischen Raum2 an der Entwicklung politischer Partizipation am öffentlichen sozialen Raum gelegen ist, eine späte Reaktion auf eine durchaus anders gelagerte Wendung zum Raum darstellt, die sich bereits zu Beginn der Frühen Neuzeit vollzogen hat: Konkret geht es bei meiner historisierenden Neuperspektivierung von 1

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Vgl. zum „historischen Apriori“ grundlegend Foucault: L’archéologie du savoir, S. 166-173. Wo Foucault an anderer Stelle jedoch eine Geschichte der Räumlichkeit skizziert, die auf der Beschreibung topologischer Grundstrukturen von Wissensordnungen beruht (vgl. Foucault: „Des espaces autres“, S. 753), liegt mein Fokus eher auf den medialen Bedingungen von Raumkonstitution. Vgl. Soja: Postmodern Geographies, sowie seinen Beitrag in diesem Band.

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aktuellen Raumfragen anhand des Mediums der Kartographie um Raum in seiner Territorialität, die in der Frühen Neuzeit sowohl für Machtdispositive als auch für Wissensdiskurse zunehmend an Bedeutung gewinnt. Dieser Aspekt von Räumlichkeit bleibt aus aktuellen sozialwissenschaftlichen Fragestellungen häufig ausgeblendet, aus Furcht vor einem Rückfall in essentialistisch-geodeterministische Positionen, welche Raumbindung als natürliches Substrat politischen Handelns betrachten. Beide Positionen werden aber der Spezifizität des frühneuzeitlichen Territorialisierungsschubs nicht gerecht. Erst die Artikulation von sozialen Praktiken und deren territorialer Verortung in einem medialen Repräsentationsraum3 erlaubt es, soziale Raumpraxis und territorial bestimmte Raumordnung in ein Verhältnis zu setzen, ohne letztere entweder als naturgegeben verstehen zu müssen oder sie ganz zu ignorieren. Die Entwicklung einer territorialen Konzeption von Räumlichkeit in der Frühen Neuzeit soll demzufolge als Korrelat einer bestimmten medialen Praxis4 verstanden werden, die Raum mittels Karten in doppelter Weise operationalisiert: einerseits als vermessbarer Raum der Macht, andererseits aber auch als ikonisch bzw. symbolisch kodierter Raum des Wissens und der Imagination5, wobei zwischen Techniken der Macht und Praktiken des Wissens bzw. Imaginierens vielfältige Wechselwirkungen bestehen. Diese Techniken und Praktiken sollen abschließend an drei kurzen Fallbeispielen frühneuzeitlicher Karten ausgeführt werden (vgl. Kap. 4).

1 Nicht kartierte Räume in der Sozialgeographie und Raumsoziologie Die neuere human- bzw. sozialgeographische Raum-Diskussion im deutschsprachigen Bereich ist eng mit einer sozialwissenschaftlichen Perspektive verbunden. Sie reklamiert hieraus ihre klare Abgrenzung sowohl von der physischen Geographie als auch von der angelsächsischen 3

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Diese Dreistelligkeit von sozialen Praktiken, territorial gebundenen Raumrepräsentationen und medialem Repräsentationsraum variiert die Trias von Raumbegriffen, die Henri Lefebvre in La production de l’espace, v.a. S. 4857, entfaltet. Vgl. zu einer möglichen mediologischen Deutung Lefebvres bereits Siegert: „Einleitung“. Zu Grunde gelegt wird hierbei ein eng gefasster, auf technischen Dispositiven der Speicherung, Verbreitung und Verarbeitung von Information beruhender Medienbegriff. Imagination wird hier nicht als subjektives Vermögen begriffen; auch geht es hier weniger um die grundlegende, von der lacanianischen Psychoanalyse behauptete Fundierung symbolischer Ordnung bzw. von Subjektivität in einem vorausgehenden Imaginären, sondern um das, was in einer Wissensordnung zu einem gegebenen Zeitpunkt konkret vorstellbar wird: Raummedien wie die Kartographie fungieren hierbei als historische Möglichkeitsbedingungen.

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Cultural Geography.6 Insbesondere die Arbeiten von Benno Werlen und Roland Lippuner haben gezeigt, dass eine praxeologische Perspektive dazu geeignet erscheint, von dem substanzialistischen Raumbegriff der traditionellen Geographie umzustellen auf ein Verständnis von Raum, das durch alltägliches soziales Handeln bestimmt wird.7 In ähnlicher Weise hat Martina Löw Raum als die „relationale Anordnung von Lebewesen und sozialen Gütern“8 definiert, die sich handelnd bzw. durch Kommunikation konstituieren und weder physisch vorgegeben noch naturalisierbar sind. Damit wird das aktuelle Raumdenken nachhaltig von der Vorstellung gelöst, Raum sei ein Behälter physischer (oder auch das Denken formal bestimmender) Art, in dem sich etwas anordnen ließe, sondern die Konstitution von Raum wird dezidiert als ein soziales Produkt beschrieben. Wo nun alltägliche Praktiken bereits Raum konstituieren, sind mediale Aufzeichnungsformen wie die Kartographie, die solche Räume beschreiben, sekundär bzw. fallen, sofern sie sich auf einen physischen Raum beziehen, hinter die Prämisse zurück, dass soziales Handeln nicht einfach im Raum stattfindet, sondern Raum erst konstituiert. Die eindeutige Abkehr vom physischen Raum und der Territorialität in den genannten sozialwissenschaftlichen bzw. -geographischen Zugängen ist deutlich vom Bemühen geprägt, sich vom geopolitischen Missbrauch eines territorial basierten Raumverständnisses abzusetzen, weswegen dem aktuellen spatial turn auch bisweilen ein Rückfall in ein essentialistisches Raumverständnis attestiert wird.9 Die Absicherung gegenüber der aus der geographischen Fachtradition hervorgegangenen geopolitischen Tradition ist insofern höchst verständlich, als die Geopolitik gerade durch die Amalgamierung physischer und sozialer Räume der nationalsozialistischen Expansionspolitik Vorschub geleistet hat.10 Es stellt sich allerdings die Frage, ob durch die komplette Ausblendung physischer Räume nicht die bleibende Brisanz der Argumentation des sicherlich wichtigsten Denkers im Umkreis der deutschen Geopolitik vorschnell entschärft wird:11 Carl Schmitt postuliert in seinen späteren Schriften einen Nexus von (Wissens-)„Ordnung“ und territorialer „Ortung“, den er zwar durchaus in geopolitischer Tradition an eine be-

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Vgl. hierzu explizit Werlen: „Kulturgeographie und kulturtheoretische Wende“. 7 Vgl. Werlen: Gesellschaft, Handlung und Raum und Lippuner: Raum, Systeme, Praktiken, sowie die Beiträge von Werlen und Lippuner in diesem Band. 8 Löw: Raumsoziologie, S. 160. 9 Vgl. Lippuner/Lossau: „In der Raumfalle“. 10 Vgl. zum Diskurs der deutschen Geopolitik Sprengel: Kritik der Geopolitik, sowie Köster: Die Rede über den „Raum“. 11 Vgl. dazu exemplarisch Maresch/Werber: „Permanenzen des Raums“, sowie den Beitrag von Werber in diesem Band.

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gründende Kraft der „Erde“ anbindet.12 Über diese Argumentation hinaus lassen jedoch insbesondere die Passagen, in denen er über die frühneuzeitliche „Raumrevolution“ spricht, erkennen, welch entscheidende Rolle Schmitt Raummedien, insbesondere Karten, bei der Globalisierung territorialer Ansprüche durch europäische Nationen in der Frühen Neuzeit zugesteht. Sie leisten ihm zufolge einem „globalen Liniendenken“13 Vorschub, mittels dessen sich die europäischen Nationen ihrer weltweiten Einflusssphären versichern, ohne dabei gegenseitig miteinander in Konflikt zu geraten. In diesen Passagen ist nicht mehr klar zu entscheiden, ob Karten, wie im klassischen geopolitischen Diskurs, nur einen vorgängigen politischen Willen zum Ausdruck bringen oder ihn in seinen Möglichkeiten erst konstituieren. Damit stellt sich letztlich die Frage, ob die binäre Opposition von sozialem Praxisraum und territorialem Ordnungsraum nicht erst durch die Untersuchung der Medialität jeglicher Raumkonstitution sinnvoll überwunden werden kann: Möglicherweise machen die derzeit Hochkonjunktur erlebenden ästhetischen Auseinandersetzungen mit den Medien, über die sich Räume konstituieren,14 etwas sichtbar, das sowohl aus geopolitischen Ansätzen als auch aus sozialwissenschaftlich bzw. sozialgeographisch inspirierten Untersuchungen von Raum ausgespart bleibt: Ich meine damit die Tatsache, dass mediale Dispositive wie die Kartographie nicht nur bestehende soziale Relationen verräumlichen bzw. bestehende Territorien abbilden15, sondern beide in gewisser Weise überhaupt erst (mit-)konstituieren, dass Medien also nicht nur Werkzeuge, sondern selbst Weisen der Welterzeugung sind.16

2 Mapping in der Cultural Geography Im Unterschied zur deutschen Sozialgeographie ist der Bezug auf Karten in der – von geopolitischen Tabus weitgehend unbelasteten – angelsächsi-

12 Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, S. 13-20, hier v.a. S. 13. Zur kritischen Umkehrung von Schmitts Verknüpfung von Nomos und Ortsbindung vgl. die ebenfalls etymologisch begründeten Überlegungen zum „nomadischen Nomos“ bei Deleuze: Différence et répétition, S. 54, die in Deleuze/Guattari: Mille plateaux, ihre Fortsetzung finden. 13 Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, S. 55. 14 Vgl. exemplarisch für die Kunstgeschichte Alpers: „The Mapping Impulse in Dutch Art“, sowie Bianchi: Atlas Mapping; für die Literaturwissenschaft vgl. insbesondere Stockhammer: Kartierung der Erde, sowie Glauser/Kiening: Karte – Bild – Text. 15 Vgl. dazu bspw. Monmonier: How to Lie with Maps. 16 Vgl. Krämer: „Das Medium als Spur und als Apparat“.

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schen Cultural Geography seit den 1980er Jahren17 zum Leitbegriff bzw. zur Leitmetapher der geographischen und kulturwissenschaftlichen Tätigkeit aufgestiegen: Grundlage hierfür ist meist das ursprünglich bereits 1960 von Kevin Lynch18 entwickelte kognitionspsychologische Verständnis von „mental maps“, die eine individuell bzw. kulturell unterschiedliche Raumwahrnehmung ausprägen. Prämisse ist dabei, dass eine innere Karte, die metaphorisch kognitive Strukturen bezeichnet, mit der äußeren, meist ebenfalls metaphorisch als ein Territorium konzipierten Realität in Interaktion tritt. Der Vorteil dieses Ansatzes ist es, die traditionelle Begrenzung des Karten-Begriffs auf den physisch-territorialen Aspekt aufzubrechen, d.h. Mapping kann in dieser Bedeutung auch zur Verräumlichung von an sich nicht räumlich sichtbaren sozialen Relationen verwendet werden.19 Eine solche Perspektive hat besonders in Zusammenhang mit der sogenannten postmodernen Theoriebildung Konjunktur, was exemplarisch an Fredric Jamesons Studie Postmodernism belegt werden kann, der eine „aesthetic of cognitive mapping“20 zur Grundlage seines politischen Projekts macht: Bei all der postmodernen Verunsicherung des Individuums durch die Unübersichtlichkeit von Globalisierungsprozessen soll durch das Mapping eine Form von Überblick geschaffen werden, der Einzelnen ihre politische Handlungsfähigkeit erhält. Spitzt man die Stoßrichtung dieses Projekts etwas zu, so wird für Jameson – und mit ihm für eine Reihe von Kulturgeographen, die den Ausdruck in dieser generalisierten Bedeutung aufgreifen – das Mapping zum Supplement der großen Erzählungen der Moderne; es wird zum Versuch, die sich beschleunigenden historischen Veränderungen der Welt durch umfassende Raumbeobachtung zu stabilisieren. Eine solche, politisch engagierte Betrachtungsweise tendiert jedoch dazu, die Kartographie in metaphorischer Generalisierung als neutrale Technik der Visualisierung zu betrachten, die an sich einen ahistorischen Status hätte.21 Nicht gesehen wird dabei, dass die Operation des Kartierens zumindest seit der Frühen Neuzeit ein bestimmtes Denken von Territorialität voraussetzt und somit massiv von historisch gebundenen Raumvorstellungen und von Machtrelationen abhängt. Insofern ist es erstaunlich, dass ausgerechnet die Karte, die historisch zu einem guten Teil territoriale Expansion und Kolonialisierung überhaupt möglich gemacht hat, zum

17 Vgl. insbesondere Jackson: Maps of Meaning. 18 Lynch: The Image of the City. 19 Vgl. dazu den Überblick bei Cosgrove: „Mapping/Cartography“, der auf der Kartendefinition von Harley: „Preface“ basiert. Diese Verräumlichung von Daten ist für aktuelle Anwendungen von Geographischen Informationssystemen (GIS) grundlegend. 20 Jameson: Postmodernism, S. 54. 21 Vgl. zu dieser Kritik bereits King: Mapping Reality, S. 15f.

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scheinbar neutralen Mittel der Beobachtung postmoderner und postkolonialer Räume werden soll.

3 Kartographie als Medientechnik Bereits Sigrid Weigel hat in ihren Überlegungen zum „topographical turn“ kritisiert, dass die Cultural Studies und mit ihnen ein Teil der Cultural Geography dazu tendieren, theoretische Konzepte wie das des Mapping unabhängig von ihrer Herkunft als „scheinbar geschichts- und kulturneutrale Instrumente“ zu verwenden.22 Weigel arbeitet folgende Opposition im Umgang mit Raum heraus: auf der einen Seite die Politisierung der RaumDiskussion in den angelsächsischen Cultural Studies, die mit der Betrachtung von Raummedien als Werkzeugen der Raumkonstitution einhergeht; auf der anderen Seite die Historisierung von Raum in den europäischen Kulturwissenschaften, die den Raummedien, und allen voran der Kartographie, mehr als nur instrumentellen, d.h. einen genuin raumkonstitutiven Status zuweist. Man kann sich sicher fragen, ob die typologische (und von Weigel selbst vorsichtig relativierte) Zuspitzung dieser Opposition so haltbar ist, allerdings möchte ich mich dem Plädoyer für die Historizität von Raumpraktiken und Raummedien anschließen. Weigel benutzt dabei den italienischen Geographen Franco Farinelli sozusagen als Kronzeugen für einen wissensgeschichtlichen Blick auf die Kartographie als Kulturtechnik – demzufolge haben „kartographische Techniken als Voraussetzung philosophischer Anschauung“23 zu gelten, also als eine Art materiell-technisches Apriori des reinen Denkens. In der Tat legt Farinelli einen solchen Schluss nahe, wenn er eine kühne Analogie zwischen der ersten ptolemäischen Projektion und dem Funktionieren der reinen Vernunft nach Kant herstellt: Das transzendentale Subjekt stellt sich Kant nach Farinelli als eine Art ptolemäischer Punkt G, als Ursprungspunkt oder – mit Kant selbst gesprochen – als „focus imaginarius“ für jede mögliche Raumanschauung vor.24 Raumwahrnehmung hängt somit, könnte man nach Farinelli annehmen, nicht von einer überzeitlichen kognitiven Ausstattung, sondern von historischen Medientechniken ab – so jedenfalls die Lektüre von Weigel. Was diese jedoch nicht erwähnt, ist die polemische Wende, die der Geograph seiner Kant-Analyse gibt: Anders als Weigel dies suggeriert, geht es Farinelli nicht in erster Linie darum, das technische Apriori der reinen Vernunft zu historisieren, sondern er möchte diese Technisierung als etwas darstellen, was den seines Erachtens nach wahren Charakter geographischen Denkens grundlegend verfehlt: Diese Wahrheit liegt für Farinelli in einer recht holzschnittartigen Abwendung 22 Weigel: „Zum ‚topographical turn‘“, S. 159. 23 Ebd., S. 165. 24 Farinelli: „Von der Natur der Moderne“, S. 281.

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von der quantitativen Kartographie überhaupt und einer Hinwendung zur romantischen Tradition der Geographie als qualitativ beschreibender Erdkunde.25 Bei allen Differenzen in der Bewertung der Kartographie sind sich Farinelli und Weigel darin einig, dass das kartographische Dispositiv mit dem Funktionieren der neuzeitlichen westlichen Vernunft analogisiert werden könne: Farinelli bemüht dabei nicht nur den Vergleich des transzendentalen Subjekts mit dem Fluchtpunkt des zentralperspektivischen Verfahrens, sondern identifiziert perspektivisches Sehen außerdem mit der kartographischen Raumaneignung.26 Dies ist bei aller Berechtigung des Nexus zwischen Vernunft und mediengestützter Raumbemächtigung nicht nur historisch, sondern auch technisch ungenau, denn die meisten kartographisch sinnvollen Projektionsverfahren lassen sich eben gerade nicht, wie die optische Zentralperspektive, auf einen einzelnen Punkt „G“ zurückführen, erzeugen also nicht einfach einen zentralen Blickpunkt bzw. eine zentrale Subjektposition, von der aus sich die gesamte Objektwelt zur Aneignung darbietet.27 Die entscheidende Leistung der Kartographie als Kulturtechnik besteht nicht in der Unterordnung unter einen unbewegten Blick, sondern in der Ermöglichung eines aperspektivischen räumlichen Nebeneinanders, das von keinem natürlichen Blick eingefangen werden kann und das nur auf der Karte so möglich ist. Erst die Lektüre von Karten macht durch die Selektion aus einer Menge synchron nebeneinander erscheinender, semiotisch unterschiedlich kodierter Informationen28 und deren Kombination einen parcours im Sinn von Michel de Certeau29, der die kartographische A-Perspektivik in ein sukzessiv-individuelles Rezeptionsmuster überführt. Aus diesem Grund befriedigen Karten auf Rezipientenseite nicht nur ein Interesse an berechenbaren geographischen Koordinaten, sondern werden zur intermedialen Imaginations-Matrix auch für qualitative Operationen der Raumkonstitution, zu denen insbesondere textgebundene Formen der Beschreibung bzw. des Erzählens gehören.30 Wenn ich hier von Matrix spreche, so nicht von einer inneren, kognitiven Matrix, die jede Denkoperation steuert – Ziel ist es also nicht, ein kartographisches Raumverständnis kognitionspsychologisch zu naturali25 Deutlicher ist dies ausgeführt in Farinelli: Pour une théorie générale de la géographie. 26 Vgl. dazu auch Edgerton: „From Mental Matrix to Mappamundi to Christian Empire“. 27 Vgl. zu dieser Kritik Stockhammer: „Bilder im Atlas“, S. 357f. 28 Vgl. zur Semiotik der Karte als Medienverbundsystem aus Bild und Schrift grundlegend Jacob: L’empire des cartes. 29 Certeau: L’invention du quotidien, S. 175-180. 30 Ausführlich zur Untersuchung kartographisch induzierter Erinnerungs-, Erzähl- und Fiktionspraktiken in spanischen und portugiesischen Texten der Frühen Neuzeit vgl. Verf.: Die kartographische Imagination [Habil., i.V.].

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sieren, sondern es im Gegenteil zu exteriorisieren und zu historisieren: Die frühneuzeitliche Kartographie stellt hinsichtlich dieser matriziellen Funktion von Karten bei der Raumkonstitution vor allem deswegen eine entscheidende Zäsur dar, weil erst in ihr diese Funktion nachhaltig mit dem Anspruch auf eine berechenbare Repräsentation und pragmatische Adressierbarkeit eines physischen Territoriums korreliert wird.

4 Die doppelte Operationalität von Karten in der Frühen Neuzeit In Gegensatz zu Franco Farinellis Identifizierung des kartographischen Blicks mit dem zentralperspektivischen Verfahren hat Wolfgang Schäffner hervorgehoben, dass die Besonderheit kartographischer Dispositive seit der Frühen Neuzeit vor allem darin besteht, dass sie „operationale“ Räume aus einer atopischen Position heraus herstellen:31 Indem die Karte zum Leitmedium avanciert, das einer Operationalisierung von Raum Vorschub leistet, unterscheidet sich die neuzeitliche Geographie als Medienverbundsystem deutlich von der antiken, vor allem (alphabet-)schriftbasierten Geographie32 sowie von mittelalterlichen Verwendungskontexten von Karten, zumindest sofern in den bekannten mappaemundi christliche Heilsgeschichte in ikonographischer Verräumlichung dargestellt wird.33 In der Frühen Neuzeit findet in Zusammenhang mit einer intensiven Reise- und Navigationstätigkeit, die bereits lange vor Kolumbus die Grenzen des Mittelmeerraums hinter sich lässt, ein massiver Verräumlichungsschub zunächst in Bezug auf physische Räume statt, der bereits im 13. Jahrhundert durch die Erfindung der Portulankartographie einsetzt und der im ausgehenden 15. Jahrhundert durch die Wiederentdeckung Ptolemäus’ und die Übersetzung seiner überlieferten Texte in handschriftliche sowie gedruckte Karten eine bedeutsame Komplexitätssteigerung erfährt. Obwohl Portulankartographie und das ptolemäische Koordinatensystem sich durch eine relative bzw. absolute, d.h. sich auf ein konventionelles System von Längen- und Breitengraden beziehende Methode der Positionsbestimmung unterscheiden, tragen beide zu einer fortschreitenden Territorialisierung der abstrakt-geometrischen Geographie der Antike und 31 Vgl. Schäffner: „Operationale Topographie“. 32 Vgl. die zugespitzte These von Janni: La mappa e il periplo, der das Vorhandensein von Karten in der Antike generell bezweifelt, sowie die nuancierteren Positionen von Jacob: Géographie et ethnographie en Grèce ancienne, sowie Nicolet: L’inventaire du monde. 33 Diese Entwicklung ist aber nicht im Sinn einer harten Zäsur zwischen mittelalterlicher und neuzeitlicher Kartographie zu verstehen, sondern als eine allmähliche Umakzentuierung von deren Verwendungskontexten. Vgl. zu den Kontinuitäten kartographischen Wissens vom Mittelalter zur frühen Neuzeit den Sammelband von Michalsky u.a.: Aufsicht – Ansicht – Einsicht.

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der mittelalterlichen Geographie bei: Karten werden nunmehr zu einem Zeichensystem, dessen indexikalische Dimension in den Vordergrund tritt,34 d.h. die implizite Aufforderung zur Verbindung des Hier auf der Karte mit einem Hier in einem entsprechenden Territorium gewinnt immer größere Bedeutung. Die entscheidende Schwelle zur neuzeitlichen Kartographie ist somit nicht die Tatsache, dass eine zuvor ungenaue oder religiös geprägte Raumrepräsentation jetzt genauer wird, sondern dass überhaupt erst ein durchgängiger indexikalischer Bezug zwischen Karte und Territorium hergestellt wird. In der Methodisierung der referenziellen Adressierbarkeit von Orten im physischen Raum entsteht obendrein die Kohärenz eines Wissensraums, der gemeinsamen Regeln der Repräsentation folgt.35 Dieser Wandel hat nicht nur Auswirkungen auf die Entdeckungsfahrten sowie die frühe Zeit der kolonialen Expansion, also auf Machttechniken, die auf geometrisch hergestellter Adressierbarkeit beruhen, sondern prägt ganz grundlegend Wissens- und Imaginationspraktiken, die ihrerseits wieder auf politisches Handeln zurückwirken. Einige dieser Auswirkungen sollen im Folgenden an drei kurzen Fallstudien erläutert werden. In ihnen geht es erstens um die Territorialisierung von Machttechniken und die Grenzen der damit verbundenen Raum-Operationalisierung, zweitens um die Geographisierung von Wissens- und Imaginationspraktiken, die von einem unmittelbaren politischen Zweck abgekoppelt, also bis zu einem gewissen Grad entpragmatisiert sind, und schließlich um die mögliche politische Repragmatisierung imaginativer Geographien.

Kartographische Macht Auf der Ebene der Machttechniken treibt die spanische Krone im 16. Jahrhundert die Territorialisierung ihrer Expansionspolitik im direkten Vergleich zu Portugal, Frankreich und England am systematischsten voran36 und versucht, ihre Verwaltung als Verarbeitung raumbezogener Daten zu organisieren: Damit löst die Bedeutung territorialer Adressierbarkeit zunehmend die körperliche Präsenz der politischen oder religiösen Machtinstanz ab – gleichzeitig eröffnet aber der Wunsch nach kartographischer Vollständigkeit neue Verwerfungen, die die vollständige Geometrisierung des kolonialen Raums durchkreuzen. Raumbezogene Daten werden insbesondere in der Kolonialverwaltung zur Zeit der Herrschaft Philipps II. (1556-1598) im Zusammenspiel von standardisierten Fragebögen und topographischen Karten in den sogenann-

34 Vgl. hierzu Nöth: „Kartosemiotik und das kartographische Zeichen“. 35 Vgl. zum Zusammenhang von Kartographie und Episteme der Repräsentation (im Sinn von Michel Foucault) Marin: „Les voies de la carte.“ 36 Vgl. Pagden: Lords of All the World.

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ten „relaciones geográficas“ erhoben.37 Ziel dieser Berichte ist es, die Informationen aus den Kolonien so aufzuarbeiten, dass sie an einem zentralen Datenspeicher in Spanien standardisierbar werden38 – umgesetzt wird diese Vorstellung vor allem unter Federführung des königlichen Kosmographen und Chronisten Juan López de Velasco, der ab 1577 einheitliche Fragebögen an die audiencias, d.h. die Regionen der Vizekönigreiche in Amerika verschickt, um daraus seine Geografía y descripción universal de las Indias zu kompilieren. Es sollten von möglichst vielen Gemeinden in den adressierten Regionen 50 Fragen beantwortet werden, die neben historiographischem Wissen auch Daten liefern sollten, die zur Feststellung der Längen- und Breitengrade der ausgewerteten Orte bestimmt waren. Außerdem wurde die Erstellung einer topographischen Karte der jeweiligen Region in Auftrag gegeben. Dieses weltweit wohl erste Großprojekt einer Standardisierung geographischen Wissens ist jedoch, zumindest was die mathematische Standardisierung der Daten betrifft, gescheitert.39 Betrachtet man erhaltene Beispiele der zum Großteil von indigenen Malern gezeichneten Karten einzelner Ortschaften Mexikos, so werden auch die Gründe dafür schnell deutlich: Wie Barbara Mundy40 untersucht hat, entsprechen die insbesondere in Mexiko bestehenden Traditionen der Kartendarstellung nur sehr bedingt den politischen Erwartungen an geometrische Genauigkeit: Sowohl die indigene Tradition der Raumdarstellung als auch die von Missionaren und kirchlichen Orden vermittelten Repräsentationsformen konzentrieren sich meist nicht auf territoriale Adressierbarkeit, sondern verwenden Karten als Darstellungen der Geschichte bzw. als Affirmation der idealen sozialen Ordnung einer indigenen bzw. christlichen Gemeinschaft. Eine der bekanntesten Karten, die den Rücklauf zu der Fragebogenaktion der „relaciones geográficas“ in Mexiko bilden, zeigt eine kreisförmige Darstellung des Ortes Teozacoalco (vgl. Abb. 1), die auf der linken Seite sowie teilweise auch in der Karte selbst eine Genealogie der vorspanischen mixtekischen Herrscher aus der Region enthält.41 Die Karte speichert also nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Information. Was die Topographie der Region von Teozacoalco selbst betrifft, die in dem Kreis auf der rechten Seite dargestellt ist, finden sich zwar dort durchaus piktographische Elemente, die sich als Gebäude, Wege, Flussläufe und Geländeformationen identifizieren lassen, allein folgt ihre relationale An37 Die Fragebögen und die Antworttexte, nicht aber die Karten sind versammelt in Acuña: Relaciones geográficas del siglo XVI. 38 Vgl. dazu v.a. Siegert: Passage des Digitalen, S. 65-120. 39 Ebd., S. 109. Siegert sieht dieses Scheitern als „nicht entscheidend“ an, weil er sich für die Bürokratisierung politischer Herrschaft in Europa interessiert, nicht aber für die Widerstände, denen die bürokratische Datenverarbeitung ausge-setzt ist. 40 Mundy: The Mapping of New Spain. 41 Vgl. ausführlich zu dieser Karte ebd., S. 113-117.

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ordnung weder einer damals für chorographische Ortsansichten üblichen perspektivischen Wiedergabe noch einer kartographischen Projektion, mit der größere Räume maßstabsgetreu erfassbar sind. Vielmehr konstituiert die kreisrunde Darstellung einer kommunalen Einheit das, was Richard Kagan eine „kommunizentrische“ Sicht42 auf einen Raum als soziales Gefüge genannt hat, im Verhältnis zu dem Aspekte territorialer Lagegenauigkeit sekundär sind. Abb. 1: Karte von Teozacoalco (Mexiko, um 1580)43

Möglich wird eine taktische Verschiebung kartographischer Machttechniken der Kolonialmacht ausgerechnet auf kartographischem Gebiet im Vizekönigreich Neuspanien, d.h. im heutigen Mexiko, weil sich hier nicht, wie häufig behauptet, die alphabetisierte koloniale Überlegenheit in eine leere Fläche einschreibt,44 sondern zum Einen auf eine vorspanische Tradition der kartographischen Aufzeichnung stößt, zum Anderen sich aber an dem selbst unter den spanischstämmigen Siedlern bzw. den Geistlichen in den Vizekönigreichen ungeklärten Verständnis stößt, was denn eigentlich eine Karte sei. Der Versuch einer geometrischen Standardisierung läuft nicht zuletzt deswegen ins Leere, weil er nicht mit der vielfältigen Funk42 Kagan: Urban Images of the Hispanic World, S. 11. 43 Aus Benítez: Los indios de México, Abb. XI, o.S. Die Karte befindet sich in der „Benson Latin American Collection“ der University of Texas in Austin. 44 Vgl. hierzu Rabasa: Inventing America, S. 23-48, anlässlich seiner Interpretation der Amerika-Allegorie in einem Stich von Johannes Stradanus.

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tionalisierbarkeit eines Mediums rechnet, das nicht allein auf Berechnung, sondern auch auf anderen Formen des Zeichengebrauchs beruht und somit dem kolonialen Leitgedanken einer geometrischen Nivellierung von Orten ihre individuelle Valorisierung aus der Perspektive ihrer Bewohner gegenüberstellt.

Kartographische Imagination Gegenüber dieser scheiternden quantitativen Operationalisierung einer bestimmten Form politischer Macht ermöglicht das kartographische Setting auch Wissens- und Imaginationspraktiken, die nicht unmittelbar auf einen machtvollen Zugriff im Sinn politischer Herrschaft zielen, sondern europäischen Lesern Anhaltspunkte dafür liefern, sich fremde Regionen vorzustellen. Imaginierte Räume in diesem Sinn sind streng von der Vorstellung eines räumlichen Imaginären im Sinn von Gaston Bachelard45 abzugrenzen, der von einem archetypischen Bestand an phänomenologisch beschreibbaren Raum-Bildern ausgeht, die sich für ihn primär auf den euphorisch erfahrbaren Nah-Raum der häuslichen Umgebung beziehen. Stattdessen sind geo- bzw. kartographische Imaginationen, wie dies schon die indigenen Karten Mexikos zeigen, nicht ohne Mediengebrauch möglich. Um auch hier wiederum kurz auf ein Beispiel aus der Frühen Neuzeit einzugehen, sei auf Atlanten als enzyklopädische Wissenstheater verwiesen, die das Weltwissen der Zeit auf eine kartographische Basis stellen. Die Benutzer dieser populären Druckwerke greifen zum Atlas nicht in erster Linie aus reise- oder navigationstechnischem Interesse. Atlanten stellen in methodischer Form dem traditionellen, ursprünglich oral geprägten rhetorischen Topos-Wissen, aber auch dem mittelalterlichen, vor allem schriftgebundenen Modell der Enzyklopädie eine kartographisch-visuelle Form der Anordnung von Wissen zur Seite, die explizit mit einer Aufforderung zur imaginierenden Aktualisierung verbunden ist. So lädt Abraham Ortelius im Vorwort zu seinem Theatrum orbis terrarum, das gemeinhin als der erste frühneuzeitliche Atlas gilt, seine Leser dazu ein, eine imaginierte Weltreise durch die Seiten des Buchs hindurch zu vollziehen.46 Über Ortelius hinaus wird das imaginäre Reisen mit dem Finger auf der Landkarte sogar zum Inbegriff humanistischer Imaginationsbewegung schlechthin.47 Diese Form der Imagination ist jedoch alles andere als eine Träumerei im Bachelardschen Sinn, sondern eine durchaus regelgeleitete Imaginations- und Meditationsübung, die vor allem das Verständnis der Anordnung der Karten des Theatrum sowie des ihn ergänzenden chorographischen Werks der Civitates orbis terrarum von Georg Braun und Frans Hogenberg voraussetzt. 45 Bachelard: La poétique de l’espace. 46 Ortelius: Theatrum orbis terrarum, o.S. [„Benevolis lectoribus“]. 47 Vgl. zum Topos des Reisens mit dem Finger auf der Landkarte Büttner: Die Erfindung der Landschaft, S. 166-172.

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Abb. 2: Abraham Ortelius, „Typus orbis terrarum“ (zuerst 1570, hier in der Fassung von 1598)48

Ausgehend von der Weltkarte mit dem Titel „Typus orbis terrarum“, die das Theatrum eröffnet (vgl. Abb. 2), bedeutet im Atlas zu reisen vor allem, Karten im geeigneten Maßstab miteinander zu kombinieren. Die ovale Projektion des ganzen Erdkreises auf die zweidimensionale Kartenfläche lädt, entgegen der stoischen Maximen im Sinn einer Lösung von der Weltverfallenheit, die ihr in den rahmenden Kartuschen beigegeben sind, dazu ein, neugierig auf eine der Folgekarten einzuzoomen, die zunächst Kontinente erfassen, und eine Ordnungsebene darunter einzelne Länder dieser Kontinente. Zieht man als Ergänzung zum Theatrum nun noch die Civitates orbis terrarum heran, landet man schließlich als Feineinstellung auf das Ziel seiner Reise bei einem meist perspektivischen chorographischen Blick49 auf einzelne Städte aus der ganzen Welt. Die geographische Imagination der Frühen Neuzeit ist, so eine mögliche Schlussfolgerung aus diesem Verfahren, gerade deswegen so effektiv, weil sie die Individuen, von denen sie praktiziert werden, zu Vorstellungspraktiken animiert, die, anders als dies der entrückte Blick vom Fluchtpunkt der Vernunft aus suggeriert, nicht in unverrückbarer Distanz einer kontemplativen res cogitans verbleiben. Die Praktiken wirken auf diese Individuen selbst zurück und

48 Aus Wolff: America, S. 81. 49 Ptolemäus versteht die Geographie als quantitative, die Chorographie dagegen als qualitative Form der Raumdarstellung, d.h. die Geographie beruht auf der Verwendung von Projektionen, die Chorographie auf perspektivischen Ansichten. Vgl. dazu u.a. Stockhammer: Kartierung der Erde, S. 16f.

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aktivieren diese zu virtuellen Bewegungen im geographischen Raum, wobei sich die atopische Situierung gegenüber dem ganzen Erdkreis zunehmend in einen bestimmten, perspektivisch gebundenen Blick auf eine Region verwandelt.

Kartographische Imagination von Macht Was schließlich das Verhältnis der soeben untersuchten doppelten, d.h. handlungspragmatischen und zugleich imaginativen Operationalisierung von Räumen betrifft, kann man nicht nur eine Bewegung der Entpragmatisierung feststellen. Vielmehr ergeben sich gerade unter den Bedingungen druckschriftlicher Zirkulation von Wissen50 neue Möglichkeiten der Repragmatisierung kartographischer Imaginationen, die nun in einem letzten historischen Exkurs etwas näher beleuchtet werden sollen. Die zunehmende Bedeutung geographischer Imagination in ihrer komplexen Wechselwirkung mit politischen Ansprüchen lässt sich exemplarisch an der Geschichte einer Karte vom Norden Europas und dem äußersten Nordosten Amerikas demonstrieren: Es handelt sich um die Karte des Nicolò Zeno, die zu einem angeblich im 16. Jahrhundert entdeckten Reisebericht gehört, in dem von einer Reise in den Nordatlantik sowie von der Entdeckung des äußersten Nordostens des amerikanischen Kontinents bereits Ende des 14. Jahrhundert die Rede ist.51 Der venezianische Adlige Nicolò Zeno gerät angeblich bei einer Schiffsreise nach Großbritannien durch einen Sturm zufällig auf die Insel „Frislanda“ und wird von dem dort herrschenden Fürsten Zichmni freundlich aufgenommen. Zeno und seine Seeleute helfen dem Fürsten bei der Eroberung anderer Inseln; während Nicolò schließlich auf Frislanda stirbt, setzt sein nachgereister Bruder Antonio die Unterstützung von Zichmnis Eroberungstätigkeit fort: Zusammen mit ihm fährt er zunächst nach Norden bis „Engroneland“ und will auf Grundlage eines mündlichen Berichts von Fischern aus Frislanda gen Westen nach „Estotiland“ vordringen, das auch als „nuouo mundo“52 bezeichnet wird – seit dem Brief von Amerigo Vespucci unter dem gleichlautenden Titel wird die „Neue Welt“ vor allem zur Bezeichnung Amerikas verwendet. 50 Während administrative kartographische Machttechniken meist auf der Zirkulation von Manuskripten bzw. handgezeichneten Karten beruhen, fördert der Buchdruck Wissens- und Imaginationspraktiken, die den Leser über die räumliche Distanz bspw. von Europa nach Amerika hinweg auch von einer zeitnahen Kommunikation sowie von der persönlichen Kenntnis der Urheber von Briefen, Reiseberichten etc. abkoppelt. Vgl. zu den Unterschieden zwischen hand- und druckschriftlich vermittelten Informationen über Amerika im 16. Jahrhundert Pieper: Die Vermittlung einer Neuen Welt. 51 Textausgabe: Zeno: Dello scoprimento dell’isole Frislanda... (mit Faksimiledruck der Originalausgabe von 1558). 52 Ebd., f. 53r. (Seitenangaben nach dem Faksimile des Originals).

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Allerdings kommt Antonio Zeno selbst nicht dort an, u.a. weil der Fischer, der die Route kennt und als Lotse fungieren soll, kurz vor der erneuten Expedition dorthin stirbt; Antonio fährt mit Zichmni dennoch los, doch aufgrund einer Meuterei sieht er sich gezwungen, mit einem Teil der Mannschaft zurückzukehren, während Zichmni seine Erkundungs- und Eroberungsfahrt erfolgreich fortsetzt. Der Reisebericht wird 1558 von einem Nachfahren der Familie namens Nicolò Zeno (dem Jüngeren) herausgegeben, angeblich aufgrund von überlieferten Briefen seiner Vorfahren Antonio und Nicolò dem Älteren, die sich in Familienbesitz befunden haben sollen. Die originalen Schriftzeugnisse sind laut Nicolò dem Jüngeren aber nicht mehr erhalten: Er hat sie eigenen Angaben zufolge als Kind unwissentlich vernichtet – gleichzeitig behauptet er aber, sich an ihren Inhalt genau zu erinnern und gibt sogar teilweise vor, wörtlich aus den Briefen Antonios zu zitieren. Angesichts der offensichtlich auch von dem vorgeblichen Herausgeber Nicolò Zeno empfundenen zweifelhaften Glaubwürdigkeit des Berichts kommt nun die Karte als legitimierende Instanz ins Spiel: Die „carta di nauigare“53 der beiden Vorfahren, die der Herausgeber im Nachlass der Familie gefunden haben will, soll als supplementäres Beweismittel vor allem dort eintreten, wo direkte Schriftzeugnisse verloren gegangen sind.54 Auch die Karte, die Nicolò der Jüngere schließlich publiziert, ist kein Originaldokument: Da das Original schon in schlechtem Zustand und unleserlich gewesen sei, behauptet der Herausgeber, er habe eine lesbare Kopie davon angefertigt und diese mit dem Reisebericht veröffentlicht. In der Tat zeigt die Karte, die dem Text von 1558 beigefügt wird (vgl. Abb. 3), all die im Reisebericht erwähnten Ziele, stellt sie dem Leser vor Augen und suggeriert somit durch visuelle evidentia die Richtigkeit des Berichts.55 De facto ist es jedoch offensichtlich, dass die Karte nicht die getreue Kopie eines unleserlichen Originals ist, sondern aus dem zeitgenössischen Kartenwissen des 16. Jahrhunderts kompiliert und mit den Bezeichnungen versehen wurde, die mit den Toponymen des Reiseberichts übereinstimmen. Dies zeigt schon die Tatsache, dass die Karte eine Projektion enthält, also auf einem Grundraster aus Längen- und Breitengraden beruht – ein Modell, das im ausgehenden 14. Jahrhundert vor der Wiederentdeckung der ptolemäischen Geographie mit ihren Projektionsverfahren gar nicht verfügbar war.

53 Vgl. ebd., f. 46v. 54 Vgl. ebd., f. 57r., wo Nicolò Zeno der Jüngere davon spricht, dass die Entdeckungen Zichmnis in der Karte beschrieben seien, während der Reisebericht selbst verloren gegangen sei („perche la ueggo particolarmente discretta nella carta di nauigare; nondimeno la narratione è perduta“). 55 Zur Rhetorik der evidentia vgl. Campe: „Vor Augen stellen“.

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Abb. 3: Angebliche Karte des Nicolò und Antonio Zeno (1558)56

Der entscheidende Punkt ist nun nicht derjenige, dass es sich bei der frühen Amerika-Reise der Gebrüder Zeno mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine Fälschung durch Nicolò den Jüngeren handelt.57 Interessant an diesem Fall ist vielmehr, dass die Berufung auf das Medium Karte als angeblich glaubwürdige Legitimation in pragmatischer Hinsicht de facto nicht für die tatsächliche Referenz auf ein bestimmtes Territorium einsteht, sondern nach dem imaginativen Muster einer fiktionalen Als-ob-Referenz sowie mit dem Kunstgriff einer Herausgeberfiktion operiert: Schon allein durch den Nachvollzug der Entdeckungsreise auf der Imaginationsfläche der Karte soll der Leser die Wahrheit des Berichteten glauben, der mediale Realitätseffekt tritt für die unprüfbare tatsächliche Referenz ein.58 56 Nach [Zeno]: The Voyages of the Venetian Brothers, Nicolò & Antonio Zeno to the Northern Seas in the XIVth Century, o.S. 57 So das Fazit des Herausgebers der Ausgabe, Fred W. Lucas, der in Aufarbeitung des im 19. Jahrhundert ausbrechenden Streits um die Authentizität des Reiseberichts zusammenfassend feststellt, bei dem Text handle es sich um „one of the most successful and most enduring literary impostures which has ever gulled a confying public“ (Zeno: Dello scoprimento dell’isole Frislanda..., S. 157 der Hrsg.-Einleitung). 58 Von hier aus wäre zu fragen, inwiefern kartographisch generierte Imaginationsräume in der Frühen Neuzeit dazu beitragen, das Verhältnis von fiktionalem und faktualem Erzählen überhaupt neu zu regeln, d.h. wie das kartographische als ob aus dem Verdacht der Fälschung heraustritt und zur Grundlage für kartographisch-literarische Fiktionen wird, die im modernen Roman seit Daniel Defoe über Robert Louis Stevenson und Jules Verne bis hin zu zeitgenössischen Karten-Texten ihre Ausprägung finden.

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Der Bericht des Nicolò Zeno entfaltet sein ganzes Wirkungspotenzial aber erst aus der Tatsache, dass die Vorstellung, jemand könnte schon lange vor Kolumbus Amerika entdeckt haben, nicht vor dem 16. Jahrhundert politisch relevant werden kann: An der zumindest möglichen Authentizität des Berichts besteht zeitgenössisch insofern politisches Interesse, als er eine alternative Geschichte der Entdeckung Amerikas entwirft, die die offizielle, seit dem Vertrag von Tordesillas kirchlich legitimierte geopolitische Aufteilung der Erde in eine spanische und eine portugiesische Machtsphäre durch eine konkurrierende Gründungserzählung in Frage stellt. Solche Konkurrenz-Entwürfe von Entdeckungen sind insbesondere für diejenigen Länder interessant, die nicht an der päpstlich legitimierten Aufteilung außereuropäischer Territorien beteiligt waren und nun nach alternativen Gründungserzählungen und damit verbundenen Ansprüchen suchen – so wird der Bericht bspw. im Jahr 1600 in die dritte Auflage der bedeutenden englischen Reisesammlung von Richard Hakluyt unter dem Titel Principall Navigations aufgenommen.59 Ganz abgesehen von solchen offensichtlich bewussten Fälschungen und ihrer Rezeption wirft die Frage nach der ersten Entdeckung Amerikas immer schon das Problem auf, dass die Entscheidung über das erste Mal nicht allein an dem faktischen Dort-Gewesensein festzumachen ist – auch Kolumbus war sicher nicht der erste Europäer, der in Amerika gelandet ist –, sondern an der medialen Verzeichnung dieser Neuheit als solcher, z.B. auf der bekannten Karte von Martin Waldseemüller aus dem Jahr 1507.60 Hier ist es wiederum trotz aller Kontingenzen der Namensgebung signifikant, dass Amerika seinen Namen nicht von Kolumbus bekommt, der ja auf der Suche nach etwas längst Bekanntem, nämlich der Ostküste Asiens war, sondern von Amerigo Vespucci, dessen Briefe überhaupt erst die Annahme einer Neuen Welt ins Spiel bringen. Erst in der Verknüpfung territorialer Inbesitznahme und symbolischer Bezeichnung eröffnet das geographische Wissen der Frühen Neuzeit mit der Karte als seinem Leitmedium eine territorialisierende Dynamik, die nicht mit der unproblematischen Referenz auf ein bestehendes Territorium zu verwechseln ist, aber auch nicht ganz auf einen referenziellen Bezug verzichten kann: Amerika wird also nicht einfach von Kolumbus oder einem seiner unbekannten Vorläufer entdeckt und genauso wenig als bloßer Name erfunden,61 sondern es entsteht im Akt der Verknüpfung eines bis dahin nicht näher bestimmten Territoriums mit der symbolischen Affirmation seiner Neuigkeit. Zusammenfassend bleibt vor allem eine Konsequenz festzuhalten, die aus diesen historischen Überlegungen zur frühneuzeitlichen Kartographie 59 Vgl. dazu Kiening: Das wilde Subjekt, S. 212-216. 60 Vgl. dazu u.a. Weigel: „Zum ‚topographical turn‘“, S. 151-153. 61 Vgl. zur Gegenüberstellung von Entdeckung und Erfindung Amerikas grundlegend O’Gorman: La invención de América.

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für die Frage nach der Konstitution von Räumen allgemein gezogen werden kann: Die Untersuchung eines spezifisch historischen Schubs von Territorialisierung in der Frühen Neuzeit ermöglicht die Kritik an einem naiven Verständnis von Räumlichkeit als Territorialität schlechthin, aber auch an einem Raumdenken, das glaubt, von territorialen Annahmen ganz abstrahieren zu können. Es dürfte klar geworden sein, dass es nicht darum gehen kann, Raumdenken als geodeterministische Territorialität in einem essentialistischen Sinn zu begründen, sondern als entscheidendes Moment sollte am Beispiel der frühneuzeitlichen Inbezugsetzung von Karte und Territorium die mediale Artikulation selbst aufgezeigt werden: Über sie konstituieren sich entdeckbare Territorien genauso wie erfindbare symbolische Raumbezeichnungen: Zwischen beiden besteht eine irreduzible Differenz, aber gleichzeitig auch eine positive Rückkoppelung: Territorialität wird überhaupt erst in dem Maße relevant, wie sie symbolisch adressiert wird, und umgekehrt differenziert sich das Zeichenverbundsystem Karte symbolisch in dem Maße aus, wie es zu einem Leitmedium der Operationalisierung von Raum wird. Gleichzeitig verhindert die mediale Artikulation aufgrund ihrer konstitutiven Differenz zwischen medialer Repräsentation und dem Repräsentierten jedoch auch, dass sich die territoriale Adressierung von Raum jemals in einer festen Ordnung der Repräsentation erschöpft.

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Bildwissenschaft. Spatial Turns in vier Einstellungen GIULIANA BRUNO

„Die Kunst, die Kino am nächsten steht, ist Architektur.“1 René Clair

Der Kreuzungspunkt von urbaner Kultur, Architektur und Film stellt ein höchst ergiebiges und Ertrag versprechendes Forschungsgebiet dar.2 Nachdem die Filmwissenschaft Jahrzehnte lang literaturwissenschaftlich dominiert war, partizipiert sie mittlerweile an jenem spatial turn, den Kulturgeschichte und Kulturtheorie in jüngster Zeit vollzogen haben. Im Gegenzug sind architektonische Praxis und Architekturtheorie ihrerseits im Begriff, eine bewegliche, kinematische Perspektive einzunehmen, und beeinflussen so auf unterschiedliche Weise den Diskurs um bewegte Bilder. Es folgen vier filmische Takes über diesen lebendigen Kreuzungspunkt.

Take 1: Geschichte und Moderne „Unbezweifelbarer Vorläufer des Films […] ist – Architektur.“3 Sergej M. Eisenstein

Das Verhältnis der Architektur zum bewegten Bild ist zunächst und vor allem ein Produkt der Geschichte. Forschungsnutzen verspräche zunächst 1 2

3

René Clair, zitiert nach Virilio, Paul: The Lost Dimension, New York 1991, S. 69 [in der Übers. v. Jörg Döring]. Der Original-Beitrag erschien unter dem Titel: „Visual Studies: Four Takes on Spatial Turns“, in: Journal of the Society of Architectural Historians, Vol. 65, Nr. 1, 2006, S. 23-24. Eisenstein, Sergej M.: „Montage and Architecture“, in: ders.: Selected Works. Vol. II: Towards a Theory of Montage, hrsg. von Michael Glenny und Richard Taylor, London 1991, S. 59-81, hier: S. 60 [in der Übers. v. Jörg Döring].

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eine Revision der Geschichte der Moderne. Film ist ein Produkt der Moderne, der Ära der Metropole, und hat von seinen Anfängen an einen urbanen Blickpunkt zum Ausdruck gebracht. Es war unmittelbar vor der Erfindung des Kinos, als ein Netzwerk architektonischer Formen so etwas wie eine neue Raumsichtbarkeit schuf. Durchgangsorte wie Arkaden, Brücken, Gleisanlagen, die Untergrundbahn, Motorflugzeuge, Wolkenkratzer, Warenhäuser, die Pavillons der Weltausstellungen, Häuser aus Glas und Wintergärten verkörperten eine neue Geographie der Moderne. Mobilität – eine Form von Kinematik – war das Wesen dieser neuen Architekturen. Indem sie die Beziehung zwischen räumlicher Wahrnehmung und körperlicher Bewegung veränderten, konnten diese Architekturen des Transits für die Erfindung des bewegten Bildes den Boden bereiten. Auf der Landkarte der Moderne wurde der Kinogänger, ein Verwandter des Bahnreisenden und des Stadtstreichers, zum neuen Flaneur.

Take 2: Kritische Theorie, räumlich „Ließe nicht ein passionierender Film sich aus dem Stadtplan von Paris gewinnen? […] [A]us der Verdichtung einer jahrhundertelangen Bewegung von Straßen, Boulevards, Passagen, Plätzen im Zeitraum einer halben Stunde?“4 Walter Benjamin

Der Zusammenhang von Film und urbaner Kultur, der sich kulturgeschichtlich herausbildete, beschäftigt längst auch den kritischen Diskurs über Modernität. Die innovative unter der neueren Moderneforschung beschäftigt sich mit der bewegenden städtischen Kultur als einem abwechslungsreichen Theater der Sinne. Und das Kino partizipiert an dieser neuen, gleichsam schweifenden Kulturgeographie, indem es den Raum auf eine haptische Weise beständig wiedererfindet. Man denke an Siegfried Kracauer, der schon vor langer Zeit die erregende, fast greifbare Anziehungskraft bemerkte, welche die Stadt für das Kino bedeutet: die Straßen, das Trottoir, Füße, die über Kopfsteinpflaster eilen. Die Affinität zwischen Kino und Stadt erstreckt sich auch auf das Vergängliche, weil die Straße der Ort vergänglicher Eindrücke ist – so wie das Kino. Aus Sicht der neueren Forschung zum Raum hat das Bild der Stadt sehr viel mit filmischer Repräsentation zu tun. Kino als Kunstform der Straße wird zu einer architektonischen Praxis, ein Akteur des Aufbaus von Stadtansichten. Das Bild der Straße wird wohl ebenso filmisch wie architektonisch „konstruiert“.

4

Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1983, S. 135.

BILDWISSENSCHAFT Ň 73

Take 3: Filmische und architektonische Promenaden „Raum […] in einem sozialen Sinne ist überhaupt nur da für Aktivität – für das Laufen […] und Reisen (und vermöge derselben).“5 Henri Lefebvre

Neuere historische wie theoretische Forschung erkennt im filmischen Ablauf eine moderne Version des architektonischen Itinerars. Dieser Zusammenhang ist in erster Linie textueller Natur, weil er unsere Fähigkeit betrifft, den Raum zu lesen. Man liest ein architektonisches Ensemble, indem man es durchquert. Das gilt im selben Maße für das Kinoerlebnis, denn auch Film wird gelesen, indem man ihn durchquert, und ist überhaupt nur lesbar, insofern er durchquerbar ist. So wie wir durch ihn hindurchgehen, geht er durch uns. Ein (Kino-)Gänger ist das Subjekt dieser Praxis – einer Passage durch Räume von Licht. Diejenige, die ein Gebäude oder eine Stätte durchwandert, handelt genau so wie die Zuschauerin im Kino: sie nimmt visuelle Räume in sich auf und setzt sie zusammen. Die veränderliche Position des Körpers im Raum schafft sowohl architektonische wie kinematographische Orte. Architektonische Rahmen sind ebenso wie die Kadrierung des Filmbildes veränderlich durch die offene Beziehung zwischen Bewegungen und Ereignissen. Diese Bewegungen sind Raumpraktiken, lauter Plots, die aus dem alltäglichen Leben gegriffen sind. Letztlich sind es solche Stadterfahrungen – die Dynamik von Raum, Bewegung und gelebten Geschichten – in denen auch die Wirkungsweise des Kinos sich verkörpert. Zwei Promenaden, die einander vertraut sind.

Take 4: Haptisches Design „raumgestaltung ist heute vielmehr ein verwobensein von raumteilen, die meist in unsichtbaren, aber deutlich spürbaren bewegungsbeziehungen aller dimensionsrichtungen und in fluktuierenden kräfteverhältnissen verankert sind.“6 László Moholy-Nagy

Schließlich stößt diese neue Raum- und Bewegungsforschung auch auf bewegliche Gebiete des Innern – seelische Landschaften. Wie die Stadt so

5 6

Lefebvre, Henri: The Production of Space, Oxford/Cambridge, MA 1991, S. 191 [in der Übers. v. Jörg Döring]. Moholy-Nagy, László: Von Material zu Architektur, (Faksimile der 1929 erschienenen Erstausgabe. Mit einem Aufsatz von Otto Stelzer und einem Beitrag des Herausgebers), Mainz/Berlin 1968, S. 211.

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das Kino: es bewegt sich äußerlich wie es innerlich bewegt. Beide schicken uns auf eine Reise durch den Raum der Imagination, entlang der Orte der Erinnerung, hinein in die Topographie der Affekte. Dieses mentale Itinerar ist letztlich der Grund dafür, dass wir Film als diejenige Kunst ansehen, die der Architektur am nächsten ist. Das Kino erzeugt mentale und emotionale Landkarten, ist durchlässig für Verkehr aller Art – genau wie Architektur. Ablagerungen des kulturellen Gedächtnisses, zu Hybriden verdichtete Geschichte und psychogeographischer Taumel: die räumliche Praxis filmischer Wahrnehmung nimmt dies alles in sich auf. Als Vehikel für Kulturreisen offeriert das Kino Kamerafahrten für solche Kulturen, die ihrerseits auf der Reise sind. Wie die Stadt selbst, ist der Film eine bewegende innere Landschaft, eine bewegliche Landkarte – ein Abdruck innerer Differenzen ebenso wie der einer äußeren Reise quer durch alle Kulturen. Zusammengefasst heißt das: Wenn wir diese bewegliche, gleichsam urbane Perspektive für Architektur und Film gleichermaßen – etwas, das man vordergründig als rein statisch bzw. rein visuell angesehen hat – einnehmen wollen, dann werden wir nicht umhin können, unsere Wahrnehmung dieser Kunstformen zu verändern. Sich auf diese Kino- und Architekturforschung einzulassen – nicht bloß optisch, sondern haptisch – heißt alte Oppositionen zu zerstören: die Oppositionen von immobil – mobil, drinnen – draußen, privat – öffentlich, Verweilen – Reisen. Architektur und Kino sind permeable Räume. Sie siedeln im Zwischenraum von Behausung und Bewegung, und genau dadurch stellen sie die Grenzen dieser Unterscheidung in Frage. Sie zwingen uns, kulturelle Ausdrucksgestalten überhaupt neu zu denken: als einen Schauplatz inneren wie äußeren Reisens und Verweilens – als Raum des Zwischen. Aus dem Englischen übersetzt von Jörg Döring

„Trägheit des Raums“. Fernand Braudel und die Spatial Stories der Geschichtswissenschaft ERIC PILTZ

In seinem Internettagebuch schreibt der Humangeograph Yi-Fu Tuan1, dass Geschichte interessanter sei als Geographie, dort spannende Kriege, hier langweiliger Frieden beobachtet würden. Daher würden Bücher der Geographie selten gelesen und fast nie in der populären Presse rezensiert.2 Dass Historiker sich eher mit Kriegen befassen als mit den klassischen Objekten der Geographen, den Räumen, scheint auch unter so reflektierten Denkern wie Tuan noch ein Allgemeinplatz. Die Frage zu stellen, wovon Historiker sprechen, wenn sie dennoch von Raum oder Räumen sprechen, erscheint insofern nicht abseitig. Nicht der Raum der Geschichte interessiert aber hier, sondern die Frage, wovon die Rede ist, wenn in der Geschichtswissenschaft von Raum gesprochen wird. Zu fragmentiert ist das Fach, als dass sich hier mehr als ein wahrnehmbares Hintergrundrauschen feststellen ließe, das als spatial turn in die Begriffssprache des Faches einzieht, von dem hier die Frühe Neuzeit im Mittelpunkt steht. Doch können sehr wohl Modi erkannt werden, mit denen Raum gedacht wird (Kap. 1). Anhand von Fernand Braudel kann beispielhaft nachvollzogen werden, wie Raum von Seiten der Frühneuzeithistoriker konzeptualisiert und metaphorisiert wird (Kap. 2). Wenn es stimmt, dass Braudel „mehr getan hat, unsere Begriffe von Raum und Zeit zu verändern, als jeder andere Historiker unseres Jahrhunderts“3, bezie1 2

3

Mit seinem Buch Space and place hat Tuan die Humangeographie als akademische Disziplin etabliert. Vgl. Tuan: „Dear Colleague“. Für Frankreich stellt Jacques Lévy fest, dass die Geographie in institutionellen Rahmenbedingungen verankert sei, aber nur eine periphere Position in der Gesellschaft einnehme, in Lévy: „Eine geographische Wende“, S. 136. Burke: Offene Geschichte, S. 45. Gemeint ist hier das 20. Jahrhundert.

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hungsweise wenn wir annehmen können, dass Aussagen wie diese durch einen selbst wiederum viel gelesenen, oft zitierten und renommierten Historiker wie Peter Burke meinungsbildend im wissenschaftlichen Diskurs sind, dann ist damit bereits ein lohnendes Ziel beschrieben: Zumindest den einflussreichen Raumbegriffen nachzugehen und festzustellen, worin letztlich das lohnenswert Neue für eine rauminteressierte Geschichtswissenschaft liegen kann (Kap. 3).

1 Räume der Historiker Mit der geopolitischen Formel vom „Volk ohne Raum“ (Hans Grimm), so heißt es, schien Raum als epistemologische Kategorie geradezu desavouiert, so dass nunmehr umgekehrt von einer „Wiederkehr des Raumes“4, zumindest vor einem deutschen Wissenschaftshintergrund, die Rede sein kann.5 Der Entdeckergestus, der den Arbeiten, die den spatial turn bedienen, zumeist vorgeschaltet ist, muss als ein gängiger Modus der Plausibilisierung betrachtet werden. Das Aufdecken von Desideraten fungiert als Rechtfertigung für die eigene Untersuchung. Dieses Verfahren ist nicht kritikwürdig, sondern Ausdruck der Wissenschaftlichkeit der Disziplin. Gleichzeitig kann aber kritisch gefragt werden, ob die Ausrufung eines turn nun als Paradigmen-Wechsel zu verstehen wäre oder nicht sinnvoller als Gleichzeitigkeit von Aufmerksamkeitssteigerung und Plausibilität.6 Auf diese Weise würden statt Ausschließlichkeiten Denk-Möglichkeiten produziert. Karl Schlögel, der mit dem Titel seines Buches über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik Friedrich Ratzel zitiert, hat die Reflexionsbreite des Raum-Themas offen gelegt. Darin verweist er auf die Eigentümlichkeit von Paradigmenwechseln, deren Durchsetzungsmuster darin 4 5

6

Osterhammel: „Die Wiederkehr des Raumes“. Die semantischen Unterschiede von Raum/space/espace/spazio etc. sind nicht unwichtig für die Wissenschaftstraditionen der raumbezogenen Wissenschaften, können hier aber nicht ausgeführt werden. Siehe für nähere Hinweise Shields: „Knowing Space“, S. 147: „‚L’espace‘ does not mean just ‚space‘. By contrast, English-language theorists have often limited their appreciation of space to a quantitative definition with reference to distance and to time (and vice versa, e.g. graphically on a calendar)“. „Die inflationär gewordene Rede vom turn hat auch das Gute an sich, daß sie den Einzigartigkeits- und Ausschließlichkeitsanspruch unterminiert oder ironisiert. Das ist gut so. Turns und Wendungen sind ja keine Neuentdeckung oder Neuerfindungen der Welt, sondern Verschiebungen von Blickwinkel und Zugängen, die bisher nicht oder nur wenig beleuchtete Seiten sichtbar werden lassen. […] Spatial turn: das heißt daher lediglich: gesteigerte Aufmerksamkeit für die räumliche Seite der geschichtlichen Welt – nicht mehr, aber auch nicht weniger“ [Herv. i. Orig.], in: Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S. 68.

„TRÄGHEIT DES RAUMS“ Ň 77

besteht, dass „sie längst vollzogen sind, wenn von ihnen die Rede ist“.7 Anders aber als der linguistic turn hat die Betonung der Räumlichkeit der Geschichte oder der Verräumlichung der Geschichte noch keine vergleichbaren Kontroversen zur Folge.8 Während es bei den Debatten um die Narrativität einer Wissenschaft noch möglich war, sich anhand von Personen zu positionieren – bist du für Hayden White oder gegen ihn, für Foucault etc. oder dagegen – ist Vergleichbares im Gefolge des spatial turn bislang ausgeblieben. Dies mag u.a. daran liegen, dass physische Einheiten, die als Akteure oder Entitäten behandelt wurden, stets ein Faktor historiographischer Deutungsmuster waren, seien es Staaten, Regionen oder Städte, die in ihrer räumlichen Ausprägung beschrieben wurden. Räume als Territorien und Behälter sind somit der Geschichtsschreibung nicht fremd, doch als die eigentliche Kategorie historischen Denkens galt stets die Zeit, als eine gemeinsame Währung diachroner und synchroner Beobachtungsmuster. Als Obsession des 19. Jahrhunderts, wie es Foucault formuliert,9 hat sie über den Historismus maßgeblich die Historiographie beeinflusst.10 Wenn dagegen in der Geschichte der Frühen Neuzeit von einer Veränderung der Raumwahrnehmung die Rede ist, dann wird dies häufig mit Ereignissen verbunden, die zeitlich eingeordnet werden. Zum einen die geographischen Entdeckungen: Amerika, die Terra australis, die wissenschaftliche und koloniale Eroberung der Kontinente; zum anderen: die Entdeckung des heliozentrischen Weltbildes – beide Ereignisse waren für das Weltbild und mithin die Raumvorstellung der Frühen Neuzeit prägend. Für die oft beschriebene Entdeckung der Landschaft findet sich kein vergleichbares Ereignis. Symbolisiert wird die literarische und künstlerische Eroberung des Horizontes bisweilen aber mit der Besteigung des Mont Ventoux am 26. April 1336 durch Petrarca, der vom Berg aus sowohl über das Sichtbare als auch das Verborgene in Gestalt der außer Sichtweite liegenden Pyrenäen reflektiert und die Umgebung gemäß seiner ihm vorgeschalteten mentalen Karte ordnet.11 Weiterhin ist die Raum revolutionierende Wirkung des Postwesens nicht zu unterschätzen.12 7 8

Ebd., S. 61. Vgl.: Chartier: „Zeit der Zweifel“ und Schöttler: „Wer hat Angst vor dem ‚linguistic turn‘?“. 9 Vgl. Foucault: „Andere Räume“. 10 Dabei waren auch historische Zeit- und Epocheneinteilungen wie Renaissance oder Reformation Geschichten, die vertikal organisiert waren, wenn von ‚Grundlagen‘ und ‚Ursprüngen‘ gesprochen wurde und historische Prozesse als etwas dargestellt wurden, „was die quasi geologische Basis des eigenen Standpunktes ausmache, sich ‚unter‘ einem befinde“, wie es Valentin Groebner treffend beobachtet, in: „Welche Themen, wessen Frühe Neuzeit?“, S. 24. 11 Vgl. Stierle: „Die Entdeckung der Landschaft in Literatur und Malerei der italienischen Renaissance“. 12 Siehe dazu die umfassende Studie von Behringer: Im Zeichen des Merkur.

78 Ň ERIC PILTZ

Diese historischen Ereignisse sind im Folgenden nicht der Kern meiner Beobachtungen, sondern die Wiederkehr des Raumes als epistemologische Kategorie, die eben auch zu einem anderen Blick auf die genannten Ereignisse geführt hat. Unser (wissenschaftliches und vorwissenschaftliches) Verständnis von Vergangenheit ist davon beeinflusst, dass unsere Konzepte und Analysen, die ja letztlich Ausdruck unserer Gegenwart sind, zunehmend von einer räumlichen Herangehensweise gekennzeichnet sind. Zumindest für den Fall, dass sie es sind, steigert es unsere Aufmerksamkeit für Phänomene in ihrer räumlichen Ausprägung. Das angesprochene geringere Konfliktpotential, oder anders ausgedrückt: das Ausbleiben von Abwehrreaktionen, mag daran liegen, dass das Terrain des Historikers nicht bedroht wird und der Begriff Raum unproblematisch und anschlussfähig erscheint. Das Bedeutungsspektrum ist dabei groß genug, um Verständigung zu ermöglichen und unterschiedlichen Raumbegriffen Platz zu bieten. So provoziert die Rede vom Raum oder die Betonung, dass Geschichte etwas mit Raum zu tun hat, allerorten Zustimmung, ohne dass klar ist, dass die Zustimmung auf verschiedenen Raumbegriffen fußt. Alles was man tun muss, um ein Historiker des Raumes zu sein, ist von Politik, Wirtschaft, Kultur zu sprechen und dabei die räumliche Bedeutung zu betonen. Aber reicht das? 2001 erschien, als Handbuch und Einführung konzipiert, der Aufriß der Historischen Wissenschaften, Band 2: Räume. Ein erster Blick auf die Gliederung zeigt sofort, dass unter räumlicher Gliederung verstanden wird, zwischen Universalgeschichte, europäischer, osteuropäischer, deutscher und Landesgeschichte zu trennen, also die etablierten Subdisziplinen des Faches, die jeweils andere (territoriale) Raumordnungen erfassen, aufzufächern. Die lesenswerten Beiträge verzichten aber auf eine analytische Klärung ihres opus operandum, was insofern auch nicht notwendig erscheinen mag, wenn mit dem Begriff Raum/Räume aufgrund seiner Offenheit jeweils andere Einheiten erfasst werden können (Europa, Südosteuropa etc.), die eine geographische Bestimmung ihrer an den physischen/mentalen Rändern unscharfen Räume zulassen.13 Will man nun von einer Wiederkehr in der deutschsprachigen scientific community sprechen, so könnte man den Historikertag von 1986 nennen, dessen Titel „Raum und Geschichte“ war.14 Den Schlussvortrag bestritt Reinhart Koselleck. Darin gemahnte er, dass es bisher an einer „gründliche[n] historische[n] Begriffsgeschichte des Begriffes ‚Raum‘“ fehle15 und sieht die Frage nach dem Verhältnis von Raum und Geschichte durch zwei Pole gezeichnet: die „Naturvorgegebenheit jeder menschlichen Geschichte“ und die „Räume, die sich der Mensch selber schafft“.16 Koselleck unter13 14 15 16

Vgl. Maurer: Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 2. Vgl. den Beitrag von Middell in diesem Band. Koselleck: „Raum und Geschichte“, S. 79. Ebd., S. 83.

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scheidet also einen metahistorischen Raum von einem historisierbaren. Letzterer unterliegt sozialen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen. Die Natur – und wir könnten hier ergänzen: die Geographie – gibt einen Rahmen vor, innerhalb dessen Geschichte passiert. Beide bleiben nicht unvermittelt. So mögen die geographischen Bedingungen gleich bleiben, doch ändert sich ihre räumliche Qualität, wenn die Bedingungen ihrer Nutzung sich ändern, wenn beispielsweise die Alpen von unpassierbaren Grenzen zu Aktionsräumen werden. Über ein Jahrzehnt zuvor hatte Koselleck bereits ähnliches formuliert. Er sieht „geographisch-räumliche Vorgegebenheiten in Beziehung zu ihrer technischen Verfügbarkeit, woraus anhaltende Möglichkeiten politischen Handelns, wirtschaftlicher oder sozialer Verhaltensweisen entspringen.“17 Dahinter steht die Annahme eines belebten und eines unbelebten Raumes mit gegenseitiger Wechselwirkung. Mit Koselleck kann hier im Hinblick auf den geschichtlichen Raumbegriff Folgendes gezeigt werden: Zweifellos ist ihm zuzustimmen, dass derartige Wechselbeziehungen und humane Inbesitznahmen geographischer Gebiete einen nicht zu überschätzenden Anteil der Geschichte bilden. Gleichzeitig erkennen wir in seinen Ausführungen zwei Muster: erstens eine enge begriffliche Anlehnung an Natur und Geographie – ein Konnex, auf den ich noch näher eingehen werde –, und zweitens die Verwendung von Raum als einer Beschreibungskategorie, die ich als einen von drei Modi beobachte, die in den Erzählmustern der Geschichtswissenschaft virulent sind. Der gängigste Modus ist die Verwendung von Raum als Metapher. Die Raummetaphorik ist omnipräsent und diffundiert nicht selten von der Alltags- in die Wissenschaftssprache. Auffällig wird es, wenn ein räumliches Untersuchungsobjekt mit räumelnden Metaphern beschrieben wird, wie es anhand von Fernand Braudel zu zeigen sein wird. Aber auch Bezeichnungen wie Kommunikationsraum oder Möglichkeitsraum fehlt es an einer näheren Bestimmung, sie bleiben deskriptiv-metaphorisch.18 Unter Beschreibungskategorie verstehe ich dagegen die Verwendung des Raumbegriffs unter seiner Reduzierbarkeit auf fixierbare Größen als analytische Kategorien. Die Verwendung des Begriffes Raum als Beschreibungskategorie ist vermutlich die häufigste in der Geschichtsschreibung. Dabei werden physisch-topographisch erfassbare Einheiten als Räume unterschiedlicher Größe vorgestellt.19 Eine übliche Kategorisierung wäre der heuristische Aufriss in Mikro-, Meso- und Makroebene, wie ihn Dieter Läpple in einem Plädoyer für ein gesellschaftszentriertes Raumkon17 Koselleck: „Ereignis und Struktur“, S. 562. 18 Siehe Hinweis bei Rolshoven: „Von der Kulturraum- zur Raumkulturforschung“, S. 189. 19 Zu nennen wären Stadt, Stadtlandschaften, Region, Staat etc. Vgl. zuletzt: Burkhardt u.a.: Geschichte in Räumen.

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zept vorgeschlagen hat. Für die Raumanalyse unterscheidet er den körpernahen Mikro-Raum, den städtischen, regionalen oder netzwerkartigen Meso-Raum und den nationalen oder internationalen Makro-Raum.20 Dies allein ist aber nicht ausreichend, um eine Antwort auf die Frage zu geben, wie und mit welchen Voraussetzungen und Handlungskonzepten jede dieser Stufen zu analysieren wäre.21 Die Feststellung, dass „Räume nicht durch greifbare Wände abgeteilt sein müssen“ und sie „häufig auch mit symbolischen Bedeutungen ausgestattet sind“,22 ist entscheidend. So weist z.B. der Raum der Stadt über die Stadtmauern hinweg. Die Streitfälle und handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Reichsstädten und Territorialfürsten in der Frage der Grenzziehung, symbolisch markiert durch Grenzsteine und ephemere Erscheinungen wie das Geleit, sind dabei nur ein markanter Ausdruck.23 Daher lassen sich verstärkt Versuche beobachten, Raum als einem Medium gerecht zu werden, durch das Kommunikation und Handeln vermittelt werden. In diesem Verständnis wird Raum nicht von vornherein eine physische Konkretion zugewiesen. An einem Ort können mehrere Räume sein, so können räumliche Platzierungen ein asymmetrisches Machtverhältnis repräsentieren oder beispielsweise genderspezifische Konstellationen institutionalisieren.24 Rudolf Schlögl hat mit dezidiertem Blick auf die vormoderne Stadt vorgeschlagen, Raum als Universalmedium zu verstehen und dafür zwischen vier Raum-Phänomenen zu unterscheiden: architektonisch manifestierte Räume, ephemere Räume, die wie der Marktplatz von Ritualen markiert, zeitlich begrenzt und regelmäßig wiederkehrend sind, virtuelle Räume, die der Markierung bedürfen. Sie bleiben abstrakt und prekär und sind mit dem Anspruch großer Dauer versehen. Als Ehre oder Herrschaft stellen sie die eigentlichen Machträume dar. Schließlich die zu Raumordnungen verschachtelten Räume, unter denen bezogen auf die Stadt die spezifische religiöse oder ökonomische Topologie zu verstehen ist. 20 Läpple: „Essay über den Raum“. Dieser Aufsatz wird nicht ohne Berechtigung von historischen Arbeiten, die auf die Genese des spatial turn verweisen, häufig zitiert. Vgl. Sandl: „Bauernland, Fürstenstaat, Altes Reich“. 21 Eine Kategorisierung nach Ebenen kann die Grenzen des Untersuchungsobjektes definieren. Dann gilt es meines Erachtens die Herstellung dieser Räume zu beobachten. In Hochmuth/Rau: Machträume der frühneuzeitlichen Stadt, werden die Einzeluntersuchungen in Städte, Stadt-Räume, Stadt-Teile und Stadt-Orte unterteilt, um dann die Herstellungsprozesse von Räumen und Grenzen zu analysieren. 22 Hausen: „Frauenräume“, S. 13. 23 Siehe dazu: Krischer: „Grenzen setzen. Macht, Raum und die Ehre der Reichsstädte“. 24 Signori: „Links oder Rechts? Zum ‚Platz der Frau‘ in der mittelalterlichen Kirche“. Für Rudolf Schlögl bildet der Raum ein entscheidendes „Element in der Hervorbringung sozialer Ordnung“, in: „Der Raum als ‚Universalmedium‘ in der frühneuzeitlichen Stadt“, S. 3.

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Dieses Schema verspricht heuristisches Potential, geht es doch von einer frühneuzeitlichen Anwesenheitsgesellschaft aus, die von unmittelbarer Kommunikation dominiert wird25 und dabei der Gutenberg-Galaxis eine körperbezogene Kommunikation an die Seite stellt.26 Aus diesem Modell ergibt sich, dass ephemere Räume, wie z.B. Simultaneen27 mit alternierendem katholischen und reformierten Gottesdienst, architektonisch manifest platziert sind. Sie haben ihren Ort dort, wo mehrere Räume sich überlagern und miteinander um deren symbolische Deutungsmacht konkurrieren können. Im architektonisch umgrenzten Raum des frühneuzeitlichen Wirtshauses können Feste oder Gerichtstage temporäre Umdeutungen vornehmen und Ehre und Macht verhandelt werden.28 Manifester Raum und ephemerer und virtueller Raum überlagern sich, lassen sich aber analytisch aufschlüsseln. Das Interessante an Schlögls Vorschlag ist, dass Raum hier nicht als Beschreibungskategorie für einen abgrenzbaren Makro- oder Mikrobereich verhandelt wird. Raum wird selbst zum Medium, das wie die Sprache eine Vermittlungsfunktion übernimmt. Entlang dieses Verständnisses ist der Begriff Raum nicht auf seine physische Erscheinung beschränkt. Vielmehr zielt die Herangehensweise, Raum als ein Medium zu betrachten, auf die Herstellung von mit Bedeutung aufgeladenen Objekten und ihrer Situierung in einem räumlichen Ensemble. Die Leitfrage ist nicht die nach der physischen Qualität des Raumes, sondern nach dessen sozialer und kultureller Aneignung. Diese drei Modi resultieren aus der Beobachtung des aktuellen Raumdiskurses und den Versuchen, Raum zu definieren und mit ihm zu arbeiten. Sie liefern zugleich den Ansatzpunkt, einen gezielten Blick auf die Lesarten des Raums zu werfen, die sich bei und anhand von Fernand Braudel finden lassen.

2 Fernand Braudel: Lesarten des Raums Als der französische Historiker Fernand Braudel 1985 starb, hinterließ er ein Gesamtwerk, das viel zitiert wird und dessen Einfluss ein Allgemeinplatz in der Historiographie ist.29

25 Schlögls Kommunikationsbegriff ist Niklas Luhmann entlehnt. 26 Zur heutigen Raumerfassung über Distanzmodi vgl. Zakharine: Von Angesicht zu Angesicht. 27 Zu kirchräumlichen Problemen in bikonfessionellen Städten vgl. Volkland: Konfession und Selbstverständnis. 28 Vgl. Schwerhoff: „Das Gelage“. 29 Eine kurze biographische Einführung bietet Raphael: „Fernand Braudel“. Eine umfangreiche Biographie liegt vor von Daix: Braudel.

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Der Verweis auf Braudel fungiert wissenschaftsstrategisch als plausibilisierende Letztreferenz. Plausibel ist eine Letztreferenz dann, wenn Akzeptanz des Autors (und dessen unbestrittene Wirkung) in der Wissenschaftsgemeinschaft mit einer Rezeption des Werks konvergieren, die zwischen Unkenntnis und Einzellektüre oszilliert. Diese Praxis ist weder unlauter noch unerklärlich. Im Falle von Fernand Braudel steht sein Name stellvertretend für eine ganze Historikergeneration, die über die Zeitschrift Annales enormes Innovationspotential in die deutsche Geschichtsschreibung einspeiste. Weiterhin ist sein Name schlagwortartig mit den Begriffen Mittelmeer, Geographie, Strukturgeschichte und vor allem longue durée verbunden.30 Wer Mittelmeer sagt, kann von Braudel nicht schweigen:31 Mit Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. hat er eine dankbare Referenzgröße geschaffen, um die man nicht umhin kann, will man die Verbindung von Geschichte und Geographie betonen oder beleben. Braudel steht für den Typus des Historikers, der historiographiegeschichtlich gesehen neue Bahnen eingeschlagen hat. Besonders bei ihm lässt sich der Frage nachgehen: Welchen Begriff von Raum hat die Geschichtswissenschaft? Gerade Braudel steht für eine starke Raumbezogenheit der Geschichte: „La Méditerranée vermag, wie kaum ein anderes Buch zuvor, seinen Lesern einen Eindruck von der Bedeutung des Raumes für die Geschichte zu vermitteln.“32 Gerade weil er immer wieder als Beispiel herangezogen wird, wenn es gilt, die blinden Flecken der deutschen Geschichtsschreibung zu brandmarken, lohnt es sich, noch einmal in jenes Werk einen Blick zu tun, das diesen Ruf begründet hat. War Braudel demnach ein Verfechter des spatial turn avant la lettre? Welcher Gestalt war sein Raumbegriff? Ich möchte auf drei Wegen antworten. Der erste Weg führt mich direkt durch die Mediterranée und das Werk Braudels. Einige Beispiele sollen genügen, um zu verdeutlichen, mit welchen Bildern Braudel arbeitet und welche Metaphern er einsetzt, wenn er den Raum beschreibt, wie er Raum als Beschreibungskategorie verwendet und welche Rolle Raum als Medium spielt. Anschließend frage ich auf einem zweiten Weg, wie sich die Nähe zur Geographie bei Braudel ausdrückte und welche Anknüpfungen er selbst vornahm, um in einem dritten Schritt auf Relationismen und Determinismen Braudels einzugehen.33

30 Ich konzentriere mich in diesem Aufsatz auf Braudels Raumbegriff und setze damit bewusst die häufig diskutierten und vorgestellten Konzepte der Zeitebenen von Struktur, Konjunktur und Ereignis voraus. 31 Chaunu: „La Méditerranée c’est Braudel“. 32 Am deutlichsten wiederum Burke: Offene Geschichte, S. 46. 33 Außen vor lasse ich dabei sein Spätwerk L’identité de la France, in dem Braudel weit abrückt von seiner ursprünglichen Konzeption. Darin stellt er sich bewusst in die nationale Tradition Jules Michelets. Insofern bietet sich dieses Werk für eine vertiefte Untersuchung Braudels an im Hinblick auf die

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Raumbilder Paul Ricœur hat in Temps et récit bekanntermaßen die proklamierte Zäsur verworfen, die von quantifizierender Geschichtsschreibung und Strukturgeschichte behauptet wurde, indem er feststellte, dass jegliche (historiographische) Darstellungsform narrativ ist.34 Gesellschaft, Mentalitäten, Klassen etc. treten als Entitäten auf, denen eine Quasipersonalität zuwächst, ausgestattet mit Eigenschaften, die dem Erzählen von Heldengeschichten nicht unähnlich ist. Die Erzählung Braudels basiert nicht minder – so Ricœur – auf einer Analogie zwischen der Zeit des Meeres und der des Königs.35 Doch hat Braudel nie verhehlt, dass er an einer Erzählung arbeitet, die der Totalität des Lebens und der Geschichte zwar gerecht werden will, aber letztlich – als Erzählung – nie vollständig, d.h. abgeschlossen sein kann.36 Mit dieser Erzählung, die den Zeiten der langen Dauer, den Strukturen, den großen geographischen Räumen den Vorzug gibt, verwendet Braudel bestimmte Ausdrücke, die nur beispielhaft herausgegriffen werden können, um zu umreißen, was er meint, wenn er Raum sagt. Im zweiten Band der Méditerranée heißt ein Kapitel Die großen Reiche und der Raum, ein anderes Raum und Wirtschaft. Dominiert werden beide zunächst von wirtschaftsgeschichtlichen Überlegungen. Diese definieren den Raum über Entfernungen, die für den Handel, dem Fokus des zweiten Bandes, ein Hindernis oder eine Hilfe sind. So heißt es: „Jede Aktivität stößt auf den Widerstand, die Zwänge des Raums und muß sich danach richten. Zu Langsamkeit, zu mühseligen Vorbereitungen und unvermeidlichen Pannen verdammt, ist die mediterrane Wirtschaft von vornherein nur unter Berücksichtigung von Entfernungen zu beurteilen“.37

Die Vielgestaltigkeit des Raumes widerspricht zunächst seiner Statik – Bewegung ist das Leitmotiv, wenn die Nutzung des Raumes, also der Handel in diesem Fall, ins Spiel kommt. Und die kaum zu berechnenden aber

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Selbstverortung in der historiographischen Tradition und im Hinblick auf die implizierte Begrenzung auf den nationalstaatlichen Raum. Vgl. Ricœur: Temps et récit, v.a. S. 365-384. Beispiele für Personifizierungen und die Trope der Metonymie liefert u.a.: Lutz: „Braudels La Méditerranée“, S. 338. Ich teile die Einschätzung von Peter Burke, dass die sogenannte Nouvelle Histoire niemals abgelehnt hat zu erzählen. Vgl. Burke: „Review of: Philippe Carrard“. Dafür spricht auch Braudels Lob der klassisch-biographischen Erzählweise in der Besprechung von Claude Manceron, in: Braudel: „Une parfaite réussite“. Zu diesem Komplex siehe jetzt (allerdings ohne Einzelanalyse von Braudel) Rüth: Erzählte Geschichte. Braudel: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., Bd. 2, S. 46.

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stets einzurechnenden Widrigkeiten, die dem Mittelmeerhandel des 16. Jahrhunderts (und nicht nur dem) zu Eigen waren und ihn gestalteten: Die „langsamen Kreisläufe sind ein allgemeines Übel. Waren, Bargeld und Wechselbriefe sind in dieser oder jener Richtung unterwegs, sie kreuzen sich, begegnen sich oder warten aufeinander.“38 Gleichzeitig bedient sich Braudel einer bildreichen Sprache, die unter der Hand eine bestimmte Vorstellung dieses Raums insinuiert, so dass Raum bei ihm zu etwas Greifbarem und mithin Angreifbarem wird: „Der Mensch mag den Raum angreifen, soviel er will – er mag die verstärkt bemannten Galeeren treiben, bis die Ruder splittern, er mag die Pferde zu Tode hetzen oder sich der Illusion hingeben, bei gutem Wind über das Meer zu fliegen –, der Raum widersteht allein durch seine Trägheit; jenseits aller vergänglichen Heldentaten fordert er Tag für Tag Genugtuung.“39

Hier wird der Raum bildhaft zum „Feind Nummer eins“ 40. Es scheint, als könne der Mensch des 16. Jahrhunderts – so wie er bei Febvre nicht nicht glauben kann – den Raum nur phasenweise für sich nutzen, ihn zu bezwingen ist ihm nicht gegeben.41 Das fluide Element des Wassers und dessen intrinsische Ungreifbarkeit verleitet dazu, diesem Bild der splitternden Ruder nur allzu viel Überzeugungskraft zuzugestehen. Den Raum angreifen zu können, setzt jedoch eine physische Qualität voraus, ebenso wenn er die Möglichkeit sieht, „in der tödlichen Trägheit des Raumes“42 gefangen zu werden. Die Suggestionskraft des Erzählers Braudel ist enorm. Der Mensch als Handelnder und, ganz ökonomisch, als Händler steht entweder im Einklang oder in Opposition zum Raum, allerdings mit geringem Einfluss: „So bin ich bei der Betrachtung eines Individuums immer wieder versucht, es eingebunden in ein Geschick zu sehen, das es kaum selber gestalten kann, in eine Landschaft gestellt, die sich hinter ihm und vor ihm in den unendlichen Perspektiven einer ‚langen Dauer‘ erstreckt.“43

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Ebd., S. 47. Ebd., S. 37. Ebd., S. 17. „Um den Raum zu beherrschen, mußten sie ihn erst überwinden, wobei sich der Raum unablässig rächte und immer neue Anstrengungen erforderte“, in: Braudel: Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Bd. 3, S. 24. 42 Braudel: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., Bd. 2, S. 48. 43 Braudel: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., Bd. 3, S. 460.

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Raum ist bei Braudel ein mit Metaphern gezeichnetes suggestives Bild, seine Eigenschaften sind Trägheit und Anziehungskraft. Die aufscheinende Physikalität dieser Metaphorik hinterlässt beim Leser wiederum den Eindruck, dass Raum etwas sein müsse, das vorgelagert ist, gewissermaßen schon vorhanden, bevor Handlungen darin stattfinden.44 Einschränkend muss aber hier gesagt werden, dass Braudels Raumtopologie nicht zu lösen ist von den drei Zeiten des Ereignisses (évènement), der Konjunktur (conjoncture) und der Struktur (structure), die nicht hierarchisch gedacht werden dürfen. Das, was die eigentliche Geschichte ausmache, findet man in der Struktur, nur in der Beobachtung der langen Dauer. Das Ereignis hat zwar kaum einen Einfluss auf die Struktur, wird aber auch nicht von dieser vorbestimmt. Der Mittelmeerhandel ist zwar abhängig von gutem Wetter, aber die Mittelpunkte der Weltwirtschaft (économie-monde) wie Venedig oder Amsterdam sind nicht zu solchen strukturell vorbestimmt. Um aber die Formen einer solchen Weltwirtschaft zu erklären, sei es nötig, den Raum zu begrenzen, den sie einnimmt.45 Dementsprechend unterscheidet Braudels Projekt einer histoire totale, einer Universalgeschichte, immer zwischen Zentren und Peripherien, was er mit einem weiteren Bild unterstreicht: „Um den Ansprüchen der Geschichte gerecht zu werden, muß man das Mittelmeer als eine weite Zone betrachten, die sich in alle Richtungen weit über die Meeresufer hinaus erstreckt.“46 Dann folgt der Vergleich mit einem Kraftfeld und einem erleuchteten Zentrum, das nach außen strahlt. „Diese Zirkulation von Menschen und sowohl materiellen als auch immateriellen Gütern zieht immer neue Grenzen um das Mittelmeer, schafft immer neue Lichtkegel.“47 Das Bild des Lichts, das sich verteilt, manche Orte stärker, manche weniger ausleuchtet, ebenso wie die häufige Verwendung von Wasseroder Meervergleichen, sie alle widersprechen zunächst der Annahme, Braudel hänge am Containerraum, statisch und unflexibel. Dieser durchgehend ambivalente Eindruck: dass bei Braudel Raum mit physischen Attributen und Qualitäten versehen wird, während die verwendeten Bilder (Licht, Meer) eher auf Unabschließbarkeit deuten, spricht dafür, dass der vermeintlich eindeutige und reflektierte Raumbegriff Braudels in der Tat diffus ist.48 Ein Grund dafür mag sein, dass es ihm nicht darum ging, Raum und Geschichte zusammenzuführen (wie dies die Re44 Dieses Denken entspricht einem absolutistischen Raumverständnis. 45 Braudel: Civilisation matérielle, économie et capitalisme XVe-XVIIIe siècle, T. 3, S. 18. 46 Braudel: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., Bd. 1, S. 242. 47 Ebd. 48 Die Metaphorik trägt Braudels Geschichtsverständnis: „we can say that Braudel is ‚intoxicated‘ with metaphors […] as he relies on them in situations where it would have been easy to use denotative language…“, in: Carrard: „Figuring France“, S. 13.

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zeption durch die Brille des spatial turn verstellt), sondern seinem Objekt, dem Mittelmeer, gerecht zu werden, das er in der Tat als Subjekt versteht. Heinrich Lutz stellt auf diesem Weg drei Sprachebenen fest: „die Ebene moderner Wissenschaftssprache“, „die Sprachebene des Reiseschriftstellers“ und „eine Ebene assoziierend-suggestiver, mythisch überhöhter Sprache“,49 die, so muss man schlussfolgern, in ihrer narrativen Verschränktheit kein Definiens Raum zulassen. Welche Raumgrößen Braudel dagegen vorstellt, lässt sich am deutlichsten in seiner dreibändigen Sozialgeschichte Civilisation matérielle, économie et capitalisme XVe-XVIIIe siècle nachvollziehen. Im dritten Band, der im deutschen Aufbruch zur Weltwirtschaft, im Original Le temps du monde heißt, aber der Raum der Wirtschaft hätte heißen können, bildet Braudel Einheiten, die durch ihre geographisch-räumliche Größe bestimmt sind, da „der wirtschaftliche Blickwinkel […] die einfachste und umfassendste Möglichkeit [bietet], den Raum in den Griff zu bekommen.“50 Den Raum einzuteilen sei unerlässlich, aber man benötige ebenso eine zeitliche Einheit als Referenz, da im europäischen Raum mehrere économies-mondes auf einander gefolgt seien.51 Gemäß der Modellvorstellung von Zentrum und Peripherie, mit der er an Thünen und seine Kreise anschließt52, besitze eine économie-monde stets ein städtisches Zentrum, in dem Informationen, Handelswaren, Kapital, Kredite, Menschen etc. zusammenkommen und von dem sie ausgehen:53 „il a des limites, et la ligne qui le cerne lui donne un sens comme les rivages expliquent la mer [sic!]“54. Angrenzende Regionen sind von hohem Entwicklungsstand, an die sich wiederum Randgebiete fügen, die weiträumig und von geringerer Entwicklung sind.55 Laut Braudel setzt sich eine Weltwirtschaft aus einer ganzen Anzahl wirtschaftlicher und nicht-wirtschaftlicher Räume von jeweils eigenem Gepräge zusammen. Was diese sein können, sagt er in der Grammatik der Zivilisationen, wenn er unterscheidet zwischen Kulturräumen (aires culturelles), Gesellschaften, Ökonomien und kollektiven Mentalitäten.56 Hier liegt der Vergleich mit der Kulturraumforschung nahe, wie sie Hermann

49 Lutz: „Braudels La Méditerranée“, S. 338f. 50 Braudel: Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Bd. 3, S. 18. 51 Braudel: Civilisation matérielle, économie et capitalisme XVe-XVIIIe siècle, T. 3, S. 73: „Diviser selon l’espace, c’est indispensable. Mais il faut aussi une unité temporelle de référence. Car plusieurs économies-mondes se sont succédé dans l’espace européen.“ 52 Vgl. Lai: „Braudel’s Concepts and Methodology Reconsidered“, S. 72-74. 53 Braudel: Civilisation matérielle, économie et capitalisme XVe-XVIIIe siècle, T. 3, S. 21. 54 Ebd., S. 18. 55 In den Grafiken wird häufig der so genannte Point Bertin, benannt nach dessen Erfinder, verwendet, der diese Ausdehnung illustriert. 56 Braudel: La Grammaire des civilisations.

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Aubin betrieben hat, für den Kulturräume Verdichtungsgebiete sind, „unscharf an den Rändern, mitunter sich überschneidend, mitunter durch breite Grenzsäume getrennt, aus Kernraum und Ausstrahlungsraum bestehend“57. Eben durch diese Verbindung von Bestimmung und eingebauter Unschärfe steht dem Einwand, die Raumssysteme Braudels seien schematisch58, „ein Denken in vagen Begriffen und einfachen, häufig alltagssoziologischen Erklärungsmodellen“59 gegenüber. Diese Raumbilder des Braudelschen Werks wie seiner Rezeption zeigen, dass sich zwar Beispiele finden ließen, in denen auch der mediale Charakter zur Sprache kommt. Allerdings nie in einer analytischen Form, sondern vor allem in seiner oben skizzierten metaphorischen Gestalt. Raum im Sinne eines Mediums ist bei Braudel etwas, durch das etwas hindurchgeht, von diesem absorbiert oder zurückgewiesen wird, wie der Gütertausch sich im Raum vollzieht, der „seinerseits niemals neutral, sondern stets vom Menschen gestaltet und organisiert ist.“60 Diese wichtige Grundhaltung, die Gestaltung des Raumes durch den Menschen, scheint aber auf das leitmotivische Raumbild schlechthin nicht übertragbar: Das Mittelmeer selbst und dessen geographische Einheit werden vorausgesetzt, so dass sich Lutz zu Recht enttäuscht zeigt, wenn das mit „Deux Méditerranées“ überschriebene Kapitel nicht auf die Unterschiede des christlichen und islamischen Bereichs eingeht, um die Einheit dieses Raumes in der Epoche Philipps II. zu hinterfragen.61 Dieses topologische a priori ist aber Voraussetzung der Bewegungen (der Denkbewegungen des Autors wie der der Handelsschiffe), die Braudel in diesem Raum stattfinden lässt und – wäre er Schriftsteller – Teil seines poetologischen Konzeptes.

Geographische Lektüren Braudel spricht sich dafür aus, „die Geographen zu verpflichten (was relativ leicht sein dürfte), der Zeit größere Aufmerksamkeit zu schenken, und die Historiker (was schon schwieriger sein dürfte) zu veranlassen, sich intensiver mit dem Raum auseinanderzusetzen und mit dem, was er trägt, was er hervorbringt, was er den Menschen erleichtert und wo er ihre Pläne durchkreuzt – mit einem Wort, sie dazu zu bringen, seiner beeindruckenden Permanenz in ausreichendem Maße Rechnung zu tragen.“62 Dieses

57 Edith Ennen, zitiert nach Irsigler: „Raumkonzepte in der historischen Forschung“, S. 17f. Dass Braudel deutsche Historiker las, ist bekannt. Eine nachweisliche Referenz ist Rörig: Mittelalterliche Weltwirtschaft. 58 Herbst: Komplexität und Chaos, S. 131. 59 Raphael: „Fernand Braudel“, S. 52. 60 Braudel: Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, Bd. 2, S. 194. 61 Lutz: „Braudels La Méditerranée“, S. 336. 62 Braudel: „Géohistoire und geographischer Determinismus“, S. 234.

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Plädoyer hallt momentan in den Debatten wider, die die Organe beider Wissenschaften beschäftigen.63 Und in der Tat spricht vieles dafür, Braudel als Leumund heranzuziehen. Yves Lacoste, Gründer der Zeitschrift Hérodote und Verfechter einer kulturbezogenen Geographie und Geopolitik, versteht in seiner Lektüre Braudel gar als Geographen.64 Allerdings unterläuft er dabei die gängige Zuteilung, die Geographie mit der topographischen Erfassung gleichsetzt. Bewusst grenzt er sich ab von der von Vidal de la Blache beeinflussten Schulgeographie. Letzterer ist aber für Braudel eine unumgängliche Referenz.65 Ein nur scheinbarer Widerspruch, wie ich gleich zu zeigen versuche. Als Fürsprecher einer geopolitischen Geographie sieht er sich den dieser Bezeichnung anhängigen Fehlleitungen ausgesetzt, doch geht es ihm nicht um eine Geographie, die sich der Politik unterordnet und territoriale Raumgewinne vorbereitet.66 Vielmehr versteht er darunter „une géographie de l’action, du mouvement, une géographie des rapports de force et des enjeux territoriaux“67. Folgt man Lacoste, dann ist Braudel nicht Geograph, weil er vom Boden ausginge, wie es die Schulgeographen tun. Wenn er von Raum spricht, dann hat das wenig mit deren Raumbehandlung zu tun.68 Für den Geographen Lacoste ist vor allem eines entscheidend: Braudel gewichtet die politischen Einflüsse in einer Weise, die die kulturellen Ausprägungen der Geographie zeigen und wird dabei von diesem bestätigt: „La géographie me semble, dans sa plénitude, l’étude spatiale de la société ou, pour aller jusqu’au bout de ma pensée, l’étude de la société par l’espace.“69 Das Anliegen Braudels spricht für eine Denktradition, die anders als die deutsche Geschichtsschreibung die Nähe zur Geographie sucht. Weniger verwunderlich wird dieser Unterschied in der Wissenschaftstradition, wenn man an die Ausbildung der Historiker in Frankreich denkt.70 Um Chancen auf eine Stelle an einer Universität zu erlangen, strebt man agrégation an, die Lehrbefähigung für die gymnasiale Oberstufe, in der traditionellerweise Geographie und Geschichte eng verknüpft sind. Zudem wird in Frankreich Geographie in der Faculté des Lettres und nicht der Fa-

63 Siehe beispielhaft Reuber: „Writing History – Writing Geography“. 64 Lacoste: „Braudel géographe“. Zumindest unter Historikern fungiert die Referenz auf Vidal de la Blache immer noch als Ausweis der Kompatibilität von Geographie und Historiographie, ohne dass klar ist, von welcher Geographie die Rede ist. 65 Vgl. u.a.: Braudel „Y a-t-il une géographie“, S. 174. 66 Lacoste: La géographie, ça sert d’abord à faire la guerre. 67 Lacoste: Paysages politiques, S. 84. 68 Ebd., S. 99. 69 Braudel: „Y a-t-il une géographie“, S. 172. [Herv. i. Orig.] 70 Siehe dazu Raphael: Die Erben von Bloch und Febvre, S. 69-71.

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culté des Sciences gelehrt71, ein nicht zu vernachlässigender Umstand. Die Gründer der Annales gaben zudem Vidal de la Blache den Vorzug vor Durkheim und trafen damit eine Grundsatzentscheidung, indem sie sich gegen eine Sozialmorphologie zugunsten einer historischen Praxis entschieden, die Regionalmonografien hervorbringt.72 Die einzigen Werke der Geographie, auf die Braudel referiert, entstammen in der Tat der Feder der Schulgeographen, die eine viel enger gefasste Form tradieren als sie Braudel selbst praktiziert. Es mutet kurios an, dass Lacoste die politischen und kulturellen Faktoren hervorhebt und Braudel heranzieht, um den Deterministen und Schulgeographen zu widersprechen, während die Historiker gerade die Entdeckung der histoire quasi immobile, der fast unbewegten Geschichte, als Braudels eigentliches Verdienst werten. In der Erstausgabe der Méditerranée von 1949 findet sich eine Eingrenzung des Begriffs géohistoire, die in der verbreiteteren zweiten Auflage nicht wieder aufgegriffen wurde. Braudel bedient sich des deutschen Begriffs Geopolitik, um ihn als géohistoire historischer und zugleich weiter zu fassen als etwas, „das nicht nur die Anwendung einer schematisierten und zumeist auch schon im vorhinein in einem bestimmten Sinn verborgenen Geschichte eines Raumes auf den gegenwärtigen und zukünftigen Zustand der Staaten bedeutet.“73

Braudels Entwurf einer géohistoire will die Vorgaben durch die Natur, den geographischen Determinismus, weder über- noch unterschätzen. Für seinen Raumbegriff ist nicht entscheidend, ob der Mensch (Geschichte) bestimmt werde durch die Naturräumlichkeiten (Geographie), denn ein dynamisches Element ist bei ihm eingebaut. Vielmehr die implizite und durch Raummetaphorik untersetzte Annahme, Raum als träge Masse, eben physische zu denken. Raum beschreibt damit das Außen der Handlung. Im Vorwort zur zweiten Auflage von 1966, die erst 1990 auf deutsch erschien, wird es noch einmal deutlicher, wenn Braudel auf die Eingriffe hinweist, die nötig waren, um die „Problematik zu verändern, die im Mittelpunkt dieser Argumentation steht […]: jene Dialektik von Raum und Zeit (Geographie und Geschichte), aus der sich die ursprüngliche Anordnung rechtfertigte“74.

Die Klammer, die für jeden Leser wie eine Apposition funktioniert, die das Begriffspaar Raum und Zeit noch einmal aufgreift und in konkretere Be71 72 73 74

Prost: Douze leçons sur l’histoire, S. 36. Chartier: Au bord de la falaise, S. 211. Braudel: „Géohistoire und geographischer Determinismus“, S. 233. Braudel: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., Bd. 1, S. 25.

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griffe übersetzt, ihnen wissenschaftliche Disziplinen zuweist, verbindet nun den Raum mit der Geographie und die Zeit mit der Geschichte. Bleibt Braudel damit einem Verständnis von Geschichte verhaftet, das er zu überwinden angetreten war?75 Bei Braudel lässt sich also eine theoretische Position bestimmen, die an Febvre und Vidal de la Blache anschließt. Umgekehrt lässt sich eine historiographische Praxis verfolgen, die den Einfluss Ratzels nicht zu leugnen vermag,76 wenn in beider Überzeugung liegt, dass der Boden und der Raum nationaler Politik überlegen seien.77 Somit ist es nicht die Frage nach dem Geographen Braudel, die zu stellen wäre, wenn seine Raumbilder zu untersuchen sind, sondern die nach der Determination der Geschichte durch die Geographie.

Relationismen und Determinismen „Wenn wir von der Geschichte und ihrem Kontakt zum Boden sprechen, wird man letzten Endes der weitreichenden Debatte über den geographischen Determinismus nicht entgehen können.“78 Wenn wir von Fernand Braudel und seinem Verhältnis zur Geographie sprechen, wird man eine Debatte über seine deterministischen Annahmen ebenso wenig vermeiden können. Indem er Lucien Febvres „La terre et l’évolution humaine“ als vorbildhaft für die Anregungen des Possibilismus eines Vidal de la Blache bezeichnet und den geographischen Fatalismus eines Friedrich Ratzel ablehnt, stellt Braudel sich in diese Tradition, die die Prägefaktoren der geographischen Räume anerkennt, ohne sie zu verabsolutieren: „Nein, die Geographie erklärt nicht das ganze Leben und auch nicht die ganze Geschichte der Menschen. Das Milieu, in dem sie leben, so wichtig es auch sein mag (es bleibt, während die Menschen gehen), bestimmt nicht alles.“79

Damit wiederholt er den Grundsatz der „Principes de Géographie humaine“80, der die Abhängigkeit des Menschen vom geographischen Milieu 75 Michel Vovelle äußerte sich noch skeptisch gegenüber der Annahme, der Austausch von Geschichtswissenschaft und Geographie sei wieder lebendig geworden, auch wenn sich insgesamt der von Braudel angekündigte Blickwechsel durchgesetzt habe, in: Vovelle: „Die Geschichtswissenschaft und die ‚longue durée‘“, S. 106f. 76 Kaufmann: „Natürliches Milieu und Gesellschaft“, S. 301. 77 Schultz: „Raumkonstrukte der klassischen deutschsprachigen Geographie“, S. 249. 78 Braudel: „Géohistoire und geographischer Determinismus“, S. 242. Das Zitat entstammt dem Schluss des ersten Bandes der Originalausgabe der Méditerranée. Es ließen sich nur Mutmaßungen darüber anstellen, aus welchen Gründen die Passage nicht in spätere Ausgaben übernommen wurde. 79 Braudel: „Géohistoire und geographischer Determinismus“, S. 242. 80 Vidal de la Blache: Principes de la géographie humaine.

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nicht verabsolutiert.81 Widersprochen wird Braudel von Peter Burke, der ihm Determinismus vorwirft und es für bezeichnend hält, dass „Braudel in seinen Schriften wiederholt die Metapher vom Gefängnis verwendet, den Menschen als Gefangenen nicht nur seiner natürlichen Umwelt betrachtet, sondern auch seiner mentalen Bedingungen“82. Im Gegensatz, und nicht im Einklang, mit Febvre sehe Braudel nicht die Möglichkeiten, welche die Strukturen bieten, anstatt nur Zwänge zu vermuten.83 Diese auseinander fallenden Bewertungen lassen sich zurückführen auf die ambivalente Denkfigur der genres de vie, der Lebensformen, die das Kennzeichen des Possibilismus von Vidal de la Blache sind, wie sie sich Braudel zu Eigen macht. Diese genres de vie ergeben sich aus der Anpassung an ihre physischen Milieus, umgekehrt bestimmt aber das Milieu nicht die Lebensform. Die Ambivalenz dieser Möglichkeitsform liegt nun darin, dass – folgt man der Kritik Hards – nichtmaterielle Prägefaktoren außen vor gelassen werden, also im Grunde das ignoriert, was erst die neuere kulturgeographische Forschung auszeichnet. Dazu kommt, dass bei Vidal de la Blache eine Trennung vorgenommen wird zwischen einem naturwissenschaftlich-ökologischen Part und der Problematisierung der Umweltwahrnehmung.84 In veränderter Form hat Braudel diese Trennung übernommen. Was als Innovation und Inspiration für die Geschichtswissenschaft gelten kann, nämlich die Marginalisierung des Ereignisses und die Hervorhebung der Struktur, steht auf der einen Seite. Auf der anderen menschliches Handeln (der Handel, die Wirtschaft, die politischen Ereignisse). Formen der kulturellen Aneignung von Raum kommen nicht vor.85 Und dies scheint mit der entscheidende Punkt zu sein, an dem Braudel zwar für die Raumbezogenheit der Geschichte und historischen Denkens steht, letztlich aber einem Raumbegriff verhaftet bleibt, an dem messbar wird, was möglicherweise anders ist, wenn heute von einem spatial turn gesprochen wird. Dennoch lässt sich Braudels Raumtopologie nicht auf eine zweidimensionale Geometrie herunterbrechen, etwa nach dem Zuschnitt Otto 81 Vgl. Kaufmann: „Natürliches Milieu und Gesellschaft“. 82 Burke: Offene Geschichte, S. 44f. 83 Diese Einschätzung stellt Braudel unter Determinismusverdacht, der nicht allgemein von der Braudel-Rezeption geteilt wird. Wallerstein hat darauf hingewiesen, dass entgegen der Auffassung einer Zeit, die einfach da und ein reiner physischer Parameter sei, Braudel eben gerade auf der Pluralität der sozialen Zeiten beharrt, Zeiten, die hergestellt werden und an der Organisation sozialer Realität mitarbeiten und als Bedingungen für soziales Handels bestehen. Vgl. Wallerstein: „Time and Duration“, S. 82. 84 Hard: Die Geographie, S. 195-201. 85 Reinhard: Lebensformen Europas, S. 395f. Er bestätigt damit Peter Burke, der trotz des proklamierten Anspruchs einer histoire totale „wenig über Haltungen, Werte oder Kollektivmentalitäten“ erfährt, in Burke: Offene Geschichte, S. 43.

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Brunners, von dem er sich dezidiert absetzt. Vielmehr versteht er Geschichte n-dimensional.86 Einer Zuordnung entlang der Dichotomisierung relativistisch/absolutistisch entgeht er auf diese Weise. Raum/espace als leerer Signifikant öffnet sich so Deutungen und macht den Begriff benutzbar für alles Mögliche. Die andere Seite dieser Indifferenz macht sich bemerkbar, wenn Braudel über espace reflektiert und Raum dabei Qualitäten eines Passepartout zuerkannt werden, als Quelle der Erklärung: „L’espace, source d’explication, met en cause, à la fois toutes les réalités de l’histoire, toutes les parties prenantes de l’étendue: les États, les sociétés, les cultures, les économies…Et, selon que l’on choisira l’un ou l’autre de ces ensembles, la signification et le rôle de l’espace se modifieront.“87

Diese Aussage kennzeichnet den Raum als relational, in dem Sinne, dass Bedeutung und Rolle des Raums sich je nach Kontext verändern. Wiederum haben wir es mit Widersprüchen zu tun. Strukturellen Abhängigkeiten und Bedingtheiten durch den Raum stehen in der Darstellung dieses Handelns die Unwägbarkeiten gegenüber, die die Durchquerung dieses Raumes hervorbringen:88 „Die Geschäftigkeit der Märkte versetzt dem Wirtschaftsleben ganz offenbar einen heftigen Anstoß […] denn Raum bedeutet immer auch Zollämter, städtische Steuern, Schlagbäume …“89

Es ist diese Widersprüchlichkeit des historiographischen Projektes und der erzählerischen Gestaltung, die auch fast 60 Jahre nach Erscheinen des ersten großen Werks von Braudel noch inspirierend wirkt, wenngleich für eine raumtheoretische Positionierung es nicht entscheidend sein wird, ob man Braudel zitiert oder nicht. So sehr von Verschränktheiten und Abhängigkeiten, von Relationismen und Bedingtheiten die Rede ist, bei Braudel bleibt es bei einer kulturellen Handlung auf der einen Seite, einer geographischen Struktur auf der anderen. Er denkt beides getrennt, um den Anspruch zu erheben, diese zusammen zu führen, bleibt aber den Strukturen gewogener als den Praktiken der Aneignung und Umnutzung, was die 86 „La géométrie à deux dimensions d’Otto Brunner ne saurait donc me satisfaire. Pour moi, l’histoire ne peut se concevoir qu’à n dimensions“, in: Braudel: „Sur une conception de l’histoire sociale“, S. 191. 87 Braudel: Civilisation matérielle, économie et capitalisme XVe-XVIIIe siècle, T. 3, S. 13. Diese Textstelle offenbart zugleich den unprätentiösen, aber zugleich vortheoretischen Umgang Braudels mit Raum, der diesen meisterhaften Geschichtsschreiber weitgehend anschlussfähig macht für eine Rede von der Wiederentdeckung des Raums für die Geschichtswissenschaft. 88 So auch der Tenor bei Hoffmann: Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. 89 Braudel: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., Bd. 2, S. 54f.

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eigentliche (Wieder-)Entdeckung für die Geschichtswissenschaft ausmacht. Der Rückgriff des spatial turn auf Braudel bleibt an dem Punkt gerechtfertigt, wo Raum und Ort, in denen sich die Komplexität des sozialen Lebens spiegelt, ein privilegiertes Laboratorium für die historiographische Arbeit sind.90 Darüber hinaus wird anhand von Fernand Braudel klar, dass für die aktuelle Geschichtsschreibung die Begrifflichkeit Raum kein Novum darstellt, denn sie war nie verschwunden. So bleibt letztlich die Frage nach den Geschichten, die diese Historiographie schreiben will.

3 Spatial history – spatial stories Mit Karl Schlögel kann ich abschließend übereinstimmen, dass eine „Spatialisierung geschichtlicher Wahrnehmung […] Folgen auch für das Narrativ“ hat.91 An Appellen wie Anregungen mangelt es derweil nicht. Schaut man sich dagegen die historische Praxis an, so ist zu konstatieren, dass die Raumkonjunktur nicht immer den Stempel eines turn rechtfertigt. Was ist neu, wenn vor zwanzig Jahren gesagt werden konnte, dass „die Erforschung von historischen Räumen, Raumstrukturen oder Raummustern seit den späten 50er Jahren in der deutschen und internationalen Forschung einen außerordentlichen Aufschwung genommen“ habe?92 Der Verweis auf die Globalisierung, zu der zuletzt ein Verweiszwang auf den 11. September 2001 als Gleichnis für die Aufhebung nationalräumlicher Grenzen getreten ist, ist durchaus nicht von der Hand zu weisen. Ebenso hat auch der Cyberspace unseren Umgang mit Raum verändert. Auch Braudel hatte festgestellt: „Unsere heutige Zeit leidet zunehmend unter Raummangel“93 und dachte dabei an die stetige Reduktion von Entfernungen, die freilich kein postmodernes Phänomen ist.94 Wenn man die These vertritt, dass heute der „herrschenden Raumordnung einer globalen Standardisierung des Raumes und seiner Zonierung in unserer Wahrnehmung […] eine Flexibilisierung von Raumwahrnehmungen“95 folgt, dann wäre zum einen zu überprüfen, wie sich die herrschende 90 „[…] che lo spazio è il luogo in cui si rivela la complessità del sociale ed è, in tal senso, un laboratorio privilegiato per il lavoro storiografico“ (Gemelli: Fernand Braudel e l’Europa, S. 48). 91 Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S. 51. Eine Geschichtsschreibung, die die Räumlichkeit in ihre Erzählung einbezieht, ja sie zur Grundlage ihres Erzählmusters macht, ignoriert aber mitnichten den Faktor Zeit. Eine Obsession soll eben nicht durch eine andere ausgetauscht werden. 92 Irsigler: „Raumkonzepte in der historischen Forschung“, S. 12. 93 Braudel: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., Bd. 2, S. 17. 94 Vgl. Kaschuba: Überwindung der Distanz. 95 Strohmeier: „Raum – Neuzeit“.

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Raumordnung in der Vormoderne etabliert und wie dort sich flexibilisierte Raumaneignungen gestalten. Zum anderen bleibt für den Historiker der Frühen Neuzeit auch die Raumauffassung der späten Moderne nicht ohne Konsequenzen, wenn sich durch eine veränderte Selbstverortung auch die Herangehensweise an das historische Objekt ändert. Der Aufklärungsforscher Daniel Brewer betont dieses selbstreflexive Moment bei der historischen Beurteilung: „More tellingly, our understanding of the eighteenth century is becoming a predominantly spatialized one because the paradigms being developed to analyze the eighteenth century tend increasingly to carry with them a conceptual apparatus that privileges the spatial as a way of access to the reality we wish to grasp.“96

Doch kann diese Feststellung nicht nur für die Forschung zum 18. Jahrhundert gelten. Im Grunde gibt es keinerlei Grund, nicht jede Epoche oder jegliches Ereignis zu spatialisieren. Die Verwendung von Raum als Zuschreibungsbegriff für fassbare Einheiten (Stadt, Landschaft, Region, Meer etc.) ist eine nie abgerissene Praxis. Seltener, aber umso fruchtbarer sind die Arbeiten, die im Sinne der Offenlegung ihrer eigenen theoretischen Prämissen und Kategorien, Raum als Analyseinstrument nutzen und dabei die Relationalität in den Vordergrund stellen.97 Relational meint dabei, nicht davon auszugehen, dass ein Untersuchungsobjekt in seiner räumlichen Struktur vorhanden ist und das zu Untersuchende darin und in dessen Grenzen stattfindet. Vielmehr wird die Wechselbeziehung von physischen Bedingungen und (menschlichen) Handlungen untersucht, wobei Raum das Ergebnis dieser Wechselbeziehung ist und sich in den Vorstellungen von Räumlichkeit, Grenzen und den Darstellungen derselben äußert. Wenn Raumtheorien in der Geschichtswissenschaft benutzt werden, dann geht es aber letztlich nicht um die Entwicklung einer Theorie, sondern um die „Rekonstruktionsmöglichkeit einer sozialen Konstituiertheit“98. Spatial turn, das heißt somit zunächst einmal, Geschichte in ihren räumlichen Bedingungen zu denken und den Veränderungen der Raumwahrnehmung selbst auf die Spur zu kommen. Und dabei zu bedenken, dass die damit einhergehende Veränderung des Raumbegriffs wiederum auf die Formen der Geschichtsschreibung selbst wirkt. 96 Brewer: „Lights in Space“, S. 175. 97 Einen aktuellen Überblick über den Einfluss auf die Geschichtswissenschaft liefert Schwerhoff: „Die große Welt im kleinen Raum“. Unklar ist häufig, ob Raum als Diskurs oder Materialität gemeint ist. Vgl. den Tagungsbericht von Hochmuth/Brown: „Political Space in Preindustrial Europe. University of Warwick, 03.11.2005 - 06.11.2005“ zur Tagung des Network Social Sites, Öffentliche Räume, Lieux d’Échanges. 98 Sturm: Wege zum Raum, S. 173.

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Erklärlich daher, dass die Raumsoziologie Martina Löws dankbar aufgenommen wurde, da mit ihrem Begriffsapparat (vgl. oben Brewer) Historiker Raum von seiner Geographizität lösen können, um nunmehr Raum als eine relationale Anordnung von Menschen und Gütern99 aufzufassen. Raum konstituiert sich nach Löw im Spacing und der damit verknüpften Syntheseleistung.100 Spacing meint das Platzieren von Menschen und sozialen Gütern, „bezeichnet also das Errichten, Bauen oder Positionieren.“101 Unter Synthese ist zu verstehen, dass die positionierten Waren, Personen und Symbole „über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse […] zu Räumen“ zusammengefasst werden.102 So werden Gebäuden und Mobiliar als festen und beweglichen Gütern keine eigenen Raumqualitäten zugewiesen, da Raum erst durch deren Verknüpfung über Wahrnehmung entsteht. Für den Historiker ist allerdings nicht von unerheblicher Bedeutung, dass die „Deutung und Aneignung von Räumen durch ihre jeweilige Materialität bestimmt“ bleibt.103 Will man Raum nicht nur als Metapher fassen, bleibt der Historiker angewiesen auf ein materiales Korrelat. Oder anders herum: diese Abstrakta werden historisch dann greifbar, wenn man sie verortet. Dies hat zur Folge, dass Raum keine abstrakte Analysekategorie bleibt, sondern anhand vorhandener Quellenbefunde als z.B. Beschreibungskategorie und/oder Medium in den Blick rückt. Arlinghaus hat darauf hingewiesen, dass es Löw nicht darum gehe, dass den von ihr avisierten Platzierungen (Spacing) „kulturelle determinierte Raumkonzepte vorgeschaltet sind, die in der Vormoderne gänzlich anders gelagert waren als heute“104. Daher gilt es auch zu beachten, dass die proklamierten Verabschiedungen des Containerraums kein neues Normativ, das des relationalen Raumes, setzen und damit unbewusst eine Wertigkeit von Raumbegriffen aufstellen, die dann für die Geschichtswissenschaft problematisch wird, wenn sie als Normativ rücktransferiert auf Zeiten und Epochen, für die die Wirksamkeit dieser Relationalität zumindest in Frage zu stellen wäre. Der Hinweis, nicht richtige und falsche Sehweisen zu unterscheiden, kann hier weiterhelfen.105 Für eine aufgeklärte historische Raumforschung bedeutet das, gerade auch nach dem 99 Vgl. Löw: Raumsoziologie, S. 158ff. 100 Dem liegt wohl das Bestreben zugrunde, die Dichotomie von Handeln und Struktur aufzulösen. 101 Löw: Raumsoziologie, S. 158. 102 Ebd., S. 159. Ein Beispiel für die Operationalisierbarkeit dieses Konzeptes liefert Rau: „Eine Stadt im Bann des Weins“. 103 Füssel/Rüther: „Einleitung“, S. 12. Hier scheint mir auch ein Ansatzpunkt zu sein, kritisch mit Löw umzugehen. Einen ersten Ansatz dazu liefert Schroer: Räume, Orte, Grenzen. 104 Arlinghaus: „Raumkonzepte der spätmittelalterlichen Stadt“, S. 118, Anm. 5. 105 Vgl. Schlottmann: „Rekonstruktion alltäglicher Raumkonstruktionen“, S. 125.

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Containerraum zu fragen, dort wo er als eine solche kulturelle Determinante auftaucht, um eben nicht Gefahr zu laufen, die Strukturierungswirkung bestimmter Räume auf Handlungen und Kommunikationsformen außen vor zu lassen.106 Welche spatial stories auch nunmehr geschrieben werden, sie werden nicht frei von Raummetaphern sein. So konnte es auch lediglich Ziel dieses Aufsatzes sein, darauf hinzuweisen, dass unterschieden werden muss zwischen historiographischen Arbeiten, die den Raum in der Geschichte oder geschichtliche Räume fokussieren und einer Denk- und Arbeitsweise, die einen Untersuchungsgegenstand auf dessen räumliche Konstituierung untersucht.107 In Letzterem ist (für die Geschichtsschreibung) das eigentliche Innovationspotential des spatial turn angelegt.108 Die Rolle, die Fernand Braudel dabei zugewiesen werden muss, kann in diesem Sinne nicht die der Letztreferenz sein, zu diffus arbeitet er mit Raumbildern, zu stark ist er geprägt von einer klassischen Geographie, zu wenig stehen seine Relativierungen des Geodeterminismus für Wahrnehmungsvorgänge, Aneignungsprozesse und Relationalität von Raum. Der Faszination und inspirativen Kraft, die bei der Lektüre von ihm ausgehen, tut diese Feststellung keinen Abbruch.109

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Der Spatial Turn und das Interesse an der Globalisierung in der Geschichtswissenschaft MATTHIAS MIDDELL

Seit gut zwei Jahrzehnten wird die Geschichtswissenschaft weltweit von heftigen Debatten durchgeschüttelt, die das Selbstverständnis des Faches, den bis dahin regierenden Konsens über Verfahren, Sinn und Zweck der historischen Vergegenwärtigung betreffen.1 Solche Methodenkontroversen, die keineswegs zum ersten Mal auftreten, sondern die professionalisierte Historiographie seit ihrer Entstehung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begleiten,2 zeigen in aller Regel die Erschöpfung eines vorher dominanten Versuchs an, die Pluralität des Vergangenen zu einer überzeugenden Darstellung und Erklärung zu bringen, und verweisen auf die Suche einer sich neu formierenden Gruppe nach neuen Fächerkoalitionen und neuen Institutionalisierungsmustern. Die Besonderheit der gegenwärtigen Lage besteht darin, dass sich eigentlich drei Methodenkontroversen überlagern: Eine konstruktivistische Wende, für die sich auch der Terminus cultural turn eingebürgert hat, obgleich beide nicht identisch miteinander sind, verbindet sich mit einem spatial turn und schließlich mit der Frage nach einer Wende zur Globalgeschichte. Es ist unmöglich im Rahmen eines Aufsatzes alle Aspekte dieser drei Methodenkontroversen zu berücksichtigen, und zwar vor allem deshalb, weil es sich eben nicht um eine gemeinsame, aufeinander bezogene Debatte handelt, sondern nur einzelne, wenn auch wichtige Schnittstellen zwischen ihnen bestehen. Ich möchte nach einer knappen Darstellung dieser drei Diskussionen die These ausführen, dass diese drei Methodenkon1

2

Es handelt sich um die erweiterte Fassung eines Aufsatzes, der zuerst in der Geographischen Zeitschrift, Jg. 93, Nr. 1, 2005, S. 33-44 erschien. Vor allem wurden Hinweise auf die inzwischen weiter voranschreitende Diskussion eingefügt und das u.a vom Verfasser mitentwickelte Konzept der Bruchzonen der Globalisierung etwas ausführlicher dargestellt. Vgl. Raphael: „Historikerkontroversen im Spannungsfeld zwischen Berufshabitus, Fächerkonkurrenz und sozialen Deutungsmustern“.

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troversen zwar auf innerfachliche Problemballungen reagieren und ihre Protagonisten mit innerfachlichen Gründen argumentieren, ihre eigentliche Verursachung aber in einer tiefen Verunsicherung der Disziplin zu suchen ist, die sich auf noch näher zu beschreibende fachexterne Effekte der Globalisierung zurückführen lassen. Ein erstes Zeichen der Krise war bereits in den späten 1970er Jahren die gegen umfassendere Erklärungen des geschichtlichen Verlaufs gerichtete Forderung nach Fragmentierung als Ausweg aus der Zwingkraft der sogenannten méta-récits. Diese Großerzählungen, die ihre Kritiker mit Heilsgeschichten verglichen und als pure Ideologie abtaten, räumten der Geschichte von unten wenig Platz ein, sie blieben sprachlos gegenüber den Bedürfnissen von Frauen, in der Geschichte vorzukommen, sie ignorierten die Repräsentationsbedürfnisse der ehemals Kolonisierten und der Ausgebeuteten, sie zeigten sich in ihrem marxistischen Gewand ebenso wie in ihrer modernisierungstheoretisch begründeten Variante immer mehr als Geschichte der Sieger, gegen die Historikerinnen und Historiker, die sich mit den neuen sozialen Bewegungen verbanden, heftig opponierten. Die Zertrümmerung bestehender Gewissheiten, eben eine Fragmentierung der Geschichte, erschien als einzige Möglichkeit, Platz zu schaffen für neue, bisher ausgeblendete Akteure, für eine Geschichte ihrer Leiden, ihres Vergessenseins, ihrer Unterdrückung. Konfrontiert mit diesen neuen Repräsentationsbedürfnissen reagierte der Mainstream der Geschichtswissenschaft mit einer vorsichtigen Öffnung. Frauen- und Geschlechtergeschichte erhielt ebenso einen (allerdings in verschiedenen Historiographien in unterschiedlichem Maße marginalisierten) Status unter den institutionalisierten Subdisziplinen wie black history oder später die postcolonial bzw. subaltern studies. Doch diese Integrationsleistung beruhigte die aufgewühlte Szenerie nicht. Denn die Fragmentierungsdiskussion hatte mehr als ein zusätzliches Kapitel über die Beziehungen der Geschlechter oder der ethnisch definierten Gruppen in den historischen Gesamtdarstellungen im Auge. In der französischen Zeitschrift Annales. Economies. Sociétés. Civilisations, deren Vorläufer 1929 von Marc Bloch und Lucien Febvre begründet worden war und die über viele Jahrzehnte zugleich das Zentrum der methodischen Innovation und des hegemonialen Erklärungsparadigmas der internationalen Historiographie darstellte, erschien 1988 ein Editorial, das die Krisenwahrnehmung deutlich artikulierte: „Heute scheint die Zeit der Ungewißheiten gekommen. Die Neueinteilung der Fächer und Disziplinen verändert die Wissenschaftslandschaft, stellt etablierte Prioritäten in Frage, beeinträchtigt die traditionellen Wege, auf denen die Innovation zirkulierte. Die vorherrschenden Paradigmen [...] büßen ihre strukturierende Fähigkeit ein [...]. Die vielgestaltigen Entwicklungen der Forschung ma-

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chen schließlich den stillschweigenden Konsens hinfällig, der die Einheit des 3 Sozialen begründete, indem er es mit der Realität identifizierte.“

Roger Chartier, einer der Urheber dieses Manifestes des Zweifels und des Aufbruchs, attestierte der Geschichtswissenschaft für die Bewältigung ihrer Krise eine besondere Fähigkeit zum Aufgreifen von Vorgehensweisen, die in anderen Disziplinen praktiziert wurden: „Die Antwort der Historiker war eine zweifache. Sie setzten eine Strategie der Erschleichung in Gang, indem sie sich Fronten zuwandten, die andere eröffnet hatten. [...] Dies bedeutete die Schaffung neuer Tätigkeitsbereiche für den Historiker durch Einverleibung der Gebiete der anderen – Ethnologen, Soziologen, Demographen. [...] Doch diese Erschleichung (von Forschungsgebieten, Techniken und Kriterien der Wissenschaftlichkeit) konnte nur unter der Bedingung gewinnbringend sein, daß nichts von dem aufgegeben wurde, was die Stärke des 4 Faches begründet hatte.“

Man kann drei Formen unterscheiden, in denen sich die hier nur vage angedeuteten Reaktionen der Historiker auf die genannten Herausforderungen schließlich bündelten. Die am nächsten liegende war die Vervielfachung der Gegenstände, denen sich die Geschichtsschreibung zuwandte. So wurde dem Vorwurf, Sozialhistoriker hätten die Totalität der Geschichte in das Prokrustesbett einer allzu stereotypen gesellschaftlichen Erklärung gepresst, durch die Zuwendung zu neuen, bislang vernachlässigten Feldern begegnet. Da die Suche nach einem neuen Sammelbegriff für all diese Bemühungen logischerweise schwer fallen musste, denn sie waren ja gerade dem Drang nach Aufbrechen einer als beengend empfundenen Systematik geschuldet, leidet die schließlich eher aus Verlegenheit als aus Überzeugung geborene Lösung, alles Innovative einer neuen Kulturgeschichte zuzuschlagen, unter der Buntheit des Angebots. Einschlägige Verzeichnisse, was alles neue Kulturgeschichte sei, ähneln zuweilen Warenhauskatalogen, und der Ruf nach einer sinnvollen Synthese erliegt dem Missverständnis, es ginge all diesen Öffnungsbewegungen überhaupt um eine neue Zusammenfassung.5 Die zweite Bewegung beinhaltet faktisch eine Verdopplung des Arbeitsgebietes und fußt auf einer grundlegenden Umkehr des Verhältnisses von Geschichte und Historiographie. Die Geschichtswissenschaft beansprucht in dieser Sicht nicht mehr die Zuständigkeit für eine möglichst objektive Widerspiegelung der vergangenen Realitäten, sondern wendet

3 4 5

N.N.: „Geschichte und Sozialwissenschaften. Eine kritische Wende?“, S. 104. Chartier: „Die Welt als Repräsentation“, S. 322. Vgl. Daniel: Kompendium Kulturgeschichte.

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sich deren Erinnerung zu. Die „objectivity question“6 wird zu einem noblen Traum erklärt, an dem sich nicht länger festhalten ließe. Dagegen ist zu Recht eingewandt worden, dass historische Erkenntnis keineswegs mit fiktionaler Geschichtskonstruktion gleichgesetzt werden könne, da das Fach im Laufe seiner Verwissenschaftlichung eine Reihe von intersubjektiv nachprüfbaren Verfahren entwickelt habe, die plausible von weniger plausiblen Annahmen zu unterscheiden helfen.7 Eine Auflösung dieser starren Entgegensetzung von facts and fictions, die ihrerseits zahlreiche analytische Einsichten und wichtige Werkzeuge im Historikerhandwerk hervorgetrieben hat und deshalb mit guten Gründen auch verteidigt werden kann, findet sich in der Unterscheidung zwischen Geschichte und Erinnerung bzw. Gedächtnis. In dieser Differenzierung wird die Einsicht des alle Humanwissenschaften erfassenden cultural turn8 verarbeitet, wonach unsere Um-Welt nicht als Abbild, sondern nur als Sinn- oder Bedeutungszuschreibung erfahrbar ist. Nicht die Geschichte im Sinne der Gesamtheit des Vergangenen ist der retrospektiven Erkenntnis zugänglich, sondern nur ihre Überlieferung in Form von Erinnerungen im individuellen und im kollektiven Gedächtnis. Allerdings ist damit eben noch nicht geklärt, wie individuelle zu kollektiver Erinnerung wird. Innerhalb der Masse des Überlieferten werden unzählige Varianten ausgeschieden oder auf einen lokalen bzw. familiären Wirkungskreis beschränkt – das Vergessen und Verdrängen bildet die unverzichtbare Kehrseite des Erinnerns. Die Entscheidung über das Erinnerungswürdige ist demzufolge eine kulturelle Schlüsselposition, die viele Akteure zu besetzen versuchen. Sie ist dementsprechend umstritten und Gegenstand langwieriger Auseinandersetzungen, die in den verschiedensten Medien (und keineswegs immer und vorrangig in dem der wissenschaftlichen Monographie) geführt werden. Sie hat ihre eigenen Rhythmen, wobei die tiefste Zäsur, die bisher (vor allem durch die Pionierarbeiten von Jan Assmann) herausgearbeitet wurde, das Ausscheiden der Zeitzeugen mit ihrer besonderen Interessiertheit an der Überlieferung ist: der Wechsel vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis.9 Auf der Grundlage dieses (noch weiterer Ausformung harrenden) Theoriegerüstes haben Historiker in den vergangenen zwanzig Jahren Erinnerungsmodi und Gedächtnisorte, generationelle Abhängigkeiten und verschiedene Repräsentationen des Erinnerten untersucht und auch ihre eigene Rolle bei der Formierung von historischen Meistererzählungen, den dominanten Formen der Vergewisserung des Historischen, genauer be6 7 8

9

Novick: That Noble Dream. Vgl. Evans: Fakten und Fiktionen. Vgl. Reckwitz/Sievert: Interpretation, Konstruktion, Kultur – ein Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften; Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorie. Vgl. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis.

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trachtet. Nicht die ewigen Wurzeln der Nation in grauer Vorzeit, sondern deren Erfindung als nationale Tradition interessieren jetzt vorrangig. Die Geschichte des eigenen Faches ist nicht mehr nur Sache einer kleinen Minderheit von Experten für Theorie und Reflexion, sondern es gilt für alle und grundsätzlich die Rolle der Historiker bei der Konstituierung gesellschaftlicher Bilder von jeglichem Gegenstand mit zu bedenken. Die dritte Dimension der Auseinandersetzung mit einer Herausforderung, die als Kritik an der Plausibilität überlieferter Großerzählungen auftrat, versucht sich direkt an einer Erneuerung der Synthese, anstatt sie mit den Kritikern für obsolet zu erklären. So wurden die 1990er Jahre – was angesichts der massiven Einwände gegen die permissive Kraft der métarécits erstaunen muss – zu einem Dezennium, in dem mehr Gesamtdarstellungen der jeweiligen Nationalgeschichten und Abhandlungen darüber, wie europäische und Weltgeschichte auf neue Art, aber doch in synthetischer Zusammenfassung zu schreiben wäre, erschienen als zuvor. Dabei divergierten die Ausrichtungen: Während man in der Bundesrepublik fragte, ob das 20. nicht ein deutsches Jahrhundert gewesen sei,10 und Historiker auch vor dem Hintergrund der „Vereinigungskrise“11 zunächst den Abschluss nationalhistorischer Gesamterzählungen für die vordringliche Aufgaben hielten, ging von den USA eine neue Welle der Beschäftigung mit global history bzw. „world history in a global age“12 aus, die ihrerseits wiederum Anregungen des Postkolonialismus aus Indien, der Karibik und Afrika aufnahm. Neben die Aufmerksamkeit für die atlantischen Verhältnisse (zwischen Westeuropa und den USA, aber auch im sogenannten black atlantic) trat ein rasch wachsendes Interesse am pazifischen Raum und vor allem an den historischen Hintergründen des Aufstiegs Chinas.13 Die zentrale Forderung dieser neuen Richtung, die sich von der alten teleologischen und eurozentrischen Universalgeschichte abgrenzte, war eine Rekonstruktion der Vernetzungen, die anstelle einer nur gedachten Einheit der Welt in den Köpfen einiger Intellektueller eine tatsächlich wachsende Einheit der Welt aufgrund der vielen Interaktionen historischer Akteure hervorbringen. Nicht Einheitlichkeit, sondern ein von tiefen Machtasymmetrien durchzogener planetarischer Zusammenhang sei entstanden, und dessen Geschichte sei der Geschichtslosigkeit der aktuellen Globalisierungsdebatte entgegen zu stellen. Damit ist zugleich ein Hinweis auf die Verursachung dieser bemerkenswerten Volte gegeben: Die anschwellende Globalisierungsdebatte stellte für die Historiker eine besondere Herausforderung dar. Sie bestand zunächst in der Verknüpfung des historischen Umbruchs von 1989/91 und 10 11 12 13

Vgl. Jäckel: Das deutsche Jahrhundert. Kocka: Vereinigungskrise. Geyer/Bright: „World History in a Global Age“. Einen guten Überblick liefert Manning: Navigating World History.

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der Milleniumserwartung mit den Befunden einer voranschreitenden Globalisierung zu einem weitgehenden Zäsurbewusstsein. Globalisierung wurde zum Schlachtruf all jener, die die Welt in einen neuen Zustand gleiten sahen oder in ihm schon angekommen wähnten. Unter diesem Etikett wurden Phänomene beschrieben oder Behauptungen aufgestellt, die einen Bruch mit allen bisherigen historischen Erfahrungen signalisieren sollten. Ein discourse of newness gewann merklich an Fahrt. Die dramatische Einbuße an Bedeutung und Gestaltungsmacht, die für den Nationalstaat konstatiert wurde, führte zu allgemeinen Zweifeln an der Rolle politischer Steuerung gegenüber den Wirkungsgesetzen der Ökonomie und wurde als Folge einer Raum-Zeit-Kompression präsentiert, die die bestehenden Distanzerfahrungen erledigte und völlig neue Muster der Identifikation (d.h. die Ablösung früherer stabiler sozialer Identitäten aufgrund von Herkunft, Einkommen und Mobilitätschancen durch patchworkartige Zugehörigkeiten in offenen Gesellschaften) wichtig erscheinen ließ. Als treibende Kraft hinter diesen neuen Phänomenen wurde besonders der revolutionäre technologische Wandel einer omnipräsenten Informationalisierung betont, der Grenzen hinwegfegte bzw. einfach übersprang, so dass auch der Sonnenuntergang keine Limits mehr für Kapital und Arbeit darstellt, wenn die Dateien einfach an die Börsen und Ingenieurbüros der nächsten Zeitzonen weitergegeben werden können. Die Historiker profitierten (bspw. als Benutzer von PCs, die ebenso rasch wie andere Berufsgruppen die Vorzüge elektronischer Kommunikation im Web begriffen hatten) natürlich ebenfalls von diesen Neuerungen und kämen deshalb gar nicht auf die Idee zu leugnen, dass sich erhebliche Veränderungen vollzogen haben. Aber nach einiger Zeit des Staunens über die Unverfrorenheit, mit der Politikwissenschaftler, Soziologen und Ökonomen ihre alleinige Zuständigkeit für die Entwicklung seit der neuen Stunde Null, die faktisch auf das Jahr 1990 festgelegt wurde, behaupteten und die Historiographie zur behäbigen Verwalterin einer grauen Vorgeschichte degradierten, besannen sich die ersten Vertreter des Faches auf ihre eigenen Stärken, die vor allem in der kontrollierten Historisierung jeder Art von Neuerung liegen. Die Altbestände der Weltgeschichtsschreibung wurden zügig durchgemustert und verfielen vor allem in den USA dem Verdikt, aufgrund ihres impliziten oder expliziten hegelianischen Fortschrittsglaubens und Eurozentrismus nicht besonders viele Anregungen bereit zu halten. Dies kann auch als Übergang der Hegemonialposition in der internationalen Historiographie von Europa nach Nordamerika gelesen werden, der sich gerade in der Verleugnung aller europäischen Wurzeln der neueren Globalgeschichte artikulierte. Dagegen boten die Überlegungen von Geographen und Ökonomen scheinbar interessantere Anknüpfungspunkte. Die Beobachtung einer „Wiederkehr des Raumes“, wie Jürgen Osterhammel einen vielzitierten

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Bericht über Neuerscheinungen zur politischen Geographie überschrieb,14 bildete eine Brücke zwischen den Methodendebatten, die seit den 1980er Jahren abgelaufen waren, mit den Beobachtungen über die Neukonstituierung des historischen Forschungsobjektes Europa und dem Wunsch, Anschluss an die Globalisierungsdiskussion zu finden. Hatte die Fragmentierungsdiskussion den Zweifel an den vorher festgefügten Kategorien geweckt und dabei auch die Selbstverständlichkeit erschüttert, mit der Gesellschaft und Nationalstaat in eins gesetzt wurden, so fügte die konstruktivistische Wende und das Interesse an der Globalgeschichte jene Elemente hinzu, die erst den Brückenschlag zum cultural turn der Geographen möglich machten. Dass dort ungefähr zeitgleich gleichgerichtete methodische Erneuerungen abliefen,15 bot zahlreiche Anknüpfungspunkte,16 die auch in übergreifende und systematisierende Darstellungen der theoretisch-methodologischen Veränderungen mündete.17 In den einzelnen Ländern hat die Methodenkontroverse einen unterschiedlichen Verlauf genommen, worauf hier allerdings nicht näher eingegangen werden soll. Ich beschränke mich auf einzelne Beispiele, die aber die Richtung anzeigen, in der die Erörterung eines neuen Selbstverständnisses der Geschichtswissenschaft die Vorstellung vom Raum und seiner Rolle in einer Historiographie der Zukunft beeinflusst hat. Ich ordne diese Beispiele den drei Dimensionen zu, die sich aus der Theorie- und Methodendebatte, aus den Bemühungen um eine europäische Geschichte und um die Teilhabe an der Globalisierungsdiskussion ergeben.

1 Die Methodendebatten und der Raumbegriff Reinhart Kosellecks Vortrag, mit dem der Trierer Historikertag 1986 beendet wurde, den sein Verfasser aber erst 2000 veröffentlichte, konstatierte nicht nur mangelnde Vorüberlegungen zu einer Begriffsgeschichte von Raum, sondern auch eine Vernachlässigung der seit den Humboldt-Brüdern, seit Ritter, Kapp, Ratzel und Lamprecht geläufigen „raumzeitliche[n] 14 Vgl. Osterhammel: „Die Wiederkehr des Raumes“. 15 Vgl. Werlen: „Cultural Turn in Humanwissenschaften und Geographie“; vgl. auch Petermanns Geographische Mitteilungen, Jg. 147, Heft 2, 2003 zum Thema „Neue Kulturgeographie“. 16 Der Verfasser hat selbst in einem Leipziger Sonderforschungsbereich über Regionenbezogene Identifikationsprozesse von 1998 bis 2002 die erfrischende Begegnung dieser Diskussionsgegenstände mit erlebt, bei der sich die Bemühungen um eine vage cultural turn genannte, aber im konkreten Forschungsdesign dann sehr präzise Innovation bei Historikern, Geographen und Sozialwissenschaftlern gegenseitig angetrieben haben (vgl. Wollersheim u.a.: Region und Identifikation und die nachfolgenden 10 Bände der Reihe „Leipziger Studien zur Erforschung regionenbezogener Identifikationsprozesse“, 1999-2005). 17 Vgl. Lackner/Werner: Der cultural turn in den Humanwissenschaften.

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Konstitution empirischer Geschichten“18 zugunsten von Geschichte als Analyse der zeitlichen Abfolge: „Vor die formale Alternative Raum oder Zeit gestellt, optierte die überwältigende Mehrzahl aller Historiker für eine theoretisch nur schwach begründete 19 Dominanz der Zeit.“

Tatsächlich lässt sich am Ende des 19. Jahrhunderts beobachten, wie in der Weltgeschichtsschreibung gerade dieses Problem, für das zuvor nur Lösungen im kleineren Rahmen der regionalen Geschichte gesucht worden waren, die Gemüter bewegte.20 In der Folge wurde zwar die Kategorie Zeit flexibilisiert, bis hin zu jenem einflussreichen Aufsatz von Fernand Braudel über die longue durée, der 1958 postulierte, Geschichte ergebe sich aus der Übereinanderschichtung verschiedener Zeitdimensionen mit unterschiedlichen Rhythmen und Amplituden, die wiederum unterschiedlichen Dimensionen der Gesellschaft (dem Politischen an der Oberfläche, dem Sozialökonomischen mit dem mittleren Tempo des Wandels sowie der Mentalitätsgeschichte als langwelligen Veränderungen) darstellen konnten. Eine vergleichbare Flexibilisierung des Raumes hat jedoch über einen großen Teil des 20. Jahrhunderts hinweg nicht stattgefunden. So suggerierte die Bindung der Historiographie an das Projekt Nation/Nationalstaat, das der professionellen Geschichtswissenschaft optimale Entwicklungschancen einräumte, indem es ihr eine angesehene Stellung in der Gesellschaft als Legitimierung des Gegenwärtigen und die nötigen Arbeitsinstrumente in Form von gut ausgestatteten Lehrstühlen, Bibliotheken und Archiven verschaffte, eine Stabilität des relevanten Raumes, deren Verlängerung in die Vergangenheit geradezu zur Aufgabe der Historiker wurde. Die zeitliche Anordnung gesellschaftlicher Differenzen, die in den Fortschritts- und Modernisierungstheorien vorgenommen wurde, wenn Störendes der Vormoderne und Erstrebenswertes der Modernität zugeordnet wurde, ließ sich zunächst ohne größere empirische Schwierigkeiten auf den Raum übertragen: Im (westlichen) Zentrum herrschte die Moderne, an der (südlichen und östlichen) Peripherie die Unterentwicklung.21 Erste Irritationen dieses Modells durch den Aufstieg der USA und Japans führten zwar schon Anfang des 20. Jahrhunderts zu neuen Überlegungen und einer Kritik der kurzschlüssigen Raum-Zeit-Analogie,22 aber 18 19 20 21

Koselleck: „Raum und Geschichte“, S. 80. Ebd., S. 81. Bergenthum: Weltgeschichten im Zeitalter der Weltpolitik. Eine vorzügliche Kritik dazu aus eurasischer Perspektive: Goody: The Theft of History. 22 Vgl. Lamprecht: „Universalgeschichtliche Probleme“; Middell: Weltgeschichtsschreibung im Zeitalter der Verfachlichung und Professionalisierung.

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sie konnten sich nicht durchsetzen, sondern fanden in der Doppelbewegung von Modernisierungstheorie und Marxismus-Leninismus im 20. Jahrhundert, die den Globus unter sich auf- und zugleich in drei Welten einteilten, einen übermächtigen Gegner. Erst die konstruktivistische Wende in der Geschichtswissenschaft, die in der Fragmentierungsdebatte ihre notwendige Voraussetzung hatte, schaffte die epistemologischen Voraussetzungen, um diese Vereinfachungen zu überwinden. Auch Chartier hatte schon 1989 darauf hingewiesen, dass zu den Grundannahmen der älteren Sozialgeschichte, die nun unter Erneuerungsdruck geraten waren, neben der Idee von der histoire totale, die „in einem Zugriff die verschiedenen Ebenen der gesellschaftlichen Totalität miteinander zu verbinden“ in der Lage sei, und dem Vorrang der sozialen Gliederung gegenüber kulturellen Differenzen auch die „territoriale Bestimmung der Forschungsgegenstände, die gern mit der Beschreibung einer Gesellschaft in einem besonderen Raum (einer Stadt, einem pays, einer Region) gleichgesetzt wurden“ gehörte.23 Damit löste sich die französische Historiographie mehr und mehr von den homogenisierenden Vorstellungen der älteren Humangeographie, in der die Vielfalt der Regionen Bausteine zum Verständnis der Einheit der Nation lieferte.24 Der Raum, der nicht mehr notwendigerweise in den natürlichen Grenzen des Hexagons gesehen wurde, hatte als Container des historischen Geschehens ausgedient. Damit wurde eine produktive Auseinandersetzung mit der sogenannten microstoria möglich, die italienische Historiker als Reaktion auf die Diskussion um Totalität und Fragmentierung vorgeschlagen hatten. In der microstoria ging es um die möglichst komplexe Rekonstruktion eines singulären Falles, aus dessen dichter Beschreibung sich die Logik der Subjekte ergeben sollte. Damit sollte nach der Vorstellung ihrer Anhänger, die ihre Inspiration aus der Anthropologie nicht verleugneten, das Dilemma vermieden werden, vorgefasste theoretische Modelle an Gegenstände heranzutragen, die diesen grundsätzlich fremd sind. Da viele Beispiele, an denen die Mikro- oder Alltagsgeschichte vorgeführt wurde, aus dem Spätmittelalter oder der Frühen Neuzeit stammten, lag eine Identifizierung des Gegensatzes von (angemessener) Logik der historischen Subjekt und (anachronistischer) Logik der Forscher mit der Opposition lokal vs. national/gesellschaftlich nahe. Insbesondere Jacques Revel hat die darin implizierte Gleichsetzung der Subjektlogik mit einem allein lokalen Bezug zur Disposition gestellt und darauf hingewiesen, dass auch die lokalen Akteure ein „Spiel mit den Maßstäben“ trieben, je nach Situation auf ganz unterschiedliche Raumebenen Bezug nahmen.25 Damit war für eine Geschichte, die aufgrund der großen Stabilität des Raumes, in dem

23 Chartier: „Le monde comme représentation“, S. 325. 24 Vgl. Thiesse: La création des identités nationales. 25 Revel: Jeux d’échelles.

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sie spielte, ein methodischer Durchbruch eröffnet, der im Falle des ständig mit wechselnden Grenzen und Territorialisierungen konfrontierten Zentraleuropa vielleicht weniger sensationell anmutet, als er es im Blick auf Frankreich war.26 Die tradierte Nähe von Geschichte und Geographie, die in der Dritten Republik für eine finalistische republikanische Historiographie eingesetzt wurde, wurde zwar intellektuell in Frage gestellt, aber institutionell nicht aufgelöst. Nach wie vor absolviert jeder Geschichtsstudent in Frankreich auch eine Geographieausbildung, und die beiden Fächer bilden die Standardkombination der Lehrer in den Schulen. Die Infragestellung der aus dem späten 19. Jahrhundert stammenden Grundlagen dieses Bündnisses regte am Ende des 20. Jahrhunderts zahlreiche Überlegungen zum Raum als Produkt aufeinanderfolgender sozialer Experimente, als Erfindung relevanter Umwelten, als Ergebnis alltäglicher Praktiken und als Gegenstand politischer Strategien an. Die Unterscheidung zwischen éspace und territoire und die Übergänge zwischen beiden halfen ebenso, den spatial turn konzeptionell genauer zu fassen, wie die Untersuchung der Verräumlichung als performativer Akt der Schaffung von Distanzen und Reziprozitätsverdichtungen oder die Übertragung des Feldbegriffs aus der Bourdieuschen Soziologie in die Geschichtswissenschaft.27

2 Die Neukonstituierung Europas als Anregung Der Frankfurter Osteuropahistoriker Karl Schlögel hatte seinerseits ein ehrgeiziges Projekt in Gang gesetzt, mit dem er auf die Unsicherheiten zu reagieren suchte, denen der Europabegriff nach 1989 ausgesetzt war.28 Schon Gorbaþov hatte mit seiner Metapher vom Haus Europa die Selbstverständlichkeit einer normativ aufgeladenen Teilung in ein westliches Europa, das sich in der EU institutionalisierte und für sich die Traditionen von Antike, Christentum, Renaissance, Aufklärung, Demokratie und Marktwirtschaft reklamiert, und ein dagegen abgewertetes östliches Europa lediglich als Erklärungsmuster einer vergleichsweise kurzen historischen Epoche gekennzeichnet, woraus der sowjetische Partei- und Regierungschef die Forderung nach einer Neuverhandlung des Europaverständnisses ableitete. Darin sind ihm inzwischen sehr viele Historiker gefolgt, die aus verschiedenen Perspektiven die Raster des Kalten Krieges in Frage stellen und einen Neuanfang der Europa-Historiographie fordern.29 Eindrücklich

26 27 28 29

Vgl. Burguière/Revel: L’espace dans l’histoire de la France. Vgl. Haupt: „Raum in der französischen Geschichtswissenschaft“. Vgl. Schlögel: Berlin Ostbahnhof Europas. Vgl. Petri/Siegrist: Probleme und Perspektiven der Europa-Historiographie.

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konnte belegt werden, dass die „Erfindung Osteuropas“30 und die Verlagerung all jener Aspekte, die der Westen bei seiner Konstituierung als sein eigenes Anderes auszugrenzen suchte, erst jenes Konstrukt geschaffen hat, dessen Lokalisierung flüchtig ist und nach einer Formierungsphase im 19. Jahrhundert31 durch den Eisernen Vorhang für einen kurzen Moment klarere Konturen erhielt. Doch Schlögel geht noch einen entscheidenden Schritt weiter, denn er folgt konsequent dem Blick von unten und jenen Akteuren, die Europa mit ihrer täglichen Mobilität und Kommunikation bauen – als Lastwagenfahrer, als Händler und Schmuggler, als Dienstleister im Grenzgebiet, als Übersetzer und vieles mehr. Schlögel widmet seine Bücher den Umschlagplätzen dieser Neuverhandlung eines Raumes: den Bahnhöfen, Raststätten und Flughäfen.32 Diese Aufmerksamkeit für den Alltag des Produzierens räumlicher Bezüge hat ihre Zusammenfassung in einem Buch gefunden, das eher mosaikartig die Elemente einer theoretischen Sensibilisierung vorführt als in einer geschlossenen Beweisführung die Aspekte des mental mapping aufzufächern.33 Gleichwohl – oder gerade deshalb – hat dieses Buch eine erhebliche Aufmerksamkeit unter deutschen Historikern gefunden, wohl weil es auf plausible Weise die Vorzüge des Erschleichens geographischer Diskussionsbestände darbietet. Damit wird auf eine lange verdrängte Tradition der Beziehung zwischen Geographie und Geschichte hingewiesen, die aus einer spezifisch deutschen Sorge vor den Fallstricken der Geopolitik gemieden wurde.

3 Die Globalisierungsdiskussion Die Weltgeschichtsschreibung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hatte vor allem mit Fernand Braudels Idee von den économies-mondes, einer Art großregional begrenzter Produktions-, Akkumulations- und Konsumregimes eine wichtige Anregung für die Erforschung von Verräumlichungsprozessen hervorgebracht. Braudels wohl einflussreichster Schüler, Immanuel Wallerstein, hat dieses Konzept unter dem Eindruck der Dependencia-Theorie der 1960/ 70er Jahre zu einer über den ganzen Erdball gespannten Differenzierung in Zentrum und Peripherie transformiert, der später andere Autoren wie Hans-Heinrich Nolte die Kategorie der Semiperipherie hinzugefügt haben, 30 Wolff: Inventing Eastern Europe; Schenk: „Mental Maps“. 31 Vgl. Lemberg: „Zur Entstehung des Osteuropabegriffs im 19. Jahrhundert“; Struck: „Von Sachsen nach Polen und Frankreich“. 32 Vgl. Schlögel: Das Wunder von Nishnij oder die Rückkehr der Städte; ders.: Planet der Nomaden; ders.: Die Mitte liegt ostwärts; ders.: Promenaden in Jalta und andere Städtebilder. 33 Vgl. Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit.

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über die sich zahlreiche Ergebnisse von Regionalstudien dem Erklärungsansatz integrieren ließen. Die sogenannte Weltsystemtheorie hat im Laufe der Zeit verschiedene Erweiterungen erfahren, aber gemeinsam ist ihr die Argumentation mit der Last langandauernder Spaltungen der Welt, die auf Entscheidungen aus der Zeit des 16.-18. Jahrhunderts zurückgehen, als zunächst das portugiesische und das spanische Weltreich entstanden, aber dann von der Suprematie der Niederländer sowie schließlich der Briten und Franzosen abgelöst wurden. Die neuere Globalgeschichtsdiskussion setzt anders an. Die Frage, wann die Geschichte der Globalisierung beginnt, wird zwar nicht einheitlich beantwortet, aber die meisten Autoren betonen die zwei gravierenden Krisen, deren Erschütterungen in Form von Revolutionen, Bürgerkriegen und internationalen Konflikten eine Veränderung der Lage für große Teil der Welt anzeigen:34 einerseits erstreckt sich eine solche Krise von den späten 1770er Jahren bis in die 1820er Jahre und andererseits in der Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen 1840 und 1880. Insbesondere die zweite Krise, die auf die Erfahrungen der Vorgängerkrise zurückgreifen konnte, schuf einen grundsätzlich neuen Zusammenhang.35 Unter britischer Dominanz kam es zu einer Vernetzung, deren Grundlage der Eintritt in das Zeitalter der industriellen Fertigung von Massengütern war, aber auch die Revolutionierung von Kommunikation und Transport durch die Einführung des Telegraphen und des Dampfschiffes. Es war dies natürlich nicht die historisch erste Vernetzung verschiedener Weltteile, aber neu war an dieser, dass sich nun keine Region der Erde mehr dieser Vernetzung entziehen konnte – bei Strafe ihres Zurückbleibens im globalen Wettlauf um Ressourcen und einer gravierenden Schlechterstellung in den sich wandelnden terms of trade, die die Rohstofflieferanten gegenüber den Exporteuren von Fertigprodukten benachteiligten. Unter diesen Bedingungen verdichteten sich die Verflechtungen, sie erfassten immer mehr Menschen und beeinflussten deren Lebensführung. Der Eintritt in diese Globalisierung ging deshalb mit kulturellen Reaktionen einher, die der neuen Vernetzung adäquat sein sollten. Internationalisierung erfasste mit der Gründung des Roten Kreuzes die Verwundetenversorgung auf den Schlachtfeldern und mit der Berner Übereinkunft die Sicherung der Urheberrechte.36 Die Arbeiterbewegung versuchte ihren Widerstand auf internationaler Ebene zu institutionalisieren. Panslawismus und Panafrikanismus entstanden und gaben die Wegzeichen für weitere internationalistische Denk- und Organisationsformen vor. Doch genauso 34 Vgl. Bayly: The Birth of the Modern World, 1780-1914. 35 Vgl. Bright/Geyer: „Globalgeschichte und die Einheit der Welt im 20. Jahrhundert“. 36 Einen brillanten Überblick dieser Internationalisierung bietet Iriye: Global Community.

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gehörte der Nationalismus zu den kulturellen Mustern, die durch die Globalisierung herausgefordert oder gestärkt wurden, denn auch hier ging es nicht um eine Abschottung gegen die Vernetzung, sondern um die Suche nach geeigneten Formen, in denen sich diese Vernetzung bei Wahrung größtmöglicher Souveränität zu den je eigenen Bedingungen gestalten ließ. Insofern sind die beiden Krisen, die in das Zeitalter der Globalisierung hinüberführen, nicht nur schwere Erschütterungen der bis dahin bestehenden Weltordnung, in denen um Vorherrschaft und die Erzwingung einer neuartigen Vernetzung gerungen wurde. Sondern sie sind auch gekennzeichnet durch die Suche nach den geeigneten Formen der Verräumlichung sozialen und kulturellen Handelns, die es gleichzeitig erlaubten an den Vorzügen des weltweiten Netzes, in dem Menschen, Waren und Ideen zirkulierten, teilzuhaben und die Integration der Massengesellschaften, die im Zuge der Industrialisierung entstanden, zu leisten.37 Im Zuge einer langen Suchbewegung bildete sich ein Territorialitätsregime heraus, das mit der Nation und dem Nationalstaat das am intensivsten begründete Modell aufwies, aber daneben auch andere Formen kannte, die jedoch unter dem Paradigma eines methodischen Nationalismus in der Forschung immer stärker als Produkte eines unabgeschlossenen nation-building angesehen wurden. Hier schließt übrigens die neuere Empire-Forschung an, die darauf hinweist, dass keineswegs der Nationalstaat der Regelfall in der neueren Geschichte ist, sondern imperiale Gebilde den Verlauf auch des 20. Jahrhunderts ganz maßgeblich geprägt haben. Das Interesse daran ist mit dem Irak-Krieg der USA auch geschichtspolitisch neu mobilisiert worden, seit Autoren wie Nial Ferguson die Erfahrungen des britischen Empire aus dem 19. Jahrhundert anpreisen und Historiker vor allem in den USA mit der bangen Frage konfrontiert sind, ob der „Niedergang der Reiche“ eine unvermeidliche historische Gesetzmäßigkeit bilde.38 Der in methodischen Debatten der Historiker noch weithin ungebräuchliche Terminus Territorialitätsregime meint die Vorherrschaft einer Verräumlichungsform in der Deutung gesellschaftlicher Entwicklungen, nicht aber deren alleinige Existenz. So erlaubt der Hinweis auf die Zentralstellung des Nationalen für die Zeit zwischen 1860 und 1970 gerade die differenziertere Betrachtung imperialer Strukturen in ihren so unterschiedlichen Ausprägungen als das ebenfalls präsente Andere.39 Genauso wird wieder an die frühe Interpretation der USA als „transnationality“ schon 1916 durch Bournes erinnert,40 und Christophe Charle hat die Gesellschaften in Westeuropa, die oft als Prototypen des Nationalstaates angesehen wurden, als „sociétés impériales“ beschrieben und damit ebenso wie Serge

37 38 39 40

Vgl. Maier: „Consigning the 20th Century to History“. Calhoun u.a.: Lessons of Empire. Vgl. Pagden: Lords of All the World; Muldoon: Empire and Order. Patel: Nach der Nationalfixiertheit.

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Gruzinski die konstitutive Rolle ihrer außereuropäischen Kolonien für die Nationalisierung unterstrichen.41 An dieser Stelle wird deutlich, dass die neuere Globalgeschichtsdebatte nicht nur ornamental auf die kulturalistische Wende in der Geographie zurückgreift, sondern ihre zentralen Begründungen für die Abgrenzung sowohl gegenüber der älteren Universalgeschichte als auch gegenüber der Weltsystemtheorie aus der Einsicht ableitet, dass Globalisierung durch eine Dialektik von De- und Reterritorialisierung bestimmt werden kann. Der amerikanische Soziologe Neil Brenner stellte dies im Rückgriff auf eine Definition von David Harvey fest,42 nach der die historische Geographie des Kapitalismus als eine „restless formation and re-formation of geographical landscapes“ aufzufassen sei, in der die sukzessiven Akkumulationsregime permanent territoriale Organisationsmuster schaffen, zerstören und rekonstruieren.43 Mit der Kritik am methodischen Nationalismus steht die Geschichtswissenschaft vor dem Problem, wie man Entitäten, die als Objektbereiche historischer Forschung dienen, charakterisieren kann – Kulturen, Gesellschaften und Zivilisationen werden nach der konstruktivistischen Wende als je spezifische Kohärenzstiftungen aufgefasst, die in bestimmten strategischen Absichten von Akteursgruppen betrieben und weitergeführt werden. Zentral ist an diesen Entitäten neben dem Konstruktionscharakter ihre grundsätzliche Durchlässigkeit für die Wirkungen des Kontaktes und des Austauschs. Ihren Fluchtpunkt findet diese Auflösung stabiler Vorstellungen von Entitäten historischer Forschung in der Idee laufend erneuerter Verräumlichung sozialer und kultureller Beziehungen, die zu einem jeu d’échelles, einem Spiel mit den Maßstäben und Untersuchungsebenen bei den Akteuren führt, das der Forscher nachzuvollziehen habe, anstatt seine eigenen normativen Vorstellungen vom optimalen Ergebnis der Verräumlichung anzulegen. Die Menschen leben weder heute noch in der Vergangenheit allein auf einem Niveau der Verräumlichung des Sozialen; sie sind vielmehr herausgefordert mit der Verfügbarkeit von Ressourcen in ganz verschiedenen Ebenen umzugehen – den einen gelingt dies besser, den anderen schlechter. Die Verräumlichungsprozesse werden damit selbst zur Quelle von Ungleichheit und müssen damit als Ursache für die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Akteursgruppen um die (politische) Gestaltung dieses Ressourcenzugriffs genauer betrachtet werden. Hier tut sich ein weites und noch in vielen Beziehungen unerschlossenes Gebiet auf, auf dem für die nächste Zeit Innovationen aus der Feder von Historikern zu erwarten sind, die gleichermaßen die Gegenwart wie die Vergangenheit aufklären.

41 Charle: La crise des sociétés impériales; Gruzinski: La pensée métisse. 42 Vgl. Brenner: „Beyond State-centrism“. 43 Harvey: „The Geopolitics of Capitalism“, S. 150.

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Für die Globalisierungsdiskussion ergibt sich in historischer Perspektive eine permanente, aber eben nicht gleichförmige und deshalb nur empirisch zu erfassende Wechselbeziehung von Lokalisierung, Regionalisierung, Nationalisierung und Transnationalisierung. Der Blick auf diese wesentlich komplexere Theoretisierung wurde erst mit der empirischen Feststellung frei, dass sich im Zuge der neueren Globalisierungswoge weder die Nationalstaaten einfach auflösten noch in supranationalen Strukturen oder solchen einer global governance aufgingen. Andererseits kann auch deren Unterminierung durch eine Regionalisierung, die in (West-)Europa bis auf die 1960er Jahre zurückverfolgbar ist, und durch die Bildung von Archipelen der Globalität sowie durch weltumspannende Netzwerke betrachtet werden, aber doch fürs Erste immer mit der Feststellung, dass dies nicht zum einfachen Verschwinden des Nationalstaats führt. Soweit es um die Kennzeichnung unserer eigenen Epoche geht, so scheint es besonders wichtig, die Neusegmentierung der Welt hervorzuheben, die wir erleben. Sie bringt vielfältige Bruchzonen der Globalisierung hervor, in denen Ungewissheit über die Relevanz von Raumstrukturen herrscht. Man kann diese Bruchzonen der Globalisierung kennzeichnen als jene historischen Momente und Situationen, in denen über die Raumbezüge eines gesellschaftlichen Zusammenhanges neu entschieden wird. Betrachtet man jene Phasen, in denen sich eine auffällige Häufung solcher Bruchzonen in verschiedenen Teilen der Welt zu einer Art globaler Krise verdichtet, dann erhält man eine vor allem von den Verräumlichungsprozessen her gedachte Gliederung der Weltgeschichte, in der die Erschütterung, Ablösung bzw. Etablierung von Territorialitätsregimes zu einem wichtigen Ordnungsprinzip wird. Mit diesen drei Kategorien gelingt es vielleicht besser Prozesse der Globalisierung zu verstehen, als es Ansätze tun, die im überlieferten Paradigma quasi unveränderlicher Raumbezüge verbleiben.44 Ob es sich bei der gegenwärtigen Instabilität um eine transitorische Phase zu einem neuen stabileren Territorialitätsregime handelt, oder ob das Nebeneinander und das Zusammenspiel verschiedener Verräumlichungsformen zum Kennzeichen einer Epoche nach der dominanten Nationalisierung wird, muss gegenwärtig noch offen bleiben. Man kann aber mit Fug und Recht annehmen, dass die Debatten um den spatial turn eine tiefe Verunsicherung in quasi allen geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen über den Charakter, die Ursachen und die absehbaren Folgen dieses Zustandes reflektieren. Im neu entstehenden Feld der transnationalen Geschichte, über das im Moment so intensiv nachgedacht wird, artikulieren sich die Bemühungen, das Neue im Gewand einer historischen Erklärung in den Griff zu bekommen. 44 Vgl. Engel/Middell: „Bruchzonen der Globalisierung, globale Krisen und Territorialitätsregimes – Kategorien einer Globalgeschichtsschreibung“.

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Dabei erweist sich, dass Historiker zwar tunlichst die Finger von Prognosen lassen sollten, mit der ihnen eigenen Professionalität zur Beantwortung der Frage nach den aktuell ablaufenden Wandlungen allerdings durchaus einen Beitrag leisten können, indem sie erstens aufzeigen, dass Territorialitätsregimes entgegen den alltagsweltlichen Annahmen über die Stabilität der Raumordnungen, in denen Menschen leben, geschichtlich entstehen und vergehen, zweitens rekonstruieren, inwieweit die Nationalisierung eine Eindeutigkeit vorgespiegelt hat, die weder vor dem 19. Jahrhundert bestand noch nach der Dominanz des Nationalen zu erwarten ist, und drittens untersuchen, wie auch in dem zwischen 1860 und 1960 vorherrschenden Territorialitätsregime ein Zusammenspiel verschiedener Varianten, relevante Räume zu organisieren, stattfand. Mit dem spatial turn in den historischen Wissenschaften steht auch deren enge Bindung an den Nationalstaat und seine Legitimierung mit all ihren Konsequenzen für die methodische und institutionelle Verfasstheit der Geschichtswissenschaft zur Disposition. Die notwendige Ablösung von dieser Allianz ist schmerzhaft und dauert noch an. Welche Folgen eine tatsächlich fundamentale Erschütterung dieser Allianz für den Geschichtsunterricht haben wird, ist noch gar nicht genau abzusehen, auch wenn die Frage beunruhigt oder hoffnungsvoll erörtert wird.45 Es spricht vieles dafür, dass auch hier das wesentlich komplexere Spiel mit den Maßstäben Einzug halten wird und zur Bewältigung der Herausforderung von Globalisierung vor Ort eher regionale Bezüge als nationale Vorgaben hilfreich sind. Zugleich wird die Historiographie mit der Rezeption der kulturalistischen Wende in der Geographie zum Gesprächspartner in neuen Fächerkoalitionen und entwickelt langsam eine eigene Systematik des flexibleren Umgangs mit dem Raum, die sich in drei Felder aufteilen lässt: 1. In der Nationalismusforschung wie in der Regionalgeschichte und der Untersuchung von Heimat-Konzepten im Zeitalter des dominanten Nationalstaates wächst die Aufmerksamkeit für die Kombinierbarkeit der Bezüge von Identität auf Raumebenen und für die Konflikte zwischen diesen Bezügen bzw. den mit ihnen verbundenen Akteursinteressen. Im Ergebnis entstand eine wichtige Verschiebung: Statt die Nation als relativ feststehende Entität (die auch einen Raum hat, quasi in einem Container stattfindet) zu behandeln, wendet sich nun der Blick auf Prozesse der Nationalisierung, der mit Regionalisierung(en) und/oder Transnationalisierungen konfligieren oder mit ihnen kombiniert werden kann. Die Bestimmung dieser Verhältnisse ist einer der fruchtbarsten Forschungszweige. Es geht allgemeiner gesprochen um die Vielfalt der Verräumlichung sozialer und symbolischer Handlungen. Der Raum verschwindet nicht mit der Globalisierung und im Schatten des Konstruktivismus, sondern er wird er45 Vgl. Riekenberg: Geschichts- und Politikunterricht zeitgemäß?

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zeugt, indem individuelle und kollektive Akteure Raumbezüge für ihr Tun herstellen und sprachlich ausdrücken. Die meisten dieser Verräumlichungen sind relativ flüchtig, auch wenn sie routiniert regelmäßig stattfinden. Sie erzeugen aber ein kulturelles Gewebe, auf dem die Akte der Territorialisierung (die Allgegenwart expliziter und impliziter räumlicher Bezüge in sprachlichen Akten) beruhen, die sich stabilisieren. Als eine Form der Stabilisierung kann der Regionalismus bzw. der Nationalismus gedeutet werden, die zu geschlossenen Weltbildern ausgearbeitete Folgerungen aus Regionalisierungs- bzw. Nationalisierungserfahrungen darstellen. 2. Weiterhin wird die handlungsdeterminierende Wirkung von Raumsemantiken genauer im historischen Wandel betrachtet. Es geht hier um Kohärenzbildungen durch die Charakterisierung eines Phänomens als deutsch, französisch usw., wobei diese Kohärenzbildung die inhärente Heterogenität, den Anteil des Fremden zum Verschwinden zu bringen sucht. Vielfältige Versuche zur Begriffsgeschichte, zur Untersuchung narrativer Muster und zur Analyse von Diskursen sind hier angesiedelt, die sich sowohl mit Texten als auch mit anderen symbolischen Formen befassen.46 3. Die Transnationalisierungsforschung, die sich zunächst vor allem an Beispielen aus der Migrationsgeschichte entfaltet hat, entwickelt mehr und mehr eine kritische Reflexion auf die territorialisierende Praxis von Historikern selbst. Die heftigste Kontroverse hat die Kritik an Verfahren des (kontrastiven) historischen Vergleichs ausgelöst, der lange Zeit als eine Art Königsweg der Beweisführung in den Humanwissenschaften angesehen wurde. Die Gegenüberstellung zweier Fälle, die zur Aufdeckung von Regelmäßigkeiten, Ähnlichkeiten und Differenzen benutzt wird, hat aber eine schwerwiegende Voraussetzung, nämlich die Isolierung, d.h. Dekontextualisierung jedes einzelnen Falles. Damit geht, so die Kritik, häufig die Festlegung auf einen einzigen Raumbezug und die Vernachlässigung der Verflechtungen der beiden komparatistisch untersuchten Fälle einher. Für eine Geschichtswissenschaft, die nach der konstruktivistischen Wende dem Historiker nicht mehr auf naive Weise eine unschuldige Beobachterposition zugesteht, und die durch die Interessenverlagerung zur Globalgeschichte sensibler geworden ist für die zentrale Bedeutung von Verflechtungen und Vernetzungen, erscheint dieser Preis eines heuristischen Modells inzwischen vielfach zu hoch. An die Stelle rein kontrastiver Vergleiche treten nun Kombinationen aus komparatistischen Verfahren und Untersuchung kultureller Transfers, die in einer Verflechtungsgeschichte auch auf ihre Raumbezüge konstituierende Rolle hin abgeklopft werden. So kehrt auch in dieser Debatte, die

46 Vgl. Köhnke/Kösser: Prägnanzbildung und Ästhetisierung in Bildangeboten und Bildwahrnehmungen.

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zunächst als Kontroverse um die Rolle des Vergleichs in der Kulturgeschichte begonnen hatte, die Kategorie des Raumes zurück. Versucht man eine Zwischenbilanz zu ziehen, dann befinden sich die Dinge im Fluss. Die Logik der eingangs vorgestellten Methodenkontroversen drängt zu einer weiteren Auseinandersetzung mit dem Raum, der nicht einfach nur Voraussetzung der Geschichte ist, sondern in Form der gelebten Raumbezüge deren Produkt. Für das historische Verständnis der gegenwärtigen Neusegmentierung der Welt rückt die Vielfalt dieser Verräumlichungsprozesse in eine so zentrale Position, dass sie kaum länger zu ignorieren sind.

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122 Ň MATTHIAS MIDDELL

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GLOBALISIERUNG IN DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT Ň 123

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„Bringing space back in“ – Zur Relevanz des Raums als soziologischer Kategorie MARKUS SCHROER

Die vermehrt angezeigte Rückkehr des Raums in den sozialwissenschaftlichen Diskurs ist ebenso unbestreitbar wie umstritten. Unbestreitbar ist die neue Aufmerksamkeit gegenüber Raum und Räumlichkeit als Thema, Begriff und Kategorie. Sämtliche Kultur- und Gesellschaftswissenschaften haben den Raum inzwischen für sich entdeckt. Umstritten dagegen ist, ob es sich bei der Wiederbelebung des Begriffs im sozialwissenschaftlichen Kontext um eine begrüßenswerte und notwendige Entwicklung handelt, weil „räumliche Konfigurationen des sozialen Lebens [...] ebenso von grundsätzlicher Bedeutung für die Sozialtheorie wie die Dimensionen der Zeitlichkeit“1 sind, oder ob es sich dabei eher um einen Irrweg der Sozialwissenschaften handelt, weil Modernisierung die Emanzipation vom Raum gleichsam eingeschrieben ist. Warum sich also mit Atavismen beschäftigen? Zusätzliche Nahrung erhält die Skepsis gegenüber der Raumthematik durch die noch wache Erinnerung an die nationalsozialistische Verbrämung des Raums einerseits und durch den Verweis auf die institutionelle Arbeitsteilung zwischen den Sozialwissenschaften, die zur exklusiven Behandlung des Raums in der Geographie führte, andererseits. Warum ihn also nicht den Geographen überlassen? Ist er dort etwa nicht mehr gut aufgehoben? So abwegig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, ist diese Vermutung nicht. Denn gerade von geographischer Seite stammen die wohlmeinenden Warnungen an die Adresse der Soziologie, nicht auch noch in jene „Raumfalle“2 zu treten, aus der man sich selbst mühsam zu befreien versucht. Die Frage, ob die Hinwendung zum Raum eher zu begrüßen oder zu befürchten ist, soll im Folgenden keineswegs offen gelassen bleiben. Vielmehr wird argumentiert, dass wir es derzeit mit einschneidenden 1 2

Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft, S. 422. Lippuner/Lossau: „In der Raumfalle“.

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gesellschaftlichen Umbrüchen zu tun haben, die das Thema Raum unweigerlich auf die Tagesordnung setzen, was eine Überprüfung der bisher scheinbar selbstverständlichen Raumvorstellungen geradezu erzwingt, will sich Soziologie die Arbeit mit „Zombie-Kategorien“3 nicht weiter zumuten. Allerdings sollte sie sich im Umkehrschluss ebenso wenig dazu hinreißen lassen, durchaus noch rüstige Kategorien und Begriffe gleichsam lebendig zu begraben. Im Widerspruch zu den Aussagen und Prognosen manch euphorischer Globalisierungstheorie schwindet die Bedeutung von Räumen und Grenzen keineswegs, sondern nimmt im Gegenteil noch zu. Beim Raum handelt es sich jedenfalls weder um ein bloßes Modethema (falls es so etwas überhaupt gibt), das schon bald wieder vergessen sein wird, noch um ein zufällig von der Soziologie vernachlässigtes Thema, das gewissermaßen in einem Akt der Wiedergutmachung endlich zum Gegenstand soziologischer Forschung erhoben werden sollte. Es geht hier weder um Mode noch um Moral. Es geht vielmehr darum, dass in die Grundbegrifflichkeiten und Basisannahmen des Sozialen räumliche Vorstellungen eingelassen sind, die angesichts der unter dem Namen Globalisierung geführten Veränderungen aufgedeckt und analysiert werden müssen.4 Ein Missverständnis innerhalb der neuen Raumdiskussion dabei ist, dass die These von der Vernachlässigung des Raums sein völliges Ausbleiben im soziologischen Denken meinen würde. Dies lässt sich leicht widerlegen.5 Gemeint ist vielmehr, dass es sich bei Raum um eine zumeist nur implizit verwendete Kategorie handelt, die nur selten eigens thematisiert wird, in vielen Diskursen aber durchaus ein subkutanes Dasein fristet. Die folgenden Überlegungen verfolgen das Ziel, die Relevanz des Raumthemas für die Soziologie aufzuzeigen und die grundlegenden Raumbegriffe zu erläutern, die im gegenwärtigen Raumdiskurs kursieren. Dafür wird in einem ersten Schritt die These von der Verabschiedung des Raums vorgestellt (Kap. 1), die in einem zweiten Schritt mit der These der Wiederkehr des Raums konfrontiert wird (Kap. 2). Der Vergleich beider Thesen zeigt, dass die diametral entgegen gesetzten Perspektiven aus ihren differenten Raumbegriffen resultieren. Dies führt in einem dritten Schritt zur Analyse der verschiedenen Raumbegriffe und Raumverhältnisse, die zumeist in Form von Gegensatzpaaren präsentiert werden: Geographischer Raum / sozialer Raum (Kap. 3.1), Behälterraum / sozialer Raum (Kap. 3.2), Gesellschaft / Raum (Kap. 3.3), Raum / Gesellschaft (Kap. 3.4), Raum / Zeit (Kap. 3.5). Im Durchgang durch die verschiedenen Unterscheidungen wird dabei nicht – wie in der Raumdiskussion allgemein üblich – für eine der beiden

3 4 5

Beck/Willms: Freiheit oder Kapitalismus?, S. 19f. Vgl. Berking: „‚Global Flows and Local Cultures‘“. Vgl. Schroer: Räume, Orte, Grenzen.

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Seiten optiert, sondern dafür plädiert, das Zusammenspiel der scheinbar gegensätzlichen Begriffspaare zu analysieren. Der Beitrag schließt mit der Frage, ob wir es innerhalb der Sozialwissenschaften tatsächlich mit einem spatial turn zu tun haben (Kap. 4).

1 Die Moderne und das Verschwinden des Raums Eine weit verbreitete These innerhalb der Globalisierungsdiskussion besagt, dass Raum zunehmend keine Rolle mehr spiele. Die Liste der Verabschiedungsformeln ist lang: Die Rede ist vom „death of distance“6, von der „time-space compression“7, vom „Ende der Geographie“8 und dem „Ende des Raumes“9. Die These von der Entterritorialisierung, der Ortlosigkeit, der Aufhebung und Vernichtung des Raums hat durch das Aufkommen des Internets enormen Auftrieb erhalten, ist aber nicht erst im Zuge der Verbreitung dieses neuen Kommunikationsmediums aufgekommen. Sie ist vielmehr steter Wegbegleiter eines jeden neuen Transportoder Kommunikationsmediums. So hielt es beispielsweise schon der Erfinder des elektromagnetischen Schreibtelegrafen Samuel Morse um 1837 für eine ausgemachte Sache, dass der Telegraf den Raum überwinde und dazu führen würde, zumindest die gesamten USA in one neighborhood zu verwandeln.10 Und Heinrich Heine notierte angesichts der Verbreitung der Eisenbahn, dass der Raum getötet werde und nur noch die Zeit übrig bleibe.11 Spätestens seit dieser Zeit ist die These von der „Aufhebung des Raumes“12, wie es bei McLuhan heißt, ein stetig wiederkehrender Topos in der Medien- und Kommunikationsforschung. Doch nicht nur in der Medien- und Kommunikationsforschung findet sich die Vorstellung, dass der Raum seinen ehemaligen Einfluss verliert. Die These von der zunehmenden Irrelevanz des Raums scheint vielmehr auch den Theorien der Moderne insgesamt eingeschrieben zu sein. Von Emile Durkheim und Georg Simmel über Talcott Parsons bis Niklas Luhmann und Zygmunt Bauman wird dem Raum im Laufe des Modernisierungsprozesses eine immer kleine werdende Rolle zugesprochen.13 Durkheim zeigt sich überzeugt, dass die Bindung an den Nahraum immer geringer werden wird und sich die Aktivitäten und Tätigkeiten weit über die territorialen Einheiten von Dorf, Destrikt und Stadt hinaus orientieren

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Cairncross: Death of Distance. Harvey: The Condition of Postmodernity, S. 240ff. O’Brien: Global Financial Integration. Baudrillard: Subjekt und Objekt: fraktal, S. 5. Vgl. Wenzel: Die Abenteuer der Kommunikation. Vgl. Heine: „Lutetia“, S. 449. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 150. Vgl. Schroer: Räume, Orte, Grenzen.

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werden. Ebenso geht Simmel von einer fortschreitenden Emanzipation vom Raum aus, die durch die Entstehung der Geldwirtschaft ermöglicht wird. „Das Geld“, so Simmel, „steht vermöge der Abstraktheit seiner Form jenseits aller bestimmten Beziehungen zum Raum: es kann seine Wirkungen in die weitesten Fernen erstrecken, ja es ist gewissermaßen in jedem Augenblick der Mittelpunkt eines Kreises potenzieller Wirkungen.“14

Niklas Luhmann, der an diese Idee anknüpft, sieht Gesellschaft bereits als derart unabhängig von räumlichen Bezügen funktionieren, dass seine Theorie von Anbeginn antiräumlich angelegt ist. Raum kommt in den Grundbegrifflichkeiten der Theorie schlicht nicht mehr vor. Neben der Sach-, Sozial- und Zeitdimension gibt es auffälligerweise keine Raumdimension. Wenn überhaupt von Raum die Rede ist, dann folgt auch hier der Hinweis, dass der Einfluss des Raums im Abnehmen begriffen sei.15 Die These von der zunehmenden Irrelevanz des Raums ist insofern jedoch keine reine Verfallsgeschichte, weil sich in den meisten der genannten Positionen der Relevanzverlust des Raums zugunsten der Zeit auswirkt. Dass die Zeit im Lauf des Modernisierungsprozesses gegenüber dem Raum die Oberhand gewinnt, ist so etwas wie eine Basisannahme von Modernisierungstheorien. Einschlägig ist dabei die Vorstellung, dass sich die Moderne vor allem durch eine enorme Beschleunigung sozialer Prozesse und Entwicklungen auszeichne.16 Raum ist gewissermaßen ein Opfer der Beschleunigung, die als Grunderfahrung der Moderne gelten kann. Gesellschaft, Geschichte, Kultur, ja das Leben und die Zeit selbst beschleunigen sich in atemberaubendem Tempo. Nichts bleibt wie es war. Was sich nicht an das Tempo des modernen Lebens anpasst, geht unter – auch der Raum. Dabei sind es vor allem die Transport- und Kommunikationsmedien, die herhalten müssen, um die These vom Ende des Raums zu belegen. Im Einklang mit zahlreichen Positionen aus der Medienforschung und in Übereinstimmung zu den Einlassungen der Klassiker zu diesem Thema notiert auch Luhmann: Der Widerstand des Raums nimmt ab „im 18. Jahrhundert durch Verbesserung der Straßen und Kutschen, im 19. Jahrhundert durch Eisenbahnbau, im 20. Jahrhundert durch Flug und im 21. Jahrhundert vermutlich durch Ersetzung des Reisens durch Telekommunikation.“17

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Simmel: Philosophie des Geldes, S. 704. Vgl. Schroer: „Jenseits funktionaler Differenzierung?“. Vgl. Rosa: Beschleunigung. Luhmann: Soziale Systeme, S. 526.

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Die immer wieder nicht nur der Körper- und Raum-, sondern auch der „Technikvergessenheit“18 gescholtene Soziologie nimmt Technik also immerhin so ernst, dass sie in ihr den entscheidenden Grund für den Bedeutungsverlust des Raums ausmacht. Daneben ist es vor allem die Ökonomie, der unterstellt wird, dass sie unabhängig von lokalen Bedingungen und örtlichen Gegebenheiten agiere. Die These von der „Vernichtung des Raums durch die Zeit“19, bedingt durch den Siegeszug der kapitalistischen Wirtschaftsform, findet sich schon bei Karl Marx und wird heute auch in vielen ökonomisch orientierten Globalisierungstheorien vertreten. Wenn Raum in gegenwärtigen Globalisierungstheorien verabschiedet wird, so zeigt sich darin nicht zuletzt eine Ökonomisierung des Gesellschaftlichen, denn es ist klassischerweise die Ökonomie, der eine Unabhängigkeit vom Raum bescheinigt wird. Wo immer Raum verabschiedet wird, handelt es sich entweder um eine Apotheose der Transport- und Kommunikationsmedien (im Stile eines Virilio) oder um eine Selbstbeschreibung des Ökonomischen, die sich oft als eine der Gesellschaft insgesamt ausgibt.

2 Die Postmoderne und die Wiederkehr des Raums So sehr die Zeit mit den Theorien der Moderne verbunden ist, so sehr taucht der Raum in den Theorien der Postmoderne wieder auf. Der spatial turn ist insofern tatsächlich ein „Kind der Postmoderne“20. So geht etwa Marc Augé davon aus, dass der Bezug zum Raum „heute die Oberhand gewonnen“21 habe. Michel Foucault spricht davon, dass wir in der „Epoche des Raumes“22 leben, was für ihn vor allem bedeutet, dass wir in einer Epoche des Simultanen und des Nebeneinander leben. Fredric Jameson schließt sich dem an und postuliert, dass „unsere physischen Erfahrungen und die Sprachen unserer Kultur heute [...] eher von Kategorien des Raumes als von denen der Zeit beherrscht werden“23. Und bei Bruno Latour heißt es kurz und bündig: „Der Raum hat die Zeit als prinzipielles Ordnungsprinzip abgelöst.“24 Ähnlich wie Foucault hat er dabei vor allem Raum als „Ordnung der Gleichzeitigkeiten“25 im Blick.

Rammert: Technik aus soziologischer Perspektive 2, S. 14. Harvey: The condition of postmodernity, S. 60. Bachmann-Medick: Cultural turns, S. 284. Augé: „Die Sinnkrise der Gegenwart“, S. 34. Foucault: „Andere Räume“, S. 34. Fredric Jameson, zitiert nach Noller u.a.: „Zur Theorie der Globalisierung“, S. 14. 24 Latour: Von der Realpolitik zur Dingpolitik, S. 74. 25 Ebd., S. 76.

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Zusätzliche Unterstützung hat diese Perspektive durch den Globalisierungsdiskurs erhalten, der nach Martin Albrow „von der Ersetzung der Zeitproblematik durch die Raumproblematik“26 handelt. Und Manuel Castells schließlich erklärt: „Anders als die meisten klassischen Gesellschaftstheorien, die annehmen, der Raum werde von der Zeit dominiert, stelle ich die These auf, dass in der Netzwerkgesellschaft der Raum die Zeit organisiert.“27

Selbst wenn sich Albrows und Latours Positionen zunächst wie eine schlichte Umkehrung der These vom Verschwinden und dem Ende des Raums lesen, stößt man hier gleichwohl nicht auf die These vom Verschwinden oder dem Ende der Zeit. Auch bei Augé, Foucault, Jameson und Castells wird die Vorherrschaft des Raums nicht kurzerhand mit einem Verschwinden der Zeit in Verbindung gebracht, sondern eher auf eine Veränderung des Kräfteverhältnisses aufmerksam gemacht. Und in der Tat gibt es in der soziokulturellen Evolution Hinweise darauf, dass Raum und Zeit als Leitkategorien einander abgelöst haben.28 Die Dominanz des Raums in vormodernen Gesellschaften scheint der Dominanz der Zeit in modernen Gesellschaften gewichen zu sein.29 In der Postmoderne nun deutet vieles darauf hin, dass wir es mit einer erneuten Dominanz des Raumes zu tun bekommen. Die speziell in den Sozialwissenschaften vorherrschende Perspektive scheint mir allerdings nach wie vor die einer Vormachtstellung der Zeit gegenüber dem Raum zu sein, während dem Raum – wenn überhaupt – nur eine marginale Rolle

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Albrow: „Auf dem Weg zu einer globalen Gesellschaft?“, S. 425. Castells: „Der Raum der Ströme“, S. 431. Vgl. Stichweh: „Raum und moderne Gesellschaft“, S. 4. Diese Entwicklung auf der Ebene der Phylogenese scheint sich in der Ontogenese zu wiederholen. Wie bereits Piaget in Die Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde gezeigt hat, entwickelt sich der Raumsinn bei Kindern wesentlich früher als der Zeitsinn. Zeitliche Orientierungen sind gegenüber den primären Raumdifferenzierungen sehr viel abstrakter und bilden sich deshalb ontogenetisch zumeist erst während der Pubertät. Dabei ist es der Körper, der die Raumorientierung vermittelt: „Mein Körper“, so schreibt Alfred Schütz im Anschluss an Merleau-Ponty, ist „nicht ein Gegenstand im Raum, sondern die Bedingung für alle meine Erfahrung der räumlichen Gliederung der Lebenswelt. In jeder Situation wirkt mein Körper als ein Koordinatenzentrum in der Welt, mit einem Oben und Unten, einem Rechts und Links, Hinten und Vorn“ (Schütz: Strukturen der Lebenswelt, S. 152). Dass diese Perspektive nicht dazu geführt hat, dem Raum eine ebenso große Rolle zuzubilligen wie der Zeit, mag damit zusammenhängen, dass auch der Körper gegenüber dem Bewusstsein nur eine untergeordnete Rolle in den einschlägigen Sozial- und Gesellschaftstheorien gespielt hat. Nicht zufällig erleben wir im Moment die parallele Wiederentdeckung sowohl des Körpers (vgl. Schroer: Soziologie des Körpers) als auch des Raums.

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zugestanden wird.30 Um Missverständnisse zu vermeiden, scheint es allerdings erforderlich zu sein, darauf hinzuweisen, dass es bei der These von der Vernachlässigung des Raums um die Behauptung geht, dass er kaum explizit zum Thema gemacht wurde. Diese These ist durchaus kompatibel mit der Beobachtung, dass in der Soziologie gleichwohl ein impliziter Gebrauch räumlicher Kategorien nachweisbar ist. Gegenüber den aktuellen Verabschiedungen des Raums, die vor allem im Kontext des Globalisierungsdiskurses formuliert werden, ist vor allem darauf hinzuweisen, dass Globalisierung nicht nur für die Auflösung räumlicher Strukturen sorgt, sondern auch neue Räume hervorbringt. Entgegen den Thesen der Globalisierungseuphoriker schaffen Ökonomie und die neuen Kommunikations- und Transportmedien Räume nicht einfach ab, sondern bringen auch neue Räume hervor. Was wir derzeit erleben, ist deshalb nicht das Ende des Raums, sondern eine Diversifizierung räumlicher Bezüge. Die Räume und Orte für diverse Aktivitäten sind nicht mehr länger alternativlos vorgegeben, sondern werden mehr und mehr zu einer Option. Wirtschaftsunternehmen streiten über den angemessenen Standort ihrer Produktionsanlagen, Regierungen von Staaten und Städten heben die besondere Tauglichkeit ihres Standorts hervor, so dass Orte in einen Wettbewerb treten, der den Blick für deren jeweilige Besonderheiten schärft. Statt von einem Obsoletwerden des Raums auszugehen, gilt es deshalb den Mehrebenencharakter und die Pluralität räumlicher Bezüge in den Blick zu nehmen. Was es heißt, im Zeitalter des Raums und damit nicht mehr im Zeitalter der Diachronie, sondern der Synchronie zu leben, mag man schon daran ermessen, dass wir es immer weniger mit einer klaren Ablösung eines Zustand durch einen anderen zu tun haben. Stattdessen lässt sich ein Nebeneinander der verschiedensten Regime, Kulturen, Lebensstile, Werte, Moden usw. diagnostizieren, die nicht mehr in einem Behälter namens Nationalstaat enthalten sind, sondern selbst Räume hervorbringen – vielfältig miteinander verflochtene, sich überlagernde Räume unterschiedlicher Reichweite und Ausdehnung, die durch keine vereinheitlichende Klammer mehr zusammengehalten werden, sondern gleichberechtigt nebeneinander existieren. Das räumliche Prinzip des Nebeneinander hat damit gewissermaßen den Raum selbst erfasst, der nun nicht mehr im Singular, sondern nur noch im Plural zu denken ist. Selbst die Überlegungen zur Verabschiedung und zur Wiederkehr des Raumes lösen keineswegs einander ab: Vielmehr stehen sie gleichberechtigt und gleichzeitig nebeneinander. Globalisierung wird zum einen im Sinne der klassischen Modernisierungstheorie so gelesen, dass Raum zu einer zunehmend irrelevanten Kategorie wird, da Entfernungen mühelos überbrückt werden können, Grenzen damit obsolet werden, sodass wir 30 Vgl. jüngst erst wieder Rosa: Beschleunigung.

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mehr und mehr in einer grenzenlosen Gesellschaft leben. Globalisierung wird zum anderen als Entwicklung gelesen, in der Grenzen und Räume nicht einfach verschwinden, sondern sich verändern, einen Gestalt- und Bedeutungswandel durchlaufen. Globalisierung führt zu einer neuen Aufteilung der Räume bzw. zum Aufbau neuer Räume mit neuen Grenzen. Doch wenn der Raum in dieser Weise einmal als irrelevant und ein anderes Mal als relevant dargestellt werden kann, so stellt sich die Frage, um welche Art von Raum es sich dabei eigentlich handelt? Mit welchen Räumen haben wir es zu tun?

3 Raumkonzepte in den Sozialwissenschaften 3.1 Geographischer Raum / sozialer Raum Obwohl Raum keineswegs zu den klassischen Themen der Soziologie gehört, ist die Liste derer, die sich mit Raum auseinandergesetzt haben, dennoch überraschend lang: Bei der Suche nach Raum wird man bei Emile Durkheim, Maurice Halbwachs, Georg Simmel, Alfred Schütz, Siegfried Kracauer, Leopold von Wiese und Pitirim A. Sorokin ebenso fündig wie bei Henri Lefebvre, Talcott Parsons, Norbert Elias, Anthony Giddens, Pierre Bourdieu, Niklas Luhmann, Richard Sennett und Zygmunt Bauman. Insofern lässt sich wohl nicht von einer generellen „Raumblindheit“31 der Sozialwissenschaften sprechen. Das Problem ist weniger, dass von Raum nie die Rede gewesen wäre, sondern dass Raum als derart selbstverständlich vorausgesetzt wurde, dass eine nähere Auseinandersetzung mit ihm unnötig erscheinen musste. Er ist eben jenes Gehäuse, in dem oder die Bühne, auf der sich Gesellschaftliches ereignet. Diese mangelnde Thematisierung des Raums hat zum einen sicher mit seiner Ideologisierung durch die Nationalsozialisten zu tun, die ihn nach 1945 auf die Liste der Unworte beförderte.32 Zum anderen aber wohl auch damit, dass die Beschäftigung mit Raum an eine andere Disziplin delegiert wurde: die Geographie. Insofern ist die beklagte Raumblindheit weniger eine zufällige als eine durchaus gewollte und gewissermaßen selbst verordnete Blindheit, die mit dem Kampf der Soziologie um ihre Autonomie zu tun hat. Sich als Soziologe mit dem Thema Raum zu beschäftigen, ist deshalb keine Selbstverständlichkeit und war es nie. Anders als bei anderen vernachlässigten Themen der Soziologie – dem Krieg, dem Tod oder dem Körper – führt die Beschäftigung im Falle des Raums unmittelbar zur Konfrontation mit einer Disziplin, die die Erforschung des Raums als ihr

31 Läpple: „Essay über den Raum“, S. 163. 32 Vgl. Köster: Die Rede über den „Raum“, S. 7.

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ureigenstes Feld für sich beansprucht. Dass dies als Aufruf zur interdisziplinären Zusammenarbeit aufgefasst wird, wie beispielsweise bei Anthony Giddens, ist jedoch eher der Ausnahmefall. Weil sich Soziologie nicht zuletzt durch eine Reihe von „Unabhängigkeitserklärungen“33 gegenüber anderen Disziplinen konstituiert – allen voran der Biologie, der Ökonomie, der Psychologie und der Geographie34 –, droht die Beschäftigung mit Leben, ökonomischen Austauschbeziehungen, psychischen Systemen und Raum bzw. der Reduzierung des Sozialen auf diese Bereiche als Rückfall hinter historisch herausgebildete Disziplingrenzen interpretiert zu werden, was durch die Rede von der Biologisierung bzw. Naturalisierung, Ökonomisierung, Psychologisierung und „geographischen Wende“35 der Soziologie angezeigt wird. Doch es ist nicht allein die Scheu in fremden Gewässern zu fischen, sondern auch der unbedingte Wille, sich vom scheinbar natürlich Gegebenen abzusetzen, der die Soziologie dazu veranlasst, „nichts mit dem Raum zu tun haben“36 zu wollen. Der Raum, der dabei stets gemeint ist, ist der physisch-materielle Raum, der Raum der Entfernungen und Verkehrswege. In den Einlassungen zum Raum in soziologischen Zusammenhängen wird daher stets betont, dass es sich bei Raum nicht um etwas natürlich Gegebenes, sondern um etwas sozial Hergestelltes handelt. Erst mit dieser Annahme kann er zum Gegenstand der Soziologie avancieren, so die vorherrschende Meinung. Allerdings wird der Konstruktionscharakter des Raums lange Zeit allein für den sozialen Raum reserviert, während der natürliche Raum als gegeben erscheint. Vor allem in den Einlassungen der klassischen Soziologie erkennt man ein förmliches Ringen um einen sozialen Raum, den man trennscharf von einem natürlichen unterscheiden können will. Während der natürliche Raum dabei der Geographie zugeschlagen wird, wird der soziale Raum als der Raum der Soziologie definiert.37 Dennoch ist unübersehbar, dass sich bisher noch jeder soziologische Versuch zum physisch-materiellen Raum irgendwie verhält. Statt ihn im Laufe der Geschichte hinter sich lassen zu können, wie sie es durchaus erhofft hatte, muss auch die Soziologie seine Persistenz zur Kenntnis nehmen. 33 Stichweh: „Raum und moderne Gesellschaft“, S. 93. 34 Stichweh lässt die Geographie als Kontrahenten allerdings nicht gelten, „da es keine signifikante Episode in der Geschichte soziologischen Denkens zu geben scheint, in der die Geographie ein bedeutsamer Kontaktpartner und Konkurrent war“ (ebd., S. 94). Diese Beobachtung ist mindestens dahingehend zu korrigieren, dass wir es gegenwärtig mit einer nicht zu übersehenden Annäherung zu tun haben, in der sich die Geographie durchaus als bedeutsamer Kontaktpartner erweist. 35 Berking: „‚Global Flows and Local Cultures‘“, S. 382. 36 Stichweh: „Raum und moderne Gesellschaft“, S. 93. 37 Vgl. von Wiese: System der Allgemeinen Soziologie als Lehre von den sozialen Gebilden der Menschen (Beziehungslehre).

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Die für die Moderne konstitutive Trennung von Gesellschaft und Natur schlägt sich in der Raumdiskussion also als Trennung des physischen vom sozialen Raum nieder. Dabei zeigt sich, dass es zumeist der physische Raum ist, dessen Relevanz für den Aufbau und das Funktionieren der modernen Gesellschaft bezweifelt wird. Insofern ist es die Gleichsetzung des Raums mit dem physischen Raum, die dazu führt, ihn im soziologischen Zusammenhang für eine zu vernachlässigende Kategorie zu halten – eine Vorstellung, von der die klassischen Modernisierungstheorien ebenso leben wie zahlreiche Globalisierungstheorien.38 In der Verabschiedung des physischen Raums manifestiert sich gewissermaßen der Sieg der Gesellschaft über die Natur. Entgegenzuhalten ist dieser Annahme, dass die Überwindung des physischen noch nichts über den sozialen Raum aussagt – der freilich nicht gänzlich vom physischen Raum zu trennen, sondern mit diesem immer schon vermengt ist. Der physische Raum ist als unbearbeitet und frei von sozialen Wahrnehmungsschemata nicht vorstellbar, sondern im Sinne Pierre Bourdieus nur als stets schon angeeigneter Raum zu verstehen.39 Gemäß Bruno Latour könnte Raum als Hybrid bezeichnet werden,40 ist doch der physische Raum als Raum an sich so wenig zu haben wie ein sozialer Raum, der ohne materielle Basis oder physische Anbindung bliebe. Es gibt beide nicht in Reinkultur, es sei denn, man benutzt den Begriff Raum bloß metaphorisch. Obwohl es damit keinen anderen als sozial konstruierten Raum gibt, ist auffällig, dass die meisten soziologischen Versuche, Raum zu behandeln, dem sozialen Raum einen weiteren Raum gegenüberstellen: den physischen bei Simmel und Bourdieu, den geometrischen bei Pitirim A. Sorokin usw. Dieses Vorgehen ist so lange legitim, wie man nicht den physischen Raum per se als eins zu eins übereinstimmend mit dem sozialen Raum vorstellt. Es wäre eine ebenso verführerische wie allzu schlichte Vorstellung, sich die physische Welt als ein getreues Abbild der sozialen Wirklichkeit vorzustellen. Wichtig bleibt vielmehr festzuhalten, dass es keinerlei Automatismus gibt, der dafür sorgt, dass sich Soziales räumlich niederschlägt. Das Verhältnis ist nicht generalisierbar, sondern bedarf der Überprüfung von Fall zu Fall. Wenn man die These vom Verschwinden und die These von der Wiederkehr des Raums miteinander vergleicht, so wird schnell deutlich, dass überall dort, wo von seinem Verschwinden die Rede ist, zumeist vom natürlichen bzw. geographischen Raum die Rede ist, dem dadurch, dass er in immer höherem Tempo immer müheloser überwunden werden kann, keine Relevanz mehr zugesprochen wird. Angeführt wird dabei zumeist der nationalstaatliche Raum, verstanden als Territorium, der auf die vielen

38 Vgl. Schroer: Räume, Orte, Grenzen, S. 85ff. 39 Vgl. Bourdieu: „Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum“. 40 Vgl. Latour: Wir sind nie modern gewesen.

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ihn umspülenden und unterhöhlenden Ströme von Waren, Daten und Menschen keinerlei Zugriff mehr hat und damit als politisch-räumliches Ordnungsmodell ausgedient habe. Dort, wo von der Wiederkehr des Raums die Rede ist, ist dagegen zumeist nicht nur vom physischen Raum die Rede, sondern vom sozialen Raum, von virtuellen Räumen, transnationalen Räumen, Identitätsräumen, ethnischen Räumen usw. Ohne dass hier der physische Raum gänzlich vernachlässigt würde, ist doch mit Raum stets mehr gemeint als nur ein Territorium oder ein physisch-materielles Gebilde. Die Thesen von der Verabschiedung und von der Wiederkehr des Raums stehen sich also deshalb so diametral und unversöhnlich gegenüber, weil sie mit unterschiedlichen Raumkonzepten arbeiten. Während die These vom Ende des Raums offensichtlich auf einem verengten und verkürzten Raumbegriff beruht, der sich zumeist allein auf geographische Räume bezieht oder die Vorstellung des Nationalstaats als Containerraum impliziert, basiert die These von der Wiederkehr des Raums auf einem erweiterten Raumbegriff, der sich vor allem auf den relationalen Raumbegriff stützt.

3.2 Behälterraum / Relationaler Raum? Neben der Differenz von geographischen und sozialen Räumen haben wir es in der aktuellen Raumdebatte mit der Unterscheidung von absoluten oder relationalen Räumen zu tun. Blickt man auf die aktuelle Auseinandersetzung rund um den Begriff Raum, so gibt es eine Mehrheit von Stimmen, die den relationalen Raum präferieren und den sogenannten Containerraum verabschieden. Dabei steht das Container-Modell für die seit der Antike bekannte Vorstellung vom Raum als Behälter, in dem Dinge und Menschen aufgenommen werden können und ihren festen Platz haben. Die Übertragung dieses Modells in die Sozialwissenschaften hat zu der Annahme geführt, dass soziale mit politischen und ökonomischen Räumen zusammenfallen und an den jeweiligen territorialen Grenzen der Staaten enden. Diesem substantialistischen bzw. absolutistischen Raummodell steht spätestens seit Einsteins Relativitätstheorie ein relationales Raummodell gegenüber, demzufolge Raum als „relationale Ordnung körperlicher Objekte“41 verstanden wird. Nach diesem Raumverständnis lassen sich Raum und wie immer gearteter Inhalt des Raums nicht voneinander trennen. Raum und körperliche Objekte sind vielmehr untrennbar aufeinander bezogen. Obwohl gerade im soziologischen Kontext vieles für die relationale Raumauffassung spricht, da sie die aktive Entstehung des Raums betont statt von einem bereits bestehenden, absoluten Raum auszugehen, gilt es

41 Läpple: „Essay über den Raum“, S. 189. Vgl. auch Löw: Raumsoziologie; Jammer: Das Problem des Raumes.

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dennoch vor der Verabsolutierung des relationalen Raumverständnisses zu warnen. Denn unabhängig von den physikalischen Erkenntnisgewinnen, die eine Verabschiedung des Behälterraumkonzepts nahe legen mögen, geht es in einer soziologischen Perspektive doch weniger um eine universale Gültigkeit beanspruchende Definition von Raum als vielmehr um eine Beobachtung der Raumkonstitutionen und -konstruktionen verschiedenster Akteure. Gerade aber wenn man sich für die aktive Hervorbringung und Produktion des Raumes durch Akteure interessiert, wird man zur Kenntnis zu nehmen haben, das Räume immer wieder als Behälterräume vorgestellt und konstruiert werden – ganz unabhängig von naturwissenschaftlichen Plausibilitäten. So mag sich beispielsweise – angesichts der Souveränitätseinbußen des Nationalstaates im Zuge der Globalisierung – das Bild des Nationalstaats als Behälter zwar als Illusion entlarven lassen, doch es handelt sich dabei um eine offenbar äußerst wirkungsmächtige Illusion mit durchaus realen Folgen. So sehr die These von der Verabschiedung des Raums übertrieben und voreilig ist, so kurzsichtig verfährt auch die Idee, die glaubt, dass es auf der politischen Ebene in Zukunft auf Territorien nicht mehr ankäme, man zwar über soziale, nicht mehr aber über physische Räume reden solle. Gerade vor dem Hintergrund einer als Grenzauflösung interpretierten Globalisierung und der Entstehung flüssiger Räume, lässt sich ein verstärkter Bedarf an neuen Grenzziehungen und Grenzbildungen beobachten, der sich in der Tendenz zur Abkapselung, zum Einigeln, zum Cocooning auch räumlich Ausdruck verschafft. Und im Zuge dieser Entwicklung erlangt auch das Verständnis des Raums als Behälter erneut Auftrieb. Die Attraktivität dieses Raummodells liegt gerade darin begründet, dass es klare Grenzen zwischen innen und außen, zugehörig und fremd zu ziehen vermag. Wer als zugehörig anerkannt wird, dem wird ein Platz zugewiesen, wer nicht, wird als Fremder ausgeschlossen. Es ist kein Zufall, dass wir überall dort, wo wir es mit der Beziehung von Macht und Raum zu tun haben, auf das Behälterraumkonzept stoßen – bei Bourdieu ebenso wie bei Foucault und Giddens, der etwa vom „Machtbehälter Schule“42 spricht. Nach der Erläuterung Einsteins geht das Behälterraumkonzept davon aus, dass der Raum „zwar auf alle körperlichen Objekte wirkt“, aber ohne „daß diese auf ihn eine Rückwirkung ausüben“.43 Es eignet sich damit vortrefflich für eine Perspektive, die die Herrschaft über Individuen beschreiben wollen, die nicht zuletzt mittels einer bestimmten Architektur erreicht wird. Liegt also nach diesem Modell die Betonung auf der Zurichtung der Körper, so betont das relationale Konzept des Raumes gerade umgekehrt die kreativen Anteile der Individuen mittels ihrer Körper bei der Konstitu-

42 Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft, S. 189. 43 Einstein: „Vorwort“, S. XIV.

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tion räumlicher Strukturen.44 Einer Perspektive, die einseitig betont, dass Räume immer wieder neu hervorgebracht werden – also ständig im Werden begriffen sind –45, ist zu erwidern, dass jede Produktion zu einem – und sei es auch noch so vorläufigen – Abschluss kommt: zu dem der Raumproduktion. Wenn es also ein Produzieren von Raum gibt, dann gibt es auch das Produkt Raum. Zwar mögen Räume niemals ein für allemal fertig, starr und unveränderbar sein; aber Räume sind eben auch nicht permanent im Fluss und beliebig veränderbar. Individuen machen die Erfahrung, dass sie in Räume eintreten, die sie nicht (mit)geschaffen haben und die sie nicht verändern können. Die Verfechter einer relationalen Raumperspektive neigen dazu, dem Raum seine ihm traditionell zugeschriebenen Charakteristika abzusprechen, indem sie ihn nun mit Charakteristika versehen, die traditionell der Zeit zugeschrieben werden: Räume sollen beispielsweise dynamisch, flüssig usw. sein. Aber warum Raum überhaupt in der einen oder anderen Weise festlegen? Nimmt das dem Raum nicht gerade seine Möglichkeiten und seine Pluralität? Räume können sowohl offen als auch geschlossen sein, sie können sowohl statisch als auch dynamisch sein. Keine dieser Qualitäten ist Raum gleichsam eingeschrieben. Es kommt vielmehr auf den jeweiligen Kontext an und darauf, in welche gesellschaftlichen Strukturen er eingelassen ist. Räume sind zwar nicht immer schon da, können aber durchaus den Eindruck erwecken, als seien sie immer schon da gewesen und sozusagen stabil und unerschütterlich. Auch wenn sich gerade dies als Illusion herausstellen sollte, macht es doch einen Teil ihrer Attraktivität und Faszination aus. Die Rede von Räumen jedenfalls macht nur Sinn, so lange es zu einer gewissen Verfestigung und Kontinuität kommt – und sei sie auch noch so kurzfristig und fragil. Ziel einer raumsoziologischen Perspektive ist es meiner Einschätzung nach nicht, die lange Zeit vorherrschende Container-Theorie durch eine relationale Raumauffassung schlicht zu ersetzen. Ziel wäre es aus meiner Sicht vielmehr, ein Verständnis des Raums zu entwickeln, der dem Raumdeterminismus des Behälterkonzepts ebenso entgeht wie dem Raumvoluntarismus des relationalen Raumkonzepts.

3.3 Gesellschaft / Raum Spätestens mit Henri Lefebvre hat sich die Position durchgesetzt, dass es sich bei Raum nicht um einen immer schon vorhandenen, natürlich gege44 Eine parallele Argumentation lässt sich in der Körpersoziologie nachweisen. Während die klassische, auch bei Bourdieu und Foucault vorzufindende Perspektive die auf den Körper wirkende Macht im Blick hat, fragt eine konkurrierende Perspektive nach den Raum konstituierenden Leistungen der Körper (vgl. Schroer: Soziologie des Körpers). 45 Vgl. Massey: „Spaces of Politics – Raum und Politik“, S. 36.

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benen Raum handelt, sondern um einen sozial hervorgebrachten Raum: „(Social) space is a (social) product“.46 Nicht Raum insgesamt, sondern allein der physisch-materielle Raum als gegebener natürlicher Raum verliert bei Lefebvre für den Vergesellschaftungsprozess zunehmend an Bedeutung. Der natürliche Raum verkommt zum bloßen Hintergrundbild, an das sich die Akteure zwar erinnern, das sie in ihrer täglichen Praxis jedoch nicht mehr vorfinden. Lefebvre bricht aus dem binären Schema von physischem und sozialem Raum aus, indem er zwischen der räumlichen Praxis, den Repräsentationen vom Raum und dem Raum der Repräsentation unterscheidet.47 Der erste Raum (spatial practice/l’espace percu) ist der wahrgenommene, erlebte und benutzte Raum, den die Akteure in ihrem alltäglichen Leben produzieren und reproduzieren. Der zweite Raum (representation of space/ l’espace concu) meint den Raum des Wissens, der Zeichen und der Codes. Es ist der instrumentelle Raum der Technokraten, Stadtplaner und Wissenschaftler. Hierher gehören die von Raumexperten ersonnenen, theoretischen Raummodelle und Raumkonzepte, die auf die Wahrnehmung des Raums in der Praxis einwirken. Eine klassische Repräsentation des Raums in diesem Sinne ist die Karte. Der dritte Raum (spaces of representation/ l’espace vecu) schließlich ist der imaginierte Raum der Bilder und Symbole, in dem auch widerständige und alternative Raummodelle und Raumnutzungen ihren Platz haben. Entscheidend für das Raumverständnis Lefebvres ist das dialektische Zusammenspiel aller drei Raumebenen. Raum ist ein sowohl mentales und physisches als auch symbolisches Konstrukt. Anhand dieser drei Ebenen soll die gesellschaftliche Produktion des Raums untersucht werden, die stets verschieden ausfällt, da jede Gesellschaft ihren je spezifischen Raum hervorbringt.48 Raum ist damit für Lefebvre gerade nicht jenes Gefäß bzw. jener Container, in dem sich das gesellschaftliche Leben abspielt, sondern selbst ein Produkt gesellschaftlicher Prozesse. Der Gedanke von der Herstellung des Raums durch die Aktivitäten von Akteuren – der sich zwar in Ansätzen bis zu Durkheim und Simmel zurückverfolgen lässt,49 erst jedoch bei Lefebvre in den Mittelpunkt der Analyse gestellt wird – hat die soziologische Beschäftigung mit dem Raum enorm beflügelt. Denn mit der Verabschiedung eines immer schon vorhandenen Raums im Sinne eines Rahmens, in dem sich Handlungen und Kommunikationen abspielen, ist der Weg bereitet für das Interesse an den sozialen und kulturellen Praktiken, durch die Räume hervorgebracht werden.50

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Lefebvre: The Production of Space, S. 30. Vgl. ebd., S. 33, 38ff. Vgl. ebd., S. 31. Vgl. Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Vgl. Löw: „Die Rache des Körpers über den Raum?“

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Allerdings muss man wohl konstatieren, dass sich diese Einsicht nur langsam Bahn bricht und in empirische Forschungsdesigns Einlass findet. Denn immer wieder ist zu beobachten, dass nach der Herstellung der Räume durch Akteure und ihre Aktivitäten nicht gefragt, der Raum, in dem sich Soziales abspielt, vielmehr nach wie vor häufig vorausgesetzt wird – etwa dann, wenn es in stadtsoziologischen Zusammenhängen um die Erfassung der benachteiligten Wohngebiete geht, werden die aus der Medienberichterstattung sattsam bekannten Begrifflichkeiten ebenso übernommen wie die entsprechende Verortung der Ghettos und Problembezirke. Statt den medialen wie administrativen Vorgaben zu folgen, wäre es dagegen die Aufgabe der Soziologie, sich etwa im Sinne einer ethnographischen Analyse städtischer Quartiere für die Deutungen und Aneignungsweisen der Bewohner zu interessieren, die sich täglich in diesen Räumen bewegen. Denn „die Bewohner der Armutsviertel sind den Fährnissen der Ökonomie zwar in besonders drastischer Weise unterworfen, doch hören sie damit nicht auf, die sozialen Bedingungen, unter denen sie leben, in einem Prozess sinnhafter Aneignung auch selbst zu gestalten“51. Darüber aber erfährt man nur sehr selten etwas. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten soziologischer Texte über Banlieus, Favelas, Ghettos und Slums, die ausweglose Lage der Bewohner zu beschreiben und mit einem Ruf nach Politik, die die Verhältnisse zu verändern habe, zu beschließen. Dieser Perspektive liegt zumeist ein substantialistisches Raumverständnis zugrunde, das die benachteiligten Wohnräume zu Fallen erklärt, aus dem es kaum ein Entrinnen gibt. Die Behandlung von Ghettos, Favelas, Banlieus und benachteiligten Wohngebieten begnügt sich in weiten Teilen der soziologischen Literatur mit dem Nachweis der prekären Lebensverhältnisse in diesen räumlichen Agglomerationen. Woran es dagegen fehlt, ist das Interesse an den für die Bewohner dieser Lebensräume tatsächlich relevanten Räumen. Es fehlt am Interesse für die Einschätzungen der Bewohner selbst darüber, welchen Einfluss die räumliche Infrastruktur ihres Viertels auf ihre Lebenssituation hat. Die Individuen werden nur allzu oft zu passiven Erduldern und Opfern der durch die Eigenschaften des Raums, in dem sie leben, vorgegebenen Möglichkeiten erklärt. Auch für den Exklusionsbereich gilt es dagegen stark zu machen, dass Räume nicht einfach Gegebenheiten sind, die dem Sozialen gewissermaßen vorgelagert sind, sondern als soziale Phänomene zu betrachten sind, die im Handeln und Erleben von Akteuren – also durch soziale Praxis – erst entstehen. In einer solchen Perspektive würden die Bewohner der benachteiligten Wohnbezirke nicht mehr länger zu passiven Erduldern ihrer Situation stilisiert, sondern als handelnde Individuen ernst genommen.52 51 Neckel: „Zwischen Robert E. Park und Pierre Bourdieu“, S. 79. 52 Vgl. Pott: „Der räumliche Blick“.

140 Ň MARKUS SCHROER

3.4

Raum / Gesellschaft

In der soziologischen Erforschung des Raums lässt sich leicht das Ziel ausmachen, Raum nicht den Status einer erklärenden Variablen für soziale Prozesse zu verleihen. Vor allem in den Anfängen insbesondere der deutschen Soziologie ist das Bestreben unverkennbar, nicht in das Fahrwasser des raumdeterministischen Denkens der geopolitischen Schule zu geraten, die den Raum selbst als Verursacher und Akteur des sozialen Geschehens angesehen hat. Bei Georg Simmel heißt es beispielsweise ausdrücklich, dass es sich bei der Rede von der „Macht des Raumes“ um eine vereinfachende Formel handelt, die über die wahren Gründe und Ursachen hinwegtäuscht, die den entsprechenden Ereignissen tatsächlich zugrunde liegen.53 Ähnlich begegnen wir bei Bourdieu der eindringlichen Warnung, den Raum selbst als einen Verursacher sozialen Leids anzusehen.54 Man könnte in der Verweigerung, Raum einen eigenständigen Einfluss auf soziale Prozesse zuzubilligen, beinahe einen soziologischen common sense ausmachen, wären da nicht die vielen Versuche, die Einflüsse räumlicher Gegebenheiten auf das Soziale dennoch in die Untersuchungen mit einzubeziehen. Georg Simmels Untersuchungen zum Raum stehen beispielsweise dafür, sowohl die Erzeugung des Raums durch menschliche Aktivitäten als auch die Wirkungen räumlicher Konfigurationen auf menschliche Aktivitäten analysieren zu wollen. Auf der einen Seite entstehen räumliche Strukturen überhaupt erst durch menschliche Aktivitäten und auf der anderen Seite haben diese so geschaffenen Strukturen ihrerseits Rückwirkungen auf menschliche Aktivitäten.55 Simmel scheut sich auch nicht, den Einfluss geographischer Gegebenheiten auf gesellschaftliche Entwicklungen geltend zu machen, etwa wenn er dem Meer die Verbindung der Länder und den Gebirgen ihre gegenseitige Isolierung zuschreibt.56 Nicht zuletzt hat gerade Simmel gezeigt, welche Auswirkungen die besondere Siedlungsform Stadt auf die Mentalität ihrer Einwohner hat.57 Auch in der sozialen Morphologie von Maurice Halbwachs stoßen wir auf die Idee einer gegenseitigen Beeinflussung von Raum und sozialer Gruppe. So betont er etwa ausdrücklich:

53 Simmel: Soziologie, S. 687. 54 Vgl. Bourdieu: „Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum“. Vgl. auch Schroer: „Zwischen Engagement und Distanzierung“, S. 244ff.; Schroer: „Mobilität ohne Grenzen“. 55 Vgl. Schroer: „Jenseits funktionaler Differenzierung?“. 56 Vgl. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, S. 301. 57 Vgl. Simmel: „Die Großstädte und das Geistesleben“.

„BRINGING SPACE BACK IN“ Ň 141

„Eine Gruppe, die in einem bestimmten räumlichen Bereich lebt, formt ihn nach ihrem eigenen Bild um; gleichzeitig aber beugt sie sich denjenigen materiellen Dingen, die ihr Widerstand leisten.“58

Und weiter: „Der Ort hat das Gepräge der Gruppe erhalten und umgekehrt.“59 Es ist dieser, bei Simmel wie Halbwachs anzutreffende Gedanke einer wechselseitigen Beeinflussung, der beide vor raumdeterministischen Argumentationen bewahrt. Für beide ist es nie der Raum selbst, der entsprechende Wirkungen auf Soziales zeitigt, sondern die ihm zugeschriebenen Eigenschaften. Im Einklang mit diesen klassischen Vorgaben ist mit Bernd Hamm und Ingo Neumann davon auszugehen, dass Raum nicht nur in sozialen Interaktionen, durch Handlungen oder Kommunikationen hergestellt wird (was auch konstruktivistische Positionen betonen), sondern dass Raum „auch umgekehrt prägend, kanalisierend auf soziales Verhalten einwirkt“60 (was konstruktivistische Positionen vernachlässigen). Unsere Handlungen und Kommunikationen werden durch räumliche Arrangements geprägt und vorstrukturiert. Eine universitäre Vorlesung beispielsweise entfaltet keineswegs überall die gleiche Wirkung, sondern muss durch räumliche wie zeitliche Arrangements entsprechend vorbereitet und flankiert werden. Natürlich kann man ein Seminar auch unter freiem Himmel abhalten. Der Verlauf der Sitzung aber wird ein anderer sein: Es kommen Außeneinflüsse hinzu, die gegenseitige Wahrnehmung ist eine andere, die thematische Kanalisierung der Kommunikation wird erschwert usw. Mit anderen Worten: Raum prägt unser Verhalten und drückt ihm seinen Stempel auf. Aber Räume helfen uns auch zu entscheiden, in welcher Situation wir uns befinden. Sie kanalisieren, in welche Situationen wir kommen und welche Erwartungen wir haben können; sie strukturieren Interaktionsabläufe, machen einige wahrscheinlich, andere unwahrscheinlich. Räume dienen insofern der Komplexitätsreduktion. Freilich ist es in all diesen Beispielen nie der Raum selbst, der ein bestimmtes Verhalten gleichsam automatisch, unter Umgehung des Bewusstseins der Akteure hervorruft: „Räume (Bauten, Orte, Plätze), die eine eindeutige dominante Valenz aufweisen, induzieren dieser Valenz entsprechende Verhaltens- und Interaktionsmodi. Nicht also physikalische Raumstrukturen als solche determinieren [...] menschliches Verhalten, sondern die Bedeutungen und Wertigkeiten, die Menschen bestimmten Strukturen und Orten attribuieren, legen auch das ihnen entsprechende Verhalten nahe.“61 58 59 60 61

Halbwachs: „Soziale Morphologie“, S. 129. Ebd., S. 130. Hamm/Neumann: Ökologische Soziologie, Bd. 2, S. 54. Kruse/Graumann: „Sozialpsychologie des Raumes und der Bewegung“, S. 190.

142 Ň MARKUS SCHROER

Die Bedeutungen und Wertigkeiten aber, die Individuen bestimmten Orten und Räumen attribuieren, werden nicht in jeder Situation immer wieder aufs Neue vorgenommen. Vielmehr entlasten vorgegebene räumliche Arrangements gerade von Situationsdefinitionen, weil in ihnen die Bedeutungen und Wertigkeiten bereits eingeschrieben sind. Räume dienen insofern der Komplexitätsreduktion.

3.5

Raum / Zeit

Als alter Widersacher des Raums erscheint traditionell die Zeit. Während man die Zeit traditionell mit dem Mobilen, Dynamischen und Progressiven, mit Veränderung, Entwicklung und Geschichte in Verbindung bringt, steht Raum für Immobilität, Stagnation und das Reaktionäre, für Stillstand, Starre und Festigkeit.62 Es ist diese Konnotation von Raum, die ihn innerhalb einer an sozialem Wandel, Fortschritt und Beschleunigung interessierten Wissenschaft wie der Soziologie von Anfang an nicht nur zu einer zu vernachlässigenden, sondern auch zu einer zu überwindenden Kategorie gemacht hat. Doch was nach den traditionellen Auffassungen des Raumes undenkbar erscheint, scheint sich heute gerade zu vollziehen: Nicht mehr nur die Dinge im Raum, sondern auch der Raum selbst gerät in Bewegung. Man kann diesen Trend bis hinein in die Architektur verfolgen, wo es auf leichte und veränderliche Baumaterialien und Formen ankommt, wir es mit einer Art mobilen Architektur zu tun bekommen, die nicht mehr länger mono-, sondern multifunktional ausgerichtet ist.63 Man kann dies aber auch an Castells Begriff vom „Raum der Ströme“ oder den transnationalen und virtuellen Räumen ablesen, die in der Tat nicht mehr länger als Gehäuse vorstellbar sind, sondern eine äußerst flexible und fluide Gestalt aufweisen. Raum ist damit nicht mehr länger das Hindernis und das Widerstand bietende Element, sondern wird nun selbst verflüssigt, um ungehindert überall hin gelangen zu können. Wenn dem so ist, dann lässt sich darin einerseits die ungebremste Macht der Zeit erkennen, die auch vor dem Raum nicht länger Halt macht, ihn mitreißt in den Strudel der Beschleunigung, der die Moderne von Anfang an charakterisiert. Andererseits lässt sich dies auch so deuten, dass die Beschleunigung gewissermaßen einen Grad der Sättigung erreicht, d.h. eine Entschleunigung in Gang setzt, die den Raum in seiner ursprünglichen Gestalt (und seinen klassischen Konnotationen) wieder auf den Plan bringt – als Hindernis und Widerstand gegen eine sich permanent beschleunigende Entwicklungsspirale. Unterliegt im ersten Fall der Raum der Zeit, so ist im zweiten Fall die Zeit der Verlierer. Man 62 Vgl. Foucault: Power, Knowledge, S. 70; Soja: „Geschichte, Geographie, Modernität“, S. 74ff. 63 Vgl. Schroer: „Mobilität ohne Grenzen“.

„BRINGING SPACE BACK IN“ Ň 143

könnte sich dies als immer wiederkehrende Dynamik von Beschleunigung und Entschleunigung, Bewegung und Beharrung vorstellen, so dass einmal Raum und dann wieder Zeit alternierend vorherrschend wären. Momentan scheint es so, als gerieten die Räume in Bewegung, während die Zeit still zu stehen scheint. Damit hätten Raum und Zeit ihre klassischen Funktionen und Charaktereigenschaften gleichsam getauscht. Wir müssten Starrheit auf die Seite der Zeit und Bewegung auf die Seite des Raums schlagen. Zumindest aber hätten wir es mit einer Temporalisierung des Raums und einer Spatialisierung der Zeit (Kristallisation) zu tun (vgl. Abb. 1). Beides lässt sich aber nur so lange wahrnehmen und diagnostizieren, wie die Unterscheidung von Raum und Zeit aufrecht erhalten wird – entgegen der gegenwärtigen Tendenz, sie bis zur Unkenntlichkeit miteinander zu vermengen. Abb. 1: Raum/Zeit

x x x x

Mobilität Beschleunigung Flüssige Moderne Offene Räume

x x x x

Kristallisation Erstarrung Ende der Geschichte Geschlossene Räume

Verräumlichung

Verzeitlichung

Zeit

Raum

4 Turn, turn, turn … spatial turn? Die Rede vom spatial turn, der oft als Ablösung des linguistic turn angeführt wird, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es auch hinsichtlich der verschiedenen turns, die in den vergangenen Jahren für Aufsehen in den Sozial- und Kulturwissenschaften gesorgt haben,64 nicht mehr länger mit einander ablösenden turns zu tun haben, sondern mit einem 64 Vgl. Bachmann-Medick: Cultural Turns.

144 Ň MARKUS SCHROER

Nebeneinander verschiedener turns, die gleichzeitig diskutiert werden. Neben dem spatial turn sind es dabei vor allem der pictorial turn65, der somatic turn66 oder body turn67. Mit gleichem Recht ließe sich wohl auch von einem nature turn, einem thing turn oder einem material turn sprechen. Wie viele von diesen turns auch immer ihre Berechtigung haben mögen, fest scheint mir zu stehen, dass sie keineswegs ohne Zusammenhang untereinander sind. Vielmehr lassen sie sich als eine Art Gegenbewegung zu einigen vorherrschenden Trends in der Sozialwissenschaften verstehen: Gegen die Einschränkung des Sozialen auf die Beziehungen zwischen Menschen werden die Objektbeziehungen stark gemacht, gegen die Orientierung an zeitlichen Parametern wird der Raum wieder ins Feld geführt, gegen die Dominanz von Texten wird auf die Bedeutung von Bildern hingewiesen und gegen die Betonung des Bewusstseins wird wieder auf den Körper Bezug genommen. Wie man es auch drehen und wenden mag, artikuliert sich in all diesen turns zusammengenommen ein gewisses Unbehagen gegenüber einem eingeschränkten Verständnis von Sozialität und auch eine gewisse Sehnsucht nach Konkretisierungen. Es hat tatsächlich den Anschein, als gäbe es einen neuen Bedarf am Greifbaren, Materiellen, Konkreten und Evidenten. Wie kaum ein anderer Gegenstand scheint gerade der Raum – und in ähnlicher Weise auch der Körper – geradezu ein Garant für das Reale darzustellen, dem man sich – gleichsam ohne Umwege – wieder zuwenden möchte. Dabei gibt es durchaus die Tendenz, sich nicht mehr länger mit der Rede über den Raum, den Körper usw. zu begnügen, sondern sich ihnen selbst zuzuwenden. Die Gefahr dieser Tendenz besteht darin, einer Art Unmittelbarismus das Wort zu reden, der souverän ignoriert, dass wir keinen unmittelbaren, sondern einen immer schon vermittelten Zugang zu den Dingen, Räumen und Körpern haben. Für eine soziologische Perspektive scheint mir jedoch wichtig zu sein, das offensichtliche Bedürfnis nach dem Konkreten und Greifbaren ernst zu nehmen – artikuliert sich darin doch eine tiefe Verunsicherung darüber, was unter den gegenwärtigen Bedingungen noch unter Wirklichkeit verstanden werden kann.68 Obwohl der Raum unbestreitbar wieder auf der Agenda auftaucht, ist nach wie vor eine gewisse Scheu und Skepsis vor der Thematisierung des Raums zu beobachten. Insofern scheint es mir verfrüht, von einem bereits durchgesetzten spatial turn in den Sozialwissenschaften zu sprechen. Allerdings wäre die Soziologie gut beraten, sich umfassend mit Raum zu

65 66 67 68

Vgl. Mitchell: „Der Pictorial Turn“. Vgl. Turner: The Body and Society. Vgl. Gugutzer: Body Turn. Vgl. Schroer: „Auf der Suche nach der verlorenen Wirklichkeit“.

„BRINGING SPACE BACK IN“ Ň 145

beschäftigen, handelt doch Globalisierung von nichts anderem als von den „räumlichen Organisationsformen sozialer Beziehungen“69. Entgegen den Befürchtungen, dass das neue Interesse am Raum unmittelbar in eine „Raumfalle“ hineinführe, scheint es mir ebenso möglich wie lohnend zu sein, sich jenseits von Raumdeterminismus und Raumvoluntarismus mit der sozialen Formierung des Räumlichen und den Rückwirkungen des Räumlichen auf das Soziale zu beschäftigen.

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69 Berking: „Raumtheoretische Paradoxien im Globalisierungsdiskurs“, S. 19.

146 Ň MARKUS SCHROER

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„BRINGING SPACE BACK IN“ Ň 147

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148 Ň MARKUS SCHROER

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Kontrolle und Organisation des Raums durch Funktionssysteme der Weltgesellschaft RUDOLF STICHWEH

1 Gesellschaft, Weltgesellschaft, Kommunikation Der Begriff der Gesellschaft ist vielleicht der am stärksten identitätsdefinierende Begriff der Disziplin Soziologie. Während die Soziologie andere ihrer Objekte mit anderen Disziplinen teilt; also sich beispielsweise auch Sozialpsychologen für Interaktion zuständig fühlen und Ökonomen und Betriebswirte Theorien der Organisation entwerfen, ist Gesellschaft – und die Frage der Ausdehnung und Grenzbildung dieses Systems – ein Gegenstand, der ausschließlich in die Domäne des Soziologen zu fallen scheint. Ich definiere Gesellschaft in Übereinstimmung mit dem Begriffsvorschlag von Talcott Parsons als jenes autonome, fast autarke Sozialsystem höchster Ordnung, das die überwiegende Zahl der Strukturen und Prozesse, aus denen es besteht, innerhalb der eigenen Grenzen produziert und reproduziert.1 Parsons erläutert die Besonderheit dieses Sozialsystems mit dem Aristotelischen Begriff der Selbstgenügsamkeit (self-sufficiency). Mit Blick auf Räumlichkeit fällt bereits an dieser Bestimmung auf, dass sie in den Begriff der Gesellschaft keine räumlichen Bedingungen aufnimmt. Dieser Begriff der Gesellschaft ist nicht mit der Vorstellung unverträglich, dass es in der Welt eine Pluralität von Gesellschaften oder gar viele koexistierende Gesellschaften gibt. Auch Kontakt und Austausch zwischen diesen koexistierenden Gesellschaften ist in gewissem Umfang 1

Vgl. Parsons: „Order and Community in the International Social System“, S. 121f.: „[...] highest-order social system, one which fulfills the prerequisites of a level of order that permits a relatively complete and stable development, within its boundaries, of all the important types of structure and process with which the analyst of social systems is concerned.“ Ähnlich an vielen Stellen – vgl. dazu näher Stichweh: „Zum Gesellschaftsbegriff der Systemtheorie“.

150 Ň RUDOLF STICHWEH

denkbar. Nur müssen Kontakt und Austausch punktuell bleiben, und sie dürfen nicht auf dauerhafte Beziehungen der Arbeitsteilung unter koexistierenden Gesellschaften hinführen. Dort, wo letzteres dennoch geschieht, beobachten wir die Vereinheitlichung oder Zusammenführung zweier Gesellschaften zu einem einzigen Gesellschaftssystem. Vielleicht der größte Vorteil des vorgestellten Gesellschaftsbegriffs ist, dass er die Gesellschaft nicht darauf festlegt, entweder ein großes oder ein kleines System zu sein. Er ist mit vielen Verständnissen vereinbar: Es kann sich um tribes handeln, also relativ kleine, in der Regel räumlich isolierte Systeme aus ein paar Hundert, meist nicht mehr als eintausend Mitgliedern.2 Auch Zivilisationen und Imperien als gesellschaftsgeschichtlich späte Makrosysteme kommen für die Anwendung des Gesellschaftsbegriffs in Frage, sofern sie die Bedingung der relativen Autarkie erfüllen. Ein weiterer häufig vorgeschlagener Kandidat sind die Nationen oder Nationalgesellschaften der Moderne, wenn ich empirisch in diesem Fall auch vermuten würde, dass es historisch nie eine Nationalgesellschaft gegeben hat, weil Nationen bereits zum Zeitpunkt ihrer Entstehung im europäischen späten Mittelalter und der frühen Neuzeit immer schon kleinere Einheiten in einem größeren gesamteuropäischen Gesellschaftssystem waren. Schließlich als letzter Anwendungsfall des Gesellschaftsbegriffs: das System der Weltgesellschaft, das in den letzten 500 Jahren historisch erstmals die Pluralität der vielen Gesellschaften in die Unizität eines einzigen, weltweiten Gesellschaftssystems transformiert hat. Im Fall der Weltgesellschaft darf man nicht aus der kommunikativen Einheit dieses Systems auf Vereinheitlichung des Verhaltens und der Kulturen schließen, weil es viel plausibler ist, davon auszugehen, dass gerade in diesem Fall die Einheit des Systems aus seiner internen Differenzierung in eine ungeheuer große Zahl nach verschiedensten Gesichtspunkten gebildeter Teilsysteme hervorgeht, wobei aber keines dieser Teilsysteme sinnvoll eine Gesellschaft genannt werden kann. Die Theorie der Weltgesellschaft kann als Kommunikationstheorie entworfen werden. Die Vorteile sind unübersehbar. Weltgesellschaft erscheint als globaler Zusammenhang der Vernetzung und der Unterbrechung von kommunikativ mitgeteilten Informationen, die ihren Informationsgehalt ihrer Selektivität verdanken und die von Adressaten der Kommunikationen verstanden werden. Der Handlungsbegriff taucht nur dort auf, wo Zurechnungsbedarfe für kommunikative Mitteilungen entstehen und in der Folge in Kommunikationsprozessen Zurechnungsvorschläge prozessiert werden. Ein kommunikationstheoretisches Verständnis von Weltgesellschaft macht deutlich, dass es in diesem System um weltweite Möglichkeiten des 2

Vgl. Sahlins: Tribesmen.

KONTROLLE UND ORGANISATION DES RAUMS Ň 151

Anschließens an Kommunikation geht. Dies gilt auf beiden Seiten einer Interrelation: sowohl für denjenigen, der Anschlüsse realisiert – und dies vielleicht an entferntem und insofern überraschendem Ort –, wie auch für denjenigen, der durch den Selektionshorizont, den er in seinen Kommunikationen sichtbar werden lässt, Anschlussmöglichkeiten für andere eröffnet. Globale Kommunikationssysteme sind dann auch small worlds, weil sie einerseits lokale Cluster bilden, aber diese Cluster durch überraschende Vernetzungen in entfernte Regionen der Sozialwelt geöffnet werden.3 Da man am Anfang einer solchen Kette von Vernetzungen oft nichts über Wirkungen weiß, die an kommunikativ entfernten Orten auftreten, macht es Sinn, von einer Prävalenz indirekter Beziehungen auszugehen.

2 Geschichte der Weltgesellschaft Wichtig ist für das Verständnis von Weltgesellschaft, dass es sich um ein historisches System handelt, das sich in einer vielhundertjährigen Geschichte herausgebildet hat. Man kann diese Geschichte als Geschichte der Inkorporation schreiben, und in dieser Perspektive handelt es sich darum, dass die expandierende europäische Welt mittels kolonialer Kontrolle von Territorien und Räumen und mittels der auf Migranten gestützten Errichtung affiner Sozialordnungen die übrige Welt in sich inkorporiert hat. Man kann dieselbe Geschichte auch als Geschichte der Konvergenz der regionalen gesellschaftlichen Ordnungen zu einem einzigen Gesellschaftssystem schreiben. Diese beiden Perspektiven sind sowohl konkurrierend wie komplementär, und dies muss in einer vollständigen Darstellung ausgeführt werden. Ein wichtiger Teil dieses Prozesses ist die Vollentdeckung des Erdballs in einem räumlichen Sinn, die impliziert, dass man im Prinzip an jedem Ort der Welt von jedem anderen Ort Kenntnis haben kann. Dies ist ein Prozess, der erst im 20. Jahrhundert seinen Abschluss gefunden hat. Das letzte signifikante Ereignis war die in den dreißiger Jahren gemachte Entdeckung, dass das noch unexplorierte, aber bis dahin für unbesiedelt gehaltene Hochland Neuguineas eine Bevölkerung aus vielen hundert Stämmen und ca. 1 Million Menschen aufwies. Auch in den Jahrzehnten seither sind in Regenwäldern Brasiliens und Malaysias wiederholt tribale Vergesellschaftungen gefunden worden, von deren Existenz man bis dahin nicht gewusst hatte – und solche Überraschungen mögen in Einzelfällen auch künftig vorkommen. Aber im Prinzip ist die Erde und sind ihre Bevölkerungen heute bekannt und der Kenntnis jedes einzelnen zugänglich.

3

Zur Theorie der small worlds vgl. Watts/Strogatz: „Collective Dynamics of Small-World Networks“; Barabási: Linked; Barabási: „Network Theory – the Emergence of the Creative Enterprise“.

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Die Erde ist in der Gegenwart nicht mehr geheimnisvoll und auch nicht mehr unheimlich. Aber dieses über sie vorhandene Wissen ist weltweit sehr ungleich verteilt. Ein für unsere Überlegungen zentraler Aspekt der Konvergenz der Weltregionen besteht in einer Vereinheitlichung der räumlichen Perzeption der Welt. An die Stelle multipler Zentrums-Peripherie-Konstruktionen, die in verschiedenen Weltregionen je verschieden formuliert werden, tritt eine einzige vereinheitlichte räumliche Konstruktion der Welt, die ortsunabhängig überall gleich formuliert wird.4 Wir werden im Folgenden zu bestimmen versuchen, wo eigentlich in der Weltgesellschaft Raumbilder formuliert und konstruiert werden und auf der Basis welcher Strukturbildungen sie in der Folge auch wieder diversifiziert werden. Die Erde ist also in einem räumlichen Sinn bekannt. Sie ist in ihrer Perzeption über die Unterschiede von Weltregionen hinweg vereinheitlicht. Man kann auch von räumlicher Schließung der Erde sprechen und damit den Verlust eines offenen, unbestimmten Welthorizonts meinen, in den sich alle Bestimmungen einschreiben.5 Schließlich fällt zunehmend die Endlichkeit der Erde auf und damit die Tatsache, dass diese nur ein kleiner Planet ist.6 Die Semantik der Weltgesellschaft wird deshalb von Widersprüchen geprägt, weil sie Aspekte der Unbegrenztheit, der zunehmenden Diversität, aber auch der Kleinheit und der Begrenztheit und des Überhandnehmens von Homogenität miteinander kombiniert.

3 Funktionssysteme Eine soziologische Beobachtung der Weltgesellschaft wird vermutlich zu dem Schluss kommen, dass die Pluralisierung der Sozialstrukturen ein viel auffälligerer Sachverhalt ist als die in spezifischen Sachbereichen zu beobachtenden Tendenzen zu Standardisierung und Homogenisierung. Weltgesellschaft zeichnet sich durch vielgestaltige Binnen- oder „Eigenstrukturen“7 aus, die ihr eine innere strukturelle Vielfalt verleihen, die die früherer Gesellschaften weit übersteigt. Zu diesen Eigenstrukturen gehören Netzwerke, Organisationen, epistemische Communities, Märkte, Weltereignisse (z.B. Olympiaden, Weltkonferenzen) und Weltkriege. Vor allem aber wird das strukturelle Profil der Weltgesellschaft durch die Erfindung Funktionssystem bestimmt. Diese Funktionssysteme sind sachthematisch spezifizierte Kommunikations4 5 6 7

Vgl. dazu Geyer/Bright: „World History in a Global Age“, S. 1045. So Lübbe: „Globalisierung“, S. 40. Vgl. z.B. Featherstone: Undoing Culture, S. 114: „[...] the globe is a finite, knowable bounded space“. Vgl. dazu ausführlich Stichweh: „The Eigenstructures of World Society and the Regional Cultures of the World“.

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zusammenhänge wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Recht etc., die heute ausnahmslos als weltweite Kommunikationszusammenhänge (mit lokalen Subsystemen) realisiert sind und deren Dynamik des Überschreitens räumlicher Grenzen und Nichteingrenzbarkeit in anderen Hinsichten das Tempo der soziokulturellen Evolution prägt. In einer vergleichenden Übersicht gegenwärtig prominenter Theorien der Weltgesellschaft fällt auf, dass nur die systemtheoretische Version diesem Faktum der funktionalen Differenzierung und der Vielzahl der Funktionssysteme angemessen Rechnung trägt.

4 Raum und Weltgesellschaft Wie hängt die Genese der Weltgesellschaft mit der Auffassung des Raums zusammen? Der Raum wird in diesem Text in einer ersten Annäherung als ein kognitives Konstrukt verstanden, auf das die Kommunikation zurückgreift und aus dem sie Folgerungen für die Organisation von Weltgesellschaft ableiten kann. Ich will dies am Beispiel Immanuel Kants erläutern, der einer der ersten und bis heute vielleicht bedeutendsten Theoretiker der Weltgesellschaft war, die er vor allem unter dem Titel der „Weltbürgergesellschaft“ thematisierte.8 Im Essay „Zum ewigen Frieden“ (1795) formuliert Kant den dritten Definitivartikel zum ewigen Frieden als eine Limitation, aber zugleich als eine Sicherung des Weltbürgerrechts: „Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.“9 Hospitalität wird näher erläutert und in seinem Rechtscharakter erklärt: „Es ist hier [...] nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede, und da bedeutet Hospitalität (Wirtbarkeit) das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann; so lange er aber auf seinem Platz sich friedlich verhält, ihm nicht feindlich begegnen.“10

Kant versteht also Hospitalität oder Wirtbarkeit nicht im Sinne des Gastrechts und der Institutionen der reziproken Beherbergung (in einem Haus oder Haushalt), wie sie in vielen älteren Gesellschaften prominent waren,11 statt dessen geht es nur um „ein Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten“ oder in einer Formulierung wenige Zeilen weiter um „die Bedingungen der Möglichkeit, einen Verkehr 8 9 10 11

Zur Begriffsgeschichte vgl. Stichweh: „Weltgesellschaft“. Kant: „Zum ewigen Frieden“, S. 213. Ebd. Vgl. am Beispiel Griechenlands Gauthier: Symbola.

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mit den alten Einwohnern zu versuchen“.12 Dieses Besuchsrecht, das Kant ausdrücklich ein Naturrecht nennt, erhält seinen Rechtscharakter – und hier kommen erstmals räumliche Voraussetzungen der menschlichen Gesellschaft ins Spiel – „vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der, als Kugelfläche, sie sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch neben einander dulden müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere.“13 Wenn man genau hinsieht, sind es zwei räumliche constraints, aus denen Kant die gesellschaftliche Institution „Besuchsrecht“ deduziert: die fehlende Unendlichkeit der Kugelfläche der Erde als Eigentümlichkeit des den Menschen zur Besiedlung zur Verfügung stehenden Raums (und die daraus folgende Gemeinsamkeit des Besitzes der Erdoberfläche), und zweitens der physikalische Sachverhalt der Impenetrabilität des Körpers, der es unmöglich macht, dass zwei Körper dieselbe Raumstelle besetzen können. Impenetrabilität ist eine klassische Definitionsbedingung von Körperlichkeit, die sich in allen Physiklehrbüchern zu Kants Zeit findet14 und die deshalb Kant, der auch ein Lehrer der Physik war, gut bekannt war. Diese Unmöglichkeit der gleichzeitigen Besetzbarkeit derselben Raumstelle durch mehrere Körper fungiert in Kants Essay als ein zweiter Grund, warum die Duldung des Anderen ein unabweisbarer Rechtstitel ist, den dieser geltend machen kann. Es kommt mindestens eine weitere physisch-räumliche Eigentümlichkeit der Erde hinzu, die für die Möglichkeit von Weltgesellschaft wichtig ist, die Kant aber nicht erwähnt oder noch nicht erwähnen konnte. Die Kugeloberfläche ist ja nicht nur endlich, sie ist zudem die Oberfläche eines Körpers, dessen Durchmesser zumindest in dem Sinne klein ist, dass Kommunikationen, die auf dieser Oberfläche telekommunikativ weitergeleitet werden, beliebige Punkte auf der Erde erreichen können, ohne dass (unter der Bedingung der Unüberschreitbarkeit der Lichtgeschwindigkeit) eine Zeitverzögerung in der Kommunikation wahrnehmbar wäre. Diese relativ geringe Größe ist eine kontingente Eigentümlichkeit der Erde als Planet, aber sie ist von großer Bedeutung für die potentielle Synchronizität aller Kommunikationen in der Weltgesellschaft. Kant konnte die Tragweite dieses Sachverhalts noch nicht sehen, weil „Zum ewigen Frieden“ einige Jahrzehnte vor der Erfindung und Durchsetzung der ersten effektiven Technik der Telekommunikation, der Telegraphie, entstand. Erst wenn Techniken dieses Typs verfügbar sind, wird es auch plausibel, eine Theorie der Weltgesellschaft primär als Kommunikationstheorie auszuführen.

12 Kant: „Zum ewigen Frieden“, S. 214. 13 Ebd. 14 Vgl. etwa Parrot: Grundriss der theoretischen Physik, S. 77: „Das charakteristische Kennzeichen der Materie ist die Impenetrabilität […].“

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5 Kontrolle und Organisation des Raums Warum ist von Kontrolle des Raums die Rede? Ich lehne mich an die Sprache der Kybernetik an, die sich meines Erachtens gut eignet, um die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Raum zu analysieren. Wichtig ist zunächst der Dualismus von Information und Materie/Energie, wie ihn Norbert Wiener entschieden vertreten hat – und dies mit der zusätzlichen Pointe, dass er diese Unterscheidung als spezifisch für eine materialistische Erkenntnistheorie ausgewiesen hat: „Information is information, not matter or energy. No materialism which does not admit this can survive at the present day.“15 Derjenige, der dies Argument Wieners am fruchtbarsten umgeformt hat, war Talcott Parsons. Er hat daraus die Vorstellung einer kybernetischen Hierarchie abgeleitet, einer Hierarchie, die Abhängigkeiten in entgegengesetzte Richtungen erzeugt. Für alle Sozialsysteme gilt dann, dass sie entweder primär in ihrer informationellen Bedeutung zu lesen sind, was heißt, dass von ihnen eine kontrollierende Wirkung auf energie- und materiereiche Systeme ausgeht. Oder sie haben einen energetisch-materiellen Schwerpunkt und wirken dann als Konditionen oder als constraints im Blick auf das, was in einem informationell bestimmten System realisiert werden kann (vgl. Abb. 1).16 Abb. 1: Kybernetische Hierarchie

Information

Konditionen

Kontrolle

Energie

Wenn man in eine Konzeption dieses Typs das Verhältnis von Gesellschaft/Sozialsystem und Raum einbauen will, benötigt man wenige zusätzliche Schritte.

15 Wiener: Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine, S. 132. 16 Zur kybernetischen Hierarchie bei Parsons vgl. Parsons: Action Theory and the Human Condition, S. 374-380.

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Erstens ist es sinnvoll, den für die Konstitution von Gesellschaft entscheidenden Begriff der Kommunikation hinzuzufügen, weil Kommunikation offensichtlich jene gesellschaftlichen Elementarereignisse zur Verfügung stellt, über die die Kontrolle von Information läuft. Da wir über die Relevanz von Information in sozialen Systemen reden, ist es weiterhin sinnvoll, dem Begriff der Information den des Sinns zuzuordnen. Sinn und Information sind eng miteinander verwandt, da Information seit Shannon und Weaver über Selektivität definiert wird und Sinn seinerseits die Relation zwischen gewählten und nichtgewählten, aber als mögliche erinnerten Alternativen meint.17 Schließlich sind Raum und Zeit als letzte konditionierende Faktoren (als transzendentale Bedingungen von Gesellschaft und Natur) hinzuzufügen, für die gleichzeitig gilt, dass sie der Kontrolle durch die kommunikations- und informationsabhängigen Momente sozialer Systeme unterliegen (vgl. Abb. 2). Abb. 2: Sozialsystemische Hierarchie

Kommunikation

Information / Sinn Konditionen

Kontrolle

Energie / Materie

Raum / Zeit

Die Vorteile der hier vorgeschlagenen Fassung des Raumbegriffs sind leicht zu sehen. Einerseits trägt dieser Vorschlag der Erfahrung der Unhintergehbarkeit räumlicher Konditionen Rechnung; andererseits balanciert er diese Deutung dadurch aus, dass er Kommunikation, Information und Sinn als Größen beschreibt, denen in der soziokulturellen Evolution zunehmend die Kontrolle räumlicher Konditionen gelingt. Die Kontrolle und die Organisation des Raums ist dann das Instrument der „Überwindung des Raums“18, wobei die konditionale Relevanz des Raums immer 17 Vgl. Shannon / Weaver: The Mathematical Theory of Communication; Luhmann: „Sinn als Grundbegriff der Soziologie“. 18 „Spatial organization is necessary to overcome space“ (David Harvey, zitiert nach Brenner: „Beyond State-centrism“, S. 43).

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gegeben bleibt. Die Kontrolle des Raums geschieht in Sozialsystemen durch zwei Instrumente. Das eine sind beobachtungsleitende Unterscheidungen wie nah/fern, innen/außen, Raumstelle/Objekt an dieser Raumstelle etc., mit deren Hilfe sich die Gesellschaft die Räumlichkeit erschließt (vgl. Abb. 3).19 Abb. 3: Raum – Beobachtungsleitende Unterscheidungen

Nähe

Ferne räumliche und zeitliche Distanzen

Innen

Aussen Grenzen

Orte

Richtungen

Wege

Objekte / Körper Wechsel der Orte oder der Körper / Objekte

Offenheit

Geschlossenheit

Begrenztheit

Unbegrenztheit / Unendlichkeit

Das zweite Instrument sind Strategien der Bewältigung des Raums, die als Strategien auf Kombinationen einer Mehrzahl von Unterscheidungen aufruhen und an denen man am besten den soziokulturellen Trend zunehmender Bewältigung des Raums ablesen kann. Zu diesen Strategien gehören: 1. die Substitution künstlicher für natürliche Begebenheiten (Ingenieurstechnik) 2. die Überlagerung physischer Räume durch soziale Räume (Netzwerke) 3. die Invisibilisierung faktisch vorliegender und als Struktur unhintergehbarer räumlicher Ordnungen (Telekommunikation) 4. die Affirmation der Räumlichkeit in der Form der progressiven Präzisierung räumlicher Ordnungen (Logistik, Adressenordnungen) 5. die Substitution funktionaler für räumliche Ordnungen (Funktionssysteme)20 19 Dies wird näher erläutert in Stichweh: „Raum und moderne Gesellschaft“, S. 96-98. 20 Vgl. näher ebd., S. 98-100; und zu Adressenordnungen Stichweh: „Adresse und Lokalisierung in einem globalen Kommunikationssystem“.

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Jede dieser beobachtungsleitenden Unterscheidungen und jede dieser raumdomestizierenden Strategien verlangt gründliche Untersuchungen. Wir werden uns in diesem Aufsatz auf das Leitthema der Kontrolle und Organisation des Raums durch Funktionssysteme beschränken und deshalb nur den letzten gerade genannten Gesichtspunkt herausarbeiten. Zuvor aber ist eine Zwischenbemerkung einzuschieben, die Migration und Kommunikation als zwei Zentraltendenzen der Weltgesellschaft voneinander unterscheidet und damit zwei radikal verschiedene Weisen der Aufnahme und der Kontrolle von Räumlichkeit.

6 Migration und Kommunikation Die Realisierung globaler Sozialität kann in einer historisch vielfach vorkommenden Hinsicht auf Migrationen zurückgeführt werden, und das heißt dann jeweils, dass man die Bewegung von menschlichen Körpern im Raum für die Entstehung der globalen Strukturen, die man analysiert, verantwortlich macht. Bereits die erstmalige Besiedlung des gesamten Erdballs durch jene Spezies, die die biologisch-organische Umwelt der Weltgesellschaft bildet, war ein einziger sich über ca. 50.000 Jahre hinziehender Migrationsvorgang dieser Art,21 der deshalb noch nicht zur Entstehung von Weltgesellschaft führen konnte, weil die Teilräume der Welt, aus denen Populationen in andere Teilräume übersiedelten, in der Regel nach dem Migrationsvorgang den Kontakt untereinander wieder verloren, so dass als Folge dieser Migrationen die vielen verschiedenen Gesellschaften der menschlichen Geschichte entstanden sind und nicht ein einziges weltweites Kommunikationssystem. Noch die Globalisierungsphase von 1870 bis 1914, die viele der Strukturen unserer gegenwärtigen Welt hervorgebracht hat, war in einem Grade migrationsbasiert, wie das in der heutigen Situation nicht mehr vorstellbar ist. Es gab in diesem Zeitraum vor dem ersten Weltkrieg einerseits Einwanderungsländer wie die USA und Kanada, Australien, Argentinien und Uruguay, und andererseits große Regionen mit sehr niedrigem Prokopfeinkommen in vielen Teilen Europas, die Millionen von Arbeitsmigranten in diese Einwanderungsländer entsandten.22 Die Entwicklung und Durchsetzung der Kommunikationstechnologien des 20. Jahrhunderts hat diesem Jahrzehntausende alten migrationsbasierten Globalisierungsmuster (das immer schon durch Diffusionsprozesse komplementiert wurde) das neue Muster eines globalen Transfers von 21 Vgl. Macaulay: „Single, Rapid Coastal Settlement of Asia Revealed by Analysis of Complete Mitochondrial Genomes“; Forster/Matsumura: „Did Early Humans Go North or South?“. 22 Dazu interessant O'Rourke u.a.: „Factor Price Convergence in the Late Nineteenth Century“; Williamson: „Globalization, Convergence and History“.

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Kommunikation und Information, der als Transfer nicht auf parallellaufende Migrationen angewiesen ist, hinzugefügt. Für das Verstehen dieser Informationen und Kommunikationen benötigt man keine Kenntnis über die durchschrittenen Wege mehr und auch kein Gefühl für den Raum, der bewältigt worden ist. Damit verlieren Ortsbewegungen und Migrationen nicht zwangsläufig an Bedeutung, aber sie sind jetzt immer nur noch eine unter mehreren Alternativen bei der Realisierung translokaler Sozialität.

7 Eigenräume der Funktionssysteme Globalisierung ruht auf räumlichen Konstruktionen und diese wiederum unterliegen der Kontrolle durch soziale Systembildungen. Auf diese Weise entsteht der Eigenraum der Weltgesellschaft, an dem das Phänomen seiner inneren Pluralisierung auffällt. Die semantisch-soziostrukturelle Heterogenität der Funktionssysteme scheint dafür verantwortlich, dass sich Eigenräume der Funktionssysteme bilden. Diese Hypothese soll hier abschließend am Beispiel einzelner Funktionssysteme diskutiert werden. 1. Die Wirtschaftsordnung der Weltgesellschaft kennt viele Beispiele einer behaupteten Raum- und Ortlosigkeit. Transaktionen an Finanzmärkten sind ein gutes Beispiel, aber auch der Einkauf in Online-Shops, wo es zunächst – ungeachtet der Materialität der gehandelten Güter – zunächst keine Rolle spielt, an welchem Ort der Welt sich der Käufer zum Zeitpunkt der Produktauswahl, der Auftragserteilung und Zahlungsabwicklung befindet. Aber unmittelbar nach dem Bestellvorgang beginnt der Zugriff der Räumlichkeit auf die Transaktion, weil das ausgewählte Produkt, wenn es nicht in die Form eines file transformiert werden kann, physisch (und nicht im Internet) die Reise zu einer vom Käufer im Kaufauftrag spezifizierten und im Raum eindeutig – und zwar weltweit eindeutig – lokalisierbaren Adresse antreten muss. Dies ist der der Startpunkt des Einsatzes der Logistik, die in der Wirtschaft eine ungeheuer vielfältige Wissensordnung eigenen Typs verkörpert. Logistik koordiniert Räume und Zeiten. Im Fall gelingenden Operierens stellt sie sicher, dass das erworbene Gut zum genau richtigen Zeitpunkt am genau richtigen Ort eintrifft – und dass zusätzlich der Prozess, der dies bewirkt, im Medium Internet laufend mitverfolgt werden kann, und letzteres geschieht erneut raum- und zeitunabhängig. Logistik inkorporiert die Bedeutung des Raums, aber zugleich versucht sie sich als Kontrolle auch wieder unabhängig von ihm zu machen. 2. Wissenschaft hat in der Universalitätszuschreibung, die sie für ihr eigenes Wissen generiert hat, schon vor vielen Jahrhunderten eine prinzipielle Distanz zum Raum markiert. Der Ort der Produktion des Wissens ist kontingent und als ein solcher kontingenter Ort bedeutet er in keiner Weise eine Restriktion für eine als vom Raum völlig unabhängig gesehene Geltungsvermutung für wissenschaftliches Wissen. Aber es gibt im Wissenschaftssystem Disziplinen, die ihrer Problemstellung nach entweder Räu-

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me beschreiben oder sie entwerfen. Das erstere, die Beschreibung des Raums, ist die Aufgabe der Geographie –, und es ist gut zu beobachten, wie die Ambiguitäten der modernen Gesellschaft gegenüber dem Raum sich als Krisen, aber auch als Selbstbewusstseinsschübe (spatial turn!) in der Geschichte der Geographie manifestieren.23 Neben der Geographie stehen dann andererseits die raumkonstruktiven Wissenschaften Physik und Geometrie, die den intellektuellen Kern unserer konstruktiven Anstrengungen im Verhältnis zum Raum markieren. Diese beiden Disziplinen sind eines der gesellschaftlichen Laboratorien im Umgang mit dem Raum. 3. Für die Politik ist es nahe liegend, sie als das am deutlichsten raumbezogene Funktionssystem zu denken. Sie ist spätestens seit der Entstehung des modernen Staats auf das Engste mit Territorialität verknüpft, und Territorialität meint die Ordnung der Machtverhältnisse auf einem durch Grenzen so genau wie irgendwie möglich markierten Raum. Gleichzeitig beansprucht Politik auf ihrem Territorium die Kontrolle physischer Gewalt, und als ein so verstandener Monopolinhaber physischer Gewalt reklamiert die staatliche Gewalt auch die Möglichkeit der Kontrolle der Ortsbewegungen menschlicher Körper. Ob man ein Land zu verlassen imstande ist oder es überhaupt betreten darf, und dass man unter bestimmten Umständen auch gewaltsam an einen bestimmen Ort (z.B. in eine totale Institution) transportiert werden kann, dies alles gehört zu den Prärogativen des Territorialstaats der Moderne. 4. Das Funktionssystem Sport gehört in der Regel zu den unumstrittenen Kandidaten für ein globales Kommunikationssystem, das über weltweite Vergleichshorizonte für sportliche Leistungen konstituiert wird.24 23 Das Studium dieser Konjunkturen der Geographie würde einen interessanten Blick auf die Wissenssoziologie des Raums in der Gegenwart erlauben. Ich notiere nur wenige Stichworte: 1. Die Konjunktur biogeographischen Denkens in der Evolutionsbiologie spätestens seit Ernst Mayr und dessen Theorie der Speziation, die Mechanismen der räumlichen Trennung von Populationen in den Vordergrund stellt (vgl. Mayr: Systematics and the Origin of Species from the Viewpoint of a Zoologist ); 2. Die Wiederkehr eines geographischen Determinismus bei Autoren, die ökologische Geschichte oder ökologisch inspirierte Weltgeschichte zu schreiben versuchen. Jared Diamond ist dafür ein gutes Beispiel, und er – der genau wie Mayr ein biogeographisch denkender Ornithologe ist – macht die wissenschaftsgeschichtliche Verbindung zur Biogeographie der Evolutionsbiologen sichtbar (vgl. Diamond: Guns, Germs, and Steel); 3. Die These vom spatial turn in den Kultur- und Sozialwissenschaften, und die wissenssoziologische Frage, welche Anlässe und Entwicklungen die Vermutung eines solchen spatial turn inspiriert haben könnten; 4. Die schnell wachsende Bedeutung von Karten als einer Dienstleistung der Geographie und die enorme wirtschaftliche Bedeutung immer präziserer Karten für Verkehrsleitsysteme, Suchstrategien von Individuen – und eben für die Logistik als einer Kernstruktur der modernen Wirtschaft. 24 Vgl. Stichweh: „Sport – Ausdifferenzierung, Funktion, Code“; Stichweh: „Sport und Moderne“.

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Eine intensive lokale Einbindung sportlichen Tuns und ein umfangreiches Wissen über weltweit auswählbare Vorbilder sportlicher Leistungen stehen bereits bei Jugendlichen im Breitensport in keinem Widerspruch zueinander. Insofern ist Sport zugleich ortsgebunden und ortlos. Diese unproblematische Koexistenz von Globalität und Lokalität kann im Sport mit einer intensiven Erfahrung und Relevanz räumlich-physischer Parameter einhergehen. Ähnlich wie im Fall der Politik, aber zugleich radikal anders, geht es auch im Sport vielfach um die Kontrolle von Territorium und Terrain. Man kennt – ohne genau zu wissen wie – den Tennisplatz so gut, dass man unablässig die Linien trifft; das Spielfeld, auf dem man Fußball spielt, kann sich als eine Limitation für die Art des Spiels erweisen, die eine Mannschaft am besten beherrscht, so dass aus diesem Grund der Anpassung der Größe des Spielfelds in den vergangenen Jahren wiederholt neue Stadien gebaut worden sind (bspw. in Manchester). Für den Läufer oder den Radrennfahrer kann sich ein physisch-körperliches Wissen um den Zustand und die Länge des noch zurückzulegenden Wegs als ein relevanter Vorteil erweisen. Die Magie der Tour de France, als sie noch funktioniert hat, war für die Franzosen eng mit der affektiven Bindung an die physische Erfahrung der Regionen des Hexagone verknüpft (und hier sprechen wir nicht zuerst von den Leistungsträgern, sondern vom Publikum des Sports). Auch zu den Oberflächen der Böden, auf denen man einen Sport ausübt, wird man vielfach eine intensive Beziehung aufbauen, so dass man sich auf diesen zuhause fühlt – oder eben nicht. Die Beispiele lassen sich hier leicht vervielfachen – und in allen Fällen scheint es um intensive Beziehungen zu Raum als Lokalität (Platz), als Medium (Wasser) und als Distanz (Strecke, Weite) zu gehen. 5. Eine der interessantesten Lösungen im Umgang mit Räumlichkeit verkörpert das Funktionssystem Religion. Im Fall der Religion kann man beobachten, dass, soweit es um Transzendenz geht, sie insofern das modernste Funktionssystem zu sein scheint, weil sie im Bereich des Transzendenten räumliche Vorstellungen immer entschiedener dementiert. Die Platzierung von Göttern auf Berggipfeln oder in einem vielleicht sogar kartographierbaren Himmel, die Unterwelt als Fluss, über den man setzt, und eine Topographie und Kartographie von Fegefeuer und Hölle – dies alles sind Vorstellungen, die die Weltreligionen der Gegenwart radikal hinter sich gelassen haben. Aber dieselbe Inkompatibilitätsthese gilt nicht für die Immanenz, die weltliche Präsenz der Religion. Hier fungieren eine Topographie heiliger Orte, ein Modus der Welterfahrung als Pilgerfahrt und die Zurverfügungstellung und bewusste Konstruktion von Raumerfahrungen in Kirchen als Formen einer räumlichen Erfahrbarkeit von Religion, die nicht an Bedeutung verloren hat, und es vielleicht auch in der Zukunft nicht muss.

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6. Intimbeziehungen und insbesondere die Welt der passionierten Liebe scheinen eine ihrer Besonderheiten darin zu haben, dass sie sich außerhalb von Zeit und Raum zu situieren versuchen. Aber sie benutzen für ihre Selbstbeobachtung typischerweise die Leitunterscheidung von Nähe und Ferne und paradoxierte Fassungen dieser Unterscheidung (die Erfahrung von Nähe ungeachtet des Fernseins, das die Beteiligten trennt; die Distanz, die auch in großer Nähe noch erfahren wird) – und sie verwenden damit eine der konstitutiven Formen der Beschreibung von Räumlichkeit für ein instruktives Selbstverhältnis von Intimbeziehungen. 7. Am Ende begegnen wir mit der Kunst zum zweiten Mal einem Funktionssystem, das in einigen der Spielarten, die es hervorbringt, konstitutiv mit der Konstruktion und Erfindung neuer Formen von Räumlichkeit befasst ist. Ähnlich wie oben schon am Beispiel von Geographie und Geometrie als zweier wissenschaftlicher Disziplinen erörtert, haben wir es insbesondere im Fall von Malerei, Plastik und Architektur mit Formen der Kunst zu tun, die sich destruktiv, rekonstruktiv oder konstruktiv mit Raumvorstellungen und Raumerfahrungen befassen. Man kann mit Blick auf diesen Bereich in besonderem Maße an die Leistung der Malerei denken, in ein zweidimensionales Medium die dreidimensionale Räumlichkeit wieder hineinzukonstruieren. Die Erfindung der Zentralperspektive und die Schlüsselstellung dieser Erfindung für das der Moderne eigene Verständnis von Räumlichkeit sind für diese Leistung von besonderer Bedeutung. Plastik und Architektur ergänzen dies um eigene Dimensionen von Räumlichkeit (Offenheit/Geschlossenheit, Zugänglichkeit/Unzugänglichkeit etc.) und formulieren die Relevanz der Kunst für die gesellschaftliche Aneignung und Konstruktion des Raums. Daneben existieren zweifellos andere Formen der Kunst, die, wie dies im Fall der Musik ist, ihren Schwerpunkt in der Zeiterfahrung haben. Die Eigenräume der Funktionssysteme sind in diesem Text nicht erschöpfend behandelt worden. Es geht nur um eine erste Illustration eines möglichen Arguments, das sichtbar machen wird, wie die Pluralisierung gesellschaftlicher Formen der Strukturbildung auch die Formen der Erfahrbarkeit und der Kontrolle des Raums pluralisiert.

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Die Geo-Semantik der Netzwerkgesellschaft NIELS WERBER

1 Der Geocode der Medien – eine Semantikgeschichte In einer der großen Utopien der frühen Neuzeit stellt Tommaso Campanella einen Zusammenhang zwischen Medientechnologien, dem Raum der Welt und den auf ihr verbreiteten sozialen Ordnungen her. In seiner 1623 publizierten Civitas solis lässt er einen Genuesischen Seefahrer von den Bürgern des hochentwickelten Sonnenstaates folgendes berichten: „Sie bewundern unaufhörlich die Erfindung des Buchdrucks, des Schießpulvers und des Kompasses, Zeichen und Werkzeuge der Vereinigung der ganzen Welt in einem Schafstall.“1 Die Perspektive des Sonnenstaates, dies wird noch mehrfach betont, ist auf „die ganze Welt“ gerichtet, und die Erfindungen des Schwarzpulvers, des Bleisatzes und des Magnetkompasses haben diese neue Epoche eröffnet. Dass es sich um chinesische Erfindungen handelt, wird erwähnt, aber sie haben eben erst in europäischer Hand weltgeschichtlich Epoche gemacht. Denn erst jetzt, im ersten Viertel dieses 17. Jahrhunderts, so erläutert ein Gelehrter der Solarier seinen genuesischen Besuchern, habe sich „mehr Geschichte“ ereignet und hätten „mehr Bücher das Licht der Welt erblickt [...] als in fünftausend Jahren vorher“.2 Gewehre und Kanonen, Buchdruck und Hochseeschiffahrt machen auch insofern Epoche, als sie nicht nur die Voraussetzungen schaffen, die Welt zu erschließen, sondern auch „Zeichen und Werkzeuge der Vereinigung der ganzen Welt“ darstellen sollen. Erst Hegel, meint Friedrich Kittler in seiner Vorlesung über die „Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft“, habe Buchdruckerkunst und Schießpulver als „Waffen eines Allgemeinen“ bewertet, „das

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Campanella: Der Sonnenstaat, S. 66. Ebd.

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alle schlechten Besonderheiten aufhebt“, und zwar weltweit, denn bei Hegel werde, der Seefahrt sei dank,3 „zum erstenmal“, wie Kittler eigens betont, „Weltgeschichte [...] als Raum möglicher Globalisierung gedacht“.4 Diese den Waffen des Allgemeinen eingeschriebene globale Dimension findet sich aber schon 200 Jahre früher in Campanellas Utopie, die dieser nicht zufällig einen seefahrenden Landsmann des Kolumbus erzählen lässt. Das moderne Verbreitungsmedium des Drucks, das moderne Verkehrsmittel der Hochseeschifffahrt und die modernen Waffentechniken der Gewehre und Kanonen erschließen aber nicht nur der Weltgeschichte einen globalen Raum, sondern prägen diesem Raum zugleich auch eine soziale Ordnung ein, die in der strengen, zentralistischen Geometrie der solaren Architektur ihren sichtbaren Niederschlag findet. Die von Campanella aufgeführten Kulturtechniken der Moderne erweisen sich als Instrumente einer solaren „Raumnahme“, wie Carl Schmitt dies genannt hätte, und nur vermittels dieser Techniken können die Solarier hoffen, dem Globus ihren Nomos einzuprägen.5 Alle „Nationen“, da sind sie sich gewiss, ja die „ganze Welt“, würden „ihre Sitten annehmen“.6 Die überlegene solare Kultur werde sich weltweit verbreiten, das Beste aller Nationen aufgreifend, das Schlechte ausmerzend.7 Den drei zentralen Kulturtechniken der Neuzeit wird so eine bestimmte Codierung des Raums, die Bewegung einer globalen Territorialisierung, kurz: ein Geocode eingeschrieben, der die Welt als Objekt einer restlosen Raumnahme durch eine Sozialordnung auffasst, die sich unaufhaltsam durch besseres Wissen und seine Verbreitung, überlegene Verkehrsmittel und unschlagbare Waffen, ausbreitet. Dass die Solarier bereits Luftfahrt betreiben und so über ein Verkehrsmittel verfügen, das die geopolitische Differenz von Land und Meer aufhebt, bestätigt die globale Dimension dieser durchaus totalen Utopie, welche letztlich „alle Nationen unter einem einzigen Gesetze vereinigt“ und „nach Solarierweise“ beherrscht sehen möchte.8 Dieses Ziel wird den Medien selbst eingeschrieben, welche die Solarier deshalb auch unaufhörlich bewundern und zugleich weiterzuentwickeln trachten,9 so dass der Technologievorsprung vor dem Rest der Welt bewahrt werden kann. Der Raum, den diese Medien vernunftgemäß und also notwendig erschließen und codieren, ist der Raum des solaren Nomos. 3

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Vgl. Hegel: „Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie“, S. 421. Kittler: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, S. 105, 118. Vgl. Schmitt: Der Nomos der Erde. Campanella: Der Sonnenstaat, S. 46. Vgl. ebd., S. 33. Ebd., S. 66, 36. Vgl. ebd., S. 67.

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Die der solaren Weltherrschaftsvision zugrunde liegende Beschreibung von Druck, Pulver und Seefahrt ist freilich, auch wenn Hegel und Kittler sie womöglich teilen, eine sehr einseitige. Die gleichen Kulturtechniken, in denen die gelehrten wie missionsfreudigen Bürger des Sonnenstaates „Zeichen und Werkzeuge der Vereinigung der ganzen Welt“ zu erkennen glauben, gelten anderen Beobachtern als Quellen der Diversität, der Differenz oder der Deterritorialisierung. So werden beispielsweise in einem philosophischen Roman der Spätaufklärung die Erfindungen des Buchdrucks und des Schwarzpulvers als Instrumente der Auflösung jeglicher menschlichen und göttlichen Ordnung angesehen; und auch die grausame Unterjochung der „neuen Welt“ durch die seefahrenden Nationen „Spanien und Portugal“ wird im gleichen Text erwähnt: Amerika werde dank Seefahrt, Buchdruck und Pulver ein „Tummelplatz“ von „Greuel und Laster“ werden.10 Friedrich Maximilian Klinger bestätigt, dass den drei Kulturtechniken ein globales Telos eigentümlich sei, arbeitet aber vor allem die seiner Ansicht nach verheerenden Folgen heraus. Sie ermöglichen eine wahrhaft höllische Weltpolitik, die wie bei Campanella eurozentrisch ist, aber nicht zum ewigen Frieden der Völker nach solarischem Diktat führt, sondern den ganzen Globus einer furchtbaren „Weltunordnung“ unterwirft.11 Die unterschiedliche Bewertung des von Buchdruck, Pulver und Kompass ausgelösten Epochenumbruchs findet ihren Grund nicht in diesen Techniken selbst, sondern in ihren Beschreibungen, die bei Campanella und Klinger oder auch Hegel unter völlig unterschiedlichen Voraussetzungen stehen. Die Frage, ob Medien als solchen ein genuiner Geocode eingeschrieben ist und welcher dies sein könnte, wäre also letztlich gar nicht zu beantworten, denn was man hier beobachtet, sind ja nicht Medien, sondern Beschreibungstraditionen von Medien, nicht notwendige Folgen technischer Entwicklungen, sondern kulturelle Ausdeutungen. Die Codierung des Raums durch Medien möchte ich daher auf der Ebene einer Semantik abhandeln, in der Verweise auf Medien und Räume besonders augenfällig sind, nämlich auf der Ebene der Selbstbeschreibungen der Gesellschaft.

2 Selbstbeschreibungsformeln der Gesellschaft – ein Beispiel Dieser Aufsatz findet also in Selbstbeschreibungsformeln der Gesellschaft sein Problem. Gemeint sind Konstruktionen wie die einer Netzwerkgesellschaft oder auch Informationsgesellschaft, die mit dem Anspruch auftreten, das Ganze oder doch Typische der Gesellschaft zu repräsentieren. 10 Klinger: Fausts Leben, Taten und Höllenfahrt, S. 22f, 37, 222. 11 Vgl. zum Begriff der Unordnung Tibi: Die neue Weltunordnung.

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Derartige Formeln verweisen wiederum auf Medien, denen ein bestimmtes bias der Codierung des Raums zugeschrieben wird:12 „Different media have different geographies of both production and use“, schreibt Peter Hugill im Anschluss an Harold Innis.13 Dieses bias ist solange unproblematisch, wie die von Innis markierten Unterschiede (z.B. transportable Medien wie Papier und Papyrus vs. nicht-transportable Medien wie Stein; nodes vs. lines) deutlich zu beobachten sind. Sicher ist der Geocode einer Seemacht, deren Kommunikation auf „Knoten“ setzt, ein anderer als der einer Landmacht, die entlang fixierter Routen (Straßen, Eisenbahnen, Telegraphen) kommuniziert.14 Problematisch wird die Aussage Hugills dann, wenn Medienverbünde verhandelt werden, die solche Unterschiede aufheben. Der Netzwerkbegriff zielt aber nicht auf Land oder Meer bzw. Stein oder Papier, sondern auf alles: „We have come to see that we live in a small world, where everything is linked to everything else.“15 Welche Geographie wäre dieser Vernetzung von allem mit allem zu Eigen? Derartige Selbstbeschreibungsformeln treten das Erbe Hegels insofern an, als diese Repräsentationen wenn nicht Waffen des Allgemeinen, dann doch hochselektive Generalisierungen sind, die andere Beschreibungsoptionen verdrängen. Denn mit Hilfe von Selbstbeschreibungen dirigiert die Gesellschaft, was sie als Abweichung von diesen Beschreibungen oder als interne Inkonsistenz bemerkt, um diese Irritationen gegebenenfalls in Strukturänderungen zu überführen. Alles andere bleibt unbeachtet oder wird vergessen.16 Deshalb sind sie von zentraler Bedeutung für die soziale Evolution. Dirk Baecker beispielsweise hat in seinem Buch über Form und Formen der Kommunikation unsere Gesellschaft eine „Computergesellschaft“ genannt, die einerseits von der historischen „Buchdruckgesellschaft“ zu unterscheiden sei und sich andererseits zurzeit gerade in eine „Netzwerkgesellschaft“ verwandele.17 Die Entscheidung für eine Abgrenzungsepoche (die „Buchdruckgesellschaft“) impliziert Präferenzen und Exklusionen: Der Buchdruck eignet sich für Selbstbeschreibungszwecke offenbar besser als Pulver und Kompass, obschon es ja auch von diesen Techniken Entwicklungsreihen zum Computer und zum Netzwerk gäbe. Es ist keineswegs gleichgültig, welche dieser Formeln hier benutzt wird, um gegebene „Unterscheidungen und Bezeichnungen sozialer Formen [...]

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Vgl. Innis: „Tendenzen der Kommunikation“. Hugill: Global Communications since 1844, S. 4. Ebd., S. 4. So auch Schmitt: Völkerrechtliche Großraumordnung, S. 36. Barabási: The New Science of Networks, S. 7. Ich danke Erhard Schüttpelz für diesen Hinweis und die inhärente Problematik des „All des Alles“. 16 Luhmann: Soziale Systeme. 17 Baecker: Form und Formen der Kommunikation, S. 198, 234.

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ihrerseits zu beschreiben“18, denn die Verwendung einer bestimmten Beschreibungsformel wirkt, wie Baecker zeigt, auf die weitere Kommunikation als „Konditionierung“19. Der Beobachter, der mit einer solchen Formel operiert, wird seine weiteren Beschreibungen an der „Identität“ dieser Formel orientieren und Abweichungen zu kontrollieren suchen. Die „Freiheitsgrade“ seiner Beschreibungen werden also limitiert, und es entsteht so etwas wie eine evolutionäre Drift oder eine Normalisierung, die Konsequenzen zeitigt für die derartig beschriebene Gesellschaft selbst.20 Dies wird bei Baeckers Beschreibungen der Gesellschaft als „Netzwerkgesellschaft“ deutlich, da ihn sein Verständnis dieser Formel dazu bringt, die „funktional differenzierte Gesellschaft“ der Moderne einer vergangenen oder doch gerade vergehenden Epoche zuzuschlagen.21 Die wichtigste soziale Ressource in der postfunktionalen Gesellschaft sei, so Baecker, nicht länger die „Sachkompetenz“ von Personen in Funktionsrollen, sondern die „Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme“.22 Wenn diese Selbstbeschreibungsformel der „Netzwerkgesellschaft“ in Lehre und Forschung, Politik- und Unternehmensberatung oder Massenmedien eingeht und überzeugt oder doch andere Formeln verdrängt, würde sich nicht nur unsere Vorstellung von dem ändern, was unsere Gesellschaft als Gesellschaft ausmacht, sondern auch die Gesellschaft selbst hätte sich gewandelt; man hätte dann vielleicht andere Rekrutierungsprogramme oder verlöre beispielsweise die Scheu davor, in die Eigengesetzlichkeit von Funktionssystemen zu intervenieren. Das Bild der funktionsdifferenzierten Gesellschaft Luhmanns verblasste vor dem Ausblick auf eine Gesellschaft vernetzter Verbünde. Anzudeuten, dass die Eigentümlichkeit unserer Gesellschaft, nämlich ihre „soziale Form“, nicht länger in der „allzu sachlichen Differenzierung der Funktionssysteme“ liege, sondern in der Positionierung von Beobachtern in Netzwerken, geht für einen Systemtheoretiker ja recht weit. Der dieser Selbstbeschreibungsformel zugeschriebene Geocode ist ebenfalls ein ganz anderer, denn der Netzbegriff lässt sich zumindest bei Baecker von der Raumdimension der Kommunikation nicht trennen; diese Raumdimension hatte Luhmann selbst in der Epoche funktionaler Differenzierung für unerheblich oder für eine Bagatelle gehalten.23 18 19 20 21 22

Ebd., S. 139. Ebd., S. 140. Ebd., S. 140f. Ebd., S. 136, 234. Ebd., S. 234. Luhmann bezieht dagegen „Verantwortung“ nicht auf die Form sozialer Differenzierung schlechthin, auf Gesellschaft, sondern auf Organisationssysteme. In Organisationen kann man Personen Stellen und Entscheidungen beidem zurechnen, daher kann Verantwortung für etwas übernommen werden. Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 837. 23 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 152. Vgl. auch Werber: „Von der Bagatellisierung des Raums“.

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Ich habe dieses Beispiel angeführt, um erstens zu demonstrieren, dass die Frage nach der Selbstbeschreibung der Gesellschaft auf ein Problem zielt, das über die Grenzen des Wissenschaftssystems hinaus die gesamte Welt der Kommunikation betrifft. Der zweite Grund ist der, dass ich zeigen möchte, dass Selbstbeschreibungsformeln, die mit einer medientechnischen Referenz ausgestattet werden, von besonderer Relevanz sind, weil sie mit ihrem Verweis etwa auf Computer oder eben Netzwerke ein Maß an semantischer Plausibilität generieren,24 das anderen Formeln abgeht. Worauf sie verweisen: Computer und Netzwerke, das scheint es immerhin massenhaft und unzweifelhaft zu geben, was man von einer ohne Menschen, dafür aber binär codiert kommunizierenden, funktionsdifferenzierten, autopoietischen Gesellschaft jenseits der Soziologie nicht ohne weiteres anzunehmen bereit ist. Zudem scheint ein Computernetzwerk überall auf der Welt der gleichen protokollarischen Schaltungslogik zu folgen.25 Hier muss nichts kulturspezifisch relativiert und historisiert werden. Der Computer, der an jedem Ort der Welt derselbe sei, versorgt die Formel mit einer Objektivität, die kulturalistischen Selbstbeschreibungsformeln abgeht. Diese wie immer problematische Evidenz könnte die Attraktivität technoider Selbstbeschreibungsformeln erklären. Drittens artikulieren die Medientechnologien, auf die Formeln wie die der Netzwerkgesellschaft verweisen, immer Aussagen über den Raum der Gesellschaft. Dass es sich bei Medien der Telekommunikation und des Verkehrs um „raumüberwindende Mächte“ handelt, hat die deutsche Vorkriegsgeopolitik stets mit Nachdruck behauptet.26 Schon die Provenienz dieser These, die von Autoren wie Karl Haushofer und Carl Schmitt vertreten worden ist, legt die Vermutung nahe, dass die medientechnische Bemächtigung des Raums auch Formen der politischen Codierung des Raums einschließt. Die Medien, die den Selbstbeschreibungsformeln ihre Evidenz verleihen, artikulieren also auch stets – vermittelt über ihr je besonderes Verhältnis zum geopolitischen Raum – einen bestimmten Geocode. In den technischen Netzwerken (Strom, Gas, Wasser, etc.) der industriellen Ballungsgebiete findet Schmitt beispielsweise ein Vorbild für sein geopolitisches Konzept der Großraumordnung. Diese Medien verhalten sich keineswegs gesellschaftlich neutral, wie dies beispielsweise Claude Shannon und Warren Weaver wirkungsmächtig mit ihrem Vergleich von Medientechniken mit einer guten und diskreten Post formuliert haben.27 Vielmehr rufen die Medien innerhalb eines 24 25 26 27

Vgl. Luhmann: Einführung in die Theorie der Gesellschaft, S. 290. Vgl. Galloway: Protocol. Vgl. Haushofer: Raumüberwindende Mächte. Verglichen wird die Medientechnologie mit einem „guten und diskreten Postangestellten“, der jede Sendung ausliefert. (Pias: „Zeit der Kybernetik“, S. 428.) An dieser Neutralität hat bereits Schmitt gezweifelt: Technik erwecke zwar den Anschein des Neutralen, „scheinbar gibt es nichts

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semantischen Gefüges ein bestimmtes Verhältnis von Macht und Raum auf, das den gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen, die auf diese Medien verweisen, gleichsam injiziert wird. Ich werde diese Immanenz eines Geocodes der Medien am Beispiel der Netzwerkgesellschaft weiter verfolgen. Bevor ich auf diese Formel eingehe, möchte ich einige allgemeine Bemerkungen zum Feld machen, auf dem ich mich bewege: den Selbstbeschreibungssemantiken der Gesellschaft.

3 Was sind Selbstbeschreibungsformeln? In welcher Gesellschaft wir leben, hängt nicht zuletzt davon ab, welche Beschreibung von ihr als passend gilt. Beschreibungen der Gesellschaft können nur innerhalb der Gesellschaft angefertigt werden, daher handelt es sich bei ihnen um Selbstbeschreibungen. Außensichten auf die Gesellschaft sind damit ausgeschlossen. Der Begriff meint auch nicht jene Art von Selbstbeschreibung, deren Gegenbegriff in der Systemtheorie die Fremdbeschreibung wäre, so wie etwa metapoetische Passagen literarischer Texte Selbstbeschreibungen des Literatursystems genannt werden könnten und ästhetische Beobachtungen der Literatur durch die Philosophie Fremdbeschreibungen hervorbrächten. Es geht mir vielmehr um Formeln, die aufs Ganze zielen: In der Zeitdimension versuchen sie das epochal Eigentümliche zu fassen, in der Raumdimension das mit Blick auf die ganze Welt Generalisierungsfähige. Keine Schicht, Klasse, Gruppe, Ethnie oder Gemeinschaft wird von dieser Formel ausgeschlossen (Sozialdimension), und keine Ungleichzeitigkeit regionaler Sonderentwicklungen kann Ausnahmen erklären (Zeitdimension). Gesellschaft meint hier ganz im Sinne von Niklas Luhmann und Rudolf Stichweh Weltgesellschaft als Singularetantum; es gibt keine anderen Gesellschaften auf Erden außer der einen, in deren Rahmen alle funktionsdifferenzierten Kommunikationssysteme wie Wirtschaft und Politik, Kunst und Religion, Recht und Wissenschaft operieren. Kein Funktionssystem lässt sich auf bestimmte Territorien beschränken, keine Information lässt sich so mitteilen, dass ihre Form jede Anschlußfähigkeit außerhalb eines bestimmten Gebietes ausschlösse. Ich halte Weltgesellschaft im

Neutraleres als die Technik. Sie dient jedem so, wie der Rundfunk für Nachrichten aller Art und jeden Inhalts zu gebrauchen ist, oder wie die Post ihre Sendungen ohne Rücksicht auf den Inhalt befördert und sich aus der Technik des Postbetriebes kein Kriterium für die Bewertung und Beurteilung der beförderten Sendungen ergeben kann.“ Dieser Eindruck sei indes falsch. „Die Technik ist immer nur Instrument und Waffe, und eben weil sie jedem dient, ist sie nicht neutral“. (Schmitt: Der Begriff des Politischen, S. 89f.)

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nüchternen Sinne „weltweiter Anschlußfähigkeit von Kommunikationen“28 für eine empirische Tatsache. So banal diese Feststellung auch sein mag, so bleibt der Bezug von Selbstbeschreibungsformeln auf die Weltgesellschaft nicht ohne Folgen. Die wichtigste Konsequenz scheint mir darin zu bestehen, dass sich diese Formeln nicht auf territorial begrenzbare Objekte beziehen, auf deren anderer Seite etwas völlig anderes zu finden wäre – z.B. Barbaren, das Böse oder sonst etwas, das mit der eigenen Gesellschaft nichts zu tun haben soll. Seit der Antike hat man ganze Weltteile ausgegrenzt und ihre Populationen als barbarisch, heidnisch oder kannibalisch aus der hellenischen, christlichen oder kultivierten Menschheit ausgeschlossen, ohne dass in diesen Konstruktionen Platz gewesen wäre für den Gedanken, dass beispielsweise „die Barbaren nur für die Griechen, nicht aber für sich selbst Barbaren sind“29. Räumliche Unterscheidungen, die im Inneren eines bestimmten Territoriums alles Substantielle verorten und jenseits der Grenzen nur Depravationen, Sünde, Unwesentliches oder Niedriges auszumachen vermögen, haben in Alteuropa überzeugt, nun aber ihre semantische Plausibilität verloren.30 Bereits Campanellas Solarier würden in „Barbaren“ oder „Heiden“ nicht mehr das schlechthin „Andere“ sehen,31 sondern Nationen, die man bekehren und zivilisieren kann,32 oder auch Feinde, die man zuvor bekämpft und besiegt. Kampf und Bekehrung finden „in ein und derselben“ Weltgesellschaft statt,33 wo auch sonst. Wenn es keine Kommunikation, keine soziale Ordnung und folglich auch keine Konflikte oder Konsense jenseits der Weltgesellschaft gibt, dann stehen auch ihre Selbstbeschreibungen unter dem Anspruch, das Gesamtsystem zu repräsentieren, statt Ethnien oder Räume ins Extramundane zu verlegen. Dass andere Rassen, Klassen oder Sozialformen kein Teil der Weltgesellschaft wären und in keinem kommunikativen Zusammenhang mit uns stünden, könnten selbst jene Beobachter nur schlecht behaupten, welche dezidiert auf „Nichtintegrierbarkeit und Differenz“ der regionalen „Lebensverhältnisse“ setzen, denn auch diese Weltbeschreibung setzt Weltgesellschaft voraus.34 Eine andere oder zweite Gesellschaft, die für politische, ökonomische, rechtliche, wissenschaftliche oder religiöse Kommunikationen unserer Gesellschaft nicht erreichbar wäre, existiert also nicht.

Stichweh: Die Weltgesellschaft, S. 54. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 955. Vgl. Luhmann: Einführung in die Theorie der Gesellschaft, S. 290. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 954. Vgl. ebd., S. 955. Nassehi: „Der Erste Welt-Krieg oder: Der Beobachter als revolutionäres Subjekt“, S. 190. 34 Ebd., S. 194.

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Wie auch immer man sich sonst die Gesellschaft vorstellen mag, riskant oder normalisierend, geordnet oder chaotisch, jede Selbstbeschreibung der Gesellschaft (und nicht einer Nation, einer regionalen Kultur, etc.) beansprucht daher globale Reichweite und muss alle Ausnahmen einschließen, denn weder die Risikogesellschaft oder Kontrollgesellschaft noch die Informations- oder Netzwerkgesellschaft hören an einem Fluß oder an einem Gebirge auf, die man dann überquerte, um in eine andere Gesellschaft (ohne Informationen oder Risiken) zu gelangen. Dass es diese Weltgesellschaft gibt, setzt global operierende Verbreitungsmedien und Verkehrsmittel voraus, lässt jedoch noch offen, welche Medien dies sind und wie sie benutzt und beschrieben werden – etwa als Medien der Verständigung oder als Medien des Krieges.35 Welchen Geocode sie implementieren, hängt völlig vom bias der Selbstbeschreibungssemantik ab, welche die Medien verhandeln. Selbstbeschreibungen der Weltgesellschaft müssen, um zu passen, wie Niklas Luhmann formuliert,36 der Tatsache gerecht werden, „dass auf dem Erdball nur eine einzige Gesellschaft existiert“37. Dies schließt regionale Kommunikationsstile und selbst größte Unterschiede keineswegs aus, sondern bestreitet nur, dass es territoriale Grenzen auf Erden gäbe, hinter denen alle Kommunikation aufhört.38 Es ist so, wie der britische Geopolitiker Halford J. Mackinder in seinem berühmten Aufsatz The Geographical Pivot of History aus dem Jahre 1904 feststellt: alles, was immer auch passiere, werde „re-echoed from the far side of the globe“39 und löse mithin, zumindest potentiell, weltweite Konsequenzen aus. Der Anforderung an Selbstbeschreibungen der Gesellschaft, das Ganze zu repräsentieren, ist freilich aus einem einfachen Grunde unmöglich gerecht zu werden. Jede Beschreibung der Gesellschaft wird innerhalb der Gesellschaft verfertigt, und daher kann die „Komplexität des Gesamtsystems nur durch gezielte Reduktionen im System“ wieder zugänglich gemacht werden.40 Man greift daher, folgert Luhmann, auf „spektakuläre Merkmale“ zurück, mit denen man das Charakteristische exemplarisch einzufangen sucht. Luhmann führt Beschreibungsformeln wie die der „Informationsgesellschaft“ und „Risikogesellschaft“ als Beispiele an. Einerseits fassen diese Formeln selbstverständlich nur „Einzelphänomene ins Auge“,41 andererseits vermeiden sie aber, Regionen, soziale Räume oder Gruppen mit dieser Selbstbeschreibungsformel aus der Weltgesellschaft auszuschließen. Die Formeln sind vielmehr hochinklusiv (oder 35 36 37 38 39 40 41

Werber: „Medien des Krieges“. Vgl. Luhmann: Einführung in die Theorie der Gesellschaft, S. 290. Ebd., S. 67. Vgl. ebd., S. 69. Mackinder: „The Geographical Pivot of History“, S. 422. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1088. Ebd., S. 1089.

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nichtnegationsfähig inklusiv): was immer man auch an Ausnahmen anführen wollte, wird man gleichwohl als „Information“ beschreiben oder irgendwie auf das „Risiko“ von Handeln oder Nichthandeln zurückführen können. Es handelt sich hier, wie Luhmann erläutert, um Universalbegriffe, die nichts ausschließen.42 Für mein Vorhaben sind diese Formeln daher uninteressant, denn sie unterhalten auch aufgrund ihrer Universalität ein indifferentes Verhältnis zum Problem der medialen Codierung des Raums.

4 Versionen der Netzsemantik und ihre sozialen und räumlichen Implikationen Ich halte im Vergleich zu diesen Formeln den Begriff des Netzwerks, auf den sich zahlreiche Beschreibungsversuche der Weltgesellschaft stützen, für interessanter, denn es liegen vollkommen unterschiedliche Ausdeutungen dieser Formel vor, obgleich oft auf dieselben Medien und Techniken verwiesen wird, vor allem auf Infrastruktur der Telekommunikation, Energieversorgung oder Logistik und soziale Organisationsformen, die diese Strukturen nutzen. „Die Nachrichtentechniker haben Größe und Gestalt der Erde verwandelt“, stellt Colin Cherry in seinem Überblick über die Kommunikationsforschung seiner Zeit im Jahre 1957 fest.43 Er fügt hinzu, dass insbesondere die „Netzwerke“ der „erdumspannenden Leitungen – Telephonleitungen, Unterwasserkabel, Radioverbindungen, Postverkehr – auf unsere sozialen Organisationen und Muster eine tiefgreifende Wirkung“ ausübten.44 Erhard Schüttpelz hat die Kommunikationstheorie des britischen Ingenieurs in seiner Archäologie des Netzwerkbegriffs umfassend gewürdigt. Er vertritt dort die These, bereits Cherry habe gezeigt, dass die Netzsemantik von der Annahme einer „Isomorphie von sozialen, elektrischen und telekommunikativen Netzwerken“ getragen werde. Die zu beschreibende „soziale Situation“ werde von Cherry in Analogie zu einem „elektrischen Netzwerk“ und seinen digitalen Ein-Aus-Schaltungen verstanden.45 Schüttpelz findet in Cherry so einen frühen wie faszinierenden Vertreter einer „Theorie soziotechnischer Verbünde“. Sein Kronzeuge gibt zugleich aber ein tiefes Misstrauen an der Tragfähigkeit solcher „Analogien“ zwischen technischen und sozialen Netzwerken zu Protokoll und vergleicht die Auffassung sozialer Organisation mittels technischer und

42 43 44 45

Ebd., S. 1093. Cherry: Kommunikationsforschung, S. 15. Ebd., S. 37. Schüttpelz: „Ein absoluter Begriff“, S. 33.

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statistischer Netzwerk- und Rückkopplungstheorien mit sozialdarwinistischen Sozialtheorien des 19. Jahrhunderts.46 Beschreibungen sozialer Netzwerke, die auf elektronischen Logiken basieren, abstrahierten vor allem von der Zeit und folglich von Geschichte, meint Cherry.47 Bei aller Faszination für mögliche Isomorphien sozialer und elektrischer Netzwerke, die sich aus einer kommunikationstechnischen Perspektive ergeben,48 leitet Cherry aus seiner Beschreibung avancierter technischer Netze keine bestimmte Prognose einer künftigen sozialen Entwicklung ab, zumal er weiß, dass unterschiedlichste Ordnungsmuster (etwa auch: Diktatur, Kartell, Bürokratie) formal als Netzwerk beschreibbar sind.49 Dies unterscheidet ihn von zahllosen NetzwerkDenkern, welche die technische Struktur der Netzwerke mit einem Geocode ausstatten. In der Selbstbeschreibungsgeschichte unserer Gesellschaft sind es schon seit hundert Jahren oft gerade die technischen Anteile, deren Weiterentwicklung die soziale Evolution vorantreiben und das Verhältnis der Gesellschaft zum Raum verändern. Bereits Herbert Casson verweist in seiner Monographie über das Telefon aus dem Jahre 1910 auf die „agency of electricity“, die weltweit menschheitsgeschichtlich Epoche gemacht habe: „Who could have foreseen what the telephone bells have done to ring out the old ways and to ring in the new; to ring out delay and isolation and to ring in the efficiency and the friendliness of a truly united people?“50 Auch für Michael Geistbeck, den Archivar des „Weltverkehrs“, zeitigt die Errichtung eines „Weltnetzes“ der Telekommunikation epochale soziale Wirkungen, deren Telos er aus dem Verbundcharakter des Weltverkehrs deduziert:51 „Man wird [...] nicht fehlgehen, wenn man Eisenbahnen und Telegraphen einen wesentlichen Anteil beimißt an der der Zeit eigenen Tendenz zur Bildung von Großstaaten und zur staatlichen Zusammenfassung von Nationen. Die Gleichartigkeit und die Verdichtung der Interessen auf dem durch die Verkehrsmittel erweiterten wirtschaftlichen Gebiete verträgt nicht dessen Stückelung in staatliche Kleingebilde.“52

Den „modernen“ Weltverkehrsmitteln sei die Tendenz eingeschrieben, den „Handel zum Welthandel“ und die „Volkswirtschaft zur Weltwirtschaft“ zu heben und damit letztlich auch den „Widerstreit der Nationen zu begleichen und die friedlich gewordenen Völker zu Weltstaaten zu vereinigen“. 46 47 48 49 50 51 52

Cherry: Kommunikationsforschung, S. 42. Vgl. insgesamt S. 34-48. Ebd., S. 41f. Ebd., S. 44f. Ebd., S. 47. Casson: The History of the Telephone, S. 298f. Geistbeck: Weltverkehr, S. 499. Ebd., S. 536.

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Aus dem Weltverkehr gehe eine „Gesellschaft“ hervor, deren Pendant nicht mehr Staaten oder Nationen seien, sondern die „gesamte Menschheit“.53 Medien werden so mit einem sozialen bias ausgestattet: Das Weltnetz der Telekommunikation wird um 1900 mit einer evolutionären sozialen Kraft (agency) begabt, die noch hundert Jahre später in der InternetSemantik fortlebt. Michael Hardt und Antonio Negri verweisen notorisch auf die „rhizomatische“ Struktur des Netzes der Netze, um ihre politischen Erwartungen mit einer isomorphen medientechnischen Referenz zu plausibilisieren.54 Die Raumdimension dieser Beschreibungen ist schwer zu übersehen: Casson und Geistbeck gehen wie Hardt und Negri von der Globalität der Netze aus. Zugleich sind erhebliche Unterschiede im Detail zu konstatieren: Geistbecks Medien des Weltverkehrs sind Instrumente der Territorialisierung. Sie fördern die „Verdichtung“ innerhalb von „Großstaaten“ und überwinden jede hemmende „Stückelung“.55 Das Internet Hardts und Negris firmiert dagegen als Agent der Deterritorialisierung.56 Ein elektronisches, digitales Netz wird einhellig mit sozial-evolutionärer Energie aufgeladen, doch implizieren diese vom Netz initiierten Entwicklungen völlig unterschiedliche räumliche Konzepte. Der jeweilige Geocode der Netze ist also weniger eine Folge technischer Schaltungen als der Einbettung der Medienkonzepte in Selbstbeschreibungssemantiken, die aufs Ganze zielen: auf die Welt des Weltverkehrs bei Geistbeck oder die Ordnung der Weltordnung bei Hardt und Negri.57 Ein gravierender Unterschied zwischen den unterschiedlichen Netzen der Netzwerkgesellschaft liegt in der Raumdimension. Eine semantische Variante setzt auf die Totalerfassung der Welt, eine andere lässt Zwischenräume. In der „Struktur eines Netzwerks [...] liegt die Möglichkeit des Übergangs vom Lokalen zum Globalen“, doch kennt jedes Netz notwendig „Leerstellen“.58 Das Eisenbahnnetz, das Netz der Airlines und Pipelines, das Telefonnetz, das Strom- oder Gasverbundnetz mag zwar ganze Kontinente mit Knoten und Verbindungen überziehen, doch lässt es gewaltige Lücken. Es setzt auf Anschlussfähigkeit, nicht auf rest- und lückenlose Integration. Carl Schmitts Formel „ab integro nascitur ordo“,59 aus der eine homogene, deutsch-europäische Großraumordnung zumindest auf dem Papier seiner Texte entsteht, hat die Zwischenräume dieser Netze schlicht ignoriert: Sein „zusammenhängender Leistungsraum“ „menschlicher Pla-

53 54 55 56 57 58

Ebd., S. 545. Hardt/Negri: Empire, S. 310. Geistbeck: Weltverkehr, S. 536. Hardt/Negri: Empire, S. 310. Vgl. ebd., S. 19ff. Krajewski: Restlosigkeit, S. 50, 53. Vgl. auch Latour: Wir sind nie modern gewesen. 59 Schmitt: Der Begriff des Politischen, S. 95.

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nung, Organisation und Aktivität“ lässt sich keine Kraft, kein „kleinräumiges Netz“ entgehen und überwindet jede „kleinräumige Isoliertheit“.60 Schmitts Netz kennt keine Zwischenräume. Es überwindet, wie Geistbecks Weltverkehrsnetz, jede kleinräumliche Stückelung. All das, was in den Netzen nicht repräsentiert und verarbeitet werde, existiere dagegen laut Hartmut Böhme im „Dazwischen“, das schließlich „auch kein schlechter Ort“ sei.61 Auch Böhme verweist in seiner Analyse zunächst auf das „Internet“, welches das „erste Globalnetz“ sei, das „alle anderen kulturellen Netze zu integrieren vermag“, betont dann aber wie Latour den Unterschied zwischen Universalität und Globalität. „Netze sind Netze dadurch, dass sie gerade nicht Flächen decken oder Räume erfüllen, sondern sie heben sich von einem Dazwischen ab, das ein Nicht-Netz ist.“62 Dass gerade diese vom Netz selbst nicht definierten Zwischenräume „konstitutiv für das Netz“ sind, vermag Schmitt nicht zu denken, was niemanden überraschen mag; aber auch Hardt und Negri, die im Netzwerk eine wunderbare Vorlage für eine „demokratische“, „nicht-hierarchische und nichtzentralisierte“ Gesellschaft finden, kümmern sich wenig um das konstitutive „Dazwischen“ der Netze, denn dieses Andere der Netze wäre ja womöglich politisch nicht so wünschenswert. Auch die Netzwerkgesellschaft sieht also, je nach Beschreibungssemantik, ganz anders aus – restlos integriert bei Schmitt, deterritorialisiert bei Hardt und Negri, voller interessanter Heterotopien bei Böhme. Dies macht die Formel interessant, denn offenbar gibt es konfligierende Varianten, die den Grundanforderungen der Weltgesellschaftstheorie gleichermaßen genügen, aber sich dennoch erstens gegenseitig ausschließen oder bestreiten und zweitens den Raum der Weltgesellschaft unterschiedlich codieren. Ob man nun die Welt in Großraumordnungen einteilt, die von Mächten beherrscht werden, die sich jede Intervention in ihre Einflußsphären verbitten und ihrerseits von jeder Intervention absehen,63 oder ob die „Weltgesellschaft“ als netzförmige „Megastruktur“ beschrieben wird,64 die heterotope Zwischenräume ausweist, macht einen erheblichen Unterschied im Geocode der Medien aus.

5 Der Geocode der Netzwerkgesellschaft Leben wir also in einer Netzwerkgesellschaft? Und wenn ja, würden die sozialen Konstruktionen des Raums von den Vorgaben dieser gesellschaftlichen Selbstbeschreibungsformel abhängen, weil diese wiederum 60 61 62 63 64

Schmitt: Völkerrechtliche Großraumordnung, S. 13. Böhme: „Einführung“, S. 21f, 36. Ebd., S. 21. Vgl. Schmitt: Völkerrechtliche Großraumordnung. Böhme: „Einführung“, S. 21.

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die Skripte dafür liefert, nach denen Beschreibungen jener Medien und Räume verfertigt würden, auf die sich die Selbstbeschreibungssemantik stützt? Die Struktur wäre zirkulär. Wenn, wie Böhme feststellt, Netze die „Episteme der Moderne“ ausmachen, wie kann es dann gelingen, überhaupt etwas über die Netze selbst als „materiell-technische Systeme“ auszusagen, die doch zugleich der „material wirksame“ Grund der Episteme sein sollen?65 Die von Schüttpelz beobachtete Isomorphie wäre daraufhin zu befragen, ob elektronische und telekommunikative Netzwerke die Beschreibung der Gesellschaft derart modellieren, dass sie aus sozialen Netzwerken zu bestehen scheint, deren Analogie zu den medialen Netzwerken signifikant ist. Oder werden umgekehrt die technischen Infrastrukturen nach dem Muster einer bestimmten Netzwerksemantik beschrieben, die die Technologien mit all dem ausstattet, was dann ihre Isomorphie zu begründen vermag? Haben wir es mit einem semantischen oder mit einem medialen bias zu tun? Offenbar generiert eine Selbstbeschreibungsformel wie die der Netzwerkgesellschaft eine passende Netzwerkdefinition, an deren medialer Dimension die Selbstbeschreibungsformel dann Halt findet. Der Geocode der Medien hängt mithin nicht nur von den Medien ab, sondern auch von der Semantik, die Beschreibungen dieser Medien produziert. Ich möchte nun die Selbstbeschreibungsformel Netzwerkgesellschaft zu beschreiben versuchen mit Blick auf semantische Traditionen, bestimmte materielltechnische Medien mit einem bestimmten Geocode zu verknüpfen. Die „neue elektronische Umwelt“ umgebe uns als „Netz allgegenwärtiger Energie, die unaufhörlich in unser Nervensystem eindringt“.66 Herbert Marshall McLuhan hat die „neue Welt des globalen Dorfes“67 als Folge der „Aufhebung des Raumes“ in den elektronischen Medien verstanden: „Die wichtigsten Faktoren des Einflusses von Medien auf bestehende Gesellschaftsformen sind Beschleunigung und Aufteilung. Heute ist die Beschleunigung fast total und macht so dem Raum als Hauptfaktor der sozialen Ordnung ein Ende.“68 Die „Zentrum-Peripherie-Struktur“ der Weltordnung (erste Welt/dritte Welt, Metropolen/Provinz) mache einer mediengestützten „Homogenität“ platz. „Peripherien hören auf unserem Planeten auf zu existieren.“69 Das in der Differenz von Peripherie und Zentrum angelegte Machtgefälle verliere also seinen Halt. Der Geocode der Medien bestünde in dieser Form also in der Aufhebung traditioneller geopolitischer Codierungen. Erst diese Medientheorie und ihr enormer Erfolg in den Kulturwissenschaften machen übrigens einen spatial turn 65 66 67 68 69

Ebd., S. 31. McLuhan: „Krieg und Frieden im globalen Dorf“, S. 164. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 113. Ebd., S. 115. Ebd., S. 111.

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überhaupt notwendig. Neben dem immer noch viel zitierten McLuhan ist Manuel Castells’ Untersuchung zur Netzwerkgesellschaft von großem Einfluss70 auf die Bestimmung eines Geocodes der Medien: „Mein Ausgangspunkt ist die Annahme, mit der ich nicht allein stehe, dass wir am Ende des 20. Jahrhunderts eines dieser seltenen historischen Intervalle durchlebt haben. Dieses Intervall war bestimmt von der Transformation unserer „materiellen Kultur“ durch die Auswirkungen eines neuen technologischen Paradigmas, das um die Informationstechnologien herum organisiert ist.“71

Es sind technische Medien, die hier gesellschaftlich Epoche machen. Dies ist typisch für die Gewinnung von Plausibilität und die Begründung von Entwicklung: „Die neuen Informationstechnologien integrieren die Welt in globale Netzwerke [...]. Die von Computern vermittelte Kommunikation bringt eine unüberschaubare Anzahl virtueller Gemeinschaften hervor.“72 Bei Carl Schmitt ist das Netz der technische Vorläufer des Reichs. Bei Castells bringt das Netz eine neue Form der Gemeinschaft hervor, die ihr Neues und Bezeichnendes einer nicht näher spezifizierten computervermittelten Kommunikation zu verdanken habe – statt sozialen Praktiken, die sich dieser oder jener Informationstechnologie auf die unterschiedlichste Art bedienten. Castells deduziert nun in einer waghalsigen Argumentation aus dem „Begriff des Netzwerks“, die lichtschnellen Informationsströme des Nirgendwo der Netze konfigurierten „die herrschenden Prozesse und Funktionen in unseren Gesellschaften“.73 Innerhalb eines Netzwerks sei die „physische, soziale, wirtschaftliche, politische, kulturelle Distanz“ zwischen beliebigen Positionen „Null“. Der Netzwerkbegriff wird hier ganz deutlich vom Begriff der Organisation abgesetzt, der ohne hierarchische oder Zentrum-Peripherie-Unterscheidungen oder andere Weisen der „Ebenendifferenzierung“ und „Kompetenzverteilung“ nicht auskommt.74 Die Distanzen, die Castells anführt, werden laut Luhmann genutzt zur Binnendifferenzierung oder auch zur Selbstorganisation einer Organisation. Bei Castells fallen diese Differenzen weg, sie machen keinen Unterschied, sind also nicht länger informativ. „Physische, soziale, wirtschaftliche, politische, kulturelle“ Unterschiede zählen also nichts. Wie nicht anders zu erwarten, sind die Implikationen dieses Netzwerkbegriffs schier ungeheuerlich. Ohne die technische Ebene der Netzwerke weiter zu beachten oder gar zu differenzieren, behauptet Castells, dass alles, was unsere 70 Vgl. Gendolla/Schäfer: „Zettelkastens Traum“, S. 9; Barkhoff u.a.: Netzwerke. 71 Castells: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, S. 31. 72 Ebd., S. 23. 73 Ebd., S. 528. 74 Vgl. Luhmann: Organisation und Entscheidung, S. 323. Vgl. insbesondere das Kapitel „Die Organisation der Organisation“.

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Gesellschaft ökonomisch, politisch, kulturell, sozial tue, nunmehr von den Netzen der lichtschnell kommunizierenden Informationstechnologien „konfiguriert“ werde. Die derart formatierte soziale Welt prozessiere gänzlich anders als zuvor und in einem völlig anderen Raum, dem „Raum der Ströme“, der „Raum“ und „Zeit“ fundamental verändert habe.75 Im Medium des „Kreislaufs elektronischer Vermittlungen“ durch „mikroelektronische Geräte, Telekommunikation, computergestützte Verarbeitung, Funksysteme und Hochgeschwindigkeitstransport“ finde die Netzwerkgesellschaft die „materielle Grundlage“ ihres „Raumes der Ströme“,76 doch wird diese Materialität der Netzwerke sogleich von einer „strukturellen Logik“ des Strömens transzendiert, die ortlos und zeitlos funktioniert und daher den dreidimensionalen Raum auf- und die lineare Zeit ablöst. „Die gesellschaftliche Konstruktion der neuen herrschenden Formen von Raum und Zeit entwickelt ein Meta-Netzwerk“77, welches diese „fundamentale Dimensionen des menschlichen Lebens radikal“ transformiere. Nun folgt die These einer Bagatellisierung des Raums und der Körper, die hierzulande mit großer Konsequenz auch Norbert Bolz mit seinem Buch über Weltkommunikation vertreten hat, in dem er einen globalen „Bedeutungsschwund des Raums“ konstatiert, der aus technischen Gründen und daher unaufhaltsam in eine Weltgesellschaft führe, in der „geographische Grenzen, Geschichte (Tradition) und Nationalstaatlichkeit keine Rolle mehr spielen“, weshalb man an derartigen Begriffen nur noch „katechontisch“ oder „anachronistisch festhalten“ könne.78 Auch Castells stellt fest: „Örtlichkeiten werden entkörperlicht und verlieren ihre kulturelle, historische und geografische Bedeutung“79, während die historische Zeit von der Instantanität der Echtzeit abgelöst werde.80 Aller Austausch finde in der Immanenz eines „vernetzten, a-historischen Raumes der Ströme“ statt. Castells ergänzt seine These vom Ende des Raums mit der These vom „Ende der Geschichte“.81 Von Raum und Zeit, den „fundamentalen Dimensionen“ der menschlichen Existenz, könne nur noch metaphorisch die Rede sein, insofern in der Netzwerkgesellschaft alles überall und gleichzeitig stattfinde. Castells möchte hier keine Utopie entwerfen, sondern nimmt für sich in Anspruch, die aktuelle Lage „unserer Gesellschaft“ zu beschreiben, die sich unmittelbar aus der Verbreitung der „neuen Informationstechnologien“ ergebe, freilich ohne diese Technologien oder den implizierten Informationsbegriff näher zu untersuchen. Auf die gleiche Art legen auch Michael Hardt und Antonio Negri die Fundamente ihres 75 76 77 78 79 80 81

Castells: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, S. 467. Ebd., S. 467f. Ebd., S. 535. Bolz: Weltkommunikation, S. 53, S. 45. Castells: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, S. 535. Vgl. ebd., S. 429. Ebd., S. 484.

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Empires: „Der Aufbau der neuen Informationsinfrastruktur [...] schafft die Bedingungen globaler Produktion und Regierung.“82 Die Form dieser Globalität sei ein völlig deterritorialisiertes, unhierarchisches, translokales und aus ihrer Sicht notwendig demokratisches Netz: „Dieses demokratische Modell nannten Deleuze und Guattari Rhizom, eine nichthierarchische und nichtzentralisierte Netzwerkstruktur.“83 Die demokratische Weltgemeinschaft als Rhizom, so lautet der Geocode der Netzwerkgesellschaft Castells, Hardts und Negris. Schmitts Beschreibung der „Zusammenarbeit weiträumiger [...] Netze“ im „Verbund“, d.h. mit „rationaler Ausnutzung der Verschiedenartigkeit [...], rationaler Verteilung der verschiedenen Belastungen, Rückgriff auf einander aushelfende Reserven, Ausgleich von gesicherten und ungesicherten Leistungen und von Belastungsspitzen“,84 artikuliert eine ganz andere Form des Geocodes. Die große „Kraft der raumüberwindenden Mächte“85 führt bei Schmitt nicht ins Atopia fluider Konnektivität,86 sondern zu einem in den neuesten Erkenntnissen der Quantenphysik und der Biologie87 Halt findenden geopolitischen Zusammenhang von „Ordnung und Ortung“ in einem großdeutschen Reich und seinem „Leistungsraum“.88 Die Organisationsform auch dieses total integrierten Raums ist aber das Netz. Ganz offensichtlich sind es nicht die Techniken selbst oder ihre sogenannte Faktizität, sondern ganz bestimmte, voraussetzungsreiche Auffassungen der Medien, auf welche die verschiedenen Selbstbeschreibungsformeln der Netzwerkgesellschaft referieren. Sie plausibilisieren ganz unterschiedliche Formen der Räumlichkeit der Gesellschaft, die vom Rhizom bis zur lückenlosen Integration reichen. Der Geocode der Medien wäre also zweifach anzuschreiben: Als Semantik, deren Traditionen die Beschreibungen der Medien codiert. Und als kultureller Effekt von Medien, deren Wirkungsmacht und Struktur in den unterschiedlichsten Selbstbeschreibungsversuchen der Gesellschaft, deren Evolution Medien voraussetzt, nachgewiesen werden kann. Das Problem der medialen Codierung des Raums hinge also von der Frage ab, welchen Geocode eine Selbstbeschreibungsformel, in deren Kontext man operiert, aktiviert.

Hardt/Negri: Empire, S. 309. Ebd., S. 310. Schmitt: Völkerrechtliche Großraumordnung, S. 13. Ebd., S. 29. Willke: Atopia. Zitiert werden Max Planck und Viktor von Weizäcker. Vgl. Schmitt: Völkerrechtliche Großraumordnung, S. 80. 88 Schmitt: Völkerrechtliche Großraumordnung, S. 80ff. 82 83 84 85 86 87

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GEO-SEMANTIK Ň 183

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C ybernetic Localism: Space, Reloaded MANFRED FASSLER

„Jedenfalls verstehen wir tatsächlich nicht, wie ein Kind lernt, den Raum zu begreifen. Vielleicht beginnen wir damit, viele kleine Experimente zu machen, die zu unseren ersten ungenauen Landkarten unserer Haut führen. Als nächstes könnten wir anfangen, diese Karten mit den Bewegungen unserer Augen und Gliedmaßen in Beziehung zu setzen; zwei unterschiedliche Aktionen, die zu ähnlichen Empfindungen führen, haben wahrscheinlich dieselben Orte des Raumes passiert. Ein wichtiger Schritt bestünde darin, ein paar Agenten zu entwickeln, die einige ‚Orte‘ außerhalb der Haut ‚repräsentieren‘. Sobald andere Orte etabliert sind (der erste mag sich in Gesichtsnähe des Kindes befinden), könnte das Kind zur nächsten Stufe fortschreiten und eine Agentur aufstellen, die das Netzwerk der Beziehungen, Bahnen und Richtungen zwischen diesen Orten repräsentiert. Wenn dies geschafft ist, könnte das Netzwerk damit fortfahren, sich auszuweiten und neue Orte und Beziehungen zu umfassen. Und auch das wäre erst der Anfang.“1 Marvin Minsky „In fließenden Strukturen tritt Sensibilität an die Stelle der Pflicht.“2 Richard Sennett

Von der Bodenhaftung zur Raum-Guerilla „Nur der Himmel ist die Grenze“, heißt es immer dann, wenn bodenhaftende Raumargumentation erschöpft ist, Reichweiten zu kurz greifen, um Wunsch und Illusion endlicher oder unendlicher Präsenz zu beheimaten. 1 2

Minsky: Mentopolis, S. 114. Sennett: Die Kultur des Neuen Kapitalismus, S. 44.

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Es ist ein beliebtes Spiel mit grenzenlosen Grenzen: Weltall, Galaxis, unerreichbare Räume. Showroom der Phantasie auf dem halben Weg ins imaginierte Jenseits, ins Paradies, in die vermuteten Räume der Lichtgeschwindigkeit, des Unerlebbaren – oder: Menschen lockern für einen Moment mehr oder minder phantasievoll die Bodenverankerungen ihrer Raumvorstellungen, berühren kurz die Grenzen der Unerreichbarkeit und kehren wieder zurück in die Behausung zwischen Himmel und Erde und treten auf der Stelle, nisten sich ein in den fiktionalen Körper irgendeines Raumes. Weitreichende Vorstellungen werden in Anschauung gewandelt, in sinnliche und metrische Sicherheit, in Selbstorganisation, Selbstkontrolle, Anwesenheitspflicht. Die Dramaturgie dieses fiktionalen Raumkörpers besteht in den formalisierten Zuordnungs- und Platzierungsversprechen, in Ordnungserwartung und Passierscheinen. Es wird so getan, als sei Raum die Behausung für Kontext, dessen Hülle. Veränderungen von innen prallen an den Innenflächen, Anfragen von außen an den Außenflächen derselben Grenzwand ab. Ob halbdurchlässig, ob mit Portalen geregelten Ein- und Auslasses versehen, ob durchlöchert, durchsichtig, abweisend, die Frage lautet immer: Worin besteht die Grenze eines Raumes? Wann wird sie von wem womit gemacht? Bestimmt Grenze Raum oder umgekehrt? Ist Raum Prozess oder erzeugen Mensch-UmweltInteraktionen die Raumoption, als kolaterales Ereignis, als zentrales Ergebnis? Warum und wie gelingen unsichtbare Grenzen im Alltag? Welche sinnlich-kognitiven oder unsinnlich-kognitiven Leistungen sind für Raumglauben erforderlich? Hat Grenze irgendeine Beziehung zur Innenwelt? Oder: Woraus bestehen Raumgrenzen? Worin unterscheiden sich materiale, mediale, informationelle, juristische, ökonomische, sprachliche Räume? Was haben sie gemeinsam?3 Als der christlich-abendländische spacio, espacio, space den aristotelischen topos und die platonische chora im ausgehenden Mittelalter ablösten, war dies ein Schritt, Ordnung lokal, räumlich und institutionell anwesend und sichtbar zu machen. Die offenen Lauf- und Kampfbahnen des spatium, irgendwo zwischen zwei oder mehreren Orten (man erinnere sich an Marathon), wurden nicht nur architektonisch geschlossen – was ja schon durch Arenen geschehen war. Raum wurde in exklusiven Gebäuden figuriert und durch Grenzregime von territorialer Macht, die von diesen Gebäuden (Schlössern, Burgen, Klöstern, ummauerten Städten) ausging, in der Tiefe des Territoriums geschlossen. Beginnende protomoderne Vergesellschaftungsformen nahmen sich den Platz, den sie brauchten, und schufen unter Bedingungen der Siedlung, der stehenden Heere, der ansässigen Machtfunktionen, der verstreuten Marktplätze Raum, der als Verwaltungs-

3

Ein Sammelband von Jörg Dünne und Stephan Günzel gibt einen Überblick über die immer wieder begonnenen Versuche, Raum besprechbar und bedenkbar zu machen. Vgl. Dünne/Günzel: Raumtheorie.

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raum organisiert werden konnte. So entstand eine kulturell dauerhaft wirksame Matrix der Verteilung durch horizontale und vertikale Belegung von Raummacht. Raum wurde Ordnungsmodul. Gebäude und Figuren, feste Siedlungsräume, unverrückbare Wege und Lichtungen, gerodete Felder, Grenz- und Marksteine fügten sich zur Bodenhaftung von Raum zusammen. Die Wachtürme der Repräsentation (Kirchtürme, Schlosstürme) berührten den legitimationsfreien Raum göttlicher Unendlichkeit, und die Grenzsteine festgelegter Territorialmacht markierten Herrschaft über die euklidischen, also irdischen Maßstäbe. Das geregelte, disziplinierte Innenleben von Raum machte diesen zum Machtschalter. Michel Foucault schrieb in Überwachen und Strafen zur „Kunst der Verteilung“: „Die Disziplin macht sich zunächst an die Verteilung der Individuen im Raum.“4 Das Raum-Modul wurde in der Sichtbarkeit repräsentativen Raumes der Kirche, des Doms, des Palastes, des Reiches bekräftigt. Raum wurde als Anwesenheitsraum konstruiert, ausgestattet mit den Insignien der Repräsentation. Mit diesem Schritt wird die Idee von Raum als unstrukturierte Leere, als Behältnis überlagert von der Funktion des Speichers, mit speziellen (ausschließenden) Zugangs- und Nutzungsregeln, angefüllt mit Normen, Referenzen, überlieferten Entscheidungen, als bedeutendes Wissen verdichteten Erfahrungen. Der Speicherraum (Archiv, Bibliothek, Geheimarchive etc.) wird zur zentralen Bestimmung von Raum – und ist es in etlichen informatischen Konzepten immer noch. Raum wird zum Zentrum des diachronen Denkens gekürt, in dem alles als wichtig gesetzte, alles Wesentliche erhalten wurde. Damit verbunden ist die Zusage, einen Platz in diesem Raum zu haben, wenn man sich an die Platz-Zuweisung und Nutzungs-Anweisung hält. Dieser repräsentative Speicherraum ist so betrachtet ein System der Fernkontrolle, territoriale remote control. Auf dieser Grundlage entwickeln sich visuelle, kognitive, imaginäre Sicherheiten. Dazu gehört die Zusage, zurück kommen zu können; oder das Gegenteil: die Verbote, jemals das Land, die Region, das Dorf zu verlassen. Urbanisierungsprozesse brachten diese Kopplung von Raum und Territorium nicht ins Wanken. Sie variierten sie, bis heute. Es entstanden immer mehr Speicherräume. Allerdings veränderten sich die Funktionen des Speicherns und damit die Funktionen von Raum. Die warenwirtschaftliche Intensivierung von Materialtransport/ -lagerung, Warenproduktion/-lagerung und Distribution macht das Lager auch zum Repräsentationsraum. Der Lagerraum wird das dominierende polit-ökonomische und bürgerliche Raumkonzept. Allerdings beziehen sich Repräsentation und Lager auf dasselbe Raummuster: den Speicher.5 4 5

Foucault: Überwachen und Strafen, S. 181. Mit den Just-in-time-Regelungen der Zulieferung von Material und Halbfertigwaren wird dies nur scheinbar überwunden. Die Lager sind nun nicht mehr stationäre, sondern rollen über die Autobahnen: Lastwagen als rollende Lager.

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Seit dem späten Mittelalter ging es um die expansive Macht der Stadträume, der Marktplätze und Handelsstraßen, bis hin zu den Manufakturen und Fabriken. Alles fand auf demselben Territorium statt. Auch Kanäle, Eisenbahnen, Chausseenbau, Straßenbahnen, Elektrizitätsüberlandleitungen überschritten dieses Muster der territorialen Verdrängungsprozesse nicht. Sie bekräftigten das polit-kulturelle Muster der Einhegung. Begleitet war dies von einem Wirbel linear gedachter Prozesse. Ob es um Energietransport, Material- und Warentransport, um immer kleinteilig und linear organisierte Arbeitsteilung, um Fabrik- und Fließbandproduktion, um wirtschaftlichen, kulturellen oder sozialen Fortschritt ging: die symbolträchtige Linearität versprach, dass Gegenwart in der Zukunft ankommen würde. Diese Multiplizierung der Linearität, mit der auch das 20. Jahrhundert begann, durchbrach weder die Moden des Behälterraumes noch die des Speicherraumes. Erst mit den überregionalen Telefonnetzen, den Transkontinental- und Transatlantikkabeln entstand eine neue Raumimagination: der teilnehmende Nutzer eines fernen (fremden) Raumes, in dem ein bekannter oder unbekannter Kommunikationspartner sitzt, steht, liegt.6 Man teilte sich akustisch, von Mensch zu Mensch, einen heterogenen Raum. So entstand eine kulturelle Codierung für Fernanwesenheit oder zeiteinheitliche Fernräume. Unsichtbare, unfassbare Räume – erzeugt durch kommunikative Imagination, abhängig von Akustik und Elektrizität – sind wahrnehmbar, solange die Leitung frei ist. Und zugleich entstehen Raumoptionen, die eng mit Informationsfluss, mit Nachrichtenübertragung per Morse-System, Telegraphie, Telefonie verbunden sind. Diese wenigen Anmerkungen zeigen, dass Raum immer Dienstleister der Wahrnehmung sowie der Verfügungs- und Machtansprüche war und es sein wird. Im Rückblick bestand die Funktion dieser Erfindung Raum in der kulturellen Codierung von Grenzen – im einzelmenschlichen Verhalten, im territorialen Landmaß, im Mobilitätsrecht etc. Es ging um Perception with Limits. Speicherräumliche Codes begrenzten oder untersagten (vom Kloster bis zur Fabrik) Ich-Metamorphosen. Unter Bedingungen globaler Arbeitsteilung, globaler Medien- und Informationswelten erzeugen Mobilitätsanforderungen oder Mobilitätsund Vielfaltssehnsüchte die Idee der Perception without Limits. Räumliches erhält eine Zwitterfunktion: es dient menschlicher Wahrnehmung als vorläufig stabiles Grenzformat (im Sinne der Innen/Außen-Unterscheidung oder der Zugehörigkeitsentscheidung der Inklusion/Exklusion) und zugleich als Ressource für Mobilität, Verlassen des Angestammten.

6

Vgl. Flichy: Tele; Thomas: Telefonieren in Deutschland.

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Mediamorphe Räume Unter den Bedingungen elektrisch, elektronisch und computertechnologisch beschleunigter „Mediamorphosis“7 konnten wir in den zurückliegenden drei Jahrzehnten die Einstimmung von Wahrnehmung auf scheinbar endlose Vielfalt beobachten. Es scheint, dass mit einer informationstechnologischen Reformulierung eines spatial turn die Suche nach Dauer, Kontinuität, nach vorläufig stabilen Unterscheidungsmustern außerhalb, aber auf der Basis der Endlosketten von 0/1-Differenzen begonnen hat. Raum wird interaktiv an Transporte uneinheitlich großer Datenmengen, an reaktiv-offene Interaktionsverläufe, an selektive Daten- und Informationsimporte, an kognitive Prozesse von Beginn an raumunspezifischer Verständigung gebunden. Im medialen screenage entstehen Räume, die durch kognitiv-virtuelle Anstrengungen aufgebaut werden, durch die sich Menschen in vorberechneten Raumoptionen für kurze Zeit ihren Raum bilden. Fast könnte man von einer Doppel- oder Simultanlokalisierung sprechen, durch deren Verbindung die Cyberspaces überhaupt erst entstehen. Gegenwärtig lässt sich davon sprechen, dass eben nicht nur User Generated Content entsteht, sondern User Generated Spaces (UGS). In diesen Simultanräumen werden nach den Transport- und Kommunikationslogiken der Informationstechnologien Speicher, Generierung und Anwesenheit im Moment ihrer selektiven Aktivierung mit einander fusioniert. Die UGS können als kurzzeitige Fusionsräume betrachtet werden. Die digitale Mikrophysik des Räumlichen wird verbunden mit kommunikationslogischen Makrostrukturen. In ihnen verbinden sich weltweit verteilte Speicher mit zufällig entstehenden real-lokalen, individuellen Nutzungsbedarfen. Dies bildet die Basis für den Cyberlocalism, den ich als neue Dimension globaler Raumerzeugung herausstellen will. Ein Umsturz im jahrtausende alten Gefüge jener (euklidischen) Raum-Umwelten, die als unveränderbar behauptet wurden, kündigt sich an. Menschen sind weltweit dabei zu lernen, sich in UGS zu bewegen, zu leben. Mit dem Thema Cybernetic Localism greife ich auf den eingespielten Terminus des Cyberspace zurück und gehe zugleich zur wörtlichen Sicherheit auf Distanz, mit der seit William Gibsons Neuromancer8 die Formate einer cybernetic vividness, die zwischen den Menschen entstehen, die sich in der Netztechnologie bewegen, benannt wurden. Gegenwärtig wird Räumlichkeit/Raum in der sinnlichen und kategorialen Dimension völlig umgebaut. Raum ist nicht länger Behausung von Kontext. Umgekehrt: Vernetzte Kontexte erzeugen Räumlichkeit und widerrufen diese. Räume haben zunehmend weniger mit homogenen Kollektiven als mit frei und herkunftsungleich zusammengesetzten 7 8

Vgl. Fidler: Mediamorphosis. Vgl. Gibson: Neuromancer.

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Gruppen zu tun. So entsteht unvermeidlich eine Ungenauigkeit des Räumlichen. Milliarden von informationsbasierten, kooperativen Netzräumen entstehen und vergehen täglich, werden unter denselben infrastrukturellen Bedingungen, aber veränderten Informationsbedarfen, Projektebenen, Entwicklungsständen wieder hergestellt oder verschwinden in den elektronischen Archiven als Cache-Räume. Mit den über 40.000 Local Area Networks und den annähernd eine Milliarde täglichen Nutzerinnen und Nutzern ist eine globale Raumguerilla entstanden, eine transkulturelle Bewegung der Agenten in virtuellproduktiven Räumen. Sie verändert die Machtformen: nicht im territorialen Raumvermögen gründet nun Macht, sondern im virtuell-räumlichen Kooperationsverhalten. Die Aktivierung des virtuellen, transkulturellen Raumvermögens, also die Erzeugung von Online-Offline-Räumen, und die Fähigkeit, sie vorläufig zu fusionieren, wird zum Kern des Entwurfs- und Programmierdenkens. Hierin wird sich zeigen, wie weit das Konzept der Social Software reicht. Räumliches beschreibt von nun an den Zustand von Informationsnutzung und -erzeugung. Es ist ein vielgestaltiger Phasenraum, dessen Online-Offline-Vernetzung ich mit Cyberlocalism benenne.

Nomadische Räume, verstreute Interfaces Aber gehen wir etwas langsamer vor: Raum verwende ich zunächst als eine mehr oder minder komplexe Geste der Anwesenheit. Davon unterscheide ich Erreichbarkeit, für die kein Raummodell erforderlich ist. Bevor wir Räume öffnen, betreten, beleben oder be- und entvölkern können, ist zwischen Menschen in irgendeiner Weise (religiös, politisch, wissenschaftlich, alltäglich, kommunikativ, demokratietheoretisch, institutionell) gesetzt, wie Anwesenheit (Präsenz) glaubwürdig ausgehandelt werden kann/darf. Ist jemand oder etwas, der oder das der Gruppe wichtig erscheint, nicht direkt anwesend, werden symbolische oder repräsentative Hilfsmittel herangezogen, werden die Hilfsmittel Symbol und Repräsentation erfunden. Sie sind in jeder mir bekannten Kultur so ausgelegt, dass das Abwesende entweder sich zu jeder Zeit anwesend machen kann (Gott, Teufel, Geister, das Gute, das Böse, das Schöne, das Wahre) oder anwesend gemacht werden kann. Raum, der dazu passt, ist stabil, verschließbar, zwingend, strikt reguliert und auf kulturelle Geschlossenheit bezogen. Diese Raum-Geste bedient sich einer Formalisierung der Grenze. So entsteht, wie Martina Löw vor einigen Jahren herausarbeitete,9 das Konzept des Raum-Behälters, das auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften seine Beheimatung fand. In der Begrenzung werden Raum und Sinn gleichzeitig gesetzt. All dies ist heute nicht mehr anwendbar, auch nicht 9

Vgl. Löw: Raumsoziologie.

CYBERNETIC LOCALISM Ň 191

mit zusätzlichen (kontrollierenden, anpassungsbereiten) Anstrengungen. Als Gründe können gelten: • elektronische Telepräsenz hat den Machtgestus der Repräsentation unterlaufen, • informationstechnologische Echtzeit hat die Zeitsouveränität von Machtzentren weggespült, • Territorien sind für die Reformulierung von kommunikationsintensiven Räumen unbedeutend, • dingliche Figuren sind von Animation, digitalen Entwurfspraxen verflüssigt. Räumlichkeit ist nicht einmal mehr mit einer halbdurchlässigen Abgrenzung zur Umwelt zu denken. Raum ist eine Dimension der Interfaces geworden, ein infographischer Moment. Vilém Flusser merkte an: „Und ‚Raum‘ hat nicht mehr ein Gerüst zu sein, innerhalb dessen sich Leben ereignet, oder ein Skelett, auf das sich das Leben stützt, um nicht zu zerfließen. Eher hat ‚Raum‘ eine lebende Haut zu sein, die Informationen aufnimmt, sie speichert, verarbeitet, um sie weiterzugeben. Mit anderen Worten: so undeutlich die Aufgabe der Raumgestalter gegenwärtig noch sein mag, deutlich ist bereits, dass der künftige Raumbegriff nicht mehr kartesisch sein wird, kein starres Achsenkreuz mehr.“10

Räumliches besteht in variabler Codierung für mögliche Zusammenhänge. Es entsteht in der Selbstorganisation (auto-poiesis) menschlichen intersubjektiven Lebens.

Raum, körperlos, bodenlos Was Raum aber immer auch sein mag: es ist kein Diskurs, kein Geschenk des Himmels, aber auch nicht die Vorankündigung der Hölle. Raum hat immer Autoren und Autorinnen, Macher und Macherinnen. Das war aus meiner Sicht auch die wichtige Nachricht John Perry Barlows, als er in seiner Declaration of Independence in Cyberspace11 gegen die alten Raummächte schrieb und in alter Cyberfreak-Manier den greatefull space feierte, in dem die Kybernetik der Freiheit bzw. Freiheit der Kybernetik herrschte. Dass Kybernetik, vor allem Kybernetik 2. Ordnung für andere Raumkonzepte hat stehen können, ist schlüssig – und: es gab Raumagenten, spatial agencies, die die leeren infographischen Räume beleben sollten. Was aber vergessen wurde, war die Frage: Wie weit kann ein solches selbstbezügliches Raumkonzept führen? Wie lange kann man so tun, als 10 Flusser: „Räume“, S. 282f. 11 Barlow: „A Declaration of Independence in Cyberspace“.

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seien diese Räume nur dann existent, wenn User sie aufrufen? Sind sie nicht längst räumlich programmiert, die Infographien und die User? Die Antworten ließen etwas auf sich warten, aber sie kamen: Portale, Gruppen, Unternehmen im Netz, Cyberpolice, e-politics, e-sports, e-life. All dies sollte die Phase der Artificial Allstars: Artificial Intelligence, Artificial Environment, Artificial Life zwar nicht ablösen, aber sie wurde in eine Art Common Sense überführt. Dies führt zu einer meiner Grundthesen: Raum ist Entwurf, ist Virtualität, die immer zunächst im Kopf stattfindet und für die wir Menschen Empirie suchen. Entwurf beschreibt jenen gedanklichen Prozess, in dessen Verlauf aus den informationellen Abstraktionen unseres Gehirns mögliche Realität synthetisiert wird. Damit betrifft die Kategorie Entwurf jeglichen sinnlichen, dinglichen, gegenständlichen, undinglichen, formalen, informellen, künstlerischen, wissenschaftlichen, architektonischen, unsinnlichen, abstrakten geschmacklichen Vorlauf. Entwurf beschreibt demnach ein Vorhaben, das mit der Annahme verbunden ist, ihn in Form zu verwandeln. Dies bezieht sich auf sehr unterschiedliche Machbarkeits-, Anwendungs- und Kommunikationsoptionen. Entwurf ermöglicht Realität. Deren empirischer Status ist eingerichtet zwischen der Realität der Zeichen-, Darstellungs- und Kommunikationspraxis und der Objektivierung (Vergegenständlichung, Standardisierung, Normierung, Institutionalisierung) des Vorgenommenen. Es wird sich lohnen, diese Gedanken mit den Arbeiten von Herbert A. Simon über eine „Wissenschaft des Künstlichen“12 zu verbinden. Das, was durch den Entwurf entsteht, ist Realität des Künstlichen. Insofern besteht Raum in der Künstlichkeit und der Kunst der Anwesenheit. Die empirische Referenz lässt sich somit in der Simultaneität von Erwartung und Beleg, Zeichen und Bedeutung, Gegenstand und Umwelt beschreiben. Räumliches lässt sich weder eindeutig der Messbarkeit, noch der Semantik oder der Semiose zuordnen. Der jeweilig zu beschreibende Raum ist, im ernsten Wortsinne: ein Gesamtkunstwerk. Oder anders gesagt: Raum ist ein Modell von Zusammenhängen. Im Modell sind die Regeln und Regien beschrieben, nach denen Entwurf und Realisierung beobachtet werden (können). Weder die FormEntwürfe noch die Beobachtungs-Modellierung gelten einmal für immer. Vielmehr müssen wir davon ausgehen, dass die Fähigkeiten des Menschen, Zusammenhangsmodelle zu entwerfen, an die informationelle, technische, mediale und kommunikative Durchdringung der natürlichen und nicht-natürlichen Umwelt gebunden sind. Die Raumwölbung, die über die Weltscheibe gedacht und gezeichnet wurde, blieb solange schlüssig, bis die Kugelform der Erde entdeckt und zugelassen wurde. Die Magnetfelder der Erde wurden solange als kugelräumlich gedacht, wie man nichts von 12 Simon: Die Wissenschaften vom Künstlichen.

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Sonnenstürmen, Magnetwinden und der Ausfransung des Magnetraumes in den Weltraum wusste. Die echtzeitigen, kooperativen informationellen Räume zwischen Menschen in Frankfurt und Haiti waren solange eine unsinnliche/unsinnige Forderung, wie es kein Internet gab. Für jeden Zusammenhangsraum muss eine eigene empirische Referenz entwickelt werden, die allerdings dem Grundprinzip des Raums als Entwurf verpflichtet sein sollte. Der Zusammenhangsraum folgt den Logiken der kooperativen, verabredeten oder machtförmigen Setzung. Ob die Interaktivität mit Umwelt als Palast, Wohnraum, Heilige Halle, Tiefenraum der Nation, Reichweite des Einflusses, Kellerraum, Denkraum, Strafraum, Weltraum wahrgenommen wird, hängt von kulturell genutzter Materialität, von Bedeutungszuordnungen und deren Regeln ab. Aus ihnen entstehen Empirie des Gegenstandes und Empirie des Verhaltens. Was zur Empirie des Räumlichen zählt, verändert sich in Abhängigkeit von den gedanklich-formalen Möglichkeiten, von Arbeitsteilung, Infrastruktur, Synchronität, kulturellem Gedächtnis, Wanderungs- oder Transportlogistiken etc. Aus dem bisher Gesagten lassen sich zwei allgemeine Aussagen gewinnen: • Jede räumliche Modellbildung ist umgebungsgebunden. Dies ist darstellbar als strukturelle Kopplung13, mediale Kopplung14, als medial integrierter Raum (wie bei Lesesälen, Bibliotheken, Sprachräumen, Bedeutungsräumen etc.) und als informationsgenerierter Raum15. 13 Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 92ff. 14 Vgl. Faßler: Mediale Interaktion, S. 59. Vgl. auch ders: Erdachte Welten, S. 152f.; ders.: „Communities of Projects“, S. 145. 15 Informationsgenerierte Räume sind global cooperative spaces, in denen über Absorption, Adaption, Applikation und Entwurf die Felder von HumanMedia-Interactivity strukturiert werden. Man kann von Generationen der Veränderung sprechen, von Zeitphasen informationsgesellschaftlicher Veränderung. Sie sind verbunden mit den Formaten und Programmen der verschiedenen Informationsrealitäten, die von ARPA- und DARPANET (1960er und 1970er), von Internet (1980er) und WWW (1990er), von Linux und Internet Next Generation, von Wikis aller Art, WeBlogs und RSS reichen, sich also über die zurückliegenden 40 Jahre erstrecken. In diesen Jahrzehnten haben sich nicht nur die Informationsflüsse durch Gesellschaften verändert; es sind nicht nur neue Berufsfelder entstanden und industrielle wie bürokratische Berufsstandards verschwunden; es hat eine grundlegende Verwandlung der Welt des Handelns stattgefunden. Handeln ist kurzfristiger, informationsintensiver und -sensitiver geworden, wurde zu Face-File-Face-Handeln. Es wird in den Bereichen seiner Entstehung, Begründung, Überprüfung zunehmend ungegenständlicher, abstrakter, medialer. Dies gibt die Grundcodes für jegliche Form von Interaktionen ab, die heutzutage über skalierte oder nicht-skalierte, über offene oder geschlossene Netzwerke (vgl. Barabási: Linked; Faßler: Netzwerke), aber auch über Blogs zu einer eigenen Welt der Projekt- und Informationsgemeinschaften verbunden sind, die ich unter Communities of Projects fasse. Wir haben es längst mit Face-File-Space-Kopplungen zu tun; um sie geht es mir. Allerdings

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• Räumliche Modellbildung ist interaktivitätsgebunden. Mindestens zwei Agenten organisieren ihre Wechselseitigkeit über einen Zusammenhangsraum.

Key Virtual Räumliche Modellbildung ist ein Key Virtual, eine Schlüsselmöglichkeit, die sozusagen die Binnenpolitik angesprochener Wechselseitigkeit bestimmt. Der Ethnologe und Hypermedia-Forscher Pierre Lévy setzte in seinem 1994 erschienen Buch L´intelligence collective. Pour une anthropologie du cyberspace Raum als kulturrevolutionäres Superschema ein und ging vom nomadischen Raum der Erde, dem Raum des Territoriums, dem Raum der Waren zum Raum des Wissens. Es war ein gelungener, zugleich kritikwürdiger Versuch, global-anthropologische Fragen nach den kognitiven Werkzeugkisten dahin zu beantworten, dass es ein kontinuierliches „Gleiten der menschlichen Welt“16 gibt, wie er sagt, welches mit dem Neolithikum begann. Raum reicht bei Lévy von der mit der Sesshaftigkeit aufkommenden Idee der Nahräumlichkeit bis zu Raum als Utopie des Unbeständigen. Raum ist für ihn eine Schnittstelle, die „die Grenze zwischen Unmöglichem und dem Möglichen“17 verschiebt. Raum wird als Heimstatt des erdenklich Möglichen geistig ausgebaut. Das Projekt des Wissensraumes geht vom Verzicht auf zentrale Macht aus. Davon sind wir, wie es scheint, trotz Open Source und Open Society, noch um einiges entfernt. Raum ist, wie Martina Löw aufzeigt, keineswegs machtfrei konzipiert. Sie stellt dar, wie desolat der Theoriestatus des Wortes Raum innerhalb der Soziologie war und ist und versuchte damit eine Forschungsdiskussion zu erzeugen, die bis heute in diesem Fachfeld nicht zustande gekommen ist. Die Logiken, nach denen dieses Key Virtual entsteht, sind nicht nur in einem vortechnisch empirischen Sinne zwischen Phantasie und Erfahrung entstanden. Mit jedem Instrument, mit jeder materialen und gedanklichen Technik verändern sich die Regeln und Regien, nach denen wir Menschen Räumliches erzeugen.

betone ich dabei, dass abstrakter Raum keineswegs erst mit dem rechnenden Raum der Kybernetik 1. Ordnung entstand. Modellierend greifen Menschen mit ihren Abstraktionen schon seit einigen tausend Jahren in die Endlosigkeit ein und erzeugen Räume – eine Endlichkeit, die normativ, juristisch, ethnisch, militärisch, medial, kommunikativ verteidigt wird. 16 Lévy: Die kollektive Intelligenz, S. 246. 17 Ebd., S. 244.

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Das leitende Formationsprinzip, also das Key Virtual, verbinde ich mit drei Annahmen: 1. Raum ist eine relationale Idee. Die relata, d.h. die beteiligten Agenten, können sich ständig ändern. Nur in ihrem Verhältnis zu einander entsteht unter bestimmten Bedingungen die Anforderung, Verhältnismäßigkeit als Raum auszudrücken. 2. Raum stellt keinerlei sichere Größe dar. Trotz aller Metrik, aller Kartographie, trotz euklidischer Anstrengungen ist Raum weder auf diese Maßstäbe reduzierbar, noch als selbsterklärendes Sondermaß natürlicher oder kultureller Beziehungen formulierbar. Raum ist instabil, flüchtig, ein Allzweckbegriff und allzu oft auch eine politisch-ideologische, religiöse, militärische, sicherheitspolitische Allzweckwaffe. 3. Der Bedarf, Raum und Räume zu imaginieren, hat zugenommen. Man könnte sagen, dass dies der Preis zunehmender Komplexität ist, die wir in Raumkonstrukten einzudämmen versuchen. Die dritte Annahme hat vor allem mit den Schüben informationstechnologischer Entgegenständlichung und Entterritorialisierung zu tun. Mit der Idee weltweit möglicher informationeller Räume kompensieren Menschen die massiven Referenzverluste von territorialem Ort, architektonischinstitutioneller nationaler Repräsentation und materialer Gegenständlichkeit. Nicht, dass dies alles verloren ginge. Wichtiger ist zu beschreiben und zu erklären, wie die schillernde Referenz von Information, aufgespannt zwischen Kalkül und nicht Kalkulierbarem, zwischen Redundanz und Emergenz, in Verabredungen über Dauerhaftigkeit, Bestand und Zugehörigkeit übersetzt werden kann, also in Räumlichkeit. Meine Arbeitsfrage richtet sich an die Fähigkeiten und Möglichkeiten des Menschen, eine nutzbringende Liste nicht-natürlicher Räume zu entwickeln und sie anforderungsadäquat einzusetzen. Sie setzt voraus, dass Raum von direkt-sinnlicher Erfahrung gelöst wird, grundsätzlich nicht mit den Sinnen erfahrbar ist. Kulturengeschichtlich gibt es etliche Beispiele, die auf eine solche Liste nicht-natürlicher Räume gesetzt werden können: • der Sprachraum, mit dem eine Zugehörigkeit des Unbekannten, in der Ferne Lebenden, über Sprachgemeinschaft und Verständigungsgemeinschaft erzeugt wird; • der Einflussraum des Kaisers, des Papstes, der Klöster, der Bibliotheken; der Wirtschaftsraum, der religiöse Raum, der urbane Raum etc. Nicht-natürlich soll keineswegs heißen: fern von menschlichem Tun, sondern umgekehrt: vom Menschen gemacht, aufgrund seiner ihm eigenen Möglichkeiten, künstliche Umwelten zu erfinden, zu gestalten, zu beleben

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und zu organisieren. Raum ist ein Kunstprodukt, dessen Codierungen durch die Umcodierung von nicht-sinnlichen, abstrakten, vermutenden Unterscheidungen entstehen. Der Raum für Möglichkeiten wird außerhalb der sinnlichen Beweiskraft konstruiert und mit den Merkmalen abstraktionsintensiver und abstraktionssensitiver Glaubwürdigkeit und ebensolchen Erlebens ausgestattet. Dieser sinnlich-abstrakte Raum ist eher der Glaubwürdigkeit als der Legitimation verpflichtet. Das macht Raum für alle mögliche Propaganda verfügbar. Innerhalb der sozio-kulturellen Entwicklungen wird Vertrauen als soziale Figur der Glaubwürdigkeit durchgesetzt; und Vertrauen ist an der Zuverlässigkeit, Robustheit, Stabilität und Plausibilität der jeweiligen Raum-Konstruktion orientiert. Wir müssen abstrakt-künstlichen Räumen vertrauen, sonst funktionieren diese nicht. Die kommunikativ-kognitive Konstruktion eines nicht-natürlichen Raumes ist also mit der These eines kulturanthropologischen Key Virtuals zu verbinden. Ich verstehe dieses weltweit anzutreffende Key Virtual indirekter Raum als intelligente, robuste und bewegliche Lösung für Zusammenhangsanforderungen, die in depersonalisierten langfristigen und territorial weit reichenden Beziehungen entstehen.

Infogenetische Räume So wie z.B. die Feuer an den Küsten Navigation ermöglichten, mit Spiegeln auf antiken Schlachtfeldern weit reichende Zeichen- und Kommunikationsräume entstanden, mit Mauern Stadträume geschaffen oder mit Spiegelteleskopen Sichtweisen des Weltraums möglich wurden,18 oder mit der Camera Obscura der technisch verdunkelte, mit einer Linse versehene Raum Quelle neuer Visualität wurde, mit kinematographischen Bildern Film- und Kinoräume entstanden, stellen sich heute Fragen nach Räumen der kommunikativ verwendeten Informationen. Die Grundthese lässt sich nun ausweiten: Raum ist eine Vorstellung, mit der wir Menschen Zusammenhänge sichern. Diese SicherungsVorstellung ist in ihrer Logik selbst an die Empirie angewandten Denkens, der Instrumente, Techniken, Nutzungszusammenhänge, Ökonomien etc. gebunden. Diese messbare Empirie der räumlichen Realität ändert sich ebenso ständig, wie die bedachte Prüfung von Anschauung. Raum ist, so verwendet, empirisch und nicht-empirisch zugleich, ein Modell von Zusammenhängen verbunden mit einem Regelwerk von Belegen, Beweisverfahren, Objektivierungen. Räumliches kann als Ideal des Zusammenhanges für bestimmte Zeit an Bedeutung verlieren, kann überlagert werden

18 Vgl. Baltrusaitis: Der Spiegel.

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von Prozess, Revolution, Zeit, Geschwindigkeit, oder auch von Komplexität und Struktur. Aber der Bedarf danach, sich Raum, räumliche Zusammenhänge vorzustellen, sie sich glaubhaft zu versichern oder erklären zu lassen, bleibt. Man kann menschheitsgeschichtlich vermuten, dass die „Hervorbringung“19 von räumlichen Referenzen für Menschen dann wichtig wurde, als sie von einem Punkt ihrer Sesshaftigkeit aus die Umwelt zu ihrer Mitwelt machen wollten oder mussten. Menschen lernten, Raum von der körperlichen Bindung zu lösen, behafteten dieses Ordnungsformat allerdings mit dem Territorium, auf dem sich der Körper bewegte. Die immer wieder entrückende Grenze war der Horizont, nicht der Himmel. Die Schließung eines Horizontes zum Raum folgt rückblickend einer zwingenden Logik: Land und Leute, Gegenstände und Abstände verfügbar, verwaltbar, planbar, kontrollierbar zu machen. Im Raum wurde der Horizont matt gesetzt. Veränderung wurde folgerichtig über Jahrhunderte nur als Zerstörung des Raumes, als Befreiung durch Zerstörung, Überwindung der Grenzen des alten, früheren Raumes, der Arrondierung von territorialen Räumen (so nannte Bismarck den kriegerischen Erfolg gegen Frankreich 1871), als Durchbrechen der Mauern, als U-Topos/Utopie verstanden und praktiziert; oder als Weg zum Paradies – allerdings wieder hinter den Mauern – versprochen. Noch die Eisenbahn des 19. und die Autos des 20. Jahrhunderts beließen den Horizont dort, wo er gesetzt war: an der Außengrenze des (nationalen) Raumes. Erst mit dem Flugzeug wird der horizontale Raum mit einer neuen Achse versehen: dem vertikalen Raum. Lufthoheit definierte Räume um, wie Christoph Asendorf in Super Constellation beeindruckend herausgearbeitet hat.20 Es war eine Raumrevolution durch die Flugtechnik, welche die Architektur, Kriegsplanung, physikalische Raummodelle, Zusammenhangsverständnisse und künstlerische Konzepte umfasste. Allerdings bezog sich die Vertikale immer noch auf den Boden. Das Koordinatenkreuz dieser Räumlichkeit bleibt terrestrisch. Erst mit dem Flug ins All und seiner fotografischen Dokumentation (die USA schossen eine V2-Rakete 1946 mit Fotobox ins All) tritt der irdische Raum in die unendliche Weite des Weltraums zurück. Die Anforderungen an Raumkonzepte, mit denen wir uns gegenwärtig befassen, sind anders begründet. Es geht dabei um keinen Ersatz-Raum oder Raum-Ersatz. Die von uns Menschen heute erzeugten, belebten, produktiv aktivierten Medien-Räume sind nicht vorrangig darüber bestimmt, dass sie körperlose und bodenlose Räumlichkeit erzeugen (was als programmierte Selbstverständlichkeit ja zu ihnen gehört). Sie werfen 19 Ernst von Glasersfeld bot diesen Ausdruck als Übersetzung von Konstruktivismus an. Vgl. Glasersfeld: „Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs Objektivität“. 20 Vgl. Asendorf: Super Constellation.

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vielmehr die Fragen danach auf, nach welchen Logiken wir Menschen heute Räumlichkeit hervorbringen und wie wir diese für wie lange und womit ausstatten und erhalten? Im Gegensatz zu den Logiken horizontaler und vertikaler Raumkoordination, und im Gegensatz zu körperlos/ bodenlos stehen wir vor den Anforderungen zu klären, wie wir über Interaktivität mit/in digitalen Informationsflüssen solche funktionalen, vorläufigen Schließungen kommunikativen Handelns erzeugen, die als Räumliches verwendet werden können.

Operationsketten und Räumliches Ich gehe davon aus, dass die Erfindung und sogenannte Konstitution von Raum alle menschlichen Wahrnehmungen und Reflexionen ab dem Moment betreffen, an dem Anwesenheit/Abwesenheit, Präsenz/Repräsentation, Erreichbarkeit/Unerreichbarkeit die Pragmatik direkt existenzieller Beziehungen grundlegend ändern. Erst in diesem Moment wird Raum als zwischenmenschlicher Sonderformalismus wichtig. Der Mensch ist sein eigener Raumgenerator und baut externe Zeitmaschinen. Der spatial turn wird von mir also kulturevolutionär weit vor die heutigen Entdeckungen verlegt. Seine Empirie hat viele und weit zurückweisende Geschichten und erschöpft sich nicht im Diskursfieber augenblicklicher Wende-Neugier. Dieses Mal ist es der spatial turn – nach dem medial turn21, iconic turn und linguistic turn – der kommentiert wurde und wird. Dennoch trifft die Behauptung einer Neukarriere von Raum, Räumlichkeit einen medienevolutionär interessanten Punkt: Die Operationsketten der Informationstechnologien haben eine Komplexität erreicht, die schon länger nahe legt, von Zusammenhängen, Vernetzungen, von Globalität und Global Digital Culture zu sprechen, wie es die UNESCO tut. In diesen Konzepten ist in der Tat Raum angelegt, aber nicht kulturevolutionär verhandelt. Unter der dünnen Schicht von Partizipations-, Informations-, Kommunikationsmustern reorganisieren Machtinteressen demokratischer und wirtschaftsfeudaler Art ihre Raumkonzepte. Wissensgesellschaft und Informationsgesellschaft bieten hierzu wissenschaftlich nicht ausreichende Orientierungen, selbst wenn man sie, wie von Manuel Castells, Nico Stehr und vielen anderen, unter dem Aspekt der Vernetzungen untersucht.22 Nicht Vernetzung ist der Quellcode für Raum par excellence, sondern der räumliche Steuerungs-, Verfügungs- und Zusammenhangsbedarf liefert die

21 Vgl. Weber: „Einführung: (Basis-)Theorien für die Medienwissenschaft“, S. 27, 34f. Vgl. auch Wiesing: Die Sichtbarkeit des Bildes; Faßler: Bildlichkeit. 22 Vgl. Castells: Die Internet-Galaxie; Stehr: Wissenspolitik.

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Codierungen für die Reichweite von Netzwerken, und das schon seit dem Neolithikum. Die raumförmigen Schemata, die aus den jeweiligen Kommunikationssettings entstehen, legen fest, in welchem Raum sich Menschen bemühen können: ist es der Raum von „die Natur draußen, wir hier“, des „wir drinnen, die draußen“, des „Ich, König von Gottes Gnaden, verfüge, dass ...“, des „in meinem Reich geht die Sonne nicht unter“, des „Einer an Alle“, „Wenige an Alle“, „many to many“.

E n d e d e r F o l g e n n e o l i t h i s c h e r R e vo l u t i o n ? Im Verlauf der Neolithischen Revolution, dem globalen Prozess des Sesshaftwerdens der wandernden Menschengruppen vor ca. 10.000 bis 15.000 Jahren, wandelte sich die Wanderung in Landnahme und Landbesetzung, ging der spontane Ruheraum in dauerhafte gebäudliche und soziale, ökonomische und politische Räume über. Menschen schufen sich Behausungen, die nicht nur Schutz gewährten, sondern in der Stellung zu einander Muster der Beharrlichkeit, der Kontinuität, der Ortsbindung, der Territorialisierung, der nicht-natürlichen Landschaften bildeten. Eigentum an Landschaft (so weit das Auge reichte oder nach erfundenen Maßen abgesteckt), Markierungen, Grenzen, Verwaltungsformen etc. waren Weltversionen, die erfunden wurden, um dem unbegrenzten oder wilden Antlitz der Welt jene Informationen aufzuprägen, mit deren Hilfe die neuen Zustände geregelt werden konnten. Bevor Menschen die Grundlagen für eine mediale Welt (für mediale Kopplung) erfanden – vor ca. 5.000 Jahren – durchliefen sie weltweit die Lernprozesse der Sesshaftigkeit, der Besiedlung, der Stadtstaaten, der Urbanisierung. In diesen Lernprozessen entstanden zuvor unbekannte Formen der Versorgung, der Vorsorge, von Sicherheit und Eigentum, von Verwaltung und produktiver, kreativer, defensiver Selbstorganisation. Und in ihnen entstand der Bedarf an verwaltungsfähigen schriftsprachlichen, zahlenbasierten oder bildlichen Notationssystemen. Begleitet wurde dies von verändertem Umgebungswissen, von neuen Anforderungen an die Selbstorganisation von Gruppen, von Wissen über die Lagerfähigkeit von Getreide, Speicherbarkeit von Wasser, von Verfallszeiten oder Verfaulungszeiten, Flächenbewirtschaftungswissen, Wachstumsperioden von Lebensmitteln usw. Mit der Sesshaftigkeit lernten Menschen Güter zu verwalten, Ländereien zu bewirtschaften, Maßstäbe zu erfinden für Gewicht, Volumen, Entfernung, Größe, damit notiert werden konnte, wie viel Getreide, Hirse, Wasser zur Verfügung standen, um über den Winter zu kommen. Aus den Notierungen entstanden Notationssysteme, Zahlen, Hieroglyphen-, Schriftsprachen.

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Der Geocode der Neolithischen Revolution bestand in der Einführung des Eigentums an Land und Raum, aus dem dann Eigentum an Land und Leuten und Raum wurde. Diese Primärcodierung der Erde wurde begleitet – vor allen in den Regionen des Zweistromlandes – von der sekundären Codierung durch Verwaltungssprache und Verwaltungsfunktionen. Raum richtete sich nach innen, auf die tatsächlich stattfindenden Aktivitäten. Seine Referenz war Sichtbarkeit, Fassbarkeit, direkte Verfügbarkeit. Behausung, Bewahrung, Speicherung, Verfügung waren die direkten Beziehungen, in denen ein bis heute wichtiges direktes Raumkonzept entstand. Dies schließt Wahrnehmung mit ein, die sich auf körperliche, sinnlich-konkrete Umgebungserfahrung, auf Anwesenheit, auf hic et nunc, direkte menschliche Interaktion, auf Propriozeption und auf Proxemics23 stützt. Direkter Raum entsteht in der Konstruktion von Anwesenheit durch: • örtliches, territoriales Eigentum, • personalisierbare Verfügungsrechte, • die Erzeugung eines Körperparadigmas, das Körper mit dem Boden verschmilzt, auf dem er steht, • durch die Erfindung von körperlicher Nahräumlichkeit (Proxemics), • Temporalisierung (Verdauerung) und • militärische, polizeiliche, räuberische Besetzbarkeit. Diese Codierungen eines direkten Raumes kennen wir als agrarische Ordnung, als Nähe-Distanz-Verhalten in U-Bahnen oder Büros, als Schrebergarten oder auch als Blut und Boden-Ideologie. Die Sesshaftigkeit erzeugte nicht nur Verwaltung, sondern auch Verwaltungssprache, den Ursprung unserer Schriftkulturen. Großräumige soziale Formationen wurden diesen regionalen urbanen und medialen, infrastrukturellen und kommunikationslogischen Bedingungen nachgebaut. Gegenwärtig haben wir es mit gänzlich veränderten Bedingungen zu tun: Die medialen, informationellen und kommunikativen Bedingungen sind weltweit über Betriebssysteme, Server usw. standardisiert. Sie ermöglichen einen Tanz der Referenzen und kulturellen Entstehungsverläufe. Durch sie werden traditionelle Sozialitäten zu Regionen der Welt, während neue Formen sozietärer Selbstorganisation entstehen, die ich als Cybernetic Localism beschreibe. Insofern halte ich es für falsch, auf eine wissenschaftliche Präzisierung der kybernetischen Räume, d.h. der kybernetischen Episteme zu verzichten.

23 Vgl. Hall: The Hidden Dimension.

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Raum, Interface und virtuelle Zivilisation In den Jahrzehnten, in denen manches in digitalen Fluss geriet, ging es kaum um räumliche Zusammenhänge. Das nachrichtentechnische Informationsparadigma lenkte die Aufmerksamkeit auf Sender, Empfänger, Knoten, Kanal. Wenn Raum, so ging es um unendliche Zahlräume und endliche Rechenräume; sie verbanden Raum mit Unfassbarkeit, mit Formeln, unsichtbaren räumlichen Tiefen. Gegen Ende der 1990er entstand neben den Forschungen zu body options, den wichtiger werdenden Forschungen zu strukturorientierten Programmen sowie zu „Information und Zusammenhang“24 der Bedarf, informationelle Räume zu bilden. In den Gebrauchskulturen digital vernetzter Kommunikation wurde die grenzenlose Grenze wieder wichtig: nun als beweglicher, informationell transportabler Raum. Virtuelle Räumlichkeit (virtual spacing) vereint Schaltung mit Intensität. Sie wird Wahrheitsort für die Welt, die unsichtbar ist und bleiben wird. So kehrt zwar das Thema Raum zurück. Allerdings wird nicht die alte Nützlichkeit der Codierung von Ausdehnung, Horizont, Grundlage, Abstand aufgerufen. Im virtual spacing werden neue Codierungen für räumliche Zusammenhänge und Grenzen eingesetzt, wie Beteiligung, Anwesenheit, Mailbox, Plattform, Teleport, Telepräsenz, 3D-Animation, Avatar, Immersion, Kooperation, Kollaboration. Mit diesen Codierungen verliert Raum jegliche Exklusivität, entrückt den xenographischen, identitätssatten und xenophobischen Festlegungen ebenso wie der bloßen Metrik. Digitale Räume haben sich von der Medienarchäologie gelöst, sind Ereignisse der Informationsnutzung geworden. Das gegenwärtige Interesse am Konzept Raum überrascht also nicht. Nach dem digitalen Zeit- und Geschwindigkeitsrausch der 1980er und 1990er (kommunikative Beschleunigung und Escape Velocity25) zeichnet sich ein starkes Interesse an Koordination, Beziehungsregeln, Zusammenhangsmaßen – kurz an Raum ab. Menschen drängen darauf, Komplexität in den Griff zu bekommen.26 Und die Morphologie der Beherrschbarkeit läuft auf Raum zu. Wie es scheint, wird Raum neu entworfen (werden müssen). So, wie die Physik die Newtonschen Vorstellung eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit am Übergang zum 20. Jahrhundert „im Vorbeigehen abschrieb“27, wird der territoriale Raum zu den Akten gelegt, für die er erfunden war, als Kartographie, Signatur und Koordinaten vordigitaler Macht. Für die Planung von Autobahnen, Seewegen, für die Programmierung von Interkontinentalraketen, Cruise Missile oder Global Positioning System bleibt dies wichtig. 24 25 26 27

Favre-Bulle: Information und Zusammenhang. Vgl. Dery: Escape Velocity. Vgl. Riedl: Strukturen der Komplexität. Nowottny: Eigenzeit, S. 21.

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Demgegenüber sind fast alle sozialen Systeme in einen paradox wirkenden Prozess eingebunden: sie wenden immer umfangreicher information spaces28 auf sich an in der Erwartung, Grundlagen für ihre Erhaltungsbedingungen zu schaffen, geben aber immer mehr Erhaltungsmacht an transsoziale digitale Netzwerke ab, an „Dissipations-Ökonomien“29 und ein änderungsintensives Räume-Universum. Zugleich werden die räumlichen Statusabfragen immer stärker: Was gehört noch zum Raum von Gesellschaft in der Cybersociety? Was gehört noch zum Raum von Nachbarschaft in der Cyberhood? Wie weit reicht der Raum eines Online-Spiels? Raumgruppen sind entstanden, die keine Form-Typisierungen mehr ermöglichen, dafür aber nutzungsgebundene Formate bilden. In diesem Universum sind räumliche Zusammenhänge als situative, kurzfristige, episodische, interaktive, peer-to-peer, community-integrierte, business-tobusiness, oder als Wikis, als WeBlogs aktiviert. Local Area Networks und Metropolitan Area Networks stellen Muster von Räumlichkeit her, ebenso wie Konzepte von Intra-Net oder Wissensmanagement. Die momentane, fluide Grundstruktur digitaler Räumlichkeit hat, wie man daran sehen kann, dennoch ihre festen Referenzen, ihre Generierungsregeln für die Art von Interaktivität, ohne jedoch Form festzulegen. Es sind die Betriebssysteme, angewandte Physik, fuzzy logics, Informatik, Metamodelle von Wissensaufbau und Wissensmanagement.30 Kennzeichnend ist, dass die Formsetzungen im interaktiv aufgebauten Informationsfeld zwischen Programmierung und Mensch-Interface-Interaktion erfolgen. Um raumwissenschaftlich weiter zu kommen, bedarf es aus meiner Sicht einer Praxeologie des Zusammenhanges von Interaktion, Immersion und Interface. Raumbindungen werden aber nur als emotionale, affektive Bindungen möglich sein. Wir bewegen uns weltweit in Zuständen, in denen die vorläufige soziale Schließung offener Prozesse durch Netzaktivisten, Prosumenten, e-sports, firmeneigene oder freie örtliche Netzwerke, über Open-SourceGruppen, künstlerisch und wissenschaftlich experimentelle Gruppen zu einer der wichtigsten Anstrengungen wird. Vorläufige soziale Schließung soll hier nicht als territoriale Schließung verstanden werden, sondern als zeit-räumliche Begrenzung von Prozessen, als Schließung immer wieder neu zusammengesetzter Aktivitätsfelder. Das Thema Raum wäre dann ein Zwischenthema, eine Art Verpuppung digitaler Lokal-Universen.

28 Vgl. Engelbart/English: „A Research Center for Augmenting Human Intellect“. 29 Priddat, Birger: „Das Verschwinden der langen Verträge“, S. 66ff. 30 Vgl. Kosko: The Fuzzy Future; Faßler: „Wissenserzeugung“.

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Die informationelle Verpuppung der Raumanschauung Und was steckt in der Puppe? Was hat sich verpuppt? Es sind die seit 1980 über den Markt verbreiteten und seit 1992 über das Konzept World Wide Web vernetzten Personal Computer. Mit ihnen sind lokal, regional und global (d.h. menschheitsgeschichtlich) vorläuferlose Kommunikationsverläufe entstanden. In den 1980ern standen wir Medien- und Kommunikationsforscher vor den Phänomenen sich weltweit ausdehnender Individualisierung, Dezentrierung, rasanter Dekonstruktion der überlieferten Modelle des Sozialen; dem folgten paradoxe Rekonstruktionen wie „Nahräumlichkeit in der Anonymität / Pseudonymität“31 oder wie „society between society“32. Gegenwärtig können wir, gestützt und bekräftigt durch eine fortschreitende Ökonomisierung und sozietäre Organisation der Informationsflüsse, das Entstehen völlig neuartiger Gruppenstrukturen beobachten. Wir sind eingebunden in die Übergänge von Massenindividualmedien zu globalen Gruppenmedien. Wie wechseln individuelle Nutzerinnen und Nutzer zu Gruppen? Es sind Lernprozesse und die damit einhergehende Festigung translokaler, informationeller Zusammenhänge. Mit ihnen verbindet sich eine unerwartete Karriere von Community, die man nur schwer in das deutsche Wort Gemeinschaft wird übersetzen können. In den 1990ern wurde versucht, den Großbegriff Gesellschaft auf die Netzstrukturen anzuwenden. Cybersociety33 war das Stichwort, erweitert mit Forschungen zu den in die Netze importierten ethnischen oder Geschlechter-Differenzen. So entwarf David Hakken eine „Cyberspace Ethnography“34 und Christine Hine eine „Virtual Ethnography“35. Es zeigte sich aber, dass, neben den bereits bekannten Gruppenmustern, neue Gruppenformate entstanden, die weder einem klassischen Gesellschaftsmodell noch einer überlieferten Gruppentypologie zuzuordnen waren. Die Gruppen, mit denen wir uns heute intensiv beschäftigen müssen, sind eingefügt in Social Media, d.h. in sogenannte Augmented Reality. Mit diesen sind multidirektionale Raummöglichkeiten, many-to-many Kommunikation, Multi-Channelling, Senderempfänger verbunden. Unter diesen Bedingungen sind gelöste Speicherprobleme, komprimierte und stabile Übertragungsraten, Schaltungsgeschwindigkeiten, Split Screens, virtuelle 3D-Räume selbstverständlich; ebenso ist das, was als Medienkompetenz/Computerliteracy in den späten 1990er angesprochen wurde, zur allgemeinen Lernanforderung geworden. Hinzu kamen, über die Belebung der Netzwerke und die Vividness der Virtuellen 31 32 33 34 35

Faßler/Halbach: „CyberModerne“. Giddens: The Class Structure of the Advanced Societies. Vgl. Jones: Cybersociety; Bühl: Cybersociety. Hakken: Cyborgs@Cyberspace? Hine: Virtual Ethnography.

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Realität, globale, variationsreiche Gruppenbildungen. Mit die-sen entstanden neue kognitive und kooperative Anforderungen an Men-schen. Es geht seit wenigen Jahren neben der Computerliteracy um Raumkompetenz (Spaceliteracy). In ihr steht die Anreicherung der künstlichen Räume, die durch die Mischnutzung von Online-Offline-Kommunikation ständig neu entstehen, auf der Tagesordnung (und hier meine ich TagesOrdnung durchaus wörtlich). Anreicherung kann firmenspezifisch, nachbarschaftlich, forschungsbezogen, spielerisch erfolgen. Entscheidend ist, dass die Gruppen jene sozietäre Raumkompetenz entwickeln, die für die erreichten Informationsareale hohen Produktivitätsvorteil versprechen. Das Wort, das diese Verbindungen zusammenfasst, ist Commutainment. Rupert Murdoch, sicher kein Media-Avantgardist, milliardenschwerer Zeitungseigner, kaufte im Juli 2005 das Community-Portal MySpace für 580 Millionen US-Dollar. Virtual Community Spaces gehören zum Digital Lifestyle. In Abwandlung eines Satzes von Marshall McLuhan lässt sich sagen: Media-Community-Space is the Message. Begleitet werden diese kooperativen und kollaborativen Gruppenräume von widersprüchlichen Entdeckungen: der weltweiten Raumgleichheit und -kompatibilität, bedingt durch technologische, digitale, informationelle Schaltungsstandards; der Individualisierung der Raumnutzung; der weltweit sich durchsetzenden Raumschließungen durch Firewalls, Sicherheitssoftware, proprietäre Netzwerke u.ä.; der ebenso weltweiten Bestrebungen, Raum auf den Standard von Open Source zu setzen, als Open Culture, Open Society, Open Space. Vor diesem Hintergrund lautet meine Arbeitsthese, dass räumliches Denken über drei Aktivitätspfade zurückkehrt: 1. Individualisierung durch die Anforderungen schneller Informationsnutzung; 2. kollaborative Verräumlichung durch Verknüpfung von Datenquellen, durch virtuelle Anwesenheit; 3. Community durch Beteiligung an Auswahl- und Klärungsprozessen, Nimm- und Gib-Strukturen und zeitgedehntes Vertrauen zwischen Netzaktiven. Die damit verbundene Empirie ist unverzichtbar. Gleichwohl ebenso wichtig sind kulturanthropologische Forschungen zu den sehr verschiedenen Verräumlichungsfähigkeiten, -bedürfnissen und -prozessen, die die kulturellen Evolutionen des Menschen mit ermöglichten.

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R a u mw e r k z e u g Nach dem Hype um kognitive Geschwindigkeitsüberschreitungen im elektronisch-digitalen Universum gilt die Aufmerksamkeit nun den räumlichen Vorstellungsvermögen unter den Bedingungen informationeller Selbstorganisation von Communities. Mit den Forschungen über Räumliches werden die Konzepte Netz und Matrix belebt und damit bekräftigt. Wir stehen vor den spannenden Anforderungen, die Räumematrix der digitalen Netze mit Koordinations- und Kooperationsregeln zu verbinden. Es scheint, dass sich Menschen weltweit an die elektronischen Raummatrizen gewöhnt haben. Sie vermischen diese mit biologischen und sozialen Rhythmen. Es besteht die Anforderung, Raum zu einem komplexen Werkzeug zu machen. Dieser Ausdruck geht auf Michael Young zurück, der in The Metronomic Society schrieb: „Ein einigermaßen komplexes Werkzeug ist eine Art materialisierter Gewohnheit, die in der Gegenwart die vergangene Erfahrung unzähliger Generationen verkörpert, die ausgearbeitet wird, bevor sie in modifizierter Form weitergereicht wird, um verworfen oder erneut modifiziert zu werden.“36

Raum, oder schlüssiger: räumliche Koordination ist durch die Medienentwicklung in das Modifikations- und Variationsgeschehen der menschlichen Lebenszusammenhänge zurückgeholt. Wir stehen erst am Anfang, Räumliches als ein komplexes (transkulturelles, transnationales, globales) Werkzeug neu zu entwerfen und zu verwenden: Space, reloaded. Warum dies als spatial turn auftreten muss, lässt sich wohl eher über Marketing, denn über Neuheit erklären. Meine Kritik am spatial turn setzt da an, wo entweder (geometrische) euklidische oder nicht-euklidische (n-Dimensionale, aber auf rechenbare Realität bezogene) Denkweisen verwendet werden, also die Verhältnisse von Raum und Handlung/Agency/Interaktion doch eher als Geist in oder Geist aus der Flasche gedacht werden. Ich vertrete hier den Gedanken, dass dies nicht nur old school ist (trotz der erheblichen Unterschiede zwischen Euklid und Gauß), sondern weder den technologisch programmsprachlichen noch den informationskulturellen Weltverhältnissen nahe kommt. Ohne Digitalisierung ist Räumliches heute nicht zu beschreiben. Hierzu gehören Raumdimensionen als Zusammenhang, als Synthetisierung, als Bewegungs- und Lokalisierungsraster sowie als Beobachtungsund Entwurfsmuster. 36 Übersetzung d. Verf.: „A tool of any complexity is a kind of material habit which encapsulates in the present the past experience of countless generations, and which is further elaborated before being handed on in a modified form, to be discarded or modified again.“ (Young: The Metronomic Society, S. 163.)

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Für mich ist Raum eine polylogische Beobachtungskategorie, ob alltäglich oder wissenschaftlich. Mit ihr versuchen wir Menschen, Grenzen in rückbezüglich dynamische Lebensumstände zu bringen. Dabei mischen sich stets direkt-menschliche, indirekte (zeichen-, bild-, zahlensprachlich oder gegenständlich organisierte), natürliche, nicht-natürliche, dingliche, symbolische Anwesenheiten, Reichweiten, Ausdehnungen und unerfahrbare, aber als glaubwürdig oder funktional gesetzte Grenzen. Bereits so betrachtet, ist Raum ein Mischprodukt, dessen Schlüssigkeit nur darin besteht, dass mit ihm verbindend, verpflichtend, entwerfend agiert werden kann. Sehr vereinfacht lässt sich sagen: Raum entsteht in sinnlich-abstrahierender Orientierungs- und Ordnungsabsicht oder Ordnungsgewohnheit (Intention). Es ist ein Key Virtual (s.o.), keine Extension – womit ich mich gegen Marshall McLuhans These von Medien als „extension of man“37 richte.

U b i q u i t o u s C o m p u t i n g , a b e r S o c i a l S o f t w a re ? „The Internet is a social phenomenon as much as a technological phenomenon.“ Jerry Yang, Mitbegründer des Internet-Portals Yahoo!

Es ist ein neues Raumformat entstanden: der Interface-Raum. Seine Koordinaten sind durch die digitale Raummatrix gegeben. Worin besteht aber seine Anwesenheit? Wo ist dieser Raum? An zwei wichtigen Konzeptlinien möchte ich kurz auf diese Fragen eingehen. Die eine ist Social Software, mit der versucht wird, ausdrückliche Programme über mögliche Zusammenhänge (nicht nur Vernetzung) zwischen Agenten zu entwickeln. Zwischen diesen Agenten soll es möglich sein, dauerhafte Beziehungen herzustellen, Verlässlichkeit zu ermöglichen, eventuell sogar Vertrauen zu erzeugen. Dies setzt voraus, dass neben der technologischen Struktur der Vernetzung Semantiken verlässlich und kooperativ ausgetauscht und verwendet werden können. Die Raumnetzwerke müssen also beobachtbar und innerhalb der Gruppe ansprechbar sein. Das Soziale setzt also Ausdrücklichkeit und kognitive Zugänglichkeit voraus. Die andere Konzeptlinie ist Ubiquitous Computing. Dabei handelt es sich um unsichtbar gewordene Computer in Jacken, Kühlschränken, Brillen, Autofrontscheiben, Häuserwänden. Ziel ist es, den Personal Desktop überflüssig zu machen. Menschen bewegen sich (sollen sich bewegen) in Smart Environments. „The most profound technologies are those that disappear. They weave themselves into the fabric of everyday life until they are undistinguishable from it.“38 Bevor der menschliche Blick durch 37 Vgl. McLuhan: Understanding Media. 38 Weiser: „The Computer for the Twenty-First Century“, S. 94.

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Routine und unkonzentriert dahin fließenden Alltag die Dinge übersieht, wird also schon das Verschwinden geplant. Interessant ist, dass beide Bereiche auf die informationelle Selbstorganisationy: heutiger und zukünftiger Communities zielen, beide den kulturellen Logiken körperlich-räumlicher Anwesenheit/Unsichtbarkeit folgen. Beide erzeugen eine gebundene Räumlichkeit, deren Intelligenz in einem intensiven, wenn nicht intimen dynamischen Wechselverhältnis menschlicher und nicht-menschlicher Agency besteht. Was sich wie durchsetzen wird, ist derzeit nicht entscheidbar. Mit dem spatial turn wird allerdings der „Themenpark“39, der mit Raumerwartungen verbunden ist, neu zusammengestellt. Die durch globale digitale Vernetzungen in ihrem territorialen Bezug verschwundene Gesellschaft kehrt als Common, Community, als Kommunikations- und Kooperationsregel zurück, und gleichzeitig sollen Computer in den Gegenständen verschwinden, die genutzt werden. Die Umrisse einer virtuellen Zivilisation tragen sich in unsere Wahrnehmung ein. In ihr geht es um die Kunst und Künstlichkeit, anwesend und kooperativ zu sein. Dies ist der Bezugspunkt meiner Überlegungen. Für die Untersuchung der entstehenden virtuellen Zivilisation sind Fragen wichtig, wie räumliches Denken, räumliches Handeln, also jene Fähigkeiten des Menschen weiter entwickelt werden (können), um (im materialen Sinne) nicht-empirische Räumlichkeit zu entwerfen, sich in der Welt der dissipativen Zusammenhangsmöglichkeiten zu bewegen. Dass dies nicht leicht ist, ist allen Beteiligten klar. Die Pflichtenhefte, also die konzeptionelle Programmiergrundlage, für eine virtuelle Zivilisation werden wohl noch lange auf sich warten lassen. Elena Esposito skeptisch: „Die große Frage der Cyber-Räumlichkeit ist, wie diese Situiertheit mit dem sehr hohen Abstraktionsgrad der telematischen Kommunikation kombiniert werden kann und welche Formen daraus entstehen.“40

Räumliches, statistisch Zu den Forschungen über Human-Computer-Interaction, Face-File-FaceInteraction gehört dringend Face-Space-File-Interaction. Durch sie entsteht ein für kurze Zeit fusionierter Raum. Die Fusion ist der Zustand, der in der Phase entsteht, in der Nutzungs- und/oder Variationsentscheidungen getroffen und umgesetzt werden. Ob ich mir eine virtuelle Küche in einem Möbelkaufhaus einrichte, bei Amazon Bücher bestelle oder einzelne bewerte, ob ich online mit einer Doktorandin in Peking oder Singapur kommuniziere oder dies mit einem Kollegen im Büro nebenan.

39 Kinder: „Der Themenpark im Interface – Virtualität und Spieltheorie“. 40 Esposito: „Virtualisierung und Divination“, S. 46.

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Ich stelle mich immer auf eine individuelle, momentane Beziehung ein, die in einem sozialen, technischen, medialen, hierarchischen oder beteiligungsintensiven Verhältnis stattfindet, verwende dafür – empirisch kaum bezifferbar – nicht-natürliche Kommunikationsinstrumente (Bilder, Software, Displays etc.) und nicht-natürliche Verständigungslogiken (Zeichen, Bedeutungen, Schlussfolgerungen, Verweisungszusammenhänge etc.). Jede Aktion ist Interaktion, da sie sich in irgendeiner Weise auf Umwelt bezieht, d.h. auf das, was als Adressat, Zielfeld oder Hintergrund gilt, von dem man sich unterscheidend absetzen möchte. Und jede interaktive Aktion erzeugt unhintergehbare Zusammenhänge, die im Moment der Beobachtung als Zustand erscheinen. Das Zeitformat der Zustände variiert (Dauer, Gedächtnis, Erinnerung / linear, zyklisch, zufällig), ebenso die Reichweiten, die Mengen der beteiligten Personen, Orte, Institutionen, Programme – also das, was wir geläufig unter Raum fassen. Der Zustand des so beschriebenen Raumes lässt sich als eine Raumphase beschreiben. Er verschwindet mit der interaktiven Aktion. Damit verschwinden nicht die Personen, nicht die Orte, nicht die Institutionen, nicht einmal die Kanäle. Mit ihnen (nicht durch sie) ist die individuell oder kollektiv so überaus wichtige Raumphase möglich, in der die Interaktionen als Beziehungen, Verhältnisse, Zusammenhänge und Zustände erlebbar und wahrnehmbar werden. Es geht mir um ein Konzept des interaktiv erzeugten und erhaltenen Zustandsraumes. Räumliches ist, wegen der Aktions- und Umweltbindung des Menschen, wahrscheinlich. Es ist statistisch, nicht essentiell oder geometrisch. Hierin sehe ich die Herausforderung des spatial turn: jene Frage belastbar zu beantworten, die Steven G. Jones einmal stellte: „Where are we, when we are in Cyberspace?“41 Interessant ist nun, dass nicht aus der Vernetzungsforschung die Antwort zu kommen scheint, sondern aus der Robotik und eventuell noch aus bestimmten Architekturbereichen.

S o u ve r ä n i t ä t ( K o l l e k t i v) v e r s u s An w e s e n h e i t ( C o m m u n i t y) Es scheint so, dass die gegenwärtigen Probleme in einem kulturevolutionär harten Konflikt zwischen Souveränität und Anwesenheit eingelagert sind. Oder anders gesagt: Zusammenhangsräume und die mit ihnen historisch verbundenen Grenzregime und Souveränitätscodes (wie z.B. Gesellschaft,

41 Jones: Cybersociety. [Anm. d. Hrsg.: In dem von Jones herausgegebenen Buch heißt es statt „Where are we“ auf S. 6 und 15: „Who are we when we are online?“.]

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Staat, Ein Gott, Nation, Kultur) werden immer intensiver von Zustandsräumen (wie z.B. offener Kommunikation, „Communities of Projects“42, offenen Netzwerken, Offshore Economies, Cybersocieties) durchdrungen, geschwächt und zurückgelassen. Für diese Zustandsräume gelten dann auch die Kategorien der Fraktalität, der Komplexität und des strukturierten Chaos. Verallgemeinernd lässt sich Räumlichkeit als eine Metamodellierung beschreiben. Mit ihr machen wir verschiedenste Zusammenhänge und Maßstäbe innerhalb einer Kontinuitätserwartung verfügbar. Zudem sind die Entscheidungen, diese Ansammlungen in bestimmter Weise festzuschreiben (Objektprogrammierung, Strukturprogrammierung, Interaktivitätsforderung, Kompatibilitätserwartungen usw.), auch Entscheidungen gegen Veränderungsdynamiken. Sich aus diesen kulturellen Modellierungen heraus zu bewegen, ist nicht einfach, wie sich zeigt. Es müssen gerade in der Robotik Programme entwickelt werden, die lernend anpassungsfähig sind, die erfolgreiche System-Bewegung in zufälliger Umwelt so ermöglichen, dass sie ihr Ziel (Intention) erreichen, bei gleichzeitiger Veränderung (lernende Selbstprogrammierung) der Systemsteuerung und der Bedingungen des Systemerhalts. D.h. diese Programme sind für den nächsten, anderen Raumzustand handlungs-, adaptions- und veränderungsfähig. Anhand lernender nicht-menschlicher Systeme lernen wir, wie wir Menschen Raumagenten werden. Wir lernen unsere eigene Modellierung. Nun geht es mir hier nicht um eine Informatik- oder Robotikdiskussion. Allerdings: Die Bestrebungen, künstliche Agenten auf Räume programmsprachlich vorzubereiten, zeigen, dass Raum in der Art der Interaktion entsteht und vergeht. Raum ist kein Maßstab in sich, und nur in wenigen, festgelegten Zusammenhängen bedürfen wir dieses, so in der Architektur. Aber dann sind diese Bemaßungen raumlos erfunden. Sie können für jeglichen umbauten Raum verwendet werden. Damit sind wir an einer wichtigen Stelle: der Unterscheidung zwischen raumfreien, metrischen Maßstäben für Raum und den kommunikativ, interaktiv gebundenen Maßen für Zusammenhang, Kontinuität, Dichte, d.h. Räumlichkeit. Hier soll angeboten werden, Raum aus dem Blickwinkel kulturanthropologischer Medien- und Agency-Forschung zu betrachten. Räumliches, um das es mir hier geht, ist informatisch selbstähnlich, aber in den Nutzungsformierungen uneinholbar verschieden. Die drei Beobachtungen: selbstähnlich (fraktal, algorithmisch), heterogen interaktiv (also keine vorauszusetzenden Kollektive) und in Lokalisierungen verschieden (individuell, community-generiert) bilden das Grundmodell meiner Forschungsperspektive. Einen interessanten Einsteig dafür liefert Marvin Minsky.

42 Faßler: „Communities of Projects“.

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R a u m : G e o m e t r i e ve r s u s G e n e s e „Doch was die Kämpfe um the real thing angeht, ist unsere Reise gewiss noch nicht hier zu Ende: more to come!“43 Umberto Eco Oder doch eher: more to go, more to generate?

Folgt man dem Gedankengang von Marvin Minsky, einem der wichtigsten Begründer und Begleiter der Forschungen zu Künstlicher Intelligenz am Massachusetts Institute of Technology, so ist Raum bereits bei einem Kind eine reichlich komplizierte Fusion sich ständig neu mischender Ensembles von Codierungen. Über die Wahrnehmung von taktilen oder temperaturgestimmten Unterschieden auf der Haut, von Luftzug und Geräuschrichtungen entstehen „ungenaue Landkarten unserer Haut“44. Gesichtssinn, Repräsentation außerhalb der Haut, Orte, Beziehungen von Orten, Netzwerken von Beziehungen lassen andere, vom Körper gelöste Landkarten entstehen. Ob sie genauer sind, wissen wir nicht. Gleichwohl tun wir so, setzen Maßstäbe, Metriken, Sicherheitsgrenzen, Grenzregime ein, um mit Räumen und in Räumen klar zu kommen. Nun nimmt Minsky mit dem Gedanken über Landkarten mit der geometrischen Argumentation Kontakt auf, um zugleich dann doch über anderes zu sprechen: nämlich über die Probleme, aus Codierungen Raum zu begründen und nicht über Kartierungen von Flächen und Landreliefs. Er löst diese Spannung nicht auf. Dennoch ist der von ihm vollzogene Schritt wichtig. Myriaden von Bewegungen, Experimenten, beabsichtigten und zufälligen sinnlichen Erfahrungen, von Gedanken und Abstraktionen, Entwürfen und Zufällen geben von sich aus keine Auskunft über Raum. Erst wenn wir diese mustern, wenn wir sie verdichten zu Positionen, Markierungen, Relationen, Platzierungen, zu Horizont, Reichweite, Orientierung, wenn wir sie in empfundenen und erfundenen Standardbeziehungen antreffen und wieder finden wollen, entsteht die Idee und mit ihr die kognitive Realität von Raum. Raum ist dabei ebenso Modell wie Zeit und Natur. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass Raum nicht zerlegt werden kann. Eine Raumanalyse ist kaum vorstellbar. Dies ermöglicht einen definitorischen Zwischenstopp: • Raum entsteht in der Vermutung und der Behauptung von Zusammenhängen, von ähnlichen, von selbstähnlichen Beziehungen. • Mit der Idee eines räumlichen Zusammenhanges wird es Menschen möglich, Dauer, Zuordnung, Platzierung, Immersion, Eintritt, Austritt, Grenzen usw. zu denken, zu formalisieren und eventuell in Rechenverfahren zu formen. 43 Eco: „Reise ins Reich der Hyperrealität“, S. 45. 44 Minsky: Mentopolis, S. 114.

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• Dass selbstähnliche Beziehungen und räumliche Zusammenhänge einen eigenen Realitätsstatus erhalten (haben), ändert nichts daran, dass Raum zunächst ein Modell angenommener Zusammenhänge ist, gesteuert über metrische und geometrische Zuordnungsregeln sowie über sachliche und zeitliche Grenzen. • Kulturanthropologisch formuliert: Bevor Menschen dazu übergehen, räumliche Zusammenhänge als urbs, Stadt, Kulturraum, Gesellschaft, Sprachraum zu bezeichnen, ist das Raummodell als hochrangiges Ordnungsmodell entwickelt.

Infographien Was wir als Raum benennen, ist davon abhängig, welche Art von Beziehungen wir setzen und annehmen. Die „Landkarte der Haut“45 ermöglicht eine andere Abstraktion als die Landkarte des Auges, und diese wieder eine andere als die Landkarte sinnlich nicht mehr erfahrbarer Beziehungen von Orten oder die Szenografie der Informationsnutzung. In einer Anthropologie des Medialen, wie ich sie vorschlage,46 wird die Entwicklung von Abstraktion und Synthese noch wichtiger werden, geht es doch um Netzwerke von Beziehungen, die immer größere Distanz zu gegenständlichen, territorial-geographischen, direkt persönlichen oder überschaubar-sozialen Beziehungsformen erzeugt und erfordert. Infographien der Künstlichkeit entstehen. Mit ihnen versuchen wir Menschen, unsinnliche Reichweiten zu erzeugen und interaktiv respektive kommunikativ zu beherrschen, uns zur Verfügung zu stellen und zu erhalten. Dies schließt selbstverständlich ein, dass Produkte digitaler Programme die Augen, die Haut, die taktile Sinnlichkeit des Menschen erreichen; wir wollen und müssen ja mit dieser künstlichen Welt leben, in ihr arbeiten, malen, reden, entwerfen, planen. Aber die Sinnlichkeit des Menschen hat schon vor längerer Zeit den Weg durch die Abstraktion begonnen. Künstliches ist dabei weder grenzenlos noch adressenlos. Digitale Entwicklungen, um die ich meine Überlegungen gruppieren werde, finden unter den Anforderungen ihrer Konkretionen statt, und diese sind an Räume gebunden. Die Abstraktionen sind nur sinnvoll, wenn sie sinnlich, d.h. räumlich werden. Dass diese Sinnlichkeit eine Display-Sinnlichkeit ist, über die unsere Gegenwart als Screenage beschreibbar wird, ändert nichts an der Realität, die unser Gehirn diesen Landkarten des Künstlichen beimisst. Man mag hier mit Medienkritik und Medienverdacht ansetzen. Ich werde dies nicht tun. Ich widme mich dem Thema Raum unter dem Blickwinkel menschlicher Praxis oder, im Sinne Minskys, menschlicher Agency. 45 Vgl. ebd. 46 Vgl. Faßler: Erdachte Welten.

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Raum und Agenturen der Unterscheidung und Abstraktion sind unhintergehbar aufeinander bezogen. Wir können über Dinge, Orte, Artefakte überhaupt keine sozialen, kulturellen, ökonomischen Aussagen machen, wenn ich sie nicht in Beziehung setzen, sie nicht unterscheiden kann. Unter diesem Blick verwende ich Raum als bestimmten Unterschieds- und Beziehungsspeicher. Mit dem Supercode Raum können sich soziale Systeme schließen (z.B. Rechtsraum, christliches Abendland, Sprachraum), aber ebenso öffnen (z.B. Gültigkeitsraum der Menschenrechte, des Völkerrechts). Wichtig ist mir dabei, Raum als ein Interface zu verstehen, als eine Darstellung vermuteter oder erwünschter, d.h. auch begrenzter Beziehungen und Verhältnisse. Raum ist ein Modus der Selbstvergewisserung, entweder in direkter Sinnlichkeit oder in nicht-menschlichen Umwelten begründet. Mit dieser These positioniere ich kulturanthropologische Raumforschungen zwischen Axiomatik und Anschauung. Weder verwende ich Raum hier als eine vor allen Handlungen anzunehmende erfahrungsfreie, transzendentale Größe, noch verwende ich ihn als Anschauung. Sehr vereinfacht lässt sich sagen, dass Raum für Menschen in den dichten Wechselwirkungen von Axiomatik – Aktion – Anschauung entsteht. Axiomatik soll hier für Berechnung, messbare Ausdehnung, Begrenzung stehen; Aktion für interaktive Reichweiten, Erreichbarkeit, Anwesenheit, Veränderung, Beteiligung. Anschauung steht für Erleben, anwesend sein.

Raum rechnen? Diskret. Dem (digital) Räumlichen war als Entstehungscode das Prinzip der mathematischen Diskretheit eingegeben. Diskret (discretus = unterscheiden, getrennt) meint eine räumliche, zeitliche, materiale Trennung von Objekten und Ereignissen. Anders gesagt, handelt es sich immer um Teilmengen, um Vereinigungen von Teilmengen (Schnittmengen, Vereinigungsmengen, Differenzmengen) und um Vektorräume. Perlenketten, Armbänder aus Glasperlen, Codes, Schaltfunktionen oder chemische Moleküle sind Beispiele hierfür. Diese Teilmengen sind endlich, können einem Ganzen zugeordnet werden, müssen es aber nicht. Sie sind eine Sammlung von Dingen, Zahlen, Buchstaben, Farben, Figuren, Namen, gelistet oder ungelistet. Entscheidend ist dabei, welche Merkmale den Unterschieden zugeordnet sind. Bei nominalen Merkmalen sind die Werte nur Namen; bei ordinalen Merkmalen können Werte geordnet werden (Periodensystem der Chemie), bei metrischen Merkmalen kann gerechnet werden. Das Prinzip der Unterscheidung nach der Regel eindeutiger Trennung ermöglicht die Idee der Schaltbarkeit auch der kleinsten und komplexesten

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Prozesse durch diskrete Signale. Diese sind definiert als Abfolge zwei verschiedener (Spannungs-)Werte. Die Verkleinerung (Mikrologisierung) der gegenständlichen, sachlichen Realitäten bis zur erfundenen Ebene der digital schaltbaren diskreten Signale ist sozusagen die Ursuppe, in der gegenwärtig Künstliches entsteht. Schaltbarkeit überlagert(e) für längere Zeit Zusammenhang als Deutungs- und Anwendungsmuster. Über diskrete Teilmengen, Gleichungen, Schaltungen usw. entstand das, was wir Cyberspace, Virtuelle Realitäten oder Online-Welt nannten und nennen. Viele, die sich mit den Logiken des Programmierens beschäftigten, dachten lange Zeit nicht an die kulturellen Programme, durch die diese Logiken möglich wurden und die durch diese intimen Verbindungen von Abstraktion und denkender Sinnlichkeit gestützt wurden. Strikt wurde Mathematik von Entwurfskultur ferngehalten. Künstlerinnen und Künstler suchten einen Zwischenraum zu erfinden, eine Art angewandter Abstraktion, kunstfähig und singulär. Das Dilemma, das sich zeigte, bestand nun darin, dass nicht nur die Repräsentations- und Symbolisierungsversprechen durch diese beispiellosen Schaltungswelten verschwunden waren. Es fehlte und fehlt der Diskurs über die Kontinuität der Unterschiede in der Virtuellen Welt, also einer Kontinuität, die außerhalb, aber nicht jenseits der Schaltungssituationen und -episoden liegt. Mit den diskreten Welten entstand eine neue Anforderung an jenes Denken, das sich auf Zusammenhänge beruft, dafür aber keine gegenständlich-dingliche, keine messbare Empirie besitzt, und dem der Weg in eine schaltungsfreie Jenseitigkeit verwehrt war. In dieser Welt der schaltbaren, mikrologisch aufbereiteten Teilmengen wurde immer mehr über Generierung und Interaktivität gesprochen, kaum über Formerwartungen und Formsetzungen. Nun spreche ich mich nicht gegen GenerierungsDiskurse aus, allerdings gegen die Lässigkeit gegenüber Formoptionen und Formerwartungen. Marie-Luise Angerer sprach einst über „body options“, Donna Haraway ging kritisch durch die Optionswelt der Cyborgisierung, Christina Lammer suchte nach den Verpuppungen im Digitalen, Martina Leeker forschte über den Zusammenhang von Mimesis und Simulation.47 In all diesen Arbeiten wird den formativen Prozessen der Teppich ausgerollt, allerdings in der eingrenzenden Geste des Körpers. So wichtig diese Körperreferenz auch war und ist, ergibt sie kein Erklärungs- oder Entwurfsmuster für die erreichten Weltenoptionen. Kunst hat hier wenig bewirkt. Den gut begründeten Forderungen danach, zunächst die Programmierungs- und Generierungs-Regeln der digitalen Kultur zu erlernen, folgten nur selten die Entwürfe von trans-funktionaler / trans-digitaler Kontinuität und Räumlichkeit.

47 Vgl. Angerer: Body options; Haraway: Simians, Cyborgs, and Women; Lammer: Die Puppe; dies.: „Berührungslose Verpuppung“; Leeker: Mime, Mimesis und Technologie.

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Möglich, dass die Erwartungen hinderlich waren, Raum mit ausdrücklichen Vererbungsregeln und Vererbungsformen zu programmieren. Die Anwendungen haben diese Zurückhaltung überwunden. Die ausdrückliche Programmierung von komplexer Räumlichkeit ist der kommunikativen Praxis gewichen: Räume entstehen in/durch kulturell inhomogene Gruppen, die miteinander interagieren. Für das (programmiert) Räumliche entstanden eigenwertige Maßstäbe, die wir als Telepräsenz, Instantaneität, als ergonomische Simulation, als Human-Computer/Human-Media-Interface oder Interaction kennen. Die virtuelle Realität – Michael Klein sprach von „Virealität“48 – in Wissenschaften und Kunst zog eigene Skalierungen ebenso auf sich wie neu formatierte Beweisverfahren. Immer dringender wurde es, die Muster der angesichtigen Glaubwürdig- und Verlässlichkeit, des Vertrauens und der Interaktion für die Felder des Künstlichen neu entstehen zu lassen. Bloße Rückgriffe auf vor-digitale Jahrhunderte und Realitäten waren nicht schlüssig, wurden aber gemacht. Hilflosigkeit drückte und drückt sich darin aus, Hilflosigkeit gegenüber einer künstlichen Welt, die keinerlei Formkontinuität oder -vergangenheit in sich erhält. Alles, jedes Detail muss für die Nutzung elektronisch neu entstehen. Jedes Detail ist ein von anderen grundlegend isoliertes, diskretes, schaltbares Detail. Realität, ob analog oder digital, ist den Forderungen nach globaler Echtzeitanwesenheit unterstellt. Es ist eine Realität variierender Dimensionen. Die wahrnehmbar zu machenden virtuellen Realitäten waren in ihren Größendimensionen mit einem Mausklick veränderbar, von 100% auf 5%, von 90% auf 250%. Künstliches musste in sich schlüssig gemacht werden, musste einen Selbstbeweis erzeugen, diskursiv wissenschaftlich oder symbolisch künstlerisch. Die Aufgabenstellung für Programmierung lautete: sichtbar machen, was nicht in das Feld menschlicher Sehfähigkeit gehört; erreichbar machen, was dem menschlichen Körper unberührbar und unerreichbar ist; extern zu simulieren, was sonst im Gehirn des Menschen verschlossen bleibt. D.h. Räumliches muss visualisiert werden, um belebbar zu sein. Die diskreten Teilmengen müssen in eine nicht-diskrete, analogsensorische Wahrnehmungsebene übersetzt werden, um als Raum gelingen zu können. „Es kommt dann darauf an, welches Kodierungssystem der menschlichen Einsicht am besten angemessen ist. Diese Einsicht beruht zum großen Teil auf der Sinneswahrnehmung und der Datenverarbeitung der einlaufenden Reizmuster im Gehirn. Und es ist eine Tatsache, dass der Mensch ein Augenwesen ist, dass also der größte Teil der Datenanalyse der visuellen Auslese gewidmet ist.“49

48 Klein: „Virealität“. 49 Franke: „Schnittstelle Mathematik/Kunst“, S. 5.

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Raum bleibt heiß. Er unterliegt keiner abkühlenden Wirkung ökonomischer, kommunikativer oder globaler Ausdehnung, weil Raum immer informationsintensiv ist. Cybernetic Localism begründet vorläufige, informations- und änderungssensible Community-Räume. Sie zu erforschen, wird eine der wichtigen Aufgaben kommender Jahre sein.

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Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen STEPHAN GÜNZEL

1 Spatial Turn Der spatial turn ist in die Kritik geraten. Wie sich immer deutlicher herausstellt, nicht ganz zu unrecht: Die Hinwendung zum Raum scheint in einigen ihrer Ausprägungen hinter ihren systematischen und damit gleichfalls auch hinter ihren theoriegeschichtlichen Ausgangspunkt zurückzufallen, welcher der Anlass für die Beschäftigung mit Fragen der Räumlichkeit war: So hatte Michel Foucault räumliche Aspekte deshalb betont, weil er auf eine Dominanz der historischen Betrachtungsweise mit Hilfe eines Gegengewichtes reagierte.1 Geschichte, die mit Hegel gleichermaßen zum Apriori und zum Zweck von Kultur erhoben wurde, gilt seither nur noch als eine Bedingung neben anderen.2 Hierin besteht die Leistung und Relevanz des spatial turn.3 Die Abwendung vom Glauben an die Wirkungsmächtigkeit der historischen Zeit und die Hinwendung zum Raum als einem bedingenden Faktor bringt aber ein nicht unbedeutendes Problem mit sich: 1

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Vgl. Foucault: „Von anderen Räumen“. Der vielleicht wichtigste Kritiker und damit auch ein Weichensteller des spatial turn ist ohne Zweifel Friedrich Nietzsche, der in seiner Frühschrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben von 1874 einem synchronistischen Modell Vorschub leistete, indem er die Geschichte als aus einem Moment unhistorischer Aktualität oder gegenwärtiger Konstellation bestimmt sieht. Einen ersten Reflexionsschritt im 20. Jahrhundert stellte Husserls Kritik des „historischen Apriori“ dar, die von Foucault aufgegriffen und gegen den historisierenden Diskurs der Geisteswissenschaften gewendet wird. Vgl. Husserl: „Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie“, S. 222ff. und Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 453. Dies entspricht der Minimaldefinition des spatial turn, wie er etwa von Edward Soja vertreten wird. Vgl. Soja: „Trialektik der Räumlichkeit“.

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Insbesondere Vertreter der Humangeographie erinnern daran, dass Raum als Focus der Betrachtung soziokultureller Zusammenhänge letztlich auf eine Gleichbehandlung von Gesellschaft und Naturraum hinauslaufe.4 Mit anderen Worten, einige der Positionen, die unter spatial turn firmieren, wiederholen den Fehler des historischen Denkens unter anderem Vorzeichen: Was dort als inhärente und zielgerichtete Entwicklung der Geschichte interpretiert wurde, wird hier als Bedingung einer realräumlichen Ortschaft identifiziert.5 Ob nun der Raum oder die Zeit determiniert, ist im Blick dieser Kritik nebensächlich; allemal wird eine nur mögliche Interpretation als Deutung schlechthin ausgegeben. Dieser Kritik ist insofern zuzustimmen, als die Tendenz zu einem vulgärräumlichen Denken besteht, das sich tatsächlich nicht wesentlich von den raumdeterministischen Ansätzen des frühen 20. Jahrhunderts unterscheidet, wenn der Raum nun ungebrochen zum Anlass und Gegenstand jeglicher Beschäftigung erhoben wird.6 Dennoch gibt es daneben andere Weisen der Hinwendung zu Fragen der Räumlichkeit, welche auf keine Gleichschaltung von Kulturraum und Naturraum hinauslaufen, da sie nicht bei einem physikalisch-substantiellen Begriff von Raum ansetzt. Kurz gesagt: Es gibt Momente in der Raumtheorie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich nicht unter Determinismus subsumieren lassen und deren Potential in der Kritik am spatial turn in der Gefahr ist, vergessen zu werden. Sie lassen sich unter dem Begriff der Topologie fassen.7 In Abgrenzung zum Ausdruck spatial turn und zur Verdeutlichung wird im Folgenden die Bezeichnung topological turn verwendet, um herauszustellen, worum es bestimmten Ansätzen ging und noch geht, die gemeinhin der Raumkehre im ersten Sinne zugerechnet werden und darüber unzutreffender Weise dem Vorwurf einer Naturalisierung von Kultur ausgesetzt sind. Damit soll weder eine Urheberschaft reklamiert sein,8 4 5

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Vgl. etwa Weichhart: „Vom ‚Räumeln‘ in der Geographie und anderen Disziplinen“. Dieser Vorwurf wird vor allem gegen Karl Schlögel erhoben, der dezidiert von einer „Wiederkehr des Raumes“ spricht und damit nicht die Wiederkehr von Raumtheorie, sondern die Relevanz der realen Topographie meint. Vgl. dazu den gleichnamigen Vortrag anlässlich der Verleihung des AnnaKrüger-Preises des Wissenschafts-Kollegs zu Berlin. Zu denken ist hier an zahllose Publikationen der vergangenen Jahre, die allesamt einen mehr oder minder losen Bezug zur Raumthematik im Titel signalisieren. Als ein Beispiel sei hier der Band Mitterbauer/Scherke: Entgrenzte Räume genannt. Dies soll nicht heißen, dass die Beiträge nicht Qualität besitzen, nur wird der Raumbegriff hier zum Passepartout ohne Notwendigkeit. Vgl. hierzu auch den vom Verf. herausgegebenen Band Topologie. Erste Verwendungen des Ausdrucks finden sich insbesondere in der Architekturtheorie. Vgl. etwa Massumi: „Sensing the Virtual“ von 1998. Von einem topological turn spricht 1994 auch Rapaport in Bezug auf Lacan, welcher topologische Figuren, insbesondere Knoten, zur Beschreibung

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noch wird behauptet, dass diese Alternative der alleinige und legitime Zugang zum Problemfeld ist. Generell gilt, dass begriffliche Enthaltsamkeit angebracht ist und das Ausrufen von turns mit Vorsicht betrieben werden sollte.9 Gerade aus diesem Grund ist es jedoch sinnvoll, die bereits kursierende Bezeichnung topological turn beizubehalten und den Ausdruck spezifisch zu verwenden – und das heißt eben gerade nicht als ein Substitut für den spatial turn. Die Spezifität besteht darin, dass das, was in den Theorien der Räumlichkeit vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Relevanz besaß, sich deutlich vom Raumdenken der Vorkriegszeit (namentlich: dem geopolitischen Diskurs) absetzt. Anders gesagt: Unter der topologischen Wende können diejenigen Elemente eines Denkens von Räumlichkeit gefasst werden, welche das spezifisch Neue gegenüber einer bloßen Aufwertung der Kategorie Raum – gleich ob im formalen oder substantiellen Sinne – zu betonen versuchen. Die topologische Wende zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich nicht dem Raum zuwendet, wie dies dem spatial turn nachgesagt wird, sondern sich vielmehr vom Raum abwendet, um Räumlichkeit in den Blick zu nehmen. In diese Richtung zielte 2002 bereits auch eine Tagung des Graduiertenkollegs Technology and Science an der Universität Darmstadt zum Topological Turn in den Technikwissenschaften.10 Der Haupttitel der unbewusster Strukturen nutzte. Vgl. Rapaport: Between the Sign and the Gaze, S. 80; vgl. dazu auch Kleiner: „Der borromäische Knoten“. Letztlich kann topological turn auch schlichtweg zur Bezeichnung der Veränderung einer DNA-Struktur herangezogen werden. Zum topologischen Ansatz der Architektur vgl. auch Berressem: „ArchiteȤkturen“, und insbesondere Huber: Urbane Topologien. Die Popularisierung des topologischen Ansatzes, der seine Wurzeln in der Algebraisierung der Geometrie hat und mit unterschiedlichen Akzenten auf Leibniz, Euler und Gauß zurückgeht, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem in Frankreich durch Poincaré bekannt. Den Namen Topologie verwendet erstmals der Gaußschüler Johann Benedict Listing als Ersatz für den bis dahin nach Leibniz gebräuchlichen Terminus analysis situs. Vgl. hierzu auch Heuser: „Geschichtliche Betrachtungen zum Begriff ‚Topologie‘“. 9 Einen Überblick über eine Vielzahl von Wendungen, die allesamt dem Betreiben der Kulturwissenschaften zugesprochen werden, gibt jüngst Doris Bachmann-Medick. Sie führt den spatial turn an, nimmt aber keine ausdrückliche Binnendifferenzierung vor, sondern spricht vom topographical turn als dessen „Unterströmung“ (Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 299). Anhand des pictorial turn versuchte Lüdeking dagegen zu zeigen, dass die Bezeichnung turn einzig in Bezug auf Sprache sinnvoll sei, da nur diese eine Basis bietet, von der aus alles und alles anders zu denken ist. Bild und a fortiori Raum sind demnach nicht zu einer Generalperspektivierung fähig, sondern lassen eben nur Bilder oder Räumliches in den Blick kommen. Vgl. Lüdeking: „Was unterscheidet den pictorial turn vom linguistic turn?“. 10 Für eine Dokumentation der Beiträge vgl. Hård u.a.: Transforming Spaces. Die Tagung nahm Peter Matussek zum Anlass, um eine antitopologische Bewegung in der Gegenwartskunst zu konstatieren, die sich insbesondere vom euphorischen Begriff der Vernetzung distanziert. Vgl. Matussek: „Without Addresses“.

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Tagung artikuliert dabei geradezu kontrafaktisch den Kern des topologischen Ansatzes: Transforming Spaces. Diese Charakterisierung könnte allerdings einem Missverständnis Vorschub leisten, denn Topologie hat es nicht mit der Transformation des Raumes als solchem zu tun, sondern vielmehr mit dem, was sich trotz einer Transformation nicht verändert: Eine topologische Beschreibung weist zunächst nicht auf Veränderung hin, sondern auf Gleichbleibendes.11 Es geht um Relationen, die selbst nicht räumlich (im Sinne von Ausdehnung oder Materialität) sind.12 Veranschaulichend gesprochen, besagt der Grundgedanke der Topologie, dass, gleich wie stark ein Körper vergrößert oder deformiert wird – wie etwa ein Luftballon, der aufgeblasen wird –, sein variables Volumen in topologischer Hinsicht keine Rolle spielt.13 Solange der Körper oder seine Hülle nicht zerstört wird bzw. Risse bekommt, sind die Nachbarschaftsbeziehungen der Orte auf der Außen- wie auch der Innenseite unveränderlich. Von Raumtransformationen im Hinblick auf Topologie zu sprechen, muss in der Konsequenz heißen, sich primär gerade nicht den veränderten Räumlichkeiten anzunehmen, sondern vielmehr den trotz aller Veränderungen gleichbleibenden Relationen.

2 Topographical Turn Mit der Rückführung des Topologiebegriffs auf seine Bedeutung im mathematischen Kontext kann auch eine Konturierung zu dem von Sigrid Weigel 2002 proklamierten „topographical turn“ vorgenommen werden.14 Auch diese Kehre hat eine dezidierte Bedeutung und deren Bezeichnung

11 Dies gilt für den Regelfall der homöomorphen Transformation, bei der keine Zerstörung der Struktur stattfindet. 12 Topologie lässt sich auf die Formel bringen: „Raum minus Metrik“ – Eine solche Betrachtungsweise geht mit dem Ansatz der Sozialgeographie insofern konform, als der Untersuchungsgegenstand dort das vom handelnden Menschen in der ‚Raumerzeugung‘ hinzugefügte Maß ist, dass eine jeweilige Topologie so und so zur Erscheinung bringt. Vgl. hierzu auch die Überlegungen zu Raummetrik und Handeln von Benno Werlen im vorliegenden Band. 13 Ein Gedankenexperiment von Leibniz, mit dem er die qualitative Beschreibung (Ähnlichkeit) von einer quantitativen (Anzahl) abgrenzt, verdeutlicht dies: „Denken wir uns, es seien zwei […] Gebäude in der Weise eingerichtet, dass sich in dem einen nichts finden lässt, was sich nicht auch in dem anderen vorfände […] und [das] […] die Winkel in beiden gleich sind […]. […] Denkt man sich, dass der Zuschauer gleichsam nur ein geistiges Auge besitzt […] und weder in Wirklichkeit noch in seiner sinnlichen Vorstellung über Vergleichsgrößen verfügt […] so wird gar kein Unterschied zutage treten.“ (Leibniz: „Zur Analysis der Lage“, S. 72f.) 14 Vgl. Weigel: „Zum ‚topographical turn‘“.

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sollte daher ebenfalls nicht entgrenzend verwendet werden:15 Ebenso wie zwischen dem Raum und der Topologie ein Unterschied besteht, gibt es einen Unterschied zwischen Topographie und Topologie. Weigel hatte versucht, eine Position innerhalb der Kulturwissenschaften stark zu machen, welche insbesondere Fragen der Konstruktion von Raum als einem territorialen und historischen Gebilde betont: Gegenüber den anglophonen Cultural Studies, denen es im Hinblick auf Räumlichkeit vornehmlich um Fragen des Verstehens anderer Kulturen gehe, zeichneten sich die Kulturwissenschaften hierzulande dadurch aus, dass etwa technische Verfahren der Raumvermessung im Vordergrund stehen. In erster Linie hat Weigel dabei die Kartographie selbst vor Augen und damit sowohl den medialen Status von Karten als auch die politische Macht, welche Kartographen in ihrer Beschreibung der Welt auszuüben in der Lage sind. In gewisser Weise kann das als eine Tieferlegung der Kulturwissenschaften bezeichnet werden, weshalb sich Hartmut Böhme auch für die Verwendung des Singulars Kulturwissenschaft ausgesprochen hat,16 wenn denn aus einem solchen Verständnis heraus gearbeitet würde. Weiterhin rücken im topographical turn Settings verschiedener Art in den Blick. Zu denken ist hierbei insbesondere an Räume des Wissens17, also an die räumlichen Situationen in Laboren, Schreibstuben und Analysezimmern. Im topographical turn geht es somit vordringlich um Kontingenz: So, wenn etwa die Wissenssoziologen Bruno Latour und Steven Woolgar die Ergebnisse aus medizinischen Laboren weniger an den Ergebnissen der Testreihen festmachen, als vielmehr daran, welcher Laborant neben welchem saß, wer gerade Schichtdienst hatte und welches medizinische Journal bei der Interpretation der Testergebnisse aufgeschlagen auf dem Tisch lag.18 Ausgehend hiervon entstanden eine Reihe von aufschlussreichen Studien, die sich der Arbeitsteiligkeit in Laboren des frühen Industriezeitalters widmeten,19 aber auch der Analysesituation in der Wohnung des Dr. Freud, welcher den Patienten stets von ihm abgewandt und mit Blick auf eine Sammlung von Repliken antiker Miniaturstatuen auf der Couch zum Liegen kommen ließ.20 Andere Arbeiten wiederum weisen auf Strukturähnlichkeiten zwischen den militärischen Exerzierpraktiken nach der Heeresreform in den Niederlanden hin und dem dualistischen Weltbild bei Descartes: Der Raum des Schlachtfeldes, 15 Gleichsetzungen von Topographie und Topologie finden sich häufig. Vgl. etwa den Sammelband von Becker u.a.: Räume bilden. 16 Vgl. Böhme: „Was ist Kulturwissenschaft?“ 17 So auch der Titel des einschlägigen Sammelbandes zum gleichnamigen Forschungsschwerpunkt am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin von Rheinberger u.a.: Räume des Wissens. 18 Vgl. Latour/Woolgar: Laboratory Life. 19 Vgl. hierfür die Beiträge in dem Band von Schmidgen u.a.: Kultur im Experiment. 20 Vgl. hierzu einschlägig Mayer: Mikroskopien der Psyche.

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so konstatiert etwa der Kulturwissenschaftler Wolfgang Schäffner, gleicht der res extensa, der Befehlsstand des Kommandanten dem davon ausgenommenen Ort des Cogito.21

3 Topological Turn Bereits im kursorischen Überblick deutet sich an, wo die Grenzen des topographischen Ansatzes liegen: Das Bekenntnis zur historischen Kontingenz würde in der Konsequenz die Preisgabe des minimalen Anspruchs von Wissenschaftlichkeit bedeuten, der darin besteht, das Empirische nicht nur in seinem Aggregatzustand zu registrieren, sondern wiederkehrende, mithin wesentliche Momente zu identifizieren und das Kontingente auf homologe Merkmale hin zu vergleichen. Positionen, die einen topologischen Ansatz verfolgen, geht es dagegen in gesteigertem Maße um die Bestimmung solcher Kongruenzen: So etwa, wenn die Entsprechung des dualistischen Denkmodells mit einer technischen Apparatur festgestellt wird.22 Hier ist weniger entscheidend, ob ein bestimmtes topographisch nachweisbares Setting ursächlich für dieses Modell war, sondern, dass beide strukturell ähnlich sind.23 Es ist daher kaum verwunderlich, dass aus dem strukturalistischen Ansatz heraus ausdrücklich eine Anwendung der zunächst mathematischen Idee von Topologie auf die Gesellschaft, die Psyche und auch die Welt gefordert wurde. Das geschah maßgeblich unter der Bedingung, dass von zentralen Theoremen des 19. Jahrhunderts Abstand genommen wurde: Allen voran von der Figur teleologischer Diachronizität, von einem emphatischen Subjektbegriff sowie von anderen Konzepten idealistischen Denkens – nicht zuletzt auch vom euklidisch-newtonschen Raumbegriff als dem formalen Apriori der Wahrnehmung.24 Entsprechend formulierte Gilles Deleuze 21 Vgl. Schäffner: „Operationale Topographie“. 22 Wie das Jonathan Crary für die Camera obscura in Bezug auf Descartes’ Ontologie feststellt, so dass beide einem gemeinsamen Paradigma oder einer bestimmten Episteme angehören. Vgl. Crary: Techniken des Betrachters, S. 37ff. 23 Topologie und Topographie in Beziehung setzt etwa Borsò: „Grenzen, Schwellen und andere Orte“. 24 Ein nicht unwichtiger Vermittler ist hierbei auch Jean Piaget, der mit seiner Arbeit über den Strukturalismus den direkten Zusammenhang zwischen mathematischem und sozialwissenschaftlichem Strukturdenken aufzeigte. Vgl. Piaget: Der Strukturalismus. Geradezu paradox mutet es an, dass Piaget in seinen frühen Untersuchungen zur Raumwahrnehmung selbst einen Topologiebegriff vertritt, der einem gewissen Primitivismus das Wort redet: Piaget geht davon aus, dass die frühe Raumwahrnehmung zunächst topologische Zusammenhänge begreift. Das Modell hierfür sind aber wiederum Figuren, welche zu Zwecken der Veranschaulichung mathematischer Zusammenhänge kreiert wurden, die selbst aber unanschaulich sind. Kinderzeichnungen

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den emblematischen Satz, dass es im Strukturalismus entgegen traditioneller Ansätze um die Bestimmung eines „reinen spatium“25 gehe: „Der wissenschaftliche Ehrgeiz des Strukturalismus ist nicht quantitativ, sondern topologisch und relational.“26 In der Tat, das Motiv der Relation oder relationalen Bestimmungen ist durch den gesamten Strukturalismus hin durch anzutreffen und geradezu dessen Markenzeichen:27 Angefangen bei Saussures’ Auffassung des Sprachsystems als einem differentiellen Geflecht von Lautkombinationen28 über Levi-Strauss’ Beschreibung von Verwandtschaftsbeziehungen29 bis hin zu Lacans Wiederaufnahme der Freudschen Topik des Unbewussten.30 Als Sinnbild des Topologischen fungiert im Strukturalismus mithin das Schachspiel, insofern es als Veranschaulichung dient, durch die Relationsbeziehungen zwischen den Figuren und Handlungsmöglichkeiten ausgehend von den Positionen deutlich gemacht werden können.31 Solcherart war der Strukturalismus auch für marxistische Theoretiker wie Louis Althusser akzeptabel: Ging es doch darum, zu zeigen, wie es um die Verhältnisse der Produktionsmittel bestellt ist, welche einem Produkt innerhalb des Verblendungszusammenhangs selbst nicht anzusehen sind. Als eine aktuellere Variante des topologischen Ansatzes können die Arbeiten von Giorgio Agamben genannt werden, der sich unter Rekurs auf den

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werden von Piaget entsprechend und ungebrochen als solche Modellzeichnungen angesehen. Vgl. Piaget/Inhelder: Die Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde, sowie dazu auch Wittmann: „Linkische und rechte Spiegelungen“. „Was struktural ist, ist der Raum, aber ein unausgedehnter, präextensiver Raum, reines spatium, das sich nach und nach als Ordnung der Nachbarschaft herausgebildet hat und in dem der Begriff der Nachbarschaft zunächst einen ordinalen Sinn hat und nicht eine Bedeutung in der Ausdehnung.“ (Deleuze: „Woran erkennt man den Strukturalismus?“, S. 253.) Ebd., S. 253f. Am konsequentesten findet sich die Idee unter dem Begriff der Topologie wohl erstmals bei Jurij Lotmann umgesetzt. Vgl. Lotman: „Zur Metasprache typologischer Kultur-Beschreibung“, S. 343ff. Vgl. Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Vgl. Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Das Unbewusste begreift Lacan als Geflecht von Symbolischem, Imaginärem und Reellem anstelle von Freuds Identifikation der Fakultäten Über-Ich, Ich und Es. Vgl. Lacan: „Die Topik des Imaginären“. „Die edelsten Spiele wie Schach sind jene, die eine Kombinatorik der Plätze in einem reinen spatium organisieren, das unendlich tiefer ist als das tatsächliche Ausmaß des Schachbretts und die imaginäre Ausdehnung jeder Figur.“ (Deleuze, „Woran erkennt man den Strukturalismus?“, S. 256.) Das GoSpiel wird von Deleuze und Guattari dagegen als Sinnbild für die Transformation einer topologischen Struktur angesehen, während beim Schach die Topologie erhalten bleibt: „Beim Schach geht es darum, sich einen begrenzten Raum einzuteilen […]. Beim Go geht es darum, sich einen offenen Raum einzuteilen […]. […] Beim Schach wird der Raum codiert und decodiert […].“ (Deleuze/Guattari: „Abhandlung über Nomadologie“, S. 484.)

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Philosophen und Mathematiker Alain Badiou direkt auf Modelle der Mengentheorie bezieht:32 So ist nach Agamben die Position des Souveräns nicht allein durch die Figur eines Herrschers zu beschreiben, sondern vor allem mittels der Positionierung in dem Gefüge, durch welches er souverän ist.33 Mengentheoretisch gesprochen, ist der Souverän eine Singularität: Er repräsentiert eine Menge oder Gruppe (das Volk), ohne dass er dieser Gruppe selbst zugehört. Die Relation zu dem, für das er steht, ist eine der Nichtteilhabe; gleichwohl ist es genau diese Beziehung, welche ihn zum Souverän macht.34 Zuvor hatte bereits Pierre Bourdieu den Versuch unternommen, den topologischen Ansatz für die Soziologie fruchtbar zu machen:35 Auch wenn er die Bezeichnung in seinem Gesamtwerk kaum weiter verwendet, so ist seine Beschreibung der Gesellschaft anhand differentieller Beziehungen, die durch Geschmack, Einkommen und Status definiert werden, vor allem der Versuch eines relationalen Gesellschaftsmodells, das sich gut durch ein Diagramm veranschaulichen lässt, wie es Bourdieu etwa 1979 in La distinction verwendet.36 Diagrammatische Beschreibungen kommen nicht ganz zufällig im topologischen Kontext vor: Das Diagramm nämlich ist der bildhafte – wenngleich nicht abbildhafte – Ausdruck einer topologischen Relation.37 Zu denken ist hier etwa an den Plan einer Untergrundbahn oder an andere Darstellungen eines Verkehrsnetzes. Diese Illustrationen sind keine Repräsentationen mehr: Sie erhalten keine Informationen über die topographische Beschaffenheit eines Geländes oder seine räumliche Ausdehnung, sondern über topologische Lagebeziehungen (Abb. 1-3). 32 Vgl. hierfür insbesondere Badious Hauptwerk: Das Sein und das Ereignis. 33 Agamben: Homo sacer, S. 34-36. 34 Analoges gilt für die topologische Exklusion des ausgestoßenen Homo sacer, wodurch beide für einander Konstituenten bilden: „Der politische Raum der Souveränität hätte sich demnach durch eine doppelte Ausnahme als Exkreszenz [d.h., in eine Situation eingeschlossen zu sein, ohne dazuzugehören; der Verf.] des Profanen im Religiösen und des Religiösen im Profanen konstituiert, die eine Zone der Ununterschiedenheit zwischen Opfer und Mord bildet. Souverän ist die Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren, und heilig, das heißt tötbar, aber nicht opferbar ist das Leben, das in diese Sphäre eingeschlossen ist.“ (Ebd.: S. 93.) 35 Vgl. Bourdieu: „Sozialer Raum und ‚Klassen‘“. 36 Vgl. Bourdieu: „Sozialer Raum, symbolischer Raum“, S. 357. 37 Diagrammatisch bedeutet nach Charles Sanders Peirce zunächst ganz allgemein das Auseinandersetzen im Sinne der Analyse; im speziellen zeichentheoretischen Sinne ist die diagrammatische Beziehung aber eine Unterart der ikonischen Bezugnahme, die nicht auf einer erscheinungsmäßigen, sondern eben auf einer strukturellen Ähnlichkeit beruht: So ist der Abdruck (das Diagramm) eines Reifens einem bestimmten Reifenprofil ‚ähnlich‘, gleicht aber nicht dem Reifen in seiner körperlichen Erscheinung wie etwa die Fotografie in einem Reifenkatalog. Vgl. hierzu auch Bogen/Thürlemann: „Jenseits der Opposition von Text und Bild“.

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Abb. 1-3: Plan der Londoner Untergrundbahn in den Jahren 1908, 1927 u. 1933 mit Modifikation der Topographie unter Beibehaltung der Topologie38

38 Black: Maps and Politics, S. 49.

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Ein Großteil der Arbeiten Foucaults können von daher als diagrammatische Beschreibungen verstanden werden:39 Die von Foucault analysierten Gefüge gehören zum Versuch, etwas zu schildern, das selbst nicht erscheinen kann, sondern nur durch den Vergleich seiner Ausprägungen greifbar wird: nämlich soziale und politische Macht. Insbesondere hat Foucault das Panopticon (Abb. 4) als diagrammatische Darstellung eines jeglichen möglichen Vorkommens dieser besonderten Relation im Raum identifiziert: „Das Panopticon“, so eine zentrale Formulierung Foucaults, „ist das Diagramm eines auf seine ideale Form reduzierten Machtmechanismus.“40 Für dessen Analyse ist es daher nur umso bezeichnender, dass das Panopticon selbst nie in der von Jeremy Bentham geplanten Gestalt gebaut wurde; denn eben das ist völlig unerheblich für die topologische Beschreibung: Auch eine noch so exakte Umsetzung der architektonischen Zeichnung hätte nur zu einem Exempel, einer äußerlichen – und räumlich ausgedehnten – Variante der panoptischen Struktur geführt. Abb. 4: Panopticon, Entwurf von Jeremy Bentham, 1791

Die Anfänge des topologischen Denkens oder vielmehr der Anwendung der Idee außerhalb der Mathematik liegen jedoch nicht allein im Strukturalismus, sondern ebenso und vielleicht in gesteigertem Maße in der Phänomenologie des 20. Jahrhunderts.41 Was Edmund Husserl mit dem Vorgehen der phänomenologischen Reduktion im Sinn hatte, ist nichts weniger als die Rückführung empirischer Gegebenheiten auf notwendige 39 Auch diese Kennzeichnung geht auf einen Hinweis von Deleuze zurück. Vgl. die hierfür einschlägige Foucault-Interpretation von Deleuze: „Topologie“. 40 Foucault: Überwachen und Strafen, S. 264. 41 Vgl. dazu ausführlich Günzel: „Phänomenologie der Räumlichkeit“.

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Bedingungen; nur – dies ist der elementare Unterschied zum transzendentalen Ansatz im Idealismus – sind diese Bedingungen selbst Teil der Welt, worin sie in Variationen auftreten.42 Wie der Strukturalismus so zielt auch der phänomenologische Ansatz auf eine Beschreibung (topologischer) Relationen. Allen voran ist hierbei der Intentionalitätsgedanke zu nennen: Intentionalität besteht nach Husserl in der Bezogenheit des Bewusstseins auf die Welt.43 Im Zuge dessen wird Wahrnehmung als die Konstitution von Objekten im Feld möglicher Sichtbarkeit verstanden: Unabhängig davon, wo sich ein Ego im Raum befindet, ist dessen Bewusstsein vektoriell verfasst, und das heißt: auf die Objektwelt bezogen.44 Gegenstände im Blickfeld sind daher abgeschattet, weil sie notwendig perspektivisch gesehen werden. Folglich haben Hier und Dort, so konstatierte nach Husserl der Sprachwissenschaftler Karl Bühler übereinstimmend,45 nur einen „Sinn“, wenn es ein Ich – oder einen Ich-Pol der Relation – gibt, das an einem Ort steht, (von) wo es spricht. Entscheidend für die Beschreibung ist aber nicht der Ort, sondern, dass die Artikulation erfolgt. Anders gesagt: Der Ort ist zwar im Raum, aber seine Bedeutung besteht darin, dass er in einer Hier-Dort-Relation eingebunden ist.46 Ansätze zum topologischen Denken sind außerhalb der Mathematik und der Naturwissenschaft zum Anfang des 20. Jahrhunderts in verstärktem Maße zu beobachten: Wissensgeschichtlich mag es sich dabei auch um eine Auswirkung der Nicht-euklidischen Geometrie gehandelt haben, zu deren Plausibilisierung Hermann von Helmholtz und andere wiederholt Gedankenexperimente über Raumformen angestellt haben, deren Beschrei-

42 Deleuze verwendet für ein solches Vorgehen die Bezeichnung „transzendentaler Empirismus“ (Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 186). 43 Husserl bezieht sich hierbei wiederum auf seinen Lehrer Brentano, von dem der Intentionalitätsgedanke erstmals in dieser Hinsicht vorgebracht wurde. Vgl. Brentano: Psychologie vom empirischen Standpunkt, S. 124ff. Zur Konsequenz des Husserlschen Gedankens für die Raumkonzeption vgl. auch Sartre: „Eine fundamentale Idee der Phänomenologie Husserls“.) 44 Statt von Subjekt und Objekt spricht Paul Virilio daher vom „Trajekt“ (Virilio: Die Sehmaschine, S. 167). 45 Vgl. Bühler: Sprachtheorie, S. 102. 46 Eine andere Anverwandlung der Topologie findet sich bei dem Psychologen Kurt Lewin: Sein Interesse zielte vor allem auf den Wegeraum (hodologischer Raum), der sich durch die Entscheidung von Menschen konstituiert. Vgl. Lewin: „Der Richtungsbegriff in der Psychologie“. Einerseits negiert die topologische Sichtweise Lewins nicht den räumlichen Niederschlag menschlicher Handlungsweisen, andererseits reduzierte sie Handlungen auch nicht auf ein innerpsychisches Ereignis oder Motivationslagen. In der Topologie Lewins geht es somit darum, ‚im Raum‘ genau das zu bestimmen, was ihn verändert, zugleich aber die sich wiederholenden Muster dieser Veränderung aufzuzeigen. Vgl. Lewin: Grundzüge der topologischen Psychologie. Für die Genese des topologischen Ansatzes bei Lewin vgl. Lück: Die Feldtheorie und Kurt Lewin.

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bung auf Mittel außerhalb der Euklidik rekurrieren muss.47 Innerhalb der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften ist jedoch von Bedeutung, dass im Strukturalismus wie auch der Phänomenologie Beschreibungen zu finden sind, die eine dezidierte Alternative für die Analyse von Räumlichkeit angebahnt haben. Es ist allein von daher nicht angebracht, die Termini des Räumlichen und des Topologischen oder auch des Topographischen austauschbar zu verwenden. Das heißt keineswegs, dass sie nicht aufeinander bezogen wären: Eine topologische Beschreibung macht nur Sinn, wenn es eine räumliche Entsprechung der Struktur gibt, auf welche die Beschreibung zutrifft. Ebenso wie Topologie und Raum aufeinander bezogen sind, stehen Topographie und Topologie in Beziehung: Eine topographische Beschreibung von Settings kann vor allem quantitativ mehr erfassen als eine topologische Beschreibung. Gleichwohl hat die topographische Beschreibung als kulturwissenschaftliche Methode eine Grenze: Und diese wird überschritten, wenn jede Kontingenz zur Notwendigkeit erklärt wird und jedes materiale Vorkommnis im Raum als gleichwertig behandelt wird – oder letztlich als gleichwertig behandelt werden muss, wenn eine topographische Beschreibung konsequent verfolgt wird.

4 Karten Es sind maßgeblich Bilder und weniger Texte, welche die Kapazität besitzen, topologische Relationen und Strukturen zum Ausdruck zu bringen. Karten wiederum sind Diagramme, welche dezidiert dazu in der Lage sind, räumliche Relationen wiederzugeben.48 Hersteller von Karten sind gegenüber dem Naturraum insofern frei als dass der physikalische Raum nicht gänzlich vorgeben kann, wie eine Karte auszusehen hat. Zumeist wird dieser Umstand negativ gewertet: Karten seien Mittel der Ideologie und vermittelten ein trügerisches Bild der Welt. Sie seien manipulativ (und) würden im politischen Interesse eingesetzt. Eine solche Auffassung bildet nicht nur den Hintergrund der Cultural Studies, sondern letztlich auch des topographical turn, da beide die Möglichkeit einer objektiven Darstellung implizieren – denn wenn es Karten gibt, welche die Welt manipulieren oder konstruieren, muss es auch Karten geben, die dies nicht tun. Ansonsten ist die Annahme der Manipulation durch Kartengebrauch identisch mit dem, was Kartographen schon immer wussten: Karten stellen die Welt selektiv – in Abhängigkeit vom intendierten

47 Zur Wirkung dieser Phase der Mathematik und Physik insbesondere auf die Populärkultur vgl. Weitzenböck: Der vierdimensionale Raum. 48 Vgl. Nöth: „Kartensemiotik und das kartographische Zeichen“, S. 35.

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Gebrauch – dar. Daher gibt es keine Karte, die nicht manipuliert: Wie alle Medien besitzen sie Vermittlungscharakter.49 Noch etwas anderes fällt in der bisherigen Analyse von Karten in den Kulturwissenschaften auf: Es besteht eine Tendenz, sie entgegen ihres diagrammatischen Charakters vorrangig als Texte zu behandeln.50 Vorhandene Analysemethoden der Literaturwissenschaften werden daher auf Karten appliziert und diese darüber dem Kanon der Textgattungen hinzugefügt. Das ist nicht zuletzt deshalb möglich, weil Karten auch Textelemente enthalten, aber eine solche hermeneutische Herangehensweise an Karten kann eines nicht leisten: Nämlich beschreiben, wie eine Karte für ihren Benutzer aussieht und wie sie ihm etwas in ihrer spezifischen Erscheinungsweise vermittelt. Karten enthalten nicht nur Schrift, sondern auch Bilder. Sie sind daher ein synoptisches Medium.51 Dies gilt sowohl für mittelalterliche Karten mit vorrangig symbolischen Elementen und Ausdrucksformen als auch für jüngere Karten. Karten können nicht zuletzt deshalb als Teil einer räumlichen Praxis verstanden werden, weil ihre Benutzung zunächst nicht erfordert, dass sie linear „gelesen“ werden, sondern nur, dass das Arrangement vom Blick synchron erfasst werden kann. Michel de Certeau etwa bestimmt daher eine topographische Karte, in der alle Elemente, die Hinweise auf ihr erfahrungsräumliches Zustandekommen geben könnten, getilgt sind, als ein „Bild“52 im stärksten Sinne: nämlich als ein Bild der Welt. Worin besteht nun aber das Besondere der Karten und was hat dies mit dem „topological turn“ zu tun? Kartenbilder sind per se mit der Veränderung von Räumlichkeit befasst und stellen zugleich doch eine Präsentation dessen dar, was von der Varianz gerade ausgenommen ist. Dies liegt zunächst in dem einfachen Umstand begründet, dass jeder Karte – ebenso wie jedem figürlichen Bild – zwei Geometrien inhärent sind: Einmal diejenige der Projektion (Abb. 5), zum anderen die der Transformation (Abb. 6-8).53 Die erste Geometrie (die Projektionsgeometrie) gibt Auskunft darüber, ob und nach welchem Projektionsgrundsatz eine räumliche Gegebenheit erfasst wurde, die zweite (die Transformationsgeometrie) darüber, in welcher Weise die Projektionsfläche sowie der Zweck der Karte einen Einfluss auf die Abbildung hatte. 49 Das ist die klassische Argumentation von Hans Magnus Enzensberger: Es gibt per Definition keinen unschuldigen Mediengebrauch. Vgl. Enzensberger: „Baukasten zu einer Theorie der Medien“, S. 268-271. 50 Das scheint vom umgangssprachlichen Ausdruck des „Kartenlesens“ her zunächst auch naheliegend, den etwa auch Schlögel in diesem starken Sinne gebraucht. Vgl. Schlögel: „Kartenlesen, Augenarbeit“. Beispiele für die literaturwissenschaftliche Annäherungen an Karten gibt der Band von Stockhammer: TopoGraphien der Moderne. 51 Vgl. Pápay: „Die Beziehung von Kartographie, allgemeiner Bildwissenschaft und Semiotik“. 52 Certeau: „Praktiken im Raum“, S. 348. 53 Vgl. hierfür Willats: Art and Representation, S. 37-89.

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Abb. 5: Erste Geometrie: Zylinderprojektion

Abb. 6: Zweite Geometrie: Transformation des Projektionsergebnisses zugunsten der Abstandstreue

Abb. 7: Zweite Geometrie: Transformation des Projektionsergebnisses zugunsten der Längentreue

Abb. 8: Zweite Geometrie: Transformation des Projektionsergebnisses zugunstender der Winkeltreue (Mercator-Projektion)54

54 Abb. 5-8 nach Wagner: Kartographische Netzentwürfe.

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Bei Karten, die der Orientierung dienen sollen, wird versucht, mit Modifikationen im Rahmen der zweiten Geometrie, dem Projektionsergebnis der ersten Geometrie entgegenzuwirken: War dieses also aufgrund des Standorts des Vermessers oder einer Überflugkamera in jedem Moment der Datenaufnahme notwendig zentralperspektivisch, so wird im Rahmen der zweiten Geometrie versucht, die Ortsgebundenheit dieses Standpunktes herauszunehmen; wie das etwa in der Orthofotografie – der Korrektur von zusammengesetzten zentralperspektivischen Luftbildaufnahmen – geschieht.55 Abb. 9: Korrigierte Luftbildaufnahme (Orthofoto) von Oberweimar 1945

Die Karte ist daher nicht eine Verzerrung der Wirklichkeit im pejorativen Sinne, wohl aber eine Verzerrung im eigentlichen Sinne – und das gar in doppeltem Maße: Einmal eine Verzerrung im Rahmen der ersten Geometrie, ein anderes Mal durch die Modifikation des vorausliegenden Projektionsergebnisses zu Zwecken des Kartengebrauchs. Karten sind weniger ein Abbild räumlicher Kontingenz, als vielmehr Ausdruck dessen, was der Mensch in ihnen feststellt. Diese spezifische menschliche Raumaneignung ist topologischer Art. Aufgrund dieser Einschätzung von Karten kann also 55 Auch die Materialität des Mediums oder die Beschaffenheit des Bildträgers spielt daher eine Rolle: Ein runder Globus bietet dabei andere Möglichkeiten der Korrektur als eine plane Papierkarte. Doch nicht allein die Trägereigenschaften entscheiden über die endgültige Darstellung, sondern letztlich der Gebrauchszusammenhang, für den sie hergestellt wird. – Im Beispiel des Plans der Untergrundbahn: Dieser taugt nicht zur oberirdischen Orientierung, wohl aber zur Benutzung des unterirdischen Verkehrsnetzes.

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behauptet werden, dass das soziale oder kulturelle am Raum weder in einer materialen Bedingung noch in einem formalen Grundsatz allein gefunden werden kann, sondern vielmehr auch in topologischen Konfigurationen.

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II D ER S PATIAL T URN UND DIE H UMANGEOGRAPHIE

Vom „Zeitgeist“ zum „Raumgeist“. New Twists on the Spatial Turn EDWARD W. SOJA

Der spatial turn beschleunigt sich mit ungeheurer Geschwindigkeit.1 Mittlerweile bleibt kaum ein theoretisches oder empirisches Unternehmen davon unberührt. Vielleicht war räumliches Denken – oder in den Worten von Derek Gregory: „geographische Imagination“2 – niemals so weit verbreitet wie heute. An dieser Stelle indes will ich mich nicht damit begnügen, den spatial turn zu beschreiben und zu feiern. Stattdessen will ich ihn noch weiter vorantreiben und jeden meiner Leser dazu anregen, die Reichweite und die interpretative Kraft seiner geographischen Imaginationen über ihre bestehenden Grenzen hinaus auszudehnen. Zwei Begriffe sind es im Wesentlichen, die dem spatial turn heute eine besonders viel versprechende Richtung weisen. Der erste Begriff ist in der Literatur noch nicht stark vertreten – ich sage aber voraus, dass er in den nächsten fünf bis zehn Jahren eine große Rolle spielen wird. Was wir heute beobachten, ist die langsame Herausbildung eines im strengen Sinne gebrauchten Begriffs vom räumlichen Kapital [spatial capital]. In den letzten Jahren hat sich im gesellschaftstheoretischen Kontext die Rede vom sozialen Kapital etabliert.3 Inzwischen sind einige der Hauptakteure bei der Weiterentwicklung des spatial turn damit beschäftigt, einen gleich wichtigen und distinktiven Begriff vom räumlichen Kapital zu entwickeln. Räumliches Kapital meint jene Vorteile und Stimuli, die aus der Dichte und heterogenen Nähe urbaner Milieus erwachsen. Einige wirt-

1

2 3

Der Beitrag ist die erweiterte und überarbeitete Version einer Keynote Address, die auf dem Symposion „Der Geocode der Medien. Eine Standortbestimmung des Spatial Turn“ (12.-14. Oktober 2006) an der Universität Siegen gehalten wurde. Gregory: Geographical Imaginations. Vgl. z.B. Bourdieu: Die feinen Unterschiede; ders.: Praktische Vernunft.

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schaftswissenschaftliche Lehrbücher nennen diese Agglomerationsökonomien mittlerweile „Jane Jacobs externalities“4. Wie seinerzeit Jane Jacobs erkennen nun auch Teile der Volkswirtschaftslehre so genannte Urbanisierungsökonomien als Hauptantriebskraft für jede ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung an. Jane Jacobs würde hinzufügen, dies gelte nicht nur für heute, sondern bereits für die letzten 12.000 Jahre. Ohne die Städte wären wir alle arm, schrieb sie später. Wir wären immer noch Jäger und Sammler.5 Der zweite Begriff ist weniger spektakulär, obwohl ich ihn noch interessanter finde. Gegenwärtig arbeite ich an einem Konzept von räumlicher Gerechtigkeit [spatial justice]. Städtischer Raum generiert nicht nur Innovationen, Kreativität, wirtschaftliche Entwicklung, er bringt auch zusätzliche Hierarchien, Ungleichheit, soziale Polarisierung und Ungerechtigkeit hervor. Das bedeutet, dass jedes Streben nach Gerechtigkeit heute und künftig jene Ungerechtigkeit und Ungleichheit gewärtigen muss, die mindestens in Teilen durch die soziale Organisation des Raumes verursacht und aufrechterhalten wird. Beide Begriffe jedenfalls beinhalten einen Appell, ein neues Bewusstsein vom Raum zu entwickeln – einen anderen Blick auf sowohl die positiven wie die negativen Kräfte zu werfen, die jeden Aspekt individueller wie gesellschaftlicher Entwicklung auszuformen imstande sind. Durch die Emergenz solcher verwandter Konzepte wie dem vom räumlichen Kapital und dem von räumlicher Gerechtigkeit erweist sich, dass der spatial turn mehr ist als bloß eine Modeerscheinung – ein neuer Spiegelstrich in der ewig fortsetzbaren Liste angesagter Ideen. Doch bevor ich fortfahre, den spatial turn detaillierter zu beschreiben, lassen Sie mich zunächst in aller Deutlichkeit sagen, was der spatial turn nicht ist: Zunächst und vor allem ist der spatial turn kein additives Phänomen. Es kann nicht darum gehen, viele modisch-raumbezogene Worte und Metaphern dem eigenen Vokabular einzuverleiben. Einer der übermäßig verwendeten, ja falsch gebrauchten Ausdrücke ist sicherlich mapping oder re-mapping. Alle meinen, wenn sie irgendetwas kartieren, dann seien sie schon Teil des spatial turn oder nähmen am neuen Raumdiskurs teil. Dabei handelt es sich jedoch um weit mehr als eine bloße Anreicherung des eigenen räumlichen Vokabulars. Im Kontext des spatial turn ist häufig von einem Paradigmenwechsel die Rede. In mancher Hinsicht mag er tatsächlich einen solchen Wechsel anzeigen. Aber ich behaupte, dass der spatial turn in Wahrheit eine sehr viel weiter reichende Rekonfigurierung und Transformation darstellt als 4

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Vgl. z.B. Bairoch: Cities and Economic Development; Polèse: „Cities and National Economic Growth“; Taylor: „Development as a ‚Monstrous Hybrid‘“. Vgl. Jacobs: The Economy of Cities. Vgl. auch Soja: „Writing the City Spatially“.

NEW TWISTS ON THE SPATIAL TURN Ň 243

das, was innerhalb einer Disziplin normalerweise als Paradigmenwechsel bezeichnet wird. Wir sollten anerkennen, dass der spatial turn mehr ist als der letzte Neueinsteiger in die Wochencharts des akademischen Interesses. Wie ich höre, ist in einem kürzlich erschienenen deutschsprachigen Buch von nicht weniger als sieben verschiedenen turns die Rede: translational, performative, iconic usw.6 Ich hingegen behaupte, dass der spatial turn von einer viel tiefer gehenden Wirkung ist als diese Klein-turn-Versammlung in der Sekundärliteratur. Um Sie in Ihrem Denken über Raum herauszufordern, werde ich vielleicht gelegentlich meine Argumente auf die Spitze treiben. Auf keinen Fall aber möchte ich, dass Sie den spatial turn als eine beliebige, vorübergehende Modeerscheinung betrachten, die dann wohl verschwindet, wenn noch elf andere turns aufgetaucht sein werden. Ich fordere Sie wiederum dazu auf, Raum neu zu denken. Denn das ist meines Erachtens das Wesentliche, was sich jetzt mit dem spatial turn ereignet: Er zeigt, dass bestehende Denkweisen über Raum zwar interessant, informativ, hilfreich sein mögen, keinesfalls vollkommen aufgegeben werden sollen, aber dass es auch viel umfassendere Möglichkeiten gibt, über Raum nachzudenken – Möglichkeiten, die bisher kaum erkannt und genutzt wurden. Ich möchte dazu anzuregen, jeder möge die Reichweite seiner eigenen geographischen Imaginationen über die bestehenden Grenzen hinweg auszudehnen versuchen. Eine erste, sehr vereinfachte Definition des spatial turn sollte berücksichtigen, dass irgendwann im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts etwas Erstaunliches geschah – etwas, was in der Rückschau des 21. Jahrhunderts vielleicht als eines der bedeutsamsten intellektuellen und politischen Ereignisse des späten 20. Jahrhunderts angesehen werden wird. Einige Individuen, unter ihnen auch Wissenschaftler, fingen damit an, über Raum und räumliche Elemente des menschlichen Lebens ernsthaft und kritisch nachzudenken – und zwar in einer ähnlichen Weise wie schon seit langem über Zeit und die Geschichtlichkeit des menschlichen Lebens gedacht wird. Im Laufe der letzten 150 Jahre haben wir uns daran gewöhnt, die Welt viel eher durch eine historische als durch eine raumbezogene Brille zu sehen. Aber was jetzt geschah, ereignete sich auf interdisziplinärer, transdisziplinärer, ja wenn man so will: pandisziplinärer Ebene. Raumbezogenes Denken ist im späten 20. Jahrhundert aus den traditionell mit Raum befassten Disziplinen – wie Geographie, Architektur, Städtebau, Regionalwissenschaften, bisweilen auch Soziologie und Kunstgeschichte – ausgebrochen. Die plötzliche Breite des spatial turn ist über alle Maßen bemerkenswert: Medien- und Kommunikationswissenschaft entdecken raumbezogenes Denken,7 Gegenwartskünstler diskutieren mit mir über den städtischen 6 7

Vgl. Bachmann-Medick: Cultural Turns. Vgl. Falkheimer/Jansson: Geographies of Communication.

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Raum, Feministinnen entwickeln so etwas wie eine spatiale Rhetorik,8 an einem erziehungswissenschaftlichen Institut war ich eingeladen, über Raum und Analphabetismus, Curriculum-Entwicklung und Bildungsprozesse zu sprechen. Selbst Theologie und Eschatologie partizipieren am spatial turn9 und glauben in meinem Begriff Thirdspace10 eine Möglichkeit zu erkennen, ihre eigenen Vorstellungen von Himmel und Hölle zu erweitern. Andere Bereiche, die sich jetzt verstärkt für Raum interessieren, sind: Filmwissenschaften, Musikethnologie, Wirtschaftswissenschaften und Anthropologie, zu meiner großen Überraschung selbst Verwaltungswissenschaft.11 So transdisziplinär ist raumbezogenes Denken in den letzten 150 Jahren nicht mehr gewesen. Doch der spatial turn hat frühere Wurzeln, die durchaus von Interesse sind: Eine der wichtigsten davon steht im Zusammenhang mit einem erstaunlicherweise wenig erforschten, aber sehr bedeutsamen Ereignis innerhalb des westlichen philosophischen und gesellschaftstheoretischen Denkens. Dieses Ereignis fand in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts statt, also in jenem fin de siècle, das die Moderneforscher so sehr beschäftigt hat. Wir verbinden den Begriff der Moderne in erster Linie mit verkehrstechnischen Revolutionen, mit Industrialisierung, die – wie das bekannte und interessante Buch von Stephen Kern beschreibt – auch die Entstehung einer neuen raum-zeitlichen Kultur in dieser Epoche beförderten.12 Mir aber geht es eher um eine grundlegende Veränderung im Weltbezug und in der Aneignung von Weltwissen, die etwa zeitgleich in den westlichen Geistestraditionen statt fand und die man als eine ontologische Verzerrung bezeichnen könnte. Eine Verzerrung deshalb, weil eine Dimension unseres Weltbezuges einfach verschwand. Auch ein Naturwissenschaftler heute hätte wohl keine Einwände dagegen, wenn ich feststellte, dass die Welt, die physische Welt aber auch die soziale Welt, unser Dasein, Etre-lá, unser In-der-Welt-sein drei fundamentale, ontologische und existentielle Dimensionen aufweist. Unser In-der-Welt-sein ist immer sozial und zugleich auch räumlich und zeitlich, oder geographisch und historisch, falls wir dies mit konkreteren Begriffen fassen wollen. Bis etwa 1850 – Hegel markiert die Grenze – erkennt das westliche Denken das relative Gleichgewicht zwischen dem Historischen und dem Räumlichen, zwischen Zeit und Raum, zwischen Geschichte und Geogra-

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Stanford Friedman: „Locational Feminism“, S. 20. Vgl. Bergmann: „Theology in its Spatial Turn“. Vgl. auch die Konferenz God/City/Space am Lincoln Theological Institute der Universität Manchester (8. Dezember 2006). 10 Soja: Thirdspace. 11 Vgl. Sydow: „Towards a Spatial Turn in Organization Science? – A Long Wait“. 12 Kern: The Culture of Time and Space, 1880-1918.

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phie an. Aber dann geschah etwas, was eine klare Privilegierung des Historischen zur Folge hatte.13 Genau zu dieser Zeit fing man an, Geschichte und Zeit mit der Vorstellung von Prozess, Fortschritt, Entwicklung, Veränderung, Dynamik, Dialektik, Problematik, Gleichgewicht oder Bewegung zu verbinden. Im Gegensatz dazu wurde Raum zunehmend als etwas Totes, Fixiertes, Undialektisches angesehen, als Hintergrund, Container, Bühne, physische Form, Umgebung, als außerhalb, extra-sozial, formgebend, nie unsichtbar, nie nicht-existent – immer da, aber niemals eine aktive soziale Größe. Marx nannte Raum eine unnötige Komplikation seiner Theorie,14 und das war er gewiss auch. Im 19. Jahrhundert waren die Geographen zunächst dafür bekannt, auch historischen Wandel durch Umweltfaktoren dieser oder jener Art zu erklären. Aber in dem Maße, in dem die Geschichte im Laufe dieses Jahrhunderts die Oberhand gewann, wurde die Geographie intellektuell und theoretisch mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt, akademisch zu einem peripheren Bereich erklärt. Man betrachtete sie als eine tote, lediglich beschreibende Disziplin ohne Interesse an sozialen, politischen oder ökonomischen Theorien. Sie sammelte angeblich nur Fakten, beschrieb bloß regionale Unterschiede auf der Erdoberfläche, war also im Wortsinn reine Geographie. In einem gewissen Sinne nahm die Geographie die ihr zugewiesene periphere Position auch an. Gleichzeitig erreichte die Geschichte, von Heidelberg und anderen deutschen Städten aus, insbesondere durch die großen Historismus-Debatten im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts eine Art Hegemonie, den Status einer Meisterdisziplin in der westlichen Sozial- und politischen Philosophie. Es gibt viele Erklärungen für diese ontologische Verzerrung, obwohl die Frage, warum sie sich durchsetzen konnte, weiterer historischer Forschungsarbeit bedarf. Zweifellos war diese Entwicklung auch ein Grund für den Aufstieg der Sozialwissenschaften. Die speziellen Sozialwissenschaften – Wirtschaftswissenschaften, Politikwissenschaft, Ethnologie, Soziologie und Psychologie – traten alle in dieser Zeit in Erscheinung, und jede einzelne Disziplin versuchte ihren Gegenstand ohne eine aktive Raumdimension zu bestimmen. Für die neoklassische Ökonomie lässt sich dies am leichtesten zeigen. Raum wurde passiver Kontext, Hintergrundbedingung oder, wie

13 Vgl. Soja: Postmodern Geographies, S. 10-42; ders.: Thirdspace, S. 164174. Vgl. hierzu auch Foucault: „Fragen an Michel Foucault zur Geographie“, S. 46. 14 „Die räumliche Bedingung, die Bringung des Produkts auf den Markt, gehört, ökonomisch betrachtet, in den Produktionsprozeß selbst. Das Produkt ist erst wirklich fertig, sobald es auf dem Markt ist. Die Bewegung, wodurch es dahin kommt, gehört noch mit zu seinen Herstellungskosten. Sie bildet ein nicht notwendiges Moment der Zirkulation“ (Marx: „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“, S. 440). Vgl. auch Harvey: The Limits to Capital.

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bei Durkheim, Spiegel.15 So jedenfalls geriet das raumbezogene Denken zu etwas Nebensächlichem. Sozialwissenschaft untersuchte schließlich soziale Prozesse, und selbst das Wort Prozess meinte noch die zeitliche Dimension. Die Vorstellung von räumlichen Prozessen wurde aus dem menschlichen Bewusstsein ausgelöscht. Es wurde vollkommen undeutlich, was ein räumlicher Prozess eigentlich sein könnte. Raum war gleichsam aus einem größeren Kontext herausgelöst worden. In der neoklassischen Ökonomie – wie später kritisch angemerkt wurde – betrachtete man die Wirtschaft, als ob sie völlig ortlos wäre, als ob sie in einem Wunderland ohne räumliche Dimensionen existierte.16 Etwas Ähnliches passierte im Mainstream der anderen Disziplinen. Ich bezeichne dieses Raum auslöschende Verfahren, der Geschichte einen privilegierten Status einzuräumen, mit dem Begriff Historismus. Damit soll auch das außerordentlich wichtige und mächtige Weltbild gemeint sein, das seit dieser Zeit propagiert wurde: Alles ist historisch. Es stört uns kein bisschen, wenn jemand sagt, alles sei historisch; alles, was je existiert hat, was je existieren wird, sei inhärent historisch und zeitlich. Oder: Jedes Ereignis werde dadurch verständlich, dass man dessen historische Dimension betrachtet. Das ist die Grundlage unseres Bildungswesens; jeder von uns ist so erzogen worden. Aber es erscheint uns unerhört, sollten wir ähnliche ontologische Aussagen über Raum machen. Kant steht noch für eine Äquivalenz von räumlichem und zeitlichem Denken; auch wenn die Neukantianer sich in dieser Hinsicht völlig von seinem Standpunkt lösten. Kant behauptete, dass Raum und Zeit gleichwertig wären. Als Geograph hätte er vielleicht sogar dem Raum den Vorzug gegeben. Bei ihm jedenfalls bekommt keine der beiden Dimensionen einen privilegierten Status.17 Doch nach Kant hat sich etwas ereignet, das relativ schwer zu ergründen ist. Und doch haben wir Grund genug anzunehmen, dass diese Denkweise westliche Theorien und Philosophien bis heute bestimmt. Nur mit dem spatial turn fängt man nun wieder an, unvoreingenommen über Raum und Zeit nachzudenken. Bis das theoretische Gleichgewicht zwischen Zeit und Raum wiederhergestellt ist, müssen wir vorübergehend die räumliche Dimension strategisch privilegieren. Dieses Gleichgewicht ist das Ziel: Wir müssen das Räumliche, das Soziale und das Historische als grundlegend gleichwertige kritische Perspektiven auf unser Sein, unser Leben, ja auf alles verstehen. Doch im Moment – dies ist ein weiteres Element der Antriebskraft, die der spatial turn bietet – müssen unsere Deutungsperspektiven Raum an die erste Stelle rücken.

15 Vgl. Durkheim: Über die Teilung der sozialen Arbeit. 16 Vgl. Krugman: Geography and Trade. 17 Vgl. Kant: Physische Geographie, S. 14.

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Wenn es stimmt, dass die letzten etwa 150 Jahre von einer ontologischen Verzerrung bestimmt waren, die sich in einer epistemologischen Verzerrung ausgedrückt hat, die sich wiederum in einer theoretischen Verzerrung ausgedrückt hat, die sich dann in empirischen Verzerrungen bei der Anwendung solcher Theorien und in der politischen und sozialen Praxis ausgedrückt hat, dann hat diese Verzerrung sich auf jede mögliche Wissensformation dieser Zeit ausgewirkt. Insofern ist unsere Argumentation von erheblicher Substanz. Es handelt sich keineswegs um irgendeinen harmlosen, beliebigen Trend, sondern um den Anfang einer Wissensrekonfiguration von gewaltigem Ausmaß. Wenn das stimmt, dann können wir annehmen, dass viel von dem angesammelten Wissen in unseren Bibliotheken und auch in unseren Köpfen, nahezu alles, was wir gelernt haben, ein Defizit in Bezug auf die räumliche Dimension aufweist – da wir 150 Jahre lang nicht trainiert haben, wie mit dem Räumlichen umzugehen sei. Aber ich möchte daran erinnern, dass dieser Gedankengang nicht in einem totalisierenden Sinne missverstanden werden soll. Man soll nicht meinen, dass überhaupt kein Wissenschaftler jemals seither über Raum nachgedacht habe oder dass alle Raum gleichermaßen an die Peripherie verbannt hätten. In dieser Zeit gab es viele Einzelne, die Gewichtiges und Interessantes über Raum formuliert haben. Um nur wenige zu erwähnen: Ich meine hier Wissenschaftler wie Friedrich Ratzel,18 Halford John Mackinder,19 oder Walter Benjamin,20 den ich durchaus ganz vorne platzieren würde. Gerade dessen Äußerungen im Passagen-Werk sprechen keineswegs für ein bloß additives Verständnis von Raum. Vielmehr formuliert er eine überzeugende Kritik an der Art und Weise, wie Zeit unser räumliches Denken beschränkt.21 Andere in dieser Hinsicht wichtige Wissenschaftler waren an der Chicago School of Urban Ecology zu finden und verstanden ihre Arbeit übrigens weniger als Soziologie, sondern viel eher als Stadtökologie. Den Begriff der Ökologie hatten die Chicagoer bei deutschen Historikern und Naturwissenschaftlern entliehen und dann auf die Funktionsweise einer Stadt angewandt. Sie postulierten eine urbane räumliche Kausalität: städtischer Raum wirkt sich machtvoll auf die individuelle und ge18 Ratzel: Anthropogeographie oder Grundzüge der Anwendung der Erdkunde auf die Geschichte. 19 Mackinder: „The Geographical Pivot of History“. 20 Benjamin: Das Passagen-Werk. 21 „Zum Denken gehört ebenso die Bewegung wie das Stillstellen der Gedanken. Wo das Denken in einer von Spannung gesättigten Konstellation zum Stillstand kommt, da erscheint das dialektische Bild. Es ist die Zäsur in der Denkbewegung. […] Demnach ist der in der materialistischen Geschichtsdarstellung konstruierte Gegenstand selber das dialektische Bild. Es ist identisch mit dem historischen Gegenstand; es rechtfertigt seine Absprengung aus dem Kontinuum des Geschichtsverlaufs.“ (Ebd., Bd. 1, S. 595.) Vgl. auch Buck-Morss: Dialektik des Sehens.

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sellschaftliche Entwicklung aus – eine Erkenntnis, die, von ein paar Ausnahmen abgesehen, für mehr als hundert Jahre unentdeckt geblieben war. Im Zentrum ihrer Idee von urbaner räumlicher Kausalität stand die concentric zone theory.22 Das Modell besagt, dass eine Stadt aus fünf verschiedenen, konzentrisch um das Stadtinnere herum gelagerten Zonen aufgebaut ist, in denen sich Menschen eine gemeinsame ökologische Nische teilen, die einem vergleichbaren sozialen Druck ausgesetzt sind. Aus heutiger Sicht erscheint daran manches undifferenziert und revisionsbedürftig, aber in gewisser Weise hat dieses relativ einfache Modell stadträumlicher Formen immer noch seine Berechtigung. Was haben sie gemacht, und wie sind sie vorgegangen? Sie haben Bereiche wie Prostitution untersucht – aber nicht so wie es heutige, nicht räumlich denkende Soziologen unternähmen: nämlich eine historische oder zeitbezogene Analyse bestimmter Phänomene wie Rot-Licht-Milieus, Lizenzgebühren, Gesundheitsfragen anzustrengen. Die Chicagoer Schule hingegen stellte fest, dass Prostitution im innersten konzentrischen Kreis eine bestimmte Form annahm, im nächsten Kreis eine andere Form, im übernächsten Ring noch eine andere Form. Mit anderen Worten: Hier wurde festgestellt, dass Geographie – die konzentrische Form der urbanen Geographie – menschliches Verhalten modelliert, die Wahl der Wohnung und den Lebenszyklus eines Wohnviertels beeinflusst – so wie es auch spätere Chicagoer Geographen entdecken sollten. Die Arbeiten der Chicago School über die durchschlagende Kraft der Kausalität urbaner Räume fand sogar eine größere Leserschaft. Doch die Soziologie ließ diesen Ansatz fallen und behauptete, er sei zu räumlich bestimmt, zu umgebungsbezogen, als dass er für Experten sozialer Prozesse akzeptabel sein könnte. Der vorherrschende akademische common sense war davon überzeugt, dass gesellschaftliche Prozesse Räumlichkeiten ausformten, dass aber das Umgekehrte unmöglich sei. Dass Räume gesellschaftliche Prozesse beeinflussen könnten, war schier inakzeptabel. Bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein hatte diese Entwicklung Bestand, ohne dass sie systematisch überdacht worden wäre. Auf die Raumabstinenz bei der Ausbildung der Sozialwissenschaften im späten 19. Jahrhundert bin ich schon zu sprechen gekommen. Etwas erstaunlich Ähnliches fand mit dem Aufkommen des wissenschaftlichen Sozialismus statt, mit der Entwicklung des marxistischen historischen Materialismus, einer materialistischen Geschichtsdeutung, die die verengte Spezialisierung der Sozialwissenschaften ablehnte und eine einheitliche Feldtheorie der Produktionsverhältnisse im Laufe der Geschichte formulierte. Wie oben erwähnt, war die Geographie selbst hier eine schwerwiegende Komplikation, die nicht einfach vernachlässigt werden konnte. Schauen wir uns die Marxschen Schriften genauer an, so entdecken wir doch einige interes22 Zuerst entwickelt in Burgess u.a.: The City.

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sante räumliche Aspekte (z. B. die Betonung des Stadt-Land-Gegensatzes in Marx/Engels „Die deutsche Ideologie“23). Aber im Grunde war dies eine nicht räumliche, historistische Theorie. Nicht umsonst sprechen wir bis heute vom Historischen Materialismus und nicht vom Historischen und Geographischen Materialismus. Auch der wissenschaftliche Marxismus hatte also Anteil an diesem Prozess der Enträumlichung. Die liberale Sozialwissenschaft entsprang liberalem Gedankengut und liberalen Traditionen. Was ist nun in der radikalen Tradition passiert? Im Kontext des marxistischen und radikalen Denkens wurde der außerordentlich räumlich orientierte liberalistische oder anarchistische Sozialismus ausgelöscht. Eins der großen Werke der Raumpolitik des 19. Jahrhunderts war die Nouvelle géographie universelle von Elisée Reclus,24 einem selbsternannten anarchistischen Geographen und Freund Kropotkins. Es waren Theoretiker wie Reclus und Proudhon,25 die von Marx unterdrückt wurden. Marx wollte überhaupt keine Form von räumlichem Determinismus in der Geschichte, in den Klassenverhältnissen und im Klassenkampf zulassen. Deswegen wehrte er sich gegen Lokalismen, Nationalismen, Regionalismen zur Kennzeichnung von falschem Bewusstsein und verdrängte räumliche Momente, die Faktoren bei der Bildung der Klasse sein könnten, und spaltete sie von der Dynamik des sozialen Bewusstseins ab, so dass gesellschaftliche Prozesse ihres räumlichen Ballasts entledigt wurden. In der radikalen gesellschaftspolitischen Denktradition gibt es ähnliche Entwicklungen, und sie setzen sich noch heute fort. Von den erwähnten frühen Ausnahmen dieses Trends zum enträumlichten Denken entfaltete keiner eine nachhaltige Wirkung. Erst in den 1960er Jahren beginnt die jüngere, eigentliche Geschichte des spatial turn. Es gibt viele Akteure in dieser Geschichte, von denen ich normalerweise zwei in den Mittelpunkt rücke. Heute füge ich zwei weitere hinzu und behaupte, dass diese vier ein völlig neues Raumverständnis einforderten. Die beiden Hauptfiguren sind Henri Lefebvre und Michel Foucault. Noch viel Forschung muss betrieben werden, um zu verstehen, wie es möglich sein konnte, dass diese beiden unabhängig voneinander beginnen konnten, unglaublich ähnliche Argumente zu formulieren – zur gleichen Zeit und am gleichen Ort. Bisher hat noch niemand die wirklich relevanten Fragen angerissen. Offensichtlich sind hier der Mai 1968 und die Krise der Städte in den 60er Jahren Hauptfaktoren. Mit einem Schlag wurde vielen bewusst, dass wir nicht viel über Städte wissen. Unsere Modelle besagten, es gebe Tendenzen zum Erreichen eines Gleichgewichts, die Sozialstruktur bewege sich in eine bestimmte Richtung, konzentrische Kreise hätten bestimmte Auswirkungen usw. Doch auf 23 Vgl. Marx/Engels: „Die deutsche Ideologie“, S. 50-62. 24 Reclus: Nouvelle géographie universelle. 25 Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865), französischer Anarchist und Soziologe.

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einmal gewann die Stadt in weltweitem Ausmaß eine ungeheure Brisanz. Einige radikal neue Auffassungen über die Stadt und den städtischen Raum brachen sich Bahn. Die anderen beiden Akteure in dieser Entwicklung sind Jane Jacobs und David Harvey – wiederum Forscher, die – wie damals die Chicago School – mit der urbanen räumlichen Kausalität befasst waren und die Bedeutung des städtischen Raums überdachten. Ich meine hier die frühen Werke David Harveys.26 Denn eine gewisse marxistische Orthodoxie behinderte noch die volle Entfaltung eines Gedankengangs, der ein Beitrag zum spatial turn, zur ontologischen Reprivilegierung des Räumlichen hätte werden können Das will ich hier aber nicht weiter verfolgen. Im Hinblick auf Jane Jacobs meine ich vor allem das Buch von 1969 The Economy of Cities, das sehr wenig mit dem ersten Buch The Death and Life of Great American Cities, das jeder mit dem Namen Jacobs verbindet, zu tun hat.27 In diesem ersten Buch schreibt Jacobs noch leicht romantisierend über die Dichte in den Städten. Aber im 1969 erschienenen The Economy of Cities formuliert sie bahnbrechende Argumente über das, was sie den Funken nennt, der vom städtischen Wirtschaftsleben ausgeht. Doch der eigentliche Aufruf zum radikalen Umdenken kommt gleichzeitig von Foucault und Lefebvre, wobei die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Positionen erstaunlich sind. Beide sind der Auffassung, dass räumliches Denken genau so wichtig sei wie historisches Denken. Sie haben dies nicht unbedingt ganz explizit oder besonders häufig hervorgehoben. Aber bei Lefebvre ist es doch deutlich zu finden und auch bei Foucault, wenn er sich einmal zu seiner Methode äußert, was an sich eher selten ist. Im Gegensatz zu Foucault hat Lefebvre ohne Unterlass seinen Gedankengang offen gelegt.28 Im Prinzip sagen beide, dass traditionelle Raumauffassungen dualistisch, binär waren, auf Zweikammerdenken beruhten. Der vorherrschende Denkmodus begriff Raum als materielle Form, Gegenstände im Raum, kartierbare Räume. Lefebvre nannte dies „räumliche Praxis“ oder „espace perçu“, wir nennen es perceived space, sinnlich wahrgenommenen Raum. Er machte wichtige Aussagen über dieses Raumdenken, das die Geographie seit über hundert Jahren beherrscht. Das heißt, wir Geographen konzentrieren uns auf materielle Formen sowohl der Humangeographie als auch der physischen Geographie. Wir beschreiben sie in Bezug auf das, was an der Oberfläche ist, was erfassbar und messbar ist. Geographische Informationssysteme (GIS) markieren den 26 Vgl. z.B. Harvey: Social Justice and the City. 27 Jacobs: The Death and Life of Great American Cities; dies.: The Economy of Cities. 28 Lefebvre: The Production of Space. [Anm. d. Hrsg.: Diese Schrift liegt immer noch nicht in deutscher Übersetzung vor. Einen Teil des 1. Kapitels findet man auf Deutsch in Dünne/Günzel: Raumtheorie, S. 330-340.]

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heutigen Endpunkt dieser Entwicklung, der Erfassung dessen, was ich Firstspace nenne,29 den Hauptraum, auf den sich Geographen und andere räumlich orientierte Denker lange Zeit konzentriert haben. Gelegentlich gesellte sich eine zweite Auffassung von Raum dazu, häufig als ein Gegenstück, oft aber auch als Ergänzung zum ersten Firstspace-Verständnis. Konnte die erste Auffassung im Sinne eines objektiven Raumes zusammengefasst werden, so hatte dieses Raumdenken mit einem mentalen Raum, mit Gedanken über Raum zu tun. Lefebvre nannte es „espace conçu“30, wir nennen es conceived space oder Secondspace:31 Gemeint sind Raumbegriffe, Raumdenken von mentalen Karten bis hin zu Epistemologien geographischer Methodik. Die meisten dieser Raumauffassungen beziehen sich darauf, wie wir mehr über den physikalischen Raum, kartierbaren Raum, den Firstspace erfahren. Gute Geographen kombinieren beides: etwas von dem objektiven mit etwas von dem subjektiv-mentalen Raum. Einige Puristen, Wissenschaftler im negativen Sinne, konzentrierten sich ausschließlich auf den ersten, erkennbaren, objektiven Raum. Das hat einige der neueren Trends in der quantitativ orientierten Geographie verzerrt. Die Geographen greifen wieder auf zunehmend mathematische Beschreibungen des Firstspace zurück. Oder sie wollen eine Geographie mit einer anderen anhand von Korrelations- oder Regressionsanalyse erklären, ohne die gesellschaftlichen Ursachen solcher Räume und solcher Korrelationen zu ergründen. Die gesamte Geschichte des geographischen Denkens, selbst noch die Art, wie diese Geschichte gelehrt wird, kombiniert diese beiden Alternativen. Da ist einerseits die materielle Form, die Gegenstände im Raum, andererseits die mentale oder begrifflich gefasste Form, das Raumdenken. Lefebvre, aber auch Foucault in „Des éspaces autres“ („Andere Räume“32) meinten jedoch, es gebe noch eine ganz andere Art des Raumdenkens, die beide Zugänge kombiniere. Es handelt sich also nicht um eine Entweder/Oder-Alternative, sondern einen Denkmodus, der beides kombiniere und das Ausmaß des räumlichen Denkens erweitere, bis es dem des historischen Denkens gleichkommt. Sollten die alten, dualistischen Raumauffassungen die einzig möglichen sein und bleiben, dann wäre es kaum möglich zu behaupten, dass im gesellschaftlichen Leben und für das Verständnis unserer Welt Raum genau so wichtig ist wie Zeit. Aber sowohl Lefebvre als auch Foucault 29 Soja: Thirdspace, S. 74-78. 30 [Anm. d. Hrsg.: Jörg Dünne übersetzt dies als „Raumrepräsentationen“ und erläutert: „Das französische ›conçu‹, das hier so nahe wie möglich am Original als Partizip übersetzt wird, verweist gleichzeitig auf concept, den Begriff – es geht also (im Unterschied zur Wahrnehmung beim ‚perçu‘) um verstandesmäßig auf den Begriff gebrachte Räume.“ (Dünne/Günzel: Raumtheorie, S. 336, Fn. 4.)] 31 Soja: Thirdspace, S. 78-81. 32 Foucault: „Andere Räume“.

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waren davon überzeugt, dass wir räumliches Denken auf die Ebene des historischen Denkens heben sollten. Das bedeutet, dass das, was wir im Hinblick auf die Geschichte annehmen, auch für Raum gilt: Alles, was existiert, jemals existiert hat, je existieren wird, hat eine wichtige räumliche Dimension, und eine kritische räumliche Perspektive auf alles, was als existent denkbar ist, kann uns eine wesentliche Hilfe sein, die Welt zu verstehen. Ich möchte das – etwas spielerisch vielleicht – in zweifacher Weise deutlich zu machen versuchen. Diese von mir hier vertretene Denkweise ist kritisiert worden (u.a. von Benno Werlen33), indem man behauptete: Wenn schlechthin alles räumlich sein soll, dann sei nichts räumlich. Ich möchte einfach das Argument umkehren und fragen: Wenn alles historisch und zeitlich ist, dann ist nichts historisch und zeitlich. Eine solche Entgegnung halten wir für vollkommen absurd: ein Beleg für die andauernde Privilegierung des Historischen. Wir müssen das Zeitliche und das Räumliche, Geschichte und Geographie, zusammen denken. Der zweite spielerische Hinweis richtet sich explizit an deutschsprachige Leser: Warum sollen wir nicht im Kontext des spatial turn einen Begriff wie Raumgeist verwenden? Natürlich kennt jeder Zeitgeist, ein wunderbares Wort, das ins Englische übernommen wurde. Ich meine, Raumgeist (vielleicht Zeitraumgeist) sollte genau so selbstverständlich zu unserem Vokabular gehören wie Zeitgeist. Dieses Stück über Raum und Zeit spielt auch auf eine der Schlüsselfiguren der philosophischen Tradition des 20. Jahrhunderts an, die an der oben erwähnten ontologischen Verzerrung festhielt. Heideggers Sein und Zeit34 ist natürlich berühmt, aber wenig bekannt ist, dass er in seinen späten Schriften sich fragte, ob Raum auch in seine Konzeption hineingehöre, ob die räumliche Dimension des Lebens genau so wichtig wie die zeitliche sein könne. Er grübelte eine ganze Weile darüber nach, entschied sich aber schließlich dagegen.35 Und Zeit und Sein blieben für immer die bestimmenden Merkmale der westlichen Ontologie. Aber das ist eine besondere deutsche Geschichte, die wir hier nicht weiter verfolgen können. Worum geht es also bei diesem neuen Paradigma, das in den 1960er Jahren vor allem in Gestalt der Arbeiten von Lefebvre und Foucault auftauchte? Der erste Grundsatz, gewissermaßen der Ausgangspunkt lautet: Der Raum, den wir mit dem spatial turn meinen, ist gesellschaftlich produzierter Raum. Das Wort Verräumlichung wird manchmal verwendet um sicherzustellen, dass nicht nur der physikalische Raum gemeint ist. Wir meinen weder den Raum der Physik noch den Raum der Natur, wenn wir

33 Vgl. u.a. Werlen: Society, Action and Space. 34 Heidegger: Sein und Zeit. 35 Vgl. dazu Soja: Postmodern Geographies, S. 131-137.

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von neuem Raumdenken reden. Wir meinen gesellschaftlich erschaffenen Raum im Sinne eines dynamischen Prozesses. Gesellschaftlich produzierter Raum ist nicht einfach etwas, was sozusagen automatisch aus uns herausströmt. Es handelt sich um einen aktiven und politisch aufgeladenen Prozess, der ins Zentrum unserer Raumauffassung gerückt werden muss. Wie können wir nun den berühmten Titel des Lefebvreschen Buches verstehen: La production de l’espace? Damit werden Geographien entnaturalisiert; der Fokus auf die physikalische Umwelt, ja auf den physikalischen Raum überhaupt wird zurückgenommen. Ich lese gerne die Arbeiten von Physikern und Philosophen, die sich mit der Physik des Raums beschäftigen, doch ich lerne von Leuten wie Jammer, Einstein, Newton, Leibniz etc. nicht sehr viel über die gesellschaftliche Produktion des Raumes. Wenn Lefebvre über die Produktion des Raumes redete, setzte er manchmal das Wort gesellschaftlich davor in Klammern: „(gesellschaftliche) Produktion des (gesellschaftlichen) Raumes“36. Bisweilen wurde der Einwand erhoben, Lefebvre privilegiere damit das Soziale, so als sei seine Rede über den Raum eigentlich nur ein Platzhalter für das Gesellschaftliche. Aber dieser Einwand geht am Kern seiner Aussage vorbei. Lefebvres Absicht war einfach uns daran zu erinnern, dass dieser räumliche Prozess ein gesellschaftlicher Prozess ist, dass dieser Raum nicht der physikalische Raum ist, sondern gesellschaftlicher Raum, gesellschaftlich erschaffener Raum. Hinzu kommt, dass die französische Tradition – darin vielleicht auch anderen lateinischen Traditionen ähnlich – viel weniger historistisch geprägt ist als es die germanisch-teutonischen oder angelsächsischen Traditionen sind. Jedenfalls konnten die westlichen Traditionen damals nicht nachvollziehen, was sowohl Lefebvre und Foucault postulierten. Weder die liberale noch die radikale Sozialwissenschaft sah sich dazu imstande, solche Argumente zu akzeptieren. Seine damaligen Schüler Manuel Castells und David Harvey erkannten beide Lefebvres Bedeutung, doch sie waren der Überzeugung, dass er mit seinen Argumenten zu weit ging. Indem er sagte, es gebe räumliche Elemente, die sich auf gesellschaftliche Verhältnisse und soziale Klassen auswirkten, ordne er den räumlichen Verhältnissen einen privilegierten Status gegenüber den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen zu. Das war für sie inakzeptabel. Von urbaner Revolution zu sprechen, bedeutete für Lefebvre nichts Skandalöses. Wenn Gesellschaft immer urban ist, dann ist jede soziale Revolution per definitionem urban. Doch zu jener Zeit war dies eine ketzerische Ansicht, die von David Harvey in seinem Buch Social Justice and the City37 stark kritisiert wurde. In den frühen 1980er Jahren fing ich –

36 Lefebvre: The Production of Space, S. 30: „[…] (social) space is a (social) product.“; vgl. Soja: Thirdspace, S. 46. 37 Harvey: Social Justice and the City.

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selbst ein marxistischer Geograph – damit an, diesen Fragestellungen nachzugehen und andere marxistische Geographen danach zu fragen, weshalb sie die Augen davor verschlössen, dass Raum auch Gesellschaft und gesellschaftliche Verhältnisse formt. Gute Freunde nannten mich daraufhin den Raumfetischisten Soja.38 Angeblich verdinglichte ich den Raum. Dies schien vielen immer noch inakzeptabel. Letztlich bestand das Ergebnis dieser Auseinandersetzungen darin, dass 25 Jahre lang die Wirkung dieser frühen Keimzelle des spatial turn entschärft, ignoriert oder falsch interpretiert wurde. Eine typische Reaktion derjenigen, die über Raum nachdachten, zeigte sich bei den klassischen Geographen: In der Tat ist es so, dass Geographen – nicht nur in Deutschland, auch in Großbritannien und in den USA – bis zum heutigen Tag durchaus zu den akademischen Milieus zählen, die den spatial turn am stärksten ablehnen. Viele fragen sich verstört, was das mit dem spatial turn solle? Seit über 150 Jahren arbeiteten doch Geographen an Raumkonzepten. Was solle jetzt daran neu sein? Kehrseitig aber wurden unsere raumbezogenen Argumente von einer etwas unbändigen Ansammlung anderer Disziplinen aufgenommen, die keinerlei fachspezifisches Gepäck im Schlepptau hatten, das ihnen immer schon vorgeschrieben hätte, wie über Raum zu denken sei. So fanden diese Disziplinen Zugang zum spatial turn. Jetzt sind es vor allem Medienwissenschaften, Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte, die Konzepte vom städtischen Raum adaptieren und transformieren – in viel innovativerer Weise als die Ansätze der meisten Geographen. Es gibt einige wichtige Ausnahmen, aber der größte Teil der Geographen befasst sich nicht tiefer gehend mit dem neuen Raumdenken. Ein weiteres von Lefebvres Argumenten, das immer noch erheblichen Widerstand hervorruft: Er behauptete, dass die Entwicklung aller menschlichen Gesellschaften sich immer nur in Form urbaner Gesellschaften vollziehe. Von allem Anfang an, mit den ersten Schritten aus dem Stadium der Jäger und Sammler vor 12.000 Jahren heraus, sind die Menschen zu Städtern geworden und entwerfen ihre Gesellschaft urban. Alle Formen gesellschaftlicher Entwicklung in den letzten 12.000 Jahren – die Übergänge zum Ackerbau, zur politischen Revolution der Sumerer, dem Aufstieg des Stadtstaates bis hin zur industriellen Revolution – gingen von Städten aus, sie waren urbaner Natur. Jenseits des Stadiums der Jäger und Sammler hat es niemals eine nichturbane Gesellschaft gegeben. Es gibt gar keine nichträumlichen gesellschaftlichen Verhältnisse in irgendeinem konkreten Sinne. Wir können davon abstrahieren und von diesen Abstraktionen reden, doch wollen wir uns mit der realen Welt und auch mit den Repräsentationen jener realen Welt beschäftigen, so müssen 38 Vgl. Soja/Hadjimichalis: „Between Geographical Materialism and Spatial Fetishism“.

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wir sie in dieser neuen Weise betrachten. Lefebvre nannte diese dritte Form des Raumes „espace vécu“ oder „gelebter Raum“. Verwende ich Architekten gegenüber diesen Ausdruck, so sagen sie oft, dass sie schon immer bei der Raumgestaltung an gelebten Raum gedacht hätten. Doch Lefebvre meinte damit, dass gelebter Raum auf derselben Ebene anzusiedeln wäre wie gelebte Zeit. Wir betrachten Einzelbiographien und können diese gelebte Zeiten nennen. Sie sind aber auch gelebte Räume. Reale Räume werden als gelebte Räume angesehen. Foucault verwendete andere Begriffe, die auch häufig falsch gebraucht werden: Heterotopologie und Heterotopie.39 Sowohl gelebter Raum als auch Heterotopie zeigen dieses alternative Raumdenken an, eine Denkweise, die erst konstruiert werden muss, weil sie für so lange Zeit schon vernachlässigt wurde. Es handelt sich um ein Raumdenken mit vielen Ungewissheiten und vielen Unwägbarkeiten; es geht über die materielle Form, über das Reale und das Vorgestellte, über kartierbare Formen und ihre Repräsentationen hinaus. Es gibt viele rätselhafte Dinge, die wir nie wissen werden. Dieser Tatsache sind sich Historiker bewusst: Selbst umfangreichste biographische Forschung vermag nicht alles Erkennbare über das individuelle Leben einer einzigen Person ans Tageslicht zu befördern. Ähnliches gilt aber auch für den Raum. Betrachten wir Raum heterotopologisch oder als gelebten Raum, dann merken wir, dass wir zwar ständig unser Wissen erweitern müssen, aber doch niemals vollständiges Wissen erlangen. Trotzdem dürfen wir uns nie mit den erreichten Wissensbeständen zufrieden geben, sondern müssen immer weiter gehen – vielleicht auf ebenso nomadische Weise wie Lefebvre. Wesentlich ist: Wenn wir annehmen, dass der Raum gesellschaftlich erschaffen wird, dann erkennen wir, dass wir ihn ändern können. Das ist die bedeutsame logische Konsequenz: Raum wird uns nicht einfach gegeben; er ist nicht eine vererbte physische Umgebung, die wir einfach hinnehmen müssen, der uns beeinflusst, ohne dass wir auf ihn zurückwirken könnten. Produzieren wir einen Raum, der sich negativ auswirkt, der ungerecht ist und uns unterdrückt, dann können wir ihn ebenso gut auch ändern. Die politischen Konsequenzen, die daraus erwachsen, waren von Lefebvre durchaus beabsichtigt. Ein weiterer Gedanke Lefebvres, der im Moment breit diskutiert wird, bezieht sich auf die, wie ich es formuliert habe, „Trialektik der Räumlichkeit“40 – ein Begriff, der mir bisweilen unangenehm ist. Ich benutze ihn um zu zeigen, dass die Aspekte raumbezogenen Denkens inter-reaktiv sind, aber immer als eine Trias aufzufassen sind – also nie bloß nur das Räumliche und das Soziale, das Räumliche und das Historische gemeint ist. Es handelt sich immer um gesellschaftlich verankerte Geo-Geschichte. 39 Foucault: „Andere Räume“. 40 Soja: „Die Trialektik der Räumlichkeit“; ders.: Thirdspace, S. 53-82.

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Mit Rückgriff auf Lefebvre und Foucault sprach ich zunächst in diesem Zusammenhang nur von einer sozial-räumlichen Dialektik. Diese Position versuchte ich anfänglich in vielen Diskussionen mit anderen marxistischen Geographen und später noch gegenüber einem größeren Publikum mit meinem Buch Postmodern Geographies41 deutlich zu machen. Der Kerngedanke dabei: Gesellschaftliche Prozesse bilden ebenso räumliche Formen aus wie der Raum gesellschaftliche Prozesse erst verursacht. Zunächst lässt sich relativ einfach behaupten, dass gesellschaftliche Prozesse räumliche Formen ausprägen. Marxisten hatten hier Pionierarbeit geleistet, Feministen den Durchbruch geschafft.42 Oder man denke an die großartige Argumentation David Harveys, dass kapitalistische Akkumulation und deren Wettbewerbsanforderungen Geographien prägten:43 Mit Kapitalinvestitionen würden räumliche Strukturen erschaffen, die aber in der Folgezeit wegen ihrer Stabilität der weiteren Akkumulation im Wege ständen, daher müssten bauliche Anlagen zerstört und restrukturiert werden, um neuerliche Akkumulation zu ermöglichen. Hier hatten wir hervorragende Erklärungen über die Art und Weise, wie soziale Prozesse räumliche Formen prägen, wie das Patriarchat eine maskuline Stadt und maskuline urbane Räume gestaltet. Es waren Argumentationen, mit deren Hilfe wir Geographen uns aus den Fängen einer positivistischen, übermäßig wissenschaftlichen und mathematischen Geographie, die sich nur für Firstspace-Phänomene interessierte, herauslösten. Zudem half der Strukturalismus, weiter unter die Oberfläche zu gelangen – gesellschaftliche Prozesse zu finden, die Geographien in verschiedener Weise prägten, schufen, produzierten. Hier waren einige der neuen, vielversprechenden Richtungen zu erkennen, die die postpositivistische Geographie einschlug. Doch wie stand es mit der umgekehrten Überlegung? Wie prägen räumliche Prozesse soziale Formen, soziale Schichtungen, gesellschaftliche Verhältnisse? Auch hier gab es einige Forscher, die Pionierarbeit leisteten, wie z.B. Anthony Giddens mit seiner raum-zeitlichen Strukturierung gesellschaftlicher Verhältnisse.44 Giddens Buch war ein wichtiger Durchbruch, auch wenn Giddens nicht recht wusste, wie er mit empirischen Studien diese These weiter erhärten sollte. Er hat dann keine weiteren Arbeiten dieser Art unternommen und ist in seinen späteren sogar von dieser Position wieder abgerückt. Aber das ist eigentlich der springende Punkt des neuen Raumdenkens, das ich im Zentrum des spatial turn sehe. Etwas vereinfacht ausgedrückt: Die Hauptfrage ist, wie wir den Begriff der urbanen räumlichen Kausalität verstehen. Es handelt sich um eine sozialräumliche Dialektik, die in beiden Richtungen wirkt.

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Soja: Postmodern Geographies. Vgl. Massey: Space, Place and Gender. Vgl. Harvey: The Urbanization of Capital. Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft.

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Ein gutes Beispiel, das die zunehmende Akzeptanz des spatial turn auch in politisch-administrativen Kontexten verdeutlicht, ist die jüngste Entwicklung innerhalb der Europäischen Union. Sie verfolgt jetzt ganz offiziell eine Politik, die mit einer Begriffskombination benannt ist, die noch vor zehn Jahren schlechterdings unmöglich gewesen wäre: EUREK, das „Europäische Raumentwicklungskonzept“45 [„European Spatial Development Perspective“]. Auch heute klingt eine solche Begriffskombination nicht gerade eingängig. Aber zumindest ist die Idee für ein solches Entwicklungskonzept ein Zeichen für eine veränderte Raumauffassung. Die sozial-räumliche Dialektik darf im Übrigen nicht mit einem Umweltdeterminismus verwechselt werden, denn ihr Fokus ist gesellschaftlich erschaffener Raum. Es gibt Geographen, die eine solche Position nicht vertreten möchten, weil sie fürchten, von Sozialwissenschaftlern der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden. Sie wollen nicht wie die früheren Umweltdeterministen eines fahrlässigen Reduktionismus geziehen werden. Wir behaupten auch gar nicht, dass beispielsweise das Klima gesellschaftliches Verhalten determiniere. Sondern wir behaupten, dass die Räume, die wir erschaffen, – ob im urbanen oder regionalen Kontext, ob international oder global, ob es sich um globalen Raum oder um das, was man vielleicht als Raum der „Weltgesellschaft“46 bezeichnen mag, handelt – Räume sind, die unter Bedingungen massiver Ungleichheit und Ungerechtigkeit gesellschaftlich erschaffen worden sind. Und dass diese Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten abgeschafft gehören – auf der globalen Ebene wie auch auf jeder anderen Ebene. Der spatial turn – so wie er hier vertreten werden soll – ermöglicht auch die Politisierung des Raums in einer ungekannten Art und Weise. Beispiele für eine solche Politisierung sind die beiden bereits eingangs erwähnten Konzepte, auf die ich jetzt eingehen möchte: 1. Räumliches Kapital: Im Gefolge der Untersuchung urbaner räumlicher Kausalität gibt es ein neues, wirklich interdisziplinäres Arbeitsfeld für alle die Wissenschaften, die den Stimulus erkennen, der von urbanen Agglomerationen ausgeht. Es sind nicht in erster Linie Kulturgeographen, die nach so etwas wie räumlichem Kapital fragen, sondern vor allem geographisch orientierte Wirtschaftswissenschaftler. Von der wirtschaftlichen Kraft städtischer Ökonomien, die auf der Dichte der urbanen Lebensverhältnisse beruhte, war schon der neoklassische Nationalökonom Alfred Marshall im späten 19. Jahrhundert überzeugt gewesen. „Stadtluft macht frei“, und sie sorgte auch für Profite: Marshall ging von einer Mischung aus lokalen und städtischen Ökonomien aus.47 45 Europäische Kommission: EUREK – Europäisches Raumentwicklungskonzept. 46 Luhmann: „Globalization or World Society“; Stichweh: „Zur Genese der Weltgesellschaft“. 47 Vgl. Marshall: Handbuch der Volkswirtschaftslehre.

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Heute kehrt die Volkswirtschaftslehre langsam dazu zurück, diese kreative, generative, innovative Kraft städtischer Agglomerationen als eine Hauptantriebskraft der urbanen wirtschaftlichen Entwicklung einzuschätzen – sicherlich nicht als die einzige Kraft, aber vielleicht als eine primäre. Robert Lucas, einer der führenden Wirtschaftswissenschaftler und Gewinner des Nobelpreises, der die Entwicklungstheorie ganz neu formuliert hat, gelangt heute letztlich wieder zu einem Standpunkt, der dem Ansatz von Jane Jacobs aus dem Jahre 1969 höchste Anerkennung zollen muss. Sie habe für diese Arbeit den Nobelpreis verdient, meint Lucas. Wirtschaftswissenschaftler nennen jetzt den Hauptantrieb der Rentabilität JaneJacobs-Ökonomien oder „Jane Jacobs externalities“48. In ihrem brillanten Buch aus dem Jahre 1969 The Economy of Cities nimmt Jacobs als Ausgangspunkt die neolithische Stadt Catal Hüyük bzw. das Modell der imaginären Stadt New Obsidian vor 12. 000 Jahren. Ihre These ist, dass es die lebendige Kraft der Städte ist, von der die neolithische Revolution ausgeht. Überhaupt seien alle revolutionären Momente in der gesellschaftlichen Entwicklung städtischen Ursprungs. Dies gilt auch für die industrielle Revolution. Historiker würden vielleicht einwenden, dass die ersten Fabriken bei Stromschnellen an Flüssen entstanden. Doch den entwickelten Kapitalismus sollte man immer noch so benennen, wie er ursprünglich benannt wurde: als urbanen industriellen Kapitalismus. Das Proletariat ist städtisch. Bei dem Begriff Bourgeoisie ist das Urbane schon dem Wortkörper abzulesen. Aber diese Urbanität war lange in Vergessenheit geraten – durch die historistische Vernachlässigung der räumlichen Kausalität. Auch wenn er den Begriff nicht verwendete, hat sich Marx mit urban bedingtem industriellem Kapitalismus beschäftigt. Diese neue Ausrichtung des spatial turn macht erstaunliche Fortschritte und benötigt dringend weitere Arbeiten von Kulturwissenschaftlern und auch von Geographen. Dieses Feld sollte nicht einfach den Wirtschaftswissenschaftlern überlassen werden. Es erfordert gehaltvollere Ansätze von anderen Wissenschaftlern und darf nicht vernachlässigt oder gar der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Einige außerordentliche Schritte sind schon gemacht worden. Es handelt sich dabei um eine besonders produktive und absehbar nachhaltige Form, am derzeitigen spatial turn zu partizipieren. 2. Räumliche Gerechtigkeit: Die zweite neue Richtung hängt mit dem Begriff der räumlichen Gerechtigkeit zusammen. Um deutlich zu machen, was ich damit meine, führe ich kurz eine Gewerkschaftsbewegung in Los Angeles an, die Bus Riders Union (BRU). Diese Fahrgast-Gewerkschaft organisiert annähernd 75.000 Mitglieder, die meisten von ihnen arme arbeitende Einwanderer aus der Innenstadt von L.A. Sie beschreiben sich 48 Lucas: „On the Mechanics of Economic Development“; Nowlan: „Jane Jacobs Among the Economists“.

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insofern als abhängig vom öffentlichen Nahverkehr, weil sie es sich nicht leisten können, ein Auto zu unterhalten und Autobahnen zu benutzen. Sie sind besonders abhängig von den Bussen, die ihnen die Fahrten zu den häufig weit auseinander liegenden Arbeitsstätten ihrer unterschiedlichen Mini-Jobs ermöglichen. Das Bussystem war lange gut und flexibel, doch die Stadt Los Angeles entschied sich, an dessen Stelle auf ein mehrere Milliarden Dollar teueres Schienennetz zu setzen. Die BRU klagte gegen die städtischen Verkehrsbetriebe, die Metropolitan Transit Authority (MTA) von Los Angeles, mit einer Argumentation, die den Gedanken einer räumlichen Gerechtigkeit ins Zentrum rückte: Das Schienennetz fördere die Rassendiskriminierung und begünstige Weiße gegenüber den armen Minderheiten. Das Vorhaben der MTA sei räumlich ungerecht, weil es schon bestehende räumliche Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten noch verschärfe, indem es einige Stadtteile gegenüber anderen begünstige – nämlich weiße Vorstädte gegenüber den Bedürfnissen der größtenteils von armen Einwanderern bewohnten Innenstadt.49 Mit dieser Argumentation bekam die Bus Riders Union vor Gericht Recht. Neue Bauvorhaben der MTA mussten vorübergehend gestoppt werden, und ihr Etat wurde ganz bestimmten Zwecken zugeordnet: So wurden gerichtliche Auflagen verhängt, mehr als 100 neue Busse zu beschaffen, die Kriminalität in den Bussen zu reduzieren, Verspätungen zu reduzieren, Fahrzeiten generell arbeitnehmerfreundlicher zu gestalten usw.50 Letztlich wurde durch diese Auflagen so viel Geld gebunden, dass die MTA ihre Investitionen in das räumlich ungerechte Schienennetz stornieren musste. Leute aus den Reihen der Bus Riders Union wurden fortan sogar als Berater in die Entscheidungsprozesse der MTA integriert. Und diese Gewerkschaft floriert nach wie vor. Das Beispiel soll verdeutlichen, wie der spatial turn im Begriff ist, auch ein Teil von politischer Praxis zu werden. Es zeugt von einem politisierten räumlichen Bewusstsein, das nun beginnt, sich in politisch bedeutsamen Aktionen auszudrücken. Und ich schließe in der Hoffnung, dass auch solche politische Praxis wachsenden Anteil an der Konjunktur des gegenwärtigen spatial turn haben wird. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas La Presti und Jörg Döring

49 Vgl. Mann / Planning Committee of the Bus Riders Union: A New Vision for Urban Transportation. 50 Vgl. Wolch u.a.: „Urban Nature and the Nature of Urbanism“, S. 388-390.

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Der Spatial Turn, von der Geographie her beobachtet GERHARD HARD

Semantische Schwindelgefühle Meine erste Erfahrung mit dem spatial turn (so, wie er in den Sozial-, Kultur-, Literatur-, Geistes- und Medienwissenschaften erscheint) war eine Art von intellektuellem Schwindelgefühl. Ein solches Schwindelgefühl hat oft mehrere Gründe, diesmal war seine Quelle aber ziemlich klar: Der Signifikant Raum und seine Derivate schienen von irreduzibler Polysemie, ja Homonymie befallen zu sein, wobei doch fast alle Autoren vorgaben, mehr oder weniger von der gleichen Sache, nämlich über den Raum zu reden. Auch auf der Tagung über den „Geocode der Medien“ in Siegen kehrte dieses Schwindelgefühl wieder.1 Allein im Vortrag von Rudolf Stichweh z.B. identifizierte ich beim angestrengten Versuch zu verstehen fünf ganz verschiedene Bedeutungen von Raum, die mir keinen gemeinsamen Bedeutungskern mehr zu haben schienen.2 Trotzdem schie1

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Die Tagung „Der Geocode der Medien. Eine Standortbestimmung des spatial turn“ fand vom 12. bis 14. Oktober 2006 an der Universität Siegen statt. Die Vorträge sind abrufbar unter: http://www.mediengeographie.de/ geocode.htm. In der Diskussion zum Vortrag wurden (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) aufgezählt: Raum (1.) im Sinne von „der menschliche Lebensraum auf der Erde“, (2.) Raum als ein Insgesamt von Distanzrelationen (Transportwiderständen und Erreichbarkeiten), (3.) Raum als außergesellschaftliche (extrakommunikative) physisch-materielle Umwelt der Gesellschaft, (4.) Raum als Raumsemantik, also als semantische, immaterielle Einheiten(en) innerhalb der Kommunikation. Eine weitere (5.), eher kosmologische Verwendung von Raum konnte ich nicht genauer entschlüsseln. Kurz, eine Lawine von Homonymen schien auf mich zuzurollen. Wie in manchen geographieinternen Diskussionen hat Raum, wie es scheint, auch im spatial turn den Status eines leeren Signifikanten fast erreicht. – Über unterschiedliche Gebrauchsweisen von Raum sowie die zugehörigen Kontexte in der deutschsprachigen Geographie vgl. z.B. Bartels/Hard in: Hard: Dimensionen geographischen Den-

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nen die Vortragenden weithin überzeugt, immer von „dem Raum“, ja dem gleichen Raum zu sprechen, so als sei bei aller Homonymie doch immer dasselbe Ding an sich, eben der Raum avisiert, nur eben jeweils etwas anders. Manche Äußerungen schienen mir das unmittelbar zu bestätigen, z.B. im Vortrag von Rudolf Stichweh der irritierende, offensichtlich auf Luhmanns berühmtes „Es gibt Systeme“ anspielende Existenzsatz „Es gibt Raum“.3 Bleibt man im Rahmen der Systemtheorie, dann muss Luhmanns „Es gibt Systeme“ aufgrund seiner eigenen Erläuterungen als ein Kürzel für die theoriebautechnische (Selbst-)Anweisung gelesen werden, „alles Soziale“ im Lichte der Leitdifferenz „System/Umwelt“ zu beobachten – so wie man schon die Bezeichnung System in systemtheoretischem Kontext sinnvollerweise als ein Kürzel für die „Differenz von System und Umwelt“ liest. Für „Es gibt Raum“ macht eine analoge differenztheoretische Lesart aber kaum einen Sinn, und so bleibt die Vermutung, dass auch hier eine (!) Wirklichkeitsstruktur und ein (!) zugehöriger Begriff(skern) Raum avisiert werden sollte.4 Nicht bei allen Autoren bzw. Vortragenden herrschte so viel semantische Transparenz wie bei Stichweh. Der begriffliche Inhalt von Raum blieb oft schlechthin opak, und das Gemeinte war oft auch auf Nachfrage hin nicht herauszubekommen. Gleichzeitig aber führte der Ausdruck Raum bei aller sonstigen Undeutlichkeit doch fast immer sehr deutliche Konnotationen von hoher wissenschaftlicher, gesellschaftlicher und ontischer Bedeutsamkeit mit sich. Bald festigte sich der Eindruck, nur noch ein sprachasketisches Experiment könnte für mehr Klarheit sorgen: der Verzicht, beim spatial turn die Vokabel Raum zu benutzen, damit jeder gezwungen wäre, wenigstens implizit zu sagen, was er eigentlich meint, wenn er gerne Raum, Räumlichkeit, räumlich oder auch nur spatial turn sagen würde. In der Literatur des spatial turn habe ich auch keine nennenswerte Reflexion auf die selbst praktizierten Raumsemantiken gefunden, nicht einmal linguistisch solide Beobachtungen des eigenen Gebrauchs des Wortes Raum. Manchmal wird Raum mehr oder weniger pompös definiert,

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kens, S. 15ff. Vgl. dazu die verschriftete Fassung des Vortrags von Stichweh in diesem Band. Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 30ff. In üblicher Erkenntnistheorie gelten solche „reinen“ oder „absoluten“ Existenzaussagen, d.h. Existenzaussagen mit undefiniertem Individuen- bzw. Sinnbereich, im Allgemeinen als unprüfbar-metaphysisch, es sei denn, man interpretiere sie als metasprachliche Aussagen in objektsprachlicher Form und verstehe sie (wie z.B. in Luhmanns „Es gibt Systeme“) lediglich als die pointierte Form einer Brauchbarkeits- oder Unentbehrlichkeitsbehauptung, etwa im Sinne von: „Der (bzw. ein) Begriff „Raum“ ist sozialtheoretisch unentbehrlich“ – worauf wie bei Luhmann die Demonstration folgen müsste. Eine solche Demonstration schien mir aber zu fehlen.

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aber diese Definition hat dann durchweg nur einen sehr geringen oder gar keinen erkennbaren Bezug oder Einfluss auf den tatsächlichen Wortgebrauch.5 Stattdessen wird man in der Literatur des spatial turn durch Referate ungewisser Kompetenz traktiert (der Raum bei Aristoteles, bei Leibniz, bei Kant, bei Einstein, Husserl, Heidegger, Lacan, Deleuze ..., der Raum in der höheren Mathematik, in der theoretischen Physik, in Quantentheorie und Elementarteilchenphysik und so weiter und so fort). Um darin einen Sinn zu sehen, muss man schon sehr essentialistisch denken. Dabei scheint es mir für Soziologen, Kulturwissenschaftler etc., die nach für sie brauchbaren Raumkonzepten suchen, ein hoffnungsloses Unterfangen zu sein, auf diese Weise z.B. Mathematik, Physik und Philosophiegeschichte zu durchkämmen. Die Räume, die sie dort finden, sind theoretische Terme in sehr verschiedenen, oft toto globo unterschiedlichen Theorien über toto globo verschiedene universes of discourse – theoretische Begriffe, die oft nur im Kontext dieser meist nicht-sozialwissenschaftlichen, nicht-kulturwissenschaftlichen Theorien Funktion und Sinn bekommen. Was soll für den Sozial- und Kulturwissenschaftler dabei herauskommen außer z.B. etwas Allgemeinbildung, einem pikanten intellektuellen Salat sowie Stoff für Metaphern und wildes Analogisieren?

Déjà lu, déjà entendu In Bezug auf die Raumkonzepte der Geographie sähe das anders aus. Bei Soziologinnen des spatial turn kann man zwar lesen, dass „selbst [!] die [!] Geographen es vermeiden, theoretisch über den Raum nachzudenken“6; seit etwa 200 Jahren ist aber eher das Gegenteil richtig. Raum und die gesamte Raumsemantik (wozu auch Landschaft, Land, Region, Länderkunde etc. gehören) waren fast immer auch ein disziplinpolitisch brisantes Thema, bei dem es für viele Geographen (noch heute!) um Sein oder Nichtsein der Geographie geht, auch mit dem Effekt, dass nicht jeder Geograph es immer für geraten hielt, alles und genau das zu sagen, was er darüber dachte. Außerdem ging es bei Raum fast immer auch um „das richtige Raumkonzept“ – sowohl auf der Ebene der geographischen Forschungsprogramme (und ihrer Empirie) wie auch auf der abgehobeneren Ebene der geographischen Geographietheorien (Reflexionstheorien oder Theorien der Geographie in der Geographie, die man spöttisch auch „geographische Selbstverständigungstexte“ genannt hat). 5

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Dabei käme es vor allem auf die Texte und Situationen an, in denen die Sozial- und Kulturwissenschaftler „in their working tone of voice“ reden, wo sie also mit dem Wort arbeiten und nicht nur philosophieren oder Forschungsanträge garnieren. Funken/Löw: „Ego-Shooters Container“, S. 69.

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Gerade aus den zuletzt genannten Kontexten sind die eingangs erwähnten „semantischen Schwindelgefühle“ auch manchem Geographen gut bekannt.7 Als Geograph hat man also reichlich direkte wie indirekte (fachhistorische) Vorerfahrungen im Umgang mit Raum; das gilt für Physische Geographen nicht anders als für Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeographen. Infolge dessen haben sie auch im Kontext des spatial turn viele déjà entendu- und déjà lu-Erlebnisse, und so z.B. auch die auf der Siegener Tagung anwesenden Geographen (die freilich kein ganz repräsentatives Geographensample waren). Sie reagierten dann unterschiedlich, von verwundert über befriedigt bis verärgert: verwundert oder befriedigt über die vehemente Neuerfindung der geographischen Räume, aber zuweilen auch verärgert über die durchgängige Unbezogenheit und Ungeschlachtheit dieses Räumelns. Dieser Ärger hatte durchaus eine gewisse Berechtigung, denn, wie man zu Recht sagt, wer das Rad ganz neu erfindet, fährt dann gemeinhin sehr schlecht damit. Einem Geographen, der sich ärgerte, riet ich aber, lieber den Naivitätscharme dieses neuen Räumelns zu genießen – etwa so, wie ein Kunstkenner naive Malerei. Es würde ihn nicht wundern, bemerkte einer der anwesenden Geographen, wenn die Kultur- und Medienwissenschaftler nach der Geographie nun bald – z.B. unter den Namen social bzw. economic turn – auch die Soziologie und die Wirtschaftswissenschaften neu erfänden. Diese polemisch-ironische Prognose war von der Wirklichkeit schon überholt: Doris Bachmann-Medick hatte den social turn bereits angekündigt, allerdings neben unzähligen anderen, z.B. einen mnemonic, medial, ethical, historic, practice, sogar einen religious und biological turn – Ankündigungen, die auch ein wohlwollender Rezensent dann schon als „Androhungen“ wahrnahm.8 Das ist eine den Geographen aus der Geographie altbekannte Geschichte: Diffuse Disziplinen, zumal diffuse folk sciences, pflegen sich und ihre Gegenstände zu „kosmisieren“, und das heißt auch: sich gegenüber kompakteren Disziplinen zu einem „konkreteren“, „praktischeren“ und eingängigeren Gegen- und Paralleluniversum zu stilisieren.9 Von den angedeuteten Erfahrungen her lag es nahe, den spatial turn und seine Raumkonzepte, soweit ich sie bisher beobachten konnte, einmal von der Geographie und den geographischen Raumkonzepten her zu beobachten – auch nach der Devise: „Mon verre est petit, mais je bois de mon verre.“ Diese geographischen Raumkonzepte wiederum expliziere 7

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Über die typischen Denkfiguren geographischer Reflexionstheorien, zumal die „kosmistisch entgleisten“, vgl. Hard: Dimensionen geographischen Denkens, S. 371ff., besonders S. 379ff.; ders.: „Was ist Geographie?“, S. 21ff. Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 381ff, 386ff, 400ff.; vgl. dazu auch Kohl: „Keine Wende ohne Migrationshintergrund“, S. 37. Zu dieser Denkfigur vgl. z.B. Hard: Dimensionen geographischen Denkens, S. 173ff., 379ff.

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ich, indem ich sie in einer mehr oder weniger kohärenten Evolutionsgeschichte verorte, nämlich in der Paradigmengeschichte der modernen Geographie. Diese Kurzgeschichte der Geographie als Raumwissenschaft erzähle ich (der Kürze halber mit nur wenigen Namen) als eine Geschichte teils langfristig koexistierender, teils sich mit einer gewissen Konsequenz, ja Entwicklungslogik ablösender Forschungsprogramme (Paradigmen), von denen jedes seine spezifischen Raumkonzepte – sozusagen seine paradigmatischen Ideal- und Eigenräume – produziert hat. Diese Raumkonzepte enthalten dann oft schon für sich allein die Quintessenz des betreffenden Forschungsprogramms. Auf diese Weise ergibt sich eine überschaubare Menge von geographischen Raumkonzepten, die immer wieder auch (freilich nicht nur) durch die Phonemsequenz bzw. die Buchstabenfolge Raum/Erdraum wiedergegeben wurden; von einigen zeitweise konkurrierenden Termini wird noch die Rede sein. Und nicht zuletzt: Die Geschichte der geographischen Raumparadigmen und Raumkonzepte ist auch eine paradigmatische Geschichte ihrer Verschiebung, Kritik und Zersetzung. Die Kenner der Geographiegeschichte werden mir einige kräftige didaktische Reduktionen und Vergewaltigungen zum Idealtyp verzeihen müssen. Um Übersichtlichkeit zur wahren, beobachte ich vor allem von der deutschsprachigen Geographie her, die aber ihrerseits – vor allem im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts – stark von der angelsächsischen Geographie geprägt worden ist.

Das geographische Kernparadigma und sein Raum Die Geographie ist in syn- wie in diachronischer Sicht ein sehr heterogenes Gebilde; dennoch hatte die klassische Geographie, d.h. die MainstreamGeographie des 19. und 20. Jahrhunderts, ein dominantes Hauptthema und eine unverkennbare Kerntheorie; in missverständlicher Kürze: Die Auseinandersetzung und Symbiose menschlicher Lebensformen oder ganzer Kulturen mit ihren räumlichen (physisch-biotischen, ökologischen) Milieus; in originärer Diktion: die Erde als das räumlich wohlgegliederte Wohn- und Erziehungshaus, als Wohn- und Bildungsstätte der Völker bzw. des Menschengeschlechts. Unter dem genannten erdräumlichen Milieu konnte je nach Kontext sowohl der ursprüngliche wie der bereits historisch-gesellschaftliche veränderte (angeeignete, geordnete, abgegrenzte ...) Raum verstanden werden. Mit einer Kurzformel kann man von einem Mensch-Erde-, Mensch-Naturoder Mensch-Raum-Thema, in heutiger Sprache von einer „Ökologie der Gesellschaft(en)“ reden. Auf der Seite des Menschen bzw. der Gesellschaften war den historischen Gegebenheiten gemäß zunächst (wenn auch

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nicht nur) an relativ einfache Lebensformen mit einfachen (vorindustriellen) und quasi-handwerklichen Formen der Naturbearbeitung gedacht, vor allem (wie ich es einmal überspitzt ausgedrückt habe) an den homo agroregionalis und ähnliche autochthone Lebensformen in einer Welt mit noch relativ geringen horizontalen Verflechtungen. Von heute her gesehen, legte diese Sinntheorie der Geographie es den Geographen nahe, vor allem eine segmentär gegliederte soziale und kulturelle Welt zu erwarten. Eben dieses Thema konstituierte die Rittersche Wissenschaft, die seit Carl Ritter (1779-1859) und der Ritterschen Schule mittels eben dieser „Idee“ den „rohen Stoff“ – d.h. die Stoffmassen z.B. aus den alten Landund-Leute-Beschreibungen, den neuen Kompendiengeographien und den neuesten Staatenkunden/Statistiken – zu einer Schul-, Universitäts- und allgemeinen Bildungswissenschaft fokussieren und veredeln sollte. Im Rahmen dieses Forschungsprogramms meinte dann Raum/Erdraum den Schauplatz dieser Mensch-Natur(raum)-Symbiose; er bezeichnete die in der Geographie viel beschworene „komplexe Ganzheit“ aus Natur und Kultur, aus Dingen und Menschen – aber die Dinge nicht nur als Dinge, sondern auch als soziale Güter und die Menschen nicht nur als Körper, sondern auch als soziale Wesen. Kurz: Raum konnte alles meinen, „was es da gibt“, vom Physisch-Materiellen bis zum Sozialen, von den Naturgegenständen über die kulturellen Artefakte bis zum „ganzen Menschen“, seinen sozialen Gruppierungen und deren physischen Manifestationen – samt all ihren räumlichen und anderen Relationen. Das war der altgeographische, „irdisch erfüllte Raum“, und diese „komplexe Ganzheit“ konnte neben „(Erd-)Raum“ auch „Land“, angelsächsisch z.B. „region“, französisch „région“ und – vorzugsweise im deutschen Sprachbereich des 20. Jahrhunderts – auch „Landschaft“ bzw. „die ganze Landschaft“ heißen.10 In diesem Sinne also war die Geographie von Hause aus eine Raumwissenschaft, galt der Raum als der Gegenstand der Geographie. Dabei privilegierten die Geographen zwar einen mittleren landschaftlich-regionalen Betrachtungsmaßstab, im Prinzip aber interessierte „der Raum“ doch auf allen Maßstabsebenen: vom lokalen bis zum globalen Maßstab, vom Wohnhaus bis zur Erde als „Wohnhaus des Menschengeschlechts“. Dieser altgeographische Raum – in den üblichen Termini durchaus ein relationaler und kein (bloßer) Container-Raum – war aber sichtlich auch ein Prototyp dessen, was der Logiker und Philosoph W.V.O. Quine einen „ontologischen Slum“, der Stadtsoziologe Peter Saunders eine „Rumpelkammer“, Karl Popper ein „verworrenes holistisches Hirngespinst“ und 10 Zuweilen meinte Raum pars pro toto auch nur die Naturgegebenheiten, den Naturraum, und manchmal auch vorzugsweise nur das (landschaftlich) Sichtbare – d.h. das, was dem Auflösungs- und Synthesevermögen des unbewaffneten menschlichen Auges entspricht, also in etwa das, was mit den eher bildungssprachlichen Wörtern Landschaft, landscape, paysage etc. gemeint ist.

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Gaston Bachelard ein „sinnüberladenes“ „erkenntnisverhinderndes“ Konzept des „unmittelbaren Realismus“ genannt hat.11 Das sind allerdings Urteile vom hohen Ross eines modernen Wissenschaftsverständnisses herab, und eine direkte Anwendung auf die Rittersche Wissenschaft und den altgeographischen Raum könnte man, wie ich gleich zeigen werde, unhistorisch nennen. Anderes indessen gilt im Hinblick auf den zeitgenössischen spatial turn, d.h. wenn auch dort wieder spontan Räume dieses altgeographischen Typs konstituiert werden, sogar als Gegenstände einer Raumsoziologie oder einer sozialwissenschaftlichen Theorie des Raumes. Dementsprechend formuliere ich im Folgenden in aller Kürze erst eine historistische Ehrenrettung des altgeographischen Raumes und dann eine Kritik seiner unrettbaren Neuerfindungen im spatial turn.

Klassische Geographie als „verstehende“ Naturwissenschaft Das beschriebene Paradigma und sein Raum sind auf Anhieb von überzeugender Selbstverständlichkeit; sonst könnte ja dieser altgeographische Raum nicht so leicht im heutigen common sense (z.B. im spatial turn) wiederkehren. Tatsächlich hatten sowohl das altgeographische Thema und sein so lebensweltlich-alltagssprachlich erscheinender Gegenstand sehr komplexe Voraussetzungen und sind vor allem im Rahmen der modernen Wissenschaften ganz exzeptionelle Konstruktionen. Der Raum der Geographen war (schon, was seine natürlichen Gegebenheiten anging) primär als eine Anordnung sichtbarer, materieller Gegenstände gedacht. Die klassische Geographie betrachtete diesen physischmateriellen Raum dann aber gerade nicht als etwas Materielles, d.h. nicht als Gegenstand der Naturwissenschaften, sondern unmittelbar als „Wohnund Erziehungshaus des Menschen“, d.h. als Eignungs- und Aneignungsraum, Anregungs- und Ressourcenraum menschlicher Lebensformen (die, wie gesagt, auch ihrerseits zum Raum gehörten). Ein Ausschnitt aus Natur und materieller Welt wurde also nicht, wie es im modernen Wissenschaftssystem üblich geworden ist, naturwissenschaftlich, sondern ganz anders und als etwas ganz Anderes betrachtet: nach seiner sozialen und humanen Bedeutung, und das konnte nur heißen: hermeneutisch-verstehend. Insofern war diese Geographie, wie es Ulrich Eisel paradox-pointierend auf den Punkt gebracht hat, nach ihrer Gegenstandskonstitution eine „verstehende“ oder „hermeneutische Naturwissenschaft“, so etwas wie eine 11 Quine: „Semantic ascent“, S. 171; Saunders: Soziologie der Stadt, S. 105; Popper: Das Elend des Historizismus, S. 61ff., 90, 93 etc.; Bachelard: Die Philosophie des Nein, S. 35, 153 etc.; ders.: La formation de l’esprit scientifique, S. 13ff.

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Hermeneutik oder auch Semiotik und Ikonographie des Raumes, der Natur und der Landschaft.12 Selbst Physiogeographen (Naturgeographen) konnten, so lange sie in diesem Mensch-Natur-Paradigma anschlussfähig, eben dadurch richtige Geographen bleiben und z.B. auch richtige geographische Länderkunden schreiben wollten, keine wirklichen Naturwissenschafter oder naturwissenschaftliche Geowissenschaftler sein. Sobald sie es seit dem späten 19. Jahrhundert doch versuchten, riskierten sie, im Rahmen des klassisch-geographischen Forschungsprogramms und seiner Länderkunden tendenziell unbrauchbar zu werden und aus der Geographie hinauszugleiten. Heute beschreiben Physische Geographen ihre Gegenstände weithin naturwissenschaftlich, d.h. meistens nicht viel anders als die naturwissenschaftlichen Geodisziplinen (von der Geophysik bis zur Geobotanik). Demzufolge geht der Riss, der durch das moderne Wissenschaftssystem verläuft, inzwischen auch durch die Geographie und ihren Raum, und die alte Einheit und Ganzheit des altgeographischen Raumes verdampft inzwischen auch in der Geographie selber. Solche „Verwissenschaftlichungen“ mag man kultur- oder wissenschaftskritisch beklagen, z.B. als einen Verlust von Ganzheit, Konkretion und wirklicher Wirklichkeit, aber diese Klage führt nirgendwohin. Außerdem vergisst dieses Lamento regelmäßig, dass eben diese „unmittelbaren Wirklichkeiten“ und ihre „konkreten Ganzheiten“ ja noch immer reichlich vorhanden sind: in Lebenswelt(en) und Alltagssprache(n) sowie in vielen alltagsweltlichen Praxen und Professionen – und so lebt z.B. fast in jedem guten Reisefeuilleton auch noch die herrlich konkrete altgeographische Welt. Die christlich-humanistische, letztlich physikotheologische Hintergrundphilosophie des altgeographischen Forschungsprogramms ist unverkennbar, und Carl Ritter hat sie zusammen mit der Geschichtsphilosophie Herders in die Geographie eingelesen: Die Erde ist eine von der sapientia, potentia und providentia des Schöpfers eingerichtete Bildungs- und Erziehungsstätte, wo die Räume und Menschen von vornherein aufeinanderzukomponiert sind (einander „zutönen“, wie Herder es mittels der alten Weltmusikmetaphorik formuliert hatte). Die Mission der Geographen besteht darin, aus den gegebenen Erdräumen (aus dem, was Geographen später den „Naturplan der Landschaft“ nannten) „durch ernste Wissenschaft“ Nomos und Telos der Erdnatur und des Menschen, ja „die wahre Bestimmung“ der Räume und Völker zu erkennen.13 12 Eisel: „Landschaftskunde als ‚materialistische Theologie‘“. 13 Besonders emphatische und glanzvolle Formulierungen dieser Geo- und Geschichtsphilosophie, die damals keineswegs auf die Geographie begrenzt, sondern so etwas wie die natürliche Weltanschauung der christlichhumanistisch Gebildeten war, findet man z.B. bei Ritter: „Einleitung zur allgemeinen vergleichenden Geographie“, S. 9f. und Ritter: Allgemeine Erd-

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Mit Natur- oder Geodeterminismus hatte das von Hause aus wenig zu tun (was spätere kausalistische Umdeutungen nicht ausschloss). Die kulturökologischen Leistungen der menschlichen Gruppen, die „historisch gewachsenen Kulturlandschaften der Erde“, sind gerade nicht als Wirkungen des Raumes oder der Natur gedacht; es sind eher schöpferische Anpassungen menschlicher Lebensformen und Kulturen an die konkrete ökologische Natur ihrer Räume, und jedes Volk, dem in seinem Land eine solche Balance, eine solche Mensch-Raum-Harmonisierung glückt, das erfüllt auf seine je-individuelle (idiographische) Weise und für jeden sichtbar ein allgemeines Ideal, erfüllt seinen geschichtlichen Auftrag der Fortsetzung der Schöpfung – was, wie die Geschichte zeige, ja auch, z.B. durch Naturzerstörung, verfehlt und versäumt werden könne. Wenn man die klassische Geographie in den angedeuteten Herkunftsgeschichten liest, kann man sogar sagen: Diese Geographie war nicht nur von vornherein eine Sinn- und Gesinnungswissenschaft; sie war in der Art, wie sie ihren Gegenstand konstituierte, eine Art „materialistische Theologie“14 und, nach einem Ausdruck von Jochen Hörisch, eine Art von „Semontotheologie“15. In diesem Raum bzw. dieser Landschaft waren ja – im Ganzen wie in allen gegenständlichen Details – materielles Sein, menschliche Bedeutsamkeit sowie göttlicher Schöpfungs- und Orientierungssinn untrennbar, sozusagen eucharistisch miteinander verschmolzen; es handelte sich um eine zwar materielle, aber doch unmittelbar lesbare Welt. Ulrich Eisel hat diesen altgeographischen Denkstil (der ja damals nicht bloß eine geographische Marotte war) auch als eine „christlichhumanistische Episteme des Menschenverstandes“ oder „christlich-humanistische Wissenschaft von der Natur (bzw. der Erde) als Schöpfung“ beschrieben.16 In dieser christlich-humanistischen Sicht ist der Raum also nicht nur von vornherein menschlich bedeutungsvoll, er enthält landschaftlichräumlich verschlüsselte moralisch-politische Handlungshinweise: Er war nicht nur lesbar, er wollte richtig gelesen werden. Im Gegensatz zu vielen modernen Wissenschaften war diese Geographie darauf programmiert, immer auch reichlich Sinn- und Orientierungswissen zu liefern. Viele merkwürdige Texte in postmoderner Geographie und im spatial turn, in denen der Raum wieder als Medium politisch-moralischer Botschaften und Mächte des Raumes erscheint, kann man wohl nicht nur als mythopoeti-

kunde, S. 1-31, insbesondere S. 14-16. Für die Herdersche Vorprägung des Paradigmas vgl. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, z.B. S. 59, 67, 187ff., 195f., 201 etc. Zur Interpretation der zentralen Textstellen bei Ritter und Herder vgl. z.B. Hard: Selbstmord und Wetter – Selbstmord und Gesellschaft, S. 189ff., 271ff. 14 Eisel: „Landschaftskunde als ‚materialistische Theologie‘“, S. 89ff. 15 Hörisch: Brot und Wein, S. 12ff. 16 Eisel: „Triumph des Lebens“, S. 39ff.

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sche Tagträumereien oder Pastiches verschollener Literaturen lesen, sondern auch als Strukturparallelen der beschriebenen „hermeneutischen Raumwissenschaft“ und „materialistischen Theologie“ – wobei der Urheber dieser „Botschaften und Mächte des Raumes“ pseudonymisiert oder anonymisiert worden ist. Bei solchen Renaissancen wird leicht übersehen, dass nicht nur moderne Wissenschaftswelten, sondern auch exoterische common sense-Welten (wie die altgeographische Welt) als konstituiert, also nicht als data, sondern als facta betrachtet werden können.

Die Trivialisierung der „christlichhumanistischen Episteme“: Partyräume In der heutigen Soziologie ist die unbemerkte Wiedererfindung der klassischen Geographie fast ein running gag. Um nur ein Beispiel zu zitieren: Rudolf Stichweh unterscheidet einen sozialen Raum in der Kommunikation und einen physischen Raum „in der Umwelt der sozialen Systeme“, und zum zweitgenannten Raum, der „unhintergehbar der Umwelt der Gesellschaft zuzurechnen“ sei, gehöre „eine Ökologie der Gesellschaft oder eine Ökologie sozialer Systeme, die allenfalls in ersten Ansätzen existiert“.17 Die Sätze, mit denen Stichweh die Aufgabe dieser für ihn fast noch inexistenten Wissenschaft beschreibt, könnten so Wort für Wort schon bei Carl Ritter stehen: Diese Wissenschaft zeige der Gesellschaft (Ritter: „den Völkern“) ihre „Abhängigkeiten von den Bedingungen der physischen Geographie“, z.B. von „Küstenlinien“, „Gebirgsriegeln“, „Vegetationszonen“, „Nord-Süd- oder West-Ost-Erstreckungen der Kontinente“ usf. Es ist kein Ruhmesblatt der Geographie, dass ihr fast 200 Jahre altes Mensch-Raum-Paradigma so unsichtbar geblieben ist, sogar in dieser säkularisierten Trivialform.18 Häufiger noch als das altgeographische Forschungsprogramm insgesamt wird allerdings der altgeographische Raumtyp wieder erfunden: „[Um zu begreifen, was Raum ist] braucht man sich tatsächlich [!] nur ein einfaches [!] Beispiel wie eine Party, zu der man als neuer Gast hinzukommt, zu vergegenwärtigen. Der Raum der Party wird zwar auch durch die (An-)Ordnungen 17 Stichweh: „Raum, Region und Stadt in der Systemtheorie“, S. 10, Hervorhebung im Original. Die common sense-Unterscheidung dieser beiden Räume ist aufgrund Stichwehs eigener (systemtheoretischer) Prämissen nicht sinnvoll. Vgl. dazu Hard: Landschaft und Raum, S. 284ff. 18 Als Protagonisten dieser künftigen „Ökologie der Gesellschaft“ nennt Stichweh übrigens einen Physischen Geographen, der (was für heutige Physische Geographie ganz ungewöhnlich ist) in seinen Bestsellern das altgeographische Genre der erdgebundenen Universalgeschichte fortschreibt (Jared Diamond). Nicht-geographische Universalgeschichten klingen völlig anders, aber offenbar weniger common sense-kompatibel.

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des Zimmers, die Platzierung der Getränke und Speisen, der Sitzgelegenheiten etc. gebildet, aber ebenso sind die (An-)Ordnungen der Menschen und Menschengruppen, die man beim Eintreten erblickt [!], prägend [!]. Die (An-) Ordnung von Menschen zueinander ist ebenso raumkonstituierend wie die (An-) Ordnung der Dinge zueinander. Sie [die Dinge einerseits, die Menschen andererseits] produzieren nicht zwei verschiedene Räume, sondern ein und denselben Raum, der sich sowohl aus Menschen in ihrer Körperlichkeit als auch aus Dingen bzw., soziologischer formuliert, sozialen Gütern zusammensetzt. Auf eine Formel gebracht, kann man sagen: Raum ist eine relationale (An-)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern (vgl. Löw: Raumsoziologie, 2001). Räume [...] sind ein gemischtes Ensemble aus Natur und Kultur, aus Ding und Mensch.“19

Dieser Partyraum (PR) und sein Inventar sind genauso konstruiert wie der altgeographische Raum (AR): auch der AR war ein solches „gemischtes Ensemble“ und eine „relationale (An-)Ordnung“ aus „Natur und Kultur“, aus „Ding und Mensch“, aus „Lebewesen und sozialen Gütern“. Wie schon im AR sind auch im PR Materie und Gesellschaft, Materielles und Soziales wieder ausdrücklich ineinander „verstrickt“, existieren nach dieser Partyraumphilosophie ausdrücklich immer in einem „Verstrickungsverhältnis“ miteinander. Und auch schon der AR bestand nicht aus zwei Räumen, sondern war immer nur ein und derselbe Raum; deshalb bearbeiteten ja auch Physio- wie Humangeographen, Natur- wie Sozialgeographen von Hause aus „ein und denselben Raum“ (es unter Geographen laut zu bezweifeln, war noch im späteren 20. Jahrhundert karriereschädlich). Dieser PR weist wieder genau die gleichen ontologischen Implikationen und Komplexitäten auf wie der AR: auch der PR ist wieder vollgepackt mit Gegenständen aus Poppers 1. (materieller) 2. (psychischer) und 3. (sozialer) Welt, und auch jeder einzelne Körper im PR gehört mindestens zwei, oft auch allen drei „Welten“ an: jeder „Mensch“ ist im PR 1. als sich bewegender materieller Körper, 2. als psychisches (z.B. wahrnehmendes) und 3. als soziales Wesen anwesend; jeder „materielle Gegenstand“ ist ausdrücklich immer auch ein Symbol, und umkehrt sind alle „Symbole“ immer auch „materiell“ und deshalb räumlich angeordnet, verortet und platziert.20 So beschert der spatial turn uns alles wieder: die „Rumpelkammern“, die „ontologischen Slums“ und die „obstacles épistémologiques“ eines „unmittelbaren Realismus“ in Gestalt „verworrener holistischer Hirngespinste“ – kurz, Gegenstände, die in heutigen Wissenschaften vielleicht im grobempirischen Sprachgebrauch explorativer Forschung auftauchen 19 Funken/Löw: „Ego-Shooters Container“, S. 87. 20 Vgl. Funken/Löw: „Ego-Shooters Container“; Löw: Raumsoziologie, S. 153ff.

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mögen, aber als theoretische Entitäten in theoretischer Sprache wohl nur noch als überkomplexe Phantome z.B. an einigen diffusen Peripherien des Wissenschaftssystems. 21 Dieser raumsoziologische Raum ist das, was übrig bleibt, wenn die altgeographische Raumkonstruktion ihre Sinn gebenden Kontexte und jede legitimierende Hintergrundphilosophie verloren hat: Dieser Partyraum ist, wie so viele Räume des spatial turn, der altgeographische Raum in seiner nackten Trivialität, nur noch die Alltagswelt des Alltagsverstandes im Griff der Alltagssprache, beschrieben in einer reflexionslosen „natürlichen Einstellung“. Tatsächlich wird in der Soziologie und überhaupt im spatial turn der theoretische Rückgriff auf Raum und Räumlichkeit immer wieder ausdrücklich mit Berufung auf „Alltagsleben“, „Alltagswirklichkeit“, „Alltagspraxis“, „das alltäglich Praktizierte“ sowie die Funktion von Raum in der Alltagssprache begründet.22 Begründung der Einführung theoretischer Konstrukte durch ihre eingespielte Alltagsverwendbarkeit – an diesen Theoriestil muss man sich schon gewöhnen; was soll dabei anderes herauskommen als Raumkonzepte im Stil Partyraum? Beobachten wir den „context of discovery“ dieses Raumkonzeptes genauer; einem Geographen kommt dabei zu Hilfe, dass auch die Denkfiguren, die den Partyraum erzeugt haben, alte geographische Gedankenwindungen sind: wieder ein déjà vu im spatial turn. Als die christlich-humanistischen Konstituentien des altgeographischen Raumes ihre Eingängigkeit zu verlieren begannen (seit dem späteren 19. Jahrhundert zumindest im universitären Milieu), da griffen auch die Geographietheorien bei der Verteidigung ihres Raumes (aber auch zur Legitimation von Landschaft und Länderkunde, der Einheit dieses Raumes und der Einheit der Geographie) tausendfach zu den gleichen Mitteln – bis diese Denkmuster um 1970 auch in der deutschsprachigen Geographie in eine Kritik gerieten, von der sie sich nie mehr ganz erholt haben. Der Partyraum gilt als eine Exemplifizierung der zentralen These: „Raum ist eine relationale (An-)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern, von Lebewesen und Dingen mit sozialer Bedeutung.“23 Das ist 21 Wohl in jeder entwickelteren Wissenschaft gibt es mehr als eine Sprachebene, mindestens z.B. eine empirischere bzw. experimentelle („Eingriffssprache“) und eine theoretischere („Darstellungssprache“) mit je eigenen epistemischen Gegenständen (die Termini nach Hacking: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, S. 219ff.). Niemand will dem Empiriker seine Umgangssprache verbieten, aber die unbedachte Einebnung ist noch schädlicher als die gegenseitige Abschottung der Sprachen und führt leicht zu Chimären vom Typ Partyraum; vgl. dazu auch Hard: Landschaft und Raum, S. 268ff. 22 Ein Beispiel für viele: Sturm: „Der Begriff des Raums in der Physik – eine soziologische Perspektive“, S. 245. 23 Löw: Raumsoziologie, S. 159f., Hervorhebung im Original. Die beiden darauf folgenden Sätze fügen inhaltlich nichts hinzu, sondern plustern den ersten Satz bildungssprachlich auf: „Raum wird konstituiert durch zwei

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sichtlich weder als eine Wortgebrauchsfeststellung, noch als eine Wortgebrauchsregulierung gemeint, sondern als eine Sachbeschreibung, und zwar als eine Art Wesensaussage oder Beschreibung einer fundamentalen Wirklichkeitsstruktur. Wer in dieser Art das Wesen oder den Kern einer Sache zu bestimmen sucht, kann in der Regel nur die Bedeutung eines Wortes finden, die dann, wie üblich so auch hier, ontologisiert, d.h. mit dem Wörtchen ist („Raum ist [...]“) und durch andere Sinnzeichen in Existenzaussagen einzementiert wird.24 Die Konstruktionsanweisungen für dieses Raumphantom liegen in der Semantik der deutschen Alltags- und Bildungssprache. Löws Raum ist im Grundzug den zentralen Gebrauchsbedingungen des umgangssprachlichen Wortes Raum nachkonstruiert: Mit Raum bezeichnet man in der Umgangssprache (mit wenigen, eher bildungssprachlichen Ausnahmen) in der Tat nur eine potentielle oder aktuelle „relationale (An-)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern“, und auch in der Umgangssprache nennt man „ein Ensemble von Gütern und Menschen“ nur dann einen Raum, wenn es „(An-)Ordnung“, „Spacing“ und eine gewisse Einheit bzw. „Syntheseleistung“ vorweist. Aber die Alltagssprache liefert auch das Strukturmodell dieses Rumpelkammer-Raumes: In der Umgangssprache führen einerseits alle Wörter für Soziales Konnotationen von Räumlichkeit und Materialität mit sich, andererseits konnotieren alle Dingwörter immer auch die sozialen Funktionen und Bedeutungen dieser Dinge. Sie enthalten (wie schon oft gesagt wurde) geradezu die sozial gültigen Gebrauchsanweisungen für diese Dinge.25 Kurz: Räumlich-Materielles und Soziales sind in der Semantik der natürlichen Sprache untrennbar miteinander „verstrickt“ (um die Metapher von Funken und Löw wieder zu benutzen). Wenn diese Sprachverhalte als Sachverhalte, diese Sprachstruktur als eine Wirklichkeitsstruktur gelesen wird, sind wir bei Löws Raum und Sojas

analytisch zu unterscheidende Prozesse, das Spacing und die Syntheseleistung. Letzteres ermöglicht es, Ensembles von Gütern und Menschen zu einem Element zusammenzufassen.“ 24 „Ontologisierung“, „Reifizierung“, „Hypostasierung“ etc. versteht man wohl am besten als in der Kommunikation mitgeführte „Pressionen“, die das Bewusstsein der Kontingenz, der Selektivität, der Bedingtheit und der möglichen Alternativen einer Sinnfestlegung unterdrücken; vgl. dazu z.B. Luhmann: Soziale Systeme, S. 205. So wird eine Sinneinheit auf Fremdreferenz festgelegt und oft nachhaltig verhindert, dass der Beobachter aus dem Versteck gezogen, d.h. seinerseits beobachtet wird. 25 Ein beliebtes Demonstrationsbeispiel ist Markt: Alltagssprachlich ist immer auch etwas Räumliches, Verortbares und direkt Wahrnehmbares gemeint, in der theoretischen Sprache der Ökonomie, überhaupt der Sozialwissenschaften aber gerade nicht – was wiederum weder ausschließt noch verbietet, dass Sozialwissenschaftler in empirischer Sprache auch auf umgangssprachlichen Wortgebrauch zurückgreifen.

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Thirdspace angekommen; beide beschreiben, wie uns die Alltagssprache die Alltagswelt zuführt. An Löws Raumkonstruktion kann man auch beobachten, wie die Alltagsbedeutung des Wortes Raum sich bei dieser Ontologisierung – der Entfaltung eines Wortes zu einer „ontologisch dominierten Behältermetaphorik“26 – typischerweise verschiebt: in Richtung auf Differenzlosigkeit und Kosmisierung. Löws These ist eine typische „X ist“-Antwort auf eine „Was ist X“-Frage hin; das läuft normalerweise wie von selber nicht nur auf eine Explikation und Ontologisierung einer alltagssprachlichen Semantik, sondern auch auf ein „alles ist X“ und ein „X ist alles“ hinaus; anders gesagt, auf einen absoluten Begriff oder eine absolute Metapher.27 Dieser Denkstil war auch in der Geographie lange endemisch. Die Folgelasten sind beträchtlich. Die Relation von Party und Partyraum (sozialem System und materiellem Raum) bleibt fundamental unklar, und die Autorinnen haben sichtlich keinerlei Mittel, Raum und soziales System (oder auch nur räumliche und soziale Grenzen) irgendwie zu unterscheiden.28 Weil für sie wie für die alten Geographen „das Materielle und das Soziale“ (sogar das Materielle, Mentale und Soziale) im Raum untrennbar „verschmolzen“ und „verstrickt“ sind, landet diese Raumsoziologie wie die klassische Geographie bei Territorialgesellschaften und einem territorialen Gesellschaftsbegriff. Bei Löw heißt es infolge dessen z.B. immer wieder vieldeutig-altgeographisch, dass „der Raum die Gesellschaft strukturiert“29. Aber nicht nur Raum und Sozialsystem, physische und soziale Grenzen sind ununterscheidbar; es gibt nicht einmal die Andeutung einer Möglichkeit, zwischen den Partyraum-Wahrnehmungen und dem durch explizite Thematisierung in der (Party-)Kommunikation hergestellten Partyraum, also dem Partyraum als Bestandteil sozialer Kommunikation, zu unterscheiden. Dabei gibt es auch in der Soziologie reichlich Mittel, die Löwsche „Rumpelkammer“ aufzuräumen bzw. diesen ontologischen Slum Partyraum zu sanieren; das wäre dann zugleich ein Ausstieg der Raumsoziolo26 Drepper: „Der Raum der Organisation“, S. 105. 27 Über „absolute Begriffe“ vgl. beispw. Schmidt-Biggemann: Sinn-Welten, Welten-Sinn, S. 60ff.; über die Verwendung von Raum als absoluten Begriff vgl. Hard: Landschaft und Raum, S. 235ff.; über absolute Metaphern als verwandte Wirklichkeits- und Totalitätserzeuger vgl. Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 20 etc. 28 Zum Partyraum gehören z.B. ausdrücklich Menschen nicht nur mit ihren Körpern, sondern mit Leib und Seele, die deshalb dann „Gruppierungen“ bilden, d.h. Beziehungen eingehen können. Dann wird ausdrücklich gesagt, der Raum der Dinge und der Raum der Menschen sei ein und derselbe Raum: ist der (Party-)Raum dann als etwas zu denken, was zugleich ein Raum und ein zumindest virtuelles soziales System ist? Oder schließt der Raum das soziale System irgendwie in sich ein? 29 Löw: Raumsoziologie, S. 151 etc.

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gie aus den kompakten Dickichten von Lebenswelt und Alltagssprache hin zu einer differenzierungsfähigen Soziologie. Um solche doch inzwischen auch außerhalb der Soziologie bekannten Differenzierungsmöglichkeiten eben nur anzudeuten: Was zum sozialen System Party dazugehört, wird nicht durch physische Kopräsenz, räumliche Anordnungen, soziale Güter oder auch menschliche Blicke vorgegeben (bzw. „strukturiert“); das Interaktionssystem Party regelt, wie jedes soziale System, autonom, wer und was wie zu ihm gehört. Deshalb könnte auch auf jeder Party ein „Körper“ oder „Mensch“ (um die Termini der Soziologinnen zu benutzen) zwar im Partyraum, aber sozial vollkommen abwesend und ganz weit weg sein, noch abwesender als z.B. ein in der Vorlesung unauffällig schlafender Student. „Folglich muss ein Beobachter, der wissen will, wer in einer bestimmten Interaktion anwesend ist und wer nicht, die Kommunikation beobachten und nicht etwa die Körper oder das Bewusstsein.“30 Genau das, was man nach Kieserling nicht tun sollte, tun die Raumsoziologinnen, und was bei dieser common sense-Alltagskosmographie des Raumes herauskommt, kann deshalb immer nur ein Raum vom Typ ihres Partyraums sein. Wenn man aber, statt auf den wirklichen Partyraum zu starren, die ebenso wirkliche Partykommunikation beobachtet, dann ergibt sich auch ein Partyraum als Bestandteil der sozialen Kommunikation, der sowohl vom materiellen Raum wie von dessen Wahrnehmungen unterschieden ist. Dieses Raumschema ist in Interaktionssystemen zwar „perzeptiv orientiert“, kommt aber „aus der Kommunikation“, „aus der Gesellschaft“: eine Raumabstraktion, die bei Klüter „Kulisse“ heißt.31 Auch hier differenziert und „zersetzt“ (Gaston Bachelard) eine anspruchsvollere Theorie die alltagsweltlichen Gegenstände und Räume, die altehrwürdigen altgeographischen ebenso wie die schlichteren der Raumsoziologinnen.

Die Diversifikation des altgeographischen Raumes Die weitere Geschichte des altgeographischen Paradigmas ist eine Geschichte seiner Auflösung und gleichzeitig die Geschichte der Vermehrung der geographischen Raumkonzepte. Diese Diversifikate sind,

30 Kieserling: Kommunikation unter Anwesenden, S. 65. Vgl. auch Luhmann: Soziale Systeme, S. 561ff. In der Geographie findet man diese Rumpelkammeraufräumarbeit erstmals 1986 bei Klüter: Raum als Bestandteil sozialer Kommunikation, S. 51 etc. 31 Vgl. z.B. Ziemann: „Perzeption, Interaktion und die Ökologie der Gesellschaft“, S. 80; ders.: „Der Raum der Interaktion – eine systemtheoretische Beschreibung“, S. 140. Zu „Kulisse“ vgl. Klüter: Raum als Bestandteil sozialer Kommunikation, S. 51 etc.

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wenn man genau hinschaut, fast alle so alt wie das Ausgangsparadigma, sind z.B. schon ein Nebenthema in Carl Ritters Schriften und tauchen dann immer wieder episodisch auf, entfalteten sich aber erst im 20. Jahrhundert zu erfolgreichen Forschungsprogrammen.32 Das Ausgangsparadigma wurde dabei in verschiedene Richtungen umgedacht und umgeforscht: In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Landschaftsgeographie, in der zweiten Hälfte (1.) zum „spatial approach“ und (2.) zum „environmental perception and behavioral approach“ – wobei die hier benutzten Ausdrücke die Sprachräume andeuten, in denen sich diese Forschungsprogramme vor allem entfalteten. Dabei produzierten sie je ihre Räume: Raum als Landschaft, Raum als (geometrisch-topologische) Struktur, Raum als mental map(s) oder map(s) in mind(s). Und um schon den unvermeidlichen Fluchtpunkt dieser innergeographischen Paradigmenshifts wenigstens anzudeuten: Raum als Bestandteil sozialer Kommunikation. Man beachte auch, dass der Raum dabei mehrmals seinen ontologischen Aggregatzustand änderte, und am Ende ist er ein Gegenstand von Poppers „Welt 3“ geworden. Diese Transformationen – gewissermaßen eine ganze Serie von spatial turns – folgten, wie schon angedeutet, einer gewissen Entwicklungslogik, die man (mit W.V.O. Quine) wohl auch als „the clearing of an ontological slum“ oder auch als die „Verwissenschaftlichung“ eines von Hause aus holistischen Raumkonzeptes interpretieren kann. Diese geographischen Transformationen des primären geographischen Raumbegriffs lohnen wohl auch deshalb eine genaue Beobachtung, weil das, was die „Raumwissenschaft“ Geographie da mit ihrem Raum angestellt hat, auch ein Modell für die Beobachtung von Begriffsverschiebungen in außergeographischen spatial turns liefern könnte. Auf diesem Wege wurde die Vokabel Raum auch innerhalb der „Raumwissenschaft“ Geographie zu einem bloßen Homonym – Polysemie wäre noch zu wenig gesagt. Typischerweise wurde diese Homonymisierung auch in der Geographie von Dauerversuchen begleitet, die Polysemie und dann Homonymie von Raum aus wissenschaftspolitischen Gründen unsichtbar zu halten – durch Denk- und Sprachmanöver, die uns heute in den Texten des spatial turn wiederbegegnen.

32 Die folgende vogelperspektivische Skizze der Geographiegeschichte und ihrer Räume hätte ich ohne die Arbeiten von vier jüngeren Geographen nicht schreiben können: Schultz: Die deutschsprachige Geographie von 1800 bis 1970 (1978/1980); Eisel: Die Entwicklung der Anthropogeographie von einer „Raumwissenschaft“ zur Gesellschaftswissenschaft (1979/1980); Klüter: Raum als Element sozialer Kommunikation (1985/1986) und Werlen: Gesellschaft, Handlung und Raum (1985/1987). Die erstgenannte Jahreszahl in der Klammer bezieht sich jeweils auf den Text der Dissertation, die zweite auf das Erscheinen des Buches.

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Die Geographie der Landschaft Schon das Konzept Landschaft und sein Paradigma waren, relativ zum altgeographischen Raum, eine sehr viel durchgreifendere Weltkomplexitätsreduktionsidee: Das weitläufige Mensch-Raum- bzw. Mensch-NaturParadigma wurde zur „Morphogenese der Kulturlandschaft (aus der Naturlandschaft heraus)“ zugespitzt. Die Durchschlagskraft und Zählebigkeit dieser (Kultur-)Landschaftsgeographie vor allem im deutschen Sprachraum ist leicht zu verstehen. Aufgrund seiner bildungssprachlichen Konnotationen von Anschaulichkeit, Struktur, Ordnung, Synthese, Harmonie, Ganzheit und Totalität, Kultur und Geschichtlichkeit konnte Landschaft geradezu als eine prägnante Visualisierung, ja eine Ikone der klassischen Geographie gelesen werden: als die anschaulich gewordene Totalität und Synthese von Natur und Kultur, Geschichte und Gegenwart. Die „Idee der Landschaft“ erhob das altgeographische Raumparadigma geradezu zu einer überwältigenden sinnlichen Evidenz und kennzeichnete mit gleicher Prägnanz (1.) die Theorie, (2.) den Gegenstand und (3.) die Methode der Geographie. „Was aber Geographie bleibt, stiftet die Idee der Landschaft“, formulierte noch in den 1960er Jahren mein Lehrer Josef Schmithüsen mit hölderlinisierendem Pathos, und diese Landschaft war für ihn wie für viele seiner Generation eine Art Kunstwerk „wie Goethes Faust“.33 Das Wort Landschaft (im heutigen Sinn) und das mit ihm historisch verbundene, ja koevoluierte „landschaftliche Auge“ (W.H. Riehl) sind Produkte neuzeitlicher Kunstkommunikation; das gilt für alle europäischen Sprachen. Von Hause aus so etwas wie gemalte Poesie, ist diese Seh- und Sinnfigur Landschaft vor allem im 18. und frühen 19. Jahrhundert in die Sprache und Weltsicht der deutschen Gebildeten gelangt, und von dorther prägte sie seit dem 19., vor allem aber im 20. Jahrhundert Theorie und Weltbild insbesondere der deutschen Geographie. Der Landschaftskundler war infolgedessen in der angenehmen Situation, dass sein wissenschaftlicher Gegenstand immer auch noch ein ästhetischer Gegenstand, ein Gegenstand der ästhetischen Erfahrung war, und wer verlässt gern einen Gegenstand, in dem so viel Mehrwert steckt? Einen glücklichen Augenblick lang war (wie die Geographiedidaktiker und Schulgeographen des Öfteren euphorisch bemerkten) das, was die Wissenschaftler an den Forschungsfronten erforschten, und das, was die Herzen der Knaben, Mädchen, Dichter und Maler, ja jedes echten Deutschen höher schlagen ließ, ein und derselbe Gegenstand.

33 Schmithüsen: Was ist eine Landschaft, S. 21. Vgl. auch ders.: „Der geistige Gehalt in der Kulturlandschaft“, S. 185ff.; ders.: „Natur und Geist in der Landschaft“, S. 70ff.

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Wenn nach dem hübschen Bonmot von Marc Redepenning „Räume irgendwie glücklich machen“34, dann gilt das allen voran für die Landschaft, zu deren festen Konnotationen neben Schönheit, Harmonie, Ausdruck und vielen anderen z.B. auch Glück, Liebe und Geborgenheit gehören.35 In der Landschaft steckt aber in und außerhalb der Wissenschaft nicht nur ästhetischer Mehrwert: vor allem im deutschen Sprachbereich sind Wort und Idee Landschaft zusätzlich schwer mit Weltanschauung aufgeladen und zwischen den Weltkriegen u.a. geradezu ein völkischer Raummythos geworden. Hinter jeder sogenannter „Hermeneutik des Raumes“ dürfte ein solcher Raummythos stehen. Der Jurist und Raumplaner Davy hat eine Systematik dieser „RaumMythen“ entworfen, die in den modernen Gesellschaften wirkungsvoll zirkulieren, ihre je spezifischen Funktionen, Protagonisten und Klientele besitzen und immer wieder wirkungsvoll als „präpositive Anspruchsgrundlagen“ ins politische Spiel gebracht werden können: Verklärungs-, Aneignungs- und Beherrschungsmythen. Unter ihnen war und ist Landschaft noch immer der wirkungsvollste Raumverklärungsmythos des deutschen Sprachraums (wenn nicht der ganzen westlichen Welt).36 Heute sind Verklärungsmythen meist die Vorhut von An- und Enteignungen, d.h. sie verwandeln sich rasch in Aneignungs- und Beherrschungsmythen: Wo Räume verklärt werden, da werfen gemeinhin Kolonisatoren, Investoren, Developer, Biotopmanager und staatliche Administrationen (wie der Naturschutz) schon ihre Schatten voraus, und jede scheinbar bloß romantisierende und oppositionelle Raumverklärungs(sub)kultur verwandelt sich, sobald sich ihr die Gelegenheit bietet, in eine rigorose „culture of control“.37 Die Wirkungen dieser Raummythen fasst Davy wie folgt zusammen: Sie verführen, sie binden zusammen und verfeinden, sie kehren wieder und sie bilden: Die Bildungswirkung der Mythen ist allerdings dem Beobachter zweiter Ordnung vorbehalten, der diesen Geschichten und Bildern zugleich mit Interesse und Distanz begegnet. Und was das Wiederkehren angeht: Die zyklischen Wiederkünfte der „Idee der Landschaft“ und überhaupt der Raummythen sind unverkennbar, und Vertretern einer „ökono34 Redepenning: Wozu Raum?, S. 135. Vgl. auch den Beitrag von Redepenning in diesem Band. 35 Zur konnotativen Subsemantik von Landschaft vgl. z.B. Hard: Landschaft und Raum, S. 178ff. 36 Davy: Essential Injustice; ders.: „Raum-Mythen“. Prototypische Protagonisten von Raumverklärungsmythen sind nicht nur Druiden, Bodenromantiker, New Age-Bewegte und neureligiöse Esoteriker, sondern z.B. auch Poeten und Kulturintellektuelle, Natur-, Denkmal-, Umwelt- und Landschaftsschützer (und -planer), staatliche Administrationen und nicht zuletzt das Erziehungs- und Wissenschaftssystem (von der Landschafts- und Raumplanung bis zu den Geistes-, Geschichts- und Kulturwissenschaften). 37 Davy: Essential Injustice, S. 315ff., 324ff.

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mischen Theorie der Kultur“ liegt es nahe, sie wenigstens versuchsweise mit den Zeiten ökonomischer Stagnation zu verknüpfen: Die deutschen Hochzeiten der „Idee der Landschaft“ („vor 1900“, „um 1930“, „seit den 1970er Jahren“) passen, zusammen mit den großen Grünen Wellen der Naturanbetung in der deutschen Kultur-, Literatur- und Geistesgeschichte, gar nicht so schlecht zu den Stagnationsphasen der berühmten langen Kondratieffschen Wellen; im Aufschwung kehre man dann – mit den bekannten Verzögerungen im Überbau – leicht wieder zu rationaleren Weltdeutungsmustern zurück.38 In diesem Rahmen entfaltete sich auch die deutsche Landschaftsgeographie des 20. Jahrhunderts, und wie zuvor der altgeographische Raum war nun die Landschaft wieder ein anschaulich-ganzheitliches Ensemble von physisch-materiellen Gegenständen, die alle mit gesellschaftlichhistorisch-kulturellem Sinn aufgeladen waren. In Anlehnung an die Begrifflichkeiten der zeitgenössischen deutschen Kulturphilosophie konnte die ganze Landschaft als eine „Objektivation“ von Kultur und Geschichte und bis ins letzte Detail als „objektivierter Geist“ verstanden werden, und dem Landschaftsgeographen war es aufgegeben, diesen Geist „schauend“ und „verstehend“ wieder in seiner ganzen historischen „Fülle“ und „Tiefe“, „Eigenart“, „Vielfalt“ und „Schönheit“ zu „entbinden“ und zu „verlebendigen“.39 Damit bin ich weit in die Selbstpanegyriken der deutschen Landschaftsgeographie hineingeraten, die nun, im Rahmen des spatial turn, z.B. bei dem Historiker Karl Schlögel, fast wortgleich wieder aufgenommen werden: Landschaft – ersatzweise: der Raum, der aber ganz landschaftlich konstituiert wird – ist bei Schlögel in immer wiederkehrenden Formeln eine unmittelbar-anschaulich gegebene und unmittelbar-anschaulich erfassbare konkrete Totalität, in der sich nichtreduktionistisch die ganze Komplexität von Gesellschaft und Geschichte zeigt und spiegelt – „auf einmal“, als „komplexe Ganzheit“ und als der „Schlüssel“ zur „histoire totale“. Und diese unüberbietbaren Leistungen des landschaftlich-räumlichen Auges sollen sich aber (darauf insistierten schon die Landschaftsgeographen) beim reisenden Historiker/Geographen vor und in der Landschaft, vor und im Raum „ganz von selber einstellen“ und dann schlagartig die Disziplingrenzen einreißen.40

38 Vgl. zu solchen Zyklusvermutungen z.B. Hard: „Das Regionalbewusstsein im Spiegel der regionalistischen Utopie“, S. 421ff. Zu entsprechenden literarischen Zyklen vgl. Großklaus: „Der Naturtraum des Kulturbürgers“, S. 172ff. 39 Zur „Kulturlandschaft als objektivierter Geist“ vgl. Hard: Landschaft und Raum, S. 69ff. 40 Daneben gibt es bei Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, auch Formeln, die realistischer klingen. Zu den Vorbildern und Parallelen in der Weltanschauungsliteratur und Geographie der deutschen Zwischenkriegszeit vgl.

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Als sich das Landschaftsthema dann in der Geographie normalwissenschaftlich entfaltete, geschah das Übliche: Bei der Arbeit mit und an dem Paradigma traten seine Grenzen und Schwächen immer deutlicher hervor; es verwandelte sich (neben den weiterlaufenden vollmundigen Proklamationen her) tatsächlich in etwas immer kleinformatigeres, bis es am Ende erschöpft zu sein schien und/oder zu etwas anderem geworden war: in der Tendenz von einer Landschafts- zu einer Sozialgeographie. Zuerst war die (ontologisierte) Landschaft selber der Gegenstand der Forschung, der im Rückgriff auf die „historischen und gegenwärtigen landschaftsprägenden Kräfte“ gedeutet wurde; dann verstand man Landschaft nur noch als ein disziplinär privilegiertes Beobachtungsfeld, auf dem man einige soziale, ökonomische u.a. Prozesse ablesen zu können glaubte. Dergestalt wurde Landschaftsgeographie seit den 1950er Jahren – zum Teil in polemischer Wendung gegen die ältere „Geographie der ganzen Landschaft“ – zu einer sehr selektiven „Sozialgeographie aufgrund landschaftlicher Indikatoren“. Schon in den 1960er Jahren war Landschaft oft nur noch ein Beobachtungsfeld neben anderen, das vor allem für explorative Forschung taugte und nur noch im Ausnahmefall befriedigende oder gar hinreichende Indikatoren und Hypothesen über „soziale Strukturen und Prozesse“ zu liefern schien. Bei alledem hat die (Kultur-)Landschaftsgeographie eine üppige Metaphorik hervorgebracht: Von der Landschaft als „Spiegel“, „Ausdruck“, „Palimpsest“, „Objektivation“ oder „Konkretisierungs-, Visualisierungsund Objektivierungsebene“, „Registrierplatte“, „Seismograph“ und „Seismogramm“, als „Niederschlag“, „Sediment“ und „Reagenz“, als „Indikator“, „Indiz“ und „Spur“, sei es bestimmter menschlicher Handlungen, sei es bestimmter „sozialer, politischer, ökonomischer ... Prozesse“. Die Umstellung von Totalität auf Selektivität wurde auch in den Metaphern sichtbar. Es war ja auf die Dauer nicht zu übersehen, dass Landschafts- und Raumbilder die sozialen, ökonomischen, politischen, ökologischen Verhältnisse (oder die Geschichte, gar die „histoire totale“) einer Region oder einer Stadt durchweg nur sehr lückenhaft, verzerrungsreich und zeitlich verzögert, vieldeutig und missverständlich widerspiegeln. Ohne andere Quellen, Archive und Beobachtungsfelder ist der Landschaftsleser so gut wie blind bzw. ganz auf das angewiesen, was er schon zu wissen glaubt, d.h. was er von seinem Vorwissen, seinen Vorurteilen, seiner Vorbildung irgendwie auf die zufälligen Sichtbarkeiten des betreffenden Raumes projizieren bzw. herunterbrechen kann, und dabei werden noch seine fragwürdigsten Projektionen für ihn selbst umso überzeugender sein, je stabiler seine Vorurteile und je weniger entwickelt seine Selbstkritik und sein Schultz: Die deutschsprachige Geographie von 1800 bis 1970, S. 95ff., 332ff.

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Methodenbewusstsein sind. Es ist schwer zu sehen, warum man sich, sei es als Geograph, sei es als Soziologe, sei es als Historiker oder als Ökonom, auf ein so fragwürdiges Beobachtungsprogramm kaprizieren sollte. Das von alledem noch wenig gehemmte, euphorisch projektive Schauen und Lesen von Raum und Landschaft (samt den typischen intellektuellen Entgleisungen dabei) habe ich einmal mit semiotischen Termini analysiert und persifliert unter dem Titel: „Die Legasthenie des reisenden Geographen beim Lesen der Welt“.41 In dieser Sicht erschien die „Hermeneutik der Landschaft“ und „des Raumes“ auch in den klassischen Texten dann durchweg als eine Art von suggestiver Selbsttäuschung am Objekt – suggestiv, weil gerade gegenüber Räumen und Landschaften Autor und Leser, der Hermeneut und sein Publikum oft schon im Vorhinein „vom gleichen (Vorurteils-)Gift“ vergiftet sind. Um ein bekanntes Bonmot zu variieren: Jede Lektüre von Landschaft und Raum ist ein Picknick, zu dem die Landschaft/der Raum die Worte und die Leser die Bedeutungen mitbringen.42 Zwar könnte ein reflektierter Leser von Landschaft und Raum gerade auch die Dauerirritation, die von der Mehr- und Vieldeutigkeit aller landschaftlichen Zeichen ausgeht, durchaus produktiv (und sei es literarisch-spielerisch) verarbeiten; dergleichen war aber in der geographischen Landschaftskunde (und ist auch bei Schlögel) nicht vorgesehen. In jeder halbwegs guten, d.h. auch: methodisch reflektierten (sozial) geographischen Exkursion wird (heute hoffentlich standardmäßig) nicht nur gefragt, was von Gesellschaft, Wirtschaft, Ökologie und Geschichte man im Raum, in der Landschaft, im Gelände sehen oder erschließen kann, sondern auch, was man weshalb nicht sieht (obwohl gerade das fürs gegebene Thema vielleicht weit wichtiger wäre) – und was man vielleicht nur zu sehen glaubt, weil man sein möglicherweise sogar falsches Vorwissen auf etwas projiziert hat, was vielleicht etwas ganz anderes bedeutet. Worauf wird der Blick gelenkt – und wovon abgelenkt? Schon in den Malerbüchern des 17./18. Jahrhunderts gab es genaue Anweisungen, was auf und von der „dunklen Seite der Landschaft“ mehr oder weniger unsichtbar zu bleiben habe. Wenn man in dieser Richtung weiterdenkt, verwandeln sich Landschaftskunde und „Lesen der Landschaft“ allerdings in ein explizit abduktiv-hypothetisches „Spurenlesen“, und jede akzeptable Lektüre schließt dann auch Beobachtung 2. Ordnung ein, eine Beobachtung nicht nur der 41 Hard: „Reisen und andere Katastrophen“. 42 Raumhermeneutik gibt es von vornherein nur im Plural. So skizziert z.B. Matthiesen neben dem von Schlögel privilegierten historistischen Kulturlandschafts-Code noch sieben weitere „Raumhermeneutiken“ oder „Raumsemiotisierungspraktiken“, die gleichfalls „dem Lesbarkeits-Credo“ folgen, aber, im Gegensatz zu Schlögels Ein-Mann-Paradigma, z.T. fest in akademisierten Professionen (z.B. Architektur, Stadt- und Regionalplanung) verankert sind; vgl. Matthiesen: „Dimensionen der Raumentwicklung in der Perspektive einer strukturalen Hermeneutik“.

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Landschaft oder des Raumes, sondern auch der Konditionierungen und Prämissen der eigenen Landschafts- und Raumbeobachtung. D.h., jede Spur muss auch als die Spur eines Spurenlesers gelesen werden, der dann auch, wie der Spurensucher Kertész, mit beunruhigenden Spurlosigkeiten rechnen und zurecht kommen muss.43 In diesem Sinne kann man dann die Landschaftsgeographie und ihre Landschaft (und überhaupt die Arbeit des landschaftlichen Auges) durchaus verteidigen, und das keineswegs nur im Kontext ästhetischer Erfahrung: in schul- und hochschuldidaktischen sowie wissenschaftspropädeutischen Zusammenhängen, z.B. als eine auf geographischen Exkursionen antrainierte Sensibilität für „landschaftliche Indikatoren“; in Erwachsenenund Reisepädagogik, überhaupt als fruchtbarer laienwissenschaftlicher Weltzugang oder (um den durchaus positiv gemeinten Ausdruck von Lucius Burckhardt aufzugreifen): als Inbegriff aller „Spaziergangswissenschaften“.44 In einem Buch von 1995 habe ich versucht, die Landschaftsgeographie samt ihrer landschaftsphysiognomischen Erkenntnisutopie unter dem Titel „Spurenlesen“ zu einem intellektuell anspruchsvollen und zumindest in einigen wissenschaftlichen und didaktischen Kontexten respektablen Forschungsprogramm umzuformulieren.45 Es geht ja überhaupt nicht darum, das „landschaftliche Auge“ und die „Idee der Landschaft“ abzutun; es geht eher darum, sie reflektierter, d.h. weniger reflexhaft zu gebrauchen. Bei einer solchen Reflexion, die man heutzutage auch gerne Beobachtung 2. Ordnung nennt, hätten Landschaftskundler und Raumhermeneutiker aller Art (in und außerhalb der Wissenschaft) viel zu gewinnen und höchstens eins zu verlieren: eine ohnehin längst unentschuldbar gewordene intellektuelle Unschuld. Andernfalls wird die Landschaft auch künftig immer wieder jedem nur singen, was er hören will: dem Historiker z.B. die „histoire totale“ und dem Geographen z.B. Wesen, Einheit und Ganzheit der Geographie.

Spatial Approach Im „spatial approach“, in dieser emphatisch raumwissenschaftlichen Geographie, wird der überkomplexe altgeographische Raum samt seiner Variante, der landschaftlichen Raumphysiognomie, auf seine Mager-, Schwund-, ja Nullstufe reduziert: auf seine geometrisch-topologische Struktur. 43 Kertész: Der Spurensucher. 44 Burckhardt: Warum ist Landschaft schön? 45 Hard: Spuren und Spurenleser. Bei Isenberg: Geographie ohne Geographen, findet man eine beeindruckende Übersicht über landschaftsphysiognomische und spurenlesende Erschließungen räumlicher Umwelten „in Jugendarbeit, Erwachsenenwelt und Tourismus“ bis 1987.

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Der Raum erscheint als Distanzrelationsraum, als ordo coexistendi, also konstituiert durch (An-)Ordnungen, Bewegungen und Diffusionen („movements and diffusions“), durch die „Verteilungs-, Verknüpfungsund Ausbreitungsmuster menschlicher Aktivitäten und ihrer Manifestationen an der Erdoberfläche“, wie die Formel von Bartels lautete bzw. verbreitet wurde. Die konkret-dinglich erfüllten Räume und farbigen Landschaften der klassischen Geographie schnurrten zu abstrakten „dynamics of spatial patterns“ zusammen, die nun nicht mehr z.B. idiographischhermeneutisch verstanden, sondern nach und aus ihren allgemeinen Gesetzmäßigkeiten erklärt werden sollten. Um den Eigenwert dieses Raumes zu betonen, hat Bartels sogar einen antikisierenden Neologismus eingeführt: „Chora“, den „zweidimensionalen chorischen Raum an der Erdoberfläche“ mit seinen Verteilungen, Netzen, Feldern (z.B. ZentrumPeripherie-Gradienten), Arealen, Regionen und regionalen Systemen. Dieser „spatial approach“ war über ein Jahrhundert lang eine Art geographisches Nebenprogramm gewesen und wurde seit den 1950er Jahren im angelsächsischen Sprachraum fast zu einem Hauptprogramm der Geographie. Im deutschen Sprachraum hat Dietrich Bartels ihn in den 1960er Jahren dann nicht nur rezipiert, sondern auch auf eine neue und allgemeine Weise theoretisch fundiert, zugleich aber auch schon eindrucksvoll seine Grenzen reflektiert.46 Erstens: „Chora“ konnte im 20. Jahrhundert und im Kontext der modernen Universitätswissenschaften nicht mehr als der Raum der „ganzen Geographie“ gedacht werden, höchstens noch als ein Raum für eine (künftige) Sozial- und Wirtschaftsgeographie: Der altgeographische Raum und die altgeographische Landschaft, diese Synthesen von Natur und Gesellschaft, von Materiellem und Sozialem, waren nun aufgegeben und damit auch die traditionelle „Einheit der Geographie“.47 Zweitens: Die Interpretation und Erklärung dieses chorischen Raumes liegt nun eigentlich nicht mehr im Kompetenzbereich der Geographie; die erklärenden Theorien müssten offensichtlich aus den sogenannten systematischen Wissenschaften in die Raumwissenschaft Geographie eingeführt werden: vor allem aus den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Drittens: Dieser „Strukturraum“ und seine „räumlichen Strukturen“ können nur mehr sehr schwer und fast immer nur ad hoc (sozusagen idiographisch interpretierend) z.B. an sozialwissenschaftliche Theorie und

46 Vor allem Bartels: Zur wissenschaftlichen Grundlegung einer Geographie des Menschen; ders.: Wirtschafts- und Sozialgeographie; ders.: „Schwierigkeiten mit dem Raumbegriff“. 47 Im Prinzip hätte diese Raumkonstruktion auch für die Physische Geographie, d.h. für die Bearbeitung der Naturräume und der Naturlandschaft vorgeschlagen werden können – dort waren aber theoretisch und empirisch längst die naturwissenschaftlichen Geodisziplinen (von der Geophysik/Geochemie und Geologie bis zur Geobotanik) zuständig geworden.

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Forschung angeschlossen werden. Das gilt schon für den Basisbegriff Distanz. Diese Aporie einer räumlichen oder raumbezogenen Sozialwissenschaft, anders gesagt, die Hoffnungslosigkeit des Unterfangens, eine raumorientierte oder raumbezogene Sozial- oder auch Kulturwissenschaft zu sein, hat besonders Benno Werlen herausgearbeitet.48 Aber schon Bartels hat das am Beispiel seines Basisbegriffs „räumliche Distanz“ demonstriert: Sie ist sozial auf unaufhebbare Weise vieldeutig und sozialtheoretisch unzugänglich, und jede Übersetzung kilometrischer Distanzen in (sozial)funktionale Distanzen produziert unlösbare Probleme. Räumliche Distanz könne z.B. indizieren: Kosten, Zeit, Mühe, Sympathie, Kontakt- bzw. Kommunikationswahrscheinlichkeit, Partizipations- bzw. Marginalisierungschancen, Statusähnlichkeit, „intervening opportunities“ und so weiter und so fort – aber sie indiziere alles immer auf vieldeutige und kontextrelative Weise, und zuweilen indiziere sie auch gar nichts Soziales, Ökonomisches oder Politisches.49 Das hat die Distanz übrigens mit allem Materiellen gemeinsam. Kurz: Der Raum (als geordneter physisch-materieller Bestand wie als Raumstruktur oder Distanzrelationenraum) ist von irreduzibler Polysemie befallen, geradezu ein Musterstück für die Demonstration von Derridas „grammatologie“, „dissémination“ und „différance“.

Mental Maps In ihren klassischen Arbeiten gingen die Geographen im Wesentlichen davon aus, dass sie die „irdisch“ oder „dinglich erfüllten Räume“ in etwa so konzipierten und beschrieben, wie sie auch von den autochthonen Handelnden vor Ort und im Raum aufgefasst wurden, und dass ihr geographischer Raum im Wesentlichen auch der vor Ort handlungsbedeutsame Raum sei. Die Geographen hielten ihre Raumkonstitution ja für eine „natürliche“ (d.h. eine selbstverständlich gegebene) Wirklichkeit. Aber schon im 19. Jahrhundert drängte sich auch den Geographen von vielen Seiten her eine ihren Raum relativierende Ahnung auf: dass der Mensch, d.h. Individuen, Gruppen, Institutionen, Kulturen, sich nicht unmittelbar an dem Raum und 48 Werlen: Gesellschaft, Handlung, Raum. 49 Bartels: „Schwierigkeiten mit dem Raumbegriff“, S. 11ff. Heute würde man vielleicht hinzufügen: Räumliche Nähe bzw. geringe Distanz können Inklusion und können Exklusion bedeuten (oder nichts von beidem), können unter Umständen Kommunikationserregungs- und Kommunikationsverdichtungsmaschinen, aber auch Kommunikationsunterbrechungs- und Kommunikationsverhinderungsmaschinen sein (oder nichts von beidem). Kurz: Der Raum kann alles, aber auch das Gegenteil von alledem sowie gar nichts bedeuten. Eine Verallgemeinerung der Überlegungen von Bartels findet man in Joerges: Gebaute Umwelt und Verhalten.

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der Wirklichkeit orientieren, sondern an symbolisch-sprachlich vermittelten Räumen, an „perceived and conceived environments“, an symbolischen, letztlich gesellschaftlichen „Konstruktionen von Wirklichkeit“. Diese Idee findet sich (als Nebenthema) schon in der klassischen Geographie des frühen 19. Jahrhunderts, wirkte dann als (oft nur atmosphärisches) Hemmnis gegenüber allen allzu direkten und platten Geodeterminismen in der Geographie und tauchte im 19. Jahrhundert nicht selten auch unter dem vieldeutigen Titel „Ästhetische Geographie“ auf; die Gebildeten waren sich damals wohl noch eher der alten Bedeutung von aisthesis bewusst. Bei der Entfaltung dieses Forschungsprogramms in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekamen das Thema „Mensch und Raum“ bzw. „Mensch und Erdnatur“ wie auch der „geographische Raum“ dann schlechthin eine neue Pointe; die Substantialisierungen, die real spaces der älteren Geographie verwandelten sich tendenziell allesamt in mental maps oder maps in minds und gerieten so in einen anderen ontologischen Aggregatzustand; anders gesagt: alle Räume wurden potentiell zu Gegenständen einer Beobachtung 2. Ordnung. Seit dem Populärwerden der Raum- bzw. Umweltwahrnehmungsgeographie – in der deutschen Geographie: seit den 1960er Jahren – verbreitete sich in der Geographie sogar so etwas wie eine konstruktivistische, perspektivierende und relationierende Denkhaltung gegenüber Räumen und Raumkonzepten zumindest als eine Art von konstruktivistischer Grundstimmung. Viel häufiger als zuvor bemerkt man eine deutliche Distanz und Gebrochenheit im Hinblick auf die altgeographischen Ontologien und gegenüber allen Ableitungen von Raumkonzepten aus Wirklichkeitsstrukturen, und es blieb dabei auch nicht unbedingt bei einem populären „Konstruktivismus der dummen Kerle“, der reflexionslos etwa nach folgendem Motto funktioniert: Alles ist konstruiert – ausgenommen der Konstruktivist. Räume vom Typ Partyraum, Schlögelsche Landschaftshermeneutik und mythopoetische Tagträumereien im Stile von Rudolf Maresch sind seither in der Geographie bei Weitem nicht mehr so nahe liegend und plausibel wie zuvor und eher zu belächelten Ausnahmen geworden. Das Forschungsprogramm „environmental perception and behavior“, im Deutschen meist mit „Raumwahrnehmung“ etikettiert, bezog sich auf alle räumlichen Maßstabsebenen (von Wohn- und Architekturräumen über Stadtquartiere und Städte bis hin zu Landschaften, Ländern und Erdteilen) und stand in vielfältigem Austausch mit (Umwelt-)Psychologie, Architektur sowie Stadt-, Raum- und Regionalplanung.50 In dem Maße, wie das

50 Als kurze deutschsprachige Resümees über Theorien und Ergebnisse dieses Forschungsprogramms vgl. z.B. Hard: Die Geographie, S. 200-220 (1973, noch ziemlich euphorisch!) und Hard: „Humangeographie“, S. 57-69 (1990, schon stark ernüchtert!). Dort findet man auch die Hinweise auf die angel-

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Programm sich entfaltete, wurden aber auch hier wieder die empirischen Grenzen und theoretischen Defizite sichtbarer. Der wichtigste Einwand lautete (in heutiger Diktion) etwa so: Diese Perzeptionsgeographie läuft notwendigerweise auf eine psychologisierende Geographie, auf eine Art Psychogeographie hinaus. Die Geographie, zumal die Geographie des Menschen, wollte aber von Anfang an bis heute auf eine Kultur- und Sozialgeographie hinaus, also – in heutiger Diktion – auf soziale Systeme und ihre Räume, jedenfalls nicht bloß auf psychische Systeme oder auf Raumbewusstsein bzw. Raumwahrnehmung, die man ja wohl nur psychischen Systemen, aber kaum oder nur metaphorisch sozialen Systemen zuschreiben kann.51 Man muss im Auge behalten, dass diese Erforschung von individuellen „kognitiven Landkarten“, „mental maps“, „images“, „geographical imaginations“, „Psychomilieus“ und „symbolischen Umwelten“ ja kein Selbstzweck war, sondern zur Erklärung von Verhalten und Handeln beitragen sollte, besonders von „raumbezogenem Verhalten und Handeln“. In der angelsächsischen Geographie hieß das Programm deshalb ja auch „environmental perception and behavior“, mit der damals typisch angelsächsischen Ausrichtung auf behavior statt Handeln. Gerade in dieser Hinsicht blieb der Ertrag der empirischen Forschung aber sehr begrenzt. Es wurde z.B. immer deutlicher, dass die Handelnden beim Handeln normalerweise gar nicht auf (fertige) mental maps zurückgreifen und dass es deshalb nur sehr begrenzt sinnvoll ist, gespeicherte mental maps zu erheben und dann zur Handlungserklärung oder gar als Verhaltensprädiktoren zu benutzen. Der mental map-Forscher erhob dabei allzu oft und offensichtlich bloße Artefakte der eigenen Methoden. Die Handelnden konstruieren solche mental maps, wenn überhaupt, eher ad hoc und semantisieren dabei ihre räumliche Umwelt gemäß ihren spezifischen Handlungszielen und Handlungssituationen, und bei solchen situationsgebundenen Umweltinterpretationen greifen sie dann ad hoc auf Raumbilder (Karten, Pläne, Bilder, Texte ...) zurück, die schon längst in der sozialen Kommunikation zirkulieren. Es erwies sich deshalb auch als ziemlich irreführend, von „Raumwirkungen“ auszugehen, seien diese nun als Wirkungen realer oder als Wirkungen mentaler und imaginierter Räume gedacht. Die Perspektivität aller Raumbeschreibungen ist ein altes geographisches Thema, aber Pluralität und Wechsel der Perspektiven wurden doch eher als Etappen einer Entdeckungsgeschichte des wirklichen Raumes

sächsische Literatur. Auch Partyräume u.ä. wurden damals längst als „perceived and conceived environments“ traktiert. 51 So z.B. dezidiert Klüter: Raum als Bestandteil sozialer Kommunikation, S. 54ff.; Klüter: „Raum als Objekt menschlicher Wahrnehmung und Raum als Element sozialer Kommunikation“, S. 145ff.

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aufgefasst.52 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert aber setzte sich in der Geographie wohl endgültig die Vorstellung durch, dass es nicht etwa (wie wohl nur noch einige sehr einfältige Geographen bis heute glauben) einfach irgendwo, z.B. „außerhalb der Gesellschaft“, Raum oder Räume gibt, von denen man dann Karten, Texte etc. machen kann – dass vielmehr alle Räume schon Karten sind, die ihrerseits nicht auf wirkliche Räume, sondern auf Kartographen und Kartographien verweisen. Die alte sprachphilosophisch-sprachkritische Mahnung „The map is not the territory“ verwandelte sich so tendenziell in die geographische Einsicht „The territory is a map and the map is the territory“. Auch in Löws Partyraum, Schlögels Landschaftsraum, Mareschs Machtraum und Sojas Thirdspace sieht man dann keine Wirklichkeiten mehr, sondern nur noch kontingente Karten, die nicht auf wirkliche Räume referieren, sondern auf ihre Kartographen und deren Weltbilder.53 Den Fluchtpunkt dieser geographischen Raum-Idee vom space als map kann man systemtheoretisch-luhmannisierend wohl so formulieren: Wie den Begriff Kultur, so sollte man auch den Begriff Raum „aus dem Operationsbereich der Beobachtung 1. Ordnung in den Operationsbereich der Beobachtung 2. Ordnung verlagern“. Dann geht es bei Raum und beim Gebrauch von Raumbegriffen nicht mehr um die Einteilung, Ordnung und Synthese der Gegenstandswelt, „sondern um das Beobachten von Beobachtern und um eine bestimmte Form für die Frage, wie Beobachter die Beobachter beobachten“. Ähnliches gilt dann auch für die ganze Corona der fundamentalen Raumkonzepte wie Landschaft, Land und Region.54 Nach den Erfahrungen mit dem Programm „Raumwahrnehmung“ klingt es für Geographen z.B. sehr merkwürdig, wenn es beim Raumsoziologen heißt:

52 Vgl. z.B. schon Hommeyer: Beiträge zur Militair-Geographie der europäischen Staaten; ders.: Einleitung in die Wissenschaft der reinen Geographie für Erzieher, Lehrer und gebildete Eltern; Kriegk: Schriften zur allgemeinen Erdkunde. 53 Diese sprachkritische Kartenmetaphorik spielte schon in den angelsächsischen general sematics der 1930er bis 1950er Jahre eine große Rolle (vgl. z.B. Hayakawa: Semantik. Sprache im Denken und Handeln, S. 34 etc.) und kam um 1970 in der deutschsprachigen Geographie an. Als Quelle des vielzitierten Satzes „The map is not the territory“ gilt allgemein Korzybski: Science and Sanity. 54 Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 4, S. 32. Vgl. direkt zu Raum auch Redepenning: Wozu Raum? In traditionellerer philosophischer Sprache hätte man wohl gesagt: Raum sollte (wie „Ganzheit“, „Synthese“, „Totalität“, „Landschaft“ ...) nicht mehr als Beobachtungs-, Gegenstandsoder theoretischer Begriff, schon gar nicht als Bezeichnung einer Wirklichkeit(sstruktur), sondern als Reflexionsbegriff gebraucht werden, d.h. als ein Begriff, der seinen Sinn und Ort in der Reflexion des Erkenntnissubjekts (des Beobachters) auf die „Ermöglichungsbedingungen“ und Grenzen seiner Erkenntnis (seines Beobachtens) hat.

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„Es gilt daran zu erinnern, was [...] vernachlässigt zu werden droht, nämlich dass es Räume gibt, die Verhalten und Handlung prägen und vorstrukturieren: etwa in der Kirche, auf Behörden, in Seminarräumen oder Wartezimmern. So gehen wir in Kirchen langsam und mit Bedacht, wir senken die Stimme und nehmen den Hut ab [...]. Mit anderen Worten: Raum prägt unser Verhalten und drückt ihm seinen Stempel auf.“55

Jeder weiß z.B., dass diese „Vorstrukturierung“, „Prägung“ und „Stempelung“ unseres Verhaltens durch den absoluten Raum spurlos verschwinden kann – z.B., wenn die Pfarrjugend im gleichen Raum gerade einen Jazzund Tanzabend gibt, von zeitstabileren Umwidmungen der Kirche ganz zu schweigen. Drastischer formuliert: Keine Kirche ist immer eine Kirche – während z.B. für eine Maus Käse immer Käse ist (deshalb funktionieren ja Mäusefallen so gut). Noch kürzer: Den Mensch betrachtet man besser nicht als Raumtier, sondern als animal symbolicum.56 Natürlich weiß auch der Raumsoziologe, um welche trivialen Sachverhalte es eigentlich geht und dass man diese „Prägungen“ und „Vorstrukturierungen“ des Verhaltens/Handelns durch den absoluten Raum, kurz, diese sogenannten „Raumwirkungen“ doch besser als semiosische Wirkungen betrachtet und bezeichnet. D.h.: als Wirkungen von handlungssituationsabhängigen Interpretationen, die am physischen Raum selber nicht ablesbar sind; auch hier gilt: „All environments are invisible“. Eben dies war ja der Sinn der geographischen mental mapForschung.57 Menschen leben halt meist in bedeutungsvollen Umwelten, und was immer ihnen dort an Gegenständen bzw. Wahrnehmungsfiguren begegnet, dem können sie normalerweise erlernte Bedeutungen geben; meistens haben sie zusätzlich gelernt, auf welche (Raum-)Semantiken sie wo und wann am besten zurückgreifen. Bedeutungs- und Symbolwelten dieser Art (die in heutiger Gesellschaft meist sehr fluid und unverbindlich sind) behandelte man früher und sinnvoller als in einer Raum- in der Kultursoziologie. Muss man im Rahmen des spatial turn noch immer altgeographische Trivialitäten verkünden, z.B. dass sich „das Soziale“, „die Gesellschaft“, „soziale Ungleichheit“ etc. „in den Raum einschreiben“, „sich im Raum ausdrücken“ und so weiter und so fort? Was immer dann mit Raum gemeint sein mag: „Soziale Ungleichheit“ zum Beispiel „schreibt sich“ trivialerweise auch in Haare und Hosen, Schuhe und Schlipse, Farben und 55 Schroer: Räume, Orte, Grenzen, S. 176. 56 Nach einem didaktischen Spottgedicht („To an Indolent Student“) in Hayakawa: Semantik, S. 412: „To a rodent, cheese IS cheese/Without semantic subtleties/.../That’s why mousetraps work“. 57 Wenn z.B. die Anhänger Mitterands ihren Sieg auf der Place de la Bastille feierten und die Anhänger Chiracs 14 Jahre später auf der Place de la Concorde, dann wusste jeder, dass das keine „Raumwirkungen“, sondern ganz situationsspezifische Symbolwirkungen waren.

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Luxwerte, Geräusche und Gerüche, Temperaturen und Gewichte, in Steine, Pflanzen und Tiere, selbst in Mikroben und Viren ein, kurz, in so gut wie alles, und das bekanntlich oft viel informationsreicher, eindrucksund wirkungsvoller als z.B. in „räumliche Distanzen“, „räumliche Strukturen“ oder Landschaftsbilder. Und diese sozialen Indikatorwerte von allem und jedem werden im alltäglichen Handeln auch wahrgenommen und kommuniziert, mit bedeutenden Folgen für das weitere Kommunizieren, Erleben und Handeln. Übrigens nicht nur wahrgenommen und kommuniziert, sondern auch missverstanden, simuliert und dissimuliert, denn es handelt sich ja um Zeichen, und Zeichen sind (nach der berühmten Definition von Umberto Eco) etwas, womit man auch lügen kann. Die Inflation von Raum beruht wohl auch darauf, dass diese anmutungsreiche Vokabel noch in die trivialsten Trivialitäten eine pompöse (Viel-)Bedeutsamkeit hineinzuraunen vermag. Überdisziplinär interessanter als eine pompöse Raumsoziologie wäre z.B. eine methodisch einfallsreiche Beobachtung und Interpretation alltäglicher Semantisierungen und physischer Indikatoren/Spuren sozialer Phänomene (samt deren Gebrauch in der sozialen Kommunikation). Dafür spricht schon die Fachgeschichte.

„Raumabstraktionen“ und „alltägliche Regionalisierungen“ In der beschriebenen paradigmengeschichtlichen Situation haben Benno Werlen und Helmut Klüter fast gleichzeitig zwei sehr unterschiedliche Neuformulierungen der Geographie angeboten; zumindest im Nachhinein kann man die eine wie die andere in gleicher Weise als eine polemische Kritik, als eine grundsätzliche Korrektur und als eine konsequente Weiterführung nicht nur des altgeographischen Weltbildes, sondern auch des „spatial approach“ und der Raumwahrnehmungsgeographie lesen.58 Werlens Räume des alltäglichen „geography making“ sind auf der Linie Husserl-Schütz sowie von Subjekt und Handeln her konstruiert, Klüters Räume schlossen, für Geographen viel befremdlicher, an Luhmanns Sozialtheorie an und bieten eine „Theorie des Raumes“ und der sozialen Produktion von Raumkonzepten („Raumabstraktionen“), die auf Seiten der systemtheoretisch orientierten Soziologie bis heute keine konkurrenzfähige Entsprechung hat. Während man Werlen zur Not noch ans altgeographische Weltbild anschließen konnte (etwa in diesem Sinne: Individuen/Subjekte eignen sich im sozialen Zusammenhang den realen Raum an und bilden dabei „alltäg-

58 Klüter: Raum als Bestandteil der sozialen Kommunikation; Werlen: Gesellschaft, Handlung, Raum; ders.: Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen.

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liche Regionalisierungen“), ist das bei Klüter nicht mehr möglich: Aus dem Mensch-Erde-, Mensch-Natur- oder Mensch-Raum-Paradigma sind beide Seiten verschwunden. Die innergeographische Rezeption war entsprechend unterschiedlich. Bei Klüter geht es nun ganz explizit nicht mehr um Räume als Perzepte und Konzepte (mental maps oder maps in minds), sondern um Räume als Kommunikate (communicated maps oder maps in communication), eben um „Raum als Bestandteil sozialer Kommunikation“; nicht mehr darum, wie (subjektive) Räume im Verhalten/Handeln von sozialisierten Subjekten funktionieren, sondern wie und wozu welche Raumabstraktionen, d.h. mehr oder weniger standardisierte räumliche Informationen aller Art in der Gesellschaft produziert werden und funktionieren. Von den Interaktionssystemen mit ihrer „Kommunikation unter Anwesenden“ bis hin zur Weltgesellschaft werden systemspezifische Raumsemantiken ausgebildet; auch alle gesellschaftlichen Funktionssysteme (Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft und Erziehung, sogar religiöse, Kunst- und Liebeskommunikation) produzieren Raumabstraktionen in ihren jeweils bevorzugten Codes, d.h. „symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien“. Das können z.B. Karten und Pläne, Bilder und Texte, Theorien und sogar einzelne Wörter oder Begriffe sein (sowie Kombinationen daraus). Hauptproduzent dürfte heute der Systemtyp Organisation bzw. Großorganisation sein: Organisationen müssen ihre Organisationsprogramme (zwecks Handlungskoordination und Selbst- statt Fremdsteuerung ihrer Mitglieder und Adressaten) pausenlos und detailliert in „Programmräume“ umsetzen. Das sind z.B. „Adressenräume“ und Erreichbarkeitsinformationen aller Art, etwa Liefer- und Vertriebsnetze, aber auch raumbezogene Selbstbeschreibungen, Selbstsymbolisierungen und Selbstidealisierungen.59 Diese Raumabstraktionen dürfen nun aber nicht mehr altgeographisch als Abstraktionen von wirklichen Räumen verstanden werden; Programmräume z.B. sind eher Abstraktionen von Organisationsprogrammen, nicht von wirklichen Räumen, und wie alle in die soziale Kommunikation eingespeisten Raumabstraktionen dienen sie zwar auch einer alltagssprachlichräumlichen, vor allem aber der sozialen Orientierung ihrer Leser und Nutzer. Andere Kommunikationssysteme konstituieren z.B. Grundstücke, Administrationsräume, Vaterländer, Heimaten, Landschaften, Regionen, Biotope und andere Ökoidyllen bis hin zu Raumabstraktionen wie Kulturerdteil, Erste bis Vierte Welt, Gaia oder das Raumschiff Erde. Schon in vormodernen Gesellschaften haben unterschiedliche Lebensformen unterschiedliche Räume konstituiert, sich bei typischen Handlungen an unterschiedlichen Raumabstraktionen orientiert und gesteuert: Händler, Krieger und Pilger konstituierten eher Netze, d.h. räumlich 59 Vgl. hierzu Drepper: „Der Raum der Organisation“, insbesondere S. 112ff.

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projizierte Erreichbarkeiten, Feudalherren und Bauern eher Parzellen/ Grundstücke, d.h. räumliche Projektionen oder Verräumlichungen von Eigentums- und Verfügungsrechten bzw. Raumabstraktionen in den Medien, Macht, Recht oder Geld. Daraus folgt auch, dass es keine richtigen, objektiven, wissenschaftlich wahren Räume/Raumabstraktionen gibt: ihr Wert oder Unwert kann nur an ihrer sozialen Resonanz, ihrem kommunikativen Erfolg gemessen und z.B. von den Nachfragern nach solchen Raumabstraktionen entschieden werden. Freilich konzipieren auch Wissenschaftler gelegentlich Raumkonzepte für eigene Theorien, aber diese Eigen- oder Idealräume haben wissenschaftsextern selten Erfolg; die Geographie selber liefert schlagende Beispiele. Entsprechend steckte in Klüters Projekt einer „Geographie der Raumabstraktionen“ von Anfang an auch ein sozusagen echt geographischer Zug hin zu einer handfest anwendungsbezogenen Wissenschaft: Geographen sollten Raumabstraktionen nicht nur beobachten und analysieren, sondern sich auch (für gesellschaftliche Auftraggeber, z.B. Organisationen) an Bewertung, Herstellung und Verbesserung („Rationalisierung“) solcher Raumabstraktionen beteiligen. Vielleicht überschätzte er da die Geographen und unterschätzte, wie viele soziale Instanzen schon seit langem mit großem Erfolg ebenfalls Raumabstraktionen herstellen und verbreiten: von den Massenmedien, Werbeagenturen und Kartographischen Anstalten über zahlreiche Administrationen und Professionen bis hin zu den Designern, Künstlern und Poeten. Die skizzierten Entwürfe bieten eine Auflösung der Aporien und Paradoxien, die im „spatial approach“ und im Raumwahrnehmungsparadigma steckten und sind insofern so etwas wie zwei unterschiedlich radikale Endformen der gleichen Paradigmengeschichte. Spätestens mit „Raum als Kommunikat“ ist der Raum der Geographen in der sozialen Welt und in den Sozialwissenschaften angekommen: Auch die Räume der Geographie liegen dann nicht mehr (nur) an der Erdoberfläche, d.h. in der physischen Welt, sondern vor allem in der sozialen Welt, und dem Sozialgeographen ist die soziale Welt nun nicht mehr, wie noch im klassischen Paradigma und in der Landschaftsgeographie, nur oder fast nur über die physischmaterielle, räumliche Welt zugänglich. Hatten die Geographen Gesellschaft und Geschichte bisher vor allem im (wirklichen) Raum gelesen, so können sie Gesellschaft und Geschichte nun – mit größerer Treffsicherheit und weniger Willkür – auch in den Raumsemantiken lesen, und sie können nun nicht mehr nur den wirklichen, meist landschaftlich gedachten Raum, sondern auch die Raumsemantiken der Gesellschaft von der Gesellschaft her interpretieren. Die Abstufungen dieses vorerst letzten spatial turn in den spatial turns der Geographiegeschichte kann man vielleicht so verdeutlichen: Raum war und ist für Geographen alter Art (wie offenbar auch noch weithin im

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außergeographischen spatial turn) etwas Materielles, was mit roher materieller und/oder sanfterer symbolischer Gewalt auf Mensch und Gesellschaft wirkt und von diesen dann ebenfalls physisch und symbolisch bearbeitet wird. Werlens alltägliche Raumkonzepte oder Raumsemantiken, von ihm etwas einengend „alltägliche Regionalisierungen“ genannt, beziehen sich zumindest implizit noch auf einen gegebenen physischen Raum, z.B. die Erdoberfläche; mit einer Systemtheorie autopoietischer, operativ geschlossener Systeme ist Werlens Raum, wie der Autor auch selber weiß und will, nicht zu vereinbaren.60 Anders Klüters „Raumabstraktionen“. Man kann seine Räume (auch ohne Zustimmung des Autors) ohne Weiteres strikt systemtheoretisch als Kommunikate betrachten, die sich nicht auf einen wirklichen Raum, sondern immer auf andere Kommunikate beziehen: Raumabstraktionen sind dann ohne gesellschaftsexterne Referenz, aber eventuell viabel, d.h. (umwelt)kompatibel. Aber wie allen Bestandteilen der Kommunikation kann Raumabstraktionen dann in der Gesellschaft Fremdreferenz oder Selbstreferenz zugesprochen werden. D.h. sie können in der Gesellschaft in die Umwelt der Gesellschaft projiziert werden (dann Fremdreferenz!) – oder auch nicht. Die Vertreter des spatial turn und die heutigen klassischen Geographen gebrauchen ihre Raumkonzepte durchweg mit Fremdreferenz; andere Geographen, von der Systemtheorie, von Klüter und der Reflexion ihrer Paradigmengeschichte angeregt, betrachten sie eher im Hinblick auf Selbstreferenz.

Thirdspace, oder: Die Wiedererfindung der Geographie in der Geographie Die Geographie war wohl in jedem Moment ihrer Geschichte eine polyparadigmatische Disziplin. Wissenschaftsforscher versichern, dass, von einigen wenigen Naturwissenschaften abgesehen, in den meisten Wissenschaften nie etwas wirklich als endgültig erledigt betrachtet werden sollte: Das älteste Abgelebte kann naiv strahlend als das Neueste wiederkehren (und das, was man für einen wirklichen Fortschritt hielt, wieder spurlos

60 Ähnlich „gibt es“ auch für die Soziologen Stichweh und Kuhm einen extrakommunikativen, „gesellschaftsexternen“ Raum „in der Umwelt der Gesellschaft“ und einen intrakommunikativen Raum, d.h. eine Raumsemantik in der sozialen Kommunikation. Das ist unter den Prämissen der Systemtheorie, auf die sich beide berufen, undenkbar: Auch der „extrakommunikative Raum“ kann in einer Theorie operativ geschlossener autopoietischer Systeme nur ein Konzept in der Gesellschaft sein (Wo denn sonst?), wo ihm dann Stichweh und Kuhm Fremdreferenz zusprechen mögen. Vgl. z.B. Stichweh: „Raum, Region und Stadt in der Systemtheorie“; Kuhm: Raum als Medium gesellschaftlicher Kommunikation.

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verschwinden). Postmoderne ist u.a. ein Name für eine Zeit, in der sich solche Ereignisse häufen. Die postmodernen Geographien des späten 20. Jahrhunderts haben keine neuen Raumkonzepte mehr produziert, aber die vorliegenden benutzt, kombiniert und zum Teil neu terminologisiert. Die Neuheit liegt eher in der Einführung eines fortschrittlichen (radikalen bis bloß noch politisch korrekten) moralisch-politischen Programms, das dann auf ein passendes Raumkonzept projiziert und dergestalt auf echt geographische Weise geerdet wurde. Als die dafür am besten geeigneten Räume erwiesen sich, wie zu erwarten, der altgeographische Raum und seine landschaftliche Version, die ja schon ihrerseits immer Träger moralisch-politischer Botschaften (ursprünglich transzendenter, dann eher völkisch-nationaler Herkunft) gewesen waren. Sojas Thirdspace ist das vielleicht prominenteste Beispiel für eine solche postmoderne Raumkreation.61 Listet man auf, was diesen Thirdspace ausmacht, dann kommt man auf Folgendes: Thirdspace ist ein gelebter, ein lebensweltlich wahrgenommener, bedeutungsvoller und gelebter Raum; er besteht aus materiellen Gegenständen, die aber alle auch in der Wahrnehmungswelt des Menschen liegen und sozial bedeutungsvoll sind, und obwohl Thirdspace doch primär ein gelebter Raum ist, soll er zugleich und inhaltlich identisch auch der Raum der wissenschaftlichen Geographie, ja aller Sozial- und Humanwissenschaften, kurz der Raum der wissenschaftlichen Theorie sein. Darüber hinaus ist Thirdspace auch noch ein moralisch-politisch bedeutsamer Raum, nämlich Ausgang und Anregung für „gemeinsame politische Aktionen“ in emanzipatorischer Absicht: kurz, das zeitgemäße Wohn- und Erziehungshaus für eine friedlichere und gerechtere Weltgesellschaft. Thirdspace bietet eine progressive und universalistische politisch-moralische Option an (ja drängt sie geradezu auf), die als eine Art von korrekter radikaler Platitude einer folgenlosen Zustimmung fast überall allzu sicher sein kann. Mit alledem stehe der Thirdspace auch jenseits aller üblichen ontologischen Dicho- und Trichotomien; er ist die Inkarnation des (endlich) eingeschlossenen (bisher) ausgeschlossenen Dritten. Er ist (bzw. muss gedacht werden als) zugleich materiell und mental und sozial, real und symbolisch, objektiv und subjektiv, deskriptiv und präskriptiv, subjektives Erlebnis und objektiver Bestand, Gegenstand der Wissenschaft und der politischen (ja aller) Praxis. Unter allen mir bekannten Raumkonzepten ist nur ein einziges genauso gestrickt: der altgeographische, irdisch gefüllte Raum, besonders in seiner Ausbildung als Kulturlandschaft. Und wie die deutsche Landschaft ist auch der Thirdspace Sojas wieder (wenn auch mit anderem weltanschauli61 Soja: „Thirdspace – Die Erweiterung des Geographischen Blicks“; ders.: Thirdspace.

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chen Vorzeichen) ein „Mahnruf zur Integration und Inklusion unter dem Vorzeichen einer desintegrierenden Gesellschaft“.62 Dem entspricht die „trialektische“ Konstruktion des Thirdspace aus Firstspace und Secondspace: Firstspace ist die materielle Welt, die in altgeographischer Art mit der menschlichen Wahrnehmungswelt identisch ist; der Secondspace ist die Welt der geographischen Imaginationen, Kognitionen und Symbolisierungen über diesen Firstspace – und Thirdspace ist das alles zugleich. Firstspace sei der Raum des „spatial approach“ gewesen, Secondspace der Raum der Perzeptionsgeographie, und Thirdspace sei der transdisziplinäre Raum des transdisziplinären spatial turn. Mit anderen Worten: Soja schreibt die Geschichte der geographischen Raumabstraktionen rückwärts, und sie gipfelt bei einer postmodernen Version des Raums der klassischen Geographie. Der Thirdspace bedeute (sagt Soja) eine „ontologische Wende“ und eine völlig neue und andere Art, die Welt zu sehen, ja, Thirdspace ist die Ankunft des Anderen: „Thirding“ ist „Othering“.63 Hier wie so oft führt das heiße Verlangen nach dem ganz Anderen direkt zum Ausgangspunkt und zu sich selbst zurück: eine geographische Version des Lehrlings zu Saïs. In der deutschsprachigen Geographie findet man ähnliche Denkbewegungen in der Neuen Kulturgeographie, wobei die kulturlandschaftsgeographischen Traditionsmotive nicht besonders gut zu dem meist konstruktivistisch-dekonstruktivistischen Selbstverständnis der Autoren passen.64

Raum und Raum in der Moderne Wenn dagegen der Raum als Bestandteil der Kommunikation Gegenstand der Geographie sein soll – was soll man davon halten, wenn, wie oft behauptet wurde, dieser „gesellschaftsintern erzeugte Raum“ bzw. „die semantische Relevanz des Raumes“ „in der Moderne auf sichtbare Weise an Form prägender Kraft verliert“?65 Es kann ja nicht sehr motivierend

62 Redepenning: Wozu Raum?, S. 136. Zum entsprechenden „Ruf der (deutschen) Landschaft“ vgl. Schultz: Die deutsche Geographie von 1800 bis 1970, S. 128ff., 332ff; zur politisch-weltanschaulichen Mehrdeutigkeit der altgeographischen Raumkonzepte und besonders der „Landschaft“ vgl. Eisel: „Die schöne Landschaft als kritische Utopie oder als konservatives Relikt“, S. 157ff. 63 Soja: „Thirdspace – Die Erweiterung des Geographischen Blicks“, S. 277ff. 64 Vgl. z.B. Gebhardt u.a.: Kulturgeographie; dazu kritisch Klüter: „Geographie als Feuilleton“. Bezeichnenderweise wird das, was Klüter (S. 31) eine „als Zukunft getarnte Vergangenheit“ nennt, von einer Kulturwissenschaftlerin als Teil des internationalen spatial turn empfunden; vgl. Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 319. 65 So z.B. Stichweh: „Raum, Region und Stadt in der Systemtheorie“, S. 6.

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sein, sich einem so von Relevanzverlust heimgesuchten Gegenstand zu widmen. Der „Relevanzverlust des Raumes“ in der Geschichte und vor allem in der Moderne ist seit langem ein Thema und Topos der gebildeten Welt Europas; in der Geographie hat schon Carl Ritter, z.B. in seinem berühmten Text „Über das historische Element in der geographischen Wissenschaft“ (zuerst 1833) darüber reflektiert.66 Dieser „Bedeutungsverlust“ wurde dabei aber gemeinhin auf das bezogen, was Stichweh den „gesellschaftsexternen, physischen Raum in der Umwelt der Gesellschaft“ nennt, z.B. auf ein Insgesamt von erdräumlichen Natur- oder Sachzwängen, und noch häufiger auf die erdräumlichen Distanzen bzw. die physischen Transportwiderstände, deren neuzeitliches Schrumpfen zugunsten der Erreichbarkeiten heute fast für jedermann offensichtlich zu sein scheint.67 Das Mensch-Raum-Paradigma schien Geographen dadurch nie bedroht; die „Macht der Räume“ möge zwar in einigen Hinsichten auf spektakuläre Weise geschrumpft sein, sei aber zugleich umfassender und subtiler geworden; jedenfalls seien die verbleibenden Raumwirksamkeiten bedeutsam genug, um dem Forschungsprogramm der Geographie weiterhin einen guten Sinn zu geben. Bei Stichweh bezieht sich die These vom Bedeutungsverlust des Raumes aber vor allem auf die Raumsemantik, auf den Raum als Bestandteil der sozialen Kommunikation. Gerade in dieser Version scheint die These vom modernen „Relevanzverlust des Raumes“ aber gründlich falsch zu sein. Schon die modernen spatial turns in den Sozial-, Kultur- und Medienwissenschaften müssten stutzig machen, und unübersehbar läuft die gesellschaftliche Produktion, Distribution und Konsumtion von Raumabstraktionen nicht nur in Teilen des Wissenschaftssystems, sondern mehr noch außerhalb auf vollen Touren. „Raumabstraktionen“ gehören, wie Klüter betont hat, geradezu zu den Grundbedingungen des Funktionierens moderner Sozialsysteme. Man kann es wohl auch wie folgt sehen: So wie die moderne Erzählung von „Verlust“, „Zerstörung“ und „Tod der Landschaft“ mit der modernen Apotheose der Landschaft koevoluiert ist, so auch die moderne Erzählung vom (Relevanz-)Verlust des Raumes mit den üppigen Raumsemantiken und Regionalismen.

66 Ritter: Einleitung zu einer allgemeinen vergleichenden Geographie, S. 152181. 67 Schon bei den räumlich definierten Grenzen liegt das dem gesunden Menschenverstand nicht mehr ganz so nah: Gab es jemals räumlich-territoriale, im physischen Raum verortete Grenzen von solcher sozialen Bedeutung wie z.B. im 20. Jahrhundert?

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Raumwirkungen, anders gesehen Auf dieser Ebene kann man nun das altgeographische und neusoziologische Thema „Raumwirkungen“ angemessener abhandeln: als Frage nach sozialen Funktionen und Wirkungen von Raumabstraktionen oder Raumsemantiken.68 Ihre Funktionalität und ihre Erfolge liegen wohl vor allem daran, dass es sich um „großartig filtrierte, massenmedial leicht kommunizierbare und leicht konsumierbare Massenware“ handelt und dass sie sich hervorragend eignen, auf ebenso sparsame wie unauffällige Weise direkte Fremdsteuerung von Adressaten zu anonymisieren und in Selbststeuerung zu verwandeln: Ein Steuerungseffekt, der auf andere Weise in modernen Gesellschaften kaum oder nur noch mit enormem Aufwand erreicht werden könnte. Raumabstraktionen projizieren ja soziale Systeme (Systemgrenzen und Systemstrukturen) auf Materialität: An den effektiven Produktionsstätten von Raumabstraktionen wird „Überbau“, Gesellschaftliches, manchmal ein ganzes Gesellschaftsmodell überzeugend auf Physis abgebildet und gewinnt dadurch (durch solche Verräumlichung und Vererdung) oft derartige Plausibilität, dass Kontingenz ausgeschlossen erscheint. So kommt es, dass zuweilen noch den windigsten Raumabstraktionen höchste Objektivität zugesprochen wird. In den „Politics of Reality“ spielen Raumabstraktionen eine zentrale Rolle. „Erkennen Sie jetzt endlich, wie unbewusst genial und modern die Geographen immer schon gewesen sind?“69 In dieser primitiven, aber strategisch oft höchst wertvollen räumlichen Codierung von Sozialem ist ein räumelnder, spatialistischer oder regionalistischer Diskurs den sexistischen und rassistischen Diskursen eng verwandt: Wie der sexistische Diskurs Soziales (z.B. Inklusion/Exklusion) an Sexualorganen festmacht, der rassistische an tatsächlichen oder fiktiven Rassenmerkmalen, so der Raumdiskurs an Räumen und Raumgrenzen, an Ortsangaben bzw. „räumlichen Merkmalen“ und „Zugehörigkeiten“. Raumabstraktionen oder Raumsemantiken können schlagartig von Informations- und Begründungspflichten entlasten und folglich auch Instrumente der Sicherheitsbeschaffung, Unsicherheitsabsorption und Kommunikationsvermeidung, d.h. eine Art Kommunikationsvermeidungskommunikation sein. Sie dienen der Invisibilisierung und Homogenisierung von Heterogenität, wirken als Inklusions- und Exklusionsverstärker und nicht zuletzt als Suggestionen von tatsächlicher oder künftig möglicher Über68 Zum Folgenden: Klüter: „Raum und Organisation“, Klüter in Hard: Landschaft und Raum, S. 291ff., sowie Redepenninig: Wozu Raum?, S. 131ff. etc. 69 Klüter in Hard: Landschaft und Raum, S. 291. Klüters Spott bezieht sich auf meine voreilige kritische Bemerkung, die typisch geographische Manie, alles Soziale zu territorialisieren und zu vererden, sei wohl ein Survival aus segmentär gegliederten, z.B. neolithischen Gesellschaften.

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sichtlichkeit, Integration, Einheit und Harmonie, überhaupt als wirkungsvolle Träger von (meist beglückenden) politisch-moralischen Botschaften: Sojas Thirdspace kann als ein prominentes innergeographisches Beispiel gelten. Und nicht zuletzt: Was von Kunstwerken gesagt wurde, gilt noch viel mehr für den wunderbaren Pop der Raumabstraktionen: Es handelt sich um Massen von Glücksversprechen, die garantiert gebrochen werden. Kurz: Raumabstraktionen funktionieren nicht selten als leicht emotionalisierbare und verführerische Informationsverarbeitungen.70 Den praktisch-politischen Vorteil von Verräumlichung/Raumabstraktion kann man natürlich auch schon in einfach-alltäglichen Kontexten beobachten. Effektive Kommunikation sachlicher Verschiedenheit ist in der Praxis fast immer auf vereinfachendes Mitkommunizieren räumlicher Differenzen, überhaupt auf räumliche Information angewiesen. Vieles kann man aber auch schon durch Ortsangaben und unter weitgehendem Verzicht auf eine Beschreibung in der Sach- und Sozialdimension überzeugend und manipulierbar identifizieren; weitere Kommunikation und Erkenntnisbemühungen erübrigen sich dann bei pragmatischer Betrachtung tatsächlich oder scheinen sich zu erübrigen – und können dergestalt nachhaltig blockiert werden (was wieder praktisch-politisch von Vorteil sein kann). So entstehen Beschreibungen von sozusagen empfehlenswerter Primitivität, auf die auch jedes physical planning mit Vorteil zurückgreifen wird.71 Kurz, „dem Raum eine strahlende Zukunft vorauszusagen, fällt nicht schwer“72, oder anders: „Räumeln ist in – und die Geographen sind nur noch einer der Wortführer der Räumelei.“73 Insofern ist auch der spatial turn durchaus modern – so modern und zeitgemäß wie z.B. die deutsche 70 Vgl. wieder die prägnante Zusammenfassung bei Redepenning: Wozu Raum?, S. 131ff. 71 Z.B.: Ein Gartenkünstler entwirft ein bedeutungsvolles und semantisch vielschichtiges Gartengesamtkunstwerk – die ausführenden Gärtner aber können, von allem tieferen Verständnis entlastet, dann alles Notwendige aus einer sehr einfachen Raumabstraktion, z.B. einem Pflanz- oder Ausführungsplan, entnehmen. Weitere plakative Beispiele für räumliche Welt- und Selbstvereinfachung bei Hilfsarbeitern, Polizisten, Lehrern und Geographieprofessoren findet man referiert bei Hard: Landschaft und Raum, S. 221ff., 303ff. In Holensteins Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens kann man z.B. nachsehen, was durch konsequente Verräumlichung aus der „Analytischen Philosophie“ und der „Phänomenologie/Hermeneutik des 20. Jahrhunderts“ wird (Karte W1: Europäische Philosophie): Im ersten Fall fünf Ortsnamen, im zweiten Fall vier Ortsnamen jeweils auf einem Pfeil (Wien ĺ Jena ĺ Cambridge ĺ Oxford ĺ USA bzw. Wien ĺ Freiburg ĺ Paris ĺ USA). Verräumlichung/Vererdung reduziert wie so oft die Sachinformation auf ungefähr Null. Natürlich darf man sich (wie von allem) auch von Karten inspirieren lassen, aber schon in der Geographie lief das oft auf eine Art Kartomantie hinaus: „Eine Karte singt jedem, was er hören will“. 72 Maresch: „Die Rückkehr des Raums“, S. 8. 73 Redepenning: Wozu Raum?, S. 135.

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Landschaftsgeographie und die deutsche Geopolitik des 20. Jahrhunderts es waren. Ein wissenschaftlicher Gewinn könnte daraus allerdings nur werden, wenn der spatial turn – über den Mitvollzug der ohnehin laufenden „gesellschaftlichen Produktionen von Raumabstraktionen“ hinaus – auch etwas zur Analyse und Kritik fremder wie eigener Raumabstraktionsproduktionen beisteuern könnte.

Wo Raumabstraktionen gedeihen Durch die systemtheoretisch orientierte soziologische Literatur läuft eine meist mehr oder weniger vage bleibende Vermutung, dass Raumsemantiken irgendetwas mit Luhmanns „struktureller Kopplung“, „Interpenetration“ und „symbiotischen Mechanismen“ sozialer und psychischer Systeme zu tun haben könnten.74 Man verweist dabei auch auf einige Bemerkungen Luhmanns über Kunstkommunikation. Am klarsten hat wohl Johannes Wirths diesen Punkt formuliert: Die Quelle der Raumsemantiken liege „im Bereich der strukturellen Koppelung von psychischen und sozialen Systemen“. „Räumlichkeit“ ist für das an Wahrnehmung gebundene Bewusstsein ja unvermeidlich und unhintergehbar (gehört sozusagen zur „conditio humana“); eben deshalb kommen „Raumbegrifflichkeiten“ überall ins Spiel, „wo die Koppelung von Bewusstsein und Kommunikation gewährleistet werden“ und der einschlägige „Anspruch des Bewusstseins bedient werden“ muss. Diese Funktion der „Raumabstraktionen als Bestandteil der sozialen Kommunikation“ wird von der Sozialtheorie Luhmanns her besonders gut sichtbar: Weil Luhmanns Theorie deutlicher als jede andere Kultur- und Sozialtheorie psychische und soziale Wirklichkeit „auseinanderzieht“.75 Für psychische Systeme ist Wahrnehmbarkeit (und das heißt meistens auch: Räumlichkeit/Verortbarkeit) ein wichtiger Ausweis für Bewusstseinstranszendenz und Fremdreferenz, für Existent- und Wirklichsein: Ceteris paribus glaubt man am liebsten (nur), was man sieht. Zwar täuschen uns die Augen zuweilen, in der Regel aber, glauben wir, eher nicht. Überdies nehmen wir in naiver bzw. „natürlicher Einstellung“ normalerweise nicht „Bilder“ und „Zeichen“, sondern „leibhaftig“ gegebene „Raumdinge“ wahr.76 Das gilt besonders, wenn, was meistens der Fall ist, diese Gegenstände der Wahrnehmung auch Denotate von (Ding-)Wörtern 74 In direktem Anschluss an Luhmann z.B. Kuhm: „Die Region – parasitäre Struktur der Gesellschaft“; Bahrenberg/Kuhm: „Weltgesellschaft und Region – eine systemtheoretische Perspektive“. 75 Wirths: „Über einen Ort des Raumes“, S. 163ff. 76 Vgl. z.B. Husserl: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 90; ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 158ff.; Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 19ff., 77 etc.

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unserer Alltagssprache sind. Wahrnehmbare Gegenstände sind wohl in jeder lebensweltlichen Philosophie, zumal in unseren Reflexionen „on what there is“, ontologisch privilegiert, z.B. vor bloß Gedachtem oder bloß Kommuniziertem: Gegenstände/Objekte im Wahrnehmungsraum haben für psychische Systeme mehr Wirklichkeits- und Wahrheitsgewicht als Gegenstände/Objekte in der Kommunikation (d.h. Einheiten der Autopoiesis des sozialen Systems). Das ist wohl eine wichtige Quelle der Suggestionskraft von Raumabstraktionen, die ja immer Wahrnehmbarkeits- und in ihrem Gefolge Wirklichkeits- und Wahrheitskonnotationen mit sich führen. Das mag phylo- und ontogenetisch auch damit zusammenhängen, dass für Organismen von Anfang an räumliche Differenzierungen/Orientierungen unmittelbarer überlebenswichtig sind als z.B. zeitliche. Visualisierung und Verortung verleihen Wirklichkeitsgewicht. Mit Wirklichkeit ist hier nicht mehr gemeint als das, womit wir, z.B. in unserem Handeln, ernsthaft rechnen, oder das, was zur Zeit niemand ernsthaft in Zweifel ziehen kann. Natürlich gibt es noch anderes, was eine „ontologische Pression“ (Luhmann) erzeugen kann, nicht nur eine Existenz als gut umrissene und deshalb verortbare Sehfigur in der Wahrnehmung. Eine ähnliche ontologische Pression kann schon von allem ausgehen, was als Ding-Wort existiert, zumal in Sprachen mit bestimmten Artikel und dem Wörtchen ist. Überhaupt kommt viel darauf an, was die Sprache bzw. die Kommunikation dem Bewusstsein zuflüstert: Linguistische Tests zeigen, dass zumindest in der deutschen Gebildetensprache schon die Phonemsequenz Raum semantisch-subsemantisch die Konnotationen Wirklichkeit und Wichtigkeit aufruft, so wie Landschaft darüber hinaus auch noch die Konnotationen Schönheit, Ganzheit und Geschichte. Raumsemantiken dürften also vorzugsweise da auftreten, wo soziale Kommunikation auf räumliche Wahrnehmungsversionen der Welt Rücksicht nehmen muss, die den psychischen Systemen so nahe und beruhigend vertraut sind. Luhmann beobachtet dergleichen vor allem in der Kunstkommunikation, aber warum sollte es nicht überall da auftreten, wo die „psychischen Systeme“ ihre Bedürfnisse nach anschaulicher Wirklichkeit, nach Sinn, Ganzheit und Identität in der Kommunikation nicht hinreichend berücksichtigt finden, deshalb irritiert sind und die Kommunikation irritieren. Salopp gesagt, Raumsemantiken sprießen, wo psychische Systeme murren, z.B. Sozial- und Kulturwissenschaftler über die „Raumvergessenheit“ der Sozial- und Kulturwissenschaften. Wo immer Gesellschaft, soziale Wirklichkeit und die Kommunikation darüber z.B. als allzu abstrakt, lebensweltfern, überkomplex und sinnarm empfunden werden, da werden sie auch als möglichst anschauliche Räume imaginiert oder wenigstens in solche Räume eingebettet und dadurch auch in mehr Sinn, Konkretheit, Ganzheit und Wirklichkeit. Eine besonders günstige Wirkung dürfte dann

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von leicht emotionalisierbaren, umfangend-bergenden Raumbildern von der Art der vielberufenen „mütterlichen Landschaft“ ausgehen.77 Wahrscheinlich gibt es immer wieder soziale Orte, wo diese emphatischen und deshalb auch Räume bildenden Sinn-, Ganzheits- und Wirklichkeitsansprüche vor allem gedeihen: z.B. in Protest- und Alternativkulturen, im Erziehungssystem, an den diffusen Rändern der Wissenschaften, in inter- und transdisziplinären Diskursen, in den Bereichen von Wissenschaftsanwendung, Politikberatung und Popularisierung, Drittmittelwerbung und Wissenschaftsdidaktik (überall, wo das theoretische Niveau eher sinkt und der Rhetorikbedarf ansteigt).78

Eine Raumoffenbarung So wie die Genese der Raumabstraktionen wohl etwas mit den beteiligten psychischen Systemen zu tun hat, so hat der spatial turn wohl etwas mit Wissenschaftspsychologie zu tun. Die Literatur des spatial turn bietet eindrucksvolle Zeugnisse für einen Unmittelbarkeits- und Wirklichkeitshunger, der dann durch Kontakt mit dem Raum gestillt wird. Raumabstraktionen werden zu Garanten für einen unmittelbaren Kontakt mit wirklicher(er) Wirklichkeit. Die Wirklichkeitsbegegnung beim Erleben der „Materialität des Raumes“ kann apokalyptische Züge bekommen. Bei Schlögel z.B. werden die bekannten Bilder (Raumabstraktionen!) vom „Ground Zero. 11. September 2001“ und der Blick vom „Kraterrand“ in die „Rauch- und Staubschwaden“ über dem „Trümmerberg“ zu einer Offenbarung des Raumes als wirklichere Wirklichkeit: In der „Zermalmung der Körper und Häuser“ wird evident, dass „New York nicht nur Symbol“ und dass eine Stadt noch etwas anderes und mehr ist als bloß „Symbole und imaginierte Räume“. Hier wird offenbar, „dass es Örter gibt: Örter, also nicht bloß Symbole, Zeichen, Repräsentationen von etwas [...]. Städte, die getroffen werden können, Türme, die zum Einsturz gebracht werden können“. Wie unwirklich erscheinen z.B. Luhmanns körperlose Kommunikationssysteme, wenn „die Fragmente des Systems“ als „Körper aus den Fenstern stürzen“! Genau dann zeigt sich, was Sache ist: dass, wie schon Lefebvre gesagt habe, „der Körper das eigentliche Zentrum des Raumes und des Diskurses der Macht ist, irreduzibel und subversiv“.79 Schlögel erzählt, wie er vor einer 77 Über solche „gynÖkologischen“ Raummythen, auch bei zeitgenössischen Soziologen, vgl. z.B. bei Thabe: Raum(de)konstruktionen. Speziell über Landschaftsmythen dieser Art vgl. Schultz: Die deutschsprachige Geographie von 1800 bis 1970. 78 Hard: Landschaft und Raum, S. 297f. 79 Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S. 30ff., z.T. Zitat von Henri Lefebvre; Schlögel: „Kartenlesen, Augenarbeit“, S. 262.

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Schreckenslandschaft die Wirklichkeit des Raumes entdeckt. Das ist eine alte Geschichte. „La vrai vie est absente“ und „Je est un autre“, so lauten zwei berühmte Sätze Rimbauds. Albrecht Fabri interpretiert sie in einem Kurzessay wie üblich als Ausdruck eines doppelten Wirklichkeitsdefizitgefühls und eines doppelten Wirklichkeitshungers: eines „Gefühls der Irrealität des Realen“, untrennbar verbunden mit einem „Gefühl der Irrealität der eigenen Existenz“. Rimbauds Sätze seien „Sätze der Schwermut, d.h. des Nichtseins“, und bekanntlich befällt nach einem alten Topos diese VerlustMelancholie, modern gesprochen: „die Trauer, nur uneigentlich zu existieren“, gerade große Männer, nicht zuletzt Künstler und Gelehrte. 80 Fabri nennt dann auch die prototypische Therapie bzw. das prototypische End-Entfremdungsmittel: das „Anschauen einer Landschaft“. Wie bei Schlögel dient eine leicht emotionalisierbare Raumabstraktion zur Erzeugung einer „stärkeren Sensation von Wirklichkeit“. Auch Schlögels Ground Zero-Erleben ist ja Landschaftserleben, wenn auch in der Version eines locus terribilis. Woher diese Sensation von wirklicher Wirklichkeit (und diese Therapie des zwiefachen Wirklichkeitshungers) gerade vor leicht konsumierund emotionalisierbaren Raumbildern? Weil Realität als Sensation ein Identitätserlebnis ist und wirkliche Wirklichkeit ein Effekt des Gefühls von Subjekt-Objekt-Nähe, ja Subjekt-Objekt-Identität. Deshalb vermittle ja ein Kunstwerk oft eine stärkere Sensation von Wirklichkeit als die Realität selber. Offenbar wirken viele Raumabstraktionen in dieser Hinsicht wie Kunstwerke, auch wenn sie nicht so direkt aus der Kunstkommunikation stammen wie „die Anschauung einer Landschaft“. Viele Texte aus dem spatial turn weisen deutlich genug darauf hin, dass auch der moderne homo academicus, zumal in sogenannten weichen Disziplinen, von solchen Gefühlen eines Mangels an harter Wirklichkeit heimgesucht werden kann, vor allem im Hinblick auf seine wissenschaftlichen Gegenstände, aber wohl auch im Hinblick auf seine akademische Existenz: Auch in einer solchen Lage kann man dann leicht auf den Raum kommen, d.h. eine Raumsemantik pflegen und Raumabstraktionen zu produzieren beginnen. Kurz: Muse Melancholie – Therapeutikum Raumpoesie. In großer Dichtung wird der genannte zweifache Wirklichkeitsverlust zuweilen fruchtbarer verarbeitet: hier bringt nicht die Trivialpoesie des Räumelns, sondern das gelingende Werk das heilende Identitäts-, Unmittelbarkeits- und Wirklichkeitserlebnis.81 80 Fabri: „Über zwei Sätze Rimbauds“, S. 666ff. 81 Vgl. Völker: Muse Melancholie – Therapeutikum Poesie. Zu den „universalistischen“ und „mediopolitischen (Kultur)Intellektuellen“ als Produzenten und Nährböden von Phantasmen unmittelbar-anschaulicher Ganzheit und Wirklichkeit wie Raum und Landschaft vgl. auch Köster: „‚Der Raum‘ als Kategorie der Resubstantialisierung“, S. 63ff. etc. Die Klage über den

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Spatial Turns als Rhetoric Turns Es ist nicht leicht zu verstehen, warum die Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften sich so sehr auf die Wirkungen wirklicher materieller Räume kapriziert haben. Den eigentlichen Kompetenzen dieser Disziplinen hätte es doch wohl näher gelegen, die Wirkungen von Raumkommunikation zu beobachten und Raumkommunikation z.B. als eine Rhetorik der Relevanz- und Wirklichkeitsbeschaffung zu analysieren (z.B. als eine Rhetorik der Relevanzbeschaffung in den harten Konkurrenzkämpfen so genannter weicher Wissenschaften). Gerade zwischen Politik und Wissenschaft oder Ökonomie und Wissenschaft werden, wie Luhmann bemerkt hat, häufig auch ungedeckte Relevanz-, Wirklichkeits- und Wahrheitsversprechen hoch gehandelt; das dürften dann auch ideale Märkte für Raumsemantiken sein.82 Diese Produktion von Glaubwürdigkeit, von Wirklichkeits- und Wahrheitsvermutungen ist ja seit der Antike ein detailliert beschriebener und vielfach eingesetzter rhetorischer Kunstgriff.83 Die Ausgangsfrage lautet: Wie fingiert/suggeriert der Rhetor Augenzeugenschaft und zieht das Publikum in diese Augenzeugenschaft hinein, sodass es am Ende selber Augenzeuge zu sein glaubt? Wie stellt man, fragt z.B. Quintilian, ein „credibilis rerum imago“ her, das möglichst zugleich „in affectus penetrat“? In Lausbergs Interpretation: Wie produziert man realistisch wirkende und zugleich Affekt erregende Beschreibungen? Die Antwort der klassischen Rhetorik heißt: Evidentia, wobei fiktive Evidenz genügt. Die Mittel dieser rhetorischen evidentia sind Anschaulichkeit plus Ortsangaben, Visualisierung plus Verräumlichung. Erstens: Anschaulichkeit, und das heißt vor allem: Konstruktion eines gut geordneten und begrenzten sichtbaren Ganzen (was modern z.B. mit Landschaft wiederzugeben wäre und auch genau Löws Definition von Raum entspricht).84 Zweitens: Lokalisierung/Regionalisierung (topographia, descriptio locorum et regionum); drittens: reichlicher Gebrauch von Ortsadverbien und Pronominalstämmen, die Anwesenheit ausdrücken; viertens: unvermitteltbedingungsloser Gebrauch des Indikativ Präsens (z.B. des ist beim Verb sein) . So werde, heißt es bei Quintilian, die evidentia „manifestius et credibilius“ (handgreiflicher und glaubwürdiger) auch dann, wenn es sich bloß um Fiktionen handele.

Verlust von Unmittelbarkeit, Authentizität und wirklicher Wirklichkeit ist ein säkularer Bestandteil der „Künstlerkritik“ an Kapitalismus und Globalisierung; vgl. Boltanski/Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. 82 Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 623. Es wäre unsinnig, die folgenden Bemerkungen zur Rhetorik des Räumelns als eine Rhetorikkritik zu verstehen, die ja auch nur selber wieder eine alte rhetorische Figur wäre. 83 Vgl. z.B. Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik, § 810ff. 84 Löw: Raumsoziologie, S. 159ff.

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Von hier aus gesehen scheint es sinnvoll, Raumsemantiken, räumelnde Diskurse und Raumabstraktionen auch einmal als Rhetoriken der Relevanz- und Wirklichkeitssuggestion zu interpretieren und den spatial turn auch einmal in diesem Sinne als einen rhetoric turn zu betrachten. Allerdings scheint sich der spatial turn seiner (selbst)suggestiven rhetorischen Figuren bislang oft wenig bewusst gewesen zu sein. Es wäre einer Wissenschaft aber wohl bekömmlicher, eine Rhetorik nicht nur einfach anzuwenden, sondern auch zu analysieren, d.h. zu ihrem Gegenstand zu machen. Den großen Rhetoren und Magiern der deutschen Landschaftsgeographie des 20. Jahrhunderts (sogar den seriösesten unter ihnen, z.B. meinem Doktorvater Josef Schmithüsen) ist es gelungen, auch so blassen und leeren, in ihrer Existenz durchaus zweifelhaften Abstrakta wie Deutschtum und Welschtum eine überzeugende Evidenz und materielle Existenz zu verschaffen, indem sie diese auf wahrnehmbare Landschaft(sräume) projiziert und dann mühelos aus diesen Landschaften als deren räumlich inkarnierten Geist wieder herausgelesen haben.85 Schon den deutschen Geographen des 20. Jahrhunderts sind angesichts von Landschaft und Raum gerade bei ihrer Suche nach der wirklichen Wirklichkeit oft alle Wirklichkeitskontakte und methodischen Sicherungen durchgebrannt. Es scheint, dass man durch Verräumlichung (Visualisierung und Verortung) sogar die Existenz von Gespenstern und Göttern fast zur Evidenz erheben, sozusagen jedes innenweltliche Phantasma in die Außenwelt bringen kann, auch in einer vergleichsweise nüchternen Wissenschaft wie der Geographie. Auch der Historiker kann auf diese raum- und landschaftsrhetorische Weise seinem Geschichtsbild und seiner historischen Bildung eine Glaubwürdigkeit, ein Wirklichkeitsgewicht und eine Bedeutsamkeit vermitteln, die auf andere Weise kaum zu beschaffen wären.

„Realistisch sein“ Verortung und Verräumlichung sind Mittel, realistisch zu erscheinen. Wann betrachten wir eine Darstellung oder Interpretation überhaupt als realistisch und wirklichkeitsnah? Die Antwort von Nelson Goodman in seinen Sprachen der Kunst: Nicht, wenn die Darstellung irgendeine besondere Ähnlichkeit mit dem Dargestellten hat, und auch nicht dann, wenn sie besonders viele sachgemäße Informationen über das Dargestellte enthält. Realismus als Stil und Eindruck ist überhaupt keine Sache der Ähnlichkeit oder des sachgerechten Informationsgehaltes: Eine Sprache, ein Text, ein Bild, eine Theorie wirken vielmehr umso „realistischer“, je mehr 85 Z.B. Schmithüsen: „Wesensverschiedenheiten im Bilde der Kulturlandschaft an der deutsch-wallonischen Volksgrenze“; zahlreiche eindrucksvolle Beispiele bei Schultz: Die deutschsprachige Geographie von 1800 bis 1970, S. 128-320.

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wir sie gewohnheitsmäßig und automatisch, sozusagen reflexhaft decodieren („lesen“) können, je transparenter ihr Symbolismus oder Code (z.B. durch Übung und Gewöhnung) für uns ist.86 Realismus und Eindruck von Wirklichkeitsnähe sind ja immer relativ auf einen (Sprach-)Rahmen, den wir im Allgemeinen, in der „Beobachtung 1. Ordnung“, nicht aus seinem Versteck ziehen. Deshalb bleiben die Relativität und die Konstituiertheit von Realität und Realismus normalerweise verdeckt. Der Eindruck von Wirklichkeitsnähe und Realismus entsteht also vor allem durch den möglichst ungebrochenen Gebrauch einer alltäglichen Dingsprache, z.B. der (vielleicht noch ein wenig literarisierten) gewöhnlichen Umgangs- und Alltagssprache. Das ist das ganze Geheimnis der Wirklichkeit der altgeographischen Erd- wie der neusoziologischen Partyräume. Diese Sprachstrategie ist im Rahmen des spatial turn gut zu beobachten. Außerhalb einer der üblichen Dingsprachen, z.B. in der Sprache einer entwickelteren Wissenschaft, wäre das meiste dieses Räumelns gar nicht sagbar. Dazu ein Beispiel: Rudolf Maresch, einer der exponierten Autoren des spatial turn, möchte nicht mehr über so Weiches wie Raumsymbole und Raumhermeneutik, sondern über Materialitäten und wirkliche Räume reden. „Der Raum“ bzw. „die Materialitäten des Raumes“ sollen der Ort sein, wo die Medien- und verwandten Wissenschaften durch das Vererden der Diskurse und ihr Versenken im Raum „wieder die ‚Härte‘ (Schwerkräfte) der Physik verspüren“ können, um „von den ‚harten Wissenschaften‘ ernst genommen zu werden“. Dann müssen sie freilich auch bereit sein, „in die schmutzigen Niederungen (hinabzusteigen), welche die Erde verspricht“ und sich dort, wie gesagt, „im Raum versenken“.87 Der Protagonist des spatial turn scheint hier und anderswo ausdrücklich und allen Ernstes der Meinung zu sein, weiche Wissenschaften würden härter, wirklichkeitsnäher und realistischer, wenn sie statt z.B. von Symbolik und Kommunikation nicht-hermeneutisch von harten Gegenständen, z.B. Räumen, Körpern und Waffen reden. Das darf als ein Schulbeispiel für semantische Stufenverwechslung gelten. Tatsächlich werden weiche Wissenschaften eher noch weicher, wenn sie z.B. – statt über die Symbolik der Steine oder über Steinkommunikation – über harte, d.h. wirkliche Steine in ihrer Materialität reden. Was beobachtet man tatsächlich, wenn Sozial-, Kultur-, Medienwissenschaftler etc. nicht-hermeneutisch von harten Materialitäten reden wollen? Sie reden dann alltagsrea-

86 Goodman: Sprachen der Kunst, S. 44ff. 87 Maresch: „Die Rückkehr des Raums“, S. 4, 8. Zu solchen mythopoetischen Träumereien von Wissenschaftlern und wirklichen Poeten hat der Epistemologe Gaston Bachelard zauberhafte Psychoanalysen geschrieben; zur Psychoanalyse der Erdträumereien vgl. vor allem Bachelard: La Terre et les rêveries du repos; ders.: La Terre et les rêveries de la volonté.

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listisch-alltagssprachlich bzw. in einer bildungssprachlich aufgehübschten Alltagssprache, bestenfalls (auf irgendeinem Niveau) literarisch. Um bei den Steinen zu bleiben, dieser populären Metapher für harte Wirklichkeit und Materialität: Da Nicht-Naturwissenschaftler nicht geologisch, petrographisch, mineralogisch, festkörperphysikalisch etc., d.h.: nicht wissenschaftlich kompetent, nicht einmal mit alltagsweltlich-professioneller Kompetenz (z.B. wie ein Steinmetz) über Steine reden können, bleibt ihnen ohnehin nichts anderes übrig, als alltagssprachlich von ihnen zu reden und damit unter Umständen bei sich und anderen die genannte Realismus-Illusion auszulösen. Wo sie nicht-hermeneutisch über Räume zu reden glauben, sind sie nur wieder bei der Weltsicht der klassischen Geographie angekommen, d.h. bei einer verstehenden, hermeneutischen oder Zeichen lesenden Raumwissenschaft. 88 So kann es nicht wundern, dass im spatial turn auch eine altgeographisch-realistische Denkfigur wiederkehrt: Der Glaube, man könne und solle „das Wesen gewöhnlich aus dem Namen lesen“ (Goethe: Faust 1, V. 1331f.). So wie die Landschaftsgeographen das Wesen der Landschaft und der Geographie aus dem für sie „schönsten aller Wörter“, dem Wort Landschaft herauslasen und so die altrhetorische figura etymologica als Wahrheits- und Wirklichkeitssuggestion benutzten, so liest auch Schlögel sein Programm, die Zeit im Raume zu lesen, sichtlich ohne Ironie aus dem Wort Zeitraum heraus: „Wir müssen uns nur der Sprache anvertrauen, sie ernst nehmen; denn sie bezeugt mit jeder Silbe die Unauflöslichkeit des Zusammenhangs von Raum und Zeit: Zeitraum – es gibt kaum ein schöneres Wort in unserer Sprache“: Das Etymon als Wahrspruch, Etymologie als Denkform.

Schlussbemerkungen So kann der spatial turn aussehen, wenn er von der Geographie, vor allem von der Paradigmengeschichte der Geographie her beobachtet wird. Mein Versuch, den spatial turn von der Geographie her zu verstehen, wurde teilweise auch zu einem Versuch, die Geographie vom spatial turn her besser zu verstehen. Die Geographiegeschichte erschien dabei als eine Serie von spatial turns, als eine Abfolge und ein Repertoire von Raumkonzepten, die einander überholt und aufgehoben haben, aber zum Teil auch bis heute im Fach koexistieren. Dabei rückten die geographischen Para88 Zu den im spatial turn wiederkehrenden, dem Geographen aus der Geographie wohlbekannten raumwissenschaftlichen Wirklichkeitsbeschwörungen gehört auch das Wort konkret, potenziert z.B. zu konkreter Raum. Wenn man etwas mit dem Adjektiv konkret belegt, wird es aber weder konkreter noch wirklicher; man hat es nur mit einem der abstraktesten Begriffe gekennzeichnet, die es gibt.

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digmen und paradigmatischen Raumbegriffe in den Vordergrund; über die zugehörige empirische Forschung wurde vergleichsweise wenig gesagt. Ein solcher Beobachter, der (Raum-)Beobachtungen beobachtet, beobachtet allerdings immer mit Seitenblick auf andere Möglichkeiten und sieht gern auch da kontingente und konditionierte Entscheidungen, wo die „Beobachter 1. Ordnung“, z.B. viele der Helden des spatial turn, sozusagen mit Gottesauge die Sache selbst und so auch den wirklichen Raum zu sehen glauben, vor dem z.B. Dietrich Bartels, offenbar nicht sehr erfolgreich, schon vor 40 Jahren gewarnt hat. Ein solcher Beobachter sollte allerdings auch seinerseits wieder beobachtet werden, z.B. auf seine blinden Flecke hin. Alles läuft auf den Vorschlag hinaus, auch im spatial turn nicht mehr (nur) zur räumeln, sondern das eigene und fremde Räumeln zu beobachten, zu analysieren und es vielleicht sogar durch eine Rhetorik des Räumelns, d.h. eine Rhetorik der Raumkommunikation, zu verbessern. Gemeint ist natürlich nicht nur eine Praxis, sondern auch eine Theorie der Raumrhetorik. Meine Skizze der geographischen Paradigmengeschichte hat wohl hinreichend deutlich gemacht, dass in dieser Wendung eine gewisse Konsequenz liegt. Das gilt zumindest dann, wenn „die Bedeutung innovativer sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung“ eben nicht darin liegt, sich und ihre Umgebung, z.B. mittels räumelnder Diskurse, „mit fraglosen Hintergrundüberzeugungen zu versorgen“, sondern eher darin, „mit gewöhnlichen Seh- und Erkenntnismöglichkeiten [...] aufzuräumen“.89 Dasselbe weniger anspruchsvoll und positiver formuliert: Der Wert „innovativer sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung“ liegt wohl weniger darin, etablierte Sprechweisen und Beschreibungen zu übernehmen und festzuklopfen, sondern eher darin, sie schlecht aussehen zu lassen, d.h. Distanz zu ihnen zu gewinnen und neue zu erfinden. Vielleicht enthält ein hochgemutes Programm dieser Art aber auch eine Selbstüberschätzung der heutigen Sozial-, Kultur- und Medienwissenschaften. Schließlich: Wenn jemand einige Formulierungen polemisch finden sollte, dann sagt er damit nichts über den Inhalt und schon gar nichts über den Wahrheitswert der betreffenden Sätze; in einer polemisch anmutenden Wendung sollte man überhaupt nicht mehr sehen als einen auf Kürze und Deutlichkeit hin ausgelegten stilistischen Kunstgriff im Rahmen einer literarischen Aufmerksamkeitsökonomie. Für den Fall, dass eine der Interpretationen missfallen sollte, sei daran erinnert, dass eine Interpretation nicht durch ein Veto (schon gar nicht durch ein Veto des Interpretierten) falsifiziert werden kann, sondern nur durch eine interessantere, reichere und – für kompetente und unparteiische Interpreten – überzeugendere Interpretation. 89 Nassehi: Geschlossenheit und Offenheit, S. 232.

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Eine selbst erzeugte Überraschung: Zur Renaissance von Raum als Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft MARC REDEPENNING

1 Bemerkungen zur allgemeinen (Wieder-)Entdeckung des Raumes Nun ist also auch der spatial turn – als eine der letzten Wissenschaftsmoden – in den Sozialwissenschaften angekommen.1 Manchmal wird er dabei als eigenständige Wende tituliert, manchmal wird er als eine Form des cultural turn aufgefasst.2 Fast immer wird darauf hingewiesen, dass es nicht um den Raum an sich geht, sondern um Raumkonzepte und Raumvorstellungen, wie man den Raum denken kann. Mindestens ebenso häufig wird als Prämisse formuliert, dass, wenn von der Relevanz des Raumes für soziale Prozesse die Rede ist, nur der konstruierte Raum der Gesellschaft gemeint ist, nicht der gesellschaftsexterne (Natur-)Raum.3 Aus der Sicht eines Geographen ist diese Feststellung ein nicht gänzlich ungewichtiger Anlass, hellhörig zu werden – und dies mindestens in doppelter Hinsicht: Zum einen erlebt der Geograph ein inhaltliches déjà vu. Denn die Grobfahrrichtung dessen, was heute als spatial turn bezeichnet wird, weist in Richtung der Forderung nach dem (Wieder-)Einbau räumlicher Differenzierungen in die Gesellschaftstheorie. Space makes a difference war die entsprechende Formel, die angelsächsische Geographen bereits in den 1980er Jahren geprägt hatten, um die Möglichkeit aufzuzeigen, über den Raumbegriff der forcierten gesellschaftlichen Differenzierung Rechnung zu tragen.4 1 2 3 4

Vgl. für die Soziologie etwa Löw: Raumsoziologie; Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Vgl. Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 285. Vgl. Kuhm: „Raum als Medium gesellschaftlicher Kommunikation“. Vgl. Sayer: „The Difference That Space Makes“; Duncan: „Uneven Development“. Zu den zahlreichen Raumkonzepten, die dabei Verwendung finden

318 Ň MARC REDEPENNING

Zum anderen wird dem Geographen eine wissenschaftsstrategische Lektion erteilt: So muss man mit Erstaunen registrieren, mit welcher Selbstverständlichkeit der spatial turn als Neuentdeckung außerhalb der Geographie gefeiert wird und ihre Forschungsergebnisse über den Sinn und Unsinn von raumbezogenem und regionalistischem Denken (hier nicht als politische Bewegung verstanden) unbeachtet bleiben.5 So kommt BachmannMedick zum eher ernüchternden Fazit, dass die geographischen Arbeiten zum Raum nicht „ausreichend anerkannt und für eine Begriffspräzisierung oder gar Kooperation genutzt“6 werden. Selbst dann, wenn es um ein so bekanntes Thema wie den allmählichen Wandel von absoluten zu relationalen Raumkonzepten geht, zieht man statt sozialgeographischer Literatur lieber soziologische Quellen zu Rate.7 Interessanter als dieses Staunen und die nahende Verzweifelung des Geographen über die konsequente Nichtbeachtung des Forschungsstandes seitens der Geographie (und der dazugehörigen Gründe!) sollte aber eher ein inhaltlicher Aspekt des spatial turn und der Wiederentdeckung von Raum sein: Zur Begründung des sich nur zögerlich vollziehenden Wandels von absoluten zu relationalen Raumkonzepten führen zahlreiche Autoren immer wieder wissenschaftsinterne Grundsatzfokussierungen an, die sich als Wissenschaftstraditionen herausgebildet und letztlich verhärtet haben. So bewähren sich Containerraumkonzepte vor allem dann, wenn es um die Analyse von Machtphänomenen geht.8 Relationale Raumkonzepte hingegen betonen „eher die kreativen Möglichkeiten und die Chancen der Akteure bei der Konstituierung, dem Aufbau und der Gestaltung von Räumen“9. Dass das relationale Raumkonzept in der Soziologie bevorzugt wird, kann dann vor allem durch die „handlungstheoretische Ausrichtung vieler raumsoziologischer Arbeiten“10 erklärt und zugleich legitimiert werden. Der hier anklingende Konflikt zwischen absoluter und relationaler Raumkonzeption ist insofern bedeutsam, als er eine lange Tradition des Streits um das angemessene Raumkonzept fortführt – angemessen in Bezug auf die adäquate Beschreibung der empirischen Realität. In der Geographie firmierte diese Auseinandersetzung in den 1990er Jahren unter dem – leider unzutreffenden – Label des Konfliktes zwischen den Raumexorzisten und den Raumfetischisten.

vgl. Simonsen: „What Kind of Space in What Kind of Social Theory?“; Miggelbrink: Der gezähmte Blick. 5 Vgl. aber als Ausnahme Bachmann-Medick: Cultural Turns. 6 Ebd., S. 285. 7 Vgl. Schroer: Räume, Orte, Grenzen, S. 174. 8 Vgl. ebd., S. 175. 9 Ebd. 10 Ebd.

ZUR RENAISSANCE VON RAUM Ň 319

2 Die Geographie und die Rehabilitierung des Raumes So war es das Ziel einer sich selbst als postmodern, poststrukturalistisch oder kritisch beschreibenden Geographie, die gesellschaftliche Rehabilitierung des Raumes zu erreichen. Man stellte den Aspekt der Handlungsorientierung und der Dynamik in den Mittelpunkt der Überlegungen, um eine sozialtheoretisch wie politischökonomisch befriedigende und anschlussfähige Konzeption vorzustellen. Interessanterweise konnte man dabei eine unterschiedliche Schwerpunktbildung nach nationalen Wissenschaftskulturen beobachten. Die Arbeit an einem politisch-ökonomisch befriedigenden Raumbegriff zu Kompatibilitätszwecken mit der Debatte über Flexibilisierung und Globalisierung kennzeichnete stärker die angelsächsische Debatte. In der deutschsprachigen Geographie hingegen stand ein eher formaler Aspekt im Vordergrund: Hauptsächliche Motivation dieser Richtung war es, die (vorgängige) Ontologisierung und (nachgängige) Reifikation von Raum zu vermeiden – ein Thema, das etwa die Arbeiten Benno Werlens Mitte der 1990er Jahre durchzieht.11 Nach Sedlacek meint der Begriff der Ontologisierung von Raum/Region: 1) die Negierung jeglicher Regionalisierung als wissenschaftlichen Entscheidungsprozess; 2) die Negierung der Sicht, dass Regionen theoretische Konstrukte und Modelle sind.12 Stattdessen führt eine solche Ontologisierung zu der Auffassung, Raum als real existente Gegebenheit anzusehen, die dann auch unstrittig durch eine sachkompetente Wissenschaft (natürlich: die Geographie) zu identifizieren und zu bearbeiten ist.13 Der Begriff der Reifikation hingegen ist auf einer anderen Ebene angesiedelt. Mit ihm will Sedlacek beschreiben, dass jegliche, sich der Regionalisierung als Praxis bedienende wissenschaftliche Kommunikation zwar grundsätzlich der Annahme zustimmt, Räume seien Ergebnisse eines wissenschaftlichen Konstruktionsprozesses bzw. genauer eines Klassifikationsprozesses. Allerdings kommt es im Zuge wissenschaftlicher Alltagsarbeit zu einer Art Transsubstantiation14 – mit dem Ergebnis, dass der eigentliche Klassifikationsakt vergessen und die Region dann a posteriori ontologisiert wird. Dies ist umso wahrscheinlicher, je mehr sich einmal getätigte Regionalisierungen in der alltäglichen Praxis des wissenschaftlichen Arbeitens durchsetzen und unreflektiert wiederholt werden – ein klassischer Fall dessen, was bei Mary Douglas unter dem Begriff der Naturalisierung verbucht ist.15 11 12 13 14 15

Vgl. Werlen: Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen, Bd. 1. Vgl. Sedlacek: „Einleitung“, S. 13ff. Vgl. Schultz: „Der ‚Stein des Anstoßes‘ (Riehl)“, S. 384f. Vgl. Bourdieu: Langage et pouvoir symbolique, S. 319. Vgl. Douglas: Wie Institutionen denken, S. 84f.

320 Ň MARC REDEPENNING

Dieser neuen Raumdebatte in der Geographie und in anderen Sozialwissenschaften mit der Rehabilitierung des Raumbegriffs und dem Feldzug gegen Ontologisierung und Reifikation in Wissenschaft und Alltag liegt nicht selten ein aufklärerisches Motiv zu Grunde: Einerseits als nach innen gerichtete Aufklärung, die in die jeweilige Wissenschaft wirken will, um dort das ontologisierende oder reifizierende Denken über Raum abzuschaffen. Andererseits als nach außen aufklärende Wissenschaft, die den Alltag hinsichtlich seiner Raumreifikationen enttarnt.16 In Bezug auf die Geographie kann wohl problemlos behauptet werden, dass der eben skizzierte Umbau des Raumbegriffs überdies mit dem Ziel verbunden war, die Wissenschaft künftig als progressive (eben nicht mehr konservative) und kritische (eben nicht mehr die formelle, Politik affirmierende) Wissenschaft zu positionieren. Insofern kam in der geographischen Raumdebatte immer auch die Hoffnung auf eine verbesserte Außenwahrnehmung des Faches bei anderen Sozialwissenschaften und insbesondere bei den Soziologen zum Ausdruck. Doch um ihren ureigenen Forschungsgegenstand, den, wie auch immer im Einzelnen konzipierten Raum bzw. den Erdraum, stand es eher schlecht: Der hatte im Bereich der Kultur- und Sozialwissenschaften noch bis weit in die 1970er Jahre ein negatives, wenn nicht gar abschreckendes Image. Stellvertretend brachte Michel Foucault die Vorbehalte auf den Punkt: „Space was treated as the dead, the fixed, the undialectical, the immobile. Time, on the contrary, was richness, fecundity, life, dialectic. [Und wenn] one started to talk in terms of space that meant one was hostile to time. It meant, as the fools say, that one denied history‘.“17

Ganz ähnlich schätzt auch Stichweh den mangelnden Charme und die müde Einfältigkeit des Raumes ein, wenn er ihn als grundlegendste Form der Kognition tituliert und fortfährt, dass die Klassifikationsschemata einfacher Gesellschaften die einfache räumliche Dimension gegenüber der (komplexeren) temporal-historischen Dimension privilegieren.18 Offensichtlich jedoch hat die angesprochene Raumverbesserungsarbeit durch die Geographie erste Früchte getragen, wenn Doris Bachmann-Medick 16 Vgl. Lippuner: Raum, Systeme, Praktiken. 17 Foucault: „Questions on Geography“, S 70. Hierbei gilt jedoch zu beachten, dass der durch die Herausgeber der Zeitschrift Hérodote 1976 interviewte Foucault zu dieser Zeit wohl viel weniger Interesse an der Geographie und auch weniger Aufmerksamkeit raumbezogenen Problemen gegenüber hatte, als allgemein angenommen wird. Dies war zumindest der Eindruck von Yves Lacoste, der das Interview mit Foucault führte. Vgl. Claval: „Hérodote and the French Left“, S. 246, der sich für diese Feststellung auf eine persönliche Kommunikation mit Lacoste beruft. 18 Vgl. Stichweh: „Raum, Region und Stadt in der Systemtheorie“, S. 345.

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(zugegebenermaßen mit beeindruckendem Hang zum Euphemismus) heute feststellt, dass etwa die neue Kulturgeographie nicht nur zur Leitwissenschaft des spatial turn geworden ist, sondern zudem befruchtende Raumkonzepte in die breitere wissenschaftliche Diskussion geworfen hat, die zugespitzt sind „zu ideologischen Landschaften, zu Raumrepräsentationen, die von Machtverhältnissen durchzogen sind, hin auch zur Mikroperspektive der Raumwirkung von Subjekten, Körpern, Interaktionen, sozialen Beziehungen“19. Dies bewegt sie dazu, dem spatial turn per se eine politische Stoßkraft zu attestieren – mit allen Attributen dessen, was man für gewöhnlich unter einer kritischen politischen Stoßkraft versteht.20 Unabhängig davon, wie man nun die Bemühungen solch engagierter und kritischer Geographen im Hinblick auf das neue Interesse am Raum und am richtigen Raumbegriff einschätzt: Nüchtern festzustellen bleibt hingegen, dass im Zuge des spatial turn der Begriff (oder gar der Gegenstand?) Raum an Reputation ungemein gewonnen hat. Dabei ist mehr als auffällig, dass sich nahezu alle Arbeiten auf die Korrektur des Raumbegriffs konzentrieren – sei es in inhaltlicher Hinsicht als Anpassung an die spät- oder postmoderne gesellschaftliche Wirklichkeit oder sei es in formaler Hinsicht als Allheilmittel, den territorial traps21 unseres Denkens zu entgehen. Bei all dieser Perfektionierungsarbeit und der Mängelbeseitigung am Raumbegriff sind jedoch einige Fragen in den Hintergrund gerückt, die den Rahmen für die nachfolgenden Gedanken bieten sollen: Was kann erreicht werden, wenn man die offensichtliche inflatorische Rede vom Raum nicht nur konstatiert und sich an ihr beteiligt, sondern darüber hinaus deutet? Wieso wurden bzw. werden dem Raum in der Gesellschaft immer noch bestimmte Attribute (bspw. das der Rückständigkeit) zugeschrieben? Welche Funktion mag Raum in gesellschaftlicher Kommunikation und im Rahmen der Selbstbeschreibung der Gesellschaft erfüllen? Und wie kann man dies theoretisch und somit begrifflich darstellen?

3 Zur Selbstbeschreibung der Gesellschaft mittels Raum – Renaissance oder Persistenz raumbezogener Semantiken? Die nachfolgenden Gedanken versuchen, den Funktionen von Raum innerhalb gesellschaftlicher Kommunikation, und somit dem, was ich im Anschluss raumbezogene Semantiken nennen werde, mehr Aufmerksamkeit zu widmen und sie etwas genauer anhand der tragenden Begriffe Semantik und Raum zu skizzieren und zu verdeutlichen. Dazu wird ein 19 Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 292. 20 Vgl. ebd., S. 299, 304. 21 Vgl. Agnew: „The Territorial Trap“.

322 Ň MARC REDEPENNING

systemtheoretischer Zugang gewählt, der sich weitgehend – wenn auch nicht orthodox – an der Luhmannschen Theorie sozialer Systeme orientiert.

Zu Semantiken Luhmann handelt mit ungewöhnlich starkem empirischen Einschlag den Begriff der Semantik sowie die Veränderungen von Semantiken vor dem Hintergrund entsprechender Veränderungen in der Sozialstruktur ab. Dies impliziert eine Unterscheidung zwischen harten sozialstrukturellen Operationen, soweit diese das einfache Weiterlaufen der Kommunikation (und gemäß der systemtheoretischen Definition von Kommunikation auch: der Handlungen) bezeichnen, und den eher weichen Semantiken, die die Resultate der (Selbst-)Beobachtung der Kommunikation bezeichnen.22 Der Begriff der Semantik wird dabei vollkommen von der sprachwissenschaftlichen Verwendung abgelöst und erinnert inhaltlich an den – allerdings stark unterbestimmten – Begriff des Diskurses bei Foucault.23 Für Luhmann sind Semantiken höherstufig generalisierter und vor allem relativ situationsunabhängig verfügbarer Sinn.24 Sie stellen als Begriffs- oder Themenvorrat einen besonderen, sehr stabilen Typus gesellschaftlicher Reflexionen dar. So besehen können Semantiken als Strukturen besonderer Art aufgefasst werden. Sie identifizieren, erinnern, vergessen oder halten einen bewahrenswerten Sinn fest.25 Die dabei entstehenden Verhärtungen fungieren als Beschreibungsresultate der Gesellschaft und eignen sich dazu, künftige Erwartungen auszubilden und möglicherweise Handlungen zu dirigieren. Sie erfüllen – vor allem wenn sie eingängig und plausibel sind – in einem solchen Fall zumindest eine Orientierungsaufgabe. Genau in diesem Sinne spricht Luhmann beispielsweise von der Auffangsemantik der Nation, die eine segmentäre Differenzierung der Gesellschaft in räumlich klar voneinander abgegrenzte Nationen als Kompensationsangebot zur wesentlich unübersichtlicheren funktionalen Differenzierung mit ihrer evidenten ökonomischen Verflechtung anbietet. Über diese Semantik können also die Universalismen der gesellschaftlichen Funktionsorientierung durch die Imagination der Partikularismen nationaler Gemeinschaften zumindest kompensiert, wenn nicht gar durch den Verweis auf die Höherwertigkeit dieser Gemeinschaften überschritten werden.26 22 Vgl. Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 887. Zur Kritik siehe Stäheli: Sinnzusammenbrüche, S. 184ff. 23 Vgl. Luhmann: Wissenschaft der Gesellschaft, S. 107ff.; S.a. Stichweh: „Semantik und Sozialstruktur“, S. 242f. 24 Vgl. Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik, S. 19. 25 Vgl. Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 538. 26 Vgl. ebd., S. 1045, 1051; Anderson: Die Erfindung der Nation.

ZUR RENAISSANCE VON RAUM Ň 323

Die Debatte um die Bedeutung von Semantik ist in der Systemtheorie in den letzten Jahren forciert worden, und insbesondere Rudolf Stichweh und Urs Stäheli haben mehrfach auf die ungewöhnliche enge Fassung des Begriffs und seines zeitlichen Verhältnisses zur Sozialstruktur der Gesellschaft bei Luhmann hingewiesen.27 Die einzelnen Möglichkeiten, Semantik im zeitlichen Verhältnis zur Sozialstruktur zu thematisieren, gibt die folgende Abbildung wieder. Die weiteren Ausführungen zu raumbezogenen Semantiken werden eine Engführung des Verständnisses von Semantik auf die erste und dritte Fassung (Semantik als Dispositiv und Semantik als Reaktion) voraussetzen. Abb. 1: Die (zeitlichen) Verhältnisse von Sozialstruktur und Semantik28 Semantik

Sozialstruktur

Semantik als Dispositiv und somit Voraussetzung für soziales Handeln. Konstitutive Rolle für soziale Strukturbildung, Erwartungen werden (direkt) aus der Semantik abgeleitet Semantik als variety pool, der einen Möglichkeitsspielraum der Vorwegnahme sozialstruktureller Änderungen bereithält. In diesem Falle ist Semantik antizipierend Semantik als Reaktion auf bereits erfolgte sozialstrukturelle Änderungen. Ihre Nachträglichkeit kann dann etwa zur Absicherung und Legitimation dieser Änderung dienen Semantik als nachträgliche Etablierung eines Ereignisses. Diese konstitutive Nachträglichkeit geht davon aus, dass bereits zurückliegende Ereignisse durch ihre Beschreibung eine Inwertsetzung oder auch Rationalisierung erfahren und somit im kollektiven Gedächtnis a posteriori konstituiert werden

Zum Raum in der Systemtheorie Der spatial turn hat selbst vor der sich doch als antiregionalistisch29 titulierenden Systemtheorie nicht Halt gemacht. Dem Raumbegriff ist dort in den letzten Jahren mehr und mehr Aufmerksamkeit zugemessen worden, 27 Stichweh: „Semantik und Sozialstruktur“; Stäheli: Sinnzusammenbrüche. 28 Vgl. hierzu die Vorschläge in Stichweh: „Semantik und Sozialstruktur“; leicht veränderte Abbildung aus Redepenning: Wozu Raum?, S. 73. 29 Vgl. Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 35. Mit antiregionalistisch meint Luhmann nur, dass unter den heutigen Bedingungen keine angemessene gesellschaftliche Beschreibung möglich ist, soweit man diese in einem territorialen (am nationalstaatlichen Territorium orientierten) Gesellschaftsbegriff gründet. Vgl. ebd., S. 32; Schroer: Räume, Orte, Grenzen, S. 145.

324 Ň MARC REDEPENNING

so dass man mittlerweile auf zahlreiche Vorschläge zurückgreifen kann, Raum im Rahmen eines systemtheoretischen Designs zu bestimmen. Entsprechend der Gesamtanlage der Theorie sozialer Systeme, die sich selbst mit der Setzung einer möglichst abstrakten Differenz in Bewegung versetzt, um ihre Komplexität nach und nach zu entwickeln und ihre eigene Unbestimmtheit in Bestimmtheit zu transformieren,30 sind auch die wesentlichen systemtheoretischen Vorschläge zu Raum so gearbeitet, dass er über eine recht abstrakte Leitdifferenz bestimmt wird (siehe Abb. 2). Abb. 2: Die systemtheoretischen Konzeptionen von Raum im Hinblick auf ihre Leitdifferenzen31 Raum als

Unterscheidung Nähe/Ferne32

Raum als

Unterscheidung dieses hier/anderes dort33

Raum als

Unterscheidung hier (ici)/dort (là)34

Raum als

Unterscheidung Stelle/Objekt35

Raum als

Unterscheidung Stelle/Horizont36

Nahezu alle in den letzten Jahren erschienenen Arbeiten betonen, dass die sogenannte Unabhängigkeitserklärung, welche die Soziologie hinsichtlich des Raumes gemacht habe, nur noch eingeschränkt zu vertreten sei. Zwar ist die ursprüngliche Motivation dieser Unabhängigkeitserklärung nach wie vor gültig, solange es sich um die „soziale Interdependenzen unterbrechende räumliche Struktur territorialer politischer Systeme“37 handelt. Allerdings, so die Einwände, verenge diese Fixierung auf die physischmateriell sichtbar gemachten politisch-administrativen Grenzen den Blick derart,38 dass „vermutlich die Relevanz des Raumes für soziale Systeme nicht annähernd“39 ausgeschöpft werde. Vgl. Nassehi: Geschlossenheit und Offenheit, S. 78f. Leicht veränderte Abbildung aus Redepenning: Wozu Raum?, S. 128. Vgl. Stichweh: „Raum, Region und Stadt in der Systemtheorie“, S. 344. Vgl. Kuhm: „Raum als Medium gesellschaftlicher Kommunikation“, S. 332. Vgl. Morin: La méthode, S. 50; Nassehi: „Dichte Räume“. Vgl. Luhmann: Kunst der Gesellschaft, S. 180. Vgl. Baecker: „Miteinander leben, ohne sich zu kennen“, S. 262. Stichweh: „Raum und moderne Gesellschaft“, S. 94. Gemeint ist hier die Anlehnung, Verdeutlichung und Übersetzung eigentlich immaterieller Grenzen an bzw. durch materielle Objekte: Flüsse, Schluchten, Zäune und Mauern. Dass neben dieser Unabhängigkeit auch die Unabhängigkeit von der Determinierung durch den physisch-materiellen Raum, der als Naturraum verstanden wird, gleich miterklärt wird, versteht sich von selbst. 39 Stichweh: „Raum und moderne Gesellschaft“, S. 94.

30 31 32 33 34 35 36 37 38

ZUR RENAISSANCE VON RAUM Ň 325

Ein genauerer Blick auf diese Neuausschöpfung der Relevanz des Raumes für soziale Systeme zeigt, dass Raum fast immer als Möglichkeit zur Einschränkung der harten strukturellen Operationen sozialer Systeme thematisiert wird. Raum – Nassehi etwa nimmt die Stadt als Beispiel40 – vermag daher als eine Inklusionsmaschine zu fungieren, die es ermöglicht, Kommunikationen strukturell an bestimmten Stellen zu verdichten. Raum wird zum Kontingenz- oder Kommunikationsunterbrecher41, indem Kommunikationen bewusst durch räumliche Differenzen geleitet und in der Konsequenz strukturiert werden. Wichtig ist dabei, dass die bereits erwähnte grundsätzliche Prämisse, Raum als gesellschaftsintern produzierten Raum zu verstehen, eingehalten wird. Hinter diesem systemtheoretischen Vorschlag, Raum als Kontingenzunterbrecher und Inklusionsmaschine zu thematisieren, steht natürlich die Annahme einer Weltgesellschaft, die funktional differenziert gegliedert ist und deren Kommunikationen eben nicht mehr notwendig durch räumliche Begrenzungen limitiert sind – etwa im Sinne physischer Barrieren, also dem Sozialsystem exogener Grenzen. Techniken verschiedenster Art (vor allem Verkehrsmittel und Telekommunikationstechniken) haben diese Einschränkung der Kommunikation durch physische Barrieren zu einer Ausnahmeerscheinung gemacht, die quantitativ kaum noch von Bedeutung ist.42 Folglich greift die systemtheoretische Gesellschaftstheorie nicht mehr auf ein Konzept von Raum als limitierenden exogenen (der materiellen Umwelt zugehörigen) Faktor zurück. Allein in diesem Sinne kann die Systemtheorie als raumfrei bezeichnet werden. Aber gerade weil sie die funktional differenzierte Gesellschaft nicht mehr primär über eine Form räumlicher Integration bestimmt sehen will, eröffnet die Systemtheorie quasi auf der Rückseite dieser Ablehnung des von Luhmann mehrfach als regionalistisch titulierten Gesellschaftsbegriffs die Möglichkeit, Raum bzw. Regionen als endogenes und selbsterzeugtes Strukturprinzip aufzufassen, mit dem die Gesellschaft in sich soziale Ungleichheit einführen und sich auf sekundärer Ebene selbst räumlich-segmentär differenzieren kann, solange darin eine Attraktivität hinsichtlich der Strukturierung der Kommunikation liegt.43

40 Vgl. Nassehi: „Dichte Räume“. 41 Vgl. Kuhm: „Raum als Medium gesellschaftlicher Kommunikation“. 42 Allerdings eröffnet eine solche Feststellung die qualitativ ausgerichtet Frage, für wen, ob und in welchem Maße denn physische Grenzen oder fehlende physische Materialitäten öffentlicher Güter (wieder) als Kommunikationsunterbrecher fungieren. Bedeutsam wird diese Frage vor allem im Zusammenhang mit dem infrastrukturellen roll-back öffentlicher Einrichtungen in ländlichen Regionen. Dies soll aber hier nicht Thema sein. 43 Vgl. Bahrenberg/Kuhm: „Weltgesellschaft und Region“; Kuhm: „Die Region“, S. 182f.; Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 314, 811.

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„Entscheidend ist dabei, dass räumliche Formen, d.h. die kommunikative Verwendung von räumlichen Unterscheidungen bzw. die kommunikative Nutzung räumlicher Nähe und Ferne als sinnhafte Operation aufgefasst werden, die für die Anschlussfähigkeit von Ereignissen einen Unterschied machen. Also nicht die Tür oder die Mauer, nicht der Schlagbaum oder das Vorzimmer machen die soziale Räumlichkeit aus, sondern die kommunikative Herstellung eines räumlichen Unterschieds, der einen Unterschied macht, und zwar sozial. Die Räumlichkeit des Raums – etwa einer Tür – kommt nur dann sozial zum Tragen, wenn diese Tür Kommunikation strukturiert – letztlich ist dann die Tür ein Erzeugnis der Kommunikation selbst, nicht umgekehrt.“44

Raum wird also innerhalb der systemtheoretischen Debatte vornehmlich als von der Gesellschaft selbst eingeführtes Differenzkriterium thematisiert und explizit auf die Ebene ihrer harten und basalen kommunikativen Operationen bezogen, die das einfache, nicht-reflektierte Tun der Gesellschaft kennzeichnen. Zahlreiche Systemtheoretiker heben somit hervor, dass Raum Interdependenzen in Sozialsystemen unterbrechen kann45 – womit die Wahrscheinlichkeit, dass einige Kommunikationsformen (und somit auch Handlungen) entstehen, eher geringer wird, während für andere Formen durchaus das Gegenteil der Fall sein kann. In der Folge entsteht als Resultat der Strukturierungsqualitäten von Raum, die eben nicht überall in gleicher Stärke stattfinden und überdies variabel sind, immer auch soziale Ungleichheit.46 In dieser konzeptionellen Fassung kann Raum als griffiges Hilfsmittel einer „Kommunikationsvermeidungskommunikation“47 angesehen werden, die soziale Kontingenzen reduziert, und durch strukturelle Kopplungen mit der materiellen Umwelt zur Integration (also die Einschränkung von Freiheitsgraden eines Systems) und zur Polarisierung sozialer Beziehungen (vor allem in Interaktionssystemen) beiträgt. Als einfaches Beispiel kann man hier durchaus an die Ermöglichung oder Behinderung des Fortlaufens der Kommunikation durch die Arrangements bestimmter materieller Artefakte denken, also beispielsweise an die kommunikationsstimulierenden oder -hemmenden Wirkungen von Autobahnen oder Parks. Ob und wie Raum nun aber Kommunikation strukturiert, muss in empirischen Studien gezeigt werden; an diesen mangelt es hingegen in der systemtheoretischen Forschung. Vor diesem Hintergrund schließt auch die systemtheoretische Debatte – wenngleich mit viel präziserem Begriffsapparat – inhaltlich an jene Überlegungen der Geographie an, soweit sie space as difference themati-

44 Nassehi: „Dichte Räume“, S. 218. 45 Vgl. auch Kuhm: „Raum als Medium gesellschaftlicher Kommunikation“, S. 332ff. 46 Ebd., S. 336ff. Vgl. auch Nassehi: „Dichte Räume“, S. 220. 47 Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 235.

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sieren.48 Letztlich jedoch steuert die Systemtheorie außer der Inkorporation in das systemtheoretische Begriffsinventar und Denkwerkzeug insgesamt wenig neue Impulse zum Verständnis des Räumlichen der Gesellschaft bei. Vor allem in Bezug auf das hier verfolgte Anliegen ist festzustellen, dass die Theorie sozialer Systeme in ihren Vorschlägen, den Raumbegriff zu fassen, bislang kein Angebot auf die Frage nach begrifflich ausgearbeiteten Gedanken zur Funktion von Raum als gesellschaftliche Selbstbeschreibungsformel, also zu den raumbezogenen Semantiken, vorgelegt hat – obwohl der Semantikbegriff hier durchaus sinnvoll angeschlossen werden kann. Entgegen den bisher vorgestellten systemtheoretischen Ansätzen, welche die Differenz von hier/dort als Ausgangsunterscheidung zur Rekonstruktion von Raum genutzt haben und dabei immer auch explizit auf die Kopplung mit der physisch-materiellen Umwelt zurückgreifen mussten, verzichten die hier folgenden Gedanken zu raumbezogenen Semantiken auf eine solche Schwerpunktsetzung. Sie verzichten ferner auf die Engführung der systemtheoretischen Raumdebatte, die Raum fast ausschließlich in Beziehung zu den harten Operationen, zum operativen Vollzug der Autopoiesis des Gesellschaftssystems thematisiert. Stattdessen geht es nachfolgend um die Verbindung von Raum und gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen, also um eine Beobachtung von Beobachtungen.49

Zu raumbezogenen Semantiken Fasst man Raum in systemtheoretischer Manier als eine die Kommunikation führende Unterscheidung hier/dort (vgl. Abb. 2) auf, dann kristallisiert sich auch heraus, was das bezogen im Begriff raumbezogene Semantiken meinen kann: Es kann sich nur auf Elaborierungen, auf Anschlüsse an die (Basal-)Unterscheidung hier/dort beziehen. Diese (Basal-)Unterscheidung stellt quasi den Ausgangspunkt zur Entfaltung dessen, was unter Raum konkret erarbeitet und bezeichnet wird, dar.50 Die Differenz hier/dort wird als inviolate level gesetzt, ist aber auf der Seite des hier wiedereintrittsfähig, d.h. es können weitere Unterscheidungen hier/dort angeschlossen und ausgearbeitet werden. So kann man Räume aus Raum (=Differenz hier/dort) erarbeiten, je nachdem wie die Unterscheidung hier/dort mit weiteren Unterscheidungen versorgt wird. Vieles ist an solchen anschließenden Ausarbeitungen oder Formen sowie ihren Bezeichnungen denkbar – der sogenannte Containerraum stellt nur eine unter zahlreichen anderen Form dar, wenn auch wohl die promi48 Vgl. Simonsen: „What Kind of Space in What Kind of Social Theory?“, S. 199ff. Auch zu dem Setting von Baker, dem Locale von Giddens und dem Schauplatz Werlens besteht eine auffällige inhaltliche Nähe. 49 Vgl. allgemein zur Unterscheidung Beobachtung/Operation auch Luhmann: Wissenschaft der Gesellschaft, S. 68ff. 50 Vgl. mit etwas anderer Nuancierung Zierhofer: „Die fatale Verwechslung“.

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nenteste.51 Ein Containerraum ermöglicht die segmentäre Gliederung eines Objektbereiches. Diese Segmente können dann in einem weiteren Schritt mittels einer Auffüllung durch bestimmte sachliche Merkmale (z.B. Nationen, ALG II-Empfänger, Einkommen, Gefühle oder Fahrräder) spezifiziert werden. Die Frage nach der engeren Sinnhaftigkeit der Verortung von z.B. Gefühlen steht dabei auf einem anderen Blatt und bezieht sich nicht in erster Linie auf die Möglichkeiten und die Funktionalitäten der Containerisierung. Deren Ziel ist die Ermöglichung der Adressierung von Objekten durch die Grenzziehung zwischen hier und dort – als Resultat erscheint dann eine mittels Raum erzeugte Homogenisierung des sozial Heterogenen.52 Netzwerkräume, etwa in der Castellsschen Version, lassen sich ebenso auf die Differenz hier/dort reduzieren, sie arbeiten die Unterscheidung dann allerdings relational aus, indem sie auf die unterschiedlich intensive Konnektivität der Knoten in den Netzen hinweisen. Zugleich sind diese Räume von einer Substituierung räumlicher Nähe durch simultane (soziale) Praxisformen auf gleichartiger materieller Grundlage gekennzeichnet.53 Deutlich wird diese neue Raumform, die Castells eben durch die Verbindung von sozialer Nähe und gleichförmigen materiellen Grundlagen entstehen lässt, an jenem häufig zitierten Raum der Ströme, der durch die Vernetzung global eingebundener städtischer Bereiche gebildet wird. Hier geht es nicht um den Einbezug einer gesamten Stadt in den Netzwerkraum, sondern um den Einbezug bestimmter Teile unterschiedlicher Städte, die dann zusammen den Raum der Ströme der Global City figurieren, weil sie Ideen, Produkte und Dienstleistungen bereitstellen, die im Netzwerk gebraucht und verarbeitet werden: „For instance, financial networks – which is an easy example to understand – are made up of bits and pieces of different cities of the globe. The financial districts of New York, London and Tokyo are all part of the same city. They work symbiotically. They connect with each other but also with Frankfurt and Amsterdam and so on. And to a large extent even La Paz, Bolivia, is part of it. A little bit of La Paz is in that global city because that is how lots of money (they do some good trading) circulates in these global networks.“54

51 Weitere raumbezogene Semantiken, die jeweils eine systemspezifische Geschichte und Einbettung haben können, sind: Region, Landschaft, Territorium, Ort, etc. 52 Vgl. Klüter: Raum als Element sozialer Kommunikation; Stichweh: „Raum und moderne Gesellschaft“. 53 Vgl. Castells: Das Informationszeitalter, Bd. 1, S. 467ff. 54 Castells: „Local and Global“, S. 554.

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4 Wozu braucht die Gesellschaft Raum als Selbstbeschreibungsformel? Die Funktion raumbezogener Semantiken Damit bleibt noch die eigentliche Frage des Aufsatzes offen. Nachdem nun Gedanken zur begrifflich-formalen Verankerung raumbezogener Semantiken und eine Limitierung rein auf den Bereich kommunikativer Selbstbeschreibungen gesetzt wurden, kann nachfolgend nach der Funktion raumbezogener Semantiken gefragt werden. Weshalb beobachtet die Gesellschaft sich mehr und mehr unter der Beschreibungsformel hier/dort (dazu gehören auch die Versuche, die Differenz komplett unhandhabbar zu machen, die sich dann in einer ebenso inflatorischen Semantik vom Verschwinden der Orte, vom „Ende der Geographie“55 äußern)? Hierzu sind bereits einige Gedanken vorgetragen worden, die allerdings oftmals vage geblieben sind und vor allem nicht tiefer gehend ausgearbeitet wurden; dennoch eignen sie sich als versprechende Anknüpfungspunkte. Folgende Funktionen raumbezogener Semantiken können dabei festgehalten werden: Abb. 3: Funktionen raumbezogener Semantiken56 Raumbezogene Semantiken

können sich etwa durch Symbolisierung von Grenzen auf die Differenz Inklusion/Exklusion beziehen57

Raumbezogene Semantiken

sind funktional bei der Überführung sozial konstruierter Phänomene in eine Sphäre der Naturalität, sie naturalisieren also und prätendieren Natur- und Sachzwang sowie Unveränderbarkeit58 reduzieren Komplexität59

Raumbezogene Semantiken Raumbezogene Semantiken

Raumbezogene Semantiken Raumbezogene Semantiken 55 56 57 58 59 60 61

fungieren somit als Kommunikationsvermeidungskommunikation, da sie aufgrund ihrer Evidenz und Einfachheit die komplexere kommunikative Explizierung substituieren60 dienen damit als Kontingenzunterbrecher, nehmen Zukunftsangst und schaffen Sicherheiten. Sie tragen also zur Unsicherheitsabsorption61 bei erscheinen dann vor allem als funktionale copingStrategien in Krisensituationen

O’Brien: Global Financial Integration. Leicht veränderte Abbildung aus Redepenning: Wozu Raum?, S. 131. Vgl. Stichweh: „Raum, Region und Stadt in der Systemtheorie“, S. 349ff. Vgl. Hard: „Raumfragen“. Vgl. Klüter: Raum als Element sozialer Kommunikation. Vgl. ebd. Vgl. Kuhm: „Raum als Medium gesellschaftlicher Kommunikation“, S. 334f.

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Raumbezogene Semantiken erscheinen als hochfunktionale Bestandteile der Strukturierung und Rationalisierung der Alltagswelt. Ihr Funktionsmechanismus liegt wesentlich in der Möglichkeit, Raum als bloße, vornehmlich kartographisch bearbeitbare Projektionsfläche zu nutzen, auf der komplexe soziale Zusammenhänge durch die Nutzung der Unterscheidung hier/dort als separiert dargestellt werden können. Dies führt in der Folge dazu, die in zahlreichen Netzen eingebetteten sozialen Phänomene ihrer Netze zu entheben und sie dekontextualisiert und getrennt neu zu entwerfen. Bindet man diese Leistung von Raum an jene gesellschaftsdiagnostischen Merkmale, die durch das Konzept der funktional differenzierten Gesellschaft betont werden, eröffnen sich weitere Möglichkeiten. Schließlich wird die heutige, funktional differenzierte Gesellschaft durch Systeme konstituiert, die ihre je eigene, systeminterne Logik verfolgen und dadurch, aus der Sicht der Systeme in der Umwelt, Unübersichtlichkeiten erzeugen. Und genau so, wie davon auszugehen ist, dass sich die heutige Gesellschaft im Grade ihrer unübersichtlichen, ja undurchsichtigen Komplexität drastisch verändert hat, sollte davon ausgegangen werden, dass auch die Kommunikation über diese Komplexität, also die Reflexion, drastisch zugenommen und entsprechende Formen des Umgangs erzeugt hat. Der enge Zusammenhang von zunehmender Komplexität und Unübersichtlichkeit sowie der Kommunikation über diese Komplexität und Unübersichtlichkeit dürfte unbestritten sein. Unbestritten ist auch der damit einhergehende Verlust einer einheitlichen Perspektive, so dass der Pool gemeinsam geteilter Informationen und Orientierungen schrumpft. Dann kann auch die Wissenschaft nur noch den alltäglichen Eindruck bestätigen, dass „moderne Gesellschaften keinen zusammenhängenden Sinn mehr ergeben, dass sie in isolierte Aspekte und Komponenten zerfallen, die einander kaum zur Kenntnis nehmen.62 […] Die hochgezüchteten Technologien, Fertigkeiten, Spezialisierungen und Wissensbestände der Teilsysteme summieren sich zu einer beispiellosen kollektiven Ignoranz; die ungesteuerten Rationalitäten der Teile zementieren die Irrationalität des Ganzen.“63

Das führt zu faktischer und gewusster Unsicherheit im Hinblick auf jegliches Wissen, da es nur noch begrenzte (im Sinne von systemlogikkompatible) Reichweite haben kann. In der Folge rückt ein Zustand der Unruhe, der Dissonanzen und des Unerwarteten als Lebensgefühl der heutigen Zeit in den Vordergrund.64 Kurzum: Offensichtlich wird die asymmetrische Behandlung der beiden Differenzen Übersichtlichkeit / Unübersichtlichkeit 62 Willke: Systemtheorie I, S. 199. 63 Ebd., S. 216. 64 Vgl. Nassehi: Geschlossenheit und Offenheit, S. 64.

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und Sicherheit65/Unsicherheit zum Kennzeichen der faktischen, harten sozialstrukturellen Operationen der heutigen Gesellschaft, mit inflationärer Bezeichnung der jeweils zweiten Seite der Differenz. Dies zieht, so dürfte man annehmen, einen erhöhten Bedarf nach Re-Symmetrisierung zunächst durch kompensatorische weiche Selbstbeschreibungen nach sich. Man kann zweifelsohne davon ausgehen, dass Raum ein geeignetes Mittel ist, diese Re-Symmetrisierung plausibel mittels der Unterscheidung zwischen hier/dort zu leisten. Raum wäre dann eine Möglichkeit (ein funktionales Äquivalent) der Übersichtlichkeit- und Sicherheitsproduktion in gesellschaftlicher Kommunikation und antwortet, etwas genauer formuliert, auf das Problem des sozialstrukturellen Wegbrechens territorialisierter Sicherheitsvorstellungen und der damit zunehmenden Unübersichtlichkeit und Unsicherheit.66 In diesem Fall läge die Bedeutung raumbezogener Semantiken in der Bereitstellung einer gesellschaftlichen Copingstrategie, indem sie raumbezogene Übersichtlichkeit als Semantik (oder Schema) der sozialstrukturell erfahrbaren Unsicherheit und Desintegration aus nationalen Zusammenhängen gegenüber stellt und letztere absorbieren oder zumindest abfedern hilft. Das neuerdings so vermehrt feststellbare Wuchern raumbezogener Semantiken (als weiche, auf Reflexion bezogene semantische Wirklichkeit) ist dann in wesentlichen Teilen als Kompensation zum Verlust räumlicher Integration zu deuten. Demzufolge kann man formulieren, dass die Vorstellung vom Ende des Raumes auf der über lange Zeit hoch integrierenden national scale (etwa im Sinne einer ideellen Verdichtungsmaschine und eines Containers für politische und ökonomische Kommunikationen)67 gerade zur Garantie des Fortbestandes von raumbezogenen Semantiken wird, die jetzt kompensatorisch die Funktion der Integration zu übernehmen versuchen. Also: versuchte Integration. Die Funktion raumbezogener Semantiken liegt darin, Integration zu prätendieren, indem Übersichtlichkeit und die mit ihr einhergehende Harmonie betont werden. Sie bieten eine Möglichkeit, die Kommunikation schnell und effektiv von möglichen Orientierungslasten zu befreien und ihr Verwirrungspotenzial zu minimieren. Raumbezogene Semantiken sind, im Sinne Latours, Reinigungspraktiken,68 deren Hochkonjunktur man gerade erlebt. Sie bereiten eine Formulierungsgrundlage für Einheitsperspektiven oder Solidaritätserwartungen; mittels raumbezogener Semantiken können entsprechende Einstellungen schlicht einfacher angemahnt werden.69 Genau das ist längst 65 Sicherheit hier zunächst sehr allgemein verstanden als „Wahrscheinlichkeit des Eintreffens des Erwarteten“ (Luhmann: Soziale Systeme, S. 418). 66 Vgl. hierzu auch die ähnlich lautende Argumentation von Schroer: Räume, Orte, Grenzen, S. 180 sowie 228ff. 67 Vgl. Taylor: „The State as Container“; Willke: Atopia, S. 73ff. sowie 131ff. 68 Vgl. Latour: Wir sind nie modern gewesen. 69 Vgl. auch Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 602.

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gängige Praxis der Gesellschaft, etwa innerhalb dessen, was Michael Billig als „Banalen Nationalismus“70, der das exkludierende „thickening of place“71 betreibt, bezeichnet: Integrationistische Appelle werden wesentlich mittels raumbezogener Semantiken kommuniziert, entsprechend kartographisch aufbereitet und massenmedial verbreitet. Als Resultat weiß man dann (relativ) sicher, wo sich das Gute und wo sich das Schlechte befindet, um so – als sicheres und gewohntes Thema und Objekt der Kommunikation – zu einer entlastenden Ordnung von Informationen zu gelangen. Von dieser Ebene der Verortung des Guten und des Schlechten mittels raumbezogener Semantiken muss deutlich die Ebene der Definition des Guten und des Schlechten innerhalb raumbezogener Semantiken – und somit die guten und die schlechten Räume (!) – unterschieden werden. Hier werden sich, je unterschiedlicher die Produzenten und die Nutzer der raumbezogenen Semantiken sind, wohl zahlreiche, oftmals konträre Varianten ergeben, die schlicht nur empirisch zu überprüfen und zu analysieren sind. Aber wie diese empirische Überprüfung im Einzelfall auch immer aussehen mag, durch den Einsatz raumbezogener Semantiken erlangen in der Folge die Vorstellungen politischer Gemeinschaft und Solidarität eine sich fast schon aufdrängende Plausibilität, ganz nach dem Motto: Wir, die wir uns hier befinden, sind gleich und verfolgen hier ähnliche Interessen. In diesem Sinne inkludiert Raum als kommunikatives Phänomen der Selbstbeschreibung, da die Komplexität der Welt über räumliche Beschreibungsmodi reduziert und sortiert werden kann. Ein so verstandener Begriff von raumbezogenen Semantiken ermöglicht ferner eine zusätzliche und andere Perspektive auf den Erfolg des spatial turn, wenn er auch auf Selbstbeschreibungen des Wissenschaftssystems bezogen wird. Für die jüngere Geschichte der Geographie72 kann man recht gut sehen, dass auch Teile der Neuen Regionalgeographie und der Neuen Kulturgeographie (der new cultural geography) prominente Produzenten raumbezogener Semantiken sind – gleiches gilt in sogar wachsendem Maße für viele weitere, jetzt den spatial turn zelebrierende Wissenschaftsdisziplinen. Gerade in jüngeren Arbeiten zum Raum, die ja, folgt man hier der bereits erwähnten Einschätzung Bachmann-Medicks73, auch politisch motiviert sind, spiegelt sich erstens die Hoffnung auf neue Integration, auf gesellschaftliche Harmonie und Solidarität, zweitens die 70 Billig: Banal Nationalism. 71 Sack: „The Geographic Problematic: Empirical Issues“, S. 114f. 72 Die weiteren Ausführungen konzentrieren sich nur auf die jüngere Geschichte der Sozialgeographie und verzichten auf eine Analyse des Erfolgs raumbezogener Semantiken in anderen Wissenschaften. Hier liegen aber weitere Möglichkeiten zu einer interdisziplinären Forschung über raumbezogene Semantiken. Vgl. hierzu auch die wohl ähnlich intendierte Analyse urbaner Räume in Schroer: Räume, Orte, Grenzen, S. 227ff. 73 Vgl. Bachmann-Medick: Cultural Turns, S. 299, 304.

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Hoffnung auf Widerstände gegen die desintegrierenden, nivellierenden und schließenden Kräfte des Neoliberalismus und drittens die Hoffnung auf eine gute, offene und bessere Gesellschaft wider – man denke nur an die, neuerdings an den Kommunitarismus angelehnte place-Diskussion74, an spaces of hope75, an den Raum der Orte, der dem Raum der Ströme mit aller Sehnsucht nach einem zusammenhängenden Leben gegenüber gestellt wird,76 an die Übersichtlichkeits- und Einkammerungskomponente in den Diskussionen um den new urbanism77 oder an den Thirdspace78 sowie an jene ethischen Orte, die zur Grundlage werden, Gutes zu tun und die Welt zu verbessern: „The theory will argue that these two qualities – creating places that allow us to see reality more clearly and that increase the variety and complexity of that reality – when joined and balanced together are intrinsically good, and when used jointly to judge and guide our place-making stand as intrinsic geographic judgements. They are so because they are informed by the real and the good. Places that are guided by these judgements, then, are good places in that they enable us to do good, and make the world better.“79

Räumeln (vor allem in der Form der Unterscheidung zwischen guten und schlechten Orten) ist wieder in Mode – aber die Geographen sind heute nur noch eine Gruppe unter den zahlreichen Produzenten dieser Räumelei. Wenn dies stimmt, bleiben die Befunde von Ulrich Eisel, Gerhard Hard und Hans-Dietrich Schultz über die Raumfetischisierung durch Harmoniesehnsucht seitens der Geographie weiterhin gültig,80 und sie können wohl auf weitere, den spatial turn zelebrierende Fächer übertragen werden. Räume scheinen irgendwie immer glücklich zu machen – mal produziert man dieses Glück mit reaktionären Absichten durch überschaubare, ver-

74 Vgl. nur Entrikin: „Place and Region 3“. Die wichtigsten Argumente in dieser Diskussion kritisch zusammenfassend Taylor: „Places, Spaces and Macy’s“, S. 9ff. 75 Vgl. Harvey: Spaces of Hope. 76 Vgl. Castells: Das Informationszeitalter, Bd. 1, S. 479ff. Man beachte dabei vor allem die Art und Weise, wie Castells in seiner Beschreibung eines Raumes der Orte (nämlich des nordöstlichen Pariser Immigrantenviertels Belleville) persönliche Adoleszenzerinnerungen und die Argumentation um die Notwendigkeit einer zusammenhängenden politischen Gemeinschaft zusammenfließen lässt. 77 Vgl. Congress for the New Urbanism: „Charter of the New Urbanism“. 78 Vgl. Soja: „Thirdspace“. 79 Sack: „The Geographic Problematic: Moral Issues“, S. 119. 80 Vgl. Eisel: Die Entwicklung der Anthropogeographie von einer ‚Raumwissenschaft‘ zur Gesellschaftswissenschaft; Hard: „Die Disziplin der Weißwäscher“.

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wurzelte und begrenzte dichte Orte81, mal, und das ist die heute vorherrschende wissenschaftliche Nuancierung, betont reformistisch bis revolutionär als offene und facettenreiche dichte Orte, aber immer mit einer ungewöhnlichen Harmoniesüchtigkeit, mit Solidaritätsvorstellungen und integrationistischen Attitüden – und mit verblüffender Sicherheit in der Handhabung der Unterscheidung gut/schlecht bzw. gute Orte/schlechte Orte (s.o.). In eher gesellschaftsdiagnostischer Hinsicht kann der Gebrauch raumbezogener Semantiken dann wohl als Indiz verstanden werden, dass die Bedeutung von Integration und Harmonie in einer funktional differenzierten Gesellschaft nach wie vor hoch im Kurs steht, und dass dies ferner in nicht unerheblichem Maße auf die Verschärfung der In- und Exklusion von Personen in oder aus Kommunikationszusammenhängen hinausführt.82

5 Nachtrag: Die Wissenschaft und der Erfolg des spatial turn Was den spatial turn so problematisch macht, ist nicht zuletzt die Unklarheit über das, was mit ihm eigentlich ausgesagt werden will. Handelt es sich um neue empirische Fakten in der Folge von Beschleunigungen83 oder handelt es sich nur um eine kognitive Verschiebung wissenschaftlicher Aufmerksamkeit, also um den Einsatz neuer wissenschaftlicher Beobachtungsinstrumente, mit denen man dann gleiche Dinge anders sieht?84 Es ist zunächst sinnvoll davon auszugehen, dass es sich um beides handelt und dabei ein zirkulärkausales Verhältnis anzunehmen ist, bei dem eine Differenzierung nach Ursache und Wirkung unergiebig ist. Empirisch haben sich einerseits mit der voranschreitenden Auflösung des Nationalstaates als mehr oder minder verstandener Raumcontainer und dem Entstehen flexibler und variierender subnationaler politisch-ökonomischer Regionen durchaus signifikante Änderungen ergeben. Ein Blick auf die räumliche Konzentration und die räumliche Permeabilität, die mit dem Anstieg der Auslandsdirektinvestitionen in der letzten Dekade des 20. Jahrhundert von über 700% verbunden sind,85 bestätigt dies. Ebenso klar und ebenso empirisch ist andererseits, dass es zu einer beeindruckenden kognitiven Veränderung, den Raum zu denken (nämlich hin zu relationalen 81 Vgl. zu den Möglichkeiten, dichte Orte einerseits als geschlossen und exkludierend, andererseits als offen und komplex zu verstehen, vor allem Sack: „The Geographic Problematic: Empirical Issues“, S. 114. 82 Vgl. Stichweh: Inklusion und Exklusion; Fuchs: Der Sinn der Beobachtung. 83 Vgl. Rosa: Beschleunigung, S. 333ff. 84 Vgl. zu diesem Argument Lossau/Lippuner: „Geographie und spatial turn“, S. 209. 85 Vgl. hierzu Le Monde diplomatique: Atlas der Globalisierung, S. 27; UNCTAD: World Investment Report 2006, S. 4.

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Raumbegriffen), gekommen ist. Und man wird zusätzlich vor dem Hintergrund der engen Kopplung zwischen Raumwissenschaften und bspw. der Regionalpolitik eine gegenseitige Beeinflussung und somit raumbezogene Durchdringung in Rechnung stellen müssen. Das daraus entstehende und sich selbst forcierende Wechselspiel zwischen neuen räumlichen Figurationen und neuen Raumkonzepten erklärt auch die in vielen Studien anzutreffende Paradoxie, die den spatial turn begründet – dass das Verschwinden des Raumes zugleich die Wiederkehr des Raumes ist. Die Paradoxie wird im Rahmen der gängigen wissenschaftlichen Reflexion eigentlich recht effektiv mit einer Ebenendifferenzierung entfaltet: Verschwinden bzw. Schwächung der alten Räume des Nationalstaates (und damit der Abschied vom Konzept des Containerraums) auf der national scale bei gleichzeitigem Auftauchen neuer und heterogener Räume auf der regional und local scale. Unter diesen Bedingungen kommt es dann zu einer forcierten Betonung lokaler und regionaler Differenzen und damit auch zum Aufstieg sowie Erfolg relationaler Raumkonzepte.86 In Bezug auf die Reflexionen der Wissenschaft und des politischen Systems bedeutet dies nüchtern betrachtet lediglich, dass man die Differenz hier/dort anders ausarbeitet und deshalb auch gänzlich andere Dinge beobachtet und letztlich sozialstrukturell herstellt: nämlich regionale und netzwerkförmige Clusterungen statt nationale Container. Fasziniert von den Ergebnissen dieser Beobachtungsumstellung, ist den Arbeiten zum spatial turn jedoch die Möglichkeit abhanden gekommen, Raum als eine neue Selbstbeschreibung der Gesellschaft durch die Gesellschaft selbst (als eine raumbezogene Semantik) zu sehen und so die eben skizzierte Beobachtungsumstellung selbst genauer in Blick zu nehmen. So wie man aus wissenschaftssoziologischer oder ideengeschichtlicher Sicht nach den Funktionalitäten und politischen Motivationen von Semantiken wie beispielsweise Klasse oder Nation gefragt hat, so gilt es nun auch, im Rahmen einer Beobachtung zweiter Ordnung des spatial turn nach den Funktionalitäten von Raum zu fragen und diese Seite des Raums zu beleuchten. Hier ist daher ein die bisherigen Vorschläge zur Konzeption von Raum ergänzender Vorschlag für eine Denkvariante von Raum gemacht worden, der ihn in Richtung einer Integrationssemantik (unter zahlreichen anderen Integrationssemantiken) gestellt hat. Für ihn gilt – hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Aufgabe – das, was Don Mitchell über die Semantik der Kultur schreibt: eine „social imposition on an unruly world“87, ausgestattet mit der Aufgabe, die Welt zu ordnen; dort Übersicht und Ordnung zu prätendieren, wo beide längst nicht mehr auf den ersten Blick zu erkennen sind. Genau dies leisten raumbezogene Semantiken, die ein neues und 86 Vgl. auch Rosa: Beschleunigung, S. 166, 342. 87 Mitchell: „There’s No Such Thing as Culture“, S. 112.

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passendes Welt-Ordnungsangebot liefern. Ein neues Ordnungsangebot sind sie jedoch nur in dem Sinne, dass ihre Ordnungsleistung über räumliche Beschreibungsmodi bislang in den Sozialwissenschaften einfach nicht effektiv genutzt wurde und ihre Einführung jetzt unter dem Flaggschiff des spatial turn alle Vorzüge des Neuen genießt: Unbekanntheit, Selbstüberraschung und die damit verbundenen erhofften Innovationseffekte durch den Informationswert, der als Unterschied einen Unterschied macht88 und neue Kommunikationen ermöglichen und stimulieren soll.89 Der Erfolg des spatial turn in der Gesellschaft würde dann ganz wesentlich mit dem Reiz, den seine Entdeckung jetzt in wissenschaftlichen Kommunikationszusammenhängen hervorruft, verbunden und als ein autopoietisches Erzeugnis des Wissenschaftssystems bzw. bestimmter Subsysteme zu deuten sein. Vor diesem Hintergrund macht es durchaus Sinn, den spatial turn und die (Wieder-)Entdeckung raumbezogener Semantiken aus einem recht unaufgeregten Blickwinkel zu betrachten und – beispielsweise, aber nicht ausschließlich – auf das Funktionieren von Wissenschaft sowie auf „die sozialen Bedingungen der Ausbreitung und die damit verbundene Veränderung von Information“90 zu beziehen: Es geht um eine neue und ungenutzte Beschreibungsformel, die es den Sozialwissenschaften erlaubt, mit einem neuen und (außerhalb der Geographie) bislang vernachlässigten Ordnungsangebot aufzutrumpfen und gesellschaftliche Irritationen auszulösen. Nichtsdestotrotz steht dieses Ordnungsangebot in Reihe und ist koppelbar mit weiteren, aber eben älteren und abgenutzten Ordnungssemantiken: Kultur, Ethnie oder die Semantik der Klasse91, um nur einige weitere zu nennen. So würde schließlich die Renaissance des Raumes als Selbstbeschreibungsformel der Gesellschaft zurückfallen und einen anderen Blick auf diejenige erfordern, die wahre Selbstbeschreibungen der Gesellschaft produziert: die Wissenschaft.

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Raumbilder der Gesellschaft. Zur Räumlichkeit des Sozialen in der Systemtheorie ROLAND LIPPUNER

Eine bemerkenswerte Errungenschaft des so genannten spatial turn ist die Feststellung, dass der Raum in den Sozial- und Kulturwissenschaften fortwährend Thema war. Zum einen zeigt die Vielzahl von Theoriebezügen, die mit der raumtheoretischen Wende der Sozial- und Kulturwissenschaften (wieder-)hergestellt werden, dass die räumlichen Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, das Verhalten im (öffentlichen) Raum oder die soziale und kulturelle Aneignung des Raums von den Sozialwissenschaften auch in der Vergangenheit nicht unbeobachtet geblieben waren. Raumprobleme mögen zwar die meiste Zeit nicht im Zentrum soziologischer Debatten gestanden haben und vom Mainstream soziologischer Theorieentwicklung gerade neu entdeckt werden;1 in verschiedenen sozialund kulturwissenschaftlichen Disziplinen werden Raumfragen jedoch schon seit Langem diskutiert.2 Von einer Rückkehr oder Wiederentdeckung 1 2

Vgl. Löw: Raumsoziologie oder Schroer: Räume, Orte Grenzen. Bei den Gründervätern der modernen Soziologie treten der Raum und (natur-) räumliche Bedingungen zwar nur als Randdaten in Erscheinung. Vgl. den Beitrag von Werlen in diesem Band. Bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts greift jedoch Simmel die Frage nach der Bedeutung von Orten und Entfernungen für soziale Beziehungen auf, und in der so genannten Chicago School werden die Verteilung von sozialen Gruppen im Raum und deren Anpassung an räumliche Gegebenheiten zu zentralen Forschungsfeldern der Soziologie. Vgl. Simmel: „Soziologie des Raumes“; ders.: „Die Großstädte und das Geistesleben“; Burgess u.a.: The City. Einsichtsreiche Studien über das Verhalten im öffentlichen Raum liefert in den 1960er- und 1970erJahren u.a. Erving Goffman. Vgl. Goffman: Wir alle spielen Theater; ders.: Verhalten in sozialen Situationen; ders.: Das Individuum im öffentlichen Austausch. Die anhaltende Auseinandersetzung mit Raum in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen Stadtsoziologie und Sozialgeographie dokumentieren Peter Saunders (vgl. Saunders: Soziologie der Stadt) und Benno

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des Raums3 kann also schon insofern keine Rede sein, als der Raum an der Peripherie der Sozialwissenschaften fortwährend Thema und – im Falle der Sozialgeographie – disziplinbildender Gegenstand war. Zum anderen war der Raum auch dann mehr als nur ein unbedeutendes Randdatum, wenn er von der sozialwissenschaftlichen Forschung nicht in den Blick genommen wurde. Denn auch in sozialwissenschaftlichen Diskussionen, die sich nicht explizit um Raumprobleme drehten und in Forschungsarbeiten, bei denen Raumfragen nicht im Blickfeld standen, war Raum stets präsent, wurden räumliche Kategorien unhinterfragt für die Beschreibung der sozialen Welt benutzt. In diesem Sinne konstatiert beispielsweise Markus Schroer, dass „die soziologische Theoriebildung von den Klassikern bis heute eine Lokalitätsgebundenheit des Sozialen voraussetzt, das Soziale an konkrete Orte bindet und in Nahraumverhältnissen vermutet.“4 Ausdruck dieses sozialwissenschaftlichen Raumdenkens ist u.a. die nationalstaatliche Matrix, die den meisten soziologischen und vielen sozialwissenschaftlichen Beobachtungen zu Grunde liegt.5 Nach wie vor werden Gesellschaften von den Sozialwissenschaften in aller Regel im Plural gedacht und als territoriale oder regionale Einheiten begriffen, „so dass Brasilien eine andere Gesellschaft ist als Thailand, die USA eine andere als die Russlands, aber dann wohl auch Uruguay eine andere als Paraguay.“6 Diese Vorstellung findet sich prominent vertreten z.B. bei Anthony Giddens, der Gesellschaften als soziale Systeme bezeichnet, die sich „vor dem Hintergrund einer Reihe anderer systemischer Beziehungen […] reliefartig ‚herausheben‘“7. Obwohl Gesellschaften „keineswegs immer klar markierte Grenzen“ hätten, seien sie durch eine „Verbindung zwischen dem sozialen System und einem bestimmten Ort oder Territorium“ gekennzeichnet.8 Der Umfang von Gesellschaften stimme in der modernen Welt „sehr eng mit dem administrativen Geltungsbereich zentralisierter Regierungen“9, d.h. mit den Territorien von Nationalstaaten, überein.

3

4 5 6 7 8 9

Werlen (vgl. Werlen: Sozialgeographie). Zur Konjunktur des Raumbegriffs in den Sozial- und Kulturwissenschaften vgl. Konau: Raum und soziales Handeln. Es sei, so meinen z.B. Rudolf Maresch und Niels Werber, mit Blick auf die Sozial-, Kultur- und Medienwissenschaften, „weder zu leugnen noch zu übersehen“, dass der Raum „wieder da“ sei und „eine ungeahnte Renaissance“ erlebe (Maresch/Werber: „Permanenzen des Raums“, S. 7). Für die Soziologie konstatiert Martina Löw in ähnlicher Manier, dass diese ihre „Raumblindheit“ gerade überwinde und in jüngerer Zeit der „Vernachlässigung der Kategorie ‚Raum‘“ entgegenwirke (Löw: Raumsoziologie, S. 9f.). Schroer: Räume, Orte, Grenzen, S. 26. Vgl. Lossau/Lippuner: „Geographie und spatial turn“. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 25. Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft, S. 217. Ebd., S. 218. Ebd., S. 337.

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Ein erster Einwand gegen dieses sozialwissenschaftliche Raumdenken betrifft die Annahme, „dass soziale mit politischen und ökonomischen Räumen zusammenfallen und an den jeweiligen territorialen Grenzen der Staaten enden.“10 Gesellschaften und Kulturen werden dabei als territoriale Gebilde betrachtet, die mehr oder weniger klare räumliche Grenzen aufweisen. Oft treten sie sogar als „Raumgestalten“ in Erscheinung, die mit ihrem Territorium, der dort ansässigen Bevölkerung und der vorfindbaren „Natur“ zu Einheiten zusammengewachsen sind.11 Solche „Raumgestalten“ leben davon, dass sie „Nichträumliches (z.B. Soziales) als räumlichmateriell Fixierbares, Verankertes, Bedingtes, Verursachtes, Steuerbares, ja als weitgehend bis ganz und gar Räumliches oder Physisch-Materielles erscheinen […] lassen“.12 Soziale oder kulturelle Differenzen werden durch diese Verräumlichung zu scheinbar unumstößlichen „geographischen Gegebenheiten“; sie erscheinen dann als „in der Natur der Dinge“ liegende und daher unveränderbare „natürliche Grenzen“.13 Ein weiterer Einwand gegen dieses Raumdenken verweist auf das Verfallsdatum räumlich konnotierter Gesellschaftsbegriffe. Die Sozial- und Kulturwissenschaften würden Gesellschaften und Kulturen damit als etwas räumlich Begrenztes darstellen, wo doch die empirische Wirklichkeit der globalisierten Gegenwart permanent vor Augen führe, dass soziale Beziehungen scheinbar mühelos größte Distanzen überbrücken und auch nicht an den Grenzen von Nationalstaaten Halt machen. Nationale Gesellschaftsbegriffe und regionale Kulturkonzepte entsprächen deshalb nicht mehr den herrschenden Verhältnissen in der sozial-kulturellen Welt. Um sich „in der nichtintegrierten Vielfalt der grenzenlos gewordenen Welt begrifflich neu einzurichten und zu orientieren“14, müssten Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler alternative Konzepte und Theorien entwickeln – Theorien und Ansätze, die in der Lage seien, post- oder transnationale Gesellschaftsbilder zu zeichnen. Dieser Einwand stammt aus der Globalisierungsdebatte, lässt sich aber auch gegen einige der dort vertretenen Ansätze vorbringen. Er trifft auf jene Beschreibungen zu, die zwar eine Zunahme transnationaler (Kommunikations-)Beziehungen und eine Auflösung der „räumlichen Kammerung“ des sozialen Lebens registrieren, aufgrund der traditionellen, nationalen oder regionalen Bestimmung von Gesellschaft begrifflich jedoch hinter diesen Feststellungen zurückbleiben. Nach Ansicht von

10 Schroer: Räume, Orte, Grenzen, S. 46. Dieses raumzentrierte Denken scheint so verfestigt, dass man von einer „Raumfalle“ sprechen kann, in der große Teile der Sozialwissenschaften stecken. Vgl. Agnew: „The Territorial Trap“ oder Lippuner/Lossau: „In der Raumfalle“. 11 Werlen: Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen, Bd. 2, S. 44. 12 Hard: „Raumfragen“, S. 156. 13 Bourdieu: „Ortseffekte“, S. 160. 14 Beck: Was ist Globalisierung, S. 53.

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Niklas Luhmann hat z.B. Giddens in der „fast vollständigen Entkopplung von Raum und Zeit ein wichtiges, ja einzigartiges Merkmal der Moderne gesehen“; er zieht daraus aber nicht die Konsequenz, „dass es deshalb nur noch ein einziges System der Weltgesellschaft gibt“, das keine räumlichen Grenzen hat.15 Auch unter den Vorzeichen von Globalisierung, raum-zeitlicher Entankerung (disembedding) und De-Lokalisierung wird die soziale Welt kaum je anders als durch jene raumwissenschaftliche Brille betrachtet, die den Blick auf Nationalgesellschaften und Kulturräume (regionale Kulturen und Kulturerdteile) lenkt. In seiner eigenen Theorie, der Theorie sozialer Systeme, bemüht sich Luhmann, einen solchen Raumbezug zu vermeiden. Die Systemtheorie sei, so fordert er, „als Grundlage der Gesellschaftstheorie so zu formulieren, dass sie bei der Bestimmung der Gesellschaftsgrenzen nicht auf Raum und Zeit angewiesen ist.“16 Deshalb nimmt die Systemtheorie, wie kaum eine andere Sozialtheorie, von räumlichen Gesellschaftsbegriffen Abstand. Das hat die Kommentatoren von Luhmanns Werk verschiedentlich zu der Äußerung veranlasst, dass der Raum in der Systemtheorie nicht vorkomme – zumindest nicht an strategisch bedeutsamer Stelle: „In Luhmanns Theorie sozialer Systeme spielt der Raum erkennbar keine herausragende Rolle.“17 Die folgenden Ausführungen werden dieses Urteil in Zweifel ziehen und stattdessen behaupten, dass die Systemtheorie durch einen unvorhergesehenen Raumbezug ihrer Zentralbegriffe in Verlegenheit gerät. Entgegen anders lautenden Beteuerungen werden soziale Systeme in Luhmanns Darstellungen immer wieder geerdet, im Raum lokalisiert oder auf Territorien projiziert. Bezeichnenderweise ereignet sich diese Verräumlichung sozialer Systeme vor allem im Zusammenhang mit der Erörterung von so genannten Verbreitungsmedien – also im Zusammenhang mit jenen raumüberwindenden Einrichtungen (Schrift, Buchdruck, Telefon, elektronische Kommunikation), die als Generatoren der Globalisierung den Raum scheinbar zum Verschwinden bringen. Diesem Zusammenhang ist der folgende erste Abschnitt gewidmet. Im zweiten Abschnitt wird die Weltgesellschaft als jene atopische Konzeption in den Blick genommen, die den Gesellschaftsbegriff von räumlichen Konnotationen zu befreien scheint. Die Weltgesellschaft ist hinsichtlich ihrer Ausdehnung grenzenlos und weist eine interne Ausdifferenzierung funktionaler Teilsysteme auf, die weder eine Ausbildung von erdräumlichen Regionen noch eine Aufteilung von Territorien impliziert. Anhand der Differenzierung der Gesellschaft entlang so genannter Erfolgsmedien (Recht, Macht, Glauben, Wahrheit usw.) wird im letzten Abschnitt jedoch gezeigt, dass die Systemtheorie 15 Luhmann: Beobachtungen der Moderne, S. 166. 16 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 30. 17 Schroer: Räume, Orte, Grenzen, S. 132. Vgl. auch Stichweh: Die Weltgesellschaft, S. 184.

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auch dann ein Raumbild der Gesellschaft produziert, wenn sie nicht mit der Räumlichkeit des Sozialen rechnet; wenn sie behauptet, dass Soziales nicht räumlich verortet sei und keine räumlichen Grenzen habe.18

1 Verbreitungsmedien Schon in seinen frühen Arbeiten über die Theorie sozialer Systeme betont Luhmann, dass sich die Grenzen sozialer Systeme nicht als „invariante Zustände des physischen Substrats“ definieren lassen, „etwa nach der Art von Mauern, die eingrenzen, oder nach Art abzählbarer physischer Objekte, etwa Menschen, die dazugehören bzw. nicht dazugehören“.19 Soziale Systeme bestehen, wie Luhmann später präzisiert, aus rekursiv vernetzter Kommunikation; deshalb seien sie „überhaupt nicht im Raum begrenzt“, sondern hätten „eine völlig andere, nämlich rein interne Form von Grenze.“20 Für soziale Systeme sind Grenzen „keine materiellen Artefakte, sondern Formen mit zwei Seiten“21, d.h. systemintern, durch Kommunikation produzierte Differenzen. Dabei ist die äußere Systemgrenze „nichts anderes als die selbstproduzierte Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz, und sie ist als solche in allen Kommunikationen präsent.“22 Physisch-materielle Grenzen entfallen bei sozialen Systemen, weil soziale Systeme nach Auffassung der Systemtheorie Luhmanns nicht aus Menschen und materiellen Artefakten – auch nicht aus den Beziehungen zwischen Individuen – bestehen, sondern aus Kommunikation und aus nichts anderem als Kommunikation. Kommunikation ist nach systemtheoretischer Auffassung eine kontingente Synthese aus den selbst kontingenten Selektionen einer Information, eines Mitteilungsverhaltens und eines Anschlussverhaltens (Verstehen). Sie kann räumlich verortete, materielle Referenten haben, ist aber selbst nichts Räumliches.23

18 Gerhard Hard und Julia Lossau waren bei der Anfertigung dieses Textes mit konstruktiven Kritiken und Hinweisen sehr hilfreich. Ihnen möchte ich an dieser Stelle herzlich danken. 19 Luhmann: „Soziologie als Theorie sozialer Systeme“, S. 620. 20 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 76. Zwar kann ein aktuell stattfindendes Kommunikationsgeschehen eine begrenzte räumliche Reichweite haben, und es kann auch durch Wände von einem anderen Kommunikationsgeschehen getrennt sein, damit ist aber nicht ausgeschlossen, dass dieses lokale Kommunikationsgeschehen im nächsten Moment durch Beiträge von weit entfernten (oder nahe liegenden) Orten ergänzt wird (oder dass die Tür aufgeht und jemand aus dem Zimmer nebenan sich einschaltet, das Thema aufgreift, weiterführt oder verändert). 21 Ebd., S. 45. 22 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 77. 23 Vgl. Klüter: Raum als Element sozialer Kommunikation.

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Der Begriff der Gesellschaft ist in Luhmanns Theorie für dasjenige soziale System reserviert, das alle Kommunikation und damit alle anderen sozialen Systeme einschließt. Dieses umfassende Sozialsystem hat, wie alle sozialen Systeme, keine territorialen Ausmaße. Gesellschaft ist, aufgrund der systemtheoretischen Definition sozialer Systeme, nicht im Raum begrenzt, sondern konstituiert ihre Grenzen durch Kommunikation im Medium Sinn: „Für alle Teilsysteme der Gesellschaft sind Grenzen der Kommunikation (im Unterschied zu Nichtkommunikation) die Außengrenzen der Gesellschaft. Darin, und nur darin, kommen sie überein. An diesen Außengrenzen muss und kann alle interne Differenzierung anschließen, indem sie für die einzelnen Teilsysteme unterschiedliche Codes und Programme einrichtet. Sofern sie kommunizieren, partizipieren alle Teilsysteme an der Gesellschaft. Sofern sie in unterschiedlicher Weise kommunizieren, unterscheiden sie sich.“24

Dementsprechend gelten, aus Sicht der Systemtheorie, regionalistische oder nationale Gesellschaftsbegriffe als „theoretisch nicht mehr satisfaktionsfähig“25. Luhmann begründet die Unzulänglichkeit regionalistischer Gesellschaftsbegriffe unter anderem damit, dass „weltweite Interdependenzen heute in alle Details des gesellschaftlichen Geschehens ein[greifen].“26 Es ist also (neben der begrifflichen Bestimmung der Gesellschaft als Kommunikationssystem) die aktuelle Verfassung der sozialen Wirklichkeit, die laut Luhmann der Vorstellung widerspricht, Gesellschaften seien regional begrenzte (homogene) Gebilde. Die gegenwärtig herrschenden Lebensbedingungen erzwingen demnach eine Revision des Gesellschaftsbegriffs. Für Luhmann zeigt sich nämlich auch empirisch, dass „Raumdistanzen und Raumgrenzen ihren restringierenden Charakter“27 verloren haben: „Landschaft wird zum Gegenstand ‚subjektiven‘ Genusses, Heimat wird zum Thema ‚nostalgischer‘ Klage. […] Der Aufenthalt an bestimmten Orten wird zu einem kontingent erfahrenen Resultat von Reisen, Umzügen, Wanderungsbewegungen, und die räumlichen Sonderbedingungen, die man irgendwo und überall vorfindet, verlangen eine Anpassung des Verhaltens, der sich der Einzelmensch durch Beweglichkeit und durch Substitution anderer Bedingungen entziehen kann. Wenn dies zur gesellschaftlichen Normalbedingung geworden ist, muss auch die soziologische Theorie dem angepasst werden.“28

24 25 26 27 28

Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 150. Ebd., S. 31. Ebd., S. 30. Ebd., S. 315. Ebd.

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Verantwortlich für die schwindende Bedeutung von Orten und Distanzen seien in erster Linie das Ausmaß der Migration, „die zunehmende Reisetätigkeit“29 und so genannte Verbreitungsmedien, namentlich Schrift und Buchdruck, Presse, Telefon, Rundfunk und Fernsehen, aber auch elektronische Kommunikationsmittel (Email und Internet). Ein wesentlicher Effekt dieser Verbreitungsmedien besteht gemäß Luhmann in der „räumlichen und zeitlichen Entkoppelung von Mitteilung und Verstehen und in der gewaltigen Explosion von Anschlußmöglichkeiten, die dadurch eintritt.“30 Verbreitungsmedien machen kommunikative Anschlüsse über den aktuellen Kontext von Anwesenden hinaus möglich. Dadurch können „viel mehr Personen mit einer Kommunikation erreicht werden, als dies bei Beschränkung auf Anwesenheit möglich wäre.“31 Mit dem Einsatz von Verbreitungsmedien sei aber auch ein „Zurücktreten der Notwendigkeit räumlicher Integration“32 verbunden. Unter Integration fasst die Systemtheorie allgemein eine Reduktion der Freiheitsgrade von Systemen, die entsteht, wenn verschiedene Systeme ihre Operationen zeitweilig aufeinander abstimmen. Diese Einschränkung der Möglichkeiten, die Systeme realisieren können, beruht auf der „beweglichen, auch historisch beweglichen Justierung der Teilsysteme im Verhältnis zueinander.“33 Sie kommt dadurch zustande, „dass sich Anschlüsse einspielen – Anschlüsse von Operationen an Operationen oder Anschlüsse von Operationen an Strukturen“34. Auf diese Weise werden Systeme „kontinuierlich integriert und desintegriert, nur momenthaft gekoppelt und sofort für eigenbestimmte Anschlussoperationen wieder freigestellt.“35 Räumliche Integration im Speziellen bedeutet, dass die kommunikativen Möglichkeiten, die Systeme realisieren können (deren Freiheitsgrade), von der Stelle im Raum abhängen, an der die Systeme operieren. Wenn vom „Schwinden räumlicher Integration“36 die Rede ist, geht es also darum, dass die Operationen sozialer Systeme immer weniger „von den jeweils besonderen lokalen Bedingungen“37 abhängen. Durch den Einsatz von Verbreitungsmedien werden diese Abhängigkeit und damit die räumliche Kammerung der Gesellschaft nach und nach aufgehoben. Es wird also angenommen, dass soziale Systeme immer weniger von Gegebenheiten der physischen Geographie und von Distanzrelationen geprägt sind,

29 30 31 32 33 34 35 36 37

Ebd. Ebd., S. 266. Ebd., S. 269. Ebd., S. 314. Ebd., S. 604. Ebd., S. 602. Ebd., S. 606. Ebd., S. 315. Ebd., S. 314.

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weil Verbreitungsmedien die restriktive Wirkung von lokalen Besonderheiten, physischen Grenzen und lagebedingten Entfernungen ausschalten.38 Auf den ersten Blick spricht wenig gegen diese Diagnose. Im Gegenteil, das „Grenzenloswerden alltäglichen Handelns in den verschiedenen Dimensionen der Wirtschaft, der Information, der Ökologie, der Technik, der transkulturellen Konflikte und Zivilgesellschaft“39 wird in den Sozialund Kulturwissenschaften als weitgehend unumstrittene Tatsache hingenommen. Es handelt sich um einen Gemeinplatz vieler Globalisierungstheorien, über den Armin Nassehi bemerkt: „Die Formel könnte heißen: In der globalisierten Moderne hängt alles irgendwie mit allem zusammen.“40 Die empirische Beobachtung einer zunehmenden Entankerung oder Entgrenzung scheint zunächst auch zu den systemtheoretischen Vorgaben zu passen, nach denen soziale Systeme keine räumliche Existenz und keine räumlichen Grenzen haben. Sie scheint der systemtheoretischen Konzeption von sozialen Systemen zusätzlich Plausibilität zu verleihen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass Luhmann mit dieser Beobachtung seine eigenen theoretischen Vorgaben untergräbt, denn diese Diagnose setzt voraus, dass soziale Systeme prinzipiell im Raum verankert und von räumlichen Bedingungen abhängig, also im weiteren Sinne räumlich begrenzt sind. Nur wenn sozialen Systemen eine räumliche Ausdehnung und räumliche Grenzen zugesprochen werden, kann man zu der Feststellung gelangen, dass die Abhängigkeit von den lokalen Bedingungen immer geringer und die räumliche Kammerung des Sozialen zunehmend aufgehoben wird. Luhmanns Theorie oszilliert zwischen zwei Logiken: Einerseits nimmt sie an, dass die Grenzen sozialer Systeme Produkte kommunikativer Operationen sind – und somit nichts, „was schon als Gegenstand oder Struktur in der physisch-materiellen Welt (z.B. an der Erdoberfläche) herumstünde.“41 Das gilt erst recht für die Grenzen der Gesellschaft: „Sie trennen Kommunikation von allen nichtkommunikativen Sachverhalten und Ereignissen, sind also weder territorial noch an Personengruppen fixierbar.“42 Andererseits begründet Luhmann die Unzulänglichkeit räumlich konnotierter Gesellschaftsbegriffe mit Ausführungen über die empirische Wirklichkeit der globalisierten Gegenwart. Darin wird die Unabhängigkeit sozialer Systeme von räumlichen Bedingungen als vorläufiges Ende in einem Prozess der Loslösung dargestellt, der von einer ausgeprägten Raumgebundenheit des Sozialen (etwa in Stammesgesellschaften, in denen 38 Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 557. Für das tägliche Leben in der Gegenwart gilt laut Luhmann: „Immer weniger bestimmen lokale Gegebenheiten die Lebensführung“ (Luhmann: Beobachtungen der Moderne, S. 18). 39 Beck: Was ist Globalisierung, S. 44. 40 Nassehi: „Globalisierung“, S. 23. 41 Hard: „Raumfragen“, S. 131. 42 Luhmann: Soziale Systeme, S. 557.

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gesellschaftliche Differenzierung mit der Aufteilung des Siedlungsraums korrespondiert43) bis zur funktional differenzierten Gesellschaft reicht, deren Differenzierung sich überhaupt nicht mehr im Raum abspielt. Die Systemtheorie gerät mit dieser evolutionstheoretischen Darstellung „in das Fahrwasser all der sentimentalistischen Selbstbeschreibungen, die von Anbeginn an zur Moderne gehören.“44 Sie wird zu einer Schilderung des Verlusts von Nähe und Erfahrungsunmittelbarkeit, „über den moderne Autoren klagen, seitdem sie sich über die Irreversibilität des Geschichtsverlaufs Rechenschaft geben.“45 Ein solcher Bedeutungsverlust des Lokalen für die Konstitution des Sozialen kann aus Sicht der Systemtheorie aber nur dann postuliert werden, wenn soziale Systeme als räumlich verankert, von räumlichen Bedingungen abhängig oder im Raum lokalisierbar begriffen werden. Genau diese Raumgebundenheit wird jedoch von der Systemtheorie, die Kommu43 Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 606, 666. 44 Koschorke: „Die Grenzen des Systems und die Rhetorik der Systemtheorie“, S. 60. 45 Ebd. Koschorke analysiert dieses Oszillieren zwischen zwei Logiken in Bezug auf die operative Geschlossenheit sozialer Systeme (Autopoiesis). Er zeigt, dass Luhmann die Entstehung selbstreferentiell geschlossener Systeme unter dem Gesichtspunkt der „Differenzierung“ als zeitabhängigen Evolutionsprozess der „Abnahme von Fremdkausalität“ bzw. als „Zunahme von Eigenkausalität“ beschreibt (ebd., S. 57). Gleichzeitig ist die operative Geschlossenheit sozialer Systeme aber die Voraussetzung für Systemdifferenzierung. Autopoiesis hat also in Luhmanns Theoriekonzeption zwei miteinander unvereinbare Positionen inne: „Autopoiesis kommt bei Luhmann in zwei unterschiedlichen Bestimmungen vor: erstens als Ergebnis von sozialer Evolution durch funktionale Differenzierung; zweitens aber als Voraussetzung desselben Prozesses. Voraussetzung, insofern Autopoiesis einer simplen Alternative gehorcht: entweder sie findet statt oder nicht. Sie hat keinen Anfang […]“ (ebd., S. 56). Aufgrund dieser „Doppelkonditionierung“ komme es unter der „oft fugenlos scheinenden Textoberfläche“ der Systemtheorie fortwährend zu „‚illegalen‘ Grenztransfers“ (ebd., S. 58). Dabei werden Elemente in die Theorie geschmuggelt, für die es in der Systematik der Theorie eigentlich keinen Platz gibt: z.B. der Anfang und der graduelle Zuwachs von Autopoiesis oder die Überwindung des Raums durch soziale Systeme. Koschorke führt das Auftreten „derartiger Nicht-mehr-Konstruktionen“ darauf zurück, dass bei Luhmann „im Schatten des rigiden Systematikers“ stets ein evolutionstheoretischer Erzähler steht (ebd., S. 59f.), der den Zwängen der Narration ausgesetzt ist. „Wer Evolutionsgeschichte erzählt, kann vermutlich nicht anders erzählen. Dem Vergangenen kommt seine direkte Referentialität nicht aus substantiellen, sondern erzähltechnischen Gründen zu. In evolutionären Wissenssystemen ist Referenz offenbar nur als Ausgangspunkt der das System konstituierenden Prozedur, als ein durch seine Einholung in die Welt der Zeichen fortschreitend distanziertes Relikt beschreibbar. Semiosen, Zeichenketten, lassen das Bezeichnete retrospektiv, als ein ihnen vorausliegendes Wesen, erscheinen. Der Referent ist dann das, woran sich das Wissen erinnert. Und wenn es von seinen Erinnerungen erzählt, gestaltet es die operative Zeitdifferenz, durch die es sich selbst generiert, zu einem Mythos vom Schwinden der Referentialität um“ (ebd., S. 60).

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nikationen als Letzteinheiten sozialer Systeme betrachtet, grundsätzlich verneint. Die Auseinandersetzung mit Raumfragen bringt die Systemtheorie in Verlegenheit, weil sie auf der allgemeinen Ebene der Theorie sozialer Systeme nicht mit der Räumlichkeit sozialer Systeme rechnet, bei der Thematisierung von Verbreitungsmedien aber nicht umhin kommt, soziale Systeme implizit als etwas Räumliches bzw. Raumüberwindendes zu behandeln.

2 Weltgesellschaft Von Seiten der Systemtheorie wird zuweilen argumentiert, dass der Begriff der Weltgesellschaft aus dieser Verlegenheit heraushelfe. Nach Ansicht von Nassehi führt das Konzept der Weltgesellschaft „zumindest soziologisch grundbegrifflich das zu Ende, was sich die meisten Konzepte der Globalisierung nicht zumuten: dass mit der Expansion sowohl ökonomischer wie politischer, rechtlicher, wissenschaftlicher, religiöser, ästhetischer und kultureller Interdependenzketten Grenzen nicht als theoretische Matrix für die Dimensionen der Globalisierung verwendet werden können, weil sie selbst Globalisierungsfolgen sind.“46 Oft scheint mit dem Begriff der Weltgesellschaft jedoch nichts anderes gemeint als ein globales Kommunikations- oder Beziehungswesen. Kneer/ Nassehi sprechen z.B. von der „erdumspannenden Gesamtheit aller möglichen Kommunikation“47. Auch Luhmann macht verschiedentlich empirische Argumente geltend, nur (noch) von einer Gesellschaft auszugehen, die „weltweit dezentral und konnexionistisch über Netzwerke kommuniziert“48. An anderer Stelle betont er jedoch, dass es nicht darum gehe, dass die Gesellschaft „heute das größtmögliche Gebiet, nämlich den gesamten Erdball umspannt.“49 Mit Weltgesellschaft ist offenbar doch nicht das globale Dorf gemeint. Das zeigt dann auch eine genauere Betrachtung der beiden Begriffskomponenten Welt und Gesellschaft. „Welt“ ist nach systemtheoretischem Verständnis „das Korrelat der Identität von Sinn“50, wobei Sinn „in der Differenz von aktual Gegebenem und auf Grund dieser Gegebenheit Möglichem“51 sein konstituierendes 46 Nassehi: „Globalisierung“, S. 25. 47 Kneer/Nassehi: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, S. 155. Für Niels Werber haben Luhmann und Stichweh mit dem Begriff der Weltgesellschaft ein Konzept vorgelegt, das der Tatsache Rechnung trägt, „dass es zur Zeit nur eine einzige Gesellschaft gibt, in der mit potenziell globaler Reichweite kommuniziert wird“ (Werber: „Medien in Medien der Weltgesellschaft“, S. 112). Vgl. dazu auch Willke: Atopia. 48 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 31. 49 Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 619. 50 Luhmann: Soziale Systeme, S. 283. 51 Ebd., S. 111.

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Prinzip hat: „Sinn besagt, dass an allem, was aktuell bezeichnet wird, Verweisungen auf andere Möglichkeiten mitgemeint und mitgefasst sind.“52 Sinnhafte Operationen verweisen indirekt immer auch auf das, was nicht aktualisiert wird; sie reproduzieren „immer auch die Anwesenheit des Ausgeschlossenen“53. Mit jeder sinnhaften Operation geht ein Verweisungsüberschuss einher, durch den die Welt als „Letzthorizont allen Sinns“54 angezeigt wird.55 Die Welt ist, mit anderen Worten, die stets mitgeführte „andere Seite aller Sinnformen“56: „Jede Unterscheidung repräsentiert dann Welt, indem ihre andere Seite das mitführt, was im Moment nicht bezeichnet wird.“57 Dass die Welt nur als Verweisungsüberschuss repräsentiert werden kann, gilt auch, „wenn in der Welt Weltbegriffe, Weltbeschreibungen, weltreferierende Semantiken gebildet werden, denn auch dies muss in einer sinnhaften Operation geschehen, die das, was sie bezeichnet, von etwas anderem unterscheidet“58. Jeder Versuch, die Einheit der Welt zu beschreiben (zu unterscheiden und zu bezeichnen), fällt in die Welt und dehnt den Rand der Verweisungszusammenhänge weiter aus.59 Für unterscheidungsabhängige Beobachter ist die Einheit der Welt deshalb nicht beobachtbar. Sie ist ein „unvermeidlicher Begleiteffekt“ des Beobachtens, „aber zugleich ein nicht bezeichenbarer Paramount“.60 Aussagen über die Welt erweisen sich letztlich als Aussagen über etwas Unbeobachtbares.61 52 53 54 55 56 57

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Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 48. Ebd., S. 49. Luhmann: Soziale Systeme, S. 105. Vgl. Stäheli: Sinnzusammenbrüche, S. 66. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 54. Ebd., S. 59. Die Welt ist aus Sicht der Systemtheorie also ein Korrelatbegriff für die Einheit von Aktualität und Potentialität – von aktuell Bezeichnetem und allen aufgrund dieser Bezeichnung möglichen Bezeichnungen. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 55. „Jeder Versuch, sie gedanklich zu überschreiten, weitet sie nur aus; er muss Sinn und Welt in Anspruch nehmen und somit das sein, was nicht zu sein er sich bemüht. Husserl hat diesen Sachverhalt, ohne die Selbstreferenz allen Sinns durchzuanalysieren, mit der Metapher des ‚Horizontes‘ umschrieben“ (Luhmann: Soziale Systeme, S. 105). Fuchs: „Vom Unbeobachtbaren“, S. 71. Die Welt ist „das Unbeobachtbare schlechthin“ (Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 57). Da jedes sinnhaft operierende System durch den Einsatz beobachtungsleitender Unterscheidungen die Welt als Potentialität aller Sinnunterscheidungen je für sich aufspannt, entsteht „eine Vielheit von Kontexturen, die nicht zur Einheit einer Welt addiert werden können“ (Fuchs: „Vom Unbeobachtbaren“, S. 69). Sinnsysteme, die die Unterscheidung von System und Umwelt sowohl benutzen als auch reflektieren und über Umwelt nachdenken oder kommunizieren, gewinnen die Welt als „Sinneinheit der Differenz von System und Umwelt“ (Luhmann: Soziale Systeme, S. 283). Der Weltbegriff bezeichnet demzufolge eine Einheit, „die nur für Sinnsysteme aktuell wird, die sich von ihrer Umwelt zu unterscheiden vermögen und daraufhin die Einheit dieser Differenz reflektieren als

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Die Welt ist nach systemtheoretischem Verständnis also kein Raum, sondern ein Horizont – der Horizont aller möglichen Sinnverweisungen. Folglich geht es bei der Rede von der Weltgesellschaft auch nicht um die Erde oder um ein globales Kommunikations- und Beziehungsgeflecht, sondern um „das Sich-ereignen von Welt in der Kommunikation.“62 Die Gesellschaft, der zweite Teil des Begriffs Weltgesellschaft, ist nach systemtheoretischer Auffassung das umfassende Sozialsystem, das alle anderen Sozialsysteme und damit alle Kommunikation in sich einschließt.63 Vor dem Hintergrund der Auffassung, dass die Welt durch den Verweisungsüberschuss sinnförmiger Operationen (Kommunikation) angezeigt wird, kann das dahingehend zugespitzt werden, dass Gesellschaft immer Weltgesellschaft ist. Jede Kommunikation vollzieht sich „in Gesellschaft“ weiterer Kommunikationsmöglichkeiten, also in der Weltgesellschaft. Dementsprechend liest man bei Luhmann dann auch: „Geht man von Kommunikation als der elementaren Operation aus, deren Reproduktion Gesellschaft konstituiert, dann ist offensichtlich in jeder Kommunikation Weltgesellschaft impliziert, und zwar ganz unabhängig von der konkreten Thematik und der räumlichen Distanz zwischen Teilnehmern. Es werden immer weitere Kommunikationsmöglichkeiten vorausgesetzt und immer symbolische Medien verwendet, die sich nicht auf regionale Grenzen festlegen lassen. Dies gilt selbst für die Bedingungen, unter denen man über territoriale Grenzen spricht. Denn auf der anderen Seite jeder Grenze gibt es wiederum Länder mit Grenzen, die ihrerseits eine andere Seite haben.“64

Gesellschaft kommt in der Systemtheorie also nur als Weltgesellschaft vor. Das hat jedoch nichts damit zu tun, dass einzelne kommunikative Operationen über große Distanzen hinweg realisiert werden. „Es geht […] nicht darum, dass alles alles auf einem Globus beeinflussen kann und beeinflußt“, sondern vielmehr „um die Nicht-Stillstellbarkeit von Horizonten welchen Unterscheidungsgebrauchs auch immer.“65 Weltgesellschaft scheint also weder räumlich begrenzt noch entgrenzt zu sein. Sie ist weder lokal noch global! Entscheidend für die Annahme einer Weltgesellschaft ist nicht die Feststellung, dass einzelne Interaktionen große räumliche und zeitliche Distanzen überspannen, sondern vielmehr die Behauptung, „dass in jeder einzelnen Interaktion ein ‚Und so weiter‘ anderer Kontakte der Teilnehmer präsent ist und dies die Möglichkeit weltweiter Verflechtungen eröffnet, eine Möglichkeit, die wiederum

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Einheit, die zwei Unendlichkeiten, die innere und die äußere, umfasst“ (ebd., S. 284). Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 150. Vgl. ebd., S. 78. Ebd., S. 150. Fuchs: „Vom Unbeobachtbaren“, S. 71.

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als Selektivitätsbewusstsein in der einzelnen Interaktion relevant wird und auf diese Weise in die Interaktionssteuerung eingreift.“66 Peter Fuchs hat darauf hingewiesen, dass die Annahme, die Gesellschaft sei das umfassende Sozialsystem, einen HinterSinn hat, der von einer problematischen Räumlichkeit ist: „Das Einschließen und Umgreifen ist hier eine Totalitätsmetapher, die auf das Ganze, die Gesamtheit zielt und daraus einen Mehrwert erwirtschaftet: Das Ganze sei mehr als die Summe seiner Teile. Ebendieses Ganzes/Teil-Schema ist durch die (das Werk Luhmanns organisierende) Annahme erledigt worden, dass alle Aufmerksamkeit der Differenz von System und Umwelt zu gelten habe und dem System als Einheit dieser Differenz. Das System ist nicht ein Etwas-an-undfür-sich, und entsprechend sind das Umgreifen und das Umfassen nicht ein Wesensmerkmal einer Ganzheit.“67

Deshalb müsse geklärt werden, „was dieses Umfassen […] unter nichtontologischen Analysebedingungen bedeuten kann.“68 Da soziale Systeme nach systemtheoretischer Auffassung ausschließlich aus Kommunikation bestehen, ist das umfassende Sozialsystem, „das alle anderen Sozialsysteme in sich einschließt“69, genau eines: Kommunikation. Mit anderen Worten, der gemeinsame Nenner von ökonomischer, wissenschaftlicher, religiöser, rechtlicher, künstlerischer und anderer Kommunikation ist, dass sie Kommunikation ist. Gesellschaft wäre unter systemtheoretischen Vorzeichen also nur ein Ausdruck dafür, „dass es Kommunikation gibt.“70 Genauer: Sie wäre „nichts weiter als […] die Bezeichnung dafür, dass es einen Unterschied zwischen einer Existenz und einer Nichtexistenz gäbe, zwischen einem Beobachten-als- und einem Nicht-Beobachten-als-Kommunikation.“71 Wenn Gesellschaft darüber hinaus ein Attribut von Kommunikation sein soll, dann kommt dafür, laut Fuchs, nur die Abwesenheit von Sinnspezifik in Frage: „Jede Kommunikation ist gesellschaftlich, wenn genau davon abgesehen wird, wovon sie handelt, worüber sie spricht, woran sie anschließt, welche Folgen sie hat.“72 Die Spezifizierung, die man vornimmt, wenn man von der Gesellschaft als dem umfassenden Kommunikationssystem spricht und Kommunikation damit als gesellschaftlich kennzeichnet, besteht in der Abstraktion von Thematik oder Bedeutung. Kommunikation, bei der es um Geld und Eigen66 Stichweh: Die Weltgesellschaft, S. 17. Vgl. Luhmann: Soziologische Aufklärung 2, S. 53f., 67. 67 Fuchs: Die Metapher des Systems, S. 111. 68 Ebd. 69 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 78. 70 Fuchs: Die Metapher des Systems, S. 111. 71 Ebd., S. 111. 72 Ebd., S. 112.

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tum geht, ist wirtschaftliche Kommunikation; Kommunikation, bei der es um Wahrheit geht, ist wissenschaftliche Kommunikation; Kommunikation, bei der es um Glauben und Erlösung im Jenseits geht, ist religiöse Kommunikation; Kommunikation bei der es um Recht und Unrecht geht, ist rechtliche Kommunikation usw. Gesellschaftliche Kommunikation wäre Kommunikation, bei der es um nichts Besonderes geht. Genauer gesagt: Kommunikation ist gesellschaftlich, wenn davon abgesehen wird, worum es dabei geht. „Das Ab-Straktum, das, was abgezogen ist, wenn es um Gesellschaft geht, ist jegliche Thematizität. Jede Kommunikation ist, so könnte man auch sagen, gesellschaftlich, wenn sie beobachtet wird: als Geplapper.“73 Das Spezifikum von Kommunikation als Gesellschaft ist ihre Unspezifik. Gesellschaft umfasst alle Arten von Kommunikation bzw. jedweden Unterscheidungsgebrauch; sie besteht, mit anderen Worten, „aus dem Zusammenhang derjenigen Operationen, die insofern keinen Unterschied machen, als sie einen Unterschied machen.“74

3 Erfolgsmedien Sinnspezifik, Thematik und Bedeutungen kommen erst durch den Gebrauch von Medien ins Spiel. Neben Sprache und dem Verbreitungsmedium Schrift sorgen in erster Linie symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien für eine derartige Differenzierung der Kommunikation. Sprache ist laut Luhmann das „grundlegende Kommunikationsmedium, das die reguläre, mit Fortsetzung rechnende Autopoiesis der Gesellschaft garantiert.“75 Sie reagiert nach dem Verständnis der Systemtheorie auf eine allgemeine Unsicherheit des kommunikativen Geschehens, die sie gleichzeitig selber erzeugt: auf die Möglichkeit „des Irrtums und der Täuschung“76 – darauf, dass einer mitgeteilten Information unter Umständen keine Aufmerksamkeit geschenkt wird, weil sie belanglos, unaufrichtig, falsch etc. sein könnte. Die Sprache ermöglicht eine Handhabung dieses Problems, die gerade nicht auf das Festzurren des Sinns hinausläuft, sondern einen Aufschub impliziert.

73 Ebd. 74 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 91. 75 Ebd., S. 205. Luhmann reduziert Sprache auf eine vergleichsweise einfache Struktur, auf einen binären Code, der „für alles, was gesagt wird, eine positive und eine negative Fassung zur Verfügung stellt“ (ebd., S. 221). Diese binäre Struktur ermöglicht es, „etwas Mitgeteiltes zu bezweifeln, es nicht anzunehmen, es explizit abzulehnen und diese Reduktion verständlich auszudrücken, also in den Kommunikationsprozess selbst wieder einzubringen“ (ebd., S. 225). 76 Ebd., S. 205.

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„Die allgemeine Unsicherheit im Hinblick auf Fehlgebrauch von sprachlichen Zeichen wird durch Codierung in eine Bifurkation von Anschlussmöglichkeiten transformiert. Die weitere Kommunikation kann dann entweder auf Annahme oder auf Ablehnung gegründet werden. Es gibt nur diese beiden Möglichkeiten; aber eben deshalb kann man auch Unterschiedenheit zum Ausdruck bringen oder die Entscheidung aufschieben und der weiteren Kommunikation überlassen.“77

Sprachliche Codierung macht, mit anderen Worten, den Selektionsprozess intern steuerbar. Sie macht die Differenz von Information und Mitteilung nicht nur verfügbar, sondern ermöglicht deren reflexive Kontrolle und damit letztlich die selbstreferentielle Schließung von Systemen. Der entscheidende Beitrag der sprachlichen Codierung für die Autopoiesis von Kommunikationssystemen besteht also darin, dass sie Kommunikation auf die Alternativen Annehmen oder Ablehnen zuspitzt und dieses Problem in die Kommunikation zurücklegt: „Weder der Sprecher noch der Hörer kann den Tatbestand der Kommunikation als solchen leugnen. Man kann ihn allenfalls missverstehen oder schwer verstehen oder interpretieren oder sonstwie nachträglich über Kommunikation kommunizieren. Die Probleme der Kommunikation werden in die Kommunikation zurückgeleitet. Das System schließt sich. […] Die an sich unwahrscheinliche Autopoiesis eines Kommunikationssystems wird auf diese Weise wahrscheinlich.“78

Durch sprachliche Codierung wird die Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen wahrscheinlich und dadurch jene Situation geschaffen, in der Annahme oder Ablehnung von Kommunikation überhaupt möglich sind. Gleichzeitig erhöht die Sprache aber das Risiko des Abbrechens von Kommunikation. Gerade die Sprache ermöglicht es auch, dass etwas bezweifelt, abgelehnt, nicht angenommen wird, dass keine daran anschließende Kommunikation stattfindet. Das Problem der Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation wird durch den binären Code der Sprache zwar strukturiert, aber nicht gelöst. Auf die durch Sprache gesteigerte Kontingenz und die dadurch bedingte Unsicherheit bezüglich der Annahme von Kommunikation reagieren „Zusatzeinrichtungen in der Form weiterer symbolischer Codes“79, so genannte Erfolgsmedien, die die Kommunikation strukturieren und kontingente Kommunikationsofferten mit Annahmechancen ausstatten.80

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Ebd., S. 226. Ebd., S. 212. Luhmann: Soziologische Aufklärung 2, S. 173. Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 316ff.

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In der modernen Weltgesellschaft übernehmen symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien diese Funktion.81 Das sind jene Medien, entlang derer die Ausdifferenzierung der primären gesellschaftlichen Funktionssysteme erfolgt.82 Die Rede ist von Geld, Macht, Recht, Wahrheit, Glaube oder Liebe. Sie geben Kommunikationsmodi vor, in denen Kommunikationen zu bewerten sind und schaffen dadurch die Bedingungen dafür, dass eine Information als Mitteilung angenommen, bekräftigt oder in den Kommunikationsprozess zur Überarbeitung (Reflexion) zurückgelegt wird: Die Chancen für Anschlusskommunikation werden verbessert, wenn man weiß (oder davon ausgehen kann), dass eine Äußerung beansprucht, nach wissenschaftlichen Kriterien wahr zu sein und keine Glaubenssache (wenn sie sich also dementsprechend prüfen lässt); oder wenn klar ist, dass es um einen gesetzlich verbürgten Rechtsanspruch geht und nicht um politisch motiviertes Machtstreben; oder wenn man weiß, dass eine Äußerung (oder eine Handlung) eine Liebesbekundung darstellt, auf die man z.B. mit einem Gegengeschenk antworten kann und nicht etwa durch Zahlung eines Geldbetrages (oder umgekehrt: dass eine Handlung keine Liebesbekundung ist, die mit einem netten Wort oder einem Versprechen abgegolten wäre, sondern eine Zahlung erfordert).83 81 In „älteren Gesellschaftsformen archaischen Typs“ (Luhmann: Soziologische Aufklärung 2, S. 173) werde diese Leistung zum Teil von der Sprache selbst und zum Teil von der hohen Anwesenheitsverfügbarkeit erbracht. Eine größere Gesellschaft und stärkere funktionale Differenzierung zwingen jedoch zur Bildung von Formen, mit denen die Möglichkeiten des Anschlusses von Kommunikation an Kommunikation erweitert werden. Evolutionstheoretisch setzt die Entstehung von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien also Verbreitungsmedien (v.a. Schrift) voraus: „So lange […] Sprache nur mündlich, also nur in Interaktionen unter Anwesenden ausgeübt wird, gibt es genug soziale Pressionen, eher Angenehmes als Unangenehmes zu sagen und die Kommunikation von Ablehnung zu unterdrücken. […] Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien entstehen erst, wenn die gesellschaftliche Evolution diese Schwelle überwunden hat und Komplexität in größeren räumlichen und zeitlichen Dimensionen und doch in derselben Gesellschaft entstehen lässt“ (Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 204). 82 Die Differenzierung symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien bildet, in den Worten Luhmanns, „den Anlass […] für Ausdifferenzierung wichtiger gesellschaftlicher Funktionssysteme“ (Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 205). 83 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien reagieren außerdem auf das Problem der (internalen oder externalen) Zurechnung von Kommunikation, d.h. auf die Frage, ob der Akzent im Kommunikationsprozess auf Mitteilung oder auf Information gelegt wird. Im Falle von internaler Zurechnung wird eine Entscheidung in Rechnung gestellt: Alter/Ego handelt gemäß einer Entscheidung. Der Akzent liegt dann auf der Mitteilung. Man muss mit Rückfragen rechnen, die auf die Absicht zielen und eventuelle Gründe für sein Tun oder für seine Äußerung angeben. Bei externaler Zurechnung werden Äußerungen oder Tätigkeiten nicht einer Absicht zugerechnet, sondern auf etwas, das von außen auf den Kommunikationsprozess einwirkt. Ego/

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Luhmann nimmt an, dass diese Medien im Kern durch einen binären Code gebildet werden, z.B. Haben, Zahlung, Glaube, Recht, Wahrheit usw. mit dem jeweiligen Negativwert (Nicht-Haben, Nicht-Zahlung etc.). Diese Codes bilden die Perspektiven der verschiedenen Funktionssysteme.84 Sie spannen Kontexturen auf, die von den einzelnen Teilsystemen, d.h. vermittels der jeweiligen Unterscheidung, beobachtet werden können. Gleichzeitig ist diese Perspektive für die Systeme unhintergehbar. Die einzelnen Systeme sehen nur in der Perspektive ihrer Leitunterscheidungen: Wissenschaft prüft Aussagen daraufhin, ob Wahrheit oder Unwahrheit vorliegt, das Rechtssystem operiert mit der Unterscheidung Recht/Unrecht, das Wirtschaftssystem operiert entsprechend mit der Unterscheidung zahlen/ nicht-zahlen. Das bedeutet nicht, dass die Kommunikation in den verschiedenen Funktionssystemen stets von diesen Werten handelt. Vielmehr ist damit gemeint, dass die Kommunikation auf diese Werte hin zugespitzt werden kann. Der Code ist das, was nicht ausgetauscht werden kann, ohne dass das System kollabiert – das, worauf die Kommunikation im jeweiligen Medium hinausläuft. Man kann zwar abwägen, ob ein Kaufgebot angemessen oder (von Seiten des Käufers) ob ein Preis zu hoch ist, man kann feilschen, kann Rabatte aushandeln, kann über verschiedene Finanzierungsmöglichkeiten nachdenken oder vom Kauf ganz absehen, letztlich muss man aber, wenn man Rahmen einer wirtschaftlichen Transaktion ein Produkt oder eine Leistung bekommen will, dafür bezahlen (oder eine geldwerte Gegenleistung erbringen). Kommunikation im Wirtschaftssystem läuft auf die Option zahlen/nicht-zahlen hinaus. Genauso verhält es sich mit Wahrheit, dem Code der wissenschaftlichen Kommunikation. Halbwahrheiten werden zwar auch in der Wissenschaft verbreitet, sie haben aber, wenn sie als solche erkannt werden, in der Wissenschaft keinen Stellenwert. Und in einem strengen Liebescode (der romantischen oder passionierten Liebe) ist, wie Luhmann betont, nicht vorgesehen, dass man ein bisschen oder nur manchmal liebt.85

Alter ist als Erlebender, nicht als Handelnder am Kommunikationsprozess beteiligt. Rückfragen beziehen sich dann nicht auf die Absicht, sondern auf das, was mitgeteilt wird, auf die Information. Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 332ff. 84 In der Systemtheorie werden Funktionssysteme als diejenigen Beobachter betrachtet, die bei ihren basalen Operationen die Codes von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien benutzen. Binäre Codierung ist, so Luhmann wörtlich, „die technisch wirksamste und folgenreichste Form der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen“ (Luhmann: Ökologische Kommunikation, S. 85). Auf der Ebene einer sehr allgemeinen Beobachtungstheorie kann man deshalb sagen, dass die Differenzierung dieser Codes identisch ist mit der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen der Gesellschaft. 85 Vgl. Luhmann: Einführung in die Theorie der Gesellschaft, S. 164.

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Die Codes sind auch nicht (oder nur schwer) konvertierbar: „Geldbesitz ist nicht in Liebe umzusetzen und Macht nicht in Wahrheit oder umgekehrt.“86 Diese Alleinzuständigkeit der verschiedenen Funktionssysteme wird auch dann nicht verletzt, wenn z.B. in einer ökonomischen Transaktion ein Freundschaftspreis angeboten und aus Liebe nur die Hälfte verlangt wird. Denn im Wirtschaftssystem wird ein solcher Vorgang unter dem Code zahlen/nicht-zahlen beobachtet. In einem wirtschaftlichen Kommunikationszusammenhang kann man in Euro oder Dollar ausdrücken, was Freundschaft Wert ist. Unter dem Vorzeichen von Liebe ist dies nur schwer vorstellbar. Nur ein wirtschaftlicher Beobachter kann Freundschaft in Geldwert umrechnen und angeben, wie sie nach ökonomischen Maßstäben zu bewerten ist. Darin ist das Wirtschaftssystem konkurrenzlos. Die binären Zentralcodes von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien schaffen digitale Verhältnisse. In Bezug auf den Code kann nur die eine Seite oder die andere gewählt werden. Es entsteht ein EntwederOder: Entweder recht oder unrecht, wahr oder unwahr, haben oder nicht haben, zahlen oder nicht zahlen usw.87 Der Code lässt nur die Oszillation zwischen den beiden Werten, also das Kreuzen der Grenze zu. Es gibt in Bezug auf den Code kein Dazwischen. Die binären Codes symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien schließen aber nicht nur ein Dazwischen aus, sie lassen genau genommen auch kein Nebeneinander zu. Sie haben, so Luhmann, „universelle Relevanz für alle […] Operationen“88 eines Systems, das sich auf diesen Code spezialisiert. Es handelt sich um „Weltkonstruktionen mit Universalitätsanspruch und ohne ontologische Begrenzung.“89 Wenn ein Code eingeschaltet wird, dann erscheint alles im Lichte des Codewertes oder seines Gegenwertes. Jeder Code blendet die Welt als ganze in einer bestimmten Perspektive auf; alles, was in Betracht kommt, erscheint unter dem Gesichtspunkt der Codewerte. Die binären Zentralcodes der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien sind sozusagen „Allesverschlucker“; sie „diskriminieren in ihrer perfekten Schließung (entweder/oder) jeweils eine Welt – jeder Code für sich je eine Welt“.90 Es gibt laut dieser Auffassung keine vordefinierten Zuständigkeitsbereiche und keine vorgegebenen Orte für die Benutzung eines bestimmten Codes (bzw. Mediums). Die Universität z.B. mag zwar ein 86 Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 367. 87 Der Gewinn einer solchen Codierung (mit leeren Werten positiv/negativ) liegt nach Auffassung von Luhmann auch darin, dass Annahme oder Ablehnung leichter „zurückgemeldet“ werden können, also in den Kommunikationsprozess zurückgelegt werden. Dadurch entstehen Einrichtungen (Supplemente, Programme), die angeben, wann eher ja und wann nein zu wählen ist. 88 Luhmann: Ökologische Kommunikation, S. 80. 89 Ebd., 78f. 90 Fuchs: Die Metapher des Systems, S. 161.

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privilegierter Ort für Wissenschaft sein. Dass eine Kommunikation in einem Hörsaal oder einem Labor stattfindet, macht sie aber noch nicht wissenschaftlich (man kann dort auch Bücher verkaufen, Liebesschwüre leisten oder politisieren). Wissenschaft ist aus systemtheoretischer Sicht nichts anderes als Kommunikation im Medium Wahrheit, unabhängig davon, ob dies an der Universität oder „im Klostergarten oder im Industrielabor geschieht.“91 Kommunikationsmedien scheinen also in hohem Maße ortsunabhängig zu sein. Medien liegen auch nicht herum. Sie warten nicht darauf, dass ein System sie benutzt. Erst durch den Gebrauch von Codes werden Medien aktualisiert: „Was als Medium in Betracht kommt, diskriminiert sich an einer Form, die ein Beobachter inszeniert.“92 Primäre Kommunikationsmedien sind so gesehen keine Elemente und auch keine Ansammlungen von (lose gekoppelten) Elementen, sondern „Differenzen-im-Betrieb“93. Es gibt sie nur, wenn ein Beobachter einen Code benutzt (und genau genommen nur, wenn dieser Beobachter dabei von einem anderen Beobachter beobachtet wird). Der theoretische Clou dieser Konzeption von Kommunikationsmedien ist, dass sie die Gesellschaft nicht in unterschiedliche Felder, Zuständigkeitsbereiche oder Räume aufteilt. Die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen teilt die Gesellschaft „nicht in Seinsbereiche, nicht in ontische Regionen“ ein, sondern schafft „nicht aufeinander abbildbare Beobachtungsverhältnisse.“94 Funktionssysteme sind demnach keine Teilbereiche der Gesellschaft und schon gar keine Erdregionen, sondern unterschiedliche Arten des Gebrauchs von Differenzen in der Kommunikation. Man dürfte sich die Funktionssysteme, die diese Codes benutzen, also genau genommen nicht nebeneinander vorstellen, kann aber auch nur schlecht damit auskommen, dass sie nur nacheinander auftreten. Schließlich ist klar, dass Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Religion, Kunst und Erziehung gleichzeitig nebeneinander vorkommen (ja sogar Beziehungen zueinander unterhalten, teilweise aneinander gekoppelt sind95). Die Identifikation von Teilsystemen und Systembeziehungen setzt die Gleichzeitigkeit verschiedener Systeme voraus und verlangt nach einem Denkschema, das „die Orientierung im Koexistierenden ermöglicht“96. Ein solches Denkschema ist der Raum, der, wie Luhmann beiläufig bemerkt, dadurch konstituiert wird, „dass man davon ausgeht, dass zwei verschiedene Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 636. Fuchs: Die Metapher des Systems, S. 151. Ebd. Kneer/Nassehi: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, S. 135. Funktionssysteme werden „nicht als Seinsregionen, […] sondern über Differenzen ausdifferenziert“ (Luhmann: Ökologische Kommunikation, S. 86). 95 Vgl. zur Kopplung der Funktionssysteme moderner Gesellschaft Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 781ff. 96 Reichert: Zur Vorgeschichte einer Geographie von Menschen, S. 24.

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Dinge nicht zur gleichen Zeit die gleiche Raumstelle einnehmen können.“97 Dieses Denkschema eignet sich für die Behandlung von Widersprüchen, weil es klare Grenzziehungen ermöglicht, „in Bezug auf die alles auf der einen oder auf der anderen Seite und nichts auf beiden Seiten zugleich ist“98. Gleichzeitiges kommt in dieser Raum-Logik stets nebeneinander zu liegen und kann dann nacheinander angesteuert werden. Was gleichzeitig existiert, als gleichzeitig Verschiedenes jedoch nicht beobachtet werden kann, wird als räumlich Getrenntes behandelt und nacheinander in den Blick genommen: „Nach dem Motto ‚Erst mal gucken, dann mal sehen‘ bearbeitet man nacheinander, was man gleichzeitig nicht beobachten kann, aber als gleichzeitig dennoch voraussetzen muss.“99 Um Systeme und Subsysteme zu sehen und eventuelle Beziehungen zwischen den Systemen zu erforschen, produziert auch der systemtheoretische Beobachter ein räumliches Bild der Gesellschaft. Die Ausdifferenzierung von Systemen kann dann als Schachtelung gedacht werden, bei der die Welt als ein Behälter oder unendlicher Umkreis vorausgesetzt wird, in der als ein bezeichneter Raum die Umwelt enthalten ist, von der man das Gesamtsystem (die Gesellschaft) als ein darin enthaltener Behälter von Teilsystemen subtrahieren und dementsprechend Grenzen oder Interdependenzen angeben kann. Fuchs meint, dass dieses Schachteldenken in der Systemtheorie weit verbreitet ist. Man müsse bei den meisten Anwendungen der Theorie sozialer Systeme geradezu von einem „mengentheoretischen Systemsyndrom“100 sprechen: „Die Systemmenge liegt wie die Umweltmenge in der Weltmenge: Viele Kreise liegen in vielen Kreisen in einem Superkreis“101. Diese räumliche Schachtelung von Subsystemen, System, Umwelt und Welt widerspricht aber der anti-essentialistischen Grundintention der Systemtheorie, die Aufmerksamkeit auf die Differenz von System und Umwelt zu legen und nach dem Gebrauch von Unterscheidungen zu fragen. Sie bringt die Systemtheorie in Verlegenheit, weil in ihr „ein Rest von Ontologie, von Substanzdenken überwintert.“102 Solche Verräumlichungen sind jedoch notwendig, wenn man Systeme oder Teilsysteme und Systemelemente als Objekte fassen und beschreiben möchte. Man muss unter

97 Luhmann: Soziale Systeme, S. 525. Damit ist der Raum, wie Zierhofer schreibt, „die Bedingung der Möglichkeit von Unterscheidungen“ schlechthin (Zierhofer: „Die fatale Verwechslung“, S. 181). Als ein unverzichtbares Schema unterscheidungsabhängiger Beobachtung tritt der Raum dann mit ganz unterschiedlichen semantischen Aufladungen auf. Vgl. Lippuner: Raum – Systeme – Praktiken, S. 135ff. oder Redepenning: Wozu Raum? 98 Luhmann: Soziale Systeme, S. 525. 99 Baecker: „Die Dekonstruktion der Schachtel“, S. 86. 100 Fuchs: „Vom Unbeobachtbaren“, S. 43. 101 Ebd. 102 Ebd.

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systemtheoretischen Vorgaben also „einen systematischen Fehler“103 machen, wenn man Funktionssysteme auseinander halten und Systemstrukturen oder Intersystembeziehungen beschreiben möchte. Wer Interesse an Objekten hat, muss „mit einem eingebauten Sehfehler arbeiten.“104 Er muss Einheiten identifizieren, wo Differenzen am Werk sind, und muss Unterschiede machen, wo Indifferenz herrscht. „Das System kommt dann in Erscheinung als ein Raum, als Ort, […] als Be-Grenztes, und dass es Differenz sei, […] dies driftet aus dem Blick“105. Der systemtheoretische Normalbeobachter, so lässt sich das vielleicht zusammenfassen, ist ein „räumelnder“ (oder raumimplementierender) Beobachter. Er projiziert Räume, verteilt Sinn, sieht Elemente, Systeme und Systemdifferenzierung, aber er blendet dabei aus, dass unterschieden und bezeichnet sowie Raum implementiert wird. Bei der Beschäftigung mit Funktionssystemen, die nebeneinander im Gesamtsystem Gesellschaft liegen, welche selbst umgeben zu sein scheint von einer Umwelt, wird stets ein Raumbild der Gesellschaft entworfen. Und weil ohne diese Raumprojektion nicht einmal ein System von seiner Umwelt unterschieden werden könnte, kann man sagen: Raum ist immer im Verzug, wenn von sozialen Systemen die Rede ist. Der Schaden dieses Sehfehlers ist freilich auch nicht größer als sein Nutzen. Schließlich besagt das Beobachtungstheorem der Systemtheorie nichts anderes als genau das: dass man nur mit einem blinden Fleck beobachten kann.

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103 Fuchs: Die Metapher des Systems, S. 242. 104 Ebd. S. 242f. 105 Ebd. S. 246.

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Körper, Raum und mediale Repräsentation BENNO WERLEN

Die wissenschaftliche Geographie beansprucht seit Alexander von Humboldt eine besondere Kompetenz für das Räumliche und versteht sich seit fast einem Jahrhundert als empirische Raumwissenschaft. Vor dem Hintergrund dieser Fachgeschichte konnte in der Geographie natürlich kein spatial turn stattfinden. Ihre Geschichte ist eine Fundgrube für Denkmuster und Perspektiven der raumbezogenen Erforschung von gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und ökonomischen Dimensionen alltäglichen Handelns. Seit rund zwanzig Jahren ist die wissenschaftliche Geographie – sehr zum Leidwesen von Raummorphologen wie dem Essayisten und Historiker Karl Schlögel1 – im Begriff, eine Wende in entgegengesetzter Richtung zu vollziehen: von der Raum- hin zur Praxiszentrierung, von der Raumanalyse zur wissenschaftlichen Erforschung der alltäglichen Praktiken des Geographie-Machens. In praxiszentrierter Perspektive kann die Frage gestellt werden, welche räumlichen Konfigurationen für alltägliche Praktiken eine besondere Rolle spielen und aus welchen Arten des Handelns diese selbst hervorgegangen sind. Kurz: Statt alle möglichen Aspekte des Gesellschaftlichen verräumlichen zu wollen, ist zu fragen, wofür das Räumliche steht und welche Rolle Räumliches für die soziale Praxis erlangt bzw. erlangen kann. Eine Klärung dieser Frage ist notwendig, um die sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung nicht mittels eines wenig reflektierten spatial turn in eine Sackgasse zu manövrieren. Dass die Verräumlichung kultureller Wirklichkeiten unter aktuellen Lebensbedingungen durchaus in hohem Maße problematische oder gar fatale Konsequenzen nach sich ziehen kann, wird beispielsweise mit der Rede von der Achse des Bösen und dem abgeleiteten, wenig zielführenden territorialen Kampf gegen den Terrorismus deutlich. 1

Vgl. Schlögel: „Kartenlesen, Raumdenken“.

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Die mit der Forderung nach einem praxiszentrierten Weltbild und einem geographischen Wirklichkeitsverständnis verbundene Perspektive soll hier zur Grundlage einer kritischen Analyse der Geographie der Medien gemacht werden. Diese Zielsetzung baut auf der Vermutung auf, dass ein medialer Geocode feststellbar und erfolgreich ist, weil die gesellschaftliche Bedeutung von Raum und die mediale Kommunikation eng aneinander gekoppelt sind. Sie sind – so wird vermutet – aneinander gekoppelt, weil sie sich auf etwas Vergleichbares beziehen. Die Analyse medial erzeugter Geographien hat erstens zu klären, welche Art von gesellschaftlichen Raumverhältnissen produziert und reproduziert werden sowie zweitens eine (kritische) Beurteilung geocodierter sozial-kultureller Wirklichkeiten zu leisten. Das entsprechende Forschungsprogramm ist dementsprechend an der Beantwortung der folgenden Kernfrage orientiert: Welche Implikationen weisen unter aktuellen Bedingungen räumliche Repräsentationen kultureller und sozialer Wirklichkeit – und somit auch einen spatial turn – auf? Oder genauer: Was bedeutet es, unter heutigen Gegebenheiten, die durch die Globalisierung der lokalen Lebenskontexte gekennzeichnet sind, eine Geocodierung von nicht-räumlichen sozial-kulturellen Wirklichkeiten zu betreiben? Diese Fragerichtung ist aus dem zentralen Anliegen handlungs- bzw. praxiszentrierter Sozialgeographie abgeleitet.2 Statt in orthodoxer geographischer Manier Raum zum Forschungsgegenstand zu machen, soll im Rahmen einer praxiszentrierten Perspektive transparent gemacht werden, welche Bedeutung räumliche Bezüge des Handelns für die Konstitution sozial-kultureller Wirklichkeiten aufweisen. Diese Akzentverschiebung mag auf den ersten Blick nach einer (bestenfalls akademisch interessanten) Haarspalterei aussehen und nicht nach einer gesellschaftswissenschaftlich relevanten Unterscheidung. Die Geschichte zeigt jedoch, dass die darin aufgehobenen Konsequenzen – sowohl in alltäglicher wie in wissenschaftlicher Hinsicht – von nicht zu unterschätzender Tragweite sind. Analog dazu könnte die größte Bedeutung eines sozialtheoretisch und -ontologisch informierten spatial turn darin bestehen, die Implikationen von raumzentrierten Sicht- und Argumentationsweisen unter aktuellen, spät-modernen sozialontologischen Bedingungen abzuklären.

1 Containerraum und sinnhafte Wirklichkeit Eine Hinwendung der Sozial- und Kulturforschung zur räumlichen Dimension kann als notwendig und sinnvoll betrachtet werden, weil die einflussreichsten Sozialtheorien Ende des 19. Jahrhunderts dezidiert 2

Vgl. Werlen: Gesellschaft, Handlung und Raum; ders.: Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen, Bd. 2.

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a-räumlich konzipiert wurden. Dass dies genau in dem Moment geschah, als die nationalstaatlichen Territorialisierungen alle Lebensbereiche zu durchdringen begannen, ist eine besondere Ironie. Im Folgenden soll verständlich gemacht werden, weshalb die verstehende Soziologie und Kulturforschung explizit ohne Raumbezug konzipiert wurden. Damit soll es auch möglich werden, einen kritischen Blick auf die Sinnhaftigkeit des aktuellen spatial turn in den Sozialwissenschaften zu werfen. Die Etablierung der modernen Sozialwissenschaft als Gesellschaftswissenschaft war von der Auseinandersetzung zwischen zwei Fraktionen gekennzeichnet: der verstehenden Soziologie – repräsentiert von Max Weber und Ferdinand Tönnies – einerseits, und der biologistischen Fraktion um Alfred Ploetz andererseits. Im Kontext der biologistischen Fraktion ist auch die aufstrebende Anthropogeographie zu sehen, wie sie von Friedrich Ratzel entworfen wurde. Der Kern der Debatte bestand nach Weber darin, dass die Vertreter der verstehenden Soziologie nur sinnhafte Gegebenheiten als Gegenstände soziologischer Forschung zulassen wollten,3 die biologistische Fraktion hingegen „das Soziale als Moment in der Natur mit den Mitteln der Biologie“4 thematisieren wollte. Das entsprechende Hauptargument lautete, dass das Gesellschaftliche vom Biologischen nicht derart verschieden sei, dass je spezifische Forschungsperspektiven notwendig wären. Denn – so eines der Kernargumente – das Soziale des Biologischen äußere sich im jeweiligen Organisationszusammenhang. Die Vertreter der verstehenden Soziologie sahen darin, wie die spätere Entwicklung der nationalsozialistischen Geo- und Rassenpolitik zeigt, nicht zu Unrecht eine inakzeptable biologistische und kausalistische Setzung, welche der Intentionalität und Sinnsetzung menschlichen Handelns letztlich jede Relevanz abspricht.5 Eine der Konsequenzen dieser Setzung war, dass die verstehende Soziologie mit dem Biologischen auch die menschliche Körperlichkeit und den gesamten materiellen Kontext des Handelns aus dem soziologischen bzw. sozialwissenschaftlichen Blickfeld verbannt hat. Nach Weber sind unverstehbare Gegebenheiten wie der Körper und/oder andere natürliche Objekte – und damit auch räumliche Konstellationen – als „Daten [hinzunehmen], mit denen zu rechnen ist“, denen aber keine soziologische Bedeutung zukommt.6 3 4 5

6

Vgl. Weber: „Geschäftsberichte und Diskussionsreden auf den deutschen soziologischen Tagungen (1910, 1912)“, S. 459ff. Werlen/Weingarten: „Zum forschungsintegrativen Gehalt der (Sozial-) Geographie“, S. 205. Eine Unterordnung menschlicher Sinnsetzungen unter biologische bzw. rassische Vorgaben war unter der Vorgabe der Unterscheidung zwischen erklärenden Naturwissenschaften und verstehenden Geisteswissenschaften nach Dilthey unhaltbar. Vgl. Dilthey: Grundriss der Logik und des Systems der philosophischen Wissenschaften. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 3.

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Auf der biologistischen Seite wurde exakt in entgegengesetzter Richtung argumentiert. Ratzel, ein Schüler des Biologen, Ökologen und Lebensraumtheoretikers Ernst Haeckel, stellte das Biologische und mit ihm das Räumliche ins Zentrum der Betrachtung. Wie Haeckel geht auch Ratzel davon aus, dass der vorgegebene Containerraum in der Evolutionsgeschichte die wichtigste Selektionsinstanz für die Ausdifferenzierung von Arten und Gattungen darstellt.7 Raum ist dabei als materielles Behältnis vorgegeben, an dem sich die Arten abarbeiten und dabei selektiert werden. Es ist wichtig zu sehen, dass Raum in dieser Argumentation keine theoretische Kategorie darstellt, sondern als eine materielle Gegebenheit aufgefasst wird, die unabhängig jeglicher theoretischer Reflexion vorliegt und immer dieselben kausal wirksamen Eigenschaften aufweist. Im Sinne einer Zwischenbilanz kann festgehalten werden, dass in der verstehenden Soziologie Raum ausgeklammert wird, weil er nicht als verstehbare Gegebenheit eingestuft werden kann. Im Rahmen der biologistischen Sichtweise wird Raum dagegen zum zentralen Objekt, zum erfahrbaren Gegenstand und in der nationalsozialistischen Geopolitik gar zum Gegenstand der Eroberung. Diesem Objekt wird zudem eine kausale Wirkinstanz für gesellschaftliche Entwicklungen beigemessen. Mit dieser argumentativen Positionierung wird bereits der Einbezug räumlicher Bezüge in verstehende Erklärung verunmöglicht und ist zudem mit zahlreichen weiteren (problematischen) Implikationen verbunden. Versucht man, Nicht-Materielles räumlich zu repräsentieren, vollzieht man eine Reduktion von immateriellen Gegebenheiten auf physisch-materielle Gegebenheiten. Oder in anderen Worten: werden Bedeutungen bzw. Signifikationen auf die materiellen Vehikel der Repräsentation reduziert, dann tut man so, als ob die damit konstruierte Einheit von Bedeutung und Materie unauflöslich wäre. Die Bedeutung wird am Objekt festgemacht, ohne dass das bedeutungszuweisende Bewusstsein reflektiert wird. Über diese Vergegenständlichung werden sprachliche Verräumlichungen produziert. Da es sich jedoch immer um zugewiesene Bedeutungen zu materiellen Gegebenheiten handelt, können Bedeutungen nicht als Eigenschaften des Materiellen betrachtet werden. Und da sie nicht Ausdruck des Materiellen sind, können sie per se (erd-)räumlich auch nicht abgebildet werden. Bedeutungen weisen nur eine ideale, jedoch keine materielle Existenz auf. Ist trotzdem von der Materialität des Raumes die Rede, wie dies am ausdrücklichsten bei Newton8, Descartes9 und Ratzel10 der Fall ist, und beginnt man ihn so zu behandeln, als wenn er Materie wäre, so liegt der Vgl. Ratzel: Der Lebensraum. Vgl. Newton: Mathematische Prinzipien der Naturlehre; ders.: Treatise of Optics. 9 Vgl. Descartes: Die Prinzipien der Philosophie. 10 Vgl. Ratzel: Anthropogeographie; ders.: Politische Geographie.

7 8

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Schritt, ihm darüber hinaus eine kausale Kraft zuzuweisen, recht nahe. Diese Implikationen sind bei einer sorgfältigen Beurteilung des spatial turn im Auge zu behalten.

2 Spatial Turn und gesellschaftliche Wirklichkeit Der Ausdruck spatial turn – als Analogie zum Ausdruck linguistic turn – geht in starkem Maße auf den Geographen Soja zurück.11 In dessen Darstellung ist der spatial turn vor allem durch die Schriften von Lefebvre, Foucault und Castells vorbereitet worden.12 Ebenso wichtig dürfte jedoch sein, dass unabhängig von diesen Arbeiten ab den frühen 1980er Jahren eine interessante Konvergenz von soziologischer und sozialgeographischer Theoriebildung feststellbar ist. Auf soziologischer Seite entwickeln bspw. Bourdieu, Goffman und Giddens eine starke Sensibilisierung für die räumlichen Bezüge sozialer Praktiken und deren Bedeutung für die unterschiedlichsten Entfaltungen des Alltaglebens.13 Auf sozialgeographischer Seite ist insbesondere bei Harvey, Gregory, Thrift, Massey, Gregory/Urry, Pred, Klüter und Werlen eine starke Bezugnahme auf sozialtheoretische Konzeptionen zu beobachten, so dass eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Gesellschaft und Raum entstehen konnte.14 Giddens stellt im Vollzug dieser Annäherung fest, dass in dieser Debatte keine wichtigen Unterschiede zwischen der soziologischen und geographischen Theoriebildung mehr festgestellt werden können.15 Der sich auf diesen Vorgaben abzeichnende, umfassende spatial turn leidet jedoch zunehmend an einer mangelhaften Klärung des ontologischen Status von Raum. Aufgrund dieses Defizits verstrickt sich die Rede vom Raum in eine traditionelle geographische Verräumlichung des Gesellschaftlichen bzw. in ein raumwissenschaftlich geprägtes geographisches 11 Vgl. Soja: „The Socio-Spatial Dialectic“; ders.: Postmodern Geographies. 12 Vgl. Lefebvre: La production de l’espace; Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft; ders.: Überwachen und Strafen; ders.: „Andere Räume“; Castells: La question urbaine. 13 Vgl. Bourdieu: Outline of a Theory of Practice; Goffman: Wir spielen alle Theater; Giddens: The Constitution of Society; ders.: The Nation-State and Violence; ders.: „The Role of Space in the Constitution of Society“; ders.: The Consequences of Modernity. 14 Vgl. Harvey: Social Justice and the City; ders.: The Limits to Capital; Gregory: Ideology, Science and Human Geography; ders.: Geographical Imaginations; Thrift: „On Determination of Social Action in Space and Time“; Massey: Spatial Division of Labour; Gregory/Urry: Spatial Relations and Spatial Structures; Pred: Place, Practice and Structure; Klüter: Raum als Element sozialer Kommunikation; Werlen: Gesellschaft, Handlung und Raum. 15 Vgl. Giddens: The Constitution of Society, S. 368.

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Weltbild. Mit Schmid kann zudem festgehalten werden, dass die aktuellen Protagonisten des spatial turn einerseits dem „eklektischen Charakter postmoderner Ansätze“16 huldigen und andererseits eine systematische Auseinandersetzung mit deren Quellen meiden. Dementsprechend werde beispielsweise die Theorie von Lefebvre „ungeachtet seiner eigenen Positionierung und epistemologischen Ausrichtung“17 für die eigenen Zwecke uminterpretiert. Für Soja beispielsweise besteht die Auslegung der Theorie Lefebvres darin, dass er – entgegen den Basistheoremen Lefebvres – von einem materiellen Raum „an sich“ bzw. „per se“ spricht und diesen zum Ausgangspunkt weiterer theoretischer Überlegungen macht:18 „Space in itself may be primordially given, but the organization, and meaning of space is a product of translation, transformation and experience“19. Wie Schmid zu Recht festhält, ist dies das Grundproblem, das die meisten postmodernen Rezeptionen von Lefebvres Theorie wie ein roter Faden durchzieht.20 Man kann sogar einen Schritt weiter gehen und diese Einschätzung für die meisten sozial-, kultur- und geisteswissenschaftlichen Neuentdeckungen des Raumes geltend machen: Das gängige Verständnis des spatial turn basiert zu einem beachtlichen Teil auf der Vorstellung, dass es einen Raum an sich gibt, auf dem dann Sozial- und Kulturtheorien aufgebaut werden können, ohne der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Raum an sich selbst ein theoretisches Konstrukt ist. Dadurch wird „eine physikalische Theorie des Raumes mit der Wirklichkeit“21 an sich verwechselt. Die sich daraus ergebenden Verstrickungen können mit Lippuner/Lossau als „reifizierende Verräumlichung des Sozialen“22 charakterisiert werden. Diese Denkweise führt letztlich nicht entscheidend aus dem Dilemma heraus, das seit der Auseinandersetzung zwischen verstehender und biologistischer Soziologie besteht: entweder mit der Verräumlichung die Sinnhaftigkeit des Gesellschaftlichen in Abrede stellen zu müssen oder für die argumentative Postulierung der Sinnhaftigkeit der gesellschaftlichen Wirklichkeit diese als nicht-räumliche zu verstehen. Vor diesem Hintergrund wird es schließlich auch möglich, Schlögels implizite Kritik an der jüngeren Theorieentwicklung der deutschsprachigen Sozialgeographie in einem anderen Licht zu sehen.23 Es erscheint vor diesem Hintergrund fragwürdig, auf der Basis des Ratzel-Zitates „Im Raume lesen wir die Zeit“24 die Geschichtsschreibung re-orientieren zu Schmid: Stadt, Raum und Gesellschaft, S. 13. Ebd. Soja: Thirdspace, S. 45f. Ebd., S. 79f. Vgl. Schmid: Stadt, Raum und Gesellschaft, S. 296f. Ebd., S. 297. Lippuner/Lossau: „In der Raumfalle“, S. 51. Vgl. Schlögel: „Kartenlesen, Raumdenken“, S. 308ff.; Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit, S. 60ff. 24 Friedrich Ratzel, zitiert nach Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit.

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wollen und damit gleichzeitig die Hoffnung zu verbinden, trotzdem gegen jede Form des übertriebenen Reduktionismus und die kausalisierenden Implikationen eines absoluten Containerraumes gewappnet zu sein. Man ist geneigt zu prognostizieren, dass diese Zukunft der neuen Geschichtsschreibung in eine dunkle Vergangenheit weist. Die problematischen Implikationen des Ratzelschen Programms können nicht mit Verweisen auf Lefebvre oder Benjamin geheilt werden. Auf den ersten Blick kann vielleicht anhand des von Christian Schmid festgestellten Eklektizismus der Eindruck erweckt werden, die Ratzelsche Vorstellung, dass Geschichte im Raum stattfindet, wäre mit dem Theorieprogramm der von Schlögel zitierten Referenzen zu vereinbaren. Dass der Schein der Oberfläche auch hier trügt, lässt sich jedoch bereits erahnen, wenn man sich vor Augen führt, dass die Raumontologie für die Bedeutungskonstitution von Gesellschaft nicht bloß eine nachgeordnete, sondern eine konstitutive Rolle spielt. Die Wirksamkeit der „Tiefenontologie“25 des Containerraumes prägt auch die Art und Weise, wie über gesellschaftliche und damit auch über historische Zusammenhänge gedacht, gesprochen und geschrieben wird. Wie sehr der Ratzelsche Containerraum dazu führt, etwa die deutsche Gesellschaft als ein Volk zu thematisieren, das seinen Raum braucht, verdeutlicht nicht zuletzt die traditionelle Geopolitik. Zudem ist es unhaltbar, die Position Ratzels, welche eine gesetzte Macht des Raumes postuliert, weitgehend unreflektiert argumentativ mit den Theorieansprüchen von Lefebvre, Foucault oder Harvey zu verknüpfen, welche dezidiert auf die kritisch-diskursive Analyse von Macht- und Herrschaftsstrukturen ausgerichtet sind. Mit den zitierten Referenzen – insbesondere den Arbeiten von Walter Benjamin – wohl eher kompatibel wäre ein Programm, welches das räumliche Spurenlesen fokussiert, so, wie es von Seiten der Geographie von Wolfgang Hartke26 oder Gerhard Hard27 und von Seiten der Kulturanthropologie von Clifford Geertz28 vorgeschlagen wurde. Hier könnte ein Forschungsprogramm einer gehaltvollen spatial history ansetzen, welche das zeitliche Nacheinander unter Einbezug des koexistenten (räumlichen) Nebeneinanders kontextuell erschließen könnte. Ob es dazu allerdings tatsächlich einer spatial history bedarf oder ob diese Aufgabe nicht bereits von der (kritischen) Historischen Geographie im Stile von Derek Gregorys „geographical imaginations“29 wahrgenommen wird, bleibt für den Moment offen. 25 Werlen: Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen, Bd. 2, S. 11. 26 Vgl. Hartke: „Die ‚Sozialbrache‘ als Phänomen der geographischen Differenzierung der Landschaft“. 27 Vgl. Hard: Spuren und Spurenleser. 28 Vgl. Geertz: Spurenlesen. 29 Gregory: Geographical Imaginations, S. 203f. Vgl. auch ders.: The Colonial Present.

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Um den so genannten spatial turn der Sozial-/Kulturwissenschaften im umfassenderen Sinne fruchtbar gestalten zu können und nicht in einer „Raumfalle“30 enden zu lassen, ist dieser konsequenterweise mit einer praxiszentrierten Forschungsperspektive zu verbinden. Erst dann kann es gelingen, die Bedeutung räumlicher Bezüge für den Vollzug der Konstitution der Gesellschaft differenziert zu erschließen. Akzeptiert man diese zentrale Unterscheidung zwischen Praxis- und Raumforschung, dann werden die Zielrichtungen einer „Soziologie des Raumes“31 bzw. einer „Raumsoziologie“32 fraglich, weil diese Programmtitel letztlich auch eine soziale Raumforschung propagieren, selbst wenn das nicht mit aller Konsequenz gemeint sein sollte. Die Erforschung der empirischen Gegebenheit Raum ist – wie man aus der Fachgeschichte der Geographie lernen kann – nur auf der Basis von gut eingeübten, wissenschaftlich aber nicht akzeptierbaren Techniken der Reifikation möglich. Eine praxiszentrierte Forschungsperspektive hingegen eröffnet die Möglichkeit, die Statik der Raumanalyse zu vermeiden und sich der Erforschung alltäglicher Konstitutionsprozesse gesellschaftlicher Raumverhältnisse zuzuwenden. Dies ermöglicht die Entwicklung eines wissenschaftlichen Blicks, der sowohl die bisherige „,Raumversessenheit‘ der allgemeinen Geographie einerseits als auch die ‚Raumvergessenheit‘ der Soziologie andererseits“33 erfolgversprechend überwindbar macht. Wie bei der wissenschaftlichen Erschließung der sich historisch wandelnden Raumverhältnisse vorgegangen werden könnte, soll in dem nun folgenden Schritt skizziert werden. Dabei wird es besonders wichtig, den zuvor geforderten Perspektivwechsel von der Raum- zur Praxiszentrierung zu vollziehen.

3 Gesellschaftliche Raumverhältnisse Es ist selbstverständlich geworden, sozialweltliche Wirklichkeiten je nach dominierendem Produktionssektor als Agrar-, Industrie-, Dienstleistungsoder Informationsgesellschaften zu bezeichnen. Da sich diese Gesellschaftsformen jedoch nicht nur in Bezug auf die Produktionsweise unterscheiden, wäre es vielleicht sinnvoller, die Unterschiede in einem je spezifischen modus operandi der Wirklichkeitserzeugung zu sehen. Damit soll darauf hingewiesen sein, dass diese modi operandi nicht als ökonomische Determinanten des Gesellschaftlichen misszuverstehen sind, sondern als die für jede Gesellschaftsformation spezi30 Lippuner/Lossau: „In der Raumfalle“. 31 Simmel: „Soziologie des Raumes“. Vgl. auch Schroer: Räume, Orte, Grenzen. 32 Löw: Raumsoziologie. 33 Werlen: Sozialgeographie, S. 13.

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fische Art von Basis-Handlung, als das Kern-Element einer räumlichzeitlich existierenden sozial-kulturellen Wirklichkeit zu begreifen sind. Zu jedem Typus von Basis-Handlung gehören insbesondere die verwendeten bzw. verfügbaren Gestaltungsmittel der räumlichen und zeitlichen Bezüge. Die Art dieser Gestaltungsmittel, von denen beispielsweise die Vermögensgrade des Handelns über Distanz abhängen, sind für die Konstitution und Etablierung gesellschaftlicher Raumverhältnisse konstitutiv.34 Wird der Akzent nicht auf die ökonomischen Aspekte, sondern auf die Konstitutionsweisen räumlicher Bezüge gelegt, dann sind Gesellschaftsund Kulturformen auch in Bezug auf ihr Raumverhältnis typisierbar. Für diese Typisierung ist es wichtig zu klären, in welcher Form die räumlichen Bezüge des Handelns in die Praktiken eingelassen und durch diese reproduziert werden. Die zentralen Fragestellungen des entsprechenden Forschungsbereichs „Gesellschaftliche Raumverhältnisse“ können an dieser Stelle aber nicht weiter ausdifferenziert, die Grundfigur der entsprechenden Denkweise35 soll aber angedeutet werden.

Prä-moderne Konstellation Um die drei wichtigsten Typen gesellschaftlicher Raumverhältnisse herauszuarbeiten, kann in Anlehnung an Giddens von den drei idealtypischen Konstellationen Prä-Moderne, Moderne und Spät-Moderne ausgegangen werden.36 Alle drei können als heuristische Anleitung für die Klärung der Beziehung zwischen Lebensformen und gesellschaftlichen Raumverhältnissen in Anschlag gebracht werden. Die erste Form kann als traditionelle Konstellation bezeichnet und als „räumlich und zeitlich ‚verankert‘“37 bzw. „embedded“38 charakterisiert werden. Das gesellschaftliche Raumverhältnis der zweiten, der modernen Konstellation zeichnet sich durch die rationale räumlich-zeitliche Territorialisierung der Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens aus. Der dritte Typus, jener der spät-modernen Konstellationen, ist im Hinblick auf die zentralen Tätigkeitsfelder als „räumlich und zeitlich ‚entankert‘“39 bzw. „disembedded“40 zu bezeichnen.

34 Analog kann man hypothetisch davon ausgehen, dass die verfügbaren Kapazitäten der Informationsspeicherung zur Erinnerung von Vergangenem ihrerseits für die Etablierung gesellschaftlicher Zeitverhältnisse von zentraler Bedeutung sind. 35 Vgl. dazu ausführlicher Werlen: Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen, Bd. 1. 36 Vgl. Giddens: The Consequences of Modernity. 37 Werlen: „Gibt es eine Geographie ohne Raum?“, S. 243. 38 Giddens: The Consequences of Modernity, S. 20. 39 Werlen: „Gibt es eine Geographie ohne Raum?“, S. 250. 40 Giddens: The Consequences of Modernity, S. 20.

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Die wichtigsten Mechanismen und Mittel der Verankerung – welche für den ersten Typus grundlegend sind – beruhen in zeitlicher Hinsicht auf lokal vorherrschenden Traditionen. Traditionen garantieren weitestmögliche Übereinstimmung von Zukunft und Vergangenheit. Aus ihnen werden die (nicht-diskursiven) Standards gesellschaftlicher Organisation abgeleitet und zugleich gerechtfertigt. Sie bilden somit die zentralen Orientierungs- und Legitimationsinstanzen. Die sich daraus ergebende Stabilität über Zeit (Verankerung in zeitlicher Hinsicht) setzt einen sehr eng begrenzten Rahmen für individuelle Entscheidungen. So sind soziale Beziehungen eher durch Verwandtschafts-, Stammes- oder Standesverhältnisse bestimmt, als dass sie Gegenstand persönlicher Entscheidung sein können. Dies gilt auch für die Erlangung sozialer Positionen, die weniger von persönlichen Leistungen abhängen und vielmehr aus Herkunft, Alter und Geschlecht abgeleitet sind. Ist in zeitlicher Hinsicht die Stabilität Ausdruck der Verankerung, dominiert in räumlicher Hinsicht eine enge erdräumliche Kammerung alltäglicher Aktionsreichweiten. Diese ist im technischen Stand der Fortbewegungsmittel (Fußmarsch, Tierkraft, usw.) und Kommunikation (face-toface Interaktionen, geringe Bedeutung der Schrift) begründet. Sie ist gleichzeitig auch Ausdruck der Beschränkung der kulturellen und sozialen Ausdrucksformen auf den lokalen und regionalen Maßstab. Aufgrund des technischen Standes der Arbeitsgeräte besteht der Zwang, sich den natürlichen Bedingungen weitgehend anzupassen. Beobachtbare Wirtschaftsformen können dann leicht als Ausdruck der naturräumlichen Bedingungen missinterpretiert werden. Wird diese Interpretation vorgenommen, dann sind damit bereits die Vorleistungen für die Naturalisierung und Kausalisierung sozial-ökonomischer wie kultureller Wirklichkeiten erbracht. In der Alltagspraxis sind unter diesen Bedingungen räumliche und zeitliche sowie sozial-kulturelle und ökonomische Komponenten auf das Engste verknüpft. Gemäß traditionellen Handlungsmustern ist es nicht nur bedeutsam, gewisse Tätigkeiten zu einer bestimmten Zeit zu verrichten, sondern auch an einem bestimmten Ort mit einer bestimmten räumlichen Orientierung. Soziale Regelungen und Orientierungsmuster werden häufig über raum-zeitliche Festlegungen reproduziert und durchgesetzt. Diese Einheit sozial-kultureller Raum-Zeit wird meist auf der Basis von Reifikation wirksam. Damit ist gemeint, dass im alltäglichen Denken keine klare Unterscheidung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem feststellbar ist, so dass die Kultstätte mit dem Kult identifiziert wird. Entsprechend lautet die soziale Regelung: Wer diese Stelle unerlaubterweise betritt, der entweiht den Ort und ist negativ zu sanktionieren. Derart scheinen Bedeutungen den Dingen eingeschrieben und räumlich verankert zu sein. Dinge und Orte gelten nicht als Bedeutungsträger, sondern als Generatoren von Sinn.

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Die traditionelle Konstellation gesellschaftlicher Raumverhältnisse kann in Anlehnung an Tönnies als gemeinschaftliche Wirklichkeit bezeichnet werden.41 Ihr sind verhältnismäßig homogene Sinndeutungen von räumlich eng gekammerten Lebenskontexten eigen. Akteure interpretieren die Situationen des Handelns gemäß den von der Tradition vorgegebenen Deutungsmustern. Die Überlieferung findet im Rahmen von face-to-face Situationen statt und über die Aufladung der materiellen Vehikel symbolischer Repräsentation, die sich (meist) in aktueller Reichweite befinden. Sind diese Bedingungen gegeben, dann können räumliche Darstellungen sozial-kultureller Gegebenheiten oberflächlich betrachtet plausibel wirken. Selbst räumliche Kausalerklärungen sozial-kultureller Wirklichkeiten scheinen auf den ersten Blick Geltung beanspruchen zu dürfen. Die Vorstellung eines erdoberflächlich per se existierenden GesellschaftRaumes kann aber nur deshalb ohne allzu heftigen Einspruch als angemessene Repräsentation postuliert werden, weil dieser aufgrund spezifischer räumlich-zeitlicher Merkmale sozialer Praktiken entsprechend konstituiert wird. Die augenscheinliche Raumgebundenheit beruht erstens auf körpergebundenen Tätigkeiten und den über diese vollzogenen ökonomischen, sozialen sowie kulturellen Aneignungen. Die (emotionale) Raumgebundenheit, so kann man in Anlehung an Richner folgern,42 basiert auf Praktiken „der Inkorporierung“43 mit denen die (physisch-materiellen) Kontexte des Handelns bewusstseinsmäßig zum Quasi-Bestandteil des eigenen Selbst werden. Der zweite entscheidende Grund ist darin zu sehen, dass die Reichweite dieser körpergebundenen Tätigkeiten (für den größten Teil) der Bewohner einer Erdgegend eng begrenzt ist.

Moderne Konstellation Die Etablierung der nationalstaatlich-industriellen Raumverhältnisse impliziert die Ablösung der räumlich-zeitlichen Verankerung der traditionellen Konstellation. Dieser Wandel wird hinsichtlich der politischen Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens durch rationale Territorialisierung entlang nationalstaatlicher Einrichtungen vollzogen. Als Konsequenz der Aufklärung wird die (produktive) Transformation der Natur mit der Entwicklung technischer Möglichkeiten auf eine neue Basis gestellt. Die Abhängigkeit von den so genannten naturräumlichen Gegebenheiten nimmt mit der Industrialisierung der Produktionsprozesse rapide ab. Zusammen mit der Durchsetzung des Kapitalismus wird nicht nur das Verhältnis zur Natur auf eine neue Basis gestellt, sondern der gesamte Bereich der räumlich-zeitlichen Konstellation wird neu geordnet. 41 Vgl. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. 42 Vgl. Richner: „Das brennende Wahrzeichen“, S. 289f. 43 Bourdieu: Sozialer Raum und „Klassen“, S. 22.

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Die Transformation dieses Verhältnisses vollzieht sich nach Giddens entlang der Dimensionen Kapitalismus, Industrialismus und Bürokratisierung.44 In der ersten werden die wirtschaftlichen Verhältnisse neu geregelt, in der zweiten die Produktionsformen verändert. In der dritten Dimension wird einerseits die Koordination der Kontrolle der Subjekte über räumliche und zeitliche Distanzen hinweg ermöglicht, womit sich Kapitalismus und Industrialismus erst überregional etablieren können. Zum anderen wird die Zuständigkeit der (national-)staatlichen Bürokratie durch die Territorialisierung in umfassendem Maße containerisiert. Die (räumliche) Containerisierung des gesellschaftlichen Lebens in Form rationaler Territorialisierung – die der Konstitution der Nationalstaaten zugrunde liegt – zeichnet sich durch eine eigenartige Widersprüchlichkeit aus. Entlang der drei genannten Dimensionen werden eigentlich das Verschwinden der Raumwiderstände und eine Gleichförmigkeit des Raumes hergestellt. Doch die nationalstaatlichen Institutionen binden den Prozess der Entankerung über die Wiederverankerung des gesellschaftlichen Lebens in neu gewonnenen Dimensionen mittels territorialer (Neu-) Ordnung. Die räumliche Entankerung, die in der Moderne angelegt ist, wird über nationale Währungen, die Formierung von Nationalökonomien, das Erheben von Zöllen entlang der Staatsgrenzen etc. an das Territorium rückgebunden. Die Formierung nationaler Hochsprachen, die nationale Organisation von Wissen und Information über das Bildungssystem, die Etablierung von Landessendern (Radio, Fernsehen) usw. wirken ebenfalls territorialisierend. Damit wird eine moderne, rationale Form der Verräumlichung bzw. Territorialisierung gesellschaftlicher Wirklichkeiten durchgesetzt. Die modi operandi der Konstitution nationalstaatlich-industrieller Raumverhältnisse sind nicht mehr im gleichen Maße körperbezogen wie die traditionellen, doch sie sind immer noch stark an eine materielle Basis gebunden. Distanzüberwindung ist zum größten Teil mit dem Verbrauch von Zeit verbunden, obwohl sich mit dem Telefon bereits neue Entwicklungen abzeichnen.

Spät-moderne Konstellation Sowohl die traditionellen (auf Reifikationen beruhenden) als auch die modernen (auf Territorialisierungen beruhenden) Formen räumlicher und zeitlicher Verankerungen sind unter spät-modernen Bedingungen in Auflösung begriffen. An die Stelle zeitlicher Stabilität tritt eine permanente und zunehmend beschleunigte soziale Transformation.45 An die Stelle räumlicher Kammerung treten globale Lebenszusammenhänge. 44 Vgl. Giddens: The Nation-State and Violence; ders.: Kritische Theorie der Spät-Moderne. 45 Vgl. Rosa: Beschleunigung.

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Im Vergleich zu traditionellen Lebensformen ersetzen diskursiv revidierbare Routinen nun Traditionen. Spät-moderne Praktiken sind nicht an lokalen Traditionen, sondern vielmehr an global auftretenden Lebensmustern orientiert. Der Spielraum individueller Entscheidungen wächst, soziale Beziehungen sind kaum mehr über Verwandtschaftsverhältnisse geregelt, sondern verstärkt über wirtschaftliche Aktivitäten. Soziale Positionen werden in Produktionsprozessen erworben und sind im Prinzip nicht an Alter oder Geschlecht gebunden. In Bezug auf das Räumliche werden die engen Kammerungen durch Fortbewegungsmittel, die ein Höchstmaß an Mobilität ermöglichen, in vielerlei Hinsicht aufgehoben. Bewegungs- und weiträumige Niederlassungsfreiheit implizieren eine Durchmischung verschiedenster, ehemals lokaler Kulturen in größter Nähe. Die resultierende Durchmischung ist gepaart mit weltweiten Kommunikationssystemen, welche eine Informationsanhäufung und -verbreitung ermöglichen, die nicht an räumliche Anwesenheit gebunden ist. Face-to-face Interaktionen bleiben zwar bestehen und sind insbesondere im Rahmen der Sozialisation oder bei diskursiv auszuhandelnden Entscheidungen in hohem Maße bedeutsam, doch der größte Teil der Kommunikationsanteile ist mediatisiert. Mit der zunehmenden Wirksamkeit der Medien, der zeitlichen und räumlichen Entankerung – zu denen insbesondere so genannte abstrakte Systeme, wie Plastikgeld, Schrift, Expertensysteme und vor allem Medien der Kommunikation zu zählen sind – ist eine Art raumzeitliche Implosion der spät-modernen Lebensbedingungen verbunden.46 Es gilt als kommunikativer Standard, dass räumliche und zeitliche Dimensionen von fixen Bedeutungen getrennt und immer wieder neu auszuhandeln sind. Räumliche und zeitliche Dimensionen werden in einzelnen Handlungen von den Subjekten auf je spezifische Weise immer wieder neu kombiniert.47 Dass räumliche wie zeitliche Dimensionen nicht inhaltsbestimmende, sondern nur formale Aspekte menschlicher Tätigkeiten darstellen, wird insbesondere beim alltäglichen Einsatz mobiler Telekommunikation erlebbar. Auf der Basis größter Mobilität und zunehmender Ortsunabhängigkeit der Kommunikation wird der Zeitpunkt der Begegnung gegenüber dem Ort zum vorrangigen Kriterium der Entscheidung. Im Sinne der bisherigen Argumentation kann man folgendes erstes Fazit ziehen: Räumliche Darstellungen des Sozial-Kulturellen im Sinne traditioneller Lebensformen sind verhältnismäßig unproblematisch. Dies ist in gewissem Sinne auch für Lebensformen zutreffend, die im Rahmen national durchgängiger Containerisierungen praktiziert werden. Sind die 46 Der britische Geograph David Harvey umschreibt diese als zeitlichräumlichen Schrumpfungsprozess bzw. als „time-space compression“. Vgl. Harvey: The Condition of Postmodernity, S. 241. 47 Vgl. Werlen: Sozialgeographie, S. 35.

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Bedingungen räumlich und zeitlich verankerter gesellschaftlicher Raumverhältnisse gegeben, dann ist ein spatial turn der Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften im Stile einer verräumlichenden Beschreibung und Analyse alltäglicher Lebensbedingungen und -formen möglich, ohne dabei in die Sackgasse einer empirischen Raumwissenschaft zu geraten. Mit dem Verlust der zentralen Verankerungsmechanismen nimmt jedoch die Plausibilität verräumlichender Darstellungen stark ab. Dies ist insbesondere für jene Lebensbereiche der Fall, die sich spät-modernen Lebensformen annähern und als globalisierte Lebensformen thematisiert werden können. Damit entsprechende Orientierungen unter spät-modernen Bedingungen gelingen können, ist vor allem ein neues geographisches Bewusstsein notwendig. Wird versucht, auf der Basis eines alten geographischen Weltbildes einen (räumlich und zeitlich verankerten) Raumbezug herzustellen, wird ein geographisches Bewusstsein produziert, das den eigenen geographischen Bedingungen nicht entspricht. Man könnte sagen, man produziert ein falsches geographisches Bewusstsein. Damit entfernt man sich von den alltäglichen Lebensbedingungen und verfällt im extremen Falle sogar der Reproduktion fundamentalistischer Orthodoxien. Dies ist die Konsequenz einer mangelhaften oder vollkommen abwesenden Abstimmung der „Ontologie von Gesellschaft und Raum“48. Besondere Bedeutung erlangen in diesem Zusammenhang die in der medialen Berichterstattung in Anschlag gebrachten Geocodes. Mediale Berichterstattung – so lautet die hier vertretene These – trägt in wesentlichem Maße zur Produktion verräumlichter Wirklichkeitsdarstellung bei. Um sich mit dieser Thematik nun differenziert auseinandersetzen zu können, ist jedoch ein weiterer Schritt der Vorbereitung notwendig: die Klärung des Verhältnisses von Raum und Körper bzw. von Körper und Raum.

4 Raum und Körper – Körper und Raum Wenn Bauman feststellt, dass Raum gegenwärtig an Erklärungskraft verliert und gleichzeitig an (diskursiver) Relevanz gewinnt,49 bringt er damit zum Ausdruck, dass man beispielsweise bestimmte persönliche Merkmale nicht mehr mit seiner regionalen Herkunft begründen oder gar erklären kann. Mit der Durchdringung der lokalen Kontexte durch globalisierte Wissensbestände wird es zunehmend problematisch zu behaupten, jemand würde auf diese oder jene Art handeln, nur weil er oder sie einen bestimm48 Werlen: Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen, Bd. 1. 49 Vgl. Bauman: Community: Seeking Security in a Insecure World, S. 110.

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ten Herkunftsort aufweist. Die räumliche Konnotation der Herkunft oder aktueller Lebensumstände erklärt in sozial-kultureller Hinsicht nichts mehr oder zumindest immer weniger. Das Auftauchen von spezifischen Raumbezügen in den verschiedensten Diskursen – welche sich nach Bauman parallel dazu einstellen – kann als eine sehr paradoxe Bewegung identifiziert werden: Alltägliche Geographien sind nicht mehr streng räumlich konnotiert, weder lokal noch regional. Parallel dazu taucht aber eine räumliche bzw. verräumlichende Sprache in den unterschiedlichsten Lebensbereichen auf. Welche Implikationen weist die Feststellung Baumans für den spatial turn auf? Zuerst kann festgehalten werden, dass in dieser Paradoxie die Wiederentdeckung der Bedeutung räumlicher Bezüge auf alltäglicher Ebene manifest wird, obwohl die entsprechende empirische Basis dafür immer schwächer wird. Der Vollzug einer räumlichen Wendung der sozial-, kultur- und geisteswissenschaftlichen Forschungsorientierung hat für ontologisch unterschiedliche Gegebenheiten je spezifische Raumbegriffe zu verwenden.50 Der traditionelle geographische Raumbegriff ist streng genommen ausschließlich für die Ordnung materieller Dinge zuständig. Für soziale Gegebenheiten kann beispielsweise im Sinne von Bourdieu ein mehrdimensionaler „sozialer Raum“ entwickelt werden,51 für mentale Gegebenheiten bzw. geistige Bewusstseinsgehalte sind mentale Räume mit entsprechenden Dimensionen zu entwickeln usw. Was genau bezeichnet aber Raum, wenn etwa im Sinne von Erdraum in Bezug auf materielle Gegebenheiten die Rede ist? Und weshalb ist das, was mit Raum bezeichnet wird, für die Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften auch dann relevant, wenn mit ihm nur materielle Konstellationen bezeichnet werden können? Im Sinne der Phänomenologie von Husserl und Schütz kann man davon ausgehen, dass räumliche Vorstellungen aus der Erfahrung der eigenen Körperlichkeit hervorgehen und damit auf die körpergebundene Welterfahrung verweisen, auf die Relationierung des eigenen Körpers mit anderen körperlichen Dingen.52 Laut Husserl und Schütz ist die Erfahrung der Welt als eine räumliche erstens in der eigenen Körperlichkeit begründet, wobei zweitens der eigene Körper zum Koordinatennullpunkt der unmittelbaren Welterfahrung gemacht wird. Der Körperstandort kann beispielsweise durch Kartographie als Koordinatennullpunkt idealisiert werden, so dass sich eine Vielzahl von Subjekten anhand von Karten, ohne denselben Kontext zu teilen, über ausgedehnte Dinge an entfernten Orten erfolgreich verständigen können. Was im geographischen Sinne mit Raum bezeichnet wird, verweist somit auf die

50 Vgl. Werlen: Gesellschaft, Handlung und Raum; ders.: Society, Action and Space. 51 Bourdieu: Sozialer Raum und „Klassen“, S. 14. 52 Vgl. Husserl: Ding und Raum; Schütz: Theorie der Lebensformen.

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eigene Körperlichkeit im Kontext der ausgedehnten physisch-materiellen Gegebenheiten. Akzeptiert man diese Sicht, dann folgt daraus, dass Raum kein Gegenstand sein kann, über keine materielle Existenz verfügt und somit nicht selbst das Materielle ist. Konsequenterweise ist jede Rede vom materiellen Raum bzw. „material space“53 Unfug bzw. nichts anderes als Ausdruck dessen, was man als cartesianischen Fehlschluss bezeichnen kann.54 Demgegenüber kann Raum jedoch durchaus als ein Mittel des Umgangs bzw. der Beschreibung einer Konstellation verstanden werden, das sich auf die Materialität des Beschriebenen bezieht, ohne selbst materiell sein zu müssen. Die Relationierung von Körper und anderen ausgedehnten Dingen kann jedoch ganz unterschiedlich interpretiert werden. Wie diese Relationierung ausfällt, hängt – kurz gesagt – von den Sinngehalten ab, die körperliches Hantieren oder Tätigkeiten leiten. Je nach Art des Handelns kann diese Relationierung anders gestaltet bzw. hergestellt werden. Dabei können für ökonomische, soziale und kulturelle Dimensionen des Handelns drei Haupttypen unterschieden werden.55

53 Harvey: Spaces of Neoliberalization, S. 105. 54 Descartes geht im Rahmen des Leib-Seele-Dualismus davon aus, dass wir grundsätzlich zwischen der Welt des Ausgedehnten (res extensa) und des Geistigen (res cogitans) zu unterscheiden haben. Seine Konzeptualisierung von Raum bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen ausgedehnten Körpern und geistigen Gegebenheiten: „Die Ausdehnung in Länge, Breite und Tiefe, welche den Raum ausmacht, ist dieselbe, welche den Körper ausmacht. [...] Die Idee der Ausdehnung, die wir bei irgendeinem Raum uns denken, ist dieselbe wie die Idee der körperlichen Substanz.“ (Descartes: Die Prinzipien der Philosophie, S. 35.) Descartes leitet aus dieser Definition die folgende Argumentationskette ab: Da jede materielle Substanz durch ihre Ausdehnung zu charakterisieren ist und die Ausdehnung der Substanz dieselbe ist wie jene des Raumes, muss der Raum auch eine materielle Substanz sein. Dass der Schluss von der Ausgedehntheit der Körper auf die Körperlichkeit von Raum nicht nur unhaltbar, sondern auch fatal ist, beweist die Fachgeschichte der Geographie. Das Problem besteht, kurz gefasst ausgedrückt, darin, dass Raum nicht als Mittel der Beschreibung von Konstellationen des Nebeneinanders koexistenter Körper, sondern als materieller Gegenstand betrachtet wird, der mehr ist als die Summe der einzelnen Körper, die sich angeblich in ihm befinden. Vgl. dazu ausführlicher Werlen: Zur Ontologie von Gesellschaft und Raum, S. 162ff. 55 Vgl. Werlen: „Handlungszentrierte Sozialgeographie“; ders.: Sozialgeographie.

KÖRPER, RAUM, MEDIALE REPRÄSENTATION Ň 381

Abb. 1: Handeln und Raum56 relational

formal/ klassifikatorisch

Beispiele

zweck-rational

absoluter Koordinatennullpunkt

geo-metrisch/ Bodenmarkt klassifikatorische Standorttheorien Kalkulation

normorientiert

absolut/ körperzentriert präskriptiv

geo-metrisch/ Nationalstaat klassifikatorische back-/frontPräskription region

kommunikativ

körperzentriert signifikativ

emotional/ Heimat klassifikatorische Wahrzeichen Signifikation

Steht die zweckrationale, kalkulative Ausrichtung des ökonomischen Tuns im Vordergrund, dann erfolgt die Relationierung vorzugsweise metrisch. Dadurch wird es möglich, entsprechende Berechnungen anzustellen. Die moderne Aneignung physisch-materieller Lebenskontexte setzt Metrik, die Messbarkeit voraus. So sind beispielsweise die Kommodifizierung von Boden und der daraus hervorgehende Bodenmarkt historisch auf der Basis der Metrisierung des Raumes möglich geworden. Die Formierung der Nationalstaaten, welche eine genaue Festlegung von Grenzen voraussetzt, ist ebenfalls nur aufgrund dieser Möglichkeit der Metrisierung vorstellbar. Nationalstaaten beruhen jedoch auf einer darüber hinausgehenden, spezifischen Interpretation dieser Relationierung. Sie wird über den zweiten Typus, die Territorialisierung verwirklicht. Diese geht aus der Normbindung des Raumbezugs hervor, also einer normativen Aneignung. Handlungsvorschriften der Art: „Hier darfst Du das tun, dort aber nicht“ bilden die Grundfigur der territorialen Ordnung gesellschaftlichen Zusammenlebens. Ortsgebundene Gerichtsbarkeit, wie nationales Recht und nationale Gesetzgebungen, sind ebenfalls Ausdrücke davon. Der dritte Typus der Interpretation der Relationierung von Körper und materiellen Dingen ist signifikativer Art und liegt symbolischer Aneignung und Repräsentation zugrunde. Die Metrik spielt hier – im Gegensatz zu den ersten beiden – keine Rolle. Heimatgefühle oder Wahrzeichen sind das Ergebnis symbolischer Aufladung und Aneignung. Nach Simmel werden der Handlungskontext und dessen Sinngehalte in der Erinnerung der Handelnden auf den Ort, das Artefakt oder die Ortsbezeichnung übertragen, an dem oder über das die Handlung mit einem spezifischen Sinngehalt stattgefunden hat, „so dass für die Erinnerung der Ort sich mit dieser 56 Vgl. Werlen: Sozialgeographie, S. 329.

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(Handlung) unauflöslich zu verbinden pflegt.“57 Symbolisch angeeignete Gegebenheiten werden so zur Repräsentation, zum Anlass oder Stütze der Erinnerung, ohne die erinnerten Gehalte selbst aufzuweisen oder aufzuzeigen. Dieser Zusammenhang ist für die mediale Berichterstattung insofern ein entscheidender Punkt, weil in dieser die Körperzentriertheit durch die Zentrierung auf das Aufnahme- und Übertragungsmedium der Berichterstattung (Kameras usw.) ersetzt wird. Dass die Bedeutung von Raum handlungs- und kontextspezifischer Ausdruck besonderer Bezüge zu physisch-materiellen Gegebenheiten sein kann, verweist auf den begrifflichen Charakter des Raums.58 Mit der Qualifizierung von Raum als begriffliches Konzept, das die Relationierung der Körper der Handelnden mit anderen körperlichen Gegebenheiten thematisiert, eröffnet sich eine entscheidende Möglichkeit. Damit kann nämlich der tiefe Graben überbrückt werden, der sich im Verlaufe der Wissenschaftsgeschichte zwischen biologistischen und verstehenden Positionen aufgetan hat. Denn die Konzeptualisierung von Raum als begriffliches Konzept ermöglicht sowohl die Überwindung der argumentativ problematischen Implikationen eines kausal wirksamen Containerraums – wie er für die biologistische Soziologie und die traditionelle Humangeographie charakteristisch ist –, als auch die der Negierung der Bedeutung räumlicher Aspekte für menschliches Handeln, wie dies von den verstehenden Sozialund Kulturwissenschaften bisher vertreten wurde. Raum ist dementsprechend nicht als materielle Gegebenheit zu begreifen, was von beiden Positionen einmal direkt, einmal indirekt postuliert wurde. Vielmehr ist Raum als ein „formal-klassifikatorischer Begriff“ zu charakterisieren:59 „formal“ deshalb, weil er sich nur auf formale und nicht auf inhaltliche Aspekte bezieht und dadurch eine Art Grammatik der Orientierung in der physischen Welt ermöglicht; „klassifikatorisch“, weil mit Raumbegriffen offensichtlich Ordnungsbeschreibungen ermöglicht werden, ohne dass Raum selbst eine Klasse zu werden braucht. Begreift man Raum nicht als materielles Behältnis, sondern als Begriff, der bestimmte Arten körperbezogener Relationierungen, die sozial oder kulturell höchst unterschiedlich ausfallen können, thematisierbar macht, dann wird auch der Zugang zu einem neuen geographischen Weltbild eröffnet. Weder die Container-Geographie noch die auf der Vorstellung von 57 Simmel: „Soziologie des Raumes“, S. 42. 58 Selbst wenn Kant Recht hat, dass Raum insofern kein Begriff ist, als er keinen besonderen Gegenstand bezeichnet (vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 85), braucht man der Folgerung, dass er dann jeder Erfahrung vorausgeht und a priori sein muss, nicht zuzustimmen. Denn auch wenn es keinen Erfahrungsgegenstand Raum gibt, kann sein Bedeutungsgehalt auf Erfahrung verweisen, nämlich auf die zuvor angesprochene Erfahrung der eigenen Körperlichkeit in Beziehung zu anderen körperlichen Gegebenheiten. 59 Werlen: „Handlungszentrierte Sozialgeographie“, S. 261; ders.: Sozialgeographie, S. 327.

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Raumgesetzen beruhende raumwissenschaftliche Geographie sind dann zwingende Unternehmungen. Im Zentrum dieses neuen geographischen Weltbildes steht nicht mehr der (Lebens-)Raum, sondern das agierende Subjekt, der soziale Akteur. Die Frage lautet dann nicht: Welche Dinge und Personen sind aus welchen Ursachen oder Gründen auf spezifische Weise in dem Behältnis Raum angeordnet? Die Frage ist vielmehr, wie die Subjekte die Welt auf sich beziehen und welche Bedeutung in dieser Bezugnahme Raum- und Zeitbegriffe spielen. Im Zentrum eines solchen wissenschaftlichen Interesses steht die Klärung der kulturell, sozial und ökonomisch ungleichen Vermögensgrade der Beherrschung räumlicher und zeitlicher Bezüge zur Steuerung des eigenen Tuns und der Praxis anderer. Das heißt, Raum ist als begriffliches Mittel der Weltbindung zu verstehen, nicht als Objekt der Untersuchung und schon gar nicht als etwas, das kausale Wirksamkeit entwickeln kann. Er ist ein begriffliches Mittel der Repräsentation von etwas, das tatsächlich eine materielle Existenz hat, aber das Materielle ist nicht der Raum, sondern eine Objektkonstellation, zu der auch der eigene Körper zählen kann. Darüber hinaus wird es möglich, ohne unangemessene Kausalisierungen und dafür notwendige Reduktionismen die Bedeutung der eigenen Körperlichkeit und der materiellen Kontexte für soziale Praktiken erschließbar zu machen. Es ist sicher keine Übertreibung, wenn man behauptet, dass zahlreiche ökologische Probleme in der Tatsache begründet sind, dass sowohl die verstehenden Sozial- und Kulturwissenschaften als auch die subjektive Wertlehre, auf der die neo-klassische Ökonomie beruht, einer verkürzten Argumentation erlegen sind. Die Tatsache, dass rein physisch-materielle Gegebenheiten keine eigene Sinn- und Relevanzstruktur aufweisen, bedeutet noch nicht, dass ihnen für die Konstitution sozial-kultureller Gegebenheiten keine Bedeutung zukommt. Und es reicht auch nicht, nur jene Bedeutungen zu erfassen, welche ihnen auf der Basis des „diskursiven Bewussteins“60 zukommen. Physisch-materielle Gegebenheiten sind aufgrund der Körperlichkeit sozialer Akteure auch für die Sozial- und Kulturwissenschaften von fundamentaler Bedeutung – wenn auch in ganz anderem Sinne als für Biologie und Naturwissenschaften.

5 Körper und Medien Geht man mit McLuhan davon aus, dass die entscheidende Charakteristik der Medien darin besteht, eine Verlängerung des Körpers in dem Sinne darzustellen, dass über sie vermittelt Ereignisse und Gegebenheiten er-

60 Giddens: The Constitution of Society, S. 92.

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fahrbar sind, welche wir nicht unmittelbar erleben können,61 dann ist ein erster Zusammenhang von Raum und Medien der bildgestützten Information bereits angedeutet. Postuliert man eine Körpergebundenheit der Konstitution von Raum und geht man davon aus, dass McLuhans Ansicht im Wesentlichen aus Kapps These von der „Organprojection“62 aller mechanischen bzw. technischen Mittel abgeleitet ist, dann dürfte die Vermutung eines Zusammenhanges zwischen den beiden etwas schärfere Konturen erlangen. In der Körperzentrierung von Raum und Medien liegen die eingangs angedeuteten Bedingungen für die Möglichkeit der Verwendung von Geocodes begründet. Werden Medien als Verlängerung des Körpers begriffen und Raum als Platzhalter für die Relationierung von menschlichem Körper und anderen (körperhaften) Objekten, dann wird auch der zentrale Bedeutungsgehalt von Medien als Vermittlungsinstanz der Erfahrung unter Abwesenheit des eigenen Körpers bzw. Organismus deutlich. Dem entspricht die eigentliche Bedeutung von Medium als das Dazwischen, das „als drittes zwischen zwei Momenten“63 steht und dem im Prozess der Kommunikation eine besondere Aufgabe zukommt. Dabei wird die Verlängerung des Körpers für die Relationierung mit Objekten vermittels elektronischer Übertragung über Distanz hinweg vollzogen. Der Vollzug kann derart gestaltet werden, dass mediale Kommunikation eine Ausdehnung der aktuellen und potenziellen Reichweiten des Tuns bis hin zu weltumspannenden Dimensionen ermöglichen kann. Bevor der Zusammenhang zwischen Raum und Medien vertieft werden kann, ist ein argumentativer Zwischenschritt sinnvoll. Dieser betrifft die knappe Skizzierung der Bedeutung des Körpers für die Kommunikation. Die Bedeutung des menschlichen Körpers für die Kommunikation kann mit Schütz als „Funktionalzusammenhang“64 charakterisiert werden. Der Körper stellt gemäß dieser Auffassung das Vermittlungsglied zwischen Idealitäten, also Bewusstseinsgehalten ohne Ausdehnung und der ausgedehnten Objektwelt dar. In der Situation der körperlichen Anwesenheit kann der symbolisierende Bezug über das unmittelbare Verweisen hergestellt werden. In der Kopräsenz wird der Körper zum Funktionalzusammenhang und zur Vermittlungsinstanz des Handelns. Die Räumlichkeit konstituiert sich im körperlichen Tun, und in diesem Tätigkeitsvollzug werden den Dingen Bedeutungen zugewiesen. Tritt Abwesenheit an die Stelle der Anwesenheit, nehmen für die Erfahrung über Distanz mediale Mittel (Schrift, Telefon, Kamera) die Position des Körpers ein. Dann ist weder ein körperliches Eingreifen möglich noch eine eigenständige Bedeutungszuweisung. Über Distanz ist nur 61 62 63 64

Vgl. McLuhan: Die magischen Kanäle. Kapp: Grundlinien einer Philosophie der Technik, S. VI. Roesler: „Medienphilosophie und Medientheorie“, S. 39. Schütz: Theorie der Lebensformen, S. 92.

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eine vorinterpretierte und vorselektierte Erfahrung von mediatisierter Wirklichkeit möglich. Damit unterscheiden sich die aktuellen Bedingungen medial konstituierter gesellschaftlicher Raumverhältnisse von den traditionellen und modernen in entscheidendem Maße. Welche Phasen können wir bei der kommunikativen medialen Entwicklung unterscheiden? Wir können – in Anlehnung an die eingangs vorgenommene Typisierung – drei Phasen der Medienentwicklung unterscheiden. Unter traditionellen Bedingungen, der ersten Phase, steht die körperlich unmittelbare Kommunikation im Vordergrund. Die Notwendigkeit zur face-to-face-Situation verlangt nach räumlicher Nähe und Gleichzeitigkeit. Freilich kann die Vergangenheit erinnert werden, doch erzählt wird die Erinnerung gleichzeitig, wie sie gehört werden kann. Sprecher und Hörer sind gleichzeitig in der Kommunikation engagiert, weisen räumliche Nähe auf und verfügen über keine nennenswerten Verlängerungen des Körpers in Form von Medien. Die zweite Phase zeichnet sich demgegenüber durch erste Formen der Verlängerung des Körpers aus. Sie kann als eine frühindustriell-mechanische umschrieben werden und äußert sich zunächst in der Verlängerung des körpergebundenen Schreibens. Über Maschinen werden Buchstaben so geordnet, wie dies zuvor von Hand gemacht wurde, und der Prozess der Vervielfältigung kann dann automatisiert werden. Druckerpresse, Schreibmaschine usw. stehen in dieser Entwicklungsreihe. Die mediatisierte Kommunikation findet hier aber immer noch auf der Basis des (körpergebundenen) Transports der Erzeugnisse statt. Das Boot bringt die Post, der Postbote den Brief usw. Die Distanzüberwindung ist an eine zeitliche Abfolge gebunden, so dass Kommunikation nicht in Gleichzeitigkeit möglich ist. Mit der räumlichen Distanz geht eine zeitliche Distanz zwischen der Herstellung und dem Kommunizieren oder Lesen des Textes einher. Die dritte Phase zeichnet sich durch die „mediale Echtzeit“65 aus. Deren Besonderheit besteht darin, dass räumliche und körperliche Distanz kommunikativ in Gleichzeitigkeit überwunden wird. Das führt u.a. dazu, dass der größte Teil der Erfahrungen und Informationen nicht (mehr) im Rahmen körperlicher Anwesenheit gemacht und erworben wird. Im Gegenteil, der größte Teil dessen, was „wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt in der wir leben“ wissen, wissen wir „durch die Massenmedien“.66

65 Beham: Kriegstrommeln, S. 11. 66 Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 9.

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6 Medien und räumliche Repräsentation Was bedeutet dies nun für die mediale Repräsentation von räumlichen Gegebenheiten? Um die entsprechenden Besonderheiten wenigstens ansatzweise herausarbeiten zu können, ist auf die Bedeutungszuweisungen zu materiellen Gegebenheiten in Bezug auf die zuvor unterschiedenen Phasen einzugehen. Bei der ersten Phase bildet der biographische Wissensvorrat, der im Rahmen von face-to-face-Kommunikation aufgebaut wurde, das einzige verfügbare Interpretationsschema, auf dessen Basis Dingen und Ereignissen Bedeutungen zugewiesen werden. Sehr häufig wird die symbolische Aufladung im Rahmen körperlich vermittelter Aneignung vollzogen. Die Bedeutungszuweisung zu Dingen und sozialen Ereignissen erfolgt einerseits über die Reproduktion traditionaler Standards, die für eine relativ homogene Konstitution sinnhafter Wirklichkeiten sorgen. Andererseits erfolgt diese Zuweisung über das körpervermittelte Hantieren der Menschen innerhalb einer räumlich relativ eng begrenzten Reichweite. Diese beiden Aspekte – und die Tatsache einer starken Tendenz zur Reifikation – führen zur scheinbar räumlichen Existenz sozial-kultureller Wirklichkeiten in traditionellen, gemeinschaftlichen Formationen menschlichen Zusammenlebens. Baut jedoch der biographische Wissensvorrat als Interpretationsschema nicht mehr vorrangig auf persönlicher Aneignung und unmittelbarer Erfahrung auf, sondern auf mediatisiert erfahrenen und medial kommunizierten Informationen, dann nimmt auch die Vielfältigkeit der symbolischen Aneignung derselben regionalen Kontexte zu. Informationsströme sind nun weder an traditionelle Torwächter der Weltdeutung gebunden noch an die Reichweiten regionaler Aktionskreise. Die Vielfalt der Informationsmedien und -kanäle unterminiert die Einheitlichkeit symbolischer Aneignung von Handlungskontexten, weil die verfügbaren Wissensvorräte und darauf aufbauende Interpretationsschemata weit weniger aus gemeinsam geteilten Erfahrungen hervorgehen als in traditionellen Konstellationen. An die Stelle regionaler Homogenität und interregionaler Vielfalt tritt die regionale Vielfalt bei gleichzeitiger globaler Homogenisierung in je spezifischen Segmenten kultureller Wirklichkeiten. Unter diesen Bedingungen verlieren verräumlichende Darstellungen kultureller Wirklichkeiten ihre Legitimation. Damit geraten nicht nur die bisher dominierenden geographischen Weltbilder in eine Krise. Den Versuchen der medialen Repräsentation räumlich homogener Kulturwelten wird im fortschreitenden Vollzug des Handelns über Distanz zunehmend die empirische Basis entzogen.67 Der besondere Widerspruch medialer Berichterstattung besteht 67 Vgl. Lippuner: Raum – Systeme – Praktiken, S. 30ff.

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darin, dass die Bedeutungszuweisung zu dinghaften Gegebenheiten durch den redaktionell festgelegten Kommentar oder ähnliches so gesteuert wird, als ob diese Zuweisungen von allen Akteuren des regionalen Kontextes geteilt würden. Der Zwang zur Visualisierung impliziert gewissermaßen die Steuerung der Bedeutungszuweisung. Diese Konstellation bringt eine doppelte Paradoxie mit sich. Einerseits geht mit der Entmaterialisierung der bildhaften Kommunikation das Erzwingen der Verdinglichung sinnhafter Gegebenheiten einher. Andererseits wird mit der Steuerung der symbolischen Aneignung materieller Gegebenheiten die räumlich-zeitliche Verankerung von spät-modernen Lebensformen vorgetäuscht, und zwar mit einem Medium, das selbst im Zentrum der räumlich-zeitlichen Entankerung steht. Diese doppelte Paradoxie bildet die Basis für die Ermöglichung dessen, was als Geocode bezeichnet werden kann: die räumliche Codierung von Lebenszusammenhängen, die von räumlichen Bindungen und Verankerungen weitgehend abgelöst sind. Daraus resultieren schließlich ein problematischer Hang räumlicher Kategorisierung kultureller und sozialer Gegebenheiten sowie die Konstitution kultureller Gegebenheiten als räumliche Wirklichkeiten. Welche Implikationen sind mit dieser doppelten Paradoxie verbunden? Die Vereinheitlichung der vielfältigen Beziehungen von Bedeutung und Materie auf fixierte Einheiten – lokalisierte Entitäten mit räumlich klar angebbaren Orten – kommt letztlich der Erzeugung einer fiktiven Realität gleich. Man kann diesen Vorgang mit Barthes als eine Produktion von „Mythen des Alltags“68 bezeichnen. Denn die mediale Berichterstattung arbeitet – indem über die elektronische Übertragung eine Reifikationen von Sinn als Materie gestiftet wird und die Deutungszuweisungen so kanalisiert werden, wie es in traditionellen Gesellschaften nur die Torwächter der traditionellen Sinngebung geschafft haben – mit aller Macht an der Mythologisierung des Alltags. Damit findet in der medialen Kommunikation eine Quasi-Kontextualisierung in medialer Echtzeit statt. Das Resultat kann mit Wiesing als „artifizielle Präsenz“ der Bilder bezeichnet werden, als eine rätselhafte Beziehung zwischen materiellen Lebenskontexten und fremder Sinngebung, die als authentische sozial-kulturelle Wirklichkeit dargestellt wird.69 Was dargestellt wird, ist freilich mehr als das bloß Materielle. Es wird als Symbol für einen eindeutig und ausschließlich festgelegten Sinn kommuniziert und fördert damit imaginierte verräumlichte Wiederverankerungen. Damit wird eine telegene Wirklichkeit erzeugt, die Züge des Gemeinschaftlichen trägt, wobei das Medium der Kommunikation gleichzeitig wesentlich daran beteiligt ist, traditionelle Formen der praktizierten Gemeinschaft eher aufzulösen als zu fördern. Über imaginierte Wiederveran68 Barthes: Mythen des Alltags. 69 Wiesing: Artifizielle Präsenz.

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kerung wird die Einheit von Erdraum und Kultur, so wie sie für traditionelle Gesellschaften gegeben sein mag, in der medialen Berichterstattung suggeriert, obwohl gleichzeitig die Praktiken, die dafür notwendig wären, durch neue und entankerte Formen des Geographie-Machens ersetzt werden. Darin ist eine weitere Paradoxie der medialen Repräsentation enthalten. Mediale Weltdarstellung rekurriert auf Verhältnisse, welche durch elektronische Medien zum Verschwinden gebracht werden. Denn die elektronischen Medien selbst verändern die raum-zeitlichen Verhältnisse spät-moderner Gesellschaften. Dies ist möglicherweise eine der größten Paradoxien der Mediengesellschaft. Man stellt die Dinge so dar, als ob die beobachtbaren Konsequenzen dieser Medien nicht existierten. Elektronische Medien spielen somit eine zentrale Rolle bei der raumzeitlichen Entankerung und fördern gleichzeitig Weltbilder, die mit dieser Entankerung nichts (mehr) zu tun haben. Zieht man das in Betracht, was Giddens als „doppelte Hermeneutik“ bezeichnet,70 kommt derartigen medialen Repräsentationen eine höchst problematische politische Bedeutung zu. Denn so wie soziologisches Wissen die Konstitution der gesellschaftlichen Wirklichkeit verändert, haben medial verbreitete Weltbilder entscheidenden Einfluss auf die alltägliche Weltbildformierung. Die medial transportierten Weltbilder können deshalb als fiktionale Reproduktionsinstanz traditioneller gesellschaftlicher Raumverhältnisse charakterisiert werden, weil sie gleichzeitig dasjenige als Wirklichkeit darstellen, was sie gleichzeitig auflösen. Sie fördern damit mindestens tendenziell räumlich codierte Diskurse, Raumpolitiken und räumliche Semantiken, obwohl die alltäglichen Aneignungs- und Inkorporierungspraktiken, welche für eine angemessene Sinnadäquanz Voraussetzung wären, nicht (mehr) gegeben sind. Akzeptiert man das Bestehen der zuvor identifizierten doppelten Paradoxie, dann stellt diese auch eine ernsthafte Herausforderung für den so genannten spatial turn dar. Die entscheidende Aufgabe ist dann eher in der Entwicklung eines kritischen Potenzials gegenüber geocodierten Diskursen zu sehen, als in der Einforderung paradoxer Verräumlichungen im Rahmen sozial-, kultur- und geisteswissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit alltäglichen Lebenskontexten. Die Bedeutung des spatial turn sollte eher darin gesehen werden, die Erforschung der spät-modernen gesellschaftlichen Raumverhältnisse zum wissenschaftlichen Programm zu machen, statt selbst Diskurse problematischer Verräumlichung zu produzieren.

70 Giddens: Interpretative Soziologie, S. 95; Giddens: The Consequences of Modernity, S. 15.

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Raum NIGEL THRIFT

Einleitung In den letzten zwanzig Jahren hat sich in den Sozial- und Geisteswissenschaften ein spatial turn etabliert. Er lässt sich auf viele theoretische und praktische Impulse zurückführen, seine Wirkung aber ist schon mehr als deutlich geworden: Das, was wir meinen als scheinbar beständig expandierendes Universum von Räumen und Territorien zu identifizieren, mit all den unterschiedlichen Arten des Bewohnens – angefangen bei der Grenze, die der Mutterleib darstellt, über all die häuslichen Dinge in unserer Nähe, über die körperlichen Spuren der Gebäude und Landschaften, die eine Art halberinnerte Poetik erzeugen, über die Weisen, in denen die großen politischen und wirtschaftlichen Imperien, mitsamt dem Reichtum und Elend, die daraus resultieren – all das kann anhand der weltweiten Bewegungen von Schiffen, Zügen und (nun) auch Flugzeugen nachgebildet werden, bis einschließlich zu den Milliarden von unsichtbaren Nachrichten, die flüchtig die Radiobandbreite bewohnen und dem Leben eine andere Dimension einschreiben [etch].1 Zweifelsohne gibt es viele Gründe für die Annahme, dass der spatial turn von bleibender Bedeutung sein wird. Als so etwas wie eine vorweggenommene Schlussbetrachtung aber würde ich behaupten, dass der spatial turn sich deshalb als folgenreich herausgestellt hat, da er Begriffe wie Materie, Leben und Intelligenz in Frage stellt und dies durch die Betonung der unnachgiebigen Materialität der Welt, in der es keine präexistierenden Objekte gibt. Mehr noch: es verhält sich so, dass alle möglichen Hybride beständig durch Prozesse der Zirkulation in und zwischen bestimmten Räumen umgeformt werden. Die Welt besteht darin, 1

[Anm. d. Übers.: An dieser Stelle wird eine Vorversion dieser Textstelle übersetzt, da in der publizierten Endfassung etch durch each ersetzt wurde.]

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dass über dieses Universum von Räumen vielerlei Dinge in Beziehung zu anderen gebracht werden, durch einen beständigen und weitgehend unwillkürlichen Prozess des Aufeinandertreffens und die oftmals heftigen Auswirkungen, die daraus resultieren. Dieser materielle Schematismus hat einige offensichtliche Vorläufer in den Sozial- und Humanwissenschaften. Ich denke an die Mikrometaphysik von Gabriel Tarde, Pitirim Sorokins Vorstöße in die kulturelle Kausalität, Torsten Hågerstrands Zeitgeographie oder an Anthony Giddens’ Entdeckungsreisen rund um die Gesellschaftstheorie in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren. Dies alles bekam in letzter Zeit mehr Halt durch theoretische Entwicklungen wie die Akteur-Netzwerk-Theorie und durch die anhaltende Wiederentdeckung von Autoren wie Tarde und Whitehead, wie auch durch den Einfluss von Autoren wie Deleuze und Guattari. Zudem wurde – und dies könnte möglicherweise noch wichtiger sein – eine ganze Reihe von Forschungsgebieten begründet im Zuge des Wiederauflebens dessen, was Paul Carter „material thinking“2 nennt: die performativen Arbeitsmethoden und Prozeduren des Schreibens (und – genauso wichtig – anderer Methoden der Darstellung), die betonen, dass das gesamte Geschäft der Praxis und Poiesis in der widerständigen Einfachheit der Dinge beschlossen liegt, im „(Werk-)Zeugsein“3. Diese Forschungsgebiete haben notwendigerweise die Materialität des Denkens zu betonen und beinhalten die Erforschung der material culture, Wissenssoziologie, performance studies (vom Tanz bis zur Poesie), ortsbezogene Kunst und Architektur, verschiedene Aspekte der Archäologie und der Museumsforschung, einige Exkursionen ins interaktive Design ebenso wie verschiedene Entwicklungen der Kulturgeographie, beispielsweise die non-representational theory. Es ist die Besonderheit dieser Ansätze, dass sie sich aufgrund ihres Untersuchungsgegenstands genötigt sahen, die Kraft der sinn-auffälligen Formen der Dinge ernst zu nehmen,4 anstatt sie als reine Fassade aufzufassen. Daraus folgt, dass diese Ansätze im Begriff sind, eine neue Herangehensweise an Theorie zu ermöglichen, die sowohl mehr und weniger abstrakt als auch mehr und weniger empirisch ist. In diesem kleinen Text kann ich nur andeuten, warum der prozessuale Sensualismus, den ein materieller Schematismus impliziert, so bedeutend ist, und wie die Erforschung der Räume der Welt sich nun verändert, um dieser Tatsache Rechnung zu tragen. Ich werde zunächst einige Gebote und Verbote auflisten, die dieser Begriff des Raums vorgibt. Anschließend werde ich drei Betrachtungsweisen erläutern, in denen der Raum mehr als nur einen Unterschied macht. Ich werde zeigen, dass der Raum völlig neue Welten eröffnet, indem er es ermöglicht, über das Leben zu schreiben,

2 3 4

Carter: Material thinking. Harman: Tool-Being. Vgl. Critchley: Things Merely Are.

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ohne in die romantische Suche nach einem sicheren Ort zurückzufallen, über Gesellschaft zu schreiben, ohne in feste Kategorien zurückzufallen, und über Seinswissen zu schreiben, ohne ins Tiefgründige oder Abstruse zurückzufallen. Zum Schluss deute ich kurz die Möglichkeit eines neuen Gewoseins5 an.

Warum Raum? Ich bin ein großer Bewunderer der verschlungen geschichteten, flackernden Topographien der äthiopisch-amerikanischen Künstlerin Julie Mehretu. Obwohl man eine Palette von Anspielungen in ihrem Werk erkennen kann – den historischen Drang von Delacroix und Goya, die geometrischen Wirbel und Abstraktionen von Kandinsky, Klee, Malewitsch und Mondrian, die umhüllende Tönung der Farbfeldmalerei, die verschiedenen ikonischen und graphischen Elemente popkultureller Rahmung (wie Markenzeichen, Comics und Tattoos), Schriftspuren des Protestes, repräsentiert in so unterschiedlichen Praktiken wie denen von Graffitikünstlern, Propagandisten und Situationisten, sowie die Poetik zeitgenössischer Architekten wie Hadid oder Ando –, denke ich, dass sie auch etwas Neues schafft: Ein Gespür dafür, wie hochbeschleunigte, hybride Landschaften – die aus vielen Akteurarten und aus vielfachen, sich an zahlreichen Orten abspielenden Ereignissen bestehen – aussehen, sich anfühlen, funktionieren könnten. Mehretus Leinwände versuchen, viele Arten von Räumen zusammenzubringen, viele Arten von Dynamik, Existenz und Imagination, die jeden dieser Räume in Spannung halten und niemals versuchen, diese Spannung aufzulösen: Kollisionen, Konkordanzen, Kataklysmen, alles gibt es hier, vereint mit „Geschwindigkeit, Dynamik, Kampf und Möglichkeit“6. Anstatt dieses Spannungsgefüge aufzulösen, sieht Mehretu ihre Aufgabe darin, ein Gespür für Trajektorie herzustellen. Dies ist vermutlich das Nächstliegende zu dem, was gewöhnlich Geschichte genannt wird, das Gesellschaftstheorie heute bieten kann.

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6

[Anm. d. Übers.: Im Original a-whereness, ein Wortspiel, das als implizite Paronomasie auf awareness (Gewärtigsein) verweist; liest man den Präfix a darüber hinaus als Negationspartikel, bedeutete dies, dass jenes Gewosein seine eigene Verneinung implizierte. Diese semantische Ebene wird allerdings nicht weiter ausgeführt.] Mehretu in Fogle/Ilesanmi: Julie Mehretu, S. 14 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Daniel Seibel].

Abb.: Julie Mehretu: Logistik des Grobians, 2001. Tusche und Acryl auf Leinwand, 152 x 335 cm. Collection Thomas Dane, England. Photo: Erma Estwick, © Julie Mehretu.

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Mir scheint, dass ihrer Herangehensweise vier eng aufeinander bezogene Prinzipien zugrunde liegen, Prinzipien, die die Basis jeder Annäherung an den Raum sein sollten. 1. Alles, aber auch alles, ist räumlich verteilt. Dies gilt auch noch für die kleinste Monade. Spätestens seit der Erfindung des Mikroskops kann man sehen, das selbst ein Stecknadelkopf seine eigene Geographie hat. Jeder Raum ist von anderen Räumen auf Wegen durchzogen, die nicht nur von je eigener Beschaffenheit sind, sondern vielmehr nur deshalb überhaupt existieren, weil sie so und nicht anders verteilt sind. Es ist ein wenig wie in der modernen Biologie, die entdeckt hat, dass die Wachstumsprozesse der Zelle auf einem Sinn dafür beruhen, wo sich das Zellmaterial für die Bildung bestimmter Teile des Organismus befindet; dieser Sinn stellt nicht nur eine Karte bereit, sondern spielt vielmehr selbst eine fundamentale Rolle im Wachstumsprozess und ist somit der Organisation des Organismus inhärent. Dies geht weit über Komplexität hinaus. Es erinnert einen vielmehr an die Einsichten von Gabriel Tarde hinsichtlich komplexer Zusammensetzungen: Dass das Kleine so komplex wie das Große, das Kleine sogar eine größere Entität von Einzelwesen sein kann, dass die Welt durch und durch heterarchisch ist, mit derselben Methode alle Ebenen betreffend, und dass das Große demnach einige der Eigenschaften des Kleinen betont.7 2. So etwas wie eine Grenze gibt es nicht. Alle Räume sind mehr oder weniger porös. Körper etwa, die in einem Standbild festgehalten werden, erscheinen wie Hüllen, in Wirklichkeit aber sind sie lecke Wassersäcke, die ständig tröpfeln [sloughing off pieces of themselves], Spuren hinterlassen – Ausflüsse, Erinnerungen, Botschaften – durch Momente guter oder schlechter Zusammentreffen, bei denen Praktiken der Organisation, Gemeinschaft und Feindschaft weitergegeben werden, manchmal beinahe identisch, manchmal bringen sie etwas Neues hervor. 3. Jeder Raum ist ständig in Bewegung. Es gibt keinen statischen and stabilisierten Raum, obgleich es viele Versuche gibt, den Raum statisch und stabil zu machen. Der Prozess (oder vielmehr: das Kraftsein) ist alles, in dem etwas ist, ist alles, was es gibt. Der Prozess entsteht aus informiertem oder überführtem Material und den Kraftlinien der Erfindung, die sich daraus ergeben, dass „ein neues Einzelwesen erschaffen wird, das sich von den in Getrenntheiten befindlichen Einzelwesen unterscheidet“8. In dieser Mikrophysik von Whitehead ist „die Welt […] ein Fluss von Vektoren, vektorialen Verbindungen, die in den Ereignissen aktualisiert werden, durch die sich selbst vervielfältigt, indem sie ihre eigene energetische Aktivität in variablen Konfigurationen ausdrückt.“9 (Eine solche Betonung 7 8 9

Vgl. Latour: „Gabriel Tarde and the End of the Social“. Whitehead: Prozeß und Realität, S. 63. Alliez: The Signature of the World, S. 2 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Daniel Seibel].

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kreativer Selbstbestimmung geradezu als Sakrament der Entäußerung kann zweifelsohne mit vielen anderen neo-monadologischen Positionen in Zusammenhang gebracht werden: So z.B. mit Tardes mikrometaphysischer Einführung des Sozialen oder Deleuzes Kartographie der Bewegungen und Rhythmen des Denkens, die unterstreichen, dass dieses Konzept das einer offenen, konsistenten und intensiven Vielfältigkeit ist. Ganz ähnlich in seiner Arbeit zum Bewegungs-Bild, das als materielles Bild die Biologie des Hirns mit seinen eigenen Mitteln entdeckt.) 4. Es gibt nicht nur eine Art von Raum. Der Raum erscheint in vielen Verkleidungen: Punkten, Flächen, Parabeln; Blots, Blurs und Blackouts. Die einen halten das Zusammentreffen für das Entscheidende, andere die Skalierung, andere die Emergenz, wieder andere die Übersetzung. Es ist wahr, dass all dies existiert – und nichts – als Teil der Abstimmung von lokalen Variantensystemen.10 In einer Welt ohne Abstufungen sind Worte notwendigerweise Annäherungen an die richtige Größe der Welt, die von der Entdeckung künden, dass die fundamentale Tatsache menschlicher Kommunikation ihre Variabilität ist, ko-evolutionäre Konstrukte, die ein Teil davon sind, wie wir lernen, die Welt zu umgeben, und wie die Welt lernt, uns zu umgeben.11 Gleichzeitig stellen Mehretus Arbeiten auch eine Abwendung von vier anderen Weisen, den Raum zu denken, dar. Die erste davon ist Teil der Suche nach erfüllter Authentizität. Die Literatur ist noch immer voller Raumbegriffe, die davon ausgehen, dass der Raum der Ort ist, an dem – wenn auch nur für eine Weile – alles zusammenkommt, in einem zentrierten Raum, in dem die Dinge auf solche Weise nebeneinander platziert sind, dass die Darstellungen abgeglichen werden können, wodurch ein Gefühl des Behagens entsteht, das auch bestimmte Werte festigt. Selbst viele überzeugte Nicht-Humanisten haben eine Sehnsucht nach irgendeiner Art von Transzendenz – sei es eine Ästhetik, eine Synthese oder seien es sogar bestimmte Arten von Immanenz, die, wenn sie ins Spiel gebracht werden, einen latenten Subjektivismus zum Vorschein bringen, der Referenzialität auf das Menschliche beschränkt.12 Die zweite Abkehr ist die von der Suche nach einem Raum, der jenseits des Metrischen liegt. Mehretus Arbeiten bewerten Messen, Teilen und Berechnen generell als schlichtweg andere, durchaus faszinierende Weisen, Zwischenräume in die Welt zu setzen. Tatsächlich gehört sie zu einer langen Reihe von Künstlern, die gezeigt haben, dass die Messkunst der Kunst nicht feind, sondern fundamentaler Bestandteil ihrer Entstehung ist;13 dies wird deutlich an den Projektionen ihrer Zeichnungen auf größere Leinwände. Zu oft allerdings haben Essays über den Raum versucht zu 10 11 12 13

Vgl. Levinson: „Deixis and Pragmatics“. Vgl. Wagner: An Anthropology of the Subject. Vgl. Harman: Tool-Being. Vgl. Steadman: Vermeer’s Camera.

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behaupten, die Messkunst sei das genaue Gegenteil von Kreativität. Und doch hat jene dieser genauso viel hinzugefügt wie entzogen, indem sie nicht nur neue Praktiken und Wahrnehmungen von Bewegung geschaffen hat, sondern auch fruchtbare Quellen des Konflikts, wie z.B. in den jüngeren Konflikten um das Land im ehemaligen Ostblock, die das Phänomen des verschwundenen Hektars geschaffen hat. Dieses Verschwinden meint hier „die Verkleinerungen der Parzellen, auf deren Zuteilung Leute noch warten, falsche Einträge in Besitzurkunden, verkleinerte Lagen des Personseins und ökonomischer Werte, sowie schrumpfende Flächen zur Erfahrung von Örtlichkeit.“14 Die dritte Abkehr ist die vom Raum als Lage unabhängig von Bewegung, wo Geist und Körper zur Ruhe kommen können – eine Idee, die höchst wahrscheinlich gepflegt wird von der sitzenden Wahrnehmung der Welt, die durch die vorgeblich überlegenen Sinne des Sehens und Hörens vermittelt wird. Diese vorgebliche Überlegenheit entsteht mit dem modernen Transportwesen und mit den Sehweisen, die von Kino und Fernsehen angenommen wurden. Solch eine Perspektive wird neuerdings durch eine wandernde Perspektive herausgefordert, die die Bewegung betont – dies sowohl in Hinsicht auf die vielen Unbeständigkeiten und die verschiedenste Sinne ansprechenden Eindrücke während der Begegnungen auf Reisen, als auch in Hinsicht auf die Betonung des Bewegungs-Bildes, wie sie Mehretus Bilder so gut zum Ausdruck bringen.15 Somit wird jeder Ort als Knoten betrachtet, der von den Strängen der Bewegungen seiner vielen Einwohner geknüpft wird, und nicht als Mittelpunkt in einem statischen Netzwerk von Bindegliedern. Das Leben ist ein Maschenwerk aufeinanderfolgender Auffaltungen, kein Netzwerk, in dem die Umgebung nicht gebunden werden kann und das Leben im transformativen Prozess des Sich-Bewegens geformt wird.16 So folgen nicht einfach Sachverhalte aufeinander: Die besondere Linearität der westlichen Kultur diktiert diese Wahrnehmung, eine Linearität, die aus Schrift, Uhren und anderen Einsnach-dem-anderen-Verkörperungen, einer besonderen Praxis von Kausalität besteht. Die letzte Abkehr ist die von der Idee des Raums als irgendwie von der Zeit Getrenntem.17 Damit wird gegen die Auffassung angegangen, die nicht nur im flow des alltäglichen Lebens, sondern auch in theoretischen Exkursen, die auf dem Werk Bergsons basieren, weit verbreitet ist, gemäß der die Zeit als etwas angesehen wird, das sich in Räumlichkeit umwandelt, aber um den Preis, das zu verlieren, was der Zeitlichkeit essentiell ist:

14 Verdery: The Vanishing Hectare, S. 32 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Daniel Seibel]. 15 Vgl. Ingold: „Culture on the Ground“. 16 Vgl. Morris: The Sense of Space. 17 Vgl. May/Thrift: TimeSpace.

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ihre dynamische Bewegung.18 Aber das heißt, die gleichermaßen dynamische Natur des Raums misszuverstehen, ihn zum statischen Hintergrund für die Aktivität der Zeit zu machen, mit einer nur begrenzten Positivität seiner selbst. Solch ein Standpunkt ignoriert vollkommen die Myriaden von Bewegungspoetiken, die durch situative Identität und Latenz bewirkt werden – dazu gehören Horizontalität und Vertikalität.19 Vielleicht ist einer der Gründe für diese anhaltende Obsession, die Zeit als Dimension des Wandels zu betrachten, dass die westlichen Gesellschaften heutzutage eine so große Last an Zeit auf sich genommen haben – in Form aller Arten von Archiven, die alle möglichen Arten von Erinnerungen bewahren. Zudem neigen die meisten ihrer Vorstellungstechniken zu rückwärtsgewandten Mitteln des Zusammenfassens und der Monumentalisierung, obwohl man auch anmerken könnte, dass es Zeichen für einen kulturellen Umbruch gibt – dies in der Verkleidung von so verschiedenartigen Praktiken wie corporate strategy oder Science Fiction, die immer mehr formalisierte Zukunftsgeographien schaffen, in denen Zeit und Raum als Möglichkeiten refiguriert werden.

Drei Vignetten Ich möchte diesen Text zu Ende führen, indem ich mich auf drei Vignetten konzentriere, die zusammengenommen andeuten, was ich auszudrücken versuche. Dies ist ein schmerzvoller, aber notwendiger Schritt, die Leinwand, auf der ich arbeite, zu begrenzen und gleichzeitig zu zeigen, wie großflächig diese Leinwand tatsächlich ist. Ähnlich wie Mehretus Bilder sind diese Vignetten eher als andeutende, aber hoffentlich überzeugende Beispiele bestimmter Charaktere und Schwärme, denn als Rekonstruktionen jedes einzelnen Winkels eines bestimmten Gebiets gedacht.

Mit anderen sein Ich möchte mit den Walen beginnen. Die neuesten Forschungen auf dem Feld der Bioakustik zeigen, dass Wale Gesang anscheinend als Kommunikationsmittel über tausende von Seemeilen benutzen. Die Wal-Gesellschaft setzt eine wesentlich größere Skalierung voraus als die üblicherweise mit Menschen in Zusammenhang gebrachte: Mitsein mit anderen Walen kann heißen, mit Walen zu kommunizieren, die hunderte von Meilen entfernt sein können – wobei die langen Zeitverzögerungen ganz selbstverständlich dazu gehören –, sowie die Positionen anderer Wale in Relation zu entfernten Kontinenten und Landmassen und weniger

18 Vgl. Grosz: The Nick of Time. 19 Vgl. Vesely: Architecture in the Age of Divided Representation.

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in Bezug auf irgendeinen Nah-Befund zu bestimmen. Der Wal-Raum ist, anders ausgedrückt, also weniger ausgedehnt, sondern wird vielmehr routinemäßig im Kleinen wie im Großen eingeübt – und dies in einem Medium, dem Ozean, der seine eigenen Dynamiken und Arten von Sinnesklassen hat. Dies sollte nicht besonders überraschen. Große Raubtiere und viele Vogelarten haben ähnlich große Wirkungskreise und können das Land oder die Luft in vergleichbarer Weise lesen, so dass wir sagen können, dass fern und nah für sie nicht die gleichen Konnotationen haben wie für menschliche Wesen. Gleichwohl überschneidet sich die Welt der Wale mit der anderer Wesen. Es wäre zuviel gesagt zu behaupten, dass sie mit diesen Welten kommunizierten. Um es mit Uexküll auszudrücken: sie sind vielmehr eingestimmt auf andere Welten, wenn auch nicht unbedingt in harmonischer Weise – wie eines von Uexkülls Lieblingsbeispielen, das von der Spinne und der Fliege, nur zu deutlich zeigt. So können Wale und Menschen aufeinander eingestimmt sein, aber um mit ihrer Beute in Kontakt treten zu können, müssen sich menschliche Wesen den Räumen des Wals anpassen, genauso wie die Wale sich auf die Räume des Krills einstimmen müssen. Zwei Beispiele seien hier ausreichend. Das erste ist die Walfangindustrie, ihrem Ursprung nach einer der Prototypen großer multinationaler Organisationen, die in emsiger Aufmerksamkeit die Welt bereisen, um den Walen Gewalt anzutun. Diese Industrie brachte eine gewaltige Geographie der Standorte und Gegenstände hervor, angefangen bei dem Netzwerk der Walfangstationen von Organisationen wie der Muscovy Company, die große Menge spezialisierter dazwischenliegender Praktiken und Lebensweisen, einschließlich der Harpune, der Raketenharpune, dem Walfangboot oder auch einfach geschnitzter Walzähne (oder feinere Schnitzarbeiten, die heutzutage häufig hohe Preise als Kunstobjekte erzielen). Hinzu kommen all die Produkte, die aus Walen hergestellt werden: Lebertran, Walratöl, Walrat, Walfleisch oder auch das Ambra des Pottwals, das dazu dient, den Geruch von Parfüm zu fixieren. Oder man denke an eine Organisation wie Greenpeace, die die Wale retten will, seit 1975 das erste Greenpeace-Schiff, die Phyllis Cormack, ein sowjetisches Walfangschiff vor der kalifornischen Küste aufbrachte, und die 1986 dazu beitrug, das Moratorium des kommerziellen Walfangs der Internationalen Walfangkommission sicherzustellen. Greenpeace war gezwungen, die gleiche multinationale Struktur wie die der Walfangindustrie zu übernehmen, um gleichermaßen gesetzlichen Vorgaben zu entgehen und zu entsprechen, die bedeutungslos für das sind, was die Organisation bewahren möchte. Eine Karte wird von einer anderen Karte überlagert, die ihrerseits von einer weiteren Karte überlagert wird. Interessanterweise nähern sich menschliche Gesellschaften nach und nach der Fähigkeit der Wale an: Wir sind in immer größerem Maße Wesen, die mit entfernten Anderen so leben können, als wären sie uns nahe.

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Die Räume, in denen Menschen zusammen sein können, haben in dem Maß ihre Skalierung vergrößert, indem neue Materialformen – die auch neue Formen der Verräumlichung sind – es ermöglichten, dass neue Arten sozialer Beziehungen bestehen. Die menschliche Reichweite nimmt zu und verstetigt sich bei Größenordnungen, die früher nur einen sporadischen oder bestenfalls periodischen Kontakt betrafen. Er muss bloß flüchtig addiert werden, zu bestimmten Verzeichnissen und Gebieten. In vielen Teilen der Welt ist es möglich, ein Mobiltelefon zu benutzen, um Hilfe zu rufen – aber niemand wird kommen. Wiederum gründeten sich diverse politische Projekte, die mit entfernten Anderen unter der Voraussetzung kommunizieren, dass diese Anderen nahe sind (oder in die Nähe gerückt werden können), was früher schwieriger, vielleicht unmöglich gewesen wäre. Z.B. könnte man anführen, dass wenigstens einer der Impulse für das gegenwärtige Projekt namens Europa der ist, aus einer dauernden und dauernd flüchtigen kulturellen Diversität eine aufgeschlossene und verantwortliche Staatsbürgerschaft zu bilden. Diese Art von Integralismus20 – bei dem Hilfe kommt, wenn sie gebraucht wird – kann nur durch die Organisation vieler verketteter und überlappender Räume entstehen und auf der Basis politischer Hoffnungen, die nur halb verstanden und leichthin begraben werden können. Aber vielleicht sollten politische Organisationen ohnehin als ein affektives und performatives Arrangement von Räumen verstanden werden, das, wie die beste Wissenschaft, „den Gedanken davon abhält, sich nur in sich selbst befriedigenden Kreisen zu drehen.“21

Andere beeinflussen Raum ist nicht nur eine Serie ineinander verflochtener Welten, die sich gegenseitig berühren. Raum ist aus einem räumlichen Wirbel von Gemütsbewegungen konstruiert, die oftmals schwer festzumachen, gleichwohl aber entscheidend sind. Um diesen Punkt zu illustrieren, möchte ich mich zunächst dem Thema Imperium zuwenden. Imperien sind oft aus einer Palette von Gefühlen errichtet, so etwa das britische Empire in Indien. Über einen langen Zeitraum war die britische Präsenz in Indien bemerkenswert klein, und dies noch zum spätimperialistischen Höhepunkt. Die Volkszählung von 1901 zählt nur 154.691 britische Einwohner in Indien.22 Wie konnten nun so relativ wenige Haushalte, die meist der Mittelklasse angehörten, so einen großen Raum beherrschen? Auf diese Frage gibt es natürlich viele Antworten. Eine liegt in der hybriden Natur der Raj: In Untersuchungen 20 Vgl. Holmes: Integral Europe. 21 Stengers: Power and Invention, S. 5 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Daniel Seibel]. 22 Vgl. Buettner: Empire Families.

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zur Unterordnung haben Historiker gezeigt, dass das Empire in Indien aus imperialer Gewalt bestand, gemischt mit bereits bestehenden Systemen von Macht und Autorisierung. Eine weitere Antwort findet sich in den genauen administrativen Techniken des Indian Civil Service. Wieder eine andere Antwort liegt in der genauen Vermessung und Aufteilung des indischen Raums23 sowie dem Aufbau zusammenhängender Straßen und Sperren.24 Eine weitere, bei der ich etwas verweilen möchte, war die Einrichtung geregelter Kreisläufe von Abreise und Wiederkehr, die affektive Räume der Bindung darstellen konnten und dies auch taten. So gab es beispielsweise den von Mittelklasse-Familien errichteten Kreislauf von Abreise und Rückkehr, an den sich viele Hoffnungen und Sehnsüchte knüpften, getrübt nur durch abschreckend hohe Todeszahlen.25 Das Empire in Indien ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie durch solche Familien ein kardinaler Gefühlsraum konstruiert werden konnte, ganz besonders durch den Austausch von Waren (der seinerseits natürlich eine komplizierte Geographie hat). Insbesondere kam dem Verteilen von Geschenken eine zentrale Rolle im Gefühlshaushalt der angloindischen Gesellschaft zu (es kann hier hinzugefügt werden, dass dies für das Verhältnis zwischen den Besatzern und der indischen Elite galt). Das Verteilen von Geschenken ermöglichte eine Serie emotionsgeladener Mechanismen zur Bildung einer noch zu errichtenden kolonialen Identität; dies geschah vornehmlich durch ausgedehnte Verwandtschaftsnetzwerke, die gleichermaßen die Empfänger dieser geschenkbeladenen Freigiebigkeit wie auch ihre Hauptregulatoren waren.26 Diese Geschenkökonomie war dann am nachhaltigsten, wenn es um die Mitführung von Objekten ging, die schmerzvolle Affekte evozierten – wie etwa Trauerringe und -broschen, in denen das Haar der Verstorbenen um die Welt transportiert wurde und die somit korrespondierende Bindungen und Erinnerungen zwischen hier und dort schufen. Wir sehen hier ein Arrangement ineinandergreifender Kreisläufe des Empire, deren Geographien grundlegend für den Erhalt des Empire waren. Raum ist hierbei nichts Beiläufiges; er war das, woran gearbeitet werden musste, um das Empire in Gang zu halten.27 Tatsächlich wurde auch schon diskutiert, dass die tiefen emotionalen Bindungen, die in und zwischen Mittelklassefamilien durch den Kreislauf von geschenkten Gütern geschaffen wurden, ein frühes und sehr effektives Mittel waren, um Transaktionskosten zu minimieren. Dadurch wurde die Errichtung des Empire in Indien zu einem ungleich effizienteren Unternehmen, als dies ansonsten gewesen wäre. Dementsprechend gehörten die Vermögen, die einige dieser Familien ansam23 24 25 26 27

Vgl. Edney: Mapping an Empire. Vgl. Moxham: The Great Hedge of India. Vgl. Collingham: Imperial Bodies. Vgl. Finn: „Colonial Gifts“. Vgl. Wilson: The Island Race.

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melten, sicherlich zu den wichtigsten Kraftstoffquellen für die späte georgianische Konsumwirtschaft und den viktorianischen Eisenbahnboom; auf diese Weise erzeugten sie ökonomische Folgen weit jenseits ihres ursprünglichen Wirkungskreises, für Räume, die ihrerseits weit entfernt sind.

Andere organisieren Mit Überlegungen zu einem der anderen Mittel, mit denen Raum hergestellt wird, möchte ich schließen. Und zwar mit und durch die Erfordernisse der Performanz. Moderne kommerzielle Organisationen setzen sich zusammen aus vielen Erweiterungen von Praxis, jede davon mit ihren eigenen methodischen Vorkehrungen, die mittlerweile als Rohstoff von Organisation naturalisiert sind. Dies fängt an bei Flip Charts, geht über Abteilungsstrukturen, Inventare und Verkaufsstatistiken bis zu den unterschiedlichen Softwarepaketen, die ihrerseits ihre eigenen Wissensmodi herstellen und in verschiedener Weise durchspielen. So umfasst Organisation heutzutage beispielsweise endlose Workshops, Seminare, Konferenzen und Zertifikatskurse, die reziprok je besondere Seinsmodi bestätigen. Anstelle formalistischer Beschreibungen (die ihrerseits zu einer Vergötterung der Technik einladen) werden Organisationen mehr und mehr als Komposita betrachtet, die aus vielen Dingen hergestellt werden. Sie sind in mehr oder weniger gespannter Ausrichtung angeordnet, und dies durch eine Kombination aus historischen Umständen und den inspirierten Taten längst Verblichener. Wenn dies tatsächlich der Fall sein sollte, stellt sich die Frage, was Organisationen zusammenhält und sie antreibt. Eine mögliche Antwort wird mehr und mehr in ihrer Performanz gesehen.28 Dieses Wort ist eindeutig mehrdeutig. In Wahrheit aber soll es einfach die Fähigkeit bezeichnen, in eine Situation hinein, so wie sie sich darbietet, überzeugend zu agieren, indem man sich jegliche ihrer dynamischen Neigungen zunutze macht. Dies ist auch eine praktische Ethik der Entdeckung und Erfindung. Organisationen bestehen fast nie aus Praktiken, die so mechanisch sind, dass sie sich selbst reproduzieren. Gewöhnlich bestehen sie aus einem Arrangement von Ausgangspraktiken, die sehr oft in die Irre führen können oder zumindest einer grundlegenden Justierung unterzogen werden müssen, um beibehalten werden zu können.29 Unter diesen Umständen ruft man oft nach Improvisation, aus der manchmal Lösungen hervorgehen, die die Basis für neue Praktiken legen. Dieser Prozess meist beständiger Improvisation wird forciert durch die exakte Kräftekonfiguration, die Akteuren jederzeit präsent ist, was wiederum eine mehr oder weniger geschickte Antwort auf das Arrangement der Dinge

28 Vgl. Thrift: Knowing Capitalism. 29 Vgl. Law/Urry: „Enacting the Social“.

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erfordert, ein Gespür für die Gestimmtheit der Situation, das die Chinesen Qì nennen, das Potential, das aus der Disposition hervorgeht.30 Ein kritischer Aspekt von Qì ist der Raum. Das, was man als Konfiguration bezeichnet, ist genau dies: ein beständiges Neu-Arrangieren von Dingen als Erwiderung auf Ereignisse. Was als Qì gilt, verlangt alle Arten von räumlichen Handlungen: Verbindung, Gegenüberstellung, Trennung, Zusammenführung, Spannung, Bewegung, Veränderung, Schwingung, erarbeitet in einer Abfolge verschiedener Register: körperliche Bewegung wie beispielsweise Gesten; unterschiedliche Konstellationen von Klängen, Berührungen, optischen Eindrücken und Gerüchen, die eine Situation versinnbildlichen; die Beschaffenheit des Geländes [lie of the land], welche den Körper in vielerlei Weise zurückdrängt, wie z.B. durch das Gleichgewicht, durch die Werkzeuge, die zur Hand sind, usw.31 Und so landen wir wieder bei Julie Mehretus spekulativen Kartographien, die nicht nur dynamische, sondern auch strategische Arrangements sind. Dieses strategische Element ist bedeutend, denn es ist genau die Funktion ihrer Kunst, die Möglichkeit der Möglichkeit festzuhalten, indem sie den unterschiedlichen Arten, operative Wirksamkeit herbeizuführen, ein Portfolio abgewinnt, das zudem neue Zustände beschreibt. Einige dieser Zustände werden neue hybride Akteure sein, die zum ersten Mal am Beginn ihrer Bahn erblickt werden können, während sie sich darauf vorbereiten, ihr Werk zu beginnen.

Schluss Was ergibt sich aus dem Zusammenhang dieser Beobachtungen? Ich denke, wir können darin neue Ansätze sehen, über Wirksamkeit und Ursächlichkeit nachzudenken, darüber, wie wir in der Welt sind, in der es keinen gesicherten Grund, aber immer noch Kohärenz gibt, und in der Nähe durch Verteilung [distribution] ersetzt wird. Grob gesagt, haben die vorherrschenden Vorstellungen von Kausalität immer dazu tendiert, lineare und selbstgenügsame Plots zu sein, in der Annahme, dass Menschen Dinge tun, die dadurch, dass sie progressiv zu immer umfassenderen und effektiveren Organisationen aggregieren, zu sozialen Kräften werden.32 Heute aber können wir sehen, dass dieses Modell von Operativität so einfach ist, dass es nicht nur in die Irre führt, sondern gar Schaden anrichtet. In der Folge fangen wir nun damit an, neue kausale Pfade zu entwerfen, auf denen es vielmehr darauf ankommt, wie wir unsere Aufmerksamkeit ausrichten; auf denen die Fähigkeit, hinzuzufügen oder zusammenzustel-

30 Vgl. Jullien: The Propensity of Things. 31 Vgl. Ingold: „Culture on the Ground“. 32 Vgl. Kern: A Cultural History of Causality.

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len, wichtiger ist als die, zu entfernen; auf denen Abstraktionen die Verlockungen darstellen und nicht Verallgemeinerungen; auf denen das Verlangen nach Kohärenz noch Wunder beinhaltet; auf denen, mit anderen Worten, sich neue Reibungstypen materialisieren sowie Hintergründe ihre Form und Größe ändern.33 Wenn dies geschieht, erhält der Raum nicht mehr Relevanz (da es schwierig ist, sich eine Welt zu denken, in der der Raum nicht relevant wäre), sondern mehr Halt. Er ist nicht länger das Nebenprodukt von etwas Tieferem oder eine bequeme Krücke oder ein konkretes Resultat, Raum ist vielmehr – möglicherweise immer mehr vorbehandelt, zweifelsohne aber aus Teilen zusammengesetzt – der Grundstoff des Lebens selbst. Wenn wir diesen sense of space angemessen ausbilden, dann kann der Raum sich anfühlen wie etwas, das zugleich fürsorglich ist und Fürsorge braucht. Aus dem Englischen übersetzt von Holger Steinmann und Daniel Seibel

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33 Vgl. Thrift: „Movement-space“; Thrift: Knowing Capitalism; Tsing: Friction.

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Zeit : Raum MIKE CRANG

Gelegentlich trachtete die Geographie danach, eine Raumwissenschaft zu sein; manchmal wollte sie sich durch räumliche Differenzierung oder die Synthese verschiedener Faktoren in bestimmten Umgebungen definieren.1 In der Tat verhält es sich nach allgemeiner Auffassung so, dass die Fragestellungen der Geographie an Definitionen ausgerichtet sind, die den Raum in ihr Zentrum stellen. Wenn wir aber Studierende im ersten Studienjahr danach fragen, was Raum sei, gehen die konstruktivsten Antworten in Richtung letzte Grenze. Tatsächlich ist es wahrscheinlich, dass die meisten Studierenden der Geographie in einem bis zu neun Jahre dauernden Studium sich nur selten mit explizit theoretischen Diskussionen des Raums befassen. Raum gilt als offensichtlich, als evident und scheint nicht wirklich weiterer Untersuchung zu bedürfen. Unsere Sicherheit im Gebrauch des Wortes Raum wie auch unser Unvermögen, das Besondere dieses Begriffs zu bestimmen, erinnert an die Diskussion des Begriffs der Zeit durch Augustinus, Bischof von Hippo, 397 n. Chr.: „Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären soll, weiß ich es nicht.“2 Sowohl Zeit als auch Raum sind alltägliche Begriffe, die jedermann aus der Alltagserfahrung heraus versteht, und so bleiben sie oft undefiniert. Dieses Definitionsmanko wird durch die fachwissenschaftliche Arbeitsteilung verschlimmert, denn die Geographie tendierte immer dazu, sich als Raumwissenschaft zu begreifen und daher sich in Bezug auf die Zeit für unzuständig zu erklären. Befragt man Studierende der Geographie nach ihren Begriffen von Raum, ergibt sich eine große Mannigfaltigkeit 1

2

Der Original-Beitrag erschien unter dem Titel: „Time : Space“, in: Cloke, Paul/Johnston, Ron (Hrsg.): Spaces of Geographical Thought. Deconstructing Human Geography’s Binaries, London u.a. 2005, S. 199-220. Er wurde für den Wiederabdruck geringfügig überarbeitet. Augustinus: Bekenntnisse, S. 314.

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von Antworten; wenn ich aber die gleichen Studierenden nach Zeit frage, zeigen sie sich ratlos. Wenn Zeit als problematisch betrachtet wird, dann in dem Sinne, dass ein angemessener Maßstab gefunden werden muss, um den zur Diskussion stehenden Prozessen und Phänomenen gerecht zu werden – geradeso wie es auch für räumliche Kategorien gilt. Die einzige Frage ist nun nicht, wie das wahre Wesen von Raum und Zeit beschaffen ist, sondern vielmehr, wie viel wir von beiden betrachten. Ich werde hier zeigen, dass die Geographie doch einige Aufmerksamkeit der Frage zugewendet hat, was Raum eigentlich sei und welche Beziehungen sich zu skalaren Kategorien wie Regionen, Örtlichkeiten oder sogar zu Vorstellungen von Ort herstellen lassen. Ich möchte diesen Fragen nachgehen, um im Verlaufe dieses Beitrags die räumliche Seite der Zeit-RaumDichotomie zu entfalten. Die genannte Binarität soll unterlaufen werden, indem ich zeige, dass der Raum weder evident ist noch sich selbst erhält, sondern vielmehr – was umgekehrt auch für die Zeit gilt – auf problematische Weise durch ihrerseits problematische Begriffe von Zeit definiert wird. In Bezug auf diesen letzten Punkt müssen wir zugeben, dass die Geographen bislang noch kein großes Engagement entwickelt haben. Also scheinen sowohl der – mit der Geographie eng verbundene – Raum als auch die Zeit so klare Kategorien darzustellen, dass sie keiner weiteren Untersuchung bedürfen. Es sei denn, man würde nachweisen, dass beide soviel Gepäck und so viele unterschiedliche Bedeutungen mit sich führten, dass sie sorgfältiger Aufmerksamkeit bedürfen. In diesem Kapitel soll erstens behauptet werden, dass Raum und Zeit zahlreiche Facetten und Definitionen haben. Zweitens sind sie nicht nur für sich genommen komplex, sie neigen zudem dazu, ihre Begriffe gegenseitig zu bestimmen oder zu verunklaren. Häufig stützen sich Definitionen der Zeit, explizit oder implizit, auf Definitionen des Raums und umgekehrt. Ich werde zu zeigen versuchen, dass hierbei manchmal die Zeit mit dem Raum verglichen wird (aber selten umgekehrt) und der Raum paradoxerweise als Gegensatz der Zeit definiert wird – was einem klassischen Dualismus entspricht. Diese analytischen Differenzierungen verfolgen unterschiedliche ontologische Konzepte und philosophische Positionen. Doreen Massey hat beispielsweise nachgewiesen, dass für radikale politische Konzepte die traditionell bedeutsame Kategorie die Zeit war, welche mit den Möglichkeiten von Fortschritt und Wandel assoziiert wird.3 Es ist charakteristisch, dass dies eine Verbindung des Raum-Zeit-Dualismus mit einem anderen bedeutenden philosophischen Dualismus impliziert – dem von Sein und Werden. Sein hat mit dauerhaft bestehenden Wesen und Entitäten zu tun, Werden hingegen mit einem sich in der Zeit entwickelnden Prozess. Der Raum ist ans Sein, die Zeit ans Werden geknüpft. So 3

Vgl. Massey: „Politics and Space/Time“; dies.: „Philosophy and Politics of Spatiality“.

ZEIT : RAUM Ň 411

kommt man zu dem Schluss – um die breite Rezeption eines Essays von Foucault zu paraphrasieren – dass die Zeit als fruchtbar und schöpferisch erscheint, während der Raum als passiv und träge aufgefasst wird. Und doch hat in den vergangenen ein oder zwei Jahrzehnten so etwas wie eine Umkehrung stattgefunden oder, um Sojas Untertitel zu benutzen, ein Wiedererstarken des Raums in der Gesellschaftstheorie.4 Einige Autoren haben konstatiert, dass es in der Beschäftigung mit Zeit und Raum eine epochale Verschiebung zugunsten des Raums gegeben habe und dass unsere Begriffe von den Beziehungen zwischen Raum und Zeit durch soziale Veränderungen beeinflusst werden. Darauf deutet das folgende, oft angeführte Zitat Foucaults: „Die große Obsession des 19. Jahrhunderts ist bekanntlich die Geschichte gewesen: die Entwicklung und der Stillstand, die Krise und der Kreislauf, die Akkumulation der Vergangenheit, die Überlast der Toten, die drohende Erkaltung der Welt. […] Hingegen wäre die aktuelle Epoche eher die Epoche des Raumes. Wir sind in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander. Wir sind, glaube ich, in einem Moment, wo sich die Welt weniger als ein großes[,] sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt.“5

Diese programmatische These wurde, genau wie auch ich sie hier verwende, zum Banner einer Darstellung, die Theorie auf dem Weg zu einer Beschäftigung mit dem Räumlichen sieht. Dieser Umbruch in der Theorie verläuft parallel zu sozialen und materiellen Veränderungen – in einer Welt der globalisierten Medien und des globalisierten Handels, in der die Folgen von Veränderungen in einem Markt sofort in einem anderen spürbar werden. So beschreibt Fredric Jameson eine durch Gleichzeitigkeit gekennzeichnete Welt, die eine Ästhetik der Nachahmung hervorruft, die auf die eklektische Verbindung von Formen vieler Epochen hinausläuft. Einfach ausgedrückt, löst nicht mehr ein Stil den anderen in linearer Folge ab oder wird diesem gegenüber höher bewertet, vielmehr bestehen sie zur gleichen Zeit nebeneinander.6 Der Architekt Bernard Tschumi stellt dies in einer einfachen Grafik dar und bezeichnet den Raum als „synchrone Zeit“7 – Koexistenz von Dingen zur gleichen Zeit (vgl. Abb. 1). Jameson argumentiert entsprechend, dass wir uns neu orientieren müssen. Erforderlich sei ein „cognitive mapping“, um mit dieser zeitlichen Koexistenz zurechtzukommen. Weiterhin behauptet er, dass in der gegenwärtigen Epoche die Sprache der Theorie, und womöglich ihr ontologi4 5 6 7

Vgl. Soja: Postmodern Geographies. Foucault: „Andere Räume“, S. 34. Vgl. Jameson: The Cultural Turn. Tschumi: „Diasync“, S. 170.

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scher Belang, sich von zeitlicher Entwicklung zum räumlichen Einschluss wandle – die Auswirkungen von Handlungen werden nicht mehr im historischen Verlauf entfaltet, das vorrangige Problem ist vielmehr ihre rapide räumliche Ausbreitung; nicht die Zeit, sondern der Raum birgt die Folgen.

Abb. 1: Synchrone und diachrone Zeit in der gebauten Umwelt8

Synchrone Zeit (Simultaneitäten)

Diachrone Zeit

Auch in künstlerischen Bewegungen „ist die Ausgestaltung des Raums zum zentralen ästhetischen Problem der Kultur des mittleren 20. Jahrhunderts geworden, so wie das Problem der Zeit (bei Bergson, Proust und Joyce) das zentrale ästhetische Problem der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts war.“9 Eine derartige Darstellung des Zeitgeists unseres Jahrhunderts mag ansprechend sein, aber sie übertreibt eindeutig den vermeintlichen Wandel des Gegenstands. So merkte kürzlich Fredric Jameson zynisch an: „Was kommt nach dem Ende der Geschichte? Da keine weiteren Anfänge vorgesehen sind, kann es nur das Ende von etwas anderem sein. Aber die Moderne ist schon vor einiger Zeit zu Ende gegangen und mit ihr, wahrscheinlich, die Zeit selbst, da ja weithin das Gerücht umging, es sei davon auszugehen, dass der Raum die Zeit im allgemeinen ontologischen System der Dinge ersetzt habe. Zu guter Letzt ist die Zeit zu einer Unperson geworden, und man hat aufgehört, darüber zu schreiben.“10

8 9

Nach Tschumi: „Diasync“. Daniel Bell, zitiert nach Harvey: The Condition of Postmodernity, S. 201 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit]. 10 Jameson: „The End of Temporality“, S. 695 [in der Übersetzung v. Holger Steinmann u. Simone Loleit].

ZEIT : RAUM Ň 413

Im Folgenden stellt Jameson die schwierige Frage, ob einige der theoretischen Konzepte, die gegen Ende dieses Textes dargelegt werden sollen, überhaupt erfolgreich einen Dualismus zusammenflicken können, obwohl es doch wohl häufiger der Fall zu sein scheint, dass sich „Zeit und Raum in einer Homerischen Schlacht bekriegen“11. Eher, als dass wir nun fachintern feiern, dass die Gesellschaftstheorie die Geographie wahrgenommen zu haben scheint, müssen wir darlegen, wie sich Raum und Zeit gegenseitig beeinflussen. Im ersten Schritt werde ich eine Reihe von Raumtypen entfalten, um dann eine ähnliche Reihe von Zeitvorstellungen aufzuzeigen. So können wir zumindest andeuten, dass es sich nicht um eine einfache binäre Beziehung zwischen zwei Begriffen handelt, sondern um Beziehungen zwischen unterschiedlichen Arrangements von Begriffen und somit häufig um unterschiedliche Beziehungen zwischen spezifisch unterschiedlichen Elementen. Worauf ich außerdem hinweisen möchte: Viele dieser spezifischen wie variablen Definitionen werden selbst von spezifischen und variablen Dualismen getragen. Um dies zu veranschaulichen, möchte ich zwei Weisen nachzeichnen, in denen Raummodelle verwendet worden sind, um Zeit zu verstehen. Zuerst soll untersucht werden, wie eines der im folgenden Abschnitt aufgezeigten ontologischen Konzepte des Raums – das des abstrakten Raums – im besten Fall als Veranschaulichung problematischer Zeitauffassungen, im schlimmsten Fall als Verdunkelung der gesamten Vorstellung des Zeitlichen betrachtet wurde. Die Beziehung dieses Typs Raum zur Zeit ist oft dafür benutzt worden, die Schwierigkeiten einer Verräumlichung der Zeit zu illustrieren – einer der zentralen Gründe dafür, warum Raum gegenüber der Geschichte als sekundär abqualifiziert wurde. Ich schlage vor, dies zumindest als ein Problem zu betrachten, das möglicherweise nicht den räumlichen Begriffen selbst, sondern der besonderen Verwendung des abstrakten Raumbegriffs inhärent ist. Das zweite Beispiel, das von mir angeführt wird, bezieht sich auf eine etwas weiter gefasste Epistemologie des Raums, das der Landschaft als Konvergenz, die eine Vielfalt von interagierenden Temporalitäten anzeigt. Hier wird der Raum dafür genutzt, dasjenige freizusetzen und zu pluralisieren, was eigentlich der Kategorie der Zeit zukommt. Zuletzt wende ich mich den Kategorien zu, die Raum und Zeit zu verbinden suchen; dabei gilt die Konzentration einem von dem Literaturwissenschaftler Mikhail Bakhtin übernommenen Konzept: dem Chronotopos.

11 Ebd., S. 698 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit].

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Vielfältige Räume Im Folgenden werden hier zunächst einige der Themen von John Agnews Aufsatz „Space : Place“12 rekapituliert, um solche Interpretationen von Raum hervorzuheben, die in Bezug auf die Zeit-Vorstellungen von zentraler Bedeutung waren. Wollen wir mit der offensichtlichsten Bedeutung von Raum beginnen, dann ist es die der Lage. Was meinen wir grundsätzlich, wenn wir von lokalisiert reden? Eine Definition mag häufig mit Koordinaten beginnen: x und y, Ost-West und Nord-Süd als eine Ausformung des Newtonschen Raums; leider bleibt sie zu häufig dabei stehen. Dies deutet darauf hin, dass hier eine Bedeutung von Raum als Länge, Fläche oder Volumen impliziert ist, die ihrerseits eine unendliche Zerteilbarkeit in Einheiten impliziert (x1, x2, x3, … xn, y1, y2, y3, … yn). Das heißt zudem: Hier geht es um eine Unterscheidung der Lage, nicht um ein Charakteristikum. Dabei setzen wir zwei Dinge voraus. 1.) Objekte sind von ihrer Lage unabhängig – ein Haus an einem Ende einer Straße mag das gleiche sein wie eins am anderen Ende, der einzige Unterschied zwischen ihnen ist die Position. Das hieße nun nicht, dass dies keinen Unterschied macht, man denke nur an die drei Schlüsselfaktoren der Hauspreise („Lage, Lage, Lage“), und schon sieht man, dass die räumliche Position wichtig ist. Aber die Art dieser Unterscheidung ist rein rechnerisch oder quantitativ. Man erkennt, dass diese Raumvorstellung ihre logischen Schlüsse aus den Prämissen hinter dem Standortmodell von Thünen oder Christaller zieht – eine isotrope Fläche, in der Raum homogen und quantifizierbar ist und alle anderen Differenzen getilgt sind. Solch ein Raumkonzept aber hat tatsächliche Konsequenzen. Das vielleicht berühmteste Beispiel ist die Kartierung des Westens der Vereinigten Staaten, wo, jenseits der Route 277 in Ohio, das Land für mögliche Homesteads, Siedlungen und Townships13 durch weite, ausgreifende Meridianlinien markiert wurde, die sich mit einer solchen Regelmäßigkeit quer über das Land zogen, dass es mit Millimeterpapier verglichen wurde.14 Dem Raum wurde jeglicher substantielle Gehalt entzogen und durch leere und austauschbare Einheiten ersetzt. Dies erleichterte die schnelle Nutzbarmachung des Lands – mit standardisierten Parzellengrößen bzw. deren Vielfachen, wobei die individuelle Lage allein durch das Raster identifiziert wird. 2.) Diese Auffassung von Raum sieht Territorium als unterteilbar und multiplizierbar an. Anders ausgedrückt: Wenn die einzige Unterscheidung zwischen Orten in ihrer Lage besteht, 12 Agnew: „Space : Place“. 13 [Anm. d. Übers.: Laut des Homestead Act von 1862 ist solch eine Heimstätte (homestead) ein Bereich von 160 Morgen, der jedem US-Bürger bewilligt wurde, der sich entschloss, für wenigstens fünf Jahre dieses Stück Land zu besiedeln und zu bebauen. Ein Township ist eine Verwaltungseinheit von 6 Quadratmeilen.] 14 Linklater: Measuring America, S. 178.

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können diese immer feiner in kleinere Bestandteile unterteilt oder aber auch zusammengefügt werden, um größere Einheiten zu bilden. Die einzige Veränderung besteht in der Quantität. Wie Lefebvre es ausgedrückt hat: „Dies ist ein Raum, der homogen und doch gleichzeitig in Fragmente zerbrochen ist.“15 Es gibt zahllose, alternative Weisen, den Raum auf einen Begriff zu bringen. Von diesen wähle ich drei aus, die die Themen umreißen, die sich später ergeben werden. So könnten wir zunächst argumentieren, dass dieser leere Raum im Grunde überaus verfestigt ist; dass ihm schon Bedeutung zukommt, bevor er mit Inhalt gefüllt ist. Eine relationale, Leibnizsche Sicht würde ihn alleine durch die Objekte in ihren Verhältnissen untereinander definiert sehen. Ein Beispiel: Eine Feudalgesellschaft, in der die Landzuteilung nach der Zahl der Schweineherden bemessen wird, die darauf weiden können (um nur einen Maßstab anzuführen, der im Domesday Book aus dem England des 11. Jahrhunderts benutzt wurde), hat eine ziemlich andere Vorstellung vom Raum als eine Gesellschaft, in der standardisierte Längen- und Breiteneinheiten den Besitz definieren. Die sich wandelnden Bedeutungen von Raum in unterschiedlichen Epochen erzählen nicht nur eine Geschichte des akkuraten Vermessens, diese Geschichte handelt auch vom Wandel der Beziehung zum Raum in verschiedenen Gesellschaften; oder wie Lefebvre es ausdrücken würde: Es geht nicht nur um die sozialen Beziehungen und Widersprüche im Raum, sondern des Raums.16 Um es anders zu formulieren: Gesellschaften erscheinen nicht einfach in einem vorgegebenen Raum, wobei die einzige Frage wäre, wie viel sie davon besetzen; sie erzeugen vielmehr den Raum. Selbst wenn wir an die leeren Räume denken, die mit dem Vermessen und Unterteilen des amerikanischen Westens geschaffen wurden, so wurde dieser Raum doch nur produziert, um seine Kolonisierung zu ermöglichen und zu erleichtern (und zwischen Staat, Farmern und Spekulanten einen Interessenausgleich herbeizuführen). Seine Leere und der Mangel an substantieller Bedeutung aller vorhandenen Stellen sind geschaffen, es handelt sich um eine „semantische Leere, die vorgängige Bedeutungen tilgt“17. Diesen abstrakten Raum kann man der bewohnten, personalisierten Bedeutung, die Orten gegeben wird, entgegensetzen. Wie sich Michel de Certeau ausdrückte – und dabei die Begriffe, wie sie generell in der Geographie gebraucht werden, irritierenderweise vertauschte: Raum ist der bewohnte Ort.18 Um es auf den Punkt zu bringen: Häuser unterscheiden sich in mehr als nur in ihrer Lage, wenn eines dieser Häuser unseres wird. Diese Unterteilung von Ort und Raum ist seit einer langen Zeit gültig, und 15 Lefebvre: The Production of Space, S. 342; Hervorhebung im Original [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit]. 16 Vgl. ebd., S. 334. 17 Ebd., S. 307 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit]. 18 Vgl. Certeau: „Practices of Space“; ders.: Kunst des Handelns.

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wir können sie sicherlich bis auf Platon und Aristoteles zurückführen. Der Raum wird hier vorgestellt als kenon, d.h. Leere, oder als chora, mit variierenden Bedeutungen wie amorph, Gefäß oder Behälter, und als topos, womit der bekannte, umfriedete und bewohnte Ort bezeichnet wird.19 Es ist möglich, chora als instabilen Begriff, als Weder-Ort-noch-Raum zu lesen, wie dies beispielsweise Derrida tut.20 Dennoch wurde chora zumeist mit kenon zusammengelesen, um zu betonen, dass der Raum der nasse Ton ist, der darauf wartet, geformt zu werden, oder genauer: das Gefäß, das darauf wartet, befüllt zu werden. Der Frage nach dem topos möchte ich mich genauer widmen. So könnten wir an heilige Orte denken, die das sind, was Lefebvre einen absoluten Raum nennen würde. Diese sind keineswegs beweglich, sie beruhen vielmehr auf der besonderen Belehnung eines Orts. Diese Stätten sind eben gerade nicht austauschbar. Dies ist die ursprüngliche Idee des genius loci, des Geists eines Orts. Interessanterweise wird einem damit heute meist die besondere Qualität eines Orts nahe gelegt, die durch eine dauerhafte Verbundenheit und Konvergenz vieler Faktoren – der alltäglichen Rhythmen, der persönlichen Geschichten sowie säkularer und religiöser Rituale – entstanden ist. Die Betonung der Konvergenz suggeriert, dass es hierbei um die Fusion zu einem neuen Ganzen geht. Es geht also nicht um „extensive Grenzen“, um die Definition eines Orts durch die Grenzen räumlicher Ausdehnung, sondern vielmehr um eine intensive Schwelle, an der es eine innere Transformation gibt, die einer Phasenverschiebung gleicht.21 Wenn wir uns an unsere erste Liste binärer Oppositionen erinnern, so wird deutlich, dass Vorstellungen der intensiven Schwelle oder des Bewohnens dem Ort ein Werden zuschreiben – und nicht einfach ein Sein. Er wird geschaffen und erneuert und somit auch verändert. Diesem Komplex können wir uns anhand eines Vokabulars nähern, das den Raum als Handlung und nicht als Lage begreift. Eine Möglichkeit dieser Annährung ist durch die Vorstellungen des Wohnens gegeben, die wir, nach Heidegger, als die Aktivität des In-der-Welt-seins verstehen können. Mit Sicherheit können wir an dieser Stelle die affektive Dimension des Raums betonen – seine emotionale Resonanz, wie etwa das Sicherheitsgefühl, sowie seine Besonderheit. In diesem Sinne bestimmt Gaston Bachelard räumliche Archetypen der Sicherheit wie die Höhle, aber auch weitergehende binäre Oppositionen von Innen und Außen.22 Stärker aber noch ist der Eindruck, dass es nicht um einen Raum geht, der Objekte enthält, sondern um einen Raum, der durch Handlungen geschaffen wird; somit könnte man eher von Spacing sprechen. In seiner Analyse eines griechischen Tempels 19 Vgl. Grosz: Space, Time and Perversion. 20 Vgl. Eisenman: „Separate Tricks“, S. 134. 21 Vgl. Landa: „Extensive Borderlines and Intensive Borderlines“; ders.: „Deleuze, Diagrams and the Open-Ended Becoming of the World“. 22 Vgl. Bachelard: Poetik des Raumes.

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konstatiert Heidegger, dass dieser nicht einem gegebenen Ort hinzugefügt wird; vielmehr gelte: „das Gebäude geht seiner Stätte voraus.“23 D.h., es ist der Tempel, der den Eindruck eines sakralen Raums schafft, er schafft den Grund für sein Volk.24 Anhand der Dichtung Hölderlins über die großen deutschen Ströme erläutert Heidegger, dass Ströme nicht Symbole verschiedener Orte sind, sondern dass sie diese Orte schaffen. Sie machen das Land, das mit ihnen verbunden ist, nicht nur in einem geomorphologischen Sinne, sondern auch im Sinne eines bewohnten Territoriums; somit stellen diese Gedichte die Verortung dar, sie sind örtlich im Gegensatz zu räumlich.25 Der Grund meiner Beschäftigung mit Heidegger besteht darin, dass er (1.) eine fruchtbare Verbindung zur Problematik der Zeit anbietet, die seine Hauptsorge ist, und dass er (2.) uns von der Sichtweise abbringt, der abstrakte Raum sei objektiv und der Ort subjektiv. Er richtet sich gegen diesen Dualismus, indem er auf der Objektivität des Wohnens besteht. Er erläutert, dass jegliches Verständnis vom Sein am Ort seinem Situiert-Sein entspringe. Sein Fokus ist weder auf das Subjekt noch auf das Objekt gerichtet, sondern auf die Situation.26 Mit anderen Worten: Es gibt kein unverortetes Wissen, keinen transzendentalen Gesichtspunkt und kein unverortetes transzendentales Subjekt. Während Heideggers Position gefährlich konservativ sein kann, so kritisiert er doch abstraktes Wissen, da es von Darstellungsweisen abhängt, die uns von der Beschäftigung mit der Erfahrung abhalten. Diese Kritik findet ihr Echo in Lefebvres wohlbekannter Dreiteilung in (1) Darstellungen des Raums, (2) darstellender Raum und (3) räumliche Praxis;27 jene kann umschrieben werden als (1) abstrakte Ideen des Raums, (2) affektiver und schließlich (3) gelebter Raum. Diese Dreiteilung liefert auch den Rahmen für diesen Text. Wir beginnen bei ideologischen Raumvorstellungen, die offensichtlich eine Rolle spielen bei der Formung von Gesellschaften, ihrer Strukturen und Aktivitäten; dann reflektieren wir das Gespür für die Bedeutung und die emotionale Resonanz von Orten, bevor wir schließlich über die Bewohnung dieser Orte nachdenken – also nicht über ihre Darstellung durch vermittelnde Schemata, sondern ihren direkten Bezug zu den Aktivitäten und Identitäten der Leute. Es ist verräterisch zu erkennen, wie bestimmte Aspekte der Bedeutungsvielfalt von Raum im Laufe der Zeit immer wieder erörtert wurden.

23 24 25 26 27

Wigley: Architektur und Dekonstruktion: Derridas Phantom, S. 67. Vgl. Elden: Mapping the Present, S. 66. Vgl. ebd., S. 36. Vgl. Jameson: „Time and the Concept Modernity“, S. 213. Vgl. Lefebvre: The Production of Space, S. 40-46.

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Vielfältige Zeiten Wenn der Raum oftmals als eine allgemein anerkannte Grundvoraussetzung und ein von allen geteiltes Gegebenes aufgefasst wird, welches Analysen als fester Anker dient, so kann das Gleiche in noch stärkerem Maße von der Zeit gesagt werden, weil hier zudem das Gesetz der Richtung greift. Zeit wird oft, im Unterschied zum Raum, durch ihre Unumkehrbarkeit definiert. Diese Wahrnehmung des Flusses unterstützt die Vorstellung der Zeit als Werdendes und des Raums als Seiendes, der Zeit als Handlung und des Raums als Umgebung. Dennoch kann auch Zeit keinesfalls selbstevident sein. Tatsächlich können wir sagen, dass die gelebte Zeit – um mit dieser zu beginnen – stärker von Zyklen als von linearen Flüssen bestimmt ist. „Das alltägliche Leben ist vor allem ein zeitlicher Begriff. Als ein solcher vermittelt er die Tatsache der Wiederholung; er bezieht sich nicht auf das Einzigartige oder Einmalige, sondern auf das, was sich ‚Tag für Tag‘ ereignet.“28 Diese Zeit ist nicht von Entwicklungslogik und bewusster Planung geprägt. Cullen erklärt, diese Beherrschung durch die Routine bedeute, dass – quantitativ ausgedrückt – überlegte Entscheidungen „überschwemmt werden durch ein vorherrschendes Muster von Wiederholung und Routine. Wir verwenden am Tag sehr wenig Zeit darauf, um entweder über eine zukünftige Handlung nachzudenken oder um eine vorab überlegte auszuführen. Der Großteil unserer Zeit ist dem Ausleben eines verfeinerten Musters von wohlgeordneter und ordentlich eingepasster Routine gewidmet.“29 Mit anderen Worten: Unserem täglichen Leben eignet eine Zeitlichkeit, die oft nicht dem linearen Verlauf des Zeitpfeils entspricht, sondern aus Zyklen geformt ist. Aufstehen, zur Arbeit gehen, Mahlzeiten einnehmen, Werktage und Wochenenden – all dies ereignet sich mit enormer Regelmäßigkeit, wenn wir die westlichen Gesellschaften betrachten. In größeren Abständen gibt es die Folgen von Geburtstagen und Festen. Anders gesagt, rituelle Zeiten, ob religiöse, persönliche, kommerzielle oder Mischungen aus all diesen, sind häufig zyklisch. Edward T. Hall bringt das Beispiel der Quiche Maya, die traditionell sowohl heilige als auch zivile Kalender besaßen, von denen beide eine unterschiedliche Anzahl verschieden langer Monate hatten, die nur alle 52 Jahre zusammenfielen.30 Im Unterschied zu den anglo-europäischen Kalendern, wo der Kreislauf der Routine zumeist nicht weiter differenzierte Tage abdeckt, hat

28 Felski: „The Invention of Everyday Life“, S. 18 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit]. 29 Cullen: „The Treatment of Time in the Explanation of Spatial Behaviour“, S. 31 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit]. 30 Vgl. Hall: The Dance of Life.

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hier jeder Tag im heiligen Kalender einen eigenen Namen.31 Wenn wir die Traumzeit der australischen Aborigines betrachten, so werden wir gewahr, dass es sich um eine Zeit kontinuierlicher Wiederkehr und Relevanz handelt – es ist eine mythische Zeit, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie außerhalb unserer allgemeinen Zeit steht, und die nicht vergangen, sondern kontinuierlich gegenwärtig ist.32 Des Weiteren sollten wir nicht das Gegenteil der heiligen Zeiten vergessen: profane Zeiten, wie die Zeit des Karnevals oder andere Zeiten der Muße, in denen die normale Ordnung auf den Kopf gestellt wird. Zyklische Zeit kann demnach auf unterschiedlichen Ebenen bedeutsam sein. Hall schließt, dass wir mindestens acht Gruppen von Zeittypen bestimmen können, die anhand von grundlegenden Oppositionen unterschieden sind: Demnach können einige als physisch (z.B. das Altern, die Jahreszeiten) gedeutet werden, andere als kulturell (z.B. Religionen); einige Zeiten könnten als individuell oder kollektiv definiert werden, andere sind „exogen“ (wenn sie als objektiv erscheinen) und andere kontextbezogen (abhängig vom Betrachter), um den Gegensatz von objektiv und subjektiv aufzugreifen. Setzt man diese Aspekte zueinander in Bezug, so ergeben sich (1) heilige, (2) profane, (3) kleinskalierte, (4) synchrone, (5) persönliche, (6) biologische, (7) physische und (8) metaphysische Zeittypen.33 Nur um dieser komplexen Darstellung noch etwas hinzuzufügen, könnten wir das sich im Verlauf der Geschichte wandelnde Verhältnis von linearer und zyklischer Zeit in den Blick nehmen. Wissenschaftler haben oft auf die Verbindung von Frauen und reproduktiver Arbeit hingewiesen und behauptet, diese habe einen eher zyklischen Charakter gehabt – während Männer, die Zugang zum öffentlichen Raum haben, auch Zugang zu einer öffentlichen Zeit des historischen Fortschritts hätten. Historisch lässt sich das gleiche Muster auf die Erfahrung der Klassen übertragen; lineare Zeit ginge hier einher mit einer fortschrittlichen Selbsterzählung von Selbstverwirklichung und Bildung, die wir in der frühmodernen Epoche unter dem Bürgertum sich entwickeln sehen – gestützt durch eine große Zahl neuer Technologien. So können wir hier beobachten, dass die Stunden- und Gebetsbücher, die zu Andachtsübungen für jede einzelne Stunde jedes einzelnen Tages anleiten, von persönlichen, reflektierenden Tagebüchern abgelöst werden, welche das Selbst und das Selbstverständnis in eine weltliche Erzählung verweben. Es wird häufig behauptet, diese Erzählform sei mit einer linearen Zeit verbunden, die sich allmählich in der Gesellschaft verbreitet

31 Vgl. ebd., S. 81. 32 Vgl. Perkins: „Timeless Cultures – the ‚Dreamtime‘ as Colonial Discourse“. 33 Vgl. Hall: The Dance of Life, S. 17.

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habe.34 Es ist innerhalb von Untersuchungen literarischer und textueller Darstellungen von Zeit üblich anzunehmen, die Fähigkeit, sich selbst in der Zeit zu begreifen, bedeute zugleich wirklich, sein eigenes Leben als Erzählung wahrzunehmen.35 Das Selbst wird demnach dadurch zu einer Einheit, dass es eine sich zwischen Anfang und Ende entwickelnde Erzählung besitzt. Andere Darstellungen verweisen auf den Aufstieg des Kapitalismus zur Zeit des Hauptbuchs – einer Zeit, die über die mittelalterliche, von Glocken, die zu Kirche oder Moschee rufen, erfüllte Zeit triumphiert.36 Wenn der abstrakte Raum Land tatsächlich zu einer Ware macht, könnte man sich Lewis Mumford anschließen, die Uhr zum wesentlichen Instrument des industriellen Kapitalismus zu erklären.37 Jede Minute des Tages wird berechen- und messbar, um unter Kapital und Arbeit gehandelt zu werden. Wir müssen behutsam mit einer Entgegensetzung von zyklischer und linearer Zeit, wie etwa bei Hegel und Marx, umgehen; sie identifizierten das hinduistische Indien mit der zyklischen Zeit und so mit einem Mangel an Fortschritt und setzten die Britischen Kolonisatoren mit fortschrittsgewandter, dynamischer Modernität gleich.38 Nuanciertere Darstellungen religiöser Zeitvorstellungen betrachten die Klöster selbst als Entwicklungsstätten neuer Technologien, insofern sie jeweils auf die Tageszeiten und das Kirchenjahr abgestimmte Ordnungen und Abfolgen von Andachtsübungen erfanden. Tatsächlich war es also die Religion selbst, die – bei Augustinus – die Vorstellung eines Erzähl-Selbst beförderte, sowie die Wahrnehmung der Zeit als etwas, das klug zu verwenden sei. Wenn wir uns nun noch die Zeit als Fluss vorstellen, stoßen wir auf Paradoxien. Um zu Augustinus und seiner großartigen erzählenden Umgestaltung des Selbst in den Bekenntnissen zurückzukehren: In Buch 11, in dem er ausführlich durchdenkt, was dies für die Zeit heißt, formuliert er zum ersten Mal die Vorstellung einer verschwindenden Gegenwart, die erst gedacht werden kann, wenn sie vorbei ist. Das bedeutet, die Gegenwart ist nicht so sehr ein Tag oder eine Stunde oder gar eine Sekunde als vielmehr die feine Grenzlinie zwischen Zukunft und Vergangenheit. Ich würde vorschlagen, diese weniger als sich selbst voranbewegend, sondern vielmehr als Linie aufzufassen, durch die die Zukunft in die Vergangenheit fließt. Mit den Worten von Henri Bergson: Die Gegenwart sei nicht so sehr „das was ist, [sondern] […] einfach nur das […], was geschieht. Nichts ist so wenig, wie der gegenwärtige Augenblick, wenn man darunter 34 Vgl. Maynes: „Gender and Narrative Form in French and German WorkingClass Autobiographies“; dies.: „Autobiography and Class Formation in Nineteenth Century Europe: Methodological Considerations“. 35 Vgl. Currie: „Can There Be a Literary Philosophy of Time?“, S. 45. 36 Vgl. Le Goff: Time and Culture in the Middle Ages. 37 Vgl. Nowotny: Time, S. 47. 38 Vgl. Spivak: „Time and Timing: Law and History“.

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jene unteilbare Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft versteht. Wenn wir uns diese Gegenwart als sein werdend denken, ist sie noch nicht; und wenn wir sie als seiend denken, ist sie schon vergangen.“39 Die Gegenwart als der einzige Bereich, in dem wir handeln, scheint sich demnach fortzustehlen, während die Vergangenheit und die Zukunft ganz klar unterscheidbare ontologische Eigenschaften haben – die eine existiert noch nicht, die andere hat aufgehört zu sein. Augustinus – mit dem gleichen Problem beschäftigt – kehrte die Schlussfolgerung um und erzeugte damit das, was wir das „gegenwärtige Jetzt“40 nennen können anstatt der verschwindenden Gegenwart: „Als klares Ergebnis zeigt sich aber, daß Zukünftiges und Vergangenes nicht ist und daß es nicht in strengem Sinne zutrifft, es gebe drei Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. In strengem Sinne müßte man wohl sagen: Es gibt drei Zeiten, eine Gegenwart von Vergangenem, eine Gegenwart von Gegenwärtigem und eine Gegenwart von Zukünftigem. Diese drei sind nämlich in der Seele wirklich vorhanden, während ich sie anderswo nicht sehen kann: gegenwärtige Erinnerung an Vergangenes, gegenwärtiges Anschauen von Gegenwärtigem, gegenwärtige Erwartung von Zukünftigem.“41

Augustinus neigt eher dazu, Zeitlichkeit in menschlicher Erfahrung zu begründen als durch ein äußeres Maß. Wir langen nach vorne, um die Zukunft zu erfassen, während wir unsere Vergangenheit mit uns herumtragen – und so machen wir uns beide Elemente gegenwärtig. Der Begriff, den Augustinus für das Ausspannen des Geistes, um unsere Erwartungen und unsere Erinnerungen zu umfassen, benutzt, lautet distentio animi. Der Verstand erwartet, er ist aufmerksam, und er erinnert sich.42 Unsere eigene Erfahrung wird uns sagen, dass dies keine gleichförmige Zeitwahrnehmung ist, da es Gelegenheiten gibt, wo die Zeit einem erwarteten Ereignis entgegenzukriechen, von einem anderen, an das man sich gerne erinnert, fortzueilen scheint.43 Kein Moment ist dann vollständig in sich geschlossen, oder, wie wir sehen werden: Gegenwart bedeutet dann genau nicht Präsenz. Augustinus formuliert in seinem 14. Kapitel: „Wenn also die Gegenwart nur dadurch Zeit ist, daß sie in die Vergangenheit übergeht, wie können wir von ihr sagen, sie sei, wo doch der Grund ihres Seins der ist, daß sie nicht sein wird? So können wir in Wahrheit von der Zeit nur sagen, sie sei, weil sie zum Nichtsein übergeht.“44 39 40 41 42 43 44

Bergson: Materie und Gedächtnis und andere Schriften, S. 164. Ricœur: Zeit und Erzählung, Bd. III, S. 34. Augustinus: Bekenntnisse, S. 320. Vgl. Alliez: Capital Times, S. 131. Vgl. Flaherty: The Watched Pot. Augustinus: Bekenntnisse, S. 314.

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Oder, um die Bedeutung des Gesagten zu bestätigen: „Der schwache Einfluss der Gegenwart auf die Wirklichkeit […] ist ihrer selbst beraubt durch die sie umgebende gierige Nichtexistenz von Zukunft und Vergangenheit.“45 Die Erkenntnis der ausgedehnten Gegenwart wurde in einer Reihe von ontologischen Theorien der Zeit(lichkeit) ausgeführt. In Husserls Phänomenologie ist jeder Moment durch Protention und Retention gekennzeichnet, indem er die Spuren der Vergangenheit und die Samen der Zukunft mit sich führt. Diese Betrachtungsweise erreicht vielleicht ihren Höhepunkt mit Martin Heidegger, der das zeitliche Sein als Sache von drei ekstases oder Modi von Zeit ansieht: (1.) ein Mitsein, d.h. Gleichzeitigkeit, (2.) das Sein zum Tode, das die Gewalt des Zeitpfeils für alle Menschen anerkennt, und (3.) die „Geworfenheit“, das heißt, dass wir uns in der Welt in Situationen geworfen finden, die weder durch unser Zutun noch durch unsere Wahl zustande gekommen sind. Es kommt hinzu, dass die Tiefe und Form dieser Modi durch unsere Anteilnahme und Sorge, die wir der Welt entgegenbringen, gebildet werden – anders gesagt: Der Zeitrahmen, den wir von der Vergangenheit in die Zukunft sich erstrecken lassen, variiert in Übereinstimmung mit der Art von Aufgaben, die wir übernehmen. Die grundlegende Erkenntnis, zu der Heidegger dann gelangt, besteht in der Einsicht, dass das Leben und das Subjekt zeitlich sind. Wir entwickeln nicht zunächst eine Vorstellung vom menschlichen Subjekt und fügen diese dann in das Raster von Raum und Zeit ein; vielmehr wird das Subjekt durch die Strukturen von Zeitlichkeit und Räumlichkeit geformt. Diese Idee einer dreigeteilten Zeit, in der die Gegenwart dermaßen substanzlos ist und immer vorübergleitet, soll nun mit dem vorherrschenden System abstrakter Zeit kontrastiert werden, in welchem man die Gegenwart als definierbaren Zeitpunkt betrachtet.

Zeit als Raum (Teil 1) Sehr oft wird der Begriff der Zeit so entwickelt, als ob es sich dabei um eine Abfolge von Salamischeiben oder Perlen auf einer Schnur handeln würde: eine Serie von Momenten, die einander sequentiell folgen. Das Bezugsmodell dafür ist zweifelsohne das des abstrakten Raums, dem wir zu unseren räumlichen Koordinaten die zeitlichen in einer unendlichen und leeren Serie hinzufügen (t1, t2, t3, … tn). Wie Hall konstatiert, entspricht dies der anglo-europäischen Vorannahme, dass „Zeit ein leeres Behältnis [sei], das darauf wartet gefüllt zu werden“46. 45 Lloyd: Being in Time, S. 22 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit]. 46 Hall: The Dance of Life, S. 84 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit].

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Das vielleicht klassische Beispiel für diese Diskussion von Zeit und Raum als äußere Behältnisse ist die Zeit-Geographie. In dieser wird die Zeit als zusätzliche Achse den herkömmlichen Karten hinzugefügt, um einen Handlungsraum zu erzeugen, ein Behältnis von Möglichkeiten. Es entsteht so ein eindrucksvolles Muster von Aktivitäts-Prismen (der Spielraum für Bewegung zwischen festen Punkten in der Raumzeit), in denen sich Stränge bilden (welche anzeigen, wie die Aktivitäten verschiedener Leute ausgerichtet sein können); in einer feinen und faszinierenden Choreographie werden so die Wege der Leute durch die Raumzeit dargestellt. Obgleich der große Pionier der Zeitgeographie, Torsten Hågerstrand, durchaus mit etwas Zeitphänomenologie sympathisierte, konstatierte er dennoch entschlossen, äußere und objektive Zeit seien die Grunddimensionen. In dieser Vision mag es vorkommen, dass Menschen sich schneller oder langsamer bewegen, aber was sie teilten, sei ein Grundbestand an ZeitRaum-Dimensionen. Was dies jedoch zur Konsequenz habe, behauptet Grosz: „Noch heute setzt die Gleichsetzung zeitlicher Beziehungen mit dem Kontinuum der Zahlen voraus, dass Zeit dem Raum gleichförmig ist, und dass Raum und Zeit als Kontinuum, als einheitliche Totalität existieren. Zeit kann nur repräsentiert werden, wenn man sie dem Raum und den Modellen des Raums unterordnet.“47

Doch indem genau die Konzeptionen des abstrakten Raums zur Darstellung der Zeit verwendet werden, wird nichts anderes als eine Abfolge von Momenten dargeboten. Weil die zeitgeographische Darstellung die Wege und Bahnen von Akteuren abzubilden beansprucht, könnte man sagen, dass diese einer kinematographischen Illusion der Zeit unterliegt. Schon bei Henri Bergson, dem Philosophen des frühen 20. Jahrhunderts, ist begründet, warum dieser Zugriff genau den Eindruck des Fließens der Zeit verfehlt, da sie „die Wahrnehmung der wirklichen Bewegung begleitet und verdeckt […]; die aufeinanderfolgenden Stellungen sind im Grunde nur imaginäre Haltepunkte. Man substituiert für den Gang den Weg, und da der Weg dem Gange unterspannt ist, glaubt man, daß er mit ihm zusammenfalle. Aber wie soll ein Prozeß mit einem Ding zusammenfallen, eine Bewegung mit einer Unbeweglichkeit?“48

Mit anderen Worten: Wir verlieren genau den Begriff von Erwartung und Retention, bzw. den des Seins-in-die-Zukunft und der Geworfenheit. Oder, um eine Idee von Gilles Deleuze aufzugreifen: Zeit und Raum sind quali47 Grosz: Space, Time and Perversion, S. 95 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit]. 48 Bergson: Materie und Gedächtnis und andere Schriften, S. 196f.

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tativ und ontologisch verschieden, so dass, wenn man das eine benutzt, um das andere zu beschreiben, nur ein zusammengewürfelter Begriff herauskommt, der inhärent chaotisch ist, denn: „[D]ie Bewegung [geht] mit dem Raum, den sie durchläuft, keine Verbindung ein. Der durchlaufene Raum ist vergangen, die Bewegung ist gegenwärtig, sie ist der Akt des Durchlaufens. Der durchlaufene Raum ist teilbar, sogar unendlich teilbar, wohingegen die Bewegung unteilbar ist oder sich nicht teilen läßt, ohne sich bei der Teilung in ihrer Beschaffenheit zu verändern. Was bereits eine komplexere Idee voraussetzt: die durchlaufenen Räume gehören alle zu dem einen homogenen Raum, während die Bewegungen heterogen sind und nicht aufeinander zurückgeführt werden können.“49

Bis hierhin bin ich mit dieser Analyse einverstanden. Zeit ist nicht reduzierbar auf diesen Raumbegriff. Vielmehr sind es Bewegungen, die die Zeit als zitternde Differenz und den Raum als Wiederholung definieren, indem die Zeit als Fluss – oder nach Bergson als durée – dem Raum als Koordinatensystem entgegengesetzt wird. Dies ist eine bedeutende Kritik einer beherrschenden Form von „universaler Zeit, [die] nicht mehr als eine hypothetische Projektion zu sein scheint, eine Zeit von generalisierter Gleichwertigkeit, einer ‚verflachten‘ kapitalistischen Zeit“50. Der wesentliche Punkt dieser Kritik ist eine Einschätzung der Zeit als etwas, das mit Phasenverschiebungen zu tun hat, also mehr Verschiebungen der Art und Weise als Bewegungen innerhalb einer zeitlichen Lokalisierung meint. Der Begriff der Zeit, der lediglich von einer Serie von Momenten und Punkten ausgeht, verleugnet diesen Eindruck qualitativer Differenz – und erzeugt somit das, was Castoriadis die identitätslogische Zeit nennt, in der alle Momente ontologisch identisch sind: „In der identitätslogischen Zeit ist das identitätslogische Jetzt enthalten, während umgekehrt die identitätslogische Zeit nur die Wiederholung unzähliger (aber abzählbarer) identitätslogischer Augenblicke ist, die als solche stets identisch und nur durch ihre ‚Stelle‘ voneinander verschieden sind.“51

Dies bereitet den Grund für das, was er „öffentliche Zeit“ nennt. Dieser Begriff der Zeit ließe sich hier als Chrono-Zeit benennen, um die Prozession leerer Abfolgen zu bezeichnen. Weit davon entfernt, die wirkliche Zeit oder objektive Zeit zu sein, sind – wenn Vergangenheit und Zukunft einander implizieren – Momente keine diskreten Objekte, sondern haben eine zeitliche Entfaltung. Dies ist eine nachträgliche Darstellung von

49 Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 13. 50 Guattari: Chaosmosis, S. 15 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit]. 51 Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 341.

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Dauer.52 Unsere Geschichten sind kein fiktionales Trudeln im verfestigten Gelände der Zeit. Es ist „die Wirklichkeit unserer zeitlichen Erfahrung [...], dass sie organisiert und strukturiert ist; es ist die ‚reine Abfolge‘, die sich als fiktiv erwiesen hat“53. Wenn wir der Idee der Phasenverschiebung zwischen Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart als einer intensiven, nicht extensiven, Grenze folgen, können wir sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft, obgleich unzugänglich, als wirklich auffassen; diese Wirklichkeit ist freilich mehr eine virtuelle als eine tatsächliche. Hiermit verfügen wir über ein komplexeres Muster von Gegensätzen – das Virtuelle (das, was sein kann) ist der Gegenbegriff zum Tatsächlichen (das, was ist), aber beide sind ontologisch wirklich. Diese Verschiebung im Verständnis deutet darauf hin, dass der Raum Elemente bewahrt, während die Zeit sie verschlingt: „Denn Dauer ist ununterbrochenes Fortschreiten der Vergangenheit, die an der Zukunft nagt und im Vorrücken anschwillt. Wächst aber die Vergangenheit unablässig, dann ist auch ihr Leben unbegrenzt. Gedächtnis […] ist nicht ein Vermögen zur Klassifizierung von Erinnerungen in Fächern oder Eintragungen in Listen. […] In ihrer Ganzheit sicherlich folgt sie [die Vergangenheit] uns jeden Augenblick nach […]; hingesenkt zur Gegenwart, die ihm zuwächst, angestemmt gegen das Tor des Bewußtseins, das es aussperren möchte.“54

Abb. 2: Die Fläche der Gegenwart und die Ausdehnung der Vergangenheit55 A

B

A’

B’

A’’

B’’ P

S

52 Vgl. Lloyd: Being in Time, S. 98. 53 Carr: Time, Narrative and History, S. 25 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit]. 54 Bergson: Schöpferische Entwicklung, S. 11. 55 Nach Bergson: Materie und Gedächtnis und andere Schriften, S. 162.

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Bergson erklärt hier, dass jeder Moment der Gegenwart eine immense virtuelle Ordnung (vgl. Abb. 2) von Erinnerungen mit sich führt, die sich aus unserer gegenwärtigen Handlung heraus erstrecken und durch unsere Orientierung in der Welt hervorgerufen werden. Je nachdem, worauf wir fokussiert sind, tritt ein unterschiedlicher Umfang dieser Erinnerungen zutage. Gleichwohl durchdringen sie jeden einzelnen Moment. Bergson argumentiert für die Wirklichkeit und Beständigkeit der Vergangenheit, ohne ihr zuzusprechen, dass sie etwas Ähnliches wie der Raum sei. Vergangenheit und Zukunft koexistieren in einer virtuellen Ordnung: „Wenn wir so große Schwierigkeiten haben, uns ein Überleben des Vergangenen in sich selbst vorzustellen, dann weil wir davon ausgehen, das Vergangene sei nicht mehr, es hätte zu sein aufgehört. Wir verwechseln also das Sein mit dem Gegenwärtig-Sein. Aber das Gegenwärtige ist nicht, es ist vielmehr reines Werden, das immer außer sich ist. Es ist nicht, sondern agiert. Sein eigentümliches Element ist nicht das Sein, sondern das Aktive oder das Nützliche. Das Vergangene hingegen, so könnte man sich ausdrücken, hat zu agieren aufgehört und das Nützlich-Sein verlassen. Aber es hat nicht aufgehört zu sein. Ohne Nutzen, inaktiv und ungerührt ist es in einem emphatischen Sinne des Wortes: Es fließt ununterscheidbar mit dem Sein in sich zusammen.“56

Ganz umgekehrt zu sonstigen Vorstellungen von Zeit zieht sie sich nicht zurück, sondern „begibt sich buchstäblich auf den Weg zur Gegenwart hin“57 und übt Druck aus, hereingelassen zu werden. Dies scheint ein wichtiger Schritt nach vorne zu sein, obwohl Bergsons durée, die wohlgemerkt keine lineare Abfolge ist, immer noch den Eindruck einer sanft dahin fließenden Zeit vermittelt. Demgegenüber müssen wir, wie Heidegger, den Begriff der auf die Welt gerichteten Aufmerksamkeit betonen, der das Erinnern der Erinnerungen wie auch die Erzeugung möglicher Zukünfte arrangiert. Dieser Begriff der Zeit kann vielleicht am besten als Gelegenheit zusammengefasst werden. Damit ist nicht nur eine Handlung, sondern das Handeln zur rechten Zeit gemeint. Um diesem Begriff einen Namen zu geben, können wir „das griechische kairos [benutzen]: worunter wir die zeitlichen Gelegenheiten des täglichen Lebens begreifen können“58. Dies ist der Begriff der Einzigartigkeit jedes einzelnen Augenblicks, seiner besonderen und unwiederbringlichen Natur. Um eine Analogie zu gebrauchen: „Wenn die chronologische Zeit wie eine weltweite Vorstadt anmutet, dann ist die kairologische Zeit der genius loci, der spezifische, besondere Geist dieses gewissen Augenblicks.“59 56 Deleuze: Henri Bergson zur Einführung, S. 73f.; Hervorhebungen im Original. 57 Ebd., S. 92. 58 Maffesoli: „Presentism – or the Value of the Cycle“, S. 110 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit]. 59 Griffiths: Slow Motion, S. 31.

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Abb. 3: Ein Schema von Raum-Zeit-Typen Zeit

Raum

Chronos

Kairos

Chora Topos

Man könnte sich nun überlegen, ob es nicht nur einen genius loci für den Ort, sondern auch einen genius tempori gibt. Diese zwei Arten von Zeit gälte es zu durchdenken: die chronologische und die kairologische sowie ihre Interaktion mit dem Raum als chora und topos (vgl. Abb. 3). Die Modelle des Zeit-Raums in der Zeitgeographie neigen dazu, chrono-choraisch zu sein – das, was Deleuze als den „l’instant quelconque“60 benennt. Es sind Modelle abstrakt-identischer Raum-Zeit-Einheiten. Zudem können wir bergsonianische Einflüsse erkennen, wenn es um die Formulierung einer kairo-choraischen Beziehung geht. Weniger häufig werden chronotopische und kairo-topische Begriffe der Raumzeit diskutiert.61 Ihnen beiden soll im Folgenden das Interesse gelten. Diese beiden zu unterscheidenden Begriffe der Zeit haben in den Künsten eine dialektische Beziehung zueinander. Im Jahr 1913 wurden vom Eiffelturm die Stundensignale gesendet, die den französischen Lokalzeiten ein Ende setzten; im gleichen Jahr erschien Prousts À la recherche du temps perdu: „Und die Zeit, die einerseits noch nie so öffentlich, so monolithisch gewesen war, war andererseits noch nie so privat, so einmalig, so ortsgebunden bis zur eigenen seelischen Ortszeit wie bei Proust“, wo es „Madeleines und murmelnde Erinnerungen aus den Untiefen des Bewußtseins“ gab.62 Weit von jeglicher Linearität entfernt, werden hier im Roman die Sorge und Aufmerksamkeit des Bewusstseins reflektiert, wenn einem Tag 287 Seiten gewidmet sind, wohingegen ein ganzes Jahr noch nicht einmal Erwähnung verdient. Dies geht soweit, dass Proust seinen gigantischen Bericht mit der Bemerkung schließt, dass die Menschheit nur durch die Zeit ihren Platz besetzt: „Immerhin würde ich es zuallererst nicht unterlassen, wenn die Kraft mir lange genug erhalten bliebe, um mein Werk zu vollenden, darin die Menschen, auf die Gefahr hin, dass sie dann 60 Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 19. [Anm. d. Übers.: Die deutsche Übersetzung von Deleuze spricht bei „l’instant quelconques“ immer vom „beliebigen Moment“: „Der beliebige Moment, das ist der Moment in gleicher Entfernung von einem anderen. Wir definieren also den Film als ein System, das die Bewegung reproduziert, indem es sie auf den beliebigen Moment bezieht.“] 61 Vgl. Rämö: „An Aristotelian Human Time-Space Manifold“. 62 Griffiths: Slow Motion, S. 28.

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monströsen Wesen glichen, als Figuren darzustellen, die neben dem so beschränkten Platz, der ihnen im Raum reserviert ist, einen anderen, so beträchtlichen, im Gegensatz zum ersten maßlos in die Länge gezogenen Platz einnehmen, da sie ja, wie in die Tiefe der Jahre getauchte Riesen, gleichzeitig so weit voneinander entfernte Epochen berühren, die sie durchlebt haben und zwischen die sich so viele Tage geschoben haben – einen Platz in der Zeit.“63 Dieser Begriff der Aufschwellung und Verbindung bedeutet auch, dass Proust es abstreiten musste, die literarische Version von Bergsons Theorie, einen „romans bergsonien“64, verfasst zu haben. Er setzt einen anderen Akzent als den auf Fluss und Erzählung, die das Subjekt erweitern und vereinheitlichen. „Prousts ganzes Konzept des Gedächtnisses war auf der Annahme gegründet, dass unser Selbst nicht kontinuierlich, sondern völlig diskontinuierlich ist.“65 Wo die phänomenologischen Untersuchungen auf zwei gleiche Ströme von Zeit und Bewusstsein in vollkommener Parallelität verweisen, haben wir hier die das Subjekt unterbrechende Zeit, in der „Ereignisse immer zu früh eintreten, das Verständnis immer zu spät kommt.“66 Anstelle eines einfachen, weiter und weiter expandierenden Erinnerungskegels gilt für Proust Folgendes: „Die Ewigkeit, in welche Proust Aspekte eröffnet, ist die verschränkte, nicht die grenzenlose Zeit. Sein wahrer Anteil gilt dem Zeitverlauf in seiner realsten, das ist aber verschränkten Gestalt […].“67 Georges Poulet schreibt: „Während Bergson die Verwandlung der Zeit in Raum aufdeckt und verwirft, findet sich Proust damit nicht nur ab, sondern richtet sich in ihr ein, treibt sie bis zum Äußersten und macht sie schließlich zu einem der Prinzipien seiner Kunst.“68 Bei Proust ist der Raum in einer ganz anderen Weise gestaltet, indem er einen Archipel von Ereignissen bindet und enthält, oder, wie Poulet sich ausdrückt, indem er ein zerstreutes Arrangement von „Glas in einer Vitrine“69 bildet, das vom Entzug des Lebens zurückgelassen wurde. Der Raum ist weit davon entfernt, homogen oder träge zu sein.

Zeit als Raum (Teil 2) Über Zeit lässt sich auch nachdenken, indem wir noch ganz andere Raumvorstellungen hinzuziehen. Was passiert, wenn Raum als topos gedacht und dies als Modell auf die Zeit appliziert wird? Diesem Ansatz liegt 63 64 65 66 67 68 69

Proust: Die wiedergefundene Zeit, S. 527f. Gross: „Bergson, Proust and the Revaluation of Memory“, S. 376. Ebd., S. 378 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit]. Bielik-Robson: „Bad Timing“, S. 72. Benjamin: „Zum Bilde Prousts“, S. 320. Poulet: Marcel Proust, S. 7f. Ebd., S. 98.

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Barbara Adams Konzept von „Timescape“70 zugrunde. Dieser Begriff nutzt bewusst die Vorstellung einer zeitlichen Landschaft, um darlegen zu können, wie Ereignisse und Handlungen in der Zeit verortet sind. Die Verwendung des Landschaftsbegriffs erlaubt Adam, die vielfältigen Dimensionen von Zeit und die Art, wie sie im Zusammenspiel spezifische Konstellationen ausbilden, zum Ausdruck zu bringen. Sie entwirft fünf Zeitdimensionen (vgl. Abb. 4). Da ist erstens Zeitlichkeit als Dauer oder Kürze, oder anders gesagt: wie lange ein bestimmtes Ereignis oder eine Handlung dauert. Die zweite ist der Zeitrahmen, der danach fragt, wie Handlungen aufeinander bezogen sind: ob sie gleichzeitig geschehen oder nacheinander. Die dritte ist der Zeitpunkt, womit Adam auf die Häufigkeit und Abfolge der Handlung selbst hinweist: Ist diese dazu gedacht, sich zu wiederholen, zyklisch zu sein, und wenn ja, wie häufig? Die vierte ist das Tempo, welche Auswirkungen und Verbindungen behandelt und dabei die sich im Laufe der Zeit entwickelnden Kausalitäten und Konsequenzen einbezieht. Die fünfte Dimension ist das Timing, die – wie die kairologische Zeit – die Fähigkeit von Menschen bezeichnet, Gelegenheiten wahrzunehmen oder aber zu verpassen oder sie als ausgeschlossen zu erkennen. Abb. 4: Timescape-Elemente71 Timescape = Zeit, Raum und Materie Zeitlichkeit

Vergangenheit

Dauer ļ Unmittelbarkeit

Zeitrahmen

Gegenwart

Abfolge ļ Gleichzeitigkeit

Zeitpunkt

Zukunft

Wiederholung ļ Rhythmus ļ Takt

Tempo

Ursache ļ Wirkung ļ Verzögerung

Timing

Grund ļ Handlung ļ Symptom

Die vielgestaltigen Aspekte jedes bestimmten Ereignisses erstrecken sich also jenseits des einfachen Schemas von Zukunft-Gegenwart-Vergangenheit. Adam betont beispielsweise die Dimension der Synchronisierung von Handlung – wobei sich alles in der richtigen Abfolge und miteinander Schritt haltend abspielen muss – als eine andere Verstehensweise der zahlreichen Verkettungen von Ereignissen in der Zeit, die man weniger als Folge oder linearen Verlauf begreifen sollte. Adam bemerkt, dass trotz der 70 Adam: Time and Social Theory; dies.: Das Diktat der Uhr. 71 Nach Adam: „Management in the Context of Globalized Time: Problems and Creative Opportunities“.

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Vorherrschaft der abstrakten Uhrzeit diese anderen Wahrnehmungen von Zeitlichkeit weiter bestehen, so dass beispielsweise „verkörperte Zeit neben, trotz und in Auseinandersetzung mit den kulturell gesetzten Zeitverhältnissen gelebt und erfahren wird“72. Sie behauptet, dass wir historische Gesetzmäßigkeiten der fünf C’s erkennen können. Die Gestaltung [creation] von Zeit nach menschlichem Entwurf (C1), durch Techniken wie Uhren und Tagebücher, aber auch durch Romane und Erzählungen; dann die Umwandlung [commodification] von Zeit (C2), mit der sie zum Maß von Produktivität und Entlohnung wird; die Zusammendrängung [compression] von Zeit (C3), weil wir zunehmend Realzeit-Netzwerke betrachten, in denen Wirkungen in weiter Entfernung (fast) gleichzeitig eintreten; daher rühren die Kontrolle [control] von Zeit (C4) und schließlich die Kolonisierung [colonization] der Zeit (C5), beides im Sinne einer Verstärkung von Routinen bis hin zu einer 24/7Gesellschaft73, aber auch unserer Fähigkeit, auf Kredit der Zukunft zu leben. Die Verwendung von Timescape erlaubt uns zu registrieren, dass all diese Elemente in wechselnden Mustern, mit Parteiungen und Konflikten zwischen verschiedenen Elementen, vorliegen. Es ist eben zu oberflächlich, von der Vorherrschaft des Raums über die Zeit zu sprechen, wenn es in der Tat viel komplexere Muster verschiedener Interaktionsformen von Raum und Zeit gibt. „Ursache und Wirkung, Linearität, Räumlichkeit, Unveränderlichkeit, Dauerhaftigkeit, Klarheit und Genauigkeit werden nicht ersetzt, sondern existieren neben und überlagert von konträren zeitlichen Prinzipien, und zwar von solchen wie Momenthaftigkeit, Gleichzeitigkeit, vernetzten Verbindungen, Vergänglichkeit, Flüchtigkeit, Unbeständigkeit ebenso wie von zeitlicher Vielfalt und Komplexität. Zu Tage tretende alternative und widersprüchliche zeitliche Prinzipien machen heute für eine bedeutende Anzahl von Menschen rund um den Globus ihre gelebte Wirklichkeit aus.“74

Wir könnten hier auch an den Kairotopos denken oder an das, was leicht verwirrend für die von mir verwendete Terminologie, Mikhail Bakhtin als Chronotopos bezeichnet hat.75 Damit gemeint ist die Übereinstimmung eines bestimmten Zeitgefühls mit einer bestimmten Art von Raum. Auf 72 Adam: „Reflexive Modernization Temporalized“, S. 61 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit]. 73 [Anm. d. Übers.: „24/7“ ist das angelsächsische Kürzel für die Vorstellung einer „Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft“, die 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche aktiv zu sein beansprucht. Befürworter dieses Lebensstils fordern ununterbrochenen Zugang zu Dienstleistungen aller Art.] 74 Adam: „Reflexive Modernization Temporalized“, S. 74 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit]. 75 Vgl. Holquist: Dialogism; Holloway/Kneale: „Mikhail Bakhtin: Dialogics of Space“.

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einen Schriftsteller muss an dieser Stelle eingegangen werden, der mit der Beziehung von Raum und Zeit und ihrer Darstellung spielte: James Joyce in seinem Roman Ulysses. Dieser Text bleibt eines der großen Werke der Moderne und des stream of consciousness-Stils. Scheinbar die Geschichte der Wanderungen eines Annoncenakquisiteurs an einem einzigen Tag – so geschrieben, als würde jeder Gedanke, jede Handlung und ihre Verbindungen untereinander verzeichnet – spielt der Text mit den Konventionen von Zeit, Raum und Sprache. Es war ein schockierendes neues Werk, nicht allein wegen der skatologischen und sexuellen Anspielungen, sondern wegen seiner sprachlichen Neuerungen – angeblich enthält es den längsten interpunktionslosen Satz der englischen Literatur – während es zudem mit den Vorstellungen der Entwicklung von Handlung und Zeit spielt. Das Werk wird strukturiert durch die Begegnungen Leopold Blooms im Laufe eines Tages – vom Aufwachen bis zur späten und ziemlich trunkenen Schläfrigkeit. Diese offen gestanden banalen Wanderungen sind in Abschnitte und Kapitel unterteilt, die an Homers Odyssee angelehnt sind. Es werden deutlich eine ganze Reihe von Parallelen gezogen, und für unsere Zwecke können wir uns auf einzelne, von Umberto Eco hervorgehobene Aspekte konzentrieren – wobei er die Meinung vertritt, Joyce präsentiere eine „chaosmography“76. Eco betont das Paradoxon von Ordnung und Chaos und erläutert, dass die geordnete Kosmologie der Odyssee bewusst gegen den chaotischen Strom der modernen Großstadt gesetzt wird. Demgemäß zeigt das Buch durch eine Reihe von Inversionen und Paradoxien sowohl Kontinuitäten wie Brüche auf. Der Text verweist sehr offensichtlich auf eine mythische Zeit, setzt aber dann den heldenhaften Odysseus – einen der ersten human narrative heroes, der darum kämpft, sein eigenes Schicksal zu formen – der ins Komische abdriftenden Figur Blooms entgegen, die sich abmüht, sich in der modernen Gesellschaft über Wasser zu halten. Es ist niemals vollständig klar, „ob diese parallele [Homerische] Handlung eine ironische, spöttische Erinnerung an die heroische vergangene Welt ist, welche die Leere des modernen Lebens unterstreicht, oder ob sie eine Quelle der Bereicherung, ein Versprechen von künftiger Ganzheit und Versöhnung bereithält“ und wie wir diese Spannung „von unwiederbringlicher Vergangenheit und paralysierter Gegenwart“ lösen.77 Die erste dargestellte Zeitlichkeit ist demnach die des Unbewegten und des Ewigen, das zeitgenössische Erzählungen umschließt und verschlingt. Die Zeit der ursprünglichen Odyssee ist gleichwohl die einer Lebensreise, die darin besteht, die Heimat zu verlassen und sich durch Mühen und Reisen in einer über 20 Jahre ausgedehnten Raumgeschichte zu behaupten.

76 Eco: The Middle Ages of James Joyce. 77 Rickard: Joyce’s Book of Memory, S. 14, 82 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit].

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Bloom in Ulysses nimmt Abschied von zu Hause – wenngleich an dieser Stelle auf die drei verlorenen trojanischen Geschichten angespielt wird –, und weit entfernt von der Beständigkeit verkörpernden Ehefrau, die das männliche Heim bewahrt, schildert der Roman, wie dem Helden vor allem Unbeständigkeit und Unsicherheit widerfährt. Der Text verdichtet auch alle Wanderungen und die magischen, weit entlegenen Schauplätze zu einem einzigen Tag in der Großstadt, was einer wirklichen Zeit-RaumVerdichtung [time-space compression] entspricht. Er kennzeichnet diesen hyper-intensiven Tag durch eine Flut intertextueller Verweise, denen Bloom begegnet – durch Nachrichtenplakate und Zeitungen, die die Welt zu ihm bringen. Die Wirkung ist chaotisch, nicht nur durch das Hineindrängen räumlich entfernter Ereignisse in die Stadt, sondern auch durch die Auflösung der Idee vom Entwurf eines erzählten Lebens – eines einheitlichen Selbst, das aus Vergangenheit und Zukunft besteht. Das Buch scheint so eher Zeit in Gleichzeitigkeiten zerfallen zu lassen als eine zeitliche Entwicklung darzustellen.78 Der einzelne Tag könnte jeder Tag in einem Zyklus von Wiederholungen sein, er ist unveränderlich und einmalig. Es gibt keine Lösung, und Joyce lässt uns mit einem unvollendeten, nicht zu einem erzählerischen Ganzen gefügten Ereignis zurück.79 Daraus ergibt sich einerseits Zersplitterung und andererseits doch ein überspannendes Verweisungsgerüst. Die intertextuellen Einflüsse gehen über den Homerischen Hintergrund hinaus, da Joyce’ Kompositionsmethode ein endloses Durchforsten von Zeitungsberichten und -schnipseln über Stadt und Gesellschaft einbegreift und der endgültige Text nahezu eine Collage aus nicht nachgewiesenen Zitaten und Quellen ist. Die Wirkung ist Dezentrierung des Subjekts wie der Gegenwart, die dann nicht als ein für sich gegenwärtiger Moment gesehen wird, sondern als etwas, das unaufhörlich das Gepäck der Geschichte zu schultern hat – wenn etwa Joyce den angloirischen Konflikt in den Worten des Engländers Haines resümieren lässt: „Die Geschichte ist schuld daran, scheint es.“80 Das legt hinsichtlich der Bedeutung des Ricœurschen „gegenwärtigen Jetzt“ nahe, es handele sich dabei nicht um private Geschichte, sondern um einen Dialog mit der Welt, der widerspiegelt, „daß jeder, der hereinkommt, sich einbildet, er sei der erste, der hereinkommt, während er doch immer der letzte einer vorangegangenen Reihe ist, selbst wenn er der erste einer nachfolgenden ist, insofern als sich jeder einbildet, der erste, letzte, einzige und alleinige zu sein, während er doch weder der erste noch der letzte noch der einzige und alleinige ist in einer Reihe, die im Unendlichen beginnt und ins Unendliche sich fortsetzt.“81 78 79 80 81

Vgl. Tschumi: „Diasync“, S. 170. Vgl. Schleiffer: Modernism and Time, S. 78. Joyce: Ulysses, S. 31. Ebd., S. 930.

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Das fragmentierte Selbst wird durch einen städtischen Raum ausgedrückt, in dem Stephen Daedalus und Leopold Bloom „nicht, wie Prousts Marcel, auf der Suche nach verlorener Zeit umhergehen: Die Erinnerung ist deckungsgleich mit ihren Wahrnehmungen und manifestiert sich selbst in tausend schwer erfassbaren Formen.“82 Die Stadt trägt die proleptische Kraft der Erinnerung (in sich) genau wie jeder Akteur, und sie schiebt unfreiwillige Erinnerungen dazwischen. Somit zieht das Individuum nicht seine Bahn entlang der Zeit, vielmehr macht die Stadt Einwürfe und unterbricht die Trajektorie. Hier „fungiert Raum in der Fiktion durch und als Zeitlichkeit, als ein erzählerisches Ereignis bzw. Ereignisse“83, wo er ein Netzwerk von Beziehungen darstellt, seien diese offen dargelegt oder nicht. Raymond Williams drückt es so aus: „Die Handlungskräfte wurden internalisiert, es existiert gewissermaßen keine Stadt mehr, es gibt nur einen Mann“, der nicht durch die Geschichte der Stadt, „sondern durch den Verlust von Stadt“ wandert.84 Die Vergangenheit bahnt sich ihren Weg in die Zeiten der Protagonisten nicht im Sinne von Bergsons Aufmerksamkeitsstrukturen oder Heideggers Sorge, sondern durch die Räume und Einrichtung der Stadt. Die minuziöse Rekonstruktion der Stadt im Text dient dabei nicht einer totalisierenden Aussicht auf die urbane Szene. Obwohl also Joyce an seinen Literaturagenten Frank Budgen schreibt, dass „ich ein so vollständiges Bild von Dublin vermitteln will, dass die Stadt, würde sie eines Tages plötzlich vom Erdboden verschwinden, anhand meines Buches wiedererrichtet werden könnte“85, präsentiert er eine in Fragmenten hervortretende und weder nach historischer noch räumlicher Ordnung vorgestellte Stadt: „Andere Romanciers […] eignen sich viel besser dafür, die Stadt in rekonstruierbarer Form darzustellen. Joyce liefert keine Informationen zur Architektur, sondern nur Orte, an denen man sich die Ellbogen stoßen oder auf die man sich lehnen kann, die man aus dem Augenwinkel betrachten kann, die man an ihrem vertrauten Geruch erkennt. Die Stadt schimmert in Augenblicken auf, nicht in Massen.“86

82 Shiv Kumar, zitiert nach Rickard: Joyce’s Book of Memory, S. 129 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit]. 83 Johnson: „Literary Geography“, S. 199 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit]. 84 Raymond Williams, zitiert nach ebd., S. 200 [Originalstelle: „The forces of the action have become internal and in a way there is no longer a city, there is only a man walking through it. [...] The history is not in this city but in the loss of a city [...]“; in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit]. 85 Johnson: „Literary Geography“, S. 199 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit]. 86 Richard Ellmann, zitiert nach Rickard: Joyce’s Book of Memory, S. 142 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit].

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Dieser urbane Schauplatz funktioniert also dadurch, dass eine Vielfalt von Räumen und Zeiten zueinander in eine paradoxe Beziehung gebracht werden.

Abschließende Bemerkungen Das Verhältnis von Zeit und Raum wird durch eine Reihe von Faktoren verkompliziert. Erstens hat genau die allgemein unterstellte Faktizität der beiden häufig bedeutet, dass sie nicht untersucht wurden. Das zweite Problem liegt darin, dass sie gleichwohl oft in Form binärer Entgegensetzungen voneinander abgeleitet wurden. Drittens habe ich zu zeigen versucht, dass diese Oppositionspaare in der Entgegensetzung einer bestimmten Zeit- und einer bestimmten Raumkategorie bestehen. Ein erster Schritt, um die Binäropposition aufzubrechen, besteht demnach in der Erkenntnis der Formvielfalt von sowohl Raum als auch Zeit. Ich habe anhand der letzten beiden Beispiele nahezulegen versucht, wie einige wenig gebräuchliche Kombinationen von Raum- und Zeitvorstellungen ungewöhnliche Einsichten hervorrufen können. An späterer Stelle in seiner berühmten und vielzitierten Passage über die Epoche des Raums sagt Foucault auch: „Der Raum selber hat in der abendländischen Erfahrung eine Geschichte, und es ist unmöglich, diese schicksalhafte Kreuzung der Zeit mit dem Raum zu verkennen.“87 Diese letzten beiden Beispiele machen deutlich, was Heidegger folgendermaßen ausgedrückt hat: „Zeit ist kein Ding“88. Es geht nicht einfach um Ausmaß oder Dauer der sich innerhalb von Zeit abspielenden Ereignisse, sondern um das Umreißen des zeitlichen Rahmens, in dem diese sich abspielen. Außerdem kann unser Verständnis von Zeit nicht außerhalb von Zeit und Raum stehen. Wie Derrida andeutet, „ist es in gewissem Sinne immer zu spät, um über Zeit zu sprechen“89, weil wir und unsere Ideen immer in ihrem Fluss sind. Wir könnten uns Jamesons Vermutung anschließen, dass wir vielleicht immer am falschen Ort sind, um von Raum zu sprechen. Was in vielen Theorien zu passieren scheint, ist, dass eine Theorie des Raums oder der Zeit konstant aufrechterhalten wird, woraus dann eher verzerrte Wahrnehmungen von Zeit-Raum entstehen. Wenn also Zeit als Differenz begriffen wird, dann zumeist auf der Folie des als Wiederholung des Gleichen gedachten Raums. Wenn der Raum als Bewahrer vergangener Handlungen erscheint, dann ist Zeit zerstörerisch. Mein Beitrag hatte vier Ziele: Grundsätzlich sollte (1.) dargestellt werden, dass der Begriff – und möglicherweise auch die Substanz – von Zeit 87 Foucault: „Andere Räume“, S. 34. 88 Heidegger: „Zeit und Sein“, S. 3. Vgl. auch Schleiffer: Modernism and Time. 89 Jacques Derrida, zitiert nach Jameson: „The End of Temporality“, S. 697 [in der Übers. v. Holger Steinmann u. Simone Loleit].

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wie Raum vielfältig sind. (2.) tendieren in Folge dessen alle Entgegensetzungen dazu, die Charakteristika einer bestimmten Definition von Zeit oder Raum zu verwenden, gegen die dann der je andere Begriff abgrenzend in Stellung gebracht wird. Das hat zur Folge dass jede Definition von Raum oder Zeit hoffnungslos überdeterminiert ist. (3.) sind die beiden Begriffe überhaupt nicht sinnvoll zu trennen, da sich Handlung immer in Zeit-Räumen ereignet. Und schließlich (4.) geht es in Anbetracht dieser Untrennbarkeit nicht nur darum, zwei begrifflich geschiedene Teile aneinanderzupflocken. Vielmehr gehört ihre Untrennbarkeit zur Begrifflichkeit selbst. Vielleicht ist bereits die Unterscheidung in nur zwei Begriffe verunklarend. Ich habe zu veranschaulichen versucht, wie die Geographie Zeit und Raum über die heuristischen Raster chronos/kairos und chora/topos, unter besonderer Betonung des Chrono-Choraischen, in Beziehung gesetzt hat. Es ist klar, dass einfache Entgegensetzungen von Zeit und Raum nicht tragfähig sind, sondern vielmehr weitere Unterteilungen entfalten und hervorbringen. Bei einer erneuten Beschäftigung mit Raum und Ort können wir Zeitlichkeit meiner Einschätzung nach nicht einfach mehr ignorieren oder später hinzufügen. Insbesondere Geographen müssen verschiedenartige Zeit-Räume gewärtigen und welchen Einfluss diese auf ihre Arbeit haben. Aus dem Englischen übersetzt von Holger Steinmann und Simone Loleit

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Sach- und Personenregister 1989 7, 107, 111, 112 3D 201, 203 9/11 93, 302 Adam, Barbara 429 Adresse: adressenlos 211; Adressenordnung 157; Adressenraum 292; Adressierbarkeit 56-58; Adressierung von Objekten 328; Adressierung von Raum 66; lokalisierbare 159 Affekt 402, 403 Agamben, Giorgio 225 Agency 205, 207, 209, 211 Agnew, John 19, 22, 24, 414 Akkumulationsregime 113, 116 Akteure: Akteur-Netzwerk-Theorie 394; Akteursgruppen 116; hybride 405; kollektive 119; lokale 111; soziale 383 Albrow, Martin 130 altgeographische Welt 270, 272 Althusser, Louis 225 Ando, Tadao 395 Angerer, Marie-Luise 213 Annales 82, 89, 104, 105 Anwesenheit 186-90, 204-12, 304, 347; /Abwesenheit 198, 384; /Unsichtbarkeit 207; Anwesenheitsgesellschaft 81; des Ausgeschlossenen 351; globale Echtzeitanwesenheit 214; Konstruktion von 200; körperliche 384, 385; Raum als Kunst der 192; räumliche 377; virtuelle 204 Architektur 71-74, 287; mobile 142; solare 166 Aristoteles 149, 265, 416 Arlinghaus, Franz-Josef 95 Artificial Environment 192 Asendorf, Christoph 197 Assmann, Jan 106 Atlas 60; Philo- 20 Atopia 181

Aubin, Hermann 87 Augé, Marc 129, 130 Augmented Reality 203 Augustinus, Bischof von Hippo 409, 420, 421 Autopoiesis 170, 191, 327, 336, 354, 355 Bachelard, Gaston 60, 269, 277, 416 Bachmann-Medick, Doris 266, 318, 320, 332 Badiou, Alain 226 Baecker, Dirk 168, 169 Bagatellisierung des Raums 180 Bakhtin, Mikhail 34, 430 Barbaren 172 Barlow, John Perry 191 Bartels, Dietrich 285, 286, 308 Barthes, Roland 387 Bauman, Zygmunt 127, 132, 378, 379 Bedeutungsverlust: des Lokalen 349; des Raums 180, 297 Benjamin, Walter 22, 34, 72, 247, 371 Bentham, Jeremy 228 Bergson, Henri 399, 412, 420, 423, 424, 426, 427, 428, 433 Beschleunigung 128, 142, 143 Bewegung 83, 423-24; BewegungsBild 398, 399; Bewegungspoetik 400; Bewegungsraster 205; Denkbewegung 87; der Agenten 190; dynamische 400; Fortbewegungsmittel 374, 377, 393; Gemütsbewegungen 402; Imaginationsbewegung 60; Kartographie der 398; körperliche 72, 73, 158, 405; Ortsbewegung 159, 160; Räume in 143; virtuelle 62 Bildwissenschaft 71-74 Billig, Michael 332 Biologismus 367 Bismarck, Otto von 197

440 Ň SPATIAL TURN

Blache, Vidal de la 88-91 Bloch, Marc 104 Blut und Boden-Ideologie 200 Boden/Bodenhaftung 24, 185-88 body: option 201, 213; turn 144 Böhme, Hartmut 17, 29, 177, 178, 223 Bolz, Norbert 180 Bourdieu, Pierre 112, 132, 134, 136, 140, 226, 369, 379 Bourne, Randolph 115 Braudel, Fernand 24, 75-102, 110, 113 Braun, Georg 60 Brenner, Neil 116 Brewer, Daniel 94 Brunner, Otto 92 Bruno, Giuiliana 18, 71-74 Buchdruck 165, 167, 168, 347 Budgen, Frank 433 Bühler, Karl 229 Burckhardt, Lucius 284 Burke, Peter 76, 91 Bus Riders Union 258, 259 Cache-Raum 190 Camera Obscura 196 Campanella, Tommaso 165, 166, 167, 172 Carter, Paul 394 Casson, Herbert 175, 176 Castells, Manuel 14, 130, 142, 179, 180, 181, 198, 253, 328, 369 Castoriadis, Cornelius 424 Certeau, Michel de 34, 55, 231, 415 Charle, Christophe 115 Chartier, Roger 105, 111 Cherry, Colin 174, 175 Chicago School of Urban Ecology 247 chora 186, 285, 416, 427, 435 Chorographie 61 Christaller, Walter 414 chronos 427, 435; chrono-chora 427, 435; chrono-topos 413, 427, 430; Chrono-Zeit 424 Clair, René 71 Cocooning 136

Code der Medien 357, 358, 359 Codierung des Raums 166, 167, 168, 170, 174, 181 Community 203, 204, 207; epistemische 152; -Raum 31, 204, 215; Selbstorganisation der 207 Computergesellschaft/-netzwerk 168-70 concentric zone theory 248 constraints 154, 155 Containerisierung 376-77 Containerraum 26, 85, 95, 96, 111, 118, 135-37, 188, 268, 318, 327, 331, 335, 366-69, 371, 382 Coping-Strategie 38, 329, 331 Cosgrove, Denis 21, 38 Crang, Mike 34, 409-38 Cullen, Ian G. 418 cultural studies 15, 16, 54, 223, 230 culture of control 280 Cyberhood 202 Cyberlocalism 189, 190 Cybernetic Localism 185-217 Cybersociety 202, 203 Cyberspace 14, 15, 31, 93, 189, 191, 203, 208, 213 Davy, Benjamin 280 Dazwischen 177, 358, 384 Delacroix, Eugène 395 Deleuze, Gilles 34, 52, 181, 224, 225, 228, 229, 235, 265, 394, 398, 406, 416, 423, 424, 426, 427 Dependencia-Theorie 113 Derrida, Jacques 286, 416, 434 Descarte, René 223, 368 Deterritorialisierung 15, 29, 38, 116, 127, 167, 176 Diachronie 131, 187, 224 Diagramm 226-31 Diamond, Jared 35 Ding(e): an sich 264; Arrangement der 404, 405; ausgedehnte 379, 380; dingliche Figur 191; Dingsprache 306; Ding-Wort 275, 300, 301; Einfachheit der 394; Formen der 394; häusliche

SACH- UND PERSONENREGISTER Ň 44

393; im Raum 142, 398; Koexistenz der 411; körperliche 379; materielle 381; Ordnung der 273, 379; Raumding 300; System der 412; und Ergeignisse 386; und Menschen 135, 268, 273, 274, 383; und Ort 374; und Prozess 423; Zeit ist kein 434 Distanz: death of distance 127; Distanzerfahrung 108; Distanzrelation 285, 286, 347; Distanzüberwindung 376, 385; Entfernung 83, 93, 131, 133, 430; erdräumliche 297; Erfahrung über 384; körperliche 385; räumliche 286, 291, 346, 352, 376, 385; Schaffung von 112; und Ort 347; zeitliche 352, 376, 385 distentio animi 421 Douglas, Mary 319 Dünne, Jörg 18, 49-69 Durchgangsorte 72 durée 424, 426 Durkheim, Emile 89, 127, 132, 138, 246 Echtzeit 180, 191, 214, 385, 387 Eco, Umberto 210, 291, 431 économies-mondes 113 Economy of Cities 250, 258 Eigenräume der Funktionssysteme 159-62 Einstein, Albert 136, 253, 265 Eisel, Ulrich 269, 271, 333 Eisenbahn 127, 188, 197, 404 Eisenstein, Sergej M. 71 Elias, Norbert 132 Email 347 Ende: der Geographie 14, 127, 329; der Geschichte 180, 412; der Zeit 130; des Raums 127, 128, 130, 131, 135, 180, 331 Engels, Friedrich 249 Entschleunigung 143 Episteme 178, 200, 272-77 Erde 192; als Wohnstätte 267, 268; Eigentümlichkeit der 154;

Endlichkeit der 152; Erdball 113, 151, 158, 173, 350; Erdnatur 270, 287; Erdraum 37, 267, 268, 297, 320, 379, 388; Gestalt der 174; Kraft der 52; Kugelform der 154, 192; Nomos der 166; Oberfläche der 24, 154, 285, 293, 294, 348; Primärcodierung der 200; räumliche Schließung der 152; Raumschiff 292 Erfolgsmedien 354-61 Erreichbarkeit 190, 293, 297 Escape Velocity 201 Esposito, Elena 207 Euklid 230 Eurozentrismus 108 Fabri, Albrecht 303 face: -file-face 193, 207; -file-space 193; -space-file 207; -to-face 374, 375, 377, 385, 386 Farinelli, Franco 54, 56 Faßler, Manfred 31, 32, 185-217 Faust 307 Febvre, Lucien 84, 90, 91, 104 Ferguson, Nial 115 Fernraum 188 fin de siècle 244 Firstspace 251, 256, 296 Flaneur 72 Foucault, Michel 9, 34, 77, 129, 130, 136, 187, 219, 228, 249-56, 320, 322, 369, 371, 411, 434 Fremdreferenz 294, 300 Freud, Sigmund 223, 225 Frühe Neuzeit 49-69, 77, 81, 94 Fuchs, Peter 353 Funken, Christiane 275 Funktionssysteme 152, 153, 158, 159-62 fuzzy logics 202 Gaia 292 Ganzheit 268, 270, 279, 281, 301, 302, 353, 431 Gedächtnisorte 106 Geertz, Clifford 371 Gefühlsraum 403 Gegenwart 421, 422, 425, 429, 431

442 Ň SPATIAL TURN

Geistbeck, Michael 29, 175, 176, 177 genius loci 416, 426 Geo: -caching 28; -Forschung 30; -Geschichte 24, 89, 255; -graphizität 95; -politik 20, 21, 27, 51, 76, 88, 89, 113, 221, 300, 367, 368, 371, 388; -Semantik 165-83; -surveillance 28; -tainment 28 Geocode 200, 384, 387; der Medien 28-32, 165-67, 170, 171, 173, 177, 178, 179, 181, 378; der Netze/Netzwerke 175, 176; der Netzwerkgesellschaft 177-81; der Selbstbeschreibungsformel 169, 181; einer Seemacht 168; medialer 366; nicht-räumlicher Wirklichkeiten 366 Geographie(n): alltägliche 379; ästhetische 287; der Landschaft 278, 279-84, 293, 300, 305, 307; der Moderne 72; imaginative 57; klassische 267, 269-72, 285, 294; -Machen 25, 26, 36, 365, 388; medial erzeugte 366; Perzeptions- 288, 291, 296; physische 266, 270, 272; postmoderne 271, 295; Sinntheorie der 268; Zeit- 394, 423, 427; Zukunftsgeographien 400 Géohistoire 24, 89 Geometrie: nicht-euklidische 229; Projektionsgeometrie 231, 233; Transformationsgeometrie 231, 233; vervus Genese 210-11; zentralistische 166; zweidimensionale 91 Geschichte der Weltgesellschaft 151, 152 Geschichtswissenschaft 19-24, 75123 Geschlechtergeschichte 104 gesellschaftliche Raumverhältnisse 372-78, 385, 388 Gibson, William 189

Giddens, Anthony 132, 133, 136, 256, 342, 344, 369, 373, 376, 388, 394 GIS 17, 250 global: /lokal 32, 161, 176, 352; /universal 177; city 328; digital culture 198; globales Dorf 15, 29, 178, 350; Globalnetz 176, 177, 181; governance 117; history (Globalgeschichte) 103, 107, 108, 109, 119; positioning system 30, 201 Globalisierung(s) 93, 103-23, 131, 132, 136, 145, 159, 166, 319, 344, 350; Archipele der Globalität 117; Bruchzonen der 117; der lokalen Lebenskontexte 366; -diskurs 127, 130, 131, 343; -euphoriker 131; -folgen 53, 350; Generatoren der 344; globalisierte Medien 411; globalisierte Wissensbestände 378; globalisierter Handel 411; -muster 158; -phase von 1870 bis 1914 158; territorialer Ansprüche 52; -theorie 126, 129, 134, 348 Goethe, Johann W. von 279, 307 Goffman, Erving 369 Goodman, Nelson 305 Google Earth 31 Gorbaþov, Mihail 112 Goya, Francisco de 395 Gregory, Derek 21, 241, 369, 371 Grenze: der Enträumlichung 14; Entgrenzung 348; Formalisierung der 190; funktionale 206; Grenzenloswerden 348; Grenzregime 186, 208, 210; Grenzsäume 87; Himmel als 185; letzte 409; markierte 160; materielle 345; natürliche 111; räumliche 186, 416; Überwindung der 197; unpassierbare 79; unteilbare 421 Grimm, Hans 76 Grosz, Elizabeth A. 423

SACH- UND PERSONENREGISTER Ň 443

Ground Zero 23, 302, 303 Gruzinski, Serge 116 Guattari, Felix 394 Günzel, Stephan 13, 219-37 Gutenberg-Galaxis 81 Hadid, Zaha 395 Haeckel, Ernst 368 Hågerstrand, Torsten 394, 423 Hakken, David 203 Hakluyt, Richard 65 Halbwachs, Maurice 132, 140, 141 Hall, Edward T. 418, 419, 422 Hamm, Bernd 141 Haptisches Design 73-74 Haraway, Donna 213 Hard, Gerhard 34, 35, 36, 91, 263315, 333, 371 Hardt, Michael 29, 176, 177, 180 Hartke, Wolfgang 371 Harvey, David 14, 116, 250, 253, 256, 369, 371 Haushofer, Karl 170 Hegel, Georg W. F. 108, 165, 166, 167, 168, 219, 244, 420 Heidegger, Martin 252, 265, 416, 417, 422, 426, 433, 434 Heimat 118, 292, 346, 381 Heine, Heinrich 127 Helmholtz, Hermann von 229 Herder, Johann G. 270 Hermeneutik: der Landschaft 283, 287; des Raums 270, 280, 284, 306; doppelte 388; hermeneutische Naturwissenschaft 269-72 Heterotopie 29, 177, 255 Hexagon 111 hier/dort 18, 229, 324, 327-31, 335 Hine, Christine 203 histoire totale 111, 281, 284 Historiographie 77, 81, 82, 83, 92, 93, 103, 104, 105, 108, 109, 110, 111, 112, 118 Historismus 19-24, 245, 246 Hogenberg, Frans 60 Hölderlin, Friedrich 417 Holistik 268, 273, 278

Homer 413, 431, 432 homo agroregionalis 268 Hörisch, Jochen 271 Horizont 197, 210, 352 Horizontale 187, 197, 268, 400 Hugill, Peter 168 Human-Computer-Interaction 207 Humboldt, Alexander von 109, 365 Husserl, Edmund 228, 229, 265, 291, 379, 422 Imagination: geographische 61, 241, 243, 288, 296, 371; Imaginations-Matrix 55; kartographische 60-65; kommunikative 188; Raum der 74, 188 Infographien 191-92, 211-12 Information(s) 155, 156, 159; -gesellschaft 167, 173, 198, 372; -paradigma 201; -ströme 386 Inklusion/Exklusion 188, 298, 329, 334 Innen/Außen 74, 136, 157, 186, 188, 199, 222, 416 Innis, Harold 168 Interaktion 200, 202, 205, 208 Interface 190-91, 200-202, 206, 214 Internet 159, 203, 347 Irrelevanz des Raums 127, 128 Isomorphie 174, 175, 178 Jacobs, Jane 242, 250, 258 Jameson, Fredric 8, 9, 53, 129, 130, 411, 412, 413, 434 Jammer, Max 253 Jones, Steven G. 208 Joyce, James 412, 431, 432, 433 Kagan, Richard 59 kairos 426, 427, 429, 435; chairotopos 427; kairo-chora 427; kairo-topos 430 Kandinsky, Wassily 395 Kant, Immanuel 54, 153, 154, 246, 265 Kapitalismus 116, 256, 258, 375, 376, 420, 424 Kapp, Ernst 384

444 Ň SPATIAL TURN

Kartographie: als Hilfswissenschaft 35; als Medientechnik 54-56, 223; Atlas 60, 61; der Bewegungen 72, 74, 398; der Frühen Neuzeit 49-69; des Standorts 332, 379; Karte als Text 18, 231; kognitive Landkarte 28, 53, 288, 411; Landkarte der Haut 185, 210, 211; mappae mundi 56; mapping 28, 52-54, 113, 242, 411; mental map 21, 53, 74, 77, 113, 251, 278, 286-92; nicht kartierbare Räume 50-52, 195, 210; Portulan- 56; Raum als Karte 289, 330; spekulative 32, 405; topographische Karte 57, 58, 230-34; vordigitale 201 kenon 416 Kern, Stephen 244 Kertész, Imre 284 Key Virtual 31, 194-96, 206 Kieserling, André 277 Kino 71-74, 196, 423 Kittler, Friedrich 165, 166, 167 Klee, Paul 395 Klinger, Friedrich Maximilian 167 Klüter, Helmut 36, 277, 291, 292, 293, 294, 297, 369 Kolumbus 166 Kommunikation(s): -forschung 127, 174, 203; -medien 131; -raum 79, 196; -systeme 151, 160, 171, 292, 302, 346, 353, 355, 377; -theorie 150, 154, 174; -vermeidungskommunikation 298, 326, 329; -zusammenhänge 153, 334, 336, 358 Kompass 165, 168 Kondratieffsche Welle 281 Kopplung: mediale 193, 199; strukturelle 193, 300, 326; von Raum und Territorium 187 Körper 144, 160, 200, 210, 213, 222, 365-92; -oberfläche 154; -standort 379; und Medien 38385; und Raum 73, 378-84

Koselleck, Reinhart 78, 79, 109 Kracauer, Siegfried 72, 132 Kristallisation 143 Kropotkin, Pjotr A. 249 Kücklich, Julian 28 Kuhn, Thomas S. 8, 30 Kultur als Text 17, 36 Kulturgeographie 72, 394; angelsächsische 51, 52-54, 288, 317; neue 21, 296, 321, 332 Kulturraum/-landschaft 87, 211, 220, 271, 279, 295, 296 Kulturtechniken 166, 167 Kybernetik 155, 191 Labor 160, 223, 359 Lacan, Jacques 225, 265 Lacoste, Yves 88 Lage 23, 27, 32, 414, 415, 416 Lammer, Christina 213 Länderkunde 265, 270, 274 Landschaft 265, 268, 271, 274, 278, 280, 289, 304, 305; als Konvergenz 413; altgeographische 285; Anschauen/Anschauung einer 303; die ganze 268, 282; dunkle Seite der 283; Eigentum an 199; Entdeckung der 77; hybride 395; Idee der 279, 280, 284; ideologische 321; innere 74; Landschaftsbild 282, 291; Lesen der 282, 283; Menschen- 21; mütterliche 302; Naturplan der 270; nicht-natürliche 199; seelische 73; Tod der 297; zeitliche 428-30 Landschaftsgeographie 35, 278, 279-84, 293, 300, 305, 307 Landschaftskunde 279, 283, 284 Landvermessung 414, 415 Längen- und Breitengrad 56, 58, 63, 415 Läpple, Dieter 79 Latour, Bruno 34, 129, 130, 134, 177, 223, 331 Lausberg, Martin 304 Leeker, Martina 213

SACH- UND PERSONENREGISTER Ň 445

Lefebvre, Henri 7, 73, 132, 137, 138, 302, 369, 370, 371, 415, 416, 417 Leibniz, Gottfried W. 253, 265, 415 Leitmedium 56, 65, 66 Levi-Strauss, Claude 225 Lévy, Pierre 194 Lippuner, Roland 34, 36, 51, 34163, 370 Livingstone, David 38 Local Area Network 190, 202 Logistik 157, 159, 174, 193, 396 lokal/global 161, 176, 352 Lokalisierung 117, 304 longue durée 110 Lossau, Julia 370 Löw, Martina 25, 26, 35, 51, 95, 190, 194, 273, 275, 276, 289, 304 Lucas, Robert 258 Luftbildaufnahme 233 Luhmann, Niklas 27, 36, 127, 128, 132, 169, 171, 173, 174, 264, 289, 291, 300, 301, 304, 321-34, 344-61 Lutz, Heinrich 86 Lynch, Kevin 53 Macht: -asymmetrie 80, 107; -behälter 26, 136; der Zeit 142; des Raums 140, 187, 188, 191, 271, 297, 371; -dispositiv 50; kartographische 57-60; politische 60, 223, 228, 356; Raum der 50, 80, 289; raumüberwindende 170, 181; -techniken 57, 59; territoriale 186, 187; und Raum 171; vordigitale 201; zentrale 194 Mackinder, Halford J. 173, 247 Malerei 162, 395-400, 405 Malewitsch, Kasimir 395 Maresch, Rudolf 287, 289, 306 Marshall, Alfred 257 Marx, Karl 129, 245, 249, 258, 420 Marxismus 111, 248 Mashups 32 Massey, Doreen 369, 410

Maßstab 195, 199, 214; Betrachtungs- 268; euklidischer 187; lokaler 268, 374; raumfreier 209; räumlicher 59, 287; Spiel mit den Maßstäben 111, 116, 118 Materialität 298; der Dinge 275, 306; der Kultur 394; der Netzwerke 180; der Welt 32, 393; des Denkens 28, 34, 394; des Raums 95, 302, 306, 368, 380; Entmaterialisierung 387; geographischer Materialismus 23, 24, 26, 27; historischer Materialismus 7, 248, 249; materialistische Theologie 271, 272; mediale 29 Materie 32, 155, 273, 368, 387, 393 Mathematik 212-15, 229 McLuhan, Marshall 14, 28-32, 127, 178, 179, 204, 206, 383, 384 Media-Community-Space 31, 204 Medien: -berichterstattung 139, 378, 382, 386, 387, 388; -geographie 32; Kommunikationsmedien 127-29, 359; -kompetenz 203; nichttransportable 168; -raum 197; raumüberwindende 344; symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien 292, 354, 356, 358; synoptische 231; transportable 168; Transportmedien 127-29, 131; -umbruch 14; Verbreitungsmedien 173; -wissenschaft 10, 28-32, 254, 263, 266, 297, 304, 306, 308 Mehretu, Julie 395-400, 405 Mercator-Projektion 232 Metaphysik 397, 398, 419 méta-récits 104, 107 Metrik 32, 210, 381 microstoria 111 Middell, Matthias 22, 103-23 Miggelbrink, Judith 38 Migration 119, 151, 158-59, 347 Minsky, Marvin 185, 209, 210, 211

446 Ň SPATIAL TURN

Mitchell, Don 335 Mittelalter 186, 188 Mittelmeer 82, 83, 84, 85, 86, 87 Moderne 71-72, 127-29, 150, 160, 162, 244, 296-97, 375-76; Episteme der 178; Modernisierungstheorie 110, 111, 128, 131, 134; Prä- 373-75; Spät- 376-78 Moholy-Nagy, László 73 Mondrian, Piet 395 Morphologie 140, 201 Morse, Samuel 127, 188 Mumford, Lewis 420 Mundy, Barbara 58 Murdoch, Rupert 204 MySpace 204 Nähe 162; /Distanz 162, 200; /Ferne 157, 162, 324, 326, 401, 411; Nahraum 60, 127, 342; Nahräumlichkeit 194, 200, 203; Nahwelt 31 Nassehi, Armin 325, 348, 350 Nation 107, 115, 117, 118, 119, 150, 166, 167, 172, 175, 176 Nationalismus 115, 116, 119, 332 Nationalsozialismus 125, 132 Nationalstaat 110, 115, 118, 135, 136, 180, 335, 342, 343 Natur: Naturalisierung 51, 56, 133, 220, 319, 329, 374, 404; -raum 89, 220, 230, 252, 268, 317; -recht 154; und Geographie 79; und Gesellschaft 134, 156; -vorgegebenheit 78; -wissenschaft 91, 136, 229, 244, 247, 269-72, 383 Navigation 196 Negri, Antonio 29, 176, 177, 180 Neoliberalismus 333 Neolithikum 194, 199-200, 258 Netzsemantik 174-77 Netzwerk: -begriff 168, 174, 178, 179; der Walfangstationen 401; elektrisches 174, 175; mediales 178; Meta-Netzwerk 180; offenes 209; örtliche 202;

proprietäres 204; -raum 328; Raumnetzwerk 206; RealzeitNetzwerk 430; soziales 174, 175, 178; technisches 170, 174, 179; telekommunikatives 178; transsoziales 202; Verwandtschaftsnetzwerk 403; von Beziehungen 185, 210, 211, 433; von Bindegliedern 399; weltumspannendes 117 Netzwerkgesellschaft 15, 130, 16583; Geocode der 177-81; Selbstbeschreibungsformel der 169, 177, 178, 181 Neumann, Ingo 141 Neusegmentierung der Welt 117, 120 new cultural geography 21, 332 Newton, Isaac 201, 253, 368 Nolte, Hans-Heinrich 113 non-representational theory 394 Nouvelle géographie universelle 249 Odyssee 431 Ontologie: altgeographische 287; ontologische Begrenzung 358; ontologische Pression 301; ontologische Verzerrung 244, 245, 247; ontologische Wende 296; ontologischer Slum 38, 268, 273, 276, 278; Tiefenontologie des Containerraums 371; von Gesellschaft und Raum 378; westliche 252 Ontologisierung: der Zeit 422; von Karten 287; von Raum 246, 250, 275, 276, 278, 319, 320, 369, 413 Open Society 194 Open Source 194, 202, 204 Operationskette 32, 198-99 Ort 229; außerhalb der Haut 185; bewohnter 415, 416; der Erinnerung 74; des Cogito 224; gekerbter 15-19; heiliger 161, 416; kinematographischer 73; kommunikativ entfernter 151; kontingenter 159; Ortlosigkeit

SACH- UND PERSONENREGISTER Ň 447

14, 127, 159; Ortsunabhängigkeit der Kommunikation 18, 377; Ortsverhaftung 20; transzendentaler 32; Zufluchtsort 20 Ortelius, Abraham 60, 61 Orthofotografie 233 Osterhammel, Jürgen 21, 24, 108 Panopticon 228 Paradigmenwechsel 8, 9, 30, 76 Parsons, Talcott 127, 132, 149, 155 Partyraum 36, 272-77, 287, 289, 306 performance studies 394 Perzeptionsgeographie 288, 291, 296 Petrarca 77 Phänomenologie 228, 229, 230 Piltz, Eric 24, 75-102 Platon 416 Platz 161; -halter 253, 384; Marktplatz 80, 188; Schauplatz 74, 268, 432, 434; Tennisplatz 161; Tummelplatz 167; -Zuweisung 187 Platzierung 95, 161, 186, 210 Ploetz, Alfred 367 Plot 73, 405 Poesie 393, 394, 400 Popper, Karl 268, 273, 278 Post 170, 174 Postmoderne 9, 14, 53, 129-32, 295, 370, 371; Geographien 7, 9, 256; Raumkreation 295 Poulet, Georges 428 Pred, Alan 369 Produktion des Raums 25, 137-42, 253 Proudhon, Pierre J. 249 Proust, Marcel 412, 427, 428, 433 Proxemics 200 Prozessphilosophie 393-407 Psychogeographie 74, 288 ptolemäische Projektion 54 Qì 405 Quantenphysik 181, 265 Quiche Maya 418

Quine, Willard V.O. 268, 278 Quintilian 304 Ratzel, Friedrich 22, 76, 90, 109, 247, 367, 368, 370, 371 Raum: absoluter 201, 290, 318, 416; abstrakter 196, 413, 417, 422, 423; Abwendung vom Raum 221; affektiver 403, 417; altgeographischer 268, 269, 270, 272, 273, 274, 277-78, 284, 285, 295; angeeigneter 134; belebter 79; bodenloser 191-94; chorischer 285; darstellender 417; der Codes 138; der Geschichte 75, 77; der Imagination 74; der Orte 333; der Ströme 14, 142, 180, 328, 333; der Wirtschaft 86; des Sozialen 341-63; -determinismus 26; digitaler 201; dinglich erfüllter 254, 285, 286; direkter 200; emotionaler 375; ephemerer 80, 81; erlebter 138; ethnischer 135; euklidischer 195, 205, 224; fluider 202; flüssiger 136, 137; fusionierter 207; gelebter 255, 417; geographischer 132-35; gesellschaftlich produzierter 252, 253; globaler 166; heterogener 335; hodologischer 229; horizontaler 197; -ignoranz 15; imaginierter 138; indirekter 196; infogenetischer 196-98; infographischer 191; informationell transportabler 201; informationeller 193, 201; informationsgenerierter 193; kartierbarer 250, 251; konstruierter 317; körperloser 191-94; kybernetischer 200; leerer 415; lesen 20, 35, 73, 370; -mangel 93; manifester 80, 81; -maß 24; materieller 133, 138, 269, 380; medial integrierter 193; mediamorpher 189-90; -medien 52, 54; mentaler 251; metahistorischer 79; metrischer

448 Ň SPATIAL TURN

398; -morphologie 365; -mythos 280; nationalstaatlicher 134; natürlicher 133, 138; Netzwerkraum 328; neuer 131, 132; Newtonscher 224, 414; nomadischer 190-91, 194; objektiver 251; Online-OfflineRaum 190; operationaler 56; pazifischer 107; permeabler 74; Phasenraum 190; physikalischer 252; physischer 133, 134, 135, 138, 157, 269; postkolonialer 54; postmoderner 54; relationaler 35, 92, 95, 135-37, 318; religiöser 195; sakraler 417; sinnlich wahrgenommener 250; sinnlichabstrakter 196; sozialer 132-35, 157; städtischer 80, 195, 242, 244, 247, 250; subjektiv-mentaler 251; territorialer 197, 201; transdisziplinärer 296; transnationaler 135; unbelebter 79; und Körper 378-83; und Zeit 32, 89, 142-43, 156, 159, 162, 307, 344; unfassbarer 188; -vergessenheit 7, 25; -vermögen 190; verschachtelter 80; vertikaler 197; virtueller 80, 81, 135; Wal- 400-402; Weder-Ortnoch- 416; wirklicher 292, 294 Raum als: Bestandteil sozialer Kommunikation 278, 292, 296; Dimension der Interfaces 191; Entwurf 192; Grundstoff des Lebens 406; Handlung 416; Key Virtual 31, 194-96, 206; Kommunikat 293; kulturrevolutionäres Superschema 194; Kunst der Anwesenheit 192; Lage 32, 399; Medium 80, 81, 87; Mittel der Weltbindung 383; Modell von Zusammenhängen 192; Modus der Selbstvergewisserung 212; Produkt 112; relationale Anordnung 51, 95, 135, 273, 274, 275;

Selbstbeschreibungsformel 31740; Text 15-19, 22; träge Masse 89; Utopie des Unbeständigen 194; Wiederholung 424 Raumabstraktion 291-94, 297-303, 305 Raumagenten 191, 209 Raumaneignung 94, 233 Raumanschauung 203-4 Raumbild 60, 87, 96, 152, 282, 288, 302, 303, 360, 361 Raumcontainer 190, 334 Raumdeterminismus 26, 35, 137, 145 Raumdimension 128, 205 Räume der Historiker 76-81 Räumelei 299, 333 Räumeln 12, 308, 333 Raumfalle 125, 145, 372 Raumfetisch 254, 318, 333 Raumgeist 241-62 Raum-Guerilla 185-88, 190 räumliche Entankerung 376, 377 räumliche Gerechtigkeit 242, 25859 räumliche Kammerung 343, 347, 348, 376 räumliche Praxis 18, 50, 74, 138, 231, 250, 417 räumliches Kapital 34, 241, 257-58 Raummedium Karte 15-19 Raumoption 186, 188, 189 Raumordnung 78, 93, 94 Raumpraktiken 54, 73 Raumsemantik 119, 264, 265, 290, 292, 293, 297, 298, 300, 301, 303, 305, 321-34 Raumsoziologie 24, 25, 26, 36, 5052, 269, 372 Raumtheorie 219-30 Raumtopologie 85, 91 Raumvergessenheit 301, 372 Raumvoluntarismus 26, 137, 145 Raumwahrnehmung 287, 288, 289 Raumwerkzeug 204-6 Raumwirkung 288, 298, 299, 300

SACH- UND PERSONENREGISTER Ň 449

Raumwissenschaft 8, 267, 268, 278, 307, 335, 365, 409 Raumwölbung 192 Raum-Zeit: -Analogie 110; -Dualismus 410; -Entankerung 344, 388; -Implosion 377; -Kompression 108 Realismus 305-7 Reclus, Elisée 249 Redepenning, Marc 34, 36, 280, 317-40 Reduktionismus 371, 383 Regionalisierung 37, 117, 118, 119, 304, 319; alltägliche 25, 291-94 Rehabilitierung des Raums 319-21 Reichweite 185, 193, 206, 208, 210, 375; der turns 12; des Tuns 374, 375, 384; globale 173; interaktive 212; menschliche 402; Räume unterschiedlicher 131; regionaler Aktionskreise 386; unsinnliche 211; von Netzwerken 199 Reifikation 372, 374, 376, 386, 387; von Raum 319, 320 Reisen 56, 60, 61, 62, 63, 64, 72, 73, 74, 128, 270, 281, 283, 346, 347, 399, 403, 431 Relationierung von Körper 380, 381, 382, 384 Relativitätstheorie 135 Repräsentation: außerhalb der Haut 210; der realen Welt 254; des Erinnerten 106; filmische 72; materielle 368; mediale 50, 66, 365-92; Raum der 17, 138, 187; räumliche 17, 57, 138, 321, 366, 385-88; symbolische 375, 381; Wachtürme der 187 Reterritorialisierung 14, 28, 38, 116 Revel, Jacques 111 Revolution: der Sumerer 254; elektronische 14; kopernikanische 30; neolithische 199-200, 258; Raum- 52, 197; soziale 253; urbane 253; verkehrstechnische 244

Rhizom 181 Richner, Markus 375 Ricœur, Paul 83, 432 Riehl, Wilhelm H. 279 Rimbaud, Arthur 303 Ritter, Carl 36, 109, 268, 269, 270, 272, 278, 297 Robotik 208, 209 Satellit 29-31 Saunders, Peter 268 Saussure, Ferdinand de 225 Schäffner, Wolfgang 56, 224 Schiller, Friedrich 23 Schlögel, Karl 12, 13, 19-24, 76, 93, 112, 113, 281, 283, 287, 289, 302, 303, 307, 365, 370 Schlögl, Rudolf 80, 81 Schmid, Christian 370, 371 Schmithüsen, Josef 279, 305 Schmitt, Carl 29, 51, 166, 170, 176, 177, 179, 181 Schroer, Markus 36, 125-48, 342 Schulgeographie 88, 89, 279 Schultz, Hans-Dietrich 333 Schüttpelz, Erhard 174, 178 Schütz, Alfred 132, 291, 379, 384 screenage 189, 211 Secondspace 251, 296 Sedlacek, Peter 319 Seefahrt 165, 166, 167 Sein: Gemachtsein 17; Gewosein 395; In-der-Welt-sein 244; Kraftsein 397; Mitsein 400; und Werden 410, 418; Zeugsein 394 Selbstbeschreibungsformel 27, 31740; der Gesellschaft 29, 37, 16774, 177; der Netzwerkgesellschaft 169, 178, 181; technoide 170 Selbstorganisation 179, 186, 191, 199, 200, 205 Semantik: -geschichte 165-67; raumbezogene 321-34, 388; semantische Leere 415; semantisches Schwindelgefühl 263-65, 266; und Sozialstruktur 322-23 Sennett, Richard 132, 185

450 Ň SPATIAL TURN

Shannon, Claude E. 156, 170 Simmel, Georg 24, 34, 127, 128, 132, 134, 138, 140, 141, 381 Simon, Herbert A. 192 Skalierung 214, 398, 400, 410, 419 Smart Environments 206 Social Media 203 social software 190, 206-7 Soja, Edward 7, 8, 9, 33, 241-62, 275, 289, 295, 296, 299, 369, 370, 411 Solare Raumnahme 165-67 Sorokin, Pitirim 132, 134, 394 Sozialgeographie 50-52, 282, 366, 370 Sozialstruktur der Gesellschaft 322, 323, 331 space: as difference 317, 326; -biased Medien 31, 32; community 204; greatefull 191; information 202; -literacy 204; material 380; of flows 14; of hope 333; open 204; real 287; reloaded 205; sense of 406; transforming 222; user generated 189 Spacing 25, 95, 201, 275, 417 spatial: approach 278, 284-86, 293; capital 34, 241, 257-58; history 371; justice 34, 242, 258-59; stories 93-96; structure 33 spatium 17, 186, 225 Spaziergangswissenschaft 284 Speicher(raum) 187, 188, 189 Split Screen 203 Sport 160, 161 Sprachraum 193, 195, 211, 212 Stadt 111, 127, 140, 249, 432, 433 Stäheli, Urs 323 Standardisierung 57, 58, 59, 93, 152, 192, 200, 414 Stehr, Nico 198 Stichweh, Rudolf 25, 27, 35, 36, 149-64, 171, 263, 264, 272, 297, 320, 323 Stockhammer, Robert 17

Strukturalismus 224, 225, 228, 229, 230 Supercode Raum 212 System: ontologisches 412; soziales 156, 157, 202, 212, 272, 276, 325; -theorie 27-28, 264, 323-27, 344-61 Tarde, Gabriel 394, 397, 398 Telefon 175, 188, 347, 376; -leitung 174; Mobil- 15, 402; -netz 176, 188 Telegraphie 114, 127, 154, 188 Telepräsenz 191, 201, 214 Telstar 29-31 Tempo/Temporalisierung 128, 143, 200, 429 territorial trap 321 Territorialisierung 29, 50, 112, 119, 176, 367, 376, 381 Territorialitätsregime 23, 115, 117, 118 Territorium 18, 112, 172, 186, 187, 194, 342, 344, 414 thickening of place 332 Thirding 296 Thirdspace 36, 244, 276, 289, 29496, 299, 333 Thrift, Nigel 31, 32, 34, 369, 393407 Thünen, Johann H. von 414 Timescape 429, 430 time-space compression 14, 15, 30, 38, 127, 377, 432 Tönnies, Ferdinand 367, 375 Topographie 17, 58, 161, 223, 230; der Affekte 74; der Karte 18; flackernde 395; heiliger Orte 161; kulturelle 49; lesbare 18 Topologie 80, 220, 222, 224, 230 topos 16, 17, 186, 416, 427, 428, 435 Trägheit des Raumes 84, 85 Trajektorie 395 Transnationalisierung 115, 117, 118, 119 Transport 114, 189; Energietransport 188;

SACH- UND PERSONENREGISTER Ň 45

Hochgeschwindigkeitstransport 180; körpergebundener 385; Materialtransport 187; transportable Medien 168; transportabler Raum 201; Transportlogistik 193; Transportmedien 127-29, 131; Transportwesen 399; Transportwiderstand 297 Trialektik der Räumlichkeit 255, 296, 417 Tschumi, Bernard 411 Tuan, Yi-Fu 75 turn 76, 93, 143-45, 221, 243, 266; body 144; cultural 103, 106, 109, 317; economic 266; iconic 12, 198, 243; linguistic 12, 77, 143, 198, 369; master 8, 13; material 144; medial 198, 266; mnemonic 12; nature 144; performative 12, 243; pictorial 12, 144; rhetoric 304-5; social 266; somatic 144; thing 144; to the noncognitive 32; topographical 13, 15-19, 22, 54, 222-24, 230; topological 13, 22430; translational 12 Überwindung des Raums 28, 29, 156 ubiquitous computing 206-7 Uexküll, Jakob Johann von 401 Ulysses 431, 432 Universalgeschichte 78, 85, 107, 116 Urry, John 369 U-Topos 197 Vektor(raum) 212, 397 Velasco, Juan López de 58 Verbreitungsmedien 345-50 Vererdung 298, 306 Vergangenheit 420, 421, 422, 425, 429, 431 Vernetzung 114, 115, 119, 150, 151, 190, 198, 206, 207, 208 Vernichtung des Raums 129 Verortung 15, 300, 301, 305, 328, 332, 417

Verräumlichung: als performativer Akt 112; der Geschichte 77, 93; der Zeit 143, 413; des Sozialen 115, 116, 118, 252, 343, 344, 360, 370; geographische 369; gesellschaftlicher Wirklichkeiten 376; ikonographische 56; kollaborative 204; kultureller Wirklichkeiten 365; neue Formen der 402; paradoxe 388; problematische 388; sprachliche 368; und Visualisierung 304, 305; von Eigentums- und Verfügungsrechten 293 Verschwinden: der Gegenwart 420, 421; der Orte 329; der Raumwiderstände 376; der Zeit 130; des Nationalstaats 117; des Raums 14, 38, 127-30, 134, 335 Vertikale 187, 197, 400 Verweisungsüberschuss 351, 352 Vespucci, Amerigo 65 Virealität 214 Virilio, Paul 34, 129 virtual: community space 204; ethnography 203; key 31, 19496, 206; real virtuality 31, 32; reality 31, 32, 213, 214; spacing 201 Waldseemüller, Martin 65 Wale 400-402 Wallerstein, Immanuel 113 Weaver, Warren 156, 170 Weber, Max 367 WeBlog 193, 202 Weigel, Sigrid 15, 16, 54, 222, 223 Weltgeschichte 107, 113, 166 Weltgesellschaft 149-64, 171, 172, 173, 174, 180, 257, 292, 325, 344 Weltraum 193, 196, 197 Weltverkehr 175, 176 Wende: geographische 133; konstruktivistische 103, 109, 111, 116, 119; kulturalistische 116, 118; -Neugier 198; ontologische 296; räumliche 12; raumtheoretische 341;

452 Ň SPATIAL TURN

topologische 221; zur Globalgeschichte 103 Werber, Niels 28, 29, 165-83 Werlen, Benno 25, 26, 34, 36, 51, 252, 286, 291, 294, 319, 365-92 White, Hayden 77 Whitehead, Alfred N. 394, 397 Widerstand des Raums 128 Wiederkehr des Raums 76, 108, 129-32, 134, 135, 335, 342 Wiener, Norbert 155 Wiese, Leopold von 132 Wiesing, Lambert 387 Wikis 193, 202 Williams, Raymond 433 Wirths, Johannes 300 Wissen(s): körperliches 161; -management 202; Produktion des 159; -raum 50, 57, 138, 194, 223; -theater 60 Wohnen 415, 416, 417 Woolgar, Steven 223 Young, Michael 205 Zeit: absolute 201; als Fluss 418, 420; als Leitkategorie 130; als Raum 422-34; diachrone 412;

Gleichzeitigkeit 129, 359, 385, 411, 422, 429, 430, 432; heilige 419; mythische 419; objektive 424; -Raum-Dichotomie 410, 413; -Raum-Verdichtung 127, 377, 432; religiöse 420; synchrone 412; und Raum 162, 246, 399, 409-38; -Verdichtung 430; verkörperte 430; zyklische 418, 419, 420 Zeitdimension 110, 128, 171 Zeitgeographie 394, 423, 427 Zeitraumgeist 252 Zeno, Nicolò 62-65 Zentrum/Peripherie 85, 86, 110, 113, 152, 178, 179, 285 Zivilisation: Grammatik der 86; virtuelle 200-202, 207; Zivilisationsgeschichte 20, 76 Zukunft 420, 421, 422, 425, 429, 430 Zusammenhangsraum 193, 194, 197, 208 Zustandsraum 208, 209 Zwischenraum 16, 74, 176, 177

Autorinnen und Autoren Giuliana Bruno, Professor of Visual and Environmental Studies an der Harvard University. Publikationen (Auswahl): Atlas of Emotion: Journeys in Art, Architecture, and Film, New York 2002 (ausgezeichnet mit dem Kraszna-Krausz-Preis für „the world’s best book on the moving image“); Public Intimacy: Architecture and the Visual Arts, Cambridge, MA 2007. Mike Crang, Ph.D., Reader in Cultural Geography an der Durham University. Wichtige Publikationen: Cultural Geography, London/New York 1998; Virtual Geographies, London/New York 1999; Thinking Space (hrsg. mit Nigel Thrift), London/New York 2000. Zuletzt erschien mit Ian Cook: Doing Ethnographies, London 2007; mit Stephen Graham: „Sentient Cities: Ambient Intelligence and the Politics of Urban Space“, in: Information, Communication & Society, Vol. 10, Nr. 6, 2007, S. 789817; „Placing Stories, Performing Places: Spatiality in Joyce and Austen“, in: Anglia: Zeitschrift für englische Philologie, Vol. 126, 2008, S. 312-329. Jörg Döring, Prof. Dr. phil., Professor für Neuere deutsche Philologie, Medien- und Kulturwissenschaft an der Universität Siegen. Leiter des Teilprojekts „Kulturgeographie des Medienumbruchs analog/digital“ am SFB/FK 615 der Universität Siegen. Publikationen (Auswahl): „Distant Reading. Zur Geographie der Toponyme in Berlin-Prosa seit 1989“, in: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge, Vol. 18, Nr. 3, 2008, S. 596-620; Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion (hrsg. mit Tristan Thielmann), Bielefeld 2009; Geo-Visiotype. Zur Werbegeschichte der Telekommunikation, (MuK 170/171), Siegen 2009. Jörg Dünne, Prof. Dr. phil, Professor für Romanistische Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt. Veröffentlichung der Habilitation Die kartographische Imagination in Vorbereitung; Sammelbände: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften (hrsg. mit Stephan Günzel), Frankfurt a.M. 32007; Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien (hrsg. mit Christian Moser), München 2008; Theatralität und Räumlichkeit (hrsg. mit Sabine Friedrich und Kirsten Kramer), Würzburg 2009. Manfred Faßler, Prof. Dr., Professor am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt. Zuletzt erschienen: Was ist Kommunikation?, München 22003; Erdachte Welten. Die mediale Evolution globaler Kulturen, Wien/New York 2005; Urban Fictions. Die Zukunft des Städtischen (hrsg. mit Claudius Terkowsky), München 2006; Der infogene Mensch. Entwurf einer Anthropologie, Paderborn 2008.

454 Ň SPATIAL TURN

Stephan Günzel, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt „Medialität des Computerspiels“ am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam. Publikationen: Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften (Hrsg.), Bielefeld 2007; Maurice Merleau-Ponty. Werk und Wirkung, Wien 2007; Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften (hrsg. mit Jörg Dünne), Frankfurt a.M. 32007; Raumwissenschaften (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2009. Nähere Informationen unter www.stephan-guenzel.de. Gerhard Hard, Prof. Dr. Dr. h.c., Professor für Physische Geographie an der Universität Osnabrück (bis 1999). Ehrendoktor der Universität Jena 2007. Publikationen (Auswahl): Die ‚Landschaft‘ der Sprache und die ‚Landschaft‘ der Geographen, Bonn 1970; Selbstmord und Wetter – Selbstmord und Gesellschaft, Stuttgart 1988; Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des Spurenlesens in der Vegetation und anderswo, Osnabrück 1995; Landschaft und Raum. Aufsätze zur Theorie der Geographie, Bd. 1, Osnabrück 2002; Dimensionen geographischen Denkens. Aufsätze zur Theorie der Geographie, Bd. 2, Göttingen 2003. Roland Lippuner, Dr. rer. nat., seit 2005 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Geographie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Studium der Geographie und Soziologie in Zürich. Aktuelle Publikationen: Raum – Systeme – Praktiken. Zum Verhältnis von Alltag, Wissenschaft und Geographie, Stuttgart 2005; „Kopplung, Steuerung, Differenzierung. Zur Geographie sozialer Systeme“, in: Erdkunde, Bd. 61, Heft 2, 2007, S. 174-185; „Sozialer Raum und Praktiken: Elemente sozialwissenschaftlicher Topologie bei Pierre Bourdieu und Michel de Certeau“, in: Stephan Günzel (Hrsg.): Topologie, Bielefeld 2007, S. 265-277; „Objekte und Stellen. Eine systemtheoretische Interpretation von Architektur“, in: Wolkenkuckucksheim. Internationale Zeitschrift zur Theorie der Architektur, Jg. 12., Nr. 2, 2008. Matthias Middell, Prof. Dr., Professor für Vergleichende Kultur- und Gesellschaftsgeschichte an der Universität Leipzig. Arbeitsschwerpunkte: Kulturtransfer zwischen Frankreich und Deutschland 1700-2000; Geschichte der Geschichtswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert; Globalgeschichte. Zuletzt erschienen: Weltgeschichtsschreibung im Zeitalter der Verfachlichung und Professionalisierung. Das Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte 1890-1990, Bd. 1-3, Leipzig 2005; Dimensionen der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte. Festschrift für Hannes Siegrist zum 60. Geburtstag (Hrsg.), Leipzig 2007.

AUTORINNEN UND AUTOREN Ň 455

Eric Piltz, seit 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Frühe Neuzeit an der Technischen Universität Dresden. Studium der Geschichte und Politikwissenschaft in Dresden und Paris. Forschungsschwerpunkte: Raumwahrnehmung in der Frühen Neuzeit; Selbstzeugnisse, Autobiographien als historische Quelle; Stadtgeschichte; Formen von Nachbarschaft und Gemeinschaft. Zuletzt erschien: „Verortung der Erinnerung. Heimat und Raumerfahrung in Selbstzeugnissen der Frühen Neuzeit“, in: Gebhard, Gunther u.a. (Hrsg.): Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld 2007. Marc Redepenning, Dr. rer. nat., seit 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geographie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zuletzt erschienen: Wozu Raum? Systemtheorie und raumbezogene Semantiken, (Beiträge zur Regionalen Geographie, Bd. 62), Leipzig 2006; „Eine Ästhetik der Unverbindlichkeit? Kultur als jüngere Selbstbeschreibung der Geographie“, in: Berndt, Christian/Pütz, Robert (Hrsg.): Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn, Bielefeld 2007, S. 349-378; „Was hat der Fußball in der Geographie zu suchen?“, in: Gerhard, Ulrike/Seckelmann, Astrid (Hrsg.): Innovative Hochschullehre in der Geographie, Bonn 2008, S. 135-146. Markus Schroer, Dr. phil, Privatdozent an der Technischen Universität Darmstadt und Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Arbeitsschwerpunkte: Soziologische Theorie; Wissens- und Kultursoziologie; Politische Soziologie; Stadt- und Raumsoziologie. Aktuelle Veröffentlichungen: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt a.M. 22007; Gesellschaft im Film (Hrsg.), Konstanz 2008; Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen (hrsg. mit Georg Kneer und Erhard Schüttpelz), Frankfurt a.M. 2008 Edward W. Soja, Distinguished Professor of Urban Planning an der University of California Los Angeles und Professor in Sociology an der London School of Economics. Publikationen (Auswahl): Postmodern Geographies: The Reassertion of Space in Critical Social Theory, London/ New York 1989; Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Realand-imagined Places, Cambridge/Oxford 1996; Postmetropolis. Critical Studies of Cities and Regions, Cambridge/Oxford 2000. Rudolf Stichweh, Prof. Dr., Professor für Soziologische Theorie und Allgemeine Soziologie an der Universität Luzern, deren Rektor er zugleich ist. Wichtige Publikationen: Die Weltgesellschaft: Soziologische Analysen, Frankfurt a.M. 2000; Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschafts-

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theorie, Bielefeld 2005. Zuletzt erschien hrsg. mit Mathias Albert: Weltstaat und Weltstaatlichkeit. Beobachtungen globaler politischer Strukturbildung, Wiesbaden 2007. Tristan Thielmann, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt „Kulturgeographie des Medienumbruchs analog/digital“ des SFB/FK 615 an der Universität Siegen. Zuletzt erschien Display I: analog und Display II: digital (hrsg. mit Jens Schröter), Marburg 2006 und 2007; „Der ETAK Navigator: Tour de Latour durch die Mediengeschichte der Autonavigationssysteme“, in: Kneer, Georg u.a. (Hrsg.): Bruno Latours Kollektive, Frankfurt a.M. 2008, S. 180-218; Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion (hrsg. mit Jörg Döring), Bielefeld 2009. Nähere Informationen unter www.mediengeographie.de. Nigel Thrift, Rektor der University of Warwick, Visiting Professor of Geography an der University of Oxford und Emeritus Professor of Geography an der University of Bristol. Zuletzt erschienen: Knowing Capitalism, London 2005; Automobilities (hrsg. mit Mike Featherstone und John Urry), London 2005; Artificial Life (mit Sarah Whatmore), London 2006; Non-representational Theory: Space, Politics, Affect, London 2007; Shaping the Day: A History of Timekeeping in England and Wales 1300-1800 (mit Paul Glennie), Oxford 2009. Niels Werber, Prof. Dr. phil., Professor für Germanistik und Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Arbeitsschwerpunkte: Topographien der Literatur; Medien und Selbstbeschreibungen der Gesellschaft. Letzte Veröffentlichungen: „Netzwerkgesellschaft. Zur Kommunikationsgeschichte von ‚technoiden‘ Selbstbeschreibungsformeln“, in: Archiv für Mediengeschichte, Heft 6, Weimar 2006; Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung, München 2007; Niklas Luhmann: Schriften zu Kunst und Literatur (Hrsg.), Frankfurt a.M. 2008. Benno Werlen, Prof. Dr., Professor für Sozialgeographie an der FriedrichSchiller-Universität Jena. Publikationen (Auswahl): Society, Action and Space. An Alternative Human Geography (Preface by Anthony Giddens), London/New York 1993; Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen, Bd.1: Zur Ontologie von Gesellschaft und Raum, Stuttgart 1995; Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen, Bd.2: Globalisierung, Region und Regionalisierung, Stuttgart 1997; Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Bd 3: Geographien des Alltags – Empirische Befunde, Stuttgart 2007; Sozialgeographie. Eine Einführung, Bern 32008.

Sozialtheorie Andrea D. Bührmann, Werner Schneider Vom Diskurs zum Dispositiv Eine Einführung in die Dispositivanalyse Juni 2008, ca. 140 Seiten, kart., ca. 13,80 €, ISBN: 978-3-89942-818-6

Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze Mai 2008, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-703-5

Kay Junge, Daniel Suber, Gerold Gerber (Hg.) Erleben, Erleiden, Erfahren Die Konstitution sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft Mai 2008, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-829-2

Janine Böckelmann, Frank Meier, Claas Morgenroth (Hg.) Politik der Gemeinschaft Zur Konstitution des Subjekts in der politischen Philosophie der Gegenwart April 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-787-5

Patricia Purtschert, Katrin Meyer, Yves Winter (Hg.) Gouvernementalität und Sicherheit Zeitdiagnostische Beiträge im Anschluss an Foucault April 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-631-1

Manfred Füllsack (Hg.) Verwerfungen moderner Arbeit Zum Formwandel des Produktiven März 2008, 180 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-874-2

Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hg.) Spatial Turn Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften März 2008, 458 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-683-0

Daniel Hechler, Axel Philipps (Hg.) Widerstand denken Michel Foucault und die Grenzen der Macht März 2008, 280 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-830-8

René John Die Modernität der Gemeinschaft Soziologische Beobachtungen zur Oderflut 1997 März 2008, 306 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-886-5

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Sozialtheorie Jens Warburg Das Militär und seine Subjekte Zur Soziologie des Krieges Februar 2008, 378 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-852-0

Ekaterina Svetlova Sinnstiftung in der Ökonomik Wirtschaftliches Handeln aus sozialphilosophischer Sicht Februar 2008, 220 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 978-3-89942-869-8

Franz Kasper Krönig Die Ökonomisierung der Gesellschaft Systemtheoretische Perspektiven 2007, 164 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-841-4

Andreas Pott Orte des Tourismus Eine raum- und gesellschaftstheoretische Untersuchung 2007, 328 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-763-9

Tanja Bogusz Institution und Utopie Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne 2007, 354 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-782-0

Johannes Angermüller Nach dem Strukturalismus Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich 2007, 290 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-810-0

Anette Dietrich Weiße Weiblichkeiten Konstruktionen von »Rasse« und Geschlecht im deutschen Kolonialismus 2007, 430 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-807-0

Daniel Suber Die soziologische Kritik der philosophischen Vernunft Zum Verhältnis von Soziologie und Philosophie um 1900 2007, 524 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN: 978-3-89942-727-1

Susanne Krasmann, Jürgen Martschukat (Hg.) Rationalitäten der Gewalt Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert 2007, 294 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-680-9

Markus Holzinger Kontingenz in der Gegenwartsgesellschaft Dimensionen eines Leitbegriffs moderner Sozialtheorie 2007, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-543-7

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Sozialtheorie Jochen Dreher, Peter Stegmaier (Hg.) Zur Unüberwindbarkeit kultureller Differenz Grundlagentheoretische Reflexionen

Nina Oelkers Aktivierung von Elternverantwortung Zur Aufgabenwahrnehmung in Jugendämtern nach dem neuen Kindschaftsrecht

2007, 302 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-477-5

2007, 466 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-632-8

Sandra Petermann Rituale machen Räume Zum kollektiven Gedenken der Schlacht von Verdun und der Landung in der Normandie

Thomas Jung Die Seinsgebundenheit des Denkens Karl Mannheim und die Grundlegung einer Denksoziologie

2007, 364 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-750-9

2007, 324 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-636-6

Benjamin Jörissen Beobachtungen der Realität Die Frage nach der Wirklichkeit im Zeitalter der Neuen Medien

Ingrid Jungwirth Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften Eine postkolonial und queer informierte Kritik an George H. Mead, Erik H. Erikson und Erving Goffman

2007, 282 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-586-4

Susanne Krasmann, Michael Volkmer (Hg.) Michel Foucaults »Geschichte der Gouvernementalität« in den Sozialwissenschaften Internationale Beiträge 2007, 314 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-488-1

Hans-Joachim Lincke Doing Time Die zeitliche Ästhetik von Essen, Trinken und Lebensstilen 2007, 296 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-685-4

2007, 410 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-571-0

Christine Matter »New World Horizon« Religion, Moderne und amerikanische Individualität 2007, 260 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-625-0

Petra Jacoby Kollektivierung der Phantasie? Künstlergruppen in der DDR zwischen Vereinnahmung und Erfindungsgabe 2007, 276 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-627-4

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