NS-Propaganda im 21. Jahrhundert: Zwischen Verbot und öffentlicher Auseinandersetzung 9783412217631, 9783412223724


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NS-Propaganda im 21. Jahrhundert: Zwischen Verbot und öffentlicher Auseinandersetzung
 9783412217631, 9783412223724

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Christian Kuchler (Hg.)

NS-Propaganda im 21. Jahrhundert Zwischen Verbot und öffentlicher Auseinandersetzung

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Goebbels und Vittorio Mussolini (Sohn Benito Mussolinis) in Babelsberg bei Dreharbeiten des Ufa-Films „Preußische Liebesgeschichte“. Von rechts nach links: Mussolini, W. Fritsch, Staatssekretär Hanke, Goebbels. © akg-images

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D–50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Patricia Simon, Langerwehe Umschlaggestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Druck und Bindung: fgb Freiburger Graphische Betriebe, Freiburg Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22372-4

Inhalt

Christian Kuchler

NS-Propaganda zwischen Verbot und öffentlicher Auseinandersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Peter Longerich

NS-Propaganda in Vergangenheit und Gegenwart. Bedeutung der nationalsozialistischen Tagespresse für Zeitgenossen und Nachgeborene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Christian Kuchler

NS-Propaganda am Kiosk? Das Editionsprojekt Zeitungszeugen als Manifestation kommerzieller Geschichtskultur . . . . . . . . . 27 Christian Bunnenberg

Reprints von NS-Presseerzeugnissen als didaktische Herausforderung für den Geschichtsunterricht . . . . . . . . . . . 41 Thomas Vordermayer

Hitlers Mein Kampf als wissenschaftliche Edition . . . . . . . . . . 61 Ulrich Baumgärtner

Mein Kampf in deutschen Schulbüchern. Fachwissenschaftliche Grundlagen und unterrichtspraktische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Marc van Berkel

Mein Kampf in niederländischen Schulbüchern und der öffentlichen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Clemens Zimmermann

Film und Kino im Nationalsozialismus. Politische Strategien und soziale Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . 121 René Schlott

Aufarbeitung der NS-Verbrechen oder Wiederkehr nationalsozialistischer Bildwelten? NS-Filmaufnahmen in den Dokumentarfilmen der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . . . . . 141 Inhalt  5

Benjamin Städter

NS-Filme im Schulunterricht. Medienhistorische Zugänge in der schulpraktischen Vermittlung des Nationalsozialismus . . . . . . . 157 Stefanie Paufler-Gerlach

(K)eine erneute Inszenierung? Museale Präsentation von NS-Propaganda in zeitgenössischen Ausstellungen . . . . . . 175 Silke Peters

Nazi-Propaganda 2.0. Aktuelle Situation in Nordrhein-Westfalen . . . . . . . . . . . . . . 193 Moshe Zimmermann

Umgang der Opfer mit der Propaganda der Täter. Israel und die Nazis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Helmut König

Erinnerungskultur und NS-Propaganda . . . . . . . . . . . . . . . 225 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

6  Inhalt

Christian Kuchler

NS-Propaganda zwischen Verbot und öffentlicher Auseinandersetzung Die Geschichts- und Erinnerungskultur ist in Deutschland ebenso wie in weiten Teilen Mitteleuropas dominiert vom Umgang mit dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg. Keine andere Epoche ist auch nur annähernd so präsent im öffentlichen Bewusstsein, aber auch die wissenschaftliche Forschung nimmt sich weiterhin des Themas an. Einen Teilaspekt der Zeit haben in den letzten Jahren jedoch sowohl öffentliche Geschichtskultur als auch Fachwissenschaft erstaunlich wenig thematisiert: den Umgang der Gesellschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts mit den Hinterlassenschaften der Propaganda des NS-Regimes. Unter Leitung von Joseph Goebbels war es ein zentrales Ziel der Nationalsozialisten gewesen, durch eine umfassende Beeinflussung die Einstellungen, Verhaltensweisen und Überzeugungen der Bevölkerung im Deutschen Reich zu verändern. Um dies zu gewährleisten, versuchten verschiedene Stellen, die öffentliche Kommunikation zu lenken. Vor allem die Massenmedien, wie etwa Film, Rundfunk oder Printmedien, sollten dazu ihren Beitrag leisten. Weit über die bekannte und wissenschaftlich erforschte Propaganda – etwa Leinwandproduktionen wie Jud Süß, Ich klage an oder Kolberg, Hitlers Mein Kampf oder Zeitungen wie Völkischer Beobachter, Der Stürmer oder Das Reich – hinaus entstanden Tausende von ganz unterschiedlichen Erzeugnissen, die in diesem Sinne als NS-Propaganda zu bezeichnen sind. Die gesamte öffentliche Kommunikation war staatlich beaufsichtigt, sodass es vor allem in den öffentlichen Medien nicht zu einem freien Meinungsaustausch kommen konnte. Wohl erst in diesem Klima war es der Propaganda des Regimes möglich, nachhaltig auf die Einstellung der Menschen zu wirken. Innerhalb des geschlossenen Kommunikationsraums der Diktatur blieb Widerspruch oft unmöglich oder konnte bestenfalls im engen Kreis von einzelnen Teilöffentlichkeiten ausgetauscht werden. Daraus resultierte der Eindruck der Zeitgenossen, wonach die Propagandamaschinerie der NS-Propaganda zwischen Verbot und öffentlicher Auseinandersetzung  7

Nationalsozialisten besonders wirkungsvoll gewesen sei. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ergab sich daraus die Frage, wie mit jenen Hinterlassenschaften des „Dritten Reiches“ umzugehen sei. Da besonders in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Auffassung vorherrschte, gerade die Propaganda der NSDAP habe den Aufstieg der Nationalsozialisten maßgeblich ermöglicht, ihre Diktatur gesichert und das Ende des Krieges deutlich hinausgezögert, kam dieser Frage besondere Bedeutung zu. Nicht zuletzt die alliierten Besatzungsmächte drängten auf einen sehr restriktiven Umgang mit dem NS-Erbe. Für sie stand ebenso wie für die deutsche Nachkriegsgesellschaft unumstößlich fest: Nationalsozialistische Propaganda müsste aus dem Verkehr gezogen werden, da man befürchtete, ihre ungehinderte Verbreitung könne für den angestrebten Demokratisierungsprozess kontraproduktiv wirken. Die Vorstellung einer hochgradig erfolgreichen Propaganda des Regimes hielt sich lange Zeit nicht nur in der bundesdeutschen Öffentlichkeit, sondern wurde auch von der wissenschaftlichen Forschung geteilt.1 Nur sehr zögerlich entwickelt sich eine kritische Medienrezeptionsforschung, die den tatsächlichen Einfluss jener „Propaganda“ auf die Meinung der „Volksgemeinschaft“ hinterfragt.2 Inzwischen konnte gerade an regionalen Untersuchungsfeldern sogar die Ineffizienz der Propaganda des NS-Regimes nachgewiesen werden.3

1 Stellvertretend: Sigrid Frind, Die Sprache als Propagandainstrument in der Publizistik des Dritten Reiches. Untersuchung an Hitlers „Mein Kampf “ und den Kriegsjahrgängen des „Völkischen Beobachters“, Berlin 1964; kritisch zur Wirkung der Propaganda: Ian Kershaw, How effective was Nazi propaganda?, in: David Welch (Hrsg.), Nazi Propaganda. The Power and the Limitations, London 1983, S. 180–205; Peter Longerich, „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945, München 2006. 2 Aktueller Forschungsüberblick: Daniel Mühlenfeld, Was heißt und zu welchem Ende studiert man NS-Propaganda? Neuere Forschungen zur Geschichte von Medien, Kommunikation und Kultur während des „Dritten Reiches“, in: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), S. 527–559. Als zentrale Quellenedition: Bernd Sösemann, Propaganda. Medien und Öffentlichkeit in der NS-Diktatur, 2 Bde., Stuttgart 2011; zur Rezeptionsforschung: Gerhard Stahr, Volksgemeinschaft vor der Leinwand? Der nationalsozialistische Film und sein Publikum, Berlin 2001. 3 Karl Christian Führer, Medienmetropole Hamburg. Mediale Öffentlichkeiten 1930–1960, Hamburg 2008. 8  Christian Kuchler

Doch obschon die Propaganda schon zwischen 1933 und 1945 nicht immer ihre Zielsetzung erreichte, unterliegt sie noch im 21. Jahrhundert strikten Restriktionen. Die Verbotsvorgaben der unmittelbaren Nachkriegszeit gelten bis heute. So reglementiert beispielsweise im Filmbereich die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung in Wiesbaden, wer unter welchen Bedingungen ausgewählte „Vorbehaltsfilme“, die als besonders rassistisch, antisemitisch, militaristisch und volksverhetzend eingestuft werden, sehen kann. Öffentliche Vorführungen der „Vorbehaltsfilme“ können nur stattfinden, wenn sie von erläuternden Einführungen und Diskussionen begleitet werden. Die Rechte an den Druckerzeugnissen liegen zumeist beim Freistaat Bayern als dem Rechtsnachfolger zahlreicher Protagonisten des Regimes und des Zentralverlags der NSDAP Franz Eher Nachf. GmbH, die Wohnsitz bzw. Geschäftsstelle in München hatten. Auf Basis dieses Rechtstitels ist es den bayerischen Behörden bislang beispielsweise gelungen, Nachdrucke von Mein Kampf in Deutschland zu unterbinden.4 Mit dem 70. Todestag Adolf Hitlers im Jahr 2015 endet der Anspruch allerdings. Die Frage des weiteren Umgangs mit dem historischen Erbe gewinnt mithin erneut an Aktualität. In den letzten Jahren gerieten indes die strikten Verbote zunehmend in die Kritik. Vor allem unter den gewandelten Bedingungen des Internetzeitalters mit seinen neuen Möglichkeiten zur Vervielfältigung von Daten und Informationen sei dem Verbot jede Grundlage entzogen.5 Dennoch lösten kommerzielle Bemühungen, beispielsweise nationalsozialistische Tagespresse unverändert nachzudrucken und an Kiosken zu verkaufen, umfangreiche Kontroversen aus. Die geschichtskulturelle Debatte um einen angemessenen Umgang mit den Dokumenten der Diktatur, die dessen Ideologie propagieren und damit die freiheitlichdemokratische Grundordnung gefährden könnten, fand vorrangig in großen Tageszeitungen oder TV-Beiträgen statt. Die Feuilletons forcier4 Zur juristischen wie auch zur publizistischen Auslegung der aktuellen Debatte im Fall von Mein Kampf: Sergey Langodinsky, „Mein Kampf “ vor Gericht. Zur Klage des Freistaates Bayern gegen eine Sammlung kommentierter Zitate, in: ZfG 60 (2012), S. 928–945; Willi Winkler, Hitler am Kiosk. Bayerns Finanzministerium muss wieder einmal gegen die Veröffentlichung von „Mein Kampf “ einschreiten, in: Süddeutsche Zeitung vom 17. Januar 2012. 5 Stellvertretend für Filme: Jochen Kürten, Nur unter Vorbehalt? Neue Diskussion über den Umgang mit NS-Filmen, in: Film-Dienst 65 (2012), Heft 9, S. 29. NS-Propaganda zwischen Verbot und öffentlicher Auseinandersetzung  9

ten die Debatte und sogar die viel beachtete ARD-Diskussionsrunde Anne Will diskutierte im Frühjahr 2012 über die Frage, wie künftig mit Mein Kampf umzugehen sei.6 Zu einer breiteren wissenschaftlichen Diskussion des Themas kam es bislang allerdings nicht. Diesem Desiderat nahm sich eine Fachtagung im Wintersemester 2012/2013 an, die gemeinsam vom Lehr- und Forschungsbereich Didaktik der Gesellschaftswissenschaften der RWTH Aachen, dem Internationalen Zeitungsmuseum Aachen und der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen veranstaltet wurde. Die überregionale Medienresonanz sowie der große Besucherzuspruch bestätigten die Initiatoren der Konferenz, den Ertrag der Vorträge und Diskussionen im vorliegenden Tagungsband zu dokumentieren. Den Band eröffnet der renommierte Londoner Zeithistoriker Peter Longerich mit seinem Beitrag zur Bedeutung der NS-Propaganda für Zeitgenossen und Nachgeborene. Am Beispiel der nationalsozialistischen Tagespresse stellt er dar, welchen Gewinn die Wissenschaft daraus ziehen kann, wenn sie sich intensiver der Quelle Tagespresse zuwendet, und er ordnet das Quellenkorpus in den kommunikativen Kontext der NS-Zeit ein. Er unterstreicht das Potenzial, welches von Zeitungen der NS-Zeit auch auf das historische Lernen der Gegenwart ausgehen kann. Dabei verweist er vor allem auf Zugänge zur Alltags- und Sozialgeschichte, die kaum ein anderes Quellenmaterial in ähnlicher Fülle liefern könne, weshalb Longerich auch die Bedeutung des Editionsprojekts Zeitungszeugen betont. In zwei Auflagen hatte es historische Zeitungen der Jahre 1933 bis 1945 zum öffentlichen Verkauf gebracht. Unmittelbar daran knüpfen zwei weitere Beiträge zum Medium Zeitung an. Zunächst fasst Christian Kuchler die Debatten zusammen, die von Zeitungszeugen ausgelöst wurden, und stellt die Unterschiede zwischen den Kontroversen der Jahre 2009 und 2012 heraus. Dezidiert den Blick auf das historische Lernen im schulischen Kontext richtet anschließend Christian Bunnenberg. Ihm geht es um die Potenziale historischer Zeitungen aus den Jahren zwischen 1933 und 1945 für den Geschichtsunterricht, welche er im klassischen Unterricht bislang nicht ausreichend gewürdigt sieht. 6 Die Sendung ist im Netz vollständig abzurufen, siehe: http://www.youtube.com/ watch?v=dMXvZn1TNIs (15.11.2013). 10  Christian Kuchler

Ein zweiter thematischer Schwerpunkt gruppiert sich um die wohl prominenteste Debatte zum Thema, in deren Mittelpunkt Hitlers Hetzschrift Mein Kampf steht. Das Werk, das oftmals als „Bibel“ der nationalsozialistischen Bewegung tituliert wird, erregt auch fast 70 Jahre nach dem Tod seines Autors noch immer die Gemüter. Eine betont geschichtswissenschaftliche Antwort auf diese Stilisierung liefert im Auftaktbeitrag Thomas Vordermayer. Er ist Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin und wirkt an der Erstellung einer kommentierten Ausgabe von Mein Kampf mit. In seinen einleitenden Ausführungen stellt er dar, wie die Edition angelegt sein wird und welche Ziele sie verfolgt. Damit liefert er einen Werkstattbericht zur Arbeit der derzeit wohl umstrittensten Edition der geschichtswissenschaftlichen Forschung in Deutschland. Spätestens seitdem sich der Freistaat Bayern, der das Unternehmen zunächst unterstützt hatte, aus der Finanzierung zurückgezogen hat,7 steht das Projekt im Blick einer breiten Öffentlichkeit.8 Der hier vorgelegte Werkstattbericht will die wissenschaftlichen Kriterien der Edition transparent machen. Mein Kampf steht auch im Mittelpunkt der nachfolgenden Beiträge. Ulrich Baumgärtner analysiert, welche Rolle Hitlers Werk bislang in den bundesdeutschen Schulbüchern spielt. Da die Lehrwerke noch immer als „Leitmedien des Geschichtsunterrichts“9 fungieren, ermöglicht ihre Analyse eine umfassende Einschätzung der Bedeutung des Propagandatextes für das historische Lernen in Deutschland. Marc van Berkel ergänzt mit seinem Beitrag eine niederländische Perspektive. Dass Mein Kampf dort in schulischen Lehrbüchern in den frühen Nachkriegsjahren weit stärker herangezogen wurde als dies heute der Fall ist, diskutiert er ebenso wie den gesellschaftlichen Umgang mit dem prominenten Text in der niederländischen Gesellschaft außerhalb der Schule.

7 Willi Winkler, Vor Tische las man´s anders, in: Süddeutsche Zeitung vom 13. Dezember 2012. 8 So debattierte etwa der Bayerische Landtag erneut über die Bedeutung des Editionsvorhabens, siehe: http://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/ article124103451/Mein-Kampf-kann-kommen-ohne-bayerisches-Geld.html (1.2.2014). 9 Bernd Schönemann/Holger Thünemann: Schulbucharbeit. Das Geschichtslehrbuch in der Unterrichtspraxis, Schwalbach am Taunus 2010, S. 14. NS-Propaganda zwischen Verbot und öffentlicher Auseinandersetzung  11

Die nachhaltigste Wirkung nationalsozialistischer Propaganda attestierte man lange Zeit dem Film. Zuschreibungen wie etwa „Filmminister“ (Felix Moeller) für Joseph Goebbels unterstreichen diese Einschätzung, die im vorliegenden Band als dritter thematischer Schwerpunkt aufgegriffen wird. Clemens Zimmermann stellt in seinen Ausführungen zu Film und Kino im „Dritten Reich“ die politischen Strategien und die soziale Praxis dar. Daran knüpft René Schlott an, wenn er die Funktion von NS-Filmaufnahmen für die bundesdeutsche Geschichte analysiert. Er weist nach, welch große Bedeutung die historischen Filmausschnitte vor allem für Fernsehdokumentationen seit den1960er-Jahren einnahmen, was ihn die „Wiederkehr nationalsozialistischer Bilderwelten“ hinterfragen lässt. Benjamin Städter rundet das Thema ab, indem er sich ebenfalls der Vermittlung von Geschichte annimmt. Seine Überlegungen sind hingegen auf den engeren schulischen Rahmen gerichtet und analysieren, wie zeitgenössische Spielfilme im 21. Jahrhundert im Geschichtsunterricht eingesetzt werden können. Kolberg, ein Film, der zu den „Verbotsfilmen“ zählt, dient ihm als Beispiel für ertragreiches historisches Lernen. An die pädagogischen Überlegungen schließen sich zwei Beiträge an, welche den Umgang mit NS-Propaganda im 21. Jahrhundert thematisieren. Zunächst richtet Stefanie Paufler-Gerlach den Blick auf den Umgang deutscher Museen mit derartigen Exponaten, der sich in den letzten Jahren grundlegend gewandelt hat, während Silke Peters die Attraktivität nationalsozialistischer Propaganda für heutige Neonazis aus dem Raum Aachen auslotet. Am Beispiel von deren Internetaktivitäten stellt sie dar, wie rechte Zirkel auch im 21. Jahrhundert versuchen, aus der Propaganda der NS-Zeit für sich Profit zu schlagen. Eine weitere internationale Perspektive nimmt danach der israelische Zeithistoriker Moshe Zimmermann ein, wenn er sich dem Umgang der Opfer mit der Propaganda der Täter zuwendet. Er beschreibt die Diskussionen um eine hebräische Ausgabe von Mein Kampf und verfolgt die Verwendung von antisemitischen Stereotypen in der Gegenwart des Staates Israel. Als Abschluss des Bandes fungiert Helmut Königs Text zur Erinnerungskultur und NS-Propaganda. Darin setzt er sich grundlegend mit der Frage von menschlicher Manipulierbarkeit auseinander. Als Beispiel dient ihm dabei Thomas Manns Novelle Mario und der 12  Christian Kuchler

Zauberer, an der er die „Schwierigkeit nein zu sagen“ (Klaus Heinrich) thematisiert. Anliegen der Tagung und des vorliegenden Bandes ist es, eine reflektierte Diskussion über den Umgang mit den Relikten der NS-Vergangenheit anzuregen und jenseits kurzfristiger Aufgeregtheiten in Politik und Medien eine wissenschaftliche Debatte anzustoßen. Für die Unterstützung dieses Bemühens ist neben den Autoren des Bandes besonders den Kooperationspartnern aus dem Internationalen Zeitungsmuseum Aachen und der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen zu danken. Vonseiten des Böhlau Verlages begleitete Dorothee Rheker-Wunsch die Veröffentlichung umsichtig und engagiert. Daneben wäre das vorliegende Werk nicht entstanden ohne die motivierte Mitwirkung von Ruth Eichfeld, Theresia Jägers, Johannes Kuber, Stefanie Paufler-Gerlach, Sebastian Schmitz, Benjamin Städter und Jana Wiegmann am Lehr- und Forschungsbereich Didaktik der Gesellschaftswissenschaften an der RWTH Aachen. Zu hoffen bleibt, dass die Publikation anregend wirken möge und damit der Umgang mit der Propaganda des NS-Regimes im 21. Jahrhundert neu überdacht wird.

NS-Propaganda zwischen Verbot und öffentlicher Auseinandersetzung  13

Peter Longerich

NS-Propaganda in Vergangenheit und Gegenwart Bedeutung der nationalsozialistischen Tagespresse für Zeitgenossen und Nachgeborene1

Basierend auf den Recherchen zu meiner Studie „Davon haben wir nichts gewusst“, die sich dezidiert mit dem Wissen der Deutschen um die Vernichtung der Juden während des Holocausts und ihrer Reaktion darauf beschäftigt, will ich an den Beginn meiner Ausführungen eine provokante These stellen: Die Tagespresse der NS-Zeit gehört zu den wichtigsten Quellen über die Jahre 1933 bis 1945, wenngleich sie bislang von der Zeitgeschichtsschreibung relativ wenig herangezogen wurde. Vor allem, wenn man sich in die Provinzpresse und deren thematische Berichterstattung einliest, erkennt man deren Relevanz für die zeithistorische Forschung. Man könnte also sagen, dass die Presse dieser Jahre so etwas wie die letzte Geheimquelle des „Dritten Reiches“ darstellt. Dieses weitgehend unbekannte Potenzial gedruckter Presseorgane begründet denn auch mein Interesse an der grundlegenden Fragestellung, wie im 21. Jahrhundert mit vormaliger NS-Propaganda umzugehen ist. Gerade deshalb gehörte ich in den letzten Jahren auch dem wissenschaftlichen Beirat der beiden Zeitungszeugen-Projekte an. Um das Potenzial historischer Zeitungen für die Wissenschaft, aber auch das historische Lernen zu illustrieren, will ich zunächst zwei Ausschnitte aus der Tagespresse der Kriegszeit vorstellen. Zunächst ein Auszug aus dem Völkischen Beobachter vom 21. Dezember 1942: „Nach Schätzung der jüdischen Presse Palästinas beträgt die Gesamtzahl der Juden 13,5 Millionen. Davon entfallen auf die USA 4,5 Millionen, auf England 425.000, auf Kanada 200.000, auf Südafrika 100.000, auf Austra1 Der Text dokumentiert den Vortrag im Rahmen der Tagung „NS-Propaganda im 21. Jahrhundert“ vom 29. November 2012. Der Vortragsstil wurde beibehalten. NS-Propaganda in Vergangenheit und Gegenwart  15

lien 35.000, auf Argentinien 300.000 und auf alle anderen Staaten beider Amerika 300.000. Nach den USA beherbergt heute Palästina mit 550.000 Juden die meisten Hebräer. Diese Schätzungen beziehen sich selbstverständlich nur auf Religionsjuden. Von den Sowjetjuden soll sich die Hälfte jetzt östlich vom Ural befinden.“

Zu fragen ist, was dem interessierten Zeitungsleser des Jahres 1942 aufgefallen sein könnte, wenn er auf diese Notiz stieß. Worin also bestand die Auffälligkeit dieser kurzen Zeitungsnotiz? Während zahlreiche Angaben zu internationalen Gemeinden existieren, werden offensichtlich keine Informationen zu den deutschen Juden gegeben. Angaben zu ihnen fehlen gänzlich. Zudem aber fehlen auch andere jüdische Gemeinschaften, so etwa die polnischen Juden, die immerhin 3,5 Millionen Menschen umfassten. Es fehlen präzise Zahlenangaben über die sowjetischen Juden, es fehlen 834.000 rumänische Juden und es ist interessant, dass hier gesagt wird, dass nach den Vereinigten Staaten das britische Mandatsgebiet Palästina mit 550.000 Juden die meisten Hebräer beherberge. Wenn man als Leser also auf der Suche war nach Informationen über den Verbleib der Juden in Deutschland oder den anderen, hier nicht angeführten Territorien, konnte – oder vielmehr, musste – man zu der Schlussfolgerung kommen, dass diese Gemeinschaften nicht mehr existieren. Wenn man damals einen großen Brockhaus im Bücherregal stehen hatte – und viele hatten das –, konnte man darin den Artikel „Juden“ nachschlagen. Dort wurden in einer Tabelle die jüdischen Gemeinschaften nachgewiesen und man konnte ohne größere Anstrengungen einen Vergleich anstellen zwischen den Angaben des Völkischen Beobachters und den statistischen Angaben der 1920er-Jahre. Ein zweites, umfangreicheres Beispiel mag den aufgezeigten Befund unterstreichen. Es stammt aus der Tageszeitung Der Führer. Badische Gauzeitung vom 17. Mai 1943. In einem Leitartikel mit dem Titel „Schuld ist der Jude“ verhandelt Johann von Leers darin das Verhältnis der Deutschen zu ihren jüdischen Mitbürgern. Der prominente, streng antisemitische Publizist formuliert darin: „Es gibt heute Menschen genug, die sich darüber beklagen, dass wir die Juden aus Europa ausrotten – sie sollten sich erst einmal darüber beklagen, in welch namenloses Elend die Juden mit dem Zusammenbruch 1918 unser 16  Peter Longerich

Volk und ganz Europa hineingetrieben haben. Ja, aber die Methoden? Wer Methode sagt, hat immer Unrecht. Es kommt auf das Ergebnis an. Das Ergebnis für den Arzt muss die restlose Ausschaltung der Cholera sein, das Ergebnis für unser Volk die restlose Ausschaltung der Juden sein. Der Kampf steht ‚Spitz auf Knopf ‘. Es geht zwischen uns und den Juden darum, wer wen überlebt. […] Mögen diese Dinge schrecklich sein. Sie sind aber unausweichlich. Wir haben uns die Zeit nicht ausgesucht, in der wir leben, aber wir stehen mit dem Rücken gegen die Wand. Das Judentum, dem wir bis zum Weltkrieg nichts als Gutes erwiesen haben, […] ist uns damals in den Rücken gefallen wie ein Mörder. Und es ist wieder dabei und möchte uns ermorden. Die Feindschaft ist von ihm ausgegangen.“

Gerade dieser Ausschnitt aus Der Führer belegt, welche umfangreichen und relativ unverhüllten Informationen aus Zeitungen zu entnehmen waren. Stellte die erste angeführte Notiz aus dem Völkischen Beobachter noch eine Notiz dar, die ein eiliger Leser gut wird übersehen haben können, so wendet sich der Kommentar ausdrücklich nicht an einen eiligen Leser, sondern zielt dezidiert auf Personen, die in einem autoritativen Organ des „Dritten Reichs“ nachlesen wollten, wie das Regime zu den Gerüchten über die Vernichtung der Juden steht. Schließlich hatte just im Dezember 1943 die alliierte Propaganda eine Woche lang sehr intensiv über die Vernichtung der Juden in allen zur Verfügung stehenden Medien berichtet und sogar Zahlen und Orte dieser Vernichtung genannt. Tatsächlich schlug sich dies in der Presse in Palästina nieder, welche die alliierte Darstellung ebenfalls aufgriff. Man wird in der kurzen, vorgestellten Notiz aus dem Völkischen Beobachter eine Art Kommentar dazu lesen dürfen; natürlich kein Dementi, sondern eine indirekte Bestätigung: nämlich, dass die fehlenden jüdischen Gemeinschaften tatsächlich nicht mehr existierten. Für all jene Menschen, die nach einer Antwort auf den Verbleib der Juden suchten, stand damit eine Erklärung zur Verfügung. Dagegen wird der Kommentar vom Mai 1943 eigentlich nur dann verständlich, wenn man voraussetzt, dass der Leser ein gewisses Vorwissen über die Vernichtung der Juden bereits besitzt. Schließlich gibt der Text keine Erklärungen zu den Methoden dieser Vernichtung, aber es gab im Frühjahr 1943 vielfältige Gerüchte über diese Methoden: Gerüchte über Erschießungen, über Deportationen, über Gas und andere NS-Propaganda in Vergangenheit und Gegenwart  17

Vernichtungsarten. Der zitierte Kommentator geht auf diese Methoden ein, ohne sie ausdrücklich beim Namen zu nennen. Er verteidigt sie explizit, das heißt, er setzt ein bestimmtes Wissen beim Leser voraus, antwortet darauf in einer allgemeinen, autoritativen Form, in der er sagt, darüber können keine präzisen Angaben gemacht werden. Zugleich dementiert er auch nicht die Gerüchte über die vielfältigen Mordmethoden, sondern er bestätigt sie, indem er sie als unvermeidlich kommentiert. Johann von Leers Kommentar erschien etwa zeitgleich in anderen NS-Organen und Gauzeitungen, so zum Beispiel zwei Wochen später im Freiheitskampf. Victor Klemperer hat diesen Kommentar gelesen und es lässt sich in seinen Tagebuchaufzeichnungen nachlesen, dass er insbesondere aus dem ersten Satz, „dass wir die Juden aus Europa ausrotten“, die Schlussfolgerungen zieht, erstens „sie haben angefangen“ und zweitens, dass die Judenvernichtung selbst in Deutschland nicht populär sei. Er zieht aus dem ersten Satz des Presseberichts also die Schlussfolgerung, dass das Morden, das angekündigt war, tatsächlich begonnen habe, dass es aber Schwierigkeiten gebe, der Bevölkerung diese Politik zu erklären. Klemperer schlussfolgert, dass offenbar Fragen aufkommen und dass für das Regime Pressebeiträge eine Möglichkeit boten, auf indirekte Art auf diese offenen Fragen zu antworten. Wenn sich heutige Leser mit der Presse der NS-Zeit beschäftigen, ermöglicht ihnen das, die Propaganda des Regimes zu rekonstruieren. Sie versuchen nachzuvollziehen, wie das Regime versuchte, die Menschen zu manipulieren und zu verführen. Daneben lässt sich die Propaganda nutzen, um bestimmte Innenansichten der Diktatur zu erhalten: Erschlossen werden kann beispielsweise, wie das Regime mit dieser sehr diffizilen Frage umging. Wenn man die beiden angeführten Zitate in einen größeren Kontext setzt, so belegen sie, dass das Regime in den Jahren 1942/1943 deutliche Signale aussendete, die auf die Vernichtung und Ausrottung der Juden hinwiesen, ohne Einzelheiten dieses Vernichtungsprozesses preiszugeben. Ziel dieser Signale war es, die Deutschen zu Mitwissern und zu Komplizen der Verfolgung und des Mordes an den Juden zu machen und ihnen dadurch zu vermitteln, dass sie durch ihre Mitwisserschaft auf Gedeih und Verderb an das Regime gebunden waren. Kommuniziert werden

18  Peter Longerich

sollte, dass sie keine Alternative dazu besaßen, das Regime nicht bis zum Ende, bis zum totalen Sieg zu unterstützen. Es scheint aber, dass die meisten Deutschen dennoch Wege und Mittel gefunden haben, sich von der vom Regime verlangten Mitwisserschaft durch eine Art von ostentativer Ahnungslosigkeit zu entziehen. Sie ließen sich nicht in diese Komplizenschaft einbeziehen, um sich nicht für das Morden mitverantworten zu müssen. Bekannte Redensarten wie „davon wissen wir nichts“ oder nach Kriegsende „davon haben wir nichts gewusst“ dokumentieren dies. Das Regime wiederum reagierte auf diese ostentative Verweigerungshaltung, indem es ab den Jahren 1942 und 1943 phasenweise immer größere Teile des Staatsgeheimnisses „Judenmord“ preisgab. Die beiden angeführten Beispiele aus der öffentlichen Tagespresse unterstreichen diese These. Gleichwohl gab die Mehrheit der Bevölkerung ihre Ignoranz gegenüber dem Thema nicht auf, worauf das Regime bereits im Jahr 1943 reagierte, indem es die antijüdische Propaganda und vor allem die ostentative Herausstellung der Ausrottung der Juden bis zum Kriegsende zurückfuhr. Man könnte also sagen, dass die beiden angeführten Auszüge aus der zeitgenössischen Tagespresse einen Ausschnitt aus einem sehr viel umfassenderen Kommunikationsprozess zwischen Regime und Bevölkerung darstellen. Wenn man diesen Kommunikationsprozess rekonstruieren will, muss man sehr viele andere Quellen hinzuziehen. Um diesen merkwürdigen Dialog aber überhaupt verstehen zu können, bedarf es ganz essenziell des Umgangs mit Zeitungen. Nur so lässt sich verstehen, wie das Regime ausgewählte Themen – wie gerade die Judenverfolgung – an die Bevölkerung weitertrug. Damit komme ich zum zweiten Hauptaspekt meiner Überlegungen: Ganz generell würde ich behaupten, dass es in der Propaganda des „Dritten Reiches“ nicht darum ging, Menschen zu überzeugen, zu manipulieren und zu verführen, sondern die Propaganda war Teil eines geschlossenen Systems zur Kontrolle der Öffentlichkeit. Und zu diesem System gehört zunächst die Repression bzw. die versteckte oder offene Androhung von Repression. Und es gehörte dazu eine sehr intensive Beobachtung, also die Bearbeitung und Betreuung der Bevölkerung durch die Parteiorganisationen. Durch dieses geschlossene System der Kontrolle der Öffentlichkeit sollten die Menschen dazu gebracht werden, sich in ihrem täglichen Verhalten an die Norm des Regimes anzupassen, und NS-Propaganda in Vergangenheit und Gegenwart  19

gerade diese Anpassung an die Norm des Regimes konnte dann die NSPropaganda als Zustimmung der geschlossenen Volksgemeinschaft zur Politik des Regimes dokumentieren. Der Geschichtswissenschaft ist es heute nicht möglich festzustellen, was die Deutschen damals tatsächlich dachten. Allerdings kann sie rekonstruieren, wie die Bevölkerung sich verhielt. Dabei ist festzustellen, wie stark sie sich dabei den Anforderungen des Systems anpasste und diesen entsprach. Dieses geschlossene System, das wohl über das System der Propaganda zu setzen ist und wohl eher als ein System der Kontrolle der Öffentlichkeit bezeichnet werden kann, ist besonders durch drei Elemente gekennzeichnet: 1. Anderslautende Stimmen wurden grundsätzlich nicht geduldet. Goebbels persönlich sorgte dafür, dass in den Zeitungen selbst systemloyale Kritik, die auf der Basis nationalsozialistischer Tradition vorgetragen wurde, nicht mehr geduldet wurde. Er hat sehr allergisch darauf reagiert, wenn diese Stimmen dennoch auftauchten. Diese Aversion gegen jede Form von abweichender Meinungsäußerung führte beispielsweise dazu, dass Goebbels im Jahr 1936 die Kunstkritik eliminierte und dass er systematisch gegen politisierende Kabarettisten, gegen Satiriker und Witzemacher, gegen Conférenciers oder Spitzen im Feuilleton vorging. Er bemühte sich nach Kräften, das geschlossene System undurchlässig zu machen, indem er etwa auch ausländische Filme genauso zensieren ließ wie er deutsche Filme und den Vertrieb ausländischer Zeitungen im Reich reglementierte. Das Hören ausländischer Rundfunksender war verpönt und wurde im Krieg sogar unter Strafe verfolgt. Dies ist also der erste Teil: Der Versuch, alle alternativen Stimmen auszuschließen. 2. Der zweite wesentliche Bestandteil dieses Systems war, das öffentliche Erscheinungsbild des „Dritten Reichs“ möglichst weitgehend an natio­ nalsozialistische Normen anzupassen. Das heißt, die Menschen erhielten klare Vorgaben, wie sie durch ihr Verhalten in der Öffentlichkeit ihre Zustimmung zum Regime bekunden konnten. Das war nur möglich, da der öffentliche Raum bereits in den ersten Monaten nach der „Machtergreifung“ von den Nationalsozialisten beherrscht wurde 20  Peter Longerich

und sie ihn in ihrem Sinne umgestalteten. Man denke an die allgegenwärtigen Plakate, Transparente, an die Umdekorierung ganzer Straßenzüge bei Großveranstaltungen, Umbenennung von Straßen und Plätzen, das Einbringen von nationalsozialistischen Stereotypen in die Alltagssprache, die Ausrichtung von großen Menschenmassen zu Marschkolonnen. Man könnte beispielsweise auch Dinge einbeziehen wie die Veränderung der Ausrichtung der Werbung oder der Mode, aber auch die komplette Umgestaltung öffentlicher Räume durch eine repräsentative Herrschaftsarchitektur. Innerhalb dieses umgestalteten und von den Nationalsozialisten beherrschten öffentlichen Raums wurde nun die angebliche Übereinstimmung von Volk und Führung mit einer ganzen Skala von Verhaltensweisen demonstriert. Das umfasste so profane Dinge wie den Hitlergruß, das öffentliche Tragen von Parteiabzeichen, aber es umfasste zum Beispiel auch das alltägliche Verhalten gegenüber ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen, wie etwa den Juden. Boykott funktionierte nur, wenn sich die Bevölkerung in der Masse dem Boykott anschloss. Die öffentlich angeordnete Aufgabe von Kontakten, wie beispielsweise der Verzicht auf das Grüßen von jüdischen Bekannten in der Öffentlichkeit, wurde umgesetzt. Wer beispielsweise einer älteren Person mit einem Judenstern in einer Berliner U-Bahn den Platz anbot, lief Gefahr, von einem Parteigenossen angerempelt zu werden. All das meine ich mit diesem Erzwingen von Verhaltensweisen im öffentlichen Raum bis hin zur Teilnahme an Jubelfeiern, Massenaufmärschen und Volksabstimmungen. Und wenn man die Jahre zwischen 1933 und 1945 überblickt, muss man sagen, dass diese Vorstellung des Regimes, die Bevölkerung dazu zu bringen, sich in ihrem öffentlichen Verhalten an die Verhaltensnormen des Regimes anzupassen, insgesamt funktioniert hat. Die Menschen haben sich insgesamt so verhalten, wie es sich das Regime erwünschte, und nun war es die Aufgabe der Propaganda, dieses Verhalten als Zustimmung zu dokumentieren. 3. Das dritte Element in diesem System ist das bedeutsamste: nämlich, dass das geschlossene System den Beweis für sein erfolgreiches Funktionieren zugleich mitlieferte. In Form von Bild- und Tonaufnahmen, aber auch in der internen Stimmungsberichterstattung, die immer NS-Propaganda in Vergangenheit und Gegenwart  21

darauf angelegt war, die positive Resonanz der Propaganda wiederzugeben und die negativen Abweichungen von der Norm als Ausnahmeerscheinungen zu präsentieren. Das heißt, wir sind daran gewöhnt, die Bilder, die Töne, die Filme aus dieser Zeit als Beweis für den Erfolg dieser Propaganda zu sehen, und vergessen dabei, dass das genau die Intention der Urheber war. Es sind Bilder, die innerhalb des Propagandaapparates erzeugt worden sind, es handelt sich um keine dokumentarischen Bilder oder Dokumente, sondern um den Versuch, genau diese Zustimmung abzubilden. Auch in der Stimmungsberichterstattung dieser Zeit, die gerade Historiker immer wieder analysieren, ist zu lesen, wie gut die Propaganda funktionierte. Sie ist demnach Teil eines fast perfekten Systems, und wenn in diesen Stimmungsberichten negative Erscheinungen auftraten, wenn dort einzelne Berichterstatter darstellten, dass die Propaganda in einzelnen Bereichen nicht erfolgreich war, dann wurden diese Berichte in der Regel nachkorrigiert, sie wurden eingestellt oder es wurden die Kriterien, mit denen die Zustimmung gemessen wurde, verändert oder es wurden die Kritiker und die Unzufriedenen, die darin auftauchten, einfach zum Schweigen gebracht. Auch wenn diese Überlegungen ein sehr geschlossenes, uniformes Bild vermitteln, wissen wir aus mehr als zwei Jahrzehnten Forschung zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der NS-Diktatur, dass die damalige Volksstimmung nicht einfach mit totalitärer Uniformität beschrieben werden kann, sondern dass es tatsächlich in erheblichem Umfang allgemeine Unzufriedenheit sowie abweichende und divergierende Verhaltensweisen gab. Doch diese Bekundung von Widerspruch war im Wesentlichen auf den privaten oder auf den halböffentlichen Bereich beschränkt, also auf Stammtische, Nachbarschaften, Freundes- und Kollegenkreise. Sie mochte in Resten von Milieustrukturen aus der Zeit der Demokratie ihren Ausdruck finden, etwa in bestimmten Pfarrgemeinden, in bürgerlichen Verkehrskreisen, in Dorfgemeinschaften, die sich dem Nationalsozialismus gegenüber nicht aufgeschlossen zeigten, oder in den Untergrundgruppen der Arbeiterbewegung, soweit diese noch bestand. Aber dieser Form von Kritik, die in vielfältiger Weise existierte, und die wir heute noch nachweisen können, fehlte ein ganz entscheidendes Kriterium: Sie konnte nicht öffentlich gemacht werden. Sie konnte die Grenzen 22  Peter Longerich

dieser kleinen privaten und halböffentlichen Räume nicht überschreiten. Und es fehlten einfach jene Kommunikationsformen, die für die Bildung öffentlicher Meinung, wie wir sie verstehen, essenziell sind. Es fehlte die Chance, sich ungehindert zu vergewissern, dass die eigenen Ansichten von anderen geteilt werden; es fehlte die Möglichkeit, unterschiedliche Meinungsvarianten im Gespräch auf einen Nenner zu bringen; es fehlte die Möglichkeit, solche abweichenden Meinungsvarianten in begrifflichen Abstraktionen, wie in Schlagwörtern und Parolen, zum Ausdruck zu bringen. Das alles, was wir auf einer unteren Ebene als Meinungsbildungsprozess kennen, war in einer kontrollierten Öffentlichkeit weitgehend ausgeschlossen. Wenn ich dieses System als ein von oben weitgehend manipuliertes System beschreibe, dann bestreite ich natürlich nicht, dass das Regime nicht auch auf Massenzustimmung beruhte. Immerhin hatte die NSDAP bei den letzten freien Wahlen im November 1932 etwas mehr als 33 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen können. Doch durch dieses System der Kontrolle der Öffentlichkeit hatte das Regime einen Apparat geschaffen, der es ihm erlaubte, sich in seiner Selbstdarstellung relativ unabhängig von der jeweiligen tatsächlichen Zustimmung der Bevölkerung zu machen. Noch vielmehr: Das Regime war in der Lage, Zustimmung und Enthusiasmus mehr oder weniger nach Bedarf zu erzeugen. Es war in der Lage, auch längere Durststrecken, in denen es an der spontanen Zustimmung mangelte, zu überdecken und damit zu überstehen. Vor allem ist das Bild einer vollkommen geschlossenen „Volksgemeinschaft“, bei der die Abweichungen nur in Promillewerten gemessen werden können, ein Trugbild des Propagandaapparates, der tatsächlich die tiefe Fragmentierung der deutschen Gesellschaft in politischer, sozialer, weltanschaulicher, religiöser oder regionaler Hinsicht überdecken sollte. Es wäre geradezu irrwitzig, sich vorzustellen, dass diese für das Kaiserreich und die Weimarer Republik in allen Studien kennzeichnende feststellbare Fragmentierung der deutschen Gesellschaft schon nach wenigen Monaten „Drittes Reich“ hätte plötzlich beseitigt werden können. Dieses geschlossene System der kontrollierten Öffentlichkeit mit den wesentlichen Elementen, also dem Ausschluss von Widerspruch und alternativer Kommunikation, die Beherrschung des öffentlichen Erscheinungsbildes, das Durchsetzen und Erzwingen von bestimmten Ver­haltensweisen sowie die multimediale Reproduktion dieser VerhalNS-Propaganda in Vergangenheit und Gegenwart  23

tensweisen als Zustimmung der Bevölkerung, dieses System ist im Auge zu behalten, wenn wir uns mit der heutigen Wirkung von NS-Medien und ihrem Umgang in der heutigen Zeit beschäftigen. Im Rahmen des Projektes Zeitungszeugen war ich stark involviert. Während der Kontroversen hatte ich zweimal im Bayerischen Landtag an Diskussionen teilzunehmen. Zunächst bei einer Anhörung der Fraktion Bündnis90/Die Grünen im Jahr 2009, später dann im Hochschulund Wissenschaftsausschuss. In den Debatten wurde deutlich, dass gerade bei den Anhängern der Mehrheitsfraktion die Sorge, ja sogar die Furcht umging, dass der ungefilterte und nur in einem beschränkten Umfange kommentierte Nachdruck von NS-Zeitungen einfach neorassistische Tendenzen fördern oder sehr stark irritieren könnte. Dass allerdings Zeitungszeugen gerade nicht den Völkischen Beobachter am Kiosk verkauften, sondern die Nachdrucke in einer Mappe mit einem Kommentarteil zum jeweiligen Reprint verkauften, wurde kaum wahrgenommen. Man konnte aus den Kommentaren der Abgeordneten der Mehrheitsfraktion durchaus die dominierende Haltung im Deutschland der 1950erund 1960er-Jahre noch heraushören, die für ein striktes Verbot plädierte. Das konsequente Verbot von NS-Texten und die Verfolgung der Verbreitung solcher Texte sollten die Deutschen sozusagen immun gegen dieses Gedankengut machen. Das Plädoyer der Mehrheitsfraktion im Bayerischen Landtag für ein Verbot ist meiner Ansicht nach der Nachklang solcher Zeiten, aber abgesehen davon, dass wir ja heute im Internetzeitalter keine Texte mehr unterdrücken können, scheint mir die Fortsetzung dieser rigiden Verbotshaltung in unserem heutigen Umfeld, also fast 70 Jahre nach dem Ende der Diktatur und nach Jahrzehnten intensiver Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, nicht mehr angemessen zu sein. Es würde uns und unserer gesamten Bildungsarbeit ein unglaubliches Armutszeugnis ausstellen, wenn wir glauben würden, dass solche Texte heute noch brandgefährlich seien. Daher glaube ich, diese Haltung ignoriert die Bedingung der Rezeption solcher Texte in einer völlig veränderten Umwelt. Wenn man sich eine historische Tageszeitung aus der NS-Zeit ansieht, dann ist sie ein relativ komplexes und nicht leicht zugängliches Medium. Das beginnt schon mit der Schrift und es bedarf einer erheblichen Zusatzinformation, um überhaupt den Inhalt eines solchen Blattes zu verstehen. Wenn die Propagandabotschaft dann mithilfe anderer 24  Peter Longerich

Quellen rekonstruiert werden kann, so wirkt der Ton auf den heutigen Leser eher plump, zu vordergründig und bringt sich damit eigentlich selbst um die intendierte Wirkung. Und ohne die anderen Elemente des Systems, das ich dargestellt hatte, also ohne Repression und Ausschluss alternativer Informationsquellen, stehen diese Propagandaprodukte eher nackt und armselig da. Die Texte können keinesfalls aus sich selbst heraus eine vergleichbare Wirkung erzielen, die den Wirkungen vor 80 Jahren in irgendeiner Form entsprechen könnten. Jeder, der eine solche Zeitung der Jahre 1933 bis 1945 zum ersten Mal zur Hand nimmt, ist erstaunt darüber, wie normal der Alltag jener Tage war, und er kann sich davon leicht anhand von Kinoanzeigen, Sportergebnissen oder Anzeigen zum Schlussverkauf überzeugen. Und diese Entdeckung ist das eigentlich Interessante an dieser Lektüre, und hier kann eine Archäologie des Alltags des „Dritten Reiches“ ansetzen. Bei der Sitzung des Landtagsausschusses war zu beobachten, wie die Abgeordneten die Zeitungen aufschlugen und sich gegenseitig auf ihre Entdeckungen aufmerksam machten, die sie beim Lesen dieser Zeitungen machten. Das ist ein typisches Lernergebnis. Das heißt, dieses Propagandamedium, also das, was ursprünglich als Propagandamedium gedacht war, lädt zu Entdeckungsreisen ein, die mit den ursprünglichen Intentionen des Urhebers eigentlich wenig zu tun haben. Welche Innenansichten diese Propagandamedien dennoch ermöglichen, wenn gezielt bestimmte Themen untersucht werden sollen, sollte am Beispiel der Rezeption der Judenverfolgung deutlich werden. Die heutige Lektüre – auch im Fall von Mein Kampf – findet in einem völlig veränderten Umfeld statt und unterscheidet sich somit deutlich von der Lektüre des Bandes in den Jahren 1927 oder 1937. Was mich bei der Diskussion um den Umgang mit solchen Zeitungstexten und anderen Propagandatexten besonders verwundert hat, ist die Tatsache, dass wir jahrzehntelang mit anderen Produkten des NS-Propagandaapparates sehr viel großzügiger umgegangen sind. Ich meine damit die heute alltägliche Verwendung von Film-, Foto- und Hörbildern im Rahmen von historischen Fernsehdokumentationen und ähnlichen medialen Aufbereitungen. Denn die dort gezeigten jubelnden Menschenmengen, begeisterten Volksgenossen, strammen, paradierenden SA-Männer sollen ja zumeist exakt das Gleiche belegen, was die Bilder im Sinne der Urheber bereits beweisen sollten. Sie sollen nämlich beweisen, dass das deutsche NS-Propaganda in Vergangenheit und Gegenwart  25

Volk zwischen 1933 und 1945 geschlossen und begeistert hinter seiner nationalsozialistischen Führung stand. Das heißt, unsere Mediengesellschaft verwendet laufend Produkte des NS-Propagandaapparates, um genau diese Botschaft zu unterstreichen, die der Propagandaapparat verbreiten wollte. Und zieht man diese Nachwirkungen in Betracht, und das meine ich insbesondere im Hinblick auf Film-, Bild- und Tondokumente, so war Joseph Goebbels vielleicht tatsächlich der erfolgreichste Propagandist des 20. Jahrhunderts.

26  Peter Longerich

Christian Kuchler

NS-Propaganda am Kiosk? Das Editionsprojekt Zeitungszeugen als Manifestation kommerzieller Geschichtskultur

Printmedien prägen spätestens seit der Ausbreitung der Massenpresse um die Mitte des 19. Jahrhunderts die öffentliche Kommunikation. Gleichwohl nahmen sich die historischen Wissenschaften ihrer kaum an,1 bestenfalls wurden Zeitungen und Zeitschriften konsultiert, wenn zu spezifischen Fragestellungen keine anderen Quellenbestände vorlagen.2 Erst als in den letzten Jahren der steigende Einfluss der Medien auf große Teile des öffentlichen Lebens nicht mehr zu übersehen war, rückte vor allem die Tagespresse, ebenso wie die Medien insgesamt, verstärkt in den Blick der Geschichtswissenschaft.3 Inzwischen haben zahlreiche Studien deren Bedeutung für die jeweiligen Untersuchungszeiträume nachgewiesen. Unter anderem gilt dies für die Zeit der Weimarer Republik und der NS-Diktatur: Waren Zeitungen und Zeitschriften bereits in demokratischer Phase das bedeutsamste Mittel der Massenkommunikation,4 so konnten sie ihre Stellung auch zwischen 1933 und 1945 behaupten und sogar ausbauen.5 Deutlich steigende 1 Jürgen Wilke, Journalismus und Geschichtsschreibung, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 11 (2009), S. 5–24, S. 7 ff. 2 Hans-Christoph Kraus, Zeitungen, Zeitschriften, Flugblätter, Pamphlete, in: Michael Mauerer (Hrsg.), Aufriss der historischen Wissenschaften, Bd. IV: Quellen, Stuttgart 2002, S. 373–401, S. 388 ff. 3 Bilanzierend: Frank Bösch, Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen, Frankfurt 2011. 4 Stellvertretend: Bernhard Fulda, Press and politics in the Weimar Republic, Oxford 2009. 5 Karl Christian Führer, Die Tageszeitung als wichtigstes Massenmedium der natio­ nalsozialistischen Gesellschaft, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 55 (2007), S. 411–434. NS-Propaganda am Kiosk?  27

Auflagenzahlen, die zuletzt überzeugend am Beispiel der norddeutschen Lokalpresse nachgewiesen werden konnten, bestätigen dies für die Frühphase der Diktatur.6 Obwohl die Presselandschaft zunehmend unter dem Dach des Zentralverlags der NSDAP Franz Eher Nachf. GmbH konzentriert war, nutzten Millionen Deutsche sie als wesentliche Informationsquelle.7 Auf dieser Basis erschließt die Forschung zunehmend, welches Wissen die Zeitgenossen während der 1930er- und 1940er-Jahre tatsächlich ansammeln konnten, wenn sie die öffentlich zugänglichen Printmedien kritisch lasen.8 Zuletzt unterstrichen viel beachtete Tagebucheditionen die Aussagekraft zeitgenössischer Blätter. Sie weisen nach, welch vertiefte Einblicke in die NS-Herrschaftspraxis sich bei einer intensiven und reflektierten Zeitungslektüre erarbeiten ließen. Beispielsweise belegen die Tagebuchaufzeichnungen Kurt F. Rosenbergs, wie vielfältig das Wissen um die diktatorische Praxis sein konnte, wenn man zwischen den Zeilen zu lesen vermochte. Der jüdische Jurist sammelte zwischen 1933 und 1937 nicht nur Presseausschnitte, sondern fügte diese auch seinen täglichen Erinnerungen bei.9 Ähnlich ging der Sozialdemokrat August Friedrich Kellner vor, dessen Tagebuchaufzeichnungen für die Zeit ab 1939 inzwischen ebenfalls in faksimilierter Form publiziert vorliegen.10 Beide Editionen belegen, wie wichtig das Medium Zeitung für die Zeitgenossen war und wie wichtig es demnach für die historische Forschung ist.

6 Karl Christian Führer, Die deutsche Tagespresse im Zweiten Weltkrieg. Fakten und Fragen zu einem unerforschten Abschnitt der NS-Mediengeschichte, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 60 (2012), S. 417–440, S. 420 ff. 7 Clemens Zimmermann, Medien im Nationalsozialismus. Deutschland, Italien und Spanien in den 1930er und 1940er Jahren, Wien u. a. 2007, S. 98 ff. 8 Als Beispiel für diesen Zugriff kann dienen: Peter Longerich, „Davon haben wir nichts gewusst!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945, München 2006; ähnlich: Robert Gellately, Hingeschaut und Weggesehen. Hitler und sein Volk, Stuttgart 2002. 9 Kurt F. Rosenberg, „Einer, der nicht mehr dazugehört“. Tagebücher 1933–1937, Göttingen 2012. 10 Sascha Feuchert u. a. (Hrsg.), „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne.“ Tagebücher 1939–1945, 2 Bd., Göttingen 2011. 28  Christian Kuchler

Die Neuentdeckung der Zeitung in der zeithistorischen Forschung findet inzwischen ihre Entsprechung in der öffentlichen Geschichtskultur. Hier profilierte sich besonders der britische Verleger Peter McGee. Sein Geschäftsmodell basiert auf der Idee, ausgewählte historische Zeitungen neu zu drucken und über den nationalen Pressegroßhandel zu vertreiben. Stets wandte er sich dabei der besonders publikumswirksamen Zeitspanne des Zweiten Weltkrieges zu und publizierte „Zeitungen von gestern“ für den Markt von heute. In den Niederlanden, Belgien, Norwegen, Finnland, Griechenland, Spanien und Österreich hatte er damit unterschiedlich großen Erfolg. Grundlegende Debatten über die Zulässigkeit eines solch kommerziell geprägten Zugriffs auf die jüngere Vergangenheit gab es offenbar nicht. Sogar im Nachbarland Österreich wurde das Projekt, das dort den Titel NachRichten trug, ohne größere Debatten realisiert.11 Im Jahr 2009 trat McGee mit seinem Geschäftsmodell auch in den deutschen Markt ein und publizierte erstmals eine Kollektion historischer Zeitungen aus der NS-Zeit. Zu einem Preis von 3,90 Euro bot er drei Faksimiledrucke von historischer Tagespresse, einen Nachdruck von zeitgenössischen Plakaten sowie einen Mantelteil mit erläuternden Kommentaren an. Nach Angaben des Herausgebers zielte das Angebot darauf, den Leserinnen und Lesern einen „fundierten Blick in die Medienlandschaft der Zeit von 1933 bis 1945“ zu ermöglichen. Das Jahr 2009 eigne sich dafür besonders, da mit den Jubiläen des 70. Jahrestages des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges, des 60. Jahrestages der Gründung der Bundesrepublik Deutschland12 und des 20. Jahrestages des Falls der Berliner Mauer dem Themenkomplex Geschichte ein besonderes Gewicht zugemessen werden würde. Zudem betonten die Projektverantwortlichen von Beginn an die pädagogischen Zielsetzungen ihrer Edition.13

11 Fritz Hausjell, „NachRichten“ und „Zeitungszeugen“. Historische Aufklärung zwischen Mündigkeit und Paternalismus?, in: medien & zeit 24 (2009), S. 54–58. 12 Dass damit zugleich auch der 60. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik am 7. Oktober anstand, war dem Projekt offenbar nicht wichtig. An diesen Jahrestag wurde dezidiert nicht angeknüpft. Nicht problematisiert wurde zudem, dass nur eines der drei genannten Jubiläen in kausaler Verknüpfung zum Inhalt der Edition stand. 13 Der Tagesspiegel vom 29. Januar 2009, S. 23. NS-Propaganda am Kiosk?  29

Unter dem Titel Zeitungszeugen. Sammeledition: Die Presse in der Zeit des Nationalsozialismus standen Anfang Januar 2009 die Deutsche Allgemeine Zeitung, Der Kämpfer, Der Angriff und Der Arbeiter als Nachdruck an Kiosken, Bahnhofshandlungen, Tankstellen und Lottoläden zum Verkauf. Thematischer Schwerpunkt der ersten ZeitungszeugenAusgabe war die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933. Der deutschen Presselandschaft wurde eine neue Komponente hinzugefügt: Schließlich lenkte das Projekt Zeitungszeugen den Blick einer größeren Öffentlichkeit erstmals auf den Vertrieb von Pressenachdrucken. Die gängige Redewendung, wonach nichts älter sei als die Zeitung von gestern, sollte offenkundig widerlegt werden. Zwar boten schon seit jeher unterschiedliche Historia-Verlage Zeitungsfaksimiles an, doch die Startauflage von 300.000 Stück belegte die neue Dimension des Unternehmens. Es war auch kaum zu vergleichen mit einer älteren Sammeledition, die der zum Bertelsmann-Konzern zählende Verlag Orbis bereits in den 1970er-Jahren unter dem Titel Zeitungen als Dokumente publiziert hatte. Deren sechzehn Ausgaben zur deutschen Geschichte, die sich über den Zeitraum zwischen dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahr 1914 und dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft in der Schweiz durch das bundesdeutsche Team im Jahr 1954 erstreckten,14 waren in der öffentlichen Erinnerung vollständig verschwunden, als Peter McGee sein Unternehmen ankündigte und mit dessen pädagogischer Innovationskraft warb. Dass nun aber Tagespresse aus der Zeit des Nationalsozialismus regulär am Kiosk erhältlich sein sollte, löste in der Bundesrepublik eine veritable Diskussion aus. Zahlreiche in- und ausländische Medien berichteten über die ersten Nummern von Zeitungszeugen, teilweise mit sehr pointierten Schlagzeilen: „Zeitungen von gestern als Zeugen des 14 Bemerkenswert an der Edition „Zeitungen als Dokumente“ ist nicht zuletzt deren Aufbau. Er löst sich nämlich vom chronologischen Ablauf. Die erste Ausgabe der Sammlung thematisierte den „Völkischen Beobachter“ vom 30. Januar 1933, anschließend wurden Printveröffentlichungen bis zur Währungsreform publiziert; daraufhin wurde in der siebten Nummer der Reihe die „Königsberger Hartung­sche Zeitung“ vom 1. August 1914 zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges vorgelegt. Ausgewählt wurden also nur Dokumente zu besonders exponierten Daten der deutschen Nationalgeschichte. Siehe hierzu: Institut für Zeitungsforschung Dortmund, Bibliothek Signatur Zz 1616, Zeitungen als Dokumente. 30  Christian Kuchler

Zeitgeistes“15, „Goebbels schreibt auf der Titelseite“16, „Das Böse auf Papier“17 oder „Wenn am Kiosk der Reichstag wieder brennt“18. Sogar internationale Medien, wie etwa die britische Times, beschäftigten sich mit der Kontroverse. Das Qualitätsblatt betitelte seinen Bericht: „Hitler returns to the front page as Nazi era papers hit the streets“19. Weitgehend unbeachtet blieb in den Schlagzeilen, dass die Zeitungsnachdrucke nicht singulär zum Verkauf standen, sondern in einen kommentierenden Mantelteil eingelegt waren. Neben die intensive Medienberichterstattung trat eine breit angelegte Werbekampagne des Verlegers, die den Marktauftritt begleitete. Dem Vernehmen nach fand die erste Ausgabe der Zeitungszeugen in diesem Umfeld sehr erfolgreich den Weg zu ihren Lesern. Große Teile der 300.000 Stück umfassenden Startauflage zur „Machtergreifung“ sollen verkauft worden sein.20 Eine neue Qualität erhielt die Debatte jedoch mit dem Erscheinen der zweiten Ausgabe am 22. Januar 2009. Historisches Thema war der Brand des Berliner Reichstags in der Nacht auf den 28. Februar 1933. In einer Auflage von zunächst 100.000 Exemplaren bot Zeitungszeugen Nachdrucke des sozialdemokratischen Vorwärts und der liberalen Vossischen Zeitung vom 28. Februar, des Völkischen Beobachters vom 1. März 1933 sowie eines NS-Propagandaplakats mit dem Titel Der Reichstag in Flammen zum Kauf an.21 Dagegen regte sich nun auch juristischer Widerspruch: Der Freistaat Bayern sah seine Urheberrechte, die er nach Kriegsende im Rahmen der Vermögensnachfolge und Wiedergutmachung erhalten hatte, verletzt. Entsprechend der restriktiven Haltung, die Bayern seit 1946 in dieser Frage einnimmt, ging man auch gegen Zeitungszeugen vor. Da Hitler als Herausgeber des Völkischen Beobachters fungiert hatte, berief sich das zuständige Finanzministerium auf seine Urheberrechte und erwirkte beim Amtsgericht München I eine einstweilige 15 16 17 18 19 20

Kölner Stadt-Anzeiger vom 7. Januar 2009, S. 22. Berliner Zeitung vom 10. Januar 2009, S. 3. Süddeutsche Zeitung vom 8. Januar 2009, S. 13. Sächsische Zeitung vom 28. Januar 2009, S. 8. The Times vom 13. Januar 2009, S. 35. Süddeutsche Zeitung vom 30. Januar 2009, S. 15; Die Welt vom 30. Januar 2009, S. 28. 21 Zeitungszeugen vom 22. Januar 2009. NS-Propaganda am Kiosk?  31

Verfügung , in deren Folge es zu einer bundesweiten Beschlagnahmungsaktion kam,22 bei welcher die zweite Zeitungszeugen-Ausgabe konfisziert wurde. Presseberichten zufolge stellten die Behörden in der gesamten Bundesrepublik etwa 2.500 Exemplare sicher.23 Vonseiten des wissenschaftlichen Beratungsgremiums von Zeitungszeugen – unter ihnen so prominente Historiker wie Wolfgang Benz, Frank Bajohr, Hans Mommsen, Sönke Neitzel, Dieter Pohl und Gabriele Toepser-Ziegert – regte sich unmittelbarer Widerspruch. Die Wissenschaftler forderten nicht nur eine sofortige Einstellung der Konfiszierung, sondern vielmehr eine umfängliche Unterstützung des Freistaates Bayern bei der Fortsetzung des Editionsprojekts.24 Zugleich fanden sich in der Diskussion aber zahlreiche Stimmen, die der restriktiven Position Bayerns das Wort redeten. Der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan J. Kramer, sprach beispielsweise von „Kopiervorlagen für Nachwuchsnazis“, die am Kiosk verkauft würden.25 Die damalige Vorsitzende des Zentralrats, Charlotte Knobloch, kritisierte eine „amateurhafte Umsetzung“ des Projekts, dessen mangelnde Qualität durch die Einbindung namhafter Historiker nicht geheilt werden könne.26 Ähnlich argumentierten Sprecher der Opferverbände. Der prominente Auschwitz-Überlebende Max Mannheimer etwa schloss sich der Kritik des Zentralrats an.27 Auch Ernst Grube, Überlebender des Konzentrationslagers Theresienstadt, sah bei

22 Die Welt vom 17. Januar 2009, S. 4; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23. Januar 2009, S. 35. 23 Stellvertretend für das publizistische Interesse an der Auseinandersetzung: die tageszeitung vom 26. Januar 2009, S. 6; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. Januar 2009, S. 23. 24 Westfälische Rundschau vom 20. Januar 2009, S. 6; Süddeutsche Zeitung vom 21. Januar 2009, S. 15. 25 Presseerklärung vom 22. Januar 2009, Zentralrat unterstützt rechtliche Schritte gegen das Projekt „Zeitungszeugen“. Siehe: www.zentralratdjuden.de/de/ article/2195.html?sstr=zeitungszeugen (15.11.2013). 26 Jüdische Allgemeine vom 29. Januar 2009, S. 13. 27 Vergleiche Statement Max Mannheimer bei einer parlamentarischen Expertenanhörung: Bayerischer Landtag, Protokoll des Ausschuss für Hochschule, Forschung und Kultur, 30. Sitzung vom 16. Juni 2010. 32  Christian Kuchler

Zeitungszeugen am Kiosk. Foto: Kuchler

Zeitungszeugen die Gefahr des Missbrauchs.28 Zudem schlossen sich große Institutionen der Kritik an; die Bundeswehr etwa untersagte es ihren Angehörigen, Ausgaben der Zeitungszeugen in Militäreinrichtungen mitzubringen oder dort zu lesen.29 Keineswegs überraschend war es dann auch, dass die Kontroverse um das Erscheinen von Zeitungszeugen in den nationalen und internationalen Medien vielfältig kommentiert wurde. Der Tagesspiegel aus Berlin etwa bezog Position für die bayerische Haltung. Noch nie seit 1945 sei es so leicht gewesen, legal und günstig an Drucke mit national­ sozialistischem Gedankengut zu kommen. Zudem monierte das Blatt 28 Süddeutsche Zeitung. Landkreisausgabe München-Land-Süd vom 27. Januar 2009, S. R2. 29 Siehe hierzu: www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,606975,00.html (15.11.2013). NS-Propaganda am Kiosk?  33

eine nicht ausreichende Einordnung der nachgedruckten Zeitungen. Dem Leser erschließe sich beispielsweise die Differenz zwischen einer demokratischen Zeitung wie dem Vorwärts und einem Hetzblatt wie dem Völkischen Beobachter nicht.30 In einem Leitartikel des Feuilletonteils der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ging Christian Geyer mit der Edition gleichfalls hart ins Gericht. Er unterstellte dem Herausgeber Unbedarftheit im Umgang mit historisch sensiblen Dokumenten. Zudem sei die Behauptung, beim Mantelteil der Zeitungszeugen handle es sich um ein wissenschaftliches Werk, eine „Lachnummer“. Dieser sei nicht mehr als ein „Briefumschlag fürs Nazi-Dokument“, das letztlich nicht der Aufklärung über das „Dritte Reich“ diene, sondern nur eine „Verhübschung des Grauens“ darstelle, die selbst grauenhaft sei.31 Hingegen fanden sich in den Feuilletonspalten zugleich Stimmen, die das Projekt unterstützten. So hielt Sven Felix Kellerhoff in der Welt globale Publikationsverbote für kontraproduktiv und forderte deren Aufhebung, sofern ergänzende Kommentierungen vorlägen. Ausschließlich die restriktive Position Bayerns mache das Propagandamaterial für Neonazis attraktiv.32 Ebenfalls eine Freigabe wünschte Harald Martenstein in einem weiteren Beitrag für den Tagesspiegel, in dem er die Verbotsbefürworter als „Gutmenschen“ titulierte, die mit einem wenig geistreichen Antifaschismusansatz letztlich kontraproduktiv wirkten.33 Vor Gericht obsiegten letztlich die Zeitungszeugen. Peter McGee konnte sein Projekt weiterführen. Da nicht Hitler selbst Autor der erneut abgedruckten Zeitungstexte war, sondern nur als Herausgeber von Blättern wie dem Völkischen Beobachter agiert hatte, wirke hier nur die allgemeine Schutzfrist für geistiges Eigentum von 70 Jahren. Diese sei für die Publikationen aus dem Jahr 1933 abgelaufen, so die Rechtsprechung. Zudem erklärten die Richter die Beschlagnahmung von ZeitungszeugenAusgaben des Winters 2009 für unzulässig. Die konfiszierten Exemplare mussten wieder an den Verlag zurückgegeben werden.34 30 31 32 33 34

Der Tagesspiegel vom 24. Januar 2009, S. 27. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Januar 2009, S. 33. Die Welt vom 19. Januar 2009, S. 23. Tagesspiegel vom 1. Februar 2009, S. 1. Süddeutsche Zeitung vom 26. März 2009, S. 5; Süddeutsche Zeitung vom 2. Oktober 2009, S. 23.

34  Christian Kuchler

Das Ende der juristischen Auseinandersetzung bedeutete weitgehend das Ende der öffentlichen Debatte um das Projekt. Zwar erschien Zeitungszeugen zwei Jahre lang bis Ende 2010, doch fanden sie nicht mehr das vom Verleger erhoffte Publikum. Auch die öffentliche Aufmerksamkeit flaute ab und die Diskussionen über die Zulässigkeit des Nachdrucks von NS-Tagespresse verlagerten sich in den akademischen Bereich. Dazu trug sicher bei, dass vonseiten des Freistaates Bayern der Edition keine weiteren Steine mehr in den Weg gelegt wurden. Auch nachdem die Schutzfrist von 70 Jahren überschritten war und gegen die Ausgaben der Kriegsjahre zwischen 1941 und 1945 nochmals Rechtsmittel hätten eingelegt werden können, agierte das Finanzministerium in München, das als Rechteinhaber hätte aktiv werden können, nicht mehr. Zugleich verzichteten die Zeitungszeugen für ihre Edition auf exponierte Titel wie den Völkischen Beobachter oder andere Veröffentlichungen aus parteieigenen Verlagen. Erst als Peter McGee im Jahr 2012 nach einem Jahr der publizistischen Pause ankündigte, eine überarbeitete Version der Zeitungszeugen anzubieten, setzte die Debatte nochmals an. In der Edition sollte der Anteil der Kommentare nun umfangreicher werden und sich detaillierter auf einzelne Passagen der abgedruckten zeitgenössischen Zeitungen beziehen. Zudem sollten verstärkt internationale Blätter zur Gewährleistung der erforderlichen Multiperspektivität einbezogen werden.35 Nicht zuletzt richtete sich das Projekt nun dezidiert an Lehrerinnen und Lehrer, die das Fach Geschichte an Schulen unterrichten. Zu diesem Zweck hatte man sogar eine Kooperation mit dem Verband der Geschichtslehrer Deutschlands geschlossen. Dieser erarbeitete für die Neuauflage spezifische Arbeitsblätter, die dann mit Schülerinnen und Schülern im Unterricht bearbeitet werden konnten.36 Vor allem aber sollte eine groß angelegte Werbekampagne mit TV-Spots dem Projekt neue Käufer bescheren.37 35 In der Selbstdarstellung präsentiert sich die Edition bei der Beantwortung häufig gestellter Fragen. Siehe: http://zeitungszeugen.de/faq/ (13.11.2013). 36 http://www.geschichtslehrerverband.org/9.html (13.11.2013). 37 Der Verlag produzierte mindestens zwei Filme für die kommerzielle Werbung im Fernsehen. Die Spots von 30 bzw. 50 Sekunden Länge sind weiterhin einsehbar unter: http://www.youtube.com/watch?v=TcppECysHfA und http://www.youtube.com/watch?v=P6mIj66_oow (16.11.2013). NS-Propaganda am Kiosk?  35

Jedoch war es erneut die zweite Ausgabe des Projekts zum Reichstagsbrand, die die Öffentlichkeit auf Zeitungszeugen aufmerksam machte. Auslöser hierzu war allerdings nicht der Reprint der Tagespresse aus dem Jahr 1933, sondern die Idee des Verlegers, den Zeitungen einen Auszug aus Mein Kampf beizufügen. In einer knappen Broschüre sollten Abschnitte aus Hitlers Hetzschrift zusammen mit einer Einleitung aus der Feder des Historikers Wolfgang Benz und Kommentaren zum Text, die der Dortmunder Medienwissenschaftler Horst Pöttker verfasst hatte, vorgelegt werden. Damit aber verschränkten sich nun zwei Debatten, die schon bei den ersten Kontroversen um Zeitungszeugen immer wieder aufeinander bezogen wurden: der Umgang mit NS-Tagespresse und die Frage, ob in Deutschland moderne Nachdrucke von Mein Kampf erlaubt werden sollten. Erneut interessierten sich Rundfunk,38 Fernsehen39 und Printmedien für die Auseinandersetzung,40 allerdings war die öffentliche Diskussion wesentlich weniger umfangreich als dies noch drei Jahre zuvor der Fall gewesen war. Das Skandalpotenzial eines Nachdrucks von Zeitungen war erschöpft. Um dennoch die Aufmerksamkeit zu finden, die aus kommerziellen Gründen für sein Projekt notwendig war, löste McGee eine Debatte um Mein Kampf aus. Da der Freistaat Bayern erneut vor Gericht gezogen war, schien eine längere mediale Aufmerksamkeit gesichert. Doch anders als im Fall der Zeitungen errangen die staatlichen Stellen schnell einen unzweifelhaften Erfolg.41 Dem britischen Verleger blieb keine Wahl: Er musste den Nachdruck von Mein Kampf zurückziehen und auf die bereits vorbereitete Heftbeigabe mit dem Titel Das unlesbare Buch verzichten. In den Handel kam nur ein verschwommener, unlesbarer Druck der Hetzschrift, einzig die Kommentare Pöttkers waren

38 http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/fazit/1662526/ (13.11.2013). 39 http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/1552620/#/beitrag/ video/1552620/Mythos-Mein-Kampf (13.11.2013). 40 Stellvertretend: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-83588412.html (13.11.2013). 41 Eine umfassende juristische Würdigung der gerichtlichen Auseinandersetzung findet sich aus Sicht eines Veröffentlichungsbefürworters in: Sergey Lagodinsky, „Mein Kampf “ vor Gericht. Zur Klage des Freistaats Bayern gegen eine Sammlung kommentierter Zitate, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 60 (2012), S. 928–945. 36  Christian Kuchler

zu lesen.42 Bis 2015 ist damit zunächst sichergestellt, dass eine Verbreitung von Hitlers propagandistischer Hetzschrift über traditionelle Printmedien in Deutschland nicht möglich sein wird. Ertrag der Debatten

Fragt man nun nach dem abschließenden Ertrag der Debatten um das Editionsprojekt Zeitungszeugen, so lässt sich zunächst feststellen, dass der Markt der public history, auf dem Peter McGee sein Produkt platzierte, nach gänzlich anderen Regeln – im Vergleich zur wissenschaftlichen Forschung – arbeitet. Die öffentliche Geschichtskultur interessiert sich weniger für die indirekten Potenziale gedruckter Quellen aus vergangenen Tagen. Vielmehr fragt sie, sobald die Rede auf Medien der NS-Zeit kommt, nach deren Gefahren. Vonseiten der Projektverantwortlichen wurde darin auch der gravierendste Unterschied zwischen den Editionsprojekten in Österreich und Deutschland gesehen. In der Alpenrepublik existiere eine weit weniger sensible Erinnerungskultur, als dies in der Bundesrepublik der Fall sei. Dies habe man unterschätzt, so räumte die Chefredakteurin von NachRichten und der ersten Ausgabe von Zeitungszeugen, Sandra Paweronschitz, in einer wissenschaftlichen Reflexion des Unternehmens ein.43 Propaganda müsse von der Gesellschaft abgewendet werden, um dem Erstarken der rechten Szene entgegenzuwirken, so ein breiter Konsens in der Bundesrepublik. Gerade deshalb stößt ein unkontrollierter Verkauf von Zeitungen aus der NS-Zeit noch im 21. Jahrhundert auf manche Vorbehalte, die durch die Beigabe von Nachdrucken nationalsozialistischer Propagandaplakate im Rahmen der ersten Edition von Zeitungszeugen nochmals verstärkt wurden. Kurzum: Medien aus der Zeit des Nationalsozialismus können in Deutschland noch immer einen Skandal auslösen. 42 http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/zeitungszeugen-gericht-verbietet-abdruckvon-mein-kampf-11623802.html (15.11.2013). 43 Sandra Paweronschitz, Schuld, Abwehr, Rechtfertigung, Reflex. Zur Aufarbeitung der Vergangenheit in Deutschland und Österreich am Beispiel „NachRichten“ und „Zeitungszeugen“, in: Heinrich Berger u. a. (Hrsg.), Politische Gewalt und Machtausübung im 20. Jahrhundert. Zeitgeschichte, Zeitgeschehen und Kontroversen. Festschrift für Gerhard Botz, Wien u. a. 2011, 585–598. NS-Propaganda am Kiosk?  37

Mit diesem Skandalpotenzial aber kalkulierte der Herausgeber. Öffentliche Kontroversen sollten seinem Projekt die Aufmerksamkeit einer breiten Bevölkerung sichern und damit die kommerziellen Ziele seines Unternehmens unterstützen. Ob er sich schon im Jahr 2009 der Intensität bewusst war, die sein Agieren auslösen würde, ist nicht abschließend zu beurteilen. Als er jedoch, bei eindeutiger Rechtslage, am Kiosk, in Lottoagenturen und an Tankstellen Ausschnitte aus Mein Kampf anbieten wollte, zielte dies eindeutig auf Provokation und Skandal. „Hitler sells“ schien sein Motto zu sein. Allerdings ging dieser Plan nicht auf, die öffentlichen Debatten um die Veröffentlichung von NS-Zeitungen in Kombination mit Mein Kampf waren weitgehend seriös und reflektiert. Ein erneuter Skandal blieb, auch weil die Gerichte der restriktiven Position des Freistaates Bayern zustimmten, aus. Die zweite Edition von Zeitungszeugen konnte von dem Versuch, Hitlers Hetzschrift für sich zu instrumentalisieren, nicht profitieren und lag fortan weitgehend unbeachtet in den Regalen der Zeitschriftenhändler. Allerdings machte das Projekt Zeitungszeugen zugleich deutlich, wie groß das Interesse an zeitgenössischen Informationen zu Schlüsselmomenten der Geschichte ist. Wenn fast 300.000 Leser bereit waren, den Betrag von immerhin 3,90 Euro auszugeben, um am Jahresbeginn 2009 die erste Ausgabe zu erstehen, so belegt dies den Reiz historischer Zeitungen. Sich selbst ein Bild über die Vergangenheit machen, eigene Recherchen in (nachgedruckten) Quellen anstellen und sozusagen die Vergangenheit „in Händen halten“ zu können, ist für viele Menschen reizvoll. Dieser Impuls deckt sich durchaus mit der Hinwendung der Forschung zur Arbeit mit historischen Medien. Just hier könnte eine verstärkte Verzahnung von Wissenschaft und public history zu einem umfassenderen historischen Lernen beitragen. Schließlich liegen in natio­ nalen wie auch in internationalen Archiven nicht nur Zeitungen aus der NS-Zeit. Andere Zeitabschnitte, die durchaus bis in die Frühe Neuzeit zurückreichen können, könnten über nachgedruckte Printmedien einer größeren Zahl von Interessierten nahegebracht werden. Gerade im Vergleich verschiedener Medienorgane und verschiedener Publikationshintergründe könnte multiperspektivische Recherche möglich gemacht werden. Das vorgebliche Propagandapotenzial der Zeitungen der 1930erund 1940er-Jahre würde sich weiter relativieren. Und die Lektüre „alter“ Zeitungen könnte einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis vergan38  Christian Kuchler

gener Zeiten leisten.44 Dies gilt nicht nur für den schulischen Umgang mit historischen Printmedien,45 sondern auch für die Nutzung von Zeitungen im Bereich der öffentlichen Geschichtskultur. Zeitungszeugen haben hier einen ersten Schritt gemacht. Ihr Streben nach Skandalisierung und das Bemühen um möglichst schnellen und umfassenden kommerziellen Erfolg haben diesem Anliegen allerdings geschadet. Dennoch wäre es zu wünschen, wenn sich erneut ein Verleger fände, der in einem umfassenderen Sinn Geschichte zum „Selbsterforschen“ für ein größeres Publikum vorlegen würde.

44 Daniel Luginbühl, Printmedien, in: Markus Furrer/Kurt Messmer (Hrsg.), Handbuch Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht, Schwalbach am Taunus 2013, S. 165–184. 45 Michael Sauer, „Was sich begeben und zugetragen hat.“ Die Zeitung als Quelle im Geschichtsunterricht, in: Markus Bernhardt/Gerhard Henke-Bockschatz/Michael Sauer (Hrsg.), Bilder – Wahrnehmungen – Konstruktionen. Reflexionen über Geschichte und historisches Lernen, Schwalbach am Taunus 2010, S. 243–255. NS-Propaganda am Kiosk?  39

Christian Bunnenberg

Reprints von NS-Presseerzeugnissen als didaktische Herausforderung für den Geschichtsunterricht Wie so oft gab es eine gute und eine schlechte Nachricht. Die Gute zuerst: Am 16. Januar 2012 schrieb der Verlag des Editionsprojekts Zeitungszeugen an Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland, dass es gute Nachrichten für ihren Geschichtsunterricht gäbe. Ab sofort wären wieder wöchentlich Originalnachdrucke von Zeitungen aus der Zeit des NS-Regimes im Zeitschriftenhandel erhältlich. Die Themen würden sich auf den Zeitraum von der Machtübernahme Hitlers im Januar 1933 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges im Mai 1945 verteilen. Kein Wort und kein Bild in diesen Zeitungen sei verändert oder retuschiert worden. Mit der historischen Edition würden die Lehrerinnen und Lehrer über ein beeindruckendes Kompendium deutscher Zeitgeschichte verfügen und im Unterricht nutzen können. Jeden Donnerstag wolle die Redaktion durch die Zeitungszeugen in chronologischer Reihenfolge ein neues historisches Ereignis präsentieren. Um ein breites Spektrum der damals erschienenen deutschsprachigen Presse bieten zu können, seien Nachdrucke vom NSDAP-Organ Völkischer Beobachter über die große liberale Frankfurter Zeitung bis hin zur Exilpresse geplant.1 Bereits für die erste Auflage der Zeitungszeugen in Deutschland, welche zwischen Januar 2009 und Dezember 2010 verkauft worden war, hatte der Verlag ein dezidiert historisch-politisches Bildungsziel formuliert. Die Edition von Presseerzeugnissen aus der NS-Zeit sollte den Leserinnen und Lesern ermöglichen, sich durch die Lektüre der Nachdrucke eine eigene Meinung zu bilden und zu erfahren, was die Zeitgenossen in der Zeit des Nationalsozialismus aus den öffentlichen Medien hätten erfahren können.2 Jede Ausgabe bestand aus zwei bis vier Faksimiles von Zeitungen aus der NS-Zeit und einem Mantelteil mit Dar1 Werbebrief Zeitungszeugen vom 16.1.2012, Original liegt dem Autor vor. 2 Siehe hierzu Beitrag von Christian Kuchler in diesem Band. Reprints als didaktische Herausforderung für den Geschichtsunterricht  41

stellungstexten von Historikern und Historikerinnen. Für die von Januar 2012 bis Februar 2013 angebotene zweite Auflage erarbeitete zudem der Verband der Geschichtslehrer Deutschlands zehn thematische Arbeitsblätter.3 Soweit die gute Nachricht, nun zur schlechten: Im Sommer 2012 machte eine empirische Untersuchung der FU Berlin in den Medien Schlagzeilen. Fast 7.500 Schülerinnen und Schüler der neunten und zehnten Jahrgangsstufen aus Baden-Württemberg, Bayern, NordrheinWestfalen, Sachsen und Thüringen waren über einen Zeitraum von drei Jahren zu ihrem historischen Wissen befragt worden. Vor allem ging es um klassisches „Faktenwissen“ zur Geschichte des Nationalsozialismus, der alten und neuen Bundesrepublik und der DDR. Und die Studie konnte erschreckende Wissenslücken nachweisen: Nur weniger als die Hälfte der befragten Schülerinnen und Schüler zweifelte nicht am Diktaturcharakter des Nationalsozialismus und ein Drittel war überzeugt, die DDR sei durch demokratische Wahlen legitimiert gewesen. Als Ursachen benannten die Forscher um den Politikwissenschaftler Klaus Schroeder neben fehlender Vorbildung im Elternhaus vor allem Unkenntnis oder fehlendes Wissen um die inhaltliche Bedeutung politischer und historischer Kategorien und Begriffe.4 In einem Beitrag des Westdeutschen Rundfunks vom 7. Oktober 2012 nutzte der Geschichtslehrerverband folgerichtig die Chance, das dramatische Ergebnis der Studie als Folge der Kürzung des Geschichtsunterrichts in Nordrhein-Westfalen darzustellen, während die grüne Landesministerin für Schule und Weiterbildung Sylvia Löhrmann in der Sache keinen Handlungsbedarf sah und auf die neuen kompetenzorientierten Lehrpläne verwies, nach denen an den Schulen ganzheitlich „das Geschichtsbewusstsein und das politische Bewusstsein bei jungen Men3 http://zeitungszeugen.de/lehrerseite/ (12.10.2013). Auf der Internetpräsenz sind zu den Themen Reichstagsbrand, Ermächtigungsgesetz, Boykott jüdischer Geschäfte, Reichsparteitag in Nürnberg 1934, Nürnberger Gesetze, Wahlen in Diktatur 1934, Ausstieg aus dem Versailler Vertrag, Hitlerjugend und Bund Deutscher Mädel, Reichspogromnacht und Angriff auf Polen jeweils zwei Arbeitsblätter erschienen, die mit der entsprechenden Ausgabe der Zeitungszeugen korrespondieren. 4 Klaus Schroeder u. a. (Hrsg.), Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen, Frankfurt am Main 2012. 42  Christian Bunnenberg

schen ausgebildet“ werden sollen. Hans-Ulrich Wehler hielt in einem kurzen Statement wiederum dagegen, dass kompetenzorientiertes Lernen erst an der Universität möglich sei, und Hans-Dietrich Genscher und Helmut Schmidt forderten mehr historisch-politische Bildung. Aus geschichtsdidaktischer Perspektive ist allerdings verwunderlich, dass eine kritische Auseinandersetzung mit der methodischen Anlage der Studie, der Auswahl der Items oder der Interpretation der Daten dabei ausblieb. Die Ergebnisse der Studie wurden als gegeben angenommen. Beide Nachrichten, die gute und die schlechte, begrenzen ein Spannungsfeld, in dem sich der Geschichtsunterricht an Schulen gegenwärtig verortet und das zugleich zentrale Fragen der aktuellen geschichtsdidaktischen Forschung berührt. Im Kern geht es einmal mehr um die Frage nach der Wirkung des Geschichtsunterrichts. Laut zitierter Studie erreicht er in der Sekundarstufe I nur bedingt die Ausbildung eines politischen und historischen Wissens, ohne dass jedoch benannt wird, was der Terminus historisches Wissen denn nun konkret beinhaltet. Damit eng verbunden ist ein Forschungsfeld, das nach dem Verhältnis von Inhalten und Kompetenzen fragt. Denn darüber, dass der Geschichtsunterricht kein Gesinnungsunterricht mehr sein soll, herrscht seit mehr als 60 Jahren Konsens.5 Was Geschichtsunterricht stattdessen leisten soll, ist allerdings mehr als umstritten. Stehen die Kenntnis von inhaltlichen Wissensbeständen – meistens mit dem ebenso unscharfen Begriff des „Faktenwissens“ bezeichnet – und die Herstellung sozial erwarteter historischer Meinungen und Urteile im Vordergrund, oder soll der Geschichtsunterricht vor allem Kompetenzen ausbilden, die zu einem selbstständigen und reflektierten Umgang mit Vergangenheit und Angeboten der Geschichtskultur befähigen?6 5 Horst Rumpf, Von der Belehrung zur Aufmerksamkeit. Zur Leistungsfähigkeit des Schulfachs Geschichte, in: Wolfgang Meseth/Matthias Proske/Frank-Olaf Radtke (Hrsg.), Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts, Frankfurt am Main 2004, S. 147–157. 6 Zur jüngsten Forschungsdiskussion: Barbara Völkel, Immer mehr desselben? Einladung zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem chronologischen Geschichtsunterricht, in: GWU 62 (2011), S. 353–362; Gerhard Fritz, „Immer mehr desselben?“ Anmerkungen zu Barbara Völkel, in: GWU 63 (2012), S. 92–97; Hans-Jürgen Pandel, Geschichtsunterricht nach Pisa: Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula, Schwalbach am Taunus 2012; Hans-Jürgen Pandel, Reprints als didaktische Herausforderung für den Geschichtsunterricht  43

In dieses Spannungsfeld zielt der vorliegende Aufsatz. Im Folgenden soll dem Hinweis der Redaktion Zeitungszeugen auf die Lernpotenziale nachgegangen werden, die Reprints von Zeitungen aus der NS-Zeit für den Geschichtsunterricht bieten sollen.7 Bei dieser Betrachtung werden aber auch immer die genannten empirischen Ergebnisse zur Wirkmächtigkeit und Nachhaltigkeit des Geschichtsunterrichts mitbedacht. Das Inhaltsfeld „Nationalsozialismus“ als didaktische Herausforderung für den Geschichtsunterricht

Die mit der Schroeder-Studie verbundenen Klagen sind nicht neu. Schon 1977 kam der Pädagoge Dieter Boßmann nach der Befragung von rund 3.000 Schülerinnen und Schülern zu dem Ergebnis, dass die schriftlichen Schülerantworten auf die Frage „Was ich über Adolf Hitler gehört habe…“ in einem starken Missverhältnis zur damaligen Forschung standen und die Formulierung eindeutig moralisch-ablehnender Urteile über den Nationalsozialismus vermissen ließen.8 Die Studie, in der Literatur oft als „Boßmann-Schock“ bezeichnet, veranlasste den damaligen Bundespräsidenten Walter Scheel zu der Aussage: „Wir sind in Gefahr, ein geschichtsloses Land zu werden…“9. Geschichtskultur als Aufgabe der Geschichtsdidaktik: Viel zu wissen ist zu wenig, in: Vadim Oswalt/Hans-Jürgen Pandel (Hrsg.), Geschichtskultur: Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart, Schwalbach am Taunus 2009, S. 19–33. Kritik an der Ausbildung sozial erwarteter Antworten: Bodo von Borries, Nationalsozialismus in Schulbüchern und Schülerköpfen. Quantitative und qualitative Annäherung an ein Trauma-Thema, in: Markus Bernhardt/Gerhard HenkeBockschatz/Michael Sauer (Hrsg.), Bilder – Wahrnehmungen – Konstruktionen. Reflexionen über Geschichte und historisches Lernen, Schwalbach am Taunus 2010, S. 135–151. 7 In diesem Beitrag soll ganz bewusst auf den Begriff „Originalnachdrucke“ verzichtet werden, denn entweder handelt es sich um Originale oder um Nachdrucke. 8 Dieter Boßmann, „Was ich über Adolf Hitler gehört habe…” Folgen eines Tabus: Auszüge aus Schüleraufsätzen von heute, Frankfurt am Main 1977. 9 Bundespräsident Walter Scheel, Folgerungen aus der Geschichte für Wert und Würde der Demokratie. Ansprache anlässlich der Eröffnung des Deutschen Historikertages am 22. September 1976, in: Bulletin, Nr. 105 vom 24.9.1976, her44  Christian Bunnenberg

Die Autoren mehrerer pädagogischer und geschichtsdidaktischer Auseinandersetzungen mit diesem Befund formulierten seitdem verschiedene Beobachtungen: Nationalsozialismus und Holocaust wurden von ihnen als „schwierige Themen“ bezeichnet, da die Widrigkeit des historischen Ereignisses mit der Notwendigkeit der Tradierung verbunden sei. Beide Themen trügen zudem auch immer die pädagogische Absicht der Prävention in sich, was sich unter anderem in der Wendung „Nie wieder Auschwitz!“ spiegle. Damit müsse bei der Vermittlung dieser historischen Inhaltsfelder auch immer der Aspekt der moralischpolitischen Sozialisation der nachwachsenden Generation berücksichtigt werden.10 Dem Geschichtsunterricht wird dadurch der Stellenwert eines zentralen Lernortes zugewiesen, der den Schülerinnen und Schülern „die besondere historische Verantwortung der Bundesrepublik für das Wachhalten der Erinnerung“ vermitteln soll und zugleich den Rahmen bietet, in dem aus der NS-Vergangenheit für die Gegenwart und Zukunft gelernt werden kann.11 Ein zentrales Problem dieses Anliegens ergibt sich aus der Generationenfrage, die letztlich zu einem andauernden Nachdenken über die Formen der Vermittlung der Geschichte des „Dritten Reiches“ ausgegeben vom Presse- und Informationsdienst der Bundesregierung, Bonn 1976, S. 1049f. 10 Auswahl: Oliver Hollsein u. a. (Hrsg.), Bericht zu einer Pilotstudie. Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht. Beobachtungen unterrichtlicher Kommunikation, Frankfurt am Main 2002; Gerhard Henke-Bockschatz, Der „Holocaust“ als Thema im Geschichtsunterricht, in: Meseth/Proske/Radtke (wie Anm. 5), S. 298–323; Matthias Proske, Kann man in der Schule aus der Geschichte lernen? Eine qualitative Analyse der Leistungsfähigkeit der Form Unterricht für die Vermittlung des Nationalsozialismus und Holocaust, in: Sozialer Sinn. Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung 3 (2003), S. 205–235; Dieter Riesenberger, Der Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht – die didaktische Situation heute, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Der Nationalsozialismus als didaktisches Problem. Beiträge zur Behandlung des NS-Systems und des deutschen Widerstands im Unterricht, Bonn 1980, S. 15–21; Wolfgang Meseth/ Matthias Proske, Vermittlung und Aneignung von Wissen über den Holocaust und Nationalsozialismus in der Schule, in: Bernd Kammerer/Anja Prölss-Kammerer (Hrsg.), Recht extrem. Die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Rechtsextremismus. Konzepte und Projekte der politischen und historischen Bildung, Nürnberg 2002, S. 37–53. 11 von Borries (wie Anm. 6), S. 135ff. Reprints als didaktische Herausforderung für den Geschichtsunterricht  45

nötigt. Während die Verhandlung des „Dritten Reiches“ und des Nationalsozialismus zwischen der Erlebnisgeneration und der Kindergeneration (1968er) noch stark von Emotionalität geprägt war, stellte eine Studie aus dem Jahr 2004 fest, dass die Enkelgeneration – und diese stellt gegenwärtig einen großen Anteil der an den Schulen tätigen Lehrerinnen und Lehrer – das Thema bereits als historisch begreife und nur noch stark abgeschwächte biografische Bezüge habe.12 Und damit war die heute zu beschulende Generation der Urenkelgeneration von der Forschung noch nicht einmal in den Blick genommen worden. Der Geschichtsdidaktiker Bodo von Borries verwies im Jahr 2010 zusätzlich darauf, dass der Geschichtsunterricht seine Deutungshoheit über die Vergangenheit zunehmend mit der Geschichtskultur teile und daher auch auf die dort erworbenen Voreinstellungen der Schülerinnen und Schüler reagieren müsse, die diese bereits in den Geschichtsunterricht mitbrächten. Ziel einer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im modernen Geschichtsunterricht kann es daher nicht sein, sich in der „Wiedergabe ‚sozial erwünschter‘ und ‚politisch korrekter‘ Floskeln“ zu erschöpfen. Gefordert seien vielmehr Multiperspektivität statt Einsicht und die Formulierung eigener Urteile statt vorgegebener Deutungen.13 Die Edition Zeitungszeugen und der Kernlehrplan Geschichte für Nordrhein-Westfalen

Angesichts dieser geschichtsdidaktischen Forderungen mögen die Zeitungszeugen laut ihrer Eigenwerbung geradezu ideal für deren Umsetzung in der Unterrichtspraxis sein. Aber auch wenn der eingangs zitierte Werbebrief für die Neuauflage der Zeitungszeugen diesen Eindruck erwecken möchte, macht ein „beeindruckendes Kompendium“ von Presseerzeugnissen aus dem „Dritten Reich“ alleine noch keinen guten Geschichtsunterricht. Die Wahl der Medien ist vielmehr abhängig von didaktischen 12 Wolfgang Meseth/Matthias Proske/Frank-Olaf Radtke, Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts, in: Meseth/Proske/ Radtke (wie Anm. 5), S. 9–30, S. 10. 13 von Borries (wie Anm. 6), S. 135–151. 46  Christian Bunnenberg

Entscheidungen in der Unterrichtsplanung, die zuletzt immer durch die Vorgaben und Ziele des Lehrplans gerahmt wird.14 Auf diesen wurde auch von den zuständigen politischen Stellen in Nordrhein-Westfalen angesichts der schlechten Ergebnisse in der Schroeder-Studie verwiesen. Als zentrale Aufgaben und Ziele formuliert der Kernlehrplan des Faches Geschichte für die Unter- und Mittelstufe an Gymnasien in Nordrhein-Westfalen, dass die Beschäftigung mit politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, ökologischen und kulturellen Ereignissen, Prozessen und Strukturen der Vergangenheit die Entwicklung und Förderung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins zum Ziel hätte. Da die Schülerinnen und Schüler im Alltag mit vielfältigen Angeboten der Geschichtskultur konfrontiert seien, müsse der Geschichtsunterricht neben der Befähigung zur deutenden (Re-)Konstruktion von Vergangenheit auch die Befähigung zur kompetenten und kritischen Teilhabe an der Geschichtskultur anstreben. Hierzu gehört laut Lehrplan neben der Urteilsfähigkeit die (analytische) Kompetenz, vorliegende historische Narrationen auf in ihnen enthaltene Daten der Vergangenheit, Konstruktionsmuster, Bedeutungszumessungen und Orientierungsabsichten zu untersuchen („De-Konstruktion“).15 Auch das von den Zeitungszeugen formulierte historisch-politische Bildungsziel gibt konkrete Hinweise, was in der Auseinandersetzung mit den Zeitungsfaksimiles passieren soll. Durch die Lektüre der Reprints und des Mantelteils, also von Quellen und Darstellungen, sollen sich die Leser erschließen, „was die Zeitgenossen in der Zeit des Nationalsozialismus aus den öffentlichen Medien hätten erfahren können“.16 Darauf 14 Einleitend dazu: Bodo von Borries, Unterrichtsplanung – Artikulationsschemata – Lehrervorbereitung, in: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hrsg.), Handbuch Praxis des Geschichtsunterricht, Bd. II, Schwalbach am Taunus 2012, S. 181–201; Ulrich Mayer/Markus Bernhardt/Peter Gautschi, Themenbestimmung im Geschichtsunterricht der Sekundarstufen, in: Ebd., Bd. I, S. 378–404; Michael Sauer, Medien im Geschichtsunterricht, in: Ebd., Bd. II, S. 85–91. 15 Kernlehrplan für das Gymnasium – Sekundarstufe I (G8) in Nordrhein-Westfalen, Geschichte, 2007, S. 15f. Der Kernlehrplan kann auf der Internetpräsenz des Schulministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen eingesehen werden: http:// www.standardsicherung.schulministerium.nrw.de/lehrplaene/kernlehrplaene-seki/gymnasium-g8/ (12.10.2013). 16 Werbebrief Zeitungszeugen (wie Anm. 1). Reprints als didaktische Herausforderung für den Geschichtsunterricht  47

aufbauend sollen sie sich eine eigene Meinung bilden. Diese Operationen von Re- und De-Konstruktion berühren vor allem die Bereiche der Methodenkompetenz (Lektüre), der Sachkompetenz (Rekonstruktion der Vergangenheit, Kontextwissen) und Urteilskompetenz (eigene Meinung bilden) – und zwar, wie noch zu zeigen ist, auf einem jeweils hohen Kompetenzniveau.17 Der staatliche Lehrplan und die redaktionellen „Bildungsziele“ korrespondieren also miteinander und lassen daher über die normative Ebene eine grundsätzliche Eignung der Reprints für den Geschichtsunterricht ableiten. Zeitungen als historische Quellen

Die geschichtsdidaktische Literatur ist sich einig: Zeitungen bieten sich als Quellen für den Geschichtsunterricht an.18 Historische Zeitungen werden aus vielerlei Gründen als besonders interessante und ergiebige Textquellensorte bezeichnet: Sie ermöglichen nach Michael Sauer Antworten auf politik-, wirtschafts-, sozial-, alltags-, kultur- und mentalitätsgeschichtliche Fragen und sind durch Aktualität, Periodizität, Publizität und Universalität gekennzeichnet. Oder anders formuliert: Zeitungen können Auskünfte über die Deutungen des historischen Zeitgeschehens durch die Zeitgenossen geben. Durch die Periodizität ist es zudem möglich, Fragen zur Relevanz und Brisanz von Themen nachzugehen und die Meldungen zu einem bestimmten Ereignis über einen bestimmten Zeitraum zu verfolgen. Zeitungen wenden sich an eine Öffentlichkeit, sind für diese verfügbar und bilden eine Vielzahl 17 Sylvia Mebus, Zur Entwicklung der Rekonstruktionskompetenz am Beispiel der Quellengattung Tageszeitung, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2 (2003), S. 162–177. 18 In Auswahl: Michael Sauer, „Was sich begeben und zugetragen hat.“ Die Zeitung als Quelle im Geschichtsunterricht, in: Bernhardt/Henke-Bockschatz/Sauer (wie Anm. 6), S. 243–255; ders., „Allen denen gar nuetzlich und lustig zu lesen.” Zeitung als Quelle, in: Geschichte lernen 21 (2008), H. 124, S. 2–10; Klaus Fieberg, Zeitungen im Geschichtsunterricht. Praxis extra, in: Praxis Geschichte 15 (2002), H. 4, S. 31–38; Ferdinand Küppers-Jacobs, Die historische Zeitung im Geschichtsunterricht, in: Eva Brand/Peter Brand (Hrsg.), Die Zeitung im Unterricht, Aachen 2000, S. 195–200; Heinrich Rüschenschmidt, Die Tageszeitung als Quelle für die Heimat- und Regionalgeschichte, in: Ebd., S. 201–204. 48  Christian Bunnenberg

von Themengebieten ab.19 Weiterhin bietet die Quellengattung Zeitung zahlreiche Untergattungen, die sich in Illustrierte, Magazine, Wochenzeitungen, Tageszeitungen, Wirtschafts-, Partei- und Kirchenzeitungen auffächern lassen, je nachdem, welche Kategorien verwendet werden. Zeitungen vereinen in sich verschiedene journalistische Textformen, wie die Meldung, die Nachricht, den Bericht oder die Reportage. Meinungen werden in Form von Leitartikeln, Kommentaren oder Glossen vertreten. Die Kombination von Text und Bild erhöht zudem die Attraktivität, aber zugleich eben auch die Komplexität dieser Quellengattung. In der Konsequenz kann der Geschichtsunterricht dieser Textgattung nur mit einer umfassenden und methodisch gesicherten Quellenkritik gegenübertreten. Der Lehrperson und den Schülerinnen und Schülern müssen die hohen Ansprüche, die Zeitungen als Quellen für die Beantwortung einer historischen Fragestellung stellen, transparent sein. Für den Umgang mit Zeitungen im Geschichtsunterricht werden häufig handlungsorientierte Verfahren vorgeschlagen: zum Beispiel einen Zeitungsartikel ohne Nachweis vorlegen, einen Leserbrief schreiben, einen ‚Gegenartikel‘ verfassen, einen Artikel vervollständigen oder ähnliche Zugangsweisen.20 Dazu liegen auch bereits konkrete Unterrichtsvorschläge in Fachzeitschriften vor.21 Allerdings stellt sich die Frage, ob solche methodischen Unterrichtsarrangements bei Presseerzeugnissen aus der NS-Zeit den Quellen in Gänze gerecht werden können. Fast alle Beiträge zu Zeitungen im Geschichtsunterricht verweisen zudem auf die vielfältigen Möglichkeiten, Zeitungen aus Bibliotheken oder Archiven zu verwenden, räumen aber zugleich das Problem der Verfügbarkeit ein. Christian Kuchler hat 2011 folgerichtig nach einer Durchsicht von gängigen Schulgeschichtsbüchern festgestellt, dass „die Lehrwerke als ‚Leitmedium‘ des Unterrichts im Fach Geschichte […] mithin den Schluss nahe[legen], dass eine umfassende Auseinandersetzung mit Zeitungen im schulischen Geschichtsunterricht kaum

19 Sauer, Was sich begeben (wie Anm. 18), S. 242. 20 Michael Sauer, Handlungsorientiert mit Zeitungen arbeiten. Anregungen und Beispiele, in: Geschichte lernen 21 (2008), H. 124, S. 11–15. 21 Zuletzt: Geschichte lernen 21 (2008), H. 124 mit dem Thema „Zeitung“. Reprints als didaktische Herausforderung für den Geschichtsunterricht  49

stattfindet“.22 Zeitungsartikel liegen in Schulgeschichtsbüchern – wenn überhaupt – nur stark gekürzt vor. Die ursprüngliche Aufmachungen der Zeitung, die Platzierung des Artikels im Blatt, die Sichtbarkeit der Überschrift und weitere Aspekte bleiben trotz quellenkritischer Einleitungstexte ungenannt und damit den Lehrkräften und Lernenden verborgen. Es ist also zu befürchten, dass die zahlreichen Hinweise zur Verwendung von Zeitungen im Geschichtsunterricht angesichts dieser Situation zu reinen Lippenbekenntnissen werden könnten. Abhilfe sollen an dieser Stelle Faksimiles schaffen, die als Beilagen zu Unterrichtsvorschlägen zunehmend Verwendung finden.23 Durch den Einsatz von Zeitungsfaksimiles kann ein Schritt getan werden, der auf der einen Seite den Ansprüchen an die Arbeit mit schriftlichen Quellen genügen und auf der anderen Seite Schülerinnen und Schülern Zugänge zu denselben bieten kann, mit denen das Schulgeschichtsbuch im Regelfall nicht aufwartet.24 Gerade hier könnten reproduzierte Printmedien wie zum Beispiel die Zeitungszeugen ihre Stärken ausspielen. Der Tagespresse wird gerne nachgesagt, dass aus ihr der Zeitgeist der jeweiligen Gesellschaft atmet, dass sich in ihnen die Perspektivität und Intentionalität journalistischen Arbeitens spiegelt und sie deshalb politisch-weltanschauliche Richtungen veranschaulichen können.25 Diese scheinbar allgemeingültige Annahme soll im Folgenden für die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland noch einmal intensiv durchdacht und ergänzt werden. Als Ausgangspunkt für diese Überlegungen soll ein Foto aus dem „Dritten Reich“ dienen.26 Das Bild zeigt eine Straßenszene in Worms. 22 Christian Kuchler, Die Edition „Zeitungszeugen“ und die Rezeption nationalsozialistischer Tagespresse im Geschichtsunterricht, in: GWU 62 (2011), S. 433–442, S. 434. 23 Sauer, Zeitung (wie Anm. 18), S. 2 24 Christian Kuchler, Gefahr oder Chance für das historische Lernen? Die nationalsozialistische Tagespresse, deren Nachdruck in „Zeitungszeugen“ und der Geschichtsunterricht (Einsichten und Perspektiven, Themenheft 1/2010), München 2010, S. 36. 25 Sauer, Was sich begeben (wie Anm. 18), S. 245ff. 26 Bundesarchiv, Bestand Gaubildarchiv Worms (Bild 133), Titel: NS-Presse. – Männer stehen vor einem Werbekasten der Zeitschrift Der Stürmer, antisemitische Parolen: „Mit dem Stürmer gegen Juda“, „Die Juden sind unser Unglück“, Signa50  Christian Bunnenberg

An einem Straßenrand stehen vor einer Hausfassade sieben Männer. Fünf von ihnen tragen Zivil- oder Arbeitskleidung. Die beiden anderen sind in SA-Uniformen mit Hakenkreuzarmbinden gekleidet. Da der Fotograf leicht seitlich versetzt auf der Straße gestanden hat, wenden ihm die Personen auf dem Foto den Rücken zu. Vor der Hausfassade ist ein sogenannter „Stürmerkasten“ angebracht. Dabei handelt es sich um einen öffentlichen Schaukasten der Wochenzeitung Der Stürmer, die zwischen 1923 und 1945 unter der Leitung des Nationalsozialisten Julius Streicher als antisemitisches Hetzblatt publiziert wurde. Die Zeitung bediente sich bei ihrer Gestaltung vorrangig großformatiger Überschriften, teilweise pornografischer Karikaturen und diffamierender Artikel.27 In dem auf dem Foto abgebildeten „Stürmerkasten“ sind mehrere Zeitungsseiten auf einem schwarzen Holzbrett in Augenhöhe angebracht. Direkt über der Zeitungsausgabe steht in großen Lettern „Die Juden sind unser Unglück“ und auf einem darüber angebrachten Schild dazu ergänzend „Mit dem Stürmer gegen Juda“. Der Zeitungsaushang wird von den anwesenden Männern interessiert betrachtet. Dabei stehen sie lesend neben- und hintereinander, einige leicht vorgebeugt, die Hände in den Hosentaschen. Trotz der anwesenden und ebenfalls mitlesenden SA-Männer wirkt die Szenerie unaufgeregt und alltäglich. Die Redakteure der deutschen Zeitungen im „Dritten Reich“ boten der Öffentlichkeit mit ihren Artikeln eine politisch-weltanschauliche Deutung der ihnen als relevant erscheinenden Themen an. Von einem Teil der Öffentlichkeit, den Lesern, wurden diese Deutungen wahrgenommen. Das Deutungsangebot konnte von ihnen angenommen und bereits bestehenden eigenen Deutungen hinzugefügt werden, diese sogar ersetzen. Ebenso konnte das Deutungsangebot aber auch abgelehnt werden. Für die Schülerinnen und Schüler stellt die Situation auf dem ausgewählten Foto einen Moment aus der Vergangenheit dar. Von den abgebildeten Personen wurde der Moment hingegen als Gegenwart tur: Bild 133-075. Das Foto ist online auf der Internetpräsenz des Bundesarchivs einzusehen. http://www.bild.bundesarchiv.de (12.10.2013). 27 Dorota Gornik, Anstiftung zum Hass. Antiamerikanismus in den Karikaturen des „Stürmer“ während des 2. Weltkrieges, Saarbrücken 2012; Nira Feldmann, Motive des „Stürmer“. Anatomie einer Zeitung, Wien 1966. Hermann Forschauer/ Renate Geyer, Quellen des Hasses – Aus dem Archiv des „Stürmer“ 1933–1945. Eine Ausstellung des Stadtarchivs Nürnberg, Nürnberg 1988. Reprints als didaktische Herausforderung für den Geschichtsunterricht  51

„Stürmerkasten“. BArch, Bild 133-075, Fotograf, o.A., Bestand „Graubildarchiv Worms“.

wahrgenommen. Durch die Lektüre einer Zeitung etwa des Jahres 1938 in der Gegenwart der Schülerinnen und Schüler können jedoch lediglich die Deutungsangebote des Blattes rekonstruiert und als Teil des öffentlichen Diskurses des Jahres 1938 beschrieben werden. Für die Zeit des „Dritten Reiches“ wird der Begriff „Öffentlichkeit“28 von der geschichtswissenschaftlichen Forschung allerdings als problematisch eingestuft. Peter Longerich stellt dazu in seiner Studie über die Deutschen und die Judenverfolgung zwischen 1933 und 1945 folgende Überlegungen an: „Wenn also […] der Begriff ‚Öffentlichkeit‘ in Bezug auf den Nationalsozialismus benutzt wird, dann ist damit die durch das Regime inszenierte, kontrollierte und manipulierte Öffentlichkeit gemeint, mithin der Resonanzboden für seine Propaganda. Öffentlichkeit im Nationalsozialismus ist demnach der Raum, in dem die durch das Regime propagierten Leitbilder und Deutungsmuster reproduziert 28 Karl Christian Führer/Knut Hickethier/Axel Schildt (Hrsg.), Öffentlichkeit – Medien – Geschichte. Konzepte der modernen Öffentlichkeit und Zugänge zu ihrer Erforschung, in: AfS 41 (2001), S. 1–38. 52  Christian Bunnenberg

wurden, eine Sphäre, in der die akklamatorische Zustimmung zur Politik des Regimes demonstriert wurde.“29 Im Rückgriff auf das Beispiel bedeutet dies, dass die sieben Männer und damit die deutsche Öffentlichkeit in den ihnen zugänglichen Zeitungen ab 1933 in zunehmendem Maße mit Deutungen konfrontiert waren, die mit den politisch-weltanschaulichen Ansichten des NS-Regimes durchsetzt waren. Wie jüngere Ergebnisse der NS-Forschung belegen, kam es zwischen 1933 und 1945, anders als häufig kolportiert, nicht zu einer ‚Zeitungskrise‘. Nach dem Verbot der kommunistischen und sozialdemokratischen Presseerzeugnisse sowie der Auflösung oder politischen Neuausrichtung der liberalen und bürgerlichen Zeitungen stand die deutsche Presse zwar weitgehend unter der Kontrolle der NSDAP, trotzdem bildeten die Tages- und Wochenzeitungen aber weiterhin das Massenmedium im „Dritten Reich“. So bezogen Anfang 1934 über 70 Prozent der Haushalte in Deutschland eine Tageszeitung – Tendenz steigend.30 Die Gründe dafür waren vielfältig. Zum einen waren die neuen Medien wie Radio und Kino vergleichsweise kostspielig. Zum anderen erfüllten die Tageszeitungen wichtige soziale Funktionen im lokalen Raum.31 Was sich allerdings weder aus dem Foto noch aus der Lektüre der Zeitungsartikel ableiten lässt, ist das Rezeptionsverhalten und die Wirkmächtigkeit des Mediums. Letztlich bleibt offen, wie die sieben Männer auf dem Foto mit dem Deutungsangebot des antisemitischen Hetzblattes Der Stürmer umgegangen sind. Standen sie den Inhalten der Zeitung zustimmend, distanziert oder ablehnend gegenüber? Haben sie durch die Lektüre Denkmuster übernommen, die ihr Verhältnis zum „Dritten Reich“ veränderten, ihre in alltäglichen, beruflichen und politischen Handlungsfeldern ausgeübten sozialen Praktiken beeinflussten und sich letztlich zu dem entwickeln konnten, was in der NS-Forschung als „natio­ 29 Peter Longerich, „Davon haben wir nichts gewusst!” Die Deutschen und der Holocaust 1933–1945, München 2006, S. 24. 30 Karl Christian Führer, Die Tageszeitung als wichtigstes Massenmedium der natio­ nalsozialistischen Gesellschaft, in: ZfG 55 (2007), S. 411–434, S. 411; ders., Die deutsche Tagespresse im Zweiten Weltkrieg. Fakten und Fragen zu einem unerforschten Abschnitt der NS-Mediengeschichte, in: ZfG 60 (2012), S. 417–440. 31 Führer, Tageszeitung (wie Anm. 30), S. 427ff. Reprints als didaktische Herausforderung für den Geschichtsunterricht  53

nalsozialistische Moral“32 beschrieben wird? Oder bot selbst die „gleichgeschaltete“ NS-Presse Möglichkeiten zur kritischen Teilhabe am Zeitgeschehen? Kurz: War das Massenmedium Zeitung auch in der NS-Zeit (massen-)meinungsbildendes Medium? Nur durch Ergänzung der Quellengattung Zeitung, und dann auch nur in Einzelfällen, könnte im Geschichtsunterricht auf die Rezeption der Zeitungsartikel und deren Wirkung auf einzelne Zeitgenossen geschlossen werden. Unterrichtsvorhaben, die mit Zeitungen aus der Zeit des Nationalsozialismus arbeiten, müssen aber diese Überlegungen berücksichtigen, um einerseits den überaus komplexen Quellen gerecht werden zu können und andererseits nicht zu falschen Schlüssen zu gelangen. Unterrichtspraktische Überlegungen

Eine empirische Untersuchung zur Verwendung der Zeitungszeugen im Geschichtsunterricht mit Schülerinnen und Schülern einer Hauptschule und eines Gymnasiums hat unter anderem gezeigt, dass die Andersartigkeit in der Darbietung und die augenscheinliche Authentizität der Reprints zu einer Auseinandersetzung mit den Quellen motivieren. Allerdings wurde auch deutlich, dass diese Beschäftigung von der Lehrperson begleitet werden sollte, um sicherzustellen, dass die Schülerinnen und Schüler die vielschichtigen Lernpotenziale der Quellen ausschöpfen können, ohne der Suggestionskraft der Blätter zu erliegen.33 Als zentral gilt dabei die Offenlegung der Perspektiven und der Intentionen der behandelten Zeitungen. Unterrichtliche Verfahren, die durch mehrere Zeitungen multiperspektivische Ergebnisse erbringen, ermöglichen die Erkenntnis, wie wichtig der kritische Umgang mit Informationen ist. Zudem verweisen sie deutlich auf die Notwendigkeit, Perspektiven erkennen und abwägen zu können. In der Unterrichtsarbeit mit Reprints wie Zeitungszeugen muss Vermittlung von Inhalten und Methoden zusammengehen. Sowohl die Spezifika der Quellengattung „Zeitung“, speziell aus der Zeit des Nationalsozialismus, als auch die in Quellenkritik und -analyse einzubeziehenden angesprochenen Überlegungen 32 Einleitend: Raphael Gross, Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Frankfurt am Main 2010, S. 7–25. 33 Kuchler, Gefahr (wie Anm. 24), S. 26ff. 54  Christian Bunnenberg

zur Ausformung von Grenzen einer Öffentlichkeit im „Dritten Reich“ wären mit den Schülerinnen und Schülern zu erarbeiten. Falls der Unterricht eine Verwendung der Zeitungszeugen vorsieht, ist zusätzlich auch die Intention der Edition transparent zu machen und als Angebot der Geschichtskultur kritisch zu reflektieren.34 In Ergänzung zu den bereits vorliegenden Unterrichtsmaterialien und -vorschlägen zur Arbeit mit Zeitungen aus dem „Dritten Reich“ im Geschichtsunterricht soll abschließend auf eine Möglichkeit hingewiesen werden, die im Unterricht zur kritischen Auseinandersetzung mit Presseerzeugnissen aus der NS-Zeit Verwendung finden könnte. Seit 2011 liegen die edierten Tagebücher von August Friedrich Kellner vor.35 Kellner wurde 1885 in Vaihingen geboren, war politischer Anhänger der Sozialdemokratie und im Justizwesen beschäftigt. Von 1933 bis 1947 hatte er die Stelle als Geschäftsleiter am Amtsgericht Laubau inne. Von 1939 bis 1945 führte er regelmäßig Tagebuch, das von ihm in zehn Bänden mit 676 einzeln datierten Eintragungen und mehr als 500 Zeitungsausschnitten auf 861 Seiten niedergeschrieben wurde. In seinen Tagebüchern setzt sich Kellner auf überaus kritischer Grundlage der Tagespresse mit dem Nationalsozialismus auseinander. Teilweise kommentieren die Eintragungen direkt daneben eingeklebte Zeitungsartikel.36 Auszüge aus diesen Tagebüchern können daher die konkrete Auseinandersetzung eines (!) Zeitgenossen mit den Deutungsangeboten in den Zeitungen zum Unterrichtsgegenstand machen. Allgemeine Überlegungen zur Presse während des Nationalsozialismus können so mit den Beobachtungen Kellners eingeleitet werden. In teilweise sehr deutlichen Worten bewertet Kellner wiederholt die Presselandschaft, wenn er etwa am 8. Oktober 1939 schreibt: „Der schlimmste Zustand ist aber zweifellos die Zeitungsschmiererei gewesen. Jeder Schwätzer u. Honigmann durfte seinen Senf anbringen, sofern er in der Lage war, in schwulstigen Redensarten entweder dem Nazi-System oder 34 Pandel, Geschichtskultur (wie Anm. 6). 35 Markus Roth, Chronist der Verblendung – Friedrich Kellners Tagebücher 1938/39 bis 1945. Beiheft zur Ausstellung „Die Last der ungesagten Worte“, Bonn 2009; Sascha Feuchert u. a. (Hrsg.), „Vernebelt, verdunkelt sind alle Hirne.“ Tagebücher 1939–1945, 2 Bd., Göttingen 2011. 36 Zur Arbeitsweise Kellners: Feuchert u. a. (wie Anm. 35), S. 9. Reprints als didaktische Herausforderung für den Geschichtsunterricht  55

seinen Trabanten Lob zu zollen oder aber auch alles zu verherrlichen […]. Nie ein Wörtchen von Bedenken oder gar von sachlicher Kritik. Die Herrscher durften wie Götter ihr Werk stündlich preisen und Eigenlob in ungeheuren Mengen auf sich selbst schütten.“37 Für eine Unterrichtseinheit, die den Schülerinnen und Schülern methodisches Wissen für die Erweiterung ihrer Gattungskompetenz zu Zeitungen als Quellen vermitteln möchte, könnte dieses Zitat Fragen zu den Bedingungen aufwerfen, unter denen a) Presseerzeugnisse im „Dritten Reich“ entstanden und b) rezipiert wurden, und c) wie diese Texte aus der Vergangenheit für Fragen der Gegenwart zugänglich gemacht werden können. Dadurch kann vor allem der Blick für quellenkritische Aspekte geschärft werden. Auch Fragen nach der Rezeption von NS-Propaganda durch den Zeitgenossen Kellner kann nachgegangen werden. Zu der Parole „Die Juden sind unser Unglück“, die ja auch für jeden Vorübergehenden gut sichtbar über dem Wormser „Stürmerkasten“ angebracht war, äußerte sich Kellner am 10. Oktober 1939 folgendermaßen: „Damit die Wut des Volkes nicht sich gegen die eigenen Bedrücker richtet, haben zu allen Zeiten die Herrscher es verstanden, durch Ablenkungsmanöver die eigene Schuld zu verhüllen. So war die ganze Judenaktion nichts anderes als das, was ein (hingeworfenes) Stück Fleisch für Bestien bedeutet. ‚Die Juden sind unser Unglück‘, rufen die Nazis. Die richtige Antwort des Volkes wäre gewesen: Nein, nicht die Juden, sondern die Nazis sind das Unglück für das deutsche Volk.“38 Die Textstelle verweist deutlich auf das Wissen um die Judenverfolgung und lädt zugleich zu einer Diskussion über die Handlungsspielräume der deutschen Mehrheitsbevölkerung ein. Dass nach 1945 formulierte Ausflüchte wie „Davon haben wir nichts gewusst“ nur bedingt die doch verfügbaren Informationen über den Holocaust in der deutschen Öffentlichkeit des „Dritten Reiches“ abbilden können, hat zuletzt Peter Longerich nachgewiesen.39 Dass sich ein Zeitgenosse hingegen schon durch das Lesen der Tagespresse ein ziemlich genaues Bild über die Verbrechen gegen die europäischen Juden 37 Ebd., S. 32f. 38 Ebd., S. 33. 39 Longerich (wie Anm. 29), S. 313ff. 56  Christian Bunnenberg

machen konnte, zeigen die letzten beiden Beispiele aus den Tagebüchern Kellners. Am 25. September 1942 kommentierte Kellner eine Pressemeldung aus der Berliner Börsen-Zeitung Nr. 424 vom 8. September 1942 über die „planmäßige Entjudung Südosteuropas“. In dem Artikel wurden die Dimensionen der Verfolgung in den gängigen Semantiken der NS-Propaganda klar und deutlich benannt: „Alle Staaten entlang der Donau haben nach dem Beispiel Großdeutschlands begonnen, das parasitäre Dasein der Juden einzudämmen, den jüdischen Einfluß auszuschalten und die Juden aus dem eigenen Lebensraum zu verdrängen. Die Slowakei beschritt als erster Staat nach Großdeutschland zielstrebig den Weg zur vollständigen Entjudung. Schrittweise drängte sie seit 1939 das Judentum hinaus und begann im Frühjahr 1942 mit der Aussiedlung der Juden. Von 89.000 Juden waren 65.000 in Transporten abgeschoben, 6.000 sind nach Ungarn geflüchtet und 18.000 warten auf den Abtransport. […] Dieser knappe Überblick zeigt den bedeutsamen Fortschritt: in einem Jahr wird es in der Slowakei, in Kroatien, in Serbien und Rumänien keinen Juden mehr geben. Der gefährliche innere Feind wird planmäßig beseitigt.“40 Neben diesen Absatz notierte Kellner handschriftlich ein „Wohin?“. Zu diesem Zeitpunkt hatte Kellner bereits seit einem Jahr gewusst, was mit den Juden geschah. Am 28. Oktober 1941 hatte ihm „ein in Urlaub befindlicher Soldat“ von „fürchterlichen Grausamkeiten“ berichtet, unter anderem von Massenerschießungen jüdischer Polen durch die SS.41 Entsprechend fällt auch im Jahr 1942 sein Urteil über den Inhalt des zitierten Zeitungsartikels aus: „Die sogenannte ‚Bereinigung‘ Europas von Juden wird ein dunkles Kapitel in der Menschheitsgeschichte bleiben. Wenn wir in Europa soweit sind, daß wir Menschen einfach beseitigen, dann ist Europa rettungslos verloren. Heute sind es die Juden, morgen ist es ein anderer Volksstamm, der ausgerottet wird.“42 Der besondere Reiz an den Tagebucheinträgen Kellners ist die in Quellen nur äußerst selten greifbare unmittelbare Auseinandersetzung eines Zeitgenossen mit der NS-Presse – was die deutsche Mehrheitsbe40 Feuchert u. a. (wie Anm. 35), S. 314. 41 Ebd., S. 191f. 42 Ebd., S. 314. Reprints als didaktische Herausforderung für den Geschichtsunterricht  57

völkerung über die Inhalte der Zeitungen gedacht hat, ob sie Anhänger, Unterstützer, Mitläufer oder Gegner des Nationalsozialismus war, bleibt allerdings weiterhin nicht rekonstruierbar. Diese methodischen Grenzen der Auseinandersetzung mit Zeitungen aus der NS-Zeit werden durch ein entsprechendes Verfahren in der Unterrichtssituation für die Schülerinnen und Schüler transparent. Eine eingehende Analyse der Zeitungsartikel und Kellners Kommentierung könnte die Schülerinnen und Schüler also zur Diskussion über die Verwendung, Gestaltung und Reichweite von NS-Propaganda in den Medien anregen, die Bedeutung einer kritischen Teilhabe am ‚öffentlichen‘ Diskurs verdeutlichen und für eine weitere Beschäftigung mit Zeitungen aus der NS-Zeit sensibilisieren. Zusammenfassung

Am Beginn dieses Beitrages stand als gute Nachricht für den Geschichtsunterricht das Angebot nachgedruckter und mit Begleitmaterial versehener Zeitungen aus der NS-Zeit, die eine kritische Auseinandersetzung mit ausgewählten Themen des „Dritten Reiches“ ermöglichen sollen. Die schlechte Nachricht verwies hingegen auf die empirisch gewonnenen Erkenntnisse zur geringen Nachhaltigkeit und Wirkung des im Geschichtsunterricht erworbenen Wissens über Nationalsozialismus und Holocaust. Durch die Hinweise der empirischen Untersuchungen von Schülervorstellungen zum Inhaltsfeld „Nationalsozialismus“, die curricularen Vorgaben sowie die generellen Beobachtungen zur Quellengattung „Zeitungen“ wurde deutlich, dass es für das Ausschöpfen der Lernpotenziale von Reprints im Geschichtsunterricht mehr bedarf, als ein unangeleitetes Lesen der Zeitungen oder das Bearbeiten von Arbeitsblättern. Vielmehr müssen entsprechende Unterrichtsszenarien sowohl methodische als auch inhaltliche Aspekte in ausgewogener Form berücksichtigen, um bei den Schülerinnen und Schülern die Gattungskompetenz zu entwickeln, die sie für eine kritische Bearbeitung der NS-Presseerzeugnisse benötigen. Dazu sollte neben den eventuell vorhandenen Reprints auch auf weitere Quellen wie die beispielhaft angeführten Fotos und Tagebucheinträge zurückgegriffen werden, um den Blick für die Spezifika der Quellengattung Zeitung in der NS-Zeit zu schärfen.

58  Christian Bunnenberg

Angelehnt an die Forderungen der Lehrpläne und neuerer geschichtsdidaktischer Erkenntnisse darf insbesondere bei der Verwendung von Editionsprojekten wie den Zeitungszeugen die geschichtskulturelle Dimension im Geschichtsunterricht nicht vernachlässigt werden. Denn die am Kiosk angebotenen Zeitungszeugen sind gerade keine kritische Edition auf wissenschaftlichem Niveau, sondern vielmehr ein kommerzielles Projekt für einen Massenmarkt, das durch seinen Mantelteil (populär-)wissenschaftlich umrahmt ist. Allein die öffentlichen Diskussionen im Kontext der beiden bisher erschienenen Auflagen könnten ebenfalls ein Thema für den Geschichtsunterricht darstellen, welches zur Ausbildung eines kritischen und reflektierten Geschichtsbewusstseins anleiten kann.

NS-Propaganda in Printform: Mein Kampf und Völkischer Beobachter. Foto: Sebastian Schmitz, RWTH Aachen

Reprints als didaktische Herausforderung für den Geschichtsunterricht  59

Thomas Vordermayer

Hitlers Mein Kampf als wissenschaftliche Edition Seit Ende des Zweiten Weltkriegs liegen die Verwertungsrechte des Münchner Franz-Eher-Verlags, der im Juli 1925 und Dezember 1926 die Erstausgaben des ersten und zweiten Bandes von Adolf Hitlers Mein Kampf publizierte,1 beim Bayerischen Staatsministerium der Finanzen. Diese Rechte erlöschen – 70 Jahre nach dem Tod des Autors – zum Jahresende 2015. Anschließend wird Mein Kampf gemeinfrei. Die seit 1945 aufrechterhaltene Politik, Nachdrucke von Hitlers weltanschaulichem Hauptwerk in Deutschland grundsätzlich zu untersagen, wird daher ab Januar 2016 auf dieser Grundlage nicht mehr weitergeführt werden können. Wie aber ist mit diesem Erbe des Nationalsozialismus politisch verantwortungsvoll und wissenschaftlich angemessen umzugehen? Wie lässt sich der ökonomische Missbrauch von Mein Kampf verhindern? Um hierfür eine Strategie zu entwickeln, trafen sich im April 2012 Vertreter der Bayerischen Staatsregierung, der Wissenschaft, der Kirchen und der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern zu einem „Runden Tisch“ in Nürnberg. Als Ergebnis der Beratungen wurde das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin mit der Aufgabe betraut, bis 2015 eine wissenschaftliche Edition von Mein Kampf zu erarbeiten. Für die Wissenschaft bietet das eine große Chance: Erstmals wurde die Möglichkeit einer vollständigen wissenschaftlichen Edition der bedeutendsten autobiografischen Quelle Hitlers sowie eines Schlüsseldokuments zum Verständnis der NS-Ideologie geschaffen. Zugleich bietet das Editionsprojekt Gelegenheit, die letzte noch vorhandene editorische Lücke von Texten Hitlers aus der „Kampfzeit“ der NS-Bewegung zu schließen: Die Edition von Mein Kampf vervollständigt und vollendet 1 Zur Entstehungsgeschichte von Mein Kampf siehe: Othmar Plöckinger, Geschichte eines Buches. Adolf Hitlers „Mein Kampf “ 1922–1945, München 22011, S. 29–121. Der zweite Band wurde bei der Veröffentlichung auf das Jahr 1927 vordatiert. Hitlers Mein Kampf als wissenschaftliche Edition  61

gleichsam die mehrbändige Edition Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen, die von 1992 bis 1998 ebenfalls am Institut für Zeitgeschichte erarbeitet wurde und den Zeitraum zwischen der Wiedergründung der NSDAP im Februar 1925 und der NS-„Machtergreifung“ im Januar 1933 umfasst.2

Printausgabe und Onlineangebot „Mein Kampf“. Foto: Sebastian Schmitz, RWTH Aachen

Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht allein die wissenschaftliche Dimension des Projekts; geschichtspolitische Fragen werden nicht berührt. Dabei interessieren zunächst die Ziele und Herausforderungen des textkritischen Apparats (I), ehe die Hauptelemente der Sachkommentierung erläutert werden (II).

2 Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.), Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933, 12 Bde., München u. a. 1992–1998. Die Schriften Hitlers aus der Zeit bis 1924 sind ediert in: Eberhard Jäckel/Alex Kuhn (Hrsg.), Hitler. Sämtlichen Aufzeichnungen. 1905–1924, Stuttgart 1980; aufgrund des Verzichts auf inhaltliche Kommentierung unterscheidet sie sich jedoch von der Edition des Instituts für Zeitgeschichte deutlich. 62  Thomas Vordermayer

I. Der textkritische Apparat

Textgrundlage der Edition sind die Erstausgaben des ersten und zweiten Bandes von Mein Kampf aus den Jahren 1925/27. Da der Urtext – abgesehen von wenigen Fragmenten3 – nicht überliefert ist, stellen sie die älteste bekannte Fassung des Textes dar. Dass während der Weimarer Republik und des „Dritten Reichs“ Überarbeitungen am Text der Erstausgaben vorgenommen wurden, ist seit Langem bekannt.4 Es handelt sich dabei fast ausschließlich um stilistische Eingriffe, vor allem die stillschweigende Korrektur von Grammatik- und Rechtschreibfehlern sowie um teilweise vorgenommene Ausbesserungen besonders grober stilistischer Entgleisungen.5 Wenn hinsichtlich der Überarbeitungen von Mein Kampf kürzlich von „immer neuen stilistischen und inhaltlichen Korrekturen“6 seit 1925 gesprochen worden ist, so muss dies insofern stärker differenziert werden, als die stilistischen und inhaltlichen Eingriffe weder quantitativ noch qualitativ gleichrangig nebeneinander stehen. Die Grundkonzeption von Mein Kampf blieb während seiner zwanzigjährigen Publikationsgeschichte unverändert. Die Erstausgaben von Mein Kampf stellen also nicht etwa nur einen vorläufigen Textentwurf dar, der bis 1945 fortlaufend inhaltlich modifiziert worden wäre. Von „immer neuen“ inhaltlichen Korrekturen kann erst recht keine Rede sein. Hitler sah niemals Veranlassung für eine grundlegende Aktualisierung oder gar Revision seines Buches – ein sprechender 3 Dabei handelt sich um ein fünfseitiges Manuskript der ersten Seiten von Mein Kampf sowie 18 Konzeptseiten mit Notizen zu mehreren Kapiteln des ersten Bandes. Hierzu: Florian Beierl/Othmar Plöckinger, Neue Dokumente zu Hitlers Buch Mein Kampf, in: VfZ 57 (2009), S. 261–320. Überlegungen zum ursprünglichen Manuskript von Mein Kampf in: Plöckinger (wie Anm. 1), S. 153–157. 4 Auf Grundlage eines detaillierten Textvergleichs der Erstausgaben mit zwei späteren Auflagen konnte Hermann Hammer schon 1956 insgesamt 2.294 Veränderungen zwischen den Erstausgaben und der 1. Volksausgabe von 1930 sowie 293 weitere Veränderungen zwischen den Auflagen von 1930 und 1939 nachweisen. Siehe: Hermann Hammer, Die deutschen Ausgaben von Hitlers „Mein Kampf “, in: VfZ 4 (1956), S. 161–178. 5 Eine Ausnahme bilden die Kopfzeilen, die in späteren Auflagen vielfach umformuliert wurden. 6 Wolfgang Benz, „Mein Kampf “ – Aufklärung und Geschichtspolitik, politische Moral und Interessen, in: ZfG 60 (2012), S. 889–897, S. 890. Hitlers Mein Kampf als wissenschaftliche Edition  63

Hinweis auf jenes „Phänomen früher Erstarrung“, das seine „gesamte Gedanken- und Vorstellungswelt“7 kennzeichnete. Auf Nachfragen zu möglichen nachträglichen Korrekturen seines Buches reagierte Hitler stets abweisend.8 Lediglich ein deutlich Sinn verändernder Eingriff in den ursprüng­ lichen Wortlaut ist bekannt. Er wurde für die 1930 veröffentlichte 1. Volksausgabe von Mein Kampf vorgenommen und betraf eine zentrale Frage der inneren Parteiverfassung der NSDAP: Hitler hatte 1925 in einer Textpassage noch den „Grundsatz einer germanischen Demokratie“ erläutert, wonach innerparteiliche Ämter durch ein internes Wahlverfahren besetzt werden sollten.9 Dies widersprach dem mittlerweile fest etablierten „Führerprinzip“, und so wurde der Satz 1930 vollständig getilgt. Stattdessen war seither von dem „Grundsatz der unbedingten Führerautorität“ die Rede; „Vorsitzende“ sollten künftig ausnahmslos „durch den nächsthöheren Führer eingesetzt“ werden und allein diesem verantwortlich sein.10 Aus wessen Feder die Neuformulierung stammt, lässt sich zwar quellentechnisch nicht mehr nachvollziehen, die Urheberschaft kann jedoch plausibel auf Hitler selbst zurückgeführt werden. Ohne Hitlers explizite Zustimmung ist diese Änderung jedenfalls kaum vorstellbar. Wer außer dem „Führer“ selbst wäre zu einem solchen inhaltlichen Eingriff befugt gewesen? Bei der Vielzahl an rein stilistischen Textveränderungen ist hingegen anzunehmen, dass sie nicht von Hitler persönlich stammen. Die Namen der Verantwortlichen sind jedoch auch hier nicht überliefert.11 In der Edition werden die Textveränderungen von Mein Kampf für die Zeit zwischen der Publikation der Erstausgaben und dem Ende des „Dritten Reichs“ in einem textkritischen Apparat dokumentiert. Angesichts von mehr als 1.000 Auflagen und nicht weniger als 12,4 Millionen

7 8 9 10

Joachim C. Fest, Hitler. Eine Biographie, Frankfurt am Main 1973, S. 725. Plöckinger (wie Anm. 1), S. 193. Adolf Hitler, Mein Kampf. Bd. 1: Eine Abrechnung, München 1925, S. 364 f. Adolf Hitler, Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. Ungekürzte Ausgabe, München 1930, S. 378: „Immer wird der Führer von oben eingesetzt und gleichzeitig mit unbeschränkter Vollmacht und Autorität bekleidet.“ 11 Plöckinger (wie Anm. 1), S. 193–195. 64  Thomas Vordermayer

nachweislich gedruckter deutschsprachiger Exemplare12 erklärt es sich von selbst, dass nicht sämtliche Einzelausgaben berücksichtigt werden können. Die Notwendigkeit einer Auswahl ergibt sich schon aus dem Gebot der Übersichtlichkeit. Um jene Auflagen zu identifizieren, die hinsichtlich nachträglicher Eingriffe in die originale Textgestalt besonders einschlägig sind, wurde zunächst in einer Probeuntersuchung der Wortlaut von zwei Kapiteln der Erstausgaben anhand von insgesamt 38 Auflagen verglichen.13 Auf dieser Grundlage wurden sieben Auflagen ausgewählt, bei denen die zahlreichsten Eingriffe angenommen werden. Es handelt sich dabei um – die Zweitauflage der Originalausgaben aus den Jahren 1926/29, – die schon erwähnte 1. Volksausgabe von 1930, – die 1933 veröffentlichte 17. Auflage der Volksausgabe, – die 227.–231. Auflage der Volksausgabe aus dem Jahr 1937, – die „Jubiläumsausgabe“ von 1939, – die 1. Auflage der Dünndruckausgabe von 1940 und – die 1944 erschienene 1027.–1031. Auflage der Volksausgabe, die letzte bekannte Textversion von Mein Kampf. Ziel des textkritischen Apparats ist also keine lückenlose Abbildung und exakte Datierung aller Textvarianten – angesichts der konstanten Grundkonzeption des Textes verspräche eine solche Fleißarbeit auch wenig Erkenntnisgewinn. Stattdessen soll der textkritische Apparat der Edition anhand seines mit Bedacht gewählten Vergleichssamples einen Beitrag zur Erforschung der bislang nur ansatzweise untersuchten Textentwicklung und damit auch der Publikations- und Rezeptionsgeschichte von Mein Kampf bis 1945 leisten.

12 Bis in die jüngste Zeit wird in der Forschung immer wieder Werner Masers vage und zu niedrig gegriffene Schätzung von rund 10 Millionen deutschsprachigen Exemplaren aufgegriffen, obgleich sie durch die neuere Forschung präzisiert worden ist, siehe: Plöckinger (wie Anm. 1), S. 187 f. 13 Ausgewählt wurden das siebte Kapitel des ersten Bandes (Die Revolution) und das elfte Kapitel des zweiten Bandes (Propaganda und Organisation). Hitlers Mein Kampf als wissenschaftliche Edition  65

II. Hauptelemente der Kommentierung

Inhaltlich und konzeptionell weist Mein Kampf mehrere sich gegenseitig überschneidende und häufig bruchlos ineinander übergehende Ebenen auf. Neben einer „Mischung aus Biographie, ideologischem Traktat“ und „taktischer Aktionslehre“14 bemühte sich Hitler in seinem Buch insbesondere um eine Verklärung und Stilisierung der Frühgeschichte der NS-Bewegung, die von vielen Zeitgenossen als gescheitert angesehen wurde, nachdem der Putschversuch vom 9. November 1923 in einem völligen Debakel geendet hatte. Weiterhin diente Hitler Mein Kampf als Plattform eines teils vagen, teils konkreten Entwurfs einer nationalsozialistischen Welt- und Gesellschaftsordnung, der auf das Publikum der 1920er-Jahre zunächst freilich vollkommen illusorisch wirken musste. Die inhaltliche Inkohärenz von Mein Kampf erfordert unterschiedliche Ansätze und Arten der Kommentierung. Die drei wichtigsten werden im Folgenden anhand ausgewählter Textbeispiele vorgestellt. Dabei handelt es sich um: erstens die Offenlegung der ideengeschichtlichen Wurzeln des Textes und – soweit rekonstruierbar – der unmittelbaren Quellen Hitlers, zweitens die Ergänzung und Korrektur einseitiger und verfälschender Darstellungen und Behauptungen, drittens den Vergleich zwischen den in Mein Kampf formulierten politischen Absichtserklärungen und der Wirklichkeit des „Dritten Reichs“. (a) Ideengeschichtliche Wurzeln von „Mein Kampf“ und Quellen Hitlers

Aufgabe und Ziel der Kommentierung ist es zunächst, die wichtigsten ideengeschichtlichen Wurzeln und Traditionen zu dokumentieren, auf denen Hitlers Weltanschauung basierte und deren Wirkung in Mein Kampf unmittelbar zu spüren ist. Um zu verstehen, auf welchem zeitgenössischen Resonanzboden Hitlers Schrift stand und weshalb Mein Kampf in einem Teil der deutschen Bevölkerung anschlussfähig war, müssen die Inhalte des Textes in ihren geistesgeschichtlichen Kontext eingebettet werden. Zu berücksichtigen sind dabei primär jene Autoren, deren Werke mit dem Bedeutungsgewinn rassistischen, antisemitischen, 14 Fest (wie Anm. 7), S. 290. 66  Thomas Vordermayer

sozialdarwinistischen und kulturpessimistischen Denkens im letzten Drittel des „langen“ 19. Jahrhunderts und dem damit einhergehenden Aufkommen der völkischen Bewegung15 untrennbar verbunden sind. Zu denken ist hier etwa an Adolf Bartels, Houston Stewart Chamberlain, Heinrich Claß, Theodor Fritsch, Ernst Haeckel, Paul de Lagarde oder Julius Langbehn. Inhalte von Mein Kampf, die auf Kontinuitäten und Parallelen zwischen dem Gedankengut dieser und weiterer ideologisch wahlverwandter Autoren zur Weltanschauung Hitlers verweisen, werden in der Kommentierung analysiert. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang die Frage, ob jene Ideen in Mein Kampf weitgehend unverändert eingeflossen sind oder aber in selektiver, zugespitzter, vereinfachter und gegebenenfalls neu gestalteter Form. Zwei Beispiele: Mehrfach wirft Hitler in Mein Kampf dem deutschen Bürgertum einen „Objektivitätsfimmel“ respektive „Objektivitätstandpunkt“ [sic!] vor und plädiert dafür, intellektuelles Abwägen und Differenzieren durch das „Gegengift“ einer „rücksichtslose[n] und fanatisch einseitige[n] Einstellung auf das nun einmal zu erstrebende Ziel“16 zu ersetzen. Es gibt mehrere Vordenker eines solch rigiden Antirationalismus; die Kommentierung verweist exemplarisch auf Julius Langbehns Pamphlet Rembrandt als Erzieher (1890), das nach seiner Veröffentlichung rasch zu einer der einflussreichsten kulturkritischen Schriften der wilhelminischen Gesellschaft avancierte17 und unter anderem ein vehementes Plädoyer gegen die vermeintlich „falsche Objektivität“ der Wissen-

15 Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht, Vorwort, in: Dies. (Hrsg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1996, S. IX–XXIII; Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001, bes. S. 9–25; Stefan Breuer, Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008, bes. S. 25–56. 16 Hitler (wie Anm. 9), S. 193, S. 357. 17 Bernd Behrendt, August Julius Langbehn. Der „Rembrandtdeutsche“, in: Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus H. Ulbricht (Hrsg.), Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München 1996, S. 94–113; Johannes Heinßen, Kulturkritik zwischen Historismus und Moderne. Julius Langbehns „Rembrandt als Erzieher“, in: Werner Bergmann (Hrsg.), Antisemitische Geschichtsbilder, Essen 2009, S. 121–137. Hitlers Mein Kampf als wissenschaftliche Edition  67

schaften enthielt.18 Wenn Hitler an anderer Stelle die für seine Weltanschauung zentrale Überzeugung formuliert, die gesamte menschliche Existenz und Geschichte basiere auf dem unveränderlichen und immerwährenden Prinzip eines „harten unerbitterlichen Kampf[es] ums Dasein“19, so verweist die Edition auf die Tradition dieses sozialdarwinistischen Weltbilds in der deutschen und europäischen Ideengeschichte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert: Viele Schriftsteller und Wissenschaftler übertrugen zum damaligen Zeitpunkt Charles Darwins Evolutions- und Selektionstheorie missbräuchlich auf die menschliche Gesellschaft und Geschichte und erhoben Prinzipien wie „Natürliche Auslese“ und „Recht des Stärkeren“ zu Leitvorstellungen der Außen- und Kolonialpolitik sowie der inneren Gesellschaftsordnung.20 Um die ideengeschichtlichen Wurzeln von Mein Kampf abzubilden, werden nicht nur Vordenker aus dem Umfeld der deutschen völkischen Bewegung berücksichtigt; für manche Passagen des Textes ist es notwendig, auch internationale Autoren mit einzubeziehen. Unlängst wurde etwa auf den erheblichen Einfluss hingewiesen, den das Buch Der Untergang der großen Rasse (1925) des amerikanischen Rassenideologen Madison Grant auf Hitlers Denken während der Arbeit an Mein Kampf hatte.21 Ähnliches gilt für Henry Fords berüchtigtes Pamphlet Der internationale Jude, welches Hitler im Jahr 1922 in eine Liste von Büchern aufnahm, die „jeder Nationalsozialist kennen“ müsse und die später in

18 Als das „Endziel“ der „falschen“, gemeint: objektiven Wissenschaft bezeichnete es Langbehn, „Thatsachen zu konstatieren“. Die „echte Wissenschaft“ müsse hingegen bemüht sein, „Werthurtheile abzugeben“ ( Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, Leipzig 471906, S. 69 f.). 19 Hitler (wie Anm. 9), S. 142. 20 Exemplarisch: Otto Ammon, Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen, Jena 31900, S. 9–14. Weiterführend zu diesem Themenkomplex: Peter Walkenhorst, Der „Daseinskampf des Deutschen Volkes“. Nationalismus, Sozialdarwinismus und Imperialismus im wilhelminischen Deutschland, in: Jörg Echternkamp (Hrsg.), Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760–1960, München 2002, S. 131–148. 21 Timothy W. Ryback, Hitlers Bücher. Seine Bibliothek – sein Denken, Köln 2010, S. 126–149. Grants Buch erschien ursprünglich 1916 unter dem Titel The Passing of the Great Race or The Racial Basis of European History. 68  Thomas Vordermayer

den Mitgliedsausweisen der NSDAP abgedruckt wurde.22 Die Bedeutung internationaler Autoren lässt sich darüber hinaus an dem französischen Schriftsteller und Diplomaten Joseph Arthur Comte de Gobineau verdeutlichen: Das auch in Mein Kampf eingeflossene Ideologem, wonach der „Arier“ alleiniger „Träger der menschlichen Kulturentwicklung“23 sei, lässt sich direkt auf Gobineaus Essai sur l’inégalité des races humaines (1853/55) zurückführen. Auch Gobineaus Überzeugung, jede „Rassenvermischung“ führe unweigerlich zum Niedergang des kulturellen Niveaus der jeweils „höherstehenden“ Rasse, findet sich in Mein Kampf.24 Gobineau wurde in Deutschland zunächst vor allem im Bayreuther Kreis um Richard Wagner rezipiert,25 ehe der Essai zur Jahrhundertwende durch Ludwig Schemanns deutsche Übersetzung (Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen, 1898–1902) Einzug in den völkischen Literaturkanon hielt.26 Im Fall Gobineaus muss dabei offen bleiben, ob Hitler mit der Gedankenwelt des französischen Rassentheoretikers direkt als Leser oder indirekt über dritte, nicht mehr bestimmbare Autoren in Berührung kam, die selbst wiederum unter 22 Ebd., S. 84–86. Fords Pamphlet wurde erstmals 1920 unter dem Titel The international Jew. The world‘s foremost problem veröffentlicht. 23 Hitler (wie Anm. 9), S. 311. 24 Adolf Hitler, Mein Kampf, Bd. 2: Die nationalsozialistische Bewegung, München 1927, S. 33. 25 Michel Lémonon, Die Verbreitung der Rassenlehre Gobineaus in Deutschland, in: Ursula Büttner (Hrsg.), Das Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus, Hamburg 1986, S. 39–48. Auch Houston Stewart Chamberlain, der Schwiegersohn Wagners, schrieb in seinem Bestseller Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts (1899): „Die Rassen der Menschen sind in der Art ihrer Befähigung, sowie in dem Maße ihrer Befähigung sehr ungleich begabt, und die Germanen gehören zu jener Gruppe der Zuhöchstbegabten [sic!], die man als Arier zu bezeichnen pflegt.“ (Houston Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 1, München 101912, S. 596). 26 Puschner, Bewegung (wie Anm. 15), S. 77–82. Es bestanden jedoch auch merkliche Unterschiede zwischen dem Weltbild Gobineaus und jenem „modernerer“ Rasseideologen des frühen 20. Jahrhunderts. Gobineaus Auffassung etwa, dass der Prozess der „Rassenmischung“ nicht mehr aufzuhalten und demzufolge der Untergang des „Ariers“ unvermeidlich sei, galt vielen Völkischen als zu fatalistisch. Diese Deutung widersprach sowohl „rassenhygienischen“ Gesellschaftsutopien als auch sozialdarwinistischen Geschichtsbildern, die den selbsterklärten „Herrenrassen“ eine positive Zukunft zu garantieren schien. Hitlers Mein Kampf als wissenschaftliche Edition  69

dem Einfluss Gobineaus standen.27 Eine Klärung dieser Frage wird auch dadurch erschwert, dass es Hitler in der „immerwachen Sorge des Autodidakten vor dem Verdacht geistiger Abhängigkeiten“28 mit nur wenigen Ausnahmen unterließ, die Autoren beim Namen zu nennen, auf die er sich stützte. Gleichwohl lassen sich zahlreiche namentlich nicht genannte Autoren und Werke als direkte Quellen Hitlers plausibel machen. Ein Beispiel ist Hans F. K. Günther und seine populäre Rassenkunde des deutschen Volkes (1922), aus der Hitler mehrere rassentheoretische Konzepte übernahm.29 Einer derjenigen, die Hitler durch einen namentlich gekennzeichneten Bezug würdigte, war Gottfried Feder. Dessen „Verdienst“ um die „Auseinandersetzung mit dem internationalen Börsen- und Leihkapital“30 hob Hitler in Mein Kampf ausdrücklich hervor. Besonders einflussreich war Feders Schrift Der Deutsche Staat auf nationaler und sozialer Grundlage (1923), für die Hitler ein Geleitwort verfasst hatte und die zum 27 Rudolf Olden (1885–1940) hat schon 1935 als Biograf und Kritiker Hitlers die Vermutung aufgestellt, dass Hitler viele der Ideen seiner völkischen Vordenker erst nach einem „Prozeß der Vereinfachung in den Köpfen und durch die Federn von journalistischen Mittlern“ zugekommen seien. Vgl. Rudolf Olden, Hitler, Amsterdam 21936, S. 146. 28 Fest (wie Anm. 7), S. 289. 29 Dazu zählt die generelle Rassen-Typologie, die Günther durch ausführliche Beschreibungen vermeintlicher phänotypischer und „seelischer“ Besonderheiten identifiziert zu haben glaubte. Günthers „Systematik“ der „nordischen“, „westischen“, „dinarischen“ und „ostischen“ Rasse findet sich – exklusive der 1924 und 1927 ergänzten „ostbaltischen“ und „fälischen“ Rasse – in selber Nomenklatur in Mein Kampf (Hitler (wie Anm. 24), S. 27). Das hohe Ansehen, das Günther in der NS-Bewegung genoss, zeigte sich spätestens 1930, als er auf Veranlassung Wilhelm Fricks einen an der Universität Jena neu eingerichteten Lehrstuhl für Sozialanthropologie erhielt, ohne eine ausreichende wissenschaftliche Qualifikation für eine Professur zu besitzen. 1941 erhielt Günther zudem die GoetheMedaille für Kunst und Wissenschaft sowie das Goldene Parteiabzeichen der NSDAP. Vgl. Uwe Hoßfeld, Die Jenaer Jahre des „Rassen-Günther“ von 1930 bis 1935. Zur Gründung des Lehrstuhls für Sozialanthropologie an der Universität Jena, in: Medizinhistorisches Journal 34 (1999), S. 47–103; Hans-Christian Harten/Uwe Neirich/Matthias Schwerendt, Rassenhygiene als Erziehungsideologie des Dritten Reichs. Bio-bibliographisches Handbuch, Berlin 2006, S. 139– 141. 30 Hitler (wie Anm. 9), S. 220 f. 70  Thomas Vordermayer

„Kernbereich der nationalsozialistischen Literatur“31 zählte. Aus ihr dürfte Hitler beispielsweise den Gedanken übernommen haben, dass deutsche Staatsangehörige sich das Staatsbürgerrecht erst durch konkrete Leistungen verdienen müssten und „dieser Ehre“ bei Verstößen gegen völkische Denk- und Verhaltensmaximen wieder „entkleidet“ werden sollten.32 Damit ist freilich nicht gesagt, dass zwischen Mein Kampf und jenen zeitgenössischen Schriften, für die ein direkter Einfluss auf Hitlers Denken nachgewiesen oder plausibel gemacht werden kann, keine Unterschiede feststellbar wären. Feders Warnung vor einer einseitigen Überschätzung von „Leibesübungen“ in Erziehungsfragen33 stand etwa in direktem Gegensatz zu den Erziehungsidealen Hitlers, der das „Heranzüchten kerngesunder Körper“ in Mein Kampf ausdrücklich über die „Ausbildung der geistigen Fähigkeiten“ und die „Entwicklung des Charakters“34 stellte. Auf Abweichungen dieser Art in der Kommentierung aufmerksam zu machen, ist umso wichtiger, als sich auch hierüber die Frage beantworten lässt, inwieweit Hitler vorhandenes Ideengut lediglich epigonal reproduzierte und inwieweit er es weiter radikalisiert, umgestaltet und nicht zuletzt auch neu kombiniert hat. (b) Korrektur einseitiger Darstellungen und falscher Behauptungen

Zur Kaskade von Vorwürfen, mit denen die politischen und weltanschaulichen Gegner des Nationalsozialismus in Mein Kampf überschüttet wurden, gehört auch deren angebliche Bereitschaft zu „bewußte[r] Unwahrhaftigkeit“35. Dass dagegen genau diese Bereitschaft zur Lüge 31 Plöckinger (wie Anm. 1), S. 6, S. 18. 32 Hitler (wie Anm. 24), S. 78 f. Eine identische Argumentation findet sich bei Gottfried Feder. Dieser forderte, dass das einmal erworbene Staatsbürgerrecht bei „Unwürdigkeit wieder verloren“ gehen müsse. Ein Entzug der Staatsbürgerwürde sollte vollzogen werden, wenn sein Träger die „innere Voraussetzung“ nicht mehr erfülle, insbesondere das „Bekenntnis zur deutschen Kultur- und Schicksalsgemeinschaft“ (Gottfried Feder, Der Deutsche Staat auf nationaler und sozialer Grundlage. Neue Wege in Staat, Finanz und Wirtschaft, München 31924, S. 65–67). 33 Feder (wie Anm. 32), S. 188. 34 Hitler (wie Anm. 24), S. 41f. Hierzu auch: Barbara Zehnpfennig, Hitlers Mein Kampf. Eine Interpretation, München 32006, S. 183–188. 35 Hitler (wie Anm. 9), S. 240. Hitlers Mein Kampf als wissenschaftliche Edition  71

und bloßen Polemik eines der zentralen Wesensmerkmale von Mein Kampf ist, wird in der Kommentierung durch die sachliche Korrektur kalkuliert einseitiger und verfälschender Darstellungen oder Behauptungen offengelegt. Richtiggestellt werden zunächst vor allem autobiografische Äußerungen und Beschreibungen der Frühgeschichte der NSDAP, in denen jener „planvolle Prozeß der Selbststilisierung“36 besonders augenfällig wird, der Hitler während der Niederschrift von Mein Kampf antrieb. Beispielhaft sei auf Hitlers Schilderung der sogenannten Gründungsversammlung der NSDAP im Münchner Hofbräuhaus am 24. Februar 1920 verwiesen, in der Hitler das 25-Punkte-Programm seiner Partei verlas. Die Teilnehmer dieser Versammlung werden in Mein Kampf als eine ideologisch homogene und verschworene Gemeinschaft politisch Gleichgesinnter präsentiert, die sämtliche Inhalte des Parteiprogramms „unter jubelnder Zustimmung“37 begrüßt hätten. An dieser Stelle versuchte Hitler, einige hundert Parteigegner aus dem Lager der USPD und KPD aus der Erinnerung zu tilgen, die ebenfalls an der Veranstaltung teilnahmen und sie durch permanente Zwischenrufe störten.38 Dieser verschwiegene Aspekt wird in der Kommentierung entsprechend ergänzt. Stilisierungen und Verschleierungen dieser Art durchziehen auch zahlreiche autobiografische Textpassagen. Hitlers Leben unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erscheint in Mein Kampf beispielsweise als eine Art Passionsgeschichte: Nach Kriegsende, so schreibt er in dem Kapitel Die Deutsche Arbeiterpartei, sei er völlig „mittellos und arm“39 gewesen. An dieser Stelle informiert die Edition unter anderem über das regelmäßige Einkommen, das Hitler bis 1920 als Angehöriger der Armee erhielt und das ihm ein auskömmliches Dasein ermöglichte.40 36 Fest (wie Anm. 7), S. 287. 37 Hitler (wie Anm. 24), S. 1. 38 Ian Kershaw, Hitler. 1889–1936, Stuttgart 1998, S. 190–192. Einem zeitgenössischen Polizeibericht zufolge ließen die Parteigegner beim Verlassen des Hofbräuhauses Räterepublik und Internationale hochleben und intonierten „Nieder“Rufe auf Hindenburg, Ludendorff und die Deutschnationalen. 39 Hitler (wie Anm. 9), S. 235. 40 Neben der regelmäßigen Löhnung kassierte Hitler eine „Kampfzulage“ von täglich zwei Mark, obgleich diese für die bei der Niederschlagung der Münchner Räterepublik eingesetzten Truppen vorgesehen war, denen Hitler nicht angehört hatte. 72  Thomas Vordermayer

Kalkulierte Verzerrungen und bewusste Fehlaussagen bestimmen schließlich auch Hitlers Beschreibungen seiner politischen Gegner sowie seine Attacken gegen sie. Wenn in Mein Kampf etwa behauptet wird, dass die „leitenden Elemente“ aller Weimarer Parteien „immer nur Juden und wieder Juden“41 seien, erläutert die Kommentierung nicht nur die Tradition dieses antisemitischen Topos42, sondern zeigt durch knappe Sachinformationen über die damaligen Parteivorsitzenden der maßgeblichen Weimarer Parteien zudem die ganze Abwegigkeit von Hitlers Behauptung auf.43 (c) Vergleich mit der politischen Praxis im „Dritten Reich“

Vor allem der zweite Band von Mein Kampf umfasst zahlreiche Passagen, in denen Hitler seine polemischen Tiraden gegen die politische Ordnung der Weimarer Republik um programmatische Äußerungen darüber ergänzte, wie Politik und Gesellschaft in einem „völkischen Staat“44 der Zukunft umgestaltet werden müssten. Dass er „tief nachgedacht habe und neben der Deutung der Gegenwart einen Entwurf für die Zukunft

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Vgl. Othmar Plöckinger, Unter Soldaten und Agitatoren. Hitlers prägende Jahre im deutschen Militär 1918–1920, Paderborn 2013, S. 162–165. Hitler (wie Anm. 24), S. 91. Siehe exemplarisch Theodor Fritsch (Hrsg.), Handbuch der Judenfrage. Eine Zusammenstellung des wichtigsten Materials zur Beurteilung des jüdischen Volkes, Hamburg 281919, S. 525–567. Wilhelm Marx, seit 1922 Vorsitzender der katholischen Zentrumspartei, war ebenso wenig jüdisch wie der Vorsitzende der DNVP, Kuno von Westarp, dessen Partei es schon 1920 zu einem ihrer „Grundsätze“ erklärt hatte, gegen die vermeintliche „Vorherrschaft des Judentums in Regierung und Öffentlichkeit“ (Wilhelm Mommsen (Hrsg.), Deutsche Parteiprogramme, München 1960, S. 538) einzutreten. Ebenfalls nicht jüdisch waren die Vorsitzenden der SPD, Otto Wels und Hermann Müller, die das Amt von 1919 bis 1928 gemeinsam ausübten und in ihm seit 1922 von Arthur Crispien unterstützt wurden. Dasselbe gilt für die KPD-Vorsitzenden Philipp Dengel und Ernst Thälmann, der am 18. August 1944 auf Befehl Hitlers im KZ Buchenwald ermordet wurde. Auch Gustav Stresemann (DVP) war nicht jüdisch, sah sich aufgrund der jüdischen Herkunft seiner evangelisch getauften Frau Käte (geb. Kleefeld) jedoch häufig antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt. Eine jüdische Großmutter besaß lediglich Erich Koch-Weser, der von 1924 bis 1930 der DDP vorsaß. Hitler (wie Anm. 24), S. 38. Hitlers Mein Kampf als wissenschaftliche Edition  73

vorweisen“ könne, hat Joachim Fest zu Recht als eine „prätentiöse Grundanstrengung“45 des Buches beschrieben. Besonderes Gewicht legte Hitler dabei auf die „Erziehungsgrundsätze des völkischen Staats“46 und die Maximen einer künftigen Außenpolitik; das thematische Spektrum umfasst jedoch zahlreiche weitere Gebiete. Zur Sprache kommen etwa Fragen staatlicher Zwangssterilisation47 sowie vergleichsweise randständige Aspekte wie das Adoptionsrecht, das ganz den Idealen und Interessen der „Rassenhygiene“ untergeordnet werden sollte.48 Hitlers außenpolitische Konzeptionen in Mein Kampf weisen wiederum unmissverständlich auf die Eroberung von neuem „Lebensraum“ im Osten voraus: „Nicht West- und nicht Ostorientierung darf das künftige Ziel unserer Außenpolitik sein, sondern Ostpolitik im Sinne der Erwerbung der notwendigen Scholle für unser deutsches Volk.“49 Indem Hitler an anderer Stelle zugleich das rassentheoretische Dogma formuliert, dass „Germanisation nur an Boden vorgenommen werden“ könne, „niemals“

45 Fest (wie Anm. 7), S. 291. 46 Hitler (wie Anm. 24), S. 42–69. 47 Hitler (wie Anm. 9), S. 270 sowie ders. (wie Anm. 24), S. 36 f. Zur Praxis der Zwangssterilisation im „Dritten Reich“ vgl. Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986, bes. S. 178–253. 48 Hitler (wie Anm. 24), S. 36. Nach 1933 wurden entsprechende Änderungen des Adoptionsrechts vorgenommen. Das „Gesetz gegen Mißbräuche bei der Eheschließung und der Annahme an Kindes statt“ vom 23. November 1933 setzte fest, dass eine Adoption untersagt werden dürfe, „wenn der Annehmende einer körperlich, geistig oder moralisch minderwertigen Sippe“ entstamme oder eine „erhebliche rassische Verschiedenheit der Beteiligten“ vorliege. Ein Gesetz vom 12. April 1938 ermöglichte wiederum die Aufhebung einer bereits vollzogenen Adoption, wenn hierzu ein „dringendes öffentliches Interesse“ bestand oder die Adoption als „sittlich nicht mehr gerechtfertigt“ galt. Diese Maßnahme war primär antisemitisch motiviert. So ordnete das Reichsministerium des Inneren am 20. September 1938 an, dass Anträge auf Aufhebung geschlossener Adoptionsverträge immer dann gestellt werden müssten, wenn ein Vertragsteil Jude oder mit einem Juden verheiratet war. Vgl. Werner Schubert, Das Adoptionsrecht in der NS-Zeit, in: HansGeorg Hermann (Hrsg.), Von den Leges Barbarorum bis zum ius barbarum des Nationalsozialismus. Festschrift für Hermann Nehlsen zum 70. Geburtstag, Köln 2008, S. 434–457. 49 Hitler (wie Anm. 24), S. 330. 74  Thomas Vordermayer

jedoch an Menschen50, weist Mein Kampf darüber hinaus bereits auf die spätere NS-Besatzungspolitik während des Zweiten Weltkriegs hin. Die feststehende Überzeugung jedenfalls, dass die autochthone Bevölkerung eines eroberten „Lebensraums“ niemals in das rassenbiologisch verstandene Kollektiv der „Volksgemeinschaft“ integriert werden könne, ließ letzten Endes nur drei besatzungspolitische Handlungsoptionen offen: Vertreibung, Versklavung oder Vernichtung.51 Offenkundige Übereinstimmungen zwischen Mein Kampf und der politischen Praxis des NS-Staats wie diese dürfen indes nicht den Blick auf die Widersprüche und Diskontinuitäten versperren, die sich bei diesem Vergleich ebenfalls ergeben. Natürlich löste das „Dritte Reich“ nicht alle Forderungen und Versprechen ein, die in Mein Kampf wie auch in anderen zentralen Schriften der „Kampfzeit“ formuliert worden waren. Hitlers Ankündigung einer „dereinst“ zu verwirklichenden „weise beschränkten Staffelung der Verdienste“52 – das heißt einer Verringerung der Lohndiskrepanz zwischen Arbeiterschaft und anderen Berufsgruppen – spielte in der realen nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik beispielsweise keine Rolle. Im Gegenteil: Ein staatlich verordneter Lohnstopp fror 1933 das Einkommen der Arbeiterschaft auf dem kargen Niveau der Weltwirtschaftskrise ein.53 Widersprüche dieser Art werden in der Kommentierung kenntlich gemacht. Insgesamt ist hinsichtlich Hitlers politischer Absichtserklärungen und Zukunftsentwürfe in Mein Kampf dem Urteil Ian Kershaws beizupflichten, wonach das Buch zwar kein bis ins Detail ausgearbeitetes politisches Programm enthält, sehr wohl aber „eine unmißverständliche Darlegung von Hit50 Ebd., S. 18. Als „Germanisation“ von Boden bezeichnete Hitler die Eroberung, Besiedelung und Urbarmachung fremden Territoriums durch die germanische Rasse. 51 Zu Hitlers Konzept der „Germanisation“ weiterführend: Andreas Wirsching, „Man kann nur Boden germanisieren“. Eine neue Quelle zu Hitlers Rede vor den Spitzen der Reichswehr am 3. Februar 1933, in: VfZ 49 (2001), S. 517–550. 52 Hitler (wie Anm. 24), S. 74. 53 Rüdiger Hachtmann, Industriearbeit im „Dritten Reich“. Untersuchungen zu den Lohn- und Arbeitsbedingungen in Deutschland 1933–1945, Göttingen 1989, bes. S. 90–153; Michael Schneider, Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999, bes. S. 517–552; Christoph Buchheim, Das NS-Regime und die Überwindung der Weltwirtschaftskrise in Deutschland, in: VfZ 56 (2008), S. 381–414, bes. S. 410–413. Hitlers Mein Kampf als wissenschaftliche Edition  75

lers politischen Prinzipien, seines Weltbildes“ sowie „seiner ‚Vision‘ der Gesellschaft und seiner langfristigen Ziele“54. Dieser Sachverhalt ist längst bekannt. Umso überraschender und befremdlicher wirkt die kürzlich von Wolfgang Benz vertretene These, Hitler habe in Mein Kampf „nichts darüber verlauten lassen, wie er den Staat und die Gesellschaft verändern wollte, wenn er dazu erst die Möglichkeit haben würde“55. Diese Deutung lässt sich letztendlich nur mit einer unzureichenden Kenntnis des Textes erklären. Auch das schlichte Verdikt einer grundsätzlichen „Banalität des Dokumentes“56 wird bei einem genaueren Blick in Mein Kampf rasch fragwürdig. Gewiss: Es fällt nicht schwer, einzelne Textpassagen von erheblicher unfreiwilliger Komik zu identifizieren. Man denke nur an die häufig zitierte Eingangspassage des Kapitels Volk und Rasse, in der „die ‚Eier des Kolumbus‘ zu Hunderttausenden herum“ liegen, die „Kolumbusse“ jedoch „seltener“ geworden sind und Hitler mit Blick auf die menschliche Sexualität das „auch nur zu natürlich[e]“ „Grundgesetz“ der Fortpflanzung beschwört, demzufolge „Fink zu Fink“, „Storch zur Störchin“, „Wolf zu Wolf “ und nicht zuletzt „Hausmaus zu Hausmaus“ gehe.57 Eine solche Passage als repräsentatives Abbild des gesamten Textes zu behandeln, wäre jedoch ein Fehler und letzten Endes eine Fortsetzung jener in der Tat „kaum glaubliche[n] Geschichte der Unterschätzung“58, die Mein Kampf lange begleitet hat. Zutreffend hingegen ist der Hin54 Kershaw (wie Anm. 38), S. 301 f. 55 Benz (wie Anm. 6), S. 892. Der Aussage von Benz wird in dem nachfolgenden Beitrag des ZfG-Themenhefts über Mein Kampf widersprochen, in dem Angelika Königseder bemerkt, Mein Kampf habe Hitler für eine „präzise Darlegung seiner künftigen Politik“ (Angelika Königseder, „Mein Kampf “: Entstehung und Verbreitung bis 1945, in: ZfG 60 (2012), S. 898–906, S. 900) gedient. Diese Deutung kommt den Tatsachen zwar näher, überzeichnet den Sachverhalt jedoch insofern, als erstens nicht alle Elemente der späteren NS-Politik in Mein Kampf vorweggenommen sind (Verweise auf die späteren Euthanasiemaßnahmen des „Dritten Reichs“ fehlen beispielsweise völlig) und zweitens keinesfalls alle Ankündigungen Hitlers als „präzise“ bezeichnet werden können. 56 Benz (wie Anm. 6), S. 897. 57 Hitler (wie Anm. 9), S. 300. 58 Eberhard Jäckel, Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft, Stuttgart 2 1981, S. 8. 76  Thomas Vordermayer

weis, Mein Kampf erkläre nicht Hitlers „Aufstieg zur Macht“59. Der Anspruch, eine Mitte der 1920er-Jahre entstandene historische Quelle müsse Ereignisse der Zukunft aus sich selbst heraus erklären können, ist indes unrealistisch. Gerade die begleitende intensive Sachkommentierung einer wissenschaftlichen Edition, die unter anderem die Verbreitung und gesellschaftliche Anschlussfähigkeit verschiedenster Ideologeme Hitlers beleuchtet, kann dieser Einschränkung jedoch wirksam begegnen.

Gegenstand von Diskussionen bis ins 21. Jahrhundert: Mein Kampf. Foto: Sebastian Schmitz, RWTH Aachen

59 Benz (wie Anm. 6), S. 892. Hitlers Mein Kampf als wissenschaftliche Edition  77

Ulrich Baumgärtner

Mein Kampf in deutschen Schulbüchern Fachwissenschaftliche Grundlagen und unterrichtspraktische Konsequenzen

Mein Kampf – Notre Combat

Als die französisch-tunesische Künstlerin Linda Ellia ein Exemplar von Adolf Hitlers Mein Kampf in Händen hielt, so berichtet sie, brannten ihre Finger: „Lorsque je me suis trouvée en possession du livre d‘Adolf Hitler: Mein Kampf, les doigts me brûlaient.“1 Dies war der Ausgangspunkt ihres internationalen Kunstprojekts, bei dem sie zunächst Künstlerkollegen, dann einer bunt zusammengewürfelten Schar von Teilnehmern jeweils eine Seite aus Hitlers Mein Kampf gab – mit der Bitte, diese umzugestalten. Seit 2005 setzten sich auf diese Weise mehr als 600 Menschen aus 17 Ländern mit Hitlers Propagandaschrift auseinander und ließen so ein „Gegen-Buch“ entstehen: Notre Combat – Unser Kampf. Da Linda Ellia als Kind in Tunesien Opfer antisemitischer Verfolgung wurde und das Land zusammen mit ihrer Familie verlassen musste, ist ihr dieser künstlerische Kampf gegen Rassismus ein persönliches Anliegen. Auf einem Blatt wird Hitlers Text mit den Folgen seiner Politik überschrieben und übermalt, indem der Holocaust durch Menschen, die im Schneesturm in den Tod ziehen, sowie durch Rauchsäulen, die aus einer KZ-Anlage aufsteigen, zeichnerisch vergegen­wärtigt 1 http://www.notrecombat.net/pages/fr/menu.htm (23.11.2013). Zur Künstlerin und ihrem Projekt neben dieser Homepage die Informationen zur Ausstellung im Nürnberger Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände im Jahr 2012: http://www.museen.nuernberg.de/download/download_dokuzentrum/ 2012_06_15_pi_notre_combat.pdf (3.1.2013); weiterhin Christoph Huber, Notre Combat – Unser Kampf. Ausstellung im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände, in: Einsichten und Perspektiven 2/2012, S. 138–143. Mein Kampf in deutschen Schulbüchern  79

Linda Ellia: Notre Combat – Unser Kampf. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin und der Stadt Nürnberg.

wird. Die Ablehnung von Hitlers Propagandaschrift und der darin vertretenen Weltanschauung verdichtet sich im deutlich sichtbaren „NON“.2 Dieses Kunstprojekt ist eine sehr persönliche und sehr kreative Antwort auf die Frage, wie mit Hitlers Mein Kampf umzugehen sei. Die Frage selbst ist aber unabhängig von der hier gefundenen Antwort hoch aktuell: Soll Hitlers Buch, wenn es nach 2015 nicht mehr dem Urheberrecht unterliegt, frei zugänglich sein? Kann und soll, wenn es frei käuflich sein sollte, die Rezeption gesteuert werden? Wie soll die Schule, insbesondere der Geschichtsunterricht, damit umgehen? Auch wenn diese Fragen im Folgenden nicht erschöpfend behandelt werden können, sind sie doch zu berücksichtigen, wenn untersucht wird, welche Rolle Mein Kampf in aktuellen deutschen Schulbüchern spielt. 2 Das Blatt findet sich unter: http://www.notrecombat.net/pages/en/menu.htm (23.11.2013). 80  Ulrich Baumgärtner

Dazu sollen zunächst, ausgehend von den fachwissenschaftlichen Grundlagen, verschiedene Kontexte benannt werden, in denen Hitlers Schrift als Quelle zu verorten ist. Auf dieser Basis erfolgt eine Schulbuchanalyse, um zu zeigen, welchen Stellenwert Mein Kampf momentan in diesem „Leitmedium“3 des Geschichtsunterrichts hat und welche der zuvor beschriebenen Kontexte relevant sind, um schließlich einige Thesen zum sachgerechten Umgang zu formulieren, mithin unterrichtspraktische Konsequenzen zu erörtern. Mein Kampf als Quelle

Betrachtet man Hitlers Mein Kampf als Quelle, lassen sich verschiedene Kontexte unterscheiden. Zunächst ist der Entstehungskontext zu bedenken, also das Zustandekommen des Werks vor allem während der Landsberger Haftzeit Hitlers nach dem misslungenen Putschversuch in München. Auch wenn Hitler bereits vor dem 9. November 1923 auf vielfältige Weise propagandistisch tätig war, lässt sich nicht entscheiden, ob es Vorentwürfe zu einer umfassenden Darstellung seiner Gedanken gab.4 Sicher ist hingegen, dass er erst im Gefängnis Zeit für ausführlichere Aufzeichnungen fand. Allerdings entstand so kein in sich geschlossenes Werk, sondern Hitler schrieb vielmehr einzelne Kapitel, die er bis zur Veröffentlichung immer wieder überarbeitete, ergänzte und neu gruppierte. Es handelte sich mithin eher um ein „work in progress“, das im Blick auf das aktuelle Tagesgeschehen immer wieder verändert wurde. Eine besondere Schwierigkeit beim Versuch, die Entstehung des Buches zu rekonstruieren, stellt dabei das Fehlen des Manuskripts dar.5 3 Bernd Schönemann/Holger Thünemann, Schulbucharbeit. Das Geschichtslehrbuch in der Unterrichtspraxis, Schwalbach am Taunus 2010, S. 7: „Trotz zunehmender Konkurrenz gilt das Schulbuch nach wie vor als Leitmedium des Geschichtsunterrichts.“ 4 Othmar Plöckinger, Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers „Mein Kampf “ 1922–1945, München 22011, S. 27: „Der Befund zur Frage nach möglichen Vorstufen von Mein Kampf fällt zwiespältig aus.“ 5 Zur Entstehungsgeschichte ausführlich Plöckinger (wie Anm. 4), S. 29–157, zum Manuskript S. 153–157; neuerdings: Angelika Königseder, „Mein Kampf “: Entstehung und Verbreitung bis 1945, in: ZfG 60 (2012), S. 898–906. Mein Kampf in deutschen Schulbüchern  81

Entstehungs- und Publikationskontext sind daher eng miteinander verbunden. Auch der Titel Mein Kampf. Eine Abrechnung stand lange nicht fest und war ein „Zufallsprodukt“6. Der erste Band erschien schließlich nach ersten Vorveröffentlichungen am 18. Juli 1925 in einer Auflage von 10.000 Stück; die 2. Auflage verkaufte sich deutlich schlechter. Erst am 10. bzw. 11. Dezember 1926 erschien der zweite Band mit dem Untertitel Die nationalsozialistische Bewegung in derselben Auflagenhöhe, stieß allerdings auf deutlich geringeres Käuferinteresse.7 Dies lag vermutlich zum einen daran, dass der Protagonist des November-Putsches von 1923 in den relativ stabilen Jahren der Weimarer Republik an politischer Bedeutung verloren hatte. Zum anderen bediente der erste Band mit seinen autobiografischen Elementen das öffentliche Interesse an Kriegserinnerungen, das allerdings wegen des breiten Angebots einschlägiger Publikationen und mit wachsender zeitlicher Distanz abflaute. Zu diesem Zeitpunkt stand Hitlers Buch noch in Konkurrenz zu Alfred Rosenbergs Abhandlung Mythus des 20. Jahrhunderts, die ebenfalls beanspruchte, die nationalsozialistische Ideologie letztgültig zu formulieren.8 Die Erfolgsgeschichte von Mein Kampf begann erst, als es 1930 eine einbändige „Volksausgabe“ gab, die angesichts der Wahlerfolge der NSDAP bei der Reichstagswahl im gleichen Jahr auf größere Resonanz stieß. Die Verkaufszahlen erhöhten sich bis 1932 jährlich auf über 80.000 Exemplare und erreichten bis Ende dieses Jahres eine Gesamtauflage von 227.917 Stück.9 Damit setzte sich das Buch auch gegenüber konkurrierenden Werken wie etwa Rosenbergs Schrift als authentische Darstellung der nationalsozialistischen Ideologie durch. Der Publikationszusammenhang ist jedoch nicht nur in dieser frühen Zeit interessant. Gerade während der nationalsozialistischen Herrschaft stiegen die Auflagenzahlen von Mein Kampf noch einmal deutlich an, sodass jährlich mitunter mehr als 1,6 Millionen Exemplare verkauft wurden und insgesamt davon auszugehen ist, dass Hitlers Schrift bei 6 Plöckinger (wie Anm. 4), S. 86: „Tatsächlich ist der Titel Mein Kampf ein Zufallsprodukt, eng verbunden mit der Entstehungsgeschichte des Buches.“ Vgl. zusammenfassend ebd., S. 86–89. 7 Ebd., S. 175–179. 8 Ebd., S. 173–175. 9 Siehe die Aufstellung bei ebd., S. 183. 82  Ulrich Baumgärtner

Kriegsende in deutlich mehr als zwölf Millionen Exemplaren kursierte.10 Daran, dass zudem verschiedene Sonder- und Jubiläumsausgaben publiziert wurden, ist erkennbar, dass dem Buch, das schon vor 1933 als „Bibel“ der Bewegung galt, in der nationalsozialistischen Propaganda eine besondere, gleichsam sakrale Aura zugesprochen wurde. Aber auch nach 1945 wurde der Publikationskontext wieder aktuell – und er ist es bis heute. Mit dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft wurde der nachmalige Freistaat Bayern zum Rechtsnachfolger des Zentralverlags der NSDAP Franz Eher Nachf. GmbH und damit zum Inhaber des Urheberrechts. Das bayerische Finanzministerium hat bislang stets versucht, jede Publikation von Mein Kampf – und auch von anderen nationalsozialistischen Propagandaschriften – zu unterbinden. Konnte sich der britische Verleger Peter McGee zunächst mit seinem Plan durchsetzen, Zeitungen aus dem „Dritten Reich“ im Rahmen der Reihe Zeitungszeugen zu veröffentlichen,11 verzichtete er zuletzt darauf, nachdem er im März 2012 vor Gericht eine Niederlage erlitten hatte, Passagen aus Mein Kampf dieser Publikation beizulegen.12 Angesichts des im Jahr 2015 – 70 Jahre nach dem Tod des Autors Adolf Hitler – auslaufenden Urheberrechts soll es nach dem Willen des bayerischen Landtags und der bayerischen Staatsregierung sowohl eine wissenschaftliche Edition als auch eine kommentierte Ausgabe für ein breiteres Publikum geben.13 Auf Befürchtungen wegen der ungebrochenen propagandistischen Wirkung des Werks reagierte das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus mit der Ankündigung, ein

10 Ebd. S. 184–188, insbesondere die Übersicht auf S. 186. 11 Pressemitteilung des Landgerichts München vom 25.3.2009: http://www.justiz. bayern.de/gericht/lg/m1/presse/archiv/2009/01922/ (3.1.2013); vergleiche zur Debatte den Beitrag von Christian Kuchler in diesem Band. 12 Sergey Lagodinsky, „Mein Kampf “ vor Gericht. Zur Klage des Freistaats Bayern gegen eine Sammlung kommentierter Zitate, in: ZfG 60 (2012), S. 928–945; weiterhin die Pressemitteilung des Landgerichts München vom 8.3.2012: http:// www.justiz.bayern.de/gericht/lg/m1/presse/archiv/2012/03415/ (3.1.2013). 13 Bayerischer Landtag, Drucksache 16/12541 vom 11.5.2012, http://www1.bayern. landtag.de/webangebot1/servlet/Vorgangsmappe?wp=16&typ=V&drsnr=125 41&intranet=#pagemode=bookmarks (3.1.2013). Mein Kampf in deutschen Schulbüchern  83

Verbot des Buches in Erwägung zu ziehen.14 Der Landtagsausschuss für Hochschule, Forschung und Kultur kam im November 2012 zu der Überzeugung, zwar die wissenschaftliche Edition weiterzuverfolgen, gleichzeitig aber eine Expertenkommission einzuberufen, die die Publikation einer kommentierten Ausgabe noch einmal prüfen soll.15 Die aktuelle Situation stellt sich so dar, dass die bayerische Staatsregierung endgültig von ihrer ursprünglichen Position abgerückt ist und die Publikation von Mein Kampf inzwischen gestoppt hat. Gleichwohl ist das Institut für Zeitgeschichte entschlossen, die Edition fortzusetzen.16 Trotz der restriktiven Haltung des Freistaats Bayern gab es immer wieder Veröffentlichungen von Hitlers Mein Kampf, die sich allerdings auf Auszüge beschränkten und mit entsprechenden Kommentierungen versehen waren.17 Zwischenzeitlich ist der Text auch im Internet pro­ blemlos zugänglich. Um einen besonderen Aspekt des Publikationskontextes handelt es sich auch, wenn in Schulbüchern Auszüge von Hitlers Mein Kampf abgedruckt werden. In engem Zusammenhang mit dem Publikationskontext steht der quellenkundliche Kontext, der sich zeigt, wenn das Buch als Verlagsobjekt, als bibliophile Besonderheit oder als Sachquelle betrachtet wird. Hierbei geht es nicht oder erst in zweiter Linie um den Inhalt, sondern die Ausstattung als Sonderausgabe lässt etwa, wie bereits erwähnt, auf die Bedeutung als Herrschaftssymbol schließen. Gebrauchsspuren und Kommentare weisen auf die Verbreitung und Rezeption hin. Nachträg14 Pressemitteilung des Bayerischen Ministeriums für Unterricht und Kultus vom 24.10.2012: http://www.km.bayern.de/pressemitteilung/8280/nr260-vom-24-10-2012.html (3.1.2013). 15 Zur Tagesordnung des Ausschusses: http://www.bayern.landtag.de/webangebot2/ webangebot/tagesordnung?execution=e5s1 (3.1.2013) sowie die Presseberichterstattung: http://www.sueddeutsche.de/kultur/debatte-um-hitlers-kampfschrifthandreichungen-zu-mein-kampf-1.1542724 (3.1.2013). 16 Vgl. z.B. http://www.ifz-muenchen.de/uploads/media/13-12-11_PM_Mein_ Kampf.pdf (2.2.2014). Über die aktuelle Diskussion informiert: http://www. ifz-muenchen.de/aktuelles/themen/edition-mein-kampf/medienlinkliste-meinkampf/ (2.2.2014). 17 Hier sind vor allem zu nennen: Christian Zentner, Adolf Hitlers Mein Kampf. Eine kommentierte Auswahl, München u. a. 81992; Werner Maser, Hitlers Mein Kampf. Entstehung, Aufbau, Stil, Änderungen, Quellen, Quellenwert, kommentierte Auszüge, München 21966. 84  Ulrich Baumgärtner

lich entfernte Besitzvermerke illustrieren den Umgang mit dem Buch nach Kriegsende, kurz: die Entnazifizierung mit der Schere nach 1945. Bei der Betrachtung des Inhalts von Mein Kampf tritt zunächst der biografische bzw. autobiografische Kontext, der ja für den ersten Band mit dem Titel Eine Abrechnung maßgeblich ist, in den Vordergrund. Immerhin liegt damit eine Lebensbeschreibung vor, denn: „Das Hauptproblem einer Biographie des jungen Hitler besteht in der desolaten Quellenlage.“18 Doch sind die dortigen Angaben mit äußerster Vorsicht zu genießen, da der Autor seinen bisherigen Lebensweg, wie dies für Autobiografien typisch ist, stilisiert. Hinzu kommt, dass Hitler später diese Darstellung zur allein gültigen erklären und sorgsam darüber wachen ließ, dass keine anderen Informationen an die Öffentlichkeit drangen. Dies begünstigte eine ausufernde Legendenbildung, zu der Hitler selbst durch nachträgliche Ausschmückungen beitrug.19 Insofern lassen sich aus dem Text zwar biografische Informationen entnehmen, die jedoch stets kritisch überprüft werden müssen und sich oft genug als unzutreffend herausstellen. Immer wieder wird dabei deutlich, „wie sehr Mein Kampf eine politische Propagandaschrift ist und wie wenig eine ‚Autobiographie‘“20. Allerdings bietet dieser „bramarbarsierende Monolog des Autisten Adolf Hitler“21 einen Einblick in seine Gefühls- und Gedankenwelt. Gerade wenn er seinen Lebenserfahrungen einen bestimmten Sinn unterlegt und seine politischen Ansichten durch persönliche Erlebnisse beglaubigt, ist diese Gedankenbewegung höchst aufschlussreich für sein Denken und seine Weltanschauung.22

18 Brigitte Hamann, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München 1998, S. 8. Vgl. auch die einschlägigen Kapitel in: Ian Kershaw, Hitler. 1889–1936, München 2002. 19 Hamann (wie Anm. 18), S. 280f. 20 Ebd., S. 210. 21 Wolfgang Benz, „Mein Kampf “ – Aufklärung und Geschichtspolitik, politische Moral und Interessen, in: ZfG 60 (2012), S. 889–897, hier S. 890. 22 Hierzu Barbara Zehnpfennig, Hitlers Mein Kampf. Eine Interpretation, München 2 2002, S. 32–34. Mein Kampf in deutschen Schulbüchern  85

Der Inhaltskontext ist allerdings der dominierende, findet sich doch in diesem „Pamphlet eines Besessenen“23 „Hitlers Weltanschauung“24 gleichsam in Reinform. Die Forschungsgeschichte macht dabei deutlich, dass sich diese Einsicht erst allmählich durchsetzte.25 Nachdem das Buch kaum beachtet wurde,26 konzentrierten sich die ersten Arbeiten auf die Publikationsgeschichte, bevor in den 1960er-Jahren der ideologische Gehalt genauer untersucht wurde.27 Nach ersten Ansätzen bei Werner Maser analysierte Eberhard Jäckel systematisch die Aufzeichnungen Hitlers und erkannte darin eine in sich konsistente Weltanschauung. Als zentrale Elemente der NS-Ideologie bestimmte er die „Eroberung von Raum“ und die „Entfernung der Juden“.28 In der Folgezeit beschrieb Brigitte Hamann, ausgehend von den Hinweisen in Mein Kampf, die „Lehrjahre eines Diktators“29; Rainer Zitelmann entdeckte in Hitlers Vorstellungen revolutionäres Potenzial,30 während Enrico Syring die utopischen Dimensionen in seinem Denken betonte.31 Barbara Zehnpfennig legte einen eingehenden Kommentar zu Hitlers Mein Kampf vor, in dem sie, hermeneutisch vorgehend, die Gedankenbewegung von Hitlers Argumentation nachzeichnet.32 Eine 23 Benz (wie Anm. 21), S. 892. 24 Eberhard Jäckel, Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft, Stuttgart 2 1983. 25 Plöckinger (wie Anm. 4), S. 1–5; Zehnpfennig (wie Anm. 21), S. 15–28; Björn Dumont, Gewebe oder Fleckenteppich? Textmuster in Adolf Hitlers „Mein Kampf “, Berlin 2011, S. 15–27; Swantje Krämer, Hitlers Weltanschauung in „Mein Kampf “. Von der Genese zur Manifestation, Wiesbaden 2010, S. 23–35. 26 Allerdings gab und gibt es diverse Aufklärungsschriften, stellvertretend: Rudolf Gattermann, Du und Hitler. An einen unbekannten jungen Freund, Lauf 1946; Max-Joseph Halhuber/Ferdinand Obenfeldner/Anton Pelinka, „Mein Kampf “ – heute wieder gelesen, Innsbruck 1993; Karl Raab/Ralf Brandner, Hitlers Lügengebäude. Hätten Sie doch nur Hitlers Bekenntnisbuch „Mein Kampf “ studiert!, Norderstedt 2005. 27 Hier ist vor allem zu nennen: Karl Lange, Hitlers unbeachtete Maximen. „Mein Kampf “ und die Öffentlichkeit, Stuttgart u. a. 1968. 28 Jäckel (wie Anm. 24), S. 29–78. 29 Hamann (wie Anm. 18). 30 Rainer Zitelmann, Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs, München 41998. 31 Enrico Syring, Hitler. Seine politische Utopie, Berlin 1994. 32 Zehnpfennig (wie Anm. 22). 86  Ulrich Baumgärtner

knappe Zusammenfassung bietet die Arbeit von Swantje Krämer.33 Daneben sind sprachwissenschaftlich inspirierte Untersuchungen etwa zum propagandistischen Gehalt34 oder zu Textmustern35 zu erwähnen. Einigkeit besteht darin, dass Hitlers Ausführungen, auch wenn sie wenig originell sind und viele gängige Vorstellungen der damaligen Zeit bündeln, keineswegs wirre Gedanken sind, sondern durchaus eine innere Logik besitzen, bei der ideologische Elemente wie Sozialdarwinismus und Volksgemeinschaftsideologie, Rassismus und Antisemitismus, Führerkult und Antiparlamentarismus, Antimarxismus und Nationalismus zusammengefügt werden. Umstritten ist allerdings, inwieweit diese Ideen für ihn handlungsleitend oder gar handlungsbestimmend waren. Sie lassen sich nämlich im Hinblick auf die politische Umsetzung analysieren – damit ist der Wirkungskontext angesprochen. Nachdem Jäckels Untersuchung Hitlers Weltanschauung aus dem Jahr 1969 bereits den Untertitel Entwurf einer Herrschaft trug, nannte er sein Folgewerk von 1986 Hitlers Herrschaft. Vollzug einer Weltanschauung.36 Damit vertrat er dezidiert eine Position, die, mit dem Schlagwort „Intentionalismus“ etikettiert, von der Annahme ausgeht, dass die nationalsozialistische Politik einer rationalen und zielgerichteten Planung – überspitzt formuliert: Hitlers Masterplan – folgte. Demgegenüber vertraten die Forscher, die dem „Strukturalismus“ bzw. „Funktionalismus“ zuzurechnen sind, die Meinung, dass die Eigendynamik des Herrschaftssystems maßgeblich die einzelnen Entscheidungen hervorbrachte, mithin Hitler – wieder überspitzt formuliert – als schwacher Diktator zu gelten hat.37 Die Ideen, die Hitler in seinem Buch vertritt, lassen sich ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen – dann wird der ideengeschichtliche Kontext 33 Krämer (wie Anm. 25). 34 Sigrid Frind, Die Sprache als Propagandainstrument in der Publizistik des Dritten Reiches untersucht an Hitlers „Mein Kampf “ und den Kriegsjahrgängen des „Völkischen Beobachters“, Berlin 1964. 35 Dumont (wie Anm. 25), bes. S. 159–162, weist darauf hin, dass Hitlers Buch wegen vielfältiger Textmustermischungen wenig konsistent erscheint. 36 Jäckel (wie Anm. 24); ders., Hitlers Herrschaft. Vollzug einer Weltanschauung, Stuttgart 1986. 37 Als Überblick über die inzwischen verblasste Forschungskontroverse: Ulrich von Hehl, Nationalsozialistische Herrschaft, München 22001, S. 60–66; Klaus Hildebrand, Das Dritte Reich, München 72009, S. 166–175, 221–232. Mein Kampf in deutschen Schulbüchern  87

des Buches deutlich. Insbesondere seine Wiener Zeit gilt hier als besonders prägend.38 Die Hauptstadt der Habsburgermonarchie war ein Zentrum darwinistischer, völkischer und rassistischer, insbesondere antisemitischer Ideologien, die oft den „Gehirnen eigenbrötlerischer ‚Privatgelehrter‘ entsprangen“; neben Stewart Houston Chamberlain sind Autoren wie Guido von List, Lanz von Liebenfels oder Otto Weininger zu nennen.39 Hitler saugt diese Gedanken, die er oft nicht in ihrer originalen Form rezipiert, sondern die er in populären Schriften verschiedenster Art kennenlernt, begierig auf und „bildet sich eine sehr übersichtliche Weltanschauung, indem er deutlich bipolare Theorien bevorzugt“40. Hinzu kam die prägende Wirkung von alldeutsch und antisemitisch gesinnten Politikern wie Georg Schönerer, Franz Stein oder Karl Lueger.41 Die Auseinandersetzung mit Hitlers Mein Kampf setzte früh ein und beschränkte sich nicht auf die Anhänger Hitlers. Dies verweist, wie bereits angedeutet, auf den Rezeptionskontext. Es lassen sich dabei zwei Phasen unterschieden: die Rezeption bis 1933 mit einem Höhepunkt im Jahr 1932 und die zwischen 1933 und 1945, als Mein Kampf als „Herrschaftssymbol“ etabliert und wegen der flächendeckenden Verbreitung und der systematischen Indoktrination als „Herrschaftsinstrument“ benutzt wurde, mithin „Bibel der Bewegung“ war.42 Festzuhalten bleibt dabei, dass Hitlers Buch bereits vor 1933 relativ breit und aufmerksam rezipiert und sein Inhalt nach 1933 im Rahmen der NS-Propaganda systematisch verbreitet wurde. Die Behauptung, es habe sich um ein ungelesenes Buch

38 Hamann (wie Anm. 18), S. 9: „Daß die sechs Wiener Jahre trotzdem Lehrjahre für den Politiker Hitler waren, zeigt sich erst im nachhinein. Denn als er ab 1919 in Deutschland in die Öffentlichkeit ging, tat er dies vor allem mit jenen Parolen, die er in Wien lernte, und mit jenen Methoden, die er von seinen Wiener politischen Vorbildern übernahm.“ 39 Hamann (wie Anm. 18), S. 333; vgl. ebd., S. 285–336 den Überblick über die verschiedenen Strömungen. 40 Ebd., S. 334. 41 Ebd., S. 337–435. 42 Plöckinger (wie Anm. 4), S. 349–353, 405–444; die Zitate benennen die Leitbegriffe Plöckingers; weiterhin: Königseder, Kampf (wie Anm. 5). 88  Ulrich Baumgärtner

gehandelt, muss trotz der Schwierigkeiten, eine systematische Rezeption nachzuweisen, als Mythos gelten.43 Schließlich ist der Aufarbeitungskontext zu bedenken. Der Umgang mit Hitlers Mein Kampf nach 1945 ließe sich zwar als dritte Phase der Rezeptionsgeschichte beschreiben, doch beruht die Auseinandersetzung wegen des Nachdruckverbots und der öffentlichen Ächtung des Nationalsozialismus auf grundsätzlich anderen Voraussetzungen als vor 1945. Sie ist Teil der mitunter sogenannten Vergangenheitsbewältigung. So ist die Verbreitung des Buches nach Kriegsende schwer abzuschätzen,44 doch war es stets soweit zugänglich, dass man zu Recht von einem „Mythos des ‚verbotenen Buches‘“ sprechen kann.45 Dabei ist neben der wissenschaftlichen Auseinandersetzung, von der schon kurz die Rede war, auch der journalistische Umgang mit dem Werk zu betrachten, etwa in Form von Zeitschriftenbeiträgen46 oder Dokumentarfilmen.47 Aktuell spitzt sich die Auseinandersetzung auf die Frage „Verbot oder Edition?“ zu.48 Hinzu kommen Phänomene der Geschichtskultur – sei es der 1968

43 Plöckinger (wie Anm. 4) stellt auf S. 240 fest: „Mein Kampf wurde in diesem Jahr [1932] zum Allgemeingut“, und auf S. 443: „Sicher ist, dass Hitlers Buch in Literatur und Wissenschaft, Schule, Verwaltung und Militärführung omnipräsent war. Inwieweit von der bloßen Präsenz des Buches auf eine Auseinandersetzung oder gar Identifizierung mit der in Mein Kampf propagierten Inhalte geschlossen werden kann, sei dahingestellt.“ 44 Marion Neiss, „Mein Kampf “ nach 1945. Verbreitung und Zugänglichkeit, in: ZfG 60 (2012), S. 907–914, hier S. 914: „Wie groß Angebot und Nachfrage zum Buch Mein Kampf tatsächlich sind, bleibt im Dunkeln.“ 45 Benz (wie Anm. 21), S. 891. 46 Vom gescheiterten Versuch, der Publikationsreihe Zeitungszeugen Auszüge aus Mein Kampf beizulegen, war schon die Rede. Die Zeitschrift Cicero widmete im November 2012 ihre Titelgeschichte dem Thema. 47 Hierzu die Dokumentation „Mein Kampf – Geschichte einer Hetzschrift“ des französischen Filmemachers Antoine Vitkine, http://www.arte.tv/de/mein-kampfgeschichte-einer-hetzschrift/2014698,CmC=2014694.html (3.1.2013) sowie die Buchfassung: Antoine Vitkine, Mein Kampf. Histoire d’un livre, Paris 2009. 48 So ergriffen sowohl die Zeitschrift für Geschichtswissenschaft unter der zitierten Fragestellung in ihrem Themenheft (11/2012) als auch Cicero mit der Titelgeschichte „Hitlers letzte Bombe. Warum ‚Mein Kampf ‘ freigegeben werden muss“ (November 2012) Partei für eine Veröffentlichung. Mein Kampf in deutschen Schulbüchern  89

erschienene Cartoon-Band von Kurt Halbritter,49 sei es das Theaterstück Mein Kampf von George Tabori aus dem Jahr 198750 oder der darauf aufbauende gleichnamige Film von 2011,51 seien es die Lesungen von Helmut Qualtinger52 oder Serdar Somuncu53, seien es nicht unproblematische Internetangebote,54 sei es das ironische Zitat im Webcomic „hipsterhitler“55, oder sei es das schon eingangs geschilderte Kunstprojekt von Linda Ellia. Mein Kampf im Schulbuch

Der Verwendung von Mein Kampf in deutschen Schulbüchern ist somit nicht nur ein Aspekt des Publikationskontextes, sondern auch dem Aufarbeitungskontext zuzurechnen. Im Folgenden soll nun untersucht werden, wie Hitlers Propagandaschrift im Schulbuch begegnet und welche der eben beschriebenen Kontexte realisiert werden. Zuvor sind jedoch einige grundsätzliche Bemerkungen zum Medium Schulbuch notwendig.56 Schulbücher sind insofern besondere Publikationen, als sie zum einen in ihrer heutigen Erscheinungsform hybride Medien sind, die eine Viel49 Kurt Halbritter, Adolf Hitlers Mein Kampf. Gezeichnete Erinnerungen an eine Große Zeit, Frankfurt am Main 1968. 50 George Tabori, Mein Kampf. Farce, Berlin 1988. 51 http://www.nordwestfilm.ch/mein_kampf_index.html (23.11.2013). 52 Adolf Hitler. Mein Kampf. Eine Lesung von Helmut Qualtinger, 2 CDs, Wien 1973. 53 Serdar Somuncu liest aus dem Tagebuch eines Massenmörders – Mein Kampf, CD, Köln 2000. 54 Stellvertretend das Angebot http://www.hitler-mein-kampf.de/index.html (3.1.2013). Diese dem Verkauf des Buches dienende Seite beinhaltet auch ein Gästebuch, das neonazistischen Kreisen ein Forum bietet. Hierzu: Neiss (wie Anm. 43). 55 http://hipsterhitler.com/comics/typewriter/ (3.1.2013). In diesem Webcomic, der eine Kritik an der veräußerlichten Hipster-Kultur mit ironischen Bezugnahmen auf das „Dritte Reich“ verbindet, erhält Hitler von Goebbels eine Schreibmaschine, mit der er Mein Kampf schreiben will, um dann wütend festzustellen, dass die Schrifttype „Arial“ ist und nicht, wie auf Hitlers T-Shirt gewünscht, „heilvetica“[!]. 56 Einen guten Überblick bieten Schönemann/Thünemann (wie Anm. 3). 90  Ulrich Baumgärtner

zahl verschiedener Elemente enthalten: Darstellungstexte, Quellen und Materialien, Karten, Arbeitsaufträge, Zusammenfassungen, Methodenanleitungen, Lesetexte, Glossare und vieles mehr. Sie sind mithin Sachbuch, Quellensammlung, Atlas, Arbeitsbuch, Lernkompendium, methodische Gebrauchsanleitung, Lesebuch und Nachschlagewerk zugleich. Zum anderen sind Schulbücher speziell für den Schulgebrauch gemacht. Sie müssen sich an den Lehrplanvorgaben orientieren, ministeriell genehmigt werden und im Unterricht einsetzbar sein. Diese Gattungsbesonderheiten sind bei der Schulbuchanalyse stets zu bedenken. Vor diesem Hintergrund soll es im folgenden Überblick lediglich darum gehen zu beschreiben, welche der eben beschriebenen Kontexte von Hitlers Mein Kampf aufgegriffen und wie diese im Schulbuch medial präsentiert werden. Die folgenden Bemerkungen stellen somit keine eingehende Analyse und erst recht kein Werturteil über die jeweiligen Schulbücher selbst dar, sondern werfen Schlaglichter auf die Präsenz von Mein Kampf als historische Quelle im Geschichtsunterricht. Zwar gibt die Tatsache, dass Auszüge aus Hitlers Propagandaschrift in Schulbüchern begegnen, noch keinen Aufschluss, ob der Text tatsächlich besprochen wird. Es lässt sich aber vermuten, dass das Geschichtsschulbuch als Leitmedium des historischen Lernens in der Schule durchaus prägende Wirkung für das konkrete Unterrichtsgeschehen hat. So zeigte sich etwa im Rahmen einer empirischen Untersuchung über die Behandlung des Nationalsozialismus, dass dessen Ideologie im Allgemeinen und Hitlers Buch im Besonderen durchaus im Unterricht thematisiert wurden.57 Da angesichts des bundesrepublikanischen Kulturföderalismus die Zahl von Schulbüchern schier unüberschaubar ist, beschränkt sich die folgende Analyse auf in Nordrhein-Westfalen zugelassene Werke,58 die allerdings oft mit geringen Abweichungen von den Schulbuchverlagen in verschiedenen Bundesländern angeboten werden. Es handelt sich im Einzelnen um folgende Werke: 57 Wolfgang Meseth/Matthias Proske/Frank-Olaf Radtke, Nationalsozialismus und Holocaust im Geschichtsunterricht. Erste empirische Befunde und theoretische Schlussfolgerungen, in: Dies. (Hrsg.), Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts, Frankfurt am Main u. a. 2004, S. 158–188, hier S. 180–184. 58 Entsprechende Übersichten in: http://www.schulministerium.nrw.de/BP/Unterricht/Lernmittel/ (3.1.2013). Mein Kampf in deutschen Schulbüchern  91

Schulbuch Durchblick

Geschichte konkret

Reise in die Vergangenheit

Denk mal Horizonte

Zeiten und Menschen 2 Zeiten und Menschen 3 Mosaik

Geschichte und Geschehen Forum Geschichte

Das waren Zeiten Horizonte (S II)

Geschichte und Geschehen (S II) Geschichtsbuch (S II)

92  Ulrich Baumgärtner

Holger Hartlieb u.a., Durchblick. Geschichte/ Politik 9/10. Nordrhein-Westfalen, Braunschweig 2005 [kein Darstellungstext] Hans-Jürgen Pandel (Hrsg.), Geschichte konkret 3. Ein Lern- und Arbeitsbuch, Braunschweig 2005 Hans Ebeling/Wolfgang Birkenfeld, Die Reise in die Vergangenheit. Arbeitsbuch Geschichte und Politik, Bd. 9/10, Braunschweig 2009 Johannes Derichs u. a., denk mal Geschichte 3, Braunschweig 2012 Ulrich Baumgärtner/Klaus Fieberg (Hrsg.), Horizonte 3. Geschichte Gymnasium Nordrhein-Westfalen, Braunschweig 2009 Hans-Jürgen Lendzian (Hrsg.), Zeiten und Menschen 2, Braunschweig u. a. 2006 Hans-Jürgen Lendzian (Hrsg.), Zeiten und Menschen 3, Braunschweig u. a. 2009 Joachim Cornelissen u. a. (Hrsg.), Mosaik. Der Geschichte auf der Spur, D 3: Vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Gegenwart, München 2009 Michael Sauer (Hrsg.), Geschichte und Geschehen 3, Stuttgart 2009 Hans-Otto Regenhardt (Hrsg.), Forum Geschichte kompakt 2. Vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur Gegenwart, Berlin 2008 Dieter Brückner/Harald Focke (Hrsg.), Das waren Zeiten 3, Bamberg 2010 Frank Bahr (Hrsg.), Horizonte III. Geschichte für die Oberstufe. Von der Weimarer Republik bis zum Ende des 21. Jahrhunderts, Braunschweig 2006 Daniela Bender u. a., Geschichte und Geschehen. Neuzeit. Oberstufe, Stuttgart 2006 Hilke Günther-Arndt u. a. (Hrsg.), Geschichtsbuch Oberstufe, Bd. 2: 20. Jahrhundert, Berlin 1996

Schulbuch Ulrich Scholz, Deutschland im 20. Jahrhundert – Zwischen Demokratie und Diktatur, Braunschweig 2005 [= Thema Geschichte] Dirk Hoffmann/Friedhelm Schütze, Weimarer Republik und nationalsozialistische Herrschaft. Deutschland zwischen Demokratie und Diktatur, Paderborn 1993 [Geschichts-Kurse für die Sekundarstufe II] Daniel Henri u. a. (Hrsg.), Histoire/ Geschichte. Europa und die Welt vom Wiener Kongress bis 1945, Leipzig 2008

Themenheft „Deutschland“

Themenheft „Weimar/NS“

Histoire/Geschichte

Eine erste Durchsicht zeigt, dass Mein Kampf in fast allen Werken präsent ist, allerdings vor allem in den Kapiteln zum Nationalsozialismus, dann deutlich geringer in den Teilen, die der Weimarer Republik gewidmet sind, und gar nicht in den Passagen, die sich auf die Nachkriegszeit beziehen. Lediglich denk mal, Geschichte und Geschehen und Geschichtsbuch (S II) verzichten auf eine explizite Erwähnung, wenngleich damit zusammenhängende Aspekte wie etwa die NS-Ideologie auch in diesen Büchern thematisiert werden. Dabei nehmen die Schulbuchautoren oft in den Darstellungstexten (D) direkt oder indirekt, d. h. ohne den Titel zu erwähnen, was mit dem Symbol () zum Ausdruck gebracht wird, auf das Werk Bezug und/oder verwenden fast immer wörtliche Auszüge in den Materialteilen (M). Schulbuch

Weimar D

Durchblick Geschichte konkret Reise in die Vergangenheit denk mal Horizonte Zeiten und Menschen 2 Zeiten und Menschen 3 Geschichte und Geschehen Mosaik Forum Geschichte

M

Nationalsozialismus Nachkriegszeit D



M   

 



 () 

  





 ()

 

D

M

Mein Kampf in deutschen Schulbüchern  93

Schulbuch Das waren Zeiten Horizonte (S II) Geschichte und Geschehen (S II) Geschichtsbuch (S II) Themenheft „Deutschland“ Themenheft „Weimar/NS“ Histoire/Geschichte

Weimar D 

M

Nationalsozialismus Nachkriegszeit D  

M   

()



  D = Darstellungsteil M = Materialteil

D

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Auffallend, aber nicht unbedingt überraschend ist, dass Mein Kampf vor allem als Quelle für die Epoche des Nationalsozialismus Verwendung findet und dass in Schulbüchern der Inhaltskontext dominiert. In den Passagen bzw. Kapiteln zur nationalsozialistischen Ideologie kommt Hitlers Schrift oft – aber nicht immer – ein prominenter Platz zu. Sie wird als Quelle der NS-Ideologie im Darstellungstext erwähnt und/oder auszugsweise zitiert, um zentrale Aspekte von „Hitlers Weltanschauung“ zu verdeutlichen. In diesem Zusammenhang erfolgt dabei mitunter ein Hinweis auf die Quellen für die NS-Ideologie überhaupt.59 Zudem wird gelegentlich auch der Charakter der nationalsozialistischen Weltanschauung hervorgehoben, dass nämlich von „einem geschlossenen Weltbild“ auszugehen sei.60 Am Beispiel von Forum Geschichte lässt sich dies verdeutlichen: Ausgehend von der Frage, „warum die Nationalsozialisten in Deutschland so erfolgreich waren“, wird darauf verwiesen, dass die „Grundelemente ihrer Ideologie […] weit verbreitet waren“. Ohne allerdings Mein Kampf im einführenden Text explizit zu erwähnen, folgen dann vier Auszüge zu „Volk und Rasse“, „Der Jude“, „Lebensraum im Osten“ und „Führerprinzip“.61 Dies ist durchaus repräsentativ:

59 Stellvertretend: Histoire/Geschichte, S. 260; Mosaik, S. 58; Horizonte, S. 80. 60 Geschichte und Geschehen (S II), S. 269. 61 Forum Geschichte, S. 52. 94  Ulrich Baumgärtner

Antisemitismus bzw. Rassismus,62 Lebensraum63 und Führerprinzip64 sind die entscheidenden Stichworte für die ausgewählten Zitate. Dabei handelt es sich um eher kurze Auszüge. Die Herkunft aus Hitlers Propagandaschrift ist zumeist von nachrangiger Bedeutung und nur der Anmoderation bzw. der Quellenangabe zu entnehmen. Längere zusammenhängende Passagen finden sich eher selten.65 Doch ist dies ein grundsätzliches Problem der Quellenarbeit im Geschichtsunterricht, die Texte oft auf zentrale Aussagen reduziert.66 In den meisten untersuchten Lehrwerken liegt der Fokus auf der nationalsozialistischen Weltanschauung, die in ihren zentralen Elementen vorgestellt und mit Hilfe geeigneter Zitate belegt wird, und nicht auf Mein Kampf als Quelle, die etwa im Hinblick auf die NS-Ideologie ausgewertet wird. Die meisten Schulbücher verwenden Hitlers Buch also als politische Programmschrift, aus der sich die wesentlichen Elemente der NS-Ideologie, die mitunter im Darstellungstext schon expliziert werden, herauslesen lassen. Daher wird auch nicht immer auf Hitlers Schrift als zentrale Quelle für die NSWeltanschauung rekurriert. Das Parteiprogramm von 1920 und anderes Schrifttum werden ersatzweise oder ergänzend herangezogen,67 ohne dass eigens thematisiert würde, welche Quellen neben Mein Kampf für

62 Das waren Zeiten, S. 74; Reise in die Vergangenheit, S. 30, 31; Themenheft „Weimar/NS“, S. 126f.; Histoire/Geschichte, S. 261; Mosaik, S. 59; Themenheft „Deutschland“, S. 75; Zeiten und Menschen 3, S. 113. 63 Themenheft „Weimar/NS“, S. 126f.; Horizonte (S II), S. 62f., 72; Zeiten und Menschen 3, S. 113. 64 Das waren Zeiten, S. 80; Geschichte konkret, S. 153; Horizonte (S II), S. 62; Zeiten und Menschen 3, S. 113. 65 Beispiele: Horizonte, S. 82; Themenheft „Weimar/NS“, S. 126f. Dabei wird nicht immer aus einer Ausgabe von Mein Kampf zitiert, sondern oft auf Quellensammlungen zurückgegriffen, beispielsweise in Das waren Zeiten, S. 74 und 80 auf Walter Hofer (Hrsg.), Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933–1945, Frankfurt am Main 492004; ebenso: Forum Geschichte, S. 52. 66 Hans-Jürgen Pandel, Quelleninterpretation. Die schriftliche Quelle im Geschichtsunterricht, Schwalbach am Taunus 32006, der auf S. 128–134 entsprechende „Anforderungen an die Textsorte ‚Quelle‘“ formuliert. 67 Stellvertretend: Das waren Zeiten, S. 74, 80 (Parteiprogramm, Parteischriften); Horizonte (S II), S. 62 (Reden, Parteischriften); Mosaik, S. 59 (Reden, Schulbücher). Mein Kampf in deutschen Schulbüchern  95

die Erschließung der NS-Ideologie relevant sind.68 Das am häufigsten, in immer wieder anderen Variationen verwendete Zitat besagt, dass die völkische Weltanschauung „keineswegs an die Gleichheit der Rassen“ glaube, sondern „mit ihrer Verschiedenheit auch ihren höheren oder minderen Wert“ erkenne.69 Neben diesem auf die nationalsozialistische Ideologie ausgerichteten Zugang begegnen in den untersuchten Lehrwerken auch Aussagen aus Mein Kampf bei der Darstellung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems. Hier finden sich Zitate aus Hitlers Schrift wiederum zum Führerprinzip70, weiterhin zur Propaganda71 und vereinzelt zur Erziehung72: So werden in Das waren Zeiten ein Zitat zum Führerprinzip mit einer Herrschaftspyramide kombiniert73 und in Forum Geschichte ein Auszug aus einer Hitlerrede mit einschlägigen Ausführungen in Mein Kampf zur Propaganda.74 Eine Besonderheit stellt die Methodenseite im Oberstufenband von Geschichte und Geschehen dar.75 Hier werden zunächst nach einem kurzen Hinweis auf Hitlers Mein Kampf die Merkmale von Ideologien allgemein erläutert und Kriterien zur Beurteilung aufgelistet, beispielsweise „Welche Aussagen des Textes enthalten unbegründete Werturteile? In welche Richtung kann oder soll die Urteilsbildung gelenkt werden?“ Diese sollen die Schülerinnen und Schüler dann auf Textauszüge „zum Führerprinzip und zur Rolle der Juden“ anwenden. Hitlers Weltanschauung wird hier nicht selbst thematisiert, sondern als Exempel für ideologisches Denken überhaupt. Ist dies im Hinblick auf die Ausbildung einer ideologiekritischen Haltung durchaus praktikabel, verkennt es doch die spezifischen Besonderheiten der nationalsozialistischen Weltanschauung. Bei einem solchen ideologiekritischen Ansatz wäre es im Hinblick auf 68 Gegenbeispiele: Geschichte und Geschehen (S II), S. 269, Histoire/Geschichte, S. 260; Horizonte, S. 80. 69 Adolf Hitler, Mein Kampf, München 133/1341935, S. 421f.; siehe hierzu: Anm. 61. 70 Das waren Zeiten 3, S. 80; vgl. Anm. 63. 71 Stellvertretend: Forum Geschichte, S. 57; Horizonte (S II), S. 64, Geschichte konkret, S. 153. 72 Durchblick, S. 84f. 73 Das waren Zeiten, S. 80. 74 Forum Geschichte, S. 57. 75 Geschichte und Geschehen (S II), S. 272; hier auch die folgenden Zitate. 96  Ulrich Baumgärtner

die Textauswahl naheliegender, jene Passagen heranzuziehen, in denen Hitler seine Lesemethode erläutert, nämlich dass der „Inhalt des jeweilig Gelesenen […] als Mosaiksteinchen in dem allgemeinen Weltbilde seinen Platz an der ihm zukommenden Stelle erhält“76. Laut Barbara Zehnpfennig beschreibe Hitler „hier beispielhaft, wie ideologisches Denken funktioniert“.77 Der ideengeschichtliche Kontext wird meist in Lehrwerken für die Sekundarstufe I nur allgemein angesprochen. So bringt Forum Geschichte den Hinweis, „dass die Grundelemente ihrer Ideologie in Deutschland, aber auch in Europa, seinerzeit weit verbreitet waren und sich an Vorstellungen orientierten, die in der österreichischen und deutschen Geschichte wurzelten“78. Das Buch Die Reise in die Vergangenheit nennt Darwin und führt den Begriff Sozialdarwinismus ein.79 Das Oberstufenbuch Horizonte (S II) verweist darüber hinaus auf den mittelalterlichen Antijudaismus und die geistigen Vorläufer Gobineau und Chamberlain.80 Die schwierige Frage nach dem Wirkungskontext wird im Hinblick auf Hitlers Bekenntnisschrift zumeist nicht gestellt, manchmal jedoch – wie in einem Themenheft für die Oberstufe – recht eindeutig im intentionalistischen Sinn beantwortet: „Nirgends auf der Welt hat es vor 1940 den Versuch gegeben, die aus dem Darwinismus abgeleitete und auf den Menschen übertragene Theorie von der Überlegenheit einer Rasse auf die von den Nationalsozialisten gewählte Art und Weise zu realisieren.“81 Allerdings können sich durch die Anordnung der Materialien implizite Interpretationen ergeben. In Das waren Zeiten werden auf einer Seite sechs Materialien kombiniert, die das Funktionieren des NS-Herrschaftssystems illustrieren.82 Neben einem Zitat aus Hitlers Mein Kampf zum Führerprinzip finden sich eine Aussage eines Werbefachmanns, eine Haustafel, drei Aussagen über Hitlers Verhältnis zur politisch76 77 78 79

Hitler (wie Anm. 69), S. 36. Zehnpfennig (wie Anm. 22), S. 50. Forum Geschichte, S. 52; vgl. Themenheft „Weimar/NS“, S. 118. Reise in die Vergangenheit, S. 30; ähnlich Mosaik, S. 58: „Die Übertragung tierischen Verhaltens auf den Menschen (Sozialdarwinismus) verfälschte die Theorie des Naturforschers Charles Darwin.“ 80 Horizonte (S II), S. 61. 81 Themenheft „Deutschland“, S. 74. 82 Das waren Zeiten, S. 80, hier auch die folgenden Zitate. Mein Kampf in deutschen Schulbüchern  97

gesellschaftlichen Elite, eine Herrschaftspyramide sowie eine Aussage des Historikers Joseph Peter Stern über Hitlers Verhältnis zum Volk. In den Aufgabenstellungen legt die Bezeichnung „Führerstaat“, auch wenn sie in Anführungszeichen gesetzt ist, eher eine monolithische Herrschaftsausübung von oben nach unten nahe, zumal danach gefragt wird, „welche Eigenschaften, Rechte und Pflichten das ‚Führerprinzip‘ verlangte“. Gleichwohl wird diese Vorstellung zur Diskussion gestellt. Die Schülerinnen und Schüler sollen nämlich „Probleme mit den Zuständigkeiten (Kompetenzen)“ erkennen. Deutlich seltener begegnet der Hinweis auf den Entstehungskontext. Meist beschränken sich diese Hinweise auf einen Satz. So heißt es beispielsweise in Das waren Zeiten: „Hitler verfasste in der Haft sein Propagandawerk Mein Kampf.“83 Vergleichsweise ausführlich wird dies in Horizonte thematisiert. Im Text findet sich zunächst der übliche Hinweis: „Während er in Landsberg einsaß, schrieb er Mein Kampf, ein Buch, in dem er seine politischen Ziele offen darlegte.“ Etwas anders ist dann der Arbeitsteil gestaltet. Hier finden sich zwei Faksimiles: das Vorwort von Adolf Hitler, in dem er über seine Intentionen als Autor Rechenschaft ablegt, sowie eine als Gedenkblatt gestaltete Seite, die an die Opfer des Putsches erinnert.84 Auf diese Weise wird zugleich der quellenkundliche Kontext thematisiert. Dieser lässt sich am besten verdeutlichen, wenn ein Exemplar von Mein Kampf physisch vorliegt und in die Hand genommen werden kann.85 Auch wenn diese Abbildungen auf den Publikations- und den Rezeptionskontext anspielen, werden diese selbst in keinem der untersuchten Bücher näher angesprochen. Lediglich allgemeine Erläuterungen, etwa

83 Das waren Zeiten, S. 46; ähnlich Reise in die Vergangenheit, S. 30; Themenheft „Weimar/NS“, S. 118. 84 Horizonte, S. 43, 45. 85 Thorsten Heese, Vergangenheit „begreifen“. Die gegenständliche Quelle im Geschichtsunterricht, Schwalbach am Taunus 2007, S. 32 f., weist darauf hin, dass „Objekte zu Sachzeugnissen werden, die theoretisch auch als Text- oder Bildquellen gewertet werden können, aber in ihrer Originalität zugleich dreidimensionale Originale sind mit Gebrauchsspuren versehen, eingerissen und beschädigt, verfärbt, überschrieben, umgenutzt etc.“ 98  Ulrich Baumgärtner

auf die Verteilung des Buches bei Trauungen86 oder darauf, dass die natio­ nalsozialistische Ideologie auf Teile der Bevölkerung attraktiv gewirkt habe, weisen in diese Richtung; die konkreten Zusammenhänge werden allerdings in keinem der untersuchten Werke thematisiert. Der Aufarbeitungskontext begegnet in den untersuchten Werken nicht. Die Geschichte von Mein Kampf endet im Schulbuch mit dem Ende des Nationalsozialismus. Allerdings ist zu bedenken, ob eine solche gegenwartsbezogene Aktualisierung aus konzeptionellen Gründen überhaupt Inhalt des Schulbuchs sein kann. Hier bietet es sich vielmehr an, mit dafür geeigneten Materialien zu arbeiten, sei es die Internetpräsentation des Kunstprojekts von Linda Ellia, seien es die Lesungen von Qualtinger oder Somuncu oder sei es die juristisch-politische Auseinandersetzung um die Publikation von Mein Kampf. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass Mein Kampf fester Bestandteil vieler bundesdeutscher Schulbücher ist, wobei es vor allem als ideologische Programm- und Propagandaschrift dargestellt wird. Die inhaltliche Erschließung zentraler Elemente der nationalsozialistischen Weltanschauung steht dabei im Mittelpunkt, wobei entsprechende Zitate als Belege herangezogen werden und Hitlers Buch selbst als Quelle allenfalls ansatzweise thematisiert wird. Diese Feststellung ist, wie gesagt, nicht als Kritik zu verstehen, sondern beschreibt lediglich den vorherrschenden Umgang mit dieser Schrift in den untersuchten Lehrwerken. Eine umfassende Präsentation aller Kontexte, sei es in den entsprechenden Darstellungs- oder den Materialteilen, erscheint wegen der Besonderheiten des Mediums Schulbuch aus curricularen, didaktischen und methodischen Gründen weder möglich noch sinnvoll. Mein Kampf im Geschichtsunterricht – Thesen

Abschließend will ich meine Ergebnisse unter der Fragestellung „Wie soll man Hitlers Mein Kampf im Schulbuch verwenden und wie soll man damit im Geschichtsunterricht umgehen?“ in acht Thesen zusammenfassen und weiterführen: 86 Vgl. Histoire/Geschichte, S. 260, wo erwähnt wird, dass Hitlers Werk „wie eine Bibel bei Trauungen überreicht wurde“. Mein Kampf in deutschen Schulbüchern  99

1. Mein Kampf ist als Quelle für den Werdegang Hitlers sowie für die Geschichte des Nationalsozialismus – insbesondere für seine Weltanschauung – so zentral, dass eine Berücksichtigung im Schulbuch und eine Behandlung im Unterricht unverzichtbar sind. 2. Mein Kampf ist eine so komplexe Quelle beziehungsweise ein so „schwieriger Text“87, dass eine umfassende Thematisierung der verschiedenen Kontexte angesichts des begrenzten Raums, der curricularen Vorgaben sowie der didaktisch-methodischen Erfordernisse der Unterrichtspraxis im Geschichtsschulbuch nicht möglich erscheint. 3. Mein Kampf sollte im Geschichtsbuch allerdings so thematisiert werden, dass neben dem sicher zentralen Inhaltskontext auch weitere Zusammenhänge zumindest ansatzweise deutlich werden. Hier sind insbesondere der quellenkundliche, der Publikations- und Rezeptionskontext zu nennen. Dieses zentrale geschichtsdidaktische Postulat zielt darauf ab, dass die im Unterricht behandelten Texte nicht nur inhaltlich verstanden, sondern auch als Quellen erschlossen werden, da nur so eine triftige Interpretation möglich ist. Dies lässt sich als Förderung der „Gattungskompetenz“ beschreiben.88 4. Mein Kampf sollte als – natürlich kritisch zu befragende – Quelle ernst genommen und nicht vorab pejorativ beurteilt werden. Mangelnde Originalität, krause Argumentation und schlechter Stil sagen nichts über den Quellenwert aus. Vielmehr muss deutlich werden, dass Hitler in seinem Buch eine in sich geschlossene Weltanschauung bietet. 5. Mein Kampf bietet eine gute Grundlage, um den Nationalsozialismus als historisches Thema zu erschließen. Die Vielzahl der Kontexte eröffnet eine Vielzahl von Zugängen – von der (Auto-)Biografie Hitlers bis zur Entstehung des Nationalsozialismus, von der Ideologie bis hin zur politischen Praxis, von der Rezeption damals bis zur Aufarbeitung heute. 6. Mein Kampf sollte im Hinblick auf die politische Bildung von den Jugendlichen nach der Behandlung im Geschichtsunterricht als das 87 So der Untertitel des Themenheftes 11/2012 der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. 88 Hans-Jürgen Pandel, Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula, Schwalbach am Taunus 22007, S. 27–31. 100  Ulrich Baumgärtner

bezeichnet werden, was es ist: eine menschenverachtende Hetzschrift. Allerdings birgt dies ein grundsätzliches pädagogisches Problem in sich, das Immanuel Kant so formuliert hat: „Eines der größten Probleme der Erziehung ist, wie man die Unterwerfung unter den gesetzlichen Zwang mit der Fähigkeit, sich seiner Freyheit zu bedienen, vereinigen könne.“89 Konkret bedeutet dies: Einerseits sollen die Schülerinnen und Schüler Hitlers Weltanschauung politisch ablehnen. Das Ziel der Beschäftigung mit Hitlers Mein Kampf ist dann das „Non“, wie es auf der Seite aus dem eingangs vorgestellten Kunstprojekt Notre combat von Linda Ellia formuliert wurde. Andererseits soll diese Ablehnung Ergebnis einer eigenständigen und unvoreingenommenen Urteilsbildung sein. Dementsprechend muss das Schulbuch und muss der Geschichtsunterricht sich mit Wertungen zurückhalten, darf aber nicht wertneutral sein. Das Dilemma, einerseits die Freiheit historischer Urteilsbildung zu wahren und andererseits der Notwendigkeit demokratischer Bewusstseinsbildung gerecht zu werden, lässt sich nicht auflösen, ja es stellt sich hier verschärft. 7. Mein Kampf sollte allerdings in seinem propagandistischen Gehalt nicht überschätzt werden. Aufgrund des Umfangs des Textes, seines ausufernden und redundanten Stils und aufgrund des zeitbezogenen Entstehungs- und Rezeptionskontextes wird das Buch auf heutige Schülerinnen und Schüler – möglicherweise im Unterschied zu anderen Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus – wenig attraktiv wirken. Sogar in neonazistischen Kreisen scheint es vor allem nur wegen seiner „Symbolkraft“90 attraktiv zu sein. Dies ist eine gute Voraussetzung für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Text im Unterricht. Entsprechende Auszüge in Schulbüchern sind dafür eine geeignete Grundlage. 89 Immanuel Kant, Über Pädagogik, herausgegeben von Friedrich Theodor Rink, Königsberg 1803, S. 52. 90 Britta Schellenberg, Ist Hitlers „Mein Kampf “ für junge Neonazis attraktiv? Die Entwicklung des deutschen Neonazismus im Schatten staatlicher Repression, in ZfG 60 (2012), S. 915–927, hier S. 927. Sie kommt zu dem Ergebnis: „So ist Mein Kampf zwar populär unter Neonazis, aber als Text nur eingeschränkt attraktiv“ (S. 926). Mein Kampf in deutschen Schulbüchern  101

8. Mein Kampf sollte auch über den Aufarbeitungskontext erschlossen werden. Dieser bietet – nicht zuletzt wegen seiner ästhetischen Dimension – beträchtliche Lernchancen, verbindet sich doch hier der vergangenheitsorientierte Quellenbezug des Lerngegenstands mit dem gegenwartsorientierten Lebensweltbezug der Schülerinnen und Schüler und ermöglicht so das, was historisches Lernen ausmacht: die zukunftsbezogene Aufklärung des Geschichtsbewusstseins.

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Marc van Berkel

Mein Kampf in niederländischen Schulbüchern und der öffentlichen Diskussion „Was … die Absichten der Nazi-Partei in Deutschland den Niederlanden gegenüber sind, wissen alle, die Hitlers Mein Kampf gelesen haben.“ Kees Schalker (Kommunistische Partei Niederlande), Sitzung des Parlaments am 21. November 19351

In den Niederlanden ist die Aufmerksamkeit für den Zweiten Weltkrieg sowohl in öffentlichen Kulturangeboten als auch in akademischen Debatten ungebrochen. Zehntausende Veröffentlichungen, Filme, Fernsehsendungen, Romane und andere Zeugnisse repräsentieren die Bedeutung des Krieges und seine Nachwirkungen auf die kollektive Erinnerung der Nachkriegszeit. So wurde eine Publikation über das Schicksal niederländischer Juden und die angebliche Beteiligung nicht-jüdischer Mitbürger an ihrer Verfolgung zum wichtigsten Geschichtsbuch 2012 gewählt.2 In Nimwegen werden demnächst rund 30 Millionen Euro in ein neu zu gründendes nationales Kriegsmuseum investiert.3 Und eine Analyse von drei Wochenendausgaben einer großen niederländischen Tageszeitung zeigt, wie oft der Krieg noch heute thematisiert wird.

1 Kees Schaker (Parlamentsmitglied des CPN, Kommunistische Partei der Niederlande) während der Sitzung des niederländischen Parlaments am 21. November 1935 (http://www.statengeneraaldigitaal.nl/, 11.11.2013); für die Vorarbeit und Unterstützung bei der Abfassung des vorliegenden Beitrags gilt der Dank des Autors Ruud Klomp (MA). 2 Bart van der Boom, Wij wisten niets van hun lot. Gewone Nederlanders en de Holocaust, Amsterdam 2012. 3 http://www.gelderlander.nl/voorpagina/nijmegen/11831855/Museum-WOIIin-Nijmegen-stap-dichterbij.ece (19.9.2013). Mein Kampf in niederländischen Schulbüchern  103

Beispielsweise erwähnten allein im September 2012 nicht weniger als 38 Artikel den Zweiten Weltkrieg.4 Im nachfolgenden Beitrag wird nun versucht, die Frage zu beantworten, welchen Stellenwert Mein Kampf in der niederländischen Gesellschaft hatte bzw. noch immer hat. Dazu wird sowohl die Problematik des Verbots bzw. der Wissenschaftsfreiheit in den Niederlanden skizziert als auch durch eine knappe Analyse von Lehrmitteln ab den sechziger Jahren die Stellung von Mein Kampf im niederländischen Geschichtsunterricht dargestellt. 1. Mein Kampf in den Niederlanden

Der Zweite Weltkrieg ist nach wie vor fester Bestandteil des niederländischen Curriculums, wie in den meisten westeuropäischen Staaten.5 Das war auch bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit so.6 Historische Schulbildung über den Zweiten Weltkrieg wurde in den Niederlanden als Ermutigung für die Zukunft eingesetzt, betont wurden vor allem Werte wie Freiheit, Demokratie, Wahrheit, Gerechtigkeit, nationaler Zusammenhalt oder Brüderlichkeit. Nationalmythische Vorstellungen wie Fortschrittsglaube oder die Kontinuität in religiösen und kulturellen Traditionen tauchten im Unterricht ebenfalls auf. Das national-liberale, demokratisch-bürgerliche Konzept der Geschichte als Identitätsfundament rückte nach Kriegsende wieder in den Vordergrund. „Außenseiter“ – wie jüdische Überlebende oder die Kommunisten, die allerdings in der Gruppe der Widerstandskämpfer während des Krieges überrepräsentiert waren – wurden in den Geschichtsbüchern totgeschwiegen. Dagegen betonte man die Heroik der bürgerlichen Widerstandskämpfer und die militärischen Ereignisse des Krieges. Die Niederländer wurden als Opfer eines gewaltsamen Überfalls des großen, anti-demokrati4 NRC Weekend. Die Wochenedition von NRC Handelsblad en nrc.next (15./16.9.2012; 22./23.9.2012 und 29./30.9.2012). 5 Elisabeth Erdmann/Wolfgang Hasberg (Hrsg.), Facing – Mapping – Bridging Diversity. Foundation of a European Discourse on History Education, Schwalbach am Taunus 2011. 6 Dienke Hondius, Oorlogslessen. Onderwijs over de oorlog sinds 1945, Amsterdam 2010, S. 75–77. 104  Marc van Berkel

schen und totalitären Nachbarn porträtiert. Die militärische Niederlage der niederländischen Armee galt in der öffentlichen Wahrnehmung als eine Art „geistige Störung“: Das Scheitern im Krieg zeuge von einem tief verwurzelten geistigen Zerfall, der, wenn richtig diagnostiziert, durch das Bildungssystem korrigiert werden könne.7 Damit sollte die „verletzte“ Nation nach dem Krieg wieder positioniert werden und historische Lehrmittel sollten vor allem die alten Herrschaftsstrukturen der Vorkriegszeit wiederbeleben, um deren Machtbasis zu verstärken.8 Viele niederländische Politiker glaubten, dass der Geschichtsunterricht dazu beitrage, ein kräftiges Nationalbewusstsein zu initiieren. So wurde das neu gegründete Ministerium für Bildung, Künste und Wissenschaft 1945 von dem Theologen Gerardus van der Leeuw geleitet. Seine Auffassungen über die sogenannte „nationale Erziehung“ durch den Geschichtsunterricht konzentrierten sich auf die „lebendige Kraft der Vergangenheit“, worunter er in erster Linie den Mythos des nationalen Königshauses verstand. Es sollte als Symbol für die „nationale Einheit“ dienen. Van der Leeuw schlug sogar vor, alle Schüler die aus 15 Strophen bestehende Nationalhymne Wilhelmus auswendig lernen zu lassen.9 Dieser beabsichtigte Nationalstolz wurde im Geschichtsunterricht auch dadurch gefördert, dass national-mythische Vergleiche zwischen dem Widerstandskampf gegen Spanien im 16. Jahrhundert und dem Widerstand gegen die NS-Besatzung während des Zweiten Weltkrieges angestellt wurden. So präsentierten die Niederlande sich in den Lehrmitteln bis weit in die 1950er-Jahre hinein als ein kleines, aber patriotisches und tapferes Land.10 Während das deutsche Bildungssystem nach dem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich erneuert wurde, basierten in den Niederlanden die Bildungsziele noch auf einem Gesetz aus dem Jahr 1863. Nationale Geschichte, Patriotismus und – während des Kalten Krieges – Antina7 Guy Neave, War and Educational Reconstruction in Belgium, France and the Netherlands 1940 – 1947, in: Roy Lowe (Hrsg.), Education and the Second World War. Studies in schooling and social change, New York 1992. 8 ����������������������������������������������������������������������������� Ido de Haan, Na de ondergang. De herinnering aan de Jodenvervolging in Nederland 1945 – 1995, Den Haag 1997, S. 62. 9 Marnix Beyen, Oorlog en Verleden. Nationale geschiedenis in België en Nederland 1938–1947, Amsterdam 2002, S. 278–279. 10 Hondius (wie Anm. 6), S. 63–65. Mein Kampf in niederländischen Schulbüchern  105

zismus und Antikommunismus sollten Teil der Schulbücher sein. Erst mit dem Mammoetwet (1968) wurde das Bildungssystem tatsächlich grundlegend verändert. Für den Geschichtsunterricht bedeutete dies unter anderem, dass Geschichte für Schülerinnen und Schüler zwischen zwölf und vierzehn Jahren zum Pflichtfach wurde; danach stand es als Wahlfach zur Option.11 Außerdem wurden ein vertieftes Verständnis und eine eher kritische Haltung gegenüber der modernen Gesellschaft eingefordert. Gerade die Zeitgeschichte entwickelte sich zu einem zentralen Teil des Lehrplans und bekam ab den siebziger Jahren sogar eine privilegierte Position im Unterricht.12 Schülerinnen und Schüler sollten aus der Geschichte des Nationalsozialismus lernen, wie emotionale Bindungen zu mythischen Weltanschauungen und Ideologien führen können.13 Die Behandlung von Mein Kampf im Unterricht schien dazu besonders geeignet. Das Buch wurde und wird in den niederländischen Geschichtsbüchern als Urdokument des deutschen Faschismus dargestellt, und damit als Katalysator für Krieg, Holocaust und Elend. Die Grunddarstellung von Nationalsozialismus und Judenverfolgung in niederländischen Geschichtsbüchern hat sich seit den sechziger Jahren zwar etwas geändert, die genuin opferorientierte Perspektive ist jedoch nach wie vor der zentrale Bestandteil des niederländischen Geschichtsunterrichts. Vor allem die Schulbücher haben versucht, die Niederlande in moralischer Hinsicht zu entlasten und Nationalsozialismus und Holocaust als ausländische Phänomene darzustellen. Die historischen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges hierzulande wurden völlig auf die totalitäre Diktatur eines übermächtigen und bösartigen Führers einer fremden Macht reduziert; diesem wird eine angeblich ohnmächtige Bevölkerung als Opfer von Besatzung und unbesiegbarem Terror gegenübergestellt. Auch für diesen Zweck stellt Mein Kampf als Kernstück der nationalsozialistischen Ideologie in den niederländischen Geschichtsschulbüchern eine besonders oft genutzte Quelle dar. 11 Carla van Boxtel/Maria Grever, Between disenchantment and high expectations. History education in the Netherlands, ca. 1968–2008, in: Elisabeth Erdmann/ Wolfgang Hasberg (Hrsg.), Facing – Mapping – Bridging Diversity. Foundation of a European Discourse on History Education, Schwalbach am Taunus 2011, S. 83–116, S. 87. 12 Ebd., S. 88; sowie: Hondius (wie Anm. 6), S. 83–84. 13 Hondius (wie Anm. 6), S. 126–127. 106  Marc van Berkel

Hier sind die Täternarrative nach wie vor dominierend. Der Zweite Weltkrieg – und vor allem der Holocaust – wurde bis vor kurzem ausschließlich als eine „Geschichte der Anderen“ gedeutet, als Teil der deutschen Geschichte, die sich auch auf niederländischem Boden abspielte. 14 Das Publikationsverbot von Mein Kampf unmittelbar nach dem Krieg wurde deswegen erlassen, weil der niederländische Staat den Missbrauch des Buches oder eine Rehabilitierung des Nationalsozialismus befürchtete.15 Doch bereits vor dem Zweiten Weltkrieg hatte das Werk in den Niederlanden Emotionen geschürt. Noch bis heute fürchten viele niederländische Politiker, dass das Gedankengut Adolf Hitlers bei einer Neuauflage von Mein Kampf entweder bei Rechtsradikalen oder unter extremistischen muslimischen Gruppen weitere Anhänger finden könnte. So stimmte noch im Jahr 2007 eine Kammermehrheit für die Aufrechterhaltung des offiziellen Verbreitungsverbots von Mein Kampf.16 Der niederländische Populist und PVV-Politiker Geert Wilders hatte in einem Brief an die Tageszeitung Volkskrant am 8. August 2007 den Koran mit Hitlers Arbeit verglichen und ein ähnliches Verbreitungsverbot für die heilige Schrift des Islam gefordert.17 Diese Position fand wenig Unterstützung bei niederländischen Politikern, aber die Diskussion über das Verbot von Mein Kampf wurde daraufhin wieder aufgenommen. Der damalige Minister für Bildung, Kultur und Wissenschaft, Ronald Plasterk, erwiderte: „Vielleicht sollten wir einfach aufhören, Mein Kampf zu verbieten. Lass es frei verfügbar sein. Ich sage das aber als Minister für Medien und Literatur.“18 Er sagte dies also nicht als Bildungsminister. 14 Marc van Berkel, Perpetrator and victim narratives on the Holocaust in German and Dutch history textbooks 1960 and 2010, Paper vom 16.10.2012 am Centre for Historical Culture Erasmus University Rotterdam. 15 Willem Huberts, Heruitgave van Mein Kampf is geen zaak voor de Nederlandse overheid, in: NRC Handelsblad, 12.11.1997, http://vorige.nrc.nl/opinie/article2104497.ece (11.11.2013). 16 Siehe hierzu: http://nos.nl/artikel/64383-kamer-verbod-mein-kampf-handhaven. html (11.11.2013). 17 Geert Wilders, Genoeg is genoeg: Verbied de Koran, in: De Volkskrant vom 8.8.2007. 18 Ronald Plasterk, Mein Kampf moet vrij verkrijgbaar zijn, in: De Volkskrant, http:// www.volkskrant.nl/vk/nl/2686/Binnenland/article/detail/954931/2007/09/11/ Plasterk-Mein-Kampf-moet-vrij-verkrijgbaar-zijn.dhtml (11.11.2013). Mein Kampf in niederländischen Schulbüchern  107

Trotz der Tatsache, dass die niederländische Übersetzung einfach aus dem Internet herunterzuladen ist und die allgemeine Bedeutung der Meinungsfreiheit anerkannt wird, musste Plasterk seine Stellungnahme abschwächen. Kriegsüberlebende und Vertreter jüdischer Organisationen fühlten sich verletzt und in einer parlamentarischen Abstimmung war eine knappe Mehrheit von 83 Stimmen für die Beibehaltung des Verbots ausreichend, um die Diskussion zu beenden.19 Die niederländische Version des Buches erschien erst im Jahr 1939, in insgesamt sechs Auflagen mit 150.000 Exemplaren.20 In den Niederlanden sind der Besitz und der Verleih des Werks nicht verboten, aber der niederländische Staat nimmt für sich das Urheberrecht auf die eigensprachige Version in Anspruch. Im Jahre 1974 gab es zum ersten Mal seit dem Krieg Kontroversen um diese juristische Auslegung. Der Verlag Ridderhof brachte einen Nachdruck von Mein Kampf auf den Markt, von welchem 3.000 Kopien in Belgien und den Niederlanden verteilt wurden.21 Die niederländische Justiz reagierte schnell und beschlagnahmte etwa 800 Exemplare mit dem Argument, wonach das Urheberrecht beim Staat liege. Im Jahr 1985 wurde ein Exemplar von Mein Kampf beschlagnahmt, welches im Schaufenster in einer Buchhandlung gezeigt wurde. Der Besitzer des Antiquariats erhielt eine Geldstrafe, klagte aber gegen diesen Bescheid und errang vor einem Gericht in Maastricht einen Freispruch, weil der Verkäufer keine provokativen oder politischen Ziele verfolgte. In der Berufung aber wurde der Buchhändler aufgrund des Anti-Diskriminierungsartikels 137 verurteilt.22 Gemäß der Hoge Raad, dem Obersten Gerichtshof der Niederlande, war der Kern der Straftat

19 http://nos.nl/artikel/64383-kamer-verbod-mein-kampf-handhaven.html (11.11.2013). 20 Ophef over Mein Kampf, in: Algemeen Dagblad vom 12. September 2007, http:// www.ad.nl/ad/nl/1012/Nederland/article/detail/2193002/2007/09/12/Ophefover-Mein-Kampf.html (11.11.2013). 21 ������������������������������������������������������������������������������ Gerard Groeneveld, Het boek is nooit thuis. Adolf Hitlers Mein Kampf in Nederland, in: De Parelduiker 4 (1999), S. 2–17. 22 Einen vollständigen Überblick über die Anklage und das endgültige Urteil findet sich unter: http://zoeken.rechtspraak.nl/resultpage.aspx?snelzoeken=true&sear chtype=ljn&ljn=BH0496&u_ljn=BH0496 (11.11.2013). 108  Marc van Berkel

in diesem Fall nicht die Bösartigkeit des Handelns des Angeklagten, sondern das angebotene Objekt an sich.23 Insgesamt dominierten die Diskussion über eine mögliche Neuauflage von Mein Kampf moralische Argumente, zwischen Politikern und Wissenschaftlern wird über die moralischen und rechtlichen Konsequenzen des Verbreitungsverbots weiterhin kontrovers diskutiert. Die außerordentlich sensible Position des Buches in der gesellschaftlichen und politischen Debatte entspricht der Mehrdeutigkeit des Verbreitungsverbots. Auf der einen Seite gibt es nur eine zweifelhafte Rechtsgrundlage für diese Maßnahme, die zudem durch die einfache Möglichkeit, das Werk im Internet einzusehen, noch abgeschwächt wird. Andererseits werden die Auswirkungen einer kommentierten Ausgabe von Mein Kampf in niederländischer Sprache bis jetzt kaum diskutiert. Das Niederländische Institut für Kriegsdokumentation (NIOD) und das Zentrum Information und Dokumentation Israel (CIDI) sind schon seit Jahren Befürworter einer kommentierten Veröffentlichung. Zugleich gibt es aber auch eine breite Unterstützung für die Aufrechterhaltung des Verbreitungsverbots aufgrund des antisemitistischen Inhalts und der offenkundig antitoleranten und antidemokratischen Gesinnung in Hitlers Werk, die sogar als „politische Pornografie“24 bezeichnet worden ist.25 2. Mein Kampf in niederländischen Geschichtsbüchern

Inwieweit wurde diese gesellschaftliche Kontroverse über Mein Kampf in den letzten 50 Jahren im niederländischen Geschichtsunterricht reflektiert? Wenn man davon ausgeht, dass Geschichtsbücher als Instrumente zur Entwicklung kollektiver Erinnerungen und einer nationalen Identität dienen können, ist die Konstruktion der Geschichte in historischen 23 Bericht über den Fall und die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs: http:// www.annefrank.org/ImageVault/Images/id_11703/scope_0/ImageVaultHandler. aspx (11.11.2013). 24 Rob Hartman, Geen politieke porno in de vrije verkoop: Mein Kampf: toestaan of verbieden? In: HN-Magazine vom 12. Dezember 1998. 25 Uitspraken Plasterk leiden tot ophef, in: NRC Handelsblad, http://vorige.nrc. nl/binnenland/article1837481.ece/Uitspraken_Plasterk_leiden_tot_ophef (11.11.2013). Mein Kampf in niederländischen Schulbüchern  109

Schulbüchern als Spiegelung gewisser Hierarchien in Narrativen zu betrachten; die Autoren entscheiden, welche Geschichte sich ihrer Meinung nach für die Erinnerung eignet.26 Lehrpläne vermitteln kollektive Erinnerungen und in ihnen findet sich in der Regel kein Platz für konkurrierende Geschichtsbilder. Stattdessen werden nationale Identitäten durch ein kohärentes Narrativ gefördert.27 Als die niederländische Kronprinzessin Máxima im Jahr 2007 in einer Ansprache bei der offiziellen Vorstellung eines Berichts durch den wissenschaftlichen Beirat für die Regierungspolitik (WRR) erklärte,28 als Bürgerin argentinischer Abstammung wisse sie nach sieben Jahren noch immer nicht, was die niederländische Identität beinhalte, wurde sie in den Medien scharf kritisiert. Dass der Regierungsbericht die gleiche Schlussfolgerung zog, wurde noch heftiger abgelehnt.29 Die niederländische historische Erinnerungskultur scheint unter einer politisierten Spaltung zu leiden: zwischen den modernen Methoden der Geschichtswissenschaft und solchen Geschichtsauffassungen, die durch gesellschaftliche Entwicklungen und das kollektive Gedächtnis geprägt werden. Vielleicht wird vor diesem Hintergrund verständlich, warum die Wiederbelebung des traditionellen Kanons im niederländischen Geschichtsunterricht als Beispiel für das kollektive Bedürfnis nach einer überschaubaren Geschichte gewertet wird.30 Aufgrund der gesellschaftlichen Kompartimentierung (verzuiling) war ein solcher einheitlicher, nationaler Charakter des niederländischen Geschichtsunterrichts nie selbstverständlich. Unter Kompartimentierung ist ein soziologisches Konzept zu verstehen, das die vertikale Struktur der Gesellschaft abbildet. Die Trennung erfolgt auf Basis von einem oder mehreren gesellschaftlichen Merkmalen, wie etwa Religion oder politische Ausrichtung. Die einzelnen Segmente bilden jeweils eigene Schulen, Vereine, Parteien, Gewerkschaften, Rundfunkanstalten, Zeitungen oder 26 ������������������������������������������������������������������������������� Keith A. Crawford/Stuart A. Foster, War, Nation, Memory. International perspectives on World War II in School History Textbooks, Charlotte 2007, S. 7–8. 27 Peter Seixas, Who needs a canon?, in: Maria Grever/Siep Stuurman (Hrsg.), Beyond the canon. History for the twenty-first century, Basingstoke 2007, S. 19–30, S. 20ff. 28 WRR, Identificatie met Nederland, Amsterdam 2007. 29 Van Boxtel/Grever (wie Anm. 11), S. 84. 30 Zur niederländischen Debatte grundsätzlich: Arie Wilschut, Ein Referenzrahmen für den Unterricht im Fach Geschichte, in: GWU 60 (2009), S. 629–645. 110  Marc van Berkel

Krankenhäuser aus. Geschichtsbücher wurden also von katholischen, evangelischen oder säkularen Verlagen herausgegeben und waren ausschließlich bestimmt für Schulen mit derselben Denomination. Insofern könnte man das Bestreben nach einem nationalen Geschichtskanon als eine kontinuierliche Aufgabe mancher niederländischer Geschichtspädagogen betrachten. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus während der letzten Jahrzehnte in der öffentlichen Erinnerung, den Medien, der Kunst und Literatur und den akademischen Debatten wird inzwischen als „Zweite Geschichte des Nationalsozialismus“ bezeichnet.31 Schulgeschichtsbücher sind ein Teil dieser zweiten Geschichte. Die Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit historischen Themen umgeht, spiegelt sich in diesen Publikationen besonders deutlich.32 Für die nachfolgende Analyse wurden zwölf niederländische Geschichtsbücher untersucht, die zwischen 1960 und 2009 im Geschichtsunterricht zugelassen waren und teilweise noch immer verwendet werden. Alle wurden von größeren konfessionellen und säkularen Verlagen publiziert und dienten als Lehrmittel für das Fach Geschichte in HAVO und VWO (vergleichbar mit der Sekundarstufe II, also geeignet für Lernende von 15 bis 18 Jahren). Ziel der Analyse dieser Lehrwerke, deren Auflistung als Anhang beigefügt ist, wird es sein, zu prüfen, wie niederländische Lehrwerke des Faches Geschichte seit dem Jahr 1960 Mein Kampf thematisierten. Als Ergebnis dieser Analyse lassen sich einige Tendenzen nachweisen: Erstens wird in allen Unterrichtswerken Mein Kampf als Grundlage der Erarbeitung der nationalsozialistischen Weltanschauung genutzt. „Sozialisten und Kommunisten verdanken ihre Ideologie“, so formuliert es beispielsweise das Geschichtsbuch Sprekend Verleden, „den Schriften von Karl Marx“. Die Faschisten dagegen hätten im Allgemeinen keinen gemeinsamen Denker oder keine gemeinsamen Schriften. Die deutschen 31 Peter Reichel/Harald Schmid/Peter Steinbach (Hrsg.), Der Nationalsozialismus – Die Zweite Geschichte. Überwindung – Deutung – Erinnerung, München 2009. 32 Susanne Popp, Nationalsozialismus und Holocaust im Schulbuch, in: Gerhard Paul/Bernhard Schoßig (Hrsg.), Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus. Eine Bilanz der letzten dreißig Jahre, Göttingen 2010, S. 98–115, S. 98f. Mein Kampf in niederländischen Schulbüchern  111

Faschisten allerdings hatten ihre eigene „Bibel“: Mein Kampf.33 Auch an anderer Stelle wird das Buch mit der Bibel verglichen, wenn etwa formuliert wird: „[Hitlers] berüchtigte[s] Propagandabuch […][war] nach der Bibel das am meisten publizierte Buch in Deutschland.“34 Mein Kampf wurde zudem als das „Evangelium des aggressiven und kräftigen Nationalismus“ betrachtet, anscheinend auch, um dessen antichristlichen Charakter zu betonen.35 Anders ausgedrückt: Mein Kampf war, so formulieren es einige niederländische Lehrmittel, in Deutschland in eine Konkurrenzschlacht mit der Bibel verwickelt. Dies hätte also auch in den Niederlanden passieren können.36 Unter dem Titel Spirituelle Kämpfe wird in einem Lehrbuch aus dem Jahr 1972 behauptet, dass die „fanatischen und intoleranten Bestandteile der Bewegung“ unvereinbar gewesen seien mit dem Christentum. Gerade die Kraft von Mein Kampf habe dafür gesorgt, dass das deutsche Volk sich für „kämpferisch und unbesiegbar“ gehalten habe. In Deutschland habe also, so das Schulbuch Wereld in Wording, ein Kampf zwischen christlichen und nicht christlichen Elementen stattgefunden, der stark von Inhalt und Ton von Mein Kampf durchdrungen gewesen sei.37 Insgesamt lässt sich feststellen, dass Mein Kampf in den untersuchten Lehrmitteln bis in die siebziger Jahre als Pendant der Bibel betrachtet wird. Ab den 1970er-Jahren aber schwächt sich die Betonung des sakralen Charakters von Mein Kampf ab, in den 1980er-Jahren tritt dieser Aspekt schließlich weiter zurück. Als ideologische Quelle wird Mein Kampf weiterhin genutzt, von der Betonung des antichristlichen Inhalts in Hitlers Schrift ist fortan aber, als Folge der Auflösung der Segmentierung des niederländischen Schulbuchmarktes, nicht mehr die Rede. Die zweite Tendenz ist, dass Mein Kampf – sowohl heute als auch damals – in den niederländischen Schulbüchern grundsätzlich nur in Zusammenhang mit dem Aufstieg Hitlers und des Nationalsozialismus in den 1920er- und 1930er-Jahren herangezogen wird. Es soll als Beleg dafür dienen, dass Hitlers Selbstbewusstsein nach dem misslungenen 33 34 35 36 37

Sprekend Verleden, Textbuch 2009, S. 36–39. De Wereld van Vroeger en Nu 1960, S. 299–301. Wereld in Wording 1972, S. 103. De Wereld van Vroeger en Nu 1960, S. 299–301. Wereld in Wording 1972, S. 105–106.

112  Marc van Berkel

Putsch in München angestiegen sei, er betrachtete sich jetzt als der „ausgewählte Führer[,] ohne den Deutschland kein Heil finden würde“.38 Vor allem dienen Auszüge aus Mein Kampf (zur Kolonisierung im Osten, zum Marxismus und zum Judentum) als Arbeitsgrundlage, um die ideologische Basis des Nationalsozialismus im Unterricht zu erarbeiten. Hitlers Theorien werden als Basis der NS-Bewegung verstanden.39 In den Kapiteln über die Machtergreifung Hitlers, die Verletzungen des Versailler Abkommens, den Zweiten Weltkrieg oder den Holocaust ist aber von diesem angeblich einflussreichen theoretischen Fundament des Nationalsozialismus in keinem Lehrmittel mehr die Rede. Auf Basis der niederländischen Schulbücher drängt sich also der Eindruck auf, Hitlers politische Autobiografie spiele anscheinend nur bis 1933 eine Rolle. Einzig in dem Unterrichtswerk Mensen en Machten wird durch einen Rückblick auf die Wirkung von Mein Kampf eine Art von Schlussfolgerung gezogen: Eine zeitgenössische Karikatur aus der Zeitung Brabants Nieuwsblad vom Frühjahr 1945 mit dem Titel „Das Ende des NaziTraums“ zeigt eine zerstörte Landschaft und brennende Häuserfassaden Bismarck-Karikatur aus dem Jahr 1945, entnommen aus dem Schulbuch „Mensen en Machten“ (1978), S. 99 (Vorlage: Brabants Nieuwsblad 1945).40

38 Kleio voor de VWO-Top 1979, S. 49. 39 Kleio voor de VWO-Top 1979, S. 53–55. 40 Mensen en Machten 1978, S. 99. Mein Kampf in niederländischen Schulbüchern  113

sowie einen kleinen, bedrückten Adolf Hitler im Vordergrund und einen weit größeren Otto von Bismarck im Hintergrund, der Mein Kampf in seiner Hand trägt. Die Unterschrift lautet: Bismarck: „Kleiner Mann, was nun?“41 Eine dritte Entwicklung, die mit der zuletzt genannten zusammenhängt, ist, dass im Zusammenhang mit Mein Kampf Hitlers Persönlichkeit im Geschichtsunterricht bis in die 1980er-Jahre hinein ausdrücklich thematisiert wurde. Damit scheinen sich die Autoren auf die Seite der späteren Intentionalisten zu stellen. Der Antisemitismus wurde zum Beispiel in De Wereld van Vroeger en Nu im Jahr 1960 hauptsächlich als ein Konstrukt Hitlers betrachtet, das zurückzuführen sei auf seine „bestialische Persönlichkeit“ und auf seine Zusammenarbeit mit „verworrenen Nazis“ wie Alfred Rosenberg und Joseph Goebbels, die für die Propagandamaschine des Dritten Reiches verantwortlich gemacht wurden.42 Demnach war Hitler als Haupt aller Naziverbrecher vorrangig verantwortlich für Millionen von Opfern.43 Völkische Zitate aus Mein Kampf deuteten den Holocaust an und wurden schon in den frühen Lehrwerken als Beweis für seine „verworrenen und fanatischen Ideen“ gesehen.44 Die Entscheidungsmacht oblag demnach allein Hitler, so die Darstellungsweise der älteren Unterrichtswerke. In den neueren Geschichtsbüchern werden die zentrale Position Hitlers und die Bedeutung von Mein Kampf im Dritten Reich deutlich abgeschwächt. Bis in die siebziger Jahre wurde Mein Kampf noch ausführlich besprochen und analysiert. Schulbuchautoren betrachteten das Werk so, als ob es unverzichtbar für das richtige Verständnis des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs sei. In Schakels met het Voorgeslacht (1960) heißt es, dass Hitler im Jahr 1926 den zweiten Teil von Mein Kampf komplettierte. Zuvor hatte er seine Rassenpolitik erklärt, nun seine auswärtige Politik: Judenhass wie Antibolschewismus, die Idee des Lebensraums im Osten und der endgültige Bruch mit Bismarcks

41 42 43 44

Mensen en Machten 1978, S. 99. De Wereld van Vroeger en Nu 1960, S. 301 und S. 306. De Wereld van Vroeger en Nu 1960, S. 299–301, S. 306, S. 394. Schakels met het Voorgeslacht 1960, S. 241f.

114  Marc van Berkel

Russenpolitik findet man – laut diesem Unterrichtswerk – in Mein Kampf.45 Ab den achtziger Jahren, das belegt anschaulich die beigefügte Grafik, wird Mein Kampf zunehmend weniger zitiert, in den 1990er-Jahren und später dient es nur noch als Quellenbasis für die propagandistische Wirkung des Nationalsozialismus, wie etwa in den Bänden aus den Jahren 2003 und 2009.46 Der politische Inhalt von Mein Kampf wird kaum mehr erwähnt. In Sprekend Verleden (2009) heißt es zum Beispiel in einer Quelle über Propaganda: „Hitler war ein ausgezeichneter Redner und wusste, wie man Propaganda betreiben muss. In seinem Buch Mein Kampf schrieb er über Propaganda: „Die Masse ist wie eine Frau […,] die nach einer starken Kraft verlangt.“47 Nach Ansicht der späteren Schulbuchautoren scheint Hitlers Werk für das Verständnis der Geschichte des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs nicht unbedingt erforderlich zu sein. Historische Ereignisse wie der Aufbau des NS-Staates, der Holocaust oder der Kriegsverlauf werden zunehmend durch Fragmente aus Hitlers Reden oder durch andere historische Dokumente erläutert. Zudem wird das allgemeine Bild von Mein Kampf in den Geschichtslehrmitteln zunehmend kritisch-distanzierter, dies belegt ein Blick in die jüngeren Werke. In Geschiedenis van Gisteren aus dem Jahr 1988 heißt es, Mein Kampf sei „unzugänglich“, „fanatisch“ oder „inkohärent“. Mein Kampf sei lange Zeit „nicht als seriös betrachtet worden“; erst nach 1933 wurde das Buch öfter gelesen und „damit die Ideen Hitlers weiter verbreitet“.48 In einem anderen Geschichtswerk (1994) erwähnen die Autoren den Mangel an Wertschätzung in der Bevölkerung, weil „niemand außerhalb der NSDAP das Buch ernst genommen habe“.49

45 46 47 48 49

Schakels met het voorgeslacht 1960, S. 241f. Memo 2003, S. 260 und Sprekend Verleden Textbuch 2009, S. 115. Sprekend Verleden Arbeitsbuch 2009, S. 37. Geschiedenis van Gisteren 1988, S. 38. Op weg naar 2000 1994, S. 101. Mein Kampf in niederländischen Schulbüchern  115

Hitlers weiter verbreitet“.295 In einem anderen Geschichtswerk (1994) erwähnen die Autoren den Mangel an Wertschätzung in der Bevölkerung, weil „niemand außerhalb der NSDAP das Buch ernst genommen habe“.296

Nennungen von Mein Kampf 2

Seiten

1,5 1 0,5 0 1960 1960/2 1972 1979 1980 1988 1994 1995 1997 2003 2007 2009 Jahrgänge

Tabelle 1: Anzahl der Nennungen von Mein Kampf in niederländischen Lehrwerken Tabelle 1: Anzahl der Nennungen von Mein Kampf in niederländischen Lehrwerken

Nur in einer Hinsicht wird Mein Kampf auch nach den achtziger Jahren als politisches Fundament der NS-Bewegung ernst genommen: Die Nur in einer Hinsicht wird Mein Kampf auch nach den achtziger Jahren als politisches meisten niederländischen Geschichtslehrmittel betrachten Hitlers Werk Fundament der NS-Bewegung ernst genommen: Die meisten niederländischen noch als Basis für seine Rassenpolitik und damit als direkte Grundlage Geschichtslehrmittel betrachten Hitlers Werk noch als Basis für seine Rassenpolitik und für die Verfolgung der Juden und anderer Völker. Im ersten Teil von Mein damit als direkte Grundlage für die Verfolgung der Juden und anderer Völker. Im ersten Teil Kampf, so das Schulbuch Schakels met het Voorgeslacht aus dem Jahr 1960, von Mein Kampf, so das Schulbuch Schakels met het Voorgeslacht aus dem Jahr 1960, habe habe Hitler seine Rassenpolitik bereits erklärt, im zweiten Teil seine Hitler seine Rassenpolitik erklärt,erim„direkt zweiten Teil Politik, nunergehe auswärtige Politik, bereits nun gehe aufseine seinauswärtige Ziel“ zu: Weil das er „direkt auf sein Ziel“ zu: Weil er das Judentum mit dem Bolschewismus verbinde, „hasst Judentum mit dem Bolschewismus verbinde, „hasst er auch dieer 297 50 auch die Kommunisten“. Dieser Antisemitismus, wie er er in Mein Kampf dargelegt ist, Kommunisten“. Dieser Antisemitismus, wie in Mein Kampf dargelegt ist, basiere auf Hitlers eigenen Erfahrungen in Wien und habe zu „viel und heftiger Gewalt geführt“, schlussfolgert das Unterrichtswerk Wereld in Wording aus dem Jahr 1972.51 Unter dem aus Mein Kampf“ erwähnt das Lehrbuch Geschiedenis van Titel Gisteren„Denkbilder 1988, S. 38. Mensen en Machten aus dem Jahr 1978 die Gefangenschaft Hitlers ab Op weg naar 2000 1994, S. 101. 1923. Er „wurde in einem Schloss untergebracht, wo er anständig behanSchakels met het Voorgeslacht 1960, S. 241f. delt wurde und seine Zeit dem Buch Mein Kampf widmen konnte (…). Eine seiner Ansichten betraf die Schuld der Juden und Sozialisten an der deutschen Niederlage im Jahr 1918.“ Die Deutschen seien überhaupt „besser als andere Völker“, wie zum Beispiel Juden oder Zigeuner, „die das Land verlassen sollten“. Außerdem versprach Hitler, dass seine Partei Deutschland „tausend Jahre lang Glück und Wohlstand bringen würde“. 295 296 297

50 Schakels met het Voorgeslacht 1960, S. 241f. 51 Wereld in Wording 1972, S. 100 und S. 103. 116  Marc van Berkel

Unglücklicherweise schrieb er diese Prämissen in ein dickes Buch mit schwierigen Sätzen. Deswegen wurde es nur von einigen wenigen gelesen. Lange Zeit erkannte man dann auch die Gefahr Hitlers nicht.52 In dem Unterrichtswerk Kleio voor de VWO aus dem Jahr 1979 wird Mein Kampf als Beweis dafür gesehen, dass Hitler seine antisemitischen und völkischen Theorien zielstrebig und praktisch umgesetzt habe. Die Aufgabe für den Schüler in diesem Zusammenhang dabei lautet: „Versuche auf Grundlage der Theorien, die Hitler in Mein Kampf verkündete, eine Definition des Nationalsozialismus zu formulieren.“53 Mein Kampf ist für viele niederländische Geschichtsschulbücher nicht nur Hitlers Autobiografie, sondern auch der Beweis für seinen Antisemitismus.54 „Die Ideen, die Hitler und seine Anhänger in den kommenden Jahren herbeizuführen vermochten, wie etwa (…) den Antisemitismus und Rassismus, wurden in Mein Kampf verfasst.“55 In den neueren Ausgaben dieser Werke wird Mein Kampf nicht (oder kaum) mehr im Darstellungstext erwähnt, sondern nur in Auszügen als Quelle herangezogen.56 3. Fazit

Wie bereits erläutert, war Mein Kampf seit dem Zweiten Weltkrieg regelmäßig Gegenstand der politischen und gesellschaftlichen Diskussionen in den Niederlanden. Die Debatten über den rechtlichen Status des Buches und das Verbot seiner Veröffentlichung sowie die öffentlichen und gesellschaftlichen Kontroversen über die Nachhaltigkeit dieses Verbots finden in den untersuchten Schulbüchern aber keine Resonanz. Geschichtslehrer in den Niederlanden bringen den Jugendlichen schon seit über sechzig Jahren bei, dass Mein Kampf ein gefährliches Fundament des Extremismus war und ist, ohne eine grundsätzliche, kritische Auseinandersetzung mit dem Buch anzuregen. Die gesellschaftlichen Diskussionen um Mein Kampf seit 1945 oder ein Vergleich mit oppositionellen 52 53 54 55 56

Mensen en Machten 1978, S. 435. Kleio voor de VWO –Top 1979, S. 53-55. Memo 1995, S. 165. Factor Tijd 1997, S. 63. Sprekend Verleden, Arbeitsbuch 2009, S. 114-115. Mein Kampf in niederländischen Schulbüchern  117

Ansichten über diesen historischen Text werden nicht berücksichtigt. Bis in die 1980er-Jahre galt Mein Kampf in den niederländischen Geschichtslehrmitteln als Fundament des Nationalsozialismus. Dessen antichristlicher Charakter wurde hervorgehoben und mit als Beweis dafür gesehen, dass Hitler ein verwirrter und gefährlicher Mann gewesen sei. In den späteren Bänden wird Hitlers Werk hingegen als Quelle genutzt, vielfach in Zusammenhang mit der Rassenpolitik der Nationalsozialisten. Ab den 1990er-Jahren findet Mein Kampf kaum noch in den niederländischen Geschichtsschulbüchern Erwähnung. Es deutet sich also eine Diskrepanz zwischen der Aufrechterhaltung des Verbreitungsverbots und der Sensibilität in Bezug auf Mein Kampf in den öffentlichen Debatten einerseits und der immer geringer werdenden Bedeutung in niederländischen Geschichtsbüchern andererseits an. Die eher emotional geführte gesellschaftliche Diskussion um Mein Kampf, mit den besten Absichten der Bekämpfung von Diskriminierung und Rassismus, wird offenbar nicht durch die Schulbuchautoren oder andere im Bildungsbereich tätige Historiker, wie zum Beispiel das Niederländische Institut für Kriegsdokumentation (NIOD) oder das Zentrum Information und Dokumentation Israel (CIDI), getragen. So scheint die Diskussion über Mein Kampf in den Niederlanden in zweifacher Hinsicht tabuisiert zu werden. Auf der einen Seite versäumt man in der öffentlichen Debatte, durch einen Mangel an offener und kritischer Auseinandersetzung mit dem Text, einen gesellschaftlichen und pädagogischen Paradigmenwechsel zu vollziehen, der uns ermöglicht, das politische Bewusstsein einer Gemeinschaft zu steigern, die Vergangenheit zu reflektieren und eine humane Zivilisation hervorzubringen. Rücksicht auf die Gefühle der Kriegsgeschädigten ist natürlich wichtig und lobenswert, Hinterfragen bedeutet allerdings eher das Gegenteil von Verleugnung. Auf der anderen Seite gibt es auch in den niederländischen Geschichtslehrmitteln eine abnehmende Tendenz in Bezug auf eine historische Analyse von Mein Kampf. Insbesondere im Bildungsbereich würde man dies doch erwarten: In der heutigen technologischen und datenüberfüllten Gesellschaft ist eine kritische Auseinandersetzung mit umstrittenen Texten unerlässlich. So wie es die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann behauptet hat, lehrt die Geschichte dauernd, findet aber keine Schüler. Dazu braucht man Selbstbesinnung und einen offenen Blick in

118  Marc van Berkel

die Vergangenheit. Zu hoffen bleibt, dass in den Niederlanden auch die „Zweite Geschichte des Nationalsozialismus“ Schüler findet. Schulbücher: A Dr. J. Meijer, Schakels met het voorgeslacht. Deel II: Van het Einde der 18e eeuw tot Heden. Leerboek voor de Algemene en Vaderlandse Geschiedenis voor het VHMO (Amsterdam, J. M. Meulenhoff (evangelisch), 1. Druck, 1960). B Drs. J. Moora, Dr. H. Klompmaker, De Wereld van Vroeger en Nu. Leerboek voor de Algemene en Vaderlandse Geschiedenis Deel III Nieuwste Geschiedenis (Amsterdam, W. Versluys N. V. (evangelisch), 2. Druck, 1960). C W. Beemsterboer S. J., C. J. Canters, Mr. A. Henny, Mej. M. Jacobs, Dr. J. A. J. Jousma, Drs. H. J. Nannen, Dr. L. Suttorp, Drs. G. J. de Voogd, Dr. H. F. Wessels, Novem Wereld in Wording. Van 1919 tot heden, 4 HAVO/VWO. (Den Haag, Van Goor Zonen (ökumenisch), 1.Druck, 1972). D Dr. L. C. Bigel, Dr. J. L. J. Bosmans, Dr. A. L. Comstandse, O. Feitsma, Drs. F. R. Kat, J. G. Kikkert, Drs. J. G. Meijer, Dr. J. M. Pluvier, Dr. F. G. van der Poll, Mr. A. Stempels, Dr. J. Verseput, Drs. A. V. N. van Woerden, Kleio voor de VWO-top (Zeist, NIB (evangelisch), 2. Druck, 1979). E A. Adang, Dr. F. E. M. Vercauteren, Mensen en Machten. Examenboek Geschiedenis 4/5 HAVO, 5/6 VWO (Amsterdam, Meulenhoff Educatief (evangelisch), 2. Druck, 1980). F H. Ulrich, K. van Dijk, E. Oudenhoven, A. J. Plas, A. L. Verhoog, Geschiedenis van Gisteren. HAVO/VWO-editie (Den Bosch, Malmberg (katholisch), 5. Druck, 1988). G M. G. Hoogstraten, Drs. R. H. Kingma, T. Siegman, Op weg naar 2000. De Geschiedenis van 1870 tot Heden. Text- und Arbeitsbuch VWO-editie (Baarn, BKE (evangelisch), 2. Druck, 1994).

Mein Kampf in niederländischen Schulbüchern  119

H Dick Berents, Klaas van Dijk, Henk van Duijsen, Joop Heij, Anton van Hooff, Frank Kerstjens, Sandra van Lingen, Fik Meijer, Peter Rietbergen, Anjo Roos, Maarten van Rossem, Marjolein van Rotterdam, Hans Ulrich, Memo. Geschiedenis voor de Bovenbouw. Text- und Arbeitsbuch (Den Bosch, Malmberg (katholisch), 1. Druck, 1995). I Liek Mulder, Peter Mesker, Factor Tijd (Baarn, Nijgh Versluys (evangelisch), 1. Druck, 1997). J Colinda Backx, Dick Berents, Henk van Duijsen, Pia Fruytier, Marijke Harder, Jessie Jongejans, Marc Kropman, Jelle Kruidenier, Idzard van Manen, Joost Mioulet, Anjo Roos, Bram Roozemeijer, Marlouk Wester, Memo. Handboek VWO (Den Bosch, Malmberg (katholisch), 1. Druck, 2003). K Colinda Backx, Dick Berents, Henk van Duijsen, Pia Fruytier, Marijke Harder, Jessie Jongejans, Marc Kropman, Jelle Kruidenier, Idzard van Manen, Joost Mioulet, Anjo Roos, Bram Roozemeijer, Marlouk Wester, Memo. Handboek HAVO (Den Bosch, Malmberg (katholisch), 2. Druck, 2007). L Conny Bastiaans, Harald Buskop, Leo Dalhuisen, Roen van der Geest, Peter Lindhout, Frans Steegh, Cees de Waal, Joop Walhain, Sprekend Verleden, Geschiedenis Tweede Fase. Van Prehistorie tot en met Nieuwste Tijd VWO. Textund Arbeitsbuch (Baarn, Nijgh Versluys (evangelisch), 4. Druck, 2009).

120  Marc van Berkel

Clemens Zimmermann

Film und Kino im Nationalsozialismus Politische Strategien und soziale Praxis

Logiken der Medialisierung

Zunächst soll hier vom Begriff der Medialisierung als historisch lang anhaltendem Prozess der Moderne ausgegangen werden. Kulturelle Milieus, Gewohnheiten, Wissensinhalte, Attitüden und Sehweisen veränderten sich in Interaktion mit historisch wechselnden und unterschiedlich zur Verfügung stehenden Publikumsmedien.1 Für das frühe 20. Jahrhundert liegt als Referenz die Medialisierungsgeschichte von Corey Ross vor.2 Ross verfolgt die Frage, wieweit sich ein allgemeines Medienpublikum entwickelte. Es geht um die Zusammenhänge von allgemeiner Modernisierungsgeschichte und medialer Modernisierung und es wird das Problem behandelt, wie stark Politik auf die Medienentwicklung Einfluss gewann, ferner, wie stark Medien die Formen politischer Herrschaft veränderten. Für die Weimarer Zeit weist Ross nach, dass Medienkultur immer noch stark an die Kategorien Klasse, Religion und Milieu gebunden war, wozu auch insbesondere der Unterschied von ländlichem und städtischem Milieu gehörte. Die Zeit des Nationalsozialismus ist als Fortsetzung der im späten Kaiserreich und in Weimar angelegten Nationalisierung politischer Öffentlichkeiten und 1 Clemens Zimmermann, Mediennutzung in der ländlichen Gesellschaft. Medialisierung in historischer Perspektive, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 2 (2010), S. 10–22. 2 Corey Ross, Media and the making of modern Germany: Mass Communication, society, and politics from the Empire to the Third Reich, Oxford 2008; zum Folgenden auch: Clemens Zimmermann, Medien im Nationalsozialismus. �������� Deutschland, Italien und Spanien in den 1930er und 1940er Jahren, Wien u. a. 2007, S. 161–207. Film und Kino im Nationalsozialismus  121

der Kommodifizierung und Professionalisierung der Populärkultur zu betrachten. Zwar bestand, wie sicher zu betonen ist, ein Trend zu einer Homogenisierung des Geschmacks vor allem der großstädtischen Publiken, jedoch unterschieden sich weiterhin Publiken bezüglich ihrer Wahrnehmungen und in der Art und Weise, wie man sich mediale Inhalte aneignete. Bedeutungszuschreibungen erfolgten kollektiv und individuell selektiv, obwohl sich also tendenziell wachsend homogenisierte Konsumstrukturen ergaben. Nicht nur Ross, sondern praktisch alle einschlägigen Autoren gehen davon aus, dass das Gewicht und die Reichweite der modernen Medien nach 1933 noch einmal erheblich zunahmen, vor allem was die Verdreifachung der Kinogänger und die partielle Integration ländlicher Publiken betraf. Medien hatten, man hat dies unter dem Begriff der intendierten „Volksgemeinschaft“ diskutiert, wohl stark den Effekt, Publiken zusammenzuführen, ob wirklich harmonisch zu integrieren, bezweifle ich, man denke beispielsweise an die problematische Aufnahme von Ausgebombten auf dem Land. Es ergab sich eine Schwächung traditionaler politischer Milieus gerade auf den Dörfern durch Medieneinflüsse, etwa durch die mediale Mobilisierung von Jugendlichen zum Sport, der dann aber, auch wie etwa Urlaub mit der Hitlerjugend, eine eigene soziale Erlebnissphäre darstellte. Nicht allein die Medien führten zu einer Integration bzw. Durchdringung von Teilmilieus, sondern auch die allen Agrarideologien zuwider laufende Urbanisierung, Produktivierung der Agrarwirtschaft, Verlagerung von Rüstungsindustrie aufs Land und allgemein die Aktivierung einer konsum- und medienorientierten Erlebnissphäre leisteten ihren Beitrag.3 Kinogeschichte

Im Folgenden sollen hier Grundzüge der Filmpolitik entworfen und an einigen Produktionen charakteristische Ambivalenzen der Spielfilmproduktion aufgedeckt werden. Ferner verfolge ich einen kinogeschichtlichen Ansatz, der sich dadurch auszeichnet, dass neben generellen Kontexten, 3 Zuerst so konzipiert bei Hans Dieter Schäfer, Das gespaltene Bewußtsein. Deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit 1933–45, München u. a. 31983. 122  Clemens Zimmermann

den jeweiligen Medienensembles, den Medienökonomien und Medienpolitiken spezielle lokale Zusammenhänge des Sehens von Filmen geklärt werden. Dies impliziert die Frage nach Spielräumen von Aneignung und die Frage, wie „aktiv“ und kundig man sich Filmpubliken vorstellen kann. International ist dieser Ansatz mittlerweile unter dem Namen „New Cinema History“ bekannt, die weit über die Frage nach der Rezeption hinausgeht. Das Kino erscheint als Institution sozialer und kultureller Praktiken von der Produktion über Distribution bis zu den Lokalitäten der sozialen Rezeption mit ihren spezifischen Publiken. Das Kino war ein Erfahrungsort, ein Erlebnisort, es geht keineswegs nur um den einzelnen Film und seine prinzipiellen Lesarten. Gefragt wird nach Programmen und ihren lokalen Konstituierungsbedingungen, nach den Orten selbst, eben den Kinos, und seien es die Gasthaussäle, die auch sonst auf dem Land der Geselligkeit dienten; insofern war die Vorführung von Filmen immer verschieden kontextuiert. Es geht um unterschied­liche Zugänglichkeit des Mediums, das heißt geografische Verteilung, und es geht um die Frage nach unterschiedlichen Erfolgen. Selbst heutige Blockbuster sind im internationalen Vergleich keineswegs gleich ausgeprägt.4 Ferner werden die eigenständige Rolle der Kinobesitzer und ihre Auswahl- und Programmaktivitäten einzubeziehen sein, über die wir für die NS-Zeit kaum etwas wissen.5 Eine solche Kinogeschichte wird sich nicht mehr nur als Einzelmediengeschichte verstehen lassen, sondern ist in die allgemeine Geschichte von Kultur, Medien, Gesellschaft und sozioökonomischen Dimensionen 4 Richard Maltby/Daniel Biltereyst/Philippe Meers (Hrsg.), Explorations in New Cinema History. Approaches and Case Studies, Malden u. a. 2011; Kate Bowles, Lost Horizon: The Social History of the Cinema Audience, in: History Compass 11 (2011), S. 854–863; Richard Maltby, On the Prospect of Writing Cinema History from below, in: Tijdschrift Voor Mediageschiedenis 2 (2006), S. 74–96. 5 Eine Fallstudie zu Hamburg belegte, dass die Filmpolitik nach 1933 die Uraufführungskinos begünstigte und die Stadtteilkinos benachteiligte, dort waren im Kriege dann die verbliebenen Kinos überlaufen, die Besitzer wurden hinsichtlich Preisgestaltung genau überwacht, erzielten aber gute Einnahmen; Michael Töteberg, „Auch wir wissen, dass Filme immer Ware bedeuten“: Zur politischen Topographie und Ökonomie der Hamburger Kino-Landschaft 1933–1945, in: Harro Segeberg/Irina Scheidgen/Felix Schröter (Hrsg.), NS-Medien in der Metropolregion Hamburg. Fallstudien zur Mediengeschichte des Dritten Reiches, Hamburg 2009, S. 57–72. Film und Kino im Nationalsozialismus  123

eingebettet, etwa in die Diskurse über „Amerikanisierung“, die Geschichte konkret der säkularen amerikanischen Herausforderung auf den europäischen Kinomärkten, überhaupt in die Geschichte der Angebots- und Vertriebsstrukturen.6 In einer solchen Geschichte nehmen die urbanen Konstituierungskriterien von Publiken, die Rolle des Konsums und der Konsumkultur einen hohen Stellenwert ein. Ferner ist die Frage nach architektonisch-räumlichen Settings wichtig, die Zuschauerverhalten implizierten oder beeinflussten, Angebote setzten, Prestigewerte in urbanen Landschaften markierten. Die Lage eines Kinos in einer Stadt, das Angebot für diverse Bevölkerungen an einzelnen Orten oder in Regionen, vor allem aber die soziale und mediale Konstituierung des Publikums interessieren die Kinogeschichte. Kinopubliken sind nicht allein in Bezug auf bestimmte Filme zu denken, sondern als eigenes Phänomen mit performativen und emotionalen Dimensionen, wobei in den 1930erJahren es für viele Publiken gar nicht primär wichtig war, welcher Film jeweils lief. Man erwartete eine gewisse Qualität, akzeptierte aber zunächst sehr allgemein das Angebot bestimmter Filmtheater, die wiederum geografische, soziale und konfessionelle Einzugsgebiete hatten. Im Folgenden möchte ich auf der hermeneutisch-semiotischen Analyseebene nicht mehr so sehr nach intendierten Botschaften als nach Ambivalenzen und Decodierungen fragen, und die sahen individuell und gruppenspezifisch sehr unterschiedlich aus. Gefragt wird auch nicht mehr nur nach einzelnen Produkten, sondern nach dem Erfolg der versuchten Instrumentalisierung von Medien. Politische Strategien der nationalsozialistischen Filmpolitik

Rainer Rother hat die Grundtendenzen der NS-Filmpolitik mit den Stichworten Homogenisierung, Konzentration und Kontrolle umschrieben.7 Hierbei bezieht er sich vor allem und zu Recht auf die Interaktion von politischem System und Filmindustrie. 6 Viktoria de Grazia, Mass Culture and Sovereignity: The American Challenge to European Cinemas, 1920–1960, in: Journal of Modern History 1 (1989), S. 53–87. 7 Rainer Rother, Nationalsozialismus und Film, in: Bernd Heidenreich/Sönke Neitzel (Hrsg.), Medien im Nationalsozialismus, Paderborn 2010, S. 125–144. 124  Clemens Zimmermann

Was mit „Übergangsfilmen“ und Themensuchen begann, endete im Krieg mit immer neuen Wendungen der Filmpolitik. So war 1940/1941 eine Welle von politischen Filmen zu verzeichnen, die sich gegen Großbritannien richteten, angesichts der Kriegsentwicklung wurden dann aber Melodramen8 und Unterhaltungsfilme immer wichtiger, was einige große Politfilme wie Der Große König, Die Entlassung und zuletzt noch Kolberg nicht ausschloss. Am Ersteren wurde im Publikum vieles geschätzt, so die Modernisierung des Preußenbildes, auch schauspielerische Leistungen, kritisiert aber, dass „Tendenzen plump aufgetragen“ seien – Kinozuschauer hatten eigene Urteile.9 Die Zensurpolitik schwankte ebenso zwischen – selten erlassenen – expliziten Verboten und präventiven Strategien, wie sie vielfach in der Fachliteratur überzeugend beschrieben wurden. Auch die Geschichte des Dokumentarfilms ist in diese wechselvollen Abläufe einzubeziehen. Das Politische am Film im Nationalsozialismus wird vielfach trotz der eindeutigen Tendenz zum Unterhaltungsfilm in seiner sogenannten Ablenkungsfunktion gesehen. Wirklich in Quellen nachweisen kann man das ganze sozialpsychologische Konstrukt der Ablenkungsfunktion nicht, dies würde Arbeiten erfordern, die noch nicht vorliegen. Die „Ablenkung“ verweist wiederum auf die ebenfalls häufig angeführte eskapistische Funktion des Kinos. Ohne Unterhaltung war kein Eskapismus möglich, wie er, Jo Fox zufolge,10 in Großbritannien wegen der Entbehrungen und Unsicherheiten im Kriegsverlauf für die Bevölkerung genauso nötig war. Die englischen Kinozuschauer erkannten sowohl politische Aussagen in Filmen, störten sich gar nicht übermäßig daran, wollten aber dennoch spannend unterhalten werden. Eskapismus und Unterhaltung wiederum gelten als „politische“ Phänomene auch deswegen, weil Goebbels selbst (gegen verbohrte ideologische Gegner) unterstrich, dass das Volk in „guter Stimmung“ zu halten sei. Tatsächlich war 8 Hermann Kappelhoff, Politik der Gefühle. Veit Harlan, Detlef Sierck und das Melodrama des NS-Kinos, in: Harro Segeberg (Hrsg.), Mediale Mobilmachung I, München 2004, S. 247–265. 9 Heinz Boberach (Hrsg.), Meldungen aus dem Reich 1938–1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, Nr. 287, 28.5.1942, Herrsching 1984, S. 3758–3760. 10 Jo Fox, Filming Women in the Third Reich, Oxford/New York 2000, S. 310. Film und Kino im Nationalsozialismus  125

auch in den „zeitnahen“ Filmen des „Dritten Reiches“ kaum etwas vom geformten und militarisierten Alltag zu bemerken.11 Zwar gelang der NS-Filmpolitik die Gesamtsteuerung der Produktion, jedoch unter Verlusten: Die militärische und politische Entwicklung überholte solche sogenannten zeitnahen Filme des Öfteren. Zwar wurde vielfach Qualitätsfilm produziert, jedoch unter kaum vertretbarem Aufwand und mit bezweifelter internationaler Konkurrenzfähigkeit, obwohl sich etwa in den Niederlanden 1934–1936 zeigt, dass deutsche Filme wie Wenn du jung bist, gehört dir die Welt oder Mein Herz ruft nach dir sehr gut platziert waren.12 Mit dem Verschwinden der Genres Kriminalfilme, realistische Filme und zeitkritische Filme beraubte sich der deutsche Film attraktiver Angebote. Technisch war man stets in Konkurrenz mit Hollywood, das unbestreitbar die Referenz darstellte.13 Wie ein roter Faden zog sich durch die gesamte Spielfilmpolitik der NS-Zeit, die unter ständig mehr zent11 Rainer Rother, What is a national-socialist film, in: Historical Journal of Film, Radio and Television 4 (2007), S. 455–469, S. 463. Zum erfolgreichen deutschen Unterhaltungsfilm im ansonsten gegenüber NS-Kulturveranstaltungen widerspenstigen Luxemburg, wo die deutschen Behörden in den ländlichen Kinos jegliches Niveau vermissten: Paul Lesch, Heim ins Ufa Reich? NS-Filmpolitik und die Rezeption deutscher Filme in Luxemburg, Trier 2002, S. 70–76 und S. 102–106. Zum Teil notgedrungen, teils aber auch freiwillig und positiv aufgenommenen Angebot an deutschen Unterhaltungsfilmen in den besetzten Niederlanden: Ingo Schiweck, „[…] weil wir lieber im Kino sitzen als in Sack und Asche“. Der deutsche Spielfilm in den besetzten Niederlanden 1940–1945, Münster 2002. 12 Clara Pafort-Overduin, Distribution and Exhibition in the Netherlands, 1934– 1936, in: Maltby (wie Anm. 4), S. 125–139. Die Frage ist, ob der Rückgang des deutschen Films in den Niederlanden bis zur Besatzungszeit die Folge eines „politischen“ Boykotts war oder weil die amerikanischen Filme nun besser abschnitten, weil sie untertitelt waren. Vgl. auch Chris Wahl, Sprachversionsfilme aus Babelsberg. Die internationale Strategie der UfA 1929–1939, München 2009. 13 Parallel ist auf den Bereich des sogenannten „Deutschen Humors“ hinzuweisen, der sich der Weimarer Satire und Groteske entkleidet hatte. Allerdings im Bereich des populären Theaters war Komik in gewissen Formen groß geschrieben, eben weil dieses Volkstheater populär war und Spannung, Rührung, Gefühle bediente, und dies wiederum gewann einen großen politischen Eigen- und Stellenwert, während es kein explizit nationalsozialistisches Theater gab; vgl. Patrick Merziger, Nationalsozialistische Satire und „Deutscher Humor“. Politische Bedeutung und 126  Clemens Zimmermann

ralisierten Produktionsbedingungen eher litt als profitierte, die Frage der Auseinandersetzung mit der US-Konkurrenz (quantitativ wie qualitativ, auf dem Binnenmarkt wie hinsichtlich der Exportierbarkeit der deutschen Produkte). Das persönliche Regime Goebbels’ – obwohl es auch Erfolge zeitigte – war nicht in der Lage, genügend Kreativität freizusetzen, und der „Filmminister“ und seine teilweise unfähigen Mitarbeiter waren nicht professionell genug, um über einzelne politische Schlüsselproduktionen hinaus die Konkurrenzfähigkeit auf breiter Ebene zu erreichen. Sowohl im Filmschaffen selbst wie im sozialen Raum des Kinos bestanden gewisse Freiräume, die man in Bezug zu den Verhaltenszwängen, die sonst die Gesellschaft dominierten, sehen muss. In der neuen, repräsentativ angelegten Arbeit von Sabine Steidle14 geht es um die erhebliche Erweiterung des Filmtheaterparks, auch in Richtung Landstädte, sowie die Frage nach architektonischen Formen, welche die Autorin einer explizit „vielfältigen“ Moderne mit „dunklen“ Seiten vom Funktionalismus bis zu vernakulären Konzepten zuordnet. Es zeigt sich, dass auch der Kinobau während der NS-Zeit im Kontext der lang anhaltenden Prozesse von Medialisierung und Erlebnisorientierung stand: Populärkultur, Motorisierung und Medienkommunikation verweisen auf eine ebensolche Modernität. Der Kinobau war durchaus international orientiert, wenngleich nachholend. Das Kino bot primär ein politikfernes Erlebnis, es suchten sich selbst die Vertreter des Regimes in festlichen Filmpremieren als Kinofreunde und nicht einfach als sich selbst darzustellen. Hier standen aufwendige „Farb- und Lichtinszenierungen der Kinofassaden, Glamour und Starkult im Vordergrund“15, nicht nur bei expliziten Propagandafilmen, sondern überhaupt bei den Premieren der Unterhaltungsfilme. Das Kino war in Planung und Durchführung immer stärker in Richtung einer Eventkultur orientiert, aber unter nationalsozialistischem Vorzeichen, nämlich neben dem allgemeinen Filmerlebnis einen spezifischen Gestaltungsanspruch des Regimes und seiner einzelnen Akteure zu realisieren. Kinoreklame etwa sollte Öffentlichkeit populärer Unterhaltung 1931–1945, Stuttgart 2010, S. 271 f., S. 364–370. 14 Sabine Steidle, Kinoarchitektur im Nationalsozialismus. Eine kultur- und medienhistorische Studie zur Vielfalt der Moderne, Trier 2012. 15 Ebd., S. 72. Film und Kino im Nationalsozialismus  127

zurückhaltend sein, das Interieur behaglich und technisch perfekt, das Kino sollte Ausdruck einer Kunst für das ganze Volk sein, aber es konnte soziale Differenzen und die Wahrnehmung sozialer Unterschiedlichkeit nicht einebnen und es setzte sich eigentlich ein langer historischer Trend, wie er in den Industriegesellschaften allgemein zu beobachten ist, zu einer „middle-brow“ durch.16 Die nationalsozialistische Kinopolitik strebte selbst keine völlige Politisierung des Kinos an, allerdings zeigen Jugendfilmstunden und „Volksfilmtage“, die Etablierung eines parteieigenen Landkinos und die Beflaggung von Kinofassaden bei Feiertagen, dass es nicht einfach als Rückzugsort gesehen werden kann. Die Form der Kinobauten blieb trotz Veröffentlichungen vorbildlicher Bauten, trotz baupolizeilicher Reglementierungsmöglichkeiten heterogen, eklektisch und Heimatstil gab es auch in den USA und Großbritannien. Ausgeschlossen waren allerdings von Glas und Licht geprägte Fassaden der Newsreel-Kinos, International Style und Art Deco. Im nationalsozialistischen Deutschland wurden eher die kleinen Kinobauten und nicht die Filmpaläste gefördert.17 Die tatsächliche Baupraxis war weit von Vorgaben entfernt, die von zahlreichen unterschiedlichen Akteuren herrührten mit differierenden Zielen, und die Kinobesucher wiederum erwarteten exotische und grelle Plakate, gewisse gestalterische Merkmale setzten sich durch, letztlich aber waren die Lichtspielhäuser „durch den Geschmack und das Erfolgsstreben des einzelnen Kinobetreibers und des jeweiligen Publikums geprägt“.18 Die Frage des Kinobaus impliziert weitere Überlegungen nach der ambivalenten Modernität des gesamten Medienkomplexes: die wachsende Intermedialität, die Einführung des Tonfilms, die Farbfilmproduktion, die erheblichen technischen Innovationen bei der Kriegswochenschau oder die Übernahme und Akzeptanz des Hollywood-Starsystems. Es war gleichzeitig Platz für den Typ des Stars als „großer deutscher Künstler“ (Heinz Rühmann) oder für Glamourstars wie den mütterlichen Vamp Zarah Leander, genauso für die amerikanischen, zumal Letztere gegenüber den meist mit mittelmäßigem Budget produzierten deutschen

16 Ross (wie Anm. 2), S. 303. 17 Steidle (wie Anm. 14), S. 90, S. 369f. 18 Ebd., S. 374. 128  Clemens Zimmermann

Filmen in den teuren Glamourproduktionen zu sehen waren.19 Allerdings entsprachen weder die weiblichen Stars noch die dargestellten Filmfrauen zuallermeist dem Ideal „von kinderreichen, hochgewachsenen, athletischen Übermenschen mit derb-schöner ‚arischer‘ Physiognomie und blondem Haar“.20 Gründe für die Attraktivität von Filmen

Erfolg beim Publikum war für Industrie und Ministerium zentrale Größe.21 Die Filmindustrie richtet sich stets an Erfolgskriterien aus, auch hinsichtlich der Durchsetzbarkeit von innovativen Genrekonstruktionen gegenüber dem Kanon bestimmen die Publiken entscheidend mit. 19 Stephen Lowry, Das Starsystem im Kino des „Dritten Reiches“. Überlegungen zur Modernität des NS-Kinos am Beispiel von Heinrich George und Heinz Rühmann, in: Erhard Schütz/Gregor Streim (Hrsg.), Reflexe und Reflexionen von Modernität, Bern 2002, S. 193–208. Nach Karl Christian Führer, To-Fold Admiration: American Movies as Popular Entertainment and Artistic Model in Nazi Germany, 1933–1939, in: Karl Christian Führer/Corey Ross (Hrsg.), Mass Media, Culture and Society in Twentieth-Century Germany, Houndmills 2006, S. 97–112, hatten amerikanische Filme bis 1938 ungefähr einen Marktanteil von 20 Prozent. Nur ein kleiner Teil aller amerikanischer Filme war (Anzahl ungefähr jährlich 40) in Deutschland zu sehen, was auch an den hohen Kosten für Synchronisation lag, aber mit glamourösem Starkino erreichte MGM gute Einnahmen. Die amerikanischen Firmen suchten nur solche Filme auf den Markt zu bringen, die „geeignet“ für das deutsche Publikum schienen, keine düsteren, zu erotischen oder gewaltorientierten Produktionen. Grundsätzlich wurden (bis auf einige B-Pictures, die noch bis 1936 in deutschen Arbeiterkinos liefen) nur die aufwendigen Produktionen exportiert, eine „sanitäre“ Version des eigentlichen Hollywoodkinos, aber dieses war ungemein erfolgreich und stark in den Top-Ten-Listen vertreten. Greta Garbo, Marlene Dietrich und der Kinderstar Shirley Temple waren außerordentlich erfolgreich, screwball comedies hingegen, die im Oberschichtsmilieu angesiedelt waren, fielen beim Arbeiterpublikum an der Ruhr durch (S. 103). „Distinct audiences … responded differently to Amercian movies“, Thriller und Western waren beispielsweise in bürgerlichen Zweitaufführungstheatern nicht beliebt, wohl aber in einfachen Theatern am Stadtrand Hamburgs (S. 104). 20 Brigitta Welzel, Die Beliebigkeit der filmischen Botschaft. Aufgewiesen am „ideologischen“ Gehalt von 120 NS-Spielfilmen, Rheinfelden u. a. 1994, S. 2. 21 Rother (wie Anm. 7), S. 135. Film und Kino im Nationalsozialismus  129

Kriegsfilme oder der von Goebbels als einziges antisemitisches Meisterwerk betrachtete Jud Süß hatten zwar nur einen ganz kleinen Anteil an der Gesamtproduktion, erlebten aber zumindest kurzfristig Publikumserfolg und leben in der Erinnerung besonders stark fort, besetzen meist die Vorstellung vom gesamten filmischen Raum im Nationalsozialismus, zumal sich die Historiografie überaus auf solche Genres konzentriert hat. Mit Filmen wie die Graham Greene zufolge bombastische Feuertaufe entwickelten sich stark geschnittene dokumentarische Formate mit innovativen Luftbildaufnahmen, die manche Zuschauer überforderten, aber im Moment des Jahres 1941 andere auch faszinierten. Zitat aus dem Authentizität versprechenden Vorspann: „Die Aufnahmen entstanden während der Kampfhandlungen.“22 Hier zeigen sich klare Motive der Attraktivität: Viel Werbung, man war also an einem Ereignis dabei, die Bevölkerung fühlte sich laut den Meldungen aus dem Reich sicherer nach dem Film, man war auch beeindruckt davon, dass einige der Filmemacher bei den Drehs gefallen waren. Jedoch hatte ein Teil der Zuschauer, wohl vor allem Frauen, „Mitleid“ mit den Polen und war über die „Schrecken des Krieges“ angesichts des zerstörten Warschaus entsetzt und verängstigt.23 Mit solchen Emotionen nahm das Kinopublikum schon die Endzeitstimmung vorweg, als viele Deutsche Rache und Vergeltung der „Feinde“ fürchteten, was wiederum zum sinnlosen Durchhalten und Verstärkung des Terrors beitrug.24 Der Kriegs- und Fliegerfilm Kampfgeschwader Lützow (1941) war offensichtlich ein Publikumserfolg, weil gerade der Polenfeldzug erfolgreich abgeschlossen war, sich das nationale Thema mit der Aktivierung von Technikbegeisterung und dem Glauben an die Überlegenheit der deutschen Technik verband, weil die zentralen Figuren – Piloten – Jugendliche zur Identifikation einluden und semidokumentarisches und bekanntes dokumentarisches Material in die fiktionalen Szenen eingeschnitten war, was auf eine geglückte Authentifizierungsstrategie hin-

22 Gerhard Paul, „Feuertaufe“. Der „Blitzkrieg“ als Erlebniskino und die Maschinisierung des Sehens, in: Heidenreich/Neitzel (wie Anm. 7), S. 145–160. 23 Boberach (wie Anm. 9) Nr. 87, 14.5.1940, S. 1127–1139, S. 1132f. 24 Ian Kershaw, Das Ende. Kampf bis in den Untergang – NS Deutschland 1944/45, München 22011. 130  Clemens Zimmermann

auslief.25 Das war indes eine aktuelle, nicht ohne Weiteres reproduzierbare Konstellation, denn schon 1942, mit wachsender Luftüberlegenheit der Alliierten, hätte man den Film nicht mehr platzieren können. Wo propagandistisch relevante Filme auf deutliche Resonanz stießen, war das allerdings nicht einfach das Ergebnis einer medialen Steuerung des Publikums über korrekt vermittelte Inhalte. Wunschkonzert der Wehrmacht (1940), an dem sich die Bedeutung des Medienverbundes von Musik, Radio und Film zeigte, wo Dokumentaraufnahmen eingeblendet waren, also Intermedialität gezeigt und erlebbar wurde,26 nahmen Zuschauer in positivem Sinne als „modern“ wahr, die Akzeptanz galt einem explizit als geschickt konstruiert bezeichneten Dokudrama. Die Zuschauer waren wohl dazu motiviert, den Film als Überprüfung ihrer eigenen zeitgenössischen Erfahrungen anzuschauen, als eine Art Zeitporträt oder -reportage. Er war wegen der Thematisierung von nahen öffentlichen Ereignissen ein Stoff für Gespräche, hinzu trat massive Werbung, vor allem die Popularität der gleichnamigen Radiosendung kam offensichtlich ebenfalls dem Film zugute.27 Ebenso attraktiv waren darin auch die populären Künstler und, dass man über 20 Minuten lang die Produktion der Radiosendung Wunschkonzert miterleben konnte, in einer Zeit, zu der es keine Fernsehliveschaltungen gab. Einschränkend möchte ich darauf hinweisen, dass diese Erfolgsgründe teils auf Extrapolationen beruhen, nicht direkt überprüfbar sind. Es fehlt immer noch an Studien, die auf der Basis lokalen Materials hierzu gesicherte Erkenntnisse zur Verfügung stellen könnten.

25 Fox (wie Anm. 10), S. 99–102; zum Inhalt: Klaus Kanzog, Staatspolitisch besonders wertvoll. Ein Handbuch zu dreißig deutschen Spielfilmen der Jahre 1934– 1954, München 1994, S. 246–252. 26 Peter Pleyer, Volksgemeinschaft als Kinoerlebnis. Bemerkungen zu dem deutschen Spielfilm „Wunschkonzert“ (1940), in: Arnulf Kutsch/Christina Holtz-Bacha (Hrsg.), Rundfunk im Wandel, Berlin 1993, S. 75–84; Hans-Michael Bock, Alliierte für den Film. Arnold Pressburger, Gregor Rabinowitsch und die Cine-Allianz, München 2004. 27 Boberach (wie Anm. 9), Nr. 163, 17.2.1941, S. 2003–2018, S. 2005ff. Film und Kino im Nationalsozialismus  131

Eindeutige Botschaften?

Stephen Lowry kritisierte die Verengung der Forschung auf vordergründige politische Aspekte und verwies darauf, dass sowohl Eindeutigkeit von Ideologien stets ebenso vorausgesetzt werde wie eine Wirkung auf das Publikum.28 Wichtig war auch sein Hinweis, dass das Politische im Film des Nationalsozialismus nur verstanden werden könne, wenn man einen umfassenden Begriff von in Filmen artikulierten Werthaltungen zugrunde lege. Ferner kann es nur darum gehen, Interaktivitäten zwischen Ideologie und Unterhaltung zu ermitteln, die gesellschaftspolitische Relevanz gerade deswegen hatten, weil sich in ihrer Sphäre Vorstellungen über die Welt bildeten, Wünsche und Träume erlebt wurden. Vergnügen konnte sich aber auch jenseits und gegen die Macht entwickeln.29 Dass Filme, die Vergnügen bereiteten, also unterhaltend angelegt waren, stets einseitig affirmativ gegenüber herrschenden oder übermächtig werdenden Normen angelegt waren, wird immer stärker bestritten. Eine Untersuchung melodramatischer Filme von Astrid Pohl30 kam zu dem Ergebnis, dass sie sich zum einen, wie in Damals oder Im Schatten der Berge, prinzipiell gut dafür eigneten, propagandistische Inhalte zu vermitteln, da sie Empathie und Affekte erweckten. Es bestimmten, so Pohl, Zeitpunkte der Rezeption, mentale Vordispositionen, Unterschiede von Könnerschaft und affirmativen oder subversiven Haltungen, ob sich Zuschauer von den Angeboten erreichen ließen oder sich distanzierten. Schließlich zeigt Pohl, dass die ganze Frage einer erheblichen historischen Dynamisierung bedarf, so wird die Phase starker Stimmungsschwankungen in der Bevölkerung in den Jahren 1939 und 1940 von der wachsenden Desillusionierung seit 1943 unterschieden. Insgesamt blieb es bei der inhärenten Eigenschaft des Genres, individuelle Glücksansprüche der Protagonisten gegenüber Herrschaftsideologie als Tabuzone zu schützen. So wurde die Möglichkeit, Filmen eine eindeutige Aussage zuzuweisen, radikal infrage gestellt. Wie allein die Theoriedebatte um „Film als 28 Stephen Lowry, Pathos und Politik. Ideologie in Spielfilmen des Nationalsozialismus, Tübingen 1991, S. 163. 29 Merziger (wie Anm. 13), S. 31; Lowry (wie Anm. 28), S. 166. 30 Astrid Pohl, Tränenreiche BürgerTräume. Wunsch und Wirklichkeit in deutschsprachigen Filmmelodramen 1933–1945, München 2010,vor allem S. 335–342. 132  Clemens Zimmermann

„Friedrich Schiller – der Triumph eines Genies“ von Herbert Maisch (1940): Ambivalente Botschaften zwischen Freiheitspathos und Geniekult. BArch, PLAK 105/ 4581

Sprache“ zeigt, ist die Eindeutigkeit nicht gegeben, da Form und Inhalt eine jeweilige Wechselbeziehung eingehen, da mehrdeutige Symbole verwendet werden, da sich Details, die nicht passen, querzustellen scheinen, da Sprache ein paralleles Bedeutungsuniversum evoziert, das sich vom realen prinzipiell unterscheidet.31 Hans Krah zeigte, dass mit der Einführung deutscher Farbfilme wie Die goldene Stadt oder (par excellence) Münchhausen das Gezeigte gerade als medial erzeugte Form und das Dargestellte als künstliche Welt erschien, das heißt eben nicht real, sondern genrehaft.32 Zu Herbert Maischs Friedrich Schiller – der Triumph eines Genies von 1940: Die gängige Interpretation, dass dies ein absolut konformer propagandistischer Geschichtsfilm gewesen sei, verweist als Beleg auf die 31 Francesco Cassetti, Theories of Cinema, Austin 1999, S. 54–73. 32 Hans Krah, Technik, Farbe, Wirklichkeit. Der Diskurs um Farbe und die deutschen Farbfilme 1941–45, in: Harro Segeberg (Hrsg.), Die Medien und ihre Technik. Theorien – Modelle – Geschichte, Marburg 2004, S. 286–302; auch Friedemann Beyer/Gert Koshofer/Michael Krüger, UFA in Farbe: Technik, Politik und Starkult zwischen 1936 und 1945, München 2010. Film und Kino im Nationalsozialismus  133

Befürwortung durch das Propagandaministerium, auf die Inszenierung von gleich zwei Uraufführungen, nämlich neben Berlin eine im gerade eroberten Straßburg am 14. November 1940, auf die Möglichkeit, besonders für jugendliche Kinogänger, sich mit einem als Lichtfigur inszenierten, im Auftreten allerdings reichlich überzogenen und überhöhten Schiller, dargestellt von Horst Caspar, zu identifizieren. Dass hervorragend besetzte Produkte, dass „kongeniale“ Filmmusik, dass Angebote „der affektiven Identifikation mit verlässlich etablierten Leitfiguren“ im Zusammenhang mitreißender Konfliktverläufe in propagandistischen Geschichtsfilmen beim Publikum erfolgreich waren (aber inwiefern eigentlich?), ist für Harro Segeberg ausgemacht. Waren aber solche Filme eindeutig codiert?33 Die ideologische Tendenz scheint klar, wenn in dem Film der Kult deutscher Genies explizit entrollt wird, wie auch bei den anderen Geschichtsfilmen wie Robert Koch (1939) oder Andreas Schlüter (1941/1942). Die politische Ausrichtung des Schiller-Films erscheint auch als eindeutig, wenn gegen Ende des Films bei der Darstellung der historischen Inszenierung der Räuber im Natio­ naltheater (Mannheim) ein Zuschauer ruft, dem deutschen Volk sei ein Nationaldichter geboren. Solche Filme waren indes nicht die Bebilderung eines Programms, sondern es ging darum, Affekte zu stimulieren und Geschichtsbilder mit Leben zu erfüllen.34 Hier lehnte sich der gezeigte Schiller aktiv gegen die politische Herrschaft eines protzigen (und heute jedenfalls etwas lächerlich erscheinenden) Potentaten auf, des Herzogs Carl Eugen. Dieser stand in der nationalsozialistischen Geschichtsinterpretation zwar für einen korrupten oder bestenfalls überholt paternalistischen Kleinstaatendespotismus, war aber dennoch mit den Insignien der Macht ausgestattet, verkörperte Macht schlechthin. Die hier eindrücklich dargestellte Repression konnte von den Zuschauern auf die im „Dritten Reich“ bezogen werden.35 Es handelt sich eindeutig um Rebellion, dargestellt in der Kellerszene und zugespitzt in den Worten, die Schiller dem Herzog entgegenschleudert, und hierbei tritt eine empha33 Harro Segeberg, Die großen Deutschen. Zur Renaissance des Propagandafilms um 1940, in: Ders. (Hrsg.), Mediale Mobilmachung I. Das Dritte Reich und der Film, München 2004, S. 267–291, S. 274 ff. 34 Ebd., S. 279. 35 Ebd., S. 281. 134  Clemens Zimmermann

tisch liberale Tendenz so deutlich hervor, dass dies heute überrascht. Nicht nur an der gleich zu Beginn eingeführten Figur des eindeutig frühliberal konnotierten Schubarts, der die Menschenzüchtung kritisiert, zeigt sich die Gegentendenz, sondern auch am Herzeigen der Zwingburg des Hohenaspergs. Trotz der historischen Kontextuierung waren dies Symbole allgemeiner Art. Die Hohe Karlsschule erscheint im Film als gnadenlose Drillschule, als Unterdrückung auch jeglicher persönlicher Intimität, was sich mühelos auf die NS-Sozialisationsagenturen übertragen ließ. Die Forderung nach „Gerechtigkeit, nach Freiheit meinem Geist“ ließ sich 1940 anders als im intendierten historisierenden Sinn verstehen, Zitat: „wie soll es denn anders werden … wenn keiner sagt wie es ist“. Immerhin vermerkten die SD-Berichte, dass „einige“ im Kinopublikum den Film so interpretierten, als ob Zeitkritik an reglementierter Jugenderziehung beabsichtigt sei.36 Differente und kompetente Publiken

Das größte Desiderat in diesem Zusammenhang ist zweifellos die empirische Erforschung der Kinopubliken, was essenziell auch mit dem Mangel an zeitgenössischen Studien zusammenhängt. Generell handelte es sich um eine Expansion, um ein Vordringen des Kinos in sonst noch nicht zugängliche Kreise. Allerdings begann bereits im Jahr 1935 die Vertreibung jüdischer Zuschauer.37 Es gab große lokale Unterschiede, auch zwischen Großstädten, bei den Besuchsfrequenzen, weiterhin auch große Stadt-Land-Unterschiede, zu erklären durch fehlende Infrastruktur wohl mehr als durch kulturelle Vorbehalte und auch durch die Arbeitsbelastung der Landfrauen. Überhaupt waren Frauen, besonders nichtbürgerliche Frauen, unterrepräsentiert, aber ihr Anteil war höher als in anderen Vergnügungsstätten38, männliche Jugendliche stark überrepräsentiert, generell begann sich das Kino als eine Jugendinstitution stark

36 Boberach (wie Anm. 9), Nr. 157, 27.1.1941, S. 1944f. 37 Gerhard Stahr, Volksgemeinschaft vor der Leinwand? Der nationalsozialistische Film und sein Publikum, Berlin 2001, S. 161–163. 38 Ebd., S. 68f., S. 79–81. Film und Kino im Nationalsozialismus  135

Jugendliches Kinopublikum vor dem „Lichtspielhaus Fellbach“, um 1943. Foto: Stadtarchiv Fellbach, F-7012-1

zu akzentuieren,39 erwachsene Arbeiter hingegen waren schwerer zu begeistern, konnten sich häufig an gesehene Filme gar nicht mehr erinnern.40 Es entwickelte sich keine Volksgemeinschaft vor der Leinwand, aber ein vor allem Jüngeren, zunehmend auch in Vor- und Kleinstädten breit zugängliches kommerzialisiertes und expandierendes Angebot der Unterhaltungskultur.41 Kino konstituiert sich nicht allein durch Filme, sondern erst durch sein Publikum, hier verstanden nicht als normierter und implizierter spectator, sondern als real viewer, das sich Filme aneignet, das grundlegende Genres durchaus kennt, das eine soziale Realität darstellt, das einen Ort, eben das Kino hat, das allerdings nicht so interaktiv sein kann wie ein Theater- oder Konzertpublikum und das auch keine Kontrolle über die Medien selbst hat, aber ein Urteil stets zu artikulieren für sein Recht hält. Publikum, das man als anwesendes Publikum ebenso verstehen muss 39 Vergleiche hierzu die allerdings auf Basis begrenzten Materials gewonnenen empirischen Erkenntnisse zum Kinopublikum bei Bernd Kleinhans, Ein Volk, Ein Reich, ein Kino. Lichtspiel in der braunen Provinz, Köln 2003, S. 85ff., S. 110, der trotz allgemeiner Expansion der Besucherzahlen die lokalen und regionalen Unterschiede betont. 40 Stahr (wie Anm. 37), S. 87–89, S. 112–114. 41 Steidle (wie Anm. 14), S. 81. 136  Clemens Zimmermann

wie als soziales Konstrukt, trug den Starkult, war in den Großstädten geschmacklich stark diversifiziert, viele Zuschauer sahen sich Filme nüchtern und skeptisch an, es wurde kommuniziert darüber, das sind Akte der Distanzierung. So belegen die Meldungen aus dem Reich unzählige Male, wie einzelne Filme sehr differenziert eingeschätzt wurden, 1940 heißt es, Wie Casanova heiratet sei als geistlos und kitschig einhellig abgelehnt worden, Frau nach Maß habe beim „breiten Publikum“ Anklang gefunden, in Parteikreisen sei der Film hingegen als seicht bewertet worden; schauspielerische Leistungen, „Lebensechtheit“, treffende Darstellung volksnaher Milieus, Humor, politische Korrektheit waren demnach positive Kriterien, Filme aus Oberschichtmilieus hingegen seien besonders auf dem Land kritisiert, „Kitsch“ hingegen abgelehnt worden.42 Amerikanische Filme waren in den deutschen Großstädten sehr beliebt, vor allem bei Jugendlichen in Vorstadtkinos, sollen auf dem Land hingegen nicht akzeptiert worden sein, weil man von der deutschfeindlichen Stimmung in den USA wusste und englische Sprachsprengsel befremdeten. Die Bevölkerung akzeptierte nicht, dass man aus wirtschaftlichen Gründen die US-Filme weiter laufen lasse.43 In Großstädten waren die Programme einzelner Kinos sehr differenziert. In Hamburg unterschied man zwischen Ur- und Erstaufführungstheatern, in denen Filme als Ereignisse im Kontext nationaler Kampagnen inszeniert wurden, und Bezirkstheatern mit breiterem und bunterem Angebot, in denen auch mit Schlagerangeboten geworben wurde und wo dann etwa drei Wochen später auch die Filme der Erstaufführungskinos liefen, eine Ungleichzeitigkeit der Stadtgebiete. Solche Kinos stellten jedenfalls bis 1933/1934 in ihrer Werbung eher das Sensationelle heraus und nicht die politischen Filme, die in den offiziellen Filmkritiken betont wurden. Daraus lässt sich methodisch erneut ableiten, dass man einerseits eine hochkulturelle, reflexive „Filmöffentlichkeit“ mit Präferenzen für „Anspruch“ und „Kunstfilm“, aber auch relativ breit angelegten Informationen über das gesamte Filmangebot erkennen kann. Andererseits gab es eine breit angelegte „Kinoöffentlichkeit“, in der der mittlere Geschmack domi-

42 Boberach (wie Anm. 9), Nr. 107, 22.7.1940, S. 1403–1405. 43 Boberach (wie Anm. 9), Nr. 90, 23.5.1940, S. 1168. Film und Kino im Nationalsozialismus  137

nierte.44 Auch für 1934 wurde zu Hamburg herausgearbeitet, dass sich die Kinoanzeigen an Heterogenität und Vielfalt eines Gesamtprogramms orientierten, an Genrevielfalt, es spiegelt sich dies dann darin, dass Krach um Jolante, Maskerad, Die große Zarin und Charleys Tante sowie der Historienfilm Königin Christine mit großem Abstand stark beworben wurden und erst an siebter Stelle der erste politische Film Ein Mann will nach Deutschland und an 15. Stelle dann die Reiter von Deutsch-Ostafrika auftauchten.45 Es zeigt sich im begleitenden Filmdiskurs nationalsozialistischer Zeitungen, dass man auf das Unterhaltungskino zwingend eingehen musste, auch wusste, dass die Heiterkeit und Lockerheit von Unterhaltung die eindeutigen ideologischen Zeichen außer Kraft setzen konnte, deswegen wohl die Wende zu einer nicht nur „Kunst“ betonenden Filmpolitik, sondern zu politisch relevanten Produktionen, die auf Mischung von Unterhaltung und Botschaft setzten.46 Bei der Mehrzahl der Feature-Filme handelte es sich um Melodramen und Unterhaltung, die von „Botschaften“ zwar keineswegs alle frei waren, die soziale Rollen modellierten, aber sie auch transgressiv im Kinoraum aufzuheben schienen, wobei eine wesentliche Rolle spielte, dass es sich bei den Kinos prinzipiell um kommerzielle und, der überwiegenden Wahrnehmung nach, einen gewünscht politikfreien Raum handelte. Allerdings ist es methodisch schwierig, die psychische und kognitive Aneignung eben solcher gemischter Filme individuell oder gruppenbezogen eindeutig nachzuvollziehen. Es sind meist nur Indikatoren vorhanden, punktuelle Beobachtungen von „außen“, die auf Kritik oder Kompetenz verweisen.47 Solche Kompetenzen gehen jedenfalls unzählige Male aus den Beobachtungen aus dem Reich hervor, wo sich Zuschauer ständig Urteile über die angemessene Genrehaftigkeit, den künstlerischen Wert, die Besetzung und Stimmigkeit von Filmen erlaubten. Dem steht in der Fachliteratur die Begrifflichkeit der „Überwältigung“ entgegen, 44 Laura von Bierbrauer u. a., Kinoöffentlichkeit II. Kino und Kinoprogramm in der Hamburger Tagespresse 1933, in: Segeberg (wie Anm. 5), S. 103–129. 45 Laura von Bierbrauer/Marein Budiner/Harro Segeberg, Kinoöffentlichkeit III. Kino und Kinoprogramm in der Hamburger Tagespresse 1934, in: Harro Segeberg (wie Anm. 5), S. 131–158, S. 136 ff. 46 Ebd., 154. 47 Nach Clemens Zimmermann, Das aktive Kinopublikum, in: Die alte Stadt. Vierteljahrsschrift für Stadtgeschichte 3 (2001), S. 206–216. 138  Clemens Zimmermann

das heißt, dass Publiken also medial manipuliert wurden, wie es stets im Zusammenhang mit Riefenstahls Parteitagsfilmen angenommen wird, obwohl doch Sieg des Glaubens überhaupt nur kurz gezeigt wurde und Triumph des Willens manche Zuschauer mit kippenden Bildwinkeln filmisch wohl überforderte, jedenfalls flaute das Interesse nach der Anfangskampagne auch bei Triumph des Willens schnell ab. Eine aus Systemsicht sehr gut gelungene politische Produktion war Ich klage an, sie verfehlte aber deutlich ihr Ziel, fundamentale widerstrebende Einstellungen in der Bevölkerung gegenüber Euthanasie aufzubrechen.48 Nicht so sehr die schwer eruierbare Wirkung einzelner Filme49 ist die relevante Frage, sondern die Etablierung neuer medial überformter populärer Sphären des Erlebens. In den letzten Jahren stellten medien- und filmwissenschaftliche Beiträge verkürzte, direkte Wirkungsmodelle infrage.50 Zum Ersten steht generell der kausale Wirkungsbegriff, der aus dem Behaviourismus herstammt, mit dem kulturwissenschaftlichen, auf Interpretatives zielenden Begriff der „Aneignung“ in Konkurrenz. Auch bei der Wirkungsforschung sollte bei einer kommunikativen Beziehung zwischen Produkt/Setting/Kommunikaten und Publikum angesetzt werden. Es ist nötig, von einer eigenständigen Bedeutung der Decodiertätigkeit der Zuschauer auszugehen und bei Wirkung deren Definition und Ziel anzugeben: Geht es dabei um ganz direkte Einflüsse auf Zuschauer oder indirekte, das heißt allgemeine Weltbilder und Geschichtsinterpretationen betreffende? Kann man wirklich davon 48 Christian Kuchler, Bischöflicher Protest gegen nationalsozialistische „Euthanasie“Propaganda im Kino: „Ich klage an“, in: Historisches Jahrbuch 126 (2006) S. 269– 294. 49 „Hence Jew Süss successfully introduced the main features oft he antisemitic view of the ,Jew‘ to millions of Germans and other Europeans … Jew Süss showed the German public that their next-door neighbors, who seemed very much like themselves, were in fact no different from the terrifying … Ostjuden“, und zwar weil er gerade auf krasse und abstoßende Elemente verzichtet habe; Omer Bartov, The „Jew“ in Cinema. From The Golem to Don´t Touch my Holocaust, Bloomington 2005, S. 13–15. Goebbels selbst zeigte sich davon überzeugt, dass ein Film wie Panzerkreuzer Potemkin einen politisch ungefestigten Menschen in einen Bolschewiken verwandeln könne; Rainer Rother, What is a National Socialist Film?, in: Historical Journal of Film, Radio and Television 4 (2007), S. 455–469, S. 457. 50 Zur Theoriediskussion: Michael Jäckel, Medienwirkungen. Ein Studienbuch zur Einführung, Opladen 1999, besonders S. 69–80. Film und Kino im Nationalsozialismus  139

ausgehen, dass ganze Weltbilder durch einzelne Medienereignisse verändert werden, oder werden sie nur bestätigt? Wie will man ausschließen, ob bestimmte Einstellungsveränderungen nicht primär das Resultat lebensweltlicher Faktoren sind, insbesondere von peer groups, Elternhaus und Schule? Schließlich: Welche zeitlichen Dimensionen haben Medienwirkungen: Geht es um unmittelbare Äußerungen von Teilnahme, Betroffenheit noch im Kino selbst, geht es um den auch im NS-Staat stattfindenden Diskurs in Familien, Freundeskreisen, Gasthäusern danach, oder geht es um langfristige Einstellungsveränderungen? All dies spricht dafür, für Wirkungsanalysen ein anspruchsvolles methodisches Setting aufzubauen und klar festzulegen, was „Wirkung“ sein soll. Wenn hier die Frage nach Attraktivität gestellt wurde, waren es ein Stück weit nur Vermutungen, was an einem Film für ein bestimmtes Publikum attraktiv gewesen sein könnte. Allerdings kann man mit den Meldungen aus dem Reich sowie den noch kaum erschlossenen regionalen Sicherheitsdienstberichten doch noch mehr anfangen, wenngleich deren politische und informationelle Konstruktion quellenkritisch bedacht werden muss. Auch hier ist wieder auf den Charakter von Film und Kino als Erlebniskultur, jedoch in einem spezifischen Kontext von Werbecharakter und Diktatur zu verweisen, in dem, wie eingangs zu begründen gesucht wurde, spezifische lokale Konstellationen eingeschrieben waren.51

51 Nach Clemens Zimmermann, Die politischen Dokumentarfilme von Leni Riefenstahl, in: Markwart Herzog/Mario Leis (Hrsg.), Kunst und Ästhetik im Werk Leni Riefenstahls, München 2011, S. 59–82. Vgl. besonders auch die kritischen und theoretischen Erwägungen von Sven Kramer, Versuch über den Propagandafilm: Zu Leni Riefenstahls Dokumentarfilmen aus den dreißiger Jahren, in: Jörn Glasenapp (Hrsg.), Riefenstahl revisited, München 2009, S. 71–100, der S. 89–94 die Wirkungsansätze prüft und S. 95–99 auf Inkohärenzen des Propagandabegriffs hinweist. 140  Clemens Zimmermann

René Schlott

Aufarbeitung der NS-Verbrechen oder Wiederkehr nationalsozialistischer Bildwelten? NS-Filmaufnahmen in den Dokumentarfilmen der Bundesrepublik

Am 17. April 1945 traf der Reichsminister für Propaganda und Volks­ aufklärung, Joseph Goebbels, zum letzten Mal mit seinen engsten Mitarbeitern zur täglichen Lagebesprechung zusammen. Einen Tag zuvor hatte die Rote Armee ihre Offensive auf Berlin begonnen und Goebbels erklärte: „Meine Herren, in hundert Jahren wird man einen schönen Farbfilm über die schrecklichen Tage zeigen, die wir durchleben. Möchten Sie nicht in diesem Film eine Rolle spielen? Halten Sie jetzt durch, damit die Zuschauer in hundert Jahren nicht johlen und pfeifen, wenn Sie auf der Leinwand erscheinen.“1 Der angekündigte „schöne Farbfilm“ aus Goebbels’ Filmfabrik zum „Endsieg“ ist ausgeblieben, doch bleibt die NS-Propaganda „eine der prägendsten und langlebigsten Erscheinungsformen des ‚Dritten Reiches‘“2. Dies gilt besonders für Dokumentarfilme zur NS-Zeit, in denen seine Propagandabilder seit Mitte der 1950er-Jahre ein „zweite[s] Leben“3 führen. In den vergangenen sechs Jahrzehnten haben sich auf diese Weise Ikonen des NS-Dokumentationsgewerbes herausgebildet, ohne die dokumentarische, inzwischen aber auch fiktionale Filme scheinbar nicht auskommen: Dazu gehören die Wochenschaubilder der Nürnberger Reichsparteitage und Hitlers Reden im Reichstag ebenso wie die 1 Zitiert nach: Erwin Leiser, „Deutschland, erwache!“ Propaganda im Film des Dritten Reichs, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 106. 2 Bernd Heidenreich/Sönke Neitzel (Hrsg.), Medien im Nationalsozialismus, Paderborn 2010, S. 7. 3 Rainer Rother/Judith Prokasky (Hrsg.), Die Kamera als Waffe. Propagandabilder des Zweiten Weltkriegs, München 2010, S. 281. NS-Filmaufnahmen in den Dokumentarfilmen der Bundesrepublik  141

Bilder aus dem Warschauer Ghetto für den geplanten Film Asien in Mitteleuropa (1942) oder die Sequenz aus Fritz Hipplers Hetzwerk Der ewige Jude (1940), in der Juden mit Ratten gleichgesetzt werden. Das Bildproblem

Die Wiederholung dieser immer gleichen Filmsequenzen führt das Bildproblem vor Augen, mit dem Regisseure und Produzenten von Dokumentarfilmen zur NS-Zeit konfrontiert sind. Es besteht in einer zweifachen Ausprägung: Erstens fehlt es zu wesentlichen Aspekten der Zeit zwischen 1933 und 1945 an historischem Bildmaterial, etwa zum Alltag in der deutschen Provinz jenseits solch prominenter Ereignisse wie den Reichsparteitagen und den Olympischen Spielen,4 es fehlt aber auch an zeitgenössischen Aufnahmen etwa der anderen Vernichtungslager neben Auschwitz. Orte wie Sobibor oder Belzec haben in das kollektive Gedächtnis der Deutschen kaum Eingang gefunden, gerade weil sie nicht filmisch überliefert sind. Das Innere der Konzentrationslager kennen wir fast ausschließlich aus der Alliiertenperspektive nach der Befreiung. Zweitens ist das wenige Material, das vorhanden ist, ganz überwiegend in der Intention der Täter entstanden, es trägt deshalb immer die entsprechende ideologische Konnotation des Nationalsozialismus und seiner Rassenideologie. Das aus dieser „defizitäre[n] visuelle[n] Quellenlage“5 entstehende Problem bringt Peter Zimmermann so auf den Punkt: „Die Autoren historischer Dokumentarfilme geraten damit in ein bezeichnendes Dilemma: Ihre Filme verdanken einen großen

4 Eine Ausnahme stellt der im August 2012 ausgestrahlte Dokumentarfilm Innenansichten-Deutschland 1937 dar, der die einzigartigen Alltagsaufnahmen des USDokumentarfilmers Julien H. Bryan zeigt. Siehe auch den Film des LWL Münster mit Dokumentationsaufnahmen des Schulalltags in Plettenberg; dazu der Aufsatz von Benjamin Städter in diesem Band, Anm. 6. 5 Peter Zimmermann, „Vergangenheitsbewältigung“. Das „Dritte Reich“ in Dokumentarfilmen und Fernseh-Dokumentationen der BRD, in: Ders./Gebhard Moldenhauer (Hrsg.), Der geteilte Himmel. Arbeit, Alltag und Geschichte im ost- und westdeutschen Film, Konstanz 2000, S. 57–75, S. 62. 142  René Schlott

Teil ihrer Faszination den Propagandafilmen, gegen deren Sog und Tendenz der Kommentar ankämpft.“6 Die Kontroverse

Der Umstand, „daß die suggestive Kraft des Nationalsozialismus durch die filmische Reproduktion ungebrochen weiterwirke“ und dass, auch „wenn das Gegenteil intendiert sei, […] der Nationalsozialismus beispielsweise durch die Inszenierung von Aufmärschen sowie das Einspielen von Radioansprachen und Marschmusik seine Anziehungskraft erneut entfalten“7 könne, führte schon seit der ersten Wiederausstrahlung der NS-Aufnahmen in den 1950er-Jahren zu scharfer Kritik an der Verwendung dieses Propagandamaterials, die sich insbesondere in den 1980er-Jahren intensivierte, als mit dem Aufkommen der Zeitzeugeninterviews eine Bildalternative hervortrat.8 Schon im Jahr 1957 warnte Martin Broszat vor der NS-Bilderflut, als er forderte: „Gerade weil die nationalsozialistische Publizistik sich des verführerischen Mittels suggestiver Bildwirkung zur Entfachung von Begeisterung wie zur Aufstachelung von Feindschaften und Haß in solchem Maße und mit solcher Unbedenklichkeit bediente, sollte die historisch-geistige Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Zeit sich auf bessere Mittel besinnen.“9 Dass das Problem virulent blieb, konstatierte Tim Darmstädter auch noch gut 40 Jahre später, als er die Ambivalenz des in Dokumentationen 6 Ebd., S. 67. 7 Ralf Adelmann/Judith Keilbach, Ikonographie der Nazizeit. Visualisierungen des Nationalsozialismus, in: Heinz-Bernd Heller u. a. (Hrsg.), Über Bilder sprechen. Positionen und Perspektiven der Medienwissenschaft, Marburg 2000, S. 137–150, S. 139. 8 Ausführlich dazu: Frank Bösch, Geschichte mit Gesicht. Zur Genese des Zeitzeugens in Holocaust-Dokumentationen seit den 1950er Jahren, in: Rainer Wirtz/ Thomas Fischer (Hrsg.): Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen, Konstanz 2008, S. 51–72. Zuletzt: Martin Sabrow/Norbert Frei (Hrsg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012. 9 Martin Broszat, Probleme neuzeitlicher Dokumentation, in: Neue Politische Literatur 2 (1957), Sp. 298–304, Sp. 302. NS-Filmaufnahmen in den Dokumentarfilmen der Bundesrepublik  143

eingebauten, zu Propagandazwecken hergestellten Filmmaterials pointiert herausarbeitete: „Gerade bei den Filmdokumenten aus der Zeit des NS handelt es sich überwiegend um Material, das zu Propagandazwecken hergestellt worden ist. Ungebrochen in einen Dokumentarbericht eingebaut, erscheint als Zeugnis der damaligen Realität, was eigens für die Kamera inszeniert worden ist. Freilich ist auch das Inszenierte real, aber eben nur als Inszeniertes. Dem Material selbst ist in diesem Fall nicht anzusehen, ob es eine Realität wiedergibt, die auch unabhängig von der Kamera existierte, oder eine, die vor der Kamera gestellt wurde.“10 Das Problem dabei bleibt, dass sich Filmemacher allzu oft vom vorhandenen Material leiten lassen, sich deshalb immer wieder auf Hitler und die „Erfolge“ der nationalsozialistischen Aggressionspolitik fokussieren und so ungewollt die propagandistischen Blicke auf die NS-Diktatur perpetuieren.11 Filmexempel

Der erste im bundesdeutschen Fernsehen gezeigte Dokumentarfilm zu den NS-Verbrechen war Nuit et brouillard (Frankreich 1955), der im April 1957 im Bayerischen Rundfunk ausgestrahlt wurde. Schon diese frühe Produktion griff auf originäres NS-Propagandamaterial zurück, wenngleich die Bilder aus Leni Riefenstahls Triumph des Willens aus dem Jahr 1935 stets mit dokumentarischen oder zeitgenössischen Lager­ aufnahmen, vor allem aus Auschwitz, kontrastiert wurden.12 Damit war das Prinzip des NS-Dokumentarfilms als Kompilationsfilm etabliert, 10 Tim Darmstädter, Die Verwandlung der Barbarei in Kultur. Zur Rekonstruktion der nationalsozialistischen Verbrechen im historischen Gedächtnis, in: Michael Werz (Hrsg.), Antisemitismus und Gesellschaft. Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt, Frankfurt am Main 1995, S. 115–140, S. 126f. 11 Frank Bösch, Die Medialisierung der Zeitgeschichte. Das Fernsehen und der Holocaust, in: Gießener Universitätsblätter 41 (2008), S. 21–28, S. 26. 12 Auf die unkritische Verwendung dieser Bildquelle und auch den Umstand, dass etwa Aufnahmen einer scheinbar geordnet ablaufenden Judendeportation, unkommentiert blieben, weist hin: Frank Bösch, Das „Dritte Reich“ ferngesehen. Geschichtsvermittlung in der historischen Dokumentation, in: GWU 50 (1999), S. 204–220, S. 212. 144  René Schlott

das sich bis heute vor allem auf den Nachrichtensendern und im Privatfernsehen hält. Bekanntestes Nachfolgebeispiel dafür in den 1950erJahren ist Erwin Leisers Mein Kampf aus dem Jahr 1959, der vollständig aus zusammengeschnittenen Archivfilmmaterialien bestand. Dazu gehörten wiederum Auszüge aus Triumph des Willens, Bilder des sogenannten Tags von Potsdam, vom Wiener Heldenplatz aus Anlass des „Anschlusses Österreichs“ am 15. März 1938 und von der Militärparade in Berlin anlässlich des 50. Geburtstags von Hitler. Bei längeren Propagandaszenen wird im Film auf deren Herkunft hingewiesen. Doch wie sehr Leiser auf die Verwendung von Propagandamaterial setzte, spiegelt sich in der Tatsache, dass Leni Riefenstahl über mehrere Jahre und über drei Instanzen gerichtlich versuchte, eine Tantiemenzahlung für die Verwendung ihrer Aufnahmen aus Triumph des Willens in Mein Kampf durchzusetzen – letztlich aber ohne Erfolg blieb.13 Allerdings erkannte Leiser die den NS-Filmen innewohnende Gefahr und mied in seinen Produktionen bewusst Ausschnitte aus Jud Süß oder Der ewige Jude. Auf Kritik daran erwiderte er: „Ich sehe nicht ein, warum ich, ein Jude, der nach dem Novemberpogrom 1938 Deutschland verließ, und der vergast worden wäre, wenn er geblieben wäre, in einem Film, für den ich die Verantwortung trage, berüchtigte, gegen Menschen wie mich gerichtete Szenen zeigen soll, die eine Gegendarstellung nicht entschärfen kann. Mir ist bei Diskussionen vorgeworfen worden, daß ich hier Zensur ausgeübt hätte und dem Zuschauer nicht zutraue, die Ziele der Propaganda in diesen Szenen zu durchschauen. Ich habe darauf geantwortet, daß ich den heutigen Zuschauer nicht unterschätze, aber auch die Wirkung dieser geschickten Propaganda auf ein heutiges Publikum nicht unterschätzen darf. Warum soll ich in einem Film wie diesem [Feindbilder, RS] Propagandaszenen zeigen, die einmal zur Vernichtung von Juden, Sin14 ti und Roma geführt haben?“

13 Sonja M. Schultz, Der Nationalsozialismus im Film. Von Triumph des Willens bis Inglourious Basterds, Berlin 2012, S. 109 Anm. 76. Ausführlicher zum Prozess: Martina Thiele, Publizistische Kontroversen über den Holocaust im Film, Münster 2001, S. 225f. 14 Erwin Leiser, Auf der Suche nach Wirklichkeit. Meine Filme 1960–1996, Konstanz 1996, S. 61. NS-Filmaufnahmen in den Dokumentarfilmen der Bundesrepublik  145

Wesentlich umsichtiger ging die in den Jahren 1960 und 1961 von der ARD gesendete 14-teilige Serie Das Dritte Reich mit dem Propagandamaterial um, auch indem sie weitgehend auf dessen Verwendung verzichtete und stattdessen ganz im Stile des traditionellen Bildungsfernsehens vor allem auf das Abfilmen von Aktenmaterial setzte, in dem die entscheidenden Stellen durch Lichttechnik hervorgehoben wurden.15 Edgar Lersch kritisierte das Ergebnis dieses Vorgehens jüngst jedoch als „Bilderteppich […], der den Betrachter förmlich erschlägt“.16 Die Serie Das Dritte Reich war letztlich eine Kompilation eben dieser Dokumenteneinblendungen angereichert mit Standbildern aus der NS-Zeit und – das war neu – mit Zeitzeugenaussagen, die allerdings völlig emotionslos vorgetragen wurden. Ebenso nüchtern wurde das spärlich verwendete NS-Filmmaterial präsentiert. Die achte Folge mit dem Titel Der SS-Staat begann zwar mit den Berliner Jubelbildern von Hitlers Siegesparade nach dem Frankreichfeldzug, deren Propagandawirkung verpuffte aber durch den Verzicht auf Marschmusik und einen monotonen Kommentar weitgehend. Ebenso überließ die Serie die Verlesung der sogenannten Nürnberger Rassegesetze nicht der bellenden Stimme Görings. Vielmehr nannte der Kommentator mit sachlicher Stimme ihre wichtigsten Inhalte, während der Reichstagspräsident nur im Bild zu sehen war. Allerdings wurde dieser zurückhaltende Umgang mit dem NS-Propagandamaterial nicht zum Prinzip nachfolgender Dokumentationen. Vor allem der Film Hitler – Eine Karriere, der 1977 in die bundesdeutschen Kinos kam und erst zehn Jahre darauf als TV-Erstausstrahlung in der ARD zu sehen war, fiel hinter diese Standards zurück. Im Gegensatz zu Das Dritte Reich kam Göring hier ohne Unterbrechung durch einen Kommentar zu Wort, um das Beispiel der eben geschilderten Szene wieder aufzugreifen. Der nach der Biografie von Joachim Fest produzierte Film gilt als Höhepunkt der sogenannten „Hitler-Welle“ in den 1970er15 Ausführlich: Edgar Lersch, Gegen das Diktat der Bilder? Die Fernsehserie „Das Dritte Reich“ 1960/61, in: Rainer Rother/Judith Prokasky (Hrsg.), Die Kamera als Waffe. Propagandabilder des Zweiten Weltkriegs, München 2010, S. 283–296. 16 Edgar Lersch, Vom „SS-Staat“ zu „Auschwitz“. Zwei Fernseh-Dokumentationen zur Vernichtung der europäischen Juden vor und nach „Holocaust“, in: Historical Social Research 30 (2005), S. 74–85, S. 78. 146  René Schlott

Jahren, als eine Personalisierung und Fokussierung auf die historische Figur in einer großen Zahl von deutschen aber auch internationalen Spiel- und Dokumentarfilmproduktionen einsetzte.17 Gedacht war Hitler – Eine Karriere eigentlich als Aufklärungsfilm. Wegen der fast ausschließlichen Verwendung von NS-Propagandamaterial und dessen Arrangement wurde er jedoch zeitgenössisch zum Skandal. Ein Kritiker resümierte über Hitler – Eine Karriere: „Zwar betonte er von Anfang an, daß sich die Nationalsozialisten selbst inszenierten, doch durchbrach er die Inszenierung nicht, sondern verstärkte sie, weil der Film selbst hochgradig inszeniert war und aus denselben Prinzipien schöpfte, die er vorgeblich kritisierte. Er schwelgt in Propagandaszenen, bestätigt die Hierarchie zwischen Führer und Volk in der SchußGegenschuß-Montage und verstärkt optische Effekte durch akustische Nachsynchronisation. Dadurch wird der theatralische Effekt größer als ihn 18 jede Fiktion erreichen könnte.“

Auch der prosaische, von der sonoren Stimme Gerd Westphals dominierte Kommentar trug nicht zur Aufklärung bei: Als der Film mit Bildern eines NS-Fackelzuges durch das Münchner Siegestor am Vorabend der Reichstagswahlen vom 4. März 1933 beginnt und die Rufe „Deutschland erwache“ zu hören sind, heißt es aus dem Off: „Deutschland erwache. Der Schrei hat stets mehr bedeutet als eine politische Parole. Es war ein Schrei nach Erlösung. Der Schrei lebte vom Bild politischer Nacht. Deutschland erwache. Es war die Verheißung, dass die Nation geeint unter einem Zeichen und unter einem Mann einen neuen Morgen erleben werde.“ Der Kommentar nimmt nicht nur zweimal die NS-Parole auf, sondern perpetuiert auch die messianische Sendung, die Hitler sich selbst so oft zuschrieb und inszenierte. Nebenbei wiederholt der Film damit Bilder des NS-Propagandafilms Deutschland erwacht. Ein Dokument von der Wiedergeburt Deutschlands aus dem Jahr 1933.19 17 Frank Bösch, Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft, in: VfZ 55 (2007), S. 1–32, S. 4f. und S. 29. 18 Darmstädter (wie Anm. 10), S. 127. 19 http://www.filmarchives-online.eu/viewDetailForm?FilmworkID=a06611bf9c f1999de54fac4dee6ee81e&content_tab=deu (24.11.2013). NS-Filmaufnahmen in den Dokumentarfilmen der Bundesrepublik  147

Hitler – Eine Karriere geriet aber vor allem wegen seiner langen und endlos aneinandergereihten NS-Propagandafilmausschnitte in die Kritik.20 Besonders deutlich wird dies in einer sechsminütigen Sequenz zu Anfang des insgesamt zweieinhalbstündigen Filmes, die die gut 30-minütige Sportpalastrede Hitlers vom 10. Februar 1933 thematisiert. Der Kommentar unterbricht Hitler nicht, sondern nutzt dessen Redepausen und interpretiert diese „erste Begegnung von Volk und Reichskanzler“ als sexuelles Erlebnis: Vom „Begattungshunger“ bei Hitler ist die Rede, weiter: „Dann ist er dem Höhepunkt nahe, in der Erwartung, dass der Geist in ihn fahre“ und schließlich: „Die Vereinigung mit der Masse, die er dem Weibe gleichzusetzen pflegte, war vollzogen.“ Offen bleibt, was hier der größere Skandal war, Goebbels‘ „späte[r] Triumph“21, der sich in der Wiederverwendung der Propagandabilder aus dem Jahr 1933 zeigte, oder deren zeitgenössische Kommentierung, die Aufklärung suggerierte. Offen bleibt aber auch, was jedem Zuschauer, der es sehen will, in den Nahaufnahmen ebenfalls auffällt: dass es Zuhörer im Sportpalast gab, die gelangweilt mit verschränkten Armen sitzen blieben, während um sie herum die Menschen mit ausgestrecktem Arm aufsprangen; Zuhörer, die sich lieber mit ihren Sitznachbarn unterhielten oder andere, die die Kamera sehr viel interessanter fanden als Hitlers Rede. Der Film verweigert sich der Tatsache, dass es eben niemals eine homogene Rezeptionssituation gibt, er spart die Frage aus, ob Hitlers Rede, die tatsächlich mit den Worten „der Kraft und der Herrlichkeit und der Gerechtigkeit, Amen!“ endete, nicht auch zeitgenössisch schon als reines und befremdliches Theater hätte wahrgenommen werden können. Auch die Reaktionen des Kinopublikums auf die Produktion bewiesen, wie unterschiedlich auf die gezeigten Propagandabilder noch 44 Jahre später reagiert werden konnte. Im Münchner Filmtheater am Karlstor applaudierten Zuschauer bei Hitlers Reden und buhten den Kommentator aus. In das Foyer desselben Kinos warfen Unbekannte einen Molotowcocktail und hinterließen die Botschaft „Nie wieder Faschismus“. Gewerkschaften, Holocaustüberlebende und die Friedensbewegung 20 Die zum Teil harschen Urteile versammelt: Jörg Berlin (Hrsg.), Was verschweigt Fest? Analysen und Dokumente zum Hitler-Film von J. C. Fest, Köln 1978. 21 Gerhard Paul, Bilder des Krieges. Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004, S. 268. 148  René Schlott

protestierten gegen die weitere Vorführung des Filmes. Die kommunistische Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes forderte seine sofortige Absetzung und die Rückzahlung der Filmförderungsmittel.22 Im Fernsehen wurde der Film später mit einem erläuternden Vorspann gesendet, der ausdrücklich Bezug auf die Auseinandersetzungen um seine Kinopremiere 1977 nahm. Darin hieß es, es gehe in Hitler – Eine Karriere nicht um die Darstellung der Geschichte des Dritten Reiches, sondern um die Beziehung von Adolf Hitler zum deutschen Volk, um die Mittel, den Zweck und den Grad der Verblendung dieser – so der Kommentar – „lange glücklichen“ Beziehung zwischen Volk und Führer. Der Vorspann mied die Diskussionen um die vorgeblich dokumentarische Inszenierung des NS-Propagandamaterials und setzte eine intentionalistische Lesart des von einem einzelnen Verbrecher verführten deutschen Volkes fort. Letztlich weckte er so bei manchem Zuschauer, der sich der Wirkung der gezeigten wohlorchestrierten NS-Inszenierungen nicht immer entziehen konnte, Verständnis für die Verführbarkeit der vom Ersten Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise getroffenen Deutschen. Hitler – Eine Karriere stellt, so Tim Darmstädter, „die Frage, ob man dieser unwiderstehlichen Propaganda nicht auch erlegen gewesen wäre, deren Bejahung schon in der Art der Fragestellung lag“.23 Die fast gleichzeitig mit Fests Film erschienene Regiearbeit von Hans-Jürgen Syberberg Hitler, ein Film aus Deutschland (1977) veranlasste Saul Friedländer später zu der Warnung: „Die Aufmerksamkeit verlagert sich schrittweise von der Evokation des Nazismus selbst, vom Grauen und Schmerz […] zu wollüstiger Beklemmung und hinreißenden Bildern, Bildern, die man unentwegt weitersehen will.“24 Dass eine Dokumentation auch ganz anders funktionieren konnte, nämlich ohne Propagandaaufnahmen oder ästhetisierende Repliken der nationalsozialistischen Bilderwelt, bewies eine wenige Jahre zuvor entstandene internationale Produktion: die 26-teilige BBC-Sendereihe World at War (1973/74), die auf Interviews mit Zeitzeugen und Ama22 Rainer Zimmer, Nach 30 Jahren: Hitler – Eine Karriere (= Begleitheft zur DVDNeuausgabe), Ismaning 2007, o. S. 23 Darmstädter (wie Anm. 10), S. 128f. 24 Saul Friedländer, Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus, München 2007 [zuerst 1984; Frz. Originalausgabe Reflects du nazisme 1982], S. 29. NS-Filmaufnahmen in den Dokumentarfilmen der Bundesrepublik  149

teuraufnahmen der Jahre 1933 bis 1945 setzte und so „den visuellen Schulterschluss mit der nationalsozialistischen Ästhetik“25 ausdrücklich vermied. In der Bundesrepublik aber wurde – von einigen erwähnenswerten Ausnahmen wie Lagerstraße Auschwitz (1979) abgesehen – weiter auf reine Kompilationsfilme gesetzt, wie das Beispiel Der Gelbe Stern (1980) zeigte. Der Film wies eine hohe Dichte von Goebbels- und Hitlerreden auf und zeigte lange, vom Kommentar nicht unterbrochene Ausschnitte aus den NS-Propagandafilmen Erbkrank (1936) und Der ewige Jude (1940). In die öffentliche Kritik geriet er aber vor allem wegen der Übernahme zahlreicher Wochenschauberichte.26 In Filmminute 41 fällt der bezeichnende Satz: „Die Bilder sollen für sich sprechen“ – und das tun Bilder eben nie, vor allem Propagandabilder nicht. Dass Der Gelbe Stern später mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet und auch noch für den Dokumentarfilm-Oscar nominiert wurde, sei nur am Rande bemerkt.27 Die bereits bei Fest verwendete und gesendete Sportpalast-Rede Hitlers vom Februar 1933 tauchte auch im dritten Teil der ZDF-Serie Hitler – Eine Bilanz mit dem Titel Der Verführer aus dem Jahr 1995 wieder auf. Wie bei Fest ist auch bei Guido Knopp fast sechs Minuten lang Hitler zu hören. Hier aber in einem „Augenblick der Verfremdung“28, als Hitlers Bild auf Zeitlupen-Tempo verlangsamt und seine Stimme damit „tiefer gelegt“ wird, allerdings um den Preis der Dämonisierung und Diabolisierung. Zudem ist die Szene gerahmt von drei Zeitzeugenaussagen, die die zeitgenössische Wirksamkeit der Hitlerrede stark relativieren.29 Allgemein ist bei Hitler – Eine Bilanz oftmals eine rein illustrative Verwendung des Bildmaterials zu beobachten, etwa um Zeitzeugen25 Schultz (wie Anm. 13), S. 154. 26 Siehe das Protokoll einer Zuschauerdiskussion bei der Duisburger Filmwoche im November 1980: http://www.protokult.de/prot/DER%20GELBE%20 STERN%20-%20Dieter%20HIldebrandt%20-%201981.pdf (19.9.2013). 27 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.01.1981, S. 20. 28 So der Titel des dritten Zwischenkapitels der zweiten Folge auf der 2001 bei BMG-Video erschienenen DVD Hitler – Eine Bilanz. 29 Die Szene wird ausführlich analysiert von Adelmann/Keilbach (wie Anm. 7), S. 137–150. 150  René Schlott

aussagen zu affirmieren oder den Off-Kommentator zu begleiten,30 das, was die Geschichtswissenschaft oftmals abschätzig als „Knoppisierung“31 bezeichnet. In seinen Serien werden Wochenschau-Aufnahmen mit der Einblendung „Originalton NS-Wochenschau“ und die sogenannten Vorbehaltsfilme, wie Jud Süß oder Der ewige Jude zwar als Propagandafilme gekennzeichnet – aber eben nicht alle Propagandaaufnahmen. Astrid Schwabe übte nicht nur aus diesem Grund an den ZDF-Serien scharfe Kritik: „Über die wesentlich stärker wirkende Bildebene transportierten die Serien jedoch zweifelhafte Deutungen. Viele filmische und photographische Dokumente – oft Ausschnitte aus NS-Wochenschauen oder anderes NS-Propaganda-Material, das den Blick der Täter transportierte – wurden dekontextualisiert, als reine Illustration und nicht als kritisch zu hinterfragende Quelle verwendet und liefen so Gefahr, nationalsozialistische Stereotype 32 und Ideologien zu transportieren oder die Würde der Opfer zu verletzen.“

Umgang mit den Bildern – Bruch der Propagandawirkung

Diese erneuerte Kritik, die wie ein Kontinuum jede filmische Dokumentation zum Nationalsozialismus zu begleiten scheint, führt abschließend zu der Frage, ob es einen optimalen filmischen Umgang mit dem Propagandamaterial gibt. Aus der Sichtung von Dokumentarfilmen über das hier vorgestellte Filmsample hinaus sollen fünf filmische Möglichkeiten zum Umgang mit NS-Propagandabildern eruiert werden, die sich in folgenden Schlagworten zusammenfassen lassen:

30 Diese und andere Kritik führt an: Judith Keilbach, Fernsehbilder der Geschichte. Anmerkungen zur Darstellung des Nationalsozialismus in den Geschichtsdokumentationen des ZDF, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 17 (2002), S. 102–113. 31 Schultz (wie Anm. 13), S. 321. 32 Astrid Schwabe, Geschichtsfernsehen im ZDF, in: Torben Fischer/Matthias N. Lorenz (Hrsg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2007, S. 341–344, S. 343. NS-Filmaufnahmen in den Dokumentarfilmen der Bundesrepublik  151

1. Isolierung Eine konsequente Trennung von Originalbild und -ton ist notwendig, denn erst aus diesem symbiotischen Zusammenspiel heraus kann das Propagandamaterial seine volle Wirkung entfalten. Mindestens aber sollten Bild- und Tonebene kontrastreich gegeneinander ausgespielt werden. So kann der affirmierende Originalton durch einen aufklärenden Voice-Over-Kommentar ersetzt werden, der die Geschichte „hinter dem Bild“ erzählt und einen Kontrapunkt zur Propagandabildebene setzt. 2. Multiperspektivierung Ziel ist es, das gleiche Geschehen aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten, etwa nationenübergreifend. Bestes Beispiel ist hierfür eine Arte-Produktion mit dem Titel 1939/40 Ein ‚Feldzug‘ nach Frankreich, in der Bilder der UfA-Wochenschau, der British Movietone News und des französischen Pathé-Journal zum selben Gegenstand vergleichend analysiert werden. Die Programmankündigung versprach darüber hinaus, die propagandistische Bildersprache der Wochenschauen zu „entschlüsseln“.33 3. Kontextualisierung Die Arte-Dokumentation folgt einem gegenwärtigen Trend, nämlich die Herstellung der Propagandabilder selbst in den Mittelpunkt der Darstellung stellen. In der südkoreanisch-deutschen Produktion Aufschub (2007) geht es etwa um die Entstehungshintergründe der bekannten Deportationsbilder aus Westerbork, in der israelischen Produktion Geheimsache Ghettofilm34 (2010) um die geradezu ikonografischen Aufnahmen aus dem Warschauer Ghetto und in Theresienstadt – Täuschung und Wirklichkeit (1997) um das Zustandekommen des Propagandafilmes Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet (1944/45). Diese konsequente Dekonstruktion von NS-Propagandafilmen ist eine der Möglichkeiten, die ideologi33 http://www.arte.tv/de/programm/244,broadcastingNum=1406245,day=2,wee k=29,year=2012.html (19.9.2013). 34 Dazu kürzlich: Michael Wildt, Worte – Blicke – Bilder. Verschiedene Wege, die Geschichte des Holocaust zu erzählen, in: Claudia Bruns/Asal Dardan/Anette Dietrich (Hrsg.): „Welchen der Steine du hebst“. Filmische Erinnerung an den Holocaust, Berlin 2012, S. 300–308, S. 307f. 152  René Schlott

sche Wirkung ihrer Bilder zu durchbrechen. Zur Kontextualisierung gehört es aber auch, Propagandamaterial als solches zu kennzeichnen, seine Verwendung im Film selbst zu problematisieren und bei Einblendung der Bilder einen Hinweis auf den Entstehungskontext immer mitlaufen zu lassen. 4. Kontrastierung Der Täterperspektive muss im Film stets die Opferperspektive gegenübergestellt werden, weil es wenige Originalbilder gibt, eben auch in Form der Zeugenaussagen, der szenischen Inszenierung oder unter Verwendung der Alliiertenbilder der befreiten Lager. Bei der Verwendung dieser Aufnahmen ist allerdings besondere Vorsicht geboten, auch sie entstanden im offiziellen Auftrag und die NS-Stereotype könnten ungewollt fortgeschrieben werden, wenn man den sauberen, wohlgeordneten deutschen Volksmassen aus den Wochenschauberichten die zerlumpten, ausgemergelten KZ-Insassen aus den alliierten Lagerfilmen gegenüberstellt. 5. Demaskierung mit den Mitteln des Films „Die suggestive Perfektion […] lässt sich durch Schnitte zerstören“35, wussten schon Fest und Herrendoerfer, wenngleich sie dies nicht immer beherzigten, lange Sequenzen von Aufmärschen zeigten und suggerierten, man könne die Biografie Hitlers anhand seiner Parteitagsreden erzählen. Originelle Lösungen fand schon 1965 der sowjetische Regisseur Michail Romm in seinem Film Der gewöhnliche Faschismus, in dem er Propagandaaufnahmen stoppte, die zeitgenössischen Aufnahmen zum Standbild einfror, zurückspulte, rückwärts laufen ließ und schließlich mit ironischen Kommentaren versah.36 Oftmals würde meines Erachtens nach schon der Verzicht auf Bildunterlegung mit klassischer Musik oder auf getragene Kommentare ausreichen, um die Wirkung der Aufnahmen deutlich abzuschwächen.

35 Siehe die bei Ullstein erschienene Begleitdokumentation zum Film Hitler – eine Karriere (Frankfurt am Main u. a. 1977, S. 7). 36 Wolfgang Beilenhoff/Sabine Hänsgen (Hrsg.), Der gewöhnliche Faschismus. Ein Werkbuch zum Film von Michael Romm, Berlin 2009. NS-Filmaufnahmen in den Dokumentarfilmen der Bundesrepublik  153

Fazit

1999 äußerte Frank Bösch in einem Aufsatz die Erwartung, „daß zukünftige Dokumentationen […] insbesondere bei der Verwendung des propagandistisch konstruierten historischen Filmmaterials neue Wege einschlagen müssen.“37 Und Sonja Schultz konstatiert in ihrer Dissertation, einer beeindruckenden Gesamtschau des Nationalsozialismus im Film von 1932 bis 2012, für unsere Zeit tatsächlich einen „filmgeschichtlich bewussteren Blick auf die Propaganda“.38 Die vorangegangenen Ausführungen und Filmbeispiele zeigen eindrücklich, wie sehr sich NS-Propagandabilder in die audiovisuelle Rezeption und die medialen Sehgewohnheiten nach 1945 eingeschrieben haben. Vor allem an der Produktion Hitler – Eine Karriere sollte das Problem vieler Dokumentationen exemplifiziert werden, die Kontinuitäten konstruieren, Zwangsläufigkeiten suggerieren und Kausalitäten forcieren, auch weil sich Diskontinuitäten mit filmischen Mitteln eben nur schwer abbilden lassen. Einzig Claude Lanzmanns französischer Dokumentarfilm Shoah (1985) entzog sich vollständig diesem UrsacheWirkungs-Prinzip und verweigerte sich jeder Chronologie, der fast immer ein teleologisches Moment innewohnt. Bei aller berechtigten Kritik daran, und damit kehrt dieser Beitrag zu seiner Ausgangsfrage „Aufarbeitung der NS-Verbrechen oder Wiederkehr nationalsozialistischer Bildwelten?“ zurück, haben die Dokumentarserien aber auch ihre Verdienste, gerade um die breite Aufarbeitung des nationalsozialistischen Völkermordes an den europäischen Juden.39 Heinrich August Winkler hat schon im Jahr 1988 konstatiert, was Dokumentarfilme leisteten: „Historische Aufklärung auch für Menschen, die selten oder nie ein historisches Buch lesen.“40 Und weiter: „Es steht außer Frage, daß ohne das Fernsehen das deutsche Geschichtsbild von der Zeit des Nationalsozialismus ein anderes wäre – zu Lasten der historischen Wahrheit.“ 37 38 39 40

Bösch (wie Anm. 12), S. 220. Schultz (wie Anm. 13), S. 501. So auch: Zimmermann (wie Anm. 5), S. 71. Heinrich August Winkler, Zeitgeschichte im Fernsehen, in: Guido Knopp/Siegfried Quandt (Hrsg.), Geschichte im Fernsehen. Ein Handbuch, Darmstadt 1988, S. 273–280, S. 279.

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Mit der Befragung von Tätern vor der Kamera und deren teils freimütigen und entlarvenden Aussagen schufen sie en passant auch Dokumente gegen die Holocaustleugnung.41 So müsste in der Überschrift dieses Beitrages kein „oder“ stehen, sondern ein „und“: „Aufarbeitung und Wiederkehr“, oder vielleicht besser: „Aufarbeitung um den Preis der Wiederkehr?“ Allerdings beweisen internationale Produktionen wie etwa Lanzmanns Shoah das Gegenteil. Darin übt er einen vollkommenen Archivbilderverzicht, ja er folgt einem selbst aufgestellten Bilderverbot und baut und vertraut ganz auf die Kraft von Zeitzeugenaussagen.42 Filmdokumente aus der Zeit des Nationalsozialismus galten bis zu Shoah als die „primären und das Authentische verbürgenden Zeugnisse der Vergangenheit“.43 Das hat sich geändert oder ist wenigstens modifiziert worden. Ralf Adelmann und Judith Keilbach gehen sogar davon aus, dass die historischen Bildaufnahmen ihre Authentifizierungsfunktion inzwischen an die Zeitzeugen verloren haben. Gerade aus diesem Grund könnten die Bilder nun auch verfremdet werden.44 Inzwischen gibt es eine erhöhte Sensibilität im Umgang mit dem Propagandamaterial, man versucht das Bildproblem mit Animationen, nachgespielten Szenen und Interviews zu lösen. Alle diese „Alternativen“ sind aber ebenfalls problembehaftet und werden kontrovers diskutiert.45 Als Fazit von 80 Jahren NS-Filmgeschichte bleibt dennoch festzuhalten: Viele der ersten Fernsehdokumentationen übernahmen noch wie selbstverständlich und oftmals unreflektiert Bildmaterial der nationalsozialistischen Täter oder der alliierten Befreier. Später zeigten sich Filmemacher mehr und mehr sensibilisiert für die Herkunft und die ursprüngliche 41 So etwa die Täteraussagen in Ebbo Demants Lagerstraße Auschwitz aus dem Jahr 1979. 42 Die Zeugenaussagen sind aber teils auch inszeniert und blieben deshalb nicht unkritisiert: Thiele (wie Anm. 13), S. 378–419. 43 Manuel Köppen, Holocaust im Fernsehen. Die Konkurrenz der Medien um die Erinnerung, in: Waltraud Wende (Hrsg.), Der Holocaust im Film. Mediale Inszenierung und kulturelles Gedächtnis, Heidelberg 2007, S. 273–289, S. 282. 44 Adelmann/Keilbach (wie Anm. 7), S. 145. 45 Eva Maria Gajek, Abseits der klassischen Bilder? Dokumentationen über den Holocaust 2000–2010, in: medien & zeit. Kommunikation in Vergangenheit und Gegenwart 27 (2012), S. 22–32. NS-Filmaufnahmen in den Dokumentarfilmen der Bundesrepublik  155

Intention ihres Materials und gaben dem Zuschauer darüber detaillierte Auskunft oder machten das Zustandekommen von NS-Propagandafilmen sogar selbst zum Thema von Dokumentationen.

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Benjamin Städter

NS-Filme im Schulunterricht Medienhistorische Zugänge in der schulpraktischen Vermittlung des Nationalsozialismus

1. Filme als „Würze“ des Geschichtsunterrichts?

Die Forderung, Filme in den Geschichtsunterricht einzubeziehen, ist ebenso populär wie in die Jahre gekommen. So berichtete jüngst Deutschlands berühmtester Fernsehhistoriker Guido Knopp auf die Frage, wie denn sein Interesse für die Beschäftigung mit der Geschichte geweckt wurde, von seinem Geschichtslehrer Dr. Lothar Häusler in Aschaffenburg, der seinen Geschichtsunterricht stets mit Filmen „gewürzt“ habe.1 Der inzwischen pensionierte Leiter der ZDF-Redaktion für Zeitgeschichte, Jahrgang 1948, kann für die Frage, seit wann denn im Geschichtsunterricht die Vergangenheit anhand von audiovisuellen Quellen betrachtet, vielleicht auch analysiert und eingeordnet wird, also selbst als Zeitzeuge auftreten: Bereits in den sechziger Jahren scheint es zumindest im unterfränkischen Aschaffenburg Gymnasiallehrer gegeben zu haben, die filmische Quellen nutzten, um ihre Schüler für die Faszination an der Vergangenheit zu gewinnen. Der Knoppschen Lebens- und Bildungsgeschichte folgend ließe sich fragen, warum sich denn der Einsatz von Filmen im Geschichtsunterricht bis zum Jahr 2013 nicht schon lange hat durchsetzen können.2 Schließ1 Fernsehinterview mit Guido Knopp in der ZDF-Sendung „Volle Kanne“ vom 18.9.2012. Siehe auch: http://www.derwesten.de/ikz/ikz-start/ins-licht-gesetzt/ dr-guido-knopp-id428823.html (10.10.2013). 2 Diese Schlussfolgerungen ergeben sich aus aktuellen empirischen Erhebungen. Siehe: Britta Almut Wehen, „Heute gucken wir einen Film“. Eine Studie zum Einsatz von historischen Spielfilmen im Geschichtsunterricht, Oldenburg 2012. NS-Filme im Schulunterricht  157

lich muss Michael Sauer auch in der überarbeiteten, zehnten Auflage seines weit verbreiteten Kompendiums „Geschichte unterrichten“ recht lakonisch und ein wenig fatalistisch konstatieren: „Filme spielen im Geschichtsunterricht keine große Rolle.“3 Es liegt nahe, dass Knopp in seinem Interview die Antwort selbst gibt, wenn er von der „Würzung“ des Geschichtsunterrichts durch Filme spricht. Filme wurden und werden noch heute im Geschichtsunterricht zu selten als eigenständige Quellen ernst genommen, sondern „würzen“ mit ihrer suggestiven Faszinationskraft das anhand anderer (d. h. in den allermeisten Fällen schriftlicher) Quellen Gelernte, was sich zumeist darin manifestiert, dass Filme vorrangig unmittelbar vor den Ferien zum Einsatz kommen.4 Um in der Metapher zu bleiben: Für die nahrhafte Kost sorgen schriftliche Quellen, deren Würzung übernehmen Filme. Folglich wird die Arbeit mit historischen Filmen im Unterricht immer noch leicht belächelt und nicht wirklich als historische Analyse ernst genommen. Zunehmend deutlich formulieren Geschichtsdidaktiker ihre Kritik an solch einem unkritischen und illustrativen Einsatz audiovisueller Medien im Geschichtsunterricht. So bemängelte etwa Christian Peters, dass „das Medium Film […] nicht nur in der Vergangenheit unkritisch betrachtet worden [ist], sondern […] auch in der Gegenwart relativ häufig unkritisch genutzt [wird] – oft im Sinne einer illustrativen Visualisierung“.5 Ziel der folgenden Überlegungen ist eine Erweiterung des Quellenbegriffs für den Geschichtsunterricht. Um als anerkannter Gegenstand im Geschichtsunterricht akzeptiert zu werden, müssen Filme als Quellen ernst genommen und aus ihrem historischen Produktions- und Rezeptionsumfeld heraus gedeutet werden. Daher sollen im Folgenden keine konkreten Unterrichtsentwürfe zum Thema „Film im Nationalsozialismus“ präsentiert werden, die andere in den bekannten publizistischen 3 Michael Sauer, Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik, Seelze 102012, S. 214. 4 Gerhard Schneider, Filme, in: Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider (Hrsg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht, Schwalbach am Taunus 22002, S. 365–386, S. 365. 5 Christian Peters, Triumph des Willens. Herrschaftssicherung durch symbolische Inszenierung, in: Praxis Geschichte 22 (2009), Heft 3, S. 22–26, S. 23. 158  Benjamin Städter

Formaten der Geschichtsdidaktik zahlreich vorgelegt haben.6 Die folgenden Überlegungen zielen vielmehr darauf ab, die Chancen und Schwierigkeiten aufzuzeigen, die sich für den Geschichtslehrer ergeben, wenn er seinen Geschichtsunterricht zum Nationalsozialismus um den Quellentyp „zeitgenössische Spielfilme“ erweitert. Um diese allgemeinen Gedanken zu konkretisieren, beschäftigt sich ein zweites Kapitel mit der Möglichkeit, den Spielfilm Kolberg (1943/44) als Untersuchungsgegenstand für den Geschichtsunterricht der gymnasialen Oberstufe zu nutzen, um nicht nur filmanalytische Kompetenzen zu schulen, sondern daneben grundlegende Kenntnisse über den Umgang der Nationalsozialisten mit dem Massenmedium Film zu erlangen. In der Frage nach der kritischen Filmanalyse in der Schule sind andere Unterrichtsfächer, vor allem die philologischen Fachrichtungen, dem Geschichtsunterricht weit voraus. Sie haben die Bedeutung audiovisueller Kulturprodukte für die heutige Gesellschaft erkannt und fordern in ihren Curricula nicht nur eine „Würzung“, sondern fachliche Auseinandersetzung.7 Auch für den Geschichtsunterricht wurden in den letzten Jahren fachwissenschaftliche Grundlagen für den Umgang 6 Einen ungewöhnlichen Zugang bieten etwa die Ideen von Klaus Maiwald, der den Dokumentarfilm Mein Krieg (1989/90) von Harriet Eder und Thomas Kufus für die Thematisierung im Geschichtsunterricht vorstellt. Kufus’ und Eders Film verbindet private Dokumentaraufnahmen einzelner Wehrmachtssoldaten mit rückblickenden Kommentierungen der Amateurfilmer. Hierzu: Klaus Maiwald, „Mein Krieg“ – Laienfilme im Zweiten Weltkrieg, in: Praxis Geschichte 5 (1992), Heft 6, S. 60–62. Für die Einbindung eines populären Spielfilms in den Geschichtsunterricht siehe etwa: Klaus Fieberg, Der Film ‚Der Untergang‘ im Geschichtsunterricht. Ein unterrichtlicher Ideenpool mit Planungselementen, in: Praxis Geschichte 18 (2005), Heft 3, S. 58–60. Für die audiovisuelle Darstellung der Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus siehe: Jan Telgkamp, Schule unterm Hakenkreuz, in: Praxis Geschichte 25 (2012), Heft 3, S.48–51. Telgkamp stellt hier eine vom LWL-Medienzentrum in Münster produzierte DVD vor, die Amateuraufnahmen des Schulalltags in der sauerländischen Stadt Plettenberg zusammenstellt. 7 So stellt etwa der Lehrplan für den Englischunterricht in der Sekundarstufe II in Nordrhein-Westfalen fest, dass als Arbeitsgrundlage in Klausuren den Lernenden auch audiovisuelle Medien präsentiert werden können. Siehe: Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung NRW (Hrsg.), Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II – Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen, Frechen 1999, S. 89ff. NS-Filme im Schulunterricht  159

mit Filmen augenscheinlich gelegt. Denn durch medienhistorische Zugänge, die zunehmend auch in der Geschichtswissenschaft an Akzeptanz gewinnen,8 werden an den Universitäten vermehrt Historiker ausgebildet, die für die Auseinandersetzung mit anderen als schriftlichen Quellen im Schulunterricht vorbereitet sind. Zum anderen setzt sich die Fachdidaktik in den vergangenen Jahren zunehmend mit der Integration von audiovisuellen Medien in den Geschichtsunterricht auseinander und konnte teils innovative Herangehensweisen präsentieren. Dabei lässt sich die Beschäftigung der Geschichtsdidaktik mit Filmen in drei große Kategorien einteilen: Den weitaus größten Anteil nimmt hierbei die Arbeit mit historisierenden Spielfilmen der Gegenwart ein, die retrospektiv ein historisches Ereignis filmisch inszenieren. Damit zeigen sie weniger etwas über die Vergangenheit, die sie in Szene setzen. Sie geben vielmehr etwas über die Sicht heutiger Filmschaffender auf historische Ereignisse preis. Sie werden von Didaktikern aus der Praxis zumeist als „ungewöhnliche Zugänge“ zu historischen Fragestellungen vorgestellt.9 Von der Fragestellung nach der historischen Exaktheit der heutigen Filmproduktionen hat sich die Geschichtsdidaktik weitestgehend verabschiedet. Eine Arbeit mit historisierenden Spielfilmen ist also im weiteren Sinne eine Arbeit zur Geschichtskultur, die den Umgang unserer Gesellschaft mit ihrer Geschichte analysiert und hinterfragt. Dem folgend steht sie meist am

8 Beleg für die intensivierte Beschäftigung mit Medien im Bereich der Geschichtswissenschaft: Frank Bösch, Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen, Frankfurt 2011. 9 Stellvertretend: Britta Wehen, Wenn Antike lebendig wird. Methodische Anregungen zur Analyse von Spielfilmen im Geschichtsunterricht, in: Geschichte lernen 25 (2011), Heft 140, S. 50–52; Klaus Fieberg, Autoritäre Beziehungen. Der Film: Das weiße Band. Eine deutsche Kindergeschichte, Praxis Geschichte 23 (2010), Heft 6, S. 50–51; Sabine Wussow-Klingebiel, ‚Das Leben der Anderen‘. Ulrich Mühe – ein sensibler Charakterdarsteller als Stasi-Offizier, in: Praxis Geschichte 20 (2007), Heft 6, S. 48–49; oder (mit deutlichem filmanalytischem Schwerpunkt): Martin Ganguly, Tatort Mittelalter. ‚Der Name der Rose’, in: Praxis Geschichte 21 (2008), Heft 4, S. 50–51; auch in Geschichtsbücher finden Methodenseiten zum Umgang mit historisierenden Spielfilmen vermehrt Einzug, siehe etwa: Björn Onken u. a., Kursheft Geschichte: Krisen der römischen Republik, Berlin 2012, S. 73–77. 160  Benjamin Städter

Ende einer Unterrichtseinheit und setzt die Erarbeitung der im Spielfilm ausgedeuteten historischen Epoche voraus. Einen zweiten größeren Block bildet die Arbeit mit historischen Dokumentarfilmen. Hierbei nimmt die Epoche des Nationalsozialismus (nicht zuletzt wohl aufgrund der schillernden Protagonistin Leni Riefenstahl) quantitativ einen besonderen Stellenwert ein. Ziel dieser filmdidaktischen Herangehensweise ist es, die historischen Dokumentarfilme als Beispiele für ideologische Quellen oder tendenziöse Geschichtsdeutungen zu erarbeiten.10 Auch die Auseinandersetzung mit heutigen Dokumentarfilmen, die einen retrospektiven Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus werfen, gerät zunehmend in den Blick didaktischer Forschung.11 So konnten etwa einige Studien vorgelegt werden, die den Einsatz von Zeitzeugeninterviews in Dokumentarfilmen von Guido Knopp und anderen kritisch beleuchten. Zeitzeugeninterviews, so die Argumentation, gilt es im Unterricht im Sinne einer oral history zu hinterfragen und ihre Aussagen nicht (wie es das Dokuscript vorgibt) als Bestätigung der in der Dokumentation kommunizierten Aussage zu betrachten.12 Eine dritte Form des Filmeinsatzes im Geschichtsunterricht, die wohl als die gewinnbringendste anzusehen ist, bildet im Hinblick auf unterrichtspraktisch ausgelegte, geschichtsdidaktische Reflexionen quantitativ leider die kleinste Gruppe: Allzu selten werden historische Spielfilme im Geschichtsunterricht eingesetzt, die als Quellen eines historischen Sujets erarbeitet werden. Eine Ausnahme zum Themenfeld Nationalso-

10 Stellvertretend: Petra Schepers, „City Bombing“. Propaganda und Wirklichkeit in Filmen zum Luftkrieg, in: Praxis Geschichte 17 (2004), Heft 4, S. 40–43. 11 Praxis Geschichte 3/2012: Geschichte im Fernsehen. Dokumentarische Filme. Aus fachwissenschaftlicher Sicht siehe jüngst: Torolf Lipp, Spielarten des Dokumentarischen. Einführung in Geschichte und Theorie des Nonfiktionalen Films, Marburg 2012; François Niney, Die Wirklichkeit des Dokumentarfilms. 50 Fragen zur Theorie und Praxis des Dokumentarischen, Marburg 2012. 12 Aus medienwissenschaftlicher Sicht: Judith Keilbach, Geschichtsbilder und Zeitzeugen, Münster 2008; mit einer geschichtsdidaktischen Perspektive: Frank Bösch, Das ‚Dritte Reich‘ ferngesehen. Geschichtsvermittlung in der historischen Dokumentation, in: GWU 50 (1999), S. 204–220. NS-Filme im Schulunterricht  161

zialismus bietet hier etwa die Unterrichtseinheit von Dieter Gaedke zu Veit Harlans Spielfilm Der große König.13 Dabei können gerade diejenigen Spielfilme, die zwischen 1933 und 1945 während der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland produziert wurden, als ein überaus vielschichtiges Erarbeitungsmaterial angesehen werden. Traf doch in dieser Zeit die zunehmende Popularität neuer Medienformate, etwa des Kinos oder des Radios, auf den ausdrücklichen Willen der nationalsozialistischen Propaganda, breite Bevölkerungsschichten durch diese Massenmedien zu erreichen. Vor allem der Film spielte hier eine exponierte Rolle.14 Zahlreiche in der Zeit zwischen 1933 und 1945 produzierte Spielfilme konnten so einer breiten massenmedialen Öffentlichkeit im Gewande der seichten Unterhaltung das Weltbild der Nationalsozialisten nahebringen.15 Somit können die von der UFA und anderen Filmgesellschaften produzierten Spielfilme den Schülerinnen und Schülern nicht nur einen Einblick in einige der ideologischen Prämissen der nationalsozialistischen Ideologie geben, sondern darüber hinaus in die organisatorischen Verschränkungen von Filmwirtschaft und nationalsozialistischem Staat, vertreten vor allem durch Goebbels’ Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Zweifellos müssen audiovisuelle Quellen für solch eine tiefer gehende Analyse mit weiteren Quellentypen ergänzt werden, die etwa Auskunft über den organisatorischen Rahmen der Filmproduktion oder Rezeptionsmuster des Kinopublikums geben.16 Für den Schulalltag stellen die Suche und sinnvolle Didaktisierung 13 Dieter Gaedke, „An dem Sieg zu zweifeln. Das ist Hochverrat“. Zur Propaganda im nationalsozialistischen Spielfilm, in: Praxis Geschichte 5 (1992), Heft 6, S. 27–31; ähnlich in Herangehensweise und theoretischer Argumentation: Gerhard Schneider (wie Anm. 4), S. 365. 14 Früheste Studie zum Thema: Gerd Albrecht, Nationalsozialistische Filmpolitik. Eine soziologische Untersuchung über die Filme des Dritten Reiches, Stuttgart 1969. 15 Für weiterführende Literatur aus fachwissenschaftlicher und didaktischer Perspektive siehe: Benjamin Städter, Die Geschichte des Nationalsozialismus als Geschichte ihrer Medien, in: GWU 62 (2011), S. 573–583. 16 Für die fachwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Rezeption zeitgenössischer Spielfilme in der Zeit des Nationalsozialismus siehe: Gerhard Stahr, Volksgemeinschaft vor der Leinwand? Der nationalsozialistische Film und sein Publikum, Berlin 2001. 162  Benjamin Städter

solcher Quellen ein oftmals mühsames und zeitaufwändiges Unterfangen dar, auch wenn didaktische Zeitschriften und teils auch Geschichtsbücher seit einigen Jahren vermehrt solches Quellenmaterial, das die Arbeit mit historischen Spielfilmen flankiert, bereitstellt.17 Der Gewinn einer analytischen Quellenarbeit mit audiovisuellen Medien liegt neben den rein fachlichen Lernzielen vor allem in der wissenschaftspropädeutischen methodischen Schulung der Lernenden. Ein primäres Ziel eines mediengeschichtlich inspirierten Zugangs zum Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht mit einem Schwerpunkt auf audiovisuelle Medienformate muss daher ganz im Sinne der Kompetenzorientierung die Dekonstruktion der Wirkmacht audiovisueller Medienformate sein. Hier erfüllt solch ein filmanalytischer Ansatz die von vielen Kernlehrplänen und Richtlinien für das Unterrichtsfach Geschichte eingeforderte Übertragbarkeit des Unterrichtsinhalts auf das Lebensumfeld der Schülerinnen und Schüler, denn Medienformate im Allgemeinen und audiovisuelle Medienformate im Speziellen prägen noch heute den Alltag der Lernenden.18 Dieser Prämisse eines kompetenzorientierten Geschichtsunterrichts folgend verschränkt die Arbeit mit historischen Spielfilmen also einen inhaltlichen, fachmethodischen und medienspezifischen Kompetenzerwerb. Solch ein Zugang kann am Beispiel der massenmedialen Durchdringung westlicher Gesellschaften im 20. Jahrhundert aufzeigen, „wie menschliche Gesellschaften [in Bezug auf den Einsatz von Spielfilmen im Nationalsozialismus kann man wohl spezifischer von massenmedialen Gesellschaftsformationen sprechen] entstanden sind, wie diese sich

17 So etwa für die Filmgeschichte der frühen Bundesrepublik: Christian Kuchler, Heile Welt und ländliche Idylle. Werbeplakate für Heimatfilme der 50er Jahre, in: Geschichte lernen 19 (2006), Heft 114, S. 46–52; ders., Die Sünderin im Geschichtsunterricht. Lokalhistorische Spurensuche zu einem Medienskandal, in: Monika Fenn (Hrsg.), Aus der Werkstatt des Historikers. Didaktik der Geschichte versus Didaktik des Geschichtsunterrichts, München 2008, S. 125–139. 18 Für den Geschichtsunterricht im Bundesland Nordrhein-Westfalen siehe: Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, Kernlehrplan für das Gymnasium – Sekundarstufe I (G8) in Nordrhein-Westfalen – Geschichte, Frechen 2007, S. 13. NS-Filme im Schulunterricht  163

in den Dimensionen Zeit und Raum entwickelt haben und welche Entwicklungsprozesse bis in die Gegenwart hinein wirken.“19 Darüber hinaus kann die Arbeit mit Spielfilmen ein breites Feld entspannen, das weit über die eigentliche medien- und filmhistorische Arbeit hinausgeht20: Historische Spielfilme eignen sich nicht nur für den Erwerb und die Schulung von Kompetenzen im Hinblick auf den kritischen Umgang mit audiovisuellen Medien, sondern können als Ausgangspunkt für zahlreiche Werturteilsdiskussionen dienen. So ließe sich etwa nach einer Filmanalyse die Frage nach der Verantwortlichkeit der Kunstschaffenden im „Dritten Reich“ für den durch Deutschland entfesselten Terror und Völkermord in Europa stellen. Hierbei können die in den Filmen als Protagonisten mitwirkenden Filmschaffenden wie Heinrich George oder auch Leni Riefenstahl als Beispiel für eine angepasste und kollaborierende Generation von Künstlern stehen, denen von einer kritischen Öffentlichkeit in der Bundesrepublik seit Ende der vierziger Jahre der Vorwurf gemacht wird, sie hätten durch ihren Einsatz für die deutsche Filmwirtschaft am Erfolg der NS-Propaganda Mitverantwortung getragen und seien somit zu Mittätern geworden. Hingegen weisen die Künstler in ihrer Mehrheit in autobiografischen Schriften und Interviews solche Vorwürfe zumeist entrüstet von sich.21 Eine Gegenüberstellung von Anklagen und den Selbstzeugnissen der Filmschaffenden kann als geeignetes Ausgangsmaterial für eine Diskussion dienen, die die Multiperspektivität von Geschichtsdeutungen unterstreicht. 2. Der Spielfilm Kolberg als propagandistische Umdeutung der deutschen Geschichte

Ein hervorragendes Beispiel für eine medienhistorisch angelegte Erarbeitung eines Unterhaltungsfilms der nationalsozialistisch gelenkten deutschen Filmindustrie bietet der Spielfilm Kolberg, der zwischen Oktober 1943 und August 1944 mit erstaunlicher finanzieller und logistischer 19 Ebd. 20 Hierzu ausführlicher: Städter (wie Anm. 15). 21 Stellvertretend: Leni Riefenstahl, Memoiren 1902–1945, Frankfurt/Main 21994. 164  Benjamin Städter

Anstrengung unter der Regie von Veit Harlan produziert wurde und im Januar 1945 zur Uraufführung kam. Er firmiert heute als sogenannter Vorbehaltsfilm, der offiziell nicht frei verfügbar ist, zu wissenschaftlichen Zwecken jedoch von der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung bereitgestellt wird. In diesem Rahmen kann Kolberg auch für den Einsatz im Geschichtsunterricht entliehen werden. Neben den Unterrichtszielen der filmanalytischen Wissenschaftspropädeutik bietet Harlans Film gerade wegen seiner Umdeutung eines historischen Sujets, nämlich der Belagerung der pommerschen Festungsstadt Kolberg im Vierten Koalitionskrieg (1806/07) und des Aufrufs des preußischen Königs „An mein Volk“ aus dem Jahre 1813, einen hervorragenden Unterrichtsgegenstand zur Erarbeitung grundlegender Tendenzen der nationalsozialistisch geprägten Unterhaltungsindustrie. Eine medienhistorische Analyse der Produktion mag den Lernenden dabei verdeutlichen, dass Geschichte diskursiv verhandelbar ist und historische Ereignisse in unterschiedlichen Gesellschaftsformationen

„Kolberg“. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Deutschen Kinemathek. NS-Filme im Schulunterricht  165

verschieden gedeutet und auf gegenwärtige Entwicklungen bezogen werden können. Kolberg nimmt unter den Spielfilmproduktionen zwischen 1933 und 1945 eine einzigartige Stellung ein. Der Film zeigt bereits in seiner Produktionsgeschichte die Menschenverachtung nationalsozialistischer Propaganda auf, „verkehrte er das Verhältnis von Geschichte und Film [doch] gänzlich, indem er den technischen Anforderungen der Bildproduktion mehr Aufmerksamkeit zollte als den materiellen Bedürfnissen des zeitgenössischen Publikums“.22 Harlan wurde im Juni 1943 beauftragt, die patriotische Verbundenheit von Heimat und Front in den Mittelpunkt seiner filmischen Ausdeutung der Belagerung Kolbergs zu stellen. Der Regisseur selbst sah sein Wirken ganz im Sinne dieser Propaganda, wenn er in einer Pressekonferenz im Dezember 1943 die imaginierte Parallele der Situationen 1807 und 1943/44 betonte und folgerte, dass das Kinopublikum sich an seinen preußischen Vorfahren ein Beispiel zu nehmen habe, um letztlich einen Sieg erreichen zu können. Für die Umsetzung seines Filmprojekts wurden dem Regisseur insgesamt 8,5 Millionen Reichsmark und 4.000 Studenten der Kriegsmarineschule als Statisten zur Verfügung gestellt.23 Bei einer Erarbeitung des Films im Geschichtsunterricht scheint es wichtig, diese Hintergründe und Produktionsbedingungen mit in den Blick zu nehmen. An ihnen erschließt sich den Lernenden, dass auch die Quellengattung Film, ähnlich wie andere Quellengattungen, nur im Kontext ihrer Produktions- und Rezeptionsbedingungen zu deuten ist. Grundlegend für das Verständnis der Intention der Filmproduktion ist deren zeitliche Verortung in der Endphase des Zweiten Weltkriegs. In einer seiner zentralen Aussagen, nämlich der patriotischen Pflicht des Durchhaltens in einer ausweglosen militärischen Situation, lässt er sich augenscheinlich auf die historische Situation des Deutschen Reichs in den letzten beiden Kriegsjahre 1944/45 beziehen. Noch offenkundiger wird die Intention der Parallelisierung von antinapoleonischem Befreiungskampf und Zweitem Weltkrieg mit einem Blick auf die Orte 22 Sabine Hake, Film in Deutschland. Geschichte und Geschichten seit 1895, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 151. 23 So Propagandaminister Goebbels in einem Brief an Harlan vom Juni 1943. Siehe: Jerzy Toeplitz, Geschichte des Films 1934–1945, München 1987, S. 1570f. 166  Benjamin Städter

der Uraufführung von Harlans Werk: UFA und Propagandaministerium wählten eben nicht nur zwei Säle der Reichshauptstadt, sondern flogen eine Kopie des Films in die eingeschlossene Atlantikstadt La Rochelle, wo Kolberg parallel zu seiner Uraufführung kam.24 Auch der Versuch des Propagandaministeriums, in den folgenden Wochen die wenigen produzierten Kopien möglichst an die Frontabschnitte zu schicken, an denen vermeintlich entscheidende Schlachten bevorstanden, verdeutlicht die Hoffnung der Produzenten, die Rezipienten des Films im Sinne einer Propaganda des bedingungslosen Durchhaltens zu beeinflussen. Die von Clemens Zimmermann für viele UFA-Spielfilme relativierte Vermittlungsabsicht nationalsozialistischer Ideologie lässt sich somit in Kolberg im Kontext seiner Produktion und Aufführungspraxis recht deutlich feststellen.25 Die Frage nach der Intention der Filmproduzenten sollte im Geschichtsunterricht mit der Frage nach der Rezeption des zeitgenössischen Kinobesuchers verbunden werden. Auch hier lassen sich für den Film Kolberg einige (wenn auch spärlich vorliegende) Quellen im Unterricht nutzen. So konnte Gerhard Starr in den Stimmungsberichten nachweisen, dass die beispielsweise in einem Brief eines schlesischen Kreisleiters deutlich werdende Euphorie der Parteielite keineswegs ihren Widerhall in breiten Teilen des Kinopublikums fand. Die Wirkungsmacht des von Harlan pathetisch in Szene gesetzten Aufrufs zur patriotischen Pflicht des Durchhaltens berührte die Filmrezipienten offenbar nur wenig, sie zeigten sich der Propaganda im letzten Kriegsjahr überdrüssig und teils auch verärgert.26 Neben der von Harlan recht offensichtlich, aber augenscheinlich vergeblich in Szene gesetzten Botschaft des unbeirrten Siegeswillens einer nationalen Schicksalsgemeinschaft bietet die Figurenkonstellation des Films in ihrer Darstellung hierarchischer militärischer und ziviler Rangordnung eine zweite Möglichkeit einer tiefer gehenden Analyse im Klassenraum. Hierbei spielt zum einen die in der Ideologie des Nationalsozialismus grundlegende Idee hierarchischer Ordnung eine Rolle, 24 Stahr (wie Anm. 16), S. 265. 25 Clemens Zimmermann, Medien im Nationalsozialismus. Deutschland, Italien und Spanien in den 1930er und 1940er Jahren, Wien u. a. 2007, S. 175. 26 Stahr (wie Anm. 16), S. 266. NS-Filme im Schulunterricht  167

zum anderen das scheinbar legitime Aufbegehren gegen diese beim Versagen staatlicher Autoritäten. So versagt der Held des Films, der Bürgerrepräsentant Joachim Nettelbeck, dem Stadtkommandanten von Lucadou die Gefolgschaft, weil dieser die vermeintliche Stärke der von Nettelbeck organisierten Bürgerwehr missachtet. Erst der junge Major Gneisenau, der von Lucadous Kommando in schier auswegloser Situation übernimmt, kann durch seine patriotische Gesinnung Nettelbecks Vertrauen gewinnen und die hierarchische Ordnung wiederherstellen. Sein Charakter dient quasi als Korrektiv gegenüber dem aufbrausenden und aufmüpfigen Nettelbeck, beide gemeinsam tragen in ihrer letztlich erfolgreichen Zusammenarbeit zur gewünschten Filmbotschaft des „unverbrüchlichen Band[s] zwischen der Front und der Heimat“ bei.27 Eine Thematisierung dieses Einzelaspekts bietet sich nicht zuletzt deshalb an, um auf eine Gesamtsichtung des knapp zweistündigen Films im Unterricht zu verzichten. Die grundlegende Auseinandersetzung zwischen dem Zivilisten Nettelbeck und den Militärs von Lucadou und Gneisenau kann exemplarisch in einzelnen Szenen vor dem Hintergrund der zentralen Aussagen über Bürgerpatriotismus und militärischen Gehorsam im Unterricht erarbeitet werden. Die didaktische Reduktion des Lerngegenstands auf einzelne Szenen scheint für die praktische Umsetzung eines solchen Unterrichtsvorhabens unausweichlich, auch wenn sie in der geschichtsdidaktischen Forschungsliteratur durchaus umstritten ist.28 Zahlreiche Didaktiker fordern, Spielfilme vornehmlich in ihrer Gänze im Geschichtsunterricht zu zeigen. Dies ist jedoch aufgrund der knappen Unterrichtszeit kaum umsetzbar, die Realisierbarkeit konkreter Unterrichtssequenzen wäre wohl nicht mehr möglich. Zudem spricht die in Lehrplänen und Curricula geforderte Kompetenzorientierung des Geschichtsunterrichts für die Möglichkeit der Arbeit auch mit Filmausschnitten. Zweifellos ist der Film „ein Gesamt(kunst)werk“, wie etwa Peter Meyers betont. Seine Folgerung, dass man durch eine „Zerstücke-

27 Toeplitz (wie Anm. 23), S. 1571. 28 Zur Diskussion um den Einsatz von vollständigen Filmen: Reinhard Krammer, De-Konstruktion von Filmen im Geschichtsunterricht, in: Waltraud Schreiber/ Anna Wenzl (Hrsg.): Geschichte im Film. Beiträge zur Förderung historischer Kompetenz, Neuried 2006, S. 28–41, S. 29. 168  Benjamin Städter

lung“ eines Films dem Werk „nicht gerecht“ werde,29 weist im Hinblick auf dessen Einbindung in den Geschichtsunterricht meines Erachtens aber in eine falsche Richtung. Der etwas nebulös-vage Ausdruck „einem [Werk] gerecht werden“ zielt letztendlich auf eine Interpretation ab, die sämtliche Aspekte des Kunstwerks berücksichtigt und diskutiert. Dies lässt sich freilich in einem problem- und kompetenzorientierten Geschichtsunterricht nur selten verwirklichen. Quellen sind hier vielmehr Mittel zum Zweck: Die Schülerinnen und Schüler bearbeiten sie nicht um ihrer selbst willen oder gar erschöpfend, sondern mit einer ganz konkreten Problem- und Fragestellung. Primäres Ziel ist es (neben dem fachlichen Kompetenzerwerb) weniger, einem Kunstwerk „gerecht zu werden“, als vielmehr, eigene Kompetenzen zu schulen, die bei der Beschreibung, Interpretation und kritischen Einordnung weiterer Kunstwerke nützlich sind.30 Ein dritter grundlegender Aspekt der Behandlung des Films Kolberg im Geschichtsunterricht bietet die Umdeutung historischer Ereignisse durch die nationalsozialistischen Spielfilme, die als Wesensmerkmal der sogenannten „Preußenfilme“ gelten kann.31 Während die Geschichtswissenschaft in der Verteidigung der Stadt Kolberg keine militärische Bedeutung im Krieg gegen Napoleon sieht,32 präsentiert Harlans Film den Widerstandswillen der dortigen Bürger als Keimzelle für die pa­triotische Erhebung der preußischen Bevölkerung gegen die französische Invasion und somit als Ausgangspunkt für die Genese eines preußisch-deutschen Nationalgefühls in den Napoleonischen Kriegen. Das Leinwandopus bedient sich hierfür einer äußerst konstruiert wirkenden Rahmung der eigentlichen Filmhandlung, indem es eine imaginierte Unterredung Gneisenaus mit dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. aus dem Jahr 1813 an den Anfang und an das Ende des 29 Peter Meyers, Film im Geschichtsunterricht, in: GWU 51 (2001), S. 246–259, S. 255 f. 30 Meyers selbst räumt ein, dass seine ehrfürchtige Herangehensweise an die Quelle als Kunstwerk nicht von allen Geschichtsdidaktikern geteilt wird. Ähnliche Kritik an Meyers übt: Hans Utz, Zu kurze Filme – zu lange Texte. Film-Ausschnitte im Geschichtsunterricht, in: GWU 59 (2008), S. 28–35, S. 31. 31 Zum Genre des „Preußenfilms“ siehe: Hake (wie Anm. 22), S. 150. 32 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1982, S. 15f. NS-Filme im Schulunterricht  169

Films setzt. In ihr versucht Gneisenau erfolgreich, den König mit Verweis auf die patriotische Großtat der Bürger Kolbergs zu überzeugen, den Aufruf „An mein Volk“ zu unterzeichnen und damit seine Untertanen für die tatkräftige Unterstützung der Befreiungskriege gegen Napoleon zu gewinnen. Die Bürger Kolbergs werden in dieser Deutung zu Miliz und Volksheer, das ungeachtet des Friedensschlusses von Tilsit (1807) bereits im Jahr 1806 den Grundstein für den Sieg Preußens gegen den französischen Kaiser legt. Für die Erarbeitung dieser Lesart der preußischen Geschichte bietet sich im Geschichtsunterricht eine Analyse der etwa fünfminütigen Anfangs- und zweiminütigen Schlusssequenz des Films an: Angetrieben von den vor der königlichen Residenz in Breslau aufmarschierenden Soldaten und Volksmassen und Gneisenaus im Pathos der Propaganda Joseph Goebbels’ vorgetragenen Worten („aus Asche und Trümmern wird sich wie ein Phoenix ein neues Volk erheben, ein neues Reich“) unterzeichnet König Friedrich Wilhelm III. schließlich den Aufruf „An mein Volk“. Seine suggestive Wirkung gewinnt die filmische Inszenierung dabei nicht nur durch das entrückt wirkende Minenspiel und den Pathos Horst Caspars in seiner Rolle als Gneisenau, sondern zudem durch den martialischen Gesang der Massen vor der königlichen Residenz, die Gneisenau und Friedrich Wilhelm III. durch ein Fenster beobachten. In beharrlicher Wiederholung singen die vereinten Bürger und Soldaten die ersten Zeilen des Gedichts Theodor Körners („Das Volk steht auf, ein Sturm bricht los“) in der Vertonung des Filmkomponisten Norbert Schultze. In der Erarbeitung der beiden Filmsequenzen können die Lernenden hier ihre filmanalytischen Kompetenzen über das Zusammenwirken von narrativem Handlungsverlauf, schauspielerischer Darstellung und der Integration musikalischer Elemente schulen. Zudem müssen die Lernenden auf ihr Wissen über die napoleonischen Befreiungskriege und die Genese des deutschen Nationalstaatsgedankens und Nationalismus zurückgreifen, die in vielen Vorgaben, so beispielsweise auch in Nordrhein-Westfalen, für das Zentralabitur als

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obligatorische Lerninhalte vorgegeben sind.33 Demnach bietet Harlans Spielfilm nicht nur die Möglichkeit zum Erwerb filmanalytischer Kompetenzen im engeren Sinne, sondern darüber hinaus einen Anlass zu einer kritischen Reflexion über Geschichtsdeutungen im Nationalsozialismus. 3. Filme im Geschichtsunterricht: Chancen, Perspektiven, Schwierigkeiten

Eine zentrale Frage, die sich bei der ambitionierten Quellenarbeit mit Spielfilmen aus der Zeit des Nationalsozialismus in der Unterrichtspraxis stellt, ist zweifelsohne diejenige nach den eng gestrickten Lehrplänen und Curricula, die – so der Einwand – kaum oder gar keine Möglichkeit für ein solch zeitintensives Unterfangen lassen. Zweifelsohne: In Zeiten des Zentralabiturs gilt es gerade im Sinne der Schülerinnen und Schüler, fachlich und methodisch stringent auf die finalen Prüfungen vorzubereiten – und eine Prüfungsaufgabe zum Thema „Film und Nationalsozialismus“ oder gar eine filmanalytische Aufgabe wird das Zentralabitur sicher nicht präsentieren. Andererseits sind die für die Quellenarbeit mit Filmen notwendigen filmanalytischen Kompetenzen bei den meisten Schülerinnen und Schülern bereits aus den sprachlichen Fächern bekannt und eingeübt. Somit bietet eine Filmanalyse durchaus Chancen für fächerverbindende Unterrichtssequenzen.34 Eng verknüpft mit der Frage der zeitlichen Realisierbarkeit ist zudem die oben bereits diskutierte Frage nach der Sichtung eines kompletten Films bzw. der Beschränkung auf einzelne Ausschnitte. Anders als im universitären Bereich muss es im schulischen Unterricht sehr wohl möglich sein, auch Spielfilme sinnvoll zu didaktisieren und somit nur in Ausschnitten zu thematisieren. Bei der Auswahl der zu analysieren33 Siehe hierzu etwa die Vorgaben des Bildungsministeriums Nordrhein-Westfalen für die inhaltlichen Schwerpunkte der Geschichtskurse in der gymnasialen Oberstufe 2013–2015. Online unter: http://www.standardsicherung.nrw.de/abiturgost/fach.php?fach=12 (03.07.2013). 34 Tobias Arand: Fächerverbindender Geschichtsunterricht, in: Michele Barricelli/ Martin Lücke (Hrsg.), Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. II, Schwalbach am Taunus 2012, S. 308–324. NS-Filme im Schulunterricht  171

den Sequenzen gilt es, die Suggestivität von Spielfilmen nicht zu verlieren, sondern diese vielmehr in das Zentrum der Betrachtungen zu stellen und sie für den Unterricht fruchtbar zu machen, um sie dann in einem zweiten Schritt zu dekonstruieren: Audiovisuelle Medien regen ihre Betrachter zur Parteinahme an und setzen zugleich Emotionen frei. Sie können ganz anders, als dies schriftliche Quellen vermögen, bei den Schülerinnen und Schülern ein emotionales Interesse für einen Themenkomplex wecken. Gerade deswegen scheint es mir für das Filmbeispiel Kolberg so gewinnbringend, die suggestiv gestaltete Anfangs- und Schlusssequenz als Szenenbeispiel in den Unterricht einfließen zu lassen. Die Frage nach der von Filmen evozierten Emotionalität lässt sich zudem sinnvoll mit der grundlegenden Frage nach der Rezeption der Filme verbinden. Ein genuines Lernziel, das bei der filmanalytischen Arbeit verfolgt werden sollte, ist meiner Meinung die Unterscheidung zwischen historischen und retrospektiven Betrachtern. Erst ein tiefer gehendes Verständnis über die Unterscheidung dieser beiden Ebenen ermöglicht die Erarbeitung von zeitgenössischen Lesarten eines Films, so wie sie für Kolberg etwa Gerhard Stahr präsentiert.35 Hier lässt sich der für die Schülerinnen und Schüler prägendste Lernerfolg verorten: Kinofilme, die in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft produziert wurden, mögen auf heutige Schülergenerationen befremdlich, vielleicht sogar lächerlich wirken, nicht zuletzt die pathetische Dialoginszenierung in Kolberg steht heutigen Sehgewohnheiten diametral entgegen. Die suggestive Kraft des Films lässt sich daher weniger mit den spontanen Gefühlen ermessen, die sie in uns im 21. Jahrhundert hervorrufen, sondern nur durch die – freilich spärlich aufzufindenden – Quellen und Ergebnisse der Forschung zum historischen Kinobesucher. Auch wenn solch eine Erkenntnis für den geschulten Akademiker banal klingen mag, für Schülerinnen und Schüler eröffnet sie grundlegende Erkenntnisse im Umgang mit historischen Medien, die in gewissem Sinne die oftmals geforderte Interkulturalität von Kommunikation um den Bereich der Historizität erweitert. Historische Spielfilme bieten so im Geschichtsunterricht nicht nur ein Erarbeitungsmaterial für eine Erweiterung der fachlichen Kompe35 Stahr (wie Anm. 16), S. 266. 172  Benjamin Städter

tenzen. Sie verschaffen den Lernenden vielmehr ein motivationssteigerndes Spektrum an Materialien, an dem sie neue Zugänge zu dem für die Lernenden oft mühsamen Thema Nationalsozialismus finden. Gerade die Übertragbarkeit der Kompetenzen, die an ihnen geschult werden, machen diese Zugänge so ertragreich, gilt es doch im Geschichtsunterricht nicht ausschließlich zukünftige Geschichtswissenschaftler auszubilden, sondern den Schülerinnen und Schülern Kompetenzen an die Hand zu geben, mit denen sie sowohl historische als auch gegenwärtige Kulturprodukte und Entwicklungsprozesse verstehen und kritisch bewerten können.

NS-Filme im Schulunterricht  173

Stefanie Paufler-Gerlach

(K)eine erneute Inszenierung? Museale Präsentation von NS-Propaganda in zeitgenössischen Ausstellungen

1. Einleitung

Als Gottfried Korff im Jahr 1984 der musealen Präsentation in Abgrenzung zum Geschichtsunterricht den „Vorteil des optischen Reizes“ und die „Faszination des Authentischen“ zusprach,1 erfreuten sich fremde Hochkulturen und mittelalterliche Herrschaftsdynastien großer Beliebtheit in deutschen Sonderausstellungen, während der zeitnahe Nationalsozialismus vor allem in regionalen Archivausstellungen und in den Dauerausstellungen von Gedenkstätten und Dokumentationszentren thematisiert wurde.2 Gleichzeitig stehen die späten 1980er-Jahre aber auch für einen Wandel innerhalb der deutschen Museumslandschaft: Zeitgeschichte etablierte sich in Museen. Damit wurde zunehmend auch die NS-Zeit mit Krieg und Gewalt zum Gegenstand von Dauer- und Sonderausstellungen.3 Die Faszination des optischen Reizes erhält allerdings bei der musealen Präsentation von Exponaten zum Nationalsozialismus eine besondere Brisanz, weshalb der schmale Grad zwischen Aufklärung und Anziehungskraft immer wieder Diskussionen um den „Ausstellungs1 Gottfried Korff, Objekt und Information im Widerstreit, in: Museumskunde 49 (1984), S. 83–93, S. 90. 2 Martin Große Burlage, Große historische Ausstellungen in der Bundesrepublik Deutschland 1960–2000, Münster 2005, S. 303. 3 Heinrich Theodor Grütter, Zur Theorie historischer Museen und Ausstellungen, in: Horst Walter Blanke/Friedrich Jaeger/Thomas Sandkühler (Hrsg.), Dimensionen der Historik. Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute. Jörn Rüsen zum 60. Geburtstag, Köln u. a. 1998, S. 179–193, S. 186. (K)eine erneute Inszenierung?   175

wert“ bzw. um die Aura jener Stücke auslöst. Deutlich wird dies in einer Stellungnahme zur inhaltlichen Konzeption des neuen NS-Dokumentationszentrums in München, in der es im Jahr 2004 hieß, es seien seit drei Jahrzehnten alle Versuche einer Musealisierung oder einer wie auch immer gestalteten „Verfremdung“ von Objekten der NS-Zeit zur musealen Präsentation misslungen oder gescheitert, weshalb es bei der musealen Darstellung der NS-Diktatur nicht primär um museologische Techniken zur Aktivierung des Interesses, sondern um evidente Vermittlung von Fakten gehen müsse.4 Dieser Auszug markiert eine kritische Position zum musealen Status von NS-Sachzeugnissen. Insbesondere Objekte der NS-Propaganda und NS-Ideologie führen in Museen, Gedenkstätten und Dokumentationszentren immer wieder zu öffentlichen Kontroversen hinsichtlich ihrer Auswahl und Präsentation. Die zentralen Fragen lauten dabei: Was darf man zeigen und wie sollten Exponate präsentiert werden, damit sie als „System von Zeichen“5 gedeutet und nicht als Symbole missbraucht werden? Der vorliegende Beitrag will diese Problematik der musealen Präsentation von NS-Herrschaft und NS-Ideologie6 aufgreifen, um ortsspezi4 Winfried Nerdinger, Gutachterliche Stellungnahme zur Errichtung eines NSDokumentationszentrums in München vom 5.2.2004, S. 3, einsehbar unter: http:// www.ns-dokumentationszentrum-muenchen.de/ausstellung/dateien/Gutachterliche_Stellungnahme_WN.pdf (1.10.2013). Für das Jahr 2014 ist in München die Eröffnung des NS-Dokumentationszentrums – Lern- und Erinnerungsort zur Geschichte des Nationalsozialismus geplant, dessen Errichtung im Jahr 2002 vom Münchener Stadtrat beschlossen wurde. Seit der Entscheidung führten nicht nur Fragen der Finanzierung und des Standortes zu erheblichen Verzögerungen, ebenfalls wurde der Prozess von konzeptuellen Diskrepanzen begleitet. In dem vom Kulturreferat eingesetzten Gremium, dem Norbert Frei, Albert Lichtblau, Volker Knigge, Cilly Kugelmann und Wilfried Nerdinger angehörten, bestanden unterschiedliche Auffassungen über die Form der Darstellung und die inhaltliche Schwerpunktsetzung. Es wurden schließlich dem Stadtrat ein Mehrheitsgutachten von Frei, Knigge und Kugelmann, die sich für eine museale Präsentation aussprachen, und das oben genannte Gutachten von Nerdinger vorgelegt. Letzteres Konzept wurde vom Stadtrat als Arbeitsgrundlage verabschiedet. 5 Krzysztof Pomian, Museum und kulturelles Erbe, in: Gottfried Korff/Martin Roth (Hrsg.), Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt am Main 1990, S. 41–64, S. 43. 6 Der Beitrag thematisiert vorrangig die museale Präsentation von zwei- und dreidimensionalen Propagandaprodukten wie Bildern, Plakaten und Alltagsgegenständen, hingegen nicht persönliche Gegenstände ranghoher NS-Funktionäre. 176  Stefanie Paufler-Gerlach

Planungsentwurf NS-Dokumentationszentrum München. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Landeshauptstadt München. Simulation: Georg Scheel Wetzel.

fische Bedingungen zu analysieren und die damit verbundenen Variationen in der Ausstellungspraxis zu diskutieren. Die Kriterien der zeitlichen und räumlichen Dimensionen des Ausstellungswesens bilden dabei den Ausgangspunkt der Analyse. Zusätzlich sollen unter dem Analysekriterium der Präsentationsformen mögliche Divergenzen und Analogien ermittelt werden, um didaktische, rhetorische und stilistische Merkmale benennen zu können, die für die Darbietung signifikant sind. Anschließend wird das Verhältnis von Objekt und Subjekt stärker fokussiert, um die gegenwärtigen Erwartungshaltungen und Wahrnehmungsgewohnheiten zu thematisieren und so abschließend Perspektiven für die museale Präsentation der nationalsozialistischen Vergangenheit aufzuzeigen. 2. Zeitliche Dimensionen

Bereits die eingangs zitierte Stellungnahme zur musealen Präsentation von NS-Sachobjekten verdeutlicht, dass die Diskussion um den Ausstellungswert der Exponate aus der NS-Zeit sich durch einen komplexen Diskurs auszeichnet, der sich nicht singulär in der Erörterung von museumswissenschaftlichen Klassifizierungen und Methoden erschöpfen (K)eine erneute Inszenierung?   177

lässt. Denn die Debatte um die Darstellung des Nationalsozialismus in Ausstellungen ist zugleich Ausdruck des Prozesses einer gesellschaftlichen, geschichtswissenschaftlichen und geschichtspolitischen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Diese gewann in den 1990er Jahren an Dynamik und prägt maßgeblich die Erinnerungsund Gedenkkultur. Für das Ausstellungswesen sind hierbei mehrere Faktoren bzw. Entwicklungen bedeutsam: der regelrechte „Museumsboom“ von Neugründungen und -konzeptionen sowie historische Sonderausstellungen zu den Themen Krieg, Verfolgung und Verbrechen in den späten 1980er Jahren rückten das Ausstellungswesen und insbesondere die museale Darstellung des Nationalsozialismus in eine breitere öffentliche Wahrnehmung. Die Beschlüsse, mit dem Berliner Deutschen Historischen Museum und dem Bonner Haus der deutschen Geschichte zentrale nationale Geschichtsmuseen zu errichten, entfachte eine in der Öffentlichkeit breit geführte Diskussion um Stellenwert und angemessene Darstellung der nationalsozialistischen Zeit in den angedachten Museen. So attestierte beispielsweise Peter Reichel beiden Konzeptionen, dass der Nationalsozialismus in Bonn zur „Vorgeschichte“ und in Berlin „zu einer unter vielen Perioden“ gemacht werde.7 Die Kontroversen um die Konzepte umfassten dabei nicht nur fachwissenschaftliche Standpunkte. Vielmehr setzte die politische Diskussion die Akzente.8 Einen vorläufigen Höhepunkt der öffentlichen Diskussionen um die Thematisierung des Nationalsozialismus in Ausstellungen markiert das Jahr 1995 mit der Wanderausstellung Vernichtungskrieg. Die Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944. Signifikant für die damals geführten Kontroversen, neben den begründeten fachwissenschaftlichen Einwänden und einer erhöhten politischen Wahrnehmung, ist die intensive Beteiligung einer breiten Bevölkerung am Diskurs. Die divergierenden Reaktionen spiegelten nicht nur Facetten von Verdrängung, Versagen und Verantwortung wider, sie waren zugleich Indikatoren eines Gene7 Peter Reichel, Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die natio­ nalsozialistische Vergangenheit, München 1995, S. 246. 8 Peter Steinbach, Die publizistischen Kontroversen – eine Vergangenheit, die nicht vergeht, in: Peter Reichel/Harald Schmid/Peter Steinbach (Hrsg.), Der Nationalsozialismus. Die zweite Geschichte, München 2009, S. 127–174, S. 134f. 178  Stefanie Paufler-Gerlach

rationen- und Perspektivwechsels, weshalb die Ausstellung einen wichtigen Beitrag zur Diskussion um den künftigen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit markierte.9 Der zunehmende zeitliche Abstand zu den Ereignissen und die schwindende immediate Erinnerung führten seit Ende der 1990er-Jahre zu intensiven Debatten über zukünftige Konzepte der Vermittlung, die für das Ausstellungswesen ebenfalls bedeutsam waren und es künftig sein werden. Fragen der Gleichgültigkeit oder des Engagements der folgenden Generationen waren hierbei ebenso Katalysatoren für die Dringlichkeit der Erörterung wie die zunehmende kulturelle Heterogenität der Gesellschaft.10 Aber auch die Kontroversen um eine Historisierung des Nationalsozialismus und der bevorstehende Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis stellten Faktoren für die Aktualität der Auseinandersetzung dar.11

9 Rosmarie Beier-de Haan, Erinnerte Geschichte – Inszenierte Geschichte. Ausstellungen und Museen in der Zweiten Moderne, Frankfurt/Main 2005, S. 157; sowie: Hans-Ulrich Thamer, Vom Tabubruch zur Historisierung? Die Auseinandersetzung um die Wehrmachtsausstellung, in: Martin Sabrow/Ralph Jessen/Klaus Große Kracht (Hrsg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen nach 1945, München 2003, S. 171–187. 10 Lucian Hölscher, Erinnern und Vergessen. Vom richtigen Umgang mit der natio­ nalsozialistischen Vergangenheit, in: Ulrich Borsdorf/Heinrich Theodor Grütter (Hrsg.), Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum, Frankfurt am Main 1999, S. 111–130, S. 113; Harald Schmid, Von der „Vergangenheitsbewältigung“ zur „Erinnerungskultur“. Zum öffentlichen Umgang mit dem Nationalsozialismus seit Ende der 1970er Jahre, in: Gerhard Paul/Bernhard Schoßig (Hrsg.), Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus. Eine Bilanz der letzten dreißig Jahre, Göttingen 2010, S. 171–202, S. 194f. Siehe hierzu auch: Meik Zülsdorf-Kersting, Sechzig Jahre danach, Jugendliche und Holocaust. Eine Studie zur geschichtskulturellen Sozialisation, Münster 2007. 11 Volkhard Knigge, Statt eines Nachworts: Abschied der Erinnerung. Anmerkungen zum notwendigen Wandel der Gedenkkultur in Deutschland, in: Norbert Frei/ Volkhard Knigge (Hrsg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, Bonn 2005, S. 443–460, S. 448. (K)eine erneute Inszenierung?   179

3. Räumliche Dimensionen

Parallel zu den Entwicklungen in historischen Museen formierte sich seit den 1980er-Jahren ein weiterer Ausstellungstypus, dessen Intention bis heute maßgebend für die Diskussion um die Darstellungsformen des Nationalsozialismus ist und zugleich zu einer Akzentuierung der Vermittlungsformen führte. Denn obwohl das Thema zunehmend zum Gegenstand von Sonder- und Dauerausstellungen in Museen wurde, sind es größtenteils Gedenkstätten und Dokumentationszentren, die die NS-Geschichte museal vermitteln – und zwar meist am historischen Ort selbst.12 Die Klassifikation der historischen Orte in sogenannte „Opferorte“ wie ehemalige Konzentrations- und Arbeitslager und sogenannte „Täterorte“ wie das ehemalige Reichsparteitagsgelände in Nürnberg impliziert gleichfalls eine Abgrenzung zur Institution des historischen Museums, welche die NS-Vergangenheit häufig ohne direkten Ortsbezug nachzeichnet.13 Diese An- oder Abwesenheit des Bezugs zum Ereignisort manifestiert sich in den Varianten, wie die NS-Vergangenheit dargestellt wird. Dennoch muss die Intention der einzelnen Einrichtungen bei der 12 Hans-Ulrich Thamer, Sonderfall Zeitgeschichte? Die Geschichte des 20. Jahrhunderts in historischen Ausstellungen und Museen, in: Zeithistorische Forschungen 4 (2007), S. 167–176, S. 174. 13 Es variieren jedoch die Termini bezogen auf die sogenannten „Opfer-“ und „Täterorte“. Im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich die Bezeichnung des authentischen Ortes etabliert. Authentisch sind die Orte jedoch nicht, es sind ehemalige Schauplätze, an denen Verbrechen des Nationalsozialismus verübt, veranlasst und beschlossen wurden. Zugleich werden sie als Stätten von gedeuteter und präsentierter Geschichte genutzt. Folglich sind sie historische Orte, an denen Geschichte rekonstruiert wird, aber auch dekonstruiert werden kann. Siehe hierzu: Matthias Heyl, Historisch-politische Bildung zur Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen im 21. Jahrhundert, in: Till Hilmar (Hrsg.), Ort, Subjekt, Verbrechen. Koordinaten historisch-politischer Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus, Wien 2010, S. 23–53, S. 48f.; Christian Kuchler, Historische Orte im Geschichtsunterricht, Schwalbach am Taunus 2012, S. 21f.; Volkhard Knigge, Gedenkstätten und Museen, in: Frei/Knigge (wie Anm. 11), S. 398–409, S. 407. Auch Museen können in diesem Zusammenhang als historische Orte bezeichnet werden, wenn sie während des Nationalsozialismus die Ideologie und Propaganda des Nationalsozialismus ausstellten. Siehe beispielsweise: Elisabeth Vaupel (Hrsg.), Das Deutsche Museum in der Zeit des Nationalsozialismus: eine Bestandsaufnahme, Göttingen 2010. 180  Stefanie Paufler-Gerlach

Diskussion um NS-Propaganda und NS-Sachzeugnisse als Exponate explizit berücksichtigt werden, wenngleich in den letzten Jahren eine Aufgabenverschränkung bei Museen, Gedenkstätten und Dokumentationszentren hinsichtlich ihrer Funktionen des Sammelns, Bewahrens, Forschens, Präsentierens und Vermittelns erfolgt ist und sich Gedenkstätten mitunter auch als moderne historische Museen verstehen.14 Während in historischen Museen die Sammlungen und ihre Objekte Ursprung und Bezugspunkt von Ausstellungen sind, ist es bei NSGedenkstätten und NS-Dokumentationszentren der originale Ort, der den Ausgangspunkt für ein vielfältiges Darstellungs- und Aufgabenspektrum bildet. In der Gedenkstättenarbeit sind es Bewahrung der Erinnerung und Erforschung des Ortes, die einen besonderen Stellenwert einnehmen.15 Vor allem die Tatsache, dass der Ereignisort gleichzeitig Tatort ist und somit die Stätten häufig Friedhöfe sind, impliziert ein hohes Maß an Verantwortung der Ausstellungskonzeption aufgrund der emotionalen Betroffenheit und symbolischen Aufladung.16 Einer anders gelagerten Symbolik, die sich zwischen Fetisch und Faszination bewegen kann oder auch schlichtweg durch Neugier eine hohe Anziehungskraft ausübt, wollen demgegenüber Dokumentationszentren an den sogenannten „Täterorten“ mittels Information und Aufklärung entgegenwirken. Die Kontrastierung findet ihren Ausdruck auch in der Architektur, da die Zentren häufig in bewusster Abgrenzung zu den historischen Fragmenten und Gebäuden dezente und neutrale Neubauten sind. In den zahlreichen historischen Museen mit ihren Dauerausstellungen zur Lokal- und Regionalgeschichte stellt der Nationalsozialismus hingegen nur eines von vielen Themen dar.17 Die Kapitel zur NS-Vergan14 Thamer (wie Anm. 12), S. 174. 15 Siehe ausführlich zur Differenzierung der Aufgaben von Gedenkstätten und Museen: Bert Pampel, „Mit eigenen Augen sehen, wozu der Mensch fähig ist“. Zur Wirkung von Gedenkstätten auf ihre Besucher, Frankfurt am Main 2007; Thomas Lutz, Zwischen Vermittlungsanspruch und emotionaler Wahrnehmung. Die Gestaltung neuer Dauerausstellungen in Gedenkstätten für NS-Opfer in Deutschland und deren Bildungsanspruch, Berlin 2009. 16 Pampel (wie Anm. 15), S. 65. 17 Franz Sonnenberger, Faszination und Gewalt. Leitlinien für die Konzeption der neuen Dauerausstellung des Dokumentationszentrums Reichsparteigelände, in: (K)eine erneute Inszenierung?   181

genheit sind in einen meist chronologisch angelegten Rundgang eingebettet und erscheinen so zwischen Hochindustrialisierung und Wirtschaftswunder als eine Episode der Geschichte. Die in einem Museum gezeigten Exponate sind ihrem ursprünglichen Kontext entrückt, sie sind Teil einer Konstruktion oder, wie es Heinrich Theodor Grütter formuliert: „Das Objekt ist real, aber es befindet sich nicht mehr im Realen.“18 Die Mobilität der Exponate bedeutet zugleich eine Flexibilität der Kuratoren bei der Auswahl der Objekte: Durch Kontextualisierung und Inszenierung werden aussagekräftige Objekte zusammengestellt, die sich wechselseitig erläutern und erklären, Ausstellungen sind somit inszenierte Bedeutungssysteme.19 Dennoch stellen Propagandazeugnisse hierbei eine besondere Herausforderung für die Kuratoren und Gestalter dar, da deren Suggestivkraft gebrochen werden muss. Hier wird der eigentliche Konflikt deutlich, der bei der Nutzung von NS-Propaganda als Exponate zutage tritt: „Museumsdinge haben eine rationale und eine emotionale Seite: Sie speichern Wissen und berühren die Sinne. Die Dinge sind also nicht allein Dokumente, Informationsträger, sondern besitzen eine spezifische Anmutungsqualität. (…) Museumsdinge sind also mehr als bloß materielle Belege eines vergangenen Zustands. In einer Ausstellung repräsentieren sie nicht nur Vergangenheit, sondern produzieren ein bestimmtes Verhältnis der Besucher zur Vergangenheit. Sie wirken performativ, machen etwas durch ihre bloße 20 Anwesenheit.“

Museen der Stadt Nürnberg (Hrsg.), Die Zukunft der Vergangenheit. Wie soll die Geschichte des Nationalsozialismus in Museen und Gedenkstätten im 21. Jahrhundert vermittelt werden?, Nürnberg 2000, S. 87–100, S. 95. 18 Heinrich Theodor Grütter, Die historische Ausstellung, in: Klaus Bergmann u. a. (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, Seelze-Velber 51997, S. 668–674, S. 671. 19 Gottfried Korff, Vom Verlangen, Bedeutungen zu sehen, in: Ulrich Borsdorf/ Heinrich Theodor Grütter/Jörn Rüsen (Hrsg.), Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Vergangenheit, Bielefeld 2004, S. 81–104, S. 82. 20 Thomas Thiemeyer, Die Sprache der Dinge. Museumsobjekte zwischen Zeichen und Erscheinung, in: Museen für Geschichte (Hrsg.), Online-Publikation der Beiträge des Symposiums „Geschichtsbilder im Museum“ im Deutschen Historischen Museum Berlin, Februar 2011, S. 1–8, S. 4, http://www.museenfuerge182  Stefanie Paufler-Gerlach

Wechselausstellungen nehmen als Bedeutungssysteme im doppelten Sinne eine Sonderstellung ein. Das Format bietet die Möglichkeit des auf die aktuellen Diskussionen zugeschnittenen Experimentierens und der thesenhaften Zuspitzung,21 während Dauerausstellungen in der Regel eine Laufzeit von etwa 15 Jahren vorsehen. Daneben sind Sonderausstellungen aufgrund einer weitestgehend absenten Erzählweise zur ständigen Ausstellung flexibler in der Anordnung und Auswahl von Exponaten. Vor dem Hintergrund der Pluralität nationalsozialistischer Vergangenheit an verschiedenen Orten ist es in diesem Kontext bezeichnend, dass Museen über einen gewissen Erfahrungs- und Zeitvorsprung im Deponieren und Exponieren gegenüber den Gedenkstätten und Dokumentationszentren verfügen. Während historische Museen ihre Sammlungs- und Präsentationsstrategien kontinuierlich weiterentwickeln und somit ausstellungstheoretische Diskussionen führen konnten, prägten bis in die späten 1980er-Jahre zunächst Widerstände und das Ringen um Akzeptanz und Unterstützung die Arbeit von Gedenkstätten und Dokumentationszentren.22 Fragen einer zeitgemäßen Ausstellungsdidaktik hingegen traten erst durch Neukonzeptionen und Neugründungen während der 1990er-Jahre in den Blick,23 sodann führten sie aber zu einer deutlichen Annäherung an die Standards der musealen Aufgabenfelder wie etwa einer umfangreichen Sammlungstätigkeit.24

21 22 23 24

schichte.de/downloads/news/Thomas_Thiemeyer_Die_Sprache_der_Dinge.pdf (1.10.2013). Hans-Ulrich Thamer, Hitler im Museum? Ein Erfahrungsbericht zur Ausstellung „Hitler und die Deutschen“, in: Zeithistorische Forschungen 8 (2011), S. 88 – 101, S. 99. Knigge (wie Anm. 13), S. 403. Stefanie Endlich, Orte des Erinnerns – Mahnmale und Gedenkstätten, in: Reichel/ Schmid/Steinbach (wie Anm. 8), S. 350–377, S. 371. Habbo Knoch, Spurensuche: NS-Gedenkstätten als Orte der Zeitgeschichte, in: Frank Bösch/Constantin Goschler (Hrsg.), Public History: Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft, Frankfurt am Main 2009, S. 190–218, S. 215. (K)eine erneute Inszenierung?   183

4. Präsentationsformen und Objektauswahl

Trotz einer Annäherung der Institutionen hinsichtlich der Sammlungsund Dokumentationstätigkeit besteht weiterhin ein sichtbarer Unterschied zwischen den Ausstellungen am historischen Ort und in den historischen Museen, der sich in den Formen der Präsentation äußert. Während in den 1970er-Jahren der historisch-belehrende Typ das Ausstellungswesen der Museen prägte, wurde dieser im darauf folgenden Jahrzehnt um einen historisch-arrangierenden Zugriff ergänzt, der bis heute eine gebräuchliche Form der musealen Darbietung darstellt.25 Die Inszenierung der Präsentation findet ihren Ausdruck in der Anordnung und Installation der Objekte im Raum. Durch sinnliche Zugänge wird zudem die Wahrnehmung gelenkt und so Aufmerksamkeit erzeugt.26 Für die Darstellung der „gewalttätigen und ästhetisierenden Züge im Doppelgesicht des Dritten Reiches“27 bedeutet diese Form der Präsentation ein Spannungsverhältnis von Ästhetisierung und Inszenierung. Einerseits erfahren Objekte der NS-Ideologie und NS-Propaganda durch ihr Arrangement im Raum und insbesondere durch die Darbietung in Vitrinen eine sinnliche Wahrnehmung und den Zuspruch des Authentischen, andererseits will man ihrer Aura und Faszination auf inhaltlicher Ebene durch Kontrastierung, Kontextualisierung und Kommentierung entgegenwirken. Gleichzeitig soll die Inszenierung ein nicht abgeschlossenes Deutungssystem darstellen und somit offen für die Interpretationen der Besucher sein.28

25 Martin Schlutow, Das Migrationsmuseum. Geschichtskulturelle Analyse eines neuen Museumstyps, Berlin 2012, S. 66. 26 Thomas Thiemeyer, Inszenierung und Szenografie. Auf den Spuren eines Grundbegriffs des Museums und seines Herausforderers, in: Zeitschrift für Volkskunde 108 (2012), S. 199–214, S. 202. 27 Peter Reichel, Die umstrittene Erinnerung. Über Ursachen der anhaltenden Auseinandersetzung um die öffentliche Darstellung der NS-Vergangenheit, in: Burkhard Asmuss/Hans-Martin Hinz (Hrsg.), Historische Stätten aus der Zeit des Nationalsozialismus. Orte des Erinnerns, des Gedenkens und der kulturellen Weiterbildung?, Berlin 22000, S. 21–44, S. 34. 28 Thiemeyer (wie Anm. 26). 184  Stefanie Paufler-Gerlach

Dass der musealen Inszenierung jedoch auch Grenzen und Risiken obliegen, verdeutlicht die im Jahr 2010 gezeigte Sonderausstellung Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen.29 An der Schnittstelle von Struktur- und Gesellschaftsgeschichte thematisierte die Präsentation des Deutschen Historischen Museums zu Berlin in acht Themenbereichen den Mythos Adolf Hitlers. Mittels musealer Inszenierung, Gegenüberstellung und Kommentierung von dreidimensionalen Objekten, Gemälden, Fotografien, Textdokumenten und Filmsequenzen sollte eine doppelte Sichtweise auf das totalitäre System gezeigt werden. Der Kurator der Ausstellung, der Münsteraner Zeithistoriker Hans-Ulrich Thamer, benannte in Abgrenzung zur Präsentation anderer historischer Themen die Probleme und Herausforderungen, die sich durch die museale Inszenierung von NS-Sachzeugnissen ergeben: So gehe von den Objekten und der Präsentation eine sehr viel größere Wirkung aus und die zur Erklärung notwendige ‚Flachware‘ könne mit auffälligen Objekten nicht konkurrieren.30 Dennoch plädiert Thamer für die museale Präsentation von NS-Sachzeugnissen und NS-Propaganda. Allerdings mit deutlichen Einschränkungen bei den persönlichen Gegenständen, da er weniger diskutiert sehen wollte, „ob“ man Hitler (und die NS-Herrschaft insgesamt) ausstellen dürfe, denn vielmehr dem „wie“ einer solchen Auseinandersetzung Gewicht beimaß.31 Eine Vielzahl von Gedenkstätten und Dokumentationszentren steht der Inszenierung hingegen als Gestaltungselement von Ausstellungen zum Nationalsozialismus kritisch bis ablehnend gegenüber. Wenngleich sich inzwischen ein Wandel der Intention von der Evokation hin zur Information vollzog, so begründet sich die Kritik an der Inszenierung in der Annahme, dass eine Ästhetisierung der Darstellung zu einer Verharmlosung der Vergangenheit führen könne. Ergo werden sachlich-dokumentierende Angebote weiterhin favorisiert, um eine Motivation zur eigenständigen Auseinandersetzung der Besucher mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu erzielen.32 Volkhard Knigge präzisiert jene individuelle 29 Hans-Ulrich Thamer/Sabine Erpel (Hrsg.), Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen, Dresden 2010. 30 Thamer (wie Anm. 21),S. 100. 31 Ebd., S. 101. 32 Endlich (wie Anm. 23), S. 374. (K)eine erneute Inszenierung?   185

Beschäftigung im Typus der dokumentierend-argumentierenden Ausstellung, indem er, in Abgrenzung zu narrativen Ausstellungen mit ihren nachträglichen Sinnkonstruktionen, die Realien in Form von Objekten und Bild- und Textdokumenten als Anstöße für die historische Vorstellungskraft und Anlass für ein selbstständiges Suchen und Fragen bewertet. Demnach erfolgt kein Abschluss des Zivilisationsbruchs, sondern das „Danach“ soll von jeder Generation neu kommunikativ hergestellt werden.33 Eine neue Präsentationsform stellt das Konzept der Erinnerungs- und Gedenkstätte Wewelsburg34 dar, das hinsichtlich der Objektauswahl und der Darbietung vielleicht als Bindeglied zwischen Museen und Gedenkstätten beschrieben werden kann. Die Ausstellung zeichnet sich durch eine dokumentierend-argumentierende Erzählweise aus, die um eine multiperspektivische Darstellung ergänzt wird.35 Sie impliziert die Perspektive der Täter und markiert ein Novum hinsichtlich der musealen Präsentation am historischen Ort: Erstmals werden dort NS-Sachzeugnisse und NS-Propaganda ausgestellt, die ebenso wie in den Ausstellungen der historischen Museen kontrastiert, kontextualisiert und kommentiert werden. Die Wewelsburger haben bei der Problematik der Wirkung von NS-Propaganda und insbesondere beim Zeigen von NS-Symbolen die „Ausblendung“ zugunsten der „Aufklärung“ vorgezogen. Gemäß des selbst auferlegten Prinzips „Verdecken aber nicht Verstecken“ verhindern allerdings Glasdekorfolien an den Vitrinen den unverstellten Blick auf 33 Knigge (wie Anm. 13), S. 405f. 34 Das ursprüngliche Schloss in der Nähe von Paderborn wurde auf Initiative Heinrich Himmlers zur Ordensburg umgebaut und war seit 1934 Schulungs- und Versammlungsstätte für SS-Offiziere, zudem befand sich dort seit 1939 ein Außenlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Die seit 1982 bestehende Dokumentation „Wewelsburg 1933–1945. Kult- und Terrorstätte der SS“ wurde neu konzipiert und im Jahr 2011 unter dem Titel „Ideologie und Terror der SS“ wiedereröffnet. Siehe auch: Wulff E. Brebeck/Kirsten John-Stucke, Wewelsburg – zum historischen Ort, in: Wulff E. Brebeck u. a. (Hrsg.), Endzeitkämpfer. Ideologie und Terror der SS. Begleitband zur ständigen Ausstellung „Ideologie und Terror des SS“ in der „Erinnerungs- und Gedenkstätte Wewelsburg 1933–1945“ des Kreismuseums Wewelsburg, München 2011, S. 10–19. 35 Kirsten John-Stucke, Genese, konzeptionelle Grundsätze und Gliederung der Ausstellung „Ideologie und Terror der SS“, in: Brebeck (wie Anm. 34), S. 20–30, S. 22. 186  Stefanie Paufler-Gerlach

Hakenkreuzembleme. Visuelle Brüche, erzielt durch die Gestaltung der Glasflächen, begünstigen zudem einen Perspektivwechsel, indem beispielsweise eine frontale Betrachtung der Exponate durch einen seitlichen Blick lanciert wird.36 Die Entscheidung, an einem Ort der Täter NSPropaganda und Selbstzeugnisse auszustellen, begründen die Kuratoren der Ausstellung mit den veränderten Wahrnehmungsgewohnheiten der Besucher und die Präsentation fordert den Nutzer dezidiert zur Selbstreflexion auf.37 6. Objekt und Subjekt

Eine weitere Ambivalenz ist jedoch für die Diskussion um die museale Präsentation von NS-Zeugnissen und NS-Propaganda bedeutsam, auf welche die Besucherzahlen beispielsweise der bereits angesprochenen Sonderausstellung Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen hinweisen. Über 250.000 Besucher machten die Sonderausstellung im Deutschen Historischen Museum zu einem Publikumserfolg, der sich in ähnlicher Weise ebenfalls in Dauerausstellungen wie etwa der Dokumentation Obersalzberg nachweisen lässt. Am Feriendomizil Hitlers besuchen jährlich etwa 150.000 Menschen die dortige Präsentation. Im Spannungsgefüge von musealer Ausstellung und Verbot im öffentlichen Raum charakterisiert Bernd Holtwick provokant, aber dennoch treffend das Publikumsverhalten als Reiz, das Verbotene zu genießen. Jene Anziehungskraft obliege einem erschwerten Zugang und der moralischen Abwertung in anderen publiken Kontexten und beschränke sich nicht nur auf Sachzeugnisse der Täter und Symbolik des Nationalsozialismus. Ebenso bezieht er brutale Schreckensbilder und Darstellungen von sadistischen Quälereien in seine Ausführungen mit ein. Gleichzeitig betont er aber das Potenzial der Inszenierung und Kommentierung in Ausstellungen zur nationalsozialistischen Vergangenheit, da diese mit ihrem Interpretationsangebot die Faszination negiere.38 36 John-Stucke (wie Anm. 35), S. 24. 37 Ebd., S. 26. 38 Bernd Holtwick, Schaulust und andere niedere Beweggründe. Was lockt Menschen in historische Museen? Oder: Wann machen Museen Spaß?, in: Olaf Hartung (K)eine erneute Inszenierung?   187

Holtwicks Überlegungen zur Motivation von Museumsbesuchen benennen zwei wesentliche Faktoren, die für die museale Präsentation von NS-Propaganda auf der Ebene der Subjekte von zentraler Bedeutung sind und in den Diskurs der Debatten verstärkt Berücksichtigung finden sollten: Einerseits sollte die Gleichzeitigkeit von Verbot und Präsenz im öffentlichen Raum von den Kuratoren historischer Ausstellungen genutzt werden. Entsprechend den Ausführungen des Geschichtsdidaktikers Karl Heinrich Pohl zur musealen Geschichtspräsentation sollte Geschichte in ihrer Darstellung immer kontrovers sein, diese Anregung impliziert ebenfalls die Kontroversität von Meinungen.39 Dabei sollte sich die Auseinandersetzung keinesfalls nur auf fachwissenschaftliche Kontroversen beschränken. Gleichermaßen gilt es, den Verzicht von NS-Sachzeugnissen und NS-Propaganda in Ausstellungen zu thematisieren. Die Vielfalt an Ausstellungsangeboten zur nationalsozialistischen Vergangenheit hat divergierende Darbietungsformen hervorgebracht, so dass Entscheidungen über die Auswahl von Objekten für das Publikum transparenter und nachvollziehbarer sein sollten und somit einer besseren Orientierung dienen. Zugleich sollten auch die Erwartungshaltungen der Besucher von herausragender Bedeutung werden, welche zunehmend durch medial-visuelle Erfahrungen geprägt sind.40 Dabei sind es schließlich nicht nur die bewegten Bilder des Fernsehens und des Films, welche die Vorstellungen der Subjekte über die nationalsozialistische Vergangenheit nachhaltig beeinflussen. NS-Propaganda begegnet ihnen in ihrer ästhetisierten Form ebenso in Schulbuchabbildungen, welche die visuellen Erwartungshaltungen frühzeitig prägen. Dass vor allem Jugendliche herausragende Exponate als besondere Attraktionen besonders am historischen Ort vermissen, weist die Untersuchung von Martina Christmeier zum Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände in Nürn-

(Hrsg.), Geschichte und Geschichtsvermittlung. Festschrift für Karl Heinrich Pohl, Bielefeld 2008, S. 184–198, S. 191. 39 Karl Heinrich Pohl, Wann ist ein Museum „historisch korrekt?“ „Offenes Geschichtsbild“, Kontroversität, Multiperspektivität und „Überwältigungsverbot“ als Grundprinzipien musealer Geschichtspräsentation, in: Olaf Hartung (Hrsg.), Museum und Geschichtskultur. Ästhetik – Politik – Wissenschaft, Bielefeld 2006, S. 273–288, S. 284. 40 Endlich (wie Anm. 23), S. 374. 188  Stefanie Paufler-Gerlach

berg nach.41 Als Reaktion darauf kann das dortige pädagogische Begleitprogramm „NS-Geschichte ausstellen“, das jungen Besuchern die Kriterien von Objektauswahl, Quellenanalyse und Präsentationsstrategien vermittelt, angesehen werden.42 Damit wird der Verzicht auf dreidimensionale Exponate der NS-Propaganda zum möglichen Ausgangspunkt eines veränderten Lernens, da visuelle Erwartungen und konzeptionelle Entscheidungen erläuternd nebeneinanderstehen. Andererseits regen Holtwicks Ausführungen zum Potenzial der Kommentierung der „Reizobjekte“ dazu an, die Diskussion um die Balance von „Leselast“ und „Schaulust“ in Ausstellungen zu intensivieren. 43 Aufgrund des affirmativen Charakters der Objekte besteht beim Besucher ein erhöhtes Bedürfnis an Erklärung und Erläuterung, denn die historische Präsentation im Museum kann im Gegensatz zum gedruckten Medium nicht mit Fußnoten arbeiten und sollte sich nicht in einer zu kleinteiligen Narration verlieren.44 Stärker zu berücksichtigen sind bei Kommentierung, Kontrastierung und Kontextualisierung zudem die Bedürfnisse der Besucher, da die museale Inszenierung von NS-Propaganda neben der Ästhetisierung der Objekte auch auf der Ebene des Subjekts eine Herausforderung darstellt: Ihre Vielschichtigkeit und Vielseitigkeit in Form von Informationsangeboten, Objekttexten, der räumlichen Installation und der Objekte selbst muss gerade von jugendlichen Besuchern zunächst einmal entschlüsselt werden können, um das eben erläuterte Interpretationsangebot zu erschließen. Dabei erschweren die veränderten Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten eine Redimensionierung und Rekontextualisierung. Zunächst gilt dies für die Lesegewohnheiten, denn die zwingend notwendige Kommentierung und Kontextualisierung bei 41 Martina Christmeier, Besucher am authentischen Ort. Eine empirische Studie im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände, Idstein 2009, S. 225f. 42 Martina Christmeier, Wahrnehmung eines authentischen Ortes. Jugendliche Besucher im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände Nürnberg, in: Bert Pampel (Hrsg.), Erschrecken – Mitgefühl – Distanz. Empirische Befunde über Schülerinnen und Schüler in Gedenkstätten und zeitgeschichtlichen Ausstellungen, Leipzig 2011, S. 307–328, S. 325. 43 Gottfried Korff/Martin Roth, Einleitung, in: dies. (wie Anm. 5), S. 9–37, S. 23. 44 Burkhardt Asmuss, Zur Präsentation der NS-Geschichte im Deutschen Historischen Museum. Überlegungen zum Rezeptionsverhalten der Besucher im 21. Jahrhundert, in: Stadt Nürnberg (wie Anm. 17), S. 29–42, S. 31. (K)eine erneute Inszenierung?   189

Objekten der NS-Propaganda erfolgt in einer schriftlichen Form und auch ergänzende Textquellen können aufgrund von sprachlichen Schwierigkeiten oftmals nur ansatzweise gedeutet werden. Daneben können zudem bisher vertraute Sichtweisen im und auf das Museum für das Deutungsangebot bei der Darstellung von NS-Inhalten hinderlich sein. Besonders die zunehmende Event- und Erlebnisorientierung in historischen Museen ist hier zu nennen.45 Von Bedeutung für die veränderten Sehweisen ist daneben der Umstand, dass sich die Zahl der Objekte in Ausstellungen verringert und so der Platz, der Exponaten zur Verfügung steht, zunimmt. Dies bedeutet eine stärkere Forcierung der Ästhetisierung in der Darstellung der Vergangenheit zulasten der inhaltlichen Vermittlung der Ereignisse.46 7. Fazit und Ausblick

Im September 1993 berichtete der damalige Bochumer Stadtarchivar Johannes Wagner im Rahmen der Tagung Der Nationalsozialismus in historischen Museen und Ausstellungen über seine Ausstellungstätigkeit der letzten zehn Jahre und betonte dabei die bewusste Inszenierung und Integration von Alltagsobjekten, Emblemen und Gegenständen der NS-Zeit. Gleichzeitig schloss er einen möglichen „inneren“ Missbrauch durch alte und neue Nazis nicht aus und begegnete diesem Umstand mit der Vermeidung der Präsentation als Reliquien. Wagner plädierte dafür, die „propagandistisch aufgebaute Glitzerfassade des Regimes“ auch in Ausstellungen darzustellen.47 Zwei Jahrzehnte später untersteht die Aus45 Olaf Hartung, Aktuelle Trends in der Museumsdidaktik und ihre Bedeutung für das historische Lernen, in: Vadim Oswalt/Hans-Jürgen Pandel (Hrsg.), Geschichtskultur. Die Anwesenheit von Vergangenheit in der Gegenwart, Schwalbach am Taunus 2009, S. 153–173, S. 154f. 46 Thomas Thiemeyer, Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Die beiden Weltkriege im Museum, Paderborn 2010, S. 120f. 47 Johannes Volker Wagner, Ausstellungen zur NS-Zeit im Stadtarchiv Bochum, in: Bernd Faulenbach/Franz-Josef Jelich (Hrsg.), Reaktionäre Modernität und Völkermord. Probleme des Umgangs mit der NS-Zeit in Museen, Ausstellungen und Gedenkstätten. Dokumentation einer Tagung des Forschungsinstituts für Arbeiterbildung und Hans-Böckler-Stiftung, Essen 1994, S. 169–180, S. 180. 190  Stefanie Paufler-Gerlach

stellungspraxis zur nationalsozialistischen Vergangenheit einer breiteren Aufmerksamkeit, die nicht nur in der Zunahme von Angeboten in historischen Ausstellungen und am historischen Ort ersichtlich ist. Die Analyse der zeitlichen und räumlichen Dimensionen verdeutlicht, dass die Diskussion um den Ausstellungswert von NS-Propaganda einem gesellschaftlichen Wandel im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit unterliegt und hieraus Fragen einer zeitgemäßen Vermittlung resultieren. Dass dieser Prozess fortwährend ist, belegen die divergierenden Präsentationsformen und die Objektauswahl an den jeweiligen Orten. Zwar bestimmt (noch) der Standort weitgehend den Standpunkt zur Präsentation von NS-Propaganda und NS-Sachzeugnissen, jedoch ist die räumliche Nähe und Ferne zum historischen Ort kein Alleinstellungsmerkmal mehr, wie das Beispiel der Ausstellung der Erinnerungsund Gedenkstätte Wewelsburg belegt. Dieser Umstand kann jedoch zu Orientierungsschwierigkeiten gerade bei jüngeren Besuchern führen, die durch die divergierenden Darstellungen an den sogenannten „Täterorten“ entstehen können und mitunter falsche Erwartungshaltungen erzeugen. Deshalb sollte der Verzicht auf NS-Sachzeugnisse in Ausstellungen von internen Debatten zum transparenten und sichtbaren Diskurs in den Präsentationen werden, der gleichzeitig auf die Kontroversität von Geschichtsdarstellungen verweist und dem Besucher die Teilnahme am wissenschaftlichen und geschichtspolitischen Diskurs ermöglicht. Eine stärkere Beachtung neben der Debatte um Ort und Form der musealen Präsentation sollte die Sprache der Objekte selbst erfahren. Im Kontext der Auseinandersetzungen um die Präsentation von dreidimensionalen Objekten ist eine in den 1990er-Jahren geführte Diskussion im museumswissenschaftlichen Kontext bedeutsam. Noch vor der breit geführten Kontroverse um die Wehrmachtsausstellung beurteilten Fachwissenschaftler und Kuratoren den Ausstellungswert von propagandistischen Bildern und Fotografien der NS-Zeit. Dabei dreht sich die Argumentation um eine mögliche Verharmlosung der politischen Praxis, daneben aber auch um eine Überbewertung der ästhetischen Seite des Nationalsozialismus.48

48 Cornelia Brink, Nach Bildern suchen – fotografische Bilder, in: Reichel/Schmid/ Steinbach (wie Anm. 8), S. 335–349, hier S. 347. (K)eine erneute Inszenierung?   191

Die Sprache der Objekte, besonders die der NS-Propaganda, kann jedoch nicht ohne die Subjekte, die sie betrachten und deuten, ermittelt werden. Obwohl in den letzten Jahren zahlreiche Untersuchungen zur Besucherforschung entstanden sind, stehen Ergebnisse zur Wirkung von NS-Propaganda im kontextualisierten Raum von Ausstellungen weiterhin aus. Bedeutsam wären neben der Frage der Wirkung der Objekte vor allem die Wahrnehmung der Kommentierung und Kontrastierung der jeweiligen Exponate. Insbesondere empirische Forschungen mit Jugendlichen, die zukünftig den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit gestalten, bleiben vorerst ein Desiderat.

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Silke Peters

Nazi-Propaganda 2.0 Aktuelle Situation in Nordrhein-Westfalen

Im Fokus der Diskussion um das Thema Propaganda steht meist die Auseinandersetzung mit deren Nutzung während der nationalsozialistischen Diktatur. Dagegen wird bis heute kaum thematisiert, wie die Hinterlassenschaften jener Propaganda heute rezipiert werden. Der vorliegende Beitrag will der Frage nachgehen, welche Rolle historische Propaganda für heutige Neonazis spielt und in welcher Form Gedankengut der Vergangenheit in der „Szene“ genutzt wird. Schließlich ist Propaganda kein Thema, das nur im historischen Kontext zu sehen ist. Auch der heutige Rechtsextremismus greift explizit oder implizit auf propagandistische Methoden und Inhalte zurück. Ob Kinofilme, Wochenschau oder Volksempfänger – die Nationalsozialisten, allen voran Propagandaminister Joseph Goebbels, haben die technischen Möglichkeiten ihrer Zeit für ihre Propagandazwecke umfassend ausgenutzt. Ihre geistigen Erben der Gegenwart arbeiten intensiv daran, die heute bestehenden technischen Möglichkeiten ebenso zielgerichtet einzusetzen. Als wichtigstes Propagandamedium dient heute zweifelsohne das Internet.1 Es bietet die Möglichkeit, anonym, kostenlos und schnell eine große Menge von Informationen an eine potenziell unbegrenzte Menge von Menschen zu übermitteln. Wie dies geschieht, soll nachfolgend schlaglichtartig an zwei Beispielen aktueller rechtsextremer Propaganda gezeigt werden. Es handelt sich um den „Mythos Stolberg“2 sowie um die Darstellung der Kampagne der „Unsterblichen“ auf der 1 Stellvertretend hierzu: Amadeu-Antonio-Stiftung (Hrsg.), Zwischen Propaganda und Mimikry. Neonazi-Strategien in sozialen Netzwerken, Berlin 2011. 2 Dominik Clemens (Hrsg.), „Mythos Stolberg“. Zur Instrumentalisierung einer Gewalttat durch Neonazis, Köln 2012. Nazi-Propaganda 2.0  193

inzwischen nicht mehr zugänglichen Internetseite3 der „Kameradschaft Aachener Land“ (KAL). Beide zeigen prototypisch, wie moderne NaziPropaganda funktioniert und wie sie sich moderner technischer Möglichkeiten bedient. Bei aller Modernität und allen Versuchen, nicht „auf die klassische NS-Schiene zu setzen“4, so eine These der nachfolgenden Analyse, lassen sich hier Charakteristika von Propaganda aufzeigen, die der klassischen NS-Propaganda in nichts nachstehen. Was ist Propaganda?

Definitionen von Propaganda gibt es zahlreiche. Obwohl es sowohl in der Wissenschaft als auch in der Alltagssprache ein Verständnis und eine Vorstellung davon gibt, was Propaganda ausmacht, ist es äußerst schwierig, eine eindeutige Definition festzulegen. „Tatsächlich hat der Propagandabegriff eine lange und wechselvolle Karriere durchlaufen, in deren Verlauf sich höchst unterschiedliche Erwartungen und Konnotationen mit ihm verbanden.“5 Diese nachzuzeichnen ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich. Dennoch sollte eine grobe Skizzierung dessen erfolgen, was im Folgenden unter Propaganda verstanden werden soll. Im Rahmen einer Super-Definition von Propaganda kann diese als in der Regel medienvermittelte Formulierung handlungsrelevanter Meinungen und Einstellungen politischer oder sozialer Großgruppen durch symbolische Kommunikation und als Herstellung von Öffentlichkeit zugunsten bestimmter Interessen verstanden werden. Propaganda zeichnet sich durch die Komplementarität von überhöhten Selbst- und denunzierendem Fremdbild aus und ordnet Wahrheit dem instrumentellen Kriterium der Effizienz unter. Ihre Botschaften und Handlungsaufforderungen versucht sie zu naturalisie-

3 Die Internetseite der KAL war nach dem Verbot im Sommer 2012 zunächst noch online, ist seit Mitte Januar 2013 aber nicht mehr verfügbar. 4 ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH/EXIT-Deutschland (Hrsg.), Volkstod und Unsterblichkeit. Moderner Rechtsextremismus in Südbrandenburg. Agitation, Erscheinungsbild und Kontinuität, Berlin 2011, S. 21. 5 Thymian Bussemer, Propaganda. Konzepte und Theorien, Wiesbaden 2005, S. 24f. 194  Silke Peters

ren, so dass diese als selbstverständliche und nahe liegenden Schlussfolgerun6 gen erscheinen.

Für die folgende Analyse sind einige Punkte, die sich aus dieser SuperDefinition ergeben, besonders hervorzuheben. Dazu gehört primär die doppelte Medialität von Propaganda. Gemeint ist damit einerseits, dass Propaganda sich Medien zur Verbreitung ihrer Botschaften bedient. Für rechtsextreme Propaganda ist inzwischen das Internet Verbreitungsmedium Nummer eins. Doppelt medial ist Propaganda aber auch in dem Sinne, dass sie bewusst die „mediale Repräsentation der Welt“7 verfälscht. Sie manipuliert die Wahrheit zu ihren Zwecken. Anders als in der traditionellen Erfahrungswelt vergangener Tage funktioniert dies in unserer heutigen Welt, in der Informationen vor allem medial vermittelt werden, wesentlich besser. Propaganda verändert daher auch nicht die reale Welt, sondern die subjektive Realitätswahrnehmung einzelner Individuen. Daraus können aber durchaus reale und fassbare Veränderungen ausgelöst werden. Schließlich soll Propaganda Menschen dafür gewinnen, zu ausgewählten Problemstellungen eine dezidierte Position einzunehmen und dieser im eigenen Agieren zu folgen. Die Handlungsaufforderungen der Propaganda stehen in direktem Zusammenhang zu dem von ihr präsentierten (meist dichotomen) Weltbild und werden als alternativlos und zwingend dargestellt. Dazu wird häufig mit einer Kombination aus Sprache und Bildern gearbeitet, die eine Verbindung von vorhandenen Einstellungen – positiven wie negativen – und Sachverhalten evozieren. „Dieser Prozess funktioniert entweder durch die Manipulation semiotischer Kopplungen (‚Juden sind geizig‘) oder durch die Verfälschung von Fakten.“8 Die beschriebenen Charakteristika sollen im Folgenden für zwei Beispiele, den „Mythos Stolberg“ sowie die Darstellung der „Unsterblichen“ auf der Internetseite der KAL, herangezogen werden. Zur Einordnung der lokalen Beispiele wird zunächst auf die Situation in der Region Aachen eingegangen.

6 Ebd., S. 29f. 7 Ebd., S. 31. 8 Ebd., S. 30. Nazi-Propaganda 2.0  195

Die Situation in der Region Aachen

Die rechtsextreme Szene der Region Aachen/Düren/Heinsberg gehört zu den aktivsten in Nordrhein-Westfalen. Im Rahmen des im Dezember 2011 beschlossenen, sogenannten Acht-Punkte-Programms des Landes Nordrhein-Westfalen wurde am Polizeipräsidium Aachen eine Sonderkommission zur Bekämpfung rechtsmotivierter Kriminalität eingerichtet.9 Im Februar 2012 hat die Sonderkommission REMOK (Rechtsmotivierte Kriminalität) ihren Dienst in Stolberg, einer etwa 55.000 Einwohner großen Stadt in der StädteRegion Aachen10, aufgenommen. Parteien des rechten Spektrums sind im Stadtrat der Stadt Aachen nicht vertreten, aber in einigen Räten der kleineren Kommunen, die zur StädteRegion Aachen gehören. In Stolberg beispielsweise sitzt Willibert Kunkel für die NPD im Stadtrat, in Alsdorf sind die Republikaner mit zwei Mitgliedern im Kommunalparlament vertreten. In den zentralen Städteregionstag schaffte außerdem ein Vertreter der Republikaner den Einzug. Wohl auch, weil es den traditionellen Parteien des rechten Spektrums, also NPD sowie REP, in der StädteRegion Aachen durchaus gelingt, Wähler zu erreichen, beschränken sich die Aktivitäten der rechtspopulistischen Gruppe PRO NRW vor allem auf die Stadt Aachen. Im Februar 2013 fand zudem der Gründungsparteitag des Aachener Kreisverbandes der Partei „Die Rechte“ statt. Bei den Mitgliedern dieser neuen Gruppierung11 handelt es sich größtenteils um ehemalige Mitglieder der „Kameradschaft Aachener Land“. Sie war am Beginn der 2000erJahre12 entstanden und dominierte seitdem, bis zur ihrem Verbot im August 2012, die rechte Szene und besonders das militante Neonazi9 Siehe hierzu: den Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen für das Jahr 2011: http://www.mik.nrw.de/fileadmin/user_upload/Redakteure/ Bilder/Startseite/Verfassungsschutzbericht_2011_Pressefassung.pdf (5.10.2013), S. 14. 10 Bei der StädteRegion Aachen handelt es sich um eine Modellregion in NRW, in der nach dem sogenannten „Aachen-Gesetz“ die kreisfreie Stadt Aachen und der frühere Kreis Aachen bestimmte Aufgaben gemeinsam wahrnehmen. 11 Der Begriff Partei wird hier angesichts der Entstehungsgeschichte vermieden. 12 Über das genaue Gründungsjahr (2001 bzw. 2002) gibt es unterschiedliche Angaben, so etwa vom Verfassungsschutz, den lokalen Szene-Kennern und der Gruppe selbst. 196  Silke Peters

Spektrum der Region Aachen/Heinsberg/Düren. Von Experten wurde sie als eine der ältesten Kameradschaften in Nordrhein-Westfalen eingestuft, die bis zu ihrem Verbot zudem als eine der größten und aktivsten Zusammenschlüsse ihrer Art im rechtsradikalen Milieu anzusehen war.13 Anfangs bestand eine starke personelle Nähe zur regionalen NPD.14 Bereits vor dem offiziellen Ende der KAL hatten alle Stadträte der Region, der Städteregionstag sowie der Regiorat in Resolutionen das Verbot der KAL gefordert, sodass das Verbot vom Sommer 2012 von den Verantwortungsträgern der Region als Erfolg gewertet werden konnte. Dies gilt vor allem, da die politisch motivierte Kriminalität von rechts bereits im Jahr 2012 im Vergleich zum Vorjahr deutlich zurückging. Auf dem Gebiet der StädteRegion und der Kreispolizeibehörden Heinsberg und Düren wurden insgesamt 282 politisch motivierte Delikte verzeichnet, im Vergleich zum Vorjahr ein Rückgang von 46 Prozent. Ähnlich deutlich zeigt sich der Unterschied bei den rechtsmotivierten Gewalttaten: Waren es im Jahr 2011 immerhin noch 13, so wurden 2012 nur noch sechs verzeichnet. Als Gründe für den Rückgang wird neben dem Verbot der KAL vor allem die intensive polizeiliche Ermittlungsarbeit der Gruppe REMOK genannt.15 Beide Maßnahmen haben zu einer starken Verunsicherung der Szene geführt. Diese Erfolge dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die führenden Köpfe der Szene nun keineswegs verschwunden oder gar ideologisch geläutert wären. Schon wenige Stunden nach ihrem Verbot kündigte die KAL über ihre Internetseite an, auch weiterhin aktiv zu sein; nur eben „verstreut“ und „versprengt“. Zynisch titelte sie, wie auch andere verbotene Gruppen: „Wir sind verboten. Na und?“ Nur zwei Tage nach dem offiziellen Verbot und zahlreichen Hausdurchsuchungen machte der frühere Kameradschaftsführer in Düren aktiv Werbung für einen rechten Aufmarsch in Dortmund.16 Eine große Anzahl der früheren KAL-Mitglieder hat sich zwischenzeitlich in der Partei „Die Rechte“ organisiert, deren Bundesverband sich 13 Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus online im Internet unter: www.mbrkoeln.de/vor-ort/staedteregion-aachen/ (5.10.2013). 14 Verfassungsschutzbericht (wie Anm. 9), S. 78. 15 Aachener Nachrichten vom 30.3.2013, S. 1. 16 Aachener Nachrichten vom 6.2.2013, S. 3. Nazi-Propaganda 2.0  197

im Mai 2012 gegründet hatte. Im nordrhein-westfälischen Landesverband haben neben den Aktivisten der KAL auch ehemalige Mitglieder des „Nationalen Widerstands Dortmund“ und der „Kameradschaft Hamm“, die zeitgleich verboten wurden, eine neue Heimat gefunden. Trotzdem kam die Staatsanwaltschaft Dortmund im Januar 2013 zu dem Ergebnis, dass es keinen Grund gebe, ein Ermittlungsverfahren gegen den Landesverband einzuleiten.17 Die Entwicklung der Partei bleibt abzuwarten, auch das Innenministerium des Landes prüft, ob „Die Rechte“ als eine Ersatzorganisation für verbotene rechtsextreme Gruppierungen angesehen werden kann.18 Da der Parteienstatus aber durch das Grundgesetz besonders geschützt ist, liegt die Hürde für ein mögliches offizielles Verbot hier ungleich höher als bei einem Vereinsverbot, das für die genannten Kameradschaften herangezogen wurde. Darüber hinaus wird in Zusammenhang mit einer eventuellen Nachfolgeorganisation auch über die Rolle der „Kameradschaft Alsdorf-Eupen“ spekuliert. Diese bestand allerdings wohl schon vor dem Verbot der KAL, sodass die Polizei nicht von einer unmittelbaren Nachfolgeorganisation ausgeht.19 Allerdings pflegten und pflegen beide Gruppierungen enge Verbindung zur regionalen Fußballszene. Als problematisch ist vor allem anzusehen, dass durch die gemeinsame Leidenschaft zur Sportart Fußball primär unpolitische Jugendliche gezielt von der rechten Szene angeworben werden. Fußball bietet sich neben Musik und anderen jugendtypischen Freizeitinteressen als Anknüpfungspunkt für die Szene an. „Mythos Stolberg“

Seit dem Tod eines jungen Mannes im April 2008 steht gerade die Stadt Stolberg, in unmittelbarer Nähe östlich von Aachen gelegen, im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Am späten Abend des 4. April 2008 kam es dort zu einer Prügelei zwischen zwei Jugendgruppen. Ein junger Mann aus einer aus dem Libanon stammenden Familie verletzte dabei 17 Stolberger Zeitung vom 15.1.2013, S. 10. 18 Aachener Nachrichten vom 6.2.2013, S. 1. 19 Stolberger Zeitung vom 6.2.2013, S. 4. 198  Silke Peters

einen anderen – einen Deutschen, der in Eschweiler lebte – tödlich mit mehreren Messerstichen. Seitdem finden jedes Jahr Anfang April Aufmärsche der rechtsextremen Szene in der Stadt statt. „Obwohl nach dem abschließenden Ermittlungsergebnis kein Hinweis auf eine politisch motivierte Straftat vorliegt, wurde das Opfer unmittelbar nach der Tat von der rechtsextremistischen Szene als ‚Märtyrer der Bewegung‘ vereinnahmt. Die Szene versucht weiterhin, am Tatort in Stolberg eine ‚Gedenk- und Pilgerstätte‘ zu etablieren“, bilanziert hierzu der Verfassungsschutzbericht.20 Die Etablierung und das Weiterspinnen des „Mythos Stolberg“ illustriert deutlich die beschriebenen Charakteristika der Propaganda und die besondere Bedeutung des Mediums Internet. Schon früh stellten Neonazis Sonderseiten zum Tod ihres „Kameraden“ ins Netz, legten Todesanzeigen mit NS-Symbolen an und posteten „Gedenkvideos“ für den „im Kampf Gefallenen“ im Netz.21 Kein anderes Medium hätte es der Szene ermöglicht, so schnell und dauerhaft ihre Darstellung der Tat zu verbreiten. So hält sich sogar in breiten Teilen der Bevölkerung hartnäckig die Meinung, der Täter sei türkischer Abstammung gewesen, obwohl diese Information niemals über offizielle Stellen, wie beispielsweise die Polizei, bekannt gegeben wurde. Ähnlich beharrlich besteht die Überzeugung, es habe sich bei dem Opfer um ein Mitglied der rechtsextremen Szene gehandelt, was die betroffene Familie jedoch immer wieder dementiert. Der „Mythos Stolberg“ zeigt deutlich den beschriebenen instrumentellen Umgang der Propaganda mit der Wahrheit. Noch heute versuchen Teile der Szene, ihre wiederkehrenden Aufmärsche mit dem geschilderten falschen Sachverhalt zu begründen. Aufgrund der beschriebenen doppelten Medialität war es der Szene lange möglich, ihre Darstellung zu verbreiten. Dabei hat die Realitätskonstruktion, die die Szene präsentiert, zwei Stoßrichtungen. Innerhalb der Szene wird das Opfer als Kamerad und Märtyrer dargestellt, während für Menschen außerhalb der Szene vor allem der Täter als Ausländer in den Mittelpunkt gestellt wird. Ähnlich wie im Nationalsozialismus („Juden sind geizig“) wird hier auf 20 Verfassungsschutzbericht (wie Anm. 9), S. 83. 21 Michael Klarmann, „Trauermärsche“ als brauner Event. Wie der „Mythos Stolberg“ erfunden wurde, in: Clemens (wie Anm. 2), S. 17–33, S. 21. Nazi-Propaganda 2.0  199

bekannte Stereotype („Ausländer sind kriminell“) angespielt. Dies hat wie der Bezug auf Topoi, der auch bei den „Unsterblichen“ häufig erfolgt, den Vorteil, dass keine weitere Argumentation notwendig erscheint, um die eingenommene Haltung zu untermauern. Erstmals ist es im Jahr 2013 gelungen, den sogenannten Gedenkmarsch offiziell zu verbieten. Dass das Verbot bis zur höchsten richterlichen Instanz Bestand hatte, ist allerdings auf einen Formfehler und ein Versäumnis des Antragstellers zurückzuführen.22 Es ist daher davon auszugehen, dass im nächsten Jahr erneut Aufmärsche stattfinden werden. Zwar ist die Anzahl der Teilnehmer kontinuierlich gesunken, doch die Menschen, die nach Stolberg kommen, zeigen eine zunehmende radikale Gesinnung. Die Stadt droht zu einem regelrechten „Wallfahrtsort“ für europäische Neonazis zu werden, die sich durch extrem militante, fremdenfeindliche und offen neonazistische Ansichten „auszeichnen“.23 Die „Spreelichter“

Die KAL hat wie zahlreiche andere Gruppierungen des rechtsextremen Spektrums auf ihrer Internetseite für die Aktionen der „Unsterblichen“ geworben. Hinter der Initiative steht die Gruppe „Spreelichter“ aus Südbrandenburg, die im Sommer 2012 verboten wurde.24 Im Zentrum der Kampagne steht das Schlagwort des „Volkstodes“, das seinen Ursprung bereits in Diskursen Anfang des 20. Jahrhunderts hatte. Während der nationalsozialistischen Diktatur wurde der Terminus „Volkstod“ zu einer stehenden sprachlichen Wendung. Seine heutige Verwendung in Slogans wie „Demokratie ist Volkstod“ ähnelt demnach nicht nur

22 Siehe zum Verbot: http://www.aachener-zeitung.de/lokales/region/aufmaerscherechte-funktionaer-scheitert-beim-bundesverfassungsgericht-1.551124 (5.10.2013). 23 Klarmann (wie Anm. 21), S. 33. 24 Vgl. ausführlich zu den „Unsterblichen“ und den „Spreelichtern“: Daniel Krüger, Völkische Ideen und Inszenierung aus dem Spreewald. Das Internet-Projekt spreelichter.info. Demnächst veröffentlicht in: Demos – Brandenburgisches Institut für Gemeinwesensberatung (Hrsg.), Einblicke IV. Ein Werkstattbuch; sowie ZDK (wie Anm. 4). 200  Silke Peters

äußerlich dem nationalsozialistischen Vorbild. Hergeleitet aus völkischem Denken, repräsentiert er eben diese Weltanschauung.25 Wie kaum eine andere Aktionsform des modernen Rechtsextremismus setzt die Volkstodkampagne auf die mediale Inszenierung. Bei den Aufmärschen der „Unsterblichen“ geht es in der realen Welt darum, Präsenz und Vormacht im „Kampf um die Straße“ zu demonstrieren. Mindestens genauso wichtig ist aber die mediale Nutzung der auf Video festgehaltenen Aktionen. Die Aufmärsche verlaufen daher keinesfalls ungeplant und zufällig. Die scheinbare Nähe zur aktionistischen Flashmob-Bewegung ist von den Machern intendiert, stellt aber eine Täuschung dar, weil die Aktionen zweckmäßig angelegt und strategisch geplant sind. „Sie folgen einer klaren Regie, die mediale Inszenierungen anstrebt und die ihre volle Wirksamkeit besonders im Internet entfalten kann.“26 Mit ihren Aktionen scheinen die „Unsterblichen“ einen Zeitgeist getroffen zu haben. Ähnlich wie die „Autonomen Nationalisten“ und andere rechtsextreme Subkulturen kopieren sie jugendliche Subkulturen für ihre eigenen Zwecke. Ziel des Vorgehens ist es, sich von den bislang gewohnten Bildern herumstehender Neonazis in Uniformen und Fahnen, die alternativ einen bösen oder einen gelangweilten Blick zur Schau trugen, abzuheben. Als Gegenmodell dienen die neuen Aktionen, die vor allem große Dynamik und mystische Effekte kennzeichnen. Ähnlich wie bei der zeitgenössischen Inszenierung der Reichsparteitage in Nürnberg während der 1930er-Jahre tritt hier in der Gegenwart – wenn auch ganz anders als beim „Mythos Stolberg“ – die beschriebene doppelte Medialität von Propaganda zutage. Es handelt sich um ein ständiges Wechselspiel zwischen virtueller und realer Welt. Es agiert in der virtuellen Welt ebenso wie in der realen, wobei das Zusammenspiel auf einem hohen Niveau etabliert ist. Für die Nutzer ist es vor allem deshalb interessant, weil es aufgrund stets neuer Aktionsformen immer neue Angebote unterbreitet.27 Die Volkstodkampagne erfüllt mit diesem Wechsel, zwischen realen Aufmärschen und der medialen Darstellung im Internet, im hohen Maße 25 Krüger (wie Anm. 24), S. 12. 26 ZDK (wie Anm. 4), S. 21. 27 Ebd., S. 18 ff. Nazi-Propaganda 2.0  201

die für Propaganda als charakteristisch beschriebenen Merkmale. Durch die Präsentation im Internet wirken die Aktionen selbst verstärkend. Gleichzeitig bezieht sich die Kampagne durch die Wahl des einschlägig belegten Terminus eindeutig auf den nationalsozialistischen Diskurs zum Thema „Volkstod“. Das Beispiel der Volkstodkampagne zeigt also nicht nur, wie Methoden der nationalsozialistischen Propaganda auch heute genutzt werden, sondern nimmt sogar explizit ihre Begrifflichkeit auf. Unter dem Begriff „Volkstod“ fassen die „Unsterblichen“ die Ablehnung des gesamten demokratischen Staates zusammen. In einem Positionspapier betonen sie dabei selbst den propagandistischen Charakter ihrer Aktionen: „Es geht um Propaganda – um Propaganda, die unmissverständlich das System als Grund dafür erkennt und benennt, dass unser Volk seinem Tod entgegengeht.“28 Die Kampagne scheint für die Szene Erfolg versprechend. Unter anderem nutzen die NPD-Fraktion in Mecklenburg-Vorpommern und der NPD-Landesverband Thüringen den Slogan „Volkstod stoppen“29. Auffällig ist, dass die NPD-Frauenorganisation „Ring Nationaler Frauen“ das Thema deutlich harmloser aufgreift. Der Begriff „Volkstod“ fällt hier nicht. Hier ist die Rede von „Familienförderung statt Zuwanderung“ und „Muttersprache, Vaterland, Kinderglück“.30 Es lässt sich also schlussfolgern, dass auch in rechtsradikalen Kreisen die spezifische Zielgruppe junger Frauen einer anderen Ansprache bedarf, als dies bei der männlichen Zielgruppe der „Untersterblichen“ der Fall ist.

28 „Die Unsterblichen“ zitiert nach Radke, siehe: http://www.zeit.de/gesellschaft/ zeitgeschehen/2012-03/unsterbliche-flashmobs-neonazis-bautzen (5.10.2013). 29 „Volkstod stoppen – Elfter nationaler Thüringentag in Meiningen“, im Internet unter: http://www.npd-thueringen.de/?p=1652 (5.10.2013); Deutsche Kinder braucht das Land! Volkstod stoppen! Flyer der NPD-Fraktion MecklenburgVorpommern; siehe: http://www.npd-fraktion-mv.de/components/com_pdf/ pdf/20111128_volkstod.pdf (5.10.2013). 30 Familienförderung statt Zuwanderung. Flyer des Ring Nationaler Frauen; online im Internet unter: http://www.ring-nationaler-frauen-deutschland.de/attachments/article/102/fb_dinlang_demografie_ansicht-1.pdf (14.08.2013). 202  Silke Peters

Werbung für die „Unsterblichen“ auf der Internetseite der KAL

Auf den Internetseiten der KAL wurde über Monate hinweg für die Kampagne der „Unsterblichen“ geworben.31 Die Textpassagen zeigen deutliche Beispiele für moderne Propaganda rechtsextremer Gruppierungen. Auffällig ist, dass der Begriff „Volkstod“ hier nicht explizit genannt wird. Gesprochen wird vom „Tod des deutschen Volkes“. Zugleich werden die Inhalte der „Unsterblichen“ fast wörtlich zitiert und deren gesamte Kritik am Staatssystem der Bundesrepublik wiedergegeben. Insgesamt handelt es sich bei der Internetpräsentation um 13 FrageAntwort-Paare, in denen jeweils Nachfragen beziehungsweise Einwände eines Gesprächspartners formuliert werden. Der Autor des Textes nutzt so ein sprachliches Prinzip, das vielen Internetnutzern von den sogenannten FAQs32 bekannt ist und entwirft in der Darstellung ein klar dichotomes Weltbild. Als Feindbilder gelten einerseits „die Demokraten“, andererseits „die Fremden“.33 Ziel der Netzdarstellung ist es, diese Wirklichkeitskonstruktion auf die Leser zu übertragen, um so bestimmte Handlungen herbeizuführen. Letztlich sollen die Leser sich an den Aktionen der „Unsterblichen“ beteiligen. Bereits die einführende Formulierung erklärt, wer sich zu den „Unsterblichen“ rechnen könne. Es handle sich, so die Darstellung, um „junge Deutsche, die sich bundesweit auf öffentlichen Plätzen zusammenfinden, um auf das Schandwerk der Demokratie aufmerksam zu machen“. Betont wird der Charakter der Öffentlichkeit, womit der etablierten Politik indirekt vorgeworfen wird, im Verborgenen zu handeln und ihre Taten zu verschleiern. Darüber hinaus wird die Volkstodkampagne als bundesweite Aktion dargestellt. Jedoch konzentriert sie sich aber vor allem auf den Osten Deutschlands. Es kam zwar zu vereinzelten Aktionen in 31 Da die Internetseite seit Anfang des Jahres 2013 nicht mehr abrufbar ist, wird im Folgenden auf die Originalseite der Aktion Werde unsterblich verwiesen, siehe: www.werde-unsterblich.info (5.10.2013). Hier alle nachfolgenden Zitate, Einzelnachweise werden nicht angeführt. 32 FAQ = Frequently Asked Questions, deutsch: häufig gestellte Fragen, die im Internet vor allem genutzt werden, um häufig gestellte Fragen direkt zu beantworten und so Foren zu entlasten. 33 Vgl. ZDK (wie Anm. 4), S. 10f. Nazi-Propaganda 2.0  203

Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen, doch fanden diese keine vergleichbare Resonanz. Bei den Aktionen in Hamm und Düsseldorf waren insgesamt rund 100 Personen beteiligt. In der Region Aachen kam es bislang nicht zu ähnlichen Aktionen.34 Ihr Kernthema verheimlichen die „Unsterblichen“ im virtuellen Auftritt nicht, ihre Ablehnung der Demokratie kommt offen zum Ausdruck. Sie behaupten von „skandalösen, lächerlichen, peinlichen und unsinnigen Taten der Demokraten“ sprechen zu können, die zum Ende des deutschen Volkes führten. Auf den statistischen Einwand, dass sich die Gesamtbevölkerungszahl in Deutschland kaum verändert habe, entgegnet die Gruppe, dies gelte nur „nach dem Personalausweis“. Für die Rechtsradikalen hat die Zugehörigkeit zum deutschen Volk demnach nichts mit der Staatsangehörigkeit – also mit dem Besitz eines deutschen Personalausweises – zu tun, vielmehr sind andere Kriterien die entscheidenden. Kommt ein Elternteil aus einem „fremden“ – nicht „anderen“ – Land, so handelt es sich nicht um „richtige Deutsche“. Der Begriff „fremd“ bildet hier den klaren Gegensatz zum „Deutschen“, das Feindbild des „Fremden“ tritt deutlich hervor. Langfristig führe die Durchmischung mit anderen Völkern zum Niedergang von Kulturen. Die Autoren illustrieren ihre Argumentation mit dem Beispiel heutiger Italiener und Griechen, die nicht dem Aussehen antiker „Büsten“ entsprächen. Der Vergleich erscheint sehr skurril, denn in keiner Gesellschaft sehen die Menschen heute so aus, wie in den Darstellungen aus der Antike. Welche kruden Ansichten im Rahmen des Internetauftritts präsentiert wurden, belegt beispielsweise das Sechste von dreizehn Frage-AntwortPaaren. Verschiedene Themen werden vermischt und emotional aufgeladen. Immer mehr junge Leute müssten ihre Heimat aus ökonomischen Gründen verlassen, eine Rückkehr sei nicht wahrscheinlich, so beklagen es die Autoren. Die „Unsterblichen“ skizzieren an dieser Stelle ein Horrorszenario, in dem „alte Menschen ans Bett gefesselt auf ihren Tod warten“, weil niemand mehr da sei, um für sie die Pflege zu übernehmen. Auch hier zeigt sich deutlich der propagandistische Charakter der Darstellung. Zahlreiche Probleme unserer Gesellschaft – Arbeitslosigkeit in bestimmten Regionen und daraus entstehende Abwanderung, Zerstörung traditioneller gesellschaftlicher Strukturen, demografischer Wandel, 34 Verfassungsschutzbericht (wie Anm. 9), S. 46f. 204  Silke Peters

Pflegenotstand, usw. – werden nicht systematisch untersucht. Stattdessen werden diese sehr heterogenen Vorgänge unter dem Schlagwort „Schandwerk der Demokratie“ subsumiert. Eine Lösung für all die geschilderten Probleme gaukeln die „Unsterblichen“ in wenigen Begriffen vor. Mit den drei positiv besetzten Begriffen „(intakte) Gemeinschaft“, „Solidarität“ und „Sinn“ wird ein angebliches Gegenbild zur modernen Gesellschaft entworfen, ohne dabei genauer zu erklären, was sich in welcher Form verändern soll. Zur Finanzierung schlagen die „Unsterblichen“ vor: „Das wäre auch problemlos finanzierbar, wenn nicht viel Geld an anderen Ecken aus dem Fenster geworfen würde.“ Vor allem bei den Zahlungen für die Eurokrise und bei „Sozialleistungen für Ausländer“ sieht man Einsparungspotenzial, das die „BRD“ nutzen könne. Bereits die Wortwahl zeigt die Haltung der „Unsterblichen“, die ganz bewusst nicht von Deutschland sprechen. Mit dem Begriff „BRD“ wird das gesamte abgelehnte System (demokratische Wahlen, freiheitliche demokratische Grundordnung, Gleichheit aller Menschen, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeitsprinzip, im weitesten Sinne auch territoriale Grenzen des heutigen deutschen Staates usw.) bezeichnet. Darüber hinaus wurde dieser Begriff auch durch die DDR-Propaganda im Kalten Krieg verwendet. In der abschließenden Darstellung werden die Leser zum direkten Handeln aufgefordert, wobei großer Wert auf die mediale Verwertbarkeit der Aktionen gelegt wird. Wie in der Darstellung zur Propaganda beschrieben, werden hier nun die Folgerungen aus der beschriebenen Wirklichkeitskonstruktion gezogen. Wenn die Propaganda der Neonazis ihr Ziel erreicht hat, übernehmen die Leser deren Bild der Realität. Gleichzeitig übernehmen sie auch deren Bewertung und Haltung zu den beschriebenen Sachverhalten. Das ist aber nicht alles. Gefordert werden nicht nur eine Veränderung der Einstellung, sondern aktive Handlungen der Leser. Fazit

Die Diskussion um den Umgang mit Hinterlassenschaften der NSGeschichte wird auch in den nächsten Jahren nicht an Aktualität verlieren. Dies gilt vor allem für Propagandamaterialien aus der NS-Zeit wie Nazi-Propaganda 2.0  205

Filme und Schriften wie Mein Kampf. Über diese Diskussion sollte aber die Auseinandersetzung mit moderner rechtsextremistischer Propaganda nicht aus dem Blickfeld geraten. Auch die heutige rechtsextremistische Szene ist intensiv bemüht darum, ihre Ziele mithilfe neuester Propagandatechniken umzusetzen. Die hier vorgestellten Schlaglichter mögen davon einen Eindruck vermittelt haben. Sowohl der „Mythos Stolberg“ als auch die Kampagne der „Unsterblichen“ sind Beispiele für aktuelle rechtsextreme Propaganda. Beide belegen die enorme Bedeutung des Internets für die rechtsradikale Szene. Moderne Kommunikationsmittel ermöglichen eine schnelle und beinah grenzenlose Verbreitung von Propaganda. Dieser Gefahr muss angemessen begegnet werden. Wichtiger als Verbote und Bemühungen, historische NS-Propaganda unzugänglich zu machen oder weiterhin mit Verboten zu belegen, erscheint daher die Vermittlung von Kompetenz im Umgang mit Propaganda als Teil einer spezifischen Medienkompetenz. Denn nur so kann Propaganda aus allen Epochen entlarvt werden. Dies ist sicher deutlich arbeitsintensiver und schwieriger in der Umsetzung, langfristig aber der Erfolg versprechendere Ansatz.

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Moshe Zimmermann

Umgang der Opfer mit der Propaganda der Täter Israel und die Nazis

Eigentlich ist es unvorstellbar – die NS-Propaganda zeigt auch im „Land der Opfer“, in Israel, eine nachhaltige Wirkung. Diese Feststellung oder auch Tatsache bezieht sich zunächst einmal auf den bizarren und fast absurden Umstand, dass es auch in Israel Menschen gibt, die sich für eine rassistische, ja nahezu nationalsozialistische Ideologie begeistern. Seit 2002 sind in Israel Gruppen von Neonazis bekannt, die sich vorwiegend aus dem Reservoir der Neueinwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion rekrutieren. Meistens handelt es sich um Jugendliche aus Familien, deren Zugehörigkeit zum Judentum – auch im ethnischen Sinne – marginal ist und die ihren Hass sowohl gegen Juden als auch gegen Randgruppen wie Drogenabhängige oder Obdachlose richten. Sie unterstreichen ihre Einstellungen durch den Gebrauch von NS-Symbolen wie Hakenkreuzen oder dem „deutschen Gruß“. Auch Lobeshymnen auf Hitler sind in diesen Kreisen anzutreffen. Bereits 2005 hatte sich ein parlamentarischer Ausschuss mit dem Phänomen der israelischen Neonazis befasst und nach Aufklärung verlangt. Eine Radikalisierung der Tendenz konnte dadurch allerdings nicht verhindert werden.1 Im Jahr 2007 wurde dann eine Gruppe von brutalen Neonazis aufgegriffen, die im Großraum von Tel Aviv aktiv gewesen war. Sie hatte ihre Gewalttaten sogar auf Video dokumentiert und ins Internet gestellt. Zwei der Haupttäter wurden von Richter Gurfinkel zu Haftstrafen von fünf bzw. sieben Jahren verurteilt. Nun spielt dieses sonderbare Phänomen israelischer Neonazis für das Thema der vorliegenden Abhandlung nur eine Nebenrolle; der Effekt der NS-Propaganda – oder zumindest des Ideenguts hinter dieser Propaganda – in der israelischen Gesellschaft ist zwar leider nicht von der 1 Sitzung des Einwanderungskomitees der Knesset, 14. Juni 2005. Umgang der Opfer mit der Propaganda der Täter  207

Hand zu weisen, allerdings auf einer ganz anderen Ebene: Im folgenden Beitrag geht es um den unkritischen Umgang der israelischen Öffentlichkeit mit Informationen und Symbolen – in Schrift und Bild –, die aus den Quellen nationalsozialistischer Propaganda stammen und die Haltung und Bewusstseinsbildung heutiger Israelis beeinflussen. Bereits Frank Capra, unter dessen Regie ab dem Jahr 1942 die siebenteilige Reihe von US-Propagandafilmen Why we fight über den Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland und Japan entstanden war, hatte zu verstehen gegeben, dass diese Filmdokumentationen zu stark von dem im nationalsozialistischen Deutschland erstellten Material (footage) getragen wurden. Zunächst unbemerkt waren fremde Botschaften in die dokumentarische Darstellung eingedrungen, quasi als Nebenprodukt des verwendeten Filmmaterials. Ohne Absicht hatte der Regisseur die visuelle Sprache, die Bilder und konzeptuellen Images aus dem deutschen Original als Zitate in seine neue Dokumentation übernommen. Greift man auf NS-Wochenschauen oder die Filme der Leni Riefenstahl als dokumentarisches Rohmaterial zurück, so sind daraus zum Beispiel entscheidende Elemente des von der deutschen Propaganda erzeugten Images Adolf Hitlers oder „des deutschen Soldaten“ nur schwer zu tilgen. Ähnliches geschah vor allem auch mit der visuellen Präsentation des Nationalsozialismus in Israel: Sowohl das Bild von Deutschen als auch von Juden wird – wenn auch ohne diese Intention – in den verschiedensten Medien aus der Vorstellungswelt der NS-Propaganda in die aktuelle israelische Bildersprache transferiert. Wenn am Ende die erfolgreiche Person Joseph Goebbels heißt, kann der Hinweis darauf, dass Israel hier im internationalen Vergleich keine Ausnahme ist, nicht tröstlich sein. Doch blicken wir zunächst auf die schriftliche Überlieferung. Im Mittelpunkt der deutschen und der internationalen Diskussion stehen in diesem Zusammenhang einerseits Hitlers Mein Kampf und andererseits Die Protokolle der Weisen von Zion. Das Hauptargument gegen die Verbreitung oder den Verkauf dieser Schriften ist die Befürchtung, dass sie ihre Wirkung nicht verloren haben und als Hetzschriften weiterhin schädlich sein könnten. Eine derartige Befürchtung sollte allerdings in Israel im Hinblick auf beide Schriften grundlos und eine Diskussion um den Zugriff auf sie eigentlich irrelevant sein. Und doch kam es Mitte der 1990er-Jahre zu einer hitzigen Debatte um die hebräische Übersetzung von Hitlers Mein Kampf. Diese Übersetzung wurde 1994 vom Richard208  Moshe Zimmermann

Koebner-Minerva-Zentrum für Deutsche Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem in Form einer kommentierten, um zwei Drittel gekürzten Ausgabe der ursprünglich 750 Seiten umfassenden Originalfassung vorgelegt. Adressaten dieser zum historischen Quellenstudium gedachten Übersetzung waren in erster Linie Universitätsstudenten, die über die Geschichte des Nationalsozialismus arbeiten wollten. Entsprechend erschien die Ausgabe im Universitätsverlag Akademon.2 Hauptargument der israelischen Öffentlichkeit gegen diese Veröffentlichung von Mein Kampf war nun nicht etwa die Befürchtung, dass damit auch im jüdischen Staat Hitlers Botschaften zum Leser durchdringen könnten, sondern dass eine Übersetzung von Hitlers Text die hebräische Sprache kontaminiere. Dass es sich um eine wissenschaftliche Quellenedition, eine annotierte Ausgabe, handelte, die zu jedem Kapitel eine historischwissenschaftliche Einleitung zur Erklärung des NS-Phänomens bot, wurde dabei schlichtweg ignoriert. Eine Debatte in der Knesset, dem israelischen Parlament, am 22. Februar 1995 demonstrierte die hier herrschende Ignoranz, aber auch die Empfindlichkeiten der Politiker beim Thema des Nationalsozialismus. Die Mehrheit der dreizehn (von 120) Abgeordneten, die an dieser Debatte teilnahmen, war gegen die hebräische Veröffentlichung und vor allem gegen die Übersetzung des Titels ins Hebräische – Ma‘avaki. Der radikalste parlamentarische Gegner, Yigal Bibi von der nationalreligiösen Partei, ging mit folgendem Argument noch weiter: „Zu dumm – Forscher möchten dieses Buch gebrauchen. Ich selbst habe jüdische Geschichte studiert. Ich habe Geschichte studiert. Brauchen Historiker dieses Buch? Was für ein Witz.“3 In diese Richtung ging der allgemeine Tenor der öffentlichen Diskussion. Die dreizehn Abgeordneten leiteten das Thema an den Erziehungsausschuss der Knesset weiter, und der Abgeordnete Bibi schlug vor, jede Seite des Buches mit einem Stempel zu versehen: „Das wurde vom bösen Adolf Hitler geschrieben.“ Doch am Ende blieben die Verhandlungen im Parlament ergebnislos. Die Abgeordneten, die so oft die Shoah als politisches Kampfmittel verwenden, hatten auch diesmal ihr Ziel bereits in Form der öffentlichen Aufregung erreicht und waren an 2 Moshe Zimmermann, Oded Heilbronner (Hrsg.), Adolf Hitler – Ma’avaki (hebr.), Jerusalem 1994. 3 Protocols of the Knesset, 22. Februar 1995 (hebr.). Umgang der Opfer mit der Propaganda der Täter  209

einer weiteren Verfolgung der Angelegenheit nicht mehr interessiert. Nachdem die erste Auflage des Buches von 500 Exemplaren verkauft worden war, kam ohnehin keine zweite heraus, vermutlich um dem Verlag weitere Unannehmlichkeiten zu ersparen. Die Chance, eine sachliche Diskussion über die gegenwärtige Wirkung von Mein Kampf zu führen, war damit vergeben. Doch die oben erwähnte Neonazigruppe in Tel Aviv ist bereits ausreichendes Indiz dafür, dass nazistisches Gedankengut auch in Israel seine Sympathisanten finden kann, womit eine entsprechende Diskussion nicht irrelevant und falsch platziert wäre. Am Rande einer Tagung zum fünfzigsten Jahrestag der Niederlage NS-Deutschlands kam das Thema im Jahr 1995 erneut auf die Tagesordnung. Die Einschätzung des Verfassers, dass im politischen Klima Israels die hebräische Bibel, das sogenannte Alte Testament, eine gefährlichere Schrift sein könnte als Mein Kampf, weil eine rechtsradikale Auslegung der biblischen Texte die Besatzungs- und Siedlungspolitik sowie die bewusste Diskriminierung von Nichtjuden in Israel rechtfertige, rief damals eine bestürzte, keineswegs sachliche Reaktion hervor, sodass auch hier eine Chance des öffentlichen Diskurses verpasst wurde. Statt die NS-Propaganda als Aufhänger für eine Diskussion über nazistische oder wenigstens rechtsradikale Tendenzen in der heutigen israelischen Gesellschaft zu verstehen, wurde die Tabuisierung von Begriffen und die Delegitimierung linker Intellektueller zum Angelpunkt der Debatte. Weil Israelis – oder besser: israelische Juden – sich als Erben der Opfer des Nationalsozialismus und somit als Angehörige des Kollektivs der Opfer betrachten, ist die Empfindlichkeit bei derartigen Fragen extrem. Nur führt diese Empfindlichkeit dazu, dass die israelische Rechte stets in der Lage ist, den Spieß umzudrehen: Jeder gegen rechts gerichtete Hinweis auf NS-Deutschland wird genutzt, um Vergleiche als illegitime Denk- und Handlungsweisen der Linken darzustellen. Auf die Fälle, in denen entsprechende Vergleiche doch für legitim gelten, weil sie den rechtsorientierten Kräften von Nutzen sein können, wird weiter unten eingegangen werden. Jenseits von Mein Kampf fordert ein weiterer Text der Nationalsozia­ listen die israelische Gesellschaft heraus: die „Nürnberger Gesetze“ von 1935. Der ehemalige Vorsitzende der Knesset, Avraham Burg, erinnert sich an zahlreiche parlamentarische Debatten über das israelische Rück210  Moshe Zimmermann

kehrgesetz, in denen sich die Abgeordneten immer wieder auf die „Nürnberger Gesetze“ beriefen, wenn es hieß: „Unser Rückkehrgesetz ist die Antwort auf die ,Nürnberger Rassengesetze‘.“ Das Rückkehrgesetz gewährt jedem Juden, jeder Jüdin aus aller Welt automatisch das Recht auf die israelische Staatsbürgerschaft, wenn sie nach Israel einwandern. Aber wer gilt als Jude? – Burgs Schlussfolgerung lautet: „Solange der Zusammenhang zwischen dem modernen israelischen Staatsbürgerrecht und Nürnberg nicht abreißt, wird Hitler indirekt darüber entscheiden, wer Jude ist.“ Darüber hinaus musste Burg zu seinem Bedauern auch feststellen: „Es fällt mir manchmal schwer, zwischen dem ursprünglichen Nationalsozialismus und mancher national-sozialen Lehre hier und jetzt zu unterscheiden.“4 Ganz anders als zur Schrift Mein Kampf verläuft die Diskussion um Produkte der nationalsozialistischen Filmindustrie, also um die visuelle Überlieferung. Paradebeispiele hierzu sind die antisemitischen Filme Jud Süß und Der ewige Jude. Der Unterschied zwischen der Wahrnehmung des Hitlerbuches und den Kinoproduktionen beruht vor allem darauf, dass es sich um Medien unterschiedlicher Natur handelt. Das Schriftliche steht hier dem Visuellen gegenüber, und beides besitzt einen jeweils anderen Wahrnehmungsgehalt. Andererseits aber wurzelt die Differenz auch darin, dass der ikonische Wert des Hitlerbuches für den durchschnittlichen Israeli viel größer ist als die ideologische Stellung der genannten oder anderer NS-Filme. Wäre man mit Der ewige Jude so umgegangen wie mit Hitlers Schrift, so wären Passagen aus diesem Film nicht so oft und meistens kommentarlos in israelischen Dokumentationen oder in Fernsehsendungen zitiert und gesendet worden. Und hier sind wir beim Kernproblem angelangt: Zitate aus Filmen werden im Endeffekt nicht als Ausdruck von rassistischen Vorurteilen rezipiert und verinnerlicht, sondern vielmehr als wahrheitsgemäße Abbildung und Darstellung der jüdischen Bevölkerung des Stetl oder der Diaspora akzeptiert. Das Image vom orthodoxen, bärtigen, zerlumpten, unangenehmen „Ostjuden“, das die NS-Propaganda vermittelte, ist von der israelischen Gesellschaft – mit Ausnahme der Ultraorthodoxie, die sich selbst als Gegenbild dieses Images wahrnimmt – weitgehend kritiklos rezipiert worden. So, denkt der durchschnittliche Israeli, sahen eben die jüdischen 4 Avraham Burg, Victory over Hitler (hebr.), Tel Aviv 2007, S. 309 und S. 369. Umgang der Opfer mit der Propaganda der Täter  211

Opfer des „Dritten Reiches“ tatsächlich aus, die wie „Schafe zur Schlachtbank“ gingen, ganz im Gegensatz zu „uns Israelis“, die völlig anders aussehen und sich damals wohl auch anders verhalten hätten. Die Gefahr, die darin besteht, dass man die Bildersprache des „Dritten Reiches“ ungefiltert weitergibt, wird auch in zwei wichtigen Filmdokumentationen über die Geschichte Israels deutlich: in der siebzehnteiligen Dokumentationsreihe Amud ha‘esh (Feuersäule)5 aus dem Jahr 1981, in der die Vorgeschichte des Staates Israel behandelt wird; sowie in der zweiundzwanzigteiligen Dokumentation Tekuma (Auferstehung)6 von 1998, die die ersten fünfzig Jahre des Staates darstellt. In beiden Fernsehdokumentationen spielen die Shoah und ihre Folgen für die israelische Gesellschaft eine zentrale Rolle. Dabei stammt das für diese Serien benutzte und hier reproduzierte relevante Bildmaterial zum großen Teil aus der Propagandamaschine des „Dritten Reiches“; es wird verwendet, als würde es sich um neutrales Dokumentationsmaterial handeln. Und durch die Nutzung des NS-Filmmaterials bleiben auch die von den Nationalsozialisten konstruierten Gegensätze und Kontraste erhalten: So wird im zwölften Teil von Amud Ha‘esh der deutsche Soldat einem verängstigten Juden und seinen beiden Kindern gegenübergestellt, und, um den Effekt noch zu verstärken, eine kurze Szene aus Riefenstahls Triumph des Willens aus dem Jahr 1935 gezeigt. Einen Schritt weiter ging man im sechsten Teil von Tekuma, wo ganz bewusst Soldaten aus dem Yischuw, der vorstaatlichen jüdischen Gesellschaft in Palästina, mit Überlebenden aus Bergen-Belsen kontrastiert werden: Der Sabra, der im Lande Israel geborene Jude, übernimmt hier auf dem historischen Hintergrund der Shoah die Kontrastrolle, die früher der „Arier“ zum „typischen“ Juden eingenommen hatte. 2012 unternahm der deutsche Regisseur Felix Moeller unter dem Titel Verbotene Filme ein Dokumentationsprojekt über den Umgang mit – noch heute in Deutschland verbotenen – NS-Filmen und deren Rezeption durch unterschiedliche Publikumsgruppen in verschiedenen Ländern. Für dieses Projekt wurden auch israelische Zuschauer mit entsprechenden Produktionen konfrontiert, in ausgewählten Programmkinos 5 Amud ha‘esh, Produzent: Yaakov Eisenmann, Regie: Yigal Loussin (im Auftrag der Israel Broadcasting Authority), Israel 1981. 6 Tekuma, Produzent: Gideon Drori, Regie: Dina Zvi-Riklis, Israel 1998. 212  Moshe Zimmermann

zeigte Moeller in öffentlichen Vorführungen mit Erläuterungen vor der Vorführung zunächst Jud Süß, Die Rothschilds und Ohm Krüger. Im Anschluss durften die Zuschauer zum Thema Stellung nehmen und debattieren. Moeller filmte diese Debatten und interviewte auch einzelne Besucher. Obwohl die Vorführungen in der Presse angekündigt worden waren, gab es dagegen keine nennenswerten Proteste, wie etwa im Falle der Veröffentlichung von Mein Kampf. Obwohl die Mehrheit der Zuschauer sich nach der Filmvorführung von Jud Süß gegen das kommentarlose Zeigen des Films in Israel aussprach, gab es nur eine kleine Minderheit, die für ein prinzipielles Verbot votierte. Man könnte dieses Resultat auf eine aufgeklärte Haltung des Publikums zurückführen, wenn die Diskussion um die Produktionen nicht gezeigt hätte, dass im Endeffekt das negative Bild des Juden im Film als realistisches Bild von Juden in der Diaspora begriffen worden war. Image und Begriff des Diasporajuden sind in der Weltanschauung der Sabras schlichtweg negativ besetzt. Mehr noch: Nach der Vorführung des Films Ohm Krüger, der kein negatives Bild von Juden, sondern von Briten bietet, wurde sogar Zustimmung geäußert. Die antibritische Propaganda der Nationalsozialisten hatte sich letztlich kaum von der während der Mandatszeit in Palästina im Yischuw verbreiteten und bis heute oft anzutreffenden antibritischen Darstellung unterschieden. Die propagandistische Botschaft des Films wurde auch hier allem Anschein nach für eine sachliche Darstellung gehalten, sodass die meisten Zuschauer keinen Grund sahen, die Vorführung zu verbieten. Mit anderen Worten und kurz gesagt: Gerade bei der visuellen Propaganda werden eventuell vorhandene Abwehrmechanismen stark deaktiviert. Man mag fragen, ob es sich bei diesem Projekt nicht ohnehin nur um eine nicht-repräsentative Gruppe von Kinobesuchern der Cinematheque in Jerusalem gehandelt habe? Aber auch andere Befunde weisen in diese Richtung: Das Koebner-Minerva-Zentrum führt jährlich eine Meinungsumfrage zum Thema „Deutschland“ durch. Dazu wurde 2012 eine repräsentative Gruppe von circa 1.000 Personen um Antwort auf zwei Fragen gebeten: Erstens, darf man heute in Deutschland Filme zeigen, die zwischen 1933 und 1945 produziert wurden? Zweitens, darf man heute in Israel derartige Filme zeigen? Zur ersten Frage meinten 36 Prozent, dass das Verbot übergreifend für alle Filme der NS-Zeit gelten sollte, während 29 Prozent die Entscheidung, sich derartige Filme anzuUmgang der Opfer mit der Propaganda der Täter  213

schauen, dem mündigen Bürger überlassen wollten. 35 Prozent der Befragten wollten nur die Vorführung von Filmen mit einer klaren politischen bzw. rassistischen Botschaft gänzlich verbieten. Bei der zweiten Frage im Hinblick auf die israelischen Verhältnisse meinte die Hälfte, dass man es dem mündigen Bürger überlassen sollte, darüber zu entscheiden, während nur 19 Prozent für ein umfassendes Verbot waren. Es scheint, dass Israelis – zu Recht oder zu Unrecht – die Beeinflussung der Deutschen in der Gegenwart durch NS-Propaganda noch als eine ernste Gefahr ansehen, während sie sich selbst gegen die Propagandabotschaften eher für immunisiert halten. Die bisher angeführten Beispiele zeigen jedoch, dass, auch wenn die Zustimmung von Juden zur direkten Botschaft dieser Propaganda zwar nicht ohne Weiteres zu erwarten ist, die indirekte Botschaft doch nicht unbedingt wirkungslos bleibt: Die Bilder, die Images, werden mindestens unbewusst verinnerlicht, vor allem dort, wo der NS-Rassismus nicht allein auf Juden abzielt. Unter anderem erklärt diese unbekümmerte Haltung, weshalb rassistische Elemente der israelischen Politik nicht als solche wahrgenommen oder nicht im vergleichenden Kontext beobachtet werden. Der undifferenzierte Zugang zu den Effekten der NS-Filmindustrie zeigte sich bereits vor fünfzig Jahren, also etwa ein Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, auch aus einem anderen Blickwinkel. In der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre waren deutsche Filmproduktionen zur Vorführung in Israel noch verboten, während deutschsprachige Filme in israelischen Kinos durchaus zugelassen waren und auch eine enorme Popularität verzeichnen konnten. Besonders erfolgreich war die SissiTrilogie mit Romy Schneider als österreichischer Kaiserin. Weil es sich bei diesen und anderen Streifen um österreichische oder italienischösterreichische Produktionen handelte, galten sie für die israelische Filmzensur nicht als „deutsch“ und durften ohne Synchronisation (mit hebräischen Untertiteln) vorgeführt werden. Die Tatsache, dass einige auf der Leinwand erscheinende Schauspieler mit Hitler in Beziehung gestanden hatten (Magda Schneider), vormalige Mitglieder der NSDAP waren (Attila Hörbiger) oder an NS-Propagandafilmen mitgewirkt hatten (Paul Hörbiger in Die große Liebe), störte die israelische Zensur oder die Zuschauer wenig. Nur Filme aus deutscher Produktion durften eben nicht gezeigt werden. Der Streifen O mein Papa, eine deutschfranzösische Produktion, wurde aus diesem Grunde zunächst in Israel 214  Moshe Zimmermann

verboten, obwohl die Hauptdarstellerin Lilli Palmer wegen ihrer Zugehörigkeit zum Judentum Deutschland im Jahr 1933 hatte verlassen müssen. Das Verbot für diesen Film wurde zwar relativ schnell aufgehoben,7 dafür aber blieb Kurt Hoffmanns Wir Wunderkinder (1958) seit seiner Premiere bis Dezember 1967 auf dem Index; die Regierung (!) hatte am 3. Juli 1960 ein Vorführungsverbot für diesen Film verhängt, und zwar nicht nur aus dem technischen Grund, dass es sich um eine deutsche Produktion handelte, sondern auch, weil nach Meinung der Minister der Zuschauer angeblich die Kritik des Films am Nationalsozialismus nicht verstehen werde.8 Im Jahr 1965 debattierte man in Israel über ein Verbot des James-Bond-Films Goldfinger (1965), weil der darin mitwirkende Schauspieler Gerd Fröbe zugegeben hatte, NS-Parteigenosse gewesen zu sein, während die amerikanische Produktion Ship of Fools (1965) im gleichen Jahr in Israel ohne Probleme auf die Leinwand kam; denn Bedenken gegen den in diesem Streifen mitspielenden deutschen Schauspieler und Goebbels-Günstling Heinz Rühmann wurden nicht geäußert. Eine Auseinandersetzung mit dem Kern der Sache, einer möglichen Osmose – einem Eindringen – von NS-Botschaften in das kollektive Bewusstsein blieb also von Anfang an aus. Auch die Publikation Die siebte Million des israelischen Schriftstellers Tom Segev, die sich mit der Shoah und der israelischen Erinnerungspolitik auseinandersetzt, klammert diesen Themenbereich aus.9 Auf diesen Prozess der Osmose soll nun im weiteren Verlauf eingegangen werden. Dabei ist zu beachten, dass die von den Nationalsozialisten verwendeten Bilder und eingesetzten stereotypen Images in der Regel keine originalen Erfindungen waren, sondern auf Traditionen beruhten, die zum Teil auch von Juden nicht pauschal abgelehnt wurden. Dass die zionistische Programmatik von einem negativen Bild des Diasporajuden ausging und Zionisten daher auch für negative Bilder aus dem Arsenal der Antisemiten empfänglich waren, wurde oben schon erwähnt. 7 Ma’ariv, 10. Februar 1958; „Deutsche Filme in jedem Kino”, Ma’ariv, 21. April 1958. 8 Davar, 23. März 1960; 4. Juli 1960; 15. Dezember 1967. 9 Tom Segev, Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, Reinbek bei Hamburg 1995. Umgang der Opfer mit der Propaganda der Täter  215

Bereits Theodor Herzl, der Vater des Zionismus, hatte für Aufregung gesorgt, als er in seiner Zeitung Die Welt seinen Artikel Mauschel veröffentlichte: „Mauschel ist Antizionist […] etwas unsagbar Niedriges und Widerwärtiges. […] Mauschel ist in der Armut ein erbärmlicher Schnorrer, im Reichtum ein noch erbärmlicherer Protz. […] Mauschel hat immer die Vorwände geliefert, unter denen man uns anfiel.“10 Hier benutzte Herzl die stereotype Darstellung des „hässlichen Juden“ und trug dazu bei, antisemitische Bilder unter seinen Anhängern zu verbreiten. Auf andere Art und Weise machte Max Nordau, Herzls Mitstreiter in der zionistischen Führung, ganz Ähnliches, wenn er sich für ein „Muskeljudentum“ aussprach, das es angeblich in der Diaspora nicht geben könne. Was Herzl und Nordau um die Jahrhundertwende predigten, wurde ein halbes Jahrhundert später im real existierenden Judenstaat zum ideologischen Fundament. Die Vorstellung vom Juden als Schwächling, Feigling und Luftmenschen, die die antisemitische Propaganda allgemein und insbesondere auch die der Nationalsozialisten verbreiten wollte, konnte in der israelisch-zionistischen Gesellschaft als eine zwar unangenehme, aber doch „wohl nicht ganz falsche Darstellung des Diasporajuden“ rezipiert werden. Die Behauptung, Juden in der Diaspora seien keine Sportler, oder wenigstens keine herausragenden Sportler, blieb allen bekannten Tatsachen zum Trotz – allein die herausragende Zahl jüdischer Olympiasieger aus der Diaspora im Vergleich zu denen aus Israel spricht dagegen – weit verbreitet. Stereotype Vorstellungen sind bekanntlich stärker als Fakten und wirken selbst, wenn sie vom Erzfeind propagiert werden. Dazu haben in unserem Falle derartige Bilder auch nach der Niederlage des „Dritten Reiches“ eine nachhaltige Wirkung gezeigt, denn das einschlägige Propagandamaterial ist eben nicht mit dem Nationalsozialismus untergegangen. Dabei geht es nicht nur um eine abstrakte, allgemeine Auseinandersetzung mit Bildern und Vorstellungen, sondern auch um die aktuelle Politik. Als das Thema der Beschneidung die deutsche Öffentlichkeit beschäftigte und die Protestreaktion der jüdischen Gemeinde in Deutschland nach dem Geschmack vieler Israelis zu „lasch“ zu sein schien, wurde das Vorgehen der deutschen Juden sofort als für die Diaspora typisches Verhalten gebrandmarkt. Als zwei Jahrzehnte zuvor von rechtsradikalen 10 Theodor Herzl, Mauschel, in: Die Welt vom 15.10.1897. 216  Moshe Zimmermann

Ausschreitungen im vereinigten Deutschland berichtet wurde, schlug Isser Harel, der frühere Chef des israelischen Nachrichtendienstes Mossad, vor, israelische Soldaten nach Deutschland zu schicken, um Juden dort vor Übergriffen zu schützen. Der israelische Soziologe Gad Yair hält demgemäß den Satz „Ich bin nicht mehr der schwache Jude aus dem Stetl“ für das zweite Gebot seines Katalogs der „Zehn Gebote“, die den Geheimcode der heutigen israelischen Persönlichkeit ausmachen.11 Allerdings war Yair nicht aufmerksam genug, um zu sehen, dass der Ursprung dieser Gebote im antisemitischen Konstrukt liegt. Dieser Kontrast ist jedem Kind bekannt, das das populäre Buch Echad Mishelanu12 (Einer von uns) aus der Zeit der Staatsgründung gelesen hat: Dort wird ein Kind, das die Shoah überlebt hat, erst am Ende der Geschichte in eine Gruppe von Sabras, also in Israel Geborenen, integriert. Auch wer das Buch Avias Sommer gelesen oder den gleichnamigen Film gesehen hat,13 in denen eben dieses Problem behandelt wird, kennt den Gegensatz. Das Bild, das die NS-Propaganda zwar nicht erfunden, aber doch vermittelt und verbreitet hat, trägt heute zu Entscheidungen über die kollektive Identität israelischer Juden bei. Das so tief in der israelischen Gesellschaft verwurzelte Image des macht- und schutzlosen Diasporajuden wird jedoch allein schon durch die herrschenden Verhältnisse ad absurdum geführt: Obwohl Israelis seit Jahren Ziel von tödlichen Terroranschlägen in Israel sind, heißt die Reaktion auf den antijüdischen Terror im Ausland in der Regel: Diasporajuden gehören nach Israel, wo sie nicht ängstlich und hilflos den Angriffen ihrer Feinde ausgeliefert sind. Oder ein anderes Bild: 2003 flogen am Tag des Marsches der Lebenden drei Kampfjets der israelischen Luftwaffe über Auschwitz, als wären sie die israelische Antwort auf die Hilflosigkeit der „zur Schlachtbank geführten Schafe“, als wären sie die retrospektive Antwort auf die militärische Stärke der deutschen Wehrmacht. Das Bild der drei Jets am Himmel über der Inschrift „Arbeit macht frei“ wäre bedeutungslos, wenn es nicht in der von den Nationalsozialisten vermittelten Vorstellung des jüdischen 11 Gad Yair, The Code of Israelisness. The Ten Commandments for the 21st Century (hebr.), Jerusalem 2011, S. 44. 12 Jemima Tchernowitz, Echad Mishelanu, Tel Aviv 1947. 13 Avias Sommer, Regie: Eli Cohen, Israel 1988. Umgang der Opfer mit der Propaganda der Täter  217

Schwächlings seine Ursprünge hätte und von Israelis nicht so unreflektiert verinnerlicht worden wäre.14 Auch hier klaffen Mythos und Realität auseinander: Sowohl im ersten Irakkrieg von 1991 als auch im zweiten Libanonkrieg im Jahr 2006 zitterte die israelische Zivilbevölkerung vor den SKUD-Raketen aus dem Irak und dem Libanon; aber die „beste Armee im Nahen Osten“ war nicht in der Lage, hierauf eine adäquate Antwort zu bieten. Das Absurde bei der Übernahme des Kontrastes vom schwachen Diasporajuden und „dem strammen Israeli“ (der hier letztlich an die Stelle des starken Deutschen tritt) drückt sich auch in der Verehrung Feldmarschall Erwin Rommels in Israel aus. Rommels Kriegskunst als „Wüstenfuchs“ wurde nicht nur vom israelischen Militär studiert und nachgeahmt.15 Rommel selbst – wie er sowohl der NS-Propaganda, aber auch der von Hollywood produzierten Vorstellung entsprang – wurde zum Vorbild, selbst ohne das Alibi seiner angeblichen Teilnahme an der Verschwörung vom 20. Juli 1944 zu benutzen. Sogar die Gewissheit, dass ein Erfolg Rommels das mörderische Ende der jüdischen Gesellschaft in Palästina hätte verursachen müssen, wird dabei verdrängt. Die Fotos vom Scheitern des Aufstandes im Warschauer Ghetto, die zum Beispiel SS-General Stroop vor dem brennenden Ghetto oder SSMann Josef Blösche zeigen, der sein Gewehr auf ein jüdisches Kind mit erhobenen Händen richtet, blieben keine bloßen „historischen“ Aufnahmen. Bis in die Gegenwart hinein sind diese Bilder wirkungsmächtige Ikonen. Die Problematik ihrer Instrumentalisierung ist weiter unten zu erörtern. Aber schon an dieser Stelle soll gezeigt werden, wie diese Aufnahmen das Verhalten des durchschnittlichen Israelis beeinflussen. Der israelische Film Metalic Blues aus dem Jahr 2004 ist vielleicht kein filmisches Meisterwerk, aber ein wirkungsvoller Zeuge des Effekts derartiger historischer Bilder. Gegen Ende dieses Films geraten die beiden israelischen Protagonisten in eine eigentlich harmlose Konfrontation mit 14 Eben dieses Bild prägt die Haltung der Spitzen des israelischen Militärs zu Israels Nahostpolitik in allen ihren Aspekten, etwa der Palästina- oder der Iranfrage. Siehe: Ari Shavit, Flug 301 ist noch nicht gelandet, in: Mussaf Ha’Aretz vom 4. September 2013, S. 26–32. 15 Rommels Buch Infanterie greift an (Potsdam 1937) wurde ins Hebräische übersetzt und 1953 in Tel Aviv veröffentlicht, mit einer schmeichelhaften Einleitung des damaligen israelischen Generalstabschefs Haim Laskov. 218  Moshe Zimmermann

einem Polizeibeamten der Bundesrepublik. Unter dem Einfluss der historischen Bilder verwandelt sich die Szene in eine Auseinandersetzung zwischen einem Nazi und seinen jüdischen Opfern. Da aber der Jude in dieser Szene ein Israeli ist, setzt er sich entsprechend seinem „Rollenverständnis“ zur Wehr. Es kommt zum glücklichen Ende; aber klar ist – die Darstellung der Ausgangskonstellation entstammt den effektiven Bildern aus der Vergangenheit vor 1945.16 Doch die Assoziationen, die mithilfe von Bildern aus der Zeit vor 1945 heraufbeschworen werden, sind nicht unbedingt automatische, unkontrollierte Reaktionen der Israelis. Gerade weil diese Assoziationen leicht abrufbar sind, werden sie oft für politische Zwecke instrumentalisiert oder gar manipuliert. Im Folgenden einige Beispiele: Bild Nr. 1: Der Großmufti von Jerusalem beim Führer. Das bekannte Foto des Treffens dieser beiden Personen in Berlin am 28. November 1941, das das Reichspropagandaministerium veröffentlichte, um auf die Zusammenarbeit mit der arabischen Welt hinzuweisen, ist als zentrales Image aus der Kollektiverinnerung Israels nicht mehr wegzudenken. Bei diesem Treffen, so die Aufzeichnung des Protokolls, habe Hitler unverblümt festgestellt: „Das deutsche Ziel würde dann lediglich die Vernichtung des im arabischen Raum unter der Protektion der britischen Macht lebenden Judentums sein.“17 Diese Absicht war ganz im Sinne des Großmuftis. Der besondere Wert der Unterredung und des Fotos liegt nicht in Erkenntnissen über die damaligen Absichten beider Männer, sondern in der aktuellen Möglichkeit, den damaligen Großmufti von Jerusalem als Repräsentanten aller Palästinenser und aller Araber darzustellen – und dies vor allem bis auf den heutigen Tag. So wurde dieses Foto, das der Propaganda Goebbels’ helfen sollte, zum visuellen israelischen Argument gegen jede Verständigung mit Palästinensern und für die Fortführung des Kampfes bis zum bitteren Ende gegen die arabische Welt. Zum Internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar 2012 fand auch in der Knesset eine Gedenkstunde statt. In diesem Rahmen reagierte Minis16 Metallic Blues, Regie: Dan Verete, Israel/Deutschland/Kanada 2004. 17 Aufzeichnung des Gesandten Schmidt über die Unterredung zwischen Adolf Hitler und dem Großmufti von Jerusalem, Haj Mohammed Amin al-Husseini vom 28. November 1941, siehe: http://www.ns-archiv.de/verfolgung/antisemitismus/mufti/in_berlin.php (20.9.2013). Umgang der Opfer mit der Propaganda der Täter  219

terpräsident Benjamin Netanjahu auf eine Rede des heutigen Mufti von Jerusalem und sagte: „Dieser Mufti folgt dem anderen Mufti. Haj Amin al-Husseini war einer der leitenden Architekten der ‚Endlösung‘. Er fuhr nach Berlin, er hat auf Hitler eingewirkt…“18 Netanjahu interpretierte das bekannte Bild nun als Dokumentation des Treffens zwischen dem palästinensischen Initiator und dem deutschen Vollstrecker der „Endlösung“ und machte den Mufti des Jahres 2012 zum direkten Nachfolger dieser Politik. Auch wenn Goebbels diesen Eindruck sicher nicht erwecken wollte, hat das Foto im unerwarteten Kontext des 21. Jahrhunderts seine Wirkung. Es verwundert daher nicht, dass das Treffen zwischen Hitler und dem Großmufti immer wieder auf die Tagesordnung kommt und vor allem das Foto in den israelischen Schulbüchern stets erneut an prominenter Stelle abgebildet wird. Bild Nr. 2 ist keine spezifische Aufnahme, sondern das sich stets wiederholende, bekannte Image von KZ-Häftlingen in ihrer gestreiften Kleidung, mit dem sich „der Jude“ der Konzentrationslager in der kollektiven Erinnerung eingeprägt hat. Dieses Image wird vor allem bei politischen Aktionen in Israel eingesetzt und verleiht dem Protest eine besondere Wirkung. Eine Demonstration am 30. Dezember 2011 von Ultraorthodoxen gegen die Verurteilung Shmuel Weissfischs, der in einem Computerladen aus religiösen Gründen Feuer gelegt hatte, setzte hier die gesamte Bildpalette ein: Auf einem Lastwagen saßen acht junge Ultraorthodoxe mit gestreifter Kleidung; andere ultraorthodoxe Juden liefen mit dem gelben Stern umher; und ein Kind mit einem originalgetreuen gelben Stern an den Kleidern und mit erhobenen Händen wie auf der Aufnahme aus dem Warschauer Ghetto ergänzte die Situation. Diese Kampfansage der Ultraorthodoxen an den Staat Israel erhielt ihre Effektivität dadurch, dass man Israel in die Rolle des „Dritten Reiches“ und die Orthodoxie in die Rolle der NS-Opfer stecken konnte. Bilder, die Goebbels produzieren ließ, wurden somit von Juden gegen den zionistischen Judenstaat der Gegenwart verwendet. Die Instrumentalisierung dieser Bilder blieb aber nicht allein Taktik der Ultraorthodoxen. Uzi Meshulam, ein Rabbiner und Lehrer jemenitischer Herkunft, protestierte 1994 gegen die Behandlung jemenitischer Einwanderer seit Ende der 1940er-Jahre durch staatliche Behörden und 18 Protocols of the Knesset, 27. Januar 2012 (hebr.). 220  Moshe Zimmermann

verglich dabei das Schicksal der jemenitischen Kinder von damals mit dem von Kindern während der Shoah. Auch Meshulams Gefolgschaft benutzte die KZ-Kleider und den „Judenstern“, um den Vergleich dramatisch zu veranschaulichen. Weil derartige Bilder zum Fundament der kollektiven Identität gehörten, wurden sie hier sogar von einer Gruppe instrumentalisiert, nämlich jemenitischen Juden, die keinen direkten Kontakt zur Shoah gehabt hat. Effektiv war diese Taktik immerhin; denn die Adressaten dieser Provokation waren eben aschkenasische (also europäische) Juden in Israel, die sich für die direkten Erben der Opfer der Shoah halten und deswegen leicht aus der Fassung zu bringen sind, wenn sie mit der Symbolik der Bilder konfrontiert werden. Auch die harte Auseinandersetzung zwischen Rechts und Links in Israel, das heißt zwischen Anhängern einer Ideologie von „Ganz-Israel“ einerseits und Gegnern der Besatzung andererseits, greift immer wieder in intensiver Form auf die Bildersprache des „Dritten Reiches“ zurück. Die einen benutzen das Foto der Unterzeichnung des Münchner Abkommens, die anderen greifen zu Bildern von Wehrmachtssoldaten. Dabei geht es nicht um die legitime Anwendung des Vergleichs als Methode des Historikers, sondern um populistische Provokationen. Da die Empfindlichkeiten groß sind, fallen die Reaktionen entsprechend gereizt aus. Bei einer Diskussion um die Inhalte von Geschichtsbüchern im Erziehungsausschuss der Knesset protestierte beispielsweise ein rechtsradikaler Abgeordneter dagegen, dass in einem Schulbuch auf der einen Seite ein Kapitel über die rechtsgerichtete jüdische Terrorgruppe Irgun in den 1930er-Jahren beendet wurde, während auf der nächsten Seite das Kapitel über die Geschichte des „Dritten Reiches“ mit einer Abbildung von Adolf Hitler begann. Der Abgeordnete vermutete hier eine hinterhältige Absicht der Verfasser, eine Nähe zwischen Irgun und Nationalsozialismus anzudeuten. Als 2005 der damalige Ministerpräsident Ariel Sharon den israelischen Rückzug aus dem Gazastreifen und die Räumung der dortigen israelischen Siedlungen durchsetzte, reagierten die Siedler und ihre Anhänger mit eben der erwähnten Taktik: Sie hefteten (orangefarbige) Judensterne an ihre Kleidung – Orange war die Farbe des Widerstandes gegen den Rückzug – um sich dadurch in eine angeblich holocaustähnliche Situation zu versetzen. Als israelische Soldaten die Widerstand leistenden Siedler aus ihren Häusern forttrugen, entstand beim durchschnittlichen Umgang der Opfer mit der Propaganda der Täter  221

Israeli, dem die Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg so gut bekannt waren, das Gefühl eines Déjà-vu. Infolge der Eindeutigkeit dieser Bilder war der Effekt entsprechend groß und die um die Legitimität der Anwendung der Symbole geführte Debatte außerordentlich hitzig. Acht Jahre nach diesen Bildern steht ihre Wirkung außer Frage – eine weitere Räumung von Siedlungen durch Israel wird es nicht geben. Eine ähnliche Absicht verfolgte das rechte Lager bei einer Demonstration im Zentrum Jerusalems im Jahr 1995, als ein Transparent mit einer Fotomontage, die Ministerpräsident Rabin in der SS-Uniform von Himmler zeigte, plakativ herumgetragen wurde, um so gegen das Abkommen mit der PLO und gegen den Rückzug aus dem Westjordanland zu protestieren. Da die Chiffre der „Auschwitz-Grenzen“ bereits seit 1967 in Israel im Umlauf ist, war die Montage ein authentischer Ausdruck der Vorstellungswelt der israelischen Rechten. Allerdings gibt es andererseits in der arabischen Welt tatsächlich manche, die an ein Komplott der Zionisten mit den Nationalsozialisten gegen die Palästinenser glauben und deswegen die besagte Fotomontage auf ihre Weise verstanden. Tatsächlich spielt auch unter den israelischen Arabern, die ja mehr als zwanzig Prozent der Bevölkerung ausmachen, die Bildsprache der europäischen Antisemiten und des „Dritten Reiches“ eine Rolle. Dabei erweist sich diese Gruppe als integraler Teil der arabischen Gesellschaft im Nahen Osten: Die NS-Propaganda aus dem Zweiten Weltkrieg, die ja Araber auf die Seite NS-Deutschlands bringen sollte,19 verschwand nicht spurlos. Männer aus dem nationalsozialistischen Reichministerium für Volksaufklärung und Propaganda wie Johann von Leers haben für die Propagandamaschine Ägyptens in den 1950er- und 1960er-Jahren gewirkt und dabei das bereits aus der Zeit des Nationalsozialismus bekannte Propagandamaterial eingesetzt. Die Stereotype, die vor allem im Stürmer dominierend zum Ausdruck kamen, wurden von der antiisraelischen Kritik übernommen und im neuen Kontext wieder verwendet: Sprache und Bilder der Karikaturen in der arabischen Presse erinnern oft an die Karikaturen des Stürmers. Es geht aber nicht nur um Karikaturen. 2002 zeigte das ägyptische Fernsehen die Serie Reiter ohne Ross, der die Protokolle der Weisen von Zion zugrunde liegen; und in der Türkei wurde 2010 der Film Tal der 19 Jeffrey Herf, Nazi Propaganda for the Arab World, Yale 2009. 222  Moshe Zimmermann

Wölfe im Fernsehen ausgestrahlt, der ebenfalls mit negativen Stereotypen von Juden arbeitet. Da diese Bildersprache im heutigen Israel so bekannt ist, bewirken die Fernsehbilder eine entsprechende Provokation und werden als Beweis für die Kontinuität zwischen dem „Dritten Reich“ und der palästinensischen bzw. arabischen oder muslimischen Haltung gegenüber Israel aktiviert.20 Die zionistische Lösung der „Judenfrage“ hat auch dieses Problem nicht lösen können. Immer noch muss man sich fragen: Wie vermeidet man es, den antisemitischen Stereotypen und Vorstellungen, die letztlich die Nationalsozialisten als Grundlage und Begründung für die „Endlösung“ benutzt haben, erneut zum Opfer zu fallen? Wie befreit man sich von Bildern, die die nationalsozialistische Ideologie für ihre Zwecke eingesetzt hat? Wie schafft man wirkliche Argumente, ohne der NSPropaganda aufzusitzen oder zu erliegen? Sogar den Opfern und Erben der Opfer will es nicht gelingen, sich von entsprechenden Vorstellungen und Denkmustern zu lösen, die ihren Ursprung in der NS-Propaganda haben. Schlimmer noch: Sie instrumentalisieren diese Bilder aus po­li­tischen und taktischen Gründen, statt sie schlichtweg abzulehnen. Goebbels hätte allen Grund zum Lachen!

20 Dazu: Robert Wistrich, The Lethal Obsession. Antisemitism from Antiquity to the Global Jihad, London 2010. Umgang der Opfer mit der Propaganda der Täter  223

Helmut König

Erinnerungskultur und NS-Propaganda

I. Gewalt und Verführung

Viele zeitgeschichtliche und erinnerungskulturelle Debatten der letzten Dekaden sind zu einigermaßen überzeugenden Resultaten gelangt. Das gilt für die Frage, ob der 8. Mai ein Tag der Niederlage oder eine Befreiung gewesen ist: Ja, es war eine Befreiung; ob die Wehrmacht eine aktive Rolle bei der Vernichtung der europäischen Juden gespielt hat: Ja, sie war aktiv daran beteiligt und die gesamte Kriegsführung im Osten trug von Anfang an die verbrecherischen Züge eines Vernichtungskrieges; ob die NS-Verbrechen einen singulären Charakter gehabt haben: Ja, sie waren singulär, aber das sollte nicht den Blick für das antagonistische Zusammenspiel der beiden totalitären Regime des 20. Jahrhunderts verstellen; ob der Überfall auf die Sowjetunion ein Präventivkrieg war: Nein, das war er eindeutig nicht; ob es ganz normale Männer waren, die zu Tätern wurden: Ja, es waren ganz normale Männer, aber damit ist die Frage nach strafrechtlichen, politischen und moralphilosophischen Schlussfolgerungen aus dieser Banalität des Bösen nicht erledigt, sondern stellt sich nur umso dringlicher; wie es mit der Kontinuität der funktionalen Eliten über das Ende des Zweiten Weltkriegs hinweg bestellt ist: Die Kontinuität ist zweifellos erschreckend, zugleich muss dann aber gefragt werden, wie unter diesen Bedingungen die Transformation der faschistischen Volksgemeinschaft in die demokratische Bürgerschaft der Bundesrepublik gelingen konnte und erklärt werden kann. Mit der NS-Propaganda ist es irritierenderweise offenbar immer noch anders. Wir wissen nicht recht, wie wir mit ihren Hinterlassenschaften, mit den Texten, Zeitungen, Filmen umgehen sollen. Vielfach fehlen die Begriffe, mit denen wir sie analytisch zugänglich machen und kritisieren könnten. Tatsächlich führt die Frage, welche Bedeutung die Propaganda für das Zustandekommen und Funktionieren der Volksgemeinschaft Erinnerungskultur und NS-Propaganda   225

gehabt hat, sogleich ins Zentrum der Diskussionen über den generellen Charakter des NS-Regimes. Welche Rolle spielt der „schöne Schein“ des „Dritten Reiches“, wie lässt sich das Verhältnis von Faszination und Gewalt, von Verführung und Terror bestimmen?1 Die Doppelnatur des NS-Regimes und der NS-Bewegung zu begreifen, stellt uns immer wieder vor große Herausforderungen. Für Verführung und Faszination, für die Erzeugung des „schönen Scheins“ ist die NS-Propaganda mit allen ihren Instrumenten, Techniken und Erscheinungsformen zuständig gewesen: Filme, Zeitungen, Masseninszenierungen (Parteitage, Olympische Spiele 1936, Aufmärsche zum 1. Mai, Paraden), Reden, Feiern, Rituale. Walter Benjamin spricht in seinem Kunstwerk-Aufsatz im Blick auf den Nationalsozialismus von der „Ästhetisierung der Politik“, in der die Massen zwar „zu ihrem Ausdruck“, aber „nicht zu ihrem Recht“ kommen.2 Wie kann man dieses Verhältnis genauer fassen? Was kommt in der NSPropaganda zum Ausdruck und lässt sich dieser Ausdruck genauer bestimmen? Kann man die Punkte namhaft machen, an denen „die Massen“ nicht zu ihrem Recht kommen? Einige Analysen der Kritischen Theorie, von Adorno vor allem, gehen diesen Fragen mithilfe psychoanalytischsozialpsychologischer Zugänge genauer nach. In der Dialektik der Aufklärung wird der antisemitische Wahn der Nationalsozialisten in eine zivilisationsgeschichtliche Perspektive gerückt und mit einer Wiederkehr des Verdrängten in Verbindung gebracht, die auf vertrackte Weise in die Perfektionierung der Verdrängung umschlägt.3 Ein ähnlicher Mechanismus ist auch in den Masseninszenierungen und ästhetisierenden Praktiken der Nationalsozialisten am Werk.4 Die gezielte Indienstnahme und 1 Vgl.: Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, München/Wien 1991; sowie: Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt: Deutschland 1933–1945, Berlin 1986. 2 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt am Main 1974, S. 431–508, S. 506. 3 Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt am Main 1987, S. 11–290, S. 197 ff. 4 Vgl. Theodor W. Adorno, Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda, in: Helmut Dahmer (Hrsg.), Analytische Sozialpsychologie, 226  Helmut König

Instrumentalisierung der Regression zu Zwecken der Aufrechterhaltung und Perfektionierung der Triebunterdrückung ist der vorherrschende Zug. Die „autoritäre Freigabe des Verbotenen“5 bindet die Gefolgschaft an die Autoritäten, kettet die Mitglieder der Volksgemeinschaft aneinander und entfesselt die destruktive Energie gegen die Ausgegrenzten. Diese Zugänge, die die geheimen Hintergründe der Faszination des Nationalsozialismus namhaft machen und aufklären wollten, sind heute weitgehend in den Hintergrund getreten. Aber ohne sie und die von ihr bereitgestellten Begriffe und Konzepte wird es kaum gelingen, die Bedeutung und Funktionsweise der NS-Propaganda zu entschlüsseln. Wir vergessen gerne, dass der Faschismus schon in den 1920er-Jahren des vorigen Jahrhunderts in Europa eine große Anziehungskraft gehabt hat, nicht zuletzt bei vielen Intellektuellen der Zeit. Und dass der Nationalsozialismus in den 1930er-Jahren in Deutschland eine Massenbewegung gewesen ist, von der eine große Anziehungskraft ausging, ist nicht ernsthaft zu bestreiten. Wenn man die Verführungs- und Faszinationsseite des Nationalsozialismus begreifen will, muss man über die Darstellung von Gewalt, Terror und Einschüchterung hinausgehen. Hinzutreten muss die Analyse der Bedürfnisseite. Anders kann man die Wirkmächtigkeit von Propaganda und Verführung, die nicht über die Köpfe und Körper der Menschen hinweg, sondern durch sie hindurch funktionierte, nicht begreifen. Weil aber niemand den Leuten in den Kopf hineinschauen kann, ist es sehr schwierig, darüber etwas zu sagen. Die Wirkung von Bildern, Texten, Filmen, Reden und Masseninszenierungen ist nur sehr schwer zu fassen. Ihre Steuerungsmacht ist immer indirekt, eine Art von soft power, die die Leute dazu bringen soll, von sich aus das zu tun, was die totalitären Regime von ihnen erwarten. Viele Dokumente und Quellen der Zeit sind überliefert und greifbar, aber wir können oftmals kaum sagen, wer sie damals gelesen, gesehen, gehört hat und was das Lesen, Sehen und Hören und die Teilnahme an den Aufmärschen und Veranstaltungen bei den Lesern, Hörern, Zuschauern und Teilnehmern ausgelöst hat. Frankfurt am Main 1980, S. 318–342; sowie: Helmut König, Masseninszenierungen im Nationalsozialismus. Eine sozialpsychologische Analyse des Festspiels ‚Olympische Jugend‘, in: Psyche 44 (1990), S. 628–642. 5 Horkheimer/Adorno (wie Anm. 3), S. 214. Erinnerungskultur und NS-Propaganda   227

Unabhängig von diesen Beschränkungen und Grenzen ist es aber immer möglich, den objektiven Gehalt der Texte, Bilder, Filme und Inszenierungen zu untersuchen. Nach Adorno ist Propaganda die rationale Manipulation des Irrationalen. Wer sie analysieren will, muss beiden Seiten seine Aufmerksamkeit zuwenden, der rationalen wie der irrationalen Seite. Die rationale Seite betrifft die Techniken, mit denen die NS-Propaganda an der Erzeugung des „schönen Scheins“ arbeitet, den Aufwand, der hinter diesen Inszenierungen steckt, die Tricks und Manipulationen, die in den verschiedenen Feldern zum Einsatz kommen. Die irrationale Seite bezeichnet das Feld der Bedürfnisse und Wünsche, die in Regie genommen und für die Zwecke der Herrschaft zugerichtet und instrumentalisiert werden. Hier liegt der Akzent darauf, dass Instru­ mentalisierung und Zurichtung nicht nur gegen die Menschen geschehen, also mit den Mitteln von Gewalt und Terror realisiert werden, sondern dass das auch mit den Menschen, durch sie hindurch und mit ihrer aktiven Beteiligung geschieht. II. Mario und der Zauberer

Was ich unter Bedürfnisanalyse verstehe, möchte ich mit der Interpretation der Erzählung Mario und der Zauberer von Thomas Mann deutlich machen. Diese Erzählung darf zu Recht Anspruch darauf erheben, ein wichtiges und aufschlussreiches Stück Faschismusanalyse zu sein. Drei Aspekte der Erzählung sind für die Frage nach den Funktionsweisen von Propaganda und Manipulation aufschlussreich: 1) Die Geschichte erlaubt einen Einblick in die psychologischen Tricks und Techniken, mit denen die Propaganda arbeitet. Das betrifft die rationale Seite. 2) Die Geschichte bietet eine Fülle von Hinweisen auf die Bedürfnisse und Wünsche, die gleichsam als Rohstoff in die Propaganda-Inszenierung eingehen und von ihr aufgegriffen werden. Das betrifft die irrationale Seite. 3) Die Erzählung macht schließlich auf die Kraft aufmerksam, die nach Thomas Mann der manipulativen Verführungsgewalt widersteht und sie zum Einsturz bringt. Die Erzählung stammt aus dem Jahr 1930 und geht auf eigene Erfahrungen von Thomas Mann während eines Urlaubsaufenthalts in Italien

228  Helmut König

zurück.6 In amüsanter und beinahe anekdotenhafter Form wird über ein Reiseerlebnis berichtet. Der Ich-Erzähler schildert die Geschehnisse während eines Urlaubs, den er mit seiner Frau und zwei Kindern in einem italienischen Badeort verbringt. Der Aufenthalt ist von Anfang an von vielen Misshelligkeiten getrübt. Es ist unerbittlich heiß, im Grand Hotel, in dem die Familie sich einquartiert hat, erlaubt man ihr nicht, auf der schön illuminierten Glasveranda Platz zu nehmen, da diese für den Hochadel reserviert ist. Die Beschwerden einer Fürstin über den schon im Abklingen begriffenen Keuchhusten eines der Kinder – die Fürstin fürchtet Ansteckung auf akustischem Wege – führen dazu, dass der Erzähler mit seiner Familie in ein anderes Hotel umzieht. Doch die Misshelligkeiten gehen weiter. Am Strand herrscht eine ungewöhnlich gereizte Stimmung. Einige Kinder geraten in einen Streit, bei dem Nationales eine wichtige Rolle spielt. Schließlich kommt es zu einem Sittenskandal. Die achtjährige Tochter des Erzählers läuft nackt am Strand 6 Ich habe die Erzählung im Zusammenhang einer Studie über „Zivilisation und Leidenschaften“ ausführlicher analysiert (vgl. Helmut König, Zivilisation und Leidenschaften. Die Masse im bürgerlichen Zeitalter, Reinbek bei Hamburg 1992, S. 200ff.) und übernehme hier, zum Teil wörtlich, eine Reihe der dort vorgetragenen Überlegungen und Schlussfolgerungen. Allerdings habe ich damals ein deutlich größeres Gewicht auf die Seite der rationalen Techniken gelegt, mit denen der Hypnotiseur operiert. Heute erscheint es mir mindestens genauso wichtig, die Bedürfnis- und Wunschseite zum Thema zu machen. Vgl. zur Interpretation der Erzählung, mit zum Teil deutlich anderen Akzenten, die folgende Literatur: Rolf Füllmann, Einführung in die Novelle, Darmstadt 2010, S. 125–132; Wilhelm Große, Thomas Mann: Tonio Kröger/Mario und der Zauberer. Königs Erläuterungen: Textanalyse und Interpretation, Hollfeld 2011, S. 75–120; Jürgen Joachimsthaler, Politisierter Ästhetizismus. Zu Th. Manns „Mario und der Zauberer“ und „Doktor Faustus“, in: Edward Białek/Manfred Durzak/Marek Zybura (Hrsg.), Literatur im Zeugenstand. Beiträge zur deutschsprachigen Literatur- und Kulturgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Hubert Orłowski, Frankfurt am Main u. a. 2002, S. 303–332; Helmut Koopmann, Führerwille und Massenstimmung: Mario und der Zauberer, in: Volkmar Hansen (Hrsg.), Thomas Mann. Romane und Erzählungen, Stuttgart 1993, S. 151–182; Roland Kroemer, Thomas Mann: Mario und der Zauberer… verstehen, herausgegeben von Johannes Diekhans und Michael Völkl, Paderborn 2011; Christoph Möcklinghoff, Zum Verhältnis von Konservativismus und Jugend am Beispiel eines Repräsentanten: Thomas Mann und die Ursprungsmythologie jugendlich politischer Romantik, Berlin 1987. Erinnerungskultur und NS-Propaganda   229

umher, was vom mittelständischen Strandpublikum als Verstoß gegen die nationale Würde begriffen wird. Die Behörden greifen ein und ahnden das Vergehen mit einem Bußgeld von fünfzig Lire. Dann kündigt sich ein fahrender Unterhaltungskünstler an: Herr Cipolla, ein Taschenspieler und Zauberer. Man beschließt, die Vorstellung aufzusuchen. Damit beginnt die Episode, die für die Analyse von Propaganda und Masseninszenierungen wichtig ist. Ich will sie unter den drei zu Anfang dieses Kapitels genannten Gesichtspunkten eingehender betrachten. (1) Der Zauberkünstler Cipolla erweist sich als ein Artist, der sich eine fast unumschränkte Macht über sein Publikum verschafft. Er zwingt den Zuschauern seinen Willen auf, demütigt sie, stellt sie bloß und beschämt sie; sie strecken die Zunge heraus, winden sich in Koliken und geben intime Begebenheiten und Geheimnisse preis. Schließlich bringt Cipolla die Besucher seiner Veranstaltung dazu, sich auf der Bühne und im Saal wie eine Schar von Hampelmännern hin und her zu bewegen und zu tanzen. Aufschlussreich ist der Zweikampf, den Cipolla mit einer einzelnen Person des Publikums austrägt, mit einem Römer, der sich als eine wahre „Willensfeste“ erweist, weil er dem allgemeinen Taumel und der Verführung durch den Zauberer für längere Zeit hartnäckig widersteht. Doch auch dieser bürgerliche „Herr aus Rom“ kommt am Ende gegen den Hypnotiseur nicht an und gibt sich schließlich wie die anderen dem allgemeinen Taumel hin. Damit scheint zunächst aller Widerstand im Publikum gebrochen, und der Zauberer ist der unumschränkte Herrscher im Reich einer lustvoll unterwürfigen Gefolgschaft. Cipolla wird von Thomas Mann als eine Person mit außergewöhnlich aufdringlichem Narzissmus geschildert: „Ich bin ein Mann von einiger Eigenliebe, nehmen Sie das in Kauf !“7, gibt er seinem Publikum zu verstehen. Einerseits zeigt er Züge eines Scharlatans, eines marktschreierischen Possenreißers und Narren, andererseits ist er von strenger Ernsthaftigkeit, versteht keinen Spaß und ist über die Maßen leicht zu kränken. Er ist stolz und selbstgefällig, arrogant und zugreifend, gehäs-

7 Thomas Mann, Mario und der Zauberer, in: Ders., Tonio Kröger, Mario und der Zauberer, Frankfurt am Main 1983, S. 69–114, S. 86. 230  Helmut König

sig und kalt, und auf Andeutungen einer Auflehnung gegen seine Macht reagiert er mit böser Gereiztheit. Alles in allem sind es sehr heterogene Eigenschaften, die in der Person des Zauberers zusammenkommen. Cipolla ist ein Bündel von Rollen, Verhaltensweisen, Ausdrucksformen und Kostümierungen. Darauf weist schon der Name hin, den Thomas Mann ihm gibt: Cipolla ist das italienische Wort für Zwiebel – sie besteht aus lauter Hüllen und hat keinen Kern. Wie eine Mischperson versammelt er in sich eine Reihe von Zügen und Eigenschaften, die sonst auf verschiedene Personen verteilt sind. Er droht, schockiert und befiehlt – und ist im nächsten Augenblick schmeichlerisch, verführerisch und verlockend. Er knallt mit der Peitsche wie ein Dompteur und ist doch auch jemand, der an das Mitleid des Publikums appelliert und sich als Leidender und Entbehrender, als Opfer präsentiert. Er scheint über ein unendliches Repertoire an Rollen zu verfügen, und je nach Situation schlüpft er einmal in diese und kurz darauf in die entgegengesetzte Maske. Entscheidend für die Macht des Zauberers ist jedoch nicht das Fragmentarische und Zersplitterte seiner Person, entscheidend ist vielmehr, dass er über die Souveränität und Virtuosität verfügt, diese Elemente, Eigenschaften und Rollen gezielt und kalkuliert für seine Zwecke einzusetzen und zu instrumentalisieren. Instinktiv ist er in der Lage, jederzeit und ohne Anstrengung einmal diese Anteile seiner Person in den Vordergrund zu stellen und dann jene. Er ist ein Virtuose der Verwandlung. Die Verwandlungen, die er vollzieht, geschehen nicht absichtslos, sondern gezielt, kalkuliert und zweckvoll. Und sie haben nur den einen Sinn, das Publikum gefügig und unterwürfig zu machen. (2) Der Zauberer ist erfolgreich, weil er mit den verschiedenen Masken und Rollen, in die er schlüpft, bei seinen Versuchspersonen jeweils bestimmte Situationen und Beziehungen aktiviert, die ihn in die Position des Herrn und das Publikum in die Position des Unterlegenen bringen. Er stützt sich immer auf die gleiche Technik: Er erinnert die Personen, zu denen er in Kontakt tritt, wie beiläufig und nebenher an bestimmte Sphären ihres Lebens und versetzt sie in Zusammenhänge zurück, die in ihrer Biografie eine bedeutende Rolle gespielt haben. Auf diese Weise gelingt es ihm, sich Zugang zur inneren psychischen Realität der jeweiligen Person zu verschaffen und sie von sich abhängig zu machen. Da jedoch das Publikum durchaus heterogen zusammengesetzt ist, da dort Erinnerungskultur und NS-Propaganda   231

Alte wie Junge, Jugendliche und gesittete Bürger, Touristen und Einheimische, Draufgänger und Melancholiker vertreten sind, würde es nicht genügen, wenn Cipolla stets der Gleiche wäre. Um mit den unterschiedlichen Personen jeweils auf eine ihnen entsprechende Weise Kontakt aufnehmen zu können, benötigt er ein ganzes Ensemble von Rollen und Gestalten, Verhaltensweisen und Gesten. Und nur weil er selbst keine Einheit ist und weil er sich der Fragmente, in die seine Person zerfällt, wie eines Instruments zu bedienen versteht, schafft er es, aus dieser Ansammlung vieler verschiedener Menschen eine differenzlose Einheit zu machen, die ihm bedingungslos gehorcht. Es ist durchaus nicht so, dass dem Publikum in dieser Veranstaltung übel mitgespielt wird und das entwürdigende Spiel gegen seinen entschlossenen Widerstand und mit Gewalt über die Leute hinwegrollt. Die Wünsche und Sehnsüchte des Publikums kommen dem Zauberer entgegen und gelegen, das Publikum fügt sich nicht nur widerwillig, sondern ergibt sich lustvoll der Macht des dämonischen Zauberers. Die Manipulationsmacht Cipollas ist nur deswegen erfolgreich, weil sie sich mit den Sehnsüchten, Wünschen und Bedürfnissen der Leute verbindet und ihnen „zum Ausdruck“ verhilft. Es ist also nicht so sehr Zurichtung und Unterdrückung, die den Zuschauern angetan wird, sondern Erfüllung und Befriedigung, nach der sich das Publikum sehnt und die es als Beglückung erlebt. Einerseits zwingt der Zauberer seinem Publikum den eigenen Willen auf, andererseits lässt das Publikum die Erniedrigung lustvoll und erleichtert mit sich geschehen. Cipolla verbündet sich mit den geheimen Sehnsüchten und Wünschen seines Publikums nach Untergang und Selbstverlust. Auch der „Herr aus Rom“, der sich so hartnäckig der Zauberherrschaft widersetzt, wird nicht mit Gewalt unterworfen, sondern genießt am Ende seine Unterwerfung. Es ist für ihn eine geradezu beglückende Befriedigung, als er sich dem allgemeinen Taumel endlich anschließen darf. Ähnlich ist es in einer Szene, in der der Zauberer zu Frau Angiolieri, der Pensionswirtin der Familie des Erzählers, in Kontakt tritt. An dieser Stelle wird die Technik des Zauberers besonders sinnfällig: „,Es entgeht mir nicht, Signora‘, sagte er zu ihr, ‚daß es mit Ihnen eine besondere und ehrenvolle Bewandtnis hat. Wer zu sehen weiß, der erblickt um Ihre reizende Stirn einen Schein, der, wenn mich nicht alles täuscht, einst 232  Helmut König

stärker war als heute, einen langsam verbleichenden Schein… Kein Wort! Helfen Sie mir nicht! An Ihrer Seite sitzt Ihr Gatte – nicht wahr‘, wandte er sich an den stillen Herrn Angiolieri, ‚Sie sind der Gatte dieser Dame, und Ihr Glück ist vollkommen. Aber in dieses Glück hinein ragen Erinnerungen … fürstliche Erinnerungen… Das Vergangene, Signora, spielt in Ihrem gegenwärtigen Leben, wie mir scheint, eine bedeutende Rolle. Sie kannten einen König … hat nicht ein König in vergangenen Tagen Ihren Lebensweg gekreuzt?‘ ‚Doch nicht‘ hauchte die Spenderin unserer Mittagssuppe, und ihre braungoldenen Augen schimmerten in der Edelblässe ihres Gesichtes. ‚Doch nicht? Nein, kein König, ich sprach gleichsam nur im rohen und unreinen. Kein König, kein Fürst, – aber dennoch ein Fürst, ein König höherer Reiche. Ein großer Künstler war es, an dessen Seite Sie einst …. Sie wollen mir widersprechen, und doch können Sie es nicht mit voller Entschiedenheit, können es nur zur Hälfte tun. Nun denn! Es war eine große, eine weltberühmte Künstlerin, deren Freundschaft Sie in zarter Jugend genossen, und deren heiliges Gedächtnis Ihr ganzes Leben überschattet und verklärt… Den Namen? Ist es nötig, Ihnen den Namen zu nennen, dessen Ruhm sich längst mit dem des Vaterlandes verbunden hat und mit ihm unsterblich ist? Eleonara Duse‘, schloß er leise und feierlich. Die kleine Frau nickte über8 wältigt in sich hinein. Der Applaus glich einer nationalen Kundgebung.“

(3) Ich habe die Geschichte noch nicht zu Ende erzählt. Auf dem Höhepunkt seiner Machtdemonstration, als der Saal ihm zu Füßen liegt und seinem Willen unterworfen ist, ruft der Zauberer den 20 Jahre alten Kellner Mario auf die Bühne und beginnt mit ihm ein entwürdigendes und verführerisches Spiel. Er hänselt ihn, zieht ihn auf, errät den Liebeskummer, den Mario hat, und bringt ihn schließlich dahin, in einer Art Halluzination, den Zauberer für seine Angebetete zu halten und ihm einen Kuss auf die Wange zu geben. Dann geht alles ganz schnell: Mario, aus seiner Trance erwacht, erschießt den Zauberer und macht damit dem Spuk ein Ende. Offenbar ist es so, dass in der Beziehung zwischen Mario und Cipolla ein Element in Erscheinung tritt, das der Zauberer nicht mehr beherrschen kann und seiner Macht entzogen ist. Dieses Element ist das sexuelle Begehren. Anfangs ist die Beziehung zwischen Mario und Cipolla ein 8 Mann (wie Anm. 7), S. 98 f. Erinnerungskultur und NS-Propaganda   233

Musterbeispiel für das, was Freud im Jahr 1921 in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ über Hypnose und Verliebtheit schreibt. Nach Freud handelt es sich dabei um Beziehungsformen, die zwar von libidinösen Strebungen bestimmt werden und zur uneingeschränkten Hingabe an eine andere Person führen, die direkte sexuelle Befriedigung jedoch ausschließen. Freud sieht darin den Prototyp der Massenbildung, eine „Massenbildung zu zweien“9. Die uneingeschränkte Hingabe und Unterwerfung Marios kann Cipolla nur dadurch herbeiführen, dass er das Geschlecht wechselt und in die Rolle der schmachtenden und gönnerhaften Verführerin schlüpft. In dieser Rolle gewährt er Mario die Erfüllung, die diesem in Wirklichkeit versagt worden ist. Cipolla bietet Mario damit die trügerische Möglichkeit, sein Begehren doch noch erfüllt zu sehen. Was wie der Höhepunkt der Macht des Zauberers erscheint, ist zugleich ihr Ende: Mario erwacht aus der hypnotischen Trance, greift zum Revolver und erschießt den Zauberer. Offenbar ist es die direkte sinnliche Befriedigung eines sexuellen Begehrens, die dem Zauberer zum Verhängnis wird. Cipolla verliert in dem Augenblick seine Macht, als er den erotischen Wunsch seiner Versuchsperson nicht mehr nur begrenzt und zielgehemmt zulässt, sondern ihm eine direkte Erfüllung auf dem Weg der körperlichen, fleischlichen Berührung gestattet. Der sexuelle, körperliche Kontakt macht die Übersicht, die Kälte und die Souveränität zunichte, mit denen der Zauberer sonst auf der Klaviatur seiner eigenen Impulse und der Impulse seines Publikums spielt. Erotik, Körper, sexuelles Begehren erweisen sich als Elemente von einer Kraft, die Cipolla nicht mehr beherrscht. Es gelingt ihm nicht, sie zu instrumentalisieren und zu funktionalisieren, sondern er wird selbst von ihnen übermannt und zu ihrem Spielball. Die direkte sinnliche Befriedigung des Begehrens, Fleisch an Fleisch, lässt sich nicht zum Instrument von Manipulationen machen. Die Dynamik in dieser Sphäre ist so groß, dass selbst die Kräfte dieses Rollenvirtuosen, als den Thomas Mann uns den Zauberer präsentiert, nicht dazu ausreichen, sie zu objektivieren und aus ihr etwas zu machen, das sich nutzbringend für den Zweck der Herrschaftssicherung einsetzen lässt. 9 Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. XIII, London 1940, S. 71–161, S. 126. 234  Helmut König

III. Die Schwierigkeit, Nein zu sagen

Allein die Befriedigung des sexuellen Begehrens, so dürfen wir Thomas Mann verstehen, enthält die Kraft, die manipulierende Unterwerfungsinszenierung zu sprengen. Alles andere steht auf verlorenem Posten. Das gilt vor allem für jene Form des Widerstands, die Thomas Mann am Beispiel des „Herrn aus Rom“ vorführt. Der Römer stellt sich zwar mit entschlossenem Willen und heroischer Hartnäckigkeit der Herrschaft Cipollas entgegen. Aber da er sich nur auf seinen Willen und nichts sonst stützen kann, muss er, wie alle anderen, am Ende vor den Verlockungen, Verführungen und Versprechungen des Zauberers kapitulieren. Die Unterwerfung des Römers wird von Thomas Mann auf interessante Weise kommentiert: „Verstand ich den Vorgang recht, so unterlag dieser Herr der Negativität seiner Kampfposition. Wahrscheinlich kann man vom Nichtwollen seelisch nicht leben; eine Sache nicht tun wollen, das ist auf die Dauer kein Lebensinhalt; etwas nicht wollen und überhaupt nicht mehr wollen, also das Geforderte dennoch tun, das liegt vielleicht zu benachbart, als daß nicht die Freiheitsidee dazwischen ins Gedränge geraten müßte.“10 Thomas Mann konfrontiert uns hier mit der „Schwierigkeit nein zu sagen“11. Wir haben es mit der vertrackten Dialektik des Neinsagens und der Aufklärung zu tun. Neinsagen und Aufklären, wenn sie nicht weit genug reichen, schlagen leicht in ihr Gegenteil um. Offenbar steht nach Thomas Mann das Nichtwollen, die Negation, die sich nur auf den Willen stützen kann, gegenüber der „Sache“, um deren Negierung es geht, auf verlorenem Posten – und zwar so sehr, dass der Negationsversuch schließlich genau dort endet, wo er auf gar keinen Fall hinwollte, nämlich bei der Hingabe an eben die Sache, der das Nein galt. Zu vermuten ist, dass der Herr aus Rom, der sich der Zaubermacht keinesfalls fügen will, insgeheim doch von der „Sache“, die er negiert, angezogen wird, ohne dass er es selbst weiß, ohne dass er sich darüber Rechenschaft abgeben kann. Die Negation, auf der er verzweifelt beharrt, ist abstrakt, und das abstrakte Dagegensein, das sich nur auf den Willen stützt und auf nichts 10 Mann (wie Anm. 7), S. 106 f. 11 Klaus Heinrich, Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, Frankfurt am Main 1964. Erinnerungskultur und NS-Propaganda   235

sonst, läuft über auf die Gegenseite, schlägt um in die Bejahung und in die Affirmation, also dahin, das Geforderte, das man unbedingt vermeiden wollte, am Ende voller Lust und Befriedigung zu tun. Worin besteht die Alternative? Man muss sich in den Umkreis der Stärke des Gegners begeben, man muss die Faszination, die von ihm ausgeht, kennen und sich bewusst machen. Wenn man gegen die Verlockungen und Wünsche, die von Thomas Mann als Verlockungen und Wünsche der Selbstpreisgabe vorgeführt werden, nur den Willen aufbietet, der nicht einmal wirklich kennt, was er negiert, also sich der Kraft des Gegners nicht stellt, wird man unterliegen. Sich der Kraft des Gegners zu stellen, heißt aber auch, das eigene Selbst in die Analyse einzubeziehen. Der Verlockung, die von der Selbstpreisgabe ausgeht, kann man nur im Prozess der Selbstreflexion auf die Spur kommen. Wenn wir die Lehre der Szene zwischen Mario und dem Zauberer hinzunehmen, ergibt sich ferner: Selbstreflexion ist nicht die asketische geistige Arbeit und Aneignung von Bildungswissen, die der Humanismus postulierte. Selbstreflexion bedeutet auch die Einbeziehung der eigenen Animalität und Körperlichkeit. Daraus ergibt sich die Frage, wo wir in unserer Gesellschaft die Räume haben, in denen Prozesse umfassender Selbstreflexion und Selbstverständigung stattfinden können, und zwar nicht virtuell und abstrakt, sondern unter Einbeziehung der Körper, und das heißt hier zunächst ganz einfach: bei körperlicher Anwesenheit. Die Universitäten waren einmal der Ort, an dem die Gesellschaft sich über sich selbst verständigen sollte und konnte, sich also darüber verständigte, in welcher Gesellschaft wir leben und leben wollen. Sind sie es noch? Wenn nicht, welche anderen Orte und Räume sind an deren Stelle getreten oder könnten das tun? Und wie steht es mit den Schulen? Für die Auseinandersetzung mit der NS-Propaganda, mit ihren Instrumenten und technischen Tricks, und vor allem mit ihrer Bedürfnisseite, das heißt mit der Verlockung, die von Selbstpreisgabe und Selbstzerstörung auch heute noch ausgeht, gibt es nur die Kraft der Selbstreflexion, des Verstehens und Denkens. Nur darüber können wir jene Verwurzelung erreichen, die uns davor bewahrt, den Bedürfnisverlockungen propagandistischer Versprechen zu erliegen.

236  Helmut König

Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Ulrich Baumgärtner, apl. Professor für Didaktik der Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Seminarlehrer für das Fach Geschichte am Karls-Gymnasium München Drs. Marc L. F. van Berkel, Research Associate an der Erasmus Universität Rotterdam Christian Bunnenberg, M. A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte an der Universität DuisburgEssen Prof. Dr. Helmut König, Professor für Politische Theorie am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen Prof. Dr. Christian Kuchler, Professor für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften an der RWTH Aachen Prof. Dr. Peter Longerich, Professor für Neueste Geschichte und Mitglied des Research Centre for the Holocaust and Twentieth-Century History am Royal Holloway College der Universität London Stefanie Paufler-Gerlach M. A., wissenschaftliche Mitarbeiterin des Lehr- und Forschungsbereichs Didaktik der Gesellschaftswissenschaften der RWTH Aachen Silke Peters, wissenschaftliche Mitarbeiterin des kommunalen Inte­ grationszentrums der Städteregion Aachen Dr. René Schlott, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam Dr. Benjamin Städter, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Lehr- und Forschungsbereichs Didaktik der Gesellschaftswissenschaften der RWTH Aachen und Studienrat am Gymnasium St. Ursula, Dorsten Autorinnen und Autoren  237

Dr. Thomas Vordermayer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin innerhalb des Projekts „Hitler, Mein Kampf – eine Edition“ Prof. Dr. Clemens Zimmermann, Professor für Kultur- und Mediengeschichte an der Universität des Saarlandes, Saarbrücken Prof. Dr. Moshe Zimmermann, emeritierter Direktor des RichardKoebner-Center for German Studies an der Hebräischen Universität Jerusalem

238  Autorinnen und Autoren

WENKE NITZ

FÜHRER UND DUCE POLITISCHE MACHTINSZENIERUNGEN IM NATIONALSOZIALISTISCHEN DEUTSCHLAND UND IM FASCHISTISCHEN ITALIEN (ITALIEN IN DER MODERNE, BAND 20)

Am Beispiel von populären Illustrierten der 1930er und 40er Jahre untersucht Wenke Nitz die Bildkulturen im faschistischen Italien und im nationalsozialistischen Deutschland als Ausdruck politischer Machtinszenierungen. Wesentliche Pfeiler faschistischer Propaganda wie die Inszenierung der sogenannten Volksgemeinschaft, die Verwendung politischer Symbole und das Verhältnis der Diktatoren zu Menschenmengen werden dabei in den Blick genommen. Darüber hinaus unternimmt die Autorin einen Vergleich zwischen den beiden faschistischen Ländern, der Unterschiede und Gemeinsamkeiten politischer Inszenierungskultur deutlich zutage treten lässt und kulturhistorische wie systemimmanente Interpretationen hierfür anbietet. Die seriell aufgebauten Bildanalysen werden hierbei durch neues Quellenmaterial untermauert. 2013. 416 S. 222 S/W-ABB. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-21018-2

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ANDREAS KINAST

„DAS KIND IST NICHT ABRICHTFÄHIG“ „EUTHANASIE“ IN DER KINDERFACHABTEILUNG WALDNIEL 1941–1943 (RHEINPROVINZ, BAND 18)

Unter strengster Geheimhaltung begann 1939 im Rahmen des nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programms die Erfassung und Begutachtung aller Psychiatriepatienten und parallel dazu die von körperlich und geistig behinderten Kindern, die in sogenannte „Kinderfachabteilungen“ eingewiesen wurden. Während man den Angehörigen vortäuschte, den Kindern würde die modernste und bestmögliche medizinische Betreuung zuteil, wurden tatsächlich dort die meisten von ihnen ermordet. In Waldniel bei Mönchengladbach wurde im Jahr 1941 eine solche Abteilung eingerichtet, die mit einer Kapazität von ca. 200 Betten zu den großen Einrichtungen dieser Art zählte. In der Zeit ihres Bestehens sind hier insgesamt 99 Kinder gestorben. Das bereits in 3. Auflage erscheinende Buch wertet erstmals die noch vorhandenen Unterlagen dieser Abteilung umfassend aus. Nicht nur Prozess- und Personalakten, auch Krankenakten wurden in die Analyse einbezogen. Darüber hinaus hat der Autor Zeitzeugen ausfindig gemacht und befragt, die zum Teil einzigartiges Quellenmaterial aus Familienbesitz beisteuerten. DURCHGESEHENE NEUAUFLAGE 2014. 320 S. 27 FARB. UND 181 S/W-ABB. GB. 153 X 216 MM | ISBN 978-3-412-22274-1

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