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German Pages [393] Year 2009
Nietzscheforschung Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft Band 9
Nietzscheforschung Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft Herausgegeben
Volker Gerhardt und Renate Reschke von
in Zusammenarbeit mit
Jörgen Kjaer Jacques Le Rider Annemarie Pieper Robert B. Pippin und Vivetta Vivarelli
Lp s)s
Akademie Verlag
Band 9
Die Drucklegung erfolgte mit Unterstützung der Landesregierung Sachsen-Anhalt (Regierungspräsidium Halle)
Abbildung auf dem Einband: Titelbild des Buchs Ola Hansson: Friedrich Nietzsche: Seine Persönlichkeit und sein System, Werk eines unbekannten Künstlers, aus: Graphic Portraits of Friedrich Nietzsche, Selectet & Printed by Earl Nitschke, The Enigma Press, Mt. Pleasant/Michigan 1983 Redaktion: Silke Erler/Veit Friemert/Jana Zwiderski
ISBN 3-05-003709-1
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2002 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der R. Das
Oldenbourg-Gruppe.
eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach D1N/ISO 9706.
Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. -
-
Satz: Veit Friemert, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Printed in the Federal
Müntzer", Bad Langensalza
Republic of Germany
Inhaltsverzeichnis
In memoriam
Wolfgang Müller-Lauter (1924-2001).
Siglenverzeichnis
I.
.
9
11
„Die Menschheit verbessern? Nietzsches Anthropologie"
Internationale Tagung der Nietzsche-Gesellschaft in Naumburg vom 12.-14. Oktober 2001 Pirmin Stekeler-Weithofer (Leipzig) Stolz und Würde der Person Grundprobleme der (Bio)Ethik in einer mit Nietzsche entwickelten Perspektive
.
Karen Joisten (Rüsselsheim) Der Weg Zarathustras als der Weg über den Menschen Nietzsches Überwindung der Anthropozentrizität als philosophische
15
Herausforderung unserer Zeit.
31
Udo Tietz (Berlin) Das animal rationale und die Grundlagen der wissenschaftlichen Vernunft Zur anthropologischen Transformation der Erkenntnistheorie bei Friedrich Nietzsche
47
.
Inhaltsverzeichnis
6
II. „Dionysos gegen den Gekreuzigten"? Friedrich Nietzsches Denkmotiv(e) 7. Dortmunder Nietzsche-Kolloquium vom 25.-27. Juli 2001 Kurt Jauslin
(Altdorf)
Als-ob gegen An-sich
Etwas über den Zusammenhang von Ästhetik und Kontingenz im Denken Friedrich Nietzsches.
69
Hermann Josef Schmidt (Breckerfeld) „ich würde nur an einen Gott glauben, der" oder
Lebensleidfaden und Denkperspektiven Nietzsches in ihrer Verflechtung (1845-1888/89)
.
83
Volker Ebersbach (Holzhausen) Ein versprengter Satyr Nietzsche und das „Elitäre".105 Eva Marsal (Karlsruhe) Wen löst Dionysos ab? Der „Gekreuzigte" im Facettenreichtum der männlichen Nietzsche-Dynastie: Friedrich August Ludwig Nietzsche, Carl Ludwig Nietzsche und Friedrich Nietzsche.131
Johann
Figl (Wien) „Dionysos und der Gekreuzigte"
Nietzsches Identifikation und Konfrontation mit zentralen religiösen ,Figuren'.147
Hufnagel (Mainz) Dionysos: Metaphysik, Mythos und Moderne Erwin
.163
Pia Daniela Volz (Ulm) „Der Begriff des Dionysos noch einmal"
Psychologische Betrachtungen zum Dionysischen als Herkunftsmythos
...
189
Inhaltsverzeichnis
1
III. Also sprach Zarathustra und Forschungstendenzen 9. Nietzsche-Werkstatt
-
Hauptthemen
Schulpforta vom
12.
15. -
September 2001
Matthew Meyer (Wien) The Tragic Nature of Zarathustra.209 Timo
Hoyer (Kassel)
„[...] ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken" Zarathustras pädagogisches Scheitern.219 Martin Liebscher (Wien) Zarathustra Der Archetypus des „Alten Weisen"
.233
-
Hans-Joachim
Pieper (Bonn)
Zarathustra Sisyphos Zur Nietzsche-Rezeption Albert Camus'.247 -
Hans-Gerd von Seggern (Berlin) Allen Tinten-Fischen feind Metaphern der Melancholie in Nietzsches Also sprach Zarathustra.263 Dirk Solies (Mainz) Die Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts und der Lebensbegriff des Zarathustra .277 Claus Zittel
(Frankfurt/Main) Sprüche, Brüche, Widersprüche Irritationen und Deutungsprobleme beobacht am Erzählverhalten und an der Erzählperspektive in Nietzsches Also sprach Zarathustra
....
289
IV. Aufsätze René Heinen (Frankfurt/Main) Zum „Spiel auf der Grenze des Ästhetischen und des Moralischen" Nietzsches Vorlesungen über Rhetorik .303
Inhaltsverzeichnis
8
Sasan
Seyfi (Hannover)
Das hundertköpfige Hunds-Ungetüm, das ich liebe .325 Friedrich Nietzsche und das Meer
Anatol Schneider (Berlin) Nietzsches ökonomisch-philosophisches Manuskript Metaphysik, Ökonomie und Zeitlichkeit in der zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral.343
Andreas Becke (Apelern) Askese und Ekstase Über Weltflucht und Weltablehnung bei Nietzsche und Sloterdijk
.363
Aldo Venturelli (Loveno di Menaggio) Die Wiederentdeckung des Negativen Nietzsche und der Neomarxismus in Italien.381
V. Rezensionen Burkhard Meyer-Sickendiek: Die Ästhetik der Epigonalität. Theorie und Praxis wiederholenden Schreibens im 19. Jahrhundert: Immermann Keller Stifter Nietzsche (Renate Reschke).393 -
-
-
Hermann Josef Schmidt: Wider weitere
Eine Streitschrift (Volker
Personenverzeichnis
Entnietzschung Nietzsches. Caysa).397
.403
Autorenverzeichnis.411
In memoriam Wolfgang Müller-Lauter (1924
Die Nietzsche-Gesellschaft
-
2001)
V. trauert um ihr Gründungs- und Beiratsmitglied, den ersten Nietzschepreisträger des Landes Sachsen-Anhalt 1996, Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter. Am 9. August 2001 ist er nach langer, schwerer und tapfer ertragener Krankheit verstorben. Wir verlieren mit ihm einen der großen Nietzsche-Forscher des 20. Jahrhunderts. Seine mehr als drei Jahrzehnte währenden Bemühungen um eine historische Würdigung von Werk und Denken Friedrich Nietzsches gehören zu den großen Verdiensten seines wissenschaftlichen Lebens. Er hat sich größtes Ansehen in der internationalen Nietzscheforschung erworben und der deutschen Nietzscheforschung wieder zu Einfluß und Wertschätzung verholfen. Durch seinen Lebensweg, auf dem er Nietzsche noch in der nationalsozialistischen Verzerrung kennenlernte, wußte er den „freien Geist" besonders zu schätzen und konnte seine, die ganze philosophische Tradition eine.
beziehende, Nietzsche-Interpretation mit besonderer Authentizität vertreten.
Als Professor für Philosophie zunächst an der Kirchlichen Hochschule und nach der Wende an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, als Herausgeber der Nietzsche-Studien und als einer der Hauptherausgeber der Kritischen Ausgabe der Werke Nietzsches, hat er den größten Teil seiner intellektuellen Kraft der historisch erschließenden und sachlich aufklärenden Interpretation des Denkens Friedrich Nietzsches gewidmet. Sein besonderes Interesse galt den Grenzlinien zur Metaphysik und zur Theologie. Mit Mazzino Montinari, mit dem er zwei Jahrzehnte lang eng zusammen gearbeitet hat, verband ihn die Fähigkeit, den Text Nietzsches zur Geltung zu bringen. So konnte er Werk und Nachlaß Nietzsches überzeugend gegen ideologisch vereinnahmende Übergriffe verteidigen und die Differenz zwischen philosophischen Interpretationen und literarischen Verfremdungen deutlich machen. Wolfgang Müller-Lauter hat wesentlich zur Versachlichung der Diskussion über Werk und Wirkung Friedrich Nietzsches beigetragen. Von seiner ersten großen Studie Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie (1971) bis zu den großen Interpretationsbänden /: Über Werden und Wille zur Macht (1999), II: Über Chaos und Freiheit (1999) und III: Heidegger und Nietzsche (2000) hat er seiner Hauptthese von der Überwindung der abendländischen Metaphysik als einer wesentlichen Intention des „freien Geistes" Ausdruck und argumentative Gestalt gegeben. Müller-
10
In memoriam
Wolfgang Müller-Lauter (1924 2001) -
Lauter war der erste, der Nietzsches Einsicht in die Pluralität der Lebensbedingungen herausgearbeitet und in ihrer weitreichenden philosophischen Bedeutung bewußt gemacht hat. In der lebenslang geführten Auseinandersetzung mit Heideggers These von der Vollendung der Metaphysik im Denken Nietzsches hat er seine eigene philosophische Position profiliert. So hat er sich auch im Zentrum der philosophischen Debatten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts bewegt und wichtige Bezüge zur Philosophie des Deutschen Idealismus hergestellt. Daß Nietzsche heute als ein Klassiker des philosophischen Denkens gelten darf, ist wesentlich eine Leistung dieses Gelehrten, dessen besondere Begabung darin bestand, junge Forscher für Nietzsche zu begeistern. Die Nietzsche-Gesellschaft e. V. verliert mit Wolfgang Müller-Lauter einen ihrer wichtigsten geistigen Förderer. Als Gründungs- und Beiratsmitglied hat er vor allem in der schwierigen Nachwendezeit die ganze Kraft seiner Persönlichkeit, seines Wissens und seiner Erfahrungen für die Gesellschaft eingesetzt, ohne die sie sich nur schwer national und international hätte profilieren und behaupten können. Daß sie jetzt nach zehnjährigem Bestehen zu einer in ganz Europa anerkannten Einrichtung geworden ist, verdankt sie wesentlich seiner persönlichen Unterstützung. Sie wird ihm stets ein ehrendes Gedenken bewahren. Der Band IX der Nietzscheforschung ist seinem Andenken gewidmet.
Berlin, Februar 2002 Renate Reschke, Volker Gerhardt
Siglenverzeichnis
Werkausgaben Werkausgaben nach den Kritischen Werk-/ Briefausgaben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/ New York 1967ff. und 1980. KGW Kritische Gesamtausgabe, Werke Kritische Gesamtausgabe, Briefe KGB KSA Kritische Studienausgabe, Werke KSB Kritische Studienausgabe, Briefe sowie nach der Historisch-Kritischen 1933ff. HKGW HKGB
Gesamtausgabe
Werke bzw. Briefe, München
Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Werke Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Briefe
Siglen einzelner Werke AC BA CV DD
DS DW EH
Der Antichrist Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern
Dionysos-Dithyramben David
Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller (Unzeitgemäße Betrachtungen 1 ) Die dionysische Ecce homo
Weltanschauung
Siglenverzeichnis
12
FW GD GG GM GMD GT
Die Fröhliche Wissenschaft
HL
Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben
IM JGB M MA NF NW PHG SE
SGT ST VM WA WB
WL WS ZA WzM
Götzen-Dämmerung Die Geburt des tragischen Gedankens Zur Genealogie der Moral Das griechische Musikdrama Die Geburt der Tragödie (Unzeitgemäße Betrachtungen 2) Idyllen aus Messina
Jenseits
von
Gut und Böse
Morgenröthe
Menschliches, Allzumenschliches (I und II)
Nachgelassene Fragmente Nietzsche contra Wagner Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen Schopenhauer als Erzieher (Unzeitgemäße Betrachtungen 3) Sokrates und die griechische Tragödie Sokrates und die Tragödie Vermischte Meinungen und Sprüche Der Fall Wagner Richard Wagner in Bayreuth (Unzeitgemäße Betrachtungen 4) Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne Der Wanderer und sein Schatten Also sprach Zarathustra Wille zur Macht
I.
„Die Menschheit verbessern? Nietzsches Anthropologie"
Internationale Tagung der Nietzsche-Gesellschaft in Naumburg vom 12.-14. Oktober 2001
PIRMIN STEKELER-WEITHOFER
Stolz und Würde der Person Grundprobleme der (Bio)Ethik
in einer mit Nietzsche entwickelten
Perspektive
„Man vergebe mir die Entdeckung, dass alle Moralphilosophie bisher langweilig war und zu den Schlafmitteln gehörte [...]. Es liegt viel daran, dass so
wenig Menschen als möglich über Moral nachdenken es liegt folglich sehr viel daran, dass die Moral nicht etwa eines Tages interessant werde! Aber man sei unbesorgt! [...] ich sehe niemanden [...], der einen Begriff davon hätte [...], dass das Nachdenken über Moral gefahrlich, verfänglich, verführerisch getrieben werden könnte [...]. Man sehe sich zum Beispiel die unermüdlichen unvermeidlichen englischen Utilitarier an [...]. Es hat sich nämlich auch in diese Moralisten [...] jenes alte englische Laster eingeschlichen, -
das cant heißt und moralische Tartufferie ist, diesmal unter die der Wissenschaftlichkeit versteckt [...]." Friedrich Nietzsche, Jenseits
1. Nietzsches
von
neue
Form
Gut und Böse, Nr. 228.
Radikalisierung der Autonomie in der Ethik
Nietzsches Wort von einer Zucht und Züchtung des Menschen1 dient einigen Autoren als Anlaß für entsprechende Kommentare zur gegenwärtigen Debatte um die Bioethik. Nicht nur bei Peter Sloterdijk steht es im Hintergrund einer Bewertung gentechnologischer Möglichkeiten auch in der Reproduktionsmedizin und bei eugenischen Planungen.2 Dabei drohen aber Homonymien und mehr oder minder freie Assoziationen andere, tiefere, Zusammenhänge im Denken Nietzsches zu verdecken. Denn Disziplin oder Selbstzucht ist für dieses Denken Bedingung moralischer Autonomie. Kultur oder ,Züchtang' selbstständiger Verantwortung ist Bedingung gerade auch echter Wissenschaft. Eine Kontrolle des technischen Fortschritts über die Steuerung durch unmittelbare Nachfrage hinaus ist Bedingung der Wahrung der Würde des Menschen. Die Argu1 :
Vgl. u. a. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 203, 207, 210, 213, 230. Zur Kritik an vermeintlichen oder wirklichen ,nietzscheanischen' Phantasien der Züchtung vgl. Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Wege zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt/M. 2001,43.
Pirmin
16
Stekeler-Weithofer
gegen eine sentimentale und utilitaristische Ethik zu Gunsten einer Kantischen Einsicht in Selbstbestimmung als Wurzel des Moralider Radikalisierung schen zeigen, warum man in seiner Nachfolge keine Moral der Eugenik, weder in alter noch in neuer Form verteidigen kann. Dazu sind zunächst die wichtigsten Punkte in Nietzsches Kritik traditioneller Theorien der Ethik und seiner Idee einer autonomen Moral der ,Vornehmheit' zu nennen, bevor diese sinngemäß anzuwenden sind auf Fragen nach dem Beginn des menschlichen Lebens, nach dem Grund von dessen Würde und nach der Ausgestaltung von deren Schutz. 1. Das erste Argument Nietzsches gegen übliche Verständnisse moralischen Urteilens kritisiert die Ethik des moral sentiment. Gezeigt wird der Widerspruch zwischen der scheinbaren Authentizität eines unmittelbaren moralischen Gefühls und der Tatsache, daß gerade in einer solchen Unmittelbarkeit eher Formen einer diffusen Abrichtung und internalisierten Tradition als eigenes Denken und Urteilen zu Wort kommen. Dieser Widerspruch ist das Grundproblem des ethischen Intuitionismus im Allgemeinen, einer Ethik der allgemeinen Sympathie oder des Mitleidens wie bei im Besonderen. Zwar sind Intuitionen und moralische Gefühle in ihrem Bestehen oder Fehlen unmittelbar kontrollierbar. Doch damit entsteht nur ein Schein von Selbstgewißheit und Selbstbestimmung. Daß es ein bloßer Schein ist, liegt gerade daran, daß inhaltlich Intuitionen durch Konvention und Tradition bestimmt sind. Das heißt freilich nicht, daß wir die (moralischen) Gefühle als internalisierte Urteile in ihrer Bedeutung für unsere (moralische) Orientierung unterschätzen sollten. Wir sollten sie nur nicht mit authentischen und autonom kontrollierten Urteilen verwechseln. 2. Das zweite Argument fragt nach dem angeblichen Wert des Mitleidens und, im Utilitarismus Benthams, nach dem Sinn einer angeblich allgemeinen moralischen Pflicht' zur diffusen Maximierung des konsequenziellen Nutzens, d. h. der sich aus einem Tun ergebenden Glückswerte für eine möglichst große Menge von Lebewesen. Hier sieht Nietzsche, daß eine solche Pflicht sinnlos wird, wenn die Zwecke nicht im guten Leben des je einzelnen Wesen zentriert bleiben, und wenn die Anerkennung einer derartigen Verpflichtung nicht die Form einer Selbstverpflichtung von mir als Person annimmt. Nur wenn wir in der allgemeinen Sympathie mit aller leidensfähigen Kreatur ein anerkennenswertes Lebensideal sehen könnten, wären für uns die Prinzipien einer Mitleidsethik und des Utilitarismus gegründet'. Wie aber sollten wir anerkennen können, daß allein die (nach gewissen Gewichtungen) maximale Präferenzerfüllung einer möglichst großen Anzahl von Lebewesen unserem sorgenden Tun einen guten Sinn und moralischen Wert gibt? Würden wir dies ernst nehmen, müßten wir am Ende, wie ideale Calvinisten, im Großen Rad der Arbeit immer weitere nützliche Mittel ohne je Muße zu finden. Nicht einmal die Muße des Denkens oder ein Genuß menschlicher Kunst und Kultur wäre erlaubt, wie Nietzsche bemerkt, es sei denn, man erbrächte den Nachweis ihrer Nützlichkeit. Zumindest zunächst vergrößert persönlicher Genuß doch wohl in den meisten Fällen den Gesamtnutzen unseres Tuns nicht, sondern vermente Nietzsches
Schopenhauer3
,
produzieren4,
dazu u. a. die Kritik an Schopenhauers sentimentaler Moral in: denseits Nr. 186. Vgl. dazu: Jenseits von Gut und Böse, Nr. 228.
Vgl. 4
von
Gut und Böse,
Stolz und Würde der Person
17
mindert ihn eher. Aber selbst wenn dem nicht so wäre, bleibt die Forderung eines Nachweises vom Nutzen der Muße Banausie. Es ist umgekehrt. Die dauernde Beförderung eines diffusen und dezentrierten, zukünftigen und allgemeinen Nutzens ist sinnlos. Außerdem wird die angebliche Grundnorm ,neminem laede'l angesichts der Tatsache, daß es praktisch unmöglich ist, im Leben kein Wesen je zu verletzen, selbst zu leerer
Rhetorik. 3. Nicht nur im Fall politischer Entscheidungen, sondern auch im Fall des moralischen Urteilens liegt, drittens, die bedeutendste Macht' dort, wo das Verfahren für die Einzelentscheidungen etwa durch axiomartige Prinzipien oder Rahmenregeln geformt wird. Alles andere ist damit im Wesentlichen fixiert, selbst wenn es noch kleinere Spielräume für die Einzelanwendung der Regeln gibt. Eben daher führt auch jeder je als vorgeprägt denkbare Nutzenkalkül im Utilitarismus zu moralischer Heteronomie und, zusammen mit dem zugehörigen intuitiven Moralgefühl, in ihm ein gutes Prinzip oder Verfahren des moralischen Urteilens gefunden zu haben, zu Selbstgerechtigkeit, zu Tartufferie. Es ist nämlich die Besonderheit von Rechenkalkülen, daß jeder von uns ihre rechte Anwendung selbst kontrollieren kann. Damit entsteht ein Schein von Selbstdenken und Wissenschaftlichkeit. Daß es ein bloßer Schein ist, liegt hier daran, daß jeder echte Kalkül als solcher zunächst fremdgesetzt, gelehrt und gelernt werden muß. Denn eine autonome Kontrolle des Kalküls im Blick auf die Vernünftigkeit der Ergebnisse kann ja nicht durch Rechnen, durch den Gebrauch des Kalküls, kontrolliert wird. Daher ist es ein typischer Denkfehler mathematikliebender Philosophen, wenn sie durch die Ergebnisse eines Kalküls bestimmen wollen, was als vernünftig zu werten ist. Dadurch wird das Hilfsmittel, das Rechnen, zum Kriterium des rationalen Urteilens. Vernunft aber würde verlangen, daß der Kalkül daraufhin befragt wird, ob und wann er brauchbare, vernünftige, Ergebnisse liefert. Dann kann man aber offenbar nicht über seine Ergebnisse definieren, was rational oder vernünftig ist. Außerdem ist eine Moral, die auf der Basis eines solchen Nutzenkalküls urteilt, eine bloße Illusion. Denn erstens gibt es gar kein handhabbares Maß zur Bestimmung von Werten des Leidens oder des Glücks etwa hinsichtlich ihrer Intensität, nicht einmal der Dauer. Zweitens gibt es nur selten ein brauchbares Maß zur Bestimmung wirklich zuverlässiger probabilistischer Erwartungswerte für Handlungsfolgen. Daher kann ein Nutzenkalkül, wie er von Bentham und seinen Nachfolgern imaginiert wird, freie Urteilskraft in Folgenabwägungen sowohl für allgemeine Handlungsformen bzw. Handlungsregeln, besondere Maximen oder einzelne Handlungsakte keineswegs ersetzen. Die äußere Form der Wissenschaftlichkeit' utilitaristischer Ethik verschleiert außerdem die impliziten Machtansprüche derer, die im entsprechenden Format ihre eigenen moralischen Wertungen vortragen, indem sie die entsprechenden Wertungen setzen. 4. Im vierten Argument erkennt Nietzsche im Willen zur Macht, oder schlichter: in der personalen Selbstbestimmung, die Wurzel jedes ethischen Urteilens. Wie für Kant ist es auch für Nietzsche keineswegs selbstverständlich, daß ein anderer an mich eine ethische Forderung stellen kann. Denn als Person ,darf ich zumindest prima facie jeder Forderung meine Anerkennung vorenthalten. Wenn ich daher nur als Adressat der Forderung auftrete, werde ich als Person nicht angemessen berücksichtigt. Das ist nur ein ,
,
Vgl. dazu u. a.: Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 21 : „An die Lehrer der Selbstlosigkeit".
Pirmin Stekeler- Weithofer
18
anderer Ausdruck dafür, daß die bloß verbale Tilgung der Rede von einem Gott als moralischem Gesetzgeber oder von einem Gewissen als intuitiver innerer Stimme per se noch überhaupt keine ausreichende Säkularisierung metaphysischer Moraldogmatik ist. Dies gilt auch noch für eine Ethik, die sich einfach auf Kants Kategorischen Imperativ als formales Prüfverfahren berufen möchte. Es gibt keine Fundierung moralischer Pflichten außer in der Autonomie derer, die sich im Blick auf ein gutes (gemeinsames) Leben selbst binden. Im freien moralischen Urteilen beurteilen wir die Anerkennbarkeit von Maximen, also von zunächst subjektiven Handlungsregeln, als allgemein erlaubt, verboten oder geboten. Die Differenz zwischen mir als Person, die ein solches Urteil anerkennt, und mir als Adressat, der die aus dem Urteil folgenden Norm oder Handlungsorientierung als Verpflichtung gegenübersteht, ergibt sich aus folgender, von Kant in ihrer Grundform aufgewiesenen, Struktur: Es ist durchaus einfacher, eine vorgegebene Norm oder eine am grünen Tisch gemeinsamer moralischer Überlegung vorgeschlagene sittliche Ordnung oder Regel verbal anzuerkennen, als im grauen Alltag des einzelnen Handelns, das unter anderem immer schon im Kontext der Verfolgung von Eigeninteressen steht, die entsprechenden Nonnen auch immer praktisch umzusetzen, sich durch sie im Handeln wirklich bestimmen zu lassen. Mit der impliziten oder expliziten Zustimmung zu einer Norm ist ja noch keineswegs gesichert, ob wir auch so konsequent sind, allein auf Grund unserer Zustimmung der Norm zu folgen. Und doch bindet uns eben diese Zustimmung. In den Fällen, in denen die Befolgung der Norm unserem Eigeninteresse zuwiderläuft, zeigt sich besonders klar, ob wir (bzw. je ich) wirklich aus Pflicht handeln, die wir uns selbst auferlegt haben, nämlich durch die implizite oder explizite Anerkennung der allgemeinen Norm. Dabei ist freilich die Abhängigkeit der Urteilsmöglichkeiten der Personen von ihrer eigenen Geschichtlichkeit angemessen zu berücksichtigen. Daher ist die Begrenztheit der Urteils- und Handlungsmöglichkeiten jeder einzelnen Person und dann auch die allgemeine temporale und lokale Zentriertheit des Daseins anzuerkennen. Niemand kann von seinen eigenen impliziten Wertsetzungen und Wertanerkennungen völlig absehen. Nicht also die illusorische Suche nach ewigen Wahrheiten und ewigen Werten, ewigem Wissen und allgemeinen Urteilsverfahren, sondern die Entwicklung einer freien Gemeinschaft authentischer Personen ist Leitmotiv kritischer Philosophie, wie sie Nietzsche begreift. Dieses wird durch die vielleicht unglückliche Rede von einem Übermenschen für manche Leser verdeckt. Und doch verweist diese Rede vom höheren Menschen gerade auf das Idealbild einer selbstständigen Person, die ihre Begrenztheiten, ihre natürliche und kultürliche Weltlichkeit und Geschichtlichkeit anerkennt.6 Die Entwicklung der Autonomie gerade auch moralischen Urteilens durch freie Selbstbindung und nicht etwa die Kritik von jeder Moral ist Ziel von Nietzsches Überlegungen. Die üblichen, nicht selten biologistischen, Deutungen sind dagegen Mißverständnisse, vielleicht partiell auch Selbstmißverständnisse. 5. Autonome Anerkennungsurteile können nicht einfach auf gegebene moralische Kriterien, Normen und Axiome zurückgreifen, schon gar nicht auf Imperative der Art: 6
Vgl. dazu das dritte Stück der Abschnitt 5.
Unzeitgemässen Betrachtungen
in
„Schopenhauer
als Erzieher",
Stolz und Würde der Person
19
„Du mußt dieses Prinzip oder jenen Kalkül anerkennen". Jedes „Du sollst" oder „Du
mußt" enthält eine verdeckte Bedingung. Moralische Urteile über Handlungsformen oder Maximen sind freilich unbedingt insofern, als sie nicht durch meine unmittelbaren Zwecke bedingt sind. Meine Handlungen werden dabei nicht bloß als Mittel zur Erfüllung meiner gegenwärtigen Begierden und Wünsche bewertet. Und doch sind auch moralische Urteile oder Imperative bedingt, und zwar zunächst über den relationalen Bezug auf so etwas wie die praktische, sprich: moralische, Vernunft: „Du mußt so und so urteilen bzw. handeln, wenn du in Dingen der Ethik vernünftig sein willst". In der Tradition der Vernunftphilosophie der Aufklärung spricht man bis heute abstrakt von der Vernunft, die dem Menschen dieses oder jenes sagt oder gebietet, ohne daß hinreichend klar gemacht wäre, daß sich hinter dem einfachen Ausdruck „der Mensch" der schwierigere „wir Menschen" verbirgt und hinter dem einfachen Ausdruck „die Vernunft" unsere komplexe Praxis der Beurteilung dessen, was wir als vernünftig werten oder so werten wollen oder sollen. Daher wird aus der oben formulierten Vernunftbedingung in einem weiteren Reflexionsschritt, der schon über die Darstellungsform Kants hinausgeht und mit Hegel die faktische Sittlichkeit einer Zeit als Urteilsinstanz unterstellt: „Du mußt so und so urteilen bzw. handeln, wenn du als vernünftig gelten willst". Daraus wird durch weitere Reflexion auf den Begriff der Anerkennung: „Du mußt so und so urteilen und handeln, wenn du zu uns gehören willst."8 Damit wird klar: Jedes Sollen, gerade auch das moralische, beruht auf einem Wollen und enthält ein Verweis auf ein Wir. Dies gilt für alle Kriterien oder Normen ,des Vernünftigen': Sie alle unterstellen die Anerkennung in einer Gruppe von solchen Personen, die sich und anderen in ihrem Tun und Lassen unter der Bedingung der Erfüllung der Kriterien das Wertprädikat „vernünftig" zuordnen würden. Mit dieser Einsicht verschiebt sich das Problem der Begründung der Moral auf die Frage, zu welcher WirGruppe wir uns als ,vernünftige' Personen zählen wollen. Die Frage nach der Vernunft wird damit zur Frage, welche Art von Person wir sein wollen, und das heißt, in welcher Grundverfassung einer Personen- bzw. Menschen- und Lebensgemeinschaft auf der Erde wir leben wollen. Damit eröffnet sich ein Bereich von Problemen, die hier nicht im Detail weiter verfolgt werden kann, nämlich wie ein Ideal eines guten menschlichen Lebens auf der Erde auf zunächst nicht-moralische Weise, also noch jenseits von Gut und Böse zu entwerfen und anzuerkennen wäre. Dieses Ideal begründet dann erst bestimmte ,moralische Verpflichtungen'. 6. Im Kern trifft sich Nietzsche mit Hegel in seiner Kritik an jeder Unmittelbarkeitsphilosophie, an jedem abstrakten Vernunft- und Menschenbegriff, in der Anerkennung einer keineswegs unmittelbar erfahrenen Geschichtlichkeit unserer Urteilsformen und Handlungsnormen und in der Einsicht in die Bedeutung der aristotelischen Idee oder Form des guten Lebens.9 Es sind die schon entwickelten Institutionen, die Formen des Unterscheidens und Folgerns, des Wissens und Könnens einer Epoche, nicht eine transzendente Wahrheit, die wir als Maßstab zur Beurteilung subjektiven Urteilens und Erkennens zumindest zunächst anzuerkennen haben. Es ist entsprechend die implizit aner8 9
Vgl. z. B. die Darstellungsform in Volker Gerhardt, Der Mensch wird geboren, München 2001. Vgl. z. B.: Jenseits von Gut und Böse, Nr. 199. Vgl. z. B.: Ebd., 6. Hauptstück, „Wir Gelehrten", Nr. 204.
Pirmin
20
Stekeler-Weithofer
kannte und explizit kontrollierte Sittlichkeit gemeinsamen Lebens, die wir als faktischen Maßstab moralischen Urteilen gebrauchen, obwohl gerade dies im Appell an subjektive Intuitionen unklar bleibt. Daher bedarf es der Aufklärung durch Rekonstruktion einer Genealogie der Basiskriterien unserer Urteile und Wertungen, besonders im Bereich von Moral und Recht. Ob diese Genealogie eher in kritischer Absicht, wie bei Nietzsche und Foucault, oder mit der Zielsetzung einer Art Versöhnung mit der Geschichte, wie bei Hegel, vorgetragen ist, ist dabei zunächst sekundär: Die Darstellung der Entstehung institutioneller Formen ist in beiden Fällen nicht einfach Realgeschichte, sondern dient der Vergegenwärtigung unseres eigenen Standpunkts, etwa über den Aufweis von Kontingenzen, Funktionalitäten und möglichen Alternativen für institutionelle Formen des gemeinsamen Lebens. Nur so werden kritische Reflexion und Autonomie möglich und vorangebracht. 7. Es ist dann auch kein Zufall, daß bei Nietzsche die Bewertungen der leitenden Ideale einer philosophisch reflektierten Ethik wesentlich in ästhetischem' Vokabular und auf der Grundlage ,ästhetischer' Kriterien wie ,guter Geschmack', ,Vornehmheit' usf. vorgetragen werden. Diese Ausdrucksweisen spiegeln eine systematische Einsicht wider. Bei der Auffindung der relevanten Maximen oder Formen des Handelns urteilen wir analog wie im Fall von Geschmacksurteilen oder wie in Urteilen der erfahrenen Klugheit. Denn zunächst geht es immer erst um eine Bestimmung der allgemeinen Form, die dem Einzelfall und Einzelakt angemessen ist. Wie problematisch es ist, diese Art des Urteilens zu vernachlässigen, zeigt Kants berühmte Replik auf Benjamin Constant in „Über ein vermeintliches Recht, aus Menschenliebe zu lügen". Der Fall ist der, daß ein Verbrecher uns fragt, ob eine von ihm verfolgte Person in unserem Haus Schutz gesucht hat. Ist die zu beurteilende Handlungsform die des Lügens oder Nicht-Lügens, wie Kant meint, so daß wir, weil wir unserem allgemeinen Urteilen im Einzelfall folgen müssen, bestenfalls die Auskunft verweigern dürfen? Wenn aber der Verfolger aus einer Auskunftsverweigerung allzu viel Informationen ziehen kann, ist eine falsche Auskunft oft der einzige Weg, um das Nichtwissen wieder herzustellen, das er vor der insgesamt als unberechtigt zu wertenden Forderung nach Auskunft hatte. Für den entsprechenden besonderen Fall können wir daher durchaus mit Constant und gegen Kant wollen, daß die falsche Auskunft allgemein erlaubt ist, ohne daß wir dadurch die generelle Norm, nicht zu lügen, wirklich gefährden. Das Beispiel zeigt, inwiefern die entsprechenden moralischen Urteile immer auch freie Subsumtions- und Anerkennungsurteile sind. Als solche stehen sie weiterer Kritik und Ausdifferenzierung offen. Welche Handlungen erlaubt, geboten oder verboten sind, ist daher nicht ein für allemal fixiert, sondern wird im freien Diskurs an die Entwicklung gemeinsamen Lebens angepaßt. In Kants Kritik der Urteilskraft ist die Teilnahme an dieser Form des Urteilens, in der das Einzelne unter besondere Formen und diese Formen unter allgemeine Normen subsumiert werden, schon ganz gut auf den Begriff expliziter Reflexion gebracht. Es handelt sich um das Vermögen, seine eigenen Urteile über Einzelnes, Besonderes und Allgemeines im gemeinsamen Diskurs als nachvollziehbare und zu berücksichtigende auszuweisen, nicht um die Erfüllung des illusorischen Anspruchs, sie als absolut richtige zu beweisen. Für ein Beweisen ist im10
Zur Autonomie in der Moral
vgl. z. B. den
1. Band von
Menschliches, Allzumenschliches, Nr. 94, 95.
Stolz und Würde der Person
21
schon vorausgesetzt, daß die Ebene der allgemein anerkannten Normen des Schließens und Wertens oder gar der explizit artikulierten und eingeübten Regeln schon erreicht ist. Ob mein Urteil allgemeine Anerkennung findet oder nicht, verbindlich ist es in Bemer
zug auf mein Handeln allemal. Die Pflicht, sich an den in ethischen Urteilen zum Ausdruck kommenden Selbstbindungen auch im Tun konsequent zu halten, ergibt sich aber nicht aus einer Fremdaufforderung, sondern aus dem Stolz bzw. der aktiven Würde der handelnden Person selbst. Aufrichtigkeit und das zugehörige konsequente Urteilen und Handeln sind für Nietzsche die ethischen Grundnormen. Sie begründen Autonomie und auf dieser gründet sich die aktive Würde der Person. Gegenüber Kants Hervorhebung der Einhaltung von Normen wie etwa der Pflicht zur Wahrhaftigkeit als Bedingung der Funktionstüchtigkeit einer sozialkooperativen Institution wird hier die existentielle Be-
deutung von Selbstbindung und Aufrichtigkeit betont. Das wichtigste Charakteristikum einer kompetenten Person,
eines autonomen Menfür Nietzsche wie für daß er etwas versprechen und das schens, besteht in der Tat Kant, heißt, pars pro toto, das er sich selbst binden kann. Dabei ist dieses Können offenbar selbst schon in einer moralischen Gemeinschaft situiert. Es ist durch eine Wir-Gruppe der freien Personen und nicht einfach durch mich als Einzelwesen bestimmt. Zur weiteren Leistung einer Person als Mitglied einer entsprechenden Leistungsgemeinschaft gehört unter anderem, nachvollziehbare, insofern begründete, Urteile von anderen, willkürlichen oder bloß traditionalen zu unterscheiden. Wenn die Wir-Gruppe derer, die ethische Normen setzen und anerkennen, mit der Gruppe der Adressaten und Betroffenen zusammenfallt, können wir von einer autonomen Normenbegründung in der betreffenden Gemeinschaft sprechen. Schon Hobbes sah in der Idee dieser Form der Autonomie den einzig anerkennbaren Grund staatsrechtlichen Zwanges. Kant erkannte in ihr, entsprechend, die Basis moralischer Verpflichtung.
2.
Leistung und Schutz der Person
1. Eine der wichtigsten Grundprobleme jeder Ethik im allgemeinen, der Bioethik im besonderen betrifft nun die Frage nach der Differenzierung zwischen einem Kompetenzbegriff der Person und dem Begriff der Menschenwürde, gerade auch im Vergleich mit dem moralischen Wert ,höherer' Lebensformen, etwa von großen Menschenaffen, und der zugehörigen Schutzpflichten. Daß ein Wesen Wert oder Würde habe, unterstellt nämlich immer eine Wir-Gruppe, die wertet. Die Wir-Gruppe der Wertenden und die Klasse des mit Würde belegten Wesen fällt aber wenigstens in der jeweiligen Gegenwart oft nicht zusammen. Man kann das damit entstehende Problem im Kontext der Rede von einer allgemeinen Menschenwürde dadurch umgehen, daß man jedes menschliche Wesen als potentiellen Teilnehmer des Werte-Diskurses ansieht, wie Jürgen Habermas erwogen hat, oder daß man eine Art Anwaltschaft für das Wesen in einem solchen Diskurs verlangt, oder indem man ihm ohne weiteren Grund Würde zuspricht und
Pirmin
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jede Frage nach einem Grund einfach tadelt, wie Robert Spaemann gelegentlich vorgeschlagen hat. Die Probleme dieser Positionen werden klar, wenn wir das Folgende bedenken: Wer zum Beispiel sagt, daß wir allen menschlichen Wesen, daher auch allen Blastozysten, Zygoten, Embryonen, Feten nach dem dritten Monat und Säuglingen eine besondere passive Würde beilegen und damit einen absoluten Schutz ihrer Integrität gewähren sollen, spricht uns als Leistungspersonen an. Und er zählt sich zu uns. Daher sagt er „wir sollen" und „wir sollen". Dabei macht er, seinem eigenen Selbstverständnis zufolge, in der Regel nicht bloß den Vorschlag, daß seine Maxime als allgemeiner moralischer Grundsatz und Orientierung anerkannt werden möge, sondern er behauptet, sie sei schon sittliches Gesetz. Sie sei daher durch uns anzuerkennen. Er verlangt damit von uns, daß wir uns diesem Sittengesetz unterwerfen. Aber auf die Frage, mit welchem Recht er von uns die Anerkennung des von ihm wenigstens formulierten und ausgedeuteten Gesetzes verlangen kann, ist die einzig mögliche Antwort die, daß wir dem, was er vorschlägt (ggf. unter gewissen Bedingungen vernünftigen' Nachdenkens und Argumentierens) zustimmen (können). Das heißt, er kann uns nur zu einer entsprechenden Selbstverpflichtung aufrufen. 2. Wie wollen oder sollen wir nun aber bestimmen, welche Wesen von uns ggf. auch ohne jede Kompetenzprüfung als zu uns im Sinn einer Schutzgemeinschaft gehörig angesehen werden sollten? Wie wollen oder sollen wir unterscheiden zwischen dem sozialkooperativen Leistungsbegriff der Person bzw. des Personseins und dem moralischen Wertebegriff der Person? Das Wort „Person" ist im zweiten Fall vielleicht besser zu vermeiden. Man spricht besser von einem menschlichen Wesen, das in seinem Eigenwert, seiner Menschenwürde, als schützenswert gilt, möglicherweise ohne Rücksicht auf reale oder potentielle Leistungen für uns.1 Zunächst ist
es
einfach eine sozialkulturelle Tatsache, daß wir die Teilhabe
an unse-
Wertegemeinschaft, die Zugehörigkeit zu uns als menschliche Wesen im Sinn des Werte- oder Würdebegriffs, keineswegs abhängen lassen von einer Aufnahmeprüfung in eine gewisse Leistungsgruppe, etwa die der schon ,empfindsamen' oder ,bewußten' Wesen oder der selbstbewußten Personen, oder auch nur von besonderen Prognosen über eine zukünftige Leistung dieser oder anderer Art. Wir nehmen jedes Menschenrer
kind auf. Und wir sollten dies auch weiter tun. Der letzte Satz ist ein freies moralisches Urteil, ein Vorschlag zur weiteren Anerkennung der genannten Praxis. Als Grund, der, wie jeder Grund im freien Urteilen, nichts endgültig beweist, aber im Urteil zu berücksichtigen ist, ist unter anderem zu nennen: Eine Aufnahmeprüfung würde die Würde des je einzelnen Menschen erst einmal in Frage stellen. Sie untergrübe damit die keineswegs bloß religiös oder ,metaphysisch' fundierte Idee einer gewissen ,Heiligkeit' oder Unantastbarkeit' des menschlichen Lebens. Als präsumtive Unterstellung handelt es sich bei dieser Heiligkeit um die kontrollfreie Aufnahme in die Wertegemeinschaft der Menschen spätestens mit der Geburt. Soweit die religiöse Ethik die absolute Würde des ,
12
Robert Spaemann, Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 2001, bes. 107ff, 36Iff und406ff. Der bedenkenswerte Vorschlag zur Einschränkung des Personenbegriffs stammt von Sebastian Rödl.
Stolz und Würde der Person
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personalen Individuums gegen utilitaristische der Nutzenmaximierung verteidigt, verdient sie Unterstützung und Anerkennung. Allerdings ist der scheinbar stärkere Appell
eine transzendente Pflicht schwächer als der scheinbar schwächere Hinweis, daß eine entsprechende moralische Urteilsform von uns faktisch anerkannt wird und, unserem Urteil nach, auch Anerkennung verdient. Man könnte nun mit Nietzsche sagen, daß wir stolz genug sein sollten, diese kontrollfreie Aufnahme jedem Menschen zuzugestehen. Es ist gewissermaßen unsere eigene Würde, die wir lädieren, wenn wir dies nicht tun. Das betrifft gerade auch den Schutz der Schwachen, wobei Nietzsche in diesem Punkt durchaus unklar ist. Aber auch der Schutz nichtmenschlichen Lebens ist weder einfach im Blick auf unseren Nutzen, noch durch Hinweis auf deren Leiden und Begehren, sondern immer auch im Blick auf unseren Stolz zu begründen. In der gegenwärtigen Vernachlässigung der Natur gerade auch durch die Verwandlung von Natur- in Technikwissenschaft läßt sich eine tiefe Armseligkeit, Würdelosigkeit, der Lebenszielsetzung und Grundorientierungen des modernen Menschen erkennen. Stolz und Würde einer Leistungsperson setzt, wie Nietzsche weiß, disziplinäre Selbstformung unter anderem durch Einschränkung unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung und insbesondere eine entsprechende Distanz zur Vorherrschaft des technischen und ökonomischen Denkens voraus. 3. Manche, etwa Peter Singer, verbinden den Leistungsbegriff mit dem moralischen Wertebegriff so, daß es für die verschiedenen Ebenen der Schutzwürdigkeit, sozusagen, eine gestuften Aufnahmeprüfung gibt. Da z. B. Säuglinge in einem gewissen Alter ein geringeres Maß an Bewußtein und Selbstbewußtsein als ein erwachsener Gorilla oder Schimpanse zeigen, seien letztere zumindest ebenso zu schützen wie erstere. Es sind gute Absichten des Tier- und Primatenschutzes, die zu derartigen angeblich nichtanthropozentrischen, dafür hochgradig philosophenzentrierten Vorschlägen zur Anerkennung von Tierrechten und dann auch zu gewissen Gleichsetzungen von Tieren und Säuglingen führen. Eine mit der Singers durchaus vergleichbare utilitaristische und konsequenzialistische Position, wenn auch für eine enger gefasste Population, hatten auch die zu eugenischen Rassenethikern mutierten Darwinisten Erwin Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz13 vertreten. Sie hatten eine gesellschaftlich kontrollierte Geburtenkontrolle und die Tötung von Säuglingen, die (angeblich oder höchstwahrscheinlich) ohnehin keine glückliche Zukunft zu erwarten haben, aus Gründen der Leidensverminderung und der langfristigen Verbesserung der körperlichen und geistigen Gesundheit der Menschheit für moralisch legitim, ja wünschenswert gehalten. Die generelle moralische Ächtung an
13
Vgl. dazu die immer wieder als Mahnung an das, was angebliche Wissenschaft und wissenschaftliAufklärung auch sein kann, in die Erinnerung zu rufenden Ausführungen in Erwin Baur, Eugen
che
Fischer, Fritz Lenz, Menschliche Erblehre (= Bd. I) 4. Aufl. 1936 und Fritz Lenz, Menschliche Auslese und Rassenhygiene (Eugenik) (= Bd. II) 3. Aufl. 1930, 4. Aufl. 1932. Hier besonders Bd. II, 565: „Der Kern der Lehren Darwins besteht in der Erkenntnis, dass die Auslese entscheidend für die generelle Gestaltung der Organismen ist. [...] Das gilt auch für die menschlichen Rassen." [...] „Die Wahrheit der Lehre Darwins lässt sich auf die Dauer ebenso wenig unterdrücken wie die der Lehre des Kopernikus." [...] „Francis Galton, der Begründer der modernen Rassehygiene, hat der Hoffnung Ausdruck gegeben, dass die Rassehygiene ein Bestandteil der Religion werden möge."
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jeder (Kinds-)Tötung sei unvernünftig, das Gerede von der Menschenwürde und der Heiligkeit oder Unantastbarkeit des menschlichen Lebens sei unaufgeklärte Metaphysik, sagten auch sie. Die Zusatzbedingung, daß jedes gleich kompetente Wesen wertemäßig gleich zähle, scheint freilich einen Utilitaristen wie Peter Singer zunächst vom Verdacht der Verwandtschaft mit dieser Form einer utilitaristischen Verteidigung der Eugenik zu befreien. Und doch ist es in beiden Fällen gleich problematisch, den Wertebegriff der Menschenwürde davon abhängig zu machen, ob sich auf absehbare Weise ein einreichend glückliches' Leistungswesen entwickeln mag. Es gibt vielmehr gute Gründe, eine Beurteilung dieser Erwartung nicht zur Bedingung des Schutzes zu machen. Ein Grund liegt in der Gefahr des Mißbrauchs derartiger Erwartungsurteile, die keineswegs einfach kontrollierbar sind. Ein weiterer besteht darin, daß es in der Moral nie allein um die Vermehrung des Gesamtwohlbefindens von Menschen und bestimmten Tieren und um die Verminderung real empfundenen Leids geht, sondern darum, welche Form des (gemeinsamen) Lebens wir insgesamt, unter Einbezug von Kontingenzen, als gut und schön im klassischen Sinn der Kalokagathia anerkennen können. Ein Leben, in das wir in vielen Dingen nicht handelnd eingreifen, kann zum Beispiel besser sein oder wenigstens als besser anerkannt sein, als ein Leben, das nach dem Muster des Herdenglücks mit dessen oberster Maxime der Zufriedenheit durch Sättigung
unmittelbarer Bedürfnisse verfaßt ist, wie Nietzsche an vielen Stellen ebenso sarkastisch wie provokativ formuliert. Wertungen, die auf den Stolz des autonomen Urteilens und Handelns abstellen oder auf die Würde der Person und des Menschen, gehen keineswegs direkt Hand in Hand mit der je eigenen oder der allgemeinen Leidensverminderung und der Maximierung der Erfüllung irgendwelcher unmittelbarer Begierden oder Präferenzen', es sei denn, man faßt unter dem Titel der Präferenz das Kraut der direkten Lusterfüllungen mit den Rüben der Formen des Lebens autonomer Personen in einer gut verfaßten Gesellschaft zusammen. Wie soll nun entschieden werden, ob und wie sich die Menschenwürde auch auf nicht schon geborene menschliche Wesen, auf Feten, Embryonen und Zygoten bezieht? Oft tut man so, als sei das gar keine Frage, da befruchtete Eizellen offenkundig menschliche Wesen seien, für welche der Würdeschutz des Menschen selbstverständlich gilt. Das aber ist nicht einfach der Fall. Die Ethik der Menschenwürde bezieht sich seit langem auf das geborene Kind, nicht auf das mit der Zeugung erzeugte Wesen, die Zygote. In diesem Punkt behält Volker Gerhardt mit seinen Thesen zur Geburtlichkeit der Person Recht14: Traditionell (wenn auch erst seit ca. 2000 Jahren) zählt, wie schon Hannah Arendt betont hatte, in ganz eminenter Weise die Geburt als Aufnahme in die Wertegemeinschaft der Menschen. Nun reicht aber der Hinweis auf die Tradition nicht aus, auch wenn er durchaus nicht unerheblich ist. Er reicht insbesondere deswegen nicht aus, weil es andere Traditionen und die Möglichkeit der Traditionsrevision gibt. Die Praxis der kontrollfreien Aufnahme der Neugeborenen in die Gemeinde war z. B. weder im Mittelmeerraum noch im Norden Europas vor dem Christentum anerkannt gewesen. Daß es gerade in der christlichen Tradition keine Aufnahmeprüfungen in der Wertegemeinschaft der Menschen für geborene Kinder geben darf, kann man allerdings als 14
Vgl. Volker Gerhardt, „Der Mensch wird geboren", in: Merkur. Deutsche sches Denken, Nr. 625 und das Buch mit dem gleichen Obertitel, a. a. O.
Zeitschrift für europäi-
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kulturellen Fortschritt werten, und zwar zunächst gegenüber den Traditionen, in welcher der pater familias noch nach der Geburt darüber entscheiden konnte, ob das Kind in der Familie bleibt oder etwa ausgesetzt wird. (Anonyme Babyklappen fuhren aufgrund bekannter Probleme eine analoge und möglicherweise in ihren Folgen noch gar nicht hinreichend bedachte Praxis heute wieder ein, nur daß hier in der Regel eher die Mutter entscheidet, ob sie das Kind ,abgeben' will.) Allein schon diese Entscheidungsmacht des Familienoberhaupts war ,moralisches Unrecht', auch wenn die Sitte sie erlaubte: Es wurde damit wesentlich den Frauen und Müttern unrecht getan, die ja oft genug mit dem Entscheid nicht einverstanden waren, wie man den Überlieferungen entnehmen kann. Eben daher bedeuten auch die Vorschläge der Eugeniker einen moralischen Putsch gegen das anerkannte moralische und rechtliche Verbot jeder Kindstö-
tung.
gibt dann
aber auch gute Gründe, schon das ungeborene menschliche Leben, den schützen. Künstlich eingeleitete Fehlgeburten im Endstadium einer SchwanFetus, sind zum gerschaft Beispiel von Kindstötangen kaum zu unterscheiden. Mit der Frage, ab wann der Fetus gleiche oder ähnliche Schutzrechte genießen soll wie das geborene Kind, beginnt dann aber eine neue Reihe von Problemen, die sich mit Volker Gerhardts Beharren auf der Geburtlichkeit nicht schon beantworten lassen. Dabei scheint es zunächst, als sei jede andere Festsetzung des Bereichs des schützenswerten menschlichen Lebens problematisch, die nicht bis zurück zur befruchteten Eizelle geht, und zwar erstens wegen der Willkür der Festsetzung des Zeitpunktes, und zweitens wegen der Gefahr einer selektiven Beurteilung, welche der in ihrer Identität schon bestimmten potentiellen Menschen zu wirklichen Menschen werden dürfen, welche nicht. Der Schutz des geborenen und dann auch des ungeborenen menschlichen Lebens ist in erster Linie Schutz gegen jede Fremdbestimmung durch Selektion angeblich unwerten Lebens. Es geht dabei aber nicht nur um den Schutz von Mutter, Kind und Familie, denn niemand, weder der Vater, noch die Mutter, noch die ganze Familie oder gar ein fremdes Gremium sollte einseitig über die Aufnahme oder Nichtaufnahme in die Schutz- und Wertegemeinschaft der Menschen befinden dürfen: Das können wir alle wollen, wenn wir nur beachten, daß Fragen des Umgangs mit extremen Fällen ,unnötigen Leidens' hoffnungslos beschädigter Menschen von ganz besonderer Art sind und nicht als ethische Normalfallfragen zu behandeln sind. Soweit wir einem entsprechende Verbot zustimmen, sind wir an es gebunden. Daß nicht alle ihm zustimmen, ist nun aber genau das Problem. Es läßt sich nicht einfach dadurch lösen, daß man sagt, man müsse ihm zustimmen. Man kann für die Zustimmung werben und dabei Gründe für sie nennen. Wie wir mit den in solchen Fällen immer auch abweichenden Urteilen über Formungen des gemeinsamen und individuellen Lebens umgehen, daran entscheidet sich, ob wir ein freie Moral praktizieren, ob wir freie Personen sind, oder ob wir uns doch noch eher an den Zeiten orientieren, in denen neben der impliziten Tradition geistliche Führer wie Seher oder Propheten oder Priester festsetzen durften, was moralisch erlaubt ist und was nicht, während weltliche festgesetzt haben, was als Recht anzuerkennen ist. 4. Wo aber ein mehr oder minder diffuser gesamtgesellschaftlicher Nutzen etwa medizinischer Forschung über Personenrechte gesetzt und der absolute Schutz vor fremdbestimmter Unterordnung unter ein Gemeinschaftsinteresse aufgehoben wird, werden Es
zu
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die Verhältnisse insgesamt unmoralisch. Hier schlägt die Ethik des Utilitarismus in Anti-Ethik um, weil die Leidensverminderung und die Nutzenmaximierung, die nur ein Gesichtspunkt im ethischen Urteilen sein darf, zu dem Gesichtspunkt gemacht wird. Utilitaristische Erwägungen, die auf die Anzahl der Menschen abstellen, die in gewissen Notsituationen gerettet werden können, wenn man andere sterben läßt, sind sogar für die moralische Beurteilung einer Handlung weitgehend irrelevant. Es gibt überhaupt keine allgemeine moralische Pflicht, der größten Zahl von Menschen maximale Hilfe angedeihen zu lassen. Wer zum Beispiel gerade damit beschäftigt ist, ein Kind aus einem Brand zu retten, muß dieses nicht aufgeben, nur weil er sieht, daß er, wenn er anderes täte, vielleicht sogar 100 retten könnte. Er wird in einem solchen Fall wahrscheinlich das eine Kind aufgeben, es sei denn, es ist sein eigenes. Es wäre aber moralisch ganz unbedarft, ihn zu kritisieren, falls er es nicht tut und erst die angefangene Handlung zu Ende bringt. Ein rechtliches Urteil wäre verrückt, das ihn in einem solchen Fall wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilte. Eine Frage der inzwischen allzu oft gestellten Art, was wir zuerst retten würden, fünf Säuglinge, eine Mutter mit Kleinkind, drei alte Männer oder viele befruchtete Eizellen, sagt daher auch überhaupt nichts über die moralischen Wertigkeiten der betreffenden Wesen oder Rettungstaten aus, auch wenn wir in einem entsprechenden Fall den Retter von Eizellen für verrückt erklären würden. Es wäre aber durchaus ebenso verrückt, ihn rechtlich für seine Verrücktheit zu belangen. Daß man auf diese oder ähnliche Weise eine Art .moralische Intuitionenpumpe' in Gang setzen könne, ist sozialethischer Aberglaube. Das Gegenteil ist der Fall. Die subjektiv gute Absicht utilitaristischer und konsequenzialistischer Sozialethik, die vermeintliche Beförderung des allgemeinen Wohls von Mensch und Tier, kann sogar nach wie vor, wie im Nationalismus und wie im Sozialismus, zu einer Aufhebung des absoluten Wertebegriffs des individuellen Menschen und der einzelnen Person führen. Es wird dann nicht mehr danach gefragt, wie wir leben wollen, sondern es wird uns gesagt, wie wir angeblich leben müssen. Auch bei riesigen Nutzenerwartungen und Erfolgschancen darf man keinen Menschen zu Forschungs- oder Heilzwecken gebrauchen oder gar ausschlachten'. Vielmehr sind viele Dinge, die man so vermeiden könnte, als unvermeidlich zu ertragen. Es gibt außer in extremen, ggf. tragischen, Notsituationen, die schon bei Kant mit Recht aus dem moralischen Diskurs ausgeklammert worden waren keine moralische Erlaubnis, einen Unschuldigen aktiv zu opfern, etwa damit ein ganzes Volk keinen Schaden leide. In solchen Fällen hat ,das Volk' eben den Schaden zu leiden. Der Fall der verbrauchenden Forschung mit so genannten Embryonen, genauer: mit befruchteten Eizellen, wäre klar, wenn er von dieser Art wäre: Die Forschung wäre moralisch verboten. Und wir hätten guten Grund, sie auch rechtlich zu verbieten.15 Doch der Fall der verbrauchenden Genforschung ist nicht einfach von dieser Art und sollte auch nicht verbal einfach so dargestellt werden, als wäre er von dieser Art. Zygoten sind zwar keine bloßen Zellhaufen. Sie sind aber auch (noch) keine Menschen oder Personen, und zwar weil wir mit gutem Grund nicht unbedacht so reden wollen und sollen. Andererseits wäre der einzige mögliche Grund für eine Erlaubnis des ,Ver-
-
15
Dieses zu sagen, heißt zunächst natürlich, daß ich unter der genannten Prämisse das Verbot mittragen würde.
entsprechende
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brauchs' befruchteter Eizellen, der Anerkennung verdienen könnte, der, daß wir diese Wesen im Blick auf die Vermeidung von Verwirrungen unserer Rechts- und Moralurteile wirklich nicht als Feten, Menschen oder gar Personen ansprechen und behandeln. Und das hieße nichts anderes, als daß wir ihnen keinen moralischen und rechtlichen Status zuweisen, der von der gleichen Art ist, wie wir ihn vielleicht schon für Embryonen nach der Nidation vorsehen oder dann erst recht für Föten nach dem 3. Monat bzw. für schon geborene Menschen. Der besondere Schutz des Fetus findet nun aber durchaus weitgehende Anerkennung, gerade auch bei den von diesem Schutz primär Betroffenen, den Müttern und den Vätern, zumal er auch den Schutz gegen Fremdeinwirkungen, etwa auch durch Ärzte, enthält. Wegen der Probleme der freien Anerkennung des erwarteten Kindes durch die Mutter ist dieser Schutz allerdings nicht absolut, sondern längst schon systematisch abgestuft, und zwar durch die Regelungen für die rechtliche Erlaubnis oder auch nur Straflösigkeit einer künstlichen Fehlgeburt. Im Unterschied zum Fetus genießt ein geborenes Kind einen absoluten rechtlichen Schutz. Er ist völlig unabhängig von der Zustimmung von Mutter oder Vater. Im Blick auf faktische Anerkennungen gibt es heute noch keinen ausreichenden Grund für ein moralisches Verbot der Forschung mit Zygoten jedenfalls sofern die ,Eltern' einwilligen. Denn es ist faktisch einfach falsch zu behaupten, daß wir (alle) ein solches Verbot wollen oder auch nur wollen können. Diejenigen unter uns, die auf Heilungschancen hoffen, werden es nicht wollen. Und die unter uns, welche, wie ich, diese Hoffnung für einen guten Grund halten, werden es aus Solidarität ebenfalls nicht wollen. Kurz: es gibt zu viele wirklich direkt von einem entsprechenden Verbot Betroffene in der Leistungsgemeinschaft von Personen, welche anders urteilen als die, die sich, obwohl sie nicht betroffen sind, für betroffen erklären. Und die bloße Erklärung der Betroffenheit sollte als Argument nicht ausreichen, um die Betroffenen zu überstimmen. Es ist nämlich ein moralisches und ein rechtliches Prinzip, daß man die Lasten einer Norm nicht ohne Kompensation einer Personengruppe auferlegen soll bzw. darf, deren Zustimmung auch ,im Prinzip' nicht zu erhalten ist. Hinter dieser Formulierung verbergen sich freilich noch viele Detailprobleme, die hier nicht näher behandelt werden können, z. B. wie weit jemand, der sich betroffen erklärt, lädiert wird, wenn man seine Betroffenheitserklärung nicht weiter zählt. 5. Da nach der entsprechenden Anerkennung einer sprachlich differenzierten Unterscheidung bei der Präimplantationsdiagnostik oder einer entsprechenden Forschung mit Zygoten niemand geschädigt würde, es aber viele Personen gibt, die mit guten Gründen ein Interesse an diesen Techniken nehmen, scheint es daher zunächst sogar so, als dürften wir aus moralischen Gründen diese Praktiken und Forschungen wenigstens nicht rechtlich verbieten, da wir mit einem solchen Verbot niemanden schützen, aber einige, nämlich Kranke oder Behinderte oder unfruchtbare Eltern, die auf Hilfe hoffen, schädi-
gen bzw. ohne zureichenden Grund in ihren Freiheiten einschränken, nämlich auch die Forscher und die Vermarkter der Ergebnisse. Das einzige, was wir in einem solchen 16
Vgl. dazu auch Hubert Markl, „Rom liegt jenseits des Rubikons. ,Menschsein' ist kulturell, nicht biologisch definiert. Ein Plädoyer für die Freiheit und die Embryonenforschung", in: Süddeut-
sche Zeitung, 143/2001, 25. Juni 2001, 14.
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Fall tun könnten, wäre, frei an die Personen zu appellieren, umsichtig und verantwortungsvoll mit den Möglichkeiten biotechnologischer Verfahren umzugehen. Man könnte dann z. B. auch Eheleuten raten, auf Methoden wie die In-vitro-Fertilisation ganz zu verzichten, nicht nur, weil dabei ,überzählige' Zygoten entstehen, sondern auch wegen der bekannt hohen psychischen Belastung, und statt dessen vielleicht sogar generell empfehlen, die Erfüllung eines Kinderwunsches dem Zufall zu überlassen oder sich um eine Adoption zu bewerben. Da diese Empfehlungen an die einzelnen Personen adressiert sind, verbleiben sie in der Sphäre des moralischen Appells. Vielleicht wäre es auch gut, wenn sie da verbleiben könnten, zumal zu bedenken ist, daß auch der Staat in seiner Rechtsetzungskompetenz moralischen Beschränkungen unterliegt. Es ist ja nicht einfach so, daß alles, was legal, etwa im parlamentarischen Mehrheitsentscheid, als Gesetz verabschiedet ist, per se moralische Anerkennung verlangt oder gar anerkennungswürdig ist. Man denke nur an so drastische Fälle wie der Nürnberger Gesetze oder an andere, legal zustandegekommenen Gesetze, die moralisch gesehen ,unrecht' sind. Die bisherigen Argumente sprechen stark für einen Verzicht auf rechtliche Verbote der Zygotenforschung über den Schutz des Embryos nach der Nidation hinaus. 6. Zur gegenwärtigen Zeit braucht man nun aber möglicherweise doch staatliche Zwangsgesetze zur restriktiven Regelung biotechnischer Forschung. Der Grund liegt in der berechtigten Skepsis in Bezug auf kaum vermeidliche Nebenfolgen, die sich aus der Verfolgung des jeweiligen Eigeninteresses von Forschern und Firmen, von Eltern und dann etwa auch der Versicherungswirtschaft ergeben können. Es ist zum Beispiel zu erwarten, daß eine allzu zielgerichtete Orientierung an den Eigenschaften eines Wunschkindes eine gute Form des menschlichen Zusammenlebens und der Erziehung in einer Familie oder in einer analogen, gerade auch durch die Kultur der Liebe getragenen, Gemeinschaft gefährdet. Daß die Familie durch mögliche Vorwürfe wegen gentechnischer Fremdbestimmung oder auch wegen unterlassener Genkontrolle belastet werden kann, ist eher ein Zusatzproblem, das in den Argumenten von Jürgen Habermas gegen eine entsprechende Biopolitik möglicherweise weit überbewertet wird.17 Der Zweifel daran, daß die biologische Forschung im Blick auf die Möglichkeiten des Klonens und einer Aufzucht ,im Reagenzglas' die zu erwartenden Folgen unter Kontrolle halten kann, wird um so größer, je mehr die verantwortungsbewußte Selbstkontrolle der Forschungsziele, Methoden und Folgen innerhalb der universitas litterarum erodiert. Diese Erosion liegt nicht zuletzt daran, daß sich die mehr oder minder direkt verwertbaren Wissenschaften wie die Physik oder Biologie als Leitwissenschaften verstehen und daß allzu selbstsichere Experten den Diskurs mit der Öffentlichkeit am Ende unter reinen Werbegesichtspunkten führen. Mit dem Verzicht auf Teilnahme an einem ernsten inner- und außerakademischen Kontrolldiskurs, der die Mühen historischer, ethischer und literarischer Bildung und damit eine besondere Form der Erfahrung voraussetzt, zerfallt auch die Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Disziplinen. Handverlesene Expertenkommissionen zur Technikfolgenabschätzung und moralischen Wertung können den sich daraus ergebenden Verfall des Vertrauens in die autonome Verantwortlichkeit von Wissenschaft im Ganzen durchaus nicht kompensieren, zumal in ihnen viel zu wenige Stimmen Gehör finden. Bildung wird nur noch als Feigenblatt, 17
Jürgen Habermas, a.
a.
O.
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in kompensierender Funktion zur Zementierung der Vorherrschaft eines im Wesentlichen auf Technik reduzierten Wissenschaftsbetriebs geduldet, nicht mehr als unverzichtbarer Teil autonomen wissenschaftlichen Denken anerkannt oder auch nur begriffen. Dies macht es letztlich unmöglich, auf eine politische Willensbildung und die Setzung staatsrechtlicher Verbote bestimmter Forschungen am Menschen zu verzichten, obwohl eine frei verantwortliche Moralität im Urteilen und Handeln gerade auch im Innern subsidiar verfaßter Institutionen Zwangsregeln überflüssig machen könnte und im Übrigen auch zu einer besseren Kooperation und einem besseren Leben führen würde. Aber dazu hätte man immer auch die Mühsal des freien diskursiven Streits um das ethisch Erlaubte und um das wissenschaftlich Sinnvolle zu ertragen. Und man hätte eine entsprechende Selbstkontrolle zu praktizieren. Ohne sie gibt es auch in Korporationen keine Autonomie. Entscheidungen über die Förderung von Forschungen und Forschern werden mehr und mehr aus der freien Selbstverantwortung entbunden und von einer Nachfrage nach Ergebnissen abhängig gemacht. Diese ist ihrerseits schon weitgehend abhängig von einer wirtschaftlichen Ordnung mit ihren Verfahren der Kosten- und Nutzenbewertung. Die scheinbar so funktionstüchtige Departementalisierung ersetzt in diesem Rahmen den freien Bildungsdiskurs durch extern gesteuerten Wettbewerb. Wissenschaftler werden zu ,Brotgelehrten' (F. Schiller). Eine so organisierte Wissenschaft denkt nicht (Heidegger). Sie reflektiert nicht auf die Grenzen der Vernunft reiner Nachfragesteuerung und wird damit in vielfachem Sinne rahmenblind und heteronom. Für Nietzsche zeigt die Tendenz zum Verzicht auf die Mühe autonomer Selbstdisziplin gerade auch in der Wissenschaft zu Gunsten der Orientierung an einer mehr oder weniger unmittelbaren Herdennachfrage oder an dem Entscheid kleiner Gruppen von Peers einen Verfall autonomer humaner Bildung und Kultur. Die Jetzten Menschen' sind das Ergebnis dieser Tendenz. Sie glauben an den Sieg der Methode über die Wissenschaft, und damit daran, alles Wesentliche zu wissen. Sie meinen, die richtigen wissenschaftlichen Techniken gefunden zu haben und sich über die Vergangenheit und deren angeblichen Vorurteile erheben zu können. Der letzte Mensch ist der moderne Sophist, der in seiner am Nutzen orientierten Tüchtigkeit und seiner Selbstgerechtigkeit seinen eigenen Ort nicht mehr selbstständig begreift und sich vor der Offenheit des freien, nicht berechenbaren, daher angeblich unwissenschaftlichen Diskurses gewissermaßen fürchtet und damit Angst hat vor jeder Autonomie. -
Karen Joisten
Der Weg Zarathustras als der Weg über den Menschen Nietzsches Überwindung der Anthropozentrizität als philosophische Herausforderung unserer Zeit
Grundsätzlich betrachtet gibt es zwei Möglichkeiten, beim Lesen eines Nietzschetextes mit Nietzsche in ein Gespräch zu treten. Man kann erstens versuchen, möglichst genau dessen Position zu rekapitulieren, also in einer detaillierten hermeneutischen Untersuchung die spezifische Auffassung dieses Philosophen kenntlich machen. Im Anschluß daran vermag man sie zu widerlegen, oder auch ihre Bedeutung mit Nachdruck zu bekräftigen. Man kann zweitens die eigene Sicht in den Vordergrund rücken und gleichsam mit dieser eigenen Brille Nietzsche in den Blick nehmen. Hier geht es weniger um die geistige Durchdringung seiner Auffassung als um die Bestätigung der eigenen Perspektive, zu deren Zweck man sich Nietzsche zuwendet. Bei der ersten Lesart kann der Interpret leicht in die Gefahr geraten, sich in der Subtilität seiner Auslegung zu verlieren und nur demjenigen einen intellektuellen Gewinn zu gewähren, der den Text erst gestern, heute, oder eben erst gelesen hat. Bei der zweiten Lesart kann der Interpret leicht den Lesern im Galopp seiner eigenen Gedanken davon jagen, was zu der Frage führen kann, ,was hat das mit Nietzsche zu tun?' In der Nietzscheforschung sind beide Lesarten, die jede für sich ihre Berechtigung hat, reichlich vorhanden. Im folgenden geht es mir darum, weder die eine noch die andere zu wählen, sondern einen Mittelweg einzuschlagen. Dies geschieht nicht aus Wankelmut oder Unentschiedenheit, sondern aufgrund der Absicht, mich weder in den filigranen Netzen der Nietzscheworte verfangen zu wollen, noch mich in der Selbstverliebtheit eigenen Denkens zu bespiegeln. Anders gesagt: Es geht darum, mit Nietzsche ernst zu machen und seine durch Zarathustra ausgesprochene Forderung, nämlich die der Überwindung des Menschen zugunsten des Übermenschen zu deuten und sie für unsere Zeit fruchtbar zu machen. Ja es geht darum, in ihr den Appell zur Überwindung der Anthropozentrizität zu erfassen, der uns mehr denn je, nicht zuletzt durch die Entwicklung in der Gentechnik, der Robotik, der KI-Forschung, der Nanotechnik und der Medientheorie philosophisch herausfordert. Denn auch hier sind deren Protagonisten auf dem besten Wege den leibhaften, konkreten Menschen theoretisch hinter sich zu lassen und entschieden für einen neuen, einen anderen Menschen, der qualitativ vom bisherigen grundsätzlich differiert, einzutreten.
Karen Joisten
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dabei gegenüber sehen, ist eine zweifache. So haben die sich auf das für ihn gewollte Künftige beziehen, Aussagen, einen appellativen Charakter. Nietzsche deckt nämlich mit seismographischem Gespür begabt, nicht nur schonungslos vergangene Fehlentwicklungen auf, er nimmt auch solches vorweg, was der Mensch werden sollte, weil er es seiner höchsten Möglichkeit nach sein kann. Daher bezeichnet sich Zarathustra in der Rede „Von der Erlösung" als ein „Seher": „Das Jetzt und das Ehemals auf Erden ach! meine Freunde das ist mein Unerträglichstes; und ich wüsste nicht zu leben, wenn ich nicht noch ein Seher wäre, dessen, was kommen muss." (KSA, ZA, 4, 179) Zarathustra nimmt in der Schau und in seinem goldenen Wort vom Übermenschen voraus und vorweg, was vom Menschen, der auf ihn hört und ihn anschaut, schließlich eingesehen und handelnd eingelöst werden soll.1 Dieses Reden vom Kommenden bewegt sich auf dem Boden des Hypothetischen und des von Nietzsche gewollt und gewünscht Plausiblen, das von ihm mit einem hohen Überzeugungsgrad und mit einem starken appellativen Charakter gesättigt wird, um uns ansprechen zu können. Überhören oder übersehen wir diese Ansprache, geht es uns wie dem Volk, das über Zarathustra bei seiner Übermenschenrede lacht und wir streifen die Chance Nietzsche, uns in der Selbstverständlichkeit unseres Handelns zu irritieren und das Denken ins Stolpern zu bringen, allzu leicht mit der Geste ,das ist bloße Spekulation' von uns ab. Die zweite Schwierigkeit, der wir uns gegenüber sehen, besteht in dem hypothetischen Charakter, der auch unserem Reden über Nietzsche und den Positionen, die sich seiner philosophischen Herausforderung stellen, zu eigen ist, ja eigen sein muß. Denn auch sie wollen in der Voraus- und Vorwegnahme von Künftigem solches zur Sprache zu bringen, was sich nicht beweisen, sondern nur verdichtend aufweisen läßt und was als höchst Wahrscheinliches möglichst überzeugend zu wirken vermag. Anders gesagt: Will man mit Nietzsche die Überwindung der Anthropozentrizität denken und will man ihr gegen Nietzsche eine andere Ausgestaltung geben, hat man, wie er es in den genannten Worten Zarathustras gesagt hat, ein Seher man könnte auch sagen .Visionär' zu sein. In unserer Zeit haben sich darin mit unterschiedlichen Vorzeichen etwa Vilém Flusser, Marvin Minsky, Bill Joy, Ray Kurzweil und Hans Moravec versucht, also solche Theoretiker im echten Sinne des Wortes, die sich eher durch Schau, Intuition, Gespür und Originalität, als durch wissenschaftliche Strenge auszeichnen und auszeichnen müssen, um diese Aufgabe auf sich nehmen zu können. Der vorliegende Beitrag ist in drei Teile gegliedert. In einem ersten Teil versuche ich, Nietzsches Intention einer Überwindung der Anthropozentrizität angesichts seiner Forderung, daß der Übermensch der Sinn der Erde sein soll, darzulegen; in einem zweiten Teil skizziere ich anhand der Positionen von Marvin Minsky und von Vilém Flusser zwei gegenwärtige Versuche, die sich mit unterschiedlichen Vorzeichen ebenfalls die Die
zum
Schwierigkeit,
der wir
uns
einen Nietzsches
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In der sog. ,Übermenschenrede' im 4. Abschnitt von „Zarathustra's Vorrede" schreibt Nietzsche: „Ich liebe Den, welcher goldne Worte seinen Thaten voraus wirft und immer noch mehr hält, als er verspricht: denn er will seinen Untergang." (KSA, ZA, 4, 17f.) Die goldenen Worte sind echte Worte, denen das Philosophieren mit einem Hammer nichts anhaben kann. Sie bringen Dichte, Glanz und höchste Möglichkeit des Menschen zum Ausdruck, künden also solches an, was vom
Menschen
versprechend ausgesprochen auch realisiert werden soll.
Der
Weg Zarathustras als der Weg über den Menschen
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Überwindung des Menschen als solchen zur Aufgabe machen; und in einem dritten Teil
geht es mir darum, von Nietzsche aus zu diesen zeitgenössischen Varianten eines Überwindungsversuchs des Menschen Stellung zu beziehen. 1. Nietzsches Forderung „Der Übermensch sei der Sinn der Erde!" „Vorrede"
Also sprach Zarathustra formuliert Nietzsche, ohne dies explizit hervorgehoben haben, die drei Grundsätze seines Philosophierens."" So stellt Zarathustra das geschichtliche Faktum der Wirkungslosigkeit Gottes fest, was in dem ersten Grundsatz, „dass Gott todt ist! -" (KSA, ZA, 4, 14) seinen Ausdruck findet. Auch lehrt Zarathustra die Überwindung des bisherigen Menschen, der sich nicht dem Willen zur Macht entsprechend nach vorwärts und oben entwickelte, sondern moralisch verkümmerte und degenerierte. Der zweite Grundsatz lautet daher: „Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll." (ebd.) Und schließlich fordert Nietzsche, worin die eigentliche Stoßrichtung seines Dichtens und Denkens zu sehen ist, den Übermenschen, was in dem Grundsatz „Der Übermensch sei der Sinn der Erde!" ausgesprochen wird. Das meint, daß Nietzsche nach dem Tod Gottes nicht beim Menschen stehen bleiben möchte, um ihn zu verbessern, oder um gar für das, was als das Menschliche des Menschen angesehen werden könnte, einzutreten, sondern daß er und hier zeigt sich die Radikalität Nietzsches den Menschen als solchen überwinden will, um den Übermenschen, der grundsätzlich vom Menschen differiert, anzuzielen. Ich sage es deutlich: Nietzsches Schau stellt eine Art inhumane Utopie dar, bei der der Übermensch derjenige NichtmehrMensch ist, der sich durch den Menschen entwickeln kann und soll und der den bisherigen Menschen als Menschen hinter und unter sich gelassen hat. So schreibt er ausdrücklich: „Hinweg über euch Menschen lockt mich alle Schönheit: fort von allen Göttern lockt mich alle Schönheit: so warf ich Anker auf offenem Meere und sagte: ,hier sei einst die Insel des Übermenschen!'" (KSA, NF, 10, 429) Und im Zarathustra heißt es: „Die Sorglichsten fragen heute: ,wie bleibt der Mensch erhalten?' Zarathustra aber fragt als der Einzige und Erste: ,wie wird der Mensch überwunden?' Der Übermensch liegt mir am Herzen, der ist mein Erstes und Einziges, und nicht der Mensch: nicht der Nächste, nicht der Ärmste, nicht der Leidenste, nicht der Beste". In der
zu
zu
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(KSA, ZA, 4, 357)
Schaut man auf die zahlreichen „gefährlichen Wege", die sich Zarathustra in Nietzsches reifster Schrift Also sprach Zarathustra zu bahnen versucht, um sich selbst die ihm und dem Menschen entsprechende Ausrichtung auf den Übermenschen zu geben, dann zielen diese Wege letztlich auf den Weg über den Menschen. Das meint, daß der Weg Zarathustras in der Vielzahl und Vielfalt seiner Haupt- und Nebenwege, aber auch Sackgassen und Holzwege, darin ausgezeichnet ist, daß Zarathustra mit der Deutung des Menschen als dem „noch nicht festgestellte^) Thier" ernst macht, (KSA, JGB, 5, 81) sich also der Notwendigkeit des Sich-richten-Müssens als ureigenster menschlicher Zu den
folgenden Ausführungen vgl.
zentrizität durch Friedrich ist.
insb. meine
Untersuchung Die Überwindung der Anthropo-
Nietzsche, Würzburg 1994, in der das Gesagte ausfuhrlicher dargestellt
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um dadurch irgendwann dem Menschen die Chance zu eröffnen, den Menschen hinter und unter sich zu lassen. Zarathustra bemüht sich demnach darum, die an den Menschen ergehende Forderung, „der Übermensch sei der Sinn der Erde" einzulösen und ihr wissentlich und willentlich während seines Unterwegsseins zu entsprechen. Der vielfach verästelte Weg Zarathustras in seiner Gerichtetheit auf den Übermenschen kann daher nicht nur, wie es in der Nietzsche-Forschung die präferierte Lesart ist, als der Weg des Menschen gedeutet werden, er kann darüber hinaus in einer zweiten Lesart, die m. E. eher Nietzsches Intention entspricht, als der Weg über den Menschen hinaus verstanden werden. Und das meint, daß er der Weg ist, durch den der Mensch nicht zu sich selbst gelangt, sondern das je Menschliche des Menschen hinter und unter sich läßt. Indem der Mensch demnach sein prinzipielles Unterwegssein einlöst und zugleich das Ziel Übermensch dabei anvisiert, läßt er sich selbst als Mensch dabei hinter und unter sich zurück. Er geht buchstäblich über sich hinaus, geht also von sich weg und fort und auf das andere seiner selbst hinaus: „Ihr Einsamen von heute, ihr Ausscheidenden, ihr sollt einst ein Volk sein: aus euch, die ihr euch selber auswähltet, soll ein auserwähltes Volk erwachsen: und aus ihm der Übermensch." (KSA, ZA, 4,
Aufgabe stellt,
lOOf.)
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Versucht man das bisher Gesagte zur Veranschaulichung in ein Stufenschema zu bringen, dann macht Nietzsche weder bei der theozentrischen Stufe halt, bei der der Mensch sich auf das Göttliche hin zu überschreiten versucht; noch will Nietzsche bei der Stufe Anthropozentrismus stehen bleiben, bei der der Mensch das Menschliche seiner selbst zu verwirklichen versucht, um dadurch seine Humanisierung im Sinne seiner Verbesserung, Verfeinerung oder Erhöhung zu erreichen. Vielmehr intendiert er im von ihm geforderten Sich-Ausrichten des Menschen auf den Übermenschen, sowohl die Stufe Gott als auch die Stufe Mensch hinter sich zu lassen, um in eine Dimension vorstoßen zu können, die transanthropologisch, genauer gesagt, die trans-theoanthropologisch genannt werden kann. Um die genannte Position Nietzsches genauer zu fassen, sollen folgende Fragen beantwortet werden: Wie ist für Nietzsche der Mensch seiner Möglichkeit nach verfaßt, damit überhaupt die Chance seiner Überwindung besteht? Was heißt bei Nietzsche Überwindung des Menschen? Und schließlich: Was meint Überwindung der Anthropozentrizität? Nietzsches anthropologische Grundthese, die auf die Frage ,Wie ist der Mensch?' Antwort gibt, kommt in den berühmten Worten Zarathustras zu Beginn des 4. Abschnittes in der „Vorrede" zum Ausdruck: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, ein Seil über einem Abgrunde. Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben. Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist." (KSA, ZA, 4, 16f.) Die von Nietzsche hier vorgelegten Umschreibungen des Menschen als „Seil", ein „gefährliches Hinüber", „Brücke" und „ein Übergang und ein Untergang" charakterisieren nicht diese oder jene menschliche Seite, die durch eine Vielzahl weiterer Charakte-
Der
Weg Zarathustras als der Weg über den Menschen
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ristika beliebig ergänzt werden könnten. Sie sind vielmehr als strukturelle Bestimmungen zu lesen, die zum Ausdruck bringen, daß der Mensch als Seil ein Zwischen-Sein ist, also wesentlich ein schmaler Grat zwischen einer Her- (Tier) und einer Hinkunft (Übermensch) bedeutet; daß er als ein gefährliches Hinüber ein gefährliches gerichtetes Unterwegssein ist, wobei die Gefahr medial zu verstehen ist, er also konstitutionell betrachtet, sich selbst gefährlich zu sein hat; daß der Mensch als Brücke kein Selbstzweck ist, sondern ihm ein Übergangs- bzw. Verbindungscharakter zukommt; und daß er schließlich als ein Übergang und ein Untergang stets von neuem einen Höhepunkt anstreben muß, von dem er hinunter- und hinübergehen kann, zu einem anderen, einem neuen
Anfang.
Denkt man diese Strukturbestimmungen zusammen, dann sieht Nietzsche den Menschen der Möglichkeit nach als ein gefährliches Unterwegssein zwischen seiner Herkunft Tier und seinem Ziel Übermensch an. Der Mensch geht nicht nur hier und da einen Weg, er ist vielmehr selbst der Weg, d. h. das Wesen des Menschen zeichnet sich durch sein Weg-Sein aus, das durch Wagnis, Unsicherheit und Risiko begleitet ist. Dieses Weghafte fordert ihn auf und heraus, sich selbst seinen Weg zu bahnen, was nur dann gelingt, wenn er alle bisher fraglos akzeptierten Antworten gleichsam über Bord wirft und selbst radikal fragt, problematisiert und sich als Versucher und Experimentator annimmt. Als höchste Möglichkeit seines Sich-ausrichten-Könnens und -Müssens sieht Nietzsche die Ausrichtung auf den Übermenschen, weshalb er den Menschen auch als „Pfeil seiner Sehnsucht" (KSA, ZA, 4, 19) bzw. als „ein Pfeil und eine Sehnsucht nach dem Übermenschen" (ebd. 72) umschreibt. Anders gesagt: Nietzsche geht es darum, daß der Mensch, dem letztlich alle Wege offen stehen, dem also prinzipiell die Wahl der Richtung möglich ist, den Weg zum Übermenschen als den ihm und dem Willen zur Macht entsprechenden Weg erkennt und ihn in seiner inneren Erfahrung durchlebt und durchleibt. Was heißt bei Nietzsche Überwindung des Menschen? Die Überwindung des Menschen ist keine von außen vorgenommene, instrumenteile Bearbeitung des bisherigen Menschen, es ist auch keine gedankliche Konstruktion oder utopisch-phantastische Fiktion eines möglichen künftigen Menschen. Überwindung meint bei Nietzsche vielmehr Selbstüberwindung, zielt demnach auf das entschiedene Ja-Sagen zu sich selber und dem mit diesem verbundenen Appell zur Selbstentdeckung, Selbstgestaltung und Selbsterhöhung. Nietzsche fordert den Menschen zum „Gang zu sich selber" als dem „schaffenden Selbst" auf, fordert ihn demnach dazu auf, den in ihm und durch ihn hindurch waltenden Willen zur Macht gemäß zu handeln und zu leben und das heißt, sich von den gewohnten und gewöhnlichen Wegen der Vielen abzuwenden und in einer Kehre sich aus freiem Entschluß dem Eigenen zuzuwenden. Diese Kehre bedeutet als Abkehr von nicht-eigenen Zielen die Heimkehr zum Selbst. So sagt Zarathustra „zu seinem Herzen": „Ich bin ein Wanderer und ein Bergsteiger [...], ich liebe die Ebenen nicht und es scheint, ich kann nicht lange still sitzen. Und was mir nun auch noch als Schicksal und Erlebniss komme, ein Wandern wird darin sein und ein Bergsteigen: man erlebt endlich nur noch sich selber. Die Zeit ist abgeflossen, wo mir noch Zufalle begegnen durften; und was könnte jetzt noch zu mir fallen, was nicht schon mein Eigen wäre! Es kehrt nur zurück, es kommt mir endlich heim mein eigen -
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Selbst, und was von ihm lange in der Fremde war und zerstreut unter alle Dinge und Zufalle." (ebd., 193) Der Gang zu sich selber als dem schaffenden Selbst bedeutet keinen Rückzug in die harmonische Innenwelt eines selbstzufriedenen Wohnens im Eigenraum, es meint vielmehr, daß der Mensch sich der schwierigen Aufgabe stellt, permanent sich selbst zu schaffen, um darin „über sich hinaus zu schaffen", (ebd., 40) Dabei ist das Woraufhin des schaffenden Menschen der Mensch selber und in ihm und durch ihn hindurch der Übermensch und das heißt: Das Ziel des Schaffens, das Zu-Schaffende, ist kein äußeres gegenüber stehendes Objekt, das vom Menschen als Hervorgebrachtes getrennt ist, es ist auch kein bloßes Phantasieprodukt, es entspringt statt dessen dem Möglichkeitsraum des Menschen, vollzieht sich demnach durch den Menschen hindurch im und am Menschen selber. Im Über-sich-hinaus-Schaffen richtet sich der Mensch auf das ihm kraft des Willens zur Macht mögliche Höhere, das zunächst einen innermenschlichen Abstand anzeigt, der schließlich zu einer Verwirklichung des un-menschlichen Menschen, des Übermenschen, führen kann, der eine prinzipielle Scheidung und Differenz zum bisherigen Menschen markiert. Das Gesagte läßt sich anhand einer Inblicknahme der Strukturgleichheit, die zwischen dem schaffenden Selbst und dem Willen zur Macht vorliegt, vertiefen. Bildlich betrachtet, kann die Struktur des Willens zur Macht als Kreis und Spirale veranschaulicht werden. Er ist Kreis, weil die Macht des Willens keinen Zusatz und kein Fremdes meint, sondern das Wesen des Willens als desjenigen Willens, der sich selbst will und sich auch selbst wollen kann, benennt. Er ist Spirale, weil die einzelnen Machtsetzungen im Verband und Verbund miteinander, in der Höherwindung qualitative Veränderungen hervorbringen können. Im schaffenden Selbst, in dem sich der Wille zur Macht in einer unobjektivierbaren und leibhaften Weise verwirklicht, richtet sich der Mensch demnach in den einzelnen Schaffenssetzungen auf sich als des Höheren seiner selbst aus, das schließlich im Prozeß des Selbstübersteigens und Selbstüberhöhens die Chance hin zum Gang des Menschen über sich hinaus in der Verwirklichung des Übermenschen birgt: die anthropologische Dimension wäre dann zugunsten der transanthropologischen überwunden. Nimmt der Mensch diesen mühsamen Weg zu sich selber auf sich, versucht er ein Maximum an Weite, Höhe, Komplexität und Reichtum zu erreichen, das mit der größten Intensität seines Schaffens und seiner stärksten Kraft zur Einigung von Polaritäten einher geht. Aufgrund dieser Erfahrung hat er eine Weitsicht, die es ihm möglich macht, scheinbar entgegengesetzte Denkweisen in sich aufzunehmen und er hat eine Um- und Einsicht, die ihn davor bewahrt, sich in den eigenen Wegen zu verlieren und selbstverliebt auf der Stelle zu treten. Dieser Weg ist zugleich der Weg in die Einsamkeit, den jeder nur für sich allein und auf seine Weise gehen kann. Zarathustra fragt daher seinen „Bruder": „Willst du, mein Bruder, in die Vereinsamung gehen? Willst du den Weg zu dir selber suchen?" (KSA, ZA, 4, 80) Die Einsamkeit, die von Nietzsche auch als „Genesung" und „Rückkehr zu mir" charakterisiert wird, ermöglicht demnach dem Menschen, sich in unverstellter Weise gegenüber zu treten und in eine Nähe der Dinge zu gelangen, bei der „aufrecht und aufrichtig", ja „gerade" mit ihnen geredet werden kann. (Vgl. KSA, EH, 6, 276 und KSA, ZA, 4, 231 f.)
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Es zeigt sich: Die Überwindung des Menschen ist das Sich-selbst-Schaffen des Menschen in Richtung auf das dem Willen zur Macht entsprechende ,über-hinaus', im Zuge dessen er vielfaltig strukturiert, komplex, umfänglich und weit werden kann. Der Mensch macht dabei mit seinem gefährlichen Unterwegssein ernst und das heißt, er bringt die Offenheit, die ihm jenseits der Moral in der Immoral zukommt, hervor, ist also wesentlich geschichtlich. Darüber hinaus prägt er seinen Richtungssinn aus und sucht und erprobt permanent seinen Weg, wodurch er in sich die Spannung aufbauen kann, sich als „Pfeil" auf den Übermenschen auszurichten. Das Selbstüberwinden des Menschen vereinigt daher in sich das Bewegungs-, das Richtungs- und das Zielmoment, bei dem qualitative Wechsel, die Neuartiges hervorbringen, möglich sind. Auf diesem Hintergrund kann gefragt werden: Was meint Überwindung der Anthropozentrizität bei Friedrich Nietzsche? Kurz gesagt, meint sie zum einen das Hintersichlassen eines reduzierten Menschenbildes, wie es Nietzsche zufolge in der bisherigen Ausrichtung des Menschen auf Gott oder auf den Menschen geherrscht hat. Denn hier versuchte der Mensch entweder das Göttliche in sich zu entfalten, um sich aus der Sicht Nietzsches darin gegen das Leben selbst zu wenden, oder aber lediglich diese oder jene Seite seiner selbst zu entwickeln, um darin zu vereinseitigen und letztlich zu verkümmern und zu degenerieren. Zum anderen bedeutet sie zugleich das Hinter- und Untersichlassen des Menschen als solchen, wodurch der Mensch nicht als ein Letztes, ein Höchstes oder ein Bestes verstanden wird, sondern als Medium für ein völlig Neues und ganz Anderes, den Übermenschen. Daher schreibt Nietzsche: „Der Mensch sei der Ansatz zu etwas, das nicht Mensch mehr ist! Arterhaltung wollt ihr? Ich sage: Art-Überwindung!" (KSA, NF, 10, 202) Und an anderer Stelle schreibt er im vergleichbaren Sinn: „Der Mensch sei ein Anlaß zu etwas, das nicht Mensch mehr ist." (ebd., 136) Um Mißverständnisse zu vermeiden, müssen diese Zitate in Zusammenhang mit einem weiteren Zitat, das der späte Nietzsche 1888 geschrieben hat, gelesen werden. Es lautet: „Was für ein Typus die Menschheit einmal ablösen wird? Aber das ist bloße Darwinisten-Ideologie. Als ob Gattung je abgelöst wurde! Was mich angeht, das ist das Problem der Rangordnung innerhalb der Gattung Mensch, an deren Vorwärtskommen im Ganzen und Großen ich nicht glaube, das Problem der Rangordnung zwischen menschlichen Typen, die immer dagewesen (sind) und immer dasein werden." (KSA,
NF, 13,481)
Nietzsche zufolge schließt sich der Übermensch demnach nicht, wie oben gezeigt, selbstverständlich an die Gattung Tier und Mensch an, er geht statt dessen aus dem Einzelnen und Vereinzelten unter Umständen hervor, wenn dieser sich in der dargestellten Weise wissentlich und willentlich als ein gefährliches Unterwegssein einzulösen versucht, also eine Haltung einnimmt, die die bewußte Entscheidung ,der Übermensch soll sein' voraussetzt. Der Übermensch ist demnach die Verwirklichung der höchsten Möglichkeit des Menschen und er stellt die konsequente Fort- und Weiterentwicklung der strukturellen Verfaßtheit des Menschen dar. Er ist solcherart menschlicher Übermensch, weshalb Nietzsche schreibt: „der überwundene Mensch selber war der Vater des
Übermenschen." (KSA, NF, 10, 581)
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Darüber hinaus und hier zeigt sich das Doppelgesicht bzw. die Ambivalenz des Übermenschen, die m. E. für Nietzsches Position entscheidend ist steht er als Übermensch in einer grundsätzlichen Differenz zum Menschen, da in ihm und in der Vereinigung der divergierenden Kräfte eine größtmögliche Spannung zum Austrag kommt, -
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die ihn über den Menschen hinaus führt. Der Über-Mensch hat von hier aus ein prinzipielles Anderssein im Vergleich mit dem Menschen, wodurch er einst solche Eigenschaften, Fähigkeiten und Qualitäten aufweisen wird, die wir nicht inhaltlich vorhersagen können. Aus dieser Sicht ist der Übermensch NichtmehrMensch und absolut, d. h. er ist ab- und losgelöst vom bisherigen Menschen, in dem eine Kluft und ein Abstand zwischen Sein und Sollen, zwischen Möglichkeit und Verwirklichung, zwischen Chance zur Selbstüberwindung und Realisation dieser Selbstüberwindung besteht. Es zeigt sich: Die Überwindung der Anthropozentrizität bei Friedrich Nietzsche ist die denkerische Überwindung einer Position, die am Menschen als dem Ausgangspunkt und Ziel seines Transzendierens festhält und ihn dadurch auf sich einschränkt. Sie bindet ihn statt dessen in einen Gesamtprozeß ein, bei dem er als ein Überwindender und zu Überwindendes angesehen wird. So hat es der Mensch selbst in der Hand, ob er fundamentalanthropologisch sich als Mittel- und Zielpunkt seiner vielfachen Weisen des Sich-Ausrichtens ansetzt und sich darin auf sich selbst begrenzt, also sich zu erhalten versucht, oder aber ob er den schwierigen Weg über sich hinaus auf sich nimmt, um sich darin zu überwinden.
2.
Trans-Anthropozentrismus heute. Oder: Über den Menschen hinweg zum Mentalen
Nietzsches Forderung des Übermenschen, die, wie gezeigt, in der angezielten Überwindung des Menschen zugleich die Forderung nach einem Trans-Anthropozentrismus bedeutet, stellt m. E. eine der größten philosophischen Herausforderungen unseres Jahrhunderts dar. Das hat seinen Grund darin, daß der Gedanke der Überwindung der Anthropozentrizität gegenwärtig in den unterschiedlichsten Denkzusammenhängen mit ihren je spezifischen Implikationen seinen Ausdruck findet, ja, schärfer gesagt, daß wir uns heutzutage nach dem geschichtlichen Faktum der Wirkungslosigkeit Gottes, was in der Formel vom Tod Gottes ausgesprochen wird, bereits dem geschichtlichen Faktum des Wirkungsloswerdens des Menschen gegenüber sehen und uns ihm stellen müssen, wenn wir nicht von der Entwicklung in den Technologien des 21. Jahrhunderts, seien diese etwa in der Gentechnik, der Robotik, der KI-Forschung, der Nanotechnik oder der Medientheorie überrollt werden wollen. Anders gesagt: Nietzsches seismographische Gespür hat das Problem der Überwindung des Menschen, das man provokativ als das vom Tod des Menschen fassen kann, denkerisch vorweg genommen, das in unserer Zeit mehr denn je Brisanz besitzt. Denn strukturell betrachtet treten nun an die Stelle x, bei der für Nietzsche der Übermensch als höchste und größte menschliche Möglichkeit seinen Ort hat, z. B. der Roboter, der als technisch erzeugtes Lebewesen die Fähigkeiten des Menschen bei weitem übertrifft, ja, wenn man den Theoretikern glauben will, sie einst zu integrieren vermag. Oder es -
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diese Stelle das hochorganisierte Netz- bzw. Maschinensystem des intelligenten Computers, in dem wir bald unser Bewußtsein abspeichern zu können scheinen, um mit und in ihm in anderer höherer Weise zu sein. Oder es übernimmt der gentechnisch veränderte Mensch diesen Platz, der die Mängel unserer bisherigen Leiblichkeit korrigiert hat, oder auch das „Projekt", dieser neue Entwurf eines künftigen Lebens, das es noch
tritt
an
hervorzubringen gilt. In diese Richtung weist etwa die Spätschrift von Vilém Flusser mit dem Titel „Vom Subjekt zum Projekt", die Bücher Mentopolis von Marvin Minsky, Computer ergreifen die Macht von Hans Moravec und Homo sapiens von Ray Kurzweil. Sie treffen sich in dem, was Vilém Flusser am 19.3.1988 in einem Gespräch mit Gerhard Johann Lischka geäußert hat: „Ich mache auch [...] nicht eigentlich Vorschläge, sondern was ich versuche zu tun, ist, die gegenwärtigen Tendenzen so gut wie möglich zu konstatieren und dann ein klein wenig nach vorne zu projizieren. Ich hoffe, daß nichts von dem, was ich sage, utopisch ist, sondern daß alles, was ich sage, jetzt angelegte Möglichkeiten sind."3 Auch wenn die Feststellung der „gegenwärtigen Tendenzen" je nach Horizont innerhalb dessen sich der jeweilige spekulative Denker bewegt, differiert, ist die jeweilige minimale Projektion „nach vorne" doch stets bei allen der Versuch, eine Vision des künftigen Menschen vor Augen zu führen, an deren Anfang der spekulative Satz: ,Der Über-
mensch soll sein', steht. Im Rahmen dieses Beitrages habe ich mich dazu entschieden, von den genannten Protagonisten eines Trans-Anthropozentrismus wenigstens kurz Marvin Minskys und Vilém Flussers Position vorzustellen. Im Anschluß daran ist es mir möglich, diese Variante eines Trans-Anthropozentrismus mit der von Nietzsche in ein Gespräch zu bringen.
In dem erstmals 1985 in New York erschienenen Buch Mentopolis von Marvin Minsky wird deutlich, daß er in dem spekulativen Satz ,der Übermensch soll sein', an die Stelle des Übermenschen ,die Maschine mit menschlichen Fähigkeiten' setzt. Diese Maschine ist für ihn prinzipiell machbar, weshalb es nur eine Frage der Zeit ist, bis mit dem notwendigen Voranschreiten des Wissens sie vom Menschen tatsächlich hergestellt werden kann. So schreibt er explizit: „Die meisten Menschen glauben immer noch, daß keine Maschine je ein Gewissen, Ehrgeiz, Neid, Humor oder andere geistige Lebenserfahrungen machen kann. Natürlich sind wir noch weit davon entfernt, Maschinen mit menschlichen Fähigkeiten bauen zu können. Aber das bedeutet nur, daß wir bessere Theorien über die Denktätigkeit brauchen." Hatte man in der abendländischen Tradition bisher allein dem menschlichen Geist ein sittliches Bewußtsein zuerkannt, durch das er der Möglichkeit nach stets ursprünglich zwischen gut und böse oder auch zwischen gerecht und ungerecht unterscheiden kann, und hatte man Gefühle oder auch Stimmungen als genuin menschliche Vermögen herausgearbeitet, durch die er sich grundsätzlich vom Tier unterscheidet, fällt für Minsky dieser Wesensunterschied nun zwischen der Stufe Mensch und der Stufe Maschine
4
Vilém Flusser, „Bern, 1988", 34, in: Zwiegespräche. Interviews 1967-1991, Göttingen 1996, 3440. Marvin Minsky, Mentopolis, 2. Aufl. Stuttgart 1994, 19. Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Ausgabe.
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weg. Denn letztlich kann für ihn jeder Geistvorgang maschinell erklärt werden, sei dieser menschlicher, sei dieser maschineller ,Natur', da in jedem das Zusammenspiel und Zusammenwirken von „Agenten des Geistes" wirksam ist. Aus dieser Sicht wird von Minsky natürlich nicht der Wesensgehalt eines volitiven, emotionalen oder intellektuellen Aktes zu deuten versucht, sondern im Sinne eines instrumentellen Wissens nach dem Funktionieren des Geistes gefragt, das aus der Interaktion der mentalen Agenten erklärbar ist, genauer gesagt, erklärbar sein wird. Aber auch die „Fragen über Kunst, Charakterzüge und Lebensstile sind in Wahrheit rein technischer Art. Sie verlangen von uns, zu erklären, was zwischen den Agenten unseres Geistes abläuft". (27) So will sich Minsky daher darum „bemühen, zu begreifen, wie der riesenhafte, unbekannte Mechanismus des Gehirns funktioniert. Dann werden wir mehr Selbstachtung aus dem Wissen schöpfen, welch wunderbare Maschinen wir sind". (30) Wird der Mensch und seine geistigen Vorgänge dergestalt durch den Rückgriff auf maschinelle Prozesse erklärt, liegt die Chance des Menschen konsequenterweise darin, besser funktionierende, optimierte, komplexere Maschinen mit Bewußtsein herzustellen. Diese könnten besser als der Mensch ausgestattet sein, um sich selbst zu verstehen, könnten demnach die Mängel, die dem Menschen anhaften, überwinden. Denn lange „bevor wir anfingen, Interesse an unserer Funktionsweise zu entwickeln, hatte uns die Evolution bereits die Architektur unseres Gehirns aufgezwungen. Wir hingegen können unsere neuen Maschinen nach Wunsch entwerfen und mit besseren Möglichkeiten ausstatten, Aufzeichnungen ihrer eigenen Aktivitäten zu machen und zu überprüfen und das bedeutet, daß Maschinen theoretisch weit mehr Bewußtsein als wir erlangen können." (160) In diesem Zitat wird zweierlei deutlich. So legt Minsky einerseits als Maßstab zur Beurteilung von Maschinen, sei es die Maschine bisheriger Mensch oder sei es die neue zu entwerfende Maschine, den Bewußtseinsgrad an, genauer gesagt, den Grad der Komplexität, mit der die geistigen Prozesse vollzogen werden. Auf diese Weise wird die Fülle menschlicher Lebensäußerungen auf ihre jeweilige Effizienz beim Erreichen des maximal anzuzielenden Grades reduziert und dabei ihr je spezifischer Sinn- und Bedeutungsgehalt übersehen. Das meint, daß die dem Denken von Minsky immanente Meßlatte ,Bewußtseinsgrad' die einzelnen menschlichen Prozesse wie Denken, Wollen, Fühlen, Glauben und Handeln nicht in ihrer Eigenheit zu fassen vermag, weil er sie stets ausschließlich hinsichtlich ihres Funktionierens beim Zusammenspiel vieler Agenten, durch den der Geist konstituiert wird, betrachtet. Darüber hinaus wird für Minsky, wie aus dem Zitat hervorgeht, andererseits die zu konstruierende Maschine, diese künstlich zu erzeugende Intelligenz, der von der Evolution aufgezwungenen Architektur des Gehirns nicht unterworfen sein. Dies kann nicht nur in der Weise verstanden werden, daß eine neue, in geistiger Freiheit entworfene Architektur die kommende Geistmaschine auszeichnet, es läßt sich auch so verstehen, daß diese komplexe Maschine letztlich frei von jeglicher körperlicher Bedingtheit ist. Sie hat die Zwänge eines evolutionären Gesamtprozesses überwunden und steht in ihrer Funktionsfáhigkeit bei weitem über dem nicht zuletzt aufgrund seines Körpers anfälligen Menschen. -
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gewinnt man bei den Ausführungen Minskys den Eindruck, mündet dadurch in eine Fundamentalmentologie, wie man eine Lehre, die die Funktionsweise geistiger Vorgänge zu ihrem zentralen Gegenstand hat, nennen kann. Von dem als ein Axiom behandelten Grundsatz .Gehirne sind Maschinen' ausgehend, gilt es nun Methoden zu finden, mit deren Hilfe die „vielen komplexen und spezialisierten Verbindungen", durch die ein Mikro-Mechanismus „ein tatsächlicher Bestandteil der Gedächtnis-Maschinerie" ist, entschlüsselt werden können: „Es besteht nicht der geringste Anlaß daran zu zweifeln, daß Gehirne Maschinen mit einer gewaltigen Zahl von Einzelteilen sind, die in perfekter Übereinstimmung mit den Gesetzen der Physik funktionieren. Soweit wir wissen, ist unser Geist nur ein komplexer Prozeß. Die schwerwiegenden Probleme bestehen darin, daß uns unsere geringe Erfahrung mit Maschinen von derartiger Komplexität noch nicht erlaubt, mit Erfolg über sie nachzudenken." (288; vgl. auch 161) Während Minsky den Menschen zugunsten einer Maschine mit menschlichen FähigPhilosophie,
so
will, versucht Vilém Flusser, den Menschen, der sich bisher als ein unterwürfiges Subjekt gedeutet hat, zugunsten des Projektes zu überwinden. Denn Flusser zufolge befindet sich, wie er in der Ende 1988 und Mitte 1989 entstandenen Schrift Vom Subjekt zum Projekt schreibt, eine „neue-post-humanistische, postmoderne Anthropologie" im Entstehen, die er auch als eine „negative Anthropologie (,Neganthropologie')" bezeichnet. (18) Sie ist die logische Konsequenz einer Entwicklung, die nach dem schrittweisen Abbau des Glaubens an „die Solidität der Dingwelt" auch den „Glauben an die Solidität des Subjekts in dieser Dingwelt" zum Verschwinden gebracht hat. (12) Denn Hand in Hand mit dem gegenwärtigen Umkodieren des buchkeiten überwinden
stäblichen Denkens in ein numerisches Denken hat sich das Subjekt selbst zum Objekt gemacht, „und zwar in allen seinen Parametern. Der Mensch wird kalkulierbar, nicht nur als physische und physiologische, sondern auch als mentale, soziale und kulturelle ,Sache'. Alle seine Parameter werden analysierbar, in Punkte zersetzbar: die Wahrnehmungen in Reize, das Verhalten in Aktome, die Entscheidungen in Dezideme, die Sprache in Phoneme, die Kulturen in Kultureme." (17) Das im Vollzug der Selbstobjektivierung möglich werdende analysierende Sichselbst-Gegenübertreten des Menschen führte demnach in seiner äußersten Zuspitzung zum Zersetzen und Zerlegen des Menschen in calculi, das sind kleine Steine bzw. Punkte, wodurch er sich als Subjekt nicht selbst erkennen konnte, sondern sich auflöste, also sich „als ein Nichts im Nichts" aufklärte, „als Knoten vernetzter Relationen, die nichts verbindet". (18) So hatte die über den Weg der Analyse erhoffte Selbsterkenntnis des Menschen sein Zerfließen „in sich einander überschneidende Netze von physiologischen, psychischen, sozialen und kulturellen Relationen" zur Folge. (17) Angesichts dieses radikalen Glaubensverlustes an die Solidität von Ding und Mensch hat für Flusser der Mensch nun allerdings die Chance sich gleichsam um 180 Grad zu wenden und sich der Freiheit zu öffnen und das heißt, er vermag aus den Punkten bzw. Abstraktionen Neues zu entwerfen, sich also von der unterwürfigen Haltung, die dem Subjekt zu eigen war, zu verabschieden und ein Projekt, das aufrecht und aufrichtig Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf folgende Ausgabe: Projekt. Menschwerdung, Bensheim und Düsseldorf 1994.
Vilém Flusser, Vom
Subjekt zum
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werden. Anders gesagt: Die aufgrund der erkenntnistheoretischen GrundstelNeuzeit hervorgerufene Zergliederung des Menschen kann zwar einerseits der lung kulturpessimistisch bewertet werden, andererseits kann sie auch dem Menschen seine Möglichkeit des schöpferischen Zusammensetzens und Entwerfens neuer Wirklichkeiten vor Augen führen und ihn dazu aufrufen, diese zu ergreifen. Der Mensch nimmt dann vor allem die Praxis der „Bewegung des Komputierens: des Synthetisierens von Menschen und Welten" ( 17) auf sich und versucht, neue Bilder für solches, was es noch nicht gibt, d. h. Projektionen, hervorzubringen. Bei diesem Vorgang des Synthetisierens vermag der Mensch demnach buchstäblich „aus dem Nichts Sinn zu projizieren, sinngebend auf das Nichts zu wirken". (21) Auf diese Weise geschieht eine Verdichtung innerhalb eines dialogischen Netzes, in das wir eingewoben sind: die Knotenpunkte rücken näher und können in ihrer immer dichter werdenden Streuung sich zu alternativen Welten konkretisieren. Der Mensch, der sich mit Hilfe des Projizierens aus seiner bisherigen Unterwürfigkeit zu befreien versucht, bemüht sich darum, die Aufgabe des synthetisierenden Hervorbringens neuer mosaikartiger Bilder auf sich zu nehmen und sich darin als Projekt, also als einer, der durch das „Einbilden" zu charakterisieren ist, das im wörtlichen Sinne als ein „ins Bild hineingeben" und „ins Bild setzen" verstanden werden kann,6 zu erweisen. In dieser schöpferischen Praxis des Entwerfens von Projektionen aus Kalkulationen, der gleichbedeutend mit dem denkerischen Vorgang des Zerlegens von etwas in Steinchen und des neuen Zusammensetzens dieser Steinchen ist, versucht der Mensch im geistigen Hervorbringen seiner Einbildungen an der Wirklichkeit des Netzes, in das er eingewoben ist, mitzuwirken und für die Möglichkeit des Konkretisierens dieser Einbildungen einzutreten. Dazu ist es allerdings erforderlich, daß die Projektion andere überzeugt und sie von weiteren Knotenpunkten eines Beziehungsnetzes vertreten wird, wodurch allererst eine Verdichtung entstehen kann, die für eine gewisse Zeit einen vorübergehenden Konsens darstellt. Fragt man nun danach, was projiziert werden kann, dann ist das Feld möglicher Projektionen grenzenlos: alles und jedes kann projiziert werden. So ist es für Flusser, wie die Kapitelüberschriften des genannten Fragmentes Vom Subjekt zum Projekt bereits anzeigen, möglich, Städte zu entwerfen, Häuser zu entwerfen, Familien zu entwerfen, Körper, Sex, Kinder, Technik und Arbeit zu entwerfen. Blickt man angesichts des vorliegenden Zusammenhangs beispielsweise auf seine Überlegungen zum Entwerfen von Körpern, dann tritt Flusser dafür ein, den gegebenen Körper hinter sich zu lassen, da dieser „Resultat eines blinden, Jahrmillionen währenden Würfelspiels" sei und dieses „Resultat nicht überzeugend ausgefallen" wäre: „Vielleicht (so fragt er daher) gibt es bessere Methoden für Körperentwürfe als den blinden Zufall?" (89) Die künstlichen zu entwerfenden Körper sollten angesichts der funktioneilen Armut,
lebt,
zu
die den natürlichen Körper auszeichnet, „dem Nervensystem eine strukturell einfache, aber zufriedenstellende Hülle" (101) bieten, sollten folglich alternative Körper sein, die „dem Zentralnervensystem bei seinem Engagement für Informationsvergrößerung dienen. Mit anderen Worten, ins Zufallsspiel der Evolution ist absichtlich einzugreifen, um 6
Vgl. Flusser, Bern, 1988, 37.
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gezielt die bereits einsetzende Umdrehung der Beziehung ,Nervensystem restlicher Körper' zu vollenden, um die Menschwerdung zu konkretisieren". (95) Der künftige zu entwerfende Körper ist aus dieser Sicht eine künstliche Schöpfung bzw. eine entworfene Gestalt, der man sich „bedienen kann, statt ihm, und durch ihm den Objekten, unterworfen zu sein". (98) Er ist eine Art Minimalkörper, bei dem das Maximum an Freisein von Bedingtheit verwirklicht werden kann. Wie bei Minsky mündet die Philosophie dergestalt in eine Fundamentalmentologie -
ein, bei der der Mensch sich dann selbst verwirklicht,
wenn er sich in dem Mentalen, das außerhalb seiner selbst auf einer nicht-natürlichen Basis vollzogen wird, ständig neu entwirft. Hier hat der NichtmehrMensch in der Gestalt der intelligenten Maschine oder des Projektes Natur, Blut, Notwendigkeit, Materie und Körper hinter und unter sich gelassen und es ist ihm gelungen, eine rein .geistige Größe' zu werden, die sich als ein „Knotenpunkt" in einem Relationengefüge auch nicht als ,ich' zu identifizieren vermag, sondern im ,wir' aufgeht. Dieser Prozeß des Entwerfens ist für Flusser daher zugleich der des Freiwerdens, im Zuge dessen sich der Mensch von allen ihm auferlegten Bindungen, Bedingtheiten und Notwendigkeiten der Natur und des Körpers löst. In seiner Fragment gebliebenen Untersuchung „Menschwerdung" umschreibt Flusser diesen Prozeß auf anschauliche Weise: „Alles Begreifen, Behandeln und Anwenden ist, so gesehen, nichts als ein Enthüllen, ein Entfernen von Hüllen, letzten Endes des Bodens unter dem Rücken, der Rückendeckung. Aus dieser Vogelperspektive betrachtet, ist Aufrichtigkeit ein SichHineinlassen ins Bodenlose sich nicht mehr auf einen Grund zu verlassen und in diesem unheimlichen Sinn ein vogelähnliches Schweben." (270) -
3. Der Trans-Anthropozentrismus heute
-
von
Nietzsche
aus
betrachtet
Minskys und Flussers Denken werden m. E. nicht die skurrilen Phantastereien philosophischer Außenseiter zum Ausdruck gebracht, sie repräsentieren vielmehr Varianten eines zeitgenössischen Trans-Anthropozentrismus, in dem solche Kerngedanken aufIn
weisbar sind, die in anderem Gewand ebenfalls in den anderen Varianten eines solchen Denkmodells zu finden sind. So führt die Feststellung der Bedingtheit des Menschen zu der Einschätzung, daß diese zu überwinden ist und zwar im Sinne eines Vorgangs, den ich Mentalisation, Vergeistigung, nennen möchte. Der in Nietzsches Trans-Anthropozentrismus am Anfang stehende Satz ,Der Übermensch soll sein', wird nun dahingehend zugespitzt, daß bei Minsky und Flusser der Übermensch als NichtmehrMensch repräsentiert wird. Lautet für den zeitgenössischen Trans-Anthropozentrismus daher das Axiom ,Der NichtmehrMensch soll sein' wird darin bereits ein wesentlicher Unterschied zu Nietzsche deutlich. Denn in Nietzsches Vision vom Übermenschen tritt stets das Doppelgesicht, das diesem zu eigen ist, zutage. Diese Zweiseitigkeit bzw. Ambivalenz läßt sich m. E. nicht als Unscharfe oder mangelnde Präzision bewerten, sie entspringt vielmehr Nietzsches Einsicht, daß der Mensch selbst, und zwar jeder Einzelne, sich dieser Forderung stellen muß und sie in seinem Willen und Wunsch zur Selbsterhöhung zu bejahen
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hat. Auf diese Weise hat es der Mensch selbst in der Hand, was er aus sich macht und er hat es nicht in der Hand, weil er nicht weiß, worin er sich einst im Zuge seiner Selbstgestaltung verwandeln wird, in welcher Ausformung er also das Über- seines Übermenschseins hervorbringen kann. Wird in den heutigen Varianten eines Trans-Anthropozentrismus das Dynamische dieser beiden Seiten zum Stillstand gebracht und der Übermensch ausschließlich als t/èermensch gefaßt, gerät von Nietzsche aus betrachtet, die wesentliche Rückbezogenheit des Übermenschen auf den Menschen folglich aus dem Blick und er wird eine solche geistige ,Größe', wie sie sein Erfinder oder Entwerfer konstruieren möchte. Der Grundsatz ,Der NichtmehrMensch soll sein' ist daher gleichbedeutend mit dem Grundsatz ,Das Mentale soll sein', insofern ausschließlich der Geist mit seiner Freiheit als Chance einer vermeintlichen Selbstüberwindung angesehen wird. Der Ausrichtung auf den NichtmehrMenschen ist demnach unausgesprochen die Überzeugung immanent: Die Selbstüberwindung des Menschen gelingt, wenn er die Fesseln, die der Körper für ihn darstellt, löst. Wirkliche Freiheit ist dem Menschen nur in der Er- und Übermächtigung seiner selbst mit seinen mentalen Fähigkeiten gegeben. Wirkliche Freiheit bedeutet Unsterblichkeit. Von Nietzsche aus betrachtet ist diese Fokussierung auf das Mentale höchst problematisch. Es spaltet das Geistige künstlich vom Leib ab und verabsolutiert es, anstatt es in ihn zu integrieren und von ihm her zu verstehen. Denn Nietzsche zufolge bedeutet Menschsein Leibsein, insofern der Leib in sich das Ganze und Mannigfaltige menschlichen Lebens zusammenfaßt, also das Unbewußte und Bewußte, das Triebhafte und Vernünftige, das Seelische und Geistige. So heißt es im Zarathustra: „Leib bin ich ganz und gar, und nichts ausserdem" (KSA, ZA, 4, 39) und das meint, daß der Leib in sich all die anthropologischen Bestimmungen eint, die in den Jahrhunderten hindurch zur einseitigen Festlegung des menschlichen Wesens gedient haben. Versucht der Mensch seinem Leib entsprechend zu leben, hat er die Vielfalt und den Reichtum dieser unterschiedlichen Einheiten, die er in der Komplexität seiner Vollzüge ist, im Sinne einer Einheitsstiftung zu einen und sich zugleich in der Intensität seiner geeinten Einheit-in-Mannigfaltigkeit auf Neues hin auszurichten. Der Mensch hat aus dieser Sicht keinen Leib, er muß ihn vielmehr in ständig neuen Anläufen hervorbringen: ,„Ich' sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich." (ebd., 39) Die große Vernunft des Leibes vollzieht sich im Prozeß der Selbstüberwindung als Ich-Tun und ermöglicht es dadurch dem Leben als Willen zur Macht, „die ganze Kette des Lebens fortzuspinnen und so, daß der Faden immer mächtiger wird1. -
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(KSA, NF, 13,40)
Konzeption des Leibes als großer Vernunft ist bekanntlich der Geist als Vernunft" und als „kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft" inte„kleine griert. (Vgl. KSA, ZA, 4, 39) Der Mensch, der eine Haltung einnimmt, die die Entscheidung ,der Übermensch sei der Sinn der Erde' voraussetzt, bemüht sich darum, eine In dieser
Einheit-in-Mannigfaltigkeit komplexer und divergierender Ausrichtungen zu werden, bei der der Geist gerade nicht wie dies für die „Verächter des Leibes" symptomatisch ist die Leitfunktion innehat. Denn der Mensch soll nicht eindimensional verkümmern, -
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Der
Weg Zarathustras als der Weg über den Menschen
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sondern in der Vieldimensionalität seiner inneren Erfahrungen, die an den Leib gebunden sind, wachsen. Dabei gelingt es ihm, den Grad seiner Macht mit der Umfänglichkeit und dem Reichtum seiner Seele und der Weite seines geistigen Horizontes zu steigern, also im Prozeß des Sich-selber-Schaffens zu seiner Freiheit emporzusteigen. Versteigt sich der Mensch als Subjekt in die Exklusivität des Mentalen, wird er, wie man mit Zarathustra daher sagen kann, ein „umgekehrter Krüppel", der sich dadurch auszeichnet, „an Allem zu wenig und an Einem zu viel" zu haben: etwa „ein grosses Auge, oder ein grosses Maul oder ein grosser Bauch oder irgend etwas Grosses" (ebd., 178) und sei es so könnte man es ergänzen ein kleiner Geist. Auf diese Weise vermag der Mensch das schwierige Geschäft des Vereinigens von Auseinanderstrebendem nicht auf sich zu nehmen, ja er vermag noch nicht einmal Mensch zu sein: ,„Wahrlich, meine Freunde, ich wandle unter den Menschen wie unter den Bruchstücken und Gliedmaassen von Menschen! Diess ist meinem Auge das Fürchterliche, dass ich den Menschen zertrümmert finde und zerstreuet wie über ein Schlacht- und Schlächterfeld hin. Und flüchtet mein Auge vom Jetzt zum Ehemals: es findet immer das Gleiche: Bruchstücke und Gliedmaassen und grause Zufalle aber keine Menschen!'" (ebd., -
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178f.) Minskys und Flussers Vision der Mentalisation eröffnet aus dieser Sicht keine Chancen zur Überwindung des Menschen, sie führt vielmehr zu seinem Verkleinern, Verarmen und Schwächen, bei dem er sich wie der „letzte Mensch" in der Genügsamkeit und Zufriedenheit eines kleinen Winkels wohlig einrichtet und sich vom Leben abschottet: Sowohl die intelligente Maschine als auch das Projekt, diese Entwürfe künftigen Lebens, tragen dergestalt plötzlich die Züge des „verächtlichsten Menschen, der sich sel-
ber nicht mehr verachten kann". Welchen Ort kann man mit Nietzsche diesem zeitgenössischen Trans-Anthropozentrismus innerhalb der drei Phasen der Moral: der Vor-Moral, der Moral und der Immoral, zuweisen? Spricht sich in ihm bereits die Bewegung gegen die Metaphysik und die aus ihr hervorgehende Logik des Nihilismus aus? Kurz und bündig läßt sich auf diese Frage antworten: Das vorgestellte Denken Minskys und Flussers hat seinen Ort in der Moral, ja, es scheint den Gipfel des moralischasketischen Weges zu markieren. Was heißt das? Die Geschichte des Abendlandes, die Geschichte der christlichen Moral, ist für Nietzsche bekanntlich eine Betrugsgeschichte: Der Mensch hat sich selbst seiner Möglichkeiten, die er als ein gefährliches Hinüber und als das schaffende Selbst in einer vormoralischen Dimension ist, beraubt, hat folglich seinen Willen pervertiert und ihn als Willen zum Nichts verfälscht. Die Moral war dabei das geschickte Instrument in den Händen der Schwachen, um die Schwäche zu tarnen und den Siegeszug über die Starken antreten zu können. Mit dieser Moral kamen die Wertgegensätze in die Welt, die die Entstehung der Metaphysik nach sich zogen: „Der Grundglaube der Metaphysiker ist der Glaube an die Gegensätze der Werthe." (KSA, JGB, 5, 16) Durch den Willen zur Macht kann nun eine Umwertung der Werte stattfinden, im Zuge dessen die bisherigen Ideale wirkungslos werden und zugleich eine neuartige Wertsetzung stattfindet. Und es wird mit seiner Hilfe möglich, den vor-moralisch-menschlichen und den moralischfiktiven Bereich in einer immoralischen Dimension zu überwinden, bei der in der Aus-
richtung auf den Übermenschen der Mensch als solcher und seine aus der Moral hervorgegangenen „Vordergrunds-Schätzungen" hinter und unter sich gelassen werden. Von Nietzsche aus betrachtet, erreicht der Prozeß der Entselbstung, der in der Moral geschieht, nun mit Minsky oder auch Flusser den Kulminationspunkt der Fehlentwicklung. Denn hier nimmt analog zum Schwachen, der im „Sklavenaufstand in der Moral" mit seiner „imaginäre(n) Rache" (des gebildeten Bildes) den Herren zum Bösen umdeutet das Subjekt eine Umdeutung vor, indem es sich ein Bild einbildet, durch das es sich zur intelligenten Maschine oder zum Projekt konstruiert. In einer Art kalkulierendem Zweckdenken konzipiert sich der Mensch zu dem, der er werden möchte, führt demnach die im Prozeß der Moral geschehende Entäußerung in der Fabrikation von Idealen bis zu dem Höhepunkt seiner Selbstfabrikation fort: Der Mensch als Subjekt steigert die indirekte geistige Machtperversion vom asketischen Ideal aus Schwäche zum transhumanen Ideal und verhindert dadurch, sich selbst als der, der er der Möglichkeit nach ist, erfassen und annehmen zu können. Das von Nietzsche geforderte Sichselbst-Schaffen des Menschen im Gang zu sich selber als dem Gang über sich hinaus wird dergestalt zum Konzipieren im Sprung über den Menschen hinweg. -
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Dieses Fehlverständnis der Überwindung des Menschen veranschaulicht Nietzsche im Zarathustra am Possenreißer. (Vgl. KSA, ZA, 4, 21 f.) Dieser geht mit schnellen Schritten einem Seiltänzer nach, der auf einem Seil, das über dem Marktplatz gespannt ist, balanciert. Als er noch einen Schritt hinter dem Seiltänzer steht, stößt er ein „Geschrei aus wie ein Teufel" und springt über den hinweg, der ihm im Wege ist. Der Seiltänzer verliert dabei den Kopf, stürzt hinab und stirbt. Hier wird deutlich, daß die Einstellung des Possenreißers mit der von Minsky und Flusser vergleichbar ist. Er versucht, den Menschen keinen Prozeß durchleben zu lassen, der seinen Wandel und schließlich seine Überwindung und seinen Überstieg herbeiführt, sondern er will möglichst schnell über ihn hinwegkommen. Auf dieser Weise ignoriert er ihn und nimmt einen bloßen Austausch oder eine Auswechslung vor, ohne einen Weg, der schlechthin über den Menschen gelangt, zu beschreiten: „Es giebt vielerlei Weg und Weise der Überwindung: da siehe du zu! Aber nur ein Possenreisser denkt: ,der Mensch kann auch übersprungen werden.'" (ebd., 249) Überblickt man das Gesagte, wird es notwendig, nach Nietzsches Traum eines überhumanen NichtmehrMenschen, der die heutigen Träume eines unendlichen, absolut freien, unbedingten Lebens jenseits des Menschen durch seine radikale Betonung des Unterwegsseins des Menschen vorbereitet hat, Endlichkeit und Unendlichkeit, Freiheit und Gebundenheit, Bedingtheit und Unbedingtheit erneut zusammen zu denken. Das heißt, es wird notwendig, nicht nur das Gehen des Menschen, sondern das Gehen und Wohnen des Menschen, auszudeuten und für eine Anthropo-Ontologie einzutreten, in der diese beiden, paradoxal zueinander stehenden Wesensseiten des Menschen, miteinander verbunden sind. Nehmen wir diese Aufgabe nicht an, gehen wir dem TransAnthropozentrismus als philosophischer Herausforderung unserer Zeit aus dem Weg. Vielleicht werden wir dann einst eher einer intelligenten Maschine ähnlich, die auf die Fragen ,woher kommst du?' und ,wohin gehst du?' keine Antwort wußte und von da an verstummte.
Udo Tietz
Das animal rationale und die wissenschaftlichen Vernunft
Grundlagen der
Zur anthropologischen Transformation der Erkenntnistheorie bei
Friedrich Nietzsche
Wenn wir uns die Geschichte des philosophischen Vernunftbegriffs anschauen, dann werden wir feststellen, daß dessen Explikation spätestens seit Piaton immer von inhaltlichen Annahmen über den Menschen ausging über sein Verhältnis zur äußeren und zur inneren Natur. Von daher kann man sagen, daß jeder philosophische Vernunftbegriff von zwei explikativen Annahmen abhängig ist: von Annahmen über die „Stellung des Menschen im Kosmos" und von Annahmen über die Stellung des Menschen zu seiner inneren Natur, die damals noch „Seele" hieß. Eine Anthropologie der Vernunft scheint daher nichts Neues. Gleichwohl beginnt die eigentliche Karriere der philosophischen Anthropologie vergleichsweise spät, nämlich erst im 19. Jahrhundert und zwar als ein Unternehmen, welches sich unter Einschluß erfahrungswissenschaftlichen Wis-
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spekulativen Idealismus entgegensetzte. Gegen Hegel, der den Menschen allein durch den Selbstbezug vom Tier abgrenzt Hegel meinte bekanntlich, daß sich der Mensch allein dadurch vom Tier unterscheidet, „daß der Mensch weiß, was er ist, und was er tut" eröffnet Feuerbach eine Polemik, in deren Zentrum der Nachweis der Abhängigkeit der Vernunft von natürlichen und leibgebundenen Voraussetzungen steht. Wies Hegel der Anthropologie noch eine völlig marginale Stellung im System zu nämlich als Lehre vom subjektiven Geist in seiner Unmittelbarkeit, d. h. als „Seele oder Naturgeist"(in der Rechtsphilosophie ergießt sich gar seine ganze Verachtung auf das „Konkretam der Vorstellung, das man Mensch nennt" ) -, so geht Feuerbach daran, die Anthropologie zur neuen philosophischen Leitdisziplin zu machen. Feuerbach ist überzeugt davon, daß die rationalistisch verhimmelte Vernunft wieder an jene anthropologischen Voraussetzungen zurück gekoppelt werden muß, denen sie ihr Dasein verdankt. Dieser Maxime entsprechend fällt dann auch sein anthropologisches Credo aus: „Die neue Philosophie macht den Menschen mit Einschluß der Natur, als der Basis des Mensens
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G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), hg. von F. Nicolin und O. Pöggeler, Berlin 1966, § 2. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, hg. von H. Kienner, Berlin 1981, § 190.
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Udo Tietz
alleinigen, universalen und höchsten Gegenstand der Philosophie die Anthropologie also, mit Einschluß der Physiologie, zur Universalwissenschaft." Zwar behandelte auch schon Hegel diese natürliche und leibgebundene Bedingtheit des Geistes, nämlich im Kapitel „Anthropologie" der Enzyklopädie. Gleichwohl ist es sein erklärtes Ziel, diese natürliche und leibgebundene Bedingtheit der Vernunft durch die Vernunft zu domestizieren. Hegel geht es um den „Sieg der Seele über ihre Leiblichkeit, die Herabsetzung und das Herabgesetztsein dieser Leiblichkeit zu einem Zeichen, zur Darstellung der Seele" Denn die Leiblichkeit ist für ihn nur eine für das Bewußtsein „äußere Welt". Sie ist bloßes Objekt für das Subjekt, das schließlich und endlich von der Seele „als ein ihr Fremdes" aus sich hinausgeworfen werden wird.5 Kurz: die Leiblichkeit gilt Hegel als das Andere der Vernunft, das diese auf dem Weg der Herabsetzung aller vernunftexterner Faktoren zu internen unter ihre Kontrolle zu bringen hat. Gegen diese Domestizierung der natürlichen und leibgebundenen Voraussetzungen der Vernunft durch die Vernunft hat wohl niemand so heftig opponiert wie Nietzsche. Er bestreitet nicht nur Hegels These, daß die Vernunft ihr Anderes unter Kontrolle zu bringen vermag, daß also das, was Hegel für nötig hielt, um der Vernunft ihre beherrschende Stellung als Sachwalterin gegenüber dem Anderen der Vernunft zu sichern, überhaupt möglich ist. Nietzsche bestreitet auch, daß „die Herabsetzung und das Herabgesetztsein dieser Leiblichkeit zu einem Zeichen, zur Darstellung der Seele" überhaupt wünschbar sei. Und den Spieß umdrehend behauptet er, daß die von Hegel herbgesetzte Vernunft im Dienst jener anderen Vernunft steht, die Nietzsche später als die „grosse Vernunft" des Leibes bezeichnen wird (KSA, ZA, 4, 39) womit Nietzsche nicht nur die von Feuerbach gegen den absoluten Idealismus angezettelte Polemik fortsetzt, sondern auch weiter radikalisiert. Denn Nietzsche geht es nicht mehr nur um den Nachweis der Abhängigkeit der Vernunft von natürlichen und leibgebundenen Voraussetzungen. Er will zudem den Nachweis erbringen, daß uns eben diese Vernunft in einer Welt des Scheins gefangen hält. Die Vernunft ist für Nietzsche auf Grund ihrer anthropologischen Verankerung eine durch und durch korrumpierte Vernunft. Denn sie gibt uns die Welt nicht so wieder, wie sie „an sich" beschaffen ist, sondern immer nur so, wie sie uns durch den anthropologisch bedingten Filter der vielfältigen Reize unserer Sinnesorgane erscheint eine Thesehen,
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Feuerbach, „Grundsätze der Philosophie der Zukunft", in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 9, hg. W. Schuffenhauer, Berlin 1982, § 54; Vgl. dazu U. Tietz, „Die Entfaltung des Produktionsparadigmas. Ein blinder Fleck in der Feuerbachkritik von Marx", in: Marxismus Versuch einer Bilanz, hg. von V. Gerhardt, Berlin 2001, 382-409. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), a. a. O., §387, Zusatz 10, 41. Ebd. § 412, Zusatz 10, 197. Vgl. dazu W. Stegmaier, „Die Substanz muß Fluktuanz werden. Nietzsches Aufhebung der Hegeischen Dialektik", in: Berliner Debatte Initial. Sozial- und geisteswissenschaftliches dournal, 4 (2001), 9f. Vgl. dazu V. Caysa, „Nietzsches Leibphilosophie und das Problem der Körperpolitik", in: Nietzscheforschung, Bd. 4, hg. von V. Gerhardt, H.-M. Gerlach und R. Reschke, Berlin 1997, 285-299. Vgl. U. Tietz, „Phänomenologie des Scheins. Nietzsches sprachkritischer Perspektivismus", in: Nietzscheforschung, Bd. 7, hg. von V. Gerhardt, H.-M. Gerlach und R. Reschke, Berlin 2000, 150— L.
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philosophisch begründen, sondern sogar empirisch mit wissenschaftlichen Mitteln bestätigen lassen soll. Nietzsche ist felsenfest davon überzeugt, daß sich die neuzeitliche Vernunft zirkel- und regreßfrei aus der Übertragung von Nervenreiz, Bild und Begriff erklären läßt und daß in dieser Übertragungskette ein scheinbildender Verkehrungsmechanismus eingebaut ist, der sich aus der fortschreitenden Verflachung und Depravation der individuellen Qualität der Empfindung durch deren sprachliche Artikulation erklären läßt, ein Verkehrungsmechanismus, den Nietzsche für ebenso grundlegend wie unvermeidlich hält. se, die sich nach Nietzsche nicht
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Dabei stützt sich Nietzsche direkt auf die Thesen von Gustav Gerber, der diesen Prozeß der fortschreitenden Verflachung und Depravation der individuellen Qualität der Empfindung durch deren sprachliche Artikulation wie folgt beschrieben hat: „Die Empfindungf...], wie sie unmittelbar, durch irgend einen Nervenreiz hervorgerufen wird, nimmt zwar das Ding selbst, von dem dieser Reiz ausgeht, nicht in sich auf, aber die steht doch mit ihm in einem direkten, sinnlichen Bezüge, erscheint von ihm erfüllt. Wird aber diese Empfindung nach aussen hin dargestellt, so ist der Zusammenhang mit dem den Reiz veranlassenden Dinge nur noch ein Mittelbarer und die Darstellung lässt nothwendig das Ding ausser Acht, und damit auch die genauere, individuelle Bestimmtheit des Reizes." Und weil dieser Auffassung zufolge die sprachliche „Aeusserung unbestimmter [...], vom Individuellen mehr abgewandt, als die Empfindung" sein soll eben weil die Bedeutung des Wortes, die Gerber als eine allgemeine versteht, nicht „alles Einzelne in sich schlisse, worin die Vorstellung zu Erscheinung kommt, sondern gerade dies, dass es mit den Einzelnen als solches nichts zu thun hat"10 -, kommt Gerber zu dem Schluß, daß zwar das Wort als ein „Lautbild" eines „Innenbildes" zu betrachten sei, nicht aber als „Ausdruck des Dinges". Wenn man diese Thesen akzeptiert, und daß Nietzsche sie akzeptiert hat, daran besteht überhaupt kein Zweifel, dann ist natürlich klar, daß gegen diesen scheinbildenden -
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„Ursprünglich sieht der Mensch alle Veränderungen in der Natur nicht als gesetzmäßig, sondern als Äusserungen des freien Willens d. h. blinder Zuneigungen Abneigungen Affekte Wuth usw. an: die Natur ist Mensch, nur so viel übermächtiger und unberechenbarer, als die gewöhnlichen Menschen, ein verhüllter in seinem Zelte schlafender Tyrann; alle Dinge sind Aktion wie er, nicht nur seine Waffen Werkzeuge sind belebt gedacht. Die Sprachwissenschaft hilft beweisen, dass der Mensch die Natur vollständig verkannte und falsch benannte: wir sind aber die Erben dieser Benennungen der Dinge, der menschliche Geist ist in diesen Irrthümern aufgewachsen, durch sie genährt und mächtig geworden." (KSA, NF, 8, 412) Diese Argumentation ist jedoch zirkulär. Sowenig eine Untersuchung über das faktische Zustandekommen einer Erkenntnis verbürgen kann, daß es sich hierbei tatsächlich um eine Erkenntnis handelt, weil sich das, was da gerade zustande gekommen ist, hinsichtlich seines Status als Erkenntnis gerade in Frage steht, sowenig kann dies eine Untersuchung über das faktische Zustandekommen jener „Benennungen der Dinge", die dazu führen soll, daß der „Mensch die Natur vollständig verkennt", weil er sie „falsch benennt" abgesehen davon,
daß sich natürlich auch das „Wissen", daß unsere Informationen über die Welt durch kausale Einwirkung in uns hineingelangen, als falsch herausstellen könnte. G. Gerber, Die Sprache als Kunst, Bd. 1, Bromberg 1871, 157. Vgl. dazu C. Kalb, ,„Das Individuelle'. Humboldt, Gerber und Nietzsche über den Zusammenhang von Sprache und Subjekt", in: Nietzscheforschung, Bd. 7, a. a. O., 168. U. Tietz, „Phänomenologie des Scheins", a. a. O., 158. -
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Verkehrungsprozeß kein Kraut gewachsen ist. Denn er gründet in der anthropologischen Grundausstattung des Menschen, die sich allenfalls beklagen, nicht aber verändern läßt. Man müßte schon diese Grundausstattung ändern, wollte man die Verflachung und Depravation der individuellen Qualität der Empfindung durch deren sprachliche Artikulation beseitigen. Die cartesianische Skepsis wird von Nietzsche quasi anthropologisiert, weil das uns sinnlich Gegenbene alles andere als „clare et distincte" gegeben ist. Es sind also ganz handfeste Annahmen über die Stellung des Menschen zu seiner äuße-
seiner inneren Natur, die Nietzsches Thesen über die Vernunft überNietzsches Vernunftkritik ist anthropologisch verankert, haupt insofern sie von dem „Faktum" ausgeht, daß die Sinne und die Sprache Instanzen darstellen, die die Wirklichkeit verstellen und verfälschen wobei Nietzsche auch für die Entstehung der Sprache anthropologische Voraussetzungen namhaft macht, nämlich einen „Trieb zur Metaphernbildung", den er auch als einen „Fundamentaltrieb des Menschen bezeichnet". (KSA, WL, 1, 887) Mit Rekurs auf diesen Trieb will er im Umfeld der Geburt der Tragödie nicht nur die These stützen, daß am „Bau der Begriffe [...] ursprünglich [...] die Sprache" und dann „in späteren Zeiten die Wissenschaft" gearbeitet hat, sondern auch die These, daß jenes große „Columbarium der Begriffe", in das der Mensch „die ganze empirische Welt, d.h. die anthropomorphische Welt" einordnet (KSA, WL, 1, 886), eine Welt des Scheins ist weshalb Nietzsche in der Genealogie der Moral auch sagt: ,,[u]nsre ganze Wissenschaft steht noch, trotz all ihrer Kühle, ihrer Freiheit vom Affekt, unter der Verführung der Sprache." (KSA, GM, 5, 279f.) Der Trieb zur Metaphernbildung, der nach Nietzsche zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen gehört, ist ein Trieb, der konstitutiv für alle Formen des menschlichen Selbst- und Weltverständnisses ist also auch für die Wissenschaften. Auch hier steht dieser Trieb mit der Übertragung eines Nervenreizes in ein Bild und in die darauf folgende Übertragung des Bildes in einen Laut am Anfang eines Prozesses, an dessen Ende jener unendlich komplizierte „Begriffsdom" der Wissenschaft steht, der längst schon den Kontakt zur Wirklichkeit verloren hat. Es ist eine erkenntnisanthropologische These, der zufolge der menschliche Selbst- und Weltbezug durch und durch metaphorisch ist und das deshalb auch die Wissenschaft, dieses „Riesenreich der Begriffe", als ein Kunstwerk betrachtet werden müsse, welches die Wirklichkeit durch das ebenso notwendige wie unvermeidliche „Übersehn des Individuellen" verfälscht und verstellt. „Das Übersehn des Individuellen giebt uns den Begriff und damit beginnt unsere Erkenntniß: im Rubriziren, in Aufstellungen von Gattungen. Dem entspricht aber das Wesen der Dinge nicht: es ist ein Erkenntnißprozeß, der das Wesen der Dinge nicht trifft." (KSA, NF, 7, 493f.) Oder, wie Nietzsche auch sagt: „Der ganze ErkenntnißApparat ist ein Abstraktions- und Simpliflkationsapparat nicht auf Erkenntniß gerichtet, sondern auf Bemächtigung der Dinge: ,Zweck' und .Mittel' sind so fern vom Wesen wie die .Begriffe'. Mit .Zweck' und .Mittel' bemächtigt man sich des Prozesses (- man erfindet einen Prozeß, der faßbar ist!), mit Begriffen aber der ,Dinge', welche den Prozeß machen." (KSA, NF, 11, 164) ren
und
vor
allem
zu
erst verständlich machen.
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Und in der Tat: Wenn man die Erkenntnis als eine Fälschung der Wirklichkeit ansieht, dann muß man natürlich auch die Wissenschaft als eine Fälschung der Wirklichkeit ansehen es sei denn, man vertritt die Ansicht, daß es in den Wissenschaften überhaupt nicht um Erkenntnisse geht, was Nietzsche freilich nicht tat. Im Gegenteil. Die Wissenschaft betrachtet er als das am besten organisierte und methodisch reflektierteste Fälschungsorgan, über das der Mensch verfügt wobei diese ideologiekritische These vom fälschenden Charakter der Wissenschaft in Form zweier Teilthesen auftritt, insofern diese Fälschung aus dem Zusammenspiel der Fälschung durch die Sinne und der Fälschung durch die Sprache erklärt wird, die in diesem Zusammenhang von Nietzsche übrigens beide als Künstler bezeichnet werden. Diese Ideologiekritik hat als Sprach- und als Wissenschaftskritik zwei Seiten oder Aspekte: einen naturalistischen und einen kulturalistischen. Während sich der kulturalistische Aspekt der Scheinbildung auf die „Fixierung der Wahrheit d. h. einer gültigen und verbindlichen Bezeichnung der Dinge" bezieht, also auf die Wahrheit, die Nietzsche die „Conventions-Wahrheit" nennt (KSA, NF, 7, 492), bezieht sich der naturalistische Aspekt der Scheinbildung auf die sukzessive Entwirklichung einer individuellen Erfahrung durch deren theoretische Verbegrifflichung. Analog zur sprachlichen Begriffsbildung begreift Nietzsche auch den Prozeß der wissenschaftlichen Theoriebildung als einen Prozeß der fortschreitenden Verflachung und Depravation der individuellen Qualität der Empfindung durch deren sprachliche Artikulation. Und dies ist in gewisser Hinsicht auch konsequent. Denn der „Theoriegetränktheit der Beobachtung" liegt eine Sprachgetränktheit zugrunde, weshalb sich denn auch reine Beobachtungen nicht mehr auffinden lassen, die als Berufungsinstanzen für eine adäquate Erkenntnis dienen könnten. Nietzsches Naturalismus begnügt sich also nicht mit der anthropologischen Hintergrundannahme, daß unsere organische Ausstattung und unsere kulturelle Lebensweise einen naturgeschichtlichen Ursprung haben, der einer evolutionstheoretischen Erklärung zugänglich gemacht werden kann. Mit der These vom genetischen Primat der Natur gegenüber der Kultur will Nietzsche eine Verkehrungstheorie stützen, die die Begriffssprache der neuzeitlichen Vernunft als eine gegenüber dem individuellen „Reiz" und der individuellen „Empfindung" abhängige und degenerierte Form darstellt. Die Einsicht in das genetische Primat der Natur vor der Kultur erscheint Nietzsche nicht mehr vereinbar mit einer Ontologie, die den epistemischen Vorrang der sprachlichen Welterschließung mit dem ontologischen Vorrang einer sprachunabhängigen Realität im Sinne einer erkenntnisrealistischen Auffassung verbinden kann. Nietzsche vertritt einen starken Naturalismus, mit dem sich eindeutig reduktionistische Ansprüche verbinden. Das Credo dieses reduktionistischen Programms lautet: „Führen wir die ganze intellektuelle Welt zurück bis zum Reiz und zur Empfindung." (KSA, NF, 7, 468) „Empfindung ist die einzige kardinale Thatsache, die wir kennen, die einzige wahre Qualität: Alle Naturgesetze sind auf Bewegungsgesetze zurückzuführen." (KSA, NF, 7, 598) Nietzsche vertritt eine Kausaltheorie des Wissens (die mit einer kausalen Bedeutungsund Referenztheorie verbunden ist), mit der eine Frage geklärt werden soll, die sich mit -
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Quine wie folgt formulieren läßt: „Wenn wir nur vom Zeugnis unserer Sinne ausgehen,
wie kommen wir dann zu unserer Theorie über die Welt?" Unter einer Kausaltheorie des Wissens können wir also eine Theorie verstehen, mit der spezifiziert werden kann, welche Art von Kausalverbindung zwischen einem Wissen und dem Objekt der empirischen Erkenntnis besteht, wobei der Grundgedanke der ist, daß eine wahre Überzeugung, die paradigmatischerweise eine durch Beobachtung erworbene Überzeugung ist, genau dann als ein Wissen gilt, wenn sie von dem, wovon sie handelt, auf die richtige Weise verursacht worden ist ein Gedanke, den wir heute etwa in der naturalistischen Erkenntnistheorie wiederfinden können, insofern auch hier behauptet wird, daß es im Prinzip möglich sei, die Wissenschaften bis auf die besagten Reizungen unserer Sinnesorgane zurückzuführen. „From stimulus to science" so könnte man mit Quine die Grundthese des Kausaltheoretikers formulieren, der damit die Grundformel des klassischen Empirismus variiert, wonach nichts im Verstand ist, was nicht vorher in den Sinnen war. Gegen Leibniz, der der These von Locke: Nihil est in intellectu, quod non fuerat in sensu, die These entgegenhielt: nisi intellectus^, stellt sich Nietzsche mit Gerber und Lange auf die Seite von Locke,1 weil er glaubt, daß sich Wissensansprüche nach dem Tod Gottes nur noch auf der Grundlage einer naturalistischen Erkenntnistheorie klären lassen. Nietzsche verpflichtet sich aber nicht nur einfach auf das empiristische Programm. Gleichzeitig und in diesem Zusammenhang stellt er sich auf der Basis dieses Programms allen Theorien entgegen, die behaupten, daß der Schein auf der Ebene des Ur-
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W. V. O. Quine, Die Wurzeln der Referenz, Frankfurt/M. 1989, 15. J. Locke, Über den menschlichen Verstand, Bd. II/l, Berlin 1962, § 2. G. W. Leibniz, „Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand", in: ders., Philosophische Schriften, Bd. 3.1, hg. von W. von Engelhardt und H. H. Holz, Frankfurt/M. 1996, Frankfurt/M. 1996, 103. Mit Rekurs auf Locke vertritt Gustav Gerber die These, daß die Sinneseindrücke den Dingen „mehr" entsprechen, als die Sprache. „Nach Locke [...] befindet sich der Mensch in der Wahrheit, so lange er die Sinneseindrücke rezipiert; will er diese aber in Worte fixieren, so hört die Sicherheit in dem Maße auf, als er sich vom Sinnlichen entfernt, denn die Worte als Bilder sind weder den Dingen adäquat, noch bedeuten sie überhaupt Dinge, sondern nur unsere Ideen von diesen." G. Gerber, Die Sprache als Kunst, Hildesheim 1961, 275. Auch Nietzsche teilt diese Intuition. Nietzsche würde jedoch nicht sagen, daß sich der Mensch in der Wahrheit befindet, „so lange er die Sinneseindrücke rezipiert". Denn nach Nietzsche fängt bereits mit dem ersten Sinneseindruck der scheinbildende Prozeß der Verkehrung an. Die These jedoch, daß es die Sinnesdaten sind, die den Input darstellen, als dessen Output die Vernunft erscheint, diese These teilt Nietzsche mit Gerber und Locke. Auch Friedrich Albert Lange vertrat bereits mit Rekurs auf Locke die These: „Je weiter sich der Mensch vom Sinnlichen entfernt, desto mehr unterliegt er dem Irrtum, und die Sprache ist die wichtigste Trägerin desselben. Sobald die Worte als adäquate Bilder von Dingen genommen, oder mit wirklichen anschaulichen Dingen verwechselt werden, während sie doch nur willkürliche, mit Vorsicht zu gebrauchende Zeichen für gewisse Ideen sind, ist das Feld zahlloser Irrtümer erschlossen. Lockes Vernunftkritik läuft daher in eine Kritik der Sprache aus, die ihrem Grundgedanken nach wohl von höchstem Wert ist, als irgendein anderer Teil des Systems." F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, hg. von H. Schmidt, Leipzig 1926, 217; Vgl. H.-G. von Seggern, Nietzsches Philosophie des Scheins, Weimar 1999, 75. -
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teils und nicht schon auf der der Sinne angesiedelt sei also auch der Philosophie von Aristoteles15, Descartes16, Leibniz17 und Kant, der im Rahmen der „transzendentalen Logik" geradezu eine Apologie der Sinne liefert, die sich wesentlich auf zwei Einsichten gründet: Erstens auf die Einsicht, daß Begriffe überhaupt nur in Urteilen auftreten und das diese in inferentiellen Begründungsrelationen zueinander stehen denn unter einem Begriff versteht Kant „ein Prädikat eines möglichen Urteils", von „dem der Verstand keinen anderen Gebrauch machen [kann], als daß er dadurch urteilt" Und zweitens auf die Einsicht, daß sich die „Sinne nicht irren, aber nicht darum, weil sie jederzeit richtig urteilen, sondern weil sie gar nicht urteilen. Daher sind Wahrheit sowohl als Irrtum, mithin auch der Schein, als die Verleitung zum letzteren nur im Urteile, d. i. nur in dem Verhältnisse des Gegenstandes zu unserem Verstände anzutreffen". Kant argumentiert also dafür, daß „der Schein [...] nicht auf Rechnung der Sinne, sondern des Verstandes [kommt], dem es allein zukommt, aus der Erfahrung ein objektives Urteil zu fällen"21. Denn die Sinnlichkeit steht im Rahmen der kritischen Philosophie lediglich für die Fähigkeit, Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen. Die Sinne können daher gar nicht die Instanz sein, die sich für den Schein verantwortlich machen läßt: „Den Gang der Planeten stellen uns die Sinne bald rechtläufig, bald rückläufig vor, und hierin ist weder Falschheit noch Wahrheit, weil, solange man sich bescheidet, daß dieses vorerst nur Erscheinung ist, man über die objektive Beschaffenheit ihrer Bewegung noch gar nicht urteilt." Der „trügerische Schein" hat nichts mit dem „Ursprung" unserer „sinnlichen Vorstellungen" zu tan, sondern einzig und allein mit der Art und Weise, wie diese im Verstände verknüpft werden.22 Nach Kant liefert uns die „Rezeptivität der Sinnlichkeit" also lediglich das Material, welches der Verstand als das „Vermögen der Begriffe" verarbeitet was dann für Kant nichts anderes heißt als zu urteilen, weshalb er auch den Verstand „als ein Vermögen zu urteilen" versteht. Genau dies erscheint Nietzsche nicht akzeptabel. Im Gegensatz zu Kant, der der Auffassung war, „Wahrheit oder Schein sind nicht im Gegenstande, sofern er angeschaut wird, sondern im Urteile über denselben, sofern er gedacht wird" will Nietzsche den Schein bereits auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung ansiedeln. Deshalb widerspricht er der These, daß der Ursprung der Erkenntnis nichts mit dem Inhalt der Er-
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Aristoteles, „Über die Seele", in: Aristoteles, Werke, Bd. 13, hg. von H. Flashar, Berlin 1979, 427 b. R. Descartes, „Meditation über die Grundlagen der Philosophie", in: ders., Ausgewählte Schriften, hg. von G. Irrlitz, Leipzig 1980, 183. G. W. Leibniz, „Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand", in: ders., Philosophische Schriften, Bd. 3.2, a. a. O., 489ff. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. von R. Schmidt, Leipzig 1979, A 69. Ebd., A 68. Ebd., A 293; Vgl. auch ders., „Logik", in: Schriften zur Metaphysik und Logik, Bd. 2, Werkausgabe Bd. VI, hg. von W. Weischedel, Frankfurt/M. 1977, 470f. I. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, hg. von S. Dietzsch, Leipzig 1979, 43. Ebd.
Kant, Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., A 69. Ebd., A 292. I.
Udo Tietz
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zu tun haben soll. Er meint, daß die Gegebenheitsweise der „sinnlichen Vorstellungen" sich nicht prinzipiell von der Verknüpfung dieser Vorstellungen durch den Verstand unterscheidet, insofern hier wie dort das Individuelle und Verschiedene zum „Gleichen, Ähnlichen, Abzählbaren" umgefälscht wird. Nietzsche glaubt anscheinend, die kritische Philosophie noch einmal kritisch überbieten zu können, wenn er das Phänomen des Scheins auf eine tiefere Etage verlegt, nämlich unter die Ebene des Urteilens, so daß nun mit den Sinnen eine Instanz ins Spiel gebracht werden kann, die zwar nicht alleinverantwortlich, zumindest aber erstverantwortlich ist für jene Folge von Verkehrungseffekten im Dienste einer Welterklärung, welche sich auf den Willen zur Macht gründet: „Das Auge, wenn es sieht, thut genau dasselbe, was der Geist thut um zu begreifen. Es vereinfacht das Phänomen, giebt ihm neue Umrisse, ähnelt es früher Gesehenem an, führt es zurück auf Früher-Gesehenes,
kenntnis
bildet es um, bis es faßlich wird. Die Sinne thun dasselbe wie der ,Geist': sie bemächtigen sich der Dinge, ganz so wie die Wissenschaft eine Überwältigung der Natur in Begriffen und Zahlen ist. Es giebt nichts darin, was .objektiv' sein will: sondern eine Art Einverleibung und Anpassung, zum Zwecke der Ernährung." (KSA, NF, 11, 269; KSA,
NF, 12,312)
Halten wir fest: Nietzsche bestreitet nicht nur Kants These, daß der Schein allein im Verstände als dem „Vermögen der Begriffe" anzutreffen ist, da „beim sogenannten Betrüge der Sinne" die „Täuschung [...] einem Fehltritte der Urteilskraft [...] beizumessen ist".25 Er bestreitet zudem dessen These von der aktiven Rolle des Verstandes und der bloß rezeptiven Rolle der Sinnlichkeit, eine These, die in dieser Form auch schon von Aristoteles vertreten wurde. Nietzsches antidualistische Erkenntnistheorie sieht in den Sinneswahmehmungen keinen passiven Akt, sondern eine aktive Handlung! „Handlungen: damit etwas wahrgenommen werden kann, muß eine aktive Kraft bereits fungiren, welche den Reiz annimmt, wirken läßt und als solchen Reiz anpaßt und modifizirt." (KSA, NF, 10, 264) „Daß in allen ,Sinnes-Eindrücken' wir nicht nur passiv, sondern sehr aktiv sind, auswählend, ausfüllend, auslegend es handelt sich um die Ernährung wie bei der Zelle: um Assimilation und Umstellung des Ungleichen." (KSA, NF, 10, 253) Für Nietzsche ist schon der Akt der Sinnlichkeit ein Akt der Spontaneität und damit ein Akt der Gewalt, der im Willen zur Macht gründet. Nietzsche will sich mit der These vom aktiven, assimilatorischen und damit scheinbildenden Charakter der Sinne dem auch noch von Kant vertretenen rationalistischen Erkenntnisbegriff entgegensetzen, wonach die begrifflich-interpretatorische Sicht der Erkenntnis als begrifflich-interpretatorische Sicht des Bewußtseins betrachtet werden müsse. Nietzsche vertritt gewissermaßen eine naturalistische Erkenntnistheorie, deren Grundlage eine animistische Theorie der Scheinbildung ist. Damit stoppt Nietzsche Kants Vormarsch in Richtung einer propositionalen, nicht perzeptuellen Auffassung von Erkenntnis und kehrt zu einer Position zurück, wie sie im Anschluß an Locke von David Hume und John Stuart Mill vertreten wurde, eine Position, für die die Frage charakteristisch war, wie man sich unter der Voraussetzung, daß nichts im Verstand ist, was nicht vorher in den Sinnen war, vom Schleier der Ideen -
25
"6
Ebd., A 376. Aristoteles, „Über die Seele", a.
a.
O., 424 a.
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befreien könne. Auf diese Frage besaßen die englischen Empiristen eine ebenso einfache wie verblüffende Antwort: Mache von deinen Gewißheiten darüber, wie die Dinge deinen Sinnen erscheinen, denselben Gebrauch, den Piaton von den Axiomen der Geometrie gemacht hat verwende sie als Prämissen, aus denen du alles übrige ableitest,
allerdings induktiv, nicht deduktiv, wie bei Piaton. -
27
Obwohl diese Antwort bereits mit Hume ihren unschuldigen Charme verloren hat, hält sich Nietzsche an diese Empfehlung und erneuert damit den Fehler der Kontamination von Rechtfertigung und Kausalerklärung, den Kant als den grundlegenden Fehler der empiristischen Erkenntnistheorie erkannt hatte. Nietzsche nimmt an, der „logische Raum des Begründens" steht zu den kausalen Übertragungen von Reizen in Bildern und Lauten in einer besonderen Beziehung, so daß entweder die Übereinstimmung beider durch den erkenntnistheoretisch aufpolierten Spiegel gesichert ist, dies war die Intuition von Locke, oder aber, daß die Übereinstimmung beider eben nicht gesichert ist, weil der Spiegel beständig verschmutzt ist, dies ist die Auffassung von Nietzsche. Aber hier wie dort ist es das erkenntnistheoretische Bild vom Spiegel der Natur, mit dem die Qualität der Erkenntnis beurteilt werden soll. „Versuchen wir den Spiegel an sich zu betrachten, so entdecken wir endlich nichts als die Dinge auf ihm. Wollen wir die Dinge fassen, so kommen wir zuletzt wieder auf nichts als den Spiegel. Unser Denken ist wirklich nichts als ein sehr verfeinertes zusammengeflochtenes Spiel des Sehens Hörens Fühlens, die logischen Formen sind physiologische Gesetze der Sinneswahrnehmungen. Unsere Sinne sind entwickelte Empflndungscentra mit starken Resonanzen und Spiegeln." (KSA, NF, 9, 309) Im Unterschied zu Locke glaubt Nietzsche zwar nicht, daß unser „Streben, den Spiegel immer adäquater zu machen", jemals Aussicht auf Erfolg haben wird. Denn eine Befreiung vom Anthropomorphischen hält Nietzsche definitiv für ausgeschlossen. Das „der Spiegel selbst [...] aber nichts ganz Fremdes und dem Wesen der Dinge Ungehöriges" sei, ja, daß er sogar selbst „langsam entstanden als Wesen der Dinge" zu betrachten ist, dies glaubt jedoch auch Nietzsche. (KSA, NF, 7, 468) Und ohne dieses Bild vom Spiegel der Natur wäre Nietzsches Erkenntnistheorie wohl auch gar nicht zu verstehen. Und dies gilt nicht etwa nur für den frühen Nietzsche. Denn auch noch der späte Nietzsche vertrat die These: „Der Ausgangspunkt ist die Täuschung des Spiegels, wir sind -
lebendige Spiegelbilder." (KSA, NF, 9, 311)
Nun schließt die These, daß sich „die ganze intellektuelle Welt [...] bis zum Reiz und zur Empfindung" zurückführen läßt, weil „die Empfindung [...] die einzige kardinale Thatsache [ist], die wir kennen", natürlich auch die Logik und die Mathematik ein, zumindest wenn man nicht bestreitet, daß es sich hierbei um Wissen und um Wissenschaft handelt was Nietzsche zunächst nicht tat. Im Gegenteil. Zunächst meint Nietzsche, daß sich auch die Sätze der Logik und der Mathematik direkt auf Reize der Sinne und damit auf Erfahrung zurückführen lassen. Die Reizungen unserer Sinnesrezeptoren betrachtet Nietzsche zunächst als die einzige Quelle des Wissens. Wenn sich aber wirk-
R. Rorty, Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philosophie, Frankfurt/M. 1987, 179; Vgl. dazu U. Tietz, „Der gemäßigte Kontextualismus Richard Rortys Ein postanalytisches Pendant zur poststrukturalistischen Vernunftkritik", in: Poststrukturalismus Dekonstruktion Postmoderne, hg. von K. W. Hempfer, Stuttgart 1992, 129-160.
Vgl.
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lieh all unser Wissen auf Erfahrung gründet, dann müßten sich natürlich die Sätze der Logik und Mathematik auch durch Erfahrung widerlegen lassen. Dies ist nun aber offenkundig nicht der Fall. Selbst Hume meinte, die Sätze der Logik und der Mathematik seien gewiß, „ohne von irgendeinem Dasein in der Welt abhängig zu sein". Indes, wenn dies wirklich nicht der Fall ist und wenn die Wahrheit der Sätze der Logik und Mathematik wirklich „Unabhängig von einem Dasein" ist, dann stellt sich nicht nur die Frage nach dem Status diese Sätze, sondern auch die Frage, worauf sich ihre Wahrheit gründet, eine Frage, vor der jede empiristische Erkenntnistheorie steht. Auch Nietzsche müßte diese Fragen beantworten können, denn sonst, so der berechtigte Verdacht, ist eben doch nicht all unser Wissen auf Erfahrung zurückzuführen. Kant hatte bekanntlich auf diese Frage eine Antwort und zwar eine Antwort, die die Wahrheit der mathematischen und logischen Sätze apriorisch mit Rekurs auf ein „Bewußtsein überhaupt" begründet, eine Antwort, die Nietzsche jedoch aus mehreren Gründen nicht mehr akzeptieren kann, so daß er vor folgender Alternative steht: Entweder er hält uneingeschränkt an der These fest, daß nichts im Verstand ist, was nicht vorher in den Sinnen war, dann hätte er zeigen müssen, wie sich auf der Basis von Reizen der Satz der Identität und der Satz des Widerspruchs verstehen lassen was Nietzsche zunächst auch versucht hat. Oder aber er gibt der rationalistischen Gegenpartei zumindest in dem Punkt recht, daß die Sätze der Logik und Mathematik durch Erfahrung nicht widerlegt werden können, eben weil es sich bei diesen Sätzen nicht um Aussagen über die Welt handelt was bedeutet, daß das reduktionistische Programm so einschränkt werden muß, daß es sich fortan nur noch auf unser Wissen über die Welt bezieht. Und genau dies hat Nietzsche dann auch getan. Nachdem er sah, daß sich daß reduktionistische Programm der Zurückführung des Wissens auf Erfahrung nicht durchführen läßt, schränkt er das Programm so ein, daß es nun nur noch für den Bereich des empirischen Wissens zuständig ist. Ende der achtziger Jahre schreibt er: „Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugnis der Sinne anzunehmen, als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten." „Der Rest ist Missgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft: will sagen Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnistheorie, Oder Formal-Wissenschaft, Zeichenlehre: wie die Logik und jene angewandte Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als Problem, ebensowenig als Frage, welchen Werth überhaupt eine solche Zeichen-Convention, wie die Logik ist, hat. -" (KSA, GD, 6, 76) Nietzsche vertritt hier also nicht mehr uneingeschränkt das reduktionistische Programm, insofern jetzt Logik und Mathematik davon ausgenommen werden, mit den „Zeugnis(sen) der Sinne" konfrontiert zu werden. Dennoch steht das reduktionistische Programm auch weiterhin unter einem erheblichen Rechtfertigungsdruck: Und dies mindestens aus drei Gründen: Zum ersten, weil Nietzsche trotz des Zugeständnisses, daß Logik und Mathematik nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben, weiterhin behauptet: „Der Satz von der Identität hat als Hintergrund den ,Augenschein', daß es gleiche Dinge" oder, wie Nietzsche auch sagt, „identische Fälle giebt" (KSA, NF, 11, 561 und 643), eine These, die sich wohl nur vor dem -
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D.
Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Hamburg 1964, 35.
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Hintergrund einer empiristischen Theorie der Erkenntnis verstehen läßt,29 ohne die wohl auch kaum die These zu verstehen wäre, daß „die logischen Formen [...] physiologische Gesetze der Sinneswahrnehmungen" sind. (KSA, NF, 9, 309) Zum zweiten, weil Nietzsche inzwischen zwar behauptet, daß „alle menschliche Erkenntniß [...] entweder Erfahrung oder Mathematik" sei. (KSA, NF, 12, 266) Gleichzeitig aber meint er: „Die Grundsätze der Logik, der Satz der Identität und des Widerspruchs, sind reine Erkenntnisse, weil sie aller Erfahrung vorausgehen. Aber das sind gar keine Erkenntnisse! Sondern regulative Glaubensartikel!" (KSA, NF, 12, 266) Und schließlich zum dritten, weil Nietzsche nun erklären müßte, wie sich die Bedeutung von Sätzen verstehen läßt, die auf Grund ihrer Bedeutung wahr oder falsch sind, wenn man sie nicht mehr mit einer kausalen Theorie der Bedeutung erklären kann, eine Frage, die völlig unabhängig von der These ist, daß es sich bei den Grundsätzen der Logik nicht um Erkenntnisse, sondern um „Glaubensartikel" handelt. Denn selbst wenn man Nietzsche darin folgt, daß es sich im Fall der Grundsätze der Logik nicht um Erkenntnisse handelt, und hiervon dürfen wir wohl ausgehen, selbst dann fragt sich ja, wie denn nun dann die Wahrheit von Sätzen erklärt werden kann, die allein auf Grund ihrer Bedeutung „wahr" sind -
etwa der Satz „a
a". Denn eines läßt sich wohl schwerlich bestreiten: Das die Sätze der Logik und der Mathematik überhaupt eine Bedeutung haben, auf Grund derer sie wahr oder falsch sind. Wenn sich dies aber nicht bestreiten läßt und wenn sich diese Bedeutung nicht mehr mit einer kausalen Theorie der Bedeutung erklären läßt, weil es gar keine Entitäten in der Welt gibt, die hier für irgendwelche Reizungen von Sinneseindrücken ver=
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antwortlich sein könnten, die am Anfang der Übertragungskette stehen, an deren Ende Sätze der Form „a=a" stehen, dann fragt sich natürlich, wie die Bedeutung dieser Sätze zu verstehen ist, eine Frage, auf die Nietzsche jedoch noch nicht einmal im Ansatz ver-
Dies wird deutlich, wenn wir uns anschauen, was Nietzsche unter einem „identischen Fall" vervor dem sich dann der Satz der Identität verstehen lassen soll. Was also ist ein „identischer Fall"? Wenn wir Wittgenstein folgen, dann wäre die Antwort klar, insofern er schon die Rede von den „identischen Fällen" denunziert. „Von zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein Unsinn, und von Einem zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt gar nichts." L. Wittgenstein, „Tractatus logico-philosophicus", in: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt/M. 1984, § 5.5303. Nietzsche jedoch meint, daß eine solche Rede durchaus einen guten Sinn macht, weil er davon ausgeht, daß „der Entstehung der Arithmetik eine lange Übung und Vorschulung im Gleichsehen, Gleichnehmen-wollen, im Ansetzen identischer Fälle und im ,Zählen' vorausgegangen sein muß, so insgleichen auch dem logischen Schließen. Das Unheil ist ursprünglich noch mehr als der Glaube ,das und das ist wahr', sondern ,gerade so und so will ich, daß es wahr ist!' Der Trieb der Assimilation, jene organische Grundfunktion, auf der alles Wachsthum beruht, paßt sich, was es aus der Nähe sich aneignet, auch innerlich an: der Wille zur Macht fungirt in diesem Einbegreifen des Neuen unter den Formen des Alten, Schon-Erlebten, im Gedächtniß noch-Lebendigen: und wir heißen es dann .Begreifen'!" (KSA, NF, 11, 631) Nach Nietzsche gilt: .„Erkenntnis ist Urtheil!' Aber Unheil ist ein Glaube, daß etwas so oder so ist!." (KSA, NF, 12, 264) womit Nietzsche in urteilstheoretischer Hinsicht Adornos berühmte These über das Nichtidentische vorwegnimmt. Vgl. U. Tietz, „Dialektischer Negativismus. Das Nichtidentische, das Urteil und die Synthesis", in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, 1 (2001), 113-145.
steht,
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sucht, eine Antwort
zu geben was insofern nicht verwunderlich ist, als eine Antwort auf diese Frage die Aufgabe einer kausalen Theorie der Bedeutung nach sich ziehen würde. Aber wie dem auch sei. Nietzsche hat jedenfalls gesehen, daß das reduktionistische Programm, der Zurückführung der ,,ganze[n] intellektuelle[n] Welt [...] bis zum Reiz und zur Empfindung", sich in der uneingeschränkten Variante nicht durchführen ließ. Wenn überhaupt, dann taugt das Reduktionsprogramm nur für den Bereich des Wissens, in dem es um unserer empirisch gestütztes Weltwissen geht. Doch selbst in der abgeschwächten Variante ergeben sich für das reduktionistische Programm eine Reihe von Problemen. Denn sensorische Reize und äußere Umstände, angesichts derer etwas geäußert wird, können niemals das sein, was eine Aussage rechtfertigt. Um entscheiden zu können, ob die ersteren die letzten stützen, müßte nämlich das erkennende Subjekt die Reizungen seiner eigenen Sinnesrezeptoren mit den durch die verursachten Überzeugungen vergleichen können eine Voraussetzung, von der Nietzsche im Anschluß an Gerber auch ausgeht, was daran deutlich wird, daß beide mit Rekurs auf eben diese sensorischen Reize den Aussagen über die Welt attestiert, daß diese „das Individuelle und Wirkliche" übersehen. Die Annahme eines solchen Vergleichs impliziert jedoch etwas, was es gemäß der von Nietzsche akzeptierten Prämissen gar nicht geben kann die Annahme eines homunculus, der den Wahrnehmungsvorgang quasi noch einmal beobachtet, wenn die sensorischen Reize zu Rechtfertigem für Überzeugungen und Aussagen werden. Um erfolgreich zu sein, müßte das Reduktionsprogramm also zeigen können, wie die „inferentiellen Beziehungen zwischen unseren Meinungen als eine bestimmte Art von kausalen Beziehungen zu interpretieren" sind, wozu sich der „Prozeß der epistemischen Rechtfertigung" als eine „Art innere Mechanik" verstehen lassen müßte, „die involviert ist, wenn wir Wissen erwerben." Doch genau an diesem Nachweis scheitert das Reduktionsprogramm. Und dies ist kein Zufall. Denn der Prozeß der epistemischen Rechtfertigung läßt sich nicht auf den Prozeß der kausalen Verursachung zurückführen, weil sensorische Stimuli weder wahr noch falsch sein können. Sie können demzufolge auch nicht die Wahrheit oder Falschheit von Sätzen begründen. Denn wahre oder für wahr gehaltene Sätze können immer nur durch andere für wahr gehaltene Sätze begründet werden, weil „nichts als Grund für eine Meinung in Frage kommt, was nicht selbst eine Meinung ist". Zwar hängt die Wahrheit solcher Sätze immer von zwei Faktoren ab: „davon, was die gesprochenen Worte bedeuten, und davon, wie die Welt beschaffen ist".32 Aber sie hängt eben in verschiedener Weise von diesen beiden Faktoren ab. Die Wahrheitsbedingungen von Sätzen werden zwar durch Wahrheitsbedingungen (im Sinne Tarskis) gegeben, aber um festzustellen, ob diese auch erfüllt sind, konfrontieren wir unsere -
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Bieri, „Einführung" zu: Analytische Philosophie der Erkenntnis, hg. von P. Bieri, Frankfurt/M. 1987, 59. D. Davidson, „Eine Kohärenztheorie der Wahrheit und der Erkenntnis", in: Philosophie der Skepsis, hg. von T. Grundmann und K. Stüber, Paderborn/München/Wien, Zürich 1996, 256. Ebd., 254. P.
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Überzeugungssätze nicht mit der Welt, sondern überprüfen sie auf Kohärenz mit Rekurs auf unsere übrigen Überzeugungen.
Und genau dies hat Nietzsche übersehen, als er sich die Frage stellte, wie wir zu unserer Theorie über die Welt kommen, wenn wir nur vom Zeugnis unserer Sinne ausgehen können. Und Nietzsche hat dies deshalb übersehen, weil er übersah, daß diese Frage eine systematische Doppeldeutigkeit verbirgt. Denn diese Frage läßt zwei unterschiedliche Lesarten zu: „Nach der ersten handelt es sich um die Frage: ,Wie und in welchem Ausmaß stützen und begründen unsere sensorischen Evidenzen unsere Theorien über die Welt?' Nach der zweiten Lesart bedeutet (die) Frage etwas ganz anderes: ,Auf welche Weise, auf welchem Weg entsteht über sensorische Reizungen ein Gebilde von Sätzen, eine Theorie über die Welt?' Bei der ersten Frage geht es um die epistemische Rechtfertigung unserer Sätze, Theorien und Meinungen über die Welt. Dem entspricht, daß unsere sensorischen Informationen die Rolle von Evidenzen und Gründen zufallt und daß es sich bei der Beziehung, in der sie zu einer Theorie stehen, um eine Beziehung der Stützung oder Begründung, also um eine epistemische Beziehung handelt. Ganz anders bei der zweiten Frage. Bei ihr geht es um die Genese von Theorien oder Meinungen, also um ihren kausalen Ursprung. Dem entspricht, daß von Reizungen die Rede ist, nämlich von bestimmten kausalen Prozessen, die in der Entstehung von Theorien involviert sind, so daß zwischen ihnen und den Theorien eine kausale Beziehung besteht."33 Man muß also unterscheiden zwischen der Frage, wie man zu einer Meinung gekommen ist, und der Frage, ob die Meinung wahr ist. Oder anders gesagt: Man muß unterscheiden zwischen den Ursachen, warum ein einzelner oder eine Gruppe zu der Meinung p gekommen ist, von den Gründen, die für die Wahrheit von p sprechen, wobei ich unter Gründen wesentlich Gründe für assertorische (und praktische) Sätze und das in ihnen Gemeinte verstehe. Und genau dies hat Nietzsche nicht getan, weil er, analog zu Locke und Hume, nicht nach Gründen sucht, mit denen empirische Wissensansprüche gerechtfertigt werden, sondern nach deren Ursachen, wobei Nietzsche sogar für Tautologien, also für logisch wahre Sätze, solche kausale Ursachen angeben will. Wenn Nietzsche noch 1885 behauptet: „Das Muster einer vollständigen Fiction ist die Logik. Hier wird das Denken erdichtet", dann deshalb, weil er nach wie vor eine Kausaltheorie des Wissens vertritt und weil er glaubt, daß die Sinne und die Sprache Dichter sind, die die Wirklichkeit verfälschen und verstellen! „Bevor [...] ,gedacht' wurde, muß schon gedichtet worden sein." (KSA, NF, 11, 636) Der „formende Sinn" fingiert ein „Sich-selbstidentisches A", daß Nietzsche in Analogie zum Atom als eine „Nachconstruktion des ,Dings'" ansieht. (KSA, NF, 12, 389f.) Die Wissenschaften und die Logik betrachtet er daher als Kunst, weil es sich hier wie dort um Prozesse der Scheinbildung handelt. Nach Nietzsche gilt: „Das Projicieren des Scheins ist der künstlerische Urprozeß." (KSA, NF, 7, 203) Durch die Wissenschaft wird „die Undeutlichkeit und das Chaos des Sinneseindrucks [...] gleichsam logisiert" (KSA, NF, 12, 394), weshalb Nietzsche auch sagt: „alle Wissenschaft auf den Schein gerichtet, insofern sie streng an der Individuation festhält P. Bieri, „Einführung" zu: Analytische Philosophie der Erkenntnis, G. Keil, Kritik des Naturalismus, Berlin/New York 1993, 51.
a. a.
O., 410; Vgl. dazu auch
60
Udo Tietz
und die Wesenseinheit nie anerkennt. In diesem Sinn ist sie
apollinisch." (KSA, NF, 7,
158)
Ich denke, daß sich Nietzsches Wissenschaftskritik, in der „der Unterschied zwischen den Gründen, die eine Überzeugung rechtfertigen, und den Ursachen, die sie wirklich hervorbringen", wegfällt,34 mindestens aus zwei Gründen nicht mehr vertreten läßt. Erstens, weil Nietzsches Ontologie des Scheins nicht plausibel machen kann, woran sich die Feststellung vom fälschenden Charakter der Sinne und der „Bau der Begriffe", an dem zunächst die Sprache und später dann die Wissenschaft arbeiten soll, überhaupt bemißt und zweitens, weil das, was Nietzsche wissenschaftliche Erkenntnis nennt, gar keine Relation zwischen Personen und Gegenständen ist, sondern eine Relation zwischen Personen und Propositionen. Einen wissenschaftlichen Erkenntnisanspruch rechtfertigen wir schließlich nicht dadurch, daß wir auf das einwandfreie Funktionieren unseres Organismus verweisen. Wenn wir einen Zustand als einen Zustand des Wissens bezeichnen, dann geben wir keine empirische Beschreibung dieses Zustandes, sondern stellen das, was wir als eine wissenschaftliche Erkenntnis reklamieren, in den „logischen Raum der Gründe, des Rechtfertigens und des Rechtfertigenkönnens des Gesagten".35 Wissenschaftliches Wissen hat also gar nicht die Form einer „Kenntnis von", wie Nietzsche glaubt, sondern die eines „Wissens daß", so daß wir folgerichtig auch eine Sicht auf die Wissenschaft zurückweisen müssen, die bereits mit den Sinnen und später dann mit der Sprache eine fälschende Instanz glaubt ausfindig gemacht zu haben und Nietzsche hat ja auch nie wirklich gezeigt, wie sich wissenschaftliches Wissen aus Nervenreizen rekonstruieren -
läßt.36
Diese Andeutungen sollen genügen, um die These plausibel zu machen, daß eine Reihe der inhaltlichen und methodischen Mißverständnisse, die Nietzsches Schriften durchziehen, auf das Konto einer Ontologie des Scheins geht, die in unserer anthropologischen Grundausstattung einen Verkehrungsmechanismus eingebaut sieht, der sich, wenn überhaupt, nur um den Preis einer Leib-Seelischen-Totalerneuerung des Menschen beseitigen ließe. Der Mensch müßte also seine komplette anthropologische Grundausstattung umstellen, wenn er den Verkehrungsmechanismus außer Kraft setzen wollte wobei nicht nur berechtigte Zweifel an der Wünschbarkeit, sondern bereits an der Möglichkeit solch einer Erneuerung bestehen. Ich möchte im folgenden weder eine weitere Analyse dieser Mißverständnisse noch gar den unsinnigen Versuch ihrer Rechtfertigung unternehmen. Nietzsches Thesen über den fälschenden Charakter der Wissenschaften lassen sich nicht verteidigen und seine Wissenschaftskritik ist ein Konzept, das sich nicht retten läßt. Denn sie gründet in einer Anthropologie, die man als idealistische nicht begründen und als empiristische nicht bestätigen kann. Daher glaube ich, daß diese Anthropologie mit ihrer Orientierung am „Nichtidentischen" und der Kritik am identifizierenden Denken für uns heute auch kei-
-
Frege, „Logik", in: Nachgelassene Schriften, hg. von H. Hermes, F. Kambartel und F. Kaulbach, Hamburg 1969, 159.
G.
Seilars, Science, Perception and Reality, London/New York 1963, 169. Vgl. U. Tietz, „Was es heißen könnte, die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers in: Ästhetik und Kommunikation, Heft 114, 31. Jg. (2001), 89-98. W.
zu
sehen",
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Anschlußmöglichkeiten mehr bereitstellt. Denn es ist einfach nicht zu sehen, wie sich eine solche Anthropologie von den hier aufgeworfenen Problemen in einer, diese nicht ignorierenden Form befreien ließe eine Einschätzung, an der sich auch durch die beständige Versicherung wenig ändern dürfte, daß es hier noch „Unabgegoltenes" gäbe. Denn man kann nicht immer wieder das Unabgegoltene beschwören, ohne es endlich einmal abzugelten. Ein beständiges Reden über Unabgegoltenes erweckt den Eindruck, man lebe philosophisch über seine Verhältnisse: nämlich auf Pump. Betrachtet man jedoch Nietzsches Wissenschaftskritik allein unter ihren allzu offensichtlich falschen Voraussetzungen und Schlußfolgerungen, dann übersieht man freilich, daß Nietzsche gleichzeitig und in diesem Zusammenhang die Grundzüge zu einer erkenntnisanthropologischen Erweiterung der Erkenntnistheorie im Sinne einer Erkenntnisanthropologie formuliert hat, an der sich später nicht nur die philosophische Anthropologie von Max Scheler, Arnold Gehlen und Helmut Plessner orientieren konnte, sondern, vermittelt über die philosophische Anthropologie, auch die Universal- und Transzendentalpragmatik von Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas. Die Grundzüge dieser Erkenntnisanthropologie formuliert Nietzsche entlang der These vom Menschen als einem Mängelwesen und auch die philosophische Anthropologie hat das Spezifische des Menschen immer aus dem Zusammenhang seiner biologischen Sonderausstattung heraus verstanden. Und in der Tat. Verglichen mit höher entwickelten Tieren erscheint der Mensch auf den ersten Blick schlicht minderbemittelt. Er hat nur schwache Organe und Sinne, ihm fehlt es an natürlichen Waffen. Seine Instinkte sind soweit überhaupt vorhanden verarmt und verunsichert. Kurz: der Mensch ist seiner Naturausstattung nach ein Mängelwesen, das auf Grund externer Faktoren permanent gefährdet ist. Dies ist freilich nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, daß eben diese Minderbemittlung dem Menschen ganz neue Möglichkeiten und Chancen bietet. Besteht die negative Seite in der Mangelhaftigkeit, so die positive Seite in der Nötigung zur Kompensation des Mangels durch die Entwicklung seiner Sprach- und Erkenntnisfähigkeit weshalb man hier mit Heidegger auch sagen kann, daß der Mensch das Wesen ist, daß „Welt hat". Anders gesagt: Die positive Kehrseite der Mangelhaftigkeit besteht in der Plastizität und Weltoffenheit des Menschen. Sobald die Menschen ihrer „ausgehängten" Instinkte beraubt waren, mußten sie sich auf ihr ,„Bewußtsein', auf ihr ärmlichstes und fehlgreifendstes Organ!" verlassen, nämlich auf den Apparat der Verfügbarmachung und Vergegenständlichung der äußeren und inneren Natur: „Zu den einfachsten Verrichtungen fühlten sie sich ungelenk, sie hatten für diese neue unbekannte Welt ihre alten Führer nicht mehr, die regulirenden unbewusst-sicherführenden Triebe, sie waren auf Denken, Schliessen, Berechnen, Combiniren von Ursachen und Wirkungen reduzirt, diese Unglücklichen." (KSA, GM,
ne
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5, 322) So „erfand" sich dieses „mißratene" aber „kluge Thier das Erkennen". Es soll nur ei-
„hochmütige und verlogene Minute der ,Weltgeschichte'" gewesen sein. Jedoch von dem Moment an, als das Erkennen erst einmal erfunden war, gab es kein Zurück mehr. Der „handelnde Mensch" mußte nun sein „Leben an die Vernunft und ihre Begriffe binde[n], um nicht fortgeschwemmt zu werden und sich nicht selbst zu verlieren". ne
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(KSA, WL, 1, 886) Der „Bau der Begriffe", an dem, Nietzsche zufolge, „ursprünglich [...] die Sprache, in späteren Zeiten dann die Wissenschaft" arbeitete, erwies sich für das „mißratene Thier" als eine elementare Voraussetzung seiner Lebenssicherung, eine Auffassung, die Nietzsche auch später noch vertreten wird: „Die Naturwissenschaft will mit ihren Formeln die
,wahrere' Auffassung (KSA, NF, 11,284)
an
Überwältigung Stelle der
der Naturkräfte lehren: sie will nicht eine setzen (wie die Metaphysik)."
empirisch-sinnlichen
Im Gegensatz zum Tier, das vollständig in seine Umwelt eingepaßt ist und das in der Vielfalt der Möglichkeiten immer nur entsprechend seiner Organ- und Instinktausstattung wahrnimmt und reagiert, liegt im Menschen „ein ganz neues Organisationsprinzip" vor.37 Der Mensch muß, um überleben zu können, handeln und sich eine „zweite Natur" aufbauen: die Kultur. Der Mensch ist ein Evolutionsprodukt, dessen Natur die Kultur ist. Er ist für Nietzsche weder der „Sohn Gottes", noch der „arrivierte Affe"38, als den ihn seinerzeit die Darwinisten gerne sehen wollten, sondern ein Kulturwesen, dessen Wurzeln zwar in die Natur zurück reichen weshalb sich der Mensch auch nicht von dieser emanzipieren können wird -, der aber bei Strafe des Untergangs nun in der Kultur überleben und leben muß. Und diese Kultur ist eine apollinische Kultur, eine Kultur also, die im Funktionskreis des instrumenteilen Handelns steht. Von hier aus versteht Nietzsche dann auch die Entwicklung der Naturwissenschaften, in denen es um die Erzeugung von technisch verwertbaren Wissen geht. „Wissenschaft Umwandlung der Natur in Begriffe zum Zweck der Beherrschung der Natur das gehört in die Rubrik .Mittel'" (KSA, NF, 11, 194) wobei das Bemerkenswerte dieser These nicht darin besteht, daß Nietzsche mit ihr für eine instrumentalistische Sicht auf die Wissenschaften argumentieren will. Ich denke, man verfehlt die Pointe dieser These, wenn man sie nur instrumentalistisch versteht, wenngleich sich natürlich nicht bestreiten läßt, daß Nietzsches Sicht auf die Wissenschaften stark instrumentalistische Züge aufweist. Ich denke jedoch, wir sollten diese These im Sinne einer erkenntnisanthropologischen Relativierung und Erweiterung der Idee des Apriorischen verstehen, insofern für Nietzsche die kognitiven Leistungen des transzendentalen Subjekts ihre Basis in der Naturgeschichte der Menschengattung haben, so daß man sagen kann: die erkenntnisleitenden Interessen, denen die erfahrungswissenschaftlichen Gegenstandsbereiche ihr Dasein verdanken, bilden sich im Medium von Arbeit, Sprache und Herrschaft. Nietzsche sieht als einer der ersten, daß eine menschliche Erkenntnis nicht eine von Gegenständen eines „Bewußtseins überhaupt" sein kann. Eine wirklich menschliche Erkenntnis muß vielmehr die Erkenntnis eines leibhaft engagierten und praktisch interessierten Wesens sein. Und genau in dieser Einsicht liegt dann auch die Möglichkeit einer erkenntnisanthropologischen Radikalisierung der Kantischen Erkenntniskritik, wie sie in der philosophischen Anthropologie von Scheler, Gehlen und Plessner oder später -
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Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940, 9. Ebd., 1. Vgl. J. Habermas, „Erkenntnis und Interesse", in: Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt/M. 1973, 161 und 163. A.
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dann in der Frankfurter Erkenntnisanthropologie von Apel und Habermas durchgeführt wurde. Man verstehe mich nicht falsch. Meine projektive Deutung soll nicht so weit gehen, daß ich behaupten würde, daß all das, was die philosophische Anthropologie von Scheler, Gehlen und Plessner oder die Frankfurter Pragmatik von Apel und Habermas über transzendentale Erkenntnisinteressen gesagt haben, schon bei Nietzsche steht. Dies wäre absurd. Ich behaupte jedoch, daß sich bereits Nietzsche darüber im klaren war, daß die Erkenntnistheorie durch eine Erkenntnisanthropologie abgestützt bzw. erkenntnisanthropologisch erweitert werden muß wobei sich unter solch einer erkenntnisanthropologischen Erweiterung der traditionellen Erkenntnistheorie ein Ansatz verstehen läßt, der die von Kant stammende Frage nach den „Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis" dergestalt reformuliert, daß nun nicht mehr nur die Bedingungen einer objektiv gültigen, einheitlichen Weltvorstellung für ein „Bewußtsein überhaupt" angegeben werden, sondern alle Bedingungen, welche eine wissenschaftliche Fragestellung möglich machen, also auch die leibhaft konstituierten. Nietzsche stellt quasi dem unhistorischen Bewußtseinsapriori der Kantischen Transzendentalphilosophie ein Leibapriori entgegen, welches sich als offen für eine soziale und für eine historische Kontextualisierung der wissenschaftlichen Vernunft erweist. Solch eine erkenntnisanthropologische Deutung der Erkenntnistheorie hätte Kant sicher als ein Mißverständnis mit dem Argument ausschließen wollen, daß die Antwort auf die Frage „Was ist der Mensch?" den Bau der Metaphysik abschließt, nicht aber begründet. Für Kant würde sich eine erkenntnisanthropologische Relativierung des Apriori schon insofern verbieten, als diese Relativierung mit dem Anspruch auf strikte Notwendigkeit und Allgemeinheit unvereinbar ist weshalb Kant hier vermutlich die Gefahr eines Rückfalls in den Relativismus sehen würde.41 Wie immer man nun aber über diese Gefahr denkt und wie immer man zum Relativismus als einer philosophischen Position stehen mag, ob man ihn für einen philosophischen Segen oder für die Wurzel allen philosophischen Übels hält, für eine erkenntnisanthropologische Erweiterung der traditionellen Erkenntnistheorie spricht zunächst einmal die schwer zu bestreitende Tatsache, daß eine wissenschaftliche Erkenntnis nicht eine Erkenntnis ist, die durch ein „Bewußtseins überhaupt" realisiert wird. Sie ist vielmehr eine Erkenntnis, die ein leibhaft agierendes und praktisch interessiertes Wesen voraussetzt, welches sich mit seinen Handlungen im hier und jetzt engagiert. Der Sinn einer physikalischen Fragestellung läßt sich nicht durch einen Rückgang auf die einigenden „synthetischen Bewußtseinsfunktionen" im Sinne der Kantischen Kategorien verständlich machen, oder zumindest nicht allein, da dazu eine sprachliche Einigung der Forscher im Sinnverständnis der Natur und außerdem die Möglichkeit einer Realisierung der Fragestellung durch einen instrumentellen Eingriff in die Natur vorausgesetzt ist. Der instrumenteile Eingriff in die Natur präzisiert gewissermaßen das durch die Sinnesorgane vermittelte leibhafte Weltengagement, das als Voraussetzung -
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I. Kant, „Logik"; „Physische Geographie"; „Pädagogik", Gesammelte Schriften, Bd. 9, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin und Leipzig 1923, 23ff. Vgl. H. Schnädelbach, „Was ist eigentlich ein relatives Apriori?", in: ders., Philosophie in der modernen Kultur. Vorträge und Abhandlungen 3, Frankfurt/M. 2000, 189.
Udo Tietz
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bereits der vorwissenschaftlichen Erfahrung zugrunde liegt wobei dem leibhaften Engagement unserer Erkenntnis ein Erkenntnisinteresse entspricht, das Habermas im Anschluß an Schelers Lehre von den drei Wissensformen42 als technisches Erkenntnisinteresse bezeichnet hat. Es ist nicht nur der apriorische Entwurf gesetzmäßiger Vorgänge in Gedanken, den der Naturwissenschaftler an die Natur heranträgt. Sie tragen diesen Entwurf in Gestalt einer instrumentellen Apparatur heran, um sich so mit der Natur in eine Beziehung zu setzen. Denn erst durch den technischen Eingriff wird die erkenntnisleitende Fragestellung in die „Sprache der Natur"43 übersetzt, so daß die Naturwissenschaftler nun „die Natur nötigen [können], auf ihre Fragen zu antworten".44 Und eben dies hat Nietzsche gesehen. Nietzsche sah, daß die cartesianische SubjektObjekt-Relation zur Begründung einer Erkenntnisanthropologie nicht genügen kann, weil ein reines Gegenstandsbewußtsein für sich allein genommen der Welt einfach keinen Sinn abgewinnen könnte. Um in einer intersubjektiv geteilten Lebenswelt zu einer Sinnkonstitution zu gelangen, muß das seinem Wesen nach exzentrische Bewußtsein sich zentrisch, d. h. leibhaft, im Hier und Jetzt engagieren und zwar durch sein praktisches Weltverhalten. In diesem Sinne hat Helmuth Plessner die „exzentrische Position" des Menschen beschrieben und das Primat des Erfahrungsmodus des „Leibseins" gegenüber dem „Körperhaben" hervorgehoben, aus dem heraus auch die Subjektivität der menschlichen Person lebt. Der Leib ist das Medium der Verkörperung der personalen Existenz, und zwar so, daß im Vollzug dieser Existenz jede vergegenständlichende Selbstreferenz, etwa in Aussagen der ersten Person, nicht nur unnötig, sondern sinnlos sind. Mit dem Leib verbindet sich nicht nur der Richtungssinn von Zentrum und Peripherie, Eigenem und Fremdem, sondern auch die Unterscheidung zwischen Aktiv und Passiv, Bewirken und Geschehen, die eine Differenzierung zwischen Handlungen erzwingt, die wir uns oder anderen zuschreiben. So verstanden, läßt sich den wenig eindeutigen Thesen über die „große Vernunft" des Leibes durchaus ein guter Sinn geben, ja vielleicht sogar ein besserer, als er ihn bei Nietzsche selbst hat: nämlich dann, wenn wir Nietzsches Thesen über die „große Ver-
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Vgl. M. Scheler, „Die Formen des Wissens und die Bildung", in: ders., Späte Schriften, GesammelWerke, Bd. 9, hg. v. H. S. Frings, Bonn 1976, 85-119; ders., „Die Wissensformen und die Ge-
te
sellschaft", Gesammelte Werke, Bd. 8, Bern und München 1960. Vgl. H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M. 1981; H. Böhme, „Denn nichts ist ohne Zeichen. Die Sprache der Natur", in: ders., Natur und Subjekt, Frankfurt/M. 1988, 38-66. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., B XII. Die Rede von der „Sprache der Natur" darf jedoch nicht Sinne einer „pansemiotischen Metapher" mißverstanden werden. U. Eco, Zeichen. Eine Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt/M. 1973, Ulf. Die Natur ist kein Zeichensystem, das sich demjenigen offenbart, der dieses Buch zu lesen imstande ist. In einer unumkehrbar
entmythisierten Natur ohne Gott ist nichts schlechthin ein Zeichen eines anderen.
Eine
objektiver Semiotik steht nicht zuletzt Nietzsches Einsicht in die „unendliche Ausdeutbarkeit der Welt" (KSA, NF, 12, 120) entgegen, die sich aus der Vielfalt konventioneller Zeichensysteme und aus unserer kreativen Fähigkeit ergibt, Naturgegenstände immer wieder unterschiedlich zu kontextualisieren, so daß wir auch die Metapher von der „Sprache der Natur" als eine Projektion der Sprachfähigkeit des animal symbolicum verstehen müssen. Vgl. dazu G. Keil, Kritik des Naturalismus, a. a. O., 84f. Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin und Leipzig 1928. Art
Das animal rationale und die
Grundlagen der wissenschaftlichen Vernunft
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nunft" des Leibes als eine erkenntnisanthropologische Vertiefung der erkenntnistheoretischen Fragestellung nach den „Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis" verstehen. Natürlich kann man diese Fragestellung dann nicht mehr einfach für abgeschafft erklären wenngleich Nietzsche gerade für Verabschiedungsprogramme immer wieder gern in Anspruch genommen wird, ein Phänomen, das sich vielleicht auch psychologisch erklären läßt. Und auch die Möglichkeit, Nietzsches Thesen über die „große Vernunft" des Leibes im Sinne einer anderen Vernunft zu verstehen, wäre damit verstellt. Eröffnet wäre mit dieser Deutung jedoch die Möglichkeit, Nietzsche so zu lesen, daß er mit dem Leib eine Instanz ins Spiel bringt, mit der das Problem der Sinnkonstitution durch das leibhafte Engagement im Hier und Jetzt mit reflektiert werden kann. Und ich denke, daß sich hierfür bei Nietzsche auch genügend Ansätze finden lassen, und zwar Ansätze, die den Problemhorizont der traditionellen Erkenntnistheorie in Richtung auf eine erkenntnisanthropolgische Fundierung der Erkenntnistheorie überschreiten. Nietzsche sah als einer der ersten, daß jede Sinnkonstitation auf eine individuelle Perspektive zurückverweist, auf einen Standpunkt, dem ein Leibengagement des erkennenden Bewußtseins entspricht. Was nach Hegel das Andere der Vernunft darstellt, das diese unter ihre Kontrolle zu bringen hat, erkennt Nietzsche als eine notwendige Bedingung, die sich reflexiv nicht vergleichgültigen läßt. Wenn Nietzsche sagt, daß „alle Naturwissenschaft [...] nur ein Versuch [ist], den Menschen, das Anthropologische zu verstehen: noch richtiger, auf den ungeheuren Umwegen immer zum Menschen zurückzukommen" (KSA, NF, 7, 449), wenn er immer wieder den anthropomorphen Charakter des wissenschaftlichen Erkennens herausstreicht, dann deshalb, weil sich selbst noch die Naturwissenschaften als ein Teil der Anthropologie im Sinne einer „begrifflichen Selbstauslegung des Menschen" auf der Basis seines leibhaftigen Engagements verstehen lassen. Nietzsche interpretiert die kopernikanische Wende Kants als eine anthropologische Wende, worunter sich mit Michel Foucault die Entstehung eines „erkenntnistheoretischen Bewußtseinsfs] vom Menschen als solchem" verstehen läßt, die spätestens dann vollzogen werden mußte, als klar wurde, daß die „Repräsentation die Kraft verloren hatte, für sich und in einer Bewegung das Spiel ihrer Synthesen zu bestimmen".48 Genau von dieser Voraussetzung scheint Nietzsche auszugehen: „Es ist zu beweisen, daß alle Weltconstruktionen Anthropomorphismen sind: ja alle Wissenschaften, wenn Kant Recht hat. Freilich giebt es hier einen Cirkelschluß haben die Wissenschaften Recht, so stehen wir nicht auf Kant's Grundlage: hat Kant Recht, so haben die Wissenschaften Unrecht." (KSA, NF, 7, 459) Natürlich wäre dies nur die halbe Wahrheit, wenn man verschweigen würde, daß Nietzsche gleichzeitig und in diesem Zusammenhang immer wieder darauf verwies, daß -
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Vgl. K.-O. Apel, „Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik. Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnisantropologischer Sicht", in: ders., Transformation der Philosophie, Bd. 2, Frankfurt/M. 1976, 98f.
Vgl. dazu V. Gerhardt, Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, 109. Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaft, Frankfurt/M. 19899, 373 und 410.
M.
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die durch die Wissenschaft erschlossene Welt eine „vergemeinerte Welt" der massenhaft Mißratenen ist eine These, die nicht nur eine erkenntnistheoretische Pointe hat, sondern auch eine ethische. Immer wieder betont Nietzsche, daß das, was dem Menschen im Kampf mit den Tieren den Sieg brachte, gleichzeitig auch die schwierige und gefährliche krankhafte Entwicklung des Menschen mit sich gebracht hat. Nietzsche war überzeugt davon, daß das noch nicht festgestellte Tier durch die Herde festgestellt würde, was schließlich und endlich dann auch zu seiner kulturellen Degenerierung führt. So sichert die Sprach- und Erkenntnisfahigkeit dem Menschen zwar das Leben und Überleben. Sie sichert ihm aber nicht das Mehr-als-Leben oder das gelungene Leben. Wenn wir uns die Stellen anschauen, in denen Nietzsche den Tier-Mensch-Vergleich anstellt, dann werden wir feststellen, daß Nietzsche diesen Vergleich immer von zwei Seiten aus anstellt. Die „Schranke zum Tier" sieht er einerseits dadurch überschritten, daß der Mensch, dieses „verzweifelte Tier", die Arbeit und das Erkennen erfunden hat, weshalb Nietzsche auch sagt, der Mensch sei das „arbeitende", „denkende" und „urtheilende Tier". (KSA, NF, 12, 181) Und diese Schranke sieht Nietzsche andererseits mit der Erfindung jener Arbeit überschritten, die er als die „Arbeit ohne Mühe", als „Spiel" oder als „Bethätigung ohne vernünftigen Zweck" bezeichnet. (KSA, NF, 8, 432) Und allein mit der Erfindung dieser zweiten Form der Arbeit transzendiert der Mensch den Bereich der bloß animalischen Existenz und gleichzeitig den Bereich des Scheins, weshalb Nietzsche auch sagt, daß allein hier der Mensch wirklich auch Mensch sein kann, wobei Nietzsche in diesem Zusammenhang an den Tanz und an die Musik denkt, die sich „in ihrer Entwicklung an die anthropomorphischen Hauptäußerungen angeschlossen [haben soll]: Gang und Sprache" (KSA, NF, 7, 317), die aber gegenüber der Welt des Scheins einen Ausweg darstellen soll.49 Beide Aspekte der Plastizität und Weltoffenheit versteht Nietzsche also als die positive Kehrseite der Mängelhaftigkeit des Menschen. Denn auf Grund eben dieser mangelhaften Spezialisierung ist der Mensch, anders als das Tier, auf keine mehr oder weniger enge und begrenzte Lebensweise festgelegt. Der Mensch ist das nicht festgestellte Tier, weil er nicht dem Zwang innerer Mechanismen oder äußerer Umwelteinflüsse vollständig ausgeliefert ist, so daß er in einer kontingenten Welt eine Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten hat. Und dies ist ein Gedanke, der sich wohl auch heute noch vertreten läßt, zumindest dann, wenn wir die unplausible These von der ebenso notwendigen wie unvermeidlichen Fälschung der Welt durch die Wissenschaft -
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aufgeben.
Vgl. U. Tietz, „Musik und Tanz als symbolische Formen. Nietzsches ästhetische Intersubjektivität des Performativen", in: Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 33, hg. von G. Abel, J. Simon, W. Stegmaier, Berlin/New York 2002, 25.
IL
„Dionysos gegen den Gekreuzigten"? Friedrich Nietzsches Denkmotiv(e) 7. Dortmunder Nietzsche-Kolloquium vom 25.-27. Juli 2001
Kurt Jauslin
Als-ob gegen An-sich Etwas über den Zusammenhang von Ästhetik und Kontingenz im Denken Friedrich Nietzsches
Unter den im Nachlaß erhaltenen Jugendschriften Nietzsches findet sich ein umfangreiches Konvolut von Texten und Zeichnungen, in denen der Naumburger Schüler gemeinsam mit zwei Freunden den Verlauf des Krimkrieges zu rekonstruieren versucht. Dieses sogenannte Festungsbuch, das ich bereits auf dem letzten DNK ausführlicher beschrieben habe1, enthält neben der Chronik der laufenden Ereignisse, die ja zeitgenössische waren, eine Fülle von Material zur Kriegstechnik, aber auch Hintergrundmaterial und Erkenntnisse, z. B. zum Kriegsrecht, dem, was der Junge „Jurisprodenz"
(KGW 1/1,34) nennt.
Während in den Gedichten und dramatischen
Fragmenten des Jungen Ordnungen der
Phantasie, also sogenannte fiktionale, erprobt werden, handelt es sich beim Festungsbuch um einen Versuch zur Ordnung von sogenannten Tatsachen, gewissermaßen
Nietzsches erste philologisch-historische Untersuchung. Der Poesie wie der Historie aber geht es darum, in einer an sich kontingenten Ereignisstruktur eine verborgene Ordnung, einen geheimen Sinn zu finden. In seinen Gedichten und Dramenentwürfen nutzt der Junge die überlieferten ästhetischen Modelle, die in den Topoi fixierten Bedeutungen der Metaphorik und die transzendierenden Qualitäten der zum Allgemeingut gewordenen poetischen Formen, um massiv Kontingenz wegzuarbeiten. Zwar herrscht in diesen poetischen Versuchen eine merkwürdige Beunruhigung hinsichtlich der Weisheit der göttlichen Ratschlüsse, aber die teleologische Ordnung bleibt das Modell zur Aufhebung der Kontingenz. Mit andern Worten: In diesen frühen Poesien gründet sich die Wirklichkeit der Fiktion geradezu auf die formale Epigonalität; sie handeln die Welt des Kindes ab, als ob sie nicht kontingent wäre, als ob die göttliche Ordnung die Wirklichkeit und der Zufall nur eine Täuschung wäre. Eben weil aber die ästhetische Ordnung dieser Poesien nur eine aus zweiter Hand ist, gelingt es ihr nicht wirklich, die Kontingenz zum Verschwinden zu bringen, wie es nach Hegel das Ziel jedes ästhetischen Handelns ist. Vielmehr geht Kurt Jauslin, „Was der Löwe nicht vermochte: etwas für Kinder und Kindsköpfe. Über Fritz Nietzsches Naumburger Festungsbuch", in: Nietzscheforschung, Band 8, dahrbuch der NietzscheGesellschaft, Berlin 2001, 189-203.
Kurt Jauslin
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die Kontingenz aus dem Kampf mit der offenkundig mangelhaft gerüsteten Poesie sogar als Siegerin hervor: Gegen die Als-ob-Fiktionen der Topoi behauptet sich Kontingenz als die an sich existierende Wirklichkeit. Philosophisch gesprochen stellt sie sich als das Ding an sich Kants dar, das der Erkenntnis nicht zugänglich bleibt. Das ästhetische Alsob der frühen Poesien versagt an seinem Ungenügen; es glaubt nicht an seine Möglichkeiten, sondern sucht sein Heil in der Verwandlung in ein religiöses Als-ob. Bei Betrachtung des Festungsbuches wird sofort deutlich, daß und warum ein solches Modell in diesem Fall nicht funktionieren konnte. Für die Ordnung der historischen Tatsachen, die es zu errichten galt, gibt es keine vorausgesetzte ästhetische Ordnung, die sich nach einfachen Analogieprinzipien ideologisch transzendieren ließe. Die Chronik der laufenden Ereignisse, die der jugendliche Verfasser den Zeitungen entnehmen konnte, läßt weder Ordnung noch Ziel erkennen, da es nur divergierende Kriegsziele der beteiligten Parteien gibt. Der Versuch des Autors, eine Als-ob-Fiktion durchzusetzen, schlägt sofort fehl: Das selbst konstruierte Ziel, die Festung Sewastopol vor dem Ansturm der Alliierten zu retten, wird nicht erreicht. Die Historie sinkt in die Kontingenz zurück, die keine Hinweise zur Sinnvermittlung für das Geschehen vorhält. In dieser scheinbar ausweglosen Situation hat der ungelernte Junghistoriker eine Lösung gefunden, die von erstaunlicher Unvoreingenommenheit zeugt: Er kehrt das Modell um und macht die an sich herrschende Kontingenz zum Als-ob. Wie in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung formuliert, hilft er sich mit einem „Würfelspiele der Zukunft und des Zufalls" (KGW III/I, 258), um den offenen Ausgang und die Folgen des Krimkrieges zu fixieren. Eine Reihe von Hypothesen wird ausgewürfelt und die Wahrscheinlichkeit ihres Eintreffens mit Hilfe von „Orakelarien" (KGW 171, 65-95) statistisch ermittelt, wobei die Statistik selbstverständlich zum Zufallsgenerator regrediert, nicht anders als es heute bei den Versuchen der Fall ist, die richtigen Lottozahlen durch Zahlenstatistik zu ermitteln. Das eigenwillige Prognosemodell ist so alt wie alle Orakel, vermutlich aber nicht schlechter als Prognosen, die auf sogenannter wissenschaftlicher Grundlage basieren. Wie seine Vorgänger und Nachfolger im Geschäft der Prophétie, arbeitet der Naumburger Schüler mit der Fiktion, als ob die Kontingenz den Lauf der Welt bestimme, mit dem Ziel auf diesem Weg, die richtige Lösung zu finden, und d. h. nichts anderes, als das Als-ob durch eine dem Zufall implementierte Intentionalität in ein der Sinngebung dienliches An-sich zu verwandeln. Im Festungsbuch bleibt diese Als-ob-Fiktion an den Zwecken orientiert, dem Ziel, dem kontingenten Geschehen durch die Konstruktion von Kausalitäten, die wirksam bleiben, auch wenn sie erfunden sind, einen wie immer definierten Sinn zu verleihen. Epistemologisch bedeutsam ist allerdings das Würfelspiel als Erkenntnismodell, weil es die wünschenswerte Notwendigkeit im historischen Prozeß nicht in der Eliminierung des Zufalls findet, sondern im Wirken des Zufalls selbst. „Die einmal geworfenen Würfel", so hat Gilles Deleuze im Hinblick auf den späteren Philosophen formuliert, „sind
die Affirmation des Zufalls, wie die Kombination, die sie, einmal geworfen, erstellen, die Affirmation der Notwendigkeit ist". Mit andern Worten: Die Notwendigkeit hebt den Zufall nicht auf, vielmehr ist sie dessen Ergebnis, eine Erscheinung, die Odo Mar-
"
Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie,
Hamburg 1991, 31.
Als-ob gegen An-sich
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quard etwas undeutlich als „Schicksalszufall" bezeichnet hat, denn es ist nicht ersichtlich, daß es einen andern Zufall geben könne, als einen, der zu Notwendigkeiten führt. Schicksalszufall und Notwendigkeit sind nicht unterscheidbar, denn ein Satz nach dem Muster: „Wenn ich nicht zufällig zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte Straße überquert hätte, wäre ich nicht überfahren worden", ist einfach nur sinnlos. Der Zufall kennt
weder Finalität noch Kausalität, auch nicht die Möglichkeit zur Korrektur der von ihm erzeugten Notwendigkeiten, die man gemeinhin Wirklichkeit' nennt. Der epistemologische Fehler des Festungsbuches liegt nicht darin, daß es die Kontingenz anerkennt, sondern darin, daß es ein Regelwerk aus Strategie, Kriegszielen und „Jurisprodenz" einführt also alles das, was Nietzsche später unter dem Begriff der „Moral" zusammenfaßt -, das Prinzip, das den Zufall aufheben will, indem es ihm Gesetze erfindet. Die Historie als Zufallsgenerator wird sozusagen konterkariert durch ein ontoteleologisches Modell der Geschichte. Vermieden werden soll das Bild einer „Schlachtbank", das die Historie nach Hegels Worten unfehlbar bietet, sofern man sie als Werk des Zufalls betrachtet. Hegel vernichtet die Kontingenz durch die Fiktion eines Vernunft-Begriffs, der mit dem Begriff Gottes im Sinne einer Ontoteleologie übereinstimmt, und Geschichte erscheint als „der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zuerkennen haben".5 Der Lauf der Welt, vollständig erklärt als „Rechtfertigung Gottes"6, kann auf den Würfelwurf als Affirmation der Notwendigkeit verzichten, da er den Zufall ohnehin nicht kennt und kein Als-ob braucht: In einer an sich vernünftigen Welt gibt es keine Fiktionen und keine Kontingenz. Nietzsche hat die epistemologische Fehlleistung seines jugendlichen Vorgängers später dadurch korrigiert, daß er die Fiktion des Als-ob als Funktion des ästhetischen Vermögens erklärt hat, das ohne den Nachweis von Intentionalität im „Gesamtcharakter der Welt" auskomme. Dieser nämlich, so heißt es in der Fröhlichen Wissenschaft, sei „in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Notwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heißen". (KGW V/2, 146). Die ästhetische Differenz, die sich im Alsob manifestiert, hebt also den Zufall nicht auf, sie maskiert nur die Kontingenz; in der Kunst liegt das Glück des Gelingens darin, „dem Zufalle einen schönen Sinn und eine Seele einzuhauchen". (KGW V/2, 222). „Die Natur", heißt es kategorisch in der Götzen-Dämmerung, „künstlerisch abgeschätzt, ist kein Modell", sondern: „Die Natur ist der Zufall." (KGW VI/3, 109). Nietzsches Begriff einer kontingenten Natur schließt, übereinstimmend mit Schiller, die menschliche Geschichte ein, da es für beide keine Gesetzmäßigkeiten jenseits des Zufalls geben kann. Die Natur und der Lauf der Welt werden demnach an sich gesetzt. Sogenannte Naturgesetze sind nur Fiktionen. Das Naturgesetz „ist uns nicht an sich bekannt, sondern nur in seinen Wirkungen, das heißt in seinen Relationen zu andern ,
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3 4
5 6
Marquard, Apologie des Zufälligen, Stuttgart 1996, 129. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke, Bd. 12, Odo
Frankfurt/M. 1986,35. Ebd., 32. Ebd., 540.
Kurt Jauslin
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Naturgesetzen, die KGW III/2, 379).
uns
wieder
nur
als Summen
von
Relationen bekannt sind".
(WuL,
In dieser vom Zufall regierten Welt gibt es weder Regel noch Ordnung, sondern nur die „Notwendigkeiten", die aus dem Würfelwurf resultieren, mit dem der Naumburger Schüler den Lauf der Welt zu ermitteln versucht hat. Streng genommen gibt es in der intentionslosen Natur auch den Zufall nicht mehr, da er nur denkbar ist vor der Folie der Zwecke, die in den Intentionen verfestigt sind: „denn nur neben einer Welt von Zwekken hat das Wort .Zufall' einen Sinn". (FW, KGW V/2, 146). Im „Würfelspiele der Zukunft und des Zufalls" offenbart sich die Kontingenz darin, daß sie Notwendigkeiten gebiert. In diesem Würfelspiel falle kein „verunglückter Wurf, (KGW V/2, 146), weil darin natürlich „Würfe vorkommen, die der Zweckmäßigkeit und der Vernünftigkeit jeden Grades vollkommen ähnlich sehen". Schließlich seien „unsre Willensakte, unsre Zwecke nichts anderes als eben solche Würfe", und das Spiel mit dem Zufall erweise sich als „das Spiel der Notwendigkeit" (M, KGW V/1, 120). Wie Hans Vaihinger erläutert hat, beruft sich Nietzsche mit der Definition einer an sich gesetzten Natur, der unsere Vernunft die Gesetze erfindet, auf Kant.7 Einzuschränken wäre allerdings, daß Kant diesem Ding an sich, eben weil es sich der Erkenntnis entzieht, nicht die Fundamentaleigenschaft zugebilligt hätte, vom Zufall regiert zu werden. Andererseits weist Nietzsche die Wiederkehr des Dinges an sich in Schopenhauers Welt als Wille zurück, denn darin manifestiere sich nur der Trieb, der stets auf Zwecke fixiert ist. An sich ist die Welt als Wille, weil sie die Natur selbst ist, die sich widerspruchslos den vom Trieb gesetzten Zwecken ausliefert: „an sich", erläutert Nietzsche in der Genealogie der Moral, „kann natürlich ein Verletzen, Vergewaltigen, Ausbeuten, Vernichten nichts ,Unrechtes' sein, insofern das Leben essentiell, nämlich in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend füngiert und gar nicht gedacht werden kann ohne diesen Charakter". (KGW VI/2, 328). Die natürliche Welt, die umstandslos als „Chaos" definiert wurde, erscheint an dieser Stelle als reine, bewußtseinslose Intention, und es stellt sich in der Tat die Frage, ob hier die Aporie markiert werden soll, in der Kontingenz und Intention in eins fallen. Oder ob nicht das Handeln im Bewußtsein des Zufalls die eigentliche Quelle der Fiktionen ist, der primäre ästhetische Akt, der das Als-ob der Fiktion an sich setzt. Der Würfelwurf, der aus der Kontingenz Notwendigkeiten gewinnt, scheint jedenfalls so etwas wie ein ästhetischer Akt zu sein, nämlich Resultat eines Spiels, also eher dem Als-ob zuzuordnen, wie es der Naumburger Schüler theorielos versucht hatte. Die bisherige Argumentation hat immerhin, auch wenn dies nur ein negativer Befund ist, gezeigt, daß sich die Begriffe meines Titels nicht ohne weiteres paarweise ordnen lassen und daß sie sich auch nicht spiegelbildlich verhalten. Die naheliegende Operation, die Kontingenz an sich zu setzen und das Ästhetische als Erscheinungsform des Als-ob zu erklären, ist nur eine Folge der allgegenwärtigen Kantischen Erkenntniskritik,
Folgerung im übrigen, die Kant gewiß für unzulässig gehalten hätte. Untersucht Nietzsches Sprachgebrauch, so stößt man auf eine Reihe von Konstellationen, die erlauben, zwischen den schwankenden Bedeutungen zu differenzieren.
eine
man es
Hans
Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob, Leipzig 1920, 778.
Als-ob gegen An-sich
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Im Nachlaß der achtziger Jahre findet sich eine Notiz über die ten", die sämtlich über ein Als-ob bestimmt sind. Sie heißen:
„drei großen Naivetä-
„Erkenntnis als Mittel zum Glück (als ob...), als Mittel zur Tugend (als ob...), als Mittel zur .Verneinung des Lebens' insofern sie ein Mittel zur Enttäuschung ist (als ob...)." (KGW VIII/2, 27). In allen drei genannten Fällen tritt das Als-ob als Redeweise des Irrtums auf, wobei bekannte philosophische Lösungsvorschläge als irrig zurückgewiesen werden. Der an Kant geschulten Erkenntniskritik stellt sich die Fiktion auf den ersten Blick als Irrtum dar, weil dieses Als-ob immer auf ein An-sich verweist, das man je nachdem als Wahrheit oder Wirklichkeit usw. bezeichnen könnte. Das Gegeneinander funktioniert nach dem Muster des Satzes: Wir behandeln die Dinge als ob, während sie sich an sich d. h. in Wahrheit, in Wirklichkeit so und so verhalten. Im Spätwerk hat Nietzsche diese Alsob-Fiktion eines zu korrigierenden Irrtums häufig durch die Formel „wie als ob" verdeutlicht. Das heißt: Die Fiktion erweist sich als Irrtum, solange sie damit befaßt ist, eine an sich bestehende Wirklichkeit zu erklären und wird damit zur „Fälschung" der Welt. Das heißt aber auch, daß eine Fiktion, die nicht eine wie auch immer beschaffene an-sich bestehende Welt erklären will, auch nicht unter dem Verdacht des Irrtums stehen kann. Zu unterscheiden wäre demnach zwischen Möglichkeiten des Als-ob, die hinsichtlich ihrer Position zum An-sich unvereinbar sind, nämlich: Das hypothetische Als-ob der Wissenschaft, das der Natur Gesetze vorschreiben und das An-sich besetzen will, ,jene ,Gesetzmäßigkeit der Natur', von der ihr Physiker so stolz redet, wie als ob -" (JGB 22, KGW VI/2, 31 ), hält Nietzsche durch Kants Kritik für erledigt: „Wenn Kant sagt ,Der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor', so ist dies in Hinsicht auf den Begriff der Natur völlig wahr, welchen wir genötigt sind mit ihr zu verbinden (Natur Welt als Vorstellung, das heißt als Irrtum), welcher aber die Aufsummierung einer Menge von Irrtümern des Verstandes ist. Auf eine Welt, welche nicht unsere Vorstellung ist, sind die Gesetze der Zahlen gänzlich unanwendbar: diese gelten allein in der Menschen-Welt." (MM, KGW IV/1, 37). Mit anderen Worten: Die wissenschaftliche Rationalität schreibt der Welt eine Ordnung vor, die mit der in dieser herrschenden Kontingenz unvereinbar ist. Nicht anders fälscht das christologische Als-ob die Natur durch die Forderung: „Die Natur ansehn, als ob sie ein Beweis für die Güte und Obhut eines Gottes sei" (FW 5, KGW V/2, 282). Die Religion, so heißt es in der Genealogie der Moral, „wird nicht müde, Gott selbst in den kleinsten Jammer hineinzuwickeln [...] als ob das An-sich der Dinge verpflichtet sei, sich darum zu kümmern" (KGW VI/2, 412). Die religiösen Fiktionen leugnen die Kontingenz, weil diese durch die göttliche Schöpfung restlos besei-
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,
=
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tigt worden sei.
Von der rationalen und der religiösen Fälschung der Wirklichkeit unterscheidet Nietzsche kategorisch ihre Fälschung durch die Fiktion des ästhetischen Als-ob, die das „An-sich der Dinge" unberührt lasse, weil der Künstler „in alle Ewigkeit von dem Realen', dem Wirklichen abgetrennt" sei (GM, KGW VI/2, 362). In der ästhetischen Fiktion wird der Irrtum produktiv, die Fälschung der Welt zur Kunst. Die „Annahme, daß es
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Kurt Jauslin
einen wesenhaften Gegensatz von ,wahr' und ,falsch' gibt", erweist sich als obsolet. Die außerhalb unserer Vorstellung zweifelsfrei existierende Natur geht uns nichts an, muß also auch nicht durch die Kunstgriffe der Dialektik im An-sich vernichtet werden. „Warum", so fragt rhetorisch der Philosoph an derselben Stelle in Jenseits von Gut und Böse, „durfte die Welt, die uns etwas angeht nicht eine Fiktion sein?" (JGB 34, KGW
VI/2, 49f.).
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Im „Würfelspiele des Zufalls und der Zukunft" führt der Würfelwurf der ästhetischen Fiktion zu Notwendigkeiten, die nicht in der Natur gelten und deshalb auch nicht an sich gesetzt werden müssen. „Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung", der „tiefer, ,metaphysischer' als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Sein" ist (KGW VIII/3, 18), gibt die Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit auf, die ein Topos der idealistischen Ästhetik gewesen ist. In jenen Als-ob-Konstrukten nämlich, die der Welt Gesetze erfinden, ist jede Freiheit nur Maskerade von Notwendigkeiten, „als ob der Seidenwurm seine Freiheit seines Willens gerade im Spinnen suchte". (MM, KGW IV/3, 183). In Goethes Tasso, den Nietzsche an dieser Stelle zitiert, wird dieses Als-ob zum Wesen der ästhetischen Fiktion erklärt: Tasso verteidigt gegenüber Herzog Alfons die Freiheit des ästhetischen Handelns mit dem Hinweis auf die aus dem Würfelwurf folgende Notwendigkeit mit dem Satz: „Verbiete Du dem Seidenwurm zu spinnen."8 Die Notwendigkeit der ästhetischen Fiktion hebt die von den ebenfalls nur fiktionalen Ordnungen über die Welt also dem, was Nietzsche „Moral" nennt gesetzten Verbote auf. Wer Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn handeln will, zielt auf das Als-ob der ästhetischen Fiktion. Wahrheit erscheint in ihr, nach der berühmten Definition des frühen Essays, als „bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen". Jene „Wahrheiten" dagegen, die durch die An-sich-Setzung des Als-ob in allen Ordnungsversuchen zum Lauf der Welt entstanden sind und ewig weiter geschleppt werden, „sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind". Sie dringen nicht zur Wirklichkeit der Natur vor, die „keine Formen und Begriffe [...] kennt" (WuL, KGW III/2, 374f). Auch das „Würfelspiel der Begriffe" führt nur zu Fiktionen, die weder moralische Urteile noch Naturgesetze begründen, weil „auch der Begriff, knöchern und achteckig wie ein Würfel und versetzbar wie jener, doch nur als das Residuum einer Metapher übrigbleibt" (WuL, KGW III/2, 376). Das heißt aber, daß alle moralischen Gesetze der Religion und alle Naturgesetze der Wissenschaft eben deshalb epistemologisch bedeutungslos bleiben, weil sie der natürlichen Wirklichkeit ein regulatives Als-ob vorschreiben wollen. Sie sind Ausdruck der „drei großen Naivetäten". Zu diesen Naivitäten müßte man allerdings auch die oben erläuterte Praxis Nietzsches rechnen, mit dem Als-ob einen scheinbar offensichtlichen Irrtum durch Verweis auf eine ebenso offensichtliche, an sich existierende Wahrheit zu korrigieren. Unter den in dem Essay Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn erläuterten Bedingungen kann es nämlich dergleichen nicht geben. Die aus solchen Urteilen resultierenden Wahrheiten können nur durch Verweis auf eine höhere Instanz -
Johann
Wolfgang v. Goethe, Werke, hg.
1948ff, Bd. 5 156. ,
-
von
Erich Trunz,
Hamburger Ausgabe,
14
Bde., Hamburg
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sich illusionär ist. Um es an einem Alltagsbeispiel zu illustrieren, das Kontingenz in der SZ gefunden habe: Der Streit darüber, ob die Be„Erster zeichnung Bürgermeister" groß oder klein zu schreiben sei, wurde von einem Oberamtsrat mit der vollkommen scholastischen Begründung entschieden: „Die Gemeindeordnung verwendet durchwegs die Kleinschreibung, so dass diese die eindeutig richtige ist." Unverkennbar knüpft Nietzsche mit der Theorie einer autonom agierenden Fiktion an die neuplatonische Theorie der Florentiner Renaissance an und an die von Sealiger formulierte Theorie der ästhetischen Fiktion als altera natura, die nicht als Nachahmung der Natur, sondern als Mimesis ihres Schöpfers zu verstehen ist: sive deus. Mit dieser Formel ist, wenn ich es richtig sehe, erstmals die seit Plato regierende Hierarchie zwischen An-sich und Als-ob, zwischen Sein und Schein durchbrochen worden. Der Schein, der immer nur als Abglanz gedacht wurde, sei es als Abfall von der Ideenwelt bei Plato, sei es als Hinweis auf die göttliche Offenbarung in der christlichen Theodizee, wird zur Erscheinung, Schöpfung nicht mehr aus zweiter, sondern aus erster Hand, nicht mehr Imitatio Dei, sondern Konkurrenz bei der Produktion der Welt. „Meine Philosophie umgedrehter Piatonismus", hat Nietzsche notiert, und: ,je weiter vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel." (KGW
bestehen, die
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ich mit Hilfe der
III/3, 207).
Die Frage nach der Wirklichkeit der Fiktionen, die von Nietzsche neu diskutiert wird, ist gewiß ein Topos der Philosophie, ein anhaltendes Rauschen im Hintergrund sämtlicher Argumentationen. Es ist die Frage nach dem Schein, der aus der Fiktion des Als-ob entsteht, und die nach seinem Verhältnis zum An-sich der Dinge. Es ist die Frage, ob das Als-ob nur Spiegel des an sich bestehenden Seins oder selbst scheinende Lampe sei, die Meyer Howard Abrams als grundlegend für die gesamte postantike ästhetische Diskussion identifiziert hat.10 Der entscheidende Wendepunkt der Diskussion, oder wie man heute sagt, der Paradigmenwechsel, erfolgte durch Kants Erkenntnistheorie. Mit ihr wurde das mimetische Modell Piatos, das ein verborgenes An-sich für die Erscheinungen des Als-ob verantwortlich macht, durch ein konstruktivistisches Modell ersetzt, nach dem das Als-ob das An-sich zur Erkenntnis nicht braucht. Hier liegt also eine greifbare Quelle für den „umgedrehten Piatonismus". Während Plato im Höhlengleichnis der Politeia die Welt im Kopf als Täuschung identifiziert, da ihre Bilder nur Projektionen der unfaßbaren höheren Ideen sind, spielt sich bei Kant alles im Kopf ab: Das Denken produziert die erkennbare Welt, die auch die wirkliche ist. Über das Ding an sich braucht es nicht zu handeln, da es sich der Erkenntnis entzieht. Hegel bietet gewiß die ideale Projektionsfläche für sämtliche Attacken Nietzsches gegen jene Philosophie, die er überwinden wollte. Die Wissenschaft der Logik, die Nietzsche ebenso wenig gelesen hat, wie die französischen Philosophen von Foucault bis Derrida, ist nicht die Umkehrung des Piatonismus, sondern seine vollständige Nega-
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Süddeutsche Zeitung, Nr. 142 vom 23724. Juni 2001, 63. Meyer Howard Abrams, Spiegel und Lampe. Romantische Theorie und die Tradition der Kritik. München 1978. Engl. Original: London/New York 1953.
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tion. Das „sinnliche Scheinen der Idee"11 Hegels ist keine platonische sondern eine aristotelische Fiktion: sie wird zur wirklichen Erscheinung im Werk, gemäß dem explizit formulierten Grundsatzprogramm: ,JDas Wesen muß erscheinen." Mit Hilfe einer komplexen dialektischen Operation wird das An-sich, nach einer Lieblingsformel der Phänomenologie des Geistes „zum Verschwinden gebracht", kollabiert sozusagen im Als-ob, das seinerseits in der Verwirklichung des Scheins verschwindet. Die Welt ist nicht kontingent, sondern vernünftig: Für Hegel gibt es den Zufall nicht. Nietzsche weist die Frage nach dem Sinn der Welt zurück, die im „sinnlichen Scheinen der Idee" durch Vereinigung des An-sich mit dem Als-ob emphatisch beantwortet wird. Die wirkliche Welt ist kontingent: „Sinn" vermittelt nur das Ästhetische selbst, das aufgehört hat, die Wirklichkeit der Welt zu erklären oder gar zu korrigieren. Die Fiktion begründet keine ontologischen Schlüsse. Vielmehr ist die alte Vermischung des ästhetischen Modells mit dem ontologischen Modell im Mythos die erste Ursache der langen Verwechslungsgeschichte. In der antiken bzw. der biblischen Version des Schöpfungsmythos entsteht die Welt als Fiktion der Gottheit, wobei im einen Fall das Als-ob sich zum An-sich aufschwingt, im andern das An-sich das Als-ob usurpiert. In jener Schöpfungsgeschichte, die in Ovids Metamorphosen erzählt wird, herrscht zu Beginn an sich das Chaos, das demnach eine eigene Ordnung der Welt darstellt, der gegenüber die eigentliche Schöpfung ein von der Gottheit gesetztes Als-ob sein mußte. Ovid erklärt die Schöpfung ausdrücklich als Fiktion Gottes, einen Akt des ästhetischen Vermögens, eine neue Ordnung an der Stelle der undurchsichtigen ersten. Gott war der erste Künstler, der sein Als-ob an die Stelle des von ihm vorgefundenen An-sich gesetzt hat. Karl Heinz Stierle: „Die Erde ist eine ,Fiktion' des um eine bessere Welt besorgten Gottes, der Mensch ist eines Fiktion des Halbgotts Prometheus."13 Das gegensätzliche Modell wird in der biblischen Schöpfungsgeschichte entworfen. Danach schafft die Gottheit die Welt nicht aus dem Chaos, sondern aus dem Nichts; die entstandene Ordnung ist damit als An-sich erklärt, das kein Als-ob neben sich duldet. Auf der Zurückweisung des Als-ob gründen die Bild- und Denkverbote der biblischchristlichen Ordnung. Die heidnische Welt Ovids dagegen drängt auf die Vermehrung der Bilder in den unendlichen Spiegelungen der Metamorphosen. So wie sie statt des einen Gottes, der keine andern neben sich duldet, die Fiktion einer Götterwelt setzt. Während das Recht der Fiktion übrigens bei Quintilian durchaus auf dem Gebiet der Rechtsfindung für die griechisch-römische Welt unbestritten war, gilt es dem christlichen Wahrheitsanspruch als Lüge und Trug. Augustinus glaubt das Ding an sich entdeckt zu haben, das sich in Dinge für uns verwandeln läßt, während das Als-ob immer hier wird eine Verbindungslinie von Plato nur zu den Trugbildern der Phantasie führe über die Kirchenväter zu Marx und Engels erkennbar. -
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Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, 1. Teil, in: Werke Bd. 13, Frankfurt/M. 1986, 150. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Wissenschaft der Logik II. Werke Bd.6, Frankfurt/M. 1986, 124. Karlheinz Stierle, Artikel „Fiktion", in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd.2, hg. von Karlheinz Barck et al., Stuttgart/Weimar 2001, 380^128, hier 382.
Georg
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Der christliche Feldzug gegen die Sinnlichkeit richtet sich gegen die Quelle der ästhetischen Fiktion, er zielt auf das Stillstellen der imaginativen Fähigkeiten. An die Stelle der Fiktionen des Als-ob treten Allegorie und Parabel: Sie finden immer eine einfache Wahrheit und vermeiden damit die Ambiguität der ästhetischen Fiktion, vermeiden das Als-ob durch Installationen einer vermeintlichen An-sich-Wahrheit. Das in die Zukunft offene Versprechen der ästhetischen Fiktion im antiken Mythos ist ersetzt durch ontoteleogische Determination. Peter Strasser hat die Unvereinbarkeit der ästhetischen Fiktion mit dem biblisch-christlichen An-sich anschaulich formuliert: Der ästhetische Blick „läßt die Dinge erscheinen, als ob auf der Welt noch nichts geschehen wäre, was sich nicht wieder gut machen ließe. Die ästhetische Idee der Menschheit ist die Idee der Weltsanierung, vorgetragen im Modus des ,Als ob' [...] Die Religion hingegen duldet kein ,Als ob'. Ich bin, der ich bin. Es ist, wie es ist, und so wie es ist, ist es Die ontoteleologisch begründete Fiktion erkennt in der Welt die Wirklichkeit eines höheren Wesens, eine Leibniz-Welt, in der das Als-ob nur das Ordnungsprinzip für das An-sich ist. Die Aufgabe des Denkens wäre demnach, stets und ständig mit Hilfe der selbst gesetzten Fiktionen, diese Ordnung zu garantieren, d. h. gegen Nietzsche die Wirklichkeit über die Fiktionen der Natur- und Moralgesetze zu definieren. Die Verpflichtung, in einer kontingenten Welt Ordnung zu schaffen, produziert jene ontologische Falle, die Nietzsche in Kants Kritik gefunden hat, in der Setzung einer Pflicht, die aus der Fiktion blutige Wirklichkeit machen muß: „der kategorische Imperativ riecht nach Grausamkeitf...]", heißt es in der Schrift Zur Genealogie der Moral. (KGW VI,2, -
316).
gut".14
Es ist die ontologische Falle, in die Shakespeares Hamlet tappt, obwohl ihm nicht entgeht, daß der kategorische Imperativ eine Zumutung ist: „Schmach und Scham, daß ich zur Welt, sie einzurichten kam." Hamlet, so könnte man sagen, ist die Tragödie des Epistemologen, der unter dem Einfluß einer überirdischen Macht die fiktive Ordnung des Denkens in der Welt realisieren zu müssen glaubt. Das muß zu den bekannten Katastrophen führen, in denen sich immer von Neuem der kontingente Lauf der Welt gegen den Versuch behauptet, ihn zur Ordnung zu rufen: Aus Versehen wird der unschuldige Polonius erstochen. Schließlich versinkt das ganze Stück in einer Orgie der Kontingenz: Die Bestrafung der Schuldigen, die, nach Nietzsches Theorie über Recht und Strafe in der Genealogie der Moral, immer das Ziel aller Weltordnungen ist, ist nur Ergebnis des Zufalls, daß Hamlet in der Hitze des Duells aus Versehen den falschen vergifteten Degen ergreift. Hamlet erzählt die Geschichte vom Eintritt des Als-ob in die an sich bestehende Welt, das, da es nicht mehr ästhetische Fiktion bleiben will, immer und ständig von der an sich herrschenden Kontingenz vernichtet wird. Unverkennbar ist, daß in dieser Figur die von Nietzsche zurückgewiesene Dialektik von Subjekt und Objekt parodiert wird. Das Subjekt, das sich für berufen hält „sive deus" die ihm objektiv ausgelieferte Welt zu ordnen, trifft auf einen Fels der Renitenz: das Objekt der Begierde nimmt sozusagen den Angriff gar nicht zur Kenntnis. Der Philosoph Friedrich Theodor Vischer hat in seinem Roman Auch Einer die offensichtliche Komik dieses Weltmodells entdeckt. Vischers Auch Einer scheitert grundsätzlich an einem Phänomen, das er die „Tücke des Peter
Strasser, dournal der letzten Dinge, Frankfurt/M. 1998, 15f
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Objekts" nennt, womit die an sich herrschende Kontingenz zur metaphysischen Instanz erklärt wird, die immer und überall recht behält, als ob sie die Ordnungen böswillig zunichte mache. Und wir sehen das paradoxe Modell einer intentional agierenden Kontingenz, das nur als ästhetische Fiktion vollkommen unangreifbar bleibt. Auch Einer versucht konsequenterweise seine Ordnungen durch eine Gegenfiktion zu retten, nämlich durch die Vernichtung der „renitenten Objekte", d. h. aber nichts anderes als die Bestätigung der Kontingenz durch die Beseitigung eben jenes Objekts, das zur Ordnung gerufen werden soll. Der fundamentale Gegensatz zwischen Ästhetik und Kontingenz in der ästhetischen
Theorie des 19. Jahrhunderts, die von Nietzsche revidiert wird, meint also nicht den archaischen Gegensatz von Ordnung und Chaos, sondern den von Ordnung und Entropie, wie er im 2. Hauptsatz der Thermodynamik 1850/51 von Clausius und Thomson begründet wurde. Danach nimmt in abgeschlossenen Systemen die Entropie, d. h. der intentionslose Zustand bei allen Veränderungen immer mehr zu, während die Ektropie, d. h. der Intensitätsfaktor der Energie, der die Ordnungen aufrecht erhält, immer mehr abnimmt, was schließlich zum Zusammenbruch der Ordnungen und zum Kollaps des Systems fuhren muß. Es ist leicht zu erkennen, daß der Entropiesatz für Vischers metaphysisches Gesetz vom Scheitern der Ordnungen durch die „Tücke des Objekts" eine rationale Erklärung anbietet, die vollkommen ohne Metaphysik auskommt. Unter der Voraussetzung, daß der Entropiesatz die Wirklichkeit der Natur beschreibt, müßte das Scheitern der Ordnungen durchaus ein Naturgesetz sein wenn es nämlich dergleichen gäbe. Das aber ist, wie Nietzsche ausführlich darlegt, eben nicht der Fall. Vielmehr gehört er zu den nützlichen, von Nietzsche als „regulative Fiktion" (FW 344, KGW V/2, 256) bezeichneten Konstrukten, die es ermöglichen, sich der Natur zu bedienen, ohne über die Natur selbst etwas auszusagen. Mit andern Worten: Der Entropiesatz ist vermutlich unabdingbar für die Konstruktion von Maschinen. Als Erklärung der Natur, d. h. als Weltantergangsmodell ist er, sofern er auf die Wirklichkeit zielt, nichts als Metaphysik, oder, sofern er sich als Gedankenspiel erweist, eine ästhetische Fiktion. In der Tat hat Thomas Pynchon mit Gravity 's Rainbow schließlich den Roman der Entropie geschrieben. Der Vergleich zwischen den mythischen, christlichen und wissenschaftlichen Erklärungsmodellen weist auf die Differenz, die Nietzsche zur Begründung der Fiktion von der Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn bis zu deren Weiterentwicklung in der Abhandlung Zur Genealogie der Moral immer entschiedener fortschreibt. Grundsätzlich gilt für alle Fiktionen, daß sie in bezug auf das An-sich der natürlichen Welt immer Täuschung bleiben. Jenseits dieser fundamentalen Eigenschaft aber unterscheidet sich die wissenschaftliche und die religiöse Fiktion von der ästhetischen Fiktion. Die beiden ersteren sind ein Versuch, die fundamentale Täuschung zu leugnen, während die ästhetische Fiktion sie zur Existenzbedingung macht. Die begriffliche Ordnung der Wissenschaft wird von Nietzsche in der Schrift Über Wahrheit und Lüge bereits als ein Programm definiert, das nicht der Erkenntnis, sondern der Nutzbarmachung der natürlichen Welt dient, indem es die an sich unbekannte Wahrheit durch relative Wahrheiten ersetzt. Das „Naturgesetz", das uns „nicht an sich bekannt" ist, sondern nur „in seinen Relationen zu andern Naturgesetzen" (KGW III/2, -
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379), ist Ergebnis einer Hypothese oder, so Nietzsches spätere Begriffsbildung, einer „regulativen Fiktion" (FW 344, I.e.). Das An-sich der Natur bleibt von den Naturgeset-
unberührt: „denn", so widerspricht Nietzsche Hegel, „es ist nicht wahr, daß das Wesen der Dinge in der empirischen Welt erscheint". (WuL, KGW III/2, 378). Unsere Wahrheit ist eine erfundene, denn „es wird eine gleichmäßig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden, und die Gesetzgebung der Sprache gibt auch die ersten Gesetze der Wahrheit". (KGW III/2, 371). In Jenseits von Gut und Böse, das schon im Titel an die Jugendschrift anschließt, wird die relative Wahrheit solcher Fiktionen am Begriff der Kausalität erläutert. Begriffe wie die Kausalität, so heißt es dort, lassen sich nicht verdinglichen, sie sind nur wahr im Sinne „konventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung, nicht der Erklärung. Im ,An-sich' gibt es nichts von ,Kausal-Verbänden', von .Notwendigkeit', [...] da folgt nicht ,die Wirkung auf die Ursache', da regiert kein ,Gesetz' [...] und wenn wir diese Zeichen-Welt als ,an sich' in die Dinge hineindichten, hineinmischen, so treiben wir es noch einmal, wie wir es immer getrieben haben, nämlich mythologisch". (KGW VI/2, 30). Diese Welt ist, wie es in einem Fragment des Nachlasses heißt, „eine zurechtgemachte und vereinfachte Welt, an der unsere praktischen Instinkte gearbeitet haben". Die durch Gesetze geordnete Welt ist eine nützliche und zweckmäßige Konstruktion, aber sie ist nicht die an sich wahre Welt, die für uns nicht existiert, sondern eine Schein-Welt, denn „in einer Welt, wo es kein Sein gibt, muß durch den Schein eine gewisse berechenbare Welt identischer Fälle geschaffen werden". Eben weil es für uns eine an sich existierende Welt nicht geben kann, ist diese Schein-Welt auch „für uns vollkommen wahr". (KGW VIII/3, 63). Mit andern Worten: Der einzige Zweck dieser „Zwingburg" der Begriffe (WuL, KGW III/2, 376) scheint zu sein, die unbeschreibliche Kontingenz durch die Neuschöpfung einer metaphorischen Welt wegzuarbeiten. Der „Fundamentaltrieb", den Nietzsche in der „Metapherbildung" findet, ist aber durch die Errichtung dieser Zwingburg „nicht bezwungen und kaum gebändigt". Vielmehr scheint dieser Trieb, den Nietzsche später im Kind des Heraklit und seinem Welt-Spiel wiedererkennt, sich gegen die selbst gesetzte Ordnung der Begriffe zu richten, „im Mythos und überhaupt in der Kunst" (WuL, KGW III/2, 381). So stellt sich schon in Über Wahrheit und Lüge die ästhetische Fiktion in der Demontage der erfundenen relativen Wahrheiten dar. Neben die geordnete „Welt des wachen Menschen" tritt eine ungeordnete „Welt des Traumes", die „bunt unregelmäßig, folgenlos unzusammenhängend und ewig neu" sein soll, eine Beschreibung, die jener der „regulativen Fiktion" exakt zuwiderläuft, also: nicht das Grau in Grau der Hegelschen Philosophie, ohne die Symmetrie der physikalischen Formeln, ohne Kausalität und ohne Kontinuität. Mit andern Worten: Es scheint, daß die ästhetische Fiktion in Wahrheit und Lüge in direkte Korrespondenz mit der kontingenten Welt gesetzt wird. zen
Der „Trieb zur Metapherbildung" führt nicht zu kausalen Gesetzen, sondern immer zu Analogien zwischen dem an sich Fremden und Befremdenden. In der Schrift über Die Geburt der Tragödie hat Nietzsche einen ersten Versuch zu einer umfassenden Beschreibung des neuen Als-ob unternommen. Grundlegend dafür ist, wie Wiebrecht Ries in seinem Buch über die Tragödienschrift festgestellt hat, „die
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Verschränkung einer mythischen Trieblehre mit der Ästhetik"15, die Nietzsche auch an der zitierten Stelle von Wahrheit und Lüge formuliert hat. Das epistemologische Problem der Tragödienschrift besteht aber darin, daß Nietzsche diesen Zusammenhang, der zunächst nichts als die Auflösung eines Gegensatzes zwischen der ästhetischen Ordnung des apollinischen Als-ob und der unaussprechlichen Wahrheit des mythischen Ansich ist, mit Hilfe der Kantischen Erkenntnistheorie im Medium Schopenhauers zu konstruieren versucht: nämlich als Gegensatz von Wesen und Erscheinung, die schließlich beide aufmerkwürdig Hegeische Weise im Kunstwerk in eins fallen. Nietzsches Problem ist die Musik, denn „sie erscheint als Wille", wie von Schopenhauer festgelegt wurde; das aber kann nicht sein, „weil sie als solcher gänzlich aus dem Bereich der Kunst zu bannen wäre". (KGW III/l, 46). Schopenhauer folgend wird die Musik als Wesen gegenüber dem apollinischen Schein definiert, nämlich als „unmittelbar[es] Abbild des Willens", das „zu aller Erscheinung das Ding an sich darstelle". (KGW III/l, 102). Um das Kunstwerk zu retten, muß es zu einer Hegelschen Versöhnung kommen, indem der „Schein", also die „apollinische Täuschung" jede Fiktion stellt sich ja primär als Täuschung dar! sich im Dionysischen gleichsam des Wesens versichert und dadurch vor dem Ephemeren gerettet wird. Nietzsches Versöhnungsformel lautet: „Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schließlich die Sprache Dinonysus: womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt erreicht ist." (KGW III/l, 136) Das aber ist nichts als eine bildhafte Umformulierung von Solgers Tragödientheorie, nach dessen auch von Nietzsche fragmentarisch zitierter Formel: „Der Untergang der Idee in der Existenz ist ihre Erscheinung als Idee."16 Obwohl dies kaum Nietzsches Intention gewesen sein wird, ist damit die Erscheinung des Kunstwerks zur Heilsgeschichte erklärt: die Rettung der Welt durch die Fleischwerdung des Gottes. Man erkennt an dieser Stelle, wie eng das ästhetische Als-ob mit dem religiösen verknüpft ist, das es doch prinzipiell ersetzen will. -
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Das Primat der Kunst über das Denken, das von Wiebrecht Ries an der genannten Stelle als fundamentaler „erkenntniskritischer Ansatz" Nietzsches identifiziert wurde17 und das geht natürlich mit Schopenhauer gegen Hegel! -, läßt sich auf diese Weise gewiß nicht begründen. Nietzsche hat konsequenterweise exakt diesen Gedankengang später mehrfach ausdrücklich korrigiert, indem er das Kantische Modell samt der Schopenhauerischen Verkleidung aus der Theorie eliminiert hat. Das Ding an sich und der aus ihm folgende Kontrast von Wesen und Erscheinung werden in der Notiz über „Erscheinung und Ding an sich" von Menschliches Allzumenschliches sozusagen ersatzlos gestrichen (KGW IV/2, 32f.). Denn auch diese Begriffe sind, wie im Abschnitt über „Musik" desselben Buches dargelegt wird, keine Entitäten, sondern selbst nur Vorstellungen von Bedeutsamkeit. „An sich", heißt es dort, „ist keine Musik tief und bedeutungsvoll, sie spricht nicht vom .Willen', vom ,Dinge an sich'", sondern: „Der Intellekt selber hat diese Bedeutsamkeit erst in den Klang hineingelegt" (KGW IV/2, 177).
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15 16
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Wiebrecht Ries, Nietzsche für Anfänger. Die Geburt der Tragödie. München 1999, 34. Karl Wilhelm Ferdinand Solger, Vorlesungen über Ästhetik, hg. von Karl Wilhelm Ludwig 1829, reprograh. Nachdruck, Darmstadt 1980, 310. Vgl. Anm. 15, op. cit. 100.
Heyse,
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Den Grund für die Fehlkonstruktion der ästhetischen Fiktion findet Die fröhliche Wissenschaft in der Trennung von Subjekt und Objekt (KGW V/2, 272ff.) und damit, wie in der Genealogie der Moral erklärt ist, in Kants Rezeptionsästhetik, die mit der Konstruktion des „interesselosen Wohlgefallens" den ,Zuschauer' auf ein An-sich jenseits seiner Vorstellung verwiesen habe. Im Gegensatz zu Kants objektiver Differenz erkennt Nietzsche in der ästhetischen Erfahrung „eine große persönliche Tatsache und Erfahrung, als eine Fülle eigenster starker Erlebnisse". (GM 111,6, KGW VI/2, 365) Gegen Kants Konzeption des interesselosen Wohlgefallens setzt er Stendhals Definition des Schönen als „une promesse de bonheur", jenes Versprechen des Glücks, dessen Scheitern nach Adornos Ästhetischer Theorie dem gelungenen Kunstwerk immanent ist: „Kunst ist das Versprechen des Glücks, das gebrochen wird."18 Was immer das Glück sein mag, spielt keine Rolle, da es allein um das Versprechen geht, eine Fiktion also, für deren Anspruch es keine Entsprechung in der Wirklichkeit geben kann: Das Versprechen ist das Als-ob, das auf kein An-sich verweist. Von Bedeutung ist vielmehr, daß Nietzsche in dieser Formel eine Grundlegung der ästhetischen Fiktion findet, die den Gegensatz von Subjekt und Objekt ebenso aufhebt wie den zwischen ,„Zuschauer' und Artist" (GM, KGW VI/2, 365) und völlig ohne Intentionalität auskommt. Die ästhetische Fiktion ist niemals „regulativ" gegenüber der Natur oder „konventionell" in der Erfindung von Bedeutungen. Dieses Als-ob braucht kein Ansich, um sich seiner Existenz zu vergewissem, sondern es findet in der Kontingenz der fremden Natur das Motiv des Spielerischen, im Weltenspiel der Götter, das die Genealogie der Moral inszeniert (KGW VI/2, 320f), wie in jenem Weltenspiel des großen Kindes des Heraklit. Das Versprechen des Glücks steht für Zarathustra im Modus des Als-ob: „als ob ein voller Apfel sich meiner Hand böte, ein reifer Goldapfel, mit kühlsanfter samtener Haut so bot sich mir die Welt" (Z 3, KGW VI/1, 231 f.). -
Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1970, 205.
Hermann Josef Schmidt
„ich würde nur an einen Gott glauben, der" oder
Lebensleidfaden und Denkperspektiven Nietzsches in ihrer Verflechtung (1845-1888/89)!
Friedrich Nietzsches Denkentwicklung tiefenscharf und chronologisch möglichst exakt primär aus seinen eigenen Texten zu rekonstruieren oder sich gar zu Nietzsches Denkmotiven zu äußern, gehört innerhalb der Nietzscheinterpretation vor allem dann zum Riskanten, wenn eine Nietzsches gesamte Denkentwicklung bestimmende Grundtendenz oder wenn gar ein sie dominierender Imperativ behauptet wird. Andererseits freilich äußert sich selten ein Autor noch häufiger zu seiner Entwicklung sowie zu seinen Motiven als Friedrich Nietzsche. So spielte ich wochenlang mit dem Gedanken, Ihnen nahezu unkommentiert ein Patchwork von Zitaten lediglich aus Also sprach Zarathustra vorzustellen, da dieses Werk diesseits allen kaum ausschöpfbaren Gehalts3 und jenseits mancher Trivialität zumindest auch eine in Details gehende autobiographische Konfession seines Verfassers darstellt. Doch „Dionysos gegen den Gekreuzigten" erfordert mehr. So wende ich Nietzsches genealogische Analyse nun auf ihren Autor selbst an und belege einige Lebensleidfaden Nietzsches so, daß diese als dunkler Hintergrund von Nietzsches Philosophieren in ihrer Bedeutung für Nietzsches Denken verständlicher werden. Die denkerische Leistung Nietzsches bestand nicht zuletzt darin, diesen dunklen, schrecklichen, angstbesetzten und Entsetzen auslösenden Erfahrungshintergrund, den ich in seinen Texten nun bis 1888 aufweise, nicht zu fliehen, sondern zu erkennen, aufzuarbeiten, ihn philosophisch produktiv zu machen. Meine Skizze gliedere ich so in drei Teile, daß diese als übereinander geblendete Zeitschichten bzw. als diachrone Zeitbänder zu verstehen sind:
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Das Zitat stammt aus Also sprach Zarathustra /., Vom Lesen und Schreiben (1883; KGW VI 1, 45). Friedrich Nietzsche wird zitiert nach den entsprechenden Werkausgaben oder nach dem im Goetheund Schiller Archiv (GSA) der „Stiftung Weimarer Klassik" deponierten Original bzw. deren sekundärer Quelle. Fragment 41 [7] von August-September 1885 (KGW VII 3, 416). Einen guten Einstieg gibt nun Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra. hg. v. Volker Gerhardt, Berlin 2000.
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In Teil I belege ich meine Hypothese früher Traumatisierung Nietzsches durch den Aufweis ihres Weiterwirkens im Œuvre Nietzsches. Damit rekonstruiere ich in Perspektive eines schlichten quid facti dunkle Aspekte eines Emotionsportraits. In Teil II gehe ich nur einen kleinen Schritt weiter und belege nun den Stellenwert, den diese erschreckenden frühen Erfahrungen in Nietzsches Denken und Œuvre einnehmen oder auch: beanspruchen, biete also in Perspektive eines schlichten quid facti
Aspekte eines Intentionsportraits. Teil III erst gilt nicht mehr nur dem Unter-, sondern nun auch explizit dem Obertitel dieses Kolloquiums: ab wann, wie und warum ausgerechnet Dionysos?
Damit ergänze ich vor allem mein Referat des VI. Nietzsche-Kolloquiums und meine Argumentation in Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche*. Vor zwei Jahren rekonstruierte ich in Von „Als Kind Gott im Glänze gesehn" zum „Christenhaß"? Nietzsches weltanschauliche Entwicklung der beiden ersten Jahrzehnte5 als konsequenten Ablösungsversuch vom Christentum eines seiner Auffassung nach für „das Heidenthum seinem Grundcharakter nach" (HKGW II 149) Eingenommenen. Auch heute berücksichtige ich Aspekte der frühen Entwicklung Nietzsches, um sie nun jedoch durch den Aufweis aufschlußreicher Wiederaufnahmen oder Weiterbildungen in Nietzsches späteren Texten sowie im Blick auf unser engeres Thema in ihrer Bedeutung für Nietzsche zu belegen. Daß derlei hier nur in grober erster Annäherung, hochgradig selektiv und hypothetisch erfolgen kann, liegt auf der Hand. Da Überlegungen im Blick auf Nietzsches Lebens- und Denkzusammenhang jedoch trotz aller Hinweise Nietzsches innerhalb der Interpretation noch immer eine eher marginale Rolle spielen, suche ich die Plausibilität, Belegqualität sowie Relevanz meiner Skizze auch dadurch zu erhöhen, daß ich für den Zeitraum ab 1870 Texte heranziehe, die Nietzsche selbst veröffentlichte oder zum Druck vorsah.
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Um zum Beleg nicht ständig auf meine eigenen Arbeiten verweisen und damit die Anmerkungen aufblähen zu müssen, erinnere ich daran, daß ich sämtliche in diesem Vortrag erwähnten Textstellen des zweiten Jahrzehnts Nietzsches in Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. (1.) Kindheit. An der Quelle: In der Pastorenfamilie, Naumburg 1854-1858 oder Wie ein Kind erschreckt entdeckt, wer es geworden ist, seine .christliche Erziehung' unterminiert und in heimlicher poetophilosophischer Autotherapie erstes .eigenes Land' gewinnt, Berlin/Aschaffenburg, 21991, und 77 Jugend. Interniert in der Gelehrtenschule: Pforta 1858 bis 1864 oder Wie man entwickelt, was man kann, längst war und weiterhin gilt, wie man ausweicht und doch neue Wege erprobt. 1. Teilband 1858-1861. 2. Teilband 1862-1864, Berlin/Aschaffenburg 1993 und 1994, meistenteils ausfuhrlich sowie vor allem in ihrem Zusammenhang bzw. demjenigen der Denkentwicklung Nietzsches mit manchem Ausblick auf Theoreme und Texte des späteren Nietzsche untersucht habe, ergänzt um zum Teil ausführliche Skizzen des biographischen Hintergrunds, der Eltern Nietzsches usw. Im Vergleich dazu kann ein Vortrag nur einzelnes akzentuierendes Stückwerk sein. Unter dem Titel Von „Als Kind Gott im Glänze gesehn" zum „Christenhaß"? Nietzsches früh(st)e weltanschauliche Entwicklung (1844-1864), eine Skizze in: Nietzscheforschung, 8., Berlin 2001, 95-118.
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ich würde nur an einen Gott glauben, der"
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„Incipit tragoedia" oder Nietzsches Basistrauma und dessen nicht völlig getilgte Spuren
Wer etwa die eine wenige Wochen nach Nietzsches Geburt mit Briefentwürfen einsetzende Kladde von Nietzsches Mutter entziffert, wird Zeuge einer Familienkatastrophe: einer rätselhaften, erst nach Obduktion als „Gehirnerweichung" diagnostizierten Erkrankung des seit seiner Kindheit kränklichen Röckener Dorfpastors Carl Ludwig Nietzsche der zuvor Prinzessinnenerzieher am Herzoghof in Altenburg gewesen war; des Verfalls dieses Vaters zum tagelang Weinenden, sich wochenlang Erbrechenden, Schmerzgepeinigten; der erblindet, zeitweise nicht einmal mehr artikuliert zu sprechen vermag; dessen Augen rollen; der einen Schlaganfall und offenbar auch epileptische Anfalle hat; für dessen Gesundheit die Großfamilie täglich betet; und zu dessen Rettung ,
verschiedene Ärzte herangezogen werden Ein Leiden, das alle Gebete und frommen Wünsche problematisiert, und ein Verfall, der die Großfamilie in Erschöpfung und Verzweiflung treibt. Und inmitten dieses tausendaktigen Familiendramas ein vierjähriger Fritz, dessen erster Übermensch schmerzzerfoltert klagend zerfallt; eine zweijährige Elisabeth, die ihre Mutter schon früh entsprechend programmieren muß, um den frühen Tod ihres Vaters sowie den Zusammenbruch ihres Bruders zu .erklären' ; ein Säugling Joseph, der seinem Vater bereits im Halbjahresabstand ins Grab folgt... Voraussetzungen eines Basistraumas zumindest dann, wenn diese Hypothese in ihrer Plausibilität durch Texte Nietzsches gestärkt werden könnte? So erinnere ich an die Schilderung eines Traums des Fünfjährigen am Sterbetag seines Bruders, daß das Grab seines Vaters sich öffnete, und daß sein Vater aus der Kirche ein totes kleines Kind abholte, mit welchem er in sein Grab zurückkehrte, durch den dreizehn- und auch durch den sechzehnjährigen Nietzsche. Oder ich erinnere an den Sylvestertraum des zwanzigjährigen Bonner Studenten: ...
„Doch was seh ich auf meinem Bett? Dort der!" (HKGW III 79f. bzw. KGW I 4, 7f.)
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s
liegt jemand
er -
stöhnt
leise, röchelt ein Sterben-
Archiviert im Goethe- und Schiller Archiv der „Stiftung Weimarer Klassik" unter der Nr. GSA 100/846. Die Nietzsches Röckener Jahre betreffenden Einträge sollen im Rahmen eines größeren Projekts des Verf. mit Ursula Schmidt-Losch (Friedrich Nietzsche aus Röcken 1844-1850) demnächst im Druck vorgelegt werden. Vgl. nun Klaus Goch, Nietzsches Vater oder Die Katastrophe des deutschen Protestantismus. Eine Biographie, Berlin, 2000. Daß es Geschichten wider besseres Wissen sind, und daß Schwester Elisabeth bereits während der späten Basler Jahre Nietzsches an ihrem Gewebe arbeitet, beweist Ursula Schmidt-Losch in: ein verfehltes Leben"? Nietzsches Mutter Franziska, Aschaffenburg 2001, 30 und 53f. HKGW I 6 bzw. KGW I 1, 286, und HKGW I 282 bzw. KGW I 2, 261. Vgl. auch Hans Gerald Hödl, „Verlust der Heimat. „Röcken" in Nietzsches Autobiographien 1858-63". In: Mesotes, II, 4/1992, 478-87, und Pia Daniela Volz, „,Mein Träumen und mein Hoffen?' Traumstimmung und Traumdichtung beim jungen Nietzsche", in: Nietzscheforschung, 5/6, Berlin 2000, 383-404. „
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Nietzsche spricht vom Ein Beleg:
zu
Ende
gehenden Jahr
1864 und benutzt dabei Röckener Bilder.
11 Uhr ging das Röcheln an, welches herzergreifend war bis gen 5 Uhr morgens den 30 ten Juli war seine Sterbenstunde."'0
,,[U]m
um
vier Uhr
[...] und ge-
Nietzsches ,Doppelstrategie': er thematisiert ein ihm wichtiges Problem und verwendet auf Röckener Erinnerungen verweisendes Bildmaterial. Seine Erfahrungen selbst hingegen thematisiert er nur so umwegig, daß kaum zu unterscheiden ist, ob es sich dabei eher um unbewußte Einsprengsel oder um in Perspektive seiner „Überwindungen" sorgsam geplante Andeutungen handelt. Rekonstruierbar hingegen ist, daß Nietzsche selbst gegenüber Lou von Salomé frühe Erinnerungen nicht nur konsequent verheimlicht, sondern daß er eine die Röckener Ereignisse ausklammernde Biographie präsentiert haben muß". Doch gerade diese frühen Erfahrungen und seine denklange Auseinandersetzung mit ihnen sind es, die ihn und sein Denken treiben. Auch anhand der Verwendung ganz bestimmter Bilder in charakteristischen Zusammenhängen kann man das selbst für Skeptiker belegen Deshalb gehe ich mit Ihnen heute diesen Weg. Oder ich erinnere an eine nicht genau datierbare, nach Meinung ihres Herausgebers jedoch „zweifellos in sehr großer Erregung niedergeschriebene" „autobiographische Aufzeichnung" (Nachbericht HKGW V 467) des Vierundzwanzigjährigen wohl aus dem Winterhalbjahr 1868/69: ...
„Was ich fürchte, ist nicht die schreckliche Gestalt hinter meinem Stuhle sondern ihre Stimme: auch nicht die Worte, sondern der schauderhaft unartikulierte und unmenschliche Ton jener Gestalt. Ja wenn sie noch redete, wie Menschen reden!" (HKGW V 205); erinnere schließlich daran, wie oft das Stichwort
„röcheln"12, das wir schon aus dem
Sylvestertraum kennen, in Also sprach Zarathustra fällt; und daß es nicht nur im Zusammenhang mit anderen aus Nietzsches Texten belegbaren Erinnerungen an Röcken erscheint der heulende Hund; der Mond, der über die Mauer steigt -, sondern bezeichnenderweise meist im Zusammenhang mit einem für Nietzsches Philosophie so -
zentralen Theorem wie dem Wiederkunftgedanken. Fast erübrigt es sich, an weitere mit ,Röcken' verflochtene Lebensleidfaden zu erinund andererseits an die der schrecklichen nern: einerseits an denjenigen des
Gespensts13
10
1'
12
Auguste an Mathilde Nietzsche in einem Brief vom 10. 8. 1849 (GSA 100/407; zit. n. K. Goch, Nietzsches Vater, 388). Das wird bspw. deutlich, wenn sich Lou Andreas-Salomé in: Friedrich Nietzsche in seinen Werken [1894], Frankfurt/M. 1983, 33, zu Nietzsches Biographie äußert; vgl. dazu genauer vom Verf. Wider weitere Entnietzschung Nietzsches. Eine Streitschrift, Aschaffenburg 2000, 7Iff. Seit 1940 ist diese Passage veröffentlicht; 1956 hat sie Karl Schlechta in Friedrich Nietzsche, Werke, Band 3, München 1956, 148, nochmals vorgelegt. Doch noch 1992 sah ich Anlaß, von einem „kriminell fahrlässig interpretierten Beleg" zu sprechen. {„So anders als alle anderen". Nietzsches Kindheit[stexte] als Schlüssel zu Nietzsche? Dortmund 1992, 24) Um so mehr freue ich mich, daß Jörg Salaquarda in: „Die Grundkonzeption des Zarathustra", in: Volker Gerhardt (Hg.), Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra, 80, zu „röcheln" einige Fragen exponiert hat. Vgl. dazu auch Johann Figl, „Geburtstagsfeier und Totenkult. Zur Religiosität des Kindes Nietzsche", in: Nietzscheforschung, 2, 1995, 21-34. ...
13
„
ich würde nur an einen Gott glauben, der
"
87
„Gestalt hinter meinem Stuhle". (Bekanntlich hielt sich das Kind Nietzsche viel im
Arbeitszimmer seines Vaters auf.) Beidem begegnet der Leser in Richard Wagner in Bayreuth, 1876, bereits als „Gespenst seines Gegners", das „nicht mehr neben seinem Stuhle steht" (KGW IV 1, 74). Aufschlußreich wohl Stück 249 der Morgenröthe, 1881 : „Wer ist denn je allein! Der Furchtsame weiss nicht, was Alleinsein ist: hinter seinem Stuhle steht immer ein Feind. Oh, wer die Geschichte jenes feinen Gefühls, welches Einsamkeit heisst, uns erzählen könnte!" (KGW V 1, 207) -
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Nun, Nietzsche kann und tut genau dieses in seinen Schriften, denn
er erzählt uns nicht bis in seine Dionysos-Dithyramben und Ecce homo die Geschichte seiner Einsamkeiten einschließlich der siebenten, sondern er deutet uns auch deren Inhalte an, denn: Wer wurde zum Feind hinter dem Stuhl dessen, der mit der Darstellung seiner Religions- sowie seiner Moralkritik begann? Ein dritter hiermit eng verflochtener Lebensleidfaden Nietzsches könnte aufgenommen werden, wenn wir dem bereits belegten Stichwort „Gespenst" noch etwas folgen würden: in den Schilderungen von Nietzsches Röckener Traum wäre es sein Vater; in der Phantasie I des wohl Zehnjährigen ist es ebenfalls sein kurzsichtiger Vater, nun aber im Schmuck des Predigers, wie er kopfnickend die steile Röckener Kanzeltreppe bzw. „Leiter" begeht. Daß auch ein rätselhaftes „Traumgesicht" des Sechzehnjährigen im Zusammenhang mit dumpfen „Sterbeglocken" und „Grab [...] erschrocken" ein „Gespenst der Nacht" (KGW IV 1, 74) beschwört, paßt ebenso ins Bild wie der zweite Absatz der zweiten autobiographisch prallen unzeitgemäßen Betrachtung Über Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, 1874: nur
„Er wundert sich aber auch über sich selbst, das Vergessen nicht lernen zu können und immer-
fort am Vergangenen zu hängen; mag er noch so weit, noch so schnell laufen, die Kette läuft mit. Es ist ein Wunder: der Augenblick, im Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, kommt doch noch als Gespenst wieder und stört die Ruhe eines späteren Augenblicks." (KGW III 1, 244)
Wie kaum anders zu erwarten, begegnen wir in Richard Wagner in Bayreuth nicht lediglich dem zitierten „Gespenst seines Gegners" (KGW IV 1, 74), sondern auch dem eigenen Tod als verlockendem liebreizenden Gespenst (KGW IV 1, 13); und wir begegnen einem, der „gewaltsam von dem dichterischen Geiste geführt", an eine „ganz erschreckende Aufgabe gieng", „als Einer, der folgen muss, wohin auch sein gespenstischer Führer den Weg nimmt". (KGW IV 1, 58) Wer mag der gespenstische Führer und was mag der Inhalt dieser erschreckenden Aufgabe gewesen sein? Daß das Stichwort „Gespenst" auch im autobiographisch eher noch pralleren Zarathustra, 1883-85, mehrfach vorkommt und sowohl im „Grablied" (KGW VI 1, 139) als in „Von Gesicht und Rätsel" im Zusammenhang mit Röckener Erinnerungen „Als ich ein Kind war, in fernster Kindheit" (KGW VI 1, 197) seine Rolle spielt, ergänzt unser Bild ebenso wie Jenseits von Gut und Böse, 1886, Stück 269, das nicht nur Nietzsches Transformationskraft, sondern auch deren Stoßrichtung belegt, womit ich freilich bereits zu Teil II meiner Skizze überleite: -
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„[...] oft mit einem langen Ekel kämpfend, mit einem wiederkehrenden Gespenst von Unglauben."
Kaum minder aufschlußreich eine vierte Problemspur wäre es, der Kette der zahlreichen „Blitz"-Verweise, oder der Entwicklung der Mitleids-Thematik eine fünfte Problemspur zu folgen, womit dieses brisante Thema vielleicht angemessener verstanden wäre; doch nichts davon läßt sich mit wenigen Hinweisen bewältigen. Außerdem verweisen auch sie auf Teil II. Um zusammenzufassen: Stichworte, die auf den innerfamiliär unaufgearbeiteten Verfall und Tod des ersten Übermenschen des Vierjährigen verweisen, erscheinen ganz konkret „röcheln", „Gestalt hinter dem Stuhl", „Gespenst" usw. in Nietzsches autobiographisch hochgesättigten Texten oft in Verbindung mit zentralen Theoremen wie Vergessen und zumal dem Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen, der aus -
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dieser Perspektive vielleicht erst Tiefenschärfe erhält.
II. Von
„Gott lebt ja noch" bis „Wer unter solchen Imperativen lebt"14
Knapp drei Jahrzehnte erstes
nach den skizzierten Röckener Ereignissen legte Nietzsche sein vor. Zwei Texte, die ich konfrontiere, umschreiben das in welchem sich genetische Nietzscheinterpretation bewegt:
„Buch für freie Geister"
Spannungsfeld,
,JDas Leben als Ertrag des Lebens.
Der Mensch mag sich noch
so
ausrecken, sich selbst noch so objektiv vorkommen: zuletzt trägt seine eigene Biographie." (MA 513.) -
weit mit seiner Erkenntnis doch Nichts davon, als
er
entschieden zu wenig, wenngleich ein Erkennen der eigenen Biographie zum Wichtigsten im Leben eines sich selbst Verantwortlichen gehören dürfte. Doch gegen eine Art von Hermeneutik gesetzt, deren Protagonisten Biographisches schon vorweg ausklammern, eine provokante Gegenthese, gegen die Nietzsche selbst allerdings schon wenig später zu opponieren scheint: Das wäre
zwar
,JLrlebnisse vergessen. Wer viel denkt, und zwar sachlich denkt, vergisst leicht seine eigenen Erlebnisse, aber nicht so die Gedanken, welche durch jene hervorgerufen wurden." (MA 526.) -
Damit erst sind wir bei den „Gedanken", „welche durch jene" Erlebnisse „hervorgerufen wurden". Doch auch hier dürfen wir uns von Nietzsche nicht täuschen lassen, denn er zumindest hat seine basalen Erlebnisse ja gerade nicht vergessen. Ein frühes Zeugnis stammt von Nietzsches Mutter und betrifft den Vierjährigen. Seit Nietzsches 150. Geburtstag habe ich es mehrfach vorgestellt auch hier -, weil ich es für weichenstellend halte. In einer konsequent genetischen Nietzscheskizze ist es kaum zu überspringen, weil wir hier dem Denken Nietzsches noch in nuce begegnen. Franziska Nietzsche sucht in nicht weniger als drei Briefkonzeptanläufen etwas zu fassen, das sie am 8. März 1849 in ihrem Brief an ihre Freundin Emma Schenk15 bezeichnenderweise dann doch übergeht: -
14
15
Fragment 41[7] von August-September 1885 (KGW VII 3, 416). Brief Franziska Nietzsches vom 8. März 1849 an Emma Schenk (GSA 100/836).
„
ich würde nur an einen Gott glauben, der"
89
„Unsre drei Kinderchen [...] bethen auch täglich um die Gesundheit des guten Pappa und sorgen sich mit uns um ihn Fritz ist ganz verständig und hält immer für sich seine Betrachtungen warum der liebe Gott den Pappa nur noch nicht gesund mache und tröstete gestern warte nur meine Mamma wenn es nur erst anfangt zu blitzen dann wird uns schon der liebe Gott eher hö-
ren."16
Wichtiger als der Beleg der Tatsache, daß auch der Vierjährige voll in die Röckener Familientragödie einbezogen war, ist, daß er bereits als kleiner Selbstdenker antwortet und sich dabei in auffälliger Weise zurückzieht, da er „immer für sich seine Betrachtungen" abhält, „wamm der liebe Gott den Pappa nur noch nicht gesund mache"; und daß er das tägliche Beten kritisch mit der Realität vergleicht. Offenbar hatte Fritz geglaubt, daß es einen lieben Gott gibt, der seinen gepeinigten Vater retten könne. Doch das geschah nicht. Verwandte sprachen später vom „Tag der Erlösung", einer Erlösung von Krankheit, Schmerzen und Pflegeanforderungen, doch mit dieser aus Theodizeeperspektive Brisantestes ausklammernden Art von „Erlösung" war der kleine Fritz gerade nicht ,erlöst', sondern lebenslang ,geschlagen'. Oder Verwandte formulierten beschönigend „Gott lebt ja noch" was u. a. die Antwort des tollen Menschen (FW 125) ,
provoziert haben könnte. Doch wie mag Fritz damals reagiert, was mag er empfunden, sich gedacht haben? Ab wann hat er seine Betrachtungen radikalisiert zur Frage, wamm Gott seinen Vater über Monate gefoltert und dann sogar getötet habe? Erst im Abstand von etwa fünf Jahren, um 1854, setzt Fritz mit substantielleren eigenen Textchen ein. Arbeitet er bereits in ihnen auf? Immerhin präsentiert er seiner Mutter in drei Geburtstagsgedichtsammlungen zum 2.2.1856-58 aufschlußreiche Seenotsfalle und Gewittergedichte, fleht den „Himmel" um „Erbarmen!"18 an, leitet in seiner Autobiographie (Aus meinem Leben; HKGW I 1-6 bzw. KGW I 1, 281-311) des Sommers 1858 alle familiären Todesfälle mit Gewitterbildem ein, wagt dabei sogar von Schlägen des Himmels (HKGW I 4 bzw. KGW I 1, 285) zu sprechen Hätte der Elfbis Dreizehnjährige äußern wollen, daß Gott seinen Vater getötet habe: würde unter der Voraussetzung, daß das Kind derlei um keinen Preis äußern durfte, nicht genügt haben, genau so zu formulieren, wie es formulierte? Nietzsche arbeitete offenbar auf Für dessen zweites Jahrzehnt habe ich das schon vor Jahren zu belegen gesucht; noch mein Vortrag des letzten DNK gab ein Resümee. Erinnert sei, daß der Siebzehnjährige im Frühjahr 1862 seinen Vater in der ...
...
16
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18
19
Briefentwurf Franziska Nietzsches wohl an Emma Schenk, Frühj. 1849 (GSA 100/846, 54). Bericht von Ludwig Nietzsches Halbschwester Friederike Dächsei an ihren Stiefsohn von Anfang August 1849 (GSA 72/2783), in: Ursula Schmidt-Losch, „ein verfehltes Leben"? Nietzsches Mutter Franziska, 115f. Ein Gewitter (spätestens 1. 2. 1858; HKGW 1 406 bzw. KGW I 1, 221); vgl. auch N. 8. Gewitter (spätestens 1. 2. 1856; HKGW I 343f bzw. KGW I 1, 122f.) und Aus meinem Leben (Sommer
1858; HKGW I 1-32 bzw. KGW I 1,281-311). In diesen Zusammenhang gehört das Ernst-Ortlepp-Thema. Nicht zuletzt deshalb ist es auch so wichtig; und verständlicherweise umstritten, denn auch damit werden Weichen gestellt Vgl. dazu vom Verf. Der alte Ortlepp war 's wohl doch oder Für mehr Mut, Kompetenz und Redlichkeit in der Nietzscheinterpretation, Aschaffenburg, 2001. ...
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Maske eines Ermanarich seinen Glauben verfluchen' läßt; daß er im etwa gleichzeitigen Vortrag Fatum und Geschichte die eigene Genese thematisiert und sein Selbstbefreiungs-, Orientierungs- sowie philosophisches Grundsatzprogramm verkündet; daß er nur ein halbes Jahr später in Theaterfragmenten vom „Christenhaß" einer nach seinem Gegenwarts-Ich gezeichneten Person spricht (HKGW II 144, 147f); und daß er noch immer poetisch mit Toten um sein Herz kämpft (HKGW II 108f). Nietzsches Auseinandersetzung mit möglichst vielen Bedingungen der Röckener Traumen bleibt zentraler Treibsatz eines Philosophierens, das in den Nietzsche verbleibenden vier Jahrzehnten viele Wege abschreitet, um zuerst zu erkennen und dann zu vernichten Nietzsches Spuren kann dabei auf unterschiedliche Weise gefolgt werden. Selbst seine Publikationen sind deutlich genug, wenn man auf Neben- und Untertöne achtet. Zwei Fragen müßten dabei von besonderer Bedeutung sein. Wie reagierte das Kind emotional auf seine Röckener Erfahrungen und was davon oder dazu findet sich noch beim späteren Nietzsche? Und: wie beurteilte das Kind das Leistungsvermögen seiner heimischen Religion? Genauer: wie vermochte diese das für das Kind unerklärliche Leiden und den unverständlichen Tod seines Vaters mit dem Bild eines gütigen oder zumindest gerechten Gottes zu vereinbaren? Daß schon Nietzsches erste Buchveröffentlichung einen ebenso grandiosen wie problematischen Versuch darstellt, die Sogwirkung der Weisheit des Silen „nicht geboren zu sein" (KGW III 1,31)- durch Integration in eine Metaphysik der Kunst zu entschärfen bedarf hier kaum der Diskussion. Überraschend eher, wie selbst Menschliches, Allzumenschliches das Problem konsequenzenträchtiger emotionaler Reaktionen auf eigene Erfahrungen exponiert: ...
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-
,
„Grad der moralischen Erhitzbarkeit unbekannt. Daran, dass man gewisse erschütternde Anblicke und Eindrücke gehabt hat oder nicht gehabt hat, zum Beispiel eines unrecht gerichteten, getödteten oder gemarterten Vaters, einer untreuen Frau, eines grausamen feindlichen Ueberfalls, hängt es ab, ob unsere Leidenschaften zur Glühhitze kommen und das ganze Leben lenken oder nicht. Keiner weiß, wozu ihn die Umstände, das Mitleid, die Entrüstung treiben können, er kennt den Grad seiner Erhitzbarkeit nicht." (MA 72.) -
Präsentiert Nietzsche hier eine Abbreviatur seiner wohl entscheidenden Lebensprobleme, Denkmotive und Imperative? Um sogleich die Linie bis zum späten Nietzsche zu ziehen: welcher Leser des Jammerliedes des Zauberers im vierten Teil des Zarathustra (KGW VI 1, 309-13) oder der Dionysos-Dithyrambe „Klage der Ariadne" (KGW VI 3, 396-99) hat sich nicht gefragt, was Nietzsche bewogen haben könnte, nicht nur einen folternden „Henker-Gott" auftreten zu lassen, sondern den sich endlich entfernenden Henker-Gott noch anzuflehen, mit all seinen Martern zurückzukehren?
In einer Vorstufe von Ermanarichs Tod (Frühj. 1862), (erstmals) in Nietzsche absconditus. II. Jugend. 2. Teilband 1862-1864, Aschaffenburg 1994, 268-75. Eine subtile Interpretation gibt nun Wiebrecht Ries in seiner Lese-Einführung in Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, München 1999.
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ich würde nur an einen Gott glauben, der"
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Auch die Frage nach Nietzsches Einschätzung der Qualität religiöser Antworten auf seine Röckener Erfahrungen findet in Nietzsches Schriften mehr als nur eine Antwort. Doch wer liest sie auch als Bewältigungsversuche eigener früher Erfahrungen, als Versuche Nietzsches, selbst dann „gegen die Verlogenheit von Jahrtausenden" (EH; KGW VI 3, 363f.) anzudenken, wenn er sich von dieser als infiziert erlebte? So gibt Vermischte Meinungen und Sprüche, 1879, in Stück 225 eine Antwort auf die zweite Frage:
„Glaube macht selig und verdammt.
Ein Christ, der auf unerlaubte Gedankengänge geräth, könnte sich wohl einmal fragen: ist es eigentlich nöthig, daß es einen Gott [...] wirklich giebt, wenn schon der Glaube an das Dasein dieser Wesen ausreicht, um die gleichen Wirkungen hervorzubringen? [...] Für alle jene Gelegenheiten, wo der Christ das unmittelbare Eingreifen eines Gottes erwartet, aber umsonst erwartet weil es keinen Gott giebt ist seine Religion erfinderisch genug in Ausflüchten und Gründen zur Beruhigung: hierin ist es sicherlich eine geistreiche Religion. Zwar hat der Glaube bisher noch keine wirklichen Berge versetzen können, obschon dies ich weiss nicht wer behauptet hat; aber er vermag Berge dorthin zu setzen, wo keine sind." -
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Nietzsche präsentiert hier dreierlei: 1. das wohl zentrale religiöse Problem seiner Kindheit: „Für alle jene Gelegenheiten, wo der Christ das [...] Eingreifen eines Gottes [...] umsonst erwartet"; 2. seine Einschätzung des Niveaus der ihm zugänglichen religiösen Angebote: als „erfinderisch [...] in Ausflüchten und Gründen zur Beruhigung"; und 3. seine noch in den Spätschriften beibehaltene schon frühe Verurteilung des Christentums als einer allenfalls im Blick auf Ausflüchte usw. geistreichen Religion. Die Schlußpassage polemisiert. Doch wamm tut Nietzsche das? War er zuvor nicht deutlich genug? Um klarer zu sehen, helfen wieder einmal wohl nur Biographica in Kenntnis früher Texte Nietzsches weiter, schlüsseln dann freilich auf. Das sei an diesem
Beispiel nun belegt.
Die nach dem Gedankenstrich angefügte Verhöhnung glaubensbedingten Versetzenkönnens von Bergen verweist auf den riesigen, erst um 1938 übermalten Spruch an der flachen Röckener Kirchendecke, der für das schon im vierten Lebensjahr lesen lernende Kind bevorzugtes Studienobjekt gewesen sein dürfte: ,„Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade wird nicht von Dir weichen', spricht der Herr, Dein Erbarmer"22
„Der Herr, Dein Erbarmer" gegen „Keiner weiß, wozu ihn die Umstände, das Mitleid, die Entrüstung treiben können, er kennt den Grad seiner Erhitzbarkeit nicht"? Genügt ein Zurkenntnisnehmen eines derart brisanten Kontrasts, um Nietzsches emotionale Ausgangsposition besser zu verstehen? Erstmals verwies ich auf diesen Spruch in Nietzsche absconditus, II. dugend 1858-1861, 1993, 526. Mittlerweile ist er abgebildet in: Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten. Im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik zusammengestellt von Raymond J. Benders und Stephan Oettermann unter Mitarbeit von Hauke Reich und Sibylle Spiegel, München/Wien 2000, 11. Der wertvolles Material bietende Band enthält leider zahlreiche Datierungsfehler.
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Mein Hypothesennetz läßt sich allerdings dichter knüpfen. Schon der etwa Zehnjährige nimmt in einem seiner frühesten erhaltenen Gedichte das Berge-Thema auf: „Doch die Berge neigen sich"23; und noch im Monat seiner Konfirmation
(10.3.1861) hält Nietzsche seinen beiden Naumburger „Germania"-Freunden einen Vortrag über Die Kindheit der Völker, in dem bereits der erste Satz ein „Meer von Zweifeln" anspricht, „aus denen sich manche für Religion und Geschichte gefährliche Muthmaßungen schließen lassen". Möglichst gefährliche Muthmaßungen zu exponieren, perfektioniert Nietzsche bis 1888. Doch warum? Hier kaschiert cher:
er
sie
zwar
noch etwas, doch in anderer Hinsicht ist er um
so
deutli-
„Ihr Herz wurde ergriffen von den Wohlthaten ihres Gottes, von [...] seiner allgewaltigen Größe und Macht, [...] deren Boten Blitz und Sturm sind, vor der die Berge erschrecken und die Hügel umfallen. Staunen und erhebende Schauer fassen sie." (HKGW I 235 bzw. )
„erhebende" oder eher zwerchfellerschütternde Schauer, denn erschreckende Berge und umfallende Hügel erlebt man auch in Naumburg nicht alle Tage? Die Freunde dürften verblüfft gelacht haben. Nicht erst Zarathustra sucht über Lachen zu töten. Dennoch könnte dieses Lachen auch das Lachen eines Erschrockenen sein, denn wenn „Berge weichen und Hügel umfallen", stürzt eine Welt zusammen. Dann reicht das Erdbeben bis zum tollen Menschen der Fröhlichen Wissenschaft, denn nichts mehr steht fest: wie in Röcken 1849 für Nietzsches Mutter; und wohl auch für den kleinen Fritz. Wenn in einer solchen Situation jedoch ,die nicht weichende Gnade' nicht erfahren werden kann, was dann? Kaum auszumalen, Nietzsches Vater habe zeitweilig schon so empfunden; und sein Erstgeborener habe das gespürt oder gehört. Doch zurück. Lachen, ob verzweifelt, erschrocken oder nicht, genügt nicht immer; zuweilen muß auch überboten sein: „Oh Zarathustra, wer Berge (KGW VI 1, 184f.)
zu
versetzen
hat, der
versetzt
auch Thäler und
Niederungen."
Während dies noch ein „es" wieder einmal „ohne Stimme" in einer „stillsten Stunde" zu Zarathustra flüstert, demaskiert sich Nietzsche wohl erst in Der Antichrist 51. in aller
Deutlichkeit:
„Dass der Glaube unter Umständen selig macht, dass Seligkeit aus einer fixen Idee noch nicht eine wahre Idee macht, dass der Glaube keine Berge versetzt, wohl aber Berge hinsetzt, wo es
keine giebt: ein
flüchtiger Gang durch ein Irrenhaus klärt zur Genüge darüber auf."
Bezeichnenderweise hat selbst noch diese Irrenhaus-Invektive autobiographisches Schwerstgewicht: wäre Nietzsches Vater nämlich nicht doch noch an seinem Gehirnlei23
Titelloses Traumgedicht, das vor Phantasie I und 11 von Nietzsche in ein winziges Heftchen, vermutlich ein Geschenk für Schwester Elisabeth, eingetragen wurde (HKGW I 307 bzw. KGW I 1,
6-8; vgl. dazu auch Ursula Losch und Verf.:
Werde suchen mir ein Schwans, wo das Zipfelchen ganz.' Spurenlesen im Spannungsfeld von Text, Zeichnung, Phantasie und Realität beim etwa zehnjährigen Nietzsche. Eine Anfrage an das Publikum", in: Nietzscheforschung, 1, Berlin 1994, 267-87).
noch
„,
„
ich würde nur an einen Gott glauben, der"
93
den gestorben, so wäre bereits er sicherer Anwärter des nächstgelegenen Irrenhauses, des Irrenhauses bei Halle, gewesen. Davor hatte man in Röcken wohl die größte Angst. Und Nietzsche übernahm auch diese Angst Der Vierzehnjährige, der von einem Jenaer Augenspezialisten erfuhr, er stünde wie sein Vater in Gefahr, zu erblinden24, weshalb er einen als Schwimmunfall25 inszenierten Selbsttötungsversuch26 unternommen haben dürfte, schildert wenige Tage nach seinem Saaleabenteuer einen Spaziergang mit seinem Freund Wilhelm Pinder außerhalb von Halle: ...
„O Wilhelm, rief ich, giebt es denn eine größere Lust als dern? Freundesliebe, Freundestreue! [...]
so zusammen
die Welt
zu
durchwan-
Da drang ein greller Schrei uns zu Ohren; er kam aus dem nahen Irrenhause. Inniger schlössen sich unsre Hände zusammen; uns war als berühre uns ein bößer Geist mit beängstigenden Fittigen. Nein, uns soll nichts von einander scheiden, nichts als der Todesjüngling. Weichet, ihr bößen Mächte! Auch in dieser Welt gibt es Unglückliche. Aber was ist Unglück? -" (HKGW I 143 bzw. KGW I 2, 126) -
-
Entscheidend also: in Nietzsches Veröffentlichungen bringt erst das Stück 51 des Antichrist das Irrenhaus- und das Berg-Umsturzmotiv wieder in seinen Kontext, in den nun knapp vier Jahrzehnte zurückliegenden Röckener Kontext von 1849. Vielleicht erst so erkennt man Zusammenhänge. Und zwischen Röcken 1849 und Der Antichrist. Fluch auf das Christentum liegt die Entwicklung des Denkers Nietzsche Wiederum fasse ich zusammen und schlage dann eine Brücke: Nietzsche hat seine Röckener Erfahrungen vielfältig umgesetzt, hat zuerst wohl jeden ihm innerhalb seiner heimischen Religion gebotenen Denkweg abgeschritten, um seine Theodizeeprobleme zu lösen. Das dürfte in der noch einzig ,dunklen Zeit' der Denkentwicklung Nietzsches, zwischen 1849 und 1854 etwa, gewesen sein. Erst ab 1854/55 sind wir in seinen eigenen Texten ,auf Grund': und da ist Nietzsche vielleicht auch dank Anregungen von Ernst Ortlepp schon bei ,den Griechen', bei denen er blieb, fast unabhängig davon, was er dazu schrieb. Noch die Götzen-Dämmerung, 1889, belegt das. In deren Schlußkapitel „Was ich den Alten verdanke" versucht Nietzsche anfangs den Eindruck zu erwecken, er sei als Pförtner Alumne primär stilorientierter Lateiner gewesen: erst nachdem er Sallust entdeckt habe, hätte Wilhelm Corssen „seinem schlechtesten Lateiner die allererste Zensur" geben müssen. (KGW VI 3, 148) Alles ist zwar wieder einmal fabuliert, denn Nietzsche war in Pforte niemals auch nur schlechter geschweige denn: schlechtester Lateiner, war zu Beginn der Sallust-Lektüre bereits Primus27: übrigens vor allem dank ...
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Paul Deussen, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, Leipzig 1901, 10; Elisabeth FörsterNietzsche, Der junge Nietzsche, Leipzig 1912, 87. Elisabeth Förster-Nietzsche, Das Leben Friedrich Nietzsches. BandI, Leipzig 1895, 155. Verf. Nietzsche absconditus, II. Jugend. 1. Teilband 1858-1861, 1993, 434-38, und: „Im Saalestrudel oder ein Selbsttötungsversuch des vierzehnjährigen Nietzsche?", in: Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen, 8. / 2000/1, 15-23. Nietzsche war bereits am Ende seines ersten Pförtner Semesters, des Wintersemesters 1858/59, Tertius seiner Semestergruppe von 25 Schülern (Jahresbericht der Landesschule Pforta, Naumburg 1859); eine Position, die ohne entsprechende Leistungen in den alten Sprachen unerreichbar war;
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seiner Leistungen in Latein. Wichtiger ist, daß er in den restlichen Stücken 2. bis 5. dieses Schlußkapitels nur noch von ,den Griechen' spricht. Da geht es freilich nicht mehr um Stil, sondern um Nietzsches Sache, um einen möglichst wenig moralisch infizierten Realismus einschließlich betonter „Geschlechtlichkeit" (VI 3, 153), bevor er im letzten Satz wieder einmal alles provokativ überbietend sich selbst inseriert: „ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, ..."(KGW VI 3, 154) Damit erst komme ich
III. Von
zu
ich, der Lehrer der ewigen Wiederkunft -
Teil
,der über Abgründe (hinweg) zu tanzen verstünde' zum
„Philosophen Dionysos"
Wiederum kann ich nur wenige Stichworte geben. Da ich davon ausgehe, daß während dieses Kolloquiums Nietzsches Dionysos- und Religionssicht aus unterschiedlichsten Perspektiven mit dem Schwerpunkt beim späteren Nietzsche reflektiert und problematisiert wird, berücksichtige ich Aspekte, von denen ich vermute, daß gerade sie sonst vielleicht nicht zur Sprache kommen. Deshalb erinnere ich daran, daß Nietzsche seine Sicht des Dionysos sowie des Dionysischen primär seiner großenteils bereits frühen Kenntnis antiker Literatur sowie Kunst verdankt, weshalb gilt, die betreffenden Texte von ,Homer' (insbes. Ilias VI 130-141 und XVIII 590) und Hesiod, Archilochos, Herodot, Pindar und den Tragikern sowie Aristophanes über Piaton bis zu Horaz und Ovid sowie ggf. Nonnos zu berücksichtigen; und sie möglichst aus der Perspektive des Nietzsche zugänglichen Wissens zu lesen. Bevor ich frühe Zugänge Nietzsches zur Dionysosproblematik sowie deren Relevanz für ihn skizziere, eine Liste in antiker Literatur und Kunst identifizierbarer Dionysosmerkmale, die dem ein eigenwilliges Dionysosbild Zeichnenden bekannt gewesen sein müßten. Im griechischen Kulturraum vor unserer Zeitrechnung galt Dionysos als gespannteste Polaritäten integrierender Gott, genauer -
und am Ende des WS 1859/60 war er Primus (Jahresbericht 1860). Sallust stand frühestens in Nietzsches 3. Semester, dem WS 1859/60, auf dem Lehrplan (ebd.), kann also nicht Auslöser für Nietzsches gehobene Lateinzensuren gewesen sein. Damit folge ich also ausdrücklich nicht der in Entnietzschung Nietzsches, 2000, 173, berücksichtigten Dionysosthematik im Sinne eines späten Gegentabus, sondern biete dazu lediglich einige básale Informationen. Walter F. Otto hat in Auseinandersetzung mit Nietzsches Sicht des Griechentums seine aufschlußreichen gräzistischen Untersuchungen ausformuliert in: Dionysos. Mythos und Kultus (1933). Darmstadt 31960, Die Götter Griechenlands. Das Bild des Göttlichen im Spiegel des griechischen Geistes ( 1929), Frankfurt/M. 1961, und Theophania. Der Geist der altgriechischen Religion, Reinbek bei Hamburg 1956ff. Nietzsches Sicht der Antike wird kritisch umgesetzt vor allem in: Der Geist der Antike und die christliche Welt, Bonn 1923, das zu diesem Thema deutlichste Buch eines renommierten Gräzisten, das ich kenne.
„
ich würde nur an einen Gott glauben, der"
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als Gott ekstatischer Lebens- und Todesbejahung und damit extremster Daseinsspannungen; als Gott des Tanzes, umgeben von ekstatisch Tanzenden: Silenen, Bakchen und Satyrn, damit als Antipode allen Geists der Schwere, des Starren und der davon bestimmten Religionen sowie Weltauffassungen; als ein Gott, der die Identifikation der Gläubigen (als Bakchen) mit ihm (als Bak-
chos) ermöglicht, ja (er)fordert;
als ein Gott, der in eigener Sache missioniert; als ein Gott der Nacht sowie des Nächtigen, bei den Thrakern auch ein schaffender Sonnengott, dem in Griechenland nur die Fackeln blieben30; als ein Gott, der seine Freunde liebt und sich an Gegnern wie Pentheus oder Lykurgos grausamst zu rächen weiß; als ein Gott der Weihungen und des heilenden Wahnsinns; als ein Gott der Dichter und dichterischer Inspiration: des Dithyrambos und der Tra-
gödie;
als ein Gott der Feme und großer Wanderungen, der von weither kommt; als ein Gott des Draußen (wie Artemis), der freien, ungebändigten Natur, der aber (anders als Artemis) auch im Kulturraum zu dominieren oder (wie mit Apollon selbst in Delphi) zu koalieren vermag; als ein Gott, der als zweimal geborener Sohn des höchsten Gottes menschliche Gestalt annimmt, um die Menschen zu erlösen, der getötet, ja zerrissen wird und in die Unterwelt einkehrt, dessen Tod beklagt wird, der aber wieder aufersteht: Symbol unzerstörbarer Lebenszyklik; als ein Gott ekstatischer Musik, die mitreißt, verführt, erhebt oder aber niederwirft und fast zerschmettert: weniger Kithara als Aulos und phrygische Pauke! als Gott bisexueller Geschlechtlichkeit: so wie sein Symbol Efeu zwiegeschlechtlich ist, auch im Dunklen gedeiht; als ein Gott der Freude, vielfältiger Lust und des Lachens, aber auch der Trauer, Klage und des Entsetzlichen; als Gott des Weins, des Rausches und dessen Folgen ; als Gott der Maske und mannigfacher Verkleidung, der sich zu verbergen und in vielen Gestalten zu offenbaren liebt, Gott eigentümlich tiefen, tragischen Er- und Verken...
nens
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nicht zuletzt freilich: Dionysos galt als griechisch gewordener, thrakischer Gott; und wurde zunehmend der griechische Gott für einen Nietzsche, für den von der Kindheit bis in den Zusammenbruch Griechentum (von Homer' bis ins vierte Jahrhundert) emotionale Heimat war So liegt als Annahme nahe: Wer von dieser gespannten Polyphonie berührt, fasziniert und vielleicht selbst bestimmt, sie zu integrieren und philosophisch zu transformieren intendiert, um in vielleicht nicht völlig durchschautem innerprotestantischen Agon? ,
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Vgl. Primum Oedipodis regis carmen choricum („vim creantem [...] attributae faces". HKGW II 381). Vgl. Walter F. Otto, Dionysos. Mythos und Kultus (1933), Darmstadt31960; kritisch zu Nietzsches Dionysossicht insbes. Hubert Cancik, Nietzsches Antike. Eine Vorlesung, Stuttgart 1995.
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Leidenserfahrung Welt und Leben zu bejahen, zu rechtfertigen', findet kaum Geeigneteres als das (für den Bereich des Dionysischen ohnedies konstitutive, vieldeutige und weit in die Phylogenese zurückweisende) Symbol befreit-befreienden, scheinbar schwerelosen Tanze(n)s32; geeignet als Bild des Weltspiels ebenso wie eines mit diesem verschmelzenden weltimmanenten Göttlichen jenseits von Gut und Böse3 an das dann auch ein Friedrich Nietzsche zu glauben verstünde? In genetischer Perspektive dominieren zwei Fragen: Seit wann und warum erkannte sowie formte Nietzsche Dionysos in seiner Relevanz für sich? Welche lebensgeschichtlichen Entwicklungen und Bezüge lassen sich identifizieren und rekonstruieren? Zuerst ein Problemüberblick und erst dann aus Zeitgründen nur wenige Details. 4 So heterogen Nietzscheinterpretationen auch sein mochten, selten gab es noch länger eine wohl noch klarere communis opinio als hier: Nietzsches Dionysosbezug, -betonung und -deutung der Geburt der Tragödie und selbst der späten 1880er Jahre verweisen jedenfalls nicht etwa auf Nietzsches Entwicklung der beiden ersten Jahrzehnte oder auf dessen frühe Kenntnis der Dionysossicht vorhellenistischer Griechen. Vielmehr entwiktrotz aller
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keln sie sich erst in Nietzsches Tribschener Zeit 1870-71, verweisen in der Sache auf Gespräche mit Richard Wagner, ein in Tribschen hängendes Bacchus-Bild des Malers Bonaventura Genelli und insbesondere auf die von Wagner und Nietzsche akzeptierte Metaphysik Arthur Schopenhauers. Der späte Nietzsche hingegen setze sich lediglich mit seiner Sicht des Dionysischen der frühen Basler Jahre kritisch auseinander und formuliere ansonsten in sowie mit „Dionysos" seine Privatphilosophie.
Renate Reschke hat in „Die andere Perspektive. Ein Gott, der zu tanzen verstünde. Eine Skizze zur Ästhetik des Dionysischen im Zarathustra", in: Volker Gerhardt (Hg.), Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra, 257-84, so überzeugend gezeigt, in wie hohem Maße das Symbol des Tanzes fur Nietzsches ,andere' Philosophie also nicht lediglich in Also sprach Zarathustra\ konstitutiv ist, daß die Frage naheliegt, welche Bedeutung Erfahrungen des musikbegleiteten Tanze(n)s für -
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Nietzsches frühe Entdeckung von oder Entscheidung für ,Dionysos' gewannen. Schon während seines ersten Pförtner Semesters im Winter 1858/59 notiert sich der Vierzehnjährige. „Gott nicht gut nicht böse-"! (HKGW 1 48 bzw. KGW I 2, 18). Genauer: bis in die frühen 1990er Jahre bzw. zum Erscheinen der beeindruckenden Dissertation (Tübingen, 1989) von Barbara von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" (Kap. 1-12), Stuttgart/Weimar 1992, 1 Iff. Daß der Verf. bspw. bereits in „Friedrich Nietzsche: Philosophie als Tragödie", in: Josef Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit III, Göttingen 1983, 224ff, gezeigt hat, schon in „Primum Oedipodis regís carmen choricum", April-Juni 1864, seien Überlegungen wie die „Gegenüberstellung von religiösem und ästhetischem Sinn" sowie die Überordnung des Letzteren entwickelt, die „für Nietzsches denkerische Weiterentwicklung sowie seine Philosophiesicht epochemachend" waren, war offenbar ebenso in den Wind geschrieben wie fast alles an Substantiellerem, was bspw. in den knapp anderthalbtausend Seiten der beiden Jugendbände von Nietzsche absconditus, 1993f., zu Nietzsches Pfortejahren oder ,Griechenverhältnis' vorgelegt wurde. Ein Anlaß, sich nach dem Sinn geisteswissenschaftlicher Veröffentlichungen zu fragen? Vgl. Martin Vogel, Apollinisch und dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums, Regensburg 1966, 433, Abb. 41: Genellis „Bacchus unter den Musen", und Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie. Erster Band, München/Wien 1978, 431.
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All das ist zumindest ergänzungsbedürftig, wenn nicht sogar genetisch blind und zum Teil schlicht falsch, denn Nietzsches Dionysossymbolik hat eine Vorgeschichte, in deren Perspektive nicht lediglich das Tribschener Idyll in anderem Licht erscheint. So sprechen Indizien zumindest für die Annahme, Nietzsche habe Dionysos in noch unentschiedener Konkurrenz zu anderen Ansätzen spätestens seit seiner Konfirmation zu einem weit- und lebensbejahenden antichristlichen Integrationssymbol nicht zuletzt in der Intention einer Suspension aller Bedingungen der Möglichkeit des skizzierten Röckener Basistraumas sowie seiner Folgen entwickelt. Auch deshalb habe Nietzsche 1870-71 begeistert die Dionysossymbolik aufgegriffen, den Lehrer der ewigen Wiederkunft vorsichtig mit dionysischen Merkmalen ausgestattet, sich 1888 zum letzten „Jünger des Philosophen Dionysos" ernannt und zugleich als „Lehrer der ewigen Wiederkunft" dechiffriert: schließlich perpetuiert erst enthusiastische Akzeptanz ewiger Wiederkunft selbst der Röckener Katastrophen und all ihrer Folgen Nietzsches philosophischen und damit auch existentiellen Triumph über Leid und Tod in höchster Potenz: deshalb tanzt Dionysos über Abgründe hinweg; und er muß das auch Nun erst zu Details. Um früheste Lebenstragiklinien Nietzsches nicht auszuklammern, gehe ich zurück bis zu seinem .ersten halben' Geburtstag. Ludwig Nietzsche, der seine jungen Frau schon während ihrer ersten Schwangerschaft sowie ich vermute: vor allem den Fötus Fritz mit Klavierimprovisationen beruhigte, stimulierte und damit eine vorgeburtliche Prägung seines Sohnes auf Musik und einen à la Ludwig Nietzsche Improvisierenden wie später Ernst Ortlepp und Richard Wagner? vorgenommen haben dürfte, schenkte sich für seinen kleinen Sohn offenbar viel Zeit, blühte dann sogar auf. Das belegt Erdmuthe Nietzsche, die im Rökkener Pfarrhaus lebende Groß- und teilweise Ersatzmutter Nietzsches in einem Brief an ihre ältere Tochter Rosalie vom 15. April 1845: ...
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„Mit unsern Fritzchen wirst Du großen Spas haben, wenn er so fröhlich fort bleibt, jetzt haben wir ein neues Späßchen mit ihn, er fängt an mit den Füßen fort zu strampeln und will gar nicht lange sitzen, ist nun Ludwig da wenn er laufen soll, da tanzt der ihn vor und das will er nachmachen, wer ihn also führt der ist ihn dazu behülflich und läßt ihn mit tanzen, da jauchzt der kleine Kerl laut auf man muß aber auch dazu
[trillern]".36
Zarathustra der Tänzer? Nietzsche schon als Halbjähriger, dessen geistige Wachheit und Sonnenenthusiasmus „ein Lichtfreund sonder Gleichen" Vater Ludwig betont37? Tritt auch Carl Ludwig Nietzsche in/als Dionysos auf? Wer kann es in Kenntnis dieses Belegs ausschließen? Besetzte jedoch Nietzsches musizierender und tanzender Vater, später für Gott stehend, noch später Inkarnation unbegreiflichen Leidens, für Nietzsche sogar Aspekte des Dionysischen, so mußte er dank wohl niemals völlig aufgelöster Identifikation des Sohns mit seinem Vater auch in Nietzsches „Dionysos" präsent bleiben. Derlei ermöglicht zwar das Identifikationen stimulierende polychrome antike Dionysos-Symbol; doch genau dies erschwerte einer so polydimensionalen Persönlichkeit wie Nietzsche vor allem dann Trennschärfe, wenn sowohl Jesus Christus als sein gehörnter Gegenspieler schon früh mit dionysischen Requisiten ausstaffiert wurden -
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Erdmuthe am 15. 4. 1845 an Tochter Rosalie Nietzsche (GSA 100/974). Aus einem Brief vom 26. 3. 1845 an Emil Schenk (GSA 100/445).
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Das bisher Erwähnte hätte zwar bereits den Hintergrund einer Lebenstragödie bilden können, doch dabei blieb es ja nicht. Gegen Ende des zweiten Lebensjahres setzte für das Kind seitens dieses ihm zuvor so positiv zugewandten Vaters überraschend eine christliche Indoktrinationsphase ein, der sich Nietzsches Mutter zumindest 1846-48 angeschlossen zu haben scheint, mit Einsatz der Rute zwecks Brechung seines Eigenwillens: Dieser überraschende innerfamiliäre Wetterwechsel stellt wohl den ersten Akt des Röckener Traumas Nietzsches dar. Das Kind reagierte darauf mit Trotz- und Wutanfallen, bevor es gebrochen? besonders brav, zurückhaltend und ängstlich wurde. Und seinen Zorn in sich Plötzlich jedenfalls war Nietzsches ,goldene' Kindheit zu Ende4 denn der Zweijährige erlebte nun genau diesen Vater auch als denjenigen, der die Rute einsetzt Gehören auch deshalb Stichworte wie „Grausamkeit", Leiden, Schmerzen, Gewaltsamkeit ebenso betont wie das Musik- und Tanzthema zu Nietzsches Dionysosbild? Und damit unablösbar sowie konsequenzenreich nicht nur zu seiner Sicht frühen Griechentums und zur Rekonstruktion des griechischen (dorischen) Staates, sondern auch zu hieraus abgeleiteten aktuellen politischen Was würde das Skizzierte an Konfliktpotential für einen Friedrich Nietzsche bedeuten, der sich mit aller Macht und viel Raffinesse von seinen christlichen Prägungen befreien will? Nicht zuletzt als Mörder Gottes mit den Messern der Erkenntnis? Und der doch nicht verhindern kann, unter einem von seiner Schwester auf seinem Sarg plazierten Kreuz im Familiengrab an der südlichen Dorfkirchenmauer Rockens beerdigt zu werden? Eine auch interpretativ wohl in alle Zukunft prolongierte Farce? -
vergrub?39 -
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Programmatiken?42
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Erste archivarisch belegte und nicht nur wie in Nietzsche absconditus, 1991-1994, aus Nietzsches eigenen Texten rekonstruierte Hinweise in meiner Abhandlung „Friedrich Nietzsche aus Röcken", in: Nietzscheforschung, 2, 1995, 43ff. Friedrich Nietzsche in Röcken 1844-1850, Aschaffenburg, in Vorbereitung, wird die Argumentation weiterfuhren; vgl. auch meine Streitschrift Wider weitere Entnietzschung Nietzsches, Aschaffenburg 2000, Kapitel III. und IV. Reiner Bohley hat das Verdienst, m. W. als erster auf diese aus Nietzsches Texten zwar zu vermutenden, archivarisch jedoch zuvor nicht belegten Zusammenhänge hingewiesen zu haben in: „Nietzsches christliche Erziehung", in: Nietzsche-Studien, XVI (1987), 164-96; vom Verf. weitergeführt in Nietzsche absconditus, 1991-94, ,„Du gehst zu Frauen?' Zarathustras Peitsche ein Schlüssel zu Nietzsche oder einhundert Jahre lang Lärm um nichts?" In: Nietzscheforschung, 1, 1994, 111-34, „Friedrich Nietzsche aus Röcken", 35-60, sowie in: Wider weitere Entnietzschung Nietzsches, Kap. IV. Wer das nicht in genetischer Perspektive zu erkennen oder archivarisch zu belegen vermag, kann es noch aus Nietzsches späteren Metaphern erschließen. Daß sich auch hierin Aspekte der Lebenstragödie Carl Ludwig Nietzsches spiegeln könnten, wird mit Verweis auf entsprechende Passagen Jung Stillings erkennbar aus des Verf. Skizze „,Du gehst zu Frauen?' Zarathustras Peitsche ein Schlüssel zu Nietzsche oder einhundert Jahre lang Lärm um nichts?"; zu Nietzsches Vater vgl. Klaus Goch, Nietzsches Vater oder Die Katastrophe des deutschen Protestantismus. Eine Biographie, Berlin 2000. Vgl. dazu Hubert Cancik, Nietzsches Antike. Vorlesung, Stuttgart/Weimar 1995. Harry Graf Keßler, „Über Nietzsches Tod. Aus dem Tagebuch", in: Palmbaum, 8. / 2000/1, 9-14, und Jens-Fitje Dwars, trotz des Jammers Kraft'. Nietzsches Tod und Beerdigung im Tagebuch von Harry Graf Keßler", in: ebd., 6-9. -
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Wann also mag Nietzsche dem Dionysosmythos begegnet sein? Und ab wann enter ihn in seiner Relevanz? Vorausgesetzt, das Theaterfragment Der Geprüfte (HKGW I 327-31 bzw. KGW I 1, entstammt dem Jahr 1855, ist anzunehmen, das Kind habe schon damals Ovids dionysosgeschichtendurchsetzte Metamorphosen zumindest in übersetzten AusOb das Kind jedoch schon ; für 1856 ist diese Kenntnis gesichert zügen 1855/56 die Pentheus-Bacchus-Geschichte (Metamorphosen III 51 Iff.) las und wie es sie empfand, bleibt noch offen. Auffällig, daß Dionysos in den zahlreichen ,Griechen'-Dichtungen des Elf- bis Dreizehnjährigen nicht wenige Gedichte sind jedoch verschollen oder nur als Fragment erhalten keine Rolle spielt: vor allem Zeus, dem 1856 sogar ein Dankgedicht „geweiht" wird (HKGW I 362 bzw. KGW I 1, 145f), und Apollon, zuweilen auch Poseidon, Hades, Hermes sowie einige Göttinnen und im Frühjahr 1859 Iapetos sowie Prometheus haben die entscheidenden Auftritte.
deckte
105-10)44 gekannt4
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Ob das Fragment eine Vorstufe, ein Paralleltext oder ein Nachfolger eines am 8. 2. 1856 aufgeführTheaterstückchen wechselnden Namens (Die Götter vom Olymp; HKGW 1 30 bzw. KGW I 1, 309) darstellt, ist derzeit noch offen. Da von dem Lustspiel: Der Geprüfte der Text sowie eine Besetzungsliste und zu Die Götter auf den Olymp, in 8 Aden (GSA 71/214,1; Mp I 3a; KGW 11,110) eine Einladung ebenfalls mit Besetzungsliste sowie Berichte' vorliegen, muß dank der divergierenden Besetzungslisten von so erheblichen Unterschieden zwischen diesen beiden Stücken ausgegangen werden, daß Hans Gerald Hödls (nun auch in: „Jugendschriften. IV. Schriften der Schulzeit [1854-1864]", in: Ottmann [Hg.], Nietzsche-Handbuch, 2000, 68, präsentierte) Aussage, Nietzsches Formulierung, er habe Die Götter vom Olymp ebenso wie Orkadal „im Verein mit Wilhelm geschrieben" (HKGW I 30 bzw. I 1, 309), gelte auch für Der Geprüfte, weiterhin als unbegründet erscheint. Wo wird berücksichtigt, daß sich lediglich 4 der 9 „Personen" des aufgeführten Stücks mit den für die Akte I und II aufgelisteten 7 Rollen von Der Geprüfte decken? Oder daß selbst noch der Titelheld von Der Geprüfte, Sirenius, im am 8. 2. 1856 aufgeführten Stück ebensowenig auftritt wie Jupiter in seiner Verkleidung als Bettelmann? Oder daß wir in der Einladung des aufgeführten Stücks die Rolle eines Thalius, den Fritz, und sogar eines Platonius, den Freund Wilhelm Pinder gibt, finden, daß jedoch diesen beiden Rollen in Der Geprüfte nichts entspricht? Da nun aber Der Geprüfte ausschließlich in der Handschrift Nietzsches vorliegt und außerdem auf seinen Titelhelden sowie auf die durch den unbekannten Gott im zweiten Akt erfolgende Prüfung zugeschnitten ist, erscheint in Suspension dieser beiden Rollen der Gehalt der inhaltlich weitestgehend unbekannten Die Götter auf den Olymp in so entscheidener Weise verändert, daß sich Schlüsse vom einen Stück auf das andere zumal angesichts des Sachverhalts, daß Nietzsche in der Freundschaft mit Wilhelm damals der Führende war, zumindest solange verbieten, solange die vorhandenen Quellen weder exakt interpretiert noch weitere Quellen vorgelegt oder stichhaltig argumentiert wird. In Nietzsche absconditus, Kindheit, 1991, 929-951, argumentiere ich, daß Nietzsches Zeichnung des Helden dieses Stücks Sirenius den Eindruck von Kenntnis der Sirenenschilderung (Metamorphosen V 552-63) erweckt, die Zeichnung des prüfenden Zeus in II. hingegen auf die Geschichte von Philemon und Baukis (Metamorphosen VIII 626-720) verweist. Vgl. Renate G. Müller, Antikes Denken und seine Verarbeitung in Texten des Schülers Nietzsche, Philos. Diss. d. U. Dortmund, 1993, 9f. bzw. 7, 221 f. bzw. 115f, sowie „Erkenntnis und Erlösung. Über Nietzsches Umgang mit vorchristlich-griechischem Gedankengut vor dem Hintergrund seiner christlichen Herkunft", in: Nietzscheforschung, 8, Berlin, 2001. ten
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Erst ab Frühjahr 1859 sind wir auf festerem Grund: der Vierzehnjährige liest im Lateinunterricht Ovids Pentheus- und dürfte sich aber auch für die zahlreichen der Bacchusgeschichten Metamorphosen interessiert haben, liest übrigen außerdem „die mythologischen Gespräche" Lukians, die er schon 1858 entdeckt haben dürfte48. Diese „gefallen" ihm „sehr und haben großen Schwung und prächtige, elegante Schilderung in sich"49. (Das IX. Göttergespräch schildert die wunderbare Geburt des Dionysos durch Zeus; und das noch pikantere XXIII. Göttergespräch bietet einen Dialog von Apollon und Dionysos.) Bereits intimen Dionysosbezug hingegen identifiziere ich kurz nach Nietzsches Konfirmation unter der Voraussetzung, daß das eigenartige titellose Traumgedicht „Mich trieb ein Geist in des Waldes Nacht" (HKGW I 275f. bzw. KGW I 2, 253-55) wohl aus dem Mai 1861 als ein Hintergründe abendländischer Religionsentwicklung tiefenscharf ausleuchtendes Gedicht der Ermordung des Dionysos durch einen das Christentum symbolisierenden brudertötenden Mönch gelesen werden kann; und wohl auch muß. Das zwingt zur Annahme, daß Nietzsche zwischen dem Frühjahr 1859 und Mai 1861 Dionysos als für sich hochrelevant entdeckte; doch ich verfüge noch über keinen weiteren Beleg. Leider liegt nahe, anzunehmen, daß gerade aus dem konfirmationsvorbereitungsdominierten Zeitraum ab Herbst 1859 ,kritischere' poetische Texte Nietzsches beseitigt sind. Gesichert hingegen ist erstens, daß Nietzsche spätestens ab 1859 über seinen „Lieblingsdichter" (HKGW II 1 bzw. KGW I 2, 337f.) Friedrich Hölderlin vielfach mit der Dionysos-Thematik konfrontiert wurde: und daß der für den späteren Hölderlin typische „systematische Synkretismus", die Mischung von Griechischem und Biblischem, von Nietzsche schon damals gerade nicht akzeptiert wurde; zweitens, daß Nietzsche schon als Kind Beethoven (HKGW I 12 und 18 bzw. KGW I 1, 292 und 298) entdeckt hatte, liebte, spielte und vermutlich durch des Freundes Gustav Krugs Vater sowie Ernst Ortlepp, den Beethovenliebhaber und -biographen in seiner Beethovenverehrung bestärkt wurde; drittens, daß Nietzsche bereits 1861 Wagners Tristan und Isolde, in der Geburt der Tragödie aufs engste mit dem Dionysischen verwoben, über seinen Freund Gustav Krug kennenlernte In Nietzsches vier Primasemestern ist von Bedeutung, daß er durch den jungen Adjunkten Otto Benndorf den später berühmten Wiener Archäologen jenseits der in
Bacchus-Darstellung47,
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Brief an Wilhelm Pinder vom 6. 2. 1859 (KGB I 1, 47). Vgl. Renate G. Müller, Antikes Denken und seine Verarbeitung in Texten des Schülers Nietzsche, 222 bzw. 116. Brief an Wilhelm Pinder vom 6. 2. 1859 (KGW I 1, 47). So enthält der Wilhelm Pinders Namen tragende Band Gedichte von Friedrich Hölderlin, Dritte
Auflage. Stuttgart und Tübingen 1847, 37, „An unsere grossen Dichter" und damit die Eröffnungsstrophe von „Dichterberuf'. Für die Auskunft danke ich Ulrich Bolz. Vgl. auch Friedrich Hölderlin Sämtliche Werke und Briefe. 3 Bände, hg. v. Jochen Schmidt, Band 1: Gedichte. Frankfurt/M. 1992, 206 und 305. Erklärungen der zahlreichen und z. T. kryptischen Anspielungen usw. auf antike Mythologie, Literatur usw. sowie eine Rekonstruktion der jeweils spezifischen Sichtweise Hölderlins bilden Schwerpunkte des differenzierten Kommentars (483-1095). Vgl. z. B. Ernst Ortlepp, Beethoven. Eine phantastische Charakteristik, Leipzig 1836.
Außerdem weist Nietzsches auf den 30. Januar 1862 datiertes Gedicht „Rein Höh" (HKGW II 30f. bzw. KGW I 2, 368f.) „Tristan"-Spuren auf.
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Thal, Rein
zur
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Pforte auf hohem Niveau gepflegten Sprach- und Literaturperspektive einen weiteren Zugang zur zumal griechischen Antike erhielt. Benndorf baute nämlich nicht nur das wohlbestückte Pförtner Antiken- bzw. Gipsmuseum auf, sondern hielt auch für „die begabtesten Schüler" erklärende Vorträge „über die dargestellten Objekte", die „wie die Dionysos- und Apollon-Statue" zu den bedeutendsten der in Pforte vorhandenen antiken Replikate gehörten. Noch 1900 erinnerte sich Benndorf an das geniale Wesen des jungen Nietzsche, der ihm bei „Discussionen ästhetischer und philosophischer Natur" sofort aufgefallen sei durch seine „schon damals [...] grosse Belesenheit, die er besaß, nicht minder aber das tiefe Verständniß, das er allen Dingen entgegenbrachte". (HKGB
1399)
Glücklicherweise ist der Bestand dieses Nietzsche
zugänglichen
Pförtner Museums
bekannt, da Otto Benndorf 1864 mit Das Museum der Gypsabgüsse nach Antiken
zu
eine 45seitige Schrift mit Beschreibungen veröffentlichte. So stellt Benndorf u. a. eine Dionysosstatue (Nr. 12), vier Dionysosköpfe (Nr. 27-30) und eine trauernde Ariadne (Nr. 15.) vor53; es fehlt jedoch das Eleusinische Weiherelief. Nietzsche kannte sich also spätestens als Primaner im Blick auf Dionysos ziemlich gut aus. Das zu betonen erscheint leider noch immer wichtig. Hinzu kommt, daß er im Mai-Juni 1863 ein Gedicht des Anakreon Auf Dionysos (HKGW II 208f.) übersetzte und während seiner letzten vier Pförtner Semester wohl primär in attischen Tragödien sowie archaischer Lyrik ,lebte', bereits als Schüler also über diejenigen Kenntnisse verfügte, die zuweilen noch beim Basler Gräzisten vermißt werden54. Daß Nietzsche Stücke von Euripides ebenso wie von Aischylos und Sophokles gelesen hatte, kann schon aus den Primanerarbeiten über ein Chorlied des sophokleisches Aias (HKGW II 155-64) und zumal des König Ödipus (HKGW II 364-99) sowie aus anderen Texten
Pforte
Otto Benndorf, Das Museum der Gypsabgüsse nach Antiken zu Pforte, Naumburg 1864. Dazu genauer: Die Statue „12. Dionysos aus Tegel [...] stellt den jungen Gott dar, wie er, müde von der anstrengenden Lust des Schwärmens, in völliger Lässigkeit der Glieder ausruht" (23). Die Köpfe: „27. Dionysos. Sanfte weiche Bildung der vollen Formen von wohlwollendem, aber nichts weniger als geistigem Ausdruck" (34). „28. Dionysosherme. Archaistische Bildung des greisenhaften Gottes" (34). „29. Dionysos Taurikeros." Das Gesicht „ist unsäglich zart, aber nicht männlich bestimmt und nicht eigentlich ideal" (34f). „30. Epheubekränzter Dionysos. Um das wollüstig träumerische Angesicht, welchem man eine zarte, weiche Haut anzufühlen meint, schlingen sich weibliche lange und starke Haare [...] In einer an Schlaffheit gränzenden Gelassenheit, wie sie der Leidenschaft im Stande der Ruhe eignet, gefällt sich hier der glühende Gott, der im Genuss raset." (35f.) Ralf Eichberg danke ich für die Vermittlung dieser Schrift. Übrigens verfugte das Pförtner Gipsmuseum auch über ein Replikat des betenden Knaben (als Statue Nr. 4; vgl. Benndorf, 10-12), deren Kenntnis ich aus Nietzsches eigentümlichem Gedicht „Noch einmal eh ich weiterziehe" (II 428, als Faksimile zwischen den Seiten 320 und 321 eingefügt) erschlossen hatte (Nietzsche absconditus, Jugend II, 1994, 619^14). Christophile Interpretationen dieses bis in Gebetbücher gewanderten Textes müßten damit wohl endgültig kippen. Ob das irgendwann einmal auch beachtet wird? Vgl. hingegen Joachim Latacz, „Furchtbares Ärgernis: Nietzsches ,Geburt der Tragödie' und die gräzistische Tragödienforschung", in: Marc David Hoffmann (Hg.), Nietzsche und die Schweiz, Zürich 1994,30^15. -
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der Pfortajahre erschlossen werden Einen vielleicht Persönlicheres andeutenden Hinweis auf Dionysos finden wir in der großen Jahresarbeit zu König Ödipus, wenn Nietzsche erwähnt, daß Dionysos „mit eigentümlicher Liebe" („proprio amore") von den Choreuten angefleht werde (HKGW II 383) Offen bleibt noch, wann er erstmals Die Bakchen des Euripides sowie Die Frösche des Aristophanes studierte. Derlei Fragen sind auch deshalb von Bedeutung, weil vor diesem Hintergrund die Reduktion primär auf polare ästhetische Grundprinzipen, welche Nietzsche in der Phase der Geburt der Tragödie ,Dionysos' und ,Apollon' zu verordnen scheint, schon deshalb als allzu Wagner- und Schopenhauerorientiertes Programm verstanden werden muß, weil er seine Apollon-Dionysos- bzw. Traum-und-Rausch-Antipodik noch im nämlichen Text unterläuft sowie dementiert Ab wann nun also Dionysos? Paradoxerweise vielleicht bereits als Nietzsches tanzender, musizierender, später ihn schlagender, noch später leidender, klagender, sterbender, als Hallluzination und in Träumen wiederkehrender Vater. In den Pförtner Jahren bis zur Konfirmation dürfte ,Dionysos' als ausgeschwiegene vermutlich über Hölderlin und Ernst Ortlepp vermittelte Privatgott-Alternative des Vierzehn- bis Sechzehnjährigen Tiefendimension gewonnen haben, denn sonst sind Texte wie „Mich trieb ein Geist in des Waldes Nacht" oder Verse des Neunzehnjährigen wie „Ein Gott riß mich heraus, mit wilder Schwermuth .
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Den Sinn umnachtend."
(HKGW II 329) -
dem Januar 1864 kaum denkbar. Sie entstammen einem Gedicht, das eine Abweisung Nietzsches wohl durch Anna Redtel während einer Pförtner Tanzveranstaltung zu verarbeiten sucht. Spätestens seit Mai 1861 jedenfalls ist Dionysos von Nietzsche identifiziert: nun ist Dionysos wohl noch vor Zeus und Apollon derjenige, zu dem Nietzsche verschwiegen seine Hände hebt; wenn er sie noch hebt Während der Studentenjahre scheint Dionysos kaum eine Rolle zu spielen; aber noch längst sind nicht alle Texte veröffentlicht oder gar ausgewertet. So erscheint Nietzsches frühe Basler Dionysosbetonung irrtümlicherweise als Novum; de facto dürfte sie eher ein eigentümliches Amalgam darstellen: in Wiederaufnahme von Auffassungen zumal der späten Schülerzeit insbes. zur Tragödie sowie in Verdrängung seiner Schopenhauerkritik der späten Studentenzeit (HKGW III 352-61) in der Sache als ein Versuch, philosophisch ,Grund' im Sinne einer Antwort auf zentrale existentielle Fragen zu finden, in der Form hingegen in Anlehnung an und als enthusiastisches Plädoyer für Richard Wagners kulturschöpferische Intentionen nicht ohne wohl
aus
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Es gehörte zum Elementarprogramm graecophiler Portenser Abiturienten der Zeit Nietzsches offenbar aber nicht mehr der Zeit des Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, denn mittlerweile war die Re-Christianisierung der alten Pforte durchgesetzt -, mehrere Stücke von Euripides gelesen zu haben. Außerdem: man sehe sich die Themen der Valediktionsarbeiten der Zeit Nietzsches an. (Vgl. zu alledem Nietzsche absconditus, JugendII, 1994, 443ff.) Vgl. Renate G. Müller, Antikes Denken und seine Verarbeitung in Texten des Schülers Nietzsche, 304 bzw. (in der optisch komprimierten Fassung) 167. -
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Widerhaken, denn zum Symbol pessimistischer Weltsicht à la Schopenhauer denaturiert
,Dionysos' selbst 1871 ja gerade nicht: dionysische Kunst erhält vielmehr ausdrücklich Aufgabe, „uns von der ewigen Lust des Daseins" zu „überzeugen". (KGW III 1, 105) Diesem weit- und lebensbejahenden Programm bleibt Nietzsche trotz aller Gegenstimmenexpositionen treu: ihm dient die Philosophie der „nächsten Dinge" (WS 5) ebenso wie Die fröhliche Wissenschaft und auf seine Weise Zarathustra; zuletzt präsentiert Nietzsche Dionysos als „Philosophen Dionysos" und sich selbst als dessen „Jünger", bevor er als „Lehrer der ewigen Wiederkunft" und am Ende als Bakche mit Dionysos zu verschmelzen scheint.57 Zeuge ist kein Geringerer als Franz Overbeck gerade dann, wenn er über „skurriles Tanzen und Springen" Nietzsches berichtet haben sollte. Schließt sich so zwischen Turin und Röcken ein Lebensbogen? Wamm also Dionysos? Meine Hypothese: Nietzsche suchte während der letzten Monate seiner Naumburger Kindheit und in der ersten Hälfte seiner Pförtner Schülerzeit nach einem auch emotional ansprechenden, seine Erfahrungen in ihrer Polydimensionalität repräsentierenden neuen bereits antichristlichen religiösen Symbol. Dieses Symbol hatte nach seinem Empfinden authentischer und leistungsfähiger' zu sein als die ZeusPrivatgottaltemative des sich vermutlich mit Apollon als Musagetes identifizierenden etwa Elfjährigen (mit dem Schwerpunkt um 1856), welche ihrerseits die christlichen Gottesvorstellungen der Röckener Kindheit abgelöst hatte; und es hatte sich für diesen intuitiven Genealogen auch in historischer Perspektive in dem Sinne auszuzeichnen, als es sich in der von ihm meistgeschätzten Kultur in besonderer Weise bewährt hat. Für einen Nietzsche, der von seiner ihm aufgenötigten und früh unglaubwürdig gewordenen Christlichkeit um nahezu jeden Preis maximalen Abstand zu gewinnen suchte, blieb in den frühen 1850er Jahren als ranghöchste Alternative nur der ihm sowohl die
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Dichtem wie insbesondere Schiller, Goethe, Hölderlin und Heine als auch von seiner ,Homer'- und Ovid-Lektüre gewiesene Weg zu ,den Griechen' und hierbei ein Sich-Orientieren an derjenigen Phase, in der von Christlichkeit deutlich abweichende, ,tiefere' heroische Religiosität von Künstlern und zumal Dichtem gestaltet sowie von Philosophen noch nicht destruiert worden war. Das verwies auf den griechischen Mythos in dessen niveauhöchster Gestaltung, also auf dessen Entwicklung von ,Homer' über die Lyrik zur attischen Tragödie und hier auf diejenigen Dichter, die eine Form von Weltsicht bieten konnten, die einerseits ,tief und andererseits weltimmanent lebenssinnstiftend war. Damit gewann Nietzsche zwar Anschluß an ranghohe Dichtung, doch der ihm selbst in vielem ähnliche Aufklärer und Psychologe Euripides und der allzu nüchterne Sokrates à la Xenophon blieben ebenso problematisch wie mangels Trennschärfe zu christlichen Adaptionen der platonische Sokrates und Piaton; was freilich einschloß, daß Nietzsche sich vor allem mit den Letztgenannten lebenslang auseinandersetzte. So blieben für den Schüler scheinbar nur Sophokles und vor allem Aischylos ,positiv besetzt'; und für den jungen Gräzisten einige frühgriechische Denker von
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Es ist zwar davon auszugehen, daß die intendierte erste wissenschaftlichen Ansprüchen entsprechende Edition des späten Nachlasses Nietzsches noch Überraschungen zeitigt, doch kompetentere und subtilere Lektüre des längst Vorliegenden führt nach meinem Eindruck längst weiter. Hubert Cancik, Nietzsches Antike. Eine Vorlesung, 162.
Hermann JosefSchmidt
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und später zeitweise Epikur. Und wenn überhaupt ein Gott, dann der rätselhafte griechische Theater-, Tanz-, Musik- usw. Gott Dionysos, weil auf ihn sowie die mit „Dionysos" verbundenen Charakteristika mehr Erfahrungen und Hoffnungen Nietzsches projizierbar waren als auf jeden anderen Gott. Dabei spielt nicht zuletzt eine Rolle, daß in religionsgeschichtlicher Perspektive Dionysos nicht nur auch ein Gekreuzigter ist, sondern daß er in dem für Nietzsche maßgeblichen Kulturraum schon viele Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung auch ein Gekreuzigter war, gekreuzigt aber am Kreuz des Weinstocks, als Spender rauschhafter Intensivierung so problematischen Lebens ...; nicht hingegen am römischen Schandpfahl. Jesus Christas ich erinnere an Weinwunder oder an zumindest in Nonnenklöstern übliche Jesusbilder à la Dionysos ist in vielfacher Hinsicht Epigone, ja „reine ; freilich nicht nur des Für einen über griechische Religionsaltertümer Vorlesungen Abhaltenden und jahrelang mit dem Historiker des frühen Christentums Franz Overbeck in Hausgemeinschaft Lebenden gehörte derlei zum Elementarwissen. Eine der Folgen: „Der Gekreuzigte" spätester Unterschriften Nietzsches mußte für Nietzsche selbst also keineswegs in jedem Falle oder exklusiv „Jesus Christus" bedeuten. Er könnte also außer auf ( 1 ) „Jesus Christus" auch auf (2) „Dionysos" anspielen, könnte (3) ein Hinweis auf religionshistorische Zusammenhänge oder (4) Beleg weiterer regressiver Verschmelzung nun auch der Aufhebung der Differenz von Dionysos und Christas sein, könnte (5) auf eine frühe Identifikation bspw. mit dem Jesuskind, (6) auf einen schmerzgekreuzigten Röckener Pastor der Jahre 1848/49 oder (7) selbst auf Ernst Ortlepp verweisen, welcher 1863/64 in Anwesenheit Nietzsches, Heinrich Wendts und anderer Pforteschüler sang: „Mein Herr Jesus hat viel gelitten, aber ich leide mehr"61, dessen Wiedergänger Nietzsche in so manchem war usw. Dennoch: nicht alles erscheint gegenwärtig als auflösbar. Mit dem von mir heute Exponierten berühren wir nur einige Aspekte der Probleme und Mystifikationen Nietzsches. Bei Nietzsche ist jedenfalls vieles weit differenzierter, vertrackter und verrätselter als es der communis opinio entspricht. Anderes hingegen ist wohl eindeutig genug.
Kopie"5
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Dionysos60.
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„Kopie", weil „diese .Religion' sich voll an Vorstellungen der Antike anlehnt." Elementar einführend Rudolf Reiser in seiner mit Bildmaterial belegten Skizze Götter und Kaiser. Antike Vorbilder Jesu, München 1995, 12. Oder 8: „Der Stifter des Christentums hat nämlich als Gott, Heiland und Weltenretter signifikante Vorbilder." „Dionysos/Bacchus als prototypische Vorgabe für Christus", ebd., 10. Ein Beispiel aus der Glyptothek München bietet 11; weitere Belege 20Iff. Und: „Wesentliche Erkenntnisse über die heidnischen Wurzeln des Christentums gewann der Verfasser auf Reisen. Viele für dieses Buch wichtige Denkmäler, Kunstwerke und Codices in Museen und Bibliotheken sind noch nicht oder nur mangelhaft in der Sekundärliteratur beschrieben." (230) Ein Urteil? HKGB I 403; vgl. Verf. Der alte Ortlepp war's wohl doch, 303ff. Eine derartige Perspektive eröffnet freilich eine neue Dimension. Mazzino Montinaris Entscheidung jedenfalls, eine auf Ernst Ortlepp verweisende Passage in seine Edition von Ecce homo nicht aufzunehmen (KSA 14, 483f), erscheint nicht nur mir kaum überzeugend begründet. Erfreulicherweise erhob nun auch Johann Figl in „,Dionysos und der Gekreuzigte'. Nietzsches Identifikation und Konfrontation mit zentralen religiösen .Figuren'", Vortrag während des VII. DNK, 26. 7. 2001 (in diesem Band, S. 147-161), Einwände gegen die Ausklammerung der entsprechenden Passage.
Volker Ebersbach
Ein versprengter Satyr Nietzsche und das
„Elitäre"
Wer das Tiefste
gedacht, liebt das Lebendigste.
Hölderlin, Sokrates und Alkibiades Zur Bildung der Erde sind wir berufen. Novalis
Vorbetrachtung:
„Aristokratischer Radikalismus" oder Umrisse einer
Gedanken-Philologie Als der Philosophieprofessor Gustav Teichmüller Basel verließ, machte sich Friedrich Nietzsche in einem Bewerbungsschreiben an seinen Vorgesetzten, den Baseler Ratsherrn Wilhelm Vischer-Bilfinger, im Januar 1871 Hoffnung, die „erledigte philosophische Professur"1 zu erhalten und die eigene Professur für klassische Philologie seinem Freund Erwin Rohde geben zu können. Seine Eignung für die ersehnte Stelle glaubte er damit zu beweisen, daß er als Philologe mit besonderem Vorzug philosophische Schriften der Antike behandelt habe, Aristoteles und Plato, Diogenes Laertios. Auch in den Schriften Kants und Schopenhauers hielt er sich für hinreichend bewandert. Naiv war an dieser Hoffnung eigentlich nur, daß er meinte, „bei der augenblicklich etwas schwierigen Lage der Universitätsphilosophie" erlaubten es die „philosophischen Zustände an Universitäten" ihren Verwaltern, Nietzsches Gedanken über eine tiefe Verwandtschaft zwischen Philosophie und Philologie zu folgen. Die Philologie, Nietzsches akademisches Fach, befaßt sich in der Tat nicht nur mit der Sprache. Insoweit das Denken allein mittels der Sprache von Kopf zu Kopf finden kann, erfordert auch jede Beschäftigung mit dem Philosophen Nietzsche, mit seinem Denken, wenn sie zu einem Denken mit Nietzsche und einem Weiterdenken führen soll, eine Gedanken-Philologie. Besonders wenn es um das „Elitäre" geht, ist es erforderlich, KSB 3, 174ÍT. (118).
Volker Ebersbach
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alles, was Nietzsche geschrieben hat, als ein Sprachlabor und als ein Gedanken-Labor anzusehen, in dem es explosiv zugehen kann. In seinem berühmten Brief an Georg Brandes vom 2. Dezember 18872 bezeichnet er seine „Philosophie" als seine „Hölle".
Der dänisch-jüdische Germanist bleibt der einzige Zeitgenosse, von dem sich Nietzsche gründlich verstanden fühlt, dem er die zutreffende Gedanken-Philologie bescheinigt: „Der Ausdruck aristokratischer Radikalismus', dessen Sie sich bedienen, ist sehr gut. Das ist, mit Verlaub gesagt, das gescheuteste Wort, das ich bisher über mich gelesen
habe. Wie weit mich diese Denkweise schon geführt hat, wie weit sie mich noch führen wird ich fürchte mich beinahe mir dies vorzustellen. Aber es giebt Wege, die es nicht erlauben, daß man sie rückwärts geht; und so gehe ich vorwärts, weil ich vorwärts muß." Nietzsches Bemerkung, er sei kein Mensch, er sei Dynamit3, meint eben die höllische Atmosphäre seiner Gedanken. Aber das Radikale an Nietzsche hat auch, ganz und gar philologisch, mit dem Gewicht der Worte und der Wörter zu tan, sowohl mit dem in seiner Zeit allgemeinen als auch mit dem seinem Denken immanenten Wort-Gewicht. Denn er legt, wenn auch nicht alle Worte, so doch alle „goldenen Worte" auf die Goldwaage, als betriebe er wie Hölderlin eine „Theologie des Wortes", als kennte er jenen Weisen in China, der, gefragt, womit man anfangen müsse, wenn man das Reich der Mitte wiederherstellen wolle, zur Antwort gab: Man müsse die Wörter wieder in ihre ursprüngliche Bedeutung einsetzen.4 Ohne eine Wiedereinsetzung der Wörter und Worte in ihre ursprüngliche Bedeutung ist auch Nietzsches vielbehandeltes Vorhaben einer „Umwerthung aller Werthe" nicht zu begreifen. Sowohl die Inflation der „Sekundärliteratur" über Nietzsche als auch die allgemeine Feigheit des Denkens, für die Hermann Josef Schmidt harte, aber gerechte Worte findet5, bringt das leicht in Vergessenheit diese ängstliche Scheu, sich einem der Hauptprobleme in Nietzsches Denken zu stellen, geschweige denn, es auch weiterzudenken: Demokratie und Aristokratie. Zum einen haben die grausamen Tatsachen des 20. Jahrhunderts, so sehr Nietzsche vor ihnen warnte, einen Teil seines Vokabulars aufs schwerste belastet. Sie erklären insbesondere eine Berührungsangst der Deutschen mit Nietzsche. Zum anderen ziert man sich, „Elitäres" auszusprechen oder auch nur zu denken. Aber der Dichter Heinrich Heine, ein kluger Demokrat, der manchem linken deutschen Emigranten in seinem Pariser Exil die Tür wies, wußte, was er meinte, wenn er in seinen „Memoiren" schrieb: „Die Scharlatane der Bescheidenheit sind die schlimmsten mit ihrem demütig tuenden Dünkel"6. Radikales Denken ist für Nietzsche ein Schutz gegen die der Heuchelei, gegen die Vergewaltigungsversuche, denen ein Denkender, vor allem ein sich entwickelnder Denkender, vor einer Übermacht von Heuchlern ausgesetzt ist. Nietzsche und das „Elitäre" er selbst verwendet dieses Wort nicht. Aber auf sein Denken wird es aus den verschiedensten Richtungen mit den unterschiedlichsten Ab-
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Überrumpelungskraft
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6
KSB 8, 205ff. (960). „Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit." EH, KSA 6, 365. Pierre Bertaux, Friedrich Hölderlin, Frankfurt/Main 1978, 348. Vgl. Hermann Josef Schmidt, Wider weitere Entnietzschung Nietzsches, Ein fenburg 2000, insbesondere den „interpretativen Lasterkatalog", 105ff. Heinrich Heine, Werke und Briefe, 8, Berlin 1962, 202.
Streitschrift, Aschaf-
Ein versprengter Satyr sichten
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Wenn wir heute von etwas Elitärem sprechen, kann sehr vieles sein: Man kennt die Scheineliten, die sich in Despotien, Tyranneien, Diktaturen gemeint um ein Zentrum scharen, den Parasitismus der Schein-Elite aus Speichelleckem und Durchschnittskarrieristen, die im Gmnde alles das vereiteln, was man von einer Elite erwarten dürfte: die Erhaltung und die Förderung der menschlichen Gesellschaft. Die Käuflichkeit des Adels, die monetäre des „Geld-Adels" wie die weit schwieriger zu enttarnende Käuflichkeit eines „Verdienstadels", der sich nicht gem fragen ließe, wem er „dient" und worum er sich „verdient" macht, hat eine lange Tradition. Es scheint, als hätten Aufklärung und Demokratie jede Adelskaste als sublime Form des Banditentums und der Schutzgelderpressung entlarvt, und dies für alle Zeiten. Aber man hört nicht auf, von Eliten zu sprechen, ob man nun Politbüros meint oder Aufsichtsräte, die „politische Klasse", „Führungskräfte" oder Forschungsgmppen. Ob solche Eliten sich kaufen lassen oder schon gekauft sind, wer sie kauft, oder ob sie selbst als Käufer auftreten, das weiß allein der Heilige Geist des totalen Marktes mit seinen „gesunden Marktmechanismen". Einer der wenigen Fortsetzer Nietzsches und seines Denkens, der nicht mehr recht „moderne", so gut wie vergessene spanische Philosoph José Ortega y Gasset, klagt 1930 über die „Fahnenflucht der Eliten"7 und bekennt: „Für mich ist Adel gleichbedeutend mit gespanntem Leben, Leben, das immer in Bereitschaft ist, sich selbst zu übertreffen, von dem, was es erreicht hat, fortzuschreiten zu dem, was es sich als Pflicht und Forderung vorsetzt"8. Was hatten „Eliten", die nicht gekauft waren, auf ihre Fahnen geschrieben? Wissen wir es überhaupt noch? Daß es Nietzsche noch wußte, damit ist zu rechnen. Was meint Nietzsche, wenn er Worte wie „Adel", „Aristokratie", „vornehm", „nobel", „Rang" oder „Rangordnung" verwendet? Zum großen Teil analysiert er den Adel als historisches Phänomen. Wo er das nicht tut, sieht er ihn als psychologisches Problem. Nur in der relativ kurzen Zeit nach dem Zarathustra, vor allem in Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral und in den dazugehörigen nachgelassenen Fragmenten stellt er Erwägungen über eine reale Adelsgesellschaft an. Es wird sich zeigen, daß wir unterscheiden müssen, ob er vom alten Adel spricht, vom christlichen Adel Europas, oder vom antiken Adel oder, abweichend von beiden, von einem künftigen Adel. „Viele Worte", schreibt er an Brandes, „haben sich bei mir mit anderen Salzen inkrustirt und schmecken mir anders auf der Zunge als meinen Lesern"9. Dem nachzugehen, scheint mir einige Antworten auf die Frage nach Nietzsches Denkmotiven zu bringen. Beachten wir dabei, daß Nietzsche vor allem selbst das war, was er von Napoleon sagte: „[...] ein Stück der antiken Menschheit"10. Nietzsches Denken war, mehr als jedes andere Denken, eine Risikoschwangerschaft. Als Gedanken-Philologe wußte er: „Erst das Übermorgen gehört mir"". Sind wir dieses „Übermorgen"?
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9 10 11
angewendet.
Ortega y Gasset, Gesammelte Werke, III, Augsburg 1996, 36. Ebd., 51. KSB 8, 206 (960). M 4, KSA 3, 203 (245). AC Vorwort, KSA 6, 167. José
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1. Ein
Satyr im Rosengehege
Silenos, einer der ältesten Satyrn im Gefolge des Gottes Dionysos und dessen Lehrer, ließ sich, wie Herodot anmerkt12, von seinen Düften angelockt, ins Rosengehege des Königs Midas locken. Die Satyrn, die, gehörnt, bocksfüßig oder pferdefüßig, geschwänzt, halb Tier, halb Gott und keine Menschen, in Wäldern, Auen und Gewässern lebensfroh und geil pflanzenhaften Nymphen nachstellen, gelten auch als Urheber der griechischen Tragödie. Nach dem Zeugnis des Pausanias13 sterblich, scheinen sie wie eine Allegorie unerschöpflicher Fruchtbarkeit und unentwegter Fortpflanzung die einzig wirksame Waffe des Lebens gegen den Tod immer neu zu schleifen, als wäre die Arterhaltung der einzige Ausweg aus der unentrinnbaren Tragik der Selbsterhaltung, als könnte der Mensch, der Gott werden möchte, von Tieren, die nur Tier sein wollen, lernen, Mensch zu sein. Das christliche Mittelalter weist ihre Erscheinung dem Teufel zu, dem Antichrist, der Verkörperung des Bösen, Menschenfeindlichen. Die frühesten Lebensjahre des Kindes haben eine ländliche Umgebung. Das Dorf Röcken, seine Bauernhöfe, die Auen und Felder, die es umgeben, werden ihm von der ersten Naumburger Zeit an immer wie ein verlorenes Arkadien erscheinen. Aber den Teufel zu fürchten wird ihm ebenso früh beigebracht wie Jesus zu lieben und den Herrgott zu fürchten und zu lieben. Das Pfarrhaus bildet um die grüne Idylle gleichsam einen schwarzen Rahmen, und es ist der lange unverstandene, nie ganz angenommene frühe Tod des pastoralen Vaters nach einer rätselhaften Krankheit, der die Schwärze bestätigt, eine Schwärze, gegen die sich die vitale Kinderseele aufbäumt. Nietzsche wird als reifer Mann begriffen haben: „Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in den letzten Gipfel seines Geistes hinauf'14. Nietzsches Vitalität war das Oehlersche Erbe. Die Mutter Franziska Nietzsche rechnet ihren Sohn unter „das Oehlersche Blut" und nennt ihn eine „vollblutige Natur"15. Gerade in Gestalt dieser ursprünglich lebenslustigen mütterlichen Witwe aber wird das „Oehlersche Blut" die dornige Seite des Rosen-Geheges. Jede Rose der mütterlichen Liebe ist auch besetzt mit den Dornen des altruistischen Moralisierens16. Zu den sittlichen Forderungen des kollektiv „alleinerziehenden" Klüngels aus Großmutter, Mutter und Tanten gehört auch die, durch hervorragende Leistungen und den angesehenen Beruf des Theologen dem toten Vater Ehre und der leidtragenden Mutter Freude zu machen. Das ist nur zu leisten, wenn der vitale Junge sich so früh und so perfekt wie möglich die „asketischen Ideale"17 der christlich-abendländischen Gesellschaft zu eigen macht. Anfang 1880 erinnert sich Nietzsche in einem nachgelassenden Fragment: „Die 12
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16
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Herodot VIII, 138, 3. Vgl. Ovid, met. XI, 85ff. Pausanias VI, 24, 8: „Besonders aus ihren Gräbern darf man schließen, daß das Geschlecht der Silène sterblich ist. So liegt das Grab eines Silenos im Land der Hebräer und das eines anderen in
Pergamon."
JGB IV, KSA 5, 87 (75). Zit. nach: Klaus Goch, Franziska Nietzsche. Ein biographisches Porträt, Frankfurt/Main 1994, 258. Vgl. hierzu auch: Jörgen Kjaer, Friedrich Nietzsche. Die Zerstörung der Humanität durch Mutterliebe, Opladen 1990. GM III, KSA 5, 339ff.
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schädlichste Tendenz ist die, immer an Andere zu denken für sie thätig sein ist fast ebenso schlimm als gegen sie, es ist eine Vergewaltigung ihrer Sphäre. Welche Brutalität ist die gewöhnliche Erziehung, der Eingriff der Eltern in die Sphäre der Kinder!"18 In solch ein Rosengehege versprengt, bleibt der junge Nietzsche, sich seiner Besonderheit, aber noch nicht seiner satyrhaften Natur bewußt, lange im Zweifel, ob er nicht zum Künstler bemfen sei: Das Künstlerische ist in seinem Wesen der einzige, mit Lyra und Pansflöte zur eigenen Natur hinführende Kontrapunkt zum Gelehrten, bevor er zu philosophieren anfängt. Er ist zugleich der erste Impuls, die eigene Andersartigkeit als Ausnahme zu fühlen und zu respektieren. Der Schüler Nietzsche erlebt dies als kindlicher Lehrer seiner jüngeren Schwester Elisabeth, die er sinnreich das „Lama" nennt, und in dem gebildeten Wettstreit, den er mit seinen Freunden Gustav Krug und Wilhelm Pinder austrägt. Der Geforderte wird unvermerkt selbst Fordernder. Die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel muß ihm irgendwie bekannt vorgekommen sein. Die ahnungslose, einsam machende Überforderung Gleichaltriger durch einen Begabten artikuliert Hölderlins Hyperion mit Wehmut: „Wie oft glaubt ich den heiligen Tausch getroffen zu haben, und forderte nun, forderte, und da stand das arme Wesen, verlegen und betroffen, oft auch hämisch es wollte ja nur Kurzweil, nichts so Ernstes!"19 Nietzsche tut seinen Mitmenschen früh schon die zweifelhafte Ehre an, zuviel von ihnen zu erwarten. In einem „Memorabilia" betitelten nachgelassenen Text von 1878 bekennt er: „Ich irre mich instinctiv über die Intellectualiät der Menschen, über ihr objectives Interesse, das ich immer dem meinen gleich setze. Ich behandle sie darin sehr vornehm."20 In Nietzsches Persönlichkeit wird „Das Drama des begabten Kindes" (Alice Miller) zur Tragödie des überbegabten Mannes. Der Überbegabte überfordert seine Mitmenschen, zunächst ohne es zu bemerken. Er lernt nur schwer, mit seiner Überlegenheit umzugehen. Entweder andere oder sich selbst verletzt er damit in einem fort. Die Gleichheit empfindet er zwangsläufig als eine Unterdrückung, die sich gegen ihn richtet, als eine Vergeudung, einen Mißbrauch von Begabungen. Aus der Entdeckung, von den Menschen zu viel zu erwarten, erwächst der Wunsch, sie zu belehren und zu erziehen. Im Grunde ist es der Wunsch, es besser mit ihnen auszuhalten. Aus der Enttäuschung darüber, daß Belehrung die Menschen nicht bessert, erwächst der Trieb, sich von ihnen abzusondern. Daraus wird, soweit sei in diesem kurzen Psychogramm schon vorgegriffen, unter bestimmten pathologischen Voraussetzungen eine wahnhafte Selbstvergottung. Ein pubertärer Reflex auf die Domestikation, die verhaltene Sehnsucht nach der Anarchie der Satyrn und Nymphen, die ihre Bilder aus den Lehrgegenständen des alt-
NF, KSA 9, 10. Zur Benutzung der nachgelassenen Fragmente sei hier angemerkt, daß sie nicht in
Fall gleichrangig mit Stellen aus Nietzsches veröffentlichten Werken als Belege für Nietzsches Denken verwendet werden sollten. Es sind oft Vorfabrikate, Halbfabrikate, Provisorien. Sie veranschaulichen den Labor-Charakter in Nietzsches Philosophieren. Man sollte sich vor einer Neuauflage der bis zur Fälschung gehenden Kompilation hüten, die Elisabeth Förster-Nietzsche und Peter Gast mit dem Buch Der Wille zur Macht veranstaltet haben. Vgl. Karl Schlechta, Der Fall Nietzsche, München 1959. Friedrich Hölderlin, „Fragment von Hyperion", Sämtliche Werke und Briefe, II, Berlin 1995, 8. NF, KSA 8, 505.
jedem
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sprachlichen Unterrichts bezieht, verfallt prüdem Schweigen und der Verdrängung. Der künstlerisch begabte Pfortenser Mitschüler Guido Meyer wird, weil er sich der beinahe klösterlichen Zucht nur ungenügend anpaßt, relegiert21, und dieses Ereignis wird zum Anlaß, daß auch der Musterknabe Nietzsche aus der Rolle fällt, indem er sich mit einem anderen Mitschüler im Bahnhof Kosen an vier Seideln Bier betrinkt.22 Der geringe Anlaß und das Ausmaß der disziplinarischen Katastrophe lassen ahnen, wie tief solche Restriktionen wirken. Weitgehend geheim bleiben Beziehungen Nietzsches und einiger Mitschüler zu dem vagabundierenden Dichter Ernst Ortlepp, der, eine Generation früher selbst „Pförtner", durch die graecophile Freigeisterei und die politische Brisanz seiner Gedichte von sich reden machte und dafür zeitweilig in Haft genommen wurde. Die tiefen Sympathien brechen in einem Brief Nietzsches an Freund Pinder vom 4. Juli 1864 durch, der das Begräbnis des nächtens Verunglückten unverkennbar in ein Werther-Pathos hüllt.23 Solche Affären üben den Blick auf Normen der Domestikation selbst, lehren den Betroffenen, sie als die lügnerischen Verabredungen zu durchschauen, auf denen bürgerliche Moral unausgesprochen beruht, eine Art apokrypher Gesellschaftsvertrag, der so lauten könnte: Solange du so handelst, als würdest du meine Lügen glauben, handle ich so, als würde ich deine Lügen glauben. Diese Erfahrungen werden den Verfasser des Zarathustra das Zerbrechen der „alten Tafeln" lehren und ihn auf die Suche nach „neuen Tafeln" schicken.24 Dem Studenten Nietzsche ist es in seiner Militärzeit „ein schrecklicher Gedanke, eine Unzahl mittelmäßiger Köpfe mit wirklich einflußreichen Dingen beschäftigt zu wissen"25. Begonnen hat er diese Notizen mit der kategorischen Feststellung: „Den großen Gedanken produzirt nur der Einzelne"26. In dieser Vereinzelung, die Nietzsche sehr früh erfahrt, ist das Treiben der meisten Menschen nur noch zu ertragen, wenn man es als etwas Skurriles sieht. Die Qual, anders zu sein als die andern, weicht der Erkenntnis der eigenen Überlegenheit, die zunächst das Quälende der Lächerlichkeit preisgibt. Zu Nietzsches Lieblingslektüre dieser Zeit gehören Heinrich Heines Reisebilder. In einem Brief an Sophie Ritschi bekennt er am 2. Juli 1868 in Heines saloppem Ton, dessen provokante „Neigung zum Mißklang" übernehmend, daß die „Wahrheit" mitunter eine „Harlekinjacke" trage, und da er sich an die Ehefrau seines Lehrers wendet, ist der Hinweis auf einen Topos der Griechen nicht weit: „Und welcher Gott darf sich wundern, wenn wir uns gelegentlich wie Satyrn geberden und ein Leben parodiren, das immer so ernst und pathetisch blickt und den Kothurn am Fuße trägt?"27 Hinter dieser Skurrilität verbirgt sich ein verzweifelnder Ernst. Das Satyrspiel dient ja nur der Auflockerung nach dem eigentlichen Ereignis, der Tragödie: Der alte Silen, der ins duftende, aber auch dornige Rosengehege versprengte Satyr, sagt dem mit -
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21
KSB
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Ebd., 236 (349). Ebd., 288 (432). Vgl. Hermann Josef Schmidt, Der alte Ortlepp war's wohl doch, Aschaffenburg
3
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1,232(343).
2001. ZA III, KSA 4, 246ff. BAW 3, 320. Ebd., 319. KSB 2, 299 (578).
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geschmückten König Midas eine „schreckliche Weisheit", die in der ganzen griechischen Dichtung verbreitet ist, auf die Nietzsche in der Geburt der Tragödie immer wieder anspielt28: Niemals geboren zu sein sei das Beste.29 Es ist eine pessimistische, eine „apollinische", eine schopenhauerische, also noch keine dionysische Weisheit, dem vereinsamenden Prinzip der Individuation verpflichtet. Seinem Freund Paul Deussen setzt Nietzsche im Februar 1870, gefangen in seinen Pflichten als Universitätsprofessor und Lehrer am Pädagogium, auseinander, was es mit der schicksalhaften, nicht gewählten, sondern naturgegebenen Vereinsamung auf sich hat, die der versprengte Satyr im Rosengehege des Midas erfahrt, und da er Deussen als ein wenig schwerfällig im Aufnehmen kennt, drückt er sich einfach aus: „viele Nebel werden vor Deinen Augen sinken. Freilich wirst Du Dich dann einsamer fühlen als je: wie es mir geht. [...] Die geistige Einsiedelei und gelegentlich ein Gespräch mit Gleichgesinnten sind unser Loos: wir brauchen mehr als andere Wesen die Tröstungen der Kunst. Auch wollen wir niemanden bekehren, weil wir die Kluft empfinden als eine von der Natur gesetzte." Zur Orientierung erinnert er den Freund ans „Hellenenthum"30, und in einem weiteren Brief liefert er in diesem Zusammenhang ein so früh schon voll ausgeformtes philosophisches Selbstbekenntnis: ,,[M]an wird wahrscheinlich die Philosophie wählen und lieben, die uns unsere Natur am meisten erklärt."31 Nach dem Angriff des Philologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff auf die Geburt der Tragödie Eselsohren
verheißt er am 8. Juni 1872 dem Freund Erwin Rohde: „Siehst Du, mein lieber Freund, wie anstößig wir sind! Wir werden auch bald erfahren, wie einsam wir sind."32 Einsamkeits-Elogen an Freunde haben ihre Tücken: Es wird auch bald kein „Wir" mehr sein.
2. Das
„Titanisch strebende Individuum"
Erstausgabe der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik ziert „der von seiFesseln befreite Prometheus", eine Vignette von Leopold Rau33. Nietzsche allerdings bleibt noch lange an den Philologenfelsen geschmiedet. „Überanstrengung" und „eine für meine Natur ungeeignete Lebensweise"34 gehören im Bewerbungsbrief an Vischer-Bilfinger zu den Klagen über die Philologieprofessur. Dieses Geständnis physischen Leidens am Bemf heißt nichts anderes als: Der gefangene Satyr wird krank. Die berüchtigte dämonische Stimme hinter dem Stuhl könnte schon damit in einem ZusamDie
nen
GT, KSA 1,39(4), 151 (24). Theognis V, 425; Sophokles, Ödipus aufKolonos, 1226ff; Herodot I, 31. KSB 3, 98 (60). Schon am 17. 11. 1869 bekennt er dem Freund Gustav Krug: „ohne Vereinsamung
ist nun einmal nichts Edles und Hohes KSB 3, 75(41). KSB 3, 100(61). KSB 4, 7 (227). KSB 3,249 (171).
Ebd., 175(118).
zu
gewinnen; wo alle gehen, läuft eben die Gemeinheit mit."
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menhang gestanden haben.35 Seine „Natur" muß er, unausgesprochen, längst als dionysisch-orgiastisch empfinden. Im „Versuch einer Selbstkritik", den er einer Neuauflage der Geburt der Tragödie 1886 voranstellt, gesteht er: ,,[H]ier sprach [...] etwas wie eine mystische und beinahe mänadische Seele [...]"36. Liest man dieses Geständnis genau, so
man ihm sogar entnehmen, daß Nietzsche die feminine Seite seines Naturells selbst bewußt gewesen ist, denn die Mänaden waren im Gefolge des Dionysos der weibliche Teil37. In seiner genialen und doch allzu schematischen Gegenüberstellung des „Dionysischen" und des „Apollinischen" muß er, selbst noch gewissermaßen im Lager des Apollo gefangen, ausrufen: „Apollo konnte nicht ohne Dionysos leben!" Zuvor hat er festgestellt: „,Titanenhaft' und ,barbarisch' dünkte dem apollinischen Griechen auch die Wirkung, die das Dionysische erregte [...]"38. Und so verwundert es nicht, daß in dieser ersten nicht mehr philologischen Schrift Nietzsches neben dem vielzitierten Götterpaar die Gestalt des Titanen Prometheus, die ihren Einband schmückt, eine so große Rolle spielt wie in keiner späteren Arbeit mehr. Der Vereinsamende, der allmählich seinen Aristokratismus entdeckt und erst in seinem letzten bewußten Lebensjahr weiß, wohin er wirklich gehört, ins Lager des Dionysos, versteht sich zunächst als „titanisch strebendes Individuum" 39. Prometheus, der menschenfreundliche Lehrer, die leidende tragische Göttergestalt, eine Allegorie des schöpferischen Menschen, des „Schaffenden", wie er im Zarathustra heißen wird, beschäftigt schon den Schüler Nietzsche, vor allem zusammen mit den Freunden. Der Vierzehneinhalbjährige widmet ihm einen Einakter; Liszts Tondichtung begeistert ihn.40 Der Student findet in der Lektüre Schopenhauers das Prometheische bestätigt, das ihn begeistert. Selbst Lehrender, fordert er in der Schrift Schopenhauer als Erzieher, der dritten der Unzeitgemäßen Betrachtungen, daß die „Erzieher" jene „Halbgötter", an die man sich „verpfänden und verlieren" könne zugleich „Befreier" werden.41 Aus eigener Erfahrung weiß er: „Es liegt eine gewisse Verdüsterung und
kann
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Zu einer Entmystifizierung der Notiz Nietzsches über eine Stimme hinter dem Stuhl aus dem Früh1869 („Was ich furchte, ist nicht die schreckliche Gestalt hinter meinem Stuhle sondern ihre Stimme: auch nicht die Worte, sondern der schauderhaft unartikulirte und unmenschliche Ton jener Gestalt. Ja wenn sie noch redete, wie Menschen reden!" BAW 5, 205) könnte der Hinweis beitragen, daß Nietzsche nur ein halbes Jahr später an Gustav Krug schreibt: „Der Dämon des Berufs steht hinter meinem Stuhle, und ehe den der Teufel holt, holt der Teufel mich." KSB 3, 74 (41).
jahr
GT,KSA 1, 15(13).
Joachim Köhler (Zarathustras Geheimnis, Reinbek bei Hamburg 1992, und Friedrich Nietzsche Cosima Wagner, Reinbek bei Hamburg 1996) muß freilich zahlreiche Belege und Zusammenhänge stark überinterpretieren und Indizien bemühen, um seinen Lesern weiszumachen, Nietzsche sei homosexuell gewesen und habe mit seinem Aristokratismus nur eine schwule Grille gepflegt. GT, KSA 1,40(4). Ebd., 70 (9). Vgl. KSB 4, 81 f. (270): „Im Grunde ist es ja eine Verwechslung; ich habe nicht für Philologen geschrieben, obwohl diese wenn sie nur könnten mancherlei selbst ReinPhilologisches aus meiner Schrift zu lernen vermöchten." Zu Nietzsches frühesten Beschäftigungen mit dem Titanen Prometheus vgl. Hermann Josef Schmidt, Nietzsche abscondituns oder Spurenlesen bei Nietzsche, II. Jugend 1, Berlin/Aschaffenburg 317-387. BAW l,62ff.,2, 136,216,252.
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SE, KSA l,340f.
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Dumpfheit auf den besten Persönlichkeiten unserer Zeit, ein ewiger Verdruss über den Kampf zwischen Verstellung und Ehrlichkeit."42 Allen, die einen eigenen Weg suchen, gibt er einen sezessionistischen Rat: „Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm zuruft: ,sei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt thust, meinst, begehrst!'"43 Das „titanisch strebende Individuum", eine Puppe des Schmetterlings, der einmal als „neuer Adel" durch Nietzsches Gedanken flattern wird, vereint die bis dahin höchsten Typen des schöpferischen Menschen: „Es ist dies der Grundgedanke der Kultur, insofern diese jedem Einzelnen von uns nur Eine Aufgabe zu stellen weiss: die Erzeugung des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen in uns und ausser uns zu fördern und dadurch an der Vollendung der Natur zu arbeiten."44 Prometheus, der „trotzige Titan"45 und „Dulder"46 zeigt „dem Griechenthum ein Beispiel [...], wie die übergroße Fördemng menschlicher Erkenntniß für den Förderer und den Geförderten gleich verderblich wirkt".47 Er ist als einer der Titanen aber auch der „Zerreißer des Dionysos und zugleich der Vater der prometheischen Menschen"48, der „Förderer der Kultur [...] von den Geiern zernagt"49. Daß der „menschenfeindliche Charakter des ursprünglichen Zeus noch im Prometheusmythos erkennbar"50 ist, artikuliert ein Aufbegehren gegen den Christengott. Prometheus ist eine frühe Maske Nietzsches für den Radikalismus des Antichrist. Prometheus ist in einer sehr offenen Selbstpreisgabe der Fröhlichen Wissenschaft aber auch der „Verkannte Leidende. Die grossartigen Naturen leiden anders, als ihre Verehrer sich einbilden: sie leiden am härtesten durch die unedlen, kleinlichen Wallungen mancher bösen Augenblicke, kurz, durch ihren Zweifel an der eigenen Grossartigkeit, nicht aber durch die Opfer und Martyrien, welche ihre Aufgabe von ihnen verlangt. Solange Prometheus Mitleid mit den Menschen hat und sich ihnen opfert, ist er glücklich und gross in sich; aber wenn er neidisch auf Zeus und die Huldigungen wird, welche Jenem die Sterblichen bringen, da leidet er!"51 In der Maske des Prometheus verrät sich ein religiöses Kontinuum in Nietzsches Denkmotiv: die Rivalität mit Gott. Es ist eine Rivalität mit jeglicher Autorität, die das autonome, „titanisch strebende Individuum" bevormundet, belästigt, behindert und verstümmelt. Aber diese Rivalität mit Gott ist auch nur Maske und Allegorie für das „Verlangen des Individuums nach Selbstgenuß", dem eine „Rangordnung der Güter" gemeint ist: der Werte entgegensteht, „wonach" das Individuum „seine Handlungen ,
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Ebd., 346. Ebd., 338. Ebd., 382. GT, KSA 1,73(10). NF, KSA 8, 74. DW, KSA 1, 565 (2) GG, KSA 1, 593. NF, KSA 7, 157. Ebd., 141. Ebd., 138. FWIII, KSA 3,515f. (251). =
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bestimmt und die der Anderen beurtheilt." „Die Ordnung der Güter und die Moral" hängen zusammen. Diese Rangordnung „ist aber keine zu allen Zeiten feste und gleiche"53. Diese Relativierung der Moral schon in Menschliches Allzumenschliches hat zum Motiv nichts anderes als den heimlichen „Immoralismus" des Satyrs. Aber der Satyr ist kein ordinärer Egozentriker, das Motiv „Selbstgenuß" kein ordinärer Egoismus, sondern eine Art des Umgangs mit sich selbst, die der leicht zu verletzende Schaffende54 zum Überleben braucht, dem sublimen „égotisme" und „beylisme"55 Stendhals, den Nietzsche sehr schätzte56, am ehesten verwandt. Die Vorrede von 1886 macht aus diesem „Problem der Rangordnung" unumwunden „unser Problem", das Problem der „freien Geister", für das alles andere nichts war als „Vorbereitungen, Umwege, Proben,
Versuchungen, Verkleidungen"57. Was wird da vorbereitet, erprobt, verkleidet, maskiert? Sooft Nietzsche später für die „Vornehmheit" seines „neuen Adels" das „Böse", „Harte", „Barbarische", „Verwerfliche" als das „Starke" und „Arterhaltende" in Anspruch nimmt, geschieht dies aus der tief in ihm verwurzelten Furcht, daß das „titanisch strebende Individuum", der „Schaffende", diese, wie er aus eigener Erfahrung am besten weiß, besonders zarte Pflanze, anders zugrundeginge: „Die stärksten und bösesten Geister haben bis jetzt die Menschheit am meisten vorwärts gebracht [...]"58. Das „Christenthum", das dem „höheren Typus Mensch", also den Edlen, „einen Todkrieg" ansagte, habe „aus diesen Instinkten das Böse, den Bösen herausdestillirt, der starke Mensch als der typisch Verwerfliche, der ,verworfene Mensch'."59 „Vornehmheit" wird unmittelbar an „Macht" gekoppelt: -
„Die Gebärden der vornehmen Welt drücken 52
53
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MAI, KSA 2, 104(107). Ebd., KSA 2, 65 (42). Die
vom Wechsel der Religionen abhängige Relativität der Moral stellt auch Heinrich Heine bei seiner Interpretation Goethes fest: (Die romantische Schule, a. a. 0., Band 5, 46f.). „[...] die Kunst müsse daher besonders unabhängig bleiben von der Moral, welche auf der Erde immer wechselt, sooft eine neue Religion emporsteigt und die alte Religion verdrängt. In der Tat, da jedesmal nach Abfluß einer Reihe Jahrhunderte immer eine neue Religion in der Welt aufkommt und, indem sie in die Sitten übergeht, sich auch eine neue Moral geltend macht, so würde jede Zeit die Kunstwerke der Vergangenheit als unmoralisch verketzern, wenn solche nach dem Maßstabe der zeitigen Moral beurteilt werden sollen." JGB IX, KSA 5, 228 (276): „Bei aller Art von Verletzung ist die niedere und gröbere Seele besser dran, als die vornehmere: die Gefahren der letzteren müssen grosser sein, ihre Wahrscheinlichkeit, dass sie verunglückt und zu Grunde geht, ist sogar, bei der Vielfachheit ihrer Lebensbedingungen, ungeheuer. Bei einer Eidechse wächst ein Finger nach, der ihr verloren gieng: nicht so beim Menschen. -" Stendhal, „Souvenirs d'égotisme", in: Oeuvres intimes, hg. von Henri Martineau, Paris 1955 (Bibliothèque de la Pléiade). Z. B.: „Stendhal, der vielleicht unter allen Franzosen dieses Jahrhunderts die gedankenreichsten Augen und Ohren gehabt hat [...]" FW II, KSA 3, 450 (95); „Stendhal [...]", „dieser letzte große Psycholog [...]" (JGB II, 57 (39). Nach „Dostoiewsky" rechnet Nietzsche Stendhal zu „den schönsten Glücksfällen" seines „Lebens", GD, KSA 6, 147 (45). MA, KSA 2, 21 (7). FW I, KSA 3, 376 (4). AC, KSA 6, 171 (5). -
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aus, dass in ihren Gliedern fortwährend
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das Bewusstsein der Macht sein reizvolles Spiel spielt." Da liegt das Denkmotiv des „Willens zur Macht"6'. Es ist die Erfahrung der unentrinnbaren Vereinsamung, die das „titanisch strebende Individuum" kennt: „Denn man übersehe dies nicht: die Starken streben ebenso natumothwendig auseinander, als die Schwachen zueinander." Es ist der „Instinkt der .geborenen Herren'", der „solitären Raubthier-Species Mensch"62. Die Vereinsamung birgt das Risiko der Selbstverkennung: „Damm haben sie (die Bildungsphilister) sogar mit grosser Grausamkeit den Lehrsatz aufgestellt und praktisch erläutert, dass in jeder Vereinsamung immer eine Schuld liege." Zarathustra wird „Vom Wege des Schaffenden" dasselbe sagen63. Der versprengte Satyr Nietzsche legt sein Anderssein aristokratisch aus, weil er unter den gegebenen Verhältnissen Privilegien beanspruchen müßte, nicht etwa nur, um sich auszuleben, sondern auch, um das zu leisten, was er sich zutraut. Die „elitären Gefühle", die er nach dem Erscheinen der Geburt der Tragödie aus dem Unverstandensein im „Narrenhaus der ,modernen Ideen'"64 entwickelt, machen den Philologieprofessor, dem der Sprung in die Universitätsphilosophie mißlingt, sowohl mit seiner Abseitigkeit als auch mit den ungeheuren Mengen an Kraft bekannt, die für die Aufrechterhaltung geistiger Unabhängigkeit erforderlich sind: „Eins thut noth: die Isolation der begabten Menschen, ihre Selbsternährung, ihre Abstinenz von Ruf und Amt, die Geringschätzung aller aus großen Menschen-Haufen resultirenden Menschen und Vorgänge." So ein Fragment vom Herbst 1880.65 Zehn Jahre zuvor hat er gehofft, mit Rohde eine „neue griechische Akademie" bilden zu können, eine „Philosophenschule", was „keine excentrische Laune" sei, sondern „eine Noth"66; noch im Januar 1877, nach der Enttäuschung über Wagner, denkt er in der Geselligkeit von Sorrent: eine „,Schule der Erzieher' (auch modernes Kloster, Idealkolonie, université libre genannt) schwebt in der Luft"67. Dann hat ihn die Einsamkeit ganz, und er notiert: „Man hat mich nicht beleidigt: trotzdem trenne ich mich von den Menschen. Keine Rache."68
6U
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65 66
M III, KSA 3, 175(201). GM III, KSA 5, 383 (18).
Ebd., 384(18). SE, KSA 1, 352 (3). Vgl. ZA I, KSA 4, 80: „Wer sucht, der geht leicht selber verloren. Alle Vereinsamung ist Schuld." Vgl. auch die „Vorrede" von 1886 zu Menschliches, Allzumenschliches, 1, KSA 2, 17f. (3^1). José Ortega y Gasset greift die notwendige Vereinsamung als Vorbedingung eines künftigen Adels auf in Aufstand der Massen, GW III, passim, und in Der Mensch und die Leute, GW VI, 46 und 88. FW V, KSA 3, 586 (350). NF, KSA 9, 288. KSB 3, 165ff. (113). 1885 setzt Nietzsche für sich selbst ein Fragezeichen hinter solche Wünsche, die insgeheim viel weiter gingen (NF, KSA 11, 470): „Als ich jünger war, meinte ich, daß mir einige hundert Gelehrte fehlten, welche ich wie Spürhunde in die Gebüsche ich meine in die Geschichte der menschlichen Seele treiben könnte, um mein Wild aufzujagen. Inzwischen lernte ich, daß zu den Dingen, welche meine Neugierde reizen, auch Gelehrte schwer zu finden sind." KSB 5, 216 (589). NF, KSA 8, 505. Organisatorische Ambitionen brechen allerdings noch einmal im Sommer 1882 -
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während des Gedankenaustausches mit Paul Rée und Lou
von
Salomé durch: „Wenn wir nicht
uns
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3.
„Legitimismus" und „Gesellschaftsvertrag" Romantische Vorspiele
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des christlichen europäischen Adels, dem Jean Vom Gesellschaftsvertrag den Kampf angesagt Schatten der Guillotine trieb im sonderbare Asphodelen: Ein kleiner deutscher hatte, Friedrich von Fürst Souverän, Anhalt-Zerbst, immerhin ein Bruder der Zarin August Katharina IL, nahm, als er im Januar 1793 die Nachricht von der Hinrichtung Ludwigs XVI. erhielt, keine Nahrung mehr zu sich, starb am 3. März desselben Jahres in Luxemburg den Hungertod und überließ, kinderlos, sein winziges Land an der mittleren
legitimistische Selbstverständnis Jacques Rousseau mit seiner Schrift Das
Elbe den anhaltischen Verwandten. Aber längst standen einer so tiefen wie anachronistischen Überzeugung vom Führungsanspruch des Gottesgnadentums nicht nur Rousseaus demokratische Idee der „Volkssouveränität", sondern auch andere Auffassungen im Adel selbst gegenüber. Die perverse Symmetrie von Versailles war schon dem aufgeklärten Englischen Garten gewichen. Goethes Prometheus-Gedicht war wie der ganze „Sturm und Drang" und wie Gottfried August Bürgers Ruf „Du nicht von Gott, Tyrann!"69, aus dem es sein Aufbegehren bezog, noch einer Aufklärung verpflichtet, die in der Aufklärung eine Sache für alle sah. Die aufgeklärt absolutistischen Monarchen Friedrich II. von Preußen etwa, Kaiser Joseph II. oder Herzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach in jungen Jahren dachten noch nicht so; Nietzsche dachte nicht mehr so. Zwischen der Skepsis des aufgeklärten Absolutismus und der Skepsis Nietzsches finden wir die Dichter der deutschen Romantik, insbesondere die von Adel: Ludwig Achim von Arnim, Novalis alias Friedrich von Hardenberg, Friedrich de la Motte Fouqué, Adelbert von Chamisso und, mit seinem Essay Der Adel und die Revolution allen voran, Joseph von Eichendorff. Man kritisiert seit Heinrich Heine, obwohl er in seiner Romantischen Schule nicht nur das gemeint hat, gern das Rückwärtsgewandte an der Romantik, eine katholische oder kryptokatholische Sehnsucht nach dem Mittelalter. Es gilt überhaupt als „romantisch", vergangene, überlebte Zustände wiederherstellen zu wollen. Aber das ist entweder ein Klischee oder eine Unterstellung. Schon Heinrich von Kleist versuchte im Schatten der Guillotine mit seinem Michael Kohlhaas am Beispiel des Unrechts, das den Titelhelden zum Mordbrenner macht, das Versagen des eigenen Standes als Ursache für die Schrecken der französischen Revolution aufzuzeigen: die Verwechslung von Privilegien mit Luxus und Willkür. Johann Gottfried Seume, der geschworene Feind aller Privilegien, trifft in der lapidaren Diktion seiner Apokryphen die Feststellung: „Die Edlen und der Adel stehen gewöhnlich im Gegensatz."70 Manchem scheint es, als hätte Nietzsche außer in der Antike gar keine Vorläufer. Aber mit seinem Nachdenken über den Adel aus Unbehagen an der neuen Bürgerlichkeit im Zeitalter der industriellen -
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selber erhalten, geht Alles zu Ende. Uns selber durch eine Organisation." Merkwürdig erscheint als Zweck solcher Bestrebungen eine „Rückgewinnung der Religion." NF, KSA 10, 43f. Gottfried August Bürger, Werke in einem Band, Weimar 1962, 196 (Der Bauer. An seinen Ducht-
lauchtigen Tyrannen).
Johann Gottfried Seume, Werke in zwei Bänden, Berlin und Weimar 1990, 2, 243.
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Revolution ist er im 19. Jh. keineswegs der erste. Vor allem Joseph von Eichendorff verbindet in dem genannten Essay einen Abgesang an den christlichen Adel Europas, in dem er nur noch eine Karikatur seiner selbst sehen kann71, mit Zweifeln an der Kulturfähigkeit eines nur bürgerlichen Zeitalters: „Die Industrie an sich ist eine ganz gleichgültige Sache, sie erhält nur durch die Art ihrer Verwendung und Beziehung auf höhere Lebenszwecke Wert und Bedeutung"72. Ohne selbst noch „legitimistisch" zu denken, ist der Sproß eines alten schlesischen, ursprünglich in Anhalt beheimateten Adelsgeschlechtes überzeugt, daß es weiterhin einen Adel geben müsse: „In jedem Stadium der Zivilisation wird es, gleichviel unter welchen Namen und Formen, immer wieder Aristokraten geben, d. h. eine bevorzugte Klasse, die sich über die Massen erhebt. Denn der Adel [...] ist seiner unvergänglichen Natur nach das ideale Element der Gesellschaft; er hat die Aufgabe, alles Große, Edle und Schöne, wie und wo es auch im Volke auftauchen mag, ritterlich zu wahren, das ewig wandelbare Neue mit dem ewig Bestehenden zu vermitteln und somit erst wirklich lebensfähig zu machen"73. Ob Nietzsche diese Schrift gekannt hat, ist nicht belegbar. Aber die Dichter der deutschen Romantik kannte er gut. Ein Brief an den Freund Rohde belegt sogar den Bezug einer gewissen Tendenz zum Dionysischen aus den „unbewußt gleichzeitigen Studien der Romantiker"74. Sein Individualismus entsetzt sich über die in alle Bereiche der Gesellschaft sickernde Verlogenheit des Bürgertums und trifft sich mit dem Unbehagen vieler Adliger über den eigenen Stand. Der Adelspessimismus des Theognis hat den Studenten der klassischen Philologie, der schon als Oberprimaner in seiner Valediktionsarbeit über den Dichter gearbeitet hat, sehr hellhörig gemacht allerdings ohne daß er selbst von Adel wäre: Hofluft hat der Vater aus den Jahren mitgebracht, in denen er Erzieher der Altenburger Prinzessinnen gewesen war. Von seinen Freunden enstammt Carl von Gersdorff, dessen Großvater Staatsbeamter am Hof Carl Augusts von Sachsen-Weimar war, einer alten adligen Familie. Unter den Wagnerianern, denen er die Geburt der Tragödie dediziert, sind viele Adlige, neben Malwida von Meysenbug und Hans von Bülow der Kammerherr König Ludwigs II. von Bayern Max von Baligand, Marie von Muchanoff, eine geborene Gräfin Nesselrode, Marie Gräfin von Schleinitz und die russische Großfürstin Constantin, vormals als Alexandra von Sachsen-Altenburg Schülerin des Vaters. Allerdings hat Nietzsche bald „die fürstliche Briefstellerei satt".75 Später gehören der Maler Reinhart Freiherr von Seydlitz, der junge Heinrich von Stein und Meta von Salis-Marschlins zu Nietzsches meist fernen Freunden. Auch Lou ist eine „von". -
Joseph von Eichendorff, „Der Adel und die Revolution", Gesammelte Werke, III, Berlin 1962, 555. Dieser Essay ist ein Teil der unvollendet gebliebenen Memoiren, die Eichendorff 1855-1857 in Neiße schrieb, und wurde erst 1866 in Paderborn
aus
dem Nachlaß ediert.
Ebd., 557. Ebd., 575. In dem Memoiren-Fragment „Halle und Heidelberg", a. a. O., 578, nennt Eichendorff die Philosophen Wolff, Kant, Fichte, Schelling „lauter unsichtbare Gedankenkatastrophen". Was hätte er nach der Lektüre Nietzsches KSB 3, 196(135), 7. Juni 1871. Ebd., 278 (191).
gesagt?
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Sowenig dieser Adel für ihn noch in Betracht kommt ihm imponieren unter den Weihnachtsgeschenken die „aristokratischen Tendenzen" einer Schreibmappe aus Juchtenleder76, und zuletzt entwickelt er einen merkwürdigen Ehrgeiz, sich als „polnischer Edelmann pur sang"77 zu erfinden. Mit seinem „aristokratischen Radikalismus" befindet sich Nietzsche als Bürgerlicher aber nur scheinbar in einem persönlichen Dilemma: Er pflegt den Respekt vor altem Adel insofern, als man ohne ihn gar keinen Begriff davon hätte, was edel sei. Dazu gehören durchaus bescheidene Tugenden: „Armuth ertragen. Der grosse Vorzug adeliger Abkunft ist, dass sie die Armuth besser ertragen lässt."78 -
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Und: „man hat im Gehorchen seinen Stolz, was das Auszeichnende aller Aristokraten ausmacht [...]"79. Das ist wenig, denn: „Noch immer ist die Rangordnung der Grosse für alle vergangene Menschheit noch nicht festgesetzt."80 Der Blick auf die Antike sagt ihm, „dass die Gesinnung der vornehmsten Griechen inmitten unserer immer noch ritterlichen und feudalistischen Vornehmheit als gering und kaum anständig empfunden werden müßte [...]"*'. Den Überdruß des alten Adels an sich selbst artikuliert das „Gespräch mit den Königen" im vierten Teil des Zarathustra*2, und in gekrönten Häuptern seiner Zeit sieht er zuletzt nur noch „diese gepurpurten Idioten"83. Erfahrungen mit der Schein-Elite, die Eliteschulen wie Pforta erzeugen, machen Nietzsche auch skeptisch gegen jeglichen Adel des Geistes oder der Kunst84 und auch gegen alles, was Zeitgenossen sich unter „höheren Menschen" vorstellen.85 Zarathustra hört einen der Könige sagen: „Der Beste und Liebste ist mir heute noch ein gesunder Bauer, grob, listig, hartnäckig, langhaltig: das ist heute die vornehmste Art. Der Bauer ist heute der Beste; und Bauern-Art sollte Herr sein!"86 Noch tastet sich das „titanisch strebende Individuum" Nietzsche auf Kriterien einer Menschenart zu, die den christlichen Adel Europas ablösen könnte, ohne in die fatale Banalität des Bürgers oder in die scheinbar „gute Gesellschaft"87 des verbürgerlichten Adels zu verfallen. Dem Gesellschaftsvertrag Rousseaus, der die weder je vorhandene noch je erreichbare Gleichheit der Menschen voraussetzt, versucht Nietzsche einen anderen, ursprünglichen und zu erneuernden Gesellschaftsvertrag, seine „neue Aufklärung"88 entgegenzuhalten, eine Aufklärung nicht für jedermann, da, anders als Sokrates meinte, nicht alles allen lehrbar ist: Herren haben Privilegien, um besondere Aufgaben zu lösen, und sie beanspruchen nur solche Privilegien, die für diese Aufgaben erforderlich sind: „Die Arbeiter sollen einmal leben wie jetzt die Bürger: aber über ihnen die 76 77
78 79
80 81 82 83
84 85 86
87 88
Ebd., 266 (181). EH, KSA 6, 268 (3). M III, KSA 3, 174(200). MI, KSA 3, 61 (60). MV, KSA 3, 319 (548). M III, KSA 3, 173(199). ZA IV, KSA 4, 304-308. NF, KSA 13, 641. FW V, KSA 3, 624f. (373). ZA IV, KSA 4, 356-368. Ebd., 305.
Ebd.
NF, KSA 11, 228 u. passim.
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höhere Kaste, sich auszeichnend durch Bedürfnißlosigkeit! also ärmer und einfacher, doch im Besitz der Macht"89, notiert Nietzsche 1883. Der „Gesetzgeber der Zukunft"90 ist für ihn keine „Elite" der Gewinne, sondern eine Elite der Mäßigung. Das Geheimnis der „blauen Blume", mit dem Novalis sein Romanfragment Heinrich von Ofterdingen eröffnet, besteht vielleicht darin, daß die Romantiker nicht nur rückwärts, sondern einige von ihnen schon vor Nietzsche weit in die Zukunft geschaut haben.91
4.
„Glücksfälle des Menschen" der entfesselte Prometheus -
Wenn man vom Adel spricht, läßt es sich nicht vermeiden, vom „Pöbel" zu sprechen. Heinrich Heine, Nietzsches nächster Geistesverwandter, entwindet sich der Peinlichkeit durch ein Bonmot: „Wenn ich von Pöbel spreche, nehme ich davon aus: erstens alle, die im Adreßbuch stehen, und zweitens alle, die nicht drin stehen."92 Nietzsche, der geistige Überwinder des Ressentiments, hat an sich selbst manches Ressentiment erfahren müssen. Das Ressentiment gegen den „Pöbel" konnte er nie überwinden. Viel häufiger als die armen Leute meint er allerdings damit gerade „die gute Gesellschaft". Schon Knigge unterscheidet übrigens den „vornehmen Pöbel" vom „geringen".93 Nietzsche ist 1886 auch der „gebildete Pöbel"94 geläufig. Die Gebildeten jener Zeit wiederum sahen in den Verbrauchern billiger Leihbibliotheksliteratur einen „Lesepöbel".95 Für Nietzsche gewinnt die Vokabel „Pöbel" in dem Maß an Bedeutung, als er etwa in der Morgen-
NF, KSA 10, 361. Vgl. NF, KSA 11, 242f: „Ich interessiere mich nicht [...] für die Arbeiter-Frage,
weil der Arbeiter selber nur ein Zwischenakt ist." NF, KSA 11, 258. Novalis, Werke und Briefe, hg. von Alfred Kelletat, München 1962/1968, 146. Zwischen einigen Aphorismen des Novalis und Nietzsches Zarathustra findet der aufmerksame Leser Parallelen, die, gerade wenn sie sich zufällig eingestellt haben, diese Feststellung erhärten. Hier zwei Beispiele: 1. „Blütenstaub" 32 „Wir sind auf einer Mission; zur Bildung der Erde sind wir berufen." (a. a. 0., 346) vgl. ZA Vorrede, KSA 4, 15: „Brüder, bleibt der Erde treu [...]" sowie MA I, KSA 2, 46 (25), wo Nietzsche an „ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele" denkt. 2. „Neue Fragmente" 186: „Spielen ist Experimentieren mit dem Zufall." (a. a. 0., 443) und: „Spielt Gott nicht auch? Theorie des Spielens. Heilige Spiele." (ebd., 447) vgl. ZA III, 288f: „Wenn ich je am Göttertisch der Erde mit Göttern Würfel spielte, dass die Erde bebte und bräche und Feuerfflüsse heraufschnob: / denn ein Göttertisch ist die Erde, und zitternd von schöpferischen neuen Worten und Götter-Würfen: -". Nietzsches Vorliebe, seine Rolle als die eines „Harlekins" (KSB 2, 299 (578) oder „Hanswursts" (EH, KSA 6, 365) zu sehen, findet eine Entsprechung im Aphorismus „Blütenstaub" 63 (a. a. O., 352). Vermutlich hat Georg Lukács in Die Zerstörung der Vernunft, Berlin und Weimar 1988, in einer feinen Ahnung Novalis und Nietzsche ablehnend in einen Topf geworfen. Heinrich Heine, „Aphorismen und Fragmente", Werke und Briefe, 8, a. a. 0., 373. Adolph Freiherr Knigge, Über den Umgang mit Menschen, Leipzig 1969, 12. FW Vorrede, KSA 3, 351 (4). Auch die Schläue des Sokrates ist unvornehm, denn „was hat er denn sein Leben lang gethan, als über die linkische Unfähigkeit seiner Athener zu lachen, welche Menschen des Instiktes waren gleich allen vornehmen Menschen und niemals genügend über die Gründe ihres Handelns Auskunft geben konnten?" JGB V, KSA 5, 112 (191). Volker Ebersbach, Geschichte der Stadt Bernburg, Band 2, Dessau 2000, 82. -
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Geschmack" eine Rolle spielt an seinen prometheischen bis er sich, gleichsam sein eigener Herakles, in der Fröhlichen WissenKetten rüttelt, schaft von ihnen befreit.97 Besonders oft und besonders freimütig bedient sich Nietzsche des Reizwortes „Pöbel" im Zarathustra, der sich durch vorbehaltlose Emotionalität in seiner Diktion von den Aphorismen und Traktaten der anderen Schriften unterscheidet. Der Begriff des Pöbels ist Zarathustra eine der Rampen, von denen aus die Gegenvision „Übermenschen" Gestalt annimmt. Der Pöbel ist es, der ihm das Ja zum Leben schwermacht, das „Gesindel": „Das Leben ist ein Born der Lust; aber wo das Gesindel mittrinkt, sind alle
röthe,
wo
der
„pöbelhafte
-
vergiftet."98
Brunnen Da der Pöbel auch reich und
gebildet und sogar adlig sein kann, läßt sich der „freiwillige Bettler" vom Ekel „vor den Sträflingen des Reichthums" lieber „zu den Ärmsten" treiben.99 Auch die „höheren Menschen" haben zu lernen: „Dies Heute ist nämlich des Pöbels"100, denn „auf dem Markt glaubt Niemand an höhere Menschen"101. Selbst
die „gute Gesellschaft" des Adels scheint Zarathustra dem Pöbel näher als dem, was er sich unter Adel vorstellt.102 „Der Ekel am Menschen", gesteht Nietzsche in Ecce homo, „am ,Gesindel' war immer meine größte Gefahr".103 Es ist der Ekel an den meisten Zeitgenossen, ein Ekel aus frustrierter Menschenliebe und aus frustriertem Eros. Nietzsches „elitäres" Denken ist also zunächst ein Reflex, der Reflex seines Charakters: „Hat man Charakter, so hat man auch sein typisches Erlebniss, das immer wiederkommt".104 Es erzeugt ein „Pathos der Distanz"105. Diesen sensualistisch-physischen Reflex bestätigt aber früh schon der intellektuelle, daß die Gleichheitsdoktrin Rousseaus, die „das Wohl der Mehrzahl [...] über das Wohl der Einzelnen" stellt, „die Menschheit alle Schritte bis zur niedersten Tierheit zurück machen"106 lasse. Aber: „Das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern nur in ihren höchsten Exemplaren."107 Früh auch untersucht deshalb Nietzsche die „Doppelte Vorgeschichte von Gut und Böse".108 Mit dem doppelten Ehrgeiz des Philologen und 96
97
98
99 100 101
M III, KSA 3, 161 (188). Lou Andreas-Salomé, Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Frankfurt/Main 2000, 104: „Aus seinem Philologenthum, in dieses Philosophenthum erhoben, fühlte er sich ohne Zweifel einem Gefangenem gleich, von dem Ketten fallen." ZA II, KSA 4, 124. ZA IV, KSA 4, 336. Ebd., 361.
Ebd., 356(1). Ebd., 305(1). 103 EH, KSA 6, 276 (8). Schon in der II. Unzeitgemäßen Betrachtung („Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben"), KSA 1, 256 (1) thematisiert Nietzsche diesen „Ekel". 104 JGB IV, KSA 5, 86 (70). 105 GM I, KSA 5, 259 (2). 106 NF, KSA 9, 334. 107 HL, KSA 1,317(9). 108 MA I, KSA 2, 67 (45). Lou Adreas-Salomé, a. a. O., 118, entdeckte den in Nietzsche verborgenen Geschichtsphilosophen: „In der Genialität seiner feinen Anempfindung und künstlerischen Nachgestaltungskraft war er geradezu prädestiniert zu geschichtsphilosophischen Leistungen im Großen." 102
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eines Historikers
geht er dabei im Griechischen bis zu einem ursprünglichen Gegensatz „gut" und „schlecht" zurück, dem ein Gegensatz „Herr" „Sklave" entspreche.109 Daß er dabei den „Sklavenaufstand der Moral", den er dem „Christenthum" anlastet, auf die „Juden" zurückführt110, braucht ihm nicht als Antisemitismus ausgelegt zu werden, meint doch sogar Heinrich Heine, selbst Jude, „das judäische Gift" habe Rom vervon
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dorben"1, freilich nicht ganz ohne Ironie. Die Ablehnung der christlichen Moral folgt in Nietzsches
Denken der Entdeckung, daß Moral relativ sei: Immoralismus lautet das Schlüsselwort, das hinter den „elitären" Visionen des Zarathustra liegt. Zarathustra wartet, hat „alte zerbrochene Tafeln" um sich, und die neuen sind erst „halb beschriebene Tafeln"."2 Er erinnert an Moses, und man kann ihn sich nur schwer ohne ein Priestergewand vorstellen. Er hält es nicht aus zwischen den Trümmern der alten Tafeln. Der „Übermensch", ein Begriff, weder empirisch gewonnen noch auf eine praktische Verifizierbarkeit hin überprüft, rein denkerisch erschlossen wie das Atom Demokrits, eine Vision, eine Utopie, ein Rätsel, ja eine platonische Idee!113 hätte auch mit einem neuen Adel als gesellschaftlicher Gruppe so wenig zu tun wie Demokrits Atom mit dem der modernen Physik. Er steht für Nietzsches prometheischen Drang, Lehrer der Menschen zu sein, für seinen unvermerkt kryptoplatonischen Blick auf einen anzustrebenden Idealzustand der Dinge. In ihm stecken der Heilige, der Künstler, der Philosoph, der Schaffende als Rivale Gottes, ja als Substitut des toten Gottes, und der Herrschende, der „Gesetzgeber"."4 Das sind sich wandelnde Wunschvorstellungen, maskierte Forderungen Nietzsches an sich selbst. Das „titanisch strebende Individuum" schaut als der entfesselte Prometheus in einem Fragment von 1881 gleichsam auf seine eigene „Kaucasus"-Phase zurück im „Entwurf einer neuen Art zu leben": „Erstes Buch im Stile des ersten Satzes der neunten Symphonie. Chaos sive natura: ,von der Entmenschlichung der Natur' [...]""5. Auf dem „Wege des Schaffenden" begibt sich der „Übermensch" durch „Selbstverwundung und Selbstvergötterung""6 in die gleiche Rivalität, die Prometheus mit Zeus entzweit. -
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GM I, KSA 5, 257ff, 261 f. (4), 268 (7), 274 (11). Ebd., 268 (7). 1'' Heinrich Heine, Die romantische Schule, a. a. O., Band 5, 17. 112 ZA III, KSA 4, 246. 113 Zum Unterschied zwischen dem „Begriff der modernen Wissenschaft und der platonischen Idee Hans Leisegang, Die Gnosis, Stuttgart 1985, 9ff. vgl. 114 „Auf den glückseligen Inseln", ZA II, KSA 4, 109ff: „wenn es Götter gäbe, wie hielte ich's aus, kein Gott zu sein! Also giebt es keine Götter." (110) Schaffen ist der „Wille zur Zeugung": „Hinweg von Gott und Göttern lockte mich dieser Wille; was wäre denn zu schaffen, wenn Götter da wären!" (111). Vgl. NF, KSA 10, 37 (Tautenburger Aufzeichnungen für Lou von Salomé, JuliAugust 1882): „Wer das Große nicht mehr in Gott findet, findet es überhaupt nicht vor und muß es entweder leugnen oder- schaffen (schaffenhelfen)." Vgl. JGB VI, KSA 6, 145 (211). „Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber [...]". 110
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NF, KSA 9, 519. Lou Andreas-Salomé, a. a. O., 91. Zum Begriff des transanthropologischen „Übermenschen" vgl. Karen Joisten, Die Überwindung der Anthropozentrizität durch Friedrich Nietzsche, Würzburg 1994.
Volker Ebersbach
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Freilich kann ein Denker, der sich als Rivale Gottes fühlt, keineswegs als Atheist betrachtet werden. Seine Affinität zum Mythischen wirkt weiter. Zarathustra ist denn auch als Anwalt des schaffenden Menschen gegen Gott eigentlich eine Art prometheischer Priester. Nietzsche hätte auch die Maske des Empedokles einschließlich seiner legendären Selbstvernichtung wählen können. Die Vereinsamung, in die der Weg des Schaffenden führt"7, ist aber nur Zwischenstadium und Vorbedingung für die Vervollständigung der „neuen Tafeln": Was bisher Kennzeichen des Adels war, vor allem die Gewalt als Mittel des Herrschens, gehört noch zum Text der alten Tafeln: „Darum, oh meine Brüder, bedarf es eines neuen Adels, der allem Pöbel und allem Gewalt-Herrischen Widersacher ist und auf neue Tafeln das Wort schreibt ,edel'." Und auch ein gewisser modern gesagt Pluralismus gehört zu diesem „neuen Adel": „Vieler Edlen nämlich bedarf es und vielerlei Edlen, dass es Adel gebe!""8 Des zarathustrisch-prometheischen Priestergewandes entkleidet, als Spaziergänger im sommerlichen Oberengadin, entwirft Nietzsche ab 1885 in zwei verschiedenen, das gleiche Ziel verfolgenden Büchern mit stellenweise lehrhafter Tendenz Umrisse einer alternativen, „vornehmen" Moral, mit der er eine künftige „Rangordnung" unter den Menschen zu begünden hofft: Jenseits von Gut und Böse, eine Art Handbuch des Immoralismus, und Zur Genealogie der Moral, die aus einer historischen Genealogie der Standesunterschiede eine Projektion der künftigen Verschiedenheiten der Spezies Mensch zu gewinnen versucht. In einem gleichzeitigen Fragment heißt es: „Z[arathustra] kann nur beglücken, wenn er erst die Rangordnung hergestellt hat [...] Zunächst wird diese gelehrt. [...] Es muß viele Übermenschen geben: alle Güte entwickelt sich unter seines Gleichen. Ein Gott wäre immer ein Teufel!" Und er stellt sich dazu eine „herrschende Rasse" vor"9, für die er die mißverständlichen Begriffe „Zucht und Züch-
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tung" bemüht.120
Daß Nietzsche den Begriff „Rasse" hier und in parallelen Zusammenhängen nicht rassistisch versteht und verwendet, wäre Gegenstand einer gesonderten Arbeit. Hier nur so viel: Er sieht den „Pöbel-Typus" „irgend eine widrige Unenthaltsamkeit, irgend ein eine Winkel-Neid, plumpe Sich-Rechtgeberei" sich quer durch alle Völker oder „Rassen" ziehen.121 Also hält er auch Adel in allen Völkern oder Rassen für möglich. Nietzsches Rasse-Begriff und der des Grafen Gobineau122 liegen im wahrsten Sinne des Wortes über kreuz: „Wir Heimatlosen, wir sind der Rasse und Abkunft nach zu vielfach gemischt [...] und folglich auch wenig versucht, an jener verlognen RassenSelbstbewunderung und Unzucht theilzunehmen, welche sich heute in Deutschland als -
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I, KSA 4, 80ff. Nietzsche sieht in diesem Zusammenhang „die Einsamkeit nicht als gewählt, sondern als gegeben" (KSA 11, 543 vgl. KSB 7, 68f). ZA III, KSA 4, 254 (11). NF, KSA U,540ff. JGB V, KSA 5, 126ff. (203). Vgl. KSA 8, 3 (75), 5 (11, 25), KSA 13, 11 (414). JGB IX, KSA 5, 219(264). Joseph Arthur Graf de Gobineau, Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen, 1853-1855. ZA
Ein versprengter Satyr
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Zeichen deutscher Gesinnung zur Schau trägt [...]"123. Die Begriffe „Zucht" und „Züchtung", wie Nietzsche sie auffaßt und gebraucht, verlieren ihren rassistischen Beigeschmack, wenn man mit Pierre Bertaux124 und Peter Sloterdijk125 bedenkt, daß auch der Mensch von heute ein Produkt der „Zucht" im Sinne von Disziplinierung, ja sogar der jahrhundertelangen „Züchtung" innerhalb bestimmter Stände und Berufsgruppen ist. Nietzsche selbst kann ähnlich wie die schwäbischen Dichter und Philosophen, durch ihre gemeinsame Urmutter Regina Burckhardt untereinander verwandt, als das Züchtungsprodukt einer protestantischen Pfarrer-Genealogie und „Pfarreraristokratie"126 angesehen werden. In Jenseits von Gut und Bösem verdichten sich Nietzsches Vorstellungen von einem neuen Adel zu dem Werte-Katalog „Was ist vornehm"128, einer Art Kanon „einer neuen Art zu leben"129. Das „Bedürfnis" nach Vornehmheit, also jegliches Vornehmtun gilt darin gerade als unvornehm.130 Redlichkeit und Rechtschaffenheit kristallisieren sich als Grundwerte dieser Vornehmheit heraus: „,Wir Wahrhaftigen' so nannten sich im alten Griechenland die Adeligen."131 Sowohl der vielfach mißdeutete Dualismus von „Herren-Moral und Sklaven-Moral"132 als auch die Verweise auf „Barbaren", „Raubmenschen"133 und die vielbemühte, in der Völkerwanderung historisch belegbare „prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie"134 sind nicht zu verstehen ohne Nietzsches schon erwähnten, solchen Aussagen benachbarten Hinweis: „Bei aller Art von Verletzung ist die niedere und gröbere Seele besser dran als die vornehmere: die Gefahren der letzteren müssen grosser sein, ihre Wahrscheinlichkeit, dass sie verunglückt und zu Grunde geht, ist sogar, bei der Vielfachheit ihrer Lebensbedingungen, ungeheuer. Bei einer Eidechse wächst ein Finger nach, der ihr verloren gieng: -
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V, KSA 3, 630 (377). Eine frühere Überlegung der Morgenröthe über eine „Reinigung der Rasse", M IV, KSA 3, 213f. (272) dürfte damit, wenn nicht überholt, so doch zumindest wieder in FW
Frage gestellt sein.
Pierre Bertaux, a. a. O., 40. Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt/Main 1999. 126 Pierre Bertaux, a. a. O. 127 Schon Marc Aurel bedient sich der Formel (IV. 39), um ein unbestechliches, von der Einhaltung moralischer Gebote unabhängiges Schicksal namhaft zu machen: „Denn was dem, der im Widerspruch zu den Gesetzen der Natur lebt, in gleicher Weise zustößt wie dem, der sein Leben nach ihnen richtet, das ist selbst weder naturgemäß noch naturwidrig: es steht jenseits von Gut und Böse." Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, herausgegeben und übertragen von Amo Mauersberger. Leipzig 125
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1954,45.
JGB IX, KSA 5, 205ff. Entwürfe dazu in den NF, KSA 11, 543ff. und im Brief an Heinrich Köselitz vom 23. Juli 1885, KSB 7, 68f.
Vgl. Anm. 115. JGB IX, KSA 5, 233 (287). Ebd., 209 (260). Ebd., 208 (260). Ebd., 205f. (257). GMI, KSA 5, 275(11).
124
Volker Ebersbach beim Menschen."135 Auch die
nicht
so
von
„besonderen
Ablehnung des Mitleids als einer „Vergeudung"
Begabungen"136 gehört
hierher. Was Zarathustra als Vision des
„Übermenschen", was Nietzsche als „neuen Adel" sieht, gehört folglich unter die seltenen, nur schwer erreichbaren, aufs höchste gefährdeten „Glücksfalle des Menschen"137, die schon die Fröhliche
Wissenschaft unter die „zukünftige ,Menschlichkeit'" rechnet: vor sich und hinter sich, als der Erbe aller Vornehmheit alles vergangenen Geistes und der verpflichtete Erbe, als der Adligste unter allen alten Edlen und zugleich der Erstling eines neuen Adels, dessen Gleichen „der Mensch eines Horizontes von Jahrtausenden
noch keine Zeit sah und träumte [...]"138. Das ist Zarathustras „Fernsten-Liebe"!139 Aber das Dilemma dieses entfesselten Prometheus besteht darin, daß er „Seines Gleichen"140 nicht findet. „Zeichen" seiner „Vornehmheit" ist ja die Vereinzelung: „nie daran denken, unsere Pflichten zu Pflichten für Jedermann herabzusetzen; die eigene Verantwortlichkeit nicht abgeben wollen, nicht theilen wollen, seine Vorrechte und deren Ausübung unter seine Pflichten rechnen."141 Nicht einmal „unsere Pflichten" dürfte er sagen, der einsame versprengte Satyr'42, denn für ihn gibt es ja „nichts Gleiches"143. Jede vordergründig politische Relevanz ist für Nietzsches Adelsvorstellungen damit hinfällig. Er meint nicht den Leithammel, sondern den Neinsagenden, den Abseitigen, der sich von der Herde abgesondert hat und nur sich selbst verantwortlich ist. Wo Nietzsches „radikaler Aristokratismus" kollektive Visionen hat, ähnelt er einem Zionismus der redlichen, wahrhaftigen Intellektualität. Sein aristokratischer Instinkt ist nicht darauf aus, sich über eine Vielzahl von Menschen zu erheben, sondern er sucht nach Mitteln, sich vor dieser Vielzahl zu schützen. Schließlich wird ihm alles, was Adel heißt, zum Synonym für Einsamkeit, zur Allegorie seiner „sieben Einsamkeiten"144. Er lebt, gleichsam eine unbezahlte Ein-Mann-Elite, auf seinen „eigenen Credit hin"145. Statt der sieben Himmel, die jedermann gern durchmessen würde, wählt er seine sieben Einsamkeiten. Er trägt sie in sich selbst. In seinem äußeren Leben bleibt er eingegrenzt. Aber alle Rosen sind verwelkt. Der versprengte Satyr irrt durch ein Dornengehege.
135
JGB IX, KSA 5, 228 (276). Vgl. NF, KSA 11, 253: „Unzählig viele Einzelne höherer Art gehen aber wer davon kommt, ist stark wie der Teufel. Ähnlich wie zur Zeit der Renaissance." 136 JGB VII, KSA 5, 160f. (225). 137 GM III, KSA 5, 367 (14).
jetzt zu Grunde:
l38FWIV,KSA3,565(337).v
139 140 141
14
143 144 145
ZA I, KSA 4, 77. Vgl. Anm. 119. JGB IX, KSA 5, 227 (272). Joachim Köhler, Zarathustras Geheimnis, 437, nennt das „Nachtlied" Zarathustras 136ff.) das „Lied eines vereinsamten Satyrs". MAI, KSA 2, 40ff. (19). FW IV. KSA 3, 527 (285). EH Vorwort, KSA 6, 257 (1).
(ZA II, KSA 4,
Ein versprengter Satyr
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5. Heimkehr zu Dionysos? Mythos und Chaos Mythos und Gesellschaft -
der Vater der Satyrn und Erzieher des Dionysos, ist es, der in der Gedes fangenschaft Rosengeheges dem habgierigen König Midas die Gabe verleiht, daß alles, was er berührt, zu Gold wird. Von den fatalen Folgen für seine Ernährung erlöst Dionysos selbst den König durch ein Bad in den Wellen des Flusses Paktolos.146 Der versprengte Satyr darf zurück zu Dionysos. Dionysos ist unerbittlich; wer sich verweigert, den unterwirft er sich durch Verzauberung. Die Widerspenstigsten Lykurg und Pentheus schickt er ins Verderben. Die Midas-Geschichte zeigt die Vornehmheit des Dionysos. Es ist die Vornehmheit des Lebens selbst. Sie richtet sich gegen die Koppelung von Adel und Herrschaft an Geld und Besitz. Der Gott des Lebens, der Lebendigkeit stigmatisiert die Hände des habsüchtigen Königs mit Erstarrung und Tod und erlöst ihn durch die Wellen eines Flusses, in die, nach Heraklit, niemand zweimal steigen kann. Im „Vorwort" zu Ecce homo liefert Nietzsche ein Bekenntnis ab, das den Rang eines quasireligösen Credo hat: „Ich bin ein Jünger des Philosophen Dionysos, ich zöge es vor, eher noch ein Satyr zu sein als ein Heiliger." Und er schwört allen Ambitionen ab, „die Menschheit zu ,verbessern'."147 1885 hat er alternativ zu anderen Titeln eines neuen Buches erwogen: „Dionysos. Versuch einer göttlichen Art, zu philosophieren".148 Auch als Verfasser des Antichrist ist Nietzsche, vermittelt über die Verteufelung durch das Christentum, in die Gestalt des Satyrs zurückgeschlüpft. Die ganze letzte Denkphase Nietzsches ist eine Rückübersetzung des Teufels in den Satyr. Die prometheische Phase in seinem Denken, in der Dionysos und Apollon, wie in der Geburt der Tragödie postuliert, einander ergänzen müssen, geht 1888 in eine Heimkehr zu Dionysos über. Nietzsche nimmt sich als den Lehrenden zurück. Dionysos ist der Gott des Immoralismus, sein Kronzeuge war Prometheus, der von „Sünde" nichts weiß, für den nach griechischer Religiosität „auch der Frevel Würde haben"149 kann. Das geplante Buch, in dem er, wie er Ferdinand Avenarius mitteilt, „Hanswurst, Satyr oder, wenn Sie es vorziehen, ,Feuilletonist'" sein möchte, soll nun „Umwerthung aller Werthe"150 heißen. Seine Vorstellungen von „Rang" und „Rangordnung" sind längst aus schmerzlicher Erfahrung ästhetisch, ja ästhetiszistisch151 geprägt: Vornehm sind „Menschen des Instinktes"152, sie haben „einen Instinkt für den Rang", einen „Instinkt der Ehrfurcht", dem Instinkt der „Ehrfurcht vor der Bibel" vergleichbar153, Der alte
Silen,
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147
Ovid, Metamorphosen, XI, 90ff; Hyginus fabulae, 191.
EH, KSA 6, 258. NF, KSA 11,483. 149 FW III, KSA 3, 487 (135). 150 Turin, 12. Dezember 1888. KSB 8, 516 (1183). 151 NW, KSA 6, 435: „Der geistige Ekel und Hochmuth jedes Menschen, der tief gelitten hat bestimmt beinahe die Rangordnung, wie tief einer leiden kann [...] Das tiefe Leiden macht nehm; es trennt [...]". 152 JGB V, KSA 5, 112(191). 153 JGB IX, KSA 5, 217f (263). 148
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es -
vor-
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126
und: „Die vornehme Seele hat Ehrfurcht vor sich. -"154 Aber unerwartete Zurücknahme gesetzgeberischer Denkansätze die „Ordnung der Kasten" versteht er als „die Sanktion einer Natur-Ordnung", „die Rangordnung, formulirt nur das oberste Gesetz des Lebens selbst [...]"155. In einer scheinbar apodiktischen Diktion delegiert Nietzsche die Fertigstellung der „neuen Tafeln" Zarathustras zurück an eine außermenschliche Instanz. Das Heroische, mit dem das „titanisch strebende Individuum" die Tragik seiner Existenz auszuhalten hoffte, wird nun preisgegeben: Nietzsche nennt sich in Ecce homo sogar das Gegenteil einer „heroischen Natur"156. Durch seine Gesundung, die Verwandlung eines „décadent" in sein „Gegenstück", seine neue, wiedergefundene „Wohlgerathenheit"157, erübrigt sich das. Er möchte nicht verwechselt werden158 und jedes Urteil über sich vorwegnehmen, vor allem sich nicht loben lassen. Dieses Vorwegnehmen ist vornehm. Es stellt sich dem furchtbaren Risiko der „ewigen Wiederkunft": „Meine Formel für die Grosse am Menschen ist amor fati: daß man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit -
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nicht."159
Der verwirrte Nietzsche herrscht seine Mutter an: „Siehe in mir den Tyrannen von Turin!"160 „Oh, welch ein edler Geist ist hier zerstört!" möchte man mit Shakespeares Ophelia über Hamlet ausrufen.161 Das „Unthier Nietzsche"162, der versprengte Satyr
sit venia verbo ein Satyrann geworden. Angekündigt hat sich das in einer Aufzählung der „höheren Naturen" und „grossen Individuen", in der Dionysos neben Julius Cäsar und Alexander gerät.163 Auch das Tyrannische in Nietzsches Aristokratismus bleibt ein Reflex auf das fatale Gefühl der Wehrlosigkeit gegen die „Mehrheiten" des „Pöbels", die ihm keine Hoffnung auf Fairneß lassen. In den Unterschriften der Wahnzettel tritt neben die Maske des Dionysos die des Gekreuzigten. Für den Psychoanalytiker Carl Gustav Jung ist das gar nicht verwunderlich: Die Überheblichkeit, versinnbildlicht in der „Gottähnlichkeit" des „Übermenschentums", hat zum Pendant den Kleinmut, der sich in Prometheus und dem Gekreuzigten wiedererkennt.164 Aber nimmt man alle Äußerungen Nietzsches über Dionysos und das Dionysische zusammen und legt alles, was er über die Person Jesu Christi geäußert hat, dazu, so glaubt man eine dionysische Kryptochristologie zu erkennen, so erscheint ist
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154
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Ebd., 233 (287). AC, KSA 6, 242f. (57). 156 EH, KSA 6, 294, vgl. NF, KSA 12, 255. 157 Ebd., 266f. 158 EH Vorwort, KSA 6, 257 (1). 159 EH, KSA 6, 297 (10). 160 Pia Daniela Volz, 383. 161 „Hamlet" 111,1. William Shakespeare, Sämtliche Werke, 4, Berlin 1994, 318. 162 An Meta von Salis auf Marschlins, Turin, 29. Dezember 1888, KSB 8, 562 (1223). Vgl. KSB 8, 522(1187). 163 EH, KSA 6, 269 (3). Er unterschreibt u. a. auch mit „Nietzsche-Caesar", KSB 8, 568 (1229), 31. 12. 1888 an August Strindberg. 164 Carl Gustav Jung, Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten, München 2001, 24ff. 155
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das Dionysische wie eine Definition des Religiösen schlechthin.165 Wer sich auf Grund frühkindlicher Prägung von Christus nicht lösen kann, der fühlt sich durch alle die Jesus-Figuren, die ihm die Kirche, die Theologen und die Religionswissenschaftler anbieten, so verschieden sie voneinander sein mögen, so unbefriedigt, daß er ständig versucht ist, sich einen Christus nach seinem eigenen Bild zu machen. Für Nietzsche nimmt er die ihm nicht unverwandten Züge des Dionysos an. Nietzsche gleitet in ein Seelenchaos, in dem er sich selbst zum Mythos wird. Alles Religiöse fließt ihm in einer Art von dionysischem Absolutismus zusammen. Darin liegt das „religiöse Genie", das Lou Andreas-Salomé frühzeitig in ihm erkannte.166 Und dieser dionysische Absolutismus, mit dem Nietzsches Werk ausklingt, hat eine Entsprechung in den Neuen Fragmenten des Novalis: „Alle absolute Empfindung ist religiös."167 Schon in der Geburt der Tragödie verkündet Nietzsche den „Verlust des Mythus" als „das Resultat jenes auf Vernichtung des Mythus gerichteten Sokratismus"168, ohne gegen die Endgültigkeit dieser Tatsache mehr vorbringen zu können als seine falschen Erwartungen an Wagners Musik als einer „Wiedergeburt des deutschen Mythus".169 Er ist sich als Kulturhistoriker im klaren darüber, daß jeder Adel seine Legitimation braucht. In der Antike war es die Abkunft von den Göttern, in den heidnischen Schichten der Artussage die merlinische Verbindung zu den Urkräften der Natur, im Hochmittelalter das Gottesgnadentum170. Welche Legitmation hätte der neue Adel, über den Nietzsche seit dem Zarathustra unermüdlich nachdenkt? Er könnte sich nur selbst legitimieren. Sowohl die nachzarathustrischen Schriften als auch die nachgelassenen Fragmente sind voller Erwägungen über einen Adel der Zu„Und wieviele Götter sind noch möglich! [...] Mir selber, in dem der religiöse, das heißt gottbildende Instinkt mitunter wieder lebendig werden will [...]" (NF, KSA 13, 525f). Vgl. Volker Ebersbach, Zwei blutige Erlöser Dionysos und Christus, Leipzig 2000. In seinem Tagebuch „Griechischer Frühling" reflektiert Gerhart Hauptmann 1907 über die Kulte der Demeter und des Dionysos in den eleusinischen Mysterien: „Es bleibt ein seltsamer Umstand, daß Brot, Wein und Blut, dazu das Martyrium eines Gottes, sein Tod und seine Auferstehung noch -
heut den Inhalt eines
Mysteriums bilden, das einen großen Teil des Erdballs beherrscht." Gerhart Haumpmann, Centenar-Ausgabe, VII, Berlin 1996, 59. Lou Andreas-Salomé, a.a.O.,, 49. Vgl. 181: „[...] während er schon beschäftigt ist, in seinen leidvollsten Erkenntnissen seinem Haupte die Dornenkrone zu flechten." Femer ebd., 178: „Erst am Eingang zu Nietzsches letzter Philosophie wird daher völlig klar, bis zu welchem Grade es der religiöse Grundtrieb ist, der sein Wesen und Erkennen stets beherrschte." Vgl. auch C. G. Jung, Antwort auf Hiob, München 2001, 50, Anm. 56: „Auch in der christlichen Tradition besteht die Auffassung, daß der Teufel die Absicht Gottes, Mensch zu werden, schon viele Jahrhunderte zuvor wußte und darum den Griechen den Dionysosmythus einblies, damit sie, wenn die frohe Botschaft sie in Wirklichkeit erreichte, sagen konnten: ,Na ja, das wußten wir schon längst'." Novalis, Neue Fragmente, 138, a. a. O., 434. GT, KSA 1, 146 (23): „Worauf weist das ungeheure historische Bedürfniss der unbefriedigten
modernen Cultur, das Umsichsammeln zahlloser anderer Culturen, das verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht auf den Verlust des Mythus, auf den Verlust der mythischen Heimat, des mythischen Mutterschoosses?" GT, KSA 1, 147(23). Vgl. Volker Ebersbach, Der Wille der Götter, Leipzig 1997.
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kunft. Einen Mythos, der ihn legitimieren könnte, hat Nietzsche nicht. Die Negation des Sokrates allein leistet das nicht, und Also sprach Zarathustra ist trotz der sakralen Diktion nicht so gemeint. Es gibt keinen Mythos, der nicht aus einem gesellschaftlichen Chaos hervorgegangen wäre. Das dionysische Szenario seiner letzten Turiner Tage stürzt Nietzsche in solch ein mythenbildendes Chaos. Aber es geschieht nur ihm allein, und „Dionysos philosophos"171 bleibt sein ganz persönlicher Mythos. Nietzsche ringt mit allem nur in sich selbst, überwindet alles nur in sich selbst und für sich selbst. Er fühlt sich in der mythenlosen Welt des toten Gottes wie in einem endlosen Karsamstag, wie in einem Niemandsland zwischen dem alten und dem neuen Adel und vielleicht wahnhaft wie Christus am Kreuz bei den Worten: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"172 Ecce homo endet mit dem schrillen Ruf: Hat man mich verstanden? Dionysos gegen den Gekreuzigten [...]"173 Nicht lange danach pendelt der Unterzeichner letzter Botschaften zwischen beiden.174 Da Nietzsche nicht unter Griechen, sondern unter Christen sozialisiert wurde, ist ihm in der Ambivalenz der beiden Gestalten Dionysos letztlich doch ein Ersatz für Christus, nicht umgekehrt. Und ein Ersatz ist nicht originär. Nehmen wir beispielsweise Nietzsches Wiederkunftsgedanken experimentell als stichhaltig an, so wäre es ein großes Privileg, nach seiner „Verkündigung" durch Zarathustra geboren zu werden, vergleichbar nur mit dem eschatologischen Privileg, zu dem das Neue Testament jede Geburt nach dem erlösenden Kreuzestod Christi macht. Also entspringt gerade dieser philosophische Gedanke im Grunde einem religiösen Rivalitätsinstinkt. Unter den vielen Menschen, deren Wunsch, einen Gott auf Erden zu sehen, Religionen schafft, gibt es immer auch einige, die den Wunsch hegen, sich als Gott zu fühlen. Die Rivalität zu Gott ist eine aus beiden Motiven gemischte Sonderform menschlichen Wünschens. Wenn es ein Hauptmotiv in Nietzsches Denken war, ein Rivale Gottes zu sein, dann ist er mit seinem Turiner Zusammenbruch, den er wohl selbst als glänzenden Triumph erlebt hat, glimpflich davongekommen. Keine der „Eliten" seiner oder unserer Zeit würde seinen Vorstellungen von einem neuen Adel entsprechen. Die meisten Aussagen, die er über Adel und Vornehmheit, über Rang und Rangordnung trifft, allegorisieren nur das Individuum Nietzsche. Dennoch lassen die nach dem „Zarathustra" entstandenen Schriften und mehr noch eine Vielzahl der nachgelassenen Fragmente insbesondere der achtziger Jahre keinen Zweifel, daß Nietzsche an eine reale gesellschaftliche Gruppe dachte, wenn er von einem neuen Adel sprach. Aber mit der sehr frühen Feststellung über den „Verlust des Mythus" setzt er gewissermaßen wie die spanische Orthographie schon an den Beginn eines Satzes, der mit einem Fragezeichen enden wird, ein umgekehrtes Fragezeichen. Die beiden totalitären Herrschaften175 des 20. Jahrhunderts, die rote wie die braune, schickten sich an, jeweils ihre Mythen zu bilden. Durch ihren mehr oder weniger raschen Untergang sind sie darin unterbrochen worden. Aber was jetzt ist, versucht „
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NF, KSA 13,613. Matth. 27, 46. 173 EH, KSA 6, 374. 174 KSB 8, 57Iff. 175 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986. 172
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auch schon Mythen zu bilden. Der „aristokratische Radikalismus" Nietzsches ist entweder eine Aporie oder eine Frage an die Zukunft, an die Menschen künftiger Zeitalter an uns: Wird uns das gesellschaftliche Chaos, das einen neuen Mythos ausbrüten könnte, erspart bleiben? Wie dieses Chaos aussehen dürfte, ahnt Heinrich Heine in seinen Memoiren: „Im Tale Josaphat wird das große Schuldbuch vernichtet werden oder vielleicht vorher noch durch einen Universalbankrott."176 -
Heinrich Heine,
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Eva Marsal
Wen löst Dionysos ab? Der „Gekreuzigte" im Facettenreichtum der männlichen
Nietzsche-Dynastie: Friedrich August Ludwig Nietzsche, Carl Ludwig Nietzsche und Friedrich Nietzsche
1. Die
systemimmanente Problematik des Christentums
Die Leitbilder, die Personen aus der mythologischen, religiösen oder virtuellen Welt, an denen sich jemand orientiert, verraten durch die unbewußt und bewußt gewählten Projektionsmuster vieles über die tiefen Wünsche, Sehnsüchte oder auch Ängste eines Menschen. Deshalb möchte ich in meinem Vortrag die Beziehung zwischen den christologischen Anschauungen, hervorgehobenen Aspekten und Identifikationsrastern der männlichen Nietzsche-Dynastie und ihren inneren Lebenssätzen sowie Rollenmustern herausarbeiten. Im Mittelpunkt steht damit die Frage: Was wird jeweils aus dem reichhaltigen Angebot der Objektseite, also der Christologie aufgenommen, und aufweiche psychischen Dimensionen der Subjektseite verweist diese Wahl? Die Christologie bietet eine weiträumige Projektionsfläche an. Dieses liegt in ihrer internen Problematik begründet, die durch zwei schwerwiegende Aporien gekennzeichnet ist. Die erste Aporie entsteht durch die Inkonsistenz der christlichen Religion, die einerseits für sich in Anspruch nimmt, eine hochentwickelte monotheistische Religion zu sein, aber gleichzeitig drei göttliche Gestalten anbietet, von denen die eine, nämlich Jesus Christus, den Rang und die Stellung eines Gottessohnes inne hat. Die zweite Aporie liegt in der Ausschließlichkeit der beiden Sätze, die die Substanz Jesu betreffen: Er soll gleichzeitig wahrer Mensch und wahrer Gott sein. Den Kirchenvätern der Spätantike gelang es durch gewaltige intellektuelle Spagate auf den Konzilen in Nicäa und Chalkedon diese Widersprüche mit Hilfe philosophischer Begriffe aufzuheben, die in dogmatische Formeln gepreßt wurden. Diese dogmatischen Klammern hielten aber der Skepsis der Aufklärung nicht stand und so führten neben der internen Problematik die kulturell-intellektuellen Gegenläufigkeiten des 18. und 19. Jahrhunderts zu den unterschiedlichsten theologischen Strömungen, die zusätzlich auch noch politisch usurpiert
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Die Trinität bedeutet im strengen Sinne Dreiheit. Das Konzil von Nicäa (325) einigte sich auf die Formel: „una subtantia (ouaia) in tribus personis (uTcoaxaaiQ". Das Konzil von Chalkedon (451) löste das Problem der Gottheit und Menschheit Jesu mit der Formel, „ein Christus in (nicht nur aus) zwei Naturen". Trotz dieser hypostatischen (personalen) Einigung bleiben beide Naturen unvermischt und ungewandelt, aber auch ungetrennt und unzerteilt.
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wurden. Dadurch entstand ein großer Facettenreichtum an Jesusbildern. Er erstreckte sich von den strikt rationalistischen Jesusbildern, die die Vergöttlichung des Menschen Jesus ablehnten, über die gefühlvollen, hochdramatischen, pietistischen Jesusbilder bis hin zu den orthodoxen. Es konnte also kein Zufall sein, welches Bild sich jemand aneignete, besonders, wenn sich dieses Bild im Laufe des Lebens änderte, wie das bei Carl Ludwig Nietzsche der Fall war. Er schreibt in seinem Lebenslauf am Silvestertag des Jahres 1841: „Während ich anfänglich den Spuren der sogenannten Rationalisten folgte, bin ich dann, durch ein fast zweijähriges, eifriges Stadium der frommen Schriften und Predigten des berühmten Berliner Kanzelredners Counrad zu der Überzeugung gelangt, daß ich dem ganzen Evangelium glauben zollte und in das Lager der Orthodoxen und Supernaturali-
sten3 überging".4
Deshalb ist die Frage: „Was sagt das jeweils gewählte Jesusbild über den Interpreten aus?", aufschlußreich. Es geht in diesem Vortrag also nicht um die Erläuterung der theologischen Deutungen christologischer Erklärungsmuster, sondern um die psychologische Bedeutung der jeweils getroffenen Wahl.
2. Das Licht der Vernunft: Die Christologie Friedrich August Ludwig Nietzsche
von
Bei der Vorstellung der Nietzsche-Dynastie beginne ich mit dem Großvater. Die Recherchen der Biographen Richard Blunck5 und Klaus Goch6 sowie seine eigenen literarischen Zeugnisse weisen Friedrich August Ludwig Nietzsche psychologisch gesehen als eine integrierte Persönlichkeit mit einer gelungenen Individuation aus. Zeitlich adäquat hatte er sich aus der abhängigen Sohnesrolle zugunsten der autonomen Erwachsenenrolle herausentwickelt und sein Leben aktiv im souveränen Selbstvertrauen
gestaltet.
So entfaltete er auch eine eigenständige christologische Position, die sich einerseits durch eine starke Sicherheit und anderseits durch eine hohe wissenschaftstheoretische Flexibilität und historisch-situative Angemessenheit auszeichnet. Im Gegensatz zu den aufgeklärten Intellektuellen seiner Zeit, nach denen das Christentum keine Zukunft hat, ist Friedrich August Ludwig Nietzsche der Meinung, daß das Christentum einen unvergänglichen Status besitzt, da Gott für seinen Erhalt sorgt. Zu dieser externen Variable tritt für ihn zusätzlich noch eine interne, die die Dauer des Christentums sichert, näm3
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Denkrichtung, die den Glauben an das Übernatürliche, das über die Natur und das Natürliche Hinausgehende vertritt, ebenso wie den Glauben an eine übernatürliche Offenbarung. Hier ist beEine
sonders die theologische Richtung (etwa 1780-1830) gemeint, die gegen den Rationalismus die über alle Vernunft stehende Offenbarung Gottes betont. Klaus Goch, Nietzsches Vater oder Die Katastrophe des deutschen Protestantismus, Berlin 2000, 320. Richard Blunck, „Erster Teil. Kindheit und Jugend", in: Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, Erster Band, 1978, 35, München/Wien, 17-273. Klaus Goch, Nietzsches Vater.
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lieh der erkenntnistheoretisch offene Status, in dem Jesus seine Lehre vorgetragen hat. Dadurch soll gewährleistet sein, daß die christlichen Axiome dem jeweiligen Erkenntnisstand der Höhe der Zeit angepaßt werden können. Das Christentum ist also für Friedrich August Ludwig Nietzsche eine Weltanschauung, die sich in einer ständigen Bewegung befindet, ständig neu interpretiert und aktualisiert werden muß. Dieses gelingt seiner Meinung nach: „Solange wir [...] bey gesundem Menschenverstände und bey einem guten moralischen Gefühle recht eigentlich studiren; so lange kann und wird auch gewiß in diese oder jene Stelle noch mehr Licht gebracht werden. Und Niemand, der die Sache auch hier von der rechten Seite beurtheilt, wird damit unzufrieden seyn, oder darüber erschrecken."7 Angstfrei und ohne Scheu vertritt er diese unzeitgemäßen Betrachtungen in seinem bedeutsamen Werk Gamaliel, oder über die immerwährende Dauer des Christenthums zur Belehrung und Beruhigung bey der gegenwärtigen Gärung in der theologischen und politischen Weif'. In dieser theologischen Schrift soll das Christentum nicht nur durch die intellektuelle Gegenstandsinterpretation gestützt werden, sondern auch durch konkrete Anweisungen für seine Verwirklichung in den unterschiedlichen lebensweltlichen Praxen. Das Ziel Friedrich August Ludwig Nietzsches ist nämlich die Lebensverbesserung, die in einer aufrichtigen, d. h. tätigen Liebe zu Gott liegt, „in der Bekämpfung der Unvernunft und des Lasters, in der fleißigen Übung der christlichen Pflichten und TuDeshalb widmet er sich zusätzlich zu seinen seelsorgerischen Aufgaben, pastoralen Amtsgeschäften und theologisch-schriftstellerischen Studien auch der pädagogischen Arbeit. So ist die Verbesserung des dörflichen Elementarschulwesens und der Lehrerausbildung sein wichtigstes Anliegen als Hauptpastor der Gemeinde Wolmirstedt. Nach seiner Wahl zum Superintendenten in Eilenburg setzt er sich mit besonderer Kraft für den Ausbau des Schulwesens ein. Klaus Goch hält fest: „In den Wirren und Nöten der Befreiungskriege ist Friedrich August Ludwig Nietzsche seiner Gemeinde stets ein geduldiger, tröstender Ansprechpartner, der auch konkrete Hilfe zu leisten versteht. [...] Weit stärker als seine Predigten und gelehrten Abhandlungen sind es wohl diese in Kriegszeiten praktisch sich bewährenden karitativ-humanitären Impulse, die ihm die tiefe Verehrung der Eilenburger Bevölkerung, der Stadtautoritäten und der ihm untergebenen Amtsbrüder einbringen."10 Deshalb verwundert es nicht, daß „das Haus des allseits geehrten und geachteten Superintendenten Friedrich August Ludwig Nietzsche"11 in einer Zeit der politischen Unruhen und Plünderungen durch die Truppen Napoleons, die sich auf dem Weg zur Völkerschlacht nach Leipzig befinden, ein Zufluchtsort für die vom Krieg gequälten Eilenburger ist.
genden"9.
7
8 9
10 11
August Ludwig Nietzsche, Gamaliel oder über die immerwährende Dauer des ChristenBelehrung und Beruhigung bey der gegenwärtigen Gärung in der theologischen und politiWelt, Leipzig 1796, 38.
Friedrich tum
zur
schen Ebd. Klaus Goch, Nietzsches Vater, 49. Ebd. 46. Ebd. 19.
Eva Marsal
134
Diese geistliche Karriere erarbeitete sich das siebte Kind des kurfürstlichsächsischen Inspektors Gotthilf Engelbert Nietzsche und der Pfarrerstochter Johanna Amalia Herold durch seine Intelligenz und sein Engagement. Ihm gelingt es als erstem Mitglied der väterlichen Familie, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Auch privat kann Friedrich August Ludwig Nietzsches Leben als gelungen gelten: Mit seiner ersten Frau Johanna Friederike, mit der er einundzwanzig Jahre verheiratet war, zeugte er sieben Kinder, mit seiner zweiten Frau Erdmuthe Dorothea drei Kinder. Seinem Selbstverständnis nach fühlt sich der Großvater Nietzsches also durchaus als Aufsteiger und als souveräner Stifter einer Dynastie. So erstaunt es nicht, daß er diesen Aspekt auch mehrfach bei seiner Projektionsfigur Christas hervorhebt, z. B. mit der Formulierung: „Jesum, den großen und nie ohne Ehrfurcht zu nennenden Stifter des Christen-
tums."13
Friedrich
August Ludwig Nietzsches eigene Lebenssicherheit spiegelt sich in seiner Glaubensgewißheit wider: „Ich weiß, daß Jesus Christas seine Religion auf keinen leicht zu verstiebenden Sandgrund, sondern auf einen Felsen gebaut hat, wo sie auch die
Pforten der Hölle nicht werden erschüttern und umstürzen können."14 Jesus ist für ihn entsprechend der Zwei-Nataren-Lehre wahrer Mensch und wahrer Gott. Deshalb vermerkt Friedrich August Ludwig Nietzsche einerseits das Ereignis „Christi Geburt"15, andererseits zitiert er aber auch einen irdischen Zeugen für die Göttlichkeit Jesu: „daß Petms mit auf jenem Berge war, wo Christas verklärt und jene Stimme gehört wurde: ,dieß ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe'".1 Diese Botschaft und ihre Funktion faßt Friedrich August Ludwig Nietzsche noch einmal eindringlich zusammen: „Daß Jesus Christas, ob er gleich Mensch war und als Mensch unter Menschen lebte, wohnte, lehrte, litt und starb, dennoch auch zugleich Gott war und noch ist und ewig seyn wird [...]; daß er bloß zum Besten der Menschen in diese Welt kam, und durch sein Leiden und sein Sterben eine Erlösung stiftete [...]."' Die intellektuelle Seite dieser Erlösertat kann Friedrich August Ludwig Nietzsche allerdings nicht begreiflich machen. Er konstatiert: „keiner kann diese Lehre genauer erklären, wie eigentlich Vater, Sohn und Geist eins sind und den einigen wahren Gott zusammen ausmachen. Das haben Christus und seine Boten selbst nicht bestimmt. Sie befriedigten sich bloß damit, uns diese Lehre im Allgemeinen bekannt gemacht zu haben. [...] Umsonst ist diese Lehre gewiß nicht da, und ewig kann sie auch nicht in ein so undurchdringliches Dunkel eingehüllt bleiben".18 „Die Nacht wird vergehen, der Tag aber herbey kommen!" Den gleichen Status besitzen Erklämngen, „die man in der Folge noch von diesem oder jenem Ausspruche Jesu [...] machen wird. Auch da wird gewiß kein Stillstand in 12 13 14
15 16 17
18 19
Geboren am 29. Januar 1756 in Bibra. Friedrich Friedrich August Ludwig Nietzsche, Ebd. 11. Ebd. 19. Ebd. 23. Ebd. 50. Ebd. 26. Ebd. 27.
Gamaliel, 5.
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theologischen Welt stattfinden. Auch da werden Veränderungen vorgehen, die von großem Belange sind. Auch da werden uns Aufklärungen gegeben und Berichtigungen gemacht werden, an die wir jetzt vielleicht noch gar nicht denken, die wir jetzt noch für ganz unnöthig und unnütz halten, oder die wir auch, wenn wir sie schon im voraus wüßten, wohl gar als höchst gefährliche Maschinen ansehen würden, womit man entweder das ganze Christenthum untergraben, oder doch wenigstens diese oder jene einzelne Lehre derselben wankend machen und niederreißen wollte."20 Der Status des Noch-Unerklärbaren ist für Friedrich August Ludwig Nietzsche funktionell vergleichbar mit dem aporetischen Moment in den Dialogen des Sokrates. Die augenblickliche Doxa, also der augenblickliche Stand des Scheinwissens muß über das Sich-Eingestehen des Nichtwissens zu einer Suchbewegung führen, die im elenktischen Sinne eine höhere Erkenntnisstafe ermöglicht. Kraft des Logos wird dieser Prozeß aufrechterhalten. Nach Friedrich August Ludwig Nietzsche ist dieser Prozeß von Gott und Christus erwünscht. So führt er aus: „Hätten uns Jesus und seine Apostel die Lehren, die sie uns vortragen, stets mit einerley Worten und auf einerley Art bekannt gemacht [...] hätten sie uns jedes Wort, das wir nachsprechen sollten, vorgesagt, jeden Gedanken, den wir nachdenken sollten, auf das deutlichste bestimmt, so daß sich schlechterdings keine einzige Frage mehr dabey aufwerfen, und kein einziger Gedanke und Begriff mehr hinzudenken ließe, dann würden wir freilich in dem, was uns das Christenthum lehrt [...] zwar immer noch nicht ganz, aber doch ziemlich übereinstimmen. So aber pflegt Gott den menschlichen Geist nie zu gängeln und nie zu fesseln. [...] Und so handelt Jesus, der Stifter des Christenthums, auch." „Alles [...] überläßt er unserm eigenen Nachdenken und unserer eigenen Untersuchung. Da sollen wir unseren Verstand gebrauchen, sollen unser moralisches Gefühl zu Hülfe nehmen, sollen den Wahrheitssinn, den er ohnedieß durch seine Lehren wecken und schärfen wollte, benutzen."22 Gerade solche Formulierungen wie: „Alles überläßt er unserm eigenen Nachdenken und unserer eigenen Untersuchung. Da sollen wir unseren Verstand gebrauchen", zeigen, wie sehr Friedrich August Ludwig Nietzsche sein eigenes sokratisch-aufklärerisches Verständnis von Pädagogik auf Jesus Christus projiziert. Diese zentrale Interpretation des Bildes Jesu als Lehrer, der uns auffordert, unseren eigenen Verstand zu gebrauchen und der uns daher ein erhebliches Maß an Autonomie zubilligt, ja gerade in dieser Autonomie das Menschenbild fundiert, wird durch eine weitere Textstelle bestätigt: „Hier glaube ich, haben wir große Freyheit. Jesus scheint sie selbst ertheilt zu haben, sonst hätte er sich wenigstens da, wo wir noch manchen Gedanken und noch manchen Begriff fassen konnten, genauer erklärt, oder doch unserer Forschbegierde dadurch Einhalt gethan, daß er uns, wie Johannes in seiner Offenbarung, befohlen hätte, bey den uns bekannt gemachten Lehren weder etwas davon zu thun noch etwas hinzu zu setzen. Diesen Befehl aber hat er uns nicht ertheilt. Er wußte, der
was
tur 20
21 22 23
in dem Menschen Geistes."
unsers
Ebd. Ebd. 48. Ebd. 49. Ebd. 53.
war.
Er kannte die Rechte des Menschenverstandes und die Na-
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Friedrich August Ludwig Nietzsche ist ein Aufsteiger und damit jemand, der dieses System, in das er aufgestiegen ist, eher erhalten als umstürzen will, und den die Obrigkeit deshalb, wie Goch eruierte24, dazu einsetzen kann, die in ihrem Sinne geänderten Verhältnisse zu konsolidieren. Daher ist das Fundament seiner Christologie und damit auch seiner Anthropologie historisch gesehen wert-konservativ. Sein Menschenbild ist geprägt durch das Sein in der Sünde als anthropologische Grundkonstante. Damit korrespondiert sein Christasbild, das durch seine Doppelnatur dem Menschen die Erlösung aus diesem Status ermöglicht. Durch dieses altkirchliche Bekenntnis distanziert er sich von den Intellektuellen, deren Theologie von der Aufklärung infiziert ist. Er beanstandet: „Jesum, den großen und nie ohne Ehrfurcht zu nennenden Stifter des Christentums, setzt man zu einem bloß gewöhnlichen und alltäglichen Menschen herab, der zwar einen moralischeren Charakter als Konfuzius, Sokrates etc. hat und auch weiser ist. Seine vielumfassenden und nie genug zu schätzenden Verdienste um das ganze Menschengeschlecht würdigt man ebenfalls sehr herab. [...] Sein Leiden und sein Tod sey nicht Mittel zur Vergebung unserer Sünden, sondern nur ein sehr rühmliches Beispiel der Geduld und Standhaftigkeit und Bestätigung, daß das, was er gelehrt habe, wahr sey." Friedrich August Ludwig Nietzsche akzeptiert also die Leugung der Göttlichkeit Jesu nicht, die zu dessen Unfähigkeit führen würde, die Menschen zu erlösen. Die Betonung der hohen Moral Jesu allein reicht für ihn nicht aus, auch wenn sie für ihn ebenfalls einen sehr hohen Stellenwert besitzt. So schreibt er: „Die vortreffliche Lehrart Jesu, die seine Vorsicht und Klugheit im Umgange mit seinen Feinden, die seine menschenfreundliche und äußerst gütige Nachsicht und Schonung gegen Verbrecher in einem ganz unvergleichlichen Glänze zeigt. [...] Wer mit den Schriften der Evangelisten bekannt ist, und Jesum gleichsam Schritt vor Schritt in seinem ganzen Leben und bey allen seinen Handlungen begleitet, der wird auch gewiß überall Begebenheiten, Gespräche und Thaten genug finden, wo Jesus alle jene vortrefflichen Eigenschaften und Tugenden auf gleiche Art und in gleichem Glänze bewies. Die treffenden Gleichnisse, deren er sich so oft bedient; die Art, wie er die Pharisäer und Schriftgelehrten, als seine abgesagtesten Feinde, mehrmals zurechteführt, [...] die Sanftmuth und Schonung, mit der er selbst seinen Verräther behandelt, das alles sind hier einige Beweise davon."26 Diese Quelle hebt den Stellenwert hervor, den die Lebenspraxen für Friedrich August Ludwig Nietzsche besitzen, und der sich in der von Fürsorge und Milde bestimmten Haltung gegenüber dem Gesellschaftsgeschehen zeigt. Die Aspekte, die Friedrich August Ludwig Nietzsche bei seiner eigenen Lebensgestaltang relevant sind, hebt er bei Jesus Christas hervor oder interpretiert sie in ihn hinein, wie z. B. das starke pädagogische Moment. Sprachlich sind seine Texte der apollinischen Sphäre zuzuordnen; es überwiegen Begriffe wie Vernunft, Verstand, Forscherbegierde, Lehre, Licht. Durch die Leidenschaft des Vortrags ist aber im Hintergrund auch durchaus ein dionysisches Element spürbar. Jesus Christas selbst interessiert Friedrich August Ludwig Nietzsche vor allem in der Rolle des autonomen Erwachsenen, der souverän seine 24 5
26
Klaus Goch, Nietzsches Vater, 49. Friedrich Friedrich August Ludwig Nietzsche, Gamaliel, 5f. Ebd. 23f
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eigenen Entscheidungen fällt. wußtsein dagegen zurück. 3. Die Die
Die Rolle
von
Jesus Christus als Sohn tritt in seinem Be-
mystisch-symbiotische Verschmelzung: Christologie von Carl Ludwig Nietzsche
Ganz anders sieht das Bild bei seinem Sohn Carl Ludwig Nietzsche aus, für den die Sohnesrolle die eigene Lebensrolle verkörperte. Klaus Goch weist diese Position in der Biographie: Nietzsches Vater oder Die Katastrophe des deutschen Protestantismus vor allem anhand von Briefen, Zeitzeugnissen und Predigten nach. 27 Als Friedrich August Ludwig Nietzsche starb, war sein einziger Sohn der zweiten Ehe, Carl Ludwig, erst zwölf Jahre alt. Er übernimmt die Aufgabe, für das Wohlergehen der Mutter zu sorgen, ihr Jeden Wunsch von den Augen abzulesen" also einerseits den Vater zu ersetzen und Partnerersatz zu sein, anderseits aber der einzigen wichtigen Bezugsperson ein gehorsamer Sohn zu sein, „der sein ganzes irdisches Dasein der Mutter als Opfer Nach Goch ist es auffällig, „daß die Mutter Erdmuthe Nietzsche diese Idolatrie des Sohnes keineswegs einschränkt"30, sondern ihn vielmehr darin bestärkt. Sie mißbraucht den Sohn also in ödipaler Weise, um die Witweneinsamkeit zu lindern. In zunehmendem Maße verlangt sie von Carl Ludwig immer hingebungsvollere Emotionen, verweigert ihm aber gleichzeitig emotionale Sicherheit. Dadurch eröffnet sie einen weiten Raum für ihre mütterlichen Dominanz-Gelüste, „so daß der Eindruck entsteht, der Schüler Ludwig Nietzsche handle immer nur gleichsam als eine Marionette, die an unsichtbaren Fäden gelenkt und gezogen wird". Noch als Mann wird Carl Ludwig in seinen Handlungen durch die Angst vor dem Verlust ihrer Liebe bestimmt. So zögert er, das Angebot anzunehmen, an den Altenburger Hof als ein theologischer Erzieher der Prinzessinnen zu gehen, da er befürchtet, damit gegen den Lebensplan zu verstoßen, den die Mutter ihm verordnet hatte, und dem nämlich Pfarrer in Eilenburg er als gehorsamer Sohn bislang stets treu geblieben war zu werden. Wäre Carl Ludwig Nietzsche ein Katholik gewesen, hätten sich sicher interessante Betrachtungen hinsichtlich seines Marienbildes eröffnet, seiner Projektion auf die göttliche Mutter. Im protestantischen Raum bleibt ihm nur die Sohnesprojektion der männlichen Linie. Nur in einem Punkt löst sich Carl Ludwig Nietzsche als junger Erwachsener von der Sohnesrolle. Zugunsten einer neuen Vaterprojektion auf den berühmten Berliner Kanzelredner Couard wendet er sich nämlich vom theologischen Standpunkt seines toten ,
darbringt"29.
,
28
29 30 31 32
Geboren am 10. Oktober 1813 in Eilenburg. Klaus Goch, Nietzsches Vater, 59. Ebd. Ebd. 60. Ebd. 133. Ebd. 280.
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Vaters ab. Damit verläßt er das Christusbild der Rationalisten und wendet sich dem Lager der Orthodoxen und Supematuralisten zu. In der Identifikation mit der Sohnesrolle Jesu fühlt sich auch Carl Ludwig Nietzsche als der gesandte Sohn, der Stellvertreter seines Vaters auf Erden. So lautet der programmatische Titel der Predigt für die zweite theologische Prüfung: „Der Vater hat den Sohn gesandt [...] Zum Heil der Welt [...] es ist allerdings ein Heilsgeschehen, daß mit dem menschlichen Verstände oder irgendeiner philosophischen Vernunft nicht begriffen werden kann, denn ,diese Sohnes-Sendung' [ist] ein Geheimniß [...]. Gott hat seinen Sohn gesandt und für uns alle dahingegeben, [...] in dem nun auch dieser eine, der da ohne Sünde war, dennoch die Strafe der Sünde tragen und für die Sünde der Welt als das unschuldige Lamm Gottes am Kreuze sterben mußte. [...] Deshalb thun [...] die Weisen dieser Welt Unrecht, wenn sie die heilige Geschichte unseres Herrn zu eitel Fabel und Mährlein herabwürdigen [...]." Für Carl Ludwig Nietzsche gibt es keinen Zweifel daran, daß Jesus Christus Gottes Sohn war. Dieser Sohn stellte genauso wie er selbst, eventuelle eigene Lebenswünsche zugunsten seiner Sendung zurück. Während Christus in seiner von ihm geforderten Selbst-Aufgabe durch das Kreuz für das Heil der ganzen Welt sorgen muß, reduziert sich für Carl Ludwig diese Selbst-Aufgabe in der Fürsorge für die Mutter, die Schwestern und die verwahrloste Gemeinde in Röcken, die er wieder in strenge kirchliche Bahnen zurückführt. Auch mit dem leidenden Christas identifizierte er sich aufgmnd seiner eigenen Schmerzen, die er schon in jungen Jahren erdulden mußte, und die ihn als Schüler durch die Begleiterscheinungen, wie das Tragen eines Stützkorsetts, stigmatisierten. Durch die projektive Umorientierung der irdischen Vatergestalt gewann aber Carl Ludwig Nietzsche einen größeren Freiraum bei der Anpassung an seine eigenen emotionalen Bedürfnisse, vor allem bei der theologischen Ausgestaltang seiner Christologie. So konnte er die für ihn unbefriedigenden Erklärungsmuster der rationalen Theologie, die sein Vater präferierte, durch einen übernatürlichen, mythisch-religiösen supranataralistischen Bezugsrahmen ersetzen. Dabei ging er im Gegensatz zu seinem Vater davon aus, daß sich das zentrale Axiom des Christentums, das Heilsgeschehen, bei der Erlösung des Menschen, nicht mit fortschreitendem Erkenntnisstand rational aufklären würde. Rein stmkturell läßt sich für Carl Ludwig Nietzsche dieses Heilsgeschehen nämlich gar nicht mit der menschlichen Erkenntnis ergründen. Deshalb predigt er „von der großen Gnade Gottes, die sich allein in Jesus Christas zeigt, an dessen Botschaft jedoch alle menschliche Vernunft zuschanden werden muß"34. Konsistenterweise verläßt Carl Ludwig Nietzsche nicht nur bei den Argumentationsperspektiven die vernunftgemäßen Bahnen, sondern auch bei der Wahl seiner Begriffe. An relevanter Stelle steht jetzt der mythisch aufgeladene Terminus „Geheimnis". Attributive Deskriptionen wie „heilige Geschichte" oder das symbolträchtige „Lamm Gottes" betonen den mythischen Charakter seiner christologischen Auffassung. Die Funktion eines solchen Strukturwandels analysiert Ernst Cassirer. Cassirer weist darauf hin, daß das aufklärerische Denken in Krisenzeiten vom mythischen Denken abgelöst wird. -
Ebd. 301 f. Ebd. 276.
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Im Mythus organisiert der Mensch neben seinen unerfüllten Sehnsüchten und Hoffnungen auch seine Urangst. Diese allerdings nicht direkt, sondern durch die Metamorphose
seiner Furcht.35 Eine wichtige Rolle spielt dabei das soziale Element, das über das Band der Sympathie konstruiert wird. Die tief verwurzelte Angst vor Verlassenheit, Verlassen werden, Einsamkeit, Sinnlosigkeit und Tod wird im Christentum in der Metamorphose einer persönlich bezogenen Opferhandlung aufgefangen, die zur Überwindung des Todes in einer unendlichen, unauflösbaren Gemeinschaft führt. So dominiert dieses soziale Element des mystisch ersehnten, unauflösbaren NaheSein als Lebensziel vor allem das Ende der Examenspredigt: „[...] nun so wollen wir warten, bis wir uns im himmlischen Vaterhause wiedersehen und dort zu Jesu Füßen sitzen und seine Rede hören!"36 Das akzeptierte Wahrgenommenwerden, die liebevolle Nähe und der befriedigende Austausch werden in die Transzendenz verlagert. Diese thematisierte Nähe wird in einer anderen Predigt zu einem personellen Ineinanderfließen, einem unauflösbaren Eins-Sein potenziert. Als Ideal verschmelzen die beiden Protagonisten und gehen ineinander über wie in der Predigt über Martha und Maria. Nicht die für das irdische Wohl sorgende Martha wird gelobt, sondern die in Distanz zur Welt lebende Maria, die nur die Einheit, das Eins-Sein mit Christus anstrebt. Der Skopus der Predigt, mit der Carl Ludwig Nietzsche am 12. Januar 1836 einen Predigtwettbewerb der theologischen Fakultät in Halle gewann, lautet: „Eins ist uns Noth! Die höhere Lebensgemeinschaft mit Christo, in diese können wir heute noch treten, sie ist nicht an Ort und Zeit gebunden, es gehört aber dazu, daß wir [...] leben in dem Herrn, daß wir eng verbunden sind mit ihm, er der Weinstock, wir die Reben, daß wir lieb haben seine Erscheinung, daß wir nur denken an ihn, daß wir Alles Andere vergessen über ihn, daß wir verlangen nur nach ihm! Dann bleiben wir immer bei ihm und wollen immer nur zu seinen Füßen sitzen und seiner Rede zuhören; dann begleitet er uns überall und immerdar überall, im Hause Gottes, wie im stillen Kämmerlein, wie auf dem Markt des Lebens fühlen wir seine Nähe, immerdar am Tag der Freude, wie in der Nacht des Kummers, im Vollgenuß des Lebens, wie im Angesicht des Todes ertönt dann von uns das Bekenntnis: ,so lebe denn nicht ich, sondern Christus lebt in mir!' Dann wollen wir nichts Anderes, als was er will, dann verlassen wir Alles und folgen ihm nur nach, dann thun wir gerade Alles das, worin er uns ein Vorbild gelassen hat!"3 Ähnliches Vokabular, das die Sehnsucht nach Verschmelzung, Selbstaufgabe, SichSelbst-Auflösen in einem übermächtigen anderen Ich, zum Ausdruck bringt, findet sich auch in weiteren Predigten. So tauchen häufig Versatzstücke auf wie: es muß „uns zu unserem Herrn und Heiland drängen" wir müssen „uns im Glauben an ihn halten"39 oder wir müssen „mit ihm in heilige Gemeinschaft treten"40. -
-
,
Cassirer, Der Mythus des Staates. furt/M. 1994,60. Klaus Goch, Nietzsches Vater, 303. Ebd. 249. Ebd. 277. Ernst
Ebd. Ebd.
Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens,
Frank-
Eva Marsal
140 Trotz seiner
symbiotischen
Phantasien ist sich Carl
Ludwig
Nietzsche darüber im
Klaren, daß er ein schwacher Mensch ist. Seine tiefliegenden Selbstzweifel und Ängste sind ihm bewußt, büßen aber durch seinen Christasglauben etwas von ihrer zerstörerischen Energie ein. Er räsoniert: „Denke ich an den beruhigenden Christusglauben, daß der Herr auch in dem Schwachen mächtig ist, so ist mir zwar immer noch bange, aber ich verzage doch nicht [...]." ' Damit unterscheiden sich die zentralen Elemente der Christologie des Großvaters und des Vaters von Nietzsche folgendermaßen: Während für den Großvater Friedrich August Ludwig Nietzsche die Projektionsmuster Autonomie und Intellektaalität die wesentlichen Skopen seiner Christologie und seines persönlichen Lebens sind, sucht der Vater Carl Ludwig Nietzsche die mystisch-symbiotische Verschmelzung mit dem Gottessohn. Darin enthüllt sich die latente Schwäche seiner Identität4 die biographisch durch die mißlungene emotionale Entwicklung entstanden ist. ,
4. Der
entgöttlichte Christus: Die Christologie von Friedrich Nietzsche
Friedrich Nietzsche hatte ähnliche Lebensbedingungen wie sein Vater. Auch der kleine Fritz verlor seinen Vater als Kind, sogar noch früher als dieser, nämlich bereits im 5. Lebensjahr und unter wesentlich traumatischeren Begleitumständen. Auch er war einem hohen familiären Erwartangsdruck ausgesetzt, ebenso wie dem allgemeinen sozialen Druck, der auf protestantischen Pfarrhäusern lastete. Auch er hatte eine stark reglementierende, emotional unbefriedigende Mutter. Auch er war von Jugend an durch Krankheiten, vor allem Kopfschmerzen, und psychisches Leiden stark beeinträchtigt. Aber Nietzsche verarbeitete diese biographischen Daten aufgrund seiner hohen Intelligenz und Dispositionen anders als sein Vater. Er zog sich auf die eigene Person zurück und erreichte dadurch eine Autonomie, die sich als unangepaßte Individualität äußerte und in Projektionsmustem niederschlug, an deren Spitze die „Umwertung der Werte" stand. Strukturell bestand auch zunächst für Nietzsche eine Wechselwirkung zwischen seinen persönlichen Lebenssätzen und seiner Christologie bei der Wahrnehmung dieser Muster. Bereits in früher Jugend mußte er bei seinem Bibelstudium auf die häufigen Jesus-Worte gestoßen sein, die mit dem Ausruf: „Ich aber sage Euch [...]" eingeleitet werden. Im Neuen Testament wird Jesus Christas nämlich als die Entität eingeführt, die alte theologische und anthropologische Werte umwandelt. So verändert Jesus Christas zum einen das alttestamentliche Gottesbild des strengen, eifersüchtigen, rachedurstigen und strafenden Gottes zugunsten eines gütigen, liebevollen, vergebenden Vaters, zum anderen verschiebt er anthropologische Korrelationen. Jetzt werden nicht mehr die intelligenten Menschen präferiert, sondern diejenigen, die sich am unteren Ende der Leistangsskala befinden. Dieses Menschenbild, das Nietzsche in Beziehung zur Französischen Revolution setzt, verurteilt er mit der Gedankenskizze: Fortsetzung des Christentums durch die Französische Revolution. Das Ebd. 280. Erik H. Erikson, „Das Problem der Frankfurt/M., 1973.
Ich-Identität", 123-122; in: ders.,
Identität und
Lebenszyklus,
Wen löst Dionysos ab?
141
,das Glück aller' ein erstrebenswertes Ziel sei (d. h. das Himmelreich Christi). Wir sind auf dem besten Wege: das Himmelreich der Armen des Geistes hat Oder auch: „Christus [...] förderte die Verdummung der Menschen, stellte sich auf die Seite der geistig Armen und hielt die Erzeugung des größten Intellekts auf: und dies war kon-
begonnen."43
sequent."
Auf den ersterwähnten Aspekt, nämlich den der Konstruktion eines neuen Gottesbildes, geht Nietzsche in Form eines lyrischen Aphorismus ein: „Nie hat sich der Zorn zu so düsterer Majestät und solchem Reichthum erhabener Nuancen entfaltet als bei den Juden. Was ist ein zürnender Zeus gegen einen zürnenden Jehova! [...] Und mitunter brach durch diese Gewitterwolke ein Strahl väterlicher Güte und in einer solchen Landschaft hat Christus seinen Regenbogen, seine Himmelsleiter des Gottes zum Menschen geträumt." Durch die Gegenüberstellung von Zeus und Jehova wird der monotheistische Anspruch der Christen aufgehoben und damit ihre Botschaft, die einzige Institution zu sein, die Erlösung bewirken kann. In der vergleichenden Bewertung der Gottheiten nimmt Jehova einen wesentlich düsteren, gefährlicheren Rang ein als Zeus. Um so erstaunlicher ist Jahwes Umgestaltangsprozeß, der als eine Projektion Christi, als ein Traum, gedeutet wird. Damit ist für Nietzsche weder der jüdisch-christliche Gott eine transzendente Entität noch Christas sein göttlicher Sohn und der Heilsbringer für die Menschen. Nietzsche interpretiert Christus also wissenschaftstheoretisch als Konstrukteur, der das Konstrukt Gott als liebender Vater entwirft und damit ein neues Weltbild. Die Christologie Nietzsches bildet also nicht wie die seines Vater und Großvaters transzendente Mysterien und für real gehaltene Geschehnisse ab. Wie wenig Nietzsche von der Erlöser-Mythologie hielt, zeigt deutlich die spöttische Bemerkung: „Christas soll die Welt erlöst haben. Es muß ihm wohl mißrathen sein?"46 oder die kognitive Aushebelung des gesamten Heilsgeschehens: „Um von den Sünden zu erlösen, empfahl man früher den Glauben an Jesus Christas. Jetzt aber sage ich: das Mittel ist: glaubet nicht an die Sünde! Diese Kur ist radikaler. Die frühere wollte einen Wahn durch einen anderen erträglich machen." Mit der Formulierung ,jetzt aber sage ich" orientiert sich Nietzsche semantisch an seinem genealogisch ersten Vorbild eines „Umwerthers" der Werte, ja er identifiziert sich sogar teilweise mit ihm. So erinnert die Charakterisierung des zwölfjährigen Jesus an „Zeugniss über den frühen Ernst. Christas als Knabe unter den die eigene Selbstpräsentation als ernstes Kind in seinen Noch in Jenseits von Gut und Böse gibt es Anklänge an eigene Identifikationen. So weckt die hymnische Zeile „er bleibe uns in allen Zeiten heilig und verehrenswerth, als -
Schriftgelehrten".48 Jugendbiographien49.
KSA 11,61. KSA 2, 197. KSA 9, 403. KSA 8, 508. KSA 9, 188. KSA 8, 506. BAW 1, lf. BAW l,282f.
Eva Marsal
142
der Mensch, der am höchsten geflogen und am schönsten sich verirrt hat" Assoziatiosl Gedicht von der Lerche S? die zur Sonne fliegt und nen an das selbstrepräsentative dabei zugrunde geht. Sogar im Werk Der Antichrist versieht Nietzsche Christus mit einem Attribut, das einen hohen Selbstbeschreibungsgrad für ihn besitzt: „Man könnte, mit einiger Toleranz im Ausdruck, Jesus einen ,freien' Geist nennen." Die Begründung dafür erfolgt etwas später: „Jesus [...] hat jede Kluft zwischen Gott und Mensch geleugnet, er lebte diese Einheit von Gott und Mensch als seine ,frohe Botschaft' [...] Und nicht als Vorrecht!"54 Für Jesus von Nazareth selbst, den Nietzsche für einen historischen Menschen hielt, empfand er also durchaus Sympathie, und gesteht ihm auch das „wärmste Herz"55 zu, aber keine Weisheit. Beides ist für Nietzsche nicht vereinbar. So vermerkt er im ersten Band der Schrift Menschliches, Allzumenschliches, Spruch (235): „Die höchste Intelligenz und das wärmste Herz können nicht in einer Person beisammen sein."56 Wie bereits erwähnt, hält Nietzsche Jesus Christus nicht für einen Gottessohn und Retter. So entfaltet er in Der Antichrist: „Ich kehre zurück und erzähle die echte Geschichte des Christentums. Das Wort schon ,Christentum' ist ein Mißverständnis, im Grunde gab es nur einen Christen, und der starb am Kreuz. [...] Das [...] ,Evangelium' war bereits der Gegensatz dessen, was er gelebt hat: eine schlimme Botschaft, ein Dysangelium. [...] Bloß die christliche Praktik, ein Leben so wie der, der am Kreuz starb, [...] ist christlich."57 Die Erlöser-Mythologie, die Nietzsche hauptsächlich auf Paulus, „das Genie im Hass" zurückführt, entsetzt ihn. Nietzsche hält die Erlöser-Mythologie für barbarisch, wie der Reflexionsfortgang in seinem Werk Der Antichrist zeigt: „- Und von nun an tauchte ein absurdes Problem auf: ,wie konnte Gott das zulassen!' Darauffand die gestörte Vernunft der kleinen Gemeinschaft eine geradezu schrecklich absurde Antwort: Gott gab seinen Sohn zur Vergebung der Sünden, als Opfer. Wie war es mit einem Male zu Ende mit dem Evangelium! Das Schuldopfer, und zwar in seiner widerlichsten, barbarischsten Form, das Opfer des Unschuldigen für die Sünden der Schuldigen! Welches schauderhafte Heidentum!"59 Diese Verurteilung der christlichen Zentralbotschaft und des damit verbundenen Gottesbildes, teilt er mit David Friedrich Strauß, der in seiner Schrift: Der alte und der neue Glaube festhält: „Man muß sich wundern, wie eine solche Vorstellung, die gleicherweise ,
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KSA 5, 79. Hermann Josef Schmidt, Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. Kindheit Teil 1/2 Zugänge und Entwicklung, Berlin/Aschaffenburg 1991, 354. BAW 1,433. KSA 6, 204. KSA 6, 215. KSA 2, 197. Ebd. KSA 6, 211. KSA 6, 215.
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Vernunft wie Rechtsgefühl empört, die Gott aus einem anbetangs- und liebenswerthen zum entsetzlichen und abscheulichen Wesen macht" sich durchsetzen konnte. Nietzsche mißbilligte die Theologie von Kreuz und Auferstehung aber nicht erst als Erwachsener, sondern bereits in seiner späten Jugend, wie das Spottgedicht Vor dem Crucifix demonstriert. Im eben zitierten Werk Der Antichrist, das Nietzsche 1888, einige Monate vor seinem geistigen Zusammenbruch geschrieben hat, setzt er sich am ausführlichsten mit der Person Jesu auseinander. Hier, im Spätwerk, dem Nietzsche zeitweise den Untertitel Umwerthung aller Werthe gab, analysiert er in einem großen explanativen Entwurf die Entwicklung des Christentums als eine nihilistische, dem Leben abgewandte, das Leben vernichtende, zumindest aber schwächende Religion. Der Urheber dieser Religion ist für ihn allerdings nicht Jesus Christus, sondern Paulus, der das Faktum der Kreuzigung theologisch deutete und mit der Auferstehung verknüpfte. Dadurch verlor die auf das Diesseits bezogene Lebensqualität ihren Wert zugunsten einer am Jenseits orientierten Zukunft. Das auf dieser Basis entstandene Christentum verurteilt Nietzsche und hält es für das Gegenteil dessen, was Jesus Christas beabsichtigte. So finden sich im Nachlaß folgende Hinweise: „die Kirche ist exakt das, wogegen Jesus gepredigt hat und wogegen er seine Jünger kämpfen lehrte"62 oder „die Christen haben niemals die Handlungen praktiziert, welche ihnen Jesus vorgeschrieben hat" Zu Jesus von Nazareth selbst hat Nietzsche eine wesentlich komplexere Einstellung, die ihren Niederschlag in der viel beachteten Psychologie des Erlösers findet, einem zentralen Teil des Werkes Der Antichrist. Zunächst geht Nietzsche hier mit der Verurteilung der Erlöser-Mythologie einen Schritt hinter die von Paulus und der Gemeinde entwickelten Theologismen zurück und setzt beim Leben Jesu an. Genau wie sein Großvater focussiert Nietzsche die Lebenspraxen. Das Leben, das Jesus führte, war für ihn im ursprünglichen Sinne christlich, also vorbildlich, und zwar als „ein Tun, ein Vieles-w'c/zMun vor allem, ein anderes Sein" Der Wert des Lebens Jesu wird aber mit seinem Tod, mit der Kreuzigung, in Frage gestellt und nötigte die Jünger zu der Reflexion: Wer war der Feind Jesu? Wer wollte ihn töten und wamm wollte man ihn töten? Mit der Antwort, die sich die Jünger gaben: „Der höchste Stand des herrschenden Judentums wollte Jesus Christas töten", empfanden sie sich im Aufruhr gegen die Ordnung und „hinterdrein Jesus als im Aufruhr gegen die Ordnung. Bis dahin fehlte dieser kriegerische, dieser Nein-sagende, Nein-taende Zug in seinem Bilde; mehr noch, er war dessen Widerspruch. Offenbar hatte die kleine Gemeinde gerade die Hauptsache nicht verstanden, das Vorbildliche dieser Art zu sterben, die Freiheit, die Überlegenheit über jedes Gefühl von ressentiment."65 Damit wur-
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David Friedrich Strauß, Der alte und der neue Glaube, 3.Aufl„ Leipzig 1872, 23f. BAW 2, 187-189. Aus dem Nachlaß der achtziger Jahre, in: Karl Schechta (Hg.), Friedrich Nietzsche, Werke in drei Banden, Darmstadt 1997, Werk III, 657. KSA 13,95. KSA 6, 211. KSA 6, 213.
Eva Marsal
144
Nietzsche konstruierte Evangelium Jesu aufgehoben, das „das Dasein, das die Erfülltsein, Wirklichkeit"66, das Reich Gottes gewesen ist, ebenso wie die Botschaft daß und Jesu, jede jeder ein Kind Gottes sei. Mit der paulinischen Interpretation des Kreuzes war also das Weltbild Jesu zerstört, in dem Jesus ein tatsächliches Glück auf Erden herstellen wollte, nicht nur ein „bloß verheißenes Glück"67. Nietzsche parallelisiert dieses Anliegen Jesu mit dem einer buddhistischen Friedensbewegung Inhaltlich ist die Figur des Jesus von Nazereth in der Psychologie des Erlösers an den Aussagen der Evangelisten orientiert. Nietzsche bewegt sich allerdings nicht nur auf dieser Stufe. Er radikalisiert den Werteumwandler in seinem Sinne und projiziert auf Christus sein eigenes Anliegen, der Vernichter der herrschenden Moral zu sein. Ich zitiere aus dem Nachlaß: „Jesus von Nazareth liebte die Bösen, aber nicht die Guten: der Anblick von deren moralischer Entrüstung brachte selbst ihn zum Fluchen. Überall wo gerichtet wurde, nahm er Partei gegen die Richtenden: er wollte der Vernichter der Moral sein."6 Interpretiert man diesen Text im Zusammenhang mit den Argumentationssträngen, die Friedrich Nietzsche in der Genealogie der Moral entwickelte, so wird klar, daß er hier den Sklavenaufstand der Moral im Auge hat. Die Bösen, denen die Schwachen, die Unterdrückten, die Christen mit moralischer Entrüstung begegnen und sie als schlecht abstempeln, waren die ursprünglich Guten, Adligen, Edlen, die Starken, die Griechen, die ihren eigenen Gesetzen folgten. Hier identifiziert Friedrich Nietzsche Jesus mit seiner eigenen Position, denn genauso wie er liebt sein hier zitierter Jesus diese starken Menschen, die sich selbst überwinden und nach ihren eigenen Gesetzen leben und die deshalb die im christlichen Sinne bösen sind. Der gleiche Gedanke wird in Jenseits von Gut und Böse durchgespielt: „Jesus sagte zu den Juden: ,das Gesetz war für die Knechte, liebt Gott, wie ich ihn liebe, als sein Sohn! Was geht uns Söhne Gottes die Moral an!'"70 und in allgemeinerer Form, die eine größere Zielgruppe anspricht, in einem Zitat von 1882, das im Nachlaß zu finden ist: „Jesus sagte zu den Menschen: ,liebt Gott, wie ich ihn liebe, als sein Sohn: was geht uns Söhne Gottes die Moral an!'"71 Diese Parallelisierung mit Christas ist allerdings kein durchgängiges Element seiner Einstellung gegenüber Jesus Christus. So hatte Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft zwar durchaus noch eine Struktarparallelität zwischen sich und Jesus in der Funktion des Religionsstifters erkennen können, dessen eigentliche Erfindung in der Interpretation des Lebens liegt, aber bei den Inhalten trennen sich hier die Wege. Das zeigt die folgende Erläuterung: „Jesu [...] zum Beispiel fand das Leben der kleinen Leute in der römischen Provinz vor, ein bescheidenes tugendhaftes gedrücktes Leben: de das
von
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66
67
68 69
70 71
KSA KSA Ebd. KSA KSA KSA
6, 214. 6, 215.
10,61. 5, 101. 10,61.
Wen löst Dionysos ab?
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legte es aus, legte den höchsten Sinn und Werth hinein und damit den Muht, jede andere Art von Leben zu verachten." Schon die Geringschätzung des jugendlichen Fritz für die Naumburger Tugend deutet darauf hin, was Nietzsche von den Werten der kleinen Leute hielt. Während hier aber die Distanzierung zu den Inhalten der Botschaft Jesu noch recht moderat vorgetragen wird, steigert Nietzsche die Ablehnung in einem späteren Zitat des Nachlasses. Im Gegensatz zu der Aussage der Genealogie, in der Jesus von den ressentimentgeladenen Juden als Köder mißbraucht wird, führt Nietzsche hier Jesus Christas als Urheber des Sklavenaufstands ein: „Ich liebe es durchaus nicht an jenem Jesus von Nazareth"73 daß er den „kleinen Leuten so viel in den Kopfgesetzt" hat „als ob es etwas auf sich habe mit ihren bescheidenen Tugenden. Man hat es zu theuer bezahlen müssen: denn sie haben die wertvollen Qualitäten [...] in Verruf gebracht, das Selbstgefühl der vornehmen Seele [...] die tapferen, großmüthigen, verwegenen, expressiven Neigungen der starken Seele irregeleitet, bis zur Selbstzerstörung". Aus dieser Position der Ablehnung heraus interpretiert Nietzsche die Kreuzigung als folgerichtige und auch für ihn berechtigte Konsequenz eines verurteilungswürdigen Handelns. So schreibt er gegen Ende des Werkes Der Antichrist: „Dieser heilige Anarchist, der das niedrige Volk, die Ausgestoßnen und ,Sünder', die Tschandala innerhalb des Judentums zum Widerspruch gegen die herrschende Ordnung aufrief mit einer Sprache, falls den Evangelien zu trauen wäre, die auch heute noch nach Sibirien führen würde, war er ein politischer Verbrecher, so weit eben politische Verbrecher in einer absurd-unpolitischen Gemeinschaft möglich waren. Dies brachte ihn ans Kreuz: der Beweis dafür ist die Aufschrift des Kreuzes. Er starb für seine Schuld es fehlt jeder Grund dafür, [...] daß er für die Schuld anderer starb." Durch die konträr vertretenen inhaltlichen Perspektiven verkehrt sich also die ursprünglich positive Bedeutung von Jesus Christas als Umwerter der Werte ins Gegenteil. Damit verliert Christas für Nietzsche die Potenz, eine machtvolle Identifikationsperson und ein positiver Projektionsträger zu sein. Jesus Christas wird durch eine neue, im Sinne Nietzsches kraftvollere Orientierungsfigur ergänzt: durch Dionysos. Dieser Prozeß wird in dem Gedicht Der Spiegel: Eine Gelegenheit zur Selbst-Bespiegelung für er
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Europäer nachvollzogen.
„Die Moral in Europa
Die Zucht des Willens Von der Rangordnung Christus und Dionysos
f...]."77
Nietzsche zog aus seinen biographischen Bedingungen die Konsequenz, daß die christliche Lebensform im weitesten Sinne lebensfeindlich ist und durch eine andere Moral KSA 3, 589. KSA 12, 506. Ebd. Ebd. KSA 6, 198. KSA 11,691.
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abgelöst werden müsse. Der Sinn der Umwertung der Werte, der Veränderung der Moral liegt für Nietzsche also darin, dem Leben, der Wirklichkeit, gegenüber der Metaphysik wieder seine Mittelpunktstellung zu verschaffen. Dabei konnte er sich projektiv auf das Konstrukt seiner Jesus-Figur beziehen. Die Grenze dieser Projektionen wurde dann aber durch die Botschaft Jesu gezogen, daß Jesus Christas nicht den Übermenschen anstrebte, sondern gerade dem schwachen, kranken und armseligen Menschen einen Wert in ihrem So-Sein vermitteln wollte. Damit war Jesus Christus zwar als Anreger für den Prozeß der Umwertung geeignet, auch als jemand, der tiefe positive bzw. negative Emotionen hervorrufen konnte, versagte aber für Nietzsche als Impulsgeber bei inhaltlichen Orientierungen. In dieser Hinsicht fand Nietzsche die Griechen wesentlich attraktiver.
5. Schlußbetrachtung
gleiche Objektseite, die tradierte Christologie, regte die Nietzsche-Dynastie aufgrund der unterschiedlichen psychischen Dispositionen und Lebensdaten zu erheblich voneinander abweichenden Projektionsmustern an: Der Großvater Friedrich August Ludwig Nietzsche projiziert auf Jesus Christas sein gesellschaftlich-pädagogisches Engagement und seine erkenntnistheoretischen Bedürfnisse, der Vater Carl Ludwig Nietzsche die tiefe Sehnsucht nach emotionaler Geborgenheit und Friedrich Nietzsche den intensiv empfundenen Drang, durch eine Umwertung aller Werte dem Leben zu Die
seinem Recht zu verhelfen.
Johann Figl
„Dionysos und der Gekreuzigte" Nietzsches Identifikation und Konfrontation mit zentralen religiösen ,Figuren'
Bei der Formulierung dieses Titels standen einige Äußerungen Nietzsches vor meinem Auge, in denen er sich in gewisser Weise mit Jesus bzw. dem Gekreuzigten und anderen religiösen Gestalten „identifiziert", auf die ich im ersten Teil auch eingehen will. Dennoch ist es mir bewußt, daß diese Formulierung eine Provokation ist. Denn wenn sich Nietzsche mit Gestalten der Vergangenheit „identifiziert" hat, dann waren diese nicht in erster Linie als religiöse Persönlichkeiten oder ,Symbole' von Interesse, sondern deren religionskritische Intentionen. Und was die beiden im Tagungsthema genannten ,Figuren' betrifft, so ist nicht zu bezweifeln, daß diese beiden Namen primär die Konfrontation Nietzsches mit dem Gekreuzigten, sein entschieden verneinendes Verhältnis zum Christentum, das mit dem Symbol des Gekreuzigten zugleich auch erfaßt ist, zum Ausdmck bringen und nicht eine Form der Identifikation. Dennoch möchte ich diesen meist psychologisch verstandenen Ausdmck, dessen Bedeutung noch zu klären ist, im Titel belassen. Vor allem nehme ich diesen Ausdmck selbst im Sinne einer Herausforderung dazu auf, Nietzsche nicht nur in der vertrauten Linie des Antagonistischen zu lesen, sondern auch den Versuch zu machen, eine Verbindung von zwei geistigen ,Welten' herzustellen, die für Nietzsche und viele seiner Interpreten ganz und gar getrennt sind, die die Gegensätze schlechthin waren und wofür die Ausdrucksweise „Dionysos gegen den Gekreuzigten" ein Symbol ist und wohl eines der bedeutendsten in den letzten Schriften Nietzsches. Ich möchte gleich zu Beginn sagen, daß es mir ein Anliegen ist, in einer Zeit, wo es zu Recht um interkultarelle Begegnungen geht, um den Dialog verschiedener Kulturen, Weltanschauungen und Religionen, um die wechselseitige fruchtbare Inspiration von europäischen, asiatischen, afrikanischen u. a. Traditionen, daß nun, nachdem im interkulturellen Bereich voreilige Entgegensetzungen überwunden sind, dieser Schritt auch /wwerkulturell, innerhalb der europäischen Kultartradition zu machen ist, und Positionen miteinander in Beziehung gesetzt werden, die anscheinend völlige Gegensätze darstellen, wie atheistische und religiöse, wie nietzscheanisches und christliches Symbolverstehen. Es ist klar, daß es dabei nicht um eine Verkennung der Sachaussage der jeweiligen philosophischen oder religiösen Tradition gehen kann, nicht um eine Uminterpretation oder gar eine Indienststellung für andere als vom Verfasser intendierte Ab-
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Johann Figl
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sichten, sondern vielmehr geht es
um das Aufeinanderbeziehen von unterschiedlichen in demselben Kulturraum entstanden sind und die wenn man sie Perspektiven, die gewissermaßen in ihrer Verbindung und Überlappung liest sich gegenseitig neu zu interpretieren vermögen; es ist ähnlich wie im interkulturellen Philosophieren. Diesem Anliegen entsprechend möchte ich im dritten Teil meines Vortrags die Interpretation von Nietzsches Antithese mit der Absicht durchführen, Wege der Annäherung auf verschiedenen Ebenen zu zeigen es geht mir (wie im Titel, der ebenfalls eine Formulierung Nietzsches ist) um das „und" zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten; zuvor sind im ersten und zweiten Teil die Identifikation bzw. die Konfrontation Nietzsches im Kontext des Leitmotivs der Tagung zu erläutern. -
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1. Nietzsches Identifikation mit historischen Persönlichkeiten
als Identitätssuche Es muß vorweg bemerkt
werden, daß ,Identifikation' primär einen psychologisch releVorgang bezeichnet, in dem es im seelischen Erleben um die Identifizierung mit einer anderen Gestalt bzw. Lehre, Institution etc. geht. Im Unterschied dazu ist der Ausdruck Confrontation' viel weiter; das antagonistische Element umfaßt nicht nur den psychischen Bereich, sondern bezieht sich auf eine philosophische oder existenzielvanten
Gegenposition, wenngleich bei jeder sachlichen Auseinandersetzung auch eine psychologische Dimension impliziert ist. Inwiefern es sich bei diesen Ausdrücken Konfrontation' und Identifikation' um psychische Prozesse, um sachliche Gegensätze bzw. Identifizierungsversuche handelt, kann nur geklärt werden, wenn der Unterschied von Sachaussage und biographischem Erlebnis beachtet wird. Dies scheint mir wichtig zu sein, wenngleich das Verhältnis dieser beiden Dimensionen, der biographischen und der im Werk sich äußernden sachlichen, bei Nietzsche in einer spezifischen Weise bestimmt ist und entsprechend ausgelegt werden muß. Diese Differenz gilt es auch bei Nietzsches Identifikationen mit historischen Persönlichkeiten zu beachten. Bei meiner Darstellung will ich von den wohl am schwierigsten zu interpretierenden Notizen Nietzsches ausgehen, von den ,Wahnsinnsbriefen', um in einem weiteren Punkt auf Formulierungen mit einer ähnlichen ,identifikatorischen' Intention aus der Zeit seines geistig bewußten Schreibens einzugehen. le
1.1. Identifikationen als Zeichen des Identitätsverlustes Bemerkungen zu den Wahnsinnszetteln -
Die als sogenannte Wahnsinnsbriefe hinterlassenen Aufzeichnungen Nietzsches aus den Januartagen von 1889 bedürfen einer besonderen psychiatrisch geschulten Interpretation, wie sie Karl Jaspers, der auch Psychiater war, vorgelegt hat, und wie sie Pia Daniela Volz in umfassender Weise auf der Basis der historisch-kritischen Gesamtausgabe des Briefwechsels gegeben hat. Ich möchte daher diese Aufzeichnungen nur zum ersten
„Dionysos und der Gekreuzigte"
149
Ausgangspunkt meiner Überlegungen machen, um dann weiter zum früheren Nietzsches, das er noch in geistiger Integrität geleistet hat, zurückgehen.
Schaffen
,Briefen' bzw. Briefentwürfen sind zwei Fakten im Hinblick auf die hier verfolgte Problemstellung von Interesse: einerseits die Unterschriften, in denen sich Nietzsche als „der Gekreuzigte" oder „Dionysos" bezeichnet; und andererseits der Brief An diesen
3. Januar 1889, wo er von seinen „Inkarnationen" von bedeutenden Gestalten der Geschichte spricht. Nachdem er sich in Turin am 31. Dezember 1888 in einem Briefentwurf an August Strindberg als „Nietzsche Caesar" unterzeichnet hat, folgen vom 1. bis 4. Januar 1889 eine Reihe von .Briefen', wo er achtmal als „der Gekreuzigte" und siebenmal als „Dionysos" unterschrieben hat. Im Brief vom 1. Januar 1889 hat er „Caesar" durchgestrichen, so daß nur noch „Nietzsche Dionysos" stehen geblieben ist.1 Einige dieser Entwürfe sind ohne Unterschrift, bei manchen steht nur „N.", was „Nietzsche", aber auch „Napoleon" bedeuten kann. Bei weitem am häufigsten, aber etwa in gleicher Anzahl sind die beiden Ausdrücke „der Gekreuzigte" und „Dionysos" anzutreffen. Hierin findet eine direkte und offenkundige Identifikation mit diesen beiden Gestalten statt, die freilich schon als Äußerungen des Wahnsinns zu interpretieren sind, wenngleich selbst hier die Grenzen zwischen „Sinn" und „Wahnsinn" schwer festzustellen sind.3 Dennoch bleibt zu beachten, daß in diesen abwechselnden Identifikationen eine Grenzziehung aufgegeben ist, die der geistig bewußte Nietzsche kurze Zeit zuvor, sicher auch bei der Abfassung von Ecce homo ganz klar gezogen hat, und in der er ,Dionysos' und den Gekreuzigten' als Antithese verstanden hat. Diese beiden Gestalten sind nun wechselseitig ersetzbar: damit ist innerhalb der Persönlichkeit Nietzsches ein Identitätsverlust eingetreten. Ebenso kann im Hinblick auf einen Brief vom 3. Januar 1889 er hat an diesem Tag vier Briefentwürfe gemacht gesagt werden, daß „die Vielzahl der in diesem Brief genannten ,Inkarnationen' die Auflösung von Nietzsches Persönlichkeit bezeugen"4. Darin schreibt Nietzsche unter anderem: vom
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„Es ist ein Vorurtheil, daß ich ein Mensch bin. Aber ich habe schon oft unter den Menschen gelebt und kenne Alles, was Menschen erleben können, vom Niedrigsten bis zum Höchsten. Ich bin unter Indern Buddha, in Griechenland Dionysos gewesen, Alexander und Caesar sind meine Inkarnationen, insgleichen der Dichter des Shakespeare Lord Bakon. Zuletzt war ich -
noch Voltaire und Napoleon, vielleicht auch Richard Wagner [...] Dies Mal aber komme ich als der siegreiche Dionysos, der die Erde zu einem Festtag machen wird [...] Nicht daß ich viel Zeit hätte [...] Die Himmel freuen sich, daß ich da bin [...] Ich habe auch am Kreuze gehangen [...]" (Briefe von Nietzsche. An Cosima Wagner in Bayreuth, Turin, 3. Januar 1889, KSB 8,572)
Auch hierin besonders im letzten Satz „Ich habe auch am Kreuze gehangen." eine unmittelbare, eine pathologische Identifikation mit Christus anzutreffen.
ist
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Vgl. Analecto Verrecchia, Zarathustras Ende. Die Katastrophe Nietzsches in Turin, Wien/Köln/ Graz 1986, 385, Anm. 80 zu 227. Vgl. Verrecchia, a. a. O., 385, Anm. 70, der die letztere Hypothese (Napoleon) vorzieht. Vgl. Pia Daniela Volz, a. a. O., 255. P. D. Volz, a. a. O., 255.
Johann Figl
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Ich möchte noch die anderen Sätze hervorheben: „Ich bin unter Indern Buddha, in Griechenland Dionysos gewesen [...]", und: daß er als der „siegreiche Dionysos" kommt. Auf diese drei religiösen Gestalten Buddha, Dionysos, der Gekreuzigte gehe ich bei der abschließenden Interpretation noch näher ein. Ich glaube nicht, daß man die vorstellungsmäßigen und emotionalen Inhalte dieser Briefe völlig von Aussagen zur Zeit seines geistigen Bewußtseins trennen sollte oder auch könnte. In ihrer Studie sagt Pia Daniela Volz zu Recht: „Nietzsches Äußerungen der letzten Turiner Zeit verdienen es, besonders aufmerksam gelesen zu werden, weil in der Phase des Übergangs zum Wahnsinn tief verborgene Bewußtseinsinhalte offenbar werden, auch wenn sie immer noch subtil verschlüsselt und stilisiert sind." Auch der Biograph der Turiner Zeit, Analecto Verrecchia (228), möchte „ganz allgemein darauf hinweisen, daß in Nietzsches Verrücktheit fast die gleichen Motive und Themen in pathologischer Form auftreten, die wir in seinen bei klarem Verstand geschriebenen Werken finden". Und er weist auf einen Aspekt hin, der auch für unsere Überlegungen nicht bedeutungslos ist: „So wird er, der nie aufgehört hat, sich seiner angenommenen polnischen Abkunft zu rühmen, nun geradezu der Beschützer Polens" nämlich in einer Briefnotiz vom 4. Januar 1889, die „den erlauchten Polen" gewidmet ist und wo Nietzsche sagt: „Ich gehöre zu euch, ich bin mehr noch Pole als ich Gott bin [...]"; die Unterschrift lautet hier „der Gekreuzigte" (KGB 8,577). Der Zusammenhang wird klarer, wenn man sich an eine Stelle in Ecce homo erinnert, wo Nietzsche sagt: „Man nennt nicht umsonst die Polen die Franzosen unter den Slawen", wohl um die edle Art dieses Volkes herauszustellen (VI 3,299). Im Wahnsinn sucht Nietzsche seine Identität über die polnische, „adelige" Herkunft, die bei der Ausarbeitung von Ecce homo im Hintergrund stand. Noch interessanter ist in dieser Hinsicht eine Variante, die letztlich nicht im Ecce homo veröffentlicht worden ist, und die den Schluß des zitierten Absatzes, in dem er von den Polen als den Franzosen spricht, bilden sollte. An den Satz, der nun den §2 abschließt, und der lautet: „Ich bin der Antiesel par excellence und damit ein welthistorisches Unthier ich bin auf griechisch, und nicht nur auf griechisch, der Antichrist [...]", ist im Manuskript dazu hinzugefügt: „A parte, Etwas zum Singen, aber bloß für die durchlauchtigsten Ohren des Fürsten Bismarck: / Noch ist Polen nicht verloren, / Denn es lebt Nie[t]zky noch [...]" Dies ist eine individuelle Variante des Polenliedes von Ortlepp (Finis poloniae), worauf auch Verrecchia ausdrücklich hinweist;7 für Nietzsche wird jener Dichter präsent, dem er in der Jugend begegnet ist; er knüpft an das berühmte Lied dieses Dichters an, der selbst dem Wahnsinn nahe war; an ihn erinnert -
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6
A. a. O., 254. Und ebenso weist sie auf Werner Ross hin, der in seiner Nietzsche-Biographie solche Texte der Wahnsinnszeiten heranzieht, „da in ihnen Ideen und Motive deutlich zum Ausdruck kommen, die Nietzsche von Jugend an beschäftigten". Vgl. a. a. O., 256. A. a. O., 228. A. a. O., 228 und 385 Anm. 83. Vgl. näher zu Ortlepp: Hermann Josef Schmidt, Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche, II. Jugend, 2. Teilband 1862-1864, Berlin/Aschaffenburg
1994,702-741.
„Dionysos und der Gekreuzigte
"
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sich Nietzsche kurz vor Ausbruch seines Wahnsinns bzw. noch im Wahnsinn kommt seine Verehrung der Polen zum Ausdmck.8 Diese Wahnsinnsnotizen bringen Aufzeichnungen, die in die Zeit des bewußt denkenden Nietzsche, bis in die Jugend des Philosophen zurückreichen. Vielleicht kann man sagen, daß er mit Ecce homo eine Art „Sinngebung" des ganzen Lebens anstreben wollte, seine Identität angesichts seines Schicksals und seiner Biographie gesucht hat. Er setzt ja dieses Werk in Beziehung zu seinem 44. Geburtstag, und gibt gewissermaßen so einen Rückblick auf sein Leben. Er holt es „heim". Und dabei erinnert er sich auch jener Personen und Gestalten, die ihm früh begegnet sind und für ihn eine mögliche Lebensaltemative dargestellt haben, wie jene Ortlepps, die manchen als gescheiterte, dem Wahnsinn nahe Existenz gegolten hat. Die Überlegung, daß Inhalte der Aufzeichnungen des wahnsinnigen Nietzsche auch in früheren Lebensphasen anzutreffen sind, läßt eine Neuorientierung der Fragestellung zu. Wir können nicht nur von diesen früheren Erlebnissen her die Aussage verschiedener Wahnvorstellungen besser verstehen9, sondern auch von diesen Wahnsinnsaufzeichungen ausgehend fragen, wie und in welcher Weise solche Gedanken und die darin verfolgten Intentionen im bewußten Leben Nietzsches anzutreffen sind. Bei den Unterschriften „der Gekreuzigte" bzw. „Dionysos" scheint dies offenkundig der Fall zu sein, wenn auch in einem völlig verschiedenen Sinn, wie schon angedeutet wurde er hat sie kurz zuvor als Gegensatz und nicht als jeweils mögliche Identifikation verstanden. Aber auch bei dem längeren Zitat hinsichtlich der Inkarnationen finden wir die eine oder andere bemerkenswerte Stelle, an der sich Nietzsche mit bedeutenden Gestalten der Geschichte identifiziert bzw. zu ihnen eine abstammungsmäßige Verbindung herstellt. -
1.2. Suche der eigenen
geistigen Herkunft und deren Erfüllung
wichtige Nachlaßnotiz ist m. E. eine Aufzeichnung aus dem Herbst 1881, die lau„Mein Stolz dagegen ist ,ich habe eine Herkunft' deshalb brauche ich den Ruhm nicht. In dem, was Zarathustra, Moses, Muhamed Jesus Plato Brutus Spinoza Mirabeau bewegte, lebe ich auch schon, und in manchen Dingen kommt in mir erst reif an's Tageslicht, was embryonisch ein paar Jahrtausende brauchte." (KGW V 2, 540:15 [17]) Eine tet:
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1
Nebenbei bemerkt: Montinari fallt es nicht leicht zu begründen, warum er diese Stelle nicht in die endgültige veröffentlichte Fassung aufgenommen hat. Nach den Untersuchungen des französischen Nietzsche-Forschers Pierre Chapromis ist die Fassung mit dem Polenlied „die endgültige, weil Nietzsche sie schon mit dem Hinweis für den Setzer versehen hat" (KSA 14,483). Montinari teilt mit: „in Mp XVI 5 findet sich ein Streifen abgerissenes Papier, auf dem noch einmal die zwei Verse stehen, mit denen die Vorstufe schließt; ohne Zweifel wurde er vom Blatt abgerissen, das die endgültige Fassung dieses Abschnitts enthält. Da man nicht mit letzter Sicherheit sagen kann, wer den Streifen abgerissen habe (ob N selbst oder wahrscheinlicher Peter Gast bzw. Ns Schwester), so darf man dieses Blattfragment nicht in den Text aufnehmen. Das Fragment trug außerdem den Hinweis cursiv für den Drucker. Sonst ist der Text identisch mit dem der Vorstufe." (KSA -
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14,484)
Wie Nietzsches Arzt Ziehen in seinem Lehrbuch der Psychiatrie, 1894, 206, sagt: zitiert nach Volz, 257 mit Anm. 14.
Johann Figl
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Zarathustra steht hier an erster Stelle. Es war die Zeit, wo er kurz zuvor diese Gestalt für sich entdeckt hat und in einer Aufzeichnung aus derselben Zeit (Herbst 1881), in einem anderen Notizheft, heißt es: „Ich habe eine Herkunft das ist der Stolz, entgegengesetzt der cupido gloriae. Es ist mir nicht fremd, daß Zarathustra -" (a. a. O., 488: 12 [79]) Im ersten Zitat wird Jesus genannt, nach den Religionsgründern der beiden, dem Christentum verwandten Religionen, der vorhergehenden, Moses, und der nachfolgenden monotheistischen Religion, Mohammed. Auch im Hinblick auf Jesus sagt Nietzsche: „In ihm lebe ich auch schon und in manchen Dingen kommt in mir erst reif ans Tageslicht, was embryonisch ein paar Jahrtausende brauchte." Nietzsches Selbstverständnis geht hier in die Richtung, daß in ihm Dinge vollendet werden, zu ihrer endgültigen Gestalt gelangen, die in der Kulturgeschichte der Menschheit über Jahrtausende gewissermaßen im Zustand der Schwangerschaft sind. Auf diese Weise findet Nietzsche in den Monaten nach der Inspiration der ewigen Wiederkehr seinen Geschichtsbezug. Das ist für ihn der „historische Sinn". In dieser aristokratischen Aneignung der Vergangenheit versteht er sich wie er am Schluß dieses Fragments ausdrücklich sagt: „Wir sind die ersten Aristokraten in der Geschichte des Geistes der historische Sinn beginnt erst jetzt." Man muß sagen, daß Nietzsche hier gleichsam wie ein Adeliger seine Herkunft sucht, seinen Stammbaum, die Heraldik seiner (geistigen) Abstammung, worauf einige benachbarte, ähnlich klingende Fragmente dieser Zeit hinweisen, wie z. B. am Ende dieses Notizheftes, wo er sagt: „Ich will meine Heraldik und ein Wissen um den ganzen adeligen Stammbaum meines Geistes haben erst die Historie giebt ihn. Ohne dieselbe sind wir Alle Eintagsfliegen und Pöbel: unsere Erinnerung geht bis zum Großvater bei ihm hört die Zeit auf." (A. a. O. 556: 15 [70]) Nietzsche aber will seine Genealogie nicht beim Großvater aufhören lassen, auch nicht in der leiblichen Abstammung er führt diese bis zu polnischen Vorfahren zurück, worauf ich schon kurz zu sprechen gekommen bin. In den soeben zitierten Fragmenten nun geht es um die Identifikation mit großen Gestalten der Vergangenheit es sind unter diesen Gestalten gleich vier (!) Religionsgründer aufgezählt (die Stifter der drei monotheistischen Religionen und Zarathustra): Dies bedeutet wohl auch, daß Momente und Ansätze, die „embryonisch" vorhanden sind, auf einer neuen Stufe der Bewußtwerdung, in der sich ein „historisches Bewußtsein" zeigt, in veränderter Weise durch eine neue Interpretation angeeignet werden können. Dies kündigt sich gerade in Überlegungen im unmittelbaren Anschluß an die Inspiration der ewigen Wiederkehr ab August 1881 an. Darin findet sich auch die ungewöhnliche Deutung Jesu „als große(n) Egoist(en)" in den Augen Nietzsches eine eher positi-
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Charakterisierung (V 2,448:11 [283]). Es geht also um Ich-Werdung doch zugleich soll dieses Ich in einem begrenzten Leben mit begrenzten Möglichkeiten gefunden werden. Dies verlangt eine je neue Verwandlung. Hier zeichnet sich Nietzsches plurale Anthropologie ab, die von einer Vielheit von -
ve
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Individuen im Menschen
ausgeht10
dies ist eine theoretische Brücke,
um
auch die
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Vgl. Johann Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlaß, Berlin/New York 1982, 8 Iff, 124ff.
„Dionysos und der Gekreuzigte"
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Identifikation mit einer Vielheit (vergangener) Personen zu ermöglichen. Denn für Nietzsches Philosophie in den achtziger Jahren ist das Individuum keine Einheit, sondern eine „Vielheit"; in einem ,Ich' ist eine „Vielheit von Personen", die in Anlehnung an den griechischen Ursprungsbegriff ,persona' als Masken gedeutet werden (vgl. -
VII 2,166: 26 Vor diesem
[73])."
anthropologischen Hintergrund sind Identifikation und Konfrontation mit anderen Personen, als ,Masken' verstanden, zugleich und in ein und demselben Individuum möglich es ist auch denkbar, die ,Masken' und die ,Namen' der .Figuren' dafür zu wechseln und zu ändern entsprechend der Änderung auch des eigenen Selbstverständnisses, das ex definitione ein sich wandelndes ist. Von dieser Möglichkeit her ist in der Philosophie Nietzsches auch Dionysos, der Maskenträger par excellence, und seine Konfrontation mit dem ,Gekreuzigten', als Akzentuierung des philosophischen Verstehens, das vom Selbstverständnis nicht zu trennen ist, zu interpretieren. Identifikation mit ,Figuren', die „außen", die historisch sind, ist dann nur die Realisation der inneren pluriformen Personalität auch im psychisch gesunden Menschen ist dies nach Nietzsche die „normale" Konstruktion' menschlichen Ich-Bewußtseins, auch wenn sie uns eher an die Ausnahmeform einer ,multiplen Persönlichkeit' erinnert. Die ,Vielheit' der Persönlichkeit meint für Nietzsche nicht ihren Zerfall, sondern ihre tatsächliche Konstitution. Wamm sollte dann nicht auch die Identität des Selbst durch die Identifikation mit einer Vielheit von ,Personen' (als Masken) gesucht und vielleicht auch gefunden -
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werden?
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2.
Nietzsches Konfrontation des Gottes Dionysos mit dem „Gott am Kreuz"
(Zur
Antithese
,Dionysos zum Zarathustra)
gegen den
Gekreuzigten'
und ihrem
Bezug
2.1. Nietzsches Interpretationshinweis auf Zarathustra Vor der Formulierung ,JDionysos gegen den Gekreuzigten [...]", die Nietzsche am Schluß des Ecce homo gesperrt drucken ließ und die mit drei Punkten endet, wodurch eine gewisse Unabgeschlossenheit zum Ausdmck kommt, steht eine Frage zwischen zwei Bindestrichen: Hat man mich verstanden? -" (KGW VI 3,372) Nietzsche meint damit offenbar, daß jener, der diese Formel versteht, ihn auch verstanden hat. Wie sollen wir sie verstehen? Einen Wegweiser dafür erblicke ich darin, daß Nietzsche dieselbe Frage auch noch an zwei anderen Stellen in diesem letzten Abschnitt von Ecce homo „Wamm ich ein Schicksal bin?" stellt, und an einer Stelle gibt er wie mir scheint selbst eine Antwort, die ich als einen Fingerzeig für die folgende Interpretation nehmen möchte. Und zwar sagt er dort, zu Beginn des achten Paragraphen, im Anschluß an die erwähnte Frage: „- Ich habe eben kein Wort gesagt, das ich nicht schon -
„
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Dazu und weitere Stellen bei Johann
Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip, a. a. O.,
128.
Johann Figl
154
fünf Jahren durch den Mund Zarathustras gesagt hätte." (KGW VI 3,371) Was hier Nietzsche Ende 1888 formuliert, sei also schon bei der Publikation des Zarathustra (ab 1883) zu erkennen gewesen. Es ist wie es an dieser Stelle im Ecce homo heißt „die Entdeckung der christlichen Moral", und wer dies macht und über sie aufklärt, der ist ein Schicksal, wie er hier sagt, nämlich deswegen, weil „er die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke (bricht). Man lebt vor ihm, man lebt nach ihm [...]" (VI 3,371). In dieselbe Richtung weist auch die andere Stelle der Frage „Hat man mich verstanden?" zu Beginn des Abschnitts, weil unmittelbar vorher aus Zarathustra zitiert wird und gesagt wird, daß noch niemand die christliche Moral unter sich gefühlt habe vor
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(a. a. O., 369).
Nietzsche ist davon
überzeugt,
daß
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er
im Zarathustra das
„Gegen-Ideal" gebracht
hat, das in Richtung der Umwertung aller Werte zielt (vgl. Ecce homo, Genealogie der Moral, VI 3,351). Der Name Zarathustra bedeutet für Nietzsche „die Selbstüberwindung der Moral" (vgl. a. a. O., 365).
Vor diesem Hintergrund scheint es mir wichtig, zu Also sprach Zarathustra zurückzugehen, um den Begriff des Dionysos besser zu verstehen; Nietzsche sagt ja ausdrücklich, daß der schaffende Zarathustra der Begriff des Dionysos selbst ist und daß das JaSagen, das in der ewigen Wiederkunft zum Ausdruck kommt, „der Begriff des Dionysos noch einmal (ist)" (VI 3,343). Wir können also zu Recht annehmen, daß von Zarathustra her besser verstanden werden kann, was Dionysos meint, wenngleich hier von einer Selbstinterpretation auszugehen ist, die im nachhinein gewisse Akzente anders setzt als sie im ursprünglichen Kontext, zur Entstehungszeit des Zarathustra, anzutreffen waren. Ich glaube, man kann Nietzsches Verständnis des ,Dionysos' als den Gegensatz zum ,Gekreuzigten' nicht verstehen, wenn nicht auch dessen Zusammenhang mit der Verkündigung des Zarathustra beachtet und die Art berücksichtigt wird, wie ,Dionysos' z. Zt. der Ausarbeitung des Zarathustra für Nietzsche „präsent" ist.
Ein erstes, überraschendes Faktum ist es, daß in allen vier Teilen des Zarathustra der Name „Dionysos" m. W. nicht vorkommt. Das heißt aber nicht, daß Nietzsche sich zur Zeit der Ausarbeitung dieses Werkes, das in seinen ersten Entwürfen bis zum Herbst 1881 zurückgeht, in keiner Weise mit Dionysos befasst hätte. Wenn wir die nachgelassenen Fragmente aus der Zeit der Ausarbeitung des Zarathustra, also vom Herbst 1881 bis zum Frühjahr 1885, anschauen (am 13. April 1885 wird die Korrektur am vierten Teil des Zarathustra beendet; vgl. KSA 15, Chronik zu Nietzsches Leben, 147), dann zeigt sich, daß Nietzsche im Zarathustra den Namen ,Dionysos', ebenso auch jenen von ,Ariadne', ursprünglich vorgesehen, dann aber vermutlich bewußt vermieden hat. Denn in textlichen Vorstufen ist sowohl ¿triadne1, und an einer m. E. besonders wichtigen Stelle zweimal ,Dionysosl als Überschrift eines ganzen Abschnitts bzw. einer eigenen Nummer in Entwürfen vorgesehen; aus dem Kontext kann erkannt werden, daß Nietzsche unter diesen Begriffen zunächst jene Intentionen mitmeint, die auch im Zarathustra zum Ausdruck kommen, und erst später fügt er im Verhältnis zur Gestalt des ,Zarathustra' und zu dessen Verkündigung neue und anders akzentuierte Inhalte hinzu. Zwei Stellen scheinen mir wichtig zu sein: zunächst jene, wo über den AriadneMythos ein Anklang an Dionysos ursprünglich zu erkennen ist: im Zarathustra 2 heißt es in den letzten Versen des Abschnitts „Von den Erhabenen": „Diess nämlich ist das
„Dionysos und der Gekreuzigte"
155
Geheimniss der Seele: erst, wenn sie der Held verlassen hat, naht ihr, im Traume, der Über-Held." (152)12 Eine Vorformulierung zu dieser Stelle stammt aus dem Sommer 1883 und lautet: „Dionysos auf einem Tiger: der Schädel einer Ziege: ein Panther. Ariadne träumend: ,vom Helden verlassen träume ich den Über-Helden'. Dionysos ganz zu verschweigen!" (KGW VII 1, 453: 13 [1]; vgl. dazu auch KGW IV 4, 240 zur Stelle; vgl. auch KSA 14, 324) Was hat Nietzsche bewogen Dionysos im Zarathustra nicht zu nennen? Ich möchte diese Frage offen lassen. Ebenso interessant ist die Stelle, wo Dionysos dennoch genannt werden sollte sogar als Überschrift zum Abschnitt „Die sieben Siegel. (Oder: das Ja- und Amen-Lied.)". In einer Disposition dazu (Ende 1883) findet sich ein durchgestrichener Entwurf, in dem die Formulierung „Ja! und Amen!" an die Stelle von „Dionysos. Von der Ewigkeit." getreten ist (vgl. Nachbericht KGW VII 4/1, 372. Zur Stelle KGW VII 1,680). Und in einer Variante zur Reinschrift der Nr. 3 dieses Abschnitts sollte dieser mit ,Dionysos' überschrieben sein (KGW VI 4 Nachbericht 543); in dieser Nummer heißt es: „Oh wie sollte ich nicht nach der Ewigkeit brünstig sein und nach dem hochzeitlichen Ring der Ringe, dem Ring der Wiederkunft? Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, es sei denn dieses Weib, das ich liebe: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!" (VI 1,285; vgl. dazu VI 4,543 und KSA 14, 325) Es sollte also der Name ,Dionysos', der später gestrichen wurde, für einen zentralen Gedanken im Zarathustra, dem Wiederkehrgedanken, in einer sehr positiven, befreienden Sicht stehen; der Wiederkehrgedanke hat auch negative und schreckliche Aspekte, die hier nicht so zum Ausdmck kommen. Aufgrund dieses Textbefundes ist Nietzsches Rückverweis auf den Zarathustra differenzierter zu verstehen: Die Beantwortung der Frage „Hat man mich verstanden?" mit dem Hinweis, daß im Zarathustra schon dasselbe gesagt worden sei, wie in Ecce homo unter dem Namen des ,Dionysos', kann dann wohl nur in einer Sachaussage bestehen, und nicht primär in einer Namensbezeichnung denn letztere fehlt im Zarathustra, während der Inhalt dessen, was ,Dionysos' meint, dort schon anzutreffen ist. Diese Feststellung kann verdeutlichen, daß Nietzsche meint, er habe seit Also sprach Zarathustra ein sich durchhaltendes Anliegen verfolgt, das zuerst unter dem Namen des persischen Religionsgründers, später unter jenem des griechischen Gottes zur Sprache gekommen sei. Dies kann zunächst als Nietzsches Selbstinterpretation im Rückblick auf seine Werke festgehalten werden. Eine Fremdinterpretation wird freilich auch dieses Faktum selbst in die Deutung mit einbeziehen. Und da scheint es mir wichtig zu sein, sowohl die Kontinuität als auch die Diskontinuität in der Denkentwicklung in Nietzsches Werken wie auch im Nachlaß zu beachten. Unterschiede, zumindest neue Akzentuierungen in der sachlichen Aussage, werden sich dann in neuen Bezeichnungen niederschlagen, so daß diese ,Namen' ihrerseits Rückschlüsse auf die ,Sache' und ihr -
-
-
-
-
12
Es sei auch erwähnt, daß neben Anspielungen auf,Ariadne', die schon genannt wurden, der Name dieser zentralen Gestalt auch in einer Reinschriftvariante zum Abschnitt „Von der großen Sehnsucht" in Zarathustra 3 vorgesehen war (vgl. KGW VI 4,524), wodurch eine indirekte Bezugnahme auf,Dionysos' gegeben ist.
Johann Figl
156
verändertes Verständnis erfordern.13 Diese beiden Aspekte seien kurz bei zwei Themenkreisen angesprochen, die für das Verständnis der hier diskutierten Antithese wichtig sind: erstens anhand der Frage, was denn der Inhalt ist, der in Ecce homo unter dem „Begriff Dionysos und schon im Zarathustra ausgesagt sein soll dieser nämlich bildet dann die Antithese zum ,Gekreuzigten'; zweitens anhand der „Vorformulierungen" zu dieser Antithese und in der Deutung einer ihrer prägnantesten „Ausformulierungen", die im letzten Teil zu behandeln ist. -
„gemeinsame" Aussage von Zarathustra und Ecce homo unter verschiedenen Akzentuierungen
2.2. Die -
aufgezeigt wurde, hat Nietzsche den Namen ,Dionysos' für jenen Text in Also sprach Zarathustra vorgesehen gehabt, der erstens betont vom „Ring der Wiederkunft" und der Liebe zur Ewigkeit spricht, und zweitens innerhalb der „sieben Siegel", des „JaWie
und Amen-Liedes" steht. Diese beiden Motive halte ich für wesentlich im Zarathustra: der Wiederkehrgedanke, der zu einer neuen Betonung des Irdischen und zu dessen ewiger Bejahung führt. Diese Gedanken haben Nietzsche unmittelbar nach der Wiederkunfts-Vision in Sils-Maria seit August 1881 bewegt. Nur eine Belegstelle dazu: in Fragment 11 [143] nennt Nietzsche diese Lehre den „Gedanken der Gedanken". Er geht davon aus, daß wenn er einverleibt wird er den Menschen verwandeln wird; denn dann müsse er bei allem, was er tat, die Frage stellen: „Ist es so, daß ich es unzählige Male tun will?" Und darin ist das größte Schwergewicht zu erblicken. Die Einsicht und Anerkennung der neuen Lehre der ewigen Wiederkunft des Gleichen fordert eine Änderung des Selbstverständnisses, das zu einer extrem hohen Wertschätzung des einzelnen Lebens führt: „Drücken wir das Abbild der Ewigkeit auf unser Leben!", fordert Nietzsche auf (11 [159]). Und die Konsequenz daraus ist die Einsicht: ,JDieses Leben dein ewiges Leben!" (11 [183]) Mit dieser Auffassung wendet sich Nietzsche von den Religionen schlechthin ab und er meint, daß der Gedanke, daß dieses Leben das ewige Leben ist, „mehr als alle Religionen (enthält)", weil die Religionen das gegenwärtige Leben als ein flüchtiges verachten und „nach einem unbestimmten anderen Leben hinblicken lehrten". (11 [159]) Und wie formuliert Nietzsche in Ecce homo diese Intention, wenn er Zarathustra als den Entdecker der christlichen Moral bezeichnet? Was ist nun das Negative an der christlichen Moral? Nietzsche formuliert deutlich: Es ist die „Weltverleumdung", es ist „das Verbrechen am Leben [...]" (a. a. O., 369). Es geht um die irdische Wirklichkeit und um das Leben, in dem der Mensch Größe haben kann (vgl. a. a. O., 368). Es ist hier in überwiegend negativ-kritischer, z. T. polemischer Formulierung ein zentrales Anliegen ausgesprochen, das Also sprach Zarathustra inspiriert hat. Es ist eine andere Akzentuierung der Aussage als im Zarathustra gegeben, die noch stärker -
-
-
-
13
Diese Neuorientierung der Philosophie Nietzsches nach Abschluss des Zarathustra hat Giorgio Colli im Zusammenhang mit dem Namen .Dionysos' sehr interessant aufgezeigt, insbesondere auf der Basis der nachgelassenen Fragmente (vgl. G. Colli, Nachwort, in: KSA 11, Nachgelassene
Fragmente 1884-1885, 722).
„
Dionysos und der Gekreuzigte
auf die Gegensätze abzielt. Auch dem Gekreuzigten zu verstehen.
2.3.
157
"
von
hierher ist in weiterer Folge die Konfrontation mit
(Vor-)Formulierungen der Antithese ,Dionysos-Gekreuzigter'
Schon während der Ausarbeitung des Zarathustra ist indirekt eine Nähe zwischen der des Dionysos und dem christlichen Kreuz zu konstatieren. Von der oben zitierten Stelle über Dionysos, der zu verschweigen ist (KGW VII 1,453: 13 [1]), findet sich in den nachgelassenen Fragmenten ebenfalls genau aus der Zeit eine Seite auch eine Stelle, wo vom Kreuz die Rede ist: „Jene nannten Gott, was ihnen zuvor widersprach und wehe that: so war es die Art dieser Helden. Und nicht anders wußten sie ihren Gott zu lieben, als indem sie den Menschen ans Kreuz schlugen." (VII
Nennung
-
-
1,452)14
In einem Inhaltsverzeichnis von August bis September 1885 mit dem Titel: „Der Spiegel. Eine Gelegenheit zur Selbst-Bespiegelung für Europäer" werden „Christus und Dionysos" gegenübergestellt (VII 3,427: 42 [1]), noch ohne jegliche Spezifizierung. Die Formulierung „Gott am Kreuz" wird in einer sehr prägnanten Art im Jahr zuvor (1884) verwendet: Es geht um das Paradoxe und Widersprüchliche des Wortes vom „Gott am Kreuz": „Man hat mit der grandiosen Paradoxie ,der Gott am Kreuze' allen guten Geschmack in Efuropa] auf Jahrtausende verdorben: [es] ist ein schauerlicher Gedanke, ein Superlativ des Paradoxen. Ebenso wie die Hölle bei einem Gott der Liebe. Es kam da ein esprit barroco auf, gegen welchen das Heidenthum sich nicht mehr auf'
recht halten konnte". Nietzsche verwendet sie dann auch in veröffentlichten Schriften ab 1886, wobei insbesondere auf das dritte Hauptstück über „Das religiöse Wesen" in Jenseits von Gut und Böse (Nr. 46) hingewiesen werden soll: Hier wird in der Formel ,Gott am Kreuz' „die Umwertung aller antiken Werte" verstanden (VI 2,65), und ebenso auf die Genealogie der Moral, wo dasselbe Symbol als „Mysterium einer unausdenkbaren letzten äußersten Grausamkeit und Selbstkreuzigung Gottes zum Heile des Menschen" interpretiert wird (VI 2,283); schließlich auf den Antichrist, wo die Hintergedanklichkeit dieses Symbols darin erblickt wird, daß „alles was leidet, alles was am Kreuz hängt
göttlich (ist)" (VI 3,230).16
Es zeichnet sich hier deutlich die Konfrontation zwischen antiken und christlichen Werten ab, ebenso wie die Konfrontation zu Nietzsches neuen Werten. In einem Fragment vom Frühjahr 1888 ist erneut vom „Gott am Kreuze" die Rede (a. a. O., 24: 14 [29]). Nietzsche befaßt sich hier mit der Gegenüberstellung von „apollinisch und dionysisch" (vgl. 14 [36]). Dann kommt er (14 [38]) auf den „Typus Jesus zu sprechen, um schließlich wie er sagt: „Die zwei Typen: Dionysos und der '"
-
14
15
16
Dies ist eine Vorstufe zu dem Abschnitt Zarathustra 2 „Von den Mitleidigen" (vgl. dazu KGW VI 4,149: „Da brach dem alten rechtschaffnen Gott das Herz: denn es ging ihm wie seinem Sohne: er
starb am Kreuze des Mitleidens." KSA 25 [292] Frühjahr 1884; vgl. KGW VII 2,82; vgl. dazu Nachbericht VII 4/2, 121 wo die Formulierung „Gott am Kreuze" noch nicht unter Anführungszeichen gestellt ist. Vgl. a. a. O., 245, AC 58.
zur
Stelle,
Johann Figl
158
Gekreuzigte", gegenüber zu stellen (a. a. O., 57: 14 [89]); in einem kurz darauffolgenFragment wird ,J3uddha gegen den .Gekreuzigten'" gestellt (a. a. O., 59: 14 [91]). Diese Formulierung „Dionysos gegen den Gekreuzigten" kommt dann auch noch in späteren Fragmenten vor (z. B. a. a. 0., 113: 14 [137]), doch die wesentliche scheint mir jene in dem Fragment 14 [89] zu sein, die ich zum Ausgangspunkt meiner zusammenfassenden Interpretation nehmen möchte. den
3. Ebenen der Interpretation von Nietzsches Antithese Wege der Annäherung -
3.1.
Dionysos und der Gekreuzigte verschiedene Interpretationen des Seins und des Leidens
-
In den beiden genannten Fragmenten (14 [89] und [91]) wollte Nietzsche das Thema der Religion behandeln. Im ersteren als „Gegenbewegung", im letzteren „die Religion als décadence". Es ist interessant, daß Nietzsche hier eine religiöse Thematik direkt aufgreift: bei der Gegenüberstellung von Dionysos und dem Gekreuzigten stellt er die Frage, ob der typische religiöse Mensch eine décadence-Form ist. Er muß zwar zugeben dies steht in der Linie seiner bisherigen Veröffentlichungen -, daß „die großen Neuerer sammt und sonders krank und epileptisch (sind)", aber so fügt er hinzu nicht jener Typus des religiösen Menschen, der der heidnische ist; denn ist der heidnische Kult so fragt er „nicht eine Form der Danksagung und Bejahung des Lebens?" Geht es dabei nicht um eine „Apologie und Vergöttlichung des Lebens"? Nietzsche nennt ihn auch den erlösenden Typus. Und er sagt: „Hierher stelle ich den Dionysos der Griechen."17 Es geht also um eine religiöse Bejahung des Lebens in seiner Ganzheit, und als Beispiel dafür hebt er den Geschlechtsakt, dessen Tiefe und Geheimnis, hervor der ehrfurchterweckend ist. Hier stellt er dann die Formel hin: „Dionysos gegen den ,Gekreuzigten'". Der Gekreuzigte, von Nietzsche selbst unter Anführungszeichen gesetzt, ist Symbol für ein lebenszerstörendes Verhalten. Worin unterscheiden sich nun Dionysos und der Gekreuzigte? Nicht eigentlich darin, daß es Leiden gibt, sondern darin, wie dieses Leiden interpretiert wird. Nietzsche sagt es noch deutlicher: „Das Problem ist das vom Sinn des Leidens: ob ein christlicher Sinn, ob ein tragischer Sinn [...]", und dann folgt eine der in meinen Augen bedeutendsten Aussagen Nietzsches über das Dasein als solches: „Im ersten Falle soll es der Weg sein zu einem seligen Sein, im letzteren gilt das Sein als selig genug, um ein Ungeheures von Leid noch zu rechtfertigen." Der tragische Mensch vermag das Leiden anzunehmen und zu akzeptieren, in Nietzsches Terminologie: „zu vergöttlichen", und dadurch das Leben anzunehmen, während „,der Gott am Kreuz' ein Fluch auf das Leben -
-
-
17
-
-
auch den Text über den Entwurf zum Inhalt eines geplanten Werkes, wo ebenfalls Dionysos gegen den ,Gekreuzigten' gestellt wird und die heidnische Religion als Religion des Ja genannt wird, a.a.O., 14 [137], VIII 3,113.
Vgl.
„Dionysos und der Gekreuzigte"
159
ist dann nicht verwunderlich, daß Nietzsche diesem Fluch auf das Leben eigenen Fluch auf das Christentum im Antichrist entgegenstellt. Hingegen ist der „in Stücke geschnittene Dionysos eine Verheißung ins Leben", und es wird erneut der Wiederkunftsgedanke im Sinne des ewigen Zerstörens und Geborenwerdens angesprochen: „Es wird ewig wieder geboren und aus der Zerstörung
[ist]"
es
seinen
-
heimgekommen." Diese Gegenüberstellung, glaube ich, ist sehr charakteristisch. Es geht um die Frage, ob das Sein als solches in seiner Seligkeit gerechtfertigt ist. Diese Entzifferung von Nietzsches Notizen scheint mir überzeugender zu sein als die in den früheren Ausgaben, wie z. B. noch bei Schlechta, wo anstelle des Wortes „selig" „heilig" gesagt wird. „Selig" hat eine andere Dimension, es ist eine Lebenspraxis. Es klingt das an, was Zarathustra verkündet, eine Sinnerfüllung des Daseins, während „heilig" in die Richtung einer anderen, eher strikt religiösen Kategorie geht, obwohl Nietzsche das Wort „heilig" oft auch selbst positiv verwendet. Es ist vor dem Hintergrund, daß hier eine Antwort auf die Leidensproblematik gegeben wird, interessant zu sehen, daß Nietzsche auch die dritte Möglichkeit ins Spiel bringt, nämlich Buddha. Buddhas Lehre kann ja als Lehre von den vier edlen Wahrheiten vom Leiden als eine Antwort auf das Problem des Leidens gelten. Für Nietzsche ist es ebenfalls eine Dekadenz-Religion, so wie das Christentum; vermutlich hat er nicht so deutlich den Leidenscharakter gesehen wie es in den buddhistischen Schriften der Fall
ist. Aber innerhalb dieser beiden Dekadenz-Religionen unterscheidet er klar Christentum und Buddhismus in der Linie, wie es auch in den bekannten Abschnitten des Antichrist zum Ausdmck kommt. Ich möchte von diesen Überlegungen her, die zur Anthropologie der Leidensbewältigung gehören, nochmals eine Frage ansprechen, die die Rede von Gott bei Nietzsche betrifft, bzw. allgemeiner: seine religiösen Aussagen, um auf dieser Ebene Möglichkeiten der Annäherung von christlicher und dionysischer Deutung des Daseins zu skizzieren.
3.2.
Wechselseitige Interpretation von dionysischer
und christlicher Perspektive
Ich habe in anderem Zusammenhang, im Vortrag in Naumburg im Jubiläumsjahr 2000, den Aspekt kurz angesprochen: Nietzsche verweist in der späten Aufzeichnung „Zur Geschichte des Gottesbegriffs" auf Zarathustra zurück, der sagt, „ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde" (KGW VIII 3,324). Nietzsche stellt hier zwei Typen von Gottesbildem gegenüber, die m. E. der Typologie des Dionysos und des Gekreuzigten entsprechen. Im letzteren Fall ist Gott „zum Widerspruch des Lebens abgeartet" (a. a. O., 323), während Dionysos der andere Gott das ewige Ja, die Verklärung des Lebens ist (vgl. 323). -
18
Johann
-
Figl, „Religionen in der Moderne. Nietzsches Diagnose, ihre Probleme und Perspektiven", in: Zeitenwende Wertewende. Internationaler Kongreß der Nietzsche-Gesellschaft zum 100. Todestag Friedrich Nietzsches vom 24.-27. August 2000 in Naumburg, 65-75. -
160
Johann Figl
glaube, die Rede von Gott beim späten Nietzsche sollte erneut angegangen werNietzsche unterscheidet ganz klar Religiosität und christlichen Glauben. Und die den. „heidnische" Religiosität, wie sie unter anderem in dem Begriff Dionysos zum Ausdruck kommt, ist für Nietzsche noch immer eine Möglichkeit des menschlichen Daseins. Er versteht sich nicht als Religionsstifter; im Gegenteil: er negiert das mit Religionen im herkömmlichen Sinn verbundene Verständnis sehr entschieden. Aber wenn man mit der modernen Religionswissenschaft einen weiteren Begriff von Religion ansetzt, z. B. im Sinne eines funktionalen Begriffs, dann kann Religiosität als die Fähigkeit bestimmt werden, auf das Leiden im Dasein zu antworten. Nach diesem Begriff sind verschiedene weltanschauliche Angebote religiös zu nennen, weil nicht von einem gewissen Inhalt, wie dem transzendenten Gottesgedanken und dergleichen her als nicht von einem substanziellen Gegenstand („Wesen") das Religiöse bestimmt wird, sondern von der Funktion, die eine gewisse Vorstellung, eine gewisse Weltanschauung hat. Die Vorstellung von ,Dionysos' leistet für den späten Nietzsche Sinnintegration und Bejahung des Daseins trotz aller Widersprüchlichkeit. Die Möglichkeit, einen Religionsbegriff funktional zu verstehen und von hierher gewisse Tendenzen in Nietzsches Schriften zu deuten, heißt natürlich nicht, daß seine Kritik am Christentum zurückgenommen werden könnte. Aber es wird ein freierer Raum erreicht, wo eine Diskussion und ein Gespräch zwischen der dionysischen Position und einer christlichen Position, die auch nochmals das Stichwort des Gekreuzigten reflektiert, eher möglich wird, als wenn diese schroffe Gegenüberstellung, wie sie in einer antithetischen Formel zum Ausdruck kommt, beibehalten und mit allem Nachdruck betont wird. Ich meine, daß es durchaus Ansätze des Verständnisses des Christentums gibt, die diese Religion, wie auch andere Religionen, als lebensbejahende, als lebensfördemde interpretieren. Religion kann sicherlich lebenszerstörend sein, aber mit Erich Fromm kann man berechtigterweise auch eine lebensbejahende Möglichkeit des Religiösen sehen. Darauf zu antworten ist Aufgabe der Theologie und jener, die auf das reflektieren, worum es im Christentum geht. Aber es gibt auch in der Nietzsche-Forschung solche Ansätze. Gerade im anglo-amerikanischen Raum sind hier in den letzten Jahren verschiedene Ansätze zu nennen, die die religiöse Dimension in Nietzsches Denken neu hervorheben. Ich glaube, daß vor diesem offeneren Hintergrund auch neue Möglichkeiten der Begegnung mit dem Christentum denkbar werden. Es muß zugleich aber klar gesehen werden, welche Art von Christentum Nietzsche tatsächlich kennen gelernt hat, welches ihn geprägt hat, und hier ist es unumgänglich, in seine Kindheit und Jugend zurückzugehen. Denn damals hat er vielfach das am Leben leidende, ein das Leben verneinendes Christentum kennen gelernt, wie es insbesondere auch im Bild des Gekreuzigten zum Ausdruck gebracht wird. Nach dem Selbstverständnis des Christentums jedoch weist dieses Symbol aber gerade auf die Überwindung des Leidens hin. Diese Dimension Ich
könnte in eine neue vergleichende Analyse der Weltanschauungen eingebracht werden; die Fragen lauten dann: Auf welche Weise gehen die Philosophien und Religionen mit 19
dazu den Sammelband Nietzsche and the divine, ed. by John Lippitt and Jim Urpeth, Manchester, 2000, und den Literaturbericht von Martina Bretz und Vera Hofmann, „Nietzsche now", in: Nietzsche-Studien, 29 (2000) 332-354.
Vgl.
„Dionysos und der Gekreuzigte"
161
dem Leiden um; und welche Perspektiven zu seiner Überwindung lehren sie. Aus Antithesen werden dann zwar kaum Synthesen, aber es zeichnen sich neue Konstellationen im gegenseitigen Verhältnis ab, in denen ,Dionysos' und ,der Gekreuzigte' Symbole sind, die in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen und in diesem Horizont jeweils neu verstanden werden können.
Erwin Hufnagel
Dionysos: Metaphysik, Mythos und Moderne
I. Hermeneutisches Präludium
Betrachtung1
Seit der zweiten Unzeitgemässen hat sich Nietzsche ein triadisches Modell lebensdienlicher historischer Perspektivität in Abgrenzung von den zeitgenössischen, kulturell-vitalen Niedergangserscheinungen des Historismus erworben, das für sein zukünftiges historisches Denken leitend bleiben wird. Dieses fragile integrative Modell eines gelungenen, dem heiter akzeptierenden, Werte schaffenden Leben des einzelnen, der Produktivität einer kulturellen Konstellation und der Identitätsarbeit eines Volkes in Selbstbewahmng und -erzeugung, Bezuges zur menschheitsgeschichtlichen Vergangenheit dient Nietzsche offensichtlich auch zur Selbststabilisierung gegenüber den verständnislos-hämischen Reaktionen, mit denen er sich nach der Veröffentlichung seiner Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik konfrontiert sah. Er wollte seinen eigentümlichen Weg historischer Vergegenwärtigung und Wertung im Angesicht des übermächtigen Historismus finden. Zugleich dachte er dieser „Standortbestimmung", die im Grunde als formal-dynamisches interprétatives Gefüge des Sehens und Wählens konzipiert war, exemplarische Bedeutung zu. Persönliche Vergewisserung und geschichtlich-epochale Lebenshoffnungen verschmelzen miteinander. Nietzsche begreift sein geistiges Leben und Leiden (auch) als Ausdmck seiner Zeit, ihrer Not und ihrer möglichen Heilung. In sich will er die Analogie zur christlichen Metaphorik ist offensichtlich die Übel der Zeit (vor allem die historische Krankheit mit ihren destruktiven Folgen) überwinden. Noch bleibt die salvatorische Geste anders als im Zarathustra3 und im Spätwerk unaufdringlich. Selbstfindung und Kulturkritik stehen im Vordergrund. Die später dominierende egozentrische politische Ungeduld, die zu manch exoterischer Simplifikation führte, ist glücklicherweise noch nicht vorhanden. Nietzsche faßt eine historische Gratwanderung ins Auge: monumentalische, antiquarische und kritische Betrachtung der Geschichte sollen als letztlich fiktionale Modi des -
-
-
-
1
2 3
KSA, HL, 1,243-334. KSA, GT, 1,9-156. KSA, ZA, 4, 9-408.
Erwin
164
Hufnagel
Verstehens es gibt keine Tatsachen, sondern nur ein Gefüge sich ergänzender oder widerstreitender Interpretationen, wie Nietzsche schon hier zu Beginn seines Schaffens weiß dem Handeln dienen. Deshalb muß ihre innere Struktur und ihre Fügung nach dem aristotelischen Prinzip der Mitte4, die ein Optimum darstellt, bestimmt werden. Der Wille zum Leben, zur Entscheidung, zum Handeln muß in den Modi der Geschichtsbetrachtung gegenwärtig sein. Nur so können sie sich legitimieren. Fehlt dieser Wille, so werden sie zu hermetisch-zwanghaften Surrogaten, zu Symptomen eines nicht mehr Lebenwollens oder -könnens. Nietzsches Modell des historischen Sinnes ist letztlich frei von Dichotomisierungen. Das Hitrotz mancher vereinfachenden Formulierung storische und das Unhistorische, Verstehen und Handeln, Denken und Vergessen werden spektral aufeinander bezogen. „Zu allem Handeln gehört aber Handeln ist nicht einfach totales Vergessen. Jeder einzelne muß entscheiden, genauer: muß fühlen, welche Anverwandlungs- und Ausgrenzungsprozesse seine monadische „plastische Kraft" fordert. Jeder muß sich seine Welt der Lebensfähigkeit, der Erhaltung und Steigerung seiner Existenz, seine Perspektive der Selbst- und Fremdwahrnehmung konstituieren. Und genau dies tut Nietzsche, um unversehrt und schöpferisch zu bleiben. Jede Weltdeutung ist interessengebunden fiktiv. Es kommt darauf an, jeweils nützliche, dem gemeinschaftlichen und privaten vital-geistigen Leben forderliche Fiktionen zu (er)finden. Der einzelne Mensch, die kulturelle Bestimmtheit und die geschichtliche Wirklichkeit eines Volkes sind interpretative Gefüge, für die Nietzsche schon zu Beginn seines Schaffens das Kriterium der Wahrheit suspendiert. Die platonische Aufteilung der Welt in einen wahren und scheinbaren Bereich zerfallt schon in den Unzeitgemässen Betrachtungen. An die Stelle der Metaphysik tritt die Hermeneutik als universaler Fiktionalismus. Wenn Nietzsche die Geburt im Rückblick auch als metaphysische Übersetzung des Begriffspaares apollinisch und dionysisch charakterisiert, so ist diese ästhetische Metaphysik ganz im Gegensatz zu der Metaphysik eines Schopenhauer bei Licht besehen (und trotz mancher Grauzone) nichts anderes als die hermeneutisch fiktionale Verabschiedung des überkommenen Begriffs der Metaphysik. Während es eine Vielzahl von Werken gibt,8 in denen die Wirkungsgeschichte von Nietzsches experimentierenden Gedanken rekonstruiert wird, findet man philosophiehistorische Kontextualisierungen seiner Grundideen recht selten.9 Deren Sichtweite reicht -
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Vergessen"5,
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4 5
6 7
Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, übersetzt und hg. v. Olof Gigon, 6. Aufl., München
Hillebrand
(Hg.), Nietzsche und die deutsche Literatur.
Texte 1873-1963 und Forschungsergebnis-
Bde., Tübingen/München 1978. Volker Gerhardt, Friedrich Nietzsche, München 1992, 21 Iff. Gianni Vattimo, Friedrich Nietzsche. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar 1992, 1 lOff. Vgl. Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche, Leipzig 1907.
se, 2 9
1986.
KSA, HL, 1,250. Ebd., 251. KSA, EH, 6, 310. Vgl. Walter Ries, Grundzüge des Nietzsche-Verständnisses in der Deutung seiner Philosophie. Zur Geschichte der Nietzsche-Literatur in Deutschland (1932-1963). Diss., Heidelberg 1967. Bruno
Dionysos: Metaphysik, Mythos und Moderne
165
meistens nur bis zur (Früh-)Romantik und Aufklärung. Es ist eine Frage für sich, wie Nietzsche zu seiner fiktionalistischen Philosophie gelangte. Seine Auseinandersetzung mit der Kantischen Philosophie, wie immer vermittelt sie auch gewesen sein mag Kuno Fischers Darstellung der neueren Philosophie war für ihn eine bevorzugte Quelle Nicht minder wichtig ist indes -, hat sicherlich zu deren Konzeption beigetragen. Nietzsches ästhetische Gmndorientiemng, die wie ein roter Faden von der Geburt der Tragödie bis in die späten Wertungen resp. Relativiemngen des Perspektivismus reicht. In der neuzeitlichen Ästhetik avanciert die facultas fingendi zur Gegenwelten entwerfenden Potenz, die in der Bewertung einer eigentümlichen Logik, nämlich der einer ästhetischen Wahrscheinlichkeit, unterworfen werden. Der erkenntnistheoretischen Hypothese tritt der von der Wirklichkeit befreiende fiktive Entwurf zur Seite. Die Welt des Faktischen sondert sich von der Welt des Fiktiven und umgekehrt. Der Weg zur Autonomie der Kunst wird beschriften. Ein Pluralismus von Logiken tritt in Erscheinung. In Nietzsches Perspektivismus wird er mit systematischen Intentionen durchge-
spielt.
Nietzsches
Beschäftigung mit der Kantischen Philosophie kam offensichtlich seinem ursprünglich ästhetischen Fiktionalismus zugute. Kennzeichnend für Nietzsche ist die Universalisierung dieses Fiktionalismus: Die Grenzziehungen zwischen erkenntnistheoretisch-gegenständlicher und ästhetisch-imaginativer Sphäre werden ebenso aufgehoben wie die Trennung von Fiktion und Faktizität. Der Begriff des Fiktionalismus überwindet sich selbst. Sein Gegenüber die hypothetisch gesetzte wirkliche Welt verschwindet. Die Semantik des Fiktionsbegriffs wandelt sich zutiefst. Alles ist Interpretation. Die Rede von Welt und Gegenwelt wird unangemessen. Die Kantische Transzendentalphilosophie spielt im Horizont von Nietzsches plastischer Kraft eine kaum zu überschätzende Rolle. Hier konnte Nietzsche das Paradigma einer Als-ob-Philosophie finden. Alle theoretischen und praktischen Grundbegriffe (Welt, Seele, Gott, Freiheit, Unsterblichkeit) haben, wie Kant behauptet, den Status des -
-
Als-ob. Kant nennt sie nicht Fiktionen, sondern Ideen. Erkenntnis, Sittlichkeit und Kunst sind in ihrer relationalen Autonomie durch das Band der Fiktion geeint. Auch die wissenschaftliche Erkenntnis operiert mit einem nicht transzendierbaren fundamentalfiktiven Moment. Deshalb weist Kant jegliche Spielart des Positivismus (auch den historischen) wie Nietzsche von sich. In der Kritik der Urteilskraft hat Kant seine Philosophie des Als-ob als fingierte Synthese von Wissenschaft, Kunst und Sittlichkeit, den Nerv der Zeit treffend, in großem Stil expliziert. Der Gedanke des Als-ob läßt ihn nicht
"
12
Hans Vaihinger, Nietzsche als Philosoph, Berlin 1902. Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, Jena 1905. Ernst Behler, „Die Kunst der Reflexion. Das frühromantische Denken im Hinblick auf Nietzsche", in: Festschrift Benno v. Wiese, Untersuchungen zur Literatur als Geschichte, Berlin 1973, 219-248. Jürgen Habermas, „Eintritt in die Postmoderne: Nietzsche als Drehscheibe", in: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1988, 104-129. Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, Bd. 21, 1. Hälfte Opus postumum, Berlin/Leipzig 1936; Bd. 22, 2. Hälfte Opus postumum, Berlin/Leipzig 1938. Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte der „Aesthetica" (1750/58), 2. Aufl., Hamburg 1988.
166
Erwin
Hufnagel
mehr los.13 In der Religionsschrift und im Nachlaßwerk hinterläßt er deutliche Spuren. Im Gegensatz zu Nietzsche aber hält er an der Unterscheidung einer nicht erkennbaren gegenständlichen und moralischen Wirklichkeit fest. Es liegt ihm völlig fern, die Idee der Sittlichkeit zu dekonstruieren, zu demaskieren und die Idee der Welt zum partikularen, vom Willen zur Macht beherrschten Horizont schrumpfen zu lassen. Kant ist ein Denker des Übergangs, der Erkenntnistheorie und Ontologie noch in eins denkt.14 Nietzsches universale Hermeneutik wird alle ontologischen Residuen eliminieren. Erst durch eine philosophiehistorische Kontextualisierung, in der die epistemische Funktion und das theoretisch-reale Umfeld von Fiktionen im weitesten Sinne geklärt wird der Mythos als Lebenspraxen, Ethosformen und Konventionen klärendes und legitimierendes Selbstverständnis eines Volkes oder eines kulturellen Raumes gehört ebenso dazu wie die „Idole der Selbsterkenntnis" in denen der Mensch sich entfremdet und die wissenschaftlichen, ästhetischen, alltäglichen und politisch-geschichtsphilosophischen Fiktionen, die Lyotard auf die Verwirklichung von Ideen bezogene „Metaerzählungen"16 nennt gewinnt die Interpretation der Nietzscheschen Philosophie Möglichkeiten des Verständnisses, die bei kürzerer, nur bis zur Romantik und Aufklärung reichender Perspektive nicht aufscheinen können. Historisch und systematisch müssen weitere Horizonte gesucht werden. Eine selbstgenügsame Theorie des Mythos ist nicht (mehr) möglich. Wir bedürfen einer allgemeinen Theorie der Fiktionalität, d. h. der Funktion von Fiktionen jedweder Bestimmtheit. Daraus können auch Hinweise auf die gedankliche Genese und Gesichtspunkte für die Kontinuitäts-/DiskontinuitätsDiskussion des Nietzscheschen Œuvres gewonnen werden. Wir müssen Nietzsche in den Kontext des abendländischen Denkens stellen, aus dem er sich herauskatapultiert hat und dem er in mannigfachen Vorurteilen und Begrifflichkeiten verhaftet bleibt. Die Rezeption durch Künstler und philosophische Dilettanten die von Nietzsche schon in „Schopenhauer als Erzieher"17 geschmähte akademische Philosophie hat ihn, bis auf wenige Ausnahmen, recht distanziert behandelt -, die mit seiner leidgeborenen Philosophie ihr narzißtisch-arbiträres Spiel treiben, hat nur ein sehr begrenztes Recht und verhindert Möglichkeiten der geistigen Anverwandlung. In Nietzsches Werk herrscht eine eigentümliche, leicht zu übersehende Spannung von exoterischer und esoterischer Argumentation18, von Hermetik und Öffentlichkeit, von Selbstdarstellung und Maskerade. Neue Muster der Begründung, des „theoreti-
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Im Postmodernismus eines Jean-François Lyotard, der die Intentionen der aufklärerischen Moderne kritisch bewahren und einlösen möchte, wird Kants Philosophie des Verweises, der Anspielung, der letztheitlich indirekten Mitteilung eine Schlüsselfunktion zugewiesen. Vgl. J.-F. Lyotard, Postmodernefür Kinder. Briefe aus den Jahren 1982-1985, Wien 1987. Vgl. Gottfried Martin, Immanuel Kant. Ontologie und Wissenschaftstheorie, 3., durchges. Aufl., Köln, 1960. Vgl. Max Scheler, „Die Idole der Selbsterkenntnis"; in: Ders., Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze, GW, Bd. 3, 5., durchges. Aufl., Bern/München 1972, 213-292. Erwin Hufnagel, „Schelers Idolenlehre. Ein Beitrag zur phänomenologischen Kritik der Hermeneutik", in: Studio hermenéutica, Heft 3 (1997), 7-72. Vgl. Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien/Köln/Graz 1986.
KSA, SE, 1,335^*27.
NF Sommer 1886-Herbst
1887, VIII, 1, 5 [9], 191.
Dionysos: Metaphysik, Mythos und Moderne
167
sehen" Beweises werden anvisiert. Nietzsche konstituiert sich ein zeitenübergreifendes Publikum einer exklusiven mystagogischen Gemeinschaft, die der Idee wissenschaftlich-argumentativer Intersubjektivität nicht hörig ist. Aus dieser selektiven Konstitation des Publikums ergeben sich weitreichende Konsequenzen für die Interpretation. Voraussetzung für eine Interpretation des Nietzscheschen Werkes sind ausgeprägte Erfahrungen des Leidens, bis ans Pathologische grenzende Sensibilität und das, was seit den Tagen des Erasmus von Rotterdam nobilitas heißt. Der genuine Nietzsche-Interpret muß Gegenwelten durchwandern und Gegenwerte durchleiden können. Nietzsche schreibt „Ein Buch für Alle und Keinen"1 Exoterik und Esoterik werden in dieser Formel koinzidierend auf die Spitze getrieben. Er spielt mit dem Gedanken, daß er selbst nicht fähig ist, seine visionären-erhabenen Erfahmngen auf den Begriff, ja nicht einmal ins (prophetische) Bild zu bringen. Diese Grenzerfahmng muß dem NietzscheInterpreten vertraut und gegenwärtig sein. Weder der Gelehrte noch der Gebildete taugen für die Interpretation eines solch ekstatischen „Wissens", das letztlich nicht um sich weiß. Mit der Freilegung von motivischen Provenienzen, versteckter oder offensichtlicher Widersprüche bewegen wir uns im Vorfeld der interpretativen Aufgabe. Von Nietzsches Denkwelt verstehen wir damit kaum etwas. Vielleicht ist diese Hermetik eines gedanklichen Werkes ein Kennzeichen der Moderne. Vielleicht gibt es literarische und philosophische Werke, in denen sich jene Kluft des Selbst- und Fremdverstehens gleichsam hinter dem Rücken des Autors angebahnt hat. Das Erasmische Lob der Torheit und die Kantische Theorie des Erhabenen in der Kritik der Lyotard hat darauf wiesen in eine solche Richtung. Sie müssen in eine Nietzsche-Interpretation eher einbezogen werden als das prinzipiell täuschende Selbstverständnis des Autors, der im Grunde nicht mehr Herr „seiner" Gedanken ist. In der Sphäre des Denkens fallen Possessivitätsbezüge das gilt für den „kleinen" Gedanken ebenso wie für den „großen". Jedenfalls dürfen wir in der Nietzsche-Auslegung nicht (zumindest nicht nur) mit hermeneutischen Instmmentarien arbeiten, die in der Terminologie der Schleiermacherschen Hermeneutik formuliert schlicht „grammatisch" und „technisch" sind. Wir brauchen eine Nietzsche-Hermeneutik im Horizont einer Theorie der Moderne. Existentiell verwurzeltes, seine Regeln noch nicht kennendes, sondern erfindendes wechselvoll-interimistisches Spielen und die schleichende Abdankung des mimetischen Prinzips markieren den Horizont der Moderne, aus dem Nietzsche bei aller unüberwindbaren Unverständlichkeit zu verstehen ist. Die Künstler-Philosophen haben davon etwas geahnt. Die approbierten Philosophen, die der Welt des Spiels mit seinen vielfältigen Logiken femer stehen als der platonischen Eindeutigkeit des Gedankens, standen mehr oder weniger hilflos vor dieser fundamentalen Infragestellung ihres Weltentwurfs. .
hingewiesen22
Urteilskraft21
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KSA, ZA, 4, 9. von Rotterdam, „Laus Stultitiae", in: Ausgewählte Schriften, Bd. 2, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen v. Wendelin Schmidt-Dengler, Darmstadt 1995, 1-211. Immanuel Kant, „Kritik der Urtheilskraft", in: Kants Werke, Akademie Textausgabe, Bd. 5, Berlin 1968, 165-485. Vgl. J.-F. Lyotard, Postmoderne für Kinder, a. a. O. Erasmus
Vgl. Wolfgang H. Pleger, Schleiermachers Philosophie, Berlin/New York
1988.
Erwin Hufnagel
168
gibt es nur eine, dem schmalen sprechende Nietzsche-Forschung. Deshalb
Terrain der
Eigentümlichkeit des
Werks ent-
II. Die Erasmische Welt Nietzsche fühlt sich von der Epoche der Renaissance, in der sich geniale Menschen in innovative Extreme des Denkens, Gestaltens und Schaffens wagen, schon in seinen je frühen Schriften in besonders starkem Maße angezogen. Die vertane Möglichkeit einer Wiedergeburt der antikischen Welt und die unterlassene Überwindung des christlichen Nihilismus schmerzen ihn bis ins Spätwerk. Die Reformation besiegelt das Schicksal Europas und der seinen Grundwertungen folgenden Welt. Das Ethos des Ressentiments wird zur universalen Selbstverständlichkeit. Nietzsche denkt nicht präzise (substantiell) historisch. Die Konturen vom Spätmittelalter und der in der Historiographie (Jules Michelet) des 19. Jahrhundert als „Renaissance" bezeichneten Moderne fließen ineinander. Erasmus wird als bildungstheoretischer Fokus von Verinnerlichungstendenzen der Zeit mit Ausstrahlungen in die gesamte (europäische) Welt von Nietzsche überhaupt nicht wahrgenommen.2 Ebendeshalb soll unser Rekurs in die Erasmische Welt nicht als Konstruktion motivischer Dependenzen und als Projekt der Nietzsche-Philologie mißverstanden werden. Es geht vielmehr darum, Nietzsche in den Zusammenhang des modernen Fiktionalismus zu stellen, um die Eigentümlichkeit seiner Philosophie der Fiktionen klarer bestimmen zu können, als das eine immanente oder eine lediglich bis in die Romantik reichende Interpretation vermag. Strukturelle Identitäten zwischen zwei Denkwelten aufzuspüren ist die schlichte Intention. Daß strukturelle Identitäten nicht einfach epochale und mentale Koinzidenzen bedeuten, liegt auf der Hand. Wir beschränken uns auf wenige Hinweise. In der Laus Stultitiae2S wird die antikeuropäische Logostradition radikal, ohne angstgeborenen Vorbehalt, in Frage gestellt. Die platonischen und aristotelischen Grundsäulen des mittelalterlichen Denkens stürzen in sich zusammen. Gegen die Welt des Logos wird die mythisch-fiktionale Weltperspektive gesetzt. Erasmus schreibt eine alle linear-progressive Deutungsmuster verabschiedende Geschichte der Fiktionen. Im Grunde verläuft die Menschheitsgeschichte w
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Eugen Fink hat in seiner Dissertation (Vergegenwärtigung und Bild, 1930) eine Heideggersche und Husserlsche Momente kritisch integrierende phänomenologische Theorie des Spiels entwickelt und in seiner Nietzsche-Monographie (Nietzsche, 3. Aufl., Stuttgart 1973) fruchtbar gemacht. Vgl. auch ders., Spiel als Weltsymbol, Freiburg 1960. Vgl. Hermann Josef Schmidt, „Mindestbedingungen nietzscheadäquaterer Nietzscheinterpretation oder Versuch einer produktiven Provokation", in: Nietzsche-Studien, Bd. 18 (1989), 440^t54. Vgl. KSA, SE, 1. Vgl. KSA, AC, 6, 165-254. Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Soziogenetische undpsychogenetische Untersuchungen, Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt/M. 1997, 158ff. Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, Bd. 2.
Dionysos: Metaphysik, Mythos und Moderne
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persönlichen Wahngeschichten überformen sich nicht zu einem menschheitsgeschichtlichen Progreß. Das Erasmische Geschichtsbild der Zirkularität deckt sich mit dem vermeintlich naturalistischen der griechischen Antike.29 Erasmus unterstellt die niemals durchbrechbare Wahngebundenheit aller Menschen übrigens auch die eigene. Sie vereitelt die Kommunikations- und Handelnsgemeinschaft der Menschen. Sie zerstört strenggenommen die personale Geschichte ebenso wie die Menschheitsgeschichte. Jeder Glaube an Progression, jedwede Hoffnung auf Höherentwicklung des und der Menschen entpuppt sich in dieser anthropologischen Sichtung zirkulär. Die kleinen
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als Illusion, und zwar als eine solche, die nach dem Willen des Erasmus keine Zukunft haben darf. Es hat keine Überwindung des (antiken) Mythos durch den Logos stattgefunden. Und es soll kein neuer konstmktiv-totalitärer Mythos an die Stelle der zerbrochenen Logoswelt treten. Statt dessen soll der Mensch im Spiegel der Kunst seiner mythologischen Verfaßtheit ansichtig werden und auf diese entthronend-fundamentale Einsicht ein gelingendes Leben bauen. Der Mensch kann und soll mit dem Mythos und mit allen individuellen und kollektiven Selbstdeutangen spielen. Nur als Homo im selbstgenügsamen sorglosen Spiel mit allen Interpretationen von Mensch und Welt, kann er das Glück des Lebens finden. Das Modell des Künstlers wird existentiell universalisiert. Erasmus entwirft in der Laus Stultitiae das paradoxale Ideal der Sapientia-Torheit als Kunst des Lebens. Er betrachtet das Leben mit den Augen des Künstlers. Nur als Kunst ist das Leben gerechtfertigt und zu ertragen. Der ästhetisch-fiktionale Blick befreit von der Last der Geschichte ebenso wie von der Tragik und Narrheit der Geschichten. Der ästhetischen Perspektive wohnt ein einzigartiges emanzipatorisches Moment inne. Es ist an der Zeit, die wahnhaft-abstmse, zu Formelkram verknöcherte autistische Metaphysik durch eine Metaphysik des Artisten und der existentiellen Artistik zu ersetzen. Die Tragödie des menschlichen Lebens kann im Medium der künstlerischen Sichtung und in der Gestalt der Kunst heiter so wie Nietzsche es ahnte ertragen werden. In der Laus Stultitiae präsentiert uns Erasmus seine Artistenmetaphysik. Die zweitausendjährige Logosgläubigkeit, die im mittelalterlichen formal-deduktiven Denken ihren Zenit erreicht, beginnt zu zerbröckeln. Oder genauer: Sie hebt sich selbst auf. Am Ende einer hohen Logos-Kultur stellt sich der Logos selbst in Frage. Das philosophische Denken wandelt sich zur letztheitlichen ästhetischen Perspektive. Es wird gedacht im Modus der Kunst und die Künstlichkeit als Modus wird ihrerseits bedacht.
ludens31,
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Vgl. Karl Löwith, Nietzsche, Sämtliche Schriften, Bd. 6, Stuttgart 1987. Vgl. Johann Gottfried Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität, hg.
v.
Hans Dietrich Irm-
scher, Frankfurt/M. 1991, „46. Brief: Über Wahn und Wahnsinn der Menschen und Völker, eine
Vorlesung", 244-251. Vgl. Johan Huizinga, Homo
ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, mit einem Nachwort v. Andreas Flitner, Reinbek b. Hamburg 1994. Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, mit den Augustenburger Briefen hg. v. Klaus L. Berghahn, Stuttgart 2000. Wolfgang Ritzel, „Erziehung und Bildung bei Friedrich Schiller", in: ders., Die Vielheit der pädagogischen Theorien und die Einheit der Pädagogik, Wuppertal/Ratingen/Düsseldorf 1968, 9-25.
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Hufinagel
Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik nimmt, ob er darum weiß oder nicht, jene artistische Überwindung der Logosgläubigkeit auf. Die tiefsten Einsichten enthüllen sich nur anspielend und für den Menschen erträglich im Modus der Kunst. Wer die Geburt der Tragödie philologisch-kritisch liest und wertet, unterschlägt ihren Charakter als Seinsgegebenheiten des Menschen erschließendes, ertragbar machendes Werk der Kunst. Die Kunst ist bei Erasmus und Nietzsche erschließendes Spiel. Deshalb spricht Nietzsche von seiner Philosophie und Kunst vermählenden „ArtistenDeshalb unterstellt er seinen philosophischen Erstling künstlerischen Kriterien. Nicht erst Herder33 und einige Denker der Frühromantik (Novalis, Friedrich Schlegel) heben die Grenzziehungen zwischen Philosophie und Kunst auf und spielen neue Formen der Welt- und durch, sondern Erasmus entfaltet als Künstler dieses innovative Potential am Ausgang einer Epoche, in der philosophischer eine zuvor nicht gekannte Komplexität des Wissens um Mensch und Welt zu einer fiktionalistischen Metatheorie des Wissen ästhetisiert wird, deren fundamentale Affinität zur Nietzscheschen Philosophie des (axiologisch begrenzten) Perspektivismus nicht zu übersehen ist. In einer Hinsicht ist Erasmus, dessen Intentionen Nietzsche in der Gestalt der Montaignischen Essays und der französischen Moralistik als geistesverwandt schätzte, sogar Nietzsche überlegen: Erasmus wählt in der Laus Stultitiae ohne jedes Zögern und ohne jeglichen Kompromiß den „weltanschaulich"-ästhetischen Modus des Essays (der declamatiuncula) als zugleich zutiefst persönliche und versuchsweise allgemeine Ausdrucksform und Lebenshaltung.5 Nietzsches „Versuch einer Selbstkritik" anläßlich der Neuausgabe von 1886 läßt keinen Zweifel daran, daß er einen Modus der Mitteilung des begrifflich-argumentativ Unmitteilbaren suchte und noch nicht fand. Der beschrittene ästhetisch-bildgebundene und analytisch-(re)konstruktive Mittelweg konnte Nietzsche nicht zufriedenstellen. Zwischen Wissenschaft und Kunst kann es letztlich keine Versöhnung geben, Zwar spielt Nietzsche auch noch in der „Selbstkritik" mit dem Gedanken eines Künstlers, dem analytische und retrospektive Sensorien beigegeben seien als dem eigentlichen Leser seines Erstlings, aber im selben Atemzug gibt er schon das Suchen nach einer solchen Mischgestalt auf.36 Die Aufgabe, die er sich gemäß seiner späteren Selbstinterpretation gestellt hat, nämlich die neuzeitliche wissenschaftliche Denkform (die Philologie ist nur ein Exemplum), die rekonstruktive und deduktive Logizität nebst ihren methodischen Differenzierungen zum Problem werden zu lassen, ließ sich, wie er nunmehr erkannte, nicht im Gefüge des wissenschaftlichen Denkens einer Lösung entgegenführen. Es ging Nietzsche offenbar um mehr als um eine Metatheorie der Wissenschaft. Es ging ihm um eine radikale Distanzierung von der inszenierten und geglaubten
Metaphysik"32.
Kunsterschließung34
KSA, GT, 1, 13f; KSA, EH, 6, 310. Vgl. Volker Gerhardt, Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, 12-71. Vgl. J. G. Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769, historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Katharina Mommsen, Stuttgart 1992. Vgl. Friedrich Schlegel, Lucinde, hg. und mit einem Nachwort versehen v. Karl Konrad Polheim, Stuttgart 1996, 113f. KSA, „Versuch einer Selbstkritik", 1, 1 Iff. Ebd., 13.
Dionysos: Metaphysik, Mythos und Moderne
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Vergegenständlichung der Welt, des Menschen und der Geschichte. Die „Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn" '\ dies war seine wesentliche wissenschaftlichen
Intention. Der fiktionale Charakter des wissenschaftlichen Denkens kann
nur
in einem
nicht-wissenschaftlichen, überwissenschaftlichen, wagemutigen visionär spielenden
Denken in Erscheinung treten. Höchste Kenntnis gelingt nur im Modus des künstlerischen Spiels, das von arbiträr-subjektivistischen Launen letztlich frei ist. Tiefste Einsicht bricht sich im Künstler als Jünger des Dionysos, als schaffend-zerbrechende Lebensmacht, Bahn. Letztrangige Erkenntnis zeigt sich im (metaphorischen) Spiel. Der Künstler figuriert als höchster Modus menschlicher Daseinsbewältigung. Bis in die Fragmente des Nachlasses wird Nietzsche die in der Geburt der Tragödie entworfene ästhetische Perspektivität als normatives Optimum interpretatorischer Möglichkeiten durchdenken und die Dionysos/Apollo-Thematik in der Gestalt des „tragischen Künstlers" aufnehmen. Zwischen 1888 und Anfang 1889 tritt in einigen Fragmenten im Ton merklich unterschieden von den exoterischen Publikationen jener Zeit eine vorsichtig-hypothetische Korrektur seiner Ästhetik des „großen Stils" und der damit verbundenen Philosophie des Willens zur Macht in Erscheinung. Apollinische und dionysische Kunst, Architektur und Musik, die Grundtypen des Männlichen und Weiblichen werden in wertender Absicht gegenübergestellt. Die metaphorisch schillernde Ästhetik der Gesundheit, der überströmenden Kraft, der in eigener Fülle gegründeten, in deren Selbstgenuß allein legitimierten bezwingenden Formgebung läßt nach und nach die unverwandelten natürlich-barbarischen Momente des „großen" Kultarwillens ans Licht kommen. Als höchste Form der künstlerischen Gestaltung sieht Nietzsche (wieder) die Formen schaffende, Formen duldende, Formen liebevoll bewahrende, „weiblich" auflösende Musik. Es gibt nicht nur einen aus Gesundheit und Überfluß, aus hypertropher Vitalität stammenden Willen zur Form, sondern auch den Gewalttätigkeiten meidenden, sensibelrücksichtsvollen, in der ästhetischen Formung das Recht, den Kunstsinn des bereits Geformten erhaltenden Umgang mit ästhetischen Gestalten. Es gibt zweierlei Modi nichtpathologischer, nicht-romantizistischer Kunst. Und die höchste Menschlichkeit verwirklicht sich in der „weiblichen", in der musikalischen Interesselosigkeit als der Koinzidenz von Formwillen und Formungsverzicht. Es triumphiert in Nietzsches Spätphilosophie der Musik die reine Expressivität, eine solche, die nichts will und nicht um sich weiß. Auch sein retrospektives Ungenügen an seinem Erstling („Sie hätte singen sollen, diese ,neue Seele' und nicht reden!" ) manifestiert, daß Nietzsche seine Reflexionen und Projekte zum Willen zur Macht fragwürdig werden. Wille und Willenlosigkeit, in der eine geläuterte Gestalt des asketischen Ideals sichtbar wird, müssen und können, wie die „weibliche Seele" der Musik zeigt, zueinander finden.41 Dionysos und Apollo verschmelzen miteinander. Die antagonistische Denkform wird ästhetisch überwunden. Am Ende steht die -
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Ebd., 14.
Vgl. Gianni Vattimo, Friedrich Nietzsche. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar 1992, 96. Vgl. ebd., 94. KSA, „Versuch einer Selbstkritik", 1,
15.
Vgl. Gianni Vattimo, Friedrich Nietzsche, 94ff.
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(Normativität einer bestimmten) Musik und nicht der Mythos. In der Musik wird die Gegensätzlichkeit von Logos und Mythos aufgehoben. Erasmus hebt die vermeintliche Differenz von Logos und Mythos nicht in der Musik, wohl aber in der spielerischen Form des Essays auf, in dem jede Demaskierung im schönen Schein der Maske Maß hält, sich selbst als Demaskierung in die Schwebe bringt. Das jeder Demaskierung inhärente Moment der Gewalt Horazens Satiren hat Erasmus so empfunden und sich deshalb stilistisch von ihnen distanziert soll in der Gleichheit insinuierenden und einlösenden Zirkularität des dialogischen Spiels ästhe-
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tisch gebannt werden. Nietzsches (fragmentarische) Philosophie der Musik und die Erasmische Kunst des Dialogs wissen um die Gewaltsamkeit des Erkennens und Gestaltens, um die Gewaltsamkeit jedweder Form. Deshalb wollen Nietzsche und Erasmus eine eigentümlich gewaltfrei vollendete Form die ästhetisch potenzierte Gestalt, die über den Gegensätzen von Einsicht und ästhetischer Erfahrung steht. Der „Seele", der „Weiblichkeit" in Nietzsches Musik-Ideal, entspricht das musikalisch redende, rhetorische und literarische Muster sprachlich-optisch in Szene setzende Weib Stultitia, das die menschliche Komödie mit der menschlichen Tragödie bruchlos verbindet. Bei beiden wird die Gegensätze prinzipiell aufhebende (die heraklitische) Kunst, die ästhetische Dialektik, zur letzten Hoffnung in ihrem Leiden an Mensch und Menschheit. Kulturkritik und Zeitkritik erfolgen bei Erasmus und Nietzsche unter einer eigentümlichen ästhetischen Perspektive. Eine differenzierte politisch-ökonomische Analyse erscheint beiden letztlich entbehrlich. Ihr Blick wäre zu nah, zu maulwurfshaft. Wie Homer in seinen Epen wählt Nietzsche, der sich in seinen ersten Baseler Jahren, auch in seiner Antrittsvorlesung von 1869 („Homer und die klassische Philologie") intensiv mit Homer (Hesiod und den Vorsokratikern) beschäftigte, in der Geburt der Tragödie eine künstlerische Form der Darstellung resp. kritischer Erkenntnis. Radikale Kritik bediente sich geschichtlich bei Homer wie bei Erasmus künstlerischer Mittel. Im Gegensatz zu Homer kennen Erasmus und Nietzsche den wissenschaftlichen Geist, den spezifischen wissenschaftlichen Weltzugriff Erasmus zumindest den philologisch-historischen, den er über weite Strecken selbst entwarf. Die Welterkenntnis im Medium der Kunst, die Nietzsche und Erasmus üben, entspringt einem Grenzbewußtsein des wissenschaftlichen Geistes. Für Erasmus und Nietzsche wird wenn auch in unterschiedlichen (wissenschaftlichen) Kontexten die Wissenschaft zum Problem. Im „Versuch einer Selbstkritik" hat Nietzsche rückblickend ebendieses Bewußtsein als den tragenden Grund seiner Geburt der Tragödie bestimmt. Während Erasmus den Topos des Goldenen Zeitalters aus der imaginativen Welt eines Homer und Hesiod als kritisches Instrument und als visionäre, kaum selbst geglaubte Hoffnung in die Epoche der Moderne hineinzieht, rekurriert Nietzsche auf die argumentativ-ästhetische Darstellung des Dionysos/Apollo-Mythos, deren Zwitterhaftigkeit er sich trotz motivischer Selbstidentifikation schamvoll, d. h. aufgrund seines differenzierteren künstlerischen Sensoriums im nachhinein bewußt ist. Am Anfang und am Ende der Moderne herrscht Trauer über die Selbstentfremdung des Menschen in der Wissenschaft. Erasmus klagt über die sophistischen Errungenschaften der Grammatik, Rhetorik und Dialektik, denen er doch einen erheblichen Teil seiner Gelehrtenidentität -
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KSA 1, 13f.
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verdankt. In der formalistisch-hybriden Welt der mittelalterlichen Universitäten hatte Erasmus die Gmndgefahr der kulturellen Selbsterzeugung des Menschen gesehen und erlitten: die Konstitution einer autistisch-artiflziellen Symbolwelt, die sich von den elementaren Bedürfnissen des Lebens in traumwandlerischer Instinktentsichertheit entfernt. Die Idee der eruditio soll das Gegenbild solcher Dichotomisierung von Kultur und Leben vor Augen stellen. Ein schlichtes „Zurück zur Natur" genügt ihm ebensowenig wie Nietzsche der gewalttätig transzendierende Wille zur Macht. Analogon zur Erasmischen eruditio ist Nietzsches „weiblich" dionysisch-apollinische Musik. Offenbar hat sich der Gang in die Welt der Kunst beschleunigt. Es sollte allerdings nicht übersehen werden, daß die erhoffte „weibliche" Musik (auch) metaphorisch interpretiert werden muß. Sofern dies geschieht, eröffnen sich neue Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden Neuland betretenden Künstlern des Spiels. Beiden erscheint die Moderne bis ins Mark hybrid. Beider Rückgang in die vorsokratische antike Welt will den Horizont des Maßes zurückgewinnen. Der sich selbst bedenkende Mensch ist ein Verhängnis der Schöpfung für sich, für alles und für alle anderen. Wie sollte er in der Wissenschaft des ihm Zugemessenen ansichtig werden?! Erasmus ahnte die Rücksichtslosigkeit der sich zu seiner Zeit formierenden Wissenschaft, die sich von (neuplatonisch) spekulativen Vorgaben und im tiefsten Sinne religiösen Intentionen immer weiter zu lösen begann. Das Denken im Horizont des Mythos erschien nunmehr als Rettung vor der Hybris des Menschen. Aber einem „Zurück in den Mythos" redet Erasmus nicht das Wort. Er spielt mit der mythisch gebundenen und vom Mythos zumindest partiell emanzipierten Daseinsweise des Menschen. Das geschichtliche Faktum der Wissenschaft bleibt für ihn ambivalent. Die Selbstbefreiung, die Humanisierung des Menschen kann, wie Erasmus glaubt, im Medium der Wissenschaft gelingen. Und Nietzsche hat den kulturellen Rang der europäischen Wissenschaft und deren epistemischkritische Möglichkeiten trotz aller Kritik nicht bestritten. Nietzsche und Erasmus wollen keine universale Wissenschaftskultar, wohl aber die Kultur des wissenschaftlichen Denkens im Kontext außerwissenschaftlicher Welteröffnungen. Beiden wird die Kunst zu einer fundamentalen Dimension der Welterschließung. Beide argumentieren und experimentieren im Spannungsbereich von Wissenschaft und Kunst. In beiden wird die Moderne zum Problem. Auf eine metaphysische Lösung leisten beide Verzicht. Schon Nietzsches frühe „Artisten-Metaphysik" suchte in einer Philosophie des Artifiziellen, der Kunst in einem neuen, heterogene (analytische, historische) Momente integrierenden Sinne, die metaphysische Dogmatik zu sprengen. Mit Erasmus beginnt der tradierte, kategoriale Fixierungen auflösende Tanz des modernen Denkens, in dessen Dynamik sich Nietzsche intuitiv einreiht. Der Philosoph und Wissenschaftler wandelt sich zum Künstler. Das wissenschaftliche Experiment beginnt mit sich selbst zu experimentieren. Die Selbstreflexivität der Wissenschaft aktualisiert sich im Modus der Kunst, die mit dem überkommenen Kunstbegriff nicht mehr kongruiert. Nietzsche spielt schon in der Geburt mit der metaphysischen Darstellungsform; er transformiert sie letztlich trotz einiger Halbheiten zur Kunst, in der sich tragische Einsicht heiter genießt. Er begreift sie griechisch. Und damit überwindet er die kategorialen Restriktionen und Determinationen der Moderne so wie Erasmus es in seinem -
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antikischen Rückgriff, verdichtet zum tragisch-komischen Spiel, getan hat. Kunst, Mythos und Spiel fügen sich zu einem neuen ästhetisch-artistischen Organ der Erkenntnis, die mit sich selber spielt, die um ihre Vorläufigkeit und Fiktionalität resp. Künstlichkeit weiß. Die lebensdienliche Künstlichkeit der Kunst bricht bei beiden in der Kunst selbst auf. Die Welt der Kunst wird zum universalen Spiegel. Die darin eingelagerte historische Perspektive wird für Nietzsche, nicht weniger als für Erasmus, zyklisch. Geschichte als säkulare oder heilsbezogene Progression wird in „metaphysischer", letztrangige tragische Einsichten eröffnender, gestaltender Kunst aufgehoben. Interimistische Fiktionalität und heiter akzeptierende Entdeckung unübersteiglicher Tragik vermögen sich im Medium der Kunst zu versöhnen. Philosophie und Metaphysik heben sich als „Kunst" auf. Nietzsche und Erasmus verknüpfen das Ideal der Vornehmheit mit dem der Heiterkeit. In der nobilitas waltet ein tragisches, Nähe und Distanz zum Sein (des Menschen) vereinendes Bewußtsein. Nietzsches antiplatonische, die Wertungen Piatons umkehrende Artisten-Metaphysik lebt aus dieser Spannung zum Sein, in der sich Interesselosigkeit (Ästhetizität) im Interesse ankündigt. Ethische und ästhetische Perspektiven verschränken sich so, wie es für Kants Kritik der Urteilskraft, die Nietzsche bereits 1868 der Neukantianismus beginnt sich zu formieren gelesen hat, (und für die Herbartsche Philosophie und Pädagogik) kennzeichnend ist. Die ästhetische Haltung zur Welt erscheint als die im buchstäblichen Sinne originäre; alle anderen Weltstellungen werden zu Derivaten. Metaphysik im herkömmlich usurpatorischen, weltblinden Stil ist tot. Kant sinnt im Opus postumum über eine „Metaphysik der Metaphysik" nach.44 Die Erasmischen Bedenken gegen die Moderne entfalten sich bei Kant und Nietzsche als im weitesten Sinne ästhetische Theorie. Der Konnex zwischen Aisthesis und Ästhetik wird rehabilitiert. Für die Metaphysik bleibt in solcher ästhetisch-artistischen Weltperspektivität kein Raum. Erstaunen erregt, daß Nietzsches Philosophie im Kontext der mit Erasmus aufbrechenden Moderne Grundstruktaren enthält, die eine jahrhundertelange Geschichte aufweisen. In Nietzsche wird die Moderne spruchreif, nachdem Kant ihr epistemisches Ideal in einer Theorie des uneigentlichen, des anspielenden Denkens kunstvoll scheitern ließ. Es wäre törichte Kärrnerarbeit, philologisch die fundamentale Affinität zwischen diesen Exponenten und (zentrale Motive der Moderne) bewahrenden Überwindern der Moderne rekonstruieren zu wollen. Diese Affinitäten lassen sich nicht in einem philologischen Beweis demonstrieren. Mehr als An-spielungen können und wollen diese Hinweise nicht sein. Gegen domestizierte Formen des Denkens und Beweisens allerdings wollen sie sich wehren. Nietzsche steht am Anfang und doch auch am Ende einer langen „ästhetisch"modernen Geschichte. In dieser Geschichte wird die Anthropozentrik der europäischen Metaphysik im Rekurs auf Einsichten und Denkformen der Antike durchbrochen. In einer Epoche des wissenschaftlich-globalen Aufbruchs, der Entdeckung der Welt, ruft Erasmus die alte Einsicht von der Begrenztheit des menschlichen Wissens in Erinnerung. Hybris und Moderne bilden für ihn einen Zusammenhang. Die vermeintlich gren-
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Immanuel Kant, Gesammelte
postumum.
Schriften, Bd. 21,7. Hälfte Opus postumum, Bd. 22, 2. Hälfte Opus
Dionysos: Metaphysik, Mythos und Moderne
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Entfaltung menschlicher Erkenntnis- und Gestaltungsmöglichkeiten führt zu tragischem Scheitern. Erasmus ahnt als Bildungstheoretiker die im Projekt der Moderne unterschlagene Selbstentfremdung des Menschen, das Kippen von Autonomiebestrebungen in Heteronomie. Er ruft den Menschen zu: bedenke, daß du ein sterbliches, endliches, ewig in Fiktionen eingesponnenes Wesen bist. Erasmus stellt, wie Nietzsche, den Menschen in die zyklisch-kosmische Welt, um zu zeigen, wie der Mensch Abstand von sich, von seiner hybriden Selbstdeutang gewinnen kann. Ein Blick sei gestattet auf die Rahmenbedingungen dieses Rekurses in die zyklischkosmische Selbstdistanzierung, die mit pathologischer Selbsterniedrigung nichts gemein hat. Auffallend ist die Unsicherheit der sozialen und epistemischen Verhältnisse. Erasmus ahnt und sieht den unaufhaltsamen Niedergang der Ständegesellschaft. Die kopemikanische Wende der Weltanschauung bereitet sich (übrigens als Wiederholung antiker Spekulation) vor. Der Tod der Metaphysik, die gespenstisch auf Lehrstühlen und im alltäglichen Bewußtsein noch ein Schattendasein führt, ist längst eingetreten. Nach Erasmischer Überzeugung ist der Tod der Metaphysik von ihr selbst, einer unentrinnbaren Logik folgend, herbeigeführt worden. Die Metaphysik hat sich durch höchste Potenzierung selbst überwunden. Nietzsche wird ebendiese Denkfigur auf die Selbstüberwindung der christlichen Moral anwenden. Kurzum: Der Tod der Metaphysik braucht in der Zeit des Erasmus nicht dogmatisch verkündet zu werden. Er ist ein geschichtliches Faktum, das zu immensen Verunsicherungen, seien sie nun bewußt oder zu irritierenden Stimmungen verdrängt, der Menschen führen mußte. Die Wiedergeburt der antiken Welthaltangen sollte fundamentale Unsicherheiten bannen. Sie ist auch Remedium. Sie sollte den Menschen weltanschaulich zugleich entgrenzen und durch die distanzierteste Perspektive stabilisieren, wieder mit sich heimisch werden lassen. Die Erasmische Distanzierung von der Metaphysik vollzieht sich auch durch (versteckte) Anknüpfung an dionysische Traditionen: Die rhetorische Sphäre, der Horizont der bestimmenden Begrifflichkeit wird deutlich überschritten. Letzte Limitationen begrifflich-theoretischen Bestimmens treten ins Bewußtsein. Vorbegriffliche, bildhaftmythische Figuren der Weltdeutang werden reaktaalisiert. Als das Symbol aller Symbole faßt Erasmus den Gott Dionysos. Zu Beginn der Laus Stultitiae bekennt er sich zu dieser Gottheit, die bis in die Romantik in mannigfachen Umformungen und Assimilationen im europäischen Denken präsent ist: „[...] eine Kraft, zenlose
die in der ganzen Welt wirkt, läßt sich in keine Formel bannen, und eine Gottheit zerstückelt man nicht, zu deren Verehmng sich alle Kreatur zusammenfindet."46Das Numen als göttliche Macht in der römischen Antike mit der politischen Herrschaft verschmoltritt an die Stelle des Begriffs, dessen interpretative Möglichkeiten offenbar bezen grenzt sind. In der Laus Stultitiae überwindet sich die Rhetorik in der Declamatio selbst. Die rhetorisch-metaphysische Tradition endet als dionysische Kunst. Erasmus schreibt als Abgesang der Metaphysik ein dionysisches Werk, das im Aufruf zu dionysischem Kult sich heiter vollendet. Die Laus Stultitiae erweist sich als alle Grenzen auflösende, -
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Vgl. Karl Jaspers, Nietzsche und das Christentum, Hameln Erasmus earn
von
cuius
1946.
Rotterdam, „Laus Stultitiae", 13. Im lateinischen Original: „[...] vel fine circumscribere
numen tarn
late pateat, vel secare, in cuius cultum omne rerum genus ita consentiat." (12)
Erwin Hufnagel
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letzte Erkenntnisse eröffnende dionysische Feier. Stultitia und Dionysos sind identisch. Grenzen enthüllen sich in diesem um sich selber wissenden kultischen Geschehen als Fiktionen. Dionysos wird zum Symbol des universalen Perspektivismus. Und sein Begleiter, der „schreckliche Weisheit" kündende Silen, ist als taedium vitae im wirbelnden, Schönheit entfaltenden Spiel als Bezugserfahrung allgegenwärtig. Als ästhetische Perspektive bereitet sich das Bewußtsein allumgreifender Fiktionalität aus. In der Kunst zerbricht die alte Welt; in der Kunst wird eine neue Welt geboren. Dionysos und Apollo leben im Gestalten erzeugenden und vernichtenden Spiel der Kunst. In ihrem Miteinander und Ineinander wird Zirkularität zum Ethos bildenden schönen Schein. Ontische Petrifizierungen schmelzen dahin. Die substantialistische Metaphysik wird selbstredend ridikül. Alle vermeintlichen (scholastischen) Notwendigkeiten geraten in das diffuse Licht der Kontingenz. Die Welt wird zur Bühne, der Mensch zur identitätslosen Maske, zum regulativen Konstrukt von Rollen; das Leben wird zum Schau-Spiel, das man als Mit-Spieler amüsiert, zugleich beteiligt und distanziert, betrachtet. Als Heilsgeschichte wird es noch verkündet, aber in der Welthaltang längst nicht mehr geglaubt. Die Identität der Welt und des Menschen, die bislang fraglos gültigen (platonisch-christlichen) Wertordnungen, all dies löst sich in Schemen auf, die ein Leben nicht führen können. Allein die ästhetische Existenz rettet ein nicht tradierbares, kumulierbares Minimum an Sinn. Außerhalb der ästhetischen Welt lauert der Tod. Wer könnte die weitreichenden Affinitäten zur Nietzscheschen Welthaltung übersehen?! Wer würde noch die geschichtlich-politischen Realfaktoren bei der Interpretation seiner Schriften gänzlich vernachlässigen wollen?! Wer begriffe nicht, daß der neuzeitliche Prozeß der Individualisierung in Leibnizens Monadologie, die für einige Frühschriften Nietzsches noch maßgeblich war,50wird er metaphysisch überhöht ab origine letztheitliche Individualität in Frage stellt?! Nietzsche steht in einer Tradition dieser modernen spielerischen Destruktion, die ihm nicht gänzlich bewußt ist. In der Frühromantik beispielsweise im Heinrich von Ofterdingen des Novalis werden Identitäten symbolisch (im Leitsymbol der blauen Blume5 und im Leit-Gedicht „Astralis"53, in dem Dionysos mit partiell christlichen Assoziationen wiederersteht) aufgehoben. In Hölderlins Hymne „Brot und Wein"54 werden in merklicher Differenz zu Novalis Christus und Dionysos in eins gesetzt. Beim geliebten Hölderlin konnte Nietzsche die ästhetische Aufhebung von Identitäten und die Versöhnung des vermeintlich Differenten als Problem der Moderne erkennen. Schon in seiner frühen Metaphern entlarvenden Sprachphilosophie55 löste sich das „Ich" als grammatikalische Suggestion auf. Jahrhun-
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Vgl. ebd., 33. KSA 1, 39. Vgl. auch KSA 1, 35. Lob der Torheit, 43. Zum Beispiel für „Schopenhauer als Erzieher" und für den „Griechischen Staat", KSA 1, 764-777. Novalis, Heinrich von Ofterdingen, hg. v. Jochen Hörisch, Frankfurt/M. 1982. Ebd., 13ff. Ebd., 153ff. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. v. Günter Mieth, Bd. 1, 5. Aufl., Darmstadt 1989,309.
Vgl. KSA, WL, 1,873-890.
Dionysos: Metaphysik, Mythos und Moderne
111
derte zuvor hatte Erasmus als Theoretiker und Metatheoretiker der Moderne in seiner ästhetischen Transformation der Rhetorik diesen alles vermeintlich letztrangig Identische zermalmenden Wirbel entfacht. Die Schönheit der Kunst lebt in ihrer Gestaltung (auch) von der Zerstörung. Wir ahnen den Ernst des Spiels. Bevor im Cartesischen Rationalismus die mittelalterliche Substanzen-Metaphysik, freilich noch mit einigen metaphysischen Implikationen, philosophisch aufgelöst wird,56 wird ihr schon das Todeslied im Selbstlob der Staltitia gesungen. Das dekonstruktive Potential der Kunst entfaltet sich eher als die analytische Potenz der Philosophie. Spielerisch-narrative Modi verdrängen in der Laus Stultitiae den wahrheitsbezogenen Diskurs. Eine verdeckte persönliche Problematik wird im Spiel mit sich selbst und allen Narrheiten der wissenschaftlichen und alltäglichen Welt inszeniert und überwunden. Erasmus will sein Theologen-Blut, seine zu Selbstverständlichkeiten herabgesunkenen religiös-dogmatischen Vor-urteile und den in ihnen gärenden Haß auf das Leben exemplarisch überwinden.57 Er will die Welt resp. das Leben nicht durch den stellvertretenden Tod, sondern im Modus der Kunst erlösen. Christus als Versöhnungsgestalt wird zum Künstler. Die Erasmische Kunst will das vergessene, abgewertete, mit Schuldgefühlen überschüttete Leben ohne Rückfall in naturalistische Barbarei retten. In der Kunst soll sich das Leben wiedererkennen und sich selbst genießen. Erasmus entfaltet eine Artisten-Theologie als Überwindung der lebensfernen und lebensfeindlichen (theologischen) Metaphysik. Luther hat diese grundsfürzlerischen Intentionen geahnt und mit hilflos-giftigen Invektiven geschmäht. Erasmus hat Luthers Schriften nicht gelesen, aus latinistischem Vorurteil gegen die vermeintlich inferioren Volkssprachen und was viel bedeutsamer ist wegen seiner dialogisch-spielerischen Aufkündigung des Diskurses. Bei Erasmus wandelt sich der kunstvolle, bei aller Aporetik doch théorie- und entscheidbarkeitsgläubige Platonische Dialog zum heiter-existentiellen Spiel mit perspektivischen Fiktionen. Den platonischen Glauben an die identifizierbare Wahrheit hat er aufgegeben, ohne in mythische Erklärungsmuster der Welt und des in ihr Waltenden zurückzufallen. Die Logik des Logos vollendet sich im sich selber transzendierenden Spiel. Nietzsches dionysische Artisten-Metaphysik sucht in ganz ähnlicher Weise die Fesseln der Logizität zu sprengen, im Medium der Musik metaphysisch-kontingente Urerfahrung des Menschen mitzuteilen. Aus dieser ästhetischen Metaphysik, die sich von den ontischen Vorgaben der überkommenen Metaphysik durch eine heuristische Wende deutlich unterscheidet, wird Nietzsche nach und nach seine Philosophie der Fiktionen entwickeln. Erasmus hingegen beginnt mit ihr. Daß Nietzsche Geist von seinem Geist in der erasmischen Welt gespürt hat, läßt sich aus seiner Hochschätzung Montaignes unschwer erkennen. Rabelais hat sich noch als direkter Schüler des Erasmus in seiner poetischen Sichtung der Welt gefühlt und dies -
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Ernst Cassirer, Descartes. Lehre Persönlichkeit Wirkung, mit einer Einleitung hg. sowie Anmerkungen und Registern versehen v. Rainer A. Bast, Hamburg 1995. Karl Jaspers, Descartes und die Philosophie, 4., unveränderte Aufl., Berlin 1966. Vgl. Hermann Josef Schmidt, Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche, Teil 1 und 2: Zugänge und Entwicklung, Berlin/Aschaffenburg 1991.
Vgl.
mit
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auch offen bekannt. Montaigne, der sich in seinen Essais auf das dichterische Werk Rabelais' bezieht, kommt über ihn in die erasmisch-perspektivische Sichtang der Welt. Zu Unrecht behauptet man, Montaigne habe die literarisch-persönliche Darstellungsform des Essays für die Moderne entdeckt.60 Erklärbar werden solche und andere Irrtümer durch die jeweiligen Rezeptionsgeschichten, die den Werken des Erasmus und des Montaigne vergönnt waren. Die Erasmischen Schriften wurden 1559 auf den Index der verboten Bücher gesetzt und nur ihr aufklärerisches Ethos wurde zum Beispiel in der kommentierten Sprichwortsammlung der Adagia die Goethe und Lessing noch lasen beim späteren Auflodern aufklärerischer Ideen und Bewegungen vergegenwärtigt. Erasmus als die begriffliche (wissenschaftlich-theologische) Selbstreflexivität transzendierender Künstler wurde im Grunde nur von Jean Paul, im Widerspruch zu seinem Freund Herder, gewürdigt und literarisch fortgesetzt. Montaignes Essais hingegen schlugen im Geiste Frankreichs tiefe Wurzeln und durchtränken ihn bis auf den heutigen Tag. Aus ihnen atmet nach Nietzsches Überzeugung eine vorbildliche, von niemandem sonst verwirklichte Ehrlichkeit und Treue zur Erde.62 An dieser „freiesten und kräftigsten Seele" will er nach seinem Bekenntnis in „Schopenhauer als Erzieher" Mut für seine eigene denkerische Zukunft gewinnen. Durch Montaigne gewinnt Nietzsche den entlarvenden Blick der französischen Moralistik, in der die Idee der Ehrlichkeit neuzeitlich psychologisiert wird. Der Nietzsche der mittleren „psychologisch-kritischen" Phase übersetzt Aufklärung in ein psychologisches Programm der amour-propre entdeckenden moralischen Kritik. Von dem Fundament der kritischen Betrachtung seiner selbst und des anderen, von der bereits in der Laus Stultitiae fiktional-lebensphilosophisch durchgespielten Ubiquität der Philautia weiß Nietzsche ebensowenig wie seine Zeitgenossen, die ihn bestenfalls aus pseudoreligiösrestaurativen Motiven polemisch verformt wahrnahmen. Die Erasmische Koppelung von Lebenswille und universaler Fiktionalität muß ebenso wie die ästhetische Überwindung nicht mehr einlösbarer, nicht mehr allgemein kommunizierbarer philosophischwissenschaftlicher Reflexivität das mit Schweigen übergangene Mittelalter treibt daß ohne letztlich er es Erasmus, weiß, in das Kippungsphänomen des ästhetischen, seine Regeln selbst setzenden und zugleich fortwährend aufhebenden Spiels neu gefunden werden. Wie man sieht, geht es um erheblich mehr als einen sozial-ökonomischen Umbruch: Es geht vielmehr um die kaum geahnte Antizipation des artistischen Spiels mit der Metaphysik, die den ihr inhärenten Gedanken der Selbstbegründung im mittelalterlichen Philosophieren nicht mehr kommunikabel denken kann. Die Erasmisch-ironische Distanz zum Scotismus an der Sorbonne erweist sich in solcher Lesart -
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Vgl. Stefan Zweig, Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam,
17.
Aufl., Frankfurt/M. 2001,
181f.
Vgl. Michel de Montaigne, Die Essais, ausgewählt, übertragen und eingeleitet v. Arthur Franz, Stuttgart 1996,71. Vgl. ebd. die Einleitung v. Arthur Franz, 25. Erasmus von Rotterdam, „Adagiorum Chiliades (Adagia selecta)", in: Ausgewählte Schriften, Bd. 7, 357-633. KSA 1,348.
Dionysos: Metaphysik, Mythos und Moderne
179
als Bewußtsein nicht mehr gelingender Selbstbegründung der Metaphysik als Kultursystem.63 Aus diesem Bewußtsein wird Kunst als Substitut geboren. Die Not der Letztbegründungen, die uneingestandene Verzweiflung an der geschichtlich heraufgezogenen Unmöglichkeit totaler philosophischer Reflexivität gehört schon dem Mittelalter zu. Im Mittelalter beginnt mag es für manche geschichtstaube Ohren auch seltsam klingen die (Post-)Moderne, die Erasmus, analog zu Nietzsches künstlerischem Ingenium, ästhetisch gestaltet. Erasmus denkt wiederum in Analogie zu Nietzsche nicht (primär) von der Binnenstruktar eines (theoretischen) Kultarsystems her. Für beide steht der immer tiefer reichende Hiatus zwischen Wissen und Leben, den Montaigne gut erasmisch in seinen Essais bildungstheoretisch durchbuchstabiert, mithin ein Folgeproblem der wissenschaftlichen Selbstreflexivität, im Zentrum des Fühlens, des leidenden Denkens. Der geistige Vater des europäischen eruditio-ldeals, in dem sich scientia und sapientia, Innerlichkeit und sensus communis nebst eloquentia, also Öffentlichkeit, vereinen, der Bildung als Ineins von Wissenschaft und Haltung (Ethos) begreift, spürt die Unversöhnbarkeit seiner (bildungs)theoretischen Fundamentalmomente. Die immanente Logik des wissenschaftlichen Denkens zwingt, wie Erasmus ahnt, nicht mehr platonisch, sondern nur noch konventionell lösbare Selbstbegründungsprobleme herauf, die den Glauben an die Perfektibilität, an die Progressivität des Systems Wissenschaft untergraben. Für Erasmus und Nietzsche wird die Wissenschaft in ästhetischen MetaMetaphysiken zum Problem. „Laus Stultitiae" und die Geburt der Tragödie gründen in verwandter Einsicht und gestalten sie zu einem Werk der Kunst, in dem die Tragik der Conditio humana auch aus der (Selbstreflexivität initiierenden) Entfaltangslogik der kulturellen Systeme, in denen er seine Menschlichkeit erzeugt, lebt. Nietzsches Leiden am Epigonentum überreicher, historistisch überfrachteter Kultur erweist sich dem Erasmischen Leiden am verkrusteten, sich zunehmend mit sich selbst beschäftigenden Wissenschaftssystem als zutiefst verwandt. Erasmus überwindet dieses Leiden in schwankender ästhetischer Gestalt, in der der Reichtum des menschlichen Wissens nicht epigonenhaft kumuliert, sondern zum mit sich selber spielenden Spiel transformiert wird. Und Nietzsche wird ihm einige Jahrhunderte später, nach immer wiederholten Versuchen, neue, vermeintlich metaphysikfreie letztheitliche Sicherheiten zu gewinnen der zeitgenössische Positivismus und dessen Verwandter im Geiste, der Historismus, werden von ihm in dieser Blickrichtung durchschaut mit seiner Geburt der Tragödie folgen und damit die wissenschaftlich-philosophische Kultur der Moderne in der Dynamik mythischer Metaphern in Frage stellen. -
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III. Die Geburt der
Tragödie
Während Erasmus noch versuchte, Gott und Götter, Antike und Christentum relativierend miteinander zu verbinden und so eine universale Kommunikationsgemeinschaft zu ermöglichen, über deren geschichtlichen Erfolg er übrigens nachhaltig Zweifel hegte,
Vgl. Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung Opladen 1981.
3: Soziales
System, Gesellschaft, Organisation,
Erwin
180
Hufnagel
will Nietzsche von Anfang an die wertende Konfrontation dieser konkurrierenden, nach seiner Überzeugung in den Wurzeln unversöhnbaren Anschauungen der Welt und des menschlichen Lebens. Geburt und Antichrist bilden eine gedankliche Kontinuität trotz medialer Veränderungen. Nietzsche fühlt sich gedrängt, das verborgen quälende Kindheitstrauma der Abwesenheit Gottes durch künstlerische Gestaltung zu überwinden.64 Nicht die überkommene Begriffssprache mit ihren normativen Implikationen und semantischen Vor-urteilen, sondern der Mythos als ästhetische, bildorientierte „Metaphysik" soll eine radikale psychische und kategoriale Befreiung bringen. Die aufklärerische Progressionsfordemng, von der Anschauung zum Begriff vorzustoßen, stellt Nietzsche auf den Kopf. Der geschichtliche Weg vom Mythos zum Logos, von der ekstatischen zur ich-bewußten Welthaitang darf nicht als Fortschritt, sondern muß als Dekadenz gewertet werden. Chronologische und axiologische Dimension fallen auseinander. Der neuzeitliche Geschichtsbegriff zehrt strukturell, nämlich in seiner teleologischen Bestimmtheit, noch von heilsgeschichtlichen Selbstverständlichkeiten. Die Ästhetisierung des Mythos in der griechischen Tragödie machte die Kunst zum Organon der Weltsichtang. An deren Stelle trat in der Moderne nach und nach die Erfahrungswissenschaft mit ihren methodologisch gesetzten Partikularitäten. Die Philosophie als Medium universaler Erklämngen wurde zunehmend marginalisiert; als Geschichte der Philosophie und als Wissenschaftstheorie löste sie sich zur Zeit Nietzsches in akademische Belanglosigkeiten auf. Nietzsche will in seinem Erstling diese Entwicklung durch größte historische und mediale Distanziemng fragwürdig werden lassen. Eine philosophisch-begriffliche Argumentation wäre durch Konzessionen in ihrer Radikalität gebrochen. Die Eigentümlichkeit der Medien des Weltzugangs erschließt sich erst im Vergleich, nicht in der bloßen Steigerung der Reflexivität. Deshalb wählt Nietzsche den Dionysos/Apollo-Mythos als sein artistisches Medium. Dionysos und Apollo sind generalisierte Symbole originärer, geschichtlichem Wandel enthobener Welterfahmng. Der semantische Horizont dieser Symbole übersteigt die Sphäre begrifflicher Bestimmtheit; er läßt sich partiell in sie übersetzen, was Nietzsche in der Geburt mit Friktionen, wie er später bekennt, auch versucht. Aufs Ganze gesehen bricht Nietzsche durch die Wahl seines ästhetisch-mythischen Mediums der Selbstvergewissemng und Selbstüberwindung mit den Voreingenommenheiten der (aufklärerischen) Moderne wie es Erasmus in der Laus Stultitiae, dem kaschierten Gesang seiner Seele, für ihn selbst überraschend getan hat. Mit dem Dionysos-Mythos verfolgt Nietzsche die Potenzierung und Depotenzierung des Menschen. Die neuzeitliche Anthropozentrik wertet er als wahnhafte Selbststilisierung eines fragil-ephemeren, durch konstitutionellen Selbstbezug riskant und hybride werdenden Wesens, dessen Ichhaftigkeit Leben ermöglichende Fiktion ist. Es ist zu kurz gedacht, wenn man verleitet durch die Thematik einiger Unzeitgemässer Betrachtungen Nietzsches Kultur- und Gesellschaftskritik als primum movens seiner -
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Herman Josef Schmidt, „Von ,Als Kind Gott im Glänze gesehn' zum .Christenhaß'? Nietzsches früh(st)e weltanschauliche Entwicklung (1844-1864), eine Skizze", in: Nietzscheforschung, Bd. 8, 95-118. Vgl. „Immanuel Kant über Pädagogik, hg. v. Friedrich Theodor Rink", in: Kants Werke, Akademie Textausgabe, Bd. 9: Logik, Physische Geographie, Pädagogik, Berlin 1968, 437-500.
Vgl.
Dionysos: Metaphysik, Mythos und Moderne
181
frühen Schriften deklariert. Letztlich stellt er die europäische Rationalitäts- und Bewußtseinsphilosophie mit ihrer Voreingenommenheit für das subiectum, das dann normativ zum Individuum mutiert, in der bildhaften Logizität des Mythos in Frage. Von Julius Langbehns Kulturkritik trennen ihn Welten. Nietzsches frühe mythologische Anthropologie verbrämt sich ein wenig in der Weite „metaphysischer" Perspektiven, in der Philosophie des dynamischen-heraklitischen UrEinen. Er redet von göttlichen mythologischen Gestalten bezeichnenderweise ist die Göttlichkeit des Dionysos eine gebrochene, bestrittene, spät -, nicht menschheitliche ErfahrunGestalten haben sich diesen Menschen. In direkt vom jedoch gen zu einer heterogenen Ganzheit verdichtet. Sie sind Ausdruck des menschheitlichen Gedächtnisses, der Differenzierung und Fixierung eines ursprünglich unübersehbaren Reichtums von Erfahrungen. Sie sind bildhafte, im Prinzip offene psychische und soziale Systeme, die das Erleben vereinfachend formen und Kommunikation mit den anderen ermöglichen. Durch den Kult stiften sie gemeinschaftliche Sicherheit in der Unsicherheit des Lebens und der Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation. In der Religion als Kult wird die fundamentale Kontingenz des menschlichen Lebens gemeinschaftlich Nietzgebannt. Darin ist der Kult funktionsmächtiger als die privatistische versuchsweise das neusches Rückgang in die vorsokratische mythische Welt ersetzt zeitlich-aufklärerische, Omnipotenzphantasien einschließende homo faber-Wlodell der Selbstdeutung des Menschen durch das Modell des animal symbolicum resp. homo religiosus. In den mythischen Figuren symbolisiert sich die Bildmächtigkeit des Menschen in eins mit seinem Gefühl der Ohnmacht vor der chaotischen, unübersehbar bedrohlichen Struktur des Lebens. Im Bild erreicht der Mensch eine rudimentäre Form der Identität und Selbstgewißheit. Im Bild wird er wie vorläufig und eingeschränkt auch immer Herr des Lebens, dessen Übermacht, dessen menschenjenseitigen Logos er überall spürt. In der narrativen Folge von Bildern steigert sich seine Selbstmächtigkeit. Freudig erkennt er, daß ihm der Weg vom Bild in den Mythos als genetisch strukturierte Bildganzheit möglich ist. Der Mensch identifiziert und potenziert sich im Mythos, der seine Identität und (Selbst-)Mächtigkeit durchgängig in Frage stellt. Potenzierung und Depotenzierung des Menschen konstituieren geradezu das spekulative, Urerfahrungen spiegelnde Genre des Mythos, dem in einem späteren Stadium literarisch das Epos und die Tragödie entsprechen. Man erkennt, daß Nietzsche den lebenskranken Historismus seiner Zeit durch eine radikale genetische Philosophie überbieten möchte. Er verbleibt nicht in der fiktional konstruierten Historie, in der sich spezifische Interessen und Leiden manifestieren, sondern schreitet zurück in die mythischen Erzählungen, in denen der Mensch in der kritischen Balance von Selbstpotenzierung und -depotenzierung sich die Möglichkeit der Geschichte erst eröffnet. Nietzsche schreibt im Dionysos/Apollo-Mythos der Geburt -
zugewiesene67
religion
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Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, 10. Aufl., Leipzig 1890. Vgl. Ovid, Metamorphosen. Epos in 15 Büchern, übersetzt und hg. v. Hermann Breitenbach, Stuttgart 2001. Zum Zusammenhang von Religion und Kontingenz vgl. Talcott Parsons, Aktor, Situation und normative Muster. Ein Essay zur Theorie sozialen Handelns, hg. v. Harald Wenzel, Frankfurt/M. 1994.
Erwin Hufnagel
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der Tragödie Ur-geschichte. Er substituiert, ohne ein Wort drüber zu verlieren, die biblische Genesis durch eine mythisch-genetische „Metaphysik", in welcher der Mensch seine Geschichte im Umgreifenden nicht-menschlicher Geschichten findet. Im Bild und im Mythos findet er die originäre Konsolidierung seiner Geschichtlichkeit. Ihnen überantwortet er alle wesentlichen Erfahrungen mit sich selbst und der Welt. Am Anfang seiner Geschichte war das schwankende, heterogenste Gefühle und Erfahrungen zur Einheit bringend, Antagonismen zur Einheit zwingende Bild, das sich zum Mythos als Bilderfolge überschritt und so die Geschichtlichkeit des Menschen begründete. In Mythos und Bild befreite sich der Mensch von der Diffusität und Komplexität seiner zufälligen, rhapsodischen ekstatischen Erfahrungen, ohne den interimistisch-artifiziellen Charakter dieser bildlich-narrativ vereinfachenden Befreiung zu unterschlagen. Es ist ein Widerspruch in sich, dieses originäre Zu-sich-selbst- und Von-sich-wegKommen des Menschen mit der modernen reflexiven Begrifflichkeit fassen zu wollen. Es bleibt uns indes kein anderer Weg zum Verständnis der letztlich unverständlichen, höchst unwahrscheinlichen „Geburt" der Menschlichkeit in der „Geburt" des Mythos. Nietzsche wählte einen Mittelweg zwischen Begriffs- und Bildersprache, der seinem ästhetischen und, wie man hinzufügen muß, seinem epistemischen Gewissen nicht genügen konnte. Da die geschichtlich gefertigte Begrifflichkeit mehr verstellt, als sie begreift, müßte sie einer tiefgreifenden innovativen Korrektur unterzogen werden. Heidegger wird sich so den Limitationen und Verformungen der abendländischen Metaphysik zu entziehen suchen. Nietzsche reaktiviert über weite Strecken seines Erstlings das mythische, an Göttergestalten gebundene Sprechen, um damit Distanz zur verfälschenden Begrifflichkeit zu gewinnen, auf die er dennoch nicht verzichten mag und auch in der Folge nicht verzichtet. Die radikal-genetische Perspektive, die er in der Geburt, aber auch in der Genealogie der Moral einnimmt, verlangt eine besondere hermeneutische Reflexion. Sie liegt bislang bestenfalls in Ansätzen vor. Wie irreführend die Verwendung des reflexiv-ontische Argumentationen suggerierenden, ich-gebundenen Terminus Metaphysik ist, wird auch daraus ersichtlich, daß Nietzsche vom Ich und dem selbstmächtigen Denken schon in der Geburt der Tragödie Abschied nimmt. Aristotelisch-letztheitliche Prinzipien und Ursachen, ideologische Strukturen und Philosophie in der Form der Ontologie, der Kosmologie und Theologie sind Schimären eines Denkens, das wahnhaft an sich glaubt. Durch Kant und Schopenhauer aber auch durch den zeitgenössischen Positivismus war Nietzsche das Problem, die Begründungsbedürftigkeit resp. Begründungsunmöglichkeit präsent. Schopenhauer vollzog die ästhetische Wendung dieses Problems. Die Kunst trat an die Stelle metaphysischer Hoffnungen. Nietzsche übernimmt in der Geburt dessen ästhetische Orientierung, spezifiziert sie aber zur fiktional-mythologischen Ersten Philosophie. Er war sich bewußt, mit neuen Augen Welt, Kultur und Geschichte zu sehen. Dionysos und Apollo wurden ihm zu den Symbolen dieser neue Beziehungen stiftenden Sicht. An die Stelle des Seinsglaubens der Metaphysik trat die scheingläubige Metaphorik. Die Welt löst sich auf in ein wechselndes Gefüge von fiktional-ästhetischen Gestalten. Die Welt wurde zum nicht mehr transparenten „Schein". Die metaphysische Dichotomisierung von Wesen und Schein zerstieb. Im Grunde wurde die Rede vom Schein mit der -
Vgl. KSA, „Versuch einer Selbstkritik", 1, 14f.,- KSA, EH, 6, 313f.
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Dionysos: Metaphysik, Mythos und Moderne
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Sein sinnlos. Die Welt gab es nunmehr als ästhetisch-metaphorisches Totum, als mit interner Verweisungsstruktur auf das andere, auf jeweils fiktionale Ganzheit Transzendentes. Insofern ist die mythische Welt in der Geburt der Tragödie zugleich dynamisch und geschlossen. Strenggenommen kann sie nur vom (überwundenen) metaphysischen Standpunkt aus als fiktionale Welt gekennzeichnet werden. Jede philosophische Regression gerät in Sprachnot. Nietzsche stellt eine metaphysische Frage, nämlich die nach dem Ur-Einen, nach dem Grund der Welt und gibt eine nicht-metaphysische Antwort in mythischem Modus. Zwischen Frage und Antwort herrscht eine eigentümliche Spannung. Im Horizont des Mythos stellen sich so läßt sich vermuten die Fragen anders, gibt es vielleicht nicht einmal den Modus des Fragens, der uns aus gänzlich anderen, nämlich reflexiven Kontexten vertraut ist. Jede Mythologie verfälscht prinzipiell die Eigenbestimmtheit des Denkens im Horizont des Mythos. Letztlich gibt es keinen Weg aus der Metaphysik in den Mythos. In der jeweiligen Konstruktion der mythischen Welt sind unsere eigentümlichen Erkenntnis- und Wertungsgeschichten gegenwärtig. Bei Nietzsche verhält es sich nicht anders. Es bedarf keines besonderen Scharfsinns, um Nietzsches Voreingenommenheiten und Intentionen im Rekurs auf den Dionysos/Apollo-Mythos zu entdecken. Neben den Versuch einer universalen kategorialen Befreiung, der sich, wie wir sahen, letztlich nicht erfüllen kann, tritt die Hoffnung auf Degradierung des neuzeitlichen egoistisch wollenden Individuums, auf Destruktion des Primates des Willens. Der neuzeitliche Mensch begreift sich philosophisch und alltäglich primär als Wille. In Kants Transzendentalphilosophie mit dem Primat der praktischen Vernunft und der Deutung des Menschen als prinzipiell frei handelndem Wesen findet diese Selbstinterpretation des Menschen ihren bündigsten, theoretisch überzeugendsten und folgenreichen Ausdruck. Gegen diese Willensmetaphysik setzt Nietzsche die selbst- und willenlose ästhetische Existenz des (lyrischen) Dichters, des Genius als höchste Möglichkeit des Menschen. Als Weltgenius ist der Künstler seiner selbst nicht mächtig; in Anlehnung an mystische Traditionen läßt Nietzsche den Lyriker resp. den dionysischen Künstler mit dem Schmerz und Widerspruch des Ur-Einen verschmelzen. In Dionysos gibt er seine Identität als empirisches, empfindendes und wollendes Individuum auf. Dionysos symbolisiert sich in den apollinischen Visionen dieses Genius. Aus der dionysischen unio mystica geht eine apollinische metaphorische Bilderwelt hervor. Der lyrische Künstler wird zum dionysisch-apollinischen Medium. Sein Ichbewußtsein ist bloße Fiktion, fungiert nur als selbstlose formale Einheit der Symbolisierungen des Weltgrundes. Das Ich verliert in Nietzsches Dionysos-Mythos qua Philosophie des lyrischen Künstlers seine absolute Setzungspotenz; es wird zum urgrundlich Gesetzten. Der Dionysos-Mythos soll den Wahn der Autonomie brechen und höhere Menschlichkeit indizieren. Prima facie handelt es sich in den ersten Paragraphen der Geburt der Tragödie um eine ästhetische Theorie, die um die Trias Genius, Nichtgenius und Weltgenius kreist. Die Musik erscheint als Entäußerung des Ur-Einen, das als Einheit einer fast zerreißenden Spannung gedeutet wird. Heraklitische und Schellingsche Philosopheme werden in das Bild des Ur-Einen hineingenommen. Max Scheler, einer der bedeutsamsten und vom
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schöpferischsten Nietzsche-Interpreten des 20. Jahrhunderts, hat in seiner panentheistischen Spätphilosophie seine bildungstheoretisch-geschichtsphilosophische Lehre vom „werdenden Gott" aus diesen Vorgaben entwickelt.71 Die ästhetische Dimension geht dabei verloren. Es hat eine Übersetzung in bildungsphilosophische Reflexionen stattgefunden. Nietzsche verquickt solche Überlegungen mit mythisch-ästhetischen Behauptungen und Bilder-Spielen. Ästhetik, Bildungs- und Geschichtsphilosophie, „Metaphysik": sie alle koinzidieren in Nietzsches Aufnahme und Transformation des Dionysos-Mythos. Er entzieht sich durch den spielerisch-mythischen Rekurs den geschichtlich in Erscheinung getretenen (problematischen) Differenzierungen des Denkens. Mythisches Denken ist in mehrfachem Sinne primordial. Auch Husserls Ur-Ich kann als Mythos gelesen werden. Zwischen Nietzsches Ur-Einem und Husserls Ur-Ich
besteht strukturell-funktionale Verwandtschaft. Nietzsche wählt eine ästhetische Ursprungsphilosophie, weil er an den genetischen und systematischen Primat der (zunächst bildlosen) Anschauung glaubt. Zudem drängten ihn die Erfahrungen mit Wagner und Schopenhauer zu einer metaphysischen Wertung der Musik. Sie wird zu seinem Paradigma des urgmndlichen Denkens. Nietzsche entwickelt die späte Selbstcharakterisiemng und Selbstironisierung mit dem Terminus Artisten-Metaphysik kann irreführen eine musikästhetische philosophische Gmndlehre. Die Musik versteht er als bild- und begriffslosen Widerschein des leidenden Ur-Einen, als Spiegelung des Urschmerzes. In der Musik ist der innerlich zerrissene Dionysos ursprünglich, als antagonistische Grundbestimmtheit der Welt, gegenwärtig. Das Ur-Eine ist die Ur-Einheit der Ur-Mannigfaltigkeit. Über die ontische Bestimmtheit dieses Ur-Einen erfahren wir nur etwas in einer formal-vitalistischen Metaphorik. Über ontische Naivitäten ist Nietzsche, wenn man genau hinsieht, schon in der Anfangsphase seines Schaffens hinaus. Die Musik ist nicht einfach Wiederholung der Welt, sondern die „Musik" wird zum Gmndmuster der Welt: Die Musik als Kunst ist die Welt. Gewiß: Nietzsche spricht anfangs noch in einer mehrdeutigen ontischartistischen Sprache. Aber die Dichotomie einer eigentlichen Welt und einer in der Kunst erscheinenden Welt ist im Grunde aufgehoben. Die Wirklichkeit der Welt gibt es nur im Medium der Kunst und des Künstlichen. Dionysos wird zum Symbol eines mit sich selbst spielenden Spiels. Die Welt wird zum Spiel, das sich in der Musik ursprünglich formiert und ausdrückt. Die Weltkonstitation ist ein Spiel etwas zutiefst Kontingentes. Dionysos als spielender Grund ist unbegründbar. Die idealistischen Konzeptionen des Weltentwurfs vergessen, daß sie nichts als ein arbiträres Spiel sind. -
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Vgl. Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, GW, Bd. 2, hg. v. Maria Scheler, 5., durchges. Aufl.,
Bern/München 1966. Ders., „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen", in: Ders., GW, Bd. 3: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze, 5. Aufl., Bern/München 1972, 33-147. Ders, „Versuche einer Philosophie des Lebens. Nietzsche Dilthey Bergson", in: Ders., GW, Bd. 3, 311-339. Vgl. Max Scheler, „Die Formen des Wissens und die Bildung", in: Ders., GW, Bd. 9: Späte Schriften, hg. v. Manfred S. Frings, Bern/München 1976, 85-119. Ders., „Die Stellung des Menschen im Kosmos", in: Ders., GW, Bd. 9, 7-71. Vgl. Karen Joisten, Die Überwindung der Anthropozentrizität durch Friedrich Nietzsche, Würzburg 1994. -
-
Dionysos: Metaphysik, Mythos und Moderne
185
Reminiszenzen an Schopenhauers Metaphysik haben die Überwindung der Dichotomie von Kunst und Wirklichkeit in einer artifiziellen Transkription der Welt ein wenig verdunkelt. Deutlich ist, daß der Gott des Lebens und der Zerstörung, daß Dionysos als Symbol des tragischen Mythos an die Stelle des ontisch Ur-Einen tritt. Die metaphysische Frage nach dem Weltgrund wird ästhetisch-mythisch beantwortet; und damit wird ein neues Muster für die Frage nach der Welt entworfen. Obwohl Nietzsche noch häufig in platonischer Manier von Urbild und Abbild redet, ist der platonische Chorismos, den möglicherweise Aristoteles erfunden hat, ästhetisch überwunden. Weder Musik noch Mythos sind strikt dualistisch. Sie kennen keine Transzendenzen; sie leben von internen Verweisungen und Spannungen wie der Ur-grund. Musik, Mythos und Spiel verdrängen die tradierten Muster des philosophischen Denkens. Dionysos dient Nietzsche als Symbol der Zerstörung und des philosophischen Neuanfangs. Die alten metaphysischen Systeme werden als Erzählungen erkennbar. Nietzsches Philosophie muß, wenn sie ihren Anfängen und Grundeinsichten treu bleibt, sich selbst als interprétatives Spiel verstehen und sich so in den Wirbel einreihen, den es erzeugt hat. Sie muß das ontische Reden als uneigentliche, als hilfreiche und möglicherweise irreführende Metaphorik begreifen. Wenn sich Nietzsche dieser Rede bedient, bedeutet dies nicht, daß er ihr verfallen wäre. Wir dürfen Nietzsche nicht paraphrasieren, sondern müssen ihn in Würdigung seiner Grundmotive interpretieren. Sein Spiel fordert die unabsehbare Pluralität des interpretativen Spielens. Das vermeintlich Transzendente wird Moment einer selbstgenügsamen Logik des Gestaltens und der Gestalt. Schmerz und Widerspruch des Ur-Einen sind Ingredienzen der Gestalt, sind generalisierte Erfahrungen eines bestimmten Spiels, einer spezifischen Deutung der Welt. Deutung und Spiel fallen zusammen. In der Musik vollzieht sich die selbstlose Urdeutang des menschlich-geschichtlichen Spiels. Nietzsche weiß, daß es das UrEine als fiactum brutum nicht gibt, sondern nur in der ästhetischen Spiegelung resp. Deutung. Der Traum der Metaphysik alten, ontologischen Zuschnitts ist ausgeträumt. Jede Deutung des Ur-Einen ist ein Traum. Und das Ur-Eine ist das „Leben" als Ur-Metapher. Nietzsche vollzieht einen metaphorischen Wechsel im Bewußtsein letztrangiger Metaphorik. In Dionysos wird diese Einsicht symbolisiert. Hinter das „Leben", hinter Dionysos kann nicht zurückgegangen werden. Das Ur-Prinzip ist ein Ur-Bild, das sich als Bild permanent in Frage stellt und aufhebt, das über sich hinausweist, ohne ein fixierbares ontisches Fundament zu finden. Primäre Manifestation des „Lebens" ist die Musik als bildlose und begriffslose Gestalt in ihrer fundamentalen Verweisungspotenz. Die Musik rückt an die Stelle der Metaphysik. „Leben" / „Welt" erschließt sich gestalthaft-vorbegrifflich. Die von Nietzsche vorgenommene Qualifizierung als (Wider-)Schein läßt sich nur als interne Verweisungsstruktar angemessen begreifen, die Unsägliches an-spielt. Die Verweisung bleibt in der Welt des Spiels. Sie wird nicht zur Ontik, sondern bleibt ästhetisch. Nietzsche sinnt in der Geburt der Tragödie einer Genealogie der Manifestationsformen des ur-einigen „Lebens" nach. Ähnlichkeit mit neuplatonischen intaitiv-asketischekstatischen Emanationslehren ist nicht zu verkennen. Dennoch ist die Grundhaltung anders, nämlich rein ästhetisch. An die Stelle Gottes tritt Dionysos als Symbol unablässigen Wandels, kategorialer Ohnmacht und Destruktion des Ideologischen Vorurteils. Der ästhetisch-musikalisch gestaltete Sinn ruht auf dem Bewußtsein schlechthinniger
186
Erwin Hufnagel
Sinnlosigkeit. Die Suche nach einem transzendenten Sinn ist sinnlos. Dionysos soll das Gespinst des Sinnes zerreißen, obwohl er sich als der Sinn der Gestalt intendiert, obwohl er sich manifestieren will. Darin liegt sein Urschmerz und Urwiderspmch. Manifestation und Destruktion konstituieren das „Wesen" des Dionysos und der Musik. Diesen tragischen Zusammenhang erleben wir im bilderlosen Hören der Musik, die über sich hinaus zum Bilde drängt und den Grundwiderspruch des Dionysos, das Über-sichHinaus und dessen Zurücknahme wiederholt. Als Lyrik, als apollinisches Traumbild tritt Dionysos dann in Erscheinung. Die immanente Logik der Lyrik sprengt deren Gestalt und drängt zur Tragödie und den dramatischen Dithyramben. Und auch in den Tragödien waltet eine Logik des Transzendierens, der Umformung und Preisgabe ihrer selbst.72 In dieser genealogischen Perspektive sieht Nietzsche auch den Mythos, den die Musik hervorbringt. Nietzsche argumentiert bzw. intaiert zirkulär: der (Dionysos-)Mythos manifestiert sich als Musik, und die Musik ist die Urform des Mythos.7 Mythos und Musik sind die originäre Eröffnung von Welt. Die Nietzsche-These von der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik koppelt nicht nur dionysische Musik mit der Tragödie, sondern verweist die Tragödie auch ins apollinische Reich der Bilder-Gestaltung. Die Tragödie ist selbst schon Derivat dionysischer Musik. In Musik und Tragödie lebt der Mythos als eigentümliche Sichtung der Welt resp. des Lebens. Am Anfang der Welt stehen metaphorisch gesprochen zwei Mächte miteinander im Kampfe: Unbildlichkeit und die Tendenz zum Bild, zur Gestaltung, zur Verklärung, zur Vision.7 Aus der Tendenz zur Gestalt wird sich schließlich die begriffliche Reflexivität ergeben. Das UrEine gibt es nur in der Form der antagonistischen Zweiheit. Apollo und Dionysos sind der Grund der Welt. Metaphysischer Monismus ist eine Selbsttäuschung. Er entspringt dem Willen zur Vereinfachung, zur Rechtfertigung, zur Teleologisierung, zur Theodizee. Die konstruierte Entwicklungsgeschichte der griechischen Kultur, der dionysischen Musik zur apollinischen, der Sophokleischen Tragödie zur Euripideischen, dient Nietzsche nur als Folie einer denkphilosophischen Urspmngslehre, die sich mythologisch der gewordenen abendländischen Begrifflichkeit und Normativität entziehen will. Der Dionysos/Apollo-Mythos erfüllt in der Geburt der Tragödie diverse Funktionen, die nur andeutungsweise miteinander verbunden sind. Neben der genealogischen steht eine geschichtsphilosophische, eine epistemologische, eine kultarkritisch-normative, eine anthropologische und eine autobiographische Funktion. Nietzsche münzt den Historismus zu einer radikalen genetischen Perspektive aller Seinsbereiche um. Dahinter steht auch die kaum kaschierte Trauer um die Vergänglichkeit jeder Gestalt, nicht nur um die Hinfälligkeit des Menschen. Nietzsche arbeitet nicht philologisch-historistisch, er durchleidet vielmehr den „Historismus" als Seinsperspektive. Er identifiziert sich selbstlos mit dem Ur-Einen, das sich in der Geschichte als seiner EntfaltangsGeschichte erlösen will und damit die Tragik unablässigen Zerstörens auch der gelungenen, der dionysisch-apollinisch balancierten Gestalt in Kunst und Leben (Existenz) heraufbeschwört. Nietzsche wird in der Geburt der Tragödie wie Archilochus zum -
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-
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Vgl. KSA, GT, l,42ff Vgl. ebd., 102ff. Ebd., 44.
Dionysos: Metaphysik, Mythos und Moderne
187
lyrischen Genius und verkündet so das leidfundierte Spiel des Weltgrundes resp. allen Mundanen mit sich selbst. Der Weltgrund bzw. Dionysos ist Metapher für das strukturelle Trans, das Über-sich-selbst-Hinaus jedes Seienden. Jedem Seienden ist tragische Bestimmtheit eingeboren. Nietzsche wird wie der Dichter zum expressiven Medium des leidenden, in Stücke gerissenen Dionysos. Dionysos wird in ihm zum Phänomen. Als Dichter braucht er um diese Phänomenalität / Expressivität nicht zu wissen. Er ist im strengen Sinne außer sich und eben dadurch mit Dionysos identisch. Er ist zum Genius geworden. Zu einer adäquaten Würdigung seines Werks ist er strenggenommen nicht in der Lage. Nietzsches Philosophie ekstatischer genialer Kunst hat durchaus einige Ähnlichkeit mit Kants Genie-Ästhetik.75 Beiden gemeinsam ist die gänzliche Entindividualisierung des großen, des wahren Künstlers. Beide sind trotz unterschiedlicher Sprachlichkeit über den kategorialen Gegensatz des Subjektiven und Objektiven, anders als der von Nietzsche gerügte Schopenhauer, hinaus. 6 Was Nietzsche Dionysos oder das Ur-Eine nennt, bezeichnet Kant in stoisch-aufklärerischer Tradition verweisend-vieldeutig (rudimentär dionysisch) als Natur. Auch Kant spricht dem genialen Künstler Einsicht in die ihn beherrschenden Prozesse ab; auch Kant folgt dem ekstatischen Modell. Und er weist darauf hin, daß der Künstler nicht Regeln folgt, sondern Regeln erzeugt, die für die epigonale Kunst verbindlich werden. Nietzsche generalisiert diesen Ansatz zum Künstler-Philosophen. Erst damit trennen sich die Wege. Die ekstatische Dionysos-Ästhetik bildet auch das Fundament für Nietzsches frühe Kultur- und Gesellschaftskritik. Die neuzeitliche Fokussierung der Welt in der wollen77 den privatistischen Subjektivität eliminiert die Voraussetzungen genialer Kunst. An die Stelle großer Kunst treten Kitsch und Kunstgewerbe, drängen sich arbiträroberflächliche Bilderwelten, die in Organisationen mit Fabrikstruktar massenhaft hergestellt werden. Epochal verschwindet die extreme Selbstdistanzierung, aus der alle große, alle visionäre Kunst entspringt. Der Mensch verliert die nur ekstatischdionysisch, d. h. entgrenzt-selbstlos zu erlangende Bestimmtheit des Kunstwerks resp. der Bildung. Als dionysisch-vernehmendes Kunstwerk allein läßt sich unser Leben rechtfertigen; es gibt für uns nur die Erlösung im Schein, im geworfenen Entwurf von Fiktionen. In der vernehmenden Entgrenzung auf die (Leid-)Struktaren des Seins und alles Seienden treten die schönen Grenzen als Boten der Kunst und des Dionysos in Erscheinung. Nur als vernehmende, nicht als konstruktiv-willkürliche Vernunft sind Kunst und Mensch letztheitlich legitimiert. Schönheit zeigt sich als anspielendvernehmende Vernunft, die vom Wahn letztgültigen Bestimmens und von den Schlakken instrumenteilen Denkens befreit ist. -
-
Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, 307f, § 46. KSA, GT, l,46f. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Werke, Bd. 7, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1970, 233, § 124. Vgl. Theodor W. Adorno, „Résumé über Kulturindustrie", in: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, 5. Aufl., Frankfurt/M. 1973, 60-70. Vgl. Novalis, Heinrich von Ofterdingen.
188 Als vernehmende Vernunft sieht der Mensch Immanentes in der
Erwin Hufnagel
Perspektive
des verlieren; Welt und Gegenwart erhalten Verweisungs- resp. Anspielungscharakter: Sie werden zur Kunst, zur dionysischen Gestalt, in der alle Zeitdimensionen und chaotischfigurative Wirklichkeiten ineinander verschlungen sind. Insofern waltet in der Kunst die ewige Wiederkehr des Gleichen. Nietzsche hat diesen Gedanken zuerst als Ästhetiker
Transzendenten; die Gegenwart öffnet sich ins Zeitlose, ohne ihre Dynamik
zu
gedacht. Aus dionysischer Kunst (Musik) wird der Mythos als verklärend-vemehmende, (an)spielende Vernunft geboren. Die größtmögliche Distanziemng vom naturalistischen Kontext, zu dem er gehört, gelingt dem Menschen im schönen Schein einer mythischen Welt, in der das Entsetzliche (Tragödie) und Absurde (Komödie) durch Gestaltung / Gestalten überwunden wird. Mit dem Mythos beginnt die Menschlichkeit des Menschen. Im Mythos emanzipiert sich der Mensch nicht nur von der Lust und Last der Individualität, sondern auch von den kausalen Fesseln der Natur. Im Mythos konstituiert sich die originäre Freiheit des Menschen, geht der Mensch über sich als Natarwesen hinaus. Ein selbstverständlicher kommunikativer Raum wird durch den Mythos gestiftet. Der Mythos erhält und verbreitet den Glauben an die tragisch-zyklische Struktur des Lebens und des schaffend-vernichtenden Menschen. Durch Allegorisierung und Psychologisiemng lösen sich die Bande des Mythos auf. Der tragische Mythos wandelt sich zum Homerischen Mythos, der durch Rationalisierung im ursprünglichen Wortsinne morbide wird und eigentümliche letale Schönheit entwickelt. Dionysos, der Gott der tragischen Einsicht, stirbt. Dionysos ist Symbol der Wiedergeburt. In der Moderne ist auch schlummerndvorreflexiv der alte Mythos gegenwärtig. Erasmus und Nietzsche, Novalis und Hölderlin haben ihn vernommen. Sie fühlten: Eine andere Geschichte ist möglich. Sie glaubten an die Wiederkunft des den Menschen adelnden, ästhetisierenden Mythos. Nietzsche konkretisiert seinen Glauben an die Wiederkunft des Mythos nicht. Dennoch hat er uns Entscheidendes hinterlassen: die Idee einer tragischen, progressionslosen, lebensgütigen, Gegensätzliches zusammenfühlenden, annehmenden Heiterkeit. So ist Meta-Physik
möglich.80
Zur Übersicht über die Geburt der Tragödie vgl. Wiebrecht Ries, Nietzsche für Anfänger /Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Eine Lese-Einführung, München 1999. Günter Wohlfahrt, Artisten-Metaphysik. Ein Nietzsche-Brevier. Nietzsche in der Diskussion, Würzburg 1991.
Pia Daniela Volz
„Der Begriff des Dionysos noch einmal" Psychologische Betrachtungen zum Dionysischen als Herkunftsmythos
andreas bilger zugedacht
Ausgangspunkt meiner Betrachtungen ist die Frage, warum Nietzsche sich bis in die wahnhafte Identifikation mit Dionysos (in den Briefen des Jahreswechsels 1888/89) hinein (bis zuletzt also) immer wieder mit der Gestalt des Dionysos befaßt hat, während das apollinische Element als eigenes Prinzip zusehends in den Hintergrund seiner Aufmerksamkeit (ich möchte auch sagen: seiner inneren Welt) getreten ist. Dabei leitet mich eine Unterscheidung, die der Psychologe Heinz Kohut zwischen dem „schuldigen" und dem „tragischen Menschen" getroffen hat: Der „schuldige Mensch" (des Ödipus-Komplexes) versucht, seine lustsuchenden Triebe zu befriedigen, der „tragische Mensch" dagegen sucht das Muster seines Kern-Selbst auszudrücken; seine Bemühungen liegen jenseits des Lust-Prinzips. Der Untertitel von Ecce homo, „Wie man wird, was man ist", spricht für mich von der Idee einer Selbst-Entwicklung aus den Ursprüngen der Selbst-Verfehlung oder des sich Nicht-Kennens. Die Identitätsfrage nimmt ihren Ausgang von der Verwechslung oder dem Nicht-Sein, „was man ist" oder sogar vom Gegenteil: -
-
„[...] ich bin sogar eine Gegensatz-Natur zu der Art Mensch, die man bisher als tugendhaft verehrt hat [...] Ich bin ein Jünger des Philosophen Dionysos. Ich zöge vor, eher noch ein Satyr zu sein als ein Heiliger." Die Schrift Ecce homo soll, so bekundet Nietzsche im Vorwort, diesen Gegensatz zum Ausdruck bringen, den zwischen der Lüge des Ideals und der damit zusammenhängenden Verfälschung der „untersten Instinkte". Ich lese diesen Gegensatz als späte Variante des Urkampfes zwischen apollinischer Scheinwelt und dionysischer Instinktwelt und stelle die These auf, daß Dionysos für Nietzsche zu einer zentralen Identifikationsfigur Heinz Kohut, Die Heilung des Selbst, Frankfurt/M. 1996, 120; s. a. Richard D. Chessick, „Perspectivism, Constructivism and Empathy in Psychoanalysis: Nietzsche and Kohut", in: Journal of the
2
American Academy KSA 6, 258.
of Psychoanalysis, 25 (1997), 373-398.
Pia Daniela Volz
190
wurde, weil in diesem Mythos sich das Problem der Herkunft/der Erzeugung des Gottes
in verwirrend vielfältiger Weise stellt (dies meine ich verkürzt mit,Herkunftsmythos' ohne jeden typologischen Anspmch). Nietzsches eigener Ambivalenzkonflikt findet in diesem widersprüchlichen Gott sein symbolträchtiges Gesicht, samt der Hoffnung auf Überwindung der Zerreißung, was auch heißen will: Phantasien über destruktive (sexuelle) Aggressivität können erotisch legiert werden. Nietzsches Ausgestaltung der Dionysos-Ariadne-Liebesgeschichte wird an dieser Stelle nicht behandelt. Daß Dionysos auch ein Philosoph ist, erläutert Nietzsche durch seine Definition von Philosophie, nämlich als das „Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein", als „Wanderung im Verbotenen"3 jenseits des Banns der Moral. Und sogleich wird an dieser Stelle des Ecce homo auch Dionysos redivivus: Zarathustra ausdrücklich, kein „Zwitter von Krankheit und Wille zur Macht", kein Religionsstifter, kein Auferstandener, eher ein „Verführer", mit antichristlichem Pathos zur Identifikationsfigur Nietzsches erhoben: „[...] und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren ...". Die Gnome zu Beginn des Kapitels „Wamm ich so weise bin" ist oft zitiert, interpretiert worden und soll doch auch hier am Beginn verschiedener Lesarten stehen: -
„Das Glück meines Daseins, seine Einzigkeit vielleicht, liegt in seinem Verhängniss: ich bin, in Räthselform auszudrücken, als mein Vater bereits ich noch und werde alt".
um es
gestorben, als
meine Mutter lebe
Haben wir hier ein Gleichnis für die Autopoiesis des Autobiographen vor uns, der sich unabhängig macht von den Erzeugern und damit Sterblichkeit abwehrt? Fehlt dem, der sich da selbst beschreibt, eine klare männlich-phallische Identität? Sollen wir gar in der doppelten Identifikation als Mann und als Frau Ausdmck einer (verrätselt-verschwiegenen) Bisexualität Nietzsches erblicken? Können wir die Syntax so verstehen, daß in
der Parallelität der beiden Sätze die Eltern getrennt bleiben und somit in der inneren Repräsentanzen-Welt des Autors das Bild einer liebevoll vereinigten Eltemimago fehlt? Belassen wir den Satz zunächst in seiner Mehrdeutigkeit, denn ich möchte dieses Bekenntnis einer „doppelten Herkunft" in den Horizont von Nietzsches Begriff des ,Dionysischen' stellen und zwar in vier Interpretationskreisen:
I. Als erstes ist eine kurze Übersicht über die Wandlungen von Nietzsches Auffassung des Dionysischen unabdingbar. II. Hieran schließt sich eine Übersicht über die bisherigen, gewissermaßen triebpsychologischen Lesarten der Tragödienschrift mit Rekurs auf den Ödipuskomplex. III. Die wie ich sie nennen möchte genealogische Lesart von Helene Deutsch zielt auf das dionysische Herkunftsproblem. IV. Am Ende soll der Ausblick auf eine objektbeziehungstheoretische Lesart stehen. -
3
-
KSA 6, 258. KSA 6, 264. Eine Studie der Autorin über die Eltern-Imagines Nietzsches ist in Vorbereitung. An dieser Stelle muß der Hinweis auf zwei neuere Monographien genügen: Klaus Goch, Nietzsches Vater oder die Katastrophe des deutschen Protestantismus. Eine Biographie, Berlin 2000; Ursula Schmidt-Losch, Ein verfehltes Leben "? Nietzsches Mutter Franziska, Aschaffenburg 2001. „
„Der Begriff des Dionysos noch einmal"
191
Verzichtet sei hier, die jeweiligen Interpretationen mit biographischen Belegen aus Nietzsches Leben zu untermauern. Die mit der Biographie vertrauten Nietzsche-Kenner mögen eigene Analogie-Schlüsse ziehen oder verwerfen.
I. Im Kontext der neueren Diskussionen über das Wesen der griechischen Homosexualität besagt eine These, daß die wirkliche Besessenheit der klassischen Griechen folgende Antinomie gewesen sein könnte: dem Schrecken der Grenzenlosigkeit, der Unkontrollierbarkeit, die „enkrateia" die Selbst-Beherrschung philosophisch, rhetorisch und dramatisch Bändigung in Maß, Form und Bedeutung zielt also auf Bewußtseinshelle und auf Triebbeherrschung. Parallelisieren wir dazu die zwei Kunsttriebe aus der Tragödienschrift so steht das Apollinische für Distanz und Individuation (auch für das Olympisch-Klare, die formale Disziplin, die Einfachheit), sich zur bildenden Kunst und Poesie, aber auch in der Bilderwelt des Traums ausformend. Demgegenüber ist das Dionysische Metapher für die überbordende Formlosigkeit eines überschäumenden Lebens. Als Orgiastisches findet es seinen Ausdruck in der Musik und Lyrik, wird es für Nietzsche zur Chiffre für die Wiedergewinnung des tragischen Lebensgefühls der Griechen im Sinne einer Einheit von Mathos, Naturnähe und Instinkt („der Bund zwischen Mensch und Mensch schließ sich wieder zusammen"):
entgegenzuhalten.5
-
„[...]
während unter dem
mystischen
sprengt8 wird und der Weg
zu
Jubelruf des Dionysos der Bann der Individuation zerden Müttern des Seins, zu dem innersten Kern der Dinge offen
liegt."
Der Schmerz über die Vereinzelung (es ist, als ob „die Natur über ihre Zerstückelung in Individuen zu seufzen habe" ) ist nur als ästhetisches Phänomen zu ertragen. Das Wissen der „eingeweihten" Griechen sei gewesen so ein Fragment von 1871, daß diese das eigentliche dionysische Leiden, gleich einer Umwandlung in Luft „Zerreißung, Wasser Erde und Gestein Pflanze und Tier sei" in jenem Zustand hat Dionysos die „Doppelnatar eines grausamen, verwilderten Dämons und eines milden Herrschers".10 Die Wiedergeburt des Dionysos sei als „Ende der Individuation" zu verstehen: „diesem kommenden dritten Dionysos erscholl der brausende Jubelgesang". -
-
5
James Davidson, „Dover, Foucault and greek homosexuality: Penetration and the Truth of Sex", in: Past and Present, Bd. 170 Oxford 2001. Nach Hildebrandt ist „apollinisch" auch Synonym für tektonisch, sondernd, nüchtern, denkend, hell und begrenzt zu verstehen. Dazu Christian Schule, „Apollinisch-dionysisch", in: NietzscheHandbuch. Leben Werk- Wirkung, hg. von Henning Ottmann. Stuttgart 2000, 187ff. Dionysisch ließe sich auch bestimmen als: kontinuierlich, fließend, fühlend, berauscht, unbestimmt, dunkel, unendlich: siehe Schule (2000), 187ff. KSA 1, 103. Ebd., 30. KSA 7, 177. Ebd., 178. ,
6
7
8 9
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-
Pia Daniela Volz
192
Fragment vom Jahresanfang 1871 definiert den dionysischen Genius als den „in völliger Selbstvergessenheit mit dem Urgründe der Welt eins gewordenen Menschen, Ein
der jetzt aus dem Urschmerze heraus den Wiederschein desselben zu seiner Erlösung schafft. Für jenes eine Weltenauge, vor dem sich die empirisch-reale Welt sammt ihrem
Wiederscheine im Traume ausgießt, ist somit jene dionysisch-apollinische Vereinigung eine ewige und abänderliche, ja einzige Form des Genusses: es gibt keinen dionysischen Schein ohne einen apollinischen Widerschein."1 Damit stellt sich Nietzsche das Zusammenwirken dieser beiden Kräfte als „Doppelnatar", als „Bruderbund" vor (KSA 1, 140) und zwar jeweils als „Dasein des unsterblichen Zwillingsbruders" (KSA 7, 182): als ein notwendiges Zusammenspiel antagonistischer Kräfte, wo eines des anderen bedarf in diesem geschlechtlich-kreativen Akt, denn der dionysische Mensch ist „Gattangswesen", „Naturmensch unter Naturmenschen"
(KSA 7, 66):
„Könnten wir Mensch?
uns eine Menschwerdung der Dissonanz denken und was ist sonst der würde diese Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen."13 -
so -
Der apollinische Schönheitsschleier soll als „Bewusstsein" demnach die „ewige und ursprüngliche Kunstgewalt des Dionysischen" überdecken, das Züge eines chthonischunbewußten, schauerlichen Abgmndes erhält.14 Die hellenische Heiterkeit verliert ihren edlen statuarischen Charakter durch die Herkunft aus dem Schmerz der Zerrissenheit15:
„Zagreus als Individuation. Demeter freut sich wieder in Hoffnung auf eine neue Geburt des Dionysos. Diese Freude als die Verkünderin der Geburt des Genius ist die hellenische Heiterkeit."
-
-
Die Heiterkeit ist demnach Trauer-Überwindung: „Die Individuation dann die Hoffnung auf Wiedergeburt des einen Dionysos. Alles wird dann Dionysos sein. Die Individuation ist die Marter des Gottes kein Eingeweihter trauert mehr. Das empirische Dasein ist etwas, was nicht sein sollte. Die Freude ist möglich in Hoffnung auf diese Wiederherstellung. Die Kunst ist eine solche schö-
-
ne
Hoffnung."16
Das
-
Angewiesen-Sein der beiden Triebe aufeinander ist auch eine Art „Alloeopathie
der Natur" (KSA 7, 182):
12 13 14
Ebd., 335. KSA 1, 154f. KSA 7, 7 (27): „Den höchsten Genuß hat der Wille bei der dionysischen Tragödie, weil hier selbst
Schreckensgesicht des Daseins durch ekstatische Erregungen zum Weiterleben reizt" (145). Die Duplizität des berühmten Gegensatz-Paares wird sogar verglichen mit dem generativen Prinzip der „Zweiheit der Geschlechter" als „ungeheurer Gegensatz in der griechischen Welt" (KSA 1, 25ff): „Wie die Natur die Zeugung an die Duplizität der Geschlechter gebunden hat, so hat sie die höchste Zeugung, des Kunstwerks, an die Individuation überhaupt gebunden" (KSA 7 7 (51) 150). KSA 7 7 (55), 151. In der Schrift „Die dionysische Weltanschauung" beschwört Nietzsche sogar das Bild des „durch Apollo neugeschaffenen, aus seiner asiatischen Zerreißung geretteten Dionydas
15
16
sos" (KSA 1,559). KSA 7 7 (61), 152.
„Der Begriff des Dionysos noch einmal"
193
„Der apollinische Trieb und der dionysische in fortwährendem Fortschreiten, der eine nimmt immer die Stufe des Andern ein und nöthigt zu einer tieferen Geburt der reinen Anschauung. Dies ist die Entwicklung des Menschen und so als Erziehungsziel zu fassen."17
Da der „reine Dionysismus" unlebbar ist, stellt die Tragödie eine Art „Naturheilkraft gegen das Dionysische" (KSA 7, 69) dar. Gasser weist auf diese „ästhetische Schutzfunktion Apollos" hin, der gewissermaßen als Inbegriff der Sublimierung im Dienst der Idealisierung der Orgie, der Dionysosfeier mit ihrer Mischung von „Wollust und Grausamkeit" steht.' Wo dies nicht gelingt, eskaliert der Konflikt, und so wie es Aufgabe des Kulturganges ist, die Macht des Unbewußten in die Zivilisation zu integrieren, so ist
dies auch
Aufgabe des Einzelnen:
„Das apollinische Element scheidet sich wieder von dem dionysischen und jetzt entarten beide. Das Bewußtsein und die dumpfe Begierde stehen jetzt als feindliche, im selben Organismus wüthende Mächte gegenüber."19
Psychologisch bedeutsam scheint mir vor allem in der Idee der Wiedergeburt des Dionysos die Tröstung der untröstlichen Mutter zu sein: „Das gemeinsame Geheimniß ist nämlich wie aus zwei einander feindlichen Prinzipien etwas Neues entstehen könne, in dem jene zwiespältigen Triebe als Einheit erscheinen: in welchem Sinne die
Propagation ebenso sehr als das tragische Kunstwerk als eine Bürgschaft der Wiedergeburt Dionysos gelten darf, als ein Hoffnungsglanz auf dem ewig trauernden Antlitz der Demeter."20 des
In der Fröhlichen Wissenschaft bekennt Nietzsche dann, sein „proprium und ipsissimum" sei der zukünftige „dionysische Pessimismus". In der mittleren Werkperiode
1885 wird das Dionysische als ästhetisches Prinzip zum Inbegriff des Lebensbejahenden und zwar als Gegensatz-Begriff zur Lebensverneinung des Christentums. Kaulbach begreift Nietzsches Ausarbeitung der „dionysischen Vernunft" als Denken in verschiedener Gestalt, nicht auf die Auflösung von Grenzen, sondern auf ihre ständige Überschreitung zielend. Während das Apollinische das plastische Detail eines Teils heraushebt, drängt das Dionysische zur Universalität und Totalität.22 Festzuhalten ist zunächst, daß diese Dichotomie eine grandiose Vereinfachung und Reduktion der weitaus reichhaltigeren Mythe ist und in der Nietzsche-Rezeption um die Jahrhundertwende
-
um
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17
18 19
20 21 '2
KSA 7, 207. Das Ideal zur Höherentwicklung des Menschen verrät sich auch in der Bemerkung: „Der Mensch gemeinhin ist nur eine matte Copie des dionysisch-apollinischen Menschen im Chore" (KSA 7, 277). Reinhard Gasser, Nietzsche und Freud, Berlin 1997, 352. KSA 7, 7 (7), 138. In den Fragmenten aus der Zeit der Tragödienschrift wird die „Vereinigung von
Dionysos und Apollo" als „Höhepunkt" der Kultur gedacht, ein historisch betrachtet aber nur kurz bestehendes „Nebeneinander", denn in der absoluten Entfesselung beider Triebe lag und liegt die Entartung und der Untergang der Kultur (KSA 7, 154). KSA 7, 179. KSA 3, 622. Spannend wäre ein Vergleich dieser Polarität mit Freuds Konzeption eines Lebens- und Todestriebes, wonach dem Eros die plastisch-zusammenfügende Kraft innewohnt und dem Destruktions- oder Todestrieb die Tendenz zur Auflösung des Organischen ins Anorganische.
Pia Daniela Volz
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das Dionysische auch als „Allerweltsformel für ein berauschtes Lebensgefühl" trivialisiert wurde. Mein Eindruck ist, daß Nietzsche die ursprüngliche Dichotomie von apollinisch-dionysisch, von Maß und Entgrenzung nun ganz im Begriff des Dionysischen aufgehen läßt, um diesen wie Gasser betont in das „Projekt des Willens zur Macht" einfließen zu lassen. Man mag in dieser ,Abschaftang des Apollinischen' als eigenem Prinzip (das gleichwohl in Nietzsches Stil-Ideal und Formwillen erhalten blieb) eine grandiose Einseitigkeit erblicken oder einen Reflex auf die Vorherrschaft des Sokratismus im 19. Jahrhundert erblicken (Schule). Man könnte diesen gedanklichen Entwicklungsgang aber auch als Transfiguration früher biographischer Erfahrungen Nietzsches sehen: als eine Abschaffung des ,Gesetzes des Vaters' (Lacan) und als eine Idealisiemng einer archisch-bedrohlichen Mutterimago zum mütterlich-kreativen Seinsgrund. Die (präödipale) Welt des Dionysischen wird von ihm zum .höchsten Begriff alles Seienden' erklärt, zur Synthese und Bedingung jenes Rausches, der als physiologische Vorbedingung für jedes Kunstschaffen unabdingbar ist und zugleich eine ganzheitliche Körpererfahrung ist. Die „bestgerathenen Menschen" so ein Fragment aus dem Jahr 188524 empfinden an sich eine „Vergöttlichung des Leibes", was besagt, daß der Geist in den Sinnen ebenso heimisch ist wie die Sinne in dem Geiste zu Haus sind: diese „ganze lange ungeheure Licht- und Farbenleiter des Glücks" nannte der eingeweihte Grieche mit dem „Götternamen: Dionysos". Dieser wird demnach zum Inbegriff einer geglückten LeibSeele-Einheit, bleibt jedoch für Nietzsche ein zwiespältiger Gott', wie ein Fragment aus dem Sommer 1885 -
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besagt25
„Dionysos als Erzieher. / Dionysos als Betrüger./ Dionysos als Vernichter. / Dionysos als Schöpfer." Die
Formel, die er für diese Janusköpfigkeit im Nachlaß erprobt, lautet:
„Dionysos-Diabolus".26 Wenn er nun von diesem seinem Gotte spricht, ergeht sich Nietzsche wie im Jugendgedicht Dem unbekannten Gotte nur in Andeutungen: Dem Dionysos hat er „in viel jüngeren Jahren ein ehrfürchtiges und unschuldiges Opfer dargebracht". Meint er etwa damit das Opfer seiner wissenschaftlichen Karriere durch die Tragödienschrift? Von dessen Philosophie wisse er „viel Heimliches und manches Unheimliche zu erzählen", schamlos sei dieser Gott, weil er seine Blöße nicht deckt nicht zu decken braucht.27 Dies Zwiegespräch mit Dionysos existiert in verschiedenen Varianten28 mit bedeutsamen Nuancen, die hier nicht ausgelotet werden können; eine Version endet folgendermaßen: -
„Du scheinst mir Schlimmes im Schilde zu führen, die M(enschen) zu Grunde zu richten? Vielleicht, antwortete der Gott; aber so, dass dabei Etwas für mich herauskommt. Gasser (1997), 354. KSA 11,41(7), 681. Ebd., 504, Nr. 34 (248). KGW IX, 1,87. KSA 11,41 (9). JGB § 295; vgl. KSA 12, 2
(25) sowie KSA 12, 4 (4).
„
Der Begriff des Dionysos noch einmal Was denn? fragte ich neugierig. Wer denn? solltest du fragen. Also
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"
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sprach zu mir Dionysos."
Die kindliche Frage, woher die kleinen Kinder kommen („die Pforte ist eng und der Weg ist schmal") wird von Nietzsche süffisant-lästerlich zur „gai saber" erklärt.30 W. Dietrich deutet diesen kleinen Dialog im Kontext der Spanne von Scham und Unverschämtheit als Ausdruck der Zweigeschlechtlichkeit des Dionysos, als Anspielung auf sein ,Gebärvermögen', seine Potenz, Menschen zu schaffen. Eine zentrale These seiner unveröffentlichten Habilitation über Nietzsches Wahnsinn ist es denn auch, daß Nietzsche in Dionysos das „Gleichnis zu seiner innersten Erfahrung gefunden zu haben glaubte" (Kapitel: „Der fremde Gott") und zwar im Sinne eines erschreckenden Blickes in den Abgrund des Inzests. In der Götzendämmerung preist Nietzsche im Kapitel „Was ich den Alten verdanke" das Mysterienwissen über den dionysischen Zustand in höchsten Tönen als Verklärung von Schmerz: „Damit es die ewige Lust des Schaffens gibt, damit der Wille zum Leben sich ewig selbst bejaht, muss es auch ewig die ,Qual der Gebärerin' geben [...] Dies alles bedeutet das Wort Dionysos: Ich kenne keine höhere Symbolik als diese griechische Symbolik, die der Dionysien." Nicht die Katharsis als Abreaktion von Affekt ist das Wesentliche in der Psychologie des tragischen Dichters, sondern seine Bereitschaft zum Untergang. Nun gehört es zur „dionysischen Mitgift" der „erste Psycholog des »EwigWeiblichen'" zu sein (KSA 6, 305) und das „Dionysische" wird zum „philosophischen Pathos" des „Amor fati" (KSA 6, 312). Die emphatische Beschwörung der tragischen Weltanschauung mündet im Ecce-homo-Kapitel über den Zarathustra, in dem Nietzsche sich selbst als „Wiedergeborenen" bezeichnet und zwar in einer spannenden Klimax über den „Begriff des Dionysos selbst" und den „Begriff des Dionysos noch einmal". Der Begriff des Dionysos ward in Zarathustra „höchste Tat": in der Umfänglichkeit der Seele in Höhe und Tiefe, Weite und Breite, in Zufall und Werden, gewissermaßen alle Gegensätze hinter sich lassend. In dieser Textpassage voller Superlative ist der „Begriff des Dionysos selbst" als eine „höchste Art alles Seienden" definiert, im Bild einer Seele als „die sich selber liebenste, in der alle Dinge ihr Strömen und Wiederströmen und Ebbe und Fluth haben -". Ich deute dieses lyrische Seelenbekenntnis als Ausdruck eines Narzißmus, der sich vom mütterlichen Meer der Herkunft unabhängig gemacht, weil er zu diesem selbst geworden ist. Ein anderes psychologisches Problem, dem Nietzsche sich in dieser Passage stellt, ist die Transfiguration vom „abgründlichsten Gedanken" (der ewigen Wiederkehr des Gleichen) als „furchtbarste Einsicht in die Realität" umgewandelt in grandioser Reaktionsbildung in ein „ungeheures unbegrenztes Ja- und Amen-sagen". -
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„Aber das ist der Begriff des Dionysos noch einmal".33 29
30
31 32 33
KSA 11,34(181). Vgl. KSA 11. 34 (182) und 34 KSA 6, 159ff. Ebd., 344. Ebd., 345.
(183).
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In dieser hochverdichteten Passage geht das „noch einmal" für mich weit über die rhetorische Wiederholung als Emphasis hinaus: Vielmehr fasse ich den Text-Gestus als Inszeniemng einer Wiedergeburt auf. Der erste Dionysos hat die umfänglichste Seele, welche auch eine Lust am Untergang hat und die Wiedergeburt des Dionysos ist das Ergebnis einer kosmischen Selbstzeugung: „In alle Abgründe trage ich noch mein segnendes Jasagen" (KSA 6, 345). Nietzsche, der sich hier als Erfinder des Dithyrambus begreift, wandelt die „unsterbliche Klage" zum lyrischen Ausdmck einer Selbstvergöttlichung: „Aber ich lebe in meinem eignen Lichte, ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen" (KSA 6, 346). Im Selbstzitat dieses Liedes aus dem Zarathustra wird die Schwermut der „Sonnen-Natur, verurteilt zu sein, nicht zu lieben"34 im Bild einer kosmischen Kühle ausgedrückt. Und mit der Härte des Schaffend-Vernichtenden wird auch der Schmerz noch, in der Sichtbarkeit des Schattens des Übermenschen, wird die Sterblichkeit abgeschafft:35 „was gehen mich noch die Götter an!" (KSA 6, 349). Zarathustra hat sich als Menschenschöpfer an die oberste Stelle gesetzt (KSA 6, 366): er ist eingegangen in den Parnaß des Inzests der Selbstschöpfung. In der Frühschrift Die dionysische Weltanschauung (1871) ist dieser Weg bereits angedeutet: „Im dionysischen Rausch fühlt sich der Mensch als Gott. Was sind ihm jetzt Bilder und Statuen" (KSA 1, 555). In der hier nun am Ende des bewußten Schaffens auf die Spitze getriebenen „Artisten-Metaphysik" („Versuch einer Selbstkritik" KSA 1,17) hat der Dichter seine Herkunft abgeschafft, weil er sich selbst zeugt. So heißt es im Dionysos-Dithyrambus „Von der Armut des Reichsten": -
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„Wer sind mir Vater und Mutter? Ist nicht mir Vater Prinz Überfluss und Mutter das stille Lachen? Erzeugte nicht dieser Beiden Ehebund mich Räthselunthier mich Lichtunhold, mich Verschwender aller Weisheit Zarathustra?"36
Groddeck weist überzeugend darauf hin, daß diese beiden Allegorien „Prinz Überfluss" und „stilles Lachen" nicht als Anspielung auf die beiden Kunsttriebe der Tragödienschrift zu verstehen sind, denn im Gmnde genommen sind beide dionysischer Natur.37 Verschlüsselt erfolgt eine Anspielung auf die Geburt des Dionysos in diesem DithyIn seiner Arbeit „Zarathustras Nachtlied und der Dionysosdithyrambus Von der Armut des Reichsten", in: Nietzscheforschung, Bd. 3 (1995), S.127-146 rekurriert Jergen Kjaer auf die Vorstufen dieser Passage. Ursprünglich hieß es „verurtheilt zu sein, nicht geliebt zu werden", um dann bei der dritten Änderung „nicht zu lieben" zu bleiben (132). „Die dionysische Weltanschauung: Der schöne Schein der Traumwelt, in der jeder Mensch voller Künstler ist, ist der Vater aller bildenden Kunst" (KSA 1, 553). KSA 6, 407. Wolfram Groddeck, Friedrich Nietszche „Dionysos-Dithyramben", Bd. 2. Berlin 1991, 264. Auch betont er die palimpsestartige Anspielung im Neologismus „Lichtunhold" auf den geblendeten Ödipus.
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rambus. Zarathustra ist ein „Schaffender an seinem siebenten Tag": Die Wahrheit, einer Wolke gleich, die ihn „mit unsichtbaren Blitzen trifft", kann als Antonomasie für Dionysos verstanden werden. Zarathustra sieht aus „wie Einer, der Gold verschluckt hat": Er ist also schwanger mit der dichterischen Rede', der Wahrheit und so möchte ich anfügen, Zeus gleich, der den Dionysos in sich austrägt. Eine erste Lesart der eingangs zitierten Ecce-homo-Gnome „Als mein Vater" „als meine Mutter" wäre demnach für mich die dionysische Abschaffung des Vaters als Vater, da der Vater in der Autopoiesis zur austragenden Mutter wird und die Ohnmacht des vaterlosen Sohnes zum Ewigen Sein verklärt wird. -
...
II. Eine ödipale Lesart der Tragödienschrift hat der Psychoanalytiker Alexander Mette unternommen, der dieser „genialen Schrift" etwas „Columbisches" attestiert und zugleich bei seiner Deutung von Nietzsches These, wonach die Tragödie entstanden sei nach einem langen Verschmelzungsprozeß auf dem Boden dionysischer Chorspiele, in welche das apollinische Gestaltangselement hineingriff, auf Alfred Wintersteins Abhandlung über den Ursprung der Tragödie (von 1922)4 zurückgreift. Man kann so Winterstein von einer „Spaltung im Bewußtseins des Chors sprechen" da er „einerseits der trotzigen Auflehnung des Helden gegen die menschliche oder göttliche Autorität sympathisch gegenübersteht, andererseits doch ihr gegenüber voll Ehrfurcht bleibt und dem Helden warnend rät, seinen Stolz zu zähmen und sich in Demut unter das Gesetz zu beugen". Für Winterstein ist der Dithyrambus als „Gesang auf die Geburt des Dionysos" (445) ein „Gesang, der Zeus springen oder zeugen macht" (444) Ausdruck einer „mannmännlichen Erotik" (442), in Initialzeremonien mit päderastischen Akten wurzelnd. Das Verhalten der Mänaden wiederum im orgiastischen Fruchtbarkeitskult deutet er als „verdrängten Inzestwunsch der Mütter" nach Vereinigung mit dem Dionysos-Sohn (465) auch im Sinne deren Wunsches nach Verjüngung, Fortdauer und Unsterblichkeit. Auch im Töten und Verzehren der eigenen Kinder durch die Mänaden sieht er deren Identifikation mit der Unsterblichkeit (472). Den Dionysos-Mythos faßt er als „Sonnen-Mythos" im Jungschen Sinne auf: Die Sonne geht unter, aber sie stirbt nicht, sondern kehrt immer wieder. Mette folgt dieser Auffassung Wintersteins von der Herkunft der Tragödie aus älteren Pubertätsriten, die zur Strafe der unbewußten Inzestregungen des Knaben eine symbolische Tötung des Novizen inszenieren. So tritt nun Dionysos an die Stelle des „gestraften und zum Leben wiedererweckten Knaben"; in Anlehnung an Freuds Vorstellung von der Totemmahlzeit (Totem und Tabu), so deutet Mette, ersetzt Dionysos den von den Söhnen getöteten (inkorporierten) Vater. Die „merkwürdige Ambiva-
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Ebd., 276. Alexander Mette, „Nietzsches .Geburt der Tragödie' in psychoanalytischer Beleuchtung", in: IMAGO 18 (1932), 67-80. Alfred Winterstein, „Zur Entstehungsgeschichte der griechischen Tragödie", in: IMAGO 8 (1922), 440-505.
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lenz des dionysischen Zustandes" erklärt sich für ihn aus dem „Nebeneinander erneut auf Erfüllung hoffender unbewußter Inzestwünsche und einer entsprechenden Kastrationsangst" (75). Die Wiedervereinigung des Sohnes mit der mütterlichen Natur kontrastiert mit der Strafe des Zerrissen-Werdens durch die Titanen: „Im Dionysischen wird das Unbewußte des (griechischen) Künstlers von den Gefühlsgegensätzen des Ödipuskomplexes ergriffen, im Apollinischen sucht es sich den erzwungenen Liebesverzicht durch Idealisierung der geliebten Person erträglich zu machen." (78). Das Apollinische ist nach Mette demnach triebpsychologisch als Summe von „Sublimationen inzestuöser und homosexueller Tendenzen anzusprechen" (und zwar im Sinne einer Verklämng der Elternbilder und der hohen narzißtischen Besetzung der eigenen Person). Der dionysische Held ist dagegen die „Projektion der vom Chor [...] als unerlaubt empfundenen Triebregungen" (79). In einer späteren Arbeit beschäftigt sich Mette nochmals mit der Psychologie des Dionysischen. Apoll wird da von ihm als Inbegriff einer Seelenhaltung verstanden, welche der Werden und Vergehen unterworfenen menschlichen Sphäre „Verkörperungen unvergänglicher Seinsgehalte gegenüberzustellen vermag" (194).42 Im Unbewußten des apollinischen Künstlers regiert ein Tötangsimpuls, der dann sekundär in das Gewand der Ehrerbietung, Verehmng und Schonung gekleidet wird (197) und der sich z. B. in der Schaffung von Hymnen auf den verstorbenen Helden oder in Statuen manifestiert. Diese Reaktionsbildung wird als analer Verdauungsprozeß konzipiert, dessen eines Resultat die Vernichtung (Verachtung) des Heroen/des Vaters ist und dessen anderes die „Reinigung, die Vollendung" ist (196). Die apollinische Struktur (mit Analogien zur Zwangsneurose) verzichtet demnach auf die Befriedigung genitaler Inzestwünsche und führt zu den aus den anal-sadistischen Tötungsimpulsen erwachsenden Bewahmngswünschen im Sinne der „Verwehrung" und „Verewigung". Das dionysische Schaffen deutet Mette demgegenüber als lyrische Affektentladung: „Taumel und Trunkenheit lassen die Ansprüche und Begriffe der gewohnten Tageswelt schwinden, während zugleich unter dem Eindruck der erlebten Grenzenlosigkeit die affektiven Regungen Liebe und Haß zum Durchbmch gelangen" (200). In beiden Zuständen entdeckte Nietzsche die Möglichkeit des Menschen als Künstler, sich über die Vergänglichkeit zu trösten. Dabei ist das Trieb-Schicksal des Dionysos anders akzentuiert: „Das Element der Zerreißung und Zerfleischung [...] lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Thematik des Oralen" (201). Und so Mette: Wie Dionysos selbst zerfleischt wird, so wird er selbst andererseits selbst zum schonungslosen Vemichter (vgl. 201). Der dionysische Mensch ist daher (ähnlich wie Hamlet) auch Melancholiker, der folgendem Konflikt unterworfen ist: einem „furchtbaren Widerstreit zwischen den kannibalischen Wünschen und ihrer Abwehr" (202). Der Ekel der Erkenntnis ist so zu verstehen, daß der Blick in die Tiefe „Spiegel seiner eigenen grausamen Regungen" ist, insofern nämlich jenes ,Durchschauen' einen „Ersatz für das ZerAlexander Mette, Zur Psychologie des Dionysischen, in: IMAGO Bd. 20 (1934), 191-218. „Es ist offenbar das Eigentümliche der apollinischen Struktur, dass sie den Menschen befähigt, seine grausamen Regungen durch Verneinung eines Teiles der Objektwelt zu befriedigen, während in den höheren Bewußtseinsschichten [...] das entgegengesetzte Prinzip gleichzeitig verstärkt wird." Ebd., 196.
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beißen und Zerstückeln" bedeutet (202). Insgesamt ist dieser Oralsadismus (der sich in der Zerfleischung des Gottes und im Zerrissen-Werden durch die Mänaden zeigt) Regression des Inzestwunsches auf die kannibalistische Stufe. Die Omphagie der Mänaden ist aber auch als primitivste Form der Einverleibung zu verstehen, um das Trauma der
des principium individuationis zu überwinden. Auch der dionysische Künstentlädt einen Teil seiner selbst, wenn er seinen sadistischen Antrieb als Sublimieler Grausamkeit in der Formgebung zum Ausdruck bringt (207). Mette hält es rung von der überlieferten aufgrund Verehrung von Phallus-Symbolen im Kult gleichwohl für ein Mißverständnis, den Dionysos-Kult als „Orgie männlicher Zeugung und Genitalkraft" aufzufassen (211). Denn in der Vorstellung der Zeusschen Schenkelgeburt ist gerade eine Verleugnung des Genitalen am Werk, das Mann und Frau einander annähert: Der dionysische Mensch „unterscheidet sich [...] vom Melancholiker und vom Manischen durch eine sehr weitgehende Identifizierung mit dem Weibe" (212); er sei „ewig schwanger" (213) und befriedige seinen phallischen Narzißmus durch eine hohe Besetzung des Geschaffenen (216). Die orale Befriedigung im Dichten zeige ihn als Wortfinder und Ausdruckspräger schlechthin, der den Gegensatz zwischen Beißen und Saugen auflöse. Es würde hier zu weit führen, die oralsadistischen Konnotationen des Dionysos-Dithyrambus „Unter Töchtern der Wüste", in dem Zarathustra nach „eiskalten schneeweissen schneidigen Beisszähnen" gelüstet (KSA 6, 384) dieser Metteschen Deutung an die Seite zu stellen und in Beziehung zu setzen zu der „unersättlichen Zunge" im Dionysos-Dithyrambus „Von der Armut des Reichsten" und dem „Saugen an den Brüsten des Lichts" in Zarathustras Nachtlied. Jedenfalls läßt diese oral-sadistische Mund-Welt wieder an die Identifikation mit dem Mütterlichen in der Ecce-homoGnome denken, deren Grundfigur als Rätsel aber auch auf den Grundtext des ödipalen Dramas verweist, das Nietzsche in einem Nachlaßfragment aus der Zeit der Tragödienschrift selbst folgendermaßen beschreibt:
Trennung,
„Der Vatermörder und der im Incest lebende Oedipus ist zugleich der Räthsellöser der Sphinx,
der Natur. Der persische Magus wurde aus Incest geboren: das ist dieselbe Vorstellung. D. h. so lange man in der Regel der Natur lebt, beherrscht sie uns und verbirgt ihr Geheimniß. Der Pessimist stürzt sie in den Abgrund, indem er ihre Rätsel erräth. Oedpius Symbol der Wissen-
schaft."44
III. Sehen wir nun drittens, welche zusätzlichen Bedeutungen die Psychoanalytikerin HeleDeutsch in ihrer am 11. April 1967 vor der New York Academy of Medicine gehaltenen Vorlesung (einer Gedenk-Veranstaltung zu Ehren Freuds) dem Dionysos-Mythos entnimmt. Ihr Grundgedanke ist, daß der Mythos im Kern eine Mutter-Sohn-Geschichte ne
„Denn die Aufgabe des dionysischen Künstlers läuft nicht darauf hinaus, vollende Bilder einer
erschauten Scheinwelt mit seinen Ausdrucksmitteln nachzugestalten, sondern die unendlich vielfältige Innenwelt, die ihm aus seinen Introjektionen und Identifizierungen entsteht, auszudrücken oder herauszubrechen'." Ebd., 216. KSA 7, 7 (22), 141 (vgl. KSA 7 7 (81), 156).
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ist, und zwar Dionysos als „der Sohn, der die Mutter rettet" im Gegensatz zu Apollo, „dem Sohn, der sie tötet".45 Den Dionysos-Mythos nennt Deutsch den „komplexesten
Mythen": zentriert um einen Kampf um „göttliche Unsterblichkeit". Sie beansprucht keine Deutung seiner widersprüchlichen und in verschiedenen Überlieferungen zerstreuten Elemente zu geben. Vielmehr liest sie die Lebensgeschichte des Gottes probehalber wie die eines Patienten und beschäftigt sich mit der „passiven Periode im Leben des Dionysos". Sein Leben durchläuft die Stationen Geburt Leben Tod Wiedergeburt, d. h. Trennung und spätere Wiedervereinigung mit der Mutter. Anhaltspunkte für die Doppelgeschlechtlichkeit findet die Psychoanalytikerin in den Beinamen (Pseudanor der scheinbare Mann oder Hynnis der Weibische, dentrites der Baumgott), Bisexualität hier also verstanden im Sinne der Identifikation des Mannes mit dem Weib und dessen Fähigkeit, Nachkommenschaft hervorzubringen. Der Herkunftsmythos ist divergent: So heißt der Gott einmal Dimetpor („der mit zwei Müttern") oder Trígonos („der dreimal Geborene"). In Umkehmng des geflügelten Wortes aller
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Mater semper certus, pater semper incertus est ist sein Vater aber immer Zeus. Deutsch unterscheidet Dionysos I (Dionysos Zagreus), dessen Mutter Persephone ist und betont den inzestuösen Untergmnd: denn Persephone ist Tochter der Demeter und diese wiederum als Tochter der Rhea (bzw. Gäa) auch von Zeus begattet worden. Dionysos I wird auf Heras Betreiben von den Titanen umgebracht, in sieben Stücke gerissen, die Stücke werden von ihnen gekocht und gemeinsam verzehrt, doch Zeus schluckt sein noch schlagendes Herz und mischt daraus ein Getränk, das er der thebanischen Königstocher Semele eingibt. Dieser sogenannte Dionysos II kommt, als Semele von einem Blitz erschlagen wird, beinahe ums Leben. Es existieren verschiedene Vari-
Überlebens des Embryos: Nach der einen Version im Oberschenkel von Zeus eingenäht, wird er aus diesem geboren nach Kerényi kann die Geburt aus dem Schenkel auch als Entmannung angesehen werden; nach einer anderen Version wird Dionysos II im Bauch des Zeus ausgetragen vermutlich mit dem Anus als Geburtskanal. Deutsch gibt dieser MundBauch-Version mit oraler Schwängemng den Vorzug (d. h. folgt der Variante, wonach Semele schwanger wurde, indem sie den Trank schluckte, der aus dem Herz des Dionysos I bereitet worden war). Für diesen Dionysos II wird in der femininen Beziehung zum Vater Zeus zur „unsterblichen Mutter". Deutsch deutet die Herkunft des Dionysos von zwei Müttern, nämlich der unsterblichen Persephone und der sterblichen Semele, als sein Dilemma, als unlösbaren Konflikt. Sein Kampf um Unsterblichkeit ist daher immer auch Kampf um Unsterblichkeit der Mutter, ein Ziel, das nur durch Auflösung seiner Bisexualität im Sinne der Identifikation mit ihr erreicht werden kann. In der Kindheitssituation des Dionysos gab es keine Objekte für eine männliche Identifizierung, er war von weiblichen Pflegepersonen umgeben: nicht von einer Mutter gesäugt, sondern von Nymphen umsorgt, also „Ersatzmüttern" und zu Hermes in Obhut gegeben. Seine Wildheit und Amoralität stellen ihn, so Deutsch, „jenseits von anten vom
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Helene Deutsch; „Psychoanalytische Studie zum Mythos von Dionysos und Apollo", in: The Freud Anniversary Lecture Series, 11, (dt. Ausgabe Frankfurt/M. 1973). Karl Kerényi, Dionysos- Urbild des unzerstörbaren Lebens, Stuttgart 1994; s. a. Walter F. Otto, Dionysos, Frankfurt/M. 1996.
„Der Begriff des Dionysos noch einmal"
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(Nietzsche)" dies der einzige Nietzsche-Anklang dieser kleinen Arbeit. Deutsch weiter wird zum Sozial-Revolutionär, indem er die Frauen aus Dionysos ihrer Sklaverei lösen will, und zwar als Lusios (Befreier): die ihm folgenden Frauen „töten, zerstören, kochen ihre eigenen Kinder" ; die Pathologie der Mänaden sowie der Bacchantinnen wurde bereits in der Antike als kollektive Hysterie bezeichnet. Deutsch deutet die Mänaden, denen sie keinen sexuellen Eskapismus zuschreibt, als Verwandlung der stillen toten Mutter (Semele) in wilde, schreiende Ersatzmütter: eine Projektion des wilden (Verlust) Schmerzes des Dionysos in die lustvoll-gewaltsame Ekstase seiner Anhängerinnen ein ersehnter Zustand jenseits der Ambivalenz von Liebe und Haß, von Mann und Frau. Die Frucht der Erde, den Wein, deutet Deutsch als einen „Ersatz für die Muttermilch", der aber dennoch nicht zur Erfüllung einer dauerhaften Einheit mit der Mutter führt. In Beziehung zu Zeus vermeidet Dionysos Konkurrenz, Ungehorsam und Aufbegehren, also ödipales Rivalisieren; als „zweiter Zeus" kommt er mit der Schar seiner Anhängerinnen schließlich zurück in seinen Heimatort: Das Haus des Kadmos in Theben betritt er als Knabe (Deutsch folgt hier der Tragödie des Euripides Die Bakchen), er will den über Semele umlaufenden Klatsch rächen.48 Nachdem Pentheus' Mutter den eigenen Sohn im Wahnsinn getötet hat, erscheint Pentheus im Hades als Frau nach Deutsch eine Projektion der eigenen Ängste des Dionysos. Auch dieser muß bei seinem Weg in die Unterwelt dem Polyymnos „völlige weibliche Hingabe" versprechen: Unter dem Namen „Thyone" (die schwärmerisch Rasende) bringt er seine Mutter Semele in den Parnaß. Die Wiedervereinigung mit der Mutter ist ein Triumph des Weiblichen, während inzwischen Polyymnos verstorben ist und Dionysos ihm zur Einhaltung seines Versprechens einen Phallos aus Feigenholz errichtet, auf den er sich setzt. Hier drängt sich wieder eine Parallele zu Nietzsches Ecce-homo-Gnome auf: dem toten Vater wird idealisierenderweise ein Verehrungsphallus errichtet; das lange Leben jedoch in Identifikation mit der Mutter erhofft und zwar nicht mit der realen Mutter, sondern mit der in den Himmel erhobenen, gewissermaßen unsterblichen Mutter. Zur doppelten Herkunft von zwei Müttern muß aber nicht nur die „doppelte Herkunft des Dionysos" bedacht werden, sondern auch Apollos Herkunft mit im Hintergrund evoziert werden, denn die Geburt der Tragödie rekurriert auf deren Gegensatz, nicht nur im Wesen, auch in der Herkunft. Der These von Deutsch zufolge ist Apollo probehalber nicht als zusammengesetzte hellenische Figur, sondern ebenfalls als individuelle Figur zu betrachten. In seinem mythologischen Status als Sonnengott zeichnet er sich durch muttermörderische Akte gegen die Erdgöttinnen aus: ein Muttermord also nicht direkt an seiner Mutter Leto, sondern an stellvertretenden weiblichen Figuren ausgeführt. Apollos Beiname Phoibos stammt von seiner Großmutter Phoibe, seiner Mutter gemäß wurde er auch „Letoides" genannt. Als Leto in Verruf gebracht wird, weil sie nur zwei Kinder habe (Apollo und Artemis) verteidigt der Sohn sie „ritterlich".50 Seine Gut und Böse'
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so
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Jugend
war
durch Mutterabwesenheit geprägt: Da Hera in ihrem
Deutsch, 22.
Ebd., „Dionysos hat die sterbliche Welt der Semele besiegt", 30. Ebd., 32. Ebd., 41.
eifersüchtigen
Zorn
202
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verfügt hatte, daß Leto nur im Dunklen entbinden dürfte, kam es auf der Insel Delos zur Wassergeburt. Leto, von Zeus Seite nicht weichend, stand als reale Mutter dem Sohn nicht zur Verfügung. Die abgespaltene Wut über dieses Verlassen-Sein drückt sich im Bild aus, daß der Hirtenknabe Apollon von Wölfinnen umgeben ist. Das Töten der Drachin Delphyne (manchmal mit Python vermengt) in Delphi deutet Deutsch als Muttermord, als Unterwerfung der chthonischen prähellenischen Erdgöttinnen (die Drachin als gefährliche kastrierende Muttergestalt aufgefaßt) somit ein Sieg Apollos über das Matriarchat.51 Auch er ist seinem Wesen nach bisexuell: wobei die aggressiv-tötenden Impulse an Artemis, die Jägerin mit Pfeil und Bogen, delegiert sind. Folgt man Deutschs Deutung, so wäre der muttermordende Impuls Apollos in den £cce-/zo/wo-Attacken auf Mutter und Schwester untergebracht („Lästerung auf meine Göttlichkeit", „vollkommene Höllenmaschine", „giftiges Gewürm"). Sein „Gebärneid" wäre sublimiert in der Vorstellung von der Schwangerschaft des Mannes, metaphorisch im Hervorbringen des Sohnes Zarathustra nach der Art der ,achtzehnmonatigen Schwangerschaft eines Elefanten-Weibchens'. Prägender für Nietzsches Identifikation mit Dionysos scheint mir jedoch zu sein, daß auch dieser ein Frühtraumatisierter ist, ein von der Mutter Getrennter, dessen Kult jedoch die Mütterlichkeit vergöttlicht im Sinne der Idealisiemng und Umwandlung unerträglicher Zerrissenheits-Qualen. Im Familienroman der polnisch-adeligen Vorfahren schafft auch Nietzsche sich selbst eine doppelte Herkunft, eine hohe phantasierte und eine verleugnete reale. -
IV. Als „Herkunftstrauma" Nietzsches, das ihn in einer ödipal vulnerablen Phase getroffen habe, ist bisher zumeist der frühe Tod des Vaters gesehen worden. Damit war die Schließung des ödipalen Dreiecks durch die Erkenntnis der Verbindung, welche die Eltern vereinigt die einen inneren triangulären Raum schafft, behindert. Für Nietzsches innere Entwicklung scheint mir noch ein anderer Aspekt bedeutsam zu sein, der mit dem „ewig trauernden Antlitz der Demeter" zu tan hat. Ein Gedicht des jungen Nietzsche, Am Meeresstrand (März 1863) tituliert, gestaltet eindrücklich eine depressive Mutter: ,
„Doch was sie träumt, doch was sie sinnt Die Wolken wissen's und der Wind [...] Ihr Sohn war in die Fern hinaus [...] Sie furchtet, wenn ein Sturmwind weht, Sie hat ja nichts als ihn allein [...] Sie war sich selbst ein dunkler Traum, Und sollte sie's nicht andern sein? Drum schwieg sie stets und blieb allein."53
„Mit der Tötung des chthonischen Untieres vollzieht sich also die Wandlung des Erdorakles zum Sprachrohr der olympischen Mächte", so Wolf Dietrich in seiner unveröffentlichten Habilitation, 22. Deutsch, 53: „Psychologisch gesehen ist er androgyn, sowohl homosexuell als heterosexuell." Zitiert nach: Pia Daniela Volz, „,Mein Träumen und mein Hoffen?' Narzißtische Traumstimmung und Traumdichtung beim jungen Nietzsche", in: Nietzscheforschung 5/6, 395.
„Der Begriff des Dionysos noch einmal"
203
Folge einer derartigen mütterlichen Depression ist für das Kind, daß die Mutter, zwar physisch präsent, aber zugleich eine ferne starre Figur ist, da sie ihrerseits durch den Verlust naher Beziehungspersonen beschäftigt ist. André Green bezeichnet diese Abwesenheit der physisch anwesenden, aber mit ihrer Trauer beschäftigten „toten" Mutter als „weiße Trauer", die im Kind ein „psychisches Loch" hinterläßt. Dieses Lochgefühl äußert sich als narzißtisches Trauma, verbunden mit einem Verlust an Sinngefühl, oft kompensiert durch eine vorzeitige intellektuell-kreative Entwicklung von IchFähigkeiten und eine reiche phantasmatische Beschäftigung. Dieses durchlöcherte Ich findet also reichlich Betätigung auf dem Feld der Phantasie, die der Abwehr der Leere und somit der narzißtischen Restitution dient. Es ist unschwer zu erkennen, daß Nietzsche diesen kreativen Ausweg gewählt hat, aber er blieb an einem empfindlichen Punkt getroffen: in seinem Liebesleben, da der Platz im Zentrum durch die lebendig-tote Mutter besetzt blieb. Sie erneut sterben zu lassen, wäre Muttermord gewesen und so imponiert der Versuch, die Mutter wiederzubeleben als metaphorisch gesprochen Versuch, ein Lächeln auf das Antlitz der Demeter, der stillen toten Semele zu zaubern. Das Selbstgefühl des Kindes bleibt aber beschädigt und ein schmerzhaftes Einsamkeitsgefühl ist die Folge: -
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„Dieser kalte Kern brennt wie Eis und anästhesiert wie Eis; aber so sehr auch die Kälte gespürt
wird, die Liebe bleibt unverftigbar."55.
„Zarathustras Nachtlied" häufen sich die Kühle- und Einsamkeitserfahrung:
In
Metaphern einer derartigen kosmischen
„Ich kenne das Glück des Nehmenden nicht; und oft träumte mir davon, dass Stehlen noch
se-
liger sein müsse als Nehmen [...]
Viel Sonnen kreisen im öden Räume: zu Allem, was dunkel ist, reden sie mit ihrem Licht mir schweigen sie [...] Ach, Eis ist um mich, meine Hand verbrennt sich an Eisigem! Ach Durst ist in mir [...].
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Green akzentuiert, daß zur Idealisierung der eigenen Einsamkeit aus Not hinzukommt, daß gerade Passivität als konflikthaft erlebt wird: Die „weiße Trauer der lebendig-toten Mutter wird als gemeinsamer Körper aller vergangenen Lieben" erlebt (229) und die Mutter wird letztlich „zum Kind des Kindes, das die narzißtische Wunde reparieren soll" (230). Unter dieser Perspektive erhält Nietzsches Gnome noch einen anderen Sinn, nämlich den, daß die Mutter nicht sterben darf und in ihm oder als er am Leben bleiben muß: Ja, er ist das Leben der Mutter und sie lebt in ihm. Einer solchen Mutter-Kind-Dyade eigen ist narzißtischer Mißbrauch und die Unfähigkeit, die Erfahrung der Objektverwendung zu machen, wie sie der Psychoanalytiker Donald Winnicott versteht. Er hat die „Anthropologie einer primären Umweltverbundenheit" entwickelt, eine „intersubjektive Theorie des Selbst" (Altmeyer), die den revolutionären Wechsel eines wissenschaftlichen Paradigmas von der Ein- zur Zwei-Personen-Psychologie bedeutet. Die Fähigkeit, André Green, „Die tote Ebd., 222. KSA 6, 346ff.
Mutter", in: Psyche, H. 3 (1993), 205-240.
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in Kontakt zur Beziehungsperson zu treten, ist seines Erachtens wesentlich durch die frühe Erfahmng des Kindes geprägt, daß die Mutter (oder die Beziehungsperson) seine Zerstömngsabsichten „überlebt", ohne sich für den Angriff zu rächen. Das „Überleben" der Mutter ist eine heilsame Korrektur der Allmachtsphantasien. Aus einer anfangs undifferenzierten Mutter-Kind-Symbiose entsteht aus diesem Kampf um Anerkennung die Beziehung zwischen freien Interaktionspartnern. In der „weißen Trauer" wird aber unverschuldet die Mutter als einen Verlust nicht überlebt-habend am Leben erhalten und das Kind bleibt ewig schuldhaft an sie gebunden. Ängste eines solchen beschädigten Ich vor Fragmentisiemng und Desintegration sind so bedrohlich, daß sie abgespalten oder projiziert werden müssen. Dionysos' Zerrissenheit ist solch eine Projektion: Bild einer Spaltung und im Phantasma der Wiedergeburt die Hoffnung auf deren Überwindung in einer neuen Ganzheit. In hellsichtiger Weise hatte Lou Salomé bereits in ihrer Nietzsche-Monographie (1894) Nietzsches Selbstspaltung in einen (erkennenden) und einen dunklen, kranken (triebhaften) Persönlichkeitsteil, beschrieben, auf seine Äußemng in der Morgenröthe zurückgreifend, wo es heißt: „Der Triumph des Asketen über sich selber, sein dabei nach Innen gewendetes Auge, welches
den Menschen zu einem leidenden und zu einem Zuschauenden zerspalten sieht und furderhin in die Aussenwelt nur hineinblickt, um aus ihr gleichsam Holz zum eigenen Scheiterhaufen zu sammeln, diese letzte Tragödie des Triebes nach Auszeichnung, bei der es nur noch eine Person gibt, welche in sich selber verkohlt -.""
Das Scheitern des
Anspmchs Nietzsches die Subjekt-Vielheit in einer höheren Einheit faßte denn auch als pathologische Zweispaltang vom Individuum zum Lou aufzuheben, Dividuum auf im Sinne einer Selbsttäuschung im Dienste der Erkenntnis, dabei die sonderbare Mathematik Zarathustras im Auge habend: „Immer einmal Eins das gibt auf die Dauer Zwei!" Diese Selbst-Spaltung im Dienste der Erkenntnis beschäftigt Nietzsche bereits zur Zeit der Tragödienschrift. Ein sonderbares Fragment lautet: -
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„Vorstellung Gegensatz der Selbstzerfleischung Selbstgenuß nur möglich durch zerspaltung. Ganz Genuß Schönheit. Genuß in der Zerfleischung Erhabenheit."58 -
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Selbst-
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Sprache der Psychoanalyse ist die Spaltung ein Abwehrvorgang, um dem Bewußtsein Unerträgliches (wie etwa ein überwältigender Schmerz) fernzuhalten. Dieses Ziel der „Schmerzlosigkeit" beschreibt Nietzsche, die im Produzieren des Kunstwerks erreicht werden soll, indem der „Wille als höchster Schmerz" (das Dionysische) aus sich heraus eine „Verzückung" (das Apollinische) erzeugt: „Das Leidende, Kämpfende, sich Zerreißende ist immer nur der eine Wille: er ist der vollkommene Widerspruch als Urgrund des Daseins. Die Individuation ist also ReIn der
sultat des Leidens, nicht Ursache. Das Kunstwerk und der Einzelne ist eine Wiederho-
lung des Urprozesses, aus dem die Welt entstanden ist, gleichsam ein Wellenring in der KSA 3, 103. Lou Andreas-Salomé, Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Wien 1894, 37. KSA 7 7 (64), 153.
„Der Begriff des Dionysos noch einmal"
205
Welle." In der Rückkehr in den mütterlichen Urgrund des Anus mundus, das Urmeer, soll der Schmerz der Getrenntheit also wieder aufgehoben werden. Wenn wir Individualität als ontologisches Grundprinzip verstehen im Sinne eines „unteilbaren Ganzen", als anthropologische Notwendigkeit, sich als Einheit zu begreifen, und damit zugleich ein Deutangsmodell für die Welt abgebend, so ist es genau diese Einheit des Selbst-Empfindens, die Nietzsche bezweifelt und angreift in seiner Kritik (Herbst 1880) am Subjekt als Einheit: „Nie behandeln wir uns als Individuum, sondern als Zweiund Mehrheit: [...] wir können gar nicht mehr eine Einzigkeit des ego fühlen, wir sind immer unter einer Mehrheit. Wir haben uns zerspalten und spalten uns immer neu".60 Diese Fähigkeit des Ich, sich zu empfinden und zugleich sich dabei zu beobachten, ließe sich durchaus dem Konzept der therapeutischen Selbst-Spaltung vergleichen: „so muß der
Dionysosdiener im Rausche sein und zugleich hinter sich als
Beobachter auf der
liegen".61 Fähigkeit des
Lauer
Individuums zwischen verschiedenen Identifizierungen (mit Vater, Die mit Mutter, mit Freunden, wichtigen Dingen der Objektwelt, wie der Musik, der Kunst) zu oszillieren, setzt das entlang einer Raum- und Zeitachse kohärent bleibende Gefühl einer Identität voraus. Diese Identität begreift Nietzsche gedanklich als Illusion von Einheit und ringt doch lebenslang um ein Gefühl von „Selbst" als „goldene Kette". Das dionysische Selbst ist so betrachtet Ausdruck einer existentiellen Zerrissenheit: In der wahnhaften Identifizierung mit Dionysos überwiegt zuletzt die Hierophanie, der euphorische Gedanke einer Überwindung der tiefen Unheilbarkeit der Welt, einer Welt mit einer tiefen Kluft zwischen Vater- und Mutterwelt. Im Wahnsinnsbrief an Jacob Burckhardt vom 4. Januar 1889 wird ein letztes Mal ein triangulärer Raum eröffnet, den zu leben Nietzsche nicht vergönnt war, der nur zu beschwören war: „Nun sind Sie bist du unser grosser grösster Lehrer; denn ich, zusammen mit Ariadne, habe nur das goldene Gleichgewicht aller Dinge zu sein, wir haben in jedem Stücke Solche, die über uns sind Die heilige Hochzeit von Materie und Geist (Hierosgamos) feiert den Triumph der manischen Position, einer Himmelfahrt im Wahn, welche die Verlustbewältigung der depressiven Position weit unter sich läßt. Betrachten wir dieses beschworene „goldene Gleichgewicht" im Kontext einer triadischen Struktur von Gott, Mensch und Welt so umreißt die Ecce-homo-Gnome auch ein Dreieck von Dasein, Leben und Tod als Ausdruck eines tiefen, ungelösten Ambivalenzkonfliktes und des in der Schwebe-Lassens, ob dies ein Glück oder ein Verhängnis sei: -
-
...
Dionysos."6
-
„Das Glück meines Daseins, seine Einzigkeit vielleicht, liegt in seinem Verhängniss: ich bin, in Räthselform auszudrücken, als mein Vater bereits ich noch und werde alt."
um es
'9
i0 11 ,2
KSA 7, 166. KSA 9, 215. KSA 1,555. KSB 8, 574.
gestorben,
als meine Mutter lebe
III. Also sprach Zarathustra Hauptthemen und Forschungstendenzen
-
9. Nietzsche-Werkstatt Schulpforta vom 12.-15. September 2001
Matthew Meyer
The Tragic Nature of Zarathustra
Classifying Also sprach Zarathustra has been a challenging task for scholars. While many have interpreted the work as a "philosophische Dichtung", Nietzsche certainly did not limit himself to such a characterization. Browsing through his letters, we find Nietzsche assigning the work to a wide variety of artistic and religious genres: a symphony, a kind of "Moral-Predigten", a "heiliges Buch", and a "fünftes Evangelium".2 Hence trying to answer definitively the question, "what is Zarathustra?" just might be an impossible task. Nevertheless, I want to look at Zarathustra according to a genre that many scholars have unfortunately overlooked. The genre is tragedy, and in the following essay, I will argue that reading Zarathustra accordingly could lead to important insights in trying to grasp the central themes of the work. Although the textual references to the tragic nature of Zarathustra are few, they occur at crucial junctures in Nietzsche's work. Unlike the aforementioned genres, which appear in his letters, we find such evidence in his published work, Die Fröhliche Wissenschaft. The most important passage is entitled, "Incipit Tragoedia", and it introduces the character Zarathustra by quoting the opening lines of the work that is to follow (KSA, FW, 3, 571). In the first edition of Die Fröhliche Wissenschaft, this passage concluded both Book IV and the work as whole. Nietzsche later added a fifth book in 1887, and although the revised edition weakens the clear connection between Die Fröhliche Wissenschaft and Zarathustra, the penultimate section does conclude with the phrase, "[...] die Tragödie beginnt" (KSA, FW, 3, 637). Finally, Nietzsche highlights the first of these two references, along with the possibility of reading Zarathustra as a parody, in the 1887 preface of Die Fröhliche Wissenschaft (KSA, FW, 3, 346).3
1
3
I would like to thank Harvard University and the Frederick Sheldon Traveling Fellowship Fund for making my research possible. J. Salaquarda, "Die Grundconception des Zarathustra", in: Friedrich Nietzsche, Also sprach Zara-
thustra, ed. V. Gerhardt, Berlin 2000, 69-70.
Calling Zarathustra a parody simply adds to the list of genres cited above. Nietzsche also understood the intimate psychological and historical connection between tragedy and comedy. Psychologically, both art forms aim at the overcoming and the discharge of nausea (KSA, GT, 1, 57). Historically, Nietzsche knew that a proper Dionysian festival included three tragedies and a frivolous
Matthew Meyer
210
Because the point here is simply to establish tragedy as a legitimate, rather than exclusive classification of Zarathustra, the aforementioned textual evidence is sufficient to press on with the hypothesis. However, before one can approach Zarathustra as a tragic work, one must have a clear grasp of what tragedy means, not for us, but for Nietzsche himself. This is a crucial hermeneutical point, because tragedy has meant different things to different thinkers and Nietzsche is very adamant about distancing himself from previous interpretations and, in doing so, establishing his own theory of the tragic.4 Because tragedy is so fundamental to his thought, and perhaps the key to unlocking some of Zarathustra's secrets, I will try to spell out Nietzsche's understanding of tragedy in the following section.
I. Nietzsche's
Understanding of Tragedy
Nietzsche's most elaborate articulation of tragedy occurs in Die Geburt der Tragödie, and for all its shortcomings, he later affirms his psychological insights into both the origin and the nature of Greek tragedy.5 Here he presents tragedy as the apex of art, a successful combination of two of seemingly irreconcilable artistic instincts (KSA, GT, 1, 140), dream (Traum) and ecstasy (Rausch), respectively symbolized by the Greek gods Apollo and Dionysus (KSA, GT, 1, 25). The task of the tragic artist is to employ these artistic stimulants to create a life-affirming desire for existence, which can, in its most extreme form, translate into an experience of eternal joy (KSA, GT, 1, 108). In doing so, the world, including evil and ugliness, obtains its ultimate justification (KSA, GT, 1, 71), and the audience members, actually participants in a religious festival, are redeemed and reborn as initiates of a higher order (KSA, GT, 1, 30). Examining Nietzsche's ideas more closely, we find that tragedy arose from a particular worldview of the pre-Socratic Greeks. In Die Geburt der Tragödie, Nietzsche refers to this tragic worldview as "Dionysian wisdom", and it depicts man as a suffering creature, subject to a sometimes cruel and arbitrary fate. Specific to this worldview are two main principles, chance (Zufall) and suffering (Leiden), and Nietzsche uses the myth of Silenus, the companion of Dionysus, to characterize man and nature as such (KSA, GT, 1, 35). Whether it is the Platonic belief in a harmonious natural order or the Hegelian notion of historical progress, Dionysian wisdom rejects any optimistic solution to the problem of suffering. Man is permanently in contradiction with himself and nature, and hence he suffers, eternally (KSA, GT, 1, 155). satyr play. If we apply this
constitute
a
to
Zarathustra,
we
find
a
similar structure, where the first three books
tragic trilogy and the fourth, "eine heitere Seite desselben Stoffes" (KSA, NF, 7, 43).
Nietzsche aims his critique at two thinkers, Aristotle and Schopenhauer, because they misunderstood the psychological effects of tragedy and therefore failed to grasp its cultural significance. As Nietzsche writes in a later Nachlass fragment, tragic art is essentially life-affirming, not a stimulant of pity and fear (KSA, NF, 12, 555-557). Nietzsche's later return to his first work is both evident and acknowledged. A striking example of this, particularly relevant to this study, is a summary of the book's basic principles during his work on Zarathustra in 1883 (KSA, NF, 10, 237-240).
The
Tragic Nature of Zarathustra
211
Rooted in this understanding of existence, the Greeks developed the arts to defend themselves from the nauseating and nihilistic consequences of this wisdom. Indeed, the myth of Silenus, as Nietzsche presents it, quickly leads to this life-negating ethic. Given man's position within the larger cosmos, it would be better, so Silenus suggests, "nicht geboren zu sein, nicht zu sein", but because this is impossible, Silenus further concludes, "das Zweitbeste aber für dich bald zu sterben" (KSA, GT, 1, 35). Faced with such wisdom, the Greeks rebelled against the life-negating ethics of Silenus with their art. "Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, musste er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen" (KSA, GT, 1, 35). To survive, the Greeks turned to the realm of Apollo, and in a beautiful dream image deified their existence. With this transfiguration of humanity hovering above the Greek world, the gods justified life precisely because they lived it, eternally. Seen through the lens of Homeric poetry, life attained its highest value, and death was the greatest loss. The Greeks effectively reversed the lifenegating ethics of Silenus with their art: "Das Allerschlimmste sei für sie, bald zu sterben, das Zweitschlimmste, überhaupt einmal zu sterben" (KSA, GT, 1, 36). This example illustrates the basic relationship between art and truth: Art saves man from the life-denying consequences of his own insights (KSA, GT, 1, 56). However, the above illustration has its limitations, as it only presents the Apollonian artistic response to Dionysian wisdom. Nietzsche points to an alternative, if not superior, answer to such wisdom, namely Dionysian art. Thus, there are two art worlds, and Nietzsche identifies Homer (Apollo and epic poetry) and Archilochus (Dionysus and lyric poetry) as their respective leaders (KSA, GT, 1, 42). While the common task of overcoming Silenus' life-negating ethics unites them as art, the means by which they achieve this goal distinguishes the two forms. Rather than escaping into a world of created beauty, the Dionysian artist confronts existence as it is and forces man to come to terms with pain, suffering, and ugliness. Through Dionysian art, man learns to embrace destruction as a part of the creative process, to transform chance into play, and to find pleasure in pain itself. The primary artistic genres that make such transformations possible are music and dance. More specifically, Nietzsche points to "musical dissonance" as the primary artistic phenomenon that reveals such capacities. The world, as Silenus tells us, is filled with suffering and contradiction. Musical dissonance both imitates this disharmonie world and produces a sense of joy associated with its apparent ugliness. As Nietzsche writes, if we fail to grasp the significance of musical dissonance, that man is capable of enjoying suffering, then we will fail to grasp the central thesis of his work: only as an aesthetic phenomenon is the world justified (KSA, GT, 1, 152). Related to musical dissonance is the tragic myth. It too wants to convince us that "das Hässliche und Disharmonische ein künstlerisches Spiel ist, welches der Wille, in der ewigen Fülle seiner Lust, mit sich selbst spielt" (KSA, GT, 1, 152). Consequently, -
music and
tragedy fall within the realm of Dionysian art. Nevertheless, tragedy represignificant development from its purely Dionysian origins in music because it discharges its energies in word and image, essentially the realm of Apollo. It therefore embodies a successful reconciliation of these two conflicting gods. Nietzsche explains the psychology of their union as follows. The Dionysian artist distinguishes himself sents a
Matthew Meyer
212
from epic poetry by identifying with, rather than looking away from, the eternal river of becoming, its pain and contradiction (KSA, GT, 1, 43). This creates what Nietzsche calls a "musikalische Stimmung" within the artist himself. This musical mood ultimately pushes the artist beyond his own boundaries, and he speaks and acts through a projected second self, "als ob [er] wirklich in einen andern Leib, in einen andern Charakter eingegangen wäre" (KSA, GT, 1, 61). In ancient Greece, this "second-self took the form of the jubilating satyr, where man found himself both portrayed and transfigured, and it was in the satyr-chorus that tragedy took root. Reveling in Dionysian ecstasy, the satyr-chorus discharges itself into the realm of Apollo, envisioning the tragic hero (KSA, GT, 1, 61-62). Such visions mark the beginning of all drama, and constitute the dual Apollonian-Dionysian nature of tragedy. In the tragic performance, the action is merely an Apollonian vision that is a product of the ecstatic state of the choms. Driven by the music, the words and action depicted on stage are a playing out of human suffering and desire in the form of the hero. The choms allows the artist to create a world of heroes and ultimately send them to their tragic fate, and it is through the sacrifice of the hero that tragic art transcends Apollonian beauty to the joys of eternal becoming (KSA, GT, 1, 135). Transfigured by the signing choms, the destmction of the hero becomes a moment of intense joy, a Dionysian festival. At this moment, tragedy reaches its goal: '"Wir glauben an das ewige Leben', so ruft die Tragödie" (KSA, GT,
1,
108).6
We have progressed rather quickly from a discussion of the origins of tragedy to its ends, but what is important to note here is the deeply religious character of Nietzsche's understanding of tragedy (as opposed to the secular reading given by Aristotle). Nietzsche is fully aware of the barbaric religious festivals related to the more refined tragic performances of fifth century Greece in honor of Dionysus. According to his companion, Erwin Rohde, such festivals consisted of participants who re-enacted the destmction and rebirth of Dionysus. They would work themselves into an ecstatic frenzy of song and dance that culminated with the revelers ripping apart a bull with their teeth.7 The goal was communion with the god and to be reborn like Dionysus himself. In later festivals that included tragic drama, it is quite plausible that the tragic hero replaced the bull, and that, as Nietzsche suggests, his sufferings led to such a mystical experience.
In the tragic performance, this idea plays itself out in the following manner. By consecrating the individual to something higher than his own beauty, we initiate ourselves into the ecstasies of Dionysian art and religion. Through his destmction, we ultimately
realize that life is indestructible. The hero, the idealization of individuality, dies, but the choms, Dionysian desire, lives eternally, and the indestmctibility of the choms guaran6
For a similar reading, see Robert Rethy, "The Tragic Affirmation of The Birth of Tragedy", in: Nietzsche-Studien 17, 16-17. "At its most extreme one recalls the fate of Pentheus in Euripides' Bacchae Bacchic worship resulted in omophagy, the eating of raw flesh as an act of ingesting the god." Michael L. Morgan, "Plato and Greek Religion", in: The Cambridge Companion to Plato, Cambridge 1992, 235. For more on Dionysian worship in ancient Greece, see Erwin Rohde, Psyche: Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, vol. 2, Tübingen 1907, 3-44. -
-
The
Tragic Nature of Zarathustra
213
that the hero will be born again. Revealing that creation and destruction are inseparable opposites, tragedy purges man of the guilt associated with the fate of the Apollonian hero and life itself. Embracing the wisdom portrayed in the tragic drama, man celebrates the appearance of the beautiful hero and innocently and joyously welcomes the hero's fateful plunge into the river of becoming. Through tragedy, one experiences the complete Heraclitean cycle of coming-to-be and passing-away and, like a child who builds and destroys sands-castles simply for pleasure of doing so, longs to repeat this creative-destructive process (KSA, GT, 1, 153). Because it celebrates even the deepest of all sufferings, tragedy is the ultimate lifeaffirming response to the wisdom of Silenus. Its task is to embrace existence by overcoming the feelings of disgust (Ekel) associated with the very wisdom that it proclaims. When one grasps that neither scientific progress nor philosophical contemplation will cure a suffering humanity, man searches for answers, both in the past, "who is responsible for this?" and in the future, "what is my ultimate salvation?" Notions of original sin, where man blames himself, and nihilistic longings for an end of existence present themselves as respective answers. As the cultural ideal, Nietzsche argues that the Greeks overcame such life-condemning temptations with their artistic invention of the satyrchorus and the tragic performance. By purging themselves of guilt and finding joy even in their sufferings, the tragic Greeks redeemed themselves and justified the totality of existence, even in the midst of tragic cruelty (KSA, GT, 1,71).
tees
II. Also
sprach Zarathustra
At the heart oí Zarathustra lies the eternal return (KSA, EH, 6, 335). Originally presented in Die Fröhliche Wissenschaft, the eternal return is a piece of Dionysian wisdom, akin to Silenus' proclamations in Die Geburt der Tragödie. At first, this cosmological insight appears to be rather innocent, far from the pessimistic nature of Dionysian wisdom. However, when one analyzes the consequences of this idea more closely, it is possible to see how one could experience it as such. Whether it be the Ur-Wille of the young author or the Macht-Quanta in his later work, Nietzsche understands desire to be the basic element of existence. Desire compels us to search for satisfaction, a certain
end state where wanting becomes having, which one might call happiness. For those liberated from the necessity of survival, the search for happiness is what drives daily life. This search, however, assumes that one can find this illusive carrot; hope is the hidden presupposition. Like the wisdom of Silenus, the eternal return destroys the illusion of hope. There is no resting place in the future called peace and happiness (KSA, FW, 3, 528). There is no goal for desire, no ordered universe, no God (KSA, FW, 3, 480). There is only desire, and desire without a goal, without satisfaction, is suffering? Nietzsche expresses the eternal return in the aphorism preceding the introduction of Zarathustra in Die Fröhliche Wissenschaft: Nietzsche offers an equally pessimistic interpretation in the Nachlass: "Denken wir diesen Gedanken in seiner furchbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne Finale ins Nichts: 'die ewige Wiederkehr'" (KSA, NF, 12, 213).
214
Matthew Meyer
"Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge." (KSA, FW, 3, 570)
Similar to the consequences of Dionysian wisdom in Die Geburt der Tragödie, in which recognizes that action "kann nichts am ewigen Wesen der Dinge ändern" (KSA, GT, 1, 57), the eternal return entails the abolition of a better future, "es wird nichts Neues daran sein". Moreover, it guarantees the repetition of the ugly and the painful, and in Die Geburt der Tragödie, such knowledge nauseates man. If we transfer this insight to Die Fröhliche Wissenschaft, the title of the section in which Nietzsche introduces the eternal return, "Das grösste Schwergewicht", becomes quite meaningful. Indeed, Nietzsche believes that such an idea might crush smaller souls, that such men will lash out with vengeance and curse the preacher of this new gospel. At the same time, this idea offers the divine possibility of affirming not just a brief moment in time, but the entire game of eternal becoming. As we shall see, the effect of the eternal return depends on man's capacity to affirm or his tendency to deny life. As we saw in Die Geburt der Tragödie, art has the power to rescue man from the life-negating mood that can accompany such terrifying insights, and Nietzsche's turn to tragedy in the next aphorism oí Die Fröhliche Wissenschaft is an attempt to tap into the life-affirming powers of art. Nietzsche's gradual turn to art, however, is not limited to the appearance of Zarathustra in aphorism 342. His other activity during this time also points to his self-transformation into the Dionysian artist. Looking for signs of a "musikalische Stimmung", Nietzsche's meeting with his friend and composer, Heinrich Köselitz,' in Recoaro, Italy in May of 1881 seems to mark the beginning of his artistic turn. His renewed interested in music continues after this meeting and his artistic activity increases, as he writes "Scherz, List, und Rache"" and Idyllen aus Messina, an example of his own lyric poetry (to Erwin Rohde: KSB 6, 292). Nietzsche used the latter as material for the "Lieder des Prinzen Vogelfrei", which he appended to Die Fröhliche Wissenschaft in 1887. Finally, we should not forget, as Nietzsche reminds us in Ecce Homo, that the Hymnus auf das Leben, also a product of 1882, properly expresses the "tragische Pathos" that marked his life during this time (KSA, EH, 6, 336).12 The birth of Zarathustra seems to be out of the spirit of music, a spirit that took control of Nietzsche like a daemon. In his transfigured state, Nietzsche gave birth to a second self, a son, and the penultimate song, "Sils Maria", of Die Fröhliche Wissenschaft portrays this relationship: man
time, Nietzsche emphasizes the relationship between Köselitz's music and his philosophy (To F. and E. Nietzsche: KSB, 6, 89). Köselitz, who was "virtually Nietzsche's musical alter-ego", wrote an opera by the same name. See Frederick R. Love, "Nietzsche's Saint Peter", in: Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, 5, Berlin 1981,55. As he remarks in 1887, his music to the final verse of Lou Salome's hymn, "Wohlan! Noch hast du deine Pein!" is "das Stärkste von Hybris in griechischem Sinne" (to Heinrich Köselitz: KSB 8, In letters from this own
1'
12
178).
The
215
Tragic Nature of Zarathustra "Hier sass ich, wartend, wartend, doch auf Nichts, Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts Geniessend, bald des Schattens, ganz nur Spiel, Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. Da, plötzlich, Freundin! wurde eins zu zwei Und Zarathustra ging an mir vorbei [...]" (KSA, FW, 3, -
-
649)13
-
Nietzsche is now a transfigured Dionysian artist, acting "als ob [er] wirklich in einen andern Leib, in einen Charakter eingegangen wäre". As a product of his musically charged state, Nietzsche creates Zarathustra. As a dancer, a child, and the anti-thesis of the shepherd, Zarathustra resembles the Greek satyr in origin, nature, and function. As we shall see, Nietzsche's creation of Zarathustra both saves him from the nauseating dangers of the eternal return and at the same time allows him to proclaim this very wisdom, like the satyr, "aus dem Herzen der Welt" (KSA, GT, 1, 63). Zarathustra however does not begin with the proclamation and affirmation of this Dionysian wisdom. Instead, it begins with Zarathustra's vision of the Übermensch, and as such marks the beginning of the tragic drama. Unprepared to face the spiritual task of affirming all of existence, including the ugly, Zarathustra turns to the realm of Apollo, creating a vision of a higher humanity. The Übermensch is therefore a comfort (Trost), and this vision assists Zarathustra in making the eternal return "erträglich" (KSA, NF, 10, 482).15 As Nietzsche writes in a Nachlass fragment: "Ich gieng in die Einsamkeit, weil ich den Menschen lieben wollte, aber immer hassen musste. Endlich liebte ich den Übermenschen seitdem ertrage ich die Menschen" (KSA, NF, 10, 147). Zarathustra's first response to the eternal return is therefore a creative fiction. Nature offers no goal, so Zarathustra demands humanity to create one: "Es ist an der Zeit, dass der Mensch sich sein Ziel stecke. Es ist an der Zeit, dass der Mensch den Keim seiner höchsten Hoffnung pflanze" (KSA, ZA, 4, 19). The goal of all goals is to create a world of creators, and this task reaches its climax in "Auf den glückseligen Inseln". Here Zarathustra approaches man as a piece of unformed marble, and with his hammer, he chisels away his new image. Creation redeems suffering, justifies impermanence, and ultimately liberates man, thus teaches Zarathustra. Man's justification lies not in the celebration of what he is, but in what he can become, and the new image that Zarathustra offers is that of the creator himself. Such a justification though falls far short of the larger intention of the work. By creating the Übermensch, Zarathustra can delight in existence by contemplating humanity in its highest form, the perfected image of the hero. The problem however is that man himself still remains to be affirmed. Zarathustra loves the Übermensch, but he does not -
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First published in the 1887 edition oí Die Fröhliche Wissenschaft, the poem comes from two fragments, both written in 1882. See KSA, NF, 10, 107-108 and 10, 157. Also see: Manfred Riedel, "Nietzsches Gedicht Sils Maria", in: Nietzsche-Studien 27, 268-282. Marie-Luise Haase, "Der Übermensch in: Also sprach Zarathustra" und im Zarathustra-Nachlass 1882-1885, in: Nietzsche-Studien 13, 228-244, 231. Similarly, "ich will das Leben nicht wieder. Wie habe ich's ertragen? Schaffend. Was macht mich den Anblick aushalten? der Blick auf den Übermensch, der das Leben bejaht. Ich habe versucht, es selber zu bejahen Ach!" (KSA, NF, 10, 137). -
216
Matthew Meyer
yet love humanity. This he
can only bear (ertragen). Moreover, the existence of the Übermensch, and the ideal he represents, actually intensifies the ugliness of humanity. The last man is a necessary consequence of Zarathustra's teaching of the Übermensch:
Gegensatz des Übermenschen ist der letzte Mensch: ich schuf ihn zugleich mit jenem" (KSA, NF, 10, 162). Zarathustra's deep love for humanity is actually mixed with an equally deep contempt (Verachtung). Overcoming this contempt for the apparent ugliness of the human condition constitutes the final spiritual task for Zarathustra, and he encounters this problem in "Von der Erlösung". Reacting to the crippled and fragmented lot of humanity that surrounds him, Zarathustra realizes that history limits the powers of the creative will. The will cannot create backwards, and whatever vision of a future humanity it might create, history fetters its redemptive powers. With this knowledge, the will lashes out against itself and feelings of revenge and melancholy result. To overcome such hostilities, the will must leam to will backwards, thereby transforming all "it was" into "thus I willed it". In short, Zarathustra must will the accidents and suffering that constitute the nature of existence. Before taming to the eternal return, the very conception that allows Zarathustra to will a world of purposeless coming-to-be and passing-away, I want to isolate what I take to be the tragic nature of Zarathustra. To be able to will suffering and accident, Zarathustra must sacrifice his created goal, his comforting vision of the Übermensch.11 "Der
He must leave the blessed isles for the open sea; he must smash his own tables of morality and live beyond good and evil. Following Nietzsche's idea of the tragic, the sacrifice of the hero leads to the Dionysian ecstasies intimately associated with an experience of the eternal. In Zarathustra, Nietzsche foreshadows this idea in "Von den Erhabenen". Here he speaks of an Über-Held that only appears when the hero has abandoned the soul. As the Nachlass suggests, this over-hero is Dionysus himself, and his entrance depends upon the exit, or the Untergang, of the Übermensch}* The sacrifice of the Übermensch does not represent Zarathustra's failure, but rather the necessary step in the fulfillment of his spiritual quest. The goal is to leam to love man without contempt, to leam to love him as he is (KSA, ZA, 2, 242). At the end of this quest lies not the Apollonian hero, a vision of man that he readily embraces and must now sacrifice, but the Dionysian child (KSA, ZA, 4, 31). Within the progression of the work, the command to become a child occurs at the end of Book II in "Die stillste Stande": "Du musst noch Kind werden und ohne Scham" (KSA, ZA, 4, 189). Recalling the Heraclitian metaphor from Die Geburt der Tragödie, the child innocently partici16
17
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"Wer den Übermenschen schaffen will, der hat die extremen Formen von Liebe und Verachtung entmischt". Marco Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von "Morgenröthe" bis "Also sprach Zarathustra", [MTNF 37] Berlin/New York 1997,536. See KSA, NF, 10, 517: "Das ist das Problem des Herrschenden: er opfert die, welche er liebt, seinem Ideale." Brusotti, Die Leidenschaft der Erkenntnis, 614. See, KSA, NF, 10, 433: "Ariadne träumend: ,vom Helden verlassen träume ich den Über-Helden'. Dionysos ganz zu verschweigen!" See also, KSA, NF, 12, 402: Ariadne: "an mir sollen alle Helden zu Grunde gehen: das ist meine letzte Liebe zu Theseus: 'ich richte ihn zu Grunde'".
The
Tragic Nature of Zarathustra
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pates in the eternal game of creation and destruction. He therefore presents the possibil-
ity of affirming life without a goal, without the vision of the Übermensch, and the capacity to enjoy both the creative and the destructive process involved therein. Applied to Zarathustra, he must joyously destroy his creation without regret or shame to experience "die Unschuld des Werdens",1 and thereby transform all that was into thus
Zarathustra willed it. The great psychological danger involved in destroying what one loves is pity, and Zarathustra strengthens his defenses for this destructive moment with his new ethical tablet: "werdet hart!" (KSA, ZA, 4, 268). This command, as Nietzsche tells us in Ecce Homo, prepares the ground for the Dionysian festival by making it possible to enjoy the tragic event (KSA, EH, 6, 349). This moment comes when Zarathustra finally summons forth the eternal return. No longer the teacher of the Übermensch, Zarathustra now proclaims the eternal recurrence of even the smallest of men, originally the source of his disgust with existence. With the proclamation of this wisdom, Zarathustra and his teaching of the Übermensch go under (untergehen), but at the same time, the eternal return now guarantees the rebirth of Zarathustra and his teaching. Like the satyr-chorus, Zarathustra shares in the sufferings of the hero, but it is through such suffering that Zarathustra reaches news spiritual heights. By sacrificing his creation, Zarathustra frees himself from the burden of wanting the world to be other than it is. Thus, his Untergang is a victory (Sieg) over the "Geist der Schwere", and this victory initiates him into the mysteries of Dionysus. Although Nietzsche does not mention Dionysus, the section following Zarathustra's Untergang, "Von der grossen Sehnsucht", is filled with allusions to Dionysian art and worship.2 To welcome the new god, Zarathustra commands his soul to sing, thereby turning the pronouncement of the eternal return, a piece of Dionysian wisdom, into a Dionysian festival of song and dance.21 Now the child at play, Zarathustra has fulfilled the spiritual development foretold in "Von den drei Verwandlungen" (KSA, ZA, 4, 29-31). Recalling Die Geburt der Tragödie and Dionysian cult worship in ancient Greece, the aim of such worship is to experience the eternal power of existence (KSA, GT, 1, 108-109). Following this pattern, the work culminates with Zarathustra expressing his uncontrolled lust for eternal existence, a fitting end for a Nietzschean tragedy.22 The ending, however, does not negate the significance of the beginning, just as Zarathustra's affirmation of the eternal return does not negate the significance of his creation of the Übermensch. Tragedy is a combination of both Apollonian and Dionysian elements, the pleasures of creative fantasy and the ecstasies of destruction. Zarathustra must first love the individual before he can sacrifice him for his love of the whole. Nevertheless, overlooking the Dionysian elements of Zarathustra is to miss the idea that lies at the heart of Nietzsche's philosophy: To love life, man must learn to love suffering too, and Dio19 20
21 22
See letter to Heinrich Köselitz: KSB, 6, 445. As Wiebrecht Ries observes, "Von der grossen Sehnsucht" bears a striking resemblance to Homer's Hymn to Dionysus. Wiebrecht Ries, Die Geburt der Tragödie, München 1999, 46. See KSA, NF, 11,9: "Die ewige Wiederkunft, Dionysische Tänze und Fest Lieder". In referring to the end of the tragedy, I am referring to Book III. What is to follow in Book IV is a parody of the serious matters expressed in the first three books.
218
Matthew Meyer
man's capacity to do this through the arts associated with him. By the eternal return through the destmction of the Übermensch, Zarathustra achieves the Dionysian ecstasies that Nietzsche later describes in Götzen-Dämmerung: "Der Wille zum Leben, im Opfer seiner höchsten Typen der eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend das nannte ich dionysisch, das errieth ich als die Brücke zur Psychologie des tragischen Dichters. Nicht um von Schrecken und Mitleiden loszukommen [...]: sondern um, über Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens selbst zu sein, jene Lust, die auch noch die Lust am Vernichten in sich schliesst." nysus
symbolizes
affirming
-
(KSA, GD, 6, 160) -
III. Final Considerations
reading Zarathustra as a tragedy, I have presupposed that Nietzsche's conception of tragic remains relatively consistent from 1872 to 1882; the basic idea is that suffering, or pathos, characterizes man and that tragedy represents the highest expression and affirmation of an existence understood as such. While I cannot address objections that might arise from such a presupposition here, I will conclude by suggesting a way to understand the relationship between Die Geburt der Tragödie and Also sprach Zarathustra, one that both affirms the continuity thesis and acknowledges a substantive shift in Nietzsche's work. The difference between the two books is one of theory and practice, thought and deed. Given that Nietzsche dedicated Die Geburt der Tragödie to the rebirth of tragic culture (KSA, GT, 1, 132), Zarathustra, if it is indeed a tragedy, could be the fulfillment of these initial hopes. Such a reading would make sense of Nietzsche's later claim to be the first tragic philosopher (KSA, EH, 6, 312), and affirm his characterization of Zarathustra in Ecce Homo: "Mein Begriff 'dionysisch' wurde hier höchste That" (KSA, EH, 6, 343). In
the
Timo Hoyer
„[...] ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken" Zarathustras
pädagogisches Scheitern
„
Unbedingt den .Zarathustra
'
von
Nietzsche lesen.
"
Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra ist ein Buch mit vielen Gesichtern, das die unterschiedlichsten Lesarten ermöglicht. Ich möchte es im Folgenden einer pädagogischen Auslegung unterziehen. Damit bin ich nicht der erste. 1910 verfaßte die reformpädagogisch ambitionierte Schriftstellerin Maria Melde ein kleines Heftchen mit dem verheißungsvollen Titel Nietzsches Zarathustra und seine Bedeutung für die moderne Schule. Die Hoffnungen, die der Titel schürt, werden jedoch enttäuscht. Die Autorin bemüht sich keineswegs darum, aus dem Zarathustra eine zeitgemäße Schultheorie abzuleiten. Sie begnügt sich mit einer willkürlichen Mixtur aus Zitaten und Paraphrasen, die in das aufgesetzte Credo münden: „Zarathustra rief die Gewissen wach, indem
er uns predigte, daß die Erziehungsaufgabe die werden muß; dadurch legte er den Grundstein zu eiwurde der Schöpfer der modernen Schule, die einst zur Tat
wichtigste fur das Menschengeschlecht nem neuen
Unterrichtsbetriebe,
er
werden muß.""
Maria Meldes
Umgang mit dem Zarathustra ist symptomatisch für den Großteil der Nietzsche-Literatur aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts.3 Nietzsches Werk im Allgemeinen und der Zarathustra im Besonderen wurden nur selten einer sorgfältigen Analyse für würdig befunden. Statt dessen stöberte man in dem Buch nach Belieben, auf der Suche nach Sentenzen, die der eigenen Gesinnungslage zupaß kamen. Exemplarisch sei noch der Aufsatz Nietzsches Zarathustra und wir Leh-
pädagogischen
' :
3
Andrej Tarkowskij, Matyrolog II. Tagebücher 1981-1986, Frankfurt/M., Berlin 1991, 33. Maria Melde, Nietzsches Zarathustra und seine Bedeutung für die moderne Schule,
BerlinFriedenau 1910,30. Vgl. Timo Hoyer, „Über 100 Jahre pädagogische Literatur zu Friedrich Nietzsche", in: Nietzsche in der Pädagogik? Beiträge zur Rezeption und Interpretation, hg. v. Christian Niemeyer, Heiner Drerup, Jürgen Oelkers u. Lorenz v. Pogrell, Weinheim 1998, 39-55.
Timo Hoyer
220
Johannes Kurt Haubold aus dem Jahr 1914 angeführt. Der Autor war Volksschullehrer, tapfer engagiert im Kampf um eine angemessene soziale Anerkennung seines Bemfsstandes. Den Zarathustra empfiehlt er seinen Lehrerkollegen in erster Linie zur Stimulation ihrer Kampfbereitschaft:
rer von
„Ich habe ihn [den Zarathustra, T. H.] daraufhin durchgeblättert und manches schöne Wort für uns gefunden. Was er zu sagen hat, bezieht sich nicht auf die Kleinarbeit des täglichen Unterrichts. Über unsre Arbeitsziele in den Lehrervereinigungen, über unsre Arbeit, die auf das Umfassende und Ganze gerichtet ist, können wir ein paar Kernsätze aus seinem Buche schreiben. Sie können die Gesamtheit mit lenken und leiten in ihrem Schaffen und sind dazu geeignet, den Einzelnen anzutreiben und anzufeuern, sich dieser gemeinsamen Arbeit nicht fernzuhal-
ten."4
Weder Haubold noch Melde halten es für nötig, auf gedankliche oder strukturelle Zusammenhänge im Zarathustra einzugehen. Das Ergebnis sind keine qualifizierten pädagogischen Auslegungen des Buches, eher möchte man von pädagogischer Ausbeutung
sprechen.
Aber Also sprach Zarathustra ist auch in durchaus seriöser Weise pädagogisch interpretiert worden. Gerade aus dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts liegen einige instruktive Untersuchungen vor, mehrheitlich stammen sie aus dem anglo-amerikanischen Forschungsraum.5 Zwei Interpretationsansätze lassen sich unterscheiden. Die eine Herangehensweise rekurriert auf die expliziten Äußerungen, die im Zarathustra zu erziehungs- bzw. bildungsrelevanten Themen vorgebracht werden. Das Buch ist in dieser Hinsicht kein ausgemacht pädagogisches. Wenn Nietzsche im Nachlaß über den dritten Teil feststellt, dessen Thema sei die „Erziehung der zukünftigen Herrschenden" (KSA 11, 281), so ist man überrascht, nicht einmal einen einzigen Abschnitt darin zu finden, der sich auf den ersten Blick dieser Thematik widmet. Und auch in den übrigen Teilen sind Reden über dezidiert pädagogische Problemfelder die Ausnahme.
4
5
Johannes Kurt Haubold, „Nietzsches Zarathustra und wir Lehrer", in: Die deutsche Schule,
1914,790.
Leipzig
z.B. Haim Gordon, „Nietzsche's Zarathustra as Educator", in: Journal of Philosophy of Education 14 (1980), 181-192; Keith Jenkins, „The Dogma of Nietzsche's Zarathustra", in: Journal of
Vgl.
Philosophy of Education
16 (1982), 251-254; Richard Schacht, „Zarathustra/Zara//?us/ra as Educain: Nietzsche: Critical A tor", Reading, ed. by Peter R. Sedgwick, Oxford, Cambridge 1995, 222249; Tobias Klass/Rainer Kokemohr, „,Man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stem gebären zu können' Bildungstheoretische Reflexionen im Anschluß an Nietzsches Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen ", in: Nietzsche in der Pädagogik?, Weinheim -
6
1998,280-324.
Streng genommen kommen hier allein zwei Reden in Betracht, sie handeln
Vom Lande der Bildung
(KSA, ZA, 4, 153-155) und Von den Gelehrten (ebd., 160-162). Beide Reden repetieren in der Hauptsache Kritikpunkte, die Nietzsche bereits in früheren Werken ausführlich entwickelt hat. Das erziehungstheoretisch Bedeutsamere hat Nietzsche seinem Zarathustra nicht in Form einer bündigen Rede in den Mund gelegt. Es findet sich verstreut über alle vier Teile, eingebunden in unterschiedliche Kontexte. Zudem gibt es diverse Passagen, deren pädagogische Bedeutungsebene erst bei näherer Betrachtung zutage tritt. Das betrifft vor allem die Idee vom Übermenschen. Ernst Bertram (Nietzsche. Versuch einer Mythologie, 3. unveränd. Aufl. Berlin 1919) hat das Buch, einge-
„[...j ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken"
221
Die zweite Möglichkeit, den Zarathustra pädagogisch auszulegen, erwächst aus der Tatsache, daß dieses Buch die Gatfungsgrenze zwischen Philosophie und Literatur in Richtung letzterer überschreitet. Während bei einem philosophischen Text der identifizierbare Verfasser Geltungsansprüche erhebt, für die er mit seiner Person einsteht, „besitzen die Geltungsansprüche, die innerhalb des literarischen Textes auftreten, dieselbe bindende Kraft nur für die in ihm auftretenden Personen, aber nicht für den Autor und den Leser."7 Das wird von vielen Interpreten außer acht gelassen: Es ist nicht der Theoretiker Nietzsche, der im Zarathustra unmittelbar zu Worte kommt. Wir begegnen fiktiven Gestalten in einer fiktiven Welt. Erzählt wird eine Geschichte, eine relativ handlungsarme, wie man zugeben muß, deren narrative Grundstruktur gleichwohl ausreicht, um das ganze literarische Gebilde zusammenzuhalten. Was da erzählt wird, läßt den pädagogisch interessierten Leser aufhorchen. Richard Schacht konnte das Buch, den Gattungsbegriff großzügig genommen, mit Recht als „a kind of spiritual Bildungsroman" bezeichnen. Die Handlung beschreibt den Bildungsprozeß einer Figur, der ihrerseits daran gelegen ist, Bildungsprozesse auszulösen. Mit diesem Sachverhalt möchte ich mich nun etwas näher befassen. Meine leitenden Fragen sind: Wie verläuft dieser Bildungsgang und welche pädagogischen Einsichten lassen sich ihm entnehmen?
Zarathustras pädagogische Mission Der allererste Ausspruch Zarathustras lautet: „Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest!" (KSA, ZA, 4, 11) Sein primäres Handlungsmotiv ist unverkennbar ein zutiefst pädagogisches. Genauer gesagt: Zarathustra will im
wortwörtlichen Sinne belehren. Das ist durchgängig festzustellen: Den Kontakt zu seinen Mitmenschen sucht er fast ausnahmslos, um sie mit seinen Lehren zu konfrontieren. Besonders ausgeprägt ist dieser Beweggrund in den beiden ersten Teilen des Buches. Ganz zu Beginn beendet er seine zehnjährige Einsamkeit, da er Menschen benötigt, denen er seine angestaute ,Weisheit' übermitteln kann: „Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat, ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken." (ebd.) Schon kurz darauf verschafft er sich die Gelegenheit, eine seiner gewichtigsten Lehren vorzutragen: „Seht, ich lehre euch den Übermenschen." (ebd., 14) Hinter dem drängenden Wunsch zu lehren, steckt bei Zarathustra kein schlichtes Mitteilungsbedürfnis und schon gar kein akademisches Interesse, hier ist ein pädagogischer Furor am Werk, wie er mächtiger kaum vorstellbar ist: „Aber zum Menschen treibt er mich stets von Neuem, mein inbrünstiger SchaffensWille; so treibt's den Hammer hin zum Steine." (ebd., 111)
denk dieser Idee, vollmundig als die entworfen worden sei (337).
„mächtigste pädagogische Utopie" tituliert,
Jürgen Habermas, Nachmetaphysisches 8
Denken.
Philosophische Aufsätze,
1989,261. Richard Schacht, „Zarathustra/'Zarathustra as Educator", 231.
die seit Piaton
3. Aufl. Frankfurt/M.
222
Timo Hoyer
Also sprach Zarathustra erzählt von einem Lehrenden, aber es ist kein Buch über das Lehren. Auf diesen Unterschied hat David E. Cooper zu Recht hingewiesen. „He [Zarathustra; T. H.] is a founder, and the word of Zarathustra or Jesus are not about teaching, but the word of the Teacher." Nichts deutet zudem darauf hin, daß Nietzsche mit seiner Hauptfigur einen idealtypischen Pädagogen charakterisieren wollte. Man darf aus der Lehrpraxis dieses Protagonisten folglich keinen Modellfall für die pädagogische Alltagspraxis ableiten. Aber Zarathustras pädagogisches Vorgehen ist durch ein eigenartiges Lehrverhalten charakterisiert, mit dem es sich auseinanderzusetzen lohnt. Verfolgen wir seinen Werdegang. Wie gehört, zieht der Einsiedler aus, um den Menschen seine Lehre zu offerieren. Er „bedarf der Hände", die sich verlangend nach ihm „ausstrecken". (KSA, ZA, 4, 11) Von der Qualität seiner Weisheit überzeugt, versteht er sie als „ein Geschenk" (ebd., 13). Die erste Präsentation findet auf „dem Markte" (ebd., 14) statt. Ein guter Ort, möchte man meinen, und dabei an die öffentlichen Gespräche von Sokrates denken. Aber Zarathustra „is no Socrates",10 wie Laurence Lampert berechtigterweise festgestellt hat und wie wir gleich noch genauer erkennen werden. Zudem: Das Volk auf dem Markt ist kein griechisches Bildungsbürgertum. Es wartet gespannt und ausgelassen auf die angekündigte Attraktion eines Seiltänzers. Ohne Gespür für diese Freizeitsituation platzt Zarathustra in die Menge und beginnt damit, seine bitterernste Übermenschen-Lehre vorzutragen. Er erntet dafür das Gespött der auf Unterhaltung eingestellten Marktbesucher. Über diese Reaktion „wunder(t)" (ebd., 16) er sich kurz, setzt seine Rede aber unverändert fort. Auch den zweiten Teil seiner Ansprache quittieren die Umherstehenden mit Desinteresse oder Belustigung. Zarathustra beginnt über die Ursachen des sich anbahnenden Fiaskos zu reflektieren: „Muß man ihnen erst die Ohren zerschlagen, daß sie lernen mit den Augen hören? Muß man rasseln gleich Pauken und Bußpredigern? Oder glauben sie nur den Stammelnden?" (ebd., 18) Seine Ursachenforschung schlägt eine bezeichnende Richtung ein. Die Durchschnittsbevölkemng hält er für ungeeignet, seine Worte in angemessener Weise zu goutieren. Ihre Gleichgültigkeit deutet er als Bildungsdünkel, der sie vor existentiellen Wahrheiten abschirmt: „Sie haben etwas, worauf sie stolz sind. Wie nennen sie es doch, was sie stolz macht? Bildung nennen sie's, es zeichnet sie aus vor den Ziegenhirten." (ebd., 19) Aber sollten das tatsächlich die maßgeblichen Gründe für das Scheitern seines volkspädagogischen Auftritts sein? Der geschilderte Handlungsverlauf legt andere Ursachen nahe. Sie decken allesamt das Ungeschick des Lehrenden und nicht die Selbstzufriedenheit der Angesprochenen auf. Ein Vergleich von Zarathustras Vorgehen mit der berühmten Gesprächsführung von Sokrates kann das schlaglichtartig erhellen. Sokrates, wie ihn uns die frühen Schriften Piatons schildern, gibt sich seinen Gesprächspartnern gegenüber stets bescheiden und gelassen als einer, der seine eigenen Überzeugungen hintanstellt. Er gefallt sich, wie Nietzsche in einer frühen Universitätsvorlesung einmal formuliert hat, „in der Rolle eines Lernenden u. Fragenden". (KGW, 9
10
Cooper, „On Reading Nietzsche on Education", in: Journal of Philosophy of Education 17(1983), 121. Laurence Lampert, „Zarathustra and his Disciples", in: Nietzsche-Studien 8 (1979), 333. David E.
„[...] ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken"
223
II/4, 358) Ganz anders Zarathustra. Zum Bersten voll von Weisheit, die „überfließen will" (KSA, ZA, 4, 12), erscheint er angespannt und selbstbewußt bis an die Grenze zur Überheblichkeit. Das macht ihn blind für sein Gegenüber. Während sich Sokrates gezielt an konkrete, Antwort gebende Einzelpersonen wendet, an deren Wissensstand und Vor-Urteilen anknüpft und sie allmählich auf Ungereimtheiten stoßen läßt, trägt Zara-
thustra seine Lehre einer beliebigen Menschenmasse vor. Diese didaktische Strategie ist zum Scheitern verurteilt. Sagen wir es mit Rousseau: Wer seine Reden „unterschiedslos und wahllos an alle Welt richtet", kann sich weder auf die Bedürfnisse noch auf die Vorkenntnisse der Adressaten einstellen. „Es gibt vielleicht nicht einmal zwei, denen das, was man allen sagt, angemessen ist [...]." Folglich sind Reden oder „Predigten" pädagogisch beurteilt komplett „nutzlos". Das erfährt auch Zarathustra, allein, er zieht nicht die entsprechende Schlußfolgerung daraus. An einer diskursiven Interaktion mit seinen Zuhörern liegt ihm wenig. Deshalb ist (und bleibt) der Monolog seine bevorzugte Kommunikationsform und nicht der (sokratische) Dialog. Sein didaktisches Talent stellt Zarathustra nicht in Frage. Statt dessen verfallt er auf ein Erklärungsmodell, das die Kommunikation seiner Botschaft schlechterdings unmöglich macht: „sie verstehen mich nicht, ich bin nicht der Mund für diese Ohren." (KSA, ZA, 4, 18) Besäße er nicht diesen drängenden pädagogischen Impuls, der ihn zum Weitermachen anspornt, er hätte seine Mission wohl schon zu diesem Zeitpunkt für beendet erklärt. So aber setzt er sie, unbeirrt zunächst, mit einer erneuten Rede fort. Immerhin gelingt es ihm dieses Mal, die Gemüter in Erregung zu versetzen. Aber Zarathustra fühlt sich mißverstanden: „Und nun blicken sie mich an und lachen: und indem sie lachen, hassen sie mich noch. Es ist Eis in ihrem Lachen." (ebd., 21) Was ist zu tun? Der erlösende Gedanke kommt ihm am nächsten Morgen: „nicht zum Volke rede Zarathustra, sondern zu Gefährten." (ebd., 25) Von nun an wird er seinen Hörerkreis genauer auswählen. Seine Zielgruppe sind Gleich- oder zumindest Ähnlichgesinnte. Die Entscheidung, seine Zuhörerschaft zu begrenzen, ist ein nachvollziehbarer Lerneffekt. Der gealterte Zarathustra wird sich dereinst an ihn erinnern:
„Und als ich zu Allen redete, redete ich zu Keinem. [...] Mit dem neuen Morgen aber kam mir eine neue Wahrheit: da lernte ich sprechen ,Was geht mich Markt und Pöbel und Pöbel-Lärm und lange Pöbel-Ohren an!'" (ebd., 356) Das sind gehässige Bemerkungen und wahrlich nicht die einzigen dieser Art über jene, denen Zarathustra nach nur einem einzigen fehlgeschlagenen Versuch den Rücken kehrt. Die Äußerungen bekräftigen die Meinung einiger Interpreten, es handle sich bei Zarathustra um einen Lehrenden, der niemals ein glaubwürdiges Interesse an der Erziehung aller gehabt habe. „Zarathustra ignores the masses because he has absolutely no intention of ever raising them (educating them) above their natural level as slave/herd Dem ist schwerlich zu widersprechen. Folgt man allerdings der Handlungslogik, dann ist festzustellen, daß hier etwas anderes als pures Desinteresse oder eine bloße Animosität Zarathustras vorliegt. Weil er zu unflexibel ist, sich und die Darbietungs-
-
types."12 1 '
12
Jean-Jacques Rousseau, 342. Keith Jenkins, „The
Emile oder
Über die Erziehung, 9. Aufl. Paderborn, München
Dogma of Nietzsche's Zarathustra", 253.
u.a.
1989,
Timo Hoyer
224
die gegebene Situation anzupassen, und weil er diesen Bedinnicht erfaßt, führt er die Ablehnung seines Lehrangebots auf eine gungszusammenhang Unvereinbarkeit seiner Botschaft mit der Gesinnung der Bevölkerungsgrundsätzliche mehrheit zurück. So betrachtet handelt er durchaus folgerichtig. Um seine Lehre an den Mann zu bringen, wendet er sich von der Masse ab und solchen Personen zu, von denen er sich eine angemessenere Geisteshaltang verspricht. Der bislang beschriebene Handlungsverlauf wird in Zarathustra 's Vorrede mitgeteilt. Die Suche nach Gefährten ist der sehr dünne narrative Faden, der die daran anschließenden Reden Zarathustras, also den Rest des ersten Teils, miteinander verbindet. Die Adressaten seiner Ansprachen bleiben konturlos. Gewöhnlich werden sie gar nicht erwähnt, selten kommen sie zu Wort.13 Auch wenn Zarathustra sie als seine „Brüder" (KSA, ZA, 4, 79) oder seine „Freunde" (ebd., 96) anspricht, kann von einem paritätischen Verhältnis keine Rede sein. Die Beziehung ist rein pädagogischer Natur, wenn damnter, im traditionellen Sinn, eine asymmetrische Lehrer-Schüler-Relation verstanden wird. Zarathustra ist der Gebende, seine ,Freunde' sind die Empfangenden: „Wahrlich, ein Ziel hatte Zarathustra, er warf seinen Ball: nun seid ihr Freunde meines Zieles Erbe, euch werfe ich den goldenen Ball zu." (ebd., 95) Die nächste Enttäuschung Zarathustras ist in dieser Konstellation und mit dieser Erwartungshaitang vorprogrammiert. Der Lehrer nimmt seine Weggefahrten nicht als vollwertige Personen mit eigenen Idealen und Wünschen wahr, er betrachtet sie als Verwalter und Transfermedien seiner Hinterlassenschaft. Er wünscht sich nichts sehnlicher, als daß die Empfanger das von ihm Erhaltene an andere weitergeben: „Lieber als Alles sehe ich euch, meine Freunde, den goldenen Ball werfen!" (ebd., 96) Der Erfolg scheint seinem Ansatz zunächst Recht zu geben. Am Ende des ersten Teils haben sich „ihm Viele, die sich seine Jünger nannten", angeschlossen. Auch Zarathustra tituliert sie nun als „meine Jünger" (ebd., 97). Das geschieht in einem Vortrag, dessen Inhalt für alle Beteiligten überraschend kommt. Zarathustra wünscht sich zurück in seine Bergeinsamkeit. Und auch von seinen Anhängern verlangt er brüsk, sie sollten nunmehr auf ihren eigenen Füßen stehen: „Allein gehe ich nun, meine Jünger! Auch ihr geht nun davon und allein! So will ich es." (ebd., 101) Wir werden weiter unten sehen, dass mit dem Aufruf zur Dissoziation des Gemeinschaftsbundes auch eine durchaus löbliche emanzipatorische Absicht verbunden ist. Erst einmal aber wirkt die Order nur schroff und rücksichtslos. Daran ändert auch wenig, daß Zarathustra seinen Gefolgsleuten tröstend die Aussicht eröffnet, früher oder später „mit andern Augen" (ebd.) wiederzukehren. Er verläßt seine Gefährten, wie es zu Beginn des zweiten Teils heißt, in der Hoffnung, der ausgeworfene „Samen" (ebd., 105) werde unterdessen von sich aus Wurzeln schlagen. Mehrere Jahre verbringt Zarathustra in der Einsamkeit. Keine leichte Zeit, denn mit der Vermehrung seiner Weisheit wächst auch sein Sendungsbedürfnis: „Seine Seele aber wurde voll von Ungeduld und Begierde nach Denen, welche er liebte: denn er hatte ihnen noch Viel zu geben." (ebd.) Nach wie vor rührt sein vorrangiger pädagogischer Antrieb aus dem Verlangen nach Selbstentlastung. Er möchte sich von den „Schmerzen" (ebd.) seiner überbordenden Weisheit befreien, indem er sie anderen übermittelt. Wie wenig es ihm um die Empfänger seiner Lehren als Personen geht, wird form seiner Lehre
an
-
-
-
13
-
Vgl. Laurence Lampert, „Zarathustra and his Disciples", 322ff.
„[...] ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken"
225
sinnfällig am letztendlich entscheidenden Beweggrund seines erneuten Aufbruchs. Dafür bedurfte es noch einer zusätzlichen Sorge. Sie gilt nicht etwa dem Wohlergehen seiner zurückgelassenen Schüler, sie gilt seiner Lehre: „meine Lehre ist in Gefahr, Unkraut will Weizen heissen!" (ebd.) Von dieser Eingebung angestachelt macht er sich erneut auf den Weg; zum einen mit dem Ziel, seine, wie er meint, abtrünnigen „Freunde" (ebd., 106) zu suchen und zum anderen, um wider seine „Feinde" (ebd., 107) zu
streiten. Hat Zarathustra die Zeit der Kontemplation auch zum Überdenken seines didaktischen Vorgehens genutzt? Soweit wir sehen: Nein! Wieder sind es „Reden" (ebd., 106), mit denen er seine neugewonnene „wilde Weisheit" (ebd., 107) propagieren möchte. Und noch immer wünscht er sich Adressaten, die nichts anderes darstellen als Absorptionsmedien seiner Worte: „Also, gleich Feigen, fallen euch diese Lehren zu, meine Freunde: nun trinkt ihren Saft und ihr susses Fleisch!" (ebd., 109) Eine wirkliche Auseinandersetzung, im Sinne eines wechselseitigen Austauschs kontroverser Standpunkte, findet auch während seiner zweiten pädagogischen Exkursion nicht statt. Weder mit seinen Jüngern noch, entgegen der Ankündigung, mit Andersdenkenden verwickelt er sich in einen Dialog. Das Kommunikationsverhalten Zarathustras ist gut an seinem von ihm selbst mitgeteilten „Gespräch mit dem Feuerhunde" (ebd., 168) zu studieren. Kaum daß dieser Kontrahent Zarathustras überhaupt zu Worte kommt. Er wird torpediert mit einer Rede, die nicht überzeugen, die überwältigen will. Recht hat, wem zuletzt das Lachen nicht vergangen ist: „Du ärgerst dich, Feuerhund: also habe ich über dich Recht!" (ebd., 170) Zarathustras Unvermögen, andere Personen als gleichberechtigte Gesprächspartner zu akzeptieren, ist eine wesentliche Ursache für die sich im Laufe des zweiten Teils einstellende Entfremdung von seinen gerade erst wiedergefundenen Gefährten. Sein sukzessiver Rückzug aus der Gruppe dokumentiert sich in den größer werdenden Unterbrechungen ihres Zusammenseins. Zarathustra macht die verstörende Erfahrung, daß es ihm unmöglich ist, seine Lehre unumwunden mitzuteilen. So hält er etwa mitten in einem Vortrag mit „erschrecktem Auge" (ebd., 181) inne und blickt auf seine Zuhörer, um deren „Gedanken und Hintergedanken" (ebd., 182) zu ergründen. Er ist sich seiner Schüler nicht mehr sicher: Verstehen sie, was er sagt? Besitzen sie die rechte Gabe, seine Lehre in sich aufzunehmen? Pädagogisch gesprochen sind das Fragen nach den Lernvoraussetzungen der Edukanden und nach den zu erwartenden Lernerfolgen. Seine Zweifel sind nicht aus der Luft gegriffen. Bei seiner Erzählung von dem Feuerhund beispielsweise haben seine Gefährten die philosophische Pointe glatt überhört. Reizvollere, altersspezifische Erlebnisse gingen ihnen durch den Kopf und lagen ihnen auf der Zunge: „Seine Jünger aber hörten ihm kaum zu: so gross war ihre Begierde, ihm von den Schiffsleuten, den Kaninchen und dem fliegenden Manne zu erzählen" (ebd., 170). Aber für die Interessen seiner Anhängerschaft, zumal für derart unphilosophisch-naive, hat Zarathustra keinen Sinn und kein Ohr. Seine bevorzugte Methode, Problemen auf den Grund zu gehen, ist die Selbstreflexion, das Selbstgespräch. Im melancholischen Nachtlied deckt er einige seiner Kommunikationsdefizite scharfsinnig auf, allerdings ohne sie klar als Defizite zu benennen.
Timo
226
Deshalb bringt er sie auch nicht in einen ursächlichen abzeichnenden Mißglücken seines Unternehmens:
Zusammenhang
Hoyer
mit dem sich
„Aber ich lebe in meinem eignen Lichte, ich trinke die Flammen in mich zurück, die
aus mir brechen. Ich kenne das Glück des Nehmenden nicht; und oft träumte mir davon, dass Stehlen noch seliger sein müsse, als nehmen. Das ist meine Armuth, dass meine Hand niemals ausruht vom Schenken; das ist mein Neid, dass ich wartende Augen sehe und die erhellten Nächte der Sehnsucht." (ebd., 136)
Dem ausschließlich auf Sendung und nie auf Empfang geschalteten Zarathustra bleiben seine Gegenüber unbekannte Subjekte, denen er gar „wehetan möchte" (ebd., 137), um sie überhaupt noch als lebendige Wesen wahrzunehmen. Weil kein Echo ihn erreicht, vermag er auch nicht zu entscheiden, ob seine Lehren verstanden und verinnerlicht
werden: „Sie nehmen von mir: aber rühre ich noch an ihre Seele? Eine Kluft ist zwischen Geben und Nehmen." (ebd.) Er macht zum zweiten Mal die Erfahrung unüberwindbarer Fremdheit. Wie zuvor die schaulustigen Menschen auf dem Marktplatz, so empfindet er nun die kleine Gesellschaft seiner Jünger als äußerst unzugänglich; erneut wählt er die Metapher des Eises: „Ach, Eis ist um mich, meine Hand verbrennt sich an Eisigem!" (ebd., 138) Aber er kann sich noch nicht überwinden, das Bildungsprojekt abzubrechen, obwohl seine pädagogische Verve phasenweise erloschen ist: „Mein Glück im Schenken erstarb im Schenken, meine Tugend wurde ihrer selbst müde an ihrem Überflusse!" (ebd., 137) Sein Mitteilungsbedürfnis ist schlicht zu kräftig, als daß es sich von dem periodisch einstellenden Verdmß an seiner Lehrtätigkeit leichthin neutralisieren ließe. Den dieses Dilemma lösenden Entscheid bringt eine schizoid anmutende Unterredung am Ende des zweiten Teils. Zarathustras Gesprächspartnerin ist eine „zornige Herrin" (ebd., 187), die ihm „ohne Stimme" (ebd., 188) ins Gewissen redet und die er seine „stillste Stunde" (ebd., 187) nennt. Dieses, wie man es der Einfachheit halber nennen möchte, personifizierte Über-Ich weist ihn unnachgiebig darauf hin, daß er seinem Lehr-Auftrag noch nicht gewachsen sei: „,Oh Zarathustra, deine Früchte sind reif, aber du bist nicht reif für deine Früchte! / So musst du wieder in die Einsamkeit: denn du sollst noch mürbe werden.'" (ebd., 189f.) Ist das als eine Aufforderung zu verstehen, Zarathustra möge eine gründliche Revision seiner Didaktik vornehmen? Nur zum Teil. Was sein Über-Ich von ihm verlangt, zielt nicht, wie man nach den NachtliedReflexionen erwarten könnte, auf eine interaktivere Form der Kommunikation, sondern auf eine effektivere, autokratischere Proklamation seiner Überzeugungen: „Grosses vollführen ist schwer: aber das Schwerste ist, Grosses befehlen. / Das ist dein Unverzeihlichstes: du hast die Macht, und du willst nicht herrschen." (ebd., 189) Zarathustra akzeptiert diese Rüge, wie er auch die Weisung befolgt, ein weiteres Mal in Klausur mit sich zu gehen, wenngleich widerspenstig. Der Kern seiner Lehre ist noch immer unausgesprochen, das verstört ihn: „Ach meine Freunde! Ich hätte euch noch Etwas zu sagen, ich hätte euch noch Etwas zu geben! Wamm gebe ich es nicht?" (ebd., 190) Mit dieser Ratlosigkeit und dem peinigenden Gefühl, seine Aufgabe nicht verrichtet zu haben, trennt er sich von seinen Weggefährten. Was er nicht wissen kann: Es ist ein Abschied für immer.
„[...] ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken
"
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Der dritte Teil schildert Zarathustras Weg zurück in die Einsamkeit und seinen dortigen Aufenthalt. Bis zum Erreichen seines Gebirges spricht er mit einigen Menschen, später kommen auch seine Tiere kurz zu Wort, vor allem aber hören wir ihm bei seinen philosophischen Selbstgesprächen zu. In ihnen kristallisieren sich auch zwei pädagogische Vorhaben heraus. Man könnte von einem dominierenden Nahziel und einer Zukunftsperspektive sprechen. Das Nahziel lautet: Selbsterziehung. In Der Wanderer umschreibt Zarathustra in vielen Gleichnissen, daß ihm der schwierige Prozeß der Selbstvervollkommnung nun erst bevorstünde. Die Bildung seiner selbst begreift er als ein notwendiges Zwischenstadium, um anschließend seinen Erziehungsauftrag fortsetzen zu können: „Also bin ich mitten in meinem Werke, zu meinen Kindern gehend und von ihnen kehrend: um seiner Kinder willen muss Zarathustra sich selbst vollenden." (ebd., 204) Die Absicht, „noch Ein Mal [...] zu den Menschen" (ebd., 246) zurückzukehren, bleibt also als ein pädagogisches Fernziel bestehen. Aber es rückt in eine völlig unbestimmte Zukunft. Je weiter er sich von der Zivilisation entfernt, je näher er seiner geliebten ,JIeimat Einsamkeit" (ebd., 231) kommt, desto düsterer färbt sich die Erinnerung an seine sozialen Kontakte. Am Ende überwiegt eindeutig das Gefühl der totalen Entfremdung: „Ein Anderes ist Verlassenheit, ein Anderes Einsamkeit: Das- lerntest du nun! Und dass du unter Menschen immer wild und fremd sein wirst." (ebd.) Diese Einsicht wird Zarathustra nicht mehr widerrufen. Die Aussicht, einst wieder als Lehrender aufzutreten, scheint wenig realistisch. Erwartungsgemäß fällt das Fazit seiner Lehrzeit äußerst ernüchtert aus. Er zieht sein Resümee bei Ankunft in seiner Berghöhle im Abschnitt Die Heimkehr. Wie schon im Nachtlied sind seine Reflexionen problembewußt, aber nicht selbstkritisch: „Da unten aber da ist alles Reden umsonst!" (ebd., 232) Und weiter: „Alles bei ihnen redet, Niemand weiss mehr zu verstehn." (ebd., 233) Zarathustra reflektiert nicht auf seinen Lehrstil, er kritisiert allein das Verhalten der Anderen und wird darüber zum Misanthropen: „Ich mag schon ihren Athem nicht einatmen; ach, dass ich so lange unter ihrem Lärm und üblem Athem lebte!" (ebd.) Richtig wohlfühlen kann er sich nur in einer Gesellschaft, die sich ihm und seinen Worten vorbehaltlos zuwendet. Das Verlockende der Abgeschiedenheit besteht für ihn, so paradox es klingen mag, in dem Umstand, in der Natur jene Zuneigung zu erfahren, die ihm die Menschen vorenthalten haben. Die Einsamkeit spricht betörend: „Hier kommen alle Dinge liebkosend zu deiner Rede und schmeicheln dir: denn sie wollen auf deinem Rücken reiten." (ebd., 231) In der sozialen Isolation gereicht Zarathustra jene übermäßige Selbstbezüglichkeit zum Vorteil, die ihm im zwischenmenschlichen Verkehr zum Verderben wurde. Das Ende des dritten Teils präsentiert ihn uns in Hochstimmung. Die zwei zu seinem Privatvergnügen gesungenen Lieder Das andere Tanzlied und das Ja- und Amen-Lied dokumentieren ausdrucksvoll: Dieser Mann hat sein Selbsterziehungsprogramm zu einem erfreulichen Abschluß gebracht, er ist mit sich und der Welt im Reinen. Endet der dritte Teil gleichsam in der Grundtonart Dur, so beginnt der folgende in Moll. Hintergrund für diesen Stimmungswechsel ist das ungebrochene Verlangen Zarathustras, anderen von seiner Weisheit mitzuteilen: Das pädagogische Fernziel ist wieder näher gerückt. In Das Honig-Opfer, dem programmatischen ersten Abschnitt des vier-
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Timo
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Hoyer
Teils, gibt er seinen unverändert starken pädagogischen Impetus deutlichst zu erkennen, und er nennt auch die Art und Weise, wie er ihn nunmehr umzusetzen gedenkt: ,J3er nämlich bin ich von Grund und Anbeginn, ziehend, heranziehend, hinaufziehend, aufzieten
hend, ein Zieher, Züchter und Zuchtmeister, der sich nicht umsonst einstmals zusprach: ^erde, der du bist' ! Also mögen nunmehr die Menschen zu mir hinaufYomm&n: denn noch warte ich der Zeichen, dass es Zeit sei zu meinem Menschen." (ebd., 297)
Niedergang, noch gehe ich selber nicht unter, wie ich muss, unter
Von dem entworfenen Zweistufenplan wird Zarathustra lediglich den ersten Schritt realisieren. Er vertraut dabei ganz und gar auf die Mundpropaganda, die ihm eine geeignete Klientel zuführen soll. In der Hoffnung, die Ausstrahlung seiner Lehre und die Kunde von seinem „Glücke" „ködere" ihm möglichst „viele Menschen-Fische" (ebd.), spiegelt sich eine veränderte pädagogische Methode, derer sich Zarathustra zum Erreichen seines unveränderten pädagogischen Zieles nunmehr bedienen will. Konstant ist sein Wunsch nach Gleichgesinnten, die bereit wären, seine Lehre in sich aufzunehmen. Im Unterschied zu früher geht er aber nicht mehr aktiv auf die Aspiranten zu. Damit schlägt er zwei Fliegen mit einer Klappe. Zum einen muß er sich nicht überwinden und die verhaßte Stadtbevölkemng aufsuchen. Zum anderen wird es den möglichen Weggefährten schwerer gemacht, sich ihm anzuschließen. Sie müssen eine gehörige Portion Eigeninitiative aufbringen, um ihn in der Bergeinsamkeit aufzuspüren. Dadurch erhöht sich der Selektionsquotient. Nur jene, die wirklich willig und seiner bedürftig sind, werden den mühsamen Weg zu ihm suchen. Hat Zarathustra mit dieser Strategie den
gewünschten Erfolg?
Sein attraktiver Leumund führt ihm tatsächlich einen kleinen Kreis von Bedürftigen Ein Wahrsager verkündet es ihm: ,JDer höhere Mensch ist es, der nach dir schreit!" (ebd., 302) Zarathustra graust es zunächst bei der Vorstellung, nach Hilfe Schreiende näherten sich seiner Höhle. Dennoch macht er sich schließlich guten Mutes daran, den in den Wäldern Umherirrenden entgegenzugehen, um sie zu sich einzuladen. Schon in den ersten Einzelgesprächen mit seinen Besuchern wird ihm gleichwohl klar, daß sie seinen Erwartungen nicht entsprechen. Unverblümt bekennt er während der Gruppenbegrüßung: „Nicht auf euch wartete ich hier in diesen Bergen." Zu jämmerlich an Leib und Geist sind ihm seine Gäste, unbrauchbar, ihm bei der Verbreitung seiner „Lehren" als „rechter Arm" behilflich zu sein. „Und seid ihr auch hoch und höherer Art: Vieles an euch ist kmmm und mißgestalt. Da ist kein Schmied in der Welt, der euch mir zurecht und gerade schlüge." (ebd., 350f.) Zarathustra glaubt nicht an die Umerziehbarkeit seiner Besucher. Selbst gröbste pädagogische Maßnahmen wären vergeblich. Abgesehen davon gehören solche handgreiflichen Methoden, wie sie das Bild des Schmiedes symbolisiert, gar nicht zu seinem Repertoire: Zarathustra ist ein Mann des Wortes. Statt Personen, um im Bild zu bleiben, gewaltsam umzubiegen, bis sie seinem Erziehungsideal entsprechen, setzt er seine ganze Zuversicht auf die Wirksamkeit seiner kursierenden Lehren trotz der Enttäuschung, die ihm die ,höheren Menschen' bereiten. Er hofft unermüdlich „auf Höhere, Stärkere, Sieghaftere, Wohlgemuthere, Solche, die rechtwinklig gebaut sind an Leib und Seele", denen er das „Erbgut" seiner Weisheit überreichen kann: „- was gäbe ich nicht hin, dass ich Eins hätte: diese Kinder, diese zu.
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„[...] ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken
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lebendige Pflanzung, diese Lebensbäume meines Willens und meiner höchsten Hoffnung!" Nur in Begleitung solcher Zöglinge würde Zarathustra „zum letzten Male niedersteigen" (ebd., 351) und einer größeren Zahl von Menschen seine Lehre unterbrei-
der erwartete Nachwuchs ausbleibt, fällt auch das andere der letzte Missionsgang ins Wasser. Seine Enttäuschung hindert Zarathustra freilich nicht daran, seinen Gästen wenigstens Bruchstücke seines Lehrgebäudes vorzutragen wie gewohnt in Form von Reden. Sein pädagogischer Eifer muß sich hierbei gegen einen geradezu physischen Widerwillen durchsetzen: Seine Besucher stinken ihm: „diese höheren Menschen insgesammt riechen sie vielleicht nicht gut?" (ebd., 369) Diese innere Abneigung wird jedoch wettgemacht durch die ersten Anzeichen eines Lehrerfolgs. Seine Zuhörer haben das Lachen gelernt, sie sind ungezwungener, dankbarer: „Es sind Genesendel" (ebd., 387) Zarathustras Wohlgefallen an ihnen, noch im vorletzten Abschnitt (ebd., 395), kippt im letzten Abschnitt aber unversehens wieder um in die anfängliche Unzufriedenheit. Seine Besucher erscheinen ihm begriffsstutzig und sie folgen nicht genügend seinen Weisungen: „Das Ohr, das nach mir horcht, das gehorchende Ohr fehlt in ihren Gliedern." (ebd., 405) Aber er ist sich gewiß und wiederholt es beinahe beschwörend: Jene wahrhaft Gehorchenden sind unterwegs zu ihm: „meine Kinder sind nahe, meine Kinder" (ebd., 406). Begeistert von dieser Vorahnung, übermannt ihn das Gefühl, seine Zukunft habe bereits begonnen: „Dies ist mein Morgen, mein Tag hebt an: herauf nun, herauf du grosser Mittagl" (ebd., 408) Mit diesen Worten verläßt er seine Höhle. So endet Also sprach Zarathustra. Wir erfahren nicht, wohin er geht, aber alles spricht dafür, daß er auf die „Kinder Einer Hoffnung" (ebd., 102) wartet, um mit ihnen, wie er schon am Ende des ersten Teils vorhergesagt hatte, dereinst den großen Mittag zu feiern. ten. Aber weil das eine
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Fazit „Zarathustra is a failure as a teacher."14 Diesem Urteil muß man sich zweifellos anschließen, wenn man den geschilderten Werdegang überblickt. Er ließe sich als eine Art
Fallgeschichte lesen. Zarathustra endet als ein Lehrer ohne Schüler. Er neigt dazu, nicht sich als Lehrenden, sondern die von ihm Angesprochenen für das pädagogische Desaster verantwortlich zu machen. Aus dem Handlungsverlauf ergibt sich jedoch eine andere Verantwortlichkeit. Weder die Marktbesucher noch seine Jünger und auch nicht die ,höheren Menschen' können seinem hochgesteckten „Bild" (ebd., 111) vom Menschen genügen. Aus der Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit erklärt sich sein Verzagen an Letzterer und sein Versagen als Lehrer. Außerstande, seine immens kontrafaktischen Erwartungen und Ideale mit den jeweiligen Gegebenheiten abzustimmen, kommt es regelmäßig zu schwerwiegenden Enttäuschungen, die zum Abbruch seiner pädagogischen Bemühungen führen. Selig fühlt sich Zarathustra allein in der Einsamkeit. Hier kann er sich ungehindert eine Zukunft imaginieren, ohne sie mit der Realität abgleichen zu müssen. 14
Laurence
Lampert, „Zarathustra and his Disciples", 333.
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Timo Hoyer
Man hat Zarathustras Lehrweise, im Unterschied zu meiner eher kritischen Beurteilung, verschiedentlich extrem positiv, ja geradezu als vorbildlich interpretiert. Haim Gordon beispielsweise meint: Zarathustra „is a dedicated, sensitive, courageous and creative educator, well worth emulating."15 Diese Prädikate scheinen mir jedoch bestenfalls für Teilaspekte seiner Lehrpraxis zuzutreffen. Gleiches möchte ich jenen Auslegungen entgegenhalten, die Zarathustras Erziehungspraxis als eine überwiegend liberale beschreiben.16 Lesarten dieser Art sind gewiß nicht völlig falsch. Sie können sich auf markante Verhaltensweisen und Aussagen Zarathustras bemfen, in denen sein Wunsch nach emanzipierten, eigenständigen Individuen zum Ausdmck kommt. Die erwähnte Auflösung des Gemeinschaftsbundes beispielsweise ist unstreitig als ein Akt der Freisetzung zu verstehen. Zarathustras Ratschlag an mutmaßliche Parteigänger: „Wollt ihr hoch hinaus, so braucht die eignen Beine! Lasst euch nicht empor tragen, setzt euch nicht auf fremde Rücken und Köpfe!" (KSA, ZA, 4, 361) Die Metapher ,Rücken' ist uns schon einmal begegnet. Die Einsamkeit bezirzte den heimgekehrten Zarathustra mit den Worten: hier, fernab aller Menschen, wird alles „auf deinem Rücken reiten" (ebd., 231), sprich: nach deiner Pfeife tanzen. Diese Vorstellung
Balsam für die Wunden des unzufriedenen Lehrers. Damit aber ist der nichtemanzipatorische Charakterzug Zarathustras angesprochen. Seine Sehnsucht nach höriger Gefolgschaft gehört zu seiner Persönlichkeit ebenso wie sein Wunsch nach selbstbewußten, mündigen Individuen. Diese Ambivalenz ist typisch für diesen Lehrer, der eine „Macht" sein wollte, „aber kein grober Treiber". (KSA, NF, 10, 442) Wer ihn als liberalen, antiautoritären Pädagogen ausgibt, dem es einzig um die freie Selbstverwirklichung seiner Schüler gehe, blendet aus, daß Zarathustra ein unverrückbares Ideal vor Augen hat, das er ohne Abstriche verwirklichen will. Das geht aus verschiedenen Passagen klar hervor. Im zweiten Teil etwa spricht er vom „Bild meiner Bilder" (KSA, ZA, 4, 111), das er aus den Menschen nachgerade heraushämmern möchte. Weniger rabiat, aber keineswegs frei von autoritärem Kalkül, begegnen wir ihm im letzten Teil. Von seinem Wunsch nach ihm ,gehorchende(n)" (ebd., 405) Begleitern haben wir schon erfahren. Dazu, und nicht zum Bild eines liberalen Pädagogen, paßt, daß er vorgibt „ein Gesetz" (ebd., 354) zu sein zwar nicht für alle, sehr wohl aber für jene Auserwählten, die er, besitzergreifend genug, „die Meinen" (ebd.) nennt. Und was ist mit jenen Personen, die seinem Wunschbild in keiner Weise entsprechen? Hier verraten sich Zarathustras dogmatische Seite und seine nicht-liberalistische Ader am unverhohlensten: war
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„Ihr Welt-Müden aber! Ihr Erden-Faulen! Euch soll
man mit Ruthen streichen! Mit Ruthenstreichen soll man euch wieder muntre Beine machen. [...] An Unheilbaren soll man nicht Arzt sein wollen: also lehrt es Zarathustra: so sollt ihr dahinfahren!" (ebd., 259) -
15 16
Haim Gordon, „Nietzsche's Zarathustra as Educator", 191. Neben Haim Gordon z. B Beat Kissling, Die Umwertung der Werte als pädagogisches Projekt Nietzsches. Der innere Zusammenhang von Nietzsches Kritik der christlichen Kultur und seinem " Entwurf des Übermenschen als philosophisch-ethische Neuorientierung des Menschen in seiner Bedeutung für die Pädagogik, Diss. Konstanz 1992, 230f, 235 und Reinard Löw, Nietzsche, Sophist und Erzieher: Philosophische Untersuchungen zum systematischen Ort von Friedrich Nietzsches Denken, Weinheim 1984, 178ff. „
„[...] ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken Man mag das
metaphorisch
oder wortwörtlich
"
nehmen,
231 es
wird nichts Gutes daraus.
Wer, ohnehin euphemistisch, „die freundschaftlich-achtungsvolle Art" von Zarathustras Lehrtätigkeit herausstellt, sollte zumindest nicht unerwähnt lassen, daß dieser sei-
wenigen Menschen gewährt, während er für die Mehrzahl ungnädig-verachtungsvolle Behandlung vorsieht. ne
Gunst
nur
eine durchaus
Nietzsche hat seinen Zarathustra nicht ausdrücklich als eine ideale Lehrerfigur lanciert, und ich sehe auch keinen Anlaß, ihn nachträglich zu einer solchen zu stilisieren. Hand aufs Herz: Wer wäre gerne Schüler dieses Lehrers gewesen? Zarathustra, die literarische Figur, ist in ihrem Auftreten, ihren Ansichten, ihrer Moral so ambivalent, wie die gesamte Philosophie und Pädagogik ihres Autors.18 Das ist kein Einwand gegen das hier diskutierte Buch, schließlich ist auch das bedenkliche Gebaren Medeas kein Einwand gegen die Dramen von Euripides und Hans Henny Jahnn. „Denn von den Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude hat Aristoteles bemerkt. Er erklärt sich das mit möglichst getreue Abbildungen dem Lerneffekt, den der Rezepient künstlerischer Darstellungen davonträgt. Freude dieser Art bereitet Also sprach Zarathustra reichlich. Vom pädagogischen Scheitern seines Protagonisten lernen wir mehr als aus so manchem gut gemeinten Lehrbuch der Didaktik mehr jedenfalls als Zarathustra selbst und anderes womöglich als sich der Autor des Buches vorgestellt hatte. Ich sagte
es:
[...]",'
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'
19
Beat Kissling, Die
Umwertung der Werte als pädagogisches Projekt Nietzsches, 234. Nietzsche als Erziehungstheoretiker. Werk, Biographie und Rezeption, Kassel 2001 (Ms.; Publikationstermin: Sommer 2002). Aristoteles, Poetik. Griechisch/Deutsch, Stuttgart 1991, 11. Vgl. Timo Hoyer,
Diss.
Martin Liebscher
Zarathustra
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Der Archetypus des
„Alten Weisen'
Am 24. Mai 1883 übersendet Nietzsche den ersten Teil von Also sprach Zarathustra an Ernst Hillebrand. Im beiliegenden Schreiben charakterisiert er den Schaffensprozeß des Werkes in der Art, als wäre es in einem Akt der Trance zustande gekommen: „Jetzt wo ich es kennen lerne denn bei seiner Entstehung fehlte mir dazu die Zeit, und inzwischen war ich krank erschüttert es mich durch und durch und ich bin nach jeder Seite in Thränen. Alles, was ich gedacht, gelitten und gehofft habe, steht darin und in einer Weise, daß mir mein Leben jetzt wie gerechtfertigt scheinen will" (KSB 6, 380). Ähnlich äußert sich Nietzsche in einem Brief an Peter Gast vom April 1883, in dem es heißt, daß er eigentlich jetzt erst seinen Zarathustra kennenlerne.1 Sechs Jahre später -
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findet sich eine an denselben Adressaten gerichtete Bemerkung über das Verhältnis zu dem Text als das einer Mutter gegenüber ihrem Kind: „Sie liebt es vielleicht, aber in vollkommener Stupidität darüber, was das Kind ist" (KSB 8, 545). Eine Metaphorik, der sich Nietzsche, wenngleich in humoristischer Abwandlung, auch im Ecce homo bedient, wo er von einer Niederkunft mit dem Zarathustra nach achtzehnmonatiger Schwangerschaft spricht (KSA, EH, 6, 336). Diese Stellen werfen die Frage auf, wie es denn bei diesem ausdrücklichen Nahverhältnis des Autors zu seiner Schrift erklärbar sei, daß Nietzsche gleichzeitig die eigene Unkenntnis des Inhalts derselben herausstreicht. Jörg Salaquarda hat in diesem Zusammenhang auf Nietzsches Erstling Die Geburt der Tragödie und die darin enthaltene Theorie des künstlerischen Schaffens verwiesen.2 Dort stellt Nietzsche dem aktiven Machen, dem „männlich" apollinischen Prinzip, das inspirative Schaffen, das „weiblich" dionysische, gegenüber. Im Sinne dieser dualistiFriedrich Nietzsche
an
thustra kennen. Seine
Peter Gast, 17. April 1883, KSB 6, 361:„Ich lerne eigentlich jetzt erst ZaraEntstehung war eine Art Aderlaß, ich verdanke ihm, daß ich nicht erstickt
bin."
Jörg Salaquarda, „Der
Sohn des
Elephanten-Weibchens",
in: Entdecken und Verraten, Weimar
1999,213-224. Die Dichotomie „männlich" „weiblich" leitet Salaquarda u. a. aus Nietzsches Beschreibung der Entstehung des Zarathustra im Ecce homo ab; Jörg Salaquarda, „Sohn des Elephanten-Weibchens", 216f. -
234
Martin Liebscher
Auffassung kann Also sprach Zarathustra als das Ergebnis eines dionysischen Schaffensprozesses gelten. Der Dichter scheint dabei von jenem mystischen Offenbarungserlebnis derart überwältigt, daß ihm während des Schreibens nicht einmal die Zeit geblieben ist, das Geschaffene wahrzunehmen, geschweige denn reflektierend zu verstehen. Daher auch die verwunderte Reaktion Nietzsches auf die Entdeckung des eigesehen
Werkes. Wie Salaquarda weiter ausführt, habe Nietzsche bei diesem Kunstverständnis nicht einfach die Tradition der Genieästhetik übernommen, sondern sie psychologisch vertieft. Hierbei habe er tiefenpsychologische und psychoanalytische Vorarbeiten geleistet, ja sogar eine eigenständige Konzeption der Mechanismen des Unbewußten entwickelt. Ein entscheidender Unterschied zur Psychoanalyse besteht für Salaquarda jedoch darin, daß Nietzsche nicht vom Vorrang der Vergangenheit ausgegangen ist. In dieser Hinsicht sei sein Anliegen eher von der individualpsychologischen Theorie Alfred Adlers aufgenommen worden. Aber nicht nur die Individualpsychologie läßt sich hier als Zeuge anführen, auch die analytische Psychologie Carl Gustav Jungs kann in einer Traditionslinie mit Nietzsches Betrachtangen des Schaffensprozesses gelesen werden. Deren Kunstauffassung, die jenen Ansätzen Nietzsches so ähnelt, werde ich in der Folge kurz skizzieren. Nur anhand dieses Kunstverständnisses Jungs wird seine Interpretation von Nietzsches Also sprach Zarathustra, um deren Eigentümlichkeiten es hier gehen soll, nen
deutlich. Gleich Nietzsche unterscheidet Jung, wie er für den Bereich der Dichtung exemplifiziert, zwei Arten der Entstehung eines Kunstwerkes: Zunächst jene Texte, die aus der gänzlichen Einheit des Dichters mit dem schöpferischen Prozeß entstanden sind. Bei vollem Bewußtsein seiner Tätigkeit sucht der Autor die gesteckten Ziele zu erreichen und unterwirft dabei den thematischen Stoff gänzlich seinem Willen. Nach Jung ist er die schöpferische Gestaltung selbst und steht völlig und von ihr ununterschieden darin, mit all seinen Absichten und seinem ganzen Können.5 Dem stellt Jung eine zweite Gattung von Kunstwerken gegenüber, die sich dadurch auszeichnen, daß der Schreiber nicht mehr als ihr eigentlicher Urheber angesehen werden kann. Es überkommt ihn gleichsam eine inspiratorische Ergriffenheit. Gedanken und Bilder tauchen in seinem Bewußtsein auf, die er mitunter nur widerwillig niederschreibt, gegen die er sich aber nicht wehren kann, stammen sie doch unzweifelhaft aus dem eigenen Selbst. Das Werk hat derart Gewalt über ihn. Der Autor ist nicht mehr identisch mit dem Prozeß der schöpferischen Gestaltung. Er ist sich bewußt, daß er unterhalb seines Werkes steht oder zumindest daneben, gleichsam wie eine zweite Person, die in den Bannkreis eines fremden Willens geraten ist. Die Ähnlichkeit zu Nietzsches Unterscheidung von „Machen" und „Schaffen" ist evident. Die Übereinstimmungen relativieren sich jedoch, wenn man berücksichtigt, daß die ekstatische Entrücktheit des Dichters, wie sie sowohl Jung als auch Nietzsche
thematisieren, bereits seit Piatons Dialog Ion einen philosophischen Topos darstellt, den 4 '
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Jörg Salaquarda, „Sohn des Elephanten-Weibchens", 219. Carl Gustav Jung, „Über die Beziehung der analytischen Psychologie werk", 1922, in: Gesammelte Werke, Bd. 15, 84. Ebd.
zum
dichterischen Kunst-
Zarathustra Der Archetypus des „Alten Weisen
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die Dichter und Philosophen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nur allzugerne aufgegriffen haben.7 Dennoch verweist Jung bei der Explikation des analytischen Kunstverständnisses nicht auf Piatons Theorie, sondern immer wieder auf Nietzsches Zarathustra, den er neben dem zweiten Teil des Faust als das beste Beispiel für die Art der visionären Kunstschöpfüng ansieht. Jung führt in diesem Zusammenhang meist Nietzsches Schilderungen des Zarathustra-Erlehnisses im Ecce homo (KSA, EH, 6, 339) und in dem Gedicht „Sils-Maria"8 (KSA, FW, 3, 649) an. In seinem Spätwerk vollzieht Nietzsche die Auflösung des ästhetischen Dualismus, indem er vor dem Hintergrund seiner Auslegung der Welt als Wille zur Macht dem Dionysos keinen befreienden Apollo mehr gegenüberstellt. Die Kunst wird jetzt für Nietzsche „das große Stimulans des Lebens, ein Rausch am Leben, ein Wille zum Leben" (KSA, NF, 13, 409). Damit reduziert sich auch der schöpferische Prozeß auf das aktive „Schaffen". Eine vergleichbare Wendung deutet Jung an, wenn er davon spricht, daß in letzter Konsequenz der Typus des bewußten Dichters dermaßen vom schöpferischen Impuls ergriffen sei, daß er sich eines Anderswollen überhaupt nicht mehr entsinnen könne.10 Diese Vereinheitlichung des künstlerischen Schaffensprozesses dient Jung dazu nachzuweisen, daß Kunstwerke zu Unrecht dem individuellen Bewußtsein zugeschrieben werden. Ihre Ursache läßt sich vielmehr nur in einem unbewußten Bereich kollektiver Erfahrungen auffinden. Zwar komme es mitunter vor, daß ein Kunstwerk auch aus dem Bewußtsein eines einzelnen geschaffen werde, womit sich dementsprechend die „Freudsche Purgiermethode" auseinandersetzen solle," zumeist jedoch sei es die symbolische Ausdrucksform eines kollektiven Unbewußten. Dessen Inhalt besteht nach Jung aus den sogenannten Archetypen, die unter normalen Bedingungen keine Bewußtseinsfähigkeit erlangen könnten. Nur inhaltlich besetzte Archetypen seien dem Bewußtsein zugänglich. Jung spricht dann von archetypischen Vorstellungen, die sich in symbolischer Form in Träumen, Mythen verschiedener Kulturen oder eben in Kunstwerken äußern würden. Bei der analytischen Interpretation wird demnach die Symbolik der Dichtung aufgeschlüsselt, um die dahinterstehenden Archetypen zu erfassen.1 Deren Kenntnis ist für die analytische Psychologie von entscheidender Bedeutung, da ihr therapeutischer Ansatz darauf ausgerichtet ist, zwischen den Archetypen des kollektiven Unbewußten und dem Individuum zu vermitteln. Jung nennt diesen
7
8
9 10
" 12
Siehe auch: Jörg Salaquarda, „Sohn des Elephanten-Weibchens", 218. Carl Gustav Jung, „Über die Beziehungen der analytischen Psychologie zum dichterischen Kunstwerk", 85; „Über die Archetypen des kollektiven Unbewußten", 1934, in: Gesammelte Werke, Bd. 9, 11-51 ; Nietzsche 's Zarathustra. Notes of the Seminar given in 1934-1939, London 1989, 10. Margot Fleischer, „Dionysos als Ding an sich", in: Nietzsche-Studien, Bd. 17, 1986, 89. Carl Gustav Jung, „Über die Beziehungen der analytischen Psychologie zum dichterischen Kunst-
werk", 85. Ebd., 92. Ebd., 93: „Sie [d. h.. die Archetypen
Prinzipien vermögen
M. L.f erscheinen nur im gestalteten Stoff als regulative seiner Gestaltung, das heißt nur durch Rückschluß aus dem vollendeten Kunstwerk wir die primitive Vorlage des urtümlichen Bildes zu rekonstruieren." -
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Martin Liebscher
Vorgang, dessen Ziel es ist, dem Patienten eine Einheit mit dem Archetypus des Selbst
ermöglichen, Individuation. Die Theorie der Archetypen gibt Jung den Schlüssel zu seiner Interpretation von Nietzsches Also sprach Zarathustra an die Hand, in der er die Unfähigkeit des Philoso-
zu
zur Individuation thematisiert: Nach Jung hat Zarathustras Verkündigung vom Tod Gottes dazu geführt, daß Nietzsche die Existenz jeder anderen Ebene als die ihm konkret zugängliche ablehnte. Dazu zählt nicht nur die metaphysische Gottesidee, sondern auch die Vorstellung einer inneren Seite des Menschen. Dieser andere Teil ist der Archetypus des „Schattens".14 Aufgrund seiner rationalen Entscheidung für die Einzigkeit der bewußt wahrgenommenen Realität vermochte es Nietzsche nicht, den eigenen Schatten zu akzeptieren. Statt dessen versuchte er, diese dunkle Seite auf seine Umgebung zu übertragen. Als Beispiel führt Jung das Kapitel „Von den Taranteln" aus dem zweiten Teil des Zarathustra an. Die Taranteln, die Prediger der Gleichheit, stellen die Negativseite von Zarathustra, des Verkünders des Übermenschen, dar.16 Aber durch die Projektion nach außen wurde der Schatten nicht abgelegt, sondern entwickelte sich zu einer zweiten Persönlichkeit, die schließlich auf Nietzsche zurückfiel. Dem auf das bewußte Ich reduzierten Nietzsche fehlte es aufgrund des nicht akzeptierten Schattens an einer ausgleichenden Funktion zum Bewußtsein, die eine Identifikation zwischen dem Ich und den Archetypen verhindern hätte können. Daher hielt er den Archetypus des „Alten Weisen", hier in der Gestalt Zarathustras erschienen, für das bewußte Ich. Ein solches Überschreiten der individuellen Grenze der Persönlichkeit wird in der ana18 lyrischen Psychologie als Inflation bezeichnet.
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Das Selbst ist der Archetypus der Ordnung und steht für die Ganzheit des Menschen. Es umfaßt das Bewußtsein als auch den gesamten Bereich des Unbewußten. Gleichzeitig stellt es das Zentrum dieser Totalität dar. Siehe: Carl Gustav Jung, „Über die Archetypen des kollektiven Unbewußten", 11-51. Der Ausdruck „Schatten" umfaßt die Summe aller negativen psychischen Dispositionen, jenen Bereich also, in den all die nicht ausgelebten Möglichkeiten und Ansätze des Menschen fallen. Insofern der „Schatten" Teil des persönlichen Unbewußten ist, gehört er zum Ich, als Archetypus des „Widersachers" zählt er aber bereits zum kollektiven Unbewußten. Siehe: Carl Gustav Jung, „Bewußtsein, Unbewußtes und Individution", in: Gesammelte Werke, Bd. 9/1, 1976. Hier wird Jungs oftmals auffallendes Unverständnis der Philosophie Nietzsches deutlich. Es scheint, als wäre Jung dermaßen in sein eigenes systematisches Denken verstrickt, daß ihm nicht auffallt, daß die Verwendung des Terminus „Schatten" zwar im Sinne der analytischen Psychologie korrekt ist, andererseits aber eine grobe Mißachtung des Begriffes bei Nietzsche darstellt. Im Werk Nietzsches besitzt der Schatten eine zentrale Bedeutung, und es ist geradezu widersinnig zu behaupten, daß Nietzsche seinen Schatten nicht akzeptiere. Siehe etwa zur Rolle des Schattens bei Nietzsche: KSA, MA II, 2, 538. Spätere Zarathustrainterpretationen aus der Sicht der analytischen Psychologie nehmen auf die Bedeutung des Begriffes „Schatten" bei Nietzsche sehr wohl Bezug. Siehe etwa: Liliane Frey-Rohn, Jenseits der Werke seiner Zeit, Zürich 1984, 124. Carl Gustav Jung, Nietzsche 's Zarathustra, 1113f. Diese Gegenpersönlichkeit tritt zum Beispiel in der Figur des häßlichsten Menschen hervor. Nietzsche hat hier gegen Ende des Zarathustra noch einmal die Möglichkeit, sein innerstes Wesen anzuerkennen, doch die Inflation hindert ihn an diesem Unterfangen. Carl Gustav Jung, Nietzsche 's Zarathustra, 1357.
Zarathustra Der Archetypus des „Alten Weisen
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Im Fall Nietzsches äußerte sich die Inflation darin, daß er sich im Besitz des absoluWissens und der rationalen Unfehlbarkeit wähnte. Denn der „Alte Weise" als Archetypus des Sinns steht für die vollkommene Weisheit. Der Schatten hingegen, den Nietzsche zu unterdrücken suchte, repräsentiert das Gegenteil, die menschliche Dummheit. Daher auch seine kompensierende Funktion gegenüber den Einflüssen des kollektiven Unbewußten. Je mehr Nietzsche durch die Inflation in die Höhe scheinbarer Allmacht getrieben wurde, desto mehr zog ihn der Schatten hinunter. Diese untragbare Spannung hat nach Jung letzthin die Psychose Nietzsches verursacht: Im sechsten Abschnittes von Zarathustras Vorrede interpretiert Jung Nietzsche als den Seiltänzer, der sich auf halbem Weg zum Übermenschen glaubt (KSA, ZA, 4, 21). Durch die psychische Inflation, jener Aufgeblasenheit aufgrund der Identifikation mit dem „Alten Weisen", begreift sich Nietzsche als über dem gewöhnlichen Menschen stehend. Aber in der Figur des Possenreißers verbirgt sich sein Schatten, das Durchschnittliche, das er zu verleugnen sucht. Alsdann springt der Schatten über den Seiltänzer hinweg und bringt ihn zum Absturz. Vor dem Richtstuhl eines Kritikers, der bereits das Modell des kollektiven Unbewußte ablehnt, wird Jungs Interpretation von Nietzsches Werk kaum Bestand haben. Dann tritt ein, was schon Wolfgang Stegmüller in seiner Differenzierung der philosophischen Kommunikationslosigkeit als „fehlenden Mitteilungszusammenhang" bezeichnet hat, wo „der eine keinen Sinn mit dem zu verbinden vermag, was der andere sagt". Da aber letztlich dieselbe Intention, nämlich die Auslegung von Also sprach Zarathustra dahintersteht, wäre es denkbar, daß selbst für einen solchen Leser die argumentative Beschäftigung mit Jungs Ansatz Ideen und Anregungen für eine philosophische oder philologische Betrachtungsweise mit sich bringt. Der Versuch wird in der Folge durch einen Vergleich des „Alten Weisen" mit der Figur des Zarathustra unternommen, indem die Argumentation Jungs und seiner Schule unter der nicht hinterfragten Voraussetzung der Archetypentheorie geprüft wird. Dabei entpuppt sich die Frage, ob sich Nietzsches Zarathustra überhaupt in Jungs Vorstellung des Sinnarchetyps hineindenken läßt, als die ten
eigentliche Schwierigkeit von Jungs Interpretation.21
Die Funktion des „Alten Weisen" steht in einem direkten Verhältnis zu jener der 22 von Jung auch als der Archetypus des Lebens bezeichnet, stellt
„Anima". Letztere, 19
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Auch in „Vom Vorübergehen" (KSA, ZA, 4, 222) tritt der Schatten in der Form des Narrens, nämlich als „Affe Zarathustras", auf. Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 1, 7. Aufl., Stuttgart 1989, XLII. Peggy Nill, „Die Versuchung der Psyche: Selbstwerdung als schöpferisches Prinzip bei Nietzsche und C G. Jung", in: Nietzsche-Studien, Bd. 17, 1988, 263: „Schon gegen die Auffassung Zarathustras als ,Alter Weiser' läßt sich einwenden, daß die Gestalt des Zarathustra sich nur schlecht in diese archetypische Vorstellung fügt. Und wenn Jung Zarathustras Leidenschaftlichkeit rügt und als Hinweis auf das unbeabsichtigte Durchscheinen von Nietzsches Persönlichkeit deutet da ein Alter Weiser für gewöhnlich gemäßigt und besonnen auftritt dann grenzt dies ein wenig an Komik." Die „Anima" stellt die Personifikation der weiblichen Natur im Unbewußten des Mannes dar, so wie umgekehrt der „Animus" das männliche Prinzip im Unbewußten der Frau. (Zu ihrer Rolle im Individuationsprozeß siehe: Carl Gustav Jung, „Über die Archetypen des kollektiven Unbewußten", 39.) Als Mittlerin zwischen dem individuellen Bewußtsein und dem kollektiven Unbewußten hat -
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sich dem Menschen als ein chaotischer Lebensdrang bar jeder Sinngebung dar. Dennoch ahnt er, daß sich hinter der totalen Unordnung ein Sinnprinzip verbergen muß.23 Zunächst versucht er, mit Hilfe des Verstandes der Willkür Einhalt zu gebieten, seine entsprechenden Möglichkeiten sind jedoch beschränkt. Jung spricht von einem Moment des Zusammenbmchs, in dem sich plötzlich, bisher verborgen in der „bedeutungsschweren Sinnlosigkeit der Anima", ein Archetypus des Sinnes auftae. Dessen Auftauchen setzt ein aus der abhanden gekommenen Sinnhaftigkeit entstandenes Moment der Gefahr voraus.24 In der Diktion Nietzsches ließe sich auch vom Verlust aller bisherigen Wertvorstellungen sprechen: vom Nihilismus. Die Ähnlichkeit von Jungs Gedanken mit Nietzsches Nihilismusvorstellung wird auch durch den Umstand deutlich, daß Jung ausgerechnet den altiranischen Propheten Zarathustra als Beleg für seine Theorie anführt: Dieser sei gerade in einer Zeit der Sinnentwertang aufgetaucht, als die bisherige Religion zu vulgärer, schwarzer Magie verkommen sei. 5 Der Zarathustra Nietzsches erscheint in einer vergleichbaren Krisensitaation, da mit dem Tode Gottes das Ende der bisher dominierenden Wertvorstellung erreicht worden ist. Dem christlichen Nihilismus der Weltvemeinung folgt eine Zeit des allgemeinen Wertverlusts.26 Zarathustra entspricht hier ganz den Beschreibungen des „Alten Weisen", der in dieser gefährlichen Situation an die Menschen herantritt, um nicht alleine das Ende der „christlichen Moralhypothese", sondern auch eine neue Sinngebung zu verkünden: den Übermenschen. Als Bestandteil des kollektiven Unbewußten der Menschheit findet sich der Archetypus des „Alten Weisen" in den mythologischen und religiösen Vorstellungen verschiedener Kulturen durch die Zeiten hindurch immer wieder. Die darin zutage tretenden Eigenschaften und Qualitäten differenziert Jung nach seinem Typologisierungsschema von Extraversion und Introversion folgendermaßen: Die extravertierte Seite des „Alten sie Nietzsches Begegnung mit dem Archetypus des „Alten Weisen" erst ermöglicht (Carl Gustav Jung, Nietzsche's Zarathustra, 730). Die Anima wäre durchaus in der Lage gewesen, Nietzsches Inflation zu verhindern, jedoch stellte sie sich auf die Seite des Schattens, um Nietzsche zur Akzeptanz seiner negativen Hälfte zu veranlassen (Carl Gustav Jung, Nietzsche 's Zarathustra, 622). Allerdings vergeblich, denn Nietzsche anerkannte seinen Schatten nicht, und die Anima wurde ihm derart zu einer Fremden, die nichts mit seiner eigenen Persönlichkeit zu tun hatte. Carl Gustav Jung, „Über die Archetypen des kollektiven Unbewußten", 41. Carl Gustav Jung, Nietzsche's Zarathustra, 313: „So the wise old man and the complicated or dangerous situation belong together; one could say that when man is in a difficult situation, there is a chance of this archetype appearing." Dem kann man vom heutigen Wissensstand aus nicht mehr ohne Weiteres zustimmen: Für Jungs Behauptung spricht, daß sich die Verkündigungen Zarathustras im Namen „Ahura Mazdas" gegen die alten Priester und traditionellen Riten wie das Rinderopfer wandten. Ob Zarathustra tatsächlich der Reformator einer Zeit war, da die alten religiösen Wertvorstellungen verlorengegangen waren, ist heute Streit zweier unterschiedlicher Auffassungen: Je nach historiographischer Perspektive gilt Zarathustra als Reformator der traditionellen Religion der Ureinwohner, d. h. ein Erneuerer verloren gegangener Werte, ganz im Sinne des „Alten Weisen", oder nur als weiterer Aspekt der iranischen Mazda-Religion, dem nicht einmal historische Authentizität zugebilligt wird. Siehe: Mircea Eliade, Geschichte der religiösen Ideen, Bd. 1, Freiburg/Breisgau 1978, 280ff. Nietzsche macht das besonders im Lenzer-Heide-Fragment über den europäischen Nihilismus deutlich: KSA, Nachlaß Sommer 1886-Herbst
1887, 12, 211.
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zeigt sich in dem großen Erfahrungsschatz, den er in seinem langen Leben angehäuft hat. Seinen gesellschaftlichen Ausdruck findet dieses Mehr an Wissen in den Aufgaben eines Gesetzgebers, Lehrers oder Traditionsbewahrers. Die introvertierte Seite des „Alten Weisen" hingegen zeichnet ihn aus als jemanden, der ein geheimes Wissen besitzt. Seine diesbezügliche Weisheit entstammt der ihm nachgesagten großen Nähe zum letzten Geheimnis, dem Tod. Hier tritt er als Magier, Wahrsager, Medizinmann, Arzt, Priester oder Initiator auf. In der Folge möchte ich auf jene mythologischen Ausformungen des „Alten Weisen", die von den analytischen Psychologen als Beispiele angeführt werden, eingehen, um dieses Urbild mit Nietzsches Figur des Zarathustra zu vergleichen. Die thematischen Vorgaben liefert ein Vortrag, den der Jung-Schüler Tadeus Reichstein im Rahmen des Zarathustraseminares von C. G. Jung am 12. Dezember 1934 gehalten hat:27 Das erste Auftauchen des Sinnarchetypus ortet Reichstein in den Vorstellungen primitiver Kulturen} Hier ist es vor allem die Gestalt des Medizinmannes, in der sich der „Alte Weise" manifestiert. Ihm wird die besondere Gabe zugeschrieben, undifferenzierWeisen"
Gewalten benennen und damit kanalisieren zu können. Auch Zarathustra besitzt solche Kenntnisse, die ihn vor allen anderen auszeichnen.29 In der Vorrede klagt er gegenüber der Sonne, daß er seiner Weisheit überdrüssig sei und ausgestreckter Hände bedürfe (KSA, ZA, 4, 11). Als er danach sein Wissen weiterzugeben versucht, findet er für das bisher „Namenlose" Worte: Tod Gottes, Übermensch, Willen zur Macht und Lehre von der ewigen Wiederkehr. Doch mit der Benennung gelingt es ihm nicht, Gewalten zu kanalisieren, zu bewahren oder weiterzugeben. Im Gegenteil, ihm wird kein Gehör geschenkt. Resignierend stellt er fest, daß die Menschen für seine Gedanken noch nicht reif sind. Da beginnt er, ihnen Reden zu halten, und wartet „gleich einem Säemann, der seinen Samen ausgeworfen hat" auf die Wirkung seiner Botschaft (KSA, ZA, 4, 106). Aber in diesem Moment ist Zarathustra bereits mehr als ein „Medizinmann", denn dieser gibt die Lebenskraft weiter, aber er lehrt sie nicht. Der primitive Medizinmann ist kein Wissensvermittler, Zarathustra jedoch der Verkünder einer neuen Lehre. te
Tadeus Reichstein, „The archetype of the old wise man", in: Carl Gustav Jung, Nietzsche's Zarathustra, 300-313. Zur Person Reichsteins siehe: Paul Bishop, „The members of Jungs Seminar on Zarathustra", in: Spring, Bd. 56, 1994, 115.
Bei seinen kurzen Ausfuhrungen beruft sich Reichstein auf die Theorien von Edvard Lehmann, einem Vertreter der klassischen Religionsphänomenologie. Diese Ansätze spielen in der aktuellen Forschung zu den „primitiven Religionen" keine Rolle mehr und können zum Großteil als überholt angesehen werden. Zur Kritik an den religionsphänomenologischen Ansätzen siehe: Edward E. Evans-Pritchard, Theories of Primitive Religion, New York 1968. Im Werk Nietzsches findet sich der Begriff „Medizinmann" bzw. „Medizinmänner" vor allem in den nachgelassenen Aufzeichnungen, zumeist herablassend im Sinn des primitiven „Wilden" verwendet: KSA 8, 84; KSA 9, 114, 191; KSA 9, 660. Die einzige Erwähnung des Begriffes „Medizinmann" im veröffentlichten Werk findet sich in der Genealogie der Moral: „Hinterdrein heilen wir uns selber: Kranksein ist lehrreich, wir zweifeln nicht daran, lehrreicher noch als Gesundsein, die Krankmacher scheinen uns heute nöthiger selbst als irgend welche Medizinmänner und .Hei-
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lande'"
(KSA, GM, 5, 357Q.
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nur sehr schwer mit der Rolle des Medizinmannes identifizieder Gedanke läßt, liegt nahe, einen Vergleich mit dem „Alten Weisen" als Arzt anzustellen. Reichstein führt als Beispiel einer archetypischen Vorstellung des „Alten Weisen" auf einer kulturell höher entwickelten Stufe den ägyptischen Gott Thoth an. Hier läßt sich bereits diese Funktion des Arztes vorfinden. So etwa als Homs den Tod seines Vaters Osiris rächen möchte und seinen Halbbruder Seth angreift. Beide beenden den Götterkampf mit schweren Verletzungen: Homs am Auge, Seth an den Testikeln. In dieser Situation ist es Thoth, der beide heilt. Diese Möglichkeit fällt nach Reichstein in die Funktion dieses Gottes als eines Vermittlers, der den Ausgleich zwischen den Göttern sucht.30 Zudem wurde Toth als der weiseste aller Götter angesehen, den man mitunter als das Herz und die Zunge von Ra bezeichnete. In diesem Sinne war er ein Lehrer all des geheimen Wissens und der Autor der heiligen Schriften. Nietzsche hat bekanntlich den Philosophen als Arzt der Kultur begriffen (KSA 7, 733). Und auch Zarathustra ist ein Arzt, aber keiner, der auf den hippokratischen Eid schwört: „Solche Kost mag freilich nicht für Kinder sein, noch auch für sehnsüchtige alte und junge Weibchen. Denen überredet man anders die Eingeweide; deren Arzt und Lehrer bin ich nicht" (KSA, ZA, 4, 387). Nicht nur, daß der Arzt Zarathustra eine Auswahl trifft, wem er seine Heilkunst angedeihen läßt, sieht er es sogar als seine Aufgabe, den Untergang des Unheilbaren zu forcieren: „An Unheilbaren soll man nicht Arzt sein wollen: also lehrt es Zarathustra: so sollt ihr dahinfahren! Aber es gehört mehr Muth dazu, ein Ende zu machen, als einen neuen Vers: das wissen alle Ärzte und Dichter"
Wenn sich Zarathustra
ren
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(KSA, ZA, 4, 259). Im Kapitel „Von der Erlösung" zählt Zarathustra auf, was er seinen Anhängern alles darstellen würde. Vage sind deren Vorstellungen, selbst nur als Fragen formuliert: Zarathustra scheint ihnen zeitweise wie ein Versprechender, ein Erfüller, ein Erobernder, ein Erbebender und vieles mehr, damnter auch wie ein Arzt, was für jene archetypische Eigenschaft des „Alten Weisen" in Nietzsches Figur sprechen würde. Was aber von alldem er wirklich ist, beantwortet Zarathustra selbst: „Ich wandle unter Menschen als den Bmchstücken der Zukunft: jener Zukunft, die ich schaue" (KSA, ZA, 4, 179). Da-
mit tritt Zarathustra nach dem Verständnis der analytischen Psychologie in einer weitegesellschaftlichen Funktion des „Alten Weisen" auf, jener des Wahrsagers. Eine analytische Darstellung des „Alten Weisen" in der Figur des Zarathustra erschöpft sich also nicht in der Rolle des Arztes, da er über ein Wissen verfügt, das über das Hier und Jetzt hinausweist. Er ist „ein Seher, ein Wollender, ein Schaffender, eine Zukunft selber und eine Brücke zur Zukunft, ..." (KSA, ZA, 4, 179). Ähnlich wie der ägyptische Thoth verfügt er somit über eine Art des Wissens, die er mitunter nur mit dem Himmel zu teilen vermag: „Wir reden nicht zu einander, weil wir zu Vieles wissen -: wir schweigen uns an, wir lächeln uns unser Wissen zu" (KSA, ZA, 4, 207). Aber Zarathustra kann seine Erkenntnisse über das zukünftige Geschehen nicht für sich behalten. Wie er im „Nachtlied" singt, ist er ein Licht, das immer nur gibt, seine wärmende Weisheit an die Dunklen und Nächtigen verschenkt, und sich gleichzeitig nach dem Glück des Nehmenden sehnt. Das unterscheidet ihn vom ägyptischen Thoth und der später von ihm ren
Reichstein gibt hier London 1949.
folgende
Literatur
an:
George
R. S.
Mead, Thrice gréâtes Hermes,
3.
Aufl.,
Zarathustra Der Archetypus des „Alten Weisen
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abgeleiteten Figur des Hermes Trismegistos, die vor allem in der alchemistischen Auslegung zu Bewahrern esoterischer Lehren stilisiert worden sind. Auch in den verschiedenen Ausprägungen iranischer Mythen und Religionen findet sich der Archetypus des „Alten Weisen" wieder. ' Hier sind es vor allem zwei Funktionen, die sich aus den mythologischen Vorstellungen rund um den Gott Zervan herauslesen lassen: In der Auseinandersetzung seiner beiden Söhne „Ohrmazd" und „Ahriman", ihm
Personifikationen des Guten und Bösen, hat die menschliche Seele ihren Sitz auf der Seite des Lichtes, muß aber im Verlaufe des Kampfes in die Dunkelheit absteigen. Daraufhin schickt der Urgott einen Botschafter, der die Seele befreien und wieder dem Licht zuführen soll. Und in dieser Figur des Botschafters findet sich eine archetypische Vorstellung des „Alten Weisen": Die Funktion des Führers. Eine andere Seite des Archetypus zeigt die Geschichte von Chroshtag und Padwathag, von „Ruf und „Antwort". Beide sind Kinder des Ohrmazd und begleiten den göttlichen Botschafter auf seinem Weg zur Befreiung des Seele. Chroshtag ist es, der letztlich den Ohrmazd erweckt, und die Rückkehr des Urmenschen ins Licht ermöglicht. Reichstein verweist auf das deutsche Wort „hervorrufen" im Sinne von „schaffen". Der „Ruf wird hier mit dem „Hervorbringen", auch mit dem „Schreiben" zusammengedacht. Der „Alte Weise" taucht in dem mythologischen Vorstellungen rund um Zervan und Ohrmazd nicht nur als Führer, sondern auch als ein Schreibender auf. Möchte man aber diese beiden Funktionen des „Alten Weisen" zur Figur des Zarathustra ins Verhältnis setzen, zeigt sich, daß sich dafür kaum Evidenz im Text finden läßt. So etwa will das Bild des Führers nicht so recht mit den Eigenschaften von Nietzsches Protagonisten zusammengehen. Wenn man dessen Wege im Werk nachvollzieht, scheint es, daß Zarathustra weit mehr ein Suchender denn einer ist, der anderen einen Weg zu zeigen vermag. Die Bewegungen Zarathustras zeugen von einem steten Auf und Nieder, hin- und hergerissen zwischen der Welt der Menschen und der kontemplativen Stille des Hochgebirges. Zu Beginn wird erzählt, wie Zarathustra nach zehn Jahren in der Einsamkeit der Berge zu den Menschen zurückgekehrt ist, um ihnen von den dort gewonnenen Einsichten zu berichten. Seine Verkündigung des Todes Gottes wird aber nicht ernst genommen. So beginnt er schließlich in der Stadt „Die bunte Kuh" Reden zu halten, sammelt Schüler und Jünger um sich. Wie der erste Abschnitt des Buches verrät, ist Zarathustra bei diesem Unterfangen nicht ungeschickt. Eine ganze Schar findet sich ein, um die Lehren des Weisen zu vernehmen. Als aber Zarathustra diese Jüngerschaft wahrnimmt, versucht er nicht, ihr seine Ideen eingehender zu vermitteln, um die weitere Verbreitung seiner Gedanken sicherzustellen. Im Gegenteil, er verstößt seine Schüler und rät ihnen, sich ihren eigenen Weg zu suchen. Zarathustra kann sie auf ihrem Pfad eben nicht führen: „Allein gehe ich nun, meine Jünger! Auch ihr geht nun davon und allein! So will ich es. Wahrlich, ich rathe euch: geht fort von mir und wehrt euch gegen Zarathustra! Und besser noch: schämt euch seiner! Vielleicht
betrog er euch" (KSA, ZA, 4, 101). Zarathustra ist also kein Führer: Wer ihm folgt, hat bereits die falsche Entscheidung getroffen.
Reichstein bezieht sich bei seinen Überlegungen zu den iranischen Religionsformen vor allem auf die Position von Reitzenstein. Siehe: Richard Reitzenstein, Das iranische Erlösungsmysterium. Religionsgeschichtliche Untersuchungen, Bonn 1921.
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Das zweite Attribut des „Alten Weisen", über das uns die altiranischen Mythen etwas verraten, ist, daß er schreibt. Auch dem Zarathustra ist das Schreiben offensichtlich ein Anliegen, hält er doch eine Rede, die er „Vom Lesen und Schreiben" nennt. Dort schildert er seinen Zuhörern, daß er nur das Geschriebene hebt, „was einer mit seinem Blute schreibt" (KSA, ZA, 4, 49). Wer aber in Blut und Sprüchen schreibe, der wolle nicht gelesen, sondern auswendig gelernt werden. Einen hohen Anspmch, den der Autor Zarathustra hier vertritt, wenn man bedenkt, daß er selbst überhaupt kein Schreibender ist. Er hält Reden und predigt, aber er hinterläßt, ganz im Sinne seiner Fordemng nach individueller Entwicklung, keine schriftlichen Aufzeichnungen seiner Lehren. Eine weitere archetypische Vorstellung des „Alten Weisen" weist Reichstein in der hermetischen Literatur, und hier vor allem im Poimandres, dem ersten Traktat des Corpus hermeticum, nach. „Poimandres" bedeutet Menschenhirt, was bereits auf die Rolle des „Alten Weisen" in dem Mythos hindeutet. In der Kosmogonie des Poimandres erscheint ein riesenhaftes Wesen,32 das dem Erzähler durch verschiedene Visionen die Entstehung und den Lauf der Welt zu erklären sucht. Poimandres erweist sich dabei nicht nur als Hirte, der die Menschen beschützt und leitet, sondern auch als Lehrer, beides Eigenschaften, die dem Archetypus des „Alten Weisen" zugesprochen werden. Jedoch gerade anhand der Funktion des „Poimandres" als Menschenhirt läßt sich verdeutlichen, wie wenig Nietzsches Zarathustra und Jungs Sinnarchetypus oftmals gemein haben. Denn wie die Vorreden Zarathustras zeigen, erkennt dieser gerade in der Begegnung mit den letzten Menschen, die sich in der Gleichheit ohne Rangordnung jeder Beschwerlichkeit entziehen (KSA, ZA, 4, 20) daß er kein Hirte, sondern eher ein Raubtier ist, das die Tiere von der Herde wegzulocken versucht: „Ein Licht ging mir auf: nicht zum Volke rede Zarathustra, sondern zu Gefährten! Nicht soll Zarathustra einer Heerde Hirt und Hund werden! Viele wegzulocken von der Heerde dazu kam ich. Zürnen soll mir Volk und Heerde: Räuber will Zarathustra den Hirten heissen" -
(KSA, ZA, 4, 25f).
Wer aber die Hirten sind, deren Herden Zarathustra die Lämmer entreißen möchte, ist nach dieser Metaphorik nicht schwer zu erkennen: Es sind die „Guten und Gerechten", die „Gläubiger des rechten Glauben" oder wie sie Nietzsche in einer späteren Nachlaßstelle Zur Psychologie der Hirten nennt: „Die großen Durchschnittlichen" (KSA, NF, 13, 18). Als populärstes Beispiel solcher Mediokrität, die in ihrer Art auch die Herdentiere anzulocken weiß, nennt er Jesus.35 Und begreift man den Charakter von
Archetypus des Sinnes läßt sich in Kosmogonien gut kenntlich machen, da der menschliche Wandlungsprozeß (Individuation) oftmals als Wiederholung der Weltschöpfung verstanden wird, indem Mikro- und Makrokosmos einander entsprechen müssen. Siehe: Carl Gustav Jung, NietzDer
sche 's Zarathustra, 309. Am Ende seiner Visionen erfahrt der Erzähler vom Aufstieg zu Gott, wie alles zu einem Teil seiner Kraft wird, und Poimandres fordert ihn auf, selbst zum Hirten zu werden. Siehe: Werner Hörmann (Hg.): „Poimandres. Die Verzückung", Hermetische Schriften I, 1-32, in: Gnosis. Das Buch der verborgenen Evangelien, Augsburg 1989, 67. Ebd., 60. Volker Gerhardt, „Die ,große Vernunft' des Leibes", in: Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra. Klassiker Auslegen, Bd. 14, Berlin 2000, 144: „Angesichts der von Nietzsche gesuchten Nähe
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Zarathustras Reden als Anti-Predigten gegen die Lehren des Christentums wird deutlich, warum Zarathustra überhaupt kein Menschenhirt sein kann. In „Von den Lehrstühlen der Tugend" macht sich Zarathustra durch die Abwandlung des bekannten Psalms 23 über die christlichen Menschenhirten lustig: „Der soll immer der beste Hirt heißen, der sein Schaf auf die grünste Aue führt: so verträgt es sich mit gutem Schlafe." Der Hirte ist für Nietzsche ein „vergoldetes Werkzeug der Heerde" (KSA, NF, 10, 109), der selbst „noch einen Leithammel nöthig" (KSA, NF, 10, 61) hat. Ihm stellt Nietzsche in einem späten Fragment von 1887 den „Herrn" gegenüber (KSA, NF, 12, 243): Während der Hirte zur Erhaltung der Herde diene, stelle der Herr ihren eigentlichen Zweck dar. Ein ähnlicher Gedankengang findet sich auch im dritten Teil des Zarathustra, als es ausgerechnet ein Hirte ist, dem eine Schlange während des Schlafes in den Mund kriecht und sich dort verbeißt. Ein Bild für Zarathustras Kampf mit dem abgründlichen Gedanken, dem der ewigen Wiederkehr. Als nun der Hirte den Kopf der Schlange abgebissen hat, ist er ein Anderer: „Nicht mehr Hirt, nicht mehr Mensch ein Verwandelter, ein Umleuchteter, welcher lachte ! Niemals noch auf Erden lachte je ein Mensch, wie er lachte" (KSA, ZA, 4, 201 f.). Danach wird deutlich, daß der Hirte den letzten Menschen, als notwendiger Bestandteil seiner Herde der Gleichartigen, angehört, aus deren Überresten erst der Übermensch entstehen kann. Die zweite Funktion des „Alten Weisen" im „Poimandres", nämlich die des Lehrers, läßt sich auch in der alchemistischen Literatur 7 auffinden. So etwa wird in der Cabala Chymica des Franz Kieser (1606) ein Gespräch zwischen einem Lehrer (unschwer als Hermes Trismegistos zu erkennen) und seinem Schüler geschildert. Dabei fällt der Vergleich mit dem Zarathustra ähnlich wie der mit der Gestalt des Führers aus. Zarathustra sammelt Schüler um sich und hält Reden. Als er aber geendet hat, verstößt er seine Anhänger: „Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt. Und warum wollt ihr nicht an meinem Kranze rupfen?" (KSA ZA, 4, 101). Er heißt seine Getreuen, ihn und seinen Weg zu verlassen, und sich selbst zu finden, denn Zarathustra brauche keine Gläubigen, sondern Weggefahrten und Freunde. Schließlich vertröstet er sie auf den großen Mittag, an dem er ihnen als Freund unter Freunden begegnen werde, „da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn stehen wird zwischen Thier und Übermensch" (KSA ZA, 4, 102). Jedoch am Ende des dritten Teils von Also sprach Zarathustra, bekanntlich war ja der vierte Teil ein „Zwischenakt" oder „Zwi,
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zwischen der Figur des Zarathustra und dem .Hebräer Jesus' wird man bei ,Hirt und Heerde' überdies an die Propheten des Alten und an die Evangelisten des Neuen Testaments zu denken haben." Außerdem weist Gerhardt in Bezug auf Nietzsches Verwendung der Hirten-Metaphorik auf Piatons Politikos (267 b-d) hin, wo die Beziehung von „Hirt und Herde" als Bedingung vernunftgeleiteten Daseins bezeichnet wird. Jörg Salaquarda, „Die Grundconception des Zarathustra", in: Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra. Klassiker Auslegen, Bd. 14, Berlin 2000, 70. Alchemistische Texte haben für Jung und die analytische Psychologie eine besondere Bedeutung. Jung interpretiert die alchemistische Wandlung als eine Schilderung des Individuationsprozesses. Siehe: Carl Gustav Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken, 10. Aufl., Zürich/ Düsseldorf 1997, 213; Jungs Schriften zur Alchemie: Carl Gustav Jung, „Psychologie und Alchemie", in: Gesammelte Werke, Bd. 12, 1944; „Aion", in: Gesammelte Werke, Bd. 9/2, 1951; „Mysterium Coniunctionis", 2. Bde, Gesammelte Werke, Bd. 16/1 und 16/2.
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schenspiel", das Nietzsche nur den engsten Freunden zukommen ließ und auch von jenen schließlich zurückforderte,39 wird Zarathustra wieder zum Lehrer: Nach seinem Kampf mit dem abgründlichen Gedanken der ewigen Wiederkehr, bricht er erschöpft zusammen. Adler und Schlange wachen über ihn sieben Tage lang, eher er wieder aufwacht und die Tiere bittet, zu ihm zu sprechen: Die huldigen seinem großen Schicksal und geben seine Lehre der ewigen Wiederkehr wieder. „Denn deine Thiere wissen es wohl, oh Zarathustra,
wer
du bist und werden musst: siehe, du bist der Lehrer der ewi-
Wiederkunft -, das ist nun dein Schicksal!" (KSA, ZA, 4, 275). An diesem Schicksal, der erste Lehrer „des grossen Erden- und Menschen-Mittage" zu sein, geht Zarathustra letztlich zugmnde. Wie es ihm die Tiere in den Mund legen: „Ich sprach mein Wort, ich zerbreche an meinem Wort: so will es mein ewiges Los -, als Verkündiger gehe ich zu Grunde!" (KSA, ZA, 4, 277). Wenn auch der dritte Teil des Zarathustra mit einer Liebeserklämng an die Ewigkeit und damit an das Leben endet, so ist es doch keine Lehre, die er irgendwelchen Schülern weitergeben könnte. Denn als Lehrer der ewigen Wiederkunft ist er zu einem sich ins Unendliche wiederholenden Scheitern verurteilt. Das ist sein Schicksal. Die Annahme dieses seines Fatums aber bestätigt seine Lehre und enthebt ihn der Verantwortung für eine Weitergabe seines Wissens. Wie sieht nun nach diesen Ausführungen zur Funktionalität und Mythologie des „Alten Weisen" ein Vergleich zwischen diesem Archetypus und Nietzsches Figur des Zarathustra aus? Gegen den Einwand, daß Zarathustra nicht in die archetypische Vorstellung des „Alten Weisen" passe, spricht die funktioneile Differenzierung; denn Zarathustra ist bestimmt ein „Alter Weiser", der über einen großen Erfahmngsschatz bzw. ein geheimes Wissen verfügt. Am Beginn von Also sprach Zarathustra heißt es demnach: „Siehe! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig [...]Ich möchte verschenken und austeilen [...]" (KSA, ZA, 4, 11). Auch das „Nachtlied" aus dem zweiten Teil von Zarathustra thematisiert diesen Überfluß an Wissen und Erfahrung. Ein weiteres Argument für die Übereinstimmung zeigt sich nach der fünktionellen Schematisiemng in dem Umstand, daß der „Alte Weise" nach Jungs Verständnis immer in Zeiten der Not auftaucht. Das trifft auch auf die Figur Zarathustras zu, der in einer Zeit des Nihilismus vom Berg herabsteigt, um auf den Resten des „toten Gottes" den Weg zum Übermenschen zu gen
beschreiten.
Nietzsche an Carl Fuchs, 29. Juli 1888, KSB 8, 374; Nietzsche an Georg Brandes, 8. Jänner 1888, KSB 8, 227. Nietzsche an Heinrich Köselitz, 9. Dezember 1888, KSB 8, 513: „Jetzt eine ernste Sache. Lieber Freund, ich will alle Exemplare des vierten Zarathustra zurückhaben." Eine vierteilige Zarathustraausgabe gab es erstmals 1893, herausgegeben von Peter Gast. Siehe: Henning Ottmann, „Kompositionsprobleme von Nietzsches Also sprach Zarathustra", in: Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra. Klassiker Auslegen, Bd. 14, Berlin 2000, 52. Werner Stegmaier, „Anti-Lehren. Szene und Lehre in Nietzsches Zarathustra"', in: Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra. Klassiker Auslegen, Bd. 14, Berlin 2000, 194. Peggy Nill, „Die Versuchung der Psyche", 263: „Und wenn Jung Zarathustras Leidenschaftlichkeit rügt und als unbeabsichtigtes Durchscheinen von Nietzsches Persönlichkeit deutet da ein Alter Weiser für gewöhnlich gemäßigt und besonnen auftritt -, dann grenzt dies ein wenig an Komik." -
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Die mythologischen Vergleiche innerhalb der analytischen Psychologie zur Charakterisierung des „Alten Weisen" weisen jedoch zum Teil deutliche Unterschiede zur Figur des Zarathustra auf. So hat sich der Vergleich mit den Eigenschaften des Medizinmanns in primitiven Stammeskulturen als ungeeignet herausgestellt. Zarathustra
kanalisiert keine Kräfte, er vermittelt sie. Damit steht er aber eine Stufe über dem Besitz eines unvermittelbaren Wissens, denn Zarathustra möchte sein Wissen weitergeben. Zarathustra ist aber auch kein heilender Arzt im Sinne des Hippokrates: An Unheilbare möchte er seine Kräfte nicht verschwenden. Solcherart Erkrankten wünscht er den Untergang. Zudem besitzt Zarathustra Eigenschaften, die mit dem wissenschaftlichen Empirismus des Arztes kaum etwas gemein haben. Er versteht sich als ein Bruchstück der Zukunft, die er schaut. Aber auch hier ist Zarathustra nicht Wahrsager, wie es das Verständnis des „Alten Weisen" nahelegen würde, sondern es ist sein Schicksal zu verkünden, daß alles was geschieht, unendliche Male bereits geschehen ist und unendliche Male noch geschehen wird. Sogar der „Wille zur Macht", den Zarathustra als Weg zum Übermenschen skizziert, muß sich dieser zeitlichen Struktur unterwerfen (KSA, ZA, 4, 179). Zarathustra ist der Lehrer der ewigen Wiederkehr, dem sich letztlich ständig das eigene Scheitern an der Weitergabe seines Wissens wiederholt, und der dennoch in dieser Wiederkehr den Beweis für die Richtigkeit seiner Lehre findet. Am Torweg erkennt Zarathustra, daß die Ewigkeit im Augenblick liegt, der sich unendlich oft wiederholt (KSA, ZA, 4, 199f.). Wenngleich der Einwand Peggy Nills zutrifft, daß gerade die Zeitlichkeit als Kritik an Schopenhauer und dem Priesterideal in Also sprach Zarathustra von großer Bedeutung ist, und Zarathustra daher nicht als zeitloser Archetypus des „Alten Weisen" verstanden werden könne,42 so wird Zarathustra im Sinne der Lehre von der ewigen Wiederkehr gerade in dem Moment zu einem solchen Archetypus, als dieser die Ewigkeit in sich trägt.
42
Ebd., 264.
Hans-Joachim Pieper
Zarathustra
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Sisyphos
Zur Nietzsche-Rezeption Albert Camus'1
1954, nach einem Besuch von Nietzsches letzter Arbeitsstätte, spricht Camus davon, daß er Nietzsche „immer mit ebensoviel Zuneigung wie Bewunderung geliebt habe" und daß er Overbecks Bericht über seine Ankunft in Turin beim „wahnsinnig" gewordenen Nietzsche „nie ohne Tränen" habe „lesen können".2 Wie Zitate und Anspielungen in Camus' Schriften und Tagebüchern belegen, hat er sich seit seinen StudienjahAuch sein Philosophieverren (1933-1936) immer wieder mit Nietzsche ständnis ist von Nietzsche geprägt,4 und in seiner Schrift Der Mensch in der Revolte (1952) hat sich Camus in einem eigenen Kapitel mit Nietzsche Statt Nietzsches Spuren im Werk Camus' aufzulisten, will ich jedoch versuchen, strukturelle Übereinstimmungen ihres Denkens zu erhellen. Ich werde dazu als Erstes den Begriff des Absurden im Mythos von Sisyphos (1942) erörtern und diesen Mythos zu Nietzsches Gedanken von der Ewigen Wiederkunft des Gleichen in Beziehung setzen (1). Danach gehe ich auf das Nietzsche-Kapitel in Der Mensch in der Revolte ein (2). In einem weiteren Schritt werde ich Nietzsches Perspektivismus und Camus'
beschäftigt.3
auseinandergesetzt.5
2
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4
5
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Ich danke Herrn Rodion Ebbighausen für anregende Gespräche und hilfreiche Hinweise. Albert Camus, Tagebuch März 1951-Dezember 1959, Reinbek bei Hamburg, Oktober 1993, Neuausgabe 1997, 159; vgl. Herbert R. Lottman, Camus. Eine Biographie, Hamburg 1986, 456. Vgl. Heinz Robert Schlette, Albert Camus: Welt und Revolte, Freiburg [Breisgau]; München 1980, 18f; Brigitte Sandig, Albert Camus, Reinbek bei Hamburg 1995, 29f. So soll für die Überlegungen im Mythos von Sisyphos (1942) „Nietzsches Kriterium" gelten, daß „ein Philosoph, der emst genommen werden will, mit gutem Beispiel vorangehen müsse" (Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Hamburg, Juni 1959, 5. Auflage, Januar 1980,12 und 9; im Folgenden: MS). Albert Camus, Der Mensch in der Revolte. Essays, Reinbek bei Hamburg, Juli 1969, 24. Auflage, Februar 2001, 80-96; im Folgenden: MR. Vgl. dazu vor allem Bianca Rosenthal, Die Idee des Absurden. Friedrich Nietzsche und Albert Camus, Bonn 1977. Man kann davon ausgehen, daß Camus zusätzlich zu einigen Briefen sämtliche Hauptwerke Nietzsches gekannt hat. Seine Auseinandersetzung in Der Mensch in der Revolte soll als Kommentar zu der von Elisabeth Foerster-Nietzsche zusammengestellten Auswahl aus dem Nachlaß Der Wille zur Macht verstanden werden.
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Hans-Joachim Pieper
Schlußfolgerungen aus dem Absurden miteinander vergleichen. Sie lassen sich als unterschiedliche Reaktionsweisen gegenüber der Halfung des Skeptizismus verstehen, die beiden gemeinsam ist (3). Der letzte Punkt meiner Betrachtungen gilt dem Verhältnis Nietzsches und Camus' zur Kunst (4). 1. Das Absurde und die
Ewige Wiederkehr
Lassen Sie mich eine Bemerkung zu diesem letzten Punkt voranschicken. Camus hat sich eindeutig als Künstler verstanden. Das sollte aber nicht darüber hinwegsehen lassen, daß er Philosophie studiert hat8 und daß er nicht weniger als durch seine Romane durch seine philosophischen Schriften berühmt geworden ist. Nietzsches Werk wiederum wird überwiegend zur Philosophie gerechnet. Und doch gilt er als Künstlerphilosoph schlechthin.9 Diese Charakterisierung ist nicht nur durch seine Gedichte und seine kunstvolle Prosa Also sprach Zarathustra, nach Nietzsches Eindas und schätzung „höchste" „tiefste" „Buch, das es gibt" (KSA, EH, 6, 259), kommt als als philosophischer Roman daher. Vielleicht hatte Camus dies vor Augen, als er 1935 vermerkte: „Wenn du Philosoph sein willst, schreib Romane."12 Ich glaube, daß beide, Nietzsche und Camus, einen philosophischen Grund hatten, sich der poetischen Form zu bedienen. Ich werde darauf zurückkommen. Die Übereinstimmung Nietzsches und Camus' ist vorab in zwei Punkten zu konstatieren: in der Abweisung von Metaphysik und in der Wertschätzung des Lebens.13
gerechtfertigt.10
fiction,^
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„Warum bin ich Künstler und nicht Philosoph?", fragt er im Oktober 1945 in einer Tagebuchnotiz, und antwortet: „Weil ich in Worten und nicht in Ideen denke" (Albert Camus, Tagebücher 19351951, Reinbek bei Hamburg, 3. Auflage, 1976, 204; im Folgenden: T 1935-51). Schlette zitiert aus einem Interview mit Camus vom 20. Dezember 1945: „Ich bin kein Philosoph. Ich glaube nicht genug an die Vernunft, um an ein System zu glauben [...]." (Heinz Robert Schlette, Albert Camus, 15) Im Februar 1951 notiert Camus: „Nach Der Mensch in der Revolte. Die aggressive, beharrliche Ablehnung des Systems. Von nun an der Aphorismus." (T 1935-51, 310) Vgl. KSA, GD, 6, 63: „Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit." Andernorts hat Nietzsche die „philosophischen Systeme" als „glänzende Lufterscheinungen" in der Wüste vorgestellt, die „mit zauberischer Kraft der Täuschung die Lösung aller Rätsel und den frischen Trunk wahren Lebenswassers in der Nähe" vorgaukeln (KSA, MA II 2, 393). Zu Nietzsches Ablehnung des Systems vgl. außerdem Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosoph Psychologe Antichrist. Darmstadt, 2. durchgesehene Auflage der deutschen Ausgabe, 1988, 92ff. Vgl. Heinz Robert Schlette, Albert Camus, 19. Vgl. Werner Ross, Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben, München, 2. Auflage 1994, 375; vgl. KSA, NF 1885-87, 12, 89. Vgl. Theo Meyer, Nietzsche und die Kunst, Tübingen; Basel 1993, 112ff. Vgl. Werner Stegmaier, „Nietzsches Zeichen", in: Nietzsche-Studien 29, 2000, 41-69; ebd., 66. T 1935-51, 12. Er erklärt diese Äußerung allerdings damit, daß man nur in Bildern denke. Nebenbei sei daraufhingewiesen, daß Camus später, wie zitiert, vorgibt, in Worten zu denken. Camus gibt Nietzsche mit den Worten wieder: „Wichtig ist nicht das ewige Leben, sondern die ewige Lebendigkeit" (vgl. KSA MA II, 2, 534: „Auf die ewige Lebendigkeit aber kommt es an: was ist am ,ewigen Leben' und überhaupt am Leben gelegen!"), und in seinem Essay über Die Hoff-
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Camus' Philosophie hebt an der Stelle an, an die Nietzsches Kritik das abendländische Denken geführt hat. Gott ist tot, der Glaube an Moral und Wahrheit ist zersetzt: Für Camus geht es nicht mehr dämm, die Fragwürdigkeit aller Erkenntnis und Moral zu erweisen. Er konfrontiert sich direkt mit der Frage, ob es möglich ist zu leben, ohne über das Gegebene hinauszugreifen. Und das „einzig Gegebene" ist für Camus „das
Absurde" (MS, 31; vgl. ebd., 46). Das Absurde beruht auf dem schon von Kant beschriebenen Konflikt, daß die Vernunft sich selbst „durch Fragen belästigt", die sie „nicht beantworten kann", da sie ihr Wo es Kant noch gelingt, die Fremdheit der Welt nicht nur „Vermögen" sondern zudem die Vorstellung eines göttlich geordneten Universums zu zu mildem, restitaieren,1 bleibt 150 Jahre später nur der Zwiespalt zurück: das Absurde als die Begegnung „des Menschen, der fragt", mit der „Welt, die vernunftwidrig schweigt" (MS, 29), als Mißklang zwischen dem „Bedürfnis nach Vertrautsein", „Klarheit" und „Einheit" und dem Tod als der einzigen Antwort darauf (MS, 20, 21). Camus macht nicht dabei Halt, die Situation des Menschen zwischen seinem „Verlangen nach Absolutem" (MS, 47) und der Erfahrung des Absurden zu konstatieren. Er zieht aus dieser Erfahrung drei Konsequenzen: Auflehnung (Revolte), Freiheit und Leidenschaft (MS, 57). Absurd zu leben, heißt für Camus, unaufhörlich gegen das Schweigen der Welt zu revoltieren. Absurd zu leben, heißt auch, „dem Tode zugewandt" zu leben (MS, 53). Die „Absurdität eines möglichen Todes" aber (MS, 52), die jede Hoffnung auf die Zukunft zerstört, gibt dem Menschen seine „Handlungsfreiheit" in der Gegenwart zurück (MS, 51). Diese Freiheit verfolgt nur ein Ziel: „alles Gegebene auszuschöpfen", so lange und so intensiv zu leben wie möglich (MS, 54, 56). Camus sieht diese Momente im überlieferten Mythos von Sisyphos komprimiert. Sisyphos' Schicksal ist geprägt von „Verachtung der Götter", „Haß gegen den Tod" und „Liebe zum Leben" (MS, 99). Unvermittelter Ausdmck der Absurdität des Daseins scheint jedoch die Strafe zu sein, die Sisyphos in der Unterwelt erleidet: einen Felsen immer und immer wieder auf die Höhe eines Gipfels zu wälzen, von dem der Stein unweigerlich in die Tiefe zurückrollt. Aber für Camus ist Sisyphos der „Held des Absurden" sowohl dieser Qualen als auch des zuvor genossenen Lebens wegen. „Dieses Leben", so Camus, hat ihm „die unsagbare Marter aufgewogen", die ihm in der Unterwelt geschieht (MS, 99). Sisyphos' Qualen stellen sich zugleich als Inbegriff
übersteigen.14
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15
nung und das Absurde im Werk von Franz Kafka rühmt er Nietzsche als den „einzigefn] Künstler [...], der aus einer Ästhetik des Absurden die letzten Schlüsse gezogen hat; denn seine letzte Botschaft beruhfe] auf einer zwingenden, sterilen Klarheit und auf einer beharrlichen Verneinung jedes übernatürlichen Trostes" (MS, 111). Der Essay findet sich als Anhang zu Der Mythos von Sisyphos, MS, 102-112. Vorrede zur 1. Auflage der Kritik der reinen Vernunft, KrV, A VII. Auch Annemarie Pieper sieht eine Parallele zwischen Camus und Kant. Sie bezieht sich dabei jedoch auf eine Textstelle aus Kants nachgelassenen Schriften, in der Kant die Metaphysik mit dem „Stein des sisyphos" vergleicht, „an dem man rastlos wälzt und ohne ihn jemals an seine bleibende Stelle zu bringen" (Annemarie Pieper, „Camus' Verständnis des Absurden in ,Der Mythos von Sisyphos'", in: Dies. (Hg.), Die Gegenwart des Absurden. Studien zu Albert Camus. Tübingen; Basel 1994, 1-15; ebd., 1). Vgl. z. B. KrV, B 725ff, KdU, B 338f.
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monotoner, sinnloser Arbeit dar. Sisyphos in der Unterwelt: das scheint das Bild eines anderen menschlichen Lebens zu sein.16 Und auch hier verachtet Sisyphos die Götter. Er nimmt den Felsen an, macht ihn zu seinem „persönlichen Geschick" (MS, 101). Er triumphiert, indem er noch in dieser trostlosen Situation „findet, dass alles gut ist". „Jedes Gran dieses Steins", beschließt Camus seine Sisyphos-Version, ,jeder Splitter dieses durchnächtigten Berges bedeutet allein für ihn eine ganze Welt. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen." (MS, 101) Daß Sisyphos glücklich sein kann, hat nach Camus zwei Gründe. Zum einen befähigt ihn das Wissen um die Vergeblichkeit seines Tuns, sich über sein Schicksal zu erheben: „Es gibt kein Schicksal", heißt es, „das durch Verachtung nicht überwunden werden kann" (MS, 99). Zum anderen erkennt Sisyphos in seiner Arbeit seine ureigenste „Sache". „Darin", so Camus, „besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm."17 Die Ähnlichkeiten zwischen dem Sisyphos-Mythos und Nietzsches Lehre von der Ewigen Wiederkunft sind offensichtlich. Die Ewige Wiederkunft läßt sich unter mindestens fünf Aspekten erörtern: 18
„propositionale Wahrheit". So scheint Nietzsche die Ewige Wiederkunft in den Aufzeichnungen zu verstehen, in denen er versucht, sie mathematisch zu begründen. Demnach muß jede erdenkliche „Gesammtlage aller Kräfte" des Universums schon unzählige Male erreicht worden sein und sich auch in Zukunft unzählige Male wieder einstellen (vgl. KSA, NF 1880-82, 9, 523). 2. Hieraus erhält die Wiederkunftslehre den Sinn eines Gegenkonzepts zum ideologischen Geschichtsbild: Es gibt kein Telos in der Geschichte, sondern nur Werden und Vergehen in endloser Wiederholung.19 3. Als ursprünglich wichtigstes Element des Gedankens erscheint jedoch sein existentiell-pragmatischer Effekt, ° eine Art kategorischer Imperativ: Lebe „so [...], daß du wünschen mußt, wieder zu leben" (KSA, NF 1880-82, 9, 505). Dies so Nietzsche im August 1881 sei „der Hauptgedanke".21 4. Außerdem verknüpft Nietzsche mit der Ewigen Wiederkunft noch einen evolutionistischen Aspekt: Die Ewige Wiederkunft soll als „Mittel der Züchtung und Auswahl" dienen (KSA, NF 1885-87, 12, 343), „als Hammer in der Hand der mächtigsten Menschen" (KSA, NF 1884-85, 11, 295). 1. als
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Vgl. unten, Anm. 44.
MS, 100. Zum Glück des Sisyphos vgl. auch Annemarie Pieper, „Camus' Verständnis des Absurden", 12-15. Vgl. Rüdiger Safranski, Nietzsche. Biographie seines Denkens. Darmstadt 2000, 237. Vgl. KSA, NF 1880-82, 9, 534f; NF 1885-87, 12, 213; NF 1887-89, 13, 375f. Vgl. Rüdiger Safranski, Nietzsche, 238; vgl. auch Volker Gerhardt, Friedrich Nietzsche, 2. unveränderte Auflage, München 1995, 198f. KSA, NF 1880-82, 9, 505. In dieser Intention wird der Wiederkunftsgedanke in der Fröhlichen Wissenschaft auch erstmals vorgestellt: KSA, FW, 3, 570.
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gibt Formulierungen, die die Ewige Wiederkunft in größte Nähe zum SisyphosMythos rücken. So spricht Nietzsche im Umfeld des Zarathustra von dem „furchtbarste^] Gedanken einer ewigen Wiederkehr der Vergeudung. / Die vergeudete Menschheit (und alles Ringen und Grosse ein ewig zielloses Spiel) [...]" (KSA, NF 1882-84, 10, 588). Noch eindringlicher formuliert er im Juni 1887, der „lähmendste Gedanke" müsse der einer gänzlich sinnlosen Dauer sein. In seiner „furchtbarsten Form" bedeutet 5. Es
dies: „das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts, ,die ewige Wiederkehr'", „das Nichts (das ,Sinnlose') ewig" (KSA, NF 1885-87, 12, 213). Die Ewige Wiederkehr wird damit zu einer Metapher des Absurden.
Camus knüpft direkt an diesen „furchtbarsten Gedanken" an. Es gibt „keine fürchterlichere Strafe [...] als eine unnütze und aussichtslose Arbeit" (MS, 98). Als propositionale Wahrheit (1. Aspekt) hat Camus die Ewige Wiederkunft nicht interessiert. Wie aber schon im Sisyphos und noch deutlicher in der Revolte hervortritt, spricht auch Camus der Geschichte jegliches Telos ab (2. In der Figur des Sisyphos wird zudem das lineare Lebenskonzent durch ein zyklisches ersetzt: Sisyphos arbeitet nicht auf ein Ziel hin, sein Glück liegt allein im sinnlosen Wälzen des Steins (vgl. 5. Auch was den existentiell-pragmatischen Effekt betrifft (3. Aspekt), stimmt Camus mit Nietzsche überein. Camus' Imperativ besagt: Lebe im Bewußtsein des Absurden ein Leben in Auflehnung, Freiheit und Leidenschaft. Mit Nietzsches Worten: „diess Leben" ist „dein ewiges Leben". Ob Sisyphos die Wiederholung seines Lebens wünscht, steht dabei zwar nicht zur Diskussion. Ihm steht nur die Wiederkehr seiner sinnlosen Marter offen. Doch läßt sich der Stein des Sisyphos durchaus als sein Leben interpretieren, das er stets von Neuem auf sich nimmt: in voller Bejahung seiner ewigen Wiederkehr. Angedeutet wird dies am Ende der Erzählung Der Fremde, wo der zum Tode Verurteilte bekennt, daß er „glücklich gewesen war" und nun, in seiner Zelle, „immer noch glücklich" sei. Er fühlt sich „bereit, alles noch einmal zu erle-
Aspekt).22
Aspekt).23
ben".25
Der Vergleich des Sisyphos mit Nietzsches Lehre von der Ewigen Wiederkunft zeigt also eine Reihe von Übereinstimmungen. Nietzsche und Camus verlangen nicht nur, das Leben zu ertragen. Sie fordern, es zu bejahen und über Sinnlosigkeit und Wiederkehr zu triumphieren. Camus sieht darin jedoch kein „Mittel der Züchtung" (4. Aspekt). Die Leistung des Sisyphos ist nicht übermenschlich, sondern ausschließlich
„menschlich" zu nennen.
Vgl. z. B. MR, 325: „Die Revolution des 20. Jahrhunderts glaubt den Nihilismus zu vermeiden und der wahren Revolte treu zu sein, indem sie Gott durch die Geschichte ersetzt. Sie stärkt in Wirklichkeit den ersteren und verrät die letztere. Die Geschichte liefert durch ihre eigene Bewegung keinen einzigen Wert." Vgl. Annemarie Pieper, „Camus' Verständnis des Absurden", 13f. KSA NF 1880-82,9,513. Albert Camus, Der Fremde, Reinbek bei Hamburg, Juli 1961, 7. Auflage, Februar 1980, 122.
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2. Der Nihilismus und die absolute Bejahung der Welt Der Mythos von Sisyphos und Der Mensch in der Revolte bilden die Eckpfeiler von Camus' philosophischem Denken. Im Sisyphos hat Camus als „die erste und einzige Gewißheit", die „im Innern der absurden Erfahrung gegeben ist" (MR, 17; vgl. MS, Dieses Moment wird zum zentralen Begriff 49f.), die Auflehnung seiner Schrift Der Mensch in der Revolte. Wer revoltiert, so Camus, tut dies im Namen eines Wertes, den er bejaht (MR, 21; vgl. ebd., 22). Die Revolte „verwirft einen Teil der Existenz im Namen eines anderen, den sie verherrlicht" (MR, 282). Mit der Revolte ist für Camus die Erweiterung des Ichs zum „Wir" verbunden (MR, 31): Sisyphos erkennt, daß er die Erfahrung des Absurden „mit allen Menschen teilt" (MR, 31). Zum „einzig Gegebenen" des Absurden tritt als „die erste Selbstverständlichkeit" die Revolte (MR, 31) und ihre mitmenschliche „Komplicenschaft" und „Solidarität"
herausgestellt.26
(MR, 30).
Ich möchte aus diesen Überlegungen nur einen Punkt herausgreifen. Die Haltung der Revolte bedeutet unter anderem, keine Position zuzulassen, die den Mord legitimiert: sei es im Namen einer sei es aus vorbehaltloser Bejahung. Genau diesen Vorwurf erhebt Camus gegen Nietzsche. Nietzsche gelange von der radikalen „Verneinung" (MR, 81) über die „Revolte" (MR, 83) zur totalen Affirmation (MR, 93). Die Feststellung vom Tode Gottes (vgl. MR, 80) und der Kampf gegen alles, was die Stelle der „verschwundenen Gottheit" beansprucht (MR, 83), machen Nietzsche zum ersten Analysten des Nihilismus (vgl. MR, 80). Der Nihilismus aber besteht vor allem im Verlust des „Vertrauens zum Leben" (MR, 80): „Nihilist ist nicht derjenige, der an nichts glaubt, sondern [...] der nicht glaubt an das, was ist." (MR, 85) Der Tod Gottes, mit dem die „Suche nach Rechtfertigungen, die Sehnsucht ohne Ziel" beginnt, ist zugleich eine „wilde Befreiung" (MR, 85) zur Immanenz des Lebens. Nietzsche sei dieser Wende bis zum Äußersten gefolgt. Er hat sein „Ja" bis zur schran-
Utopie,27
„Für Camus ist die Revolte das einzige Mittel, durch das
es dem Menschen in einer absurden Welt seinem berechtigten Sinnverlangen Ausdruck zu verleihen." (Annemarie Pieper, „Nihilisund Revolte: Camus' Nietzschekritik", in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Band 45,
gelingt, mus
1991, 171-185; ebd., 176f.)
Zum Nihilismus der sozialistischen Idee einer „klassenlosen Gesellschaft [...] am Ende der Geschichte" vgl. Annemarie Pieper, „Nihilismus und Revolte", 176. Daß darin auch ein weiterer Aspekt des Wiederkunftsgedankens zu sehen ist, hat Günter Abel
herausgestellt: „[...] eine solche uneingeschränkte Bejahung impliziert, zu Ende gedacht, das Wollen-Müssen der ewigen kreisförmigen Wiederkehr von Allem und Jedem. Anderenfalls wäre die Bejahung nicht vorbehaltlos und nicht vollständig." „Der Wiederkunftsgedanke erweist sich [...] als die äußerste interne Konsequenz einer auf der Ebene der ursprünglich-produktiven Welt-und-
Selbst-Interpretation leitenden Haltung uneingeschränkter und vorbehaltloser Bejahung aller Realität." (Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin, New York, 2. Auflage, 1998, 453, 454) Annemarie Pieper („Nihilismus und Revolte", 173175) hat diesen Dreischritt anhand von Zarathustras „Rede von den drei Verwandlungen" veranschaulicht. Danach entspricht dem Kamel der Nihilismus des sich selbst erniedrigenden Geistes, dem Löwen die Gott negierende Revolte, dem Kind schließlich das „heilige Ja-sagen" (KSA, ZA, 4, 31) des Übermenschen. -
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kenlosen „Zustimmung" getrieben. Die „Anerkennung des Schicksals", so Camus, endet bei Nietzsche „mit einer Vergöttlichung des Schicksals" (MR, 88; kursiv von
mir).
„Alles bejahen" setzt auch voraus, „daß man den Mord bejaht". Für die Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten kommt Nietzsche deshalb zumindest eine „unfreiwillige Verantwortung" zu. Darüber hinaus hat er mit der Rede vom Übermenschen und vom Willen zur Macht zu einer ideologischen „Beschlagnahme" (MR, 95) reichlich Anlaß geboten.
3. Das Absurde und der Perspektivismus Camus' Überlegungen zu Nietzsches politischer Verantwortung bergen eine systematische Dimension, mit deren Betrachtung ich mich nun dem Zusammenhang zwischen dem Absurden und dem Perspektivismus zuwende. Camus hat keineswegs den „performativen" Aspekt32 von Nietzsches Thesen übersehen. „Der provisorische, methodische, mit einem Wort strategische Charakter seines Worts kann nicht bezweifelt werden", heißt es gleich zu Beginn seines Nietzsche-Kapitels (MR, 80). Und so wird auch für die absolute Bejahung, den Übermenschen usw. ihre methodisch-strategische Komponente anerkannt. Dies entbindet Nietzsche aber nicht von der Verantwortung, die, so Camus, gerade darin besteht, „aus höheren Gründen der Methode [...], sei es nur einen Augenblick, das Verbrechen legitimiert zu haben" (MR, 93). Camus hat Nietzsches Methode nicht näher qualifiziert. Man darf aber vermuten, daß er den Perspektivismus für das Charakteristikum dieser Methode hält.33 Die Lehren Nietzsches hätten demnach nicht als philosophische Positionen zu gelten. Sie dienen als Instrumente der Analyse und Kritik und stellen Möglichkeiten dar, auf den Niedergang der „metaphysisch-moralischen Deutung der Welt" zu reagieren: Pseudo-Lehren, deren Verkünder nicht verrät, ob er ein Narr, ein Dichter oder ein Weiser
MR, 92. Vgl. auch die Tagebucheintragung vom Sommer 1943: „Die Ewige Wiederkehr setzt Gefallen am Schmerz voraus." (T 1931-51, 182) MR, 93. Camus sieht in dieser Vereinnahmung zugleich eine nicht wieder gut zu machende Unge-
rechtigkeit: „[...] bis zu Nietzsche und dem Nationalsozialismus gibt es kein Beispiel, daß ein vom Adel und den Schmerzen einer außergewöhnlichen Seele erleuchtetes Denken in den Augen der Welt dargestellt wird durch eine Parade von Lügen und grauenhaften Kadaverhaufen der Konzentrationslager" (MR, 91). Vgl. auch Annemarie Pieper, „Nihilismus und Revolte", 178f. Vgl. Christian Schärf, Geschichte des Essays: von Montaigne bis Adorno, Göttingen, S. 173. Vgl. zuletzt Günter Figal, „Nietzsches Philosophie der Interpretation", in: Nietzsche-Studien 29, 2000, 1-11; ebd., 3: „Nietzsches ,Perspektivismus' ist [...] der Schlüssel zu seinem Anspruch auf philosophische Wahrheit und damit der Schlüssel zu seiner Philosophie." Günter Abel, Nietzsche, 451. So läßt sich zum Beispiel vom „Gedanken des Übermenschen" als einer „nach vorwärts gerichtete[n] dichterische[n] Intuition" sprechen (Annemarie Pieper, „Nihilismus und Revolte", 171).
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Perspektivismus besagt, daß es „nur perspektivisches Erkennen" gebe (KSA GM, 5, 365), daß objektive Wahrheit auf einer Illusion beruht.36 Damit entspricht die perspektivistische Methode einem Erkenntnisskeptizismus, der sich bekanntlich nicht widerspruchsfrei formulieren läßt. Nietzsche bedient sich deshalb performativer Elemente. Die Erkenntniszweifel werden nicht nur behauptet, sondern vorgeführt: z. B. durch die Strategie, einander widersprechende Positionen unversöhnt nebeneinanderzustellen.37 Camus' Vorwurf wäre dann dahingehend zu präzisieren, daß Nietzsche für sein Spiel mit Perspektiven nur solche Theoreme hätte verwenden dürfen, die sich nicht ideologisch mißbrauchen lassen. Sollte dies tatsächlich die Bedeutung von Camus' Vorwurf treffen, so fallt damit auch auf seine eigenen Überlegungen ein neues Der
Licht. Die absurde Situation des neuzeitlichen Menschen hat prägnanten Ausdruck gefunden in dem Satz: „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt." Nicht nur Nietzsche, auch Camus hat sich mehrmals auf diesen Satz bezogen, 38 Camus allerdings mit einer aussagekräftigen Wendung: „Alles ist erlaubt", heißt es im Sisyphos, „das bedeutet nicht, daß nichts verboten wäre."39 Aber genau das bedeutet dieser Satz sehr wohl: „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt", das heißt, daß nichts verboten bzw. daß die Kategorie des Erlaubten und Verbotenen vollständig aufgehoben ist. Es scheint, als sei auch Camus vor den „labyrinthischen Folgerungen" dieses Satzes zurückgeschreckt.40 Die mit Bezug auf Camus wichtigste Konsequenz aber lautet: Nichts folgt aus dem Absurden, weder
Diese Konsequenz gelangt meines Erachtens nicht in den Blick, wenn man Nietzsches Methode wie Walter Kaufmann als „Experimentalismus" betrachtet (Nietzsche, 99). Die von Kaufmann betonte Analogie zum naturwissenschaftlichen Experiment setzt einen objektiven Wahrheitsbegriff voraus. Entsprechend vermißt Kaufmann bei Nietzsche die „Systematisierung" als Bestandteil eines
vollständigen Experiments (ebd., 110).
So stellen etwa nach dem Verlust der Glaubwürdigkeit einer eschatologisehen Geschichtsbetrachtung die Lehre vom Übermenschen und die Lehre von der Ewigen Wiederkunft des Gleichen zwei konkurrierende Auffassungen von Geschichte dar: Die Lehre vom Übermenschen will der Geschichte bzw. dem Ablauf der Zeiten wieder eine Richtung, eine Zielgerichtetheit geben. Die Lehre von der Ewigen Wiederkunft hingegen leugnet alle Teleologie und ersetzt die Geschichte durch den bloßen Zyklus der Natur. Beide Positionen sind nur mühsam miteinander zu vereinbaren. Entsprechendes gilt für „Nietzsches Versuche über das Leben im Angesicht des Nihilismus" (Beatrix Himmelmann, Freiheit und Selbstbestimmung. Zu Nietzsches Philosophie der Subjektivität, Freiburg; München 1996, 308): zum einen als der jenseits von Gut und Böse situierte amor fati, zum anderen als Umwertung aller Werte (ebd., 313ff., 330ff). Vgl. KSA ZA, 4, 340; KSA GM, 5, 399; KSA NF 1884-85, 11, 88, 95, 155, 384, 403, sowie MS, 59f., 91, MR, 72. MS, 60. Vgl. MR, 86: „Wenn nichts wahr und die Welt ohne Vorschrift ist, ist nichts verboten; um eine Tat zu verbieten bedarf es tatsächlich eines Wertes und eines Ziels. Doch zu gleicher Zeit ist nichts erlaubt; es bedarf ebenfalls eines Wertes und Ziels, um eine andere Tat zu unternehmen." Dennoch verleiht auch nach Camus das Absurde „den Folgen" der „Handlungen" absolute „Gleichwertigkeit" (MS, 60) und damit natürlich auch den Handlungen selbst. „,Nichts ist wahr, alles ist erlaubt' Wohlan, das war Freiheit des Geistes, damit war der Wahrheit selbst der Glaube gekündigt Hat wohl je schon ein europäischer, ein christlicher Freigeist sich in diesen Satz und seine labyrinthischen Folgerungen verirrt? Kennt er den Minotaurus dieser Höhle aus ErfahrungV (KSA, GM, 5, 399) -
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Auflehnung noch Freiheit, Leidenschaft und Solidarität. Ist alles gleichgültig, dann gibt es nicht einmal mehr einen Grund, auf dem Absurden zu beharren. Camus erklärt: „Wenn ich etwas als wahr erkenne, muß ich daran festhalten." (MS, 31) Das Absurde aber fragt mit Nietzsches Worten: „[...] wamm nicht täuschen? [...] wamm nicht sich täuschen lassen?" (KSA, FW, 3, 575) Wenn aus dem Absurden als dem „einzig Gegebenefn]" (MS, 13) nichts folgt, sich damit jedoch ein weites Feld gleichwertiger Möglichkeiten eröffnet, muß Nietzsches Spiel mit Perspektiven als eine plausible Strategie erscheinen. Camus aber insistiert, Nietzsche habe dadurch, daß er sie angekündigt hat, die „Gewaltherrschaft" mit vorbereitet (MR, 94). Dieser Vorwurf läßt sich begründen. Der Perspektivismus besagt ja nicht nur, jede sogenannte Wahrheit gehe auf eine Interpretation zurück, sondern auch, daß jede Interpretation versucht, sich als Wahrheit zu behaupten. Durch sie wird die Realität zu einer „Welt, die uns etwas angeht", die einen Sinn bekommt. Da die Interpretation den Sinn der Welt erst konstituiert, ist es keineswegs beliebig, welche Interpretation man wählt. Die Interpretation bestimmt, in welcher Welt man lebt, aber sie zeichnet auch vor, in welcher Welt man künftig leben will. Nietzsche hat es nicht nur für wahrscheinlich gehalten, daß brutaler Machtwille die Stelle von Wahrheit und Moral übernimmt. Er hat den „Willen zur Macht" auch nicht nur als Instrument der Kritik und des Experiments gehandhabt. Er hat ihn vielmehr so eng mit dem Perspektivismus verknüpft, daß der Eindmck entsteht, der Wille zur Macht sollte etwas Letztes und Wahres bezeichnen: das eigentliche Agens im Grunde alles Geschehens. Die Interpretation von Welt und Leben als eines Willen-zurDies
klingt auch an bei Annemarie Pieper („Camus' Verständnis des Absurden", 9fi), wenn sie erklärt, für den absurden Menschen binde das „Leben als Apriori auch noch des Absurden [...] alles menschliche Handeln an diesen einzigen Wert, dessen Geltungsanspruch durch das Absurde
zwar nicht bestätigt, aber auch nicht bestritten werden kann". Die Akzentuierung liegt hier allerdings darauf, daß das Absurde das Leben als Apriori nicht bestreiten kann. Camus selbst scheint diese „Konsequenz" des Absurden durchaus klar zu sein: „Wenn es stimmt, daß das Absurde vollbracht (oder vielmehr offenbart) ist, dann stimmt es auch, daß keine Erfahrung an sich Wert besitzt und daß alles Tun gleichermaßen lehrreich ist." (T 1935-51, 88; vgl. auch MR, 11.) Vgl. KSA, NF 1885-87, 12, 114; vgl. dazu Günter Figal, Nietzsches Philosophie der Interpretati-
on, 5 f.
Verknüpfung wird vor allem in der Genealogie der Moral deutlich. Alles „Geschehen in der organischen Welt", heißt es dort, sei „ein Überwältigen, Herrwerden und [...] alles Überwältigen und Herrwerden ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen" (KSA, GM, 5, 313f). Der „Wille zur Macht" gilt demnach als „das Wesen das Lebens" (KSA, GM, 5, 316), er ist es, der den Gegenständen einen „Sinn" aufprägt, der sie interpretiert. Vgl. KSA, GM, 5, 314, sowie ebd., 400, wo Nietzsche bemerkt, daß „zum Wesen alles Interpretirens" das „Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfalschen [...] gehört". Vgl. dazu auch Günter Diese
Abel, Nietzsche, 133: „[...] das Willen-zur-Macht-Geschehen vollzieht sich als Interpretations-
Geschehen." „Interpretation wird [...] von Nietzsche in den Grundvorgang der Übermächtigung und Selbst-Überwindung vollständig hineingenommen. [...] jedes Erkennen, Handeln und Geschehen ist essentiell ein Interpretieren, und jedes Interpretieren ist ein Übermächtigen." (Ebd., 141) „So ist das Interpretieren Medium der Machtsteigerung, und diese vollzieht sich als Interpretation."
(Ebd., 142)
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Macht-Geschehens kann man aus Sicht der Unterlegenen Nietzsche tatsächlich zum Vorwurf machen. Er hat damit die Welt gesetzt als eine, die von Machtstreben dominiert wird und die konsequenterweise in totaler Macht und „Gewaltherrschaft" -
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mündet (vgl. MR, 94). Aus Camus' Perspektive ist demnach festzuhalten:
1. Nietzsche behauptet, daß es weder im Theoretischen noch im Moralischen eine objektive Wahrheit gibt und daß der Verlust des christlich-abendländischen Weltbildes
den Menschen einem Diesseits völlig gleichgültiger Möglichkeiten überantwortet. Damit hat Nietzsche die Situation des Absurden konstatiert. 2. An die Stelle des
objektiven Wahrheitsbegriffs hat Nietzsche den Perspektivismus Seine gesetzt. Lehrmeinungen sind deshalb nur strategischen Charakters. 3. Indem er das Interpretationsgeschehen mit dem des Willens zur Macht identifiziert, scheint Nietzsche dem Perspektivismus zu widersprechen und eine These über den wahren Grund aller Interpretationsakte zu präsentieren. Die These vom Willen zur Macht aber bietet sich zur politischen Vereinnahmung und Instrumentalisierung geradezu an. Trotz dieser Kritik stimmt Camus mit Nietzsche in der skeptizistischen Grundhaltung überein. Wenn Camus im Sisyphos konzediert: „Die hier definierte Methode gibt zu, daß jede wirkliche Erkenntnis unmöglich ist. Wir können immer nur Erscheinungsformen aufzählen und das Klima spürbar machen" (MS, 16), kommt darüber hinaus auch seine Affinität zum Perspektivismus klar zum Ausdruck. Dafür spricht zudem, daß sich auch bei Camus, vor allem im Sisyphos, perspektivistische Momente finden.44 Es Statt einen präzisen Begriff des Absurden vorzustellen, bemüht sich Camus in dieser als Essay bezeichneten Schrift, das „Klima" (MS, 16), die Erfahrung, das „Gefühl" (MS, 30) und den begriff des Absurden" (MS, 29) von verschiedenen Seiten aus anzugehen und zu umschreiben. Er zeigt konkrete Aspekte auf, in denen das Absurde sich zeigt, wie den „Überdruß" an einem „mechanischen Leben" (MS, 16) oder den „Ekel" angesichts der „Dichte" und „Fremdartigkeit der Welt" (MS, 18). Dazu paßt es auch, daß er im Weiteren den absurden Menschen an verschiedenen Exempeln vorführt, an Don Juan (MS, 6Iff), am Schauspieler (MS, 67ff), am Typus des Eroberers (MS, 72ff.) und des Künstlers (MS, 79ff; vgl. auch Annemarie Pieper, „Camus' Verständnis des Absurden", lOff). Auch der den Sisyphos-Mythos behandelnde Textabschnitt steht m. E. einer perspektivistischen Deutung offen. Der erste Teil stellt die Chronologie von Sisyphos' Leben einschließlich seiner Strafe in der Unterwelt als absurdes Heldentum dar, das die Verachtung der Götter, die schrankenlose Liebe zum Leben mit einer ewigen Strafe bezahlt. Daneben nimmt sich im zweiten Teil das Dasein Sisyphos' in der Unterwelt wie ein zweites, neues Leben, ein eigenes Schicksal aus, in dem das Absurde sich auf eine ganz andere Weise bekundet. Und während es in
jenem oberirdischen Leben darum ging, um der irdischen Freuden willen der Drohung jenseitiger Strafen zu trotzen, liegt Sisyphos' Heldenmut in der Unterwelt darin, dem grenzenlosen Schmerz einer körperlich schweren und zudem sinnlosen Arbeit noch ein persönliches Geschick, eine eigene Aufgabe, ja sogar Glück abzuringen. „Ohne Schatten gibt es kein Licht; man muß auch die Nacht kennenlernen", heißt es in diesem Abschnitt (MS, 101). Der erste und zweite Teil stellen sich dar wie absurde Schicksale einmal auf der Sonnen-, das andere Mal auf der Schattenseite des Lebens. Daß der zweite Teil des Textes nicht einfach als Fortsetzung des ersten verstanden werden darf,
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liegt deshalb nahe, Camus' Schlußfolgerungen aus dem Absurden und der Revolte als Skeptizismus zu betrachten.
seine perspektivische Antwort auf den
Argumentation weist in beiden philosophischen Schriften Brüche auf. Auflehnung, Freiheit, Leidenschaft und Solidarität lassen sich nicht aus der Erfahmng des Absurden und der Revolte ableiten. Camus geht darüber rhetorisch hinweg.45 Hinter der Geste der Wahrhaftigkeit hat er stillschweigend eine Wahl getroffen. Seine Interpretation führt jedoch nicht auf den Willen zur Macht, sondern auf die nichtmenschliche Natur, die dem Menschen „begrenzend-korrigierend" ihr Maß vorschreibt,46 und auf eine menschliche Natur, die Mitgefühl (vgl. MR, 24f, 282), sogar eine „sonderbare Liebe" (MR, 342) umfaßt. Camus legt das Perspektivische dieser Camus'
Reflexionen nicht mehr offen. Er ist um der durch sie gesetzten Wirklichkeit willen bereit, die Wahrheit seiner Postulate zu behaupten. So wird Camus am Ende von Der Mensch in der Revolte zum Propheten, und er bedient sich dabei der Terminologie Zarathustras. Es werden die „Mittagshöhe des Denkens", „die treue Erde", der Meerwind und das Morgenrot angerufen (MR, 344). Es ist die „Stunde, da endlich ein Mensch ins Leben tritt": „Der Bogen krümmt sich, das Holz stöhnt. Ist die höchste Spannung erreicht, wird ein durchdringender Pfeil abschnellen, das härteste und freieste Geschoss." (MR, 345) Wer hörte hier nicht Zarathustras Reden vom „großen Mittag" und vom Übermenschen als dem Sinn der Erde ? Und wer fühlte sich nicht an sein Wort vom „Pfeil" und der „Sehnsucht zum Übermenschen" erinnert?49 Camus
wird übrigens schon daraus erkennbar, daß Sisyphos auch in der Unterwelt mit der Unabänderlichkeit seines baldigen Todes rechnet: „Gerade in diesem Augenblick, in dem der Mensch sich wieder seinem Schicksal zuwendet (ein Sisyphos, der zu seinem Stein zurückkehrt), bei dieser leichten Drehung betrachtet er die Reihe unzusammenhängender Taten, die sein Schicksal werden, seine ureigene Schöpfung, die in seiner Erinnerung geeint ist und durch den Tod alsbald besiegelt wird." (MS, 101) Daß Camus über Sisyphos in der Unterwelt sagt, „auch er findet, daß alles gut ist" (MS, 101), rückt ihn, nebenbei gesagt, in bedenkliche Nähe zu jener absoluten Bejahung des Schicksals, die er Nietzsche vorwirft. Vgl. dazu auch die Notiz im Tagebuch (September 1939; T 1935-51, 88): „Der Wille ist nichts. Die Bejahung alles." So ist der Appell an die Redlichkeit des Denkens und die Übereinstimmung von Denken und Handeln ein immer wiederkehrender Topos im Essay über das Absurde. Camus' Denkbewegung gleicht der des Sokratischen „Ich weiß, daß ich nichts weiß, und an diesem Wissen ist unbedingt festzuhalten". In der absurden Situation gibt es aber keinen Grund, warum man dem Absurden nicht in Gleichgültigkeit oder Glauben ausweichen sollte. Camus beteuert: „was ich für wahr halte, daran muß ich [...] festhalten" (MS, 47), und da ich das Absurde fur wahr halte, muß ich so leben, daß das Absurde bestehen und bewußt bleibt (vgl. MS, 49), und das heißt in der Revolte (ebd.), die, nimmt man die Ausführungen aus der späteren Arbeit hinzu, die Werte der Mitmenschlichkeit, Freiheit und Gerechtigkeit einschließt. Die Zwangsläufigkeit dieser Postulate wird jedoch lediglich behauptet, ist aber nicht zu beweisen. Vgl. Heinz Robert Schlette, „Zur Interpretation der Natur bei Camus", in: Annemarie Pieper (Hg.), Die Gegenwart des Absurden. Studien zu Albert Camus. Tübingen; Basel 1994, 87-102; ebd., 91, 95.
Vgl. KSA, ZA, 4, 102, 217, 240, 357, 408. Vgl. KSA, ZA, 4, 14. KSA, ZA, 4, 92; vgl. ebd., 72. Vgl. auch
die
„Nietzsche kennt auch die Sehnsucht. Aber
er
Tagebucheintragung will den Himmel
bei Camus (T 1935-51, 173): nichts bitten. Seine Lösung:
um
258
Hans-Joachim Pieper
beendet sein „Buch der Hoffnung" mit einer als Gegenentwurf zum Zarathustra konzipierten Vision. Der Mensch, nicht der Übermensch, steht für ihn im Zentrum. Es ist eine gegen die Wille-zur-Macht- und gegen die Übermensch-Interpretation gerichtete neue Interpretation, die zur Wahrheit kommen, die wahr gemacht werden soll.
4. „Die Kunst und nichts als die Kunst" oder:
„Schönheit, neben der Freiheit meine größte Sorge"
c'y
Hätte ich die Wahl, ich würde lieber in Camus' als in Nietzsches Welt leben. Es ist jedoch nicht zu bestreiten, daß auch Camus' Ausführungen Interpretationen sind. Zugleich ist klar geworden, daß Nietzsche und Camus in Widersprüche geraten. Nietzsche deutet das Interpretieren als Willen zur Macht, Camus glaubt, aus der Erfahrung des
Absurden Schlußfolgerungen ziehen zu können. Aber die erkenntniskritische Skepsis endet nicht mit dem Nachweis ihrer Widersprüchlichkeit. Diesem Dilemma ist vielleicht nur durch den Wechsel in das Gebiet der Kunst zu entkommen. Der performative Widerspruch ist behoben, wenn man ihn inszeniert, wenn man wie Nietzsche eine „Vielheit von Masken" entwirft oder aus der Meta-Perspektive eines Erzählers verschiedene Personen und Positionen zueinander in Beziehung setzt. Hierin sehe ich den philosophischen Grund dafür, daß Nietzsche und Camus sich nicht nur im Begriff, sondern auch in dichterischen Formen ausgedrückt haben. Dem entspricht, daß beide der Kunst auch theoretisch einen herausragenden Stellenwert zusprechen. Nietzsche hat sich in allen Phasen seines Schaffens über Kunst geäußert. Seine Kunstauffassung ist der Wille zur Macht, als Schaffenswille interpretiert. Komprimiert lassen sich im Denken Nietzsches drei „Grundbestimmungen der Kunst" konstatieren: die Kunst als „metaphysische Tätigkeit", als „Stimulans" und als „,ästhetische Rechtfertigung' des Lebens".54 Kann man Nietzsches Ausführungen die These entnehmen, nur in der Kunst könne der Perspektivismus transparent gemacht und zugleich performativ bejaht werden, scheint Camus der Meinung zu sein, daß ein Leben im Bewußtsein des Absurden und in permanenter Revolte vielleicht nicht ausschließlich, aber doch in besonderer Weise in der und durch die Kunst möglich sei.55 Obwohl er Nietzsches Kunstauffassung als nicht von Gott verlangen kann, das verlangt man vom Menschen: es ist der Übermensch." Vgl. auch Annemarie Pieper, „Nihilismus und Revolte", 183f. Vgl. Heinz Robert Schlette, „Zur Interpretation der Natur bei Camus", 93. Vgl. Rüdiger Safranski, Nietzsche, 297: „Das Erkennen ist also ein Machtgeschehen, bei dem schöpferische Gewalten im Spiel sind [...]. Was sich auf diese Weise behauptet, wird dann Wahrwas man
heit genannt. In diesem Geschehen ist Wahrheit eine Macht, die sich wahr macht, indem sie sich durchsetzt." KSA, NF 1887-89, 13, 194; T 1935-51, 120. Vgl. Christian Schärf, Geschichte des Essays, 174. Theo Meyer, Nietzsche und die Kunst, 79. Auch für Camus' Ausführungen über Kunst gilt, daß es sich eher um perspektivische Beleuchtungen der Thematik handelt als um stringent entwickelte Argumente und Begriffe. Hinzu kommt, daß
Sisyphos
Zarathustra
259
-
Teil der absoluten Affirmation kritisiert, eröffnet Camus seine eigenen Ausführungen in enger Anlehnung an Nietzsche. So formuliert er im Sisyphos Nietzsches Position mit den Worten: „Die Kunst und nichts als die Kunst [...], wir haben die Kunst, um nicht an der Wahrheit zu sterben." Auch Camus attestiert der Kunst existentielle Bedeutung, wenn er erklärt, „das Kunstwerk" sei „die einzige Chance, sein Bewußtsein aufrechtzuerhalten und dessen Abenteuer zu fixieren" (MS, 79). Die Kunst erscheint demnach als adäquates Medium zur Darstellung des Lebens: „Für einen dem Ewigen abgekehrten Menschen", fahrt Camus fort, „ist das ganze Dasein nur ein maßloses Possenspiel unter der Maske des Absurden. Das Kunstwerk ist das große Possen-
spiel." (MS, 80)
Das Absurde existiert, wie gesagt, nur im Bewußtsein des Widerspruchs, den der nach Absolutem strebende Mensch aus der sinnlosen Wirklichkeit erfahrt. Das Leben aber tendiert dazu, dieses Bewußtsein zu verdrängen. Die Kunst hingegen eröffnet zumindest die Möglichkeit, die Absurdität zu zeigen und im Bewußtsein zu halten. Auflehnung, Freiheit und Leidenschaft hat Camus als Konsequenzen des Absurden vorgestellt. Sie findet er auch im Kunstwerk wieder (vgl. MS, 96). Als primär sinnliches Medium (vgl. MS, 85) ist die Kunst prädestiniert, die Mannigfaltigkeit des Konkreten zur Erscheinung zu bringen (MS, 80; vgl. ebd., 96). Die Hinwendung zur Erscheinung geschieht indessen nicht naiv. Sie gilt vielmehr als Ausdmck der gescheiterten Versuche, Sinn und Vernunft in der Welt zu finden. Das Kunstwerk dokumentiert somit die Auflehnung des Menschen „gegen seine Lage" (MS, 95). Was das Moment der Freiheit betrifft, hat Camus hier vor allem die Freiheit der Künstler
Darlegungen in der Revolte deutlich von denen im Sisyphos unterscheiden. Ich werde zu erfassen und einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Akzentuierungen herzustellen. Dabei sind meine Ausführungen jedoch noch mehr den Gefahren der Schematisierung und Interpretation ausgesetzt, als dies bei der Auseinandersetzung mit nicht-systematischen Denkern ohnehin der Fall ist. Camus interpretiert Nietzsches Verhältnis zur Kunst allein aus dem Blickwinkel der absoluten Weltbejahung. Die Kunst, das sei für Nietzsche die Welt noch einmal. Nur die Kunst vermag die göttlich-zweckfreie Welt zu erfassen, indem sie sie preisend, zustimmend wiederholt. „Ja sagen zur Welt, sie wiederholen, heißt die Welt und sich selbst zugleich neu schaffen, zum großen Künstler, zum Schöpfer werden." (MR, 89) Nach Camus handelt es sich dabei um ein ziemlich beschränktes Schöpfertum, das, geleitet von der „Ehrfurcht und Leidenschaft für das, was ist" (MR, 89), seine Freiheit und Größe allein darin findet, die Welt rundweg anzunehmen: „Nietzsche dachte, zur Erde und zu Dionysos ja sagen, bedeute zu ihrem Leiden ja sagen. Alles gutheißen, den größten Widerspruch wie den Schmerz, heißt über alles herrschen." (MR, 89f). MS, 79. Dabei dürfte u. a. eine Passage aus der Geburt der Tragödie maßgeblich gewesen sein, in der es heißt, „die Kunst [...] allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt" (KSA, GT, 1, 57). Vgl. oben, sich Camus'
versuchen, die wesentlichen Züge dieser Darlegungen
Anm. 52.
„Man gewöhnt sich
so
rasch.
[...]
Das menschliche Herz kennt soviel
(MS, 86). Das Kunstwerk
„entsteht
vgl. ebd., 83, 96).
aus
dem Verzicht des Verstandes, das Konkrete
eigensinnige Hoffnung." zu
begründen" (MS, 82;
260
Hans-Joachim Pieper
gegenüber dem eigenen Werk im Blick. Denn auch die Kunst ist absurd, und es wäre „lächerlich", wenn die Künstler in der Kunst „einen Sinn finden" wollten. Auch in Der Mensch in der Revolte beruft sich Camus zu Beginn seiner Erörterung der Kunst auf Nietzsche, den er mit den Worten zitiert: „Kein Künstler duldet das Wirkliche."61 Aber, so Camus, es kann auch „kein Künstler [...] auf das Wirkliche verzichten" (MR, 287). Die Kunst als Verkörperung der Revolte bringt zwei neue zwei Aspekte in den Blick: Stil und Schönheit. „Die Forderung der Revolte", so Camus, „ist in Tat und Wahrheit teilweise eine ästhetische" (MR, 289). In ihrem Hunger nach Einheit verlangt sie „beharrlich einen unverletzten Teil der Wirklichkeit [...], den man Schönheit nennt" (MR, 313). Die Kunst stimmt mit der Revolte darin überein, daß sie die Welt zwar zurückweist (MR, 287), aber nur, um sie umzuformen. Sie unterwirft sie der Einheit einer Form, eines Stils,62 der ihr Dauer (vgl. MR, 291, 295f.) und Schönheit verleiht. Doch bei aller Stilisierung behält die Kunst einen Teil der Wirklichkeit bei: als die zweite Quelle der Kunstschönheit zeigt sich bei Camus die Natur. „[...] die Kunst und die Revolte", sagt Camus, „werden erst mit dem letzten Menschen sterben." Solange der Mensch gegen das Absurde, gegen „Leiden und Ungerechtigkeit" kämpft (MR, 341), solange wird auch die Kunst ihre Welten produzieren. Leben und Kunst haben durch die Revolte einen Grund und eine Richtung bekommen. Insofern ist auch für Camus die „Kunst" eine „höchste Aufgabe" und ein „Stimulans zum Leben".64 Und auch für Camus erhält die Welt durch die Kunst eine gewisse Rechtfertigung: sofern sich darin die Freiheit permanenter Revolte bekundet. 5 Doch die Welt als „Kunstkomödie" zum „ewigen Genuss" eines „Urkünstlers" gutzuheißen, wie Nietzsche verlangt (KSA, GT, 1, 47), dies mag in Camus' Rede vom ,,maßlose[n] MS, 86. „Die letzte Anstrengung für diese verwandten Geister, Künstler oder Eroberer, besteht darin, sich von ihren Unternehmungen befreien zu können [...]. Gerade das gibt ihnen größere Leichtigkeit bei der Verwirklichung dieses Werkes, wie die Erkenntnis der Absurdität des Lebens ihnen das Recht gibt, sich bis zum Übermaß hineinzustürzen." (MS, 97) MR, 287. „Ein vollkommener und ganzer Künstler ist in alle Ewigkeit von dem ,Realen', dem Wirklichen abgetrennt [...]." (KSA GM, 5, 344). „Ein Künstler hält keine Wirklichkeit aus, er blickt weg, zurück, seine ernsthafte Meinung ist, daß was ein Ding werth ist, jener schattengleiche Rest ist, den man aus Farben, Gestalt, Klang, Gedanken gewinnt, er glaubt daran, daß, je mehr subtilisirt verdünnt verflüchtigt ein Ding, ein Mensch wird, um so mehr sein Werth zunimmt: je weniger real, um so mehr Werth" (KSA, NF 1885-87, 12, 253). „[...] ein Prinzip bleibt allen Schöpfern gemeinsam: die Stilisierung, die die Wirklichkeit voraussetzt, und der Geist, der ihr seine Form gibt. Durch sie macht das schöpferische Bemühen die Welt
immer mit einer leichten Abwandlung, die das Kennzeichen der Kunst und des Protests ist." T 1935-51, 204: „Ästhetik der Revolte. Der gehobene Stil und die ausgewogene Form, Ausdruck der vornehmsten Revolte." „Man kann die ganze Geschichte ablehnen und doch mit der Welt der Sterne und des Meers übereinstimmen." (MR, 313) Vgl. KSA, GT, 1, 24 (vgl. KSA GT, 1, 17), sowie KSA, NF 1887-89, 13, 194. Vgl. auch die Tagebuchnotiz von November/Dezember 1942 (T 1935-51, 160): „Die absurde Welt läßt sich nur ästhetisch rechtfertigen." Vgl. auch Annemarie Pieper, „Nihilismus und Revolte", neu,
(MR, 307) Vgl.
180f.
Sisyphos
Zarathustra
261
-
noch anklingen (MS, 80), seiner späteren Auffassung von Kunst und Revolte aber steht es direkt entgegen. Während Nietzsche in seinem Verständnis der Welt als Kunst den Perspektivismus als seine „letzte Botschaft" (MS, 111) erahnen läßt, bekräftigt Camus die Perspektive in der Welt, für die er sich entschieden hat. Vielleicht ist Nietzsches Position von einem olympischen Standpunkt aus die wahrere. Camus kann beanspruchen, daß seine die menschlichere sei.
Possenspiel"
Hans-Gerd von Seggern
Allen Tinten-Fischen feind Metaphern der Melancholie in Nietzsches Also sprach Zarathustra
Hans-Jürgen Schings zum 65. Geburtstag
Einleitung Metaphern der Melancholie? Der Titel ist mißverständlich: Er legt nahe, daß es in diesem Aufsatz um eine Aufzählung poetischer Bilder Metaphern gehen wird, die eiumschreiben. Der Begriff ,Melancholie' selber nen Begriff- den der Melancholie wiedemm suggeriert, daß es eine Substanz gibt, die von ihm bezeichnet werden könnte: die ,schwarze Galle'. Doch wie wir wissen, gibt es keinen in der Milz anzutreffenden Körpersaft namens ,schwarze Galle', wie es die antike Humoralpathologie glauben -
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-
machen wollte: „Même si les Anciens ont cm la reconnaître dans les évacuations et les vomissements noirâtres de sang digéré, son existence est plus rêvée qu'observée"1, so Jean Starobinski in seinem Essay L'encre de la mélancolie. Wenn auch die schwarze Galle also nur ein Phantasma ist, ist gleichwohl auch dieser Mythos schon ein Stück Aufklärung: „On voit naître la théorie de la mélancolie au moment où les philosophes et les médecins s'avisent d'expliquer la peur, la tristesse, les désordres de l'esprit, par une cause naturelle qui puisse évincer toute interprétation mythique. Ce ne sont pas les dieux, ni les démons, ni la mystérieuse Nuit qui troublent la raison des hommes; ils sont en proie à une substance qui s'accumule en excès dans leur corps, et dont les effets, comparables à ceux d'un sombre vin, ne sont pas plus mystérieux que l'ivresse."2
2
„Selbst wenn die Alten geglaubt haben, sie in schwärzlichen Ausflüssen und Auswürfen verdauten Blutes wiederzuerkennen, ist [schon in der Antike] ihre Existenz mehr geträumt als beobachtet worden." Jean Starobinski, „L'encre de la mélancolie", in: La Nouvelle Revue Française, 11, 123 (1963), 410. „Die Theorie der Melancholie entsteht in dem Moment, als die Philosophen und Mediziner sich anschicken, die Angst, die Traurigkeit, die Störungen des Geistes durch eine natürliche Ursache zu erklären, die jedwede mythische Interpretation auszuschließen vermag. Es sind nicht die Götter, weder die Dämonen, noch die geheimnisvolle Nacht, die die Vernunft der Menschen bedrängen; sie sind ei-
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Die der schwarzen Galle zugeschriebenen physischen und moralischen Qualitäten sind dabei von Anfang an ein Postulat der Einbildungskraft, das die Attribute feindlich gesinnter Götter in die Materie transponiert. Die schwarze Galle ist anders formuliert ein Substanz-Mythos, der die älteren, ,personalen' Mythen ersetzt. Kurz: Der begriff der Melancholie ist, entmythologisiert, selbst eine Metapher. Dieser Befund wird niemanden überraschen, der sich mit Nietzsches sprachtheoretischen Reflexionen befaßt hat, und er sollte Konsequenzen für die Interpretation eines Werkes haben, in dem die Metaphorik der Melancholie so ausgeprägt ist, wie in Nietzsches Also sprach Zarathustra. Ich werde nun zunächst kurz einige Gedanken zum Verhältnis von Begriff und Metapher bei Nietzsche zusammenfassen und im folgenden die Konsequenzen für die Zara?/zws?ra-Interpretation andeuten. -
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Zum
Interpretationsverfahren
„Man weiss bis dahin nicht,
was Höhe, was Tiefe ist; man weiss noch weniger, was Wahrheit [...] Es giebt keine Weisheit, keine Seelen-Erforschung, keine Kunst zu reden vor Zarathustra [...]. Die mächtigste Kraft zum Gleichniss, die bisher da war, ist arm und Spielerei gegen diese Rückkehr der Sprache zur Natur der Bildlichkeit" (KSA, EH, 6, 344). Die vollmundige Selbstinterpretation Nietzsches enthält einen Hinweis zur Textexege-
ist.
se, der wohl erst in der
neueren Zarathustraforschung Beachtung findet. Es erscheint billig, wenn Annemarie Pieper feststellt, dass es im Zarathustra keine „poetischen Ausschmückungen" gebe, jedes Detail hat Bedeutang(en).3 Nimmt man die überbordende Bildlichkeit der Sprache des Zarathustra als eine Art poetischer Einlösung des sprachtheoretischen Programms in Ueber Wahrheit und Lüge, so ergeben sich weitreichende Konsequenzen für die Interpretation des Werks. In der Forschung wird zwar hinsichtlich des Zarathustra immer wieder Nietzsches Plädoyer für die Metapher gegenüber der abstrakten Begriffssprache der Philosophie ins Spiel gebracht, doch geschieht dies oft genug, um Nietzsches Metaphernspiel nachträglich' doch wieder in Begriffe zurück zu ,übersetzen'. Claus Zittel hat eindringlich auf das Forschungsdefizit angesichts der metaphorischen Redeweise Nietzsches hingewiesen, die man in mindestens drei unterschiedlichen Hinsichten untersuchen könne: „Erstens ist es möglich, die logische ,Genese' von Metapher und Begriff zu untersuchen. [...] Zweitens läßt sich die Rolle, welche die (horizontalen) Metaphern-Metaphern-Relationen sowie die Begriff-Begriffs-Relationen dabei spielen, betrachten. Drittens kann die Genese von Metapher und Begriff kultartheoretisch bewertet werden."4 In der Regel begnüge sich die Forschung mit der Erklärung von Nietzsches Metaphernverständnis aus dem Konzept der Frühschrift Ueber Wahrheit und Lüge heraus, nur
recht und
Substanz ausgeliefert, die sich exzessiv in ihrem Körper anreichert, und daher sind die Wirkungen, vergleichbar mit denen eines schweren Weines, nicht rätselhafter als die Trunkenheit." (Ebd.) Vgl. Annemarie Pieper, „Ein Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch". Nietzsches erster „Zarathustra", Stuttgart 1990, 10. Claus Zittel, Die Aufhebung der Anschauung im Spiel der Metapher. Nietzsches relationale Semantik, in: Nietzscheforschung 11 2000, 273. ner
4
Allen Tinten-Fischen feind
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,lebendigeren', individuelleren' Metaphern einer ursprünglichen' Wirklichkeitserfahrung näher stünden, als der abstrakte, blutleere, blasse etc. Begriff. Abgesehen davon, daß auch diese Auffassung Nietzsches Position verkürzt, muß die bloße Übersetzung' von Metaphern in Begriffe angesichts der komplexen Verweisstruktar des im Zarathustra etablierten Metaphemgewebes unzureichend erscheinen. „Gleichgültig wo man den Zarathustra aufschlägt, stets wird man nur auf Metaphern treffen, die nicht evident sind, sondern in dichten Verweisungszusammenhängen stehen. Es gibt kaum eine Zeile, in welcher nicht auf gleich mehrere literarische oder philosophische Texte oder topoi angespielt wird, und die nicht innerhalb des Textes durch Wiederholungen, Konnotationen, Vergleiche, Analogie-Kontrafaktaren etc. auf vielfältige Weise mit anderen Motiven, Bildern und Gedanken verknüpft wäre."5 Als Beispiel sei hier nur die Sonnen-Metapher am Anfang von Zarathustra 's Vorrede angeführt. Die Sonne verweist nicht nur auf Piatons Ideenlehre im Höhlengleichnis, sondern auch auf die Metapher des „großen Mittags", sowie auf die anderen Tageszeiten, denen Nietzsche jeweils besondere Bedeutungen zuweist. Gianni Vattimo hat Nietzsches Werk danach strukturiert: Philosophie des Vormittags, Philosophie des Mittags etc. Femer läßt der Sonnenzyklus an den im Werk ausgesprochenen Gedanken der ewigen Wiederkunft denken, wird Zarathustra selber mit der Sonne identifiziert usw. Die Mittagsstunde ist der Tradition zufolge der Zeitpunkt, an dem die Melancholie die Szene betritt.7 Gegenüber dem dynamischen Geflecht aus „gleichzeitigen, vielgestaltigen, direkten und indirekten, affirmierenden und widersprechenden Verweisen"8 wird man also nicht mit einem methodischen Handwerkszeug operieren können, daß binär zwischen einer symbolischen' und einer eigentlichen' Bedeutung, die es dingfest zu machen gelte, unterscheidet. Ebenso wird es nicht reichen, auf die zahlreichen Quellen hinzuweisen, die in den Text hinein verflochten sind. Jörg Salaquarda hat im Hinblick auf die biblischen Allusionen im Zarathustra geltend gemacht, daß die Bibel-Zitate in aller Regel verfremdet werden und somit einen neuen Sinn konstituieren. Quellenforschung allein sei noch keine Interpretation, sondern nicht mehr und nicht weniger als eine wichtige „Voraussetzung aller weiteren Beschäftigung mit den Texten Nietzsches".9 „Der Sinn des Textes liegt nicht einfach als Inhalt vor, sondern konstituiert sich allererst im Widerspiel von intertextuellen Verweisungsstruktaren und ihren jeweils manifesten Krinach der die
5 6
8
Zittel, a. a. O., 282. Gianni Vattimo, Friedrich Nietzsche. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar 1992, 58ff. In Bezug auf Baudelaire vgl. Jean Starobinski, Melancholie im Spiegel, München/Wien 1992, 7ff. Zittel, a. a. O., 283. Jörg Salaquarda, „Friedrich Nietzsche und die Bibel unter besonderer Berücksichtigung von ,Also sprach Zarathustra'", in: Nietzscheforschung 11 2000, 332. Kritik an einer Quellenforschung, wenn auch ohne Intertextualitätsansinnen, schon bei Heidegger: „Denn was soll uns dies helfen, wenn man über einen Gedanken feststellt, daß er sich z. B. ,schon' bei Leibniz oder sogar ,schon' bei Piaton finde? Was soll diese Angabe, wenn sie das von Leibniz und von Piaton Gedachte in der selben Dunkelheit liegen läßt wie den Gedanken, den man durch solche historische Verweisungen für geklärt hält?" (Martin Heidegger, „Wer ist Nietzsches Zarathustra?", in: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1954, 126).
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stallisationen. Die Interpretation des im Sinne Nietzsches ,idealen Lesers' wird deshalb immer das Resultat unterschiedlichster Beziehungsoperationen sein. Hier setzt die Intertextualitätstheorie an, in deren Analyse-Fokus gerade das Zusammenspiel der intertextuellen Verfahren und deren Funktion bei der Integration der verschiedenen intertextuellen Bezüge gerückt ist."10 Was eine gute Interpretation leisten sollte, ist es, Kontexte zu definieren, innerhalb derer die für sich genommen schwer zugänglichen Metaphern einen Sinn ergeben.
Euphorion Um ein Beispiel für das genannte „Widerspiel der intertextuellen Verweisungsstrukturen" zu geben, werde ich zunächst im Zeitraffer den Weg der Genese der Metaphorik der Melancholie im Zarathustra nachgehen und beginne mit dem NovellenFragment Euphorion (1862). In einem Brief vom 28. Juli 1862 kündigt es „FwvNietzky homme étudié en lettres" dem Freund und Mitschüler Raimund Granier als „schwarze Herzensergüsse in Tintensaft" an. Es handelt sich um eine Nietzschesche Studierzimmer-Szene, ausgezeichnet mit lange tradierten Insignien der Melancholie: „In meiner Stube ist es todtenstill meine Feder kratzt nur auf dem Papier denn ich liebe es schreibend zu denken, da die Maschine noch nicht erfunden ist unsre Gedanken auf irgend einem Stoffe, unausgesprochen, ungeschrieben, abzuprägen. Vor mir ein Tintenfaß, um mein schwarzes Herz drin zu ersäufen, eine Scheere um mich an das Halsabschneiden zu gewöhnen, Manuscripte, um mich zu wischen und -
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ein Nachttopf' (BAW 2, 71). Einsamkeit und Totenstille, das dürre Kratzen der Feder, ein Tintenfaß und der Gedanke an den Selbstmord, schließlich die Verbindung von Dichterenthusiasmus und abgründiger Verzweiflung ein perfektes Tableau des Melancholikers wird hier gemalt. Als das stockende, trüb gewordene „Wasser der Hoffnung" ist die Tinte geradezu eine ,Leitmetapher' des Diskurses der Melancholie. So gehört das Tintenfaß zu den allegorischen Gegenständen, die sich unter den Instrumenten der Melencolia I Dürers finden. In einer anderen allegorischen Darstellung sondert der Oktopus mit der Tinte die Verzweiflung ab. Nietzsche bedient sich dieser Metaphorik etwa in dem Brief an Heinrich Köselitz vom 21. April 1886. Hier scheint Nietzsche anzudeuten, daß es kein Schaden sei, wenn das Manuskript zu Jenseits von Gut und Böse vom Verleger nicht akzeptiert würde, denn „es ist ein erschreckliches Buch, das dies Mal mir aus der Seele geflossen ist, sehr schwarz, beinahe Tintenfisch" (KSB 5, 461).12 Vor diesem Hintergrund ist es -
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Claus Zittel, ,„Von den Dichtern', Quellenforschung versus Intertextualitätskonzepte, dargestellt anhand eines Kapitels aus Friedrich Nietzsches ,Also sprach Zarathustra'", in: Anton Schwab, Erwin Streitfeld, Karin Kranich-Hofbauer (Hg.), Quelle Text Edition (=Beiheft zu editio), Tübin-
gen 1997, 318, Anm. 27. An Raimund Granier, 28. Juli 1862, KSB 1,216. „Par l'alchimie de la mélancolie, l'eau d'espoir, en perdant sa translucidité, est devenue ancre d'estudie. L'analogie sera formulée encore plus d'une fois. Sans parler de l'encrier qui figure parmi les instruments dispersés de la Melencolia I de Dürer, signalons que Campanella, parlant des mé-
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wohl auch zu verstehen, wenn Zarathustra, der „Fürsprecher des Lebens", feststellt, seine Rede sei „allen Tinten-Fischen" fremd (KSA, ZA, 4, 241). Nun spielt Nietzsches Titel direkt auf die Euphorion-Figur im Faust II an. Euphorion ist eine Allegorie des Genius. Nach Goethes Quelle, Hederichs Gründlichem Mythologischen Lexikon, ist Euphorion „ein Sohn des Achilles und der Helena, welcher in den glücklichen Inseln von ihnen erzeuget, und mit Flügeln geboren wurde"13. Im Faust II ist Euphorion der Sohn von Faust und Helena. In seinem kurzen, unbändigen Auftritt bezahlt Euphorion die Mißachtung des von Faust und Helena ausgesprochenen Rats zum Maßhalten mit dem Absturz in das „düstere Reich" (9905f.) der Depression. Dabei verknüpft Goethe die Euphorion-Figur mit einer anderen antiken Mythologie: „Ikarus, Ikarus", ruft der Chor Euphorion nach (9901). Den „Lichtschweif', den das Haupt des IkarusEuphorion umgibt, deutet Phorkyas die Maske Mephistos in der Helena-Szene wohl zutreffend als „Flamme übermächtiger Geisteskraft" (9624). Die Figur ist bereits sehr früh als Allegorie des modernen Dichters, genauer als Personifikation von Goethes Kritik an Byron verstanden worden.14 Byron, Nietzsches Lieblingsdichter, von dem Goethe sagt, er sei „an seiner Zügellosigkeit zu Gmnde Konstitativ für die Handlung der Euphorion-Szene im Faust II ist offenbar das berühmte pseudo-aristotelische Problem XXX, 1. Dieses setzt mit der Frage ein, wamm „alle hervorragenden Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler, offenbar Melancholiker gewesen" seien, und knüpft somit von Anfang an kategorisch Genialität an die melancholische Veranlagung. Symptome der schwarzen Galle können dabei nicht nur „Schlagflüsse, Lähmungen, Depressionen oder Angstzustände" sein, ebenso bewirke sie „übermäßig erwärmt" „übersteigerte Hochgefühle und Sangesfreude, Ekstasen, Aufbrechen von Wunden" etc. Ebenso sei eine Überhitzung der schwarzen Galle für „krankhafte [...] Anfalle [...] der Raserei und der Verzückung", für „die Sibyllen, die Wahrsager und -
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gegangen".15
faits de l'atrabile, l'appelle quell' inchiostro. Et Quevedo, évoquant sa malchance, joue sur la même image : Les astres me laissèrent une telle infortune qu'elle pourrait servir d'encre tant elles est noire. Dans le bestiaire légendaire, la seiche sécrète l'encre et le désespoir, confondus en une même noirceur: Nietzsche, de son propre aveu, y a trempé la plume pour écriver Par delà le Bien et le Mat". Jean Starobinski, „L'encre de ta mélancolie", 422. Benjamin Hederich, Gründliches Mythologisches Lexikon, Reprografischer Nachdruck des Originals aus dem Jahre 1770, Darmstadt 1967, Sp. 1222. Hier zitiert nach: Katharina Mommsen, „Etymologisches zu Goethes Euphorion", in: Euphorion 1994, 74. Mommsen geht es freilich darum, mit dem Gemeinplatz der Interpretation Euphorions als Allegorie des Dichters aufzuräumen. Ihre Interpretation verstrickt sich insofern in Widersprüche, als sie einerseits die Deutung der Figur Euphorions als Allegorie stützt, andererseits im Sinne der Quellenforschung eine reale Person aus Goethes Umfeld als Hintergrund für die Figur anbietet: Carl August. Hierzu muß sie dann die Byron-Anspielung als eine erst in der letzten Bearbeitungsstufe hinzugefügte Zutat der EuphorionSzene wieder herunterspielen. So zum Beispiel F. Th. Vischer in seiner Faust-Parodie Faust. III. Teil. Offenbar erschien schon Vischer die Anspielung auf Byron ein wenig allzu offensichtlich, um nicht zu sagen penetrant. Vgl. Goethes Gespräche, hg. von Woldemar Freiherr von Biedermann, Leipzig 1889-1896, Bd. 5, 145. ...
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alle Gottbegeisterten" verantwortlich. Friedrich Kittler hat das Euphorion-Fragment mit Recht auf die Studierzimmer-Szene im Faust bezogen. Er weist darauf hin, daß bei Nietzsche die Metapher des Organischen von der Maschinen-Metapher ersetzt wird. Kittler unterschlägt dabei, daß es eben der Melancholiker ist, der die Dinge aus der Perspektive des Todes betrachtet. Für den Melancholiker Euphorion ist die Geschichte zum „alten abgeleierten Weltmechanismus" (BAW 2, 70) geworden, für den Melancholiker das „lyrische Ich" zur „Klapper an der Tretmühle" (BAW 2, 70) des Lebens degeneriert. Nun steht der Ikarus-Mythos für den Traum vom Fliegen. Er steht für das Scheitern des Menschen bei dem Versuch, über sich hinauszuwachsen. Wie steht es mit der in Nietzsches Zarathustra so' dominanten Flug- und Höhenmetaphorik, wie wir sie in der Euphorion-Szene des Faust II beobachtet haben? In Nietzsches Novellen-Fragment fehlt sie; der junge Nietzsche zeigt Ikarus nach dem Fall, er verleiht der „einsamen Stimme" aus dem „düstern Reich" Worte. In seinem Aufsatz Nietzsches Apotheose der Einsamkeit hat Eberhard Lämmert gezeigt, daß die Metaphorik der Einsamkeit, des Fliegens und der Höhe beim erwachsenen' Nietzsche erscheint, wenn ein besonderes Erkenntnis-Pathos erzeugt werden soll.1 Ich nenne drei Beispiele: Unter der Überschrift „Wir Luft-Schifffahrer des Geistes!" erscheint sie in der Morgenröthe, um das Glück eines „offenen Erkenntnishorizonts" nach dem Ereignis Gott ist tot zu illustrieren (KSA, M, 3, 331). Ähnlich beschreibt Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft unter dem Titel „Was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat" das Ereignis Gott ist tot als „Licht, Glück, Erleichterung, Erheiterung, Ermuthigung, Morgenröthe" für den Philosophen, genauer für den Typus des freien Geistes: „unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ,offnes Meer'" (KSA, FW, 3, 574). In diesen Kontext gehört schließlich die Metapher vom Sturmvogel Albatros aus den Idyllen aus Messina, die als ein Bild der Sehnsucht des freien Geistes nach neuen Ufern der Erkenntnis gelesen werden kann:
„Vogel Albatross. O Wunder! Fliegt er noch? Er steigt empor und seine Flügel ruhn! Was hebt und trägt ihn doch? Was ist ihm Ziel und Zug und Zügel nun? Er flog zu höchst nun hebt Der Himmel selbst den siegreich Fliegenden: Nun ruht er still und schwebt, Den Sieg vergessend und den Siegenden. -
Gleich Stern und Ewigkeit Lebt er in Höhn jetzt, die das Leben flieht, Mitleidig selbst dem Neid -: Und hoch flog, wer ihn auch nur schweben sieht!
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Passagen aus dem Problem XXX, 1 zitiert nach Raymond Klibansky, Erwin Panofski und Fritz Saxl, Saturn und Melancholie, Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Frankfurt/M. 1992, 59ff. Vgl. Eberhard Lämmert, „Nietzsches Apotheose der Einsamkeit", in: Nietzsche-Studien 16/1987, 47ff. Alle
Allen
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O Vogel Albatross! Zur Höhe treibt's mit ew'gem Triebe mich! Ich dachte dein: da floss Mir Thrän' um Thräne -ja, ich liebe dich!"18
Es scheint mir
naheliegend, daß es sich bei der Albatros-Metapher um eine bewußte Konstrastbildung, eine „Analogie-Kontrafaktar" (Zittel) zur Konstellation IkarusEuphorion handelt. Doch damit nicht genug: Die Albatros-Metapher evoziert ja zunächst die Assoziation des gleichnamigen Gedichts aus Les Fleurs du Mal. Wie anders als in Nietzsches Vogel Albatross nimmt sich die Albatros-Metapher beim Pessimisten Baudelaire aus: Der Albatros dient hier den gelangweilten Seeleuten zum Zeitvertreib. Als „indolenter Reisegefährte", wie es in Baudelaires Versen heißt, folgt er dem Schiff, wie es auf „bitteren Abgründen" seine Bahn zieht. Eingefangen von den Seeleuten, als ,Fußgänger' im menschlich-allzumenschlichen Alltag, ist es um die Majestät des „Fürsten der Wolken" geschehen: „Le Poète est semblable au prince des nuées
Qui hante la tempête et se rit de l'archer;
Exilé sur le sol au milieu des huées, Ses ailes de géant l'empêchent de marcher."19
Im Unterschied zu den Seeleuten auf ihrem Schiff sieht er die „bitteren Abgründe", über die das Schiff die ahnungslos-gleichgültigen Seeleute ruhig hinwegträgt. Die Schiffs-Metapher an dieser Stelle erinnert an Schopenhauer, der in der Welt als Wille und Vorstellung das principium individuationis einem Kahn vergleicht, in dem das Subjekt sicher durch ein „Meer von Quaalen" steuert.20 Nietzsche greift die Metapher in der Geburt der Tragödie auf, um seinen Begriff des Apollinischen zu illustrieren.21 Im Zarathustra erscheint diese Metaphorik im Kapitel Der Nothschrei, in dem Zarathustra im „Wahrsager" auf einen seiner vielen Versucher und Widersacher trifft. Dieser „Wahrsager der grossen Müdigkeit" (KSA, ZA, 4, 301) tat alles, um Zarathustra zu entmutigen:
„,Die Wellen um deinen Berg, antwortete der Wahrsager, steigen und steigen, die Wellen grosser Noth und Trübsal: die werden bald auch deinen Nachen heben und dich davon tragen.' Zarathustra schwieg hierauf und wunderte sich. ,Hörst du noch Nichts? fuhr der Wahrsager -
fort: rauscht und braust es nicht herauf aus der Tiefe?' Zarathustra schwieg abermals und horchte: da hörte er einen langen, langen Schrei, welchen die Abgründe sich zuwarfen und weitergaben, denn keiner wollte ihn behalten: so böse klang er. ,Du schlimmer Verkündiger, sprach endlich Zarathustra, das ist ein Nothschrei und der Schrei eines Menschen, der mag wohl aus einem schwarzen Meere kommen. Aber was geht mich Menschen-Noth an! Meine letzte Sünde, die mir aufgespart blieb, weisst du wohl, wie sie heisst?' ,MitleidenT antwor-
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KSA, IM, 3,341. „Der Dichter gleicht dem Fürsten der Wolken, der mit dem Sturm Gemeinschaft hat und des Bogenschützen spottet; auf den Boden verbannt, von Hohngeschrei umgeben, hindern die Riesenflügel seinen Gang." Charles Baudelaire, Sämtliche Werke, Bd. 8, München 1975, 64f. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1, Zürich 1988, 457. Vgl. KSA, GT, 1, 28. Eine der vielen Variationen des Themas findet sich in Ueber Wahrheit und Lüge, wo der bewußte Mensch dem Träumenden verglichen wird: „auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend" (KSA, WL, 1, 877).
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der
Wahrsager aus einem überströmenden Herzen und hob beide Hände empor
,o Zara-
thustra, ich komme, dass ich dich zu deiner letzten Sünde verführe!'-" (KSA, ZA, 4, 301). Die Reaktion Zarathustras auf die pessimistische Rede des Wahrsagers ist charakteristisch für die anti-pessimistische Tendenz des Buches: -
„Also seufzte der Wahrsager; bei seinem letzten Seufzer aber wurde Zarathustra wieder hell und sicher, gleich Einem, der aus einem tiefen Schlünde an's Licht kommt. ,Nein! Nein! Dreimal nein!' rief er mit starker Stimme und strich sich den Bart ,Das weiß ich besser! Es giebt noch glückselige Inseln! Stille davon, du seufzender Trauersack! Höre davon auf zu plätschern, du Regenwolke am Vormittag! Stehe ich denn nicht schon da, nass von deiner Trübsal und begossen wie ein Hund? Nun schüttle ich mich und laufe dir davon, dass ich wieder trokken werde: dess darfst du nicht Wunder haben!" (KSA, ZA, 4, 302f.) -
Bei der Genese der anti-pessimistischen Bildwelt des Zarathustra orientiert sich Nietzsche also offensichtlich an sehr konkreten Vorbildern: Goethes Euphorion geht zugrunde, die Stimme von Nietzsches Euphorion tönt aus dem Abgrund, Baudelaires Gedicht assoziiert mit dem Albatros den Gedanken an den hinkenden, lebensunfähigen GeistesDie Vogelmetapher steht dagegen sowohl in Nietzsches Vogel Albatross wie im Zarathustra für eine Überwindung der Schwermut: „Und zumal, dass ich dem Geist der Schwere feind bin, das ist Vogel-Art: und wahrlich, todfeind, erzfeind, urfeind! Oh wohin flog und verflog sich nicht schon meine Feindschaft!" (KSA, ZA, 4, 241).
krüppel.22
Rache, Gift und Galle Bekanntlich beginnt die Zarathustra-Hand\ung2:> in der selbstgewählten Höhen-Einsamkeit des Gebirges: „Als Zarathustra dreissig Jahre alt war, verliess er seine Heimat und den See seiner Heimat und gieng in das Gebirge. Hier genoss er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde" (KSA, ZA, 4, 11).24 Er entscheidet sich schließlich, sich In einem ähnlichen Sinne spricht vom „Invaliden des Apoll" übrigens schon Johann Georg HaLeitmotivisch findet sich bei Hamann die Reihe: „Wolken, Nebel, vapeurs, Hypochondrie". Vgl. Hans-Jürgen Schings, „Melancholie und Aufklärung, Melancholiker und ihre Kritiker", in: Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977, 285ff. Vgl. hierzu Beatrix Himmelmann, „Zarathustras Weg", in: Volker Gerhardt (Hg.): Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Berlin 2000, 17-46. Einig seien sich Plato und Aristoteles, Descartes und Spinoza in der Erkenntnis als höchstem Glück gewesen: „wie müssen sie Alle die Erkenntnis genossen haben", schreibt Nietzsche in M 550 (KSA 3, 321). Angesichts der angeführten Verweise auf Spinoza in Menschliches Allzumenschliches und in der Morgenröthe erscheint Nietzsches Bekenntnis zur „Entdeckung" eines „Vorgängers", wie sie auf der Postkarte an Franz Overbeck vom 30. Juli 1881 offenbar nach Lektüre des SpinozaBandes Kuno Fischers dokumentiert ist, überraschend: „Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! Ich habe einen Vorgänger und was für einen!" etc. (s. KSB 6, 111). Auffällig ist allerdings die zeitliche Koinzidenz dieses Bekenntnisses mit einer ersten Skizze des Konzepts zur „Wiederkunft des Gleichen", die datiert ist „Anfang August 1881" (KSA, NF; 9, 494; 11 [141]). Über Nietzsche und Spinoza informieren Yirmiyahu Yovel, „Spinoza und Nietzsche. Amor dei und Amor fati", in: Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz. Göttingen 1994, 384-420; Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/New York 1998, S. 49-59; sowie Reimann.
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wieder zu den Menschen zu begeben, um diesen vom Licht' seiner solchermaßen gewonnenen Weisheit abzugeben. Auf seinem Wege trifft er auf seinen ersten Versucher', den Heiligen. Wie Rede und Gegenrede zeigen, sind Zarathustra und der Heilige als konträre Figuren ,
,
konzipiert: „Wie im Meere lebtest du in der Einsamkeit, und das Meer trug dich. Wehe, du willst an's Land steigen? Wehe, du willst deinen Leib wieder selber schleppen? Zarathustra antwortete: ,Ich liebe die Menschen.' Warum, sagte der Heilige, gieng ich doch in den Wald und die Einöde? war es nicht, weil ich die Menschen allzu sehr liebte? Jetzt liebe ich Gott: die Menschen liebe ich nicht. Der Mensch ist mir eine de mich umbringen (KSA, ZA, 4, 12f).
zu
unvollkommene Sache. Liebe
zum
Menschen wür-
Als Misanthrop rät er Zarathustra davon ab, die Distanz zu den Menschen aufzugeben: Die Menschen liebe er nicht, sagt der Greis, den wir, einem Aphorismus der Morgenröthe folgend, zu den „religiösen [...] Anschwärzem des Daseins" zählen dürfen. Der Heilige repräsentiert offensichtlich den Typus des Anachoreten, der wiederum als eine religiöse Spielart des Melancholikers gelten kann, denn: Einsamkeit fordert Melancholie, und der Melancholiker flüchtet sich in die Einsamkeit. Niemand hat sich nun mit diesem Thema gründlicher auseinandergesetzt als Johann Georg Zimmermann in seinem vierbändigen Werk Ueber die Einsamkeit (1784/85). Wie Hans-Jürgen Schings gezeigt hat, ist für Zimmermann der Zusammenhang von Einsamkeit und Melancholie so selbstverständlich, daß das eigentliche Thema über weite Strecken von dem Komplex aus Melancholie, Hypochondrie und religiöser Schwärmerei verdrängt wird. Inbegriff des Melancholikers ist für Zimmermann der Anachoret in seiner Wüsteneinsamkeit. Mönchische Einsiedelei, „Hartsinn"27 und „schwarzgallichte Wuth" haben die „wilden und blutigen Auftritte veranlasset, welche die christliche Kirchengeschichte zu einer so abscheulichen Geschichte machen, und die so hoch gepriesenen Friedenscellen in den Wüsten des Orients zu einer Herberge des Teufels [...]. Melankolie, Misanthropie, und Grausamkeit vereinigten sich in den Herzen der orientalischen Mönche, und sind nur zu oft die Lieblingsneigung aller Mönche." Nietzsche beerbt den Aufklärer Zimmermann in der melancholiekritischen Ten-
Wiehl, „Nietzsches Anti-Platonismus und Spinoza", in: Zeitwelten: Philosophisches Denken an den Rändern von Natur und Geschichte, Frankfurt/M. 1998, 129-149. In diesem Aphorismus nämlich heißt es: „Die schwachen Charaktere [...] lieben die herben Urtheile, sie gesellen sich zu den Helden der Menschenverachtung, zu den religiösen oder philosophischen Anschwärzern des Daseins oder ziehen sich hinter strenge Sitten und peinliche .Lebensberufe' zurück: so suchen sie sich einen Charakter und eine Art Stärke zu schaffen." (KSA, M, 3, 200). Vgl. Hans-Jürgen Schings, Melancholie und Aufklärung, 218. Vgl. Nietzsches Esel-Metapher im Zarathustra: „Hart-nackig" ist der Esel, der Philosoph der Überzeugung, so im Kapitel Von den berühmten Weisen (KSA 4, 132). Eine überzeugende Interpretation der Esel-Metapher findet sich bei Jörg Salaquarda: „Zarathustra und der Esel. Eine Untersuchung der Rolle des Esel im Vierten Teil von Nietzsches ,Also sprach Zarathustra'". In: Theologia Viatorum Xl/1966/1972, 181-213; sowie bei Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, Hamburg ner
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1991, 192ff. Johann Georg Zimmermann, Ueber die Einsamkeit, Carlsruhe 1784L, II 338.
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denz, die mönchische „Melancholie" und „Misanthropie"
zum Symptom eines religiöFanatismus der Buße bis hin zum Selbstmord erklärt. Was aber unterscheidet nun Zarathustras Einsamkeit von der des Asketen? Im Unterschied zum christlichen Einsiedler hat sich Nietzsches Protagonist den ,JVicht entsagen!" überschriebenen Gedanken der Morgenröthe zu eigen gemacht, in dem die Einsamkeit des Erkennenden im Gegensatz zur mönchischen Einsamkeit zu einem Grund der Heiterkeit erklärt wird: „Auf die Welt verzichten, ohne sie zu kennen, gleich einer Nonne, das gibt eine unfruchtbare, vielleicht schwermüthige Einsamkeit. Dies hat nichts gemein mit der Einsamkeit der vita contemplativa des Denkers: wenn er sie wählt, will er keineswegs entsagen; vielmehr wäre es ihm Entsagung, Schwermuth, Untergang seiner selbst, in der vita practica ausharren zu müssen: auf diese verzichtet er, weil er sie kennt, weil er sich kennt. So springt er in sein Wasser, so gewinnt er seine Heiterkeit" (KSA, M, 3, 269). Der Heilige rät Zarathustra zur Demut: „Gieb ihnen Nichts, sagte der Heilige. Nimm ihnen lieber Etwas ab und trage es mit ihnen" (KSA, ZA, 4, 13). Unübersehbar Nietzsches Anspielung auf einschlägige Bibelstellen: ,Jiiner trage des anderen Last"30 (Galater 6, 2): ,Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid'' (Matthäus 11, 28). Aber Nietzsches Parodie des Heiligen erschöpft sich nicht in der Kritik am christlichen Demutsideal. Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist ein Blick auf die Charakterisierung der Demut in Spinozas Ethik. Spinoza zählt die Demut zu den ,negativen' Affekten der Trauer, die der angestrebten acquiescentia in se ipso, dem Ruhen in sich selbst, entgegenstehen: „Haec tristitia concomitante idea nostrae imbecillitatis humilitas appellatar; laetitia autem, quae ex contemplatione nostri oritar, philautia vel acquiescentia in se ipso vocatur." Und weiter: „Humilitas est tristitia orta ex eo, quod homo suam impotentiam sive imbecillitatem contemplatur. Die ,Trauer' in Anbetracht der Schwäche des Menschen läßt den Heiligen, den ersten ,Widersacher' und ,Versucher' Zarathustras, in einer Gemeinschaft mit den Tieren leben, denn der „Mensch ist mir eine zu unvollkommene Sache": „Gehe nicht zu den sen
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Die durch Einsamkeit beförderte hypochondrisch-verwirrte Einbildungskraft wirkt wie ein vergrößerndes Brennglas auf den religiösen Eifer, der im Suizid münden kann. Für diesen Aspekt bei Zimmermann interessiert sich auch Schopenhauer: „Die Dogmen, welche die Vernunft eines solchen Büßenden erfüllen, spiegeln ihm dabei den Wahn vor, es habe ein Wesen höherer Art ihm das Fasten, zu dem der innere Hang ihn treibt, anbefohlen. Aeltere Beispiele hievon kann man finden in der ,Breslauer Sammlung von Natur- und Medicin-Geschichten', September 1799 [...], in Bayle's .Nouvelles de la république des lettres' [...]; in Zimmermann, ,Ueber die Einsamkeit'". WW I, 515f. Stuttgarter Erklärungsbibel, Die Heilige Schrift nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1992, 1503.
Stuttgarter Erklärungsbibel, a. a. O., 1187. Baruch de Spinoza, Ethica ordine geométrico demónstrala, Hamburg 1999; Pars Tertia, Prop. LV, Scholium, 318f. „Diese von der Idee unserer eigenen Schwäche begleitete Trauer wird Demut genannt, während die der Betrachtung unserer selbst entspringende Freude Eigenliebe oder Selbstzufriedenheit heißt."
Spinoza, Ethica, Pars Tertia, Def. XXVI (352f). „Demut ist eine Trauer, die dem entsprungen daß ein Mensch seine eigene Ohnmacht oder Schwäche betrachtet."
ist,
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Menschen und bleibe im Walde! Gehe lieber noch zu den Thieren! Wamm willst du nicht sein, wie ich, ein Bär unter Bären, ein Vogel unter Vögeln?" (KSA, ZA, 4, 13). Die Bären-Metapher setzt den Heiligen noch einmal in Widerspmch zu Zarathustra, dessen Metapher in der Parabel Von den drei Verwandlungen bekanntlich der Löwe ist. Bär und Löwe eben diese Konstellation findet sich bereits 1866 in einem Brief Nietzsches an Paul Deussen, in dem er diesen ultimativ auffordert, ,,[s]ein theologisches Bärenfell abzustreifen und [sjich als jungen philologischen Löwen zu gebärden". 4 Auch der Wahrsager in Der Nothschrei wird von Zarathustra übrigens „Alter Bär!" -
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(KSA, ZA, 4, 303) gemfen. Eine weitere, eher philosophische Begründung des Rückzugs des Heiligen zu den Tieren findet sich wiederum in Spinozas Ethik. Im Von menschlicher Knechtschaft
überschriebenen vierten Teil dieses Buches findet sich eine
Charakterisierung des reli-
giösen Schwärmers, die der Erklärung der Misanthropie des religiösen Typus ein für Nietzsche sehr wichtiges Stichwort hinzufügt: „At qui contra homines carpere et vitia potius exprobrare quam virtates docere et hominum ánimos non fuñare, sed frangere nomnt, ii et sibi et reliquis molesti sunt; unde multi prae nimia scilicet animi impatientia falsoque religionis studio inter bruta potius quam inter homines vivere maluerunt; [...] quidvis oneris sibi imponi patiuntar, dummodo [...] ulciscantar."35 In einer knappen Skizze der Genealogie der moralischen Wertarteile hat Nietzsche schon in der Fröhlichen Wissenschaft die Genese der Moral mit dem Affekt der Rache verknüpft. „Die Rache am Geist und andere Hintergründe der Moral" ist ein Aphorismus überschrieben, der schwarzgallige Langeweile, Überdruß und Selbstverachtang als Antrieb zur „Rache am Geist" erklärt: ,,[E]in solcher durch und durch vergifteter Mensch denn Geist wird Gift, Bildung wird Gift, Besitz wird Gift, Einsamkeit wird Gift bei dergestalt Missrathenen geräth schliesslich in einen habituellen Zustand der Rache, des Willens zur Rache" (KSA, FW, 3, 606). -
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Der Begriff der Rache ist eng verknüpft mit Nietzsches Theorie der Genealogie der Moral und mit dem Begriff des Ressentiments. Er erscheint im Zarathustra immer wieder. So in den Kapiteln Vom bleichen Verbrecher, Von den Fliegen des Marktes, Vom Biss der Natter, Von den Tugendhaften, Von den Taranteln, Das Nachtlied, Vom Vorübergehen, Ausser Dienst, Der hässlichste Mensch und Von der Wissenschaft. In der Tarantel-Metapher nun wird der ,Wille zur Rache' mit der Schwärze der Melancholie legiert:
„Da kommt sie willig: willkommen, Tarantel! Schwarz sitzt auf deinem Rücken dein Dreieck und Wahrzeichen; und ich weiss auch, was in deiner Seele sitzt. Rache sitzt in deiner Seele: wohin du beissest, da wächst schwarzer Schorf; mit Rache macht dein Gift die Seele drehend!"
(KSA, ZA, 4, 128).
An Paul
Deussen, September 1866, KSB 2, 161. Spinoza, Ethica, Pars Quarta, Caput XIII, 513. „Leute [...] die sich darauf verstehen, Menschen zu bekritteln und eher Laster anzuprangern als Tugenden zu lehren, also Menschen in ihrem Gemüt zu brechen statt zu stärken, sind sich selbst wie anderen lästig. Das ist es, weshalb viele, aus zu großer Ungeduld und aus falschem religiösen Eifer, lieber unter Tieren als unter Menschen haben leben wollen. [...] [A]Ile Arten von Beschwerlichkeit lassen sie sich auferlegen, nur um Rache [...] zu nehmen."
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Welche Bedeutung die Rache für Also sprach Zarathustra hat, wird auch deutlich daraus, daß er nach dem Geist der Schwere auch noch den Geist der Rache einführt. Dies geschieht im Kapitel Von der Erlösung: „Und so wälzt er [der Wille, H.-G. v. S.] Steine aus Ingrimm und Unmuth und übt Rache an dem, was nicht gleich ihm Grimm und Unmuth fühlt. Also wurde der Wille, der Befreier, ein Wehethäter: und an Allem was leiden kann, nimmt er Rache dafür, dass er nicht zurück kann.
Diess, ja diess allein ist Rache selber: Des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ,Es war.'
Wahrlich, eine grosse Narrheit wohnt ihn unserm Willen; und zum Fluche wurde es allem Menschlichen, dass diese Narrheit Geist lernte! Der Geist der Rache: meine Freunde, das war bisher der Menschen bestes Nachdenken; und wo Leid war, da sollte immer Strafe sein." (KSA, ZA, 4, 180). In der Wendung „des Willens Widerwille" erkennen wir den Gedanken der „Selbstaufhebung des Willens"36, wie er von Schopenhauer im Vierten Buch der Welt als Wille und Vorstellung als Erlösung vom Leiden der Individuation gelehrt wird. Von der Erlö-
sung ist Zarathustras Abrechnung mit diesem Schopenhauerschen Konzept der Erlösung als des sich gegen sich selbst kehrenden Willens. Nietzsches Metapher für diese Denk-
figur ist die des Skorpions, so bereits in der Vorrede der Morgenröthe. Die Moral wisse ,begeistern', um jeden Gedanken an eine Kritik der Moral schweigen zu machen: „Es gelingt ihr, oft mit einem einzigen Blicke, den kritischen Willen zu lähmen, sogar zu sich hinüberzulocken, ja es giebt Fälle, wo sie ihn gegen sich selbst zu kehren weiss: so dass er sich dann, gleich dem Skorpione, den Stachel in den eignen Leib sticht." (KSA, M, 3,13). Anknüpfend an das Problem XXX, 1 hatte die aufklärerische Schwärmerkritik Begeisterung, Enthusiasmus, religiösen Eifer zu Symptomen der ,Milzsucht' gemacht.37 Nietzsche radikalisiert diese aufklärerische Kritik am religiösen Schwärmer, indem er sie auf das gesamte Gebiet der Moral überhaupt ausdehnt. So erklärt sich Nietzsches Schwärmer-Verdikt, das in der Vorrede zur Morgenröthe in gleichem Maße Kant wie Rousseau die „Moral-Tarantel" trifft. Ich zitiere noch einmal aus dem Kapitel Von den Taranteln, wo es über die „Prediger der Gleichheit" heißt: zu
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„Den Begeisterten gleichen sie: aber nicht das Herz ist es, was sie begeistert, sondern die Rache. Und wenn sie fein und kalt werden, ist's nicht der Geist, sondern der Neid, der sie fein -
und kalt macht. Ihre Eifersucht führt sie auch auf der Denker Pfade; und diess ist das Merkmal ihrer Eifersucht immer gehn sie zu weit: dass ihre Müdigkeit sich zuletzt noch auf Schnee schlafen legen muss."39 -
Eifersucht, Neid, Rache eine Reihe negativer Affekte, im wahrsten Sinne Leidenschaften, insofern sie die Souveränität des Subjekts unterminieren. Nach Spinoza stehen -
WWI, Zürich 1991,520.
Vgl. hierzu: Hans-Jürgen Schings, Melancholie und Aufklärung, 143ff. Sowie in jüngster Zeit Jörg Paulus, Der Enthusiast und sein Schatten. Literarische Schwärmer- und Philisterkritik um -
1800. Berlin/New York 1998. KSA, M, 2, 14. KSA, ZA, 4, 129. Meine Kursivierung.
sie der Ausgeglichenheit des Gemüts entgegen und sind Affekte, die den Menschen schwächen: Spinoza definiert die Eifersucht als mit „Neid verbundene[n] Haß auf ein geliebtes Ding" und somit „als eine aus Liebe und Haß zugleich entsprungene Schwankung des Gemüts"40. Neid definiert seine Ethik als Haß bzw. als eine Form der Trauer, mithin als „eine Affektion, von der die Wirkungsmacht oder das Streben eines Menschen gehemmt wird".41 In ähnlichem Sinne spricht Zarathustra im Kapitel Von den Freuden- und Leidenschaften vom Menschen als einem „Schlachtfeld von Tugenden":
„Eifersüchtig ist jede Tugend auf die andre, und ein furchtbares Ding ist die Eifersucht. Auch Tugenden können an der Eifersucht zu Grunde gehen. Wen die Flamme Eifersucht umringt, der wendet zuletzt, gleich dem Scorpione, gegen sich selber den vergifteten Stachel" (KSA, ZA, 4, 43). Der Ausweg aus dieser Situation liegt offenbar in der Befreiung von den negativen Affekten: „Mitleidig selbst dem Neid" ist der „Vogel Albatros", in Zarathustra 's Vorrede betrachtet das „ruhige Auge" der Sonne „ohne Neid" „auch ein allzugrosses Glück" (KSA, ZA, 4, 12)!
Phantasie der Angst Im zentralen Kapitel Vom Gesicht und Räthsel hat sich die Versuchung durch den Geist der Schwere in einen Zwerg verwandelt, der auf Zarathustras Rücken sitzt und ihm den Pessimismus in der Gestalt von Bleitropfen ins Ohr träufelt. Der „abgründliche Gedanke" der ewigen Wiederkunft ist es, an dem Zarathustra in dieser Episode schwer zu tragen hat. In dem Moment, als sich Zarathustra darauf besinnt, daß er im Unterschied in der Lage ist, den Gedanken der ewigen Wiederkunft zu ertragen, springt zum Zwerg der Zwerg von seiner Schulter. Jörg Salaquarda hat in diesem Zusammenhang auf eine Metapher Schopenhauers hingewiesen, nach dem der „starke Blinde (Wille)" den „lahmen Sehenden (Intellekt)" Im Rahmen der von mir gewählten Perspektive auf den Text möchte ich hier aber den Aphorismus „Phantasie der Angst" aus Menschliches Allzumenschliches als ,Quelle' für dieses Bild anführen, mit dem sich der Zwerg als eine weitere Metapher der Melancholie deuten läßt: „Die Phantasie der Angst ist jener böse äffische Kobold, der dem Menschen gerade dann noch auf den Rücken springt, wenn er schon am schwersten zu tragen hat" (KSA, MA I, 2, 327). -
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trägt.42
Spinoza, Ethica, Pars Tertia, Prop. XXXV, Scholium, 284f. „Hoc odium erga rem amatam invidiae junctum zelotypia vocatur, quae proinde nihil aliud est quam animi fluctuado orta ex amore et odio simul concomitante idea alterius, cui invidetur." Ebd., Prop. LV, Demonstratio, 320f. „Invidia est ipsum odium [...] sive [...] tristitia, hoc est [...] affectio, qua hominis agendi potentia seu conatus coercetur." Das mag in dieser Szene auch gemeint sein und würde sich in eine alternative Deutungsperspektive als die von mir anvisierte einpassen. Vgl. Jörg Salaquarda: „Die Grundconception des Zarathustra", in: David Marc Hoffmann (Hg.): Nietzsche und die Schweiz, Zürich 1994, 85-94.
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Melancholie und Heiterkeit Nietzsches ästhetisches Kalkül in Also sprach Zarathustra läßt ihn die Metaphorik der Melancholie überall da verwenden, wo es um die Knechtschaft des Menschen unter der Herrschaft negativer (seil, „reaktiver") Affekte wie Neid, Eifersucht, Haß und den ihnen verwandten Phänomenen der Trauer, Müdigkeit etc. geht. An Spinoza anknüpfend zählt Nietzsche christliche Tugenden wie Demut, Mitleid und Hoffnung zu den melancholieverdächtigen, lebensschwächenden Affekten. Nietzsche faßt diese Affekte als Symptome des „Willens zur Rache". Der Geist, das ,Genie' des Melancholikers wurde bisher auf die Ausarbeitung metaphysischer Konzepte als „Rache am Leben" verwendet. Dies ist der Grund, warum Zarathustra den „Geist der Rache" „der Menschen bestes Nachdenken" nennt (KSA, ZA, 4, 180). Den Begriffen Pessimismus / Melancholie entspricht eine Metaphorik der Schwere, der Schwärze, des Giftes und des Abgrunds; der Heiterkeit entsprechen die Bilder der Leichtigkeit, des Tanzes, des Fliegens, die GoldMetapher usw. Die Figuren, die den Gedanken der ewigen Wiederkunft parodieren das grantige Gemurmel des Zwerges, des freiwilligen Bettlers Predigt vom „Wiederkäuen", das sture „I-A" des Esels -, bedeuten keinen Widerruf dieser ,Lehre' Zarathustras. Denn wenn es Zarathustra und seinem Autor mit einem ernst ist, dann ist dieses eine: die Heiterkeit. -
Dirk Solies
Die Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts und der Lebensbegriff des Zarathustra
Zum historischen Kontext Nietzsches
Formulierung des Lebensbegriffes vollzieht sich unter dem Eindruck einer geistesgeschichtlichen wie populären Emphase des Lebensbegriffes. Nicht erst der Darwinismus, sondern schon J. R. Mayers Mechanik der Wärme, Helmholtz' und Boltzmanns Projekt einer Reduktion aller Lebensantriebe auf chemisch-physikalische Ursachen1 evozierten eine heute nur schwer nachvollziehbare und aus den vorliegenden Ergebnissen kaum erklärbare Faszination. „Leben" wurde zum Gegenstand populärer Weltanschauungsphilosophien, die meist von Naturwissenschaftlern bzw. philosophischen Laien geschrieben eine „Weltsicht auf naturwissenschaftlicher Basis" vorlegten. Zu dieser Konjunktur des Lebensbegriffes und auch zu der immensen Wirkung, die Nietzsches Lebensbegriff selbst auf Literatur und Philosophie seit 1890 entfaltet hat, steht die heute nur noch marginale Bedeutung des Lebensbegriffs für die NietzscheForschung in bemerkenswertem Kontrast.3 -
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Vgl. Theodor Leiber, Vom mechanistischen Weltbild zur Selbstorganisation des Lebens. Helmholtz und Boltzmanns Forschungsprogramme und ihre Bedeutungfür Physik, Chemie, Biologie und Physik, Freiburg i. Br./München 2000. Gudrun Kühne-Bertram, Aus dem Leben zum Leben. Entstehung, Wesen und Bedeutung populärer Lebensphilosophien in der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts (Diss.), Frankfurt/M. u. a.
'
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1987. Dabei ist die Bedeutung des Konzepts „Leben" für die Entwicklung des Denkens Nietzsches alles andere als geklärt. Es lassen sich jedoch zwei miteinander konkurrierende Grundpositionen ausmachen. Leben wird zum einen als emphatische (auch ästhetisch relevante) „Apotheose des Werdens" verstanden (Theo Meyer, Nietzsche. Kunstauffassung und Lebensbegriff, Tübingen 1991, 120) oder als hypothetisch-instrumentaler Gegenbegriff zur traditionellen Seinsmetaphysik gedeutet (Tilman Borsche, „Leben des Begriffs nach Hegel und Nietzsches Begriff des Lebens", in: Orientierung in Zeichen, hg. v. Josef Simon, Frankfurt/M. 1997, 245-266, hier 260). Es wird im Folgenden zu zeigen sein, dass der Lebensbegriff des Zarathustra seine Ambiguität gerade durch die Interaktion dieser
zwei
Aspekte erlangt.
Dirk Solies
278
Es soll im Folgenden kein Beitrag zur rezeptionsgeschichtlichen Klärung von Nietzsches Adaption naturwissenschaftlicher Ansätze geleistet werden.4 Es wird vielmehr im folgenden ersten Teil darum gehen, anhand von Nietzsches Thematisierungen des Lebensbegriffes zu untersuchen, welcher philosophisch-argumentative Status dem Lebensbegriff im Kontext von Nietzsches Adaption naturwissenschaftlicher Thesen und Theorien bis zur Veröffentlichung des vierten Teils des Zarathustra, also bis 1885, zukommt. Anschließend soll in einem zweiten Teil geklärt werden, welchen Niederschlag diese Auseinandersetzung im Lebensbegriff des Zarathustra selbst gefunden hat.
Nietzsches Thematisierung des Lebensbegriffes im Kontext seiner Adaption naturwissenschaftlicher Erkenntnisse Seit Ende der sechziger Jahre hat sich Nietzsche primär unter dem Einfluss der LektüF. A. Langes Geschichte des Materialismus intensiv mit den Herausforderundurch die zeitgenössischen Naturwissenschaften auseinandergesetzt. Von einer gen Populäremphase des Lebensbegriffs ist Nietzsche jedoch weit entfernt. Seine Haltung den Naturwissenschaften gegenüber läßt sich vielleicht am treffendsten in folgender Nachlassnotiz von 1870/71 zusammenfassen: -
re von
-
„Der Realismus des jetzigen Lebens, die Naturwissenschaften haben eine unglaublich bildungsstürmerische Kraft; ihnen muß die Kunst entgegengebracht werden." (KSA, NF, 7, 99) Dies entspricht durchaus noch dem Programm der Geburt der Tragödie oder der Unzeitgemäßen Betrachtungen: Die Kunst als einzige Rechtfertigung des Daseins, als „einzige metaphysische Tätigkeit des Menschen", als Regulativ gegen den durch die Naturwissenschaften in Wissenschaft und Lebenswelt induzierten Realismus, gegen naive Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit. Insbesondere richtet sich die Polemik Nietzsches gegen den positivistischen Erscheinungs- und Wahrheitsbegriff der Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts, gegen den Anspruch also, mit Hilfe empirischnaturwissenschaftlicher Methoden dem Ideal einer „wahreren" Wirklichkeitserkenntais näher gekommen zu sein. Auf der anderen Seite finden sich zahlreiche zustimmende Äußerungen Nietzsches über den Fortschritt in den Naturwissenschaften überall dort, wo ihr aufklärerisches Potenzial hervorgehoben und insbesondere gegen reaktionäre des Christentums Mythologisierungen geltend gemacht wird. Die ambivalente Haltung Nietzsches gegenüber den zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Strömungen läßt sich am besten an einem Nachlassfragment von 1872/73 ablesen: „Das Historische und die Naturwissenschaften waren nöthig gegen das Mittelalter: das Wissen gegen den Glauben. Wir richten jetzt gegen das Wissen die Kunst: Rückkehr zum Leben! Bändigung des Erkenntnißtriebes! Stärkung der moralischen und ästhetischen Instinkte!" (KSA, NF, 7, 430) 4
'
Eine abschließende und zusammenhängende Interpretation von Nietzsches naturwissenschaftlicher Rezeption steht derzeit noch aus (Claus Zittel, „Art. Naturwissenschaft", in: Nietzsche-Handbuch. Leben Werk Wirkung, hg. v. Henning Ottmann, Stuttgart/Weimar 2000, 404). Jörg Salaquarda, „Nietzsche und Lange", in: Nietzsche-Studien 7/1978, 236-253. -
-
Die Naturwissenschaften und der Lebensbegriff des Zarathustra
279
Hieraus resultiert die zuweilen widersprüchlich anmutende Haltung Nietzsches zu den modernen Naturwissenschaften: Zum einen werden diese auf das Schärfste kritisiert, sobald es um den Anspmch methodischer Wahrheitserkenntnis geht; zum anderen wird aber die Entwicklung einer aufklärerischen, kritischen Instanz ausdrücklich begrüßt. Die Naturwissenschaften, ihr kritisches Potenzial wie auch ihre Degenerationsformen, bilden ein Hauptthema in Nietzsches veröffentlichten Werken, und schon im Einleitangskapitel der Geburt der Tragödie findet sich bekanntlich die Forderung, „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen, die Kunst aber unter der des Lebens" (KSA, GT, 1, 14). In Nietzsches Programm einer „Physiologie der Kunst" wird Naturwissenschaft sogar explizit zum Organon einer neuen Ästhetik verklärt: „Aesthetik hat nur Sinn als Naturwissenschaft: wie das Apollinische und das Dionysische." (KSA, NF, 7, 395) Gleichzeitig findet sich bereits in der Geburt der Tragödie die Fordemng, den „Anspmch der Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke entscheidend zu leugnen" (KSA, GT, 1, 118), und gegen Sokrates als ersten „Mystagogen der Wissenschaft" (KSA, GT, 1, 99) richtet sich die Polemik Nietzsches von der Geburt der Tragödie bis Jenseits von Gut und Böse. In diese Zeit fallen zahlreiche Versuche einer Adaption naturwissenschaftlicher (bes. biologischer und physiologischer) Erkenntnisse. Dass Nietzsche damit den naturwissenschaftlichen Vorgaben zumeist nicht oder nicht in vollem Umfang gerecht geworden ist, ist am Beispiel des Darwinismus bestens belegt. Aber nicht um eine möglichst genaue quasi philologische Wiedergabe und Interpretation ist es Nietzsche zu tan. Seine sehr selektive und zugleich hochspekulative Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen verfolgt von vornherein keineswegs das Ziel einer Auseinandersetzung im Sinne unvoreingenommener Aufnahme, Prüfung und unparteiischer Prüfung dieser Ergebnisse. Es geht von vornherein um die Verfolgung einer argumentativen Strategie, die im Folgenden als Subversion des Bewusstseinsbegriffs beschrieben werden soll. Bereits 1873 notiert Nietzsche: „Naturwissenschaft ist Sichbewußtwerden, was man alles als Erbgut besitzt, Registratur der festen und starren Empfindungsgesetze" (KSA, NF, 7, 627). Damit ist im Wesentlichen das philosophische Programm umrissen, das Nietzsche mit seiner Adaption naturwissenschaftlicher Erkenntnisse bis weit in die achtziger Jahre verfolgt. Diese dient vor allem dem Ziel einer Relativierung und immanenten Kritik des Bewusstseinsbegriffes aus entwicklungsgeschichtlicher Perspektive. So liest man bereits in einem Nachlassfragment vom Juli 1878: „Das Gehirn im Wachsen. Nur die jüngsten Theile haben ein begleitendes Bewußtsein. Die älteren arbeiten ohne diese Laterne der Controle." (KSA, NF, 8, 586).7 Zu dieser Zeit findet sich auch eine Fülle an Aufzeichnungen zu einer Thematik, die man mit dem Titel „Bewusstsein als Oberflächenphänomen" kennzeichnen könnte: -
6
-
Werner Stegmaier, „Nietzsches Darwinismuskritik schung", in: Nietzsche-Studien, 13, 1984, 189-210.
aus
der Sicht
gegenwärtiger Evolutionsfor-
Bereits 1872 lassen sich erste Ansätze zu einer auf zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Theorie eines ,unbewussten Gedächtnisses' nachweisen, vgl. KSA, NF, 7, 469f: „das Gedächtniß ist älter als das Bewußtsein. Z. B. bei der Mimosa haben wir Gedächtniß, aber kein Bewußtsein. Gedächtniß natürlich ohne Bild, bei der Pflanze".
Dirk Solies
280
was hinzukommt, wenn ein Organismus fertig fungirt, fast das Bewußtsein der Einheit, jedenfalls etwas höchst Unvollkommenes und Oft-Fehlgreifendes im Vergleich zu der wirklich eingeborenen einverleibten arbeitenden Einheit aller Funktionen. Unbewußt ist die große Hauptthätigkeit. [...] So lange es sich um Selbsterhaltung handelt, ist Bewußtsein des Ich unnöthig. -" (KSA, NF, 9, 563f.)
„Das Ich-bewußtsein ist das letzte, etwas
Überflüssiges:
Das argumentative Telos dieser Polemik ist offenkundig: Durch das Einnehmen einer umfassenderen entwicklungsgeschichtlichen Perspektive wird ein semantischer Bezugsraum hergestellt, der es erlaubt, Bewusstsein als ein dem organischen Lebensvorgang gegenüber zeitlich sekundäres und damit auch erkenntnistheoretisch nachrangiges Phänomen anzusehen. Auch Nietzsches in Anlehnung an zeitgenössische naturwissenschaftliche Erkenntnisse entwickelte Reflexionen über Wesen und Ursprung des Organischen dienen dem Ziel einer subversiven Depotenzierung des Bewusstseinsbegriffs. Subversiv, weil hier im strengen Sinne keine Auseinandersetzung mit rationalistischen Thesen und Argumenten mehr stattfindet. Nietzsches Kritik operiert mit der Technik der Unterwanderung, der Unterhöhlung scheinbar feststehender Prinzipien und Glaubenssätze. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch in den immer wiederkehrenden Versuchen einer positiven Bestimmung des Verhältnisses von Bewusstsein und naturwissenschaftlichem Lebensbegriff.
„Wo wir Leben haben, da
setzen wir ,Geist' voraus: aber der uns bekannte Geist ist völlig unvermögend, irgend etwas zu thun. Wie armselig ist jedes Bewußtseins-Bild! [...] Alles Bewußtsein nur eine Nebenäußerung des Intellekts (?) Das, was uns bewußt wird, kann zu Nichts die Ursache abgeben. Man vergleiche nur Verdauung und das, was wir davon empfinden!" (KSA, NF, 10, 406f.)
Positionierung
der für sein Spätwerk zentralen Verdauungsmetaphorik Nietzsches zentrale Selbststilisierung im Ecce homo) nimmt Nietzsche nicht nur ein zentrales Motiv des Zarathustra vorweg, sondern analogisiert wiederum in durchaus subversiver Absicht das bewusste Denken mit der Selbsteinsicht grundsätzlich nicht zugänglichen Grundfunktion des Organischen, wodurch die Selbstgewissheit des Denkens in fundamentaler Weise in Zweifel gezogen und destruiert wird. Man würde zu kurz greifen, wollte man diese Einsicht Nietzsches auf den Status einer Metapher reduzieren. Es geht hier um etwas Grundsätzlicheres, nämlich darum, den gesamten Komplex „Bewusstsein" und „Intellekt" auf Oberflächenphänomene zu reduzieren, die auf ihre spezifische Art leibliche Phänomene und Prozesse zum Ausdruck bringen, die sich jedoch ihrerseits und hierin befindet sich Nietzsche in Opposition zu allen intuitionistischen Ansätzen der direkten Kenntnis und Introspektion grundsätzlich entziehen. Dies gilt auch für die gattungsgeschichtliche Entwicklung des Leibes, die von Nietzsche konsequent vom Telos der Selbststeigerung her gedacht wird: Mit dieser
(man denke
nur an
-
-
-
-
Dieses Argument steht in Übereinstimmung mit der Grundeinsicht Nietzsches, „daß auch das vernünftige bewußte Leben hinein gehört in die Entwicklung des zwecklosen Lebens" (KSA, NF, 10,
307).
Die Naturwissenschaften und der Lebensbegriff des Zarathustra
281
es handelt sich vielleicht bei der ganzen Entwicklung des Geistes um den ist die fühlbar werdende Geschichte davon, daß ein höherer Leib sich bildet. Das Organische steigt noch auf höhere Stufen. Unsere Gier nach Erkenntniß der Natur ist ein Mittel, wodurch der Leib sich vervollkommnen will. [...] Zuletzt handelt es sich gar nicht um den Menschen: er soll überwunden werden." (KSA, NF, 10, 655f)
„Und kurz gesagt: Leib:
es
In dem hier zugrunde liegenden Entwicklungsgedanken deutet sich auch schon die für den Zarathustra zentrale Übergangs- bzw. Untergangsthematik an. Durch die Sicht des Bewussten als eines Oberflächenphänomens wird andererseits auch der gesamte Bereich der Leiblichkeit auf die Ebene einer Zeichenhaftigkeit zurückgeführt, die das Individuum mit seinen nur vermeintlich direkt zugänglichen und einsichtigen mentalen Akten vermittelt und das Ich somit quasi zum isolierten, externen Zuschauer seiner eigenen Willensakte, Denkprozesse und sogar Affekte macht. Dieser umfassenden Destruktion fällt schließlich auch der Lebensbegriff selbst zum Opfer:
„Wir können uns das Werden nicht anders denken als den Übergang aus einem beharrenden ,todten' Zustand in einen anderen beharrenden ,todten' Zustand. Ach, wir nennen das ,Todte' das Bewegungslose! Als ob es etwas Bewegungsloses gäbe! Das Lebende ist kein des Todten, sondern ein Spezialfall." (KSA, NF, 9, 499)
Gegensatz
Hier hat die Subversion des Bewusstseinsbegriffes mit Hilfe des Konzepts „Leben" den Lebensbegriff selbst ergriffen. Hatte zuvor der Lebensbegriff im Argumentationsgang Nietzsches zu einer Subversion des Konzepts „Bewusstsein" gedient, so werden diese Reflexionen mit dem vorliegenden Fragment (zu dem sich zahlreiche ähnlich lautende Parallelstellen finden ließen) in Richtung auf eine Depotenziemng des Lebensbegriffs selbst überschritten. Spätestens seit den frühen achtziger Jahren wird der Lebensbegriff selbst in den umfassenderen Begriff eines „Willens zur Macht" aufgelöst, wie in der bekannten Notiz zum Ausdmck kommt: „Wille zum Leben? Ich fand an seiner Stelle immer nur Wille zur Macht" (KSA, NF, 10, 187). Unter dem Einfluss des Willen-zurMacht-Konzepts tritt nun auch die Lebensthematik im Nachlasswerk Nietzsches in den Hintergmnd. War der Lebensbegriff zunächst noch vom Modell eines sich selbst verstehenden oder doch prinzipiell verstehen könnenden Individuums her gedacht, so muss der vom Konzept des Willens zur Macht her gedachte Organismusbegriff immer mehr dem Modell eines Konglomerats gegeneinander kämpfender Willen-zur-Macht-Zentren oder -Quanta weichen.9 Auch das Ich selbst, notiert Nietzsche 1882, arbeite „wie eine organische Zelle": „es raubt und ist gewaltthätig" (KSA, NF, 10, 14). Hierbei dienen Nietzsche gerade die Forschungsergebnisse des Physiologen Charles Roux als Argumentationshilfen zu einer immer weitergehenden, immanenten Subversion und Atomisierung des Organismusbe-
griffes:
„Jetzt hat man den Kampf überall wieder entdeckt und redet vom Kampfe der Zellen, Gewebe,
Organe, Organismen. Aber man kann sämmtliche uns bewusste Affekte in ihnen wiederfinden Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin/New York 1984, 113: „Dieser Übergang vom alten Organismus-Gedanken zum Vorgang der KräfteOrganisation ist von grundlegender Bedeutung. In ihm liegt die Pointe von Nietzsches Philosophie des Lebendigen."
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282
[...]- Unsere Naturwissenschaft ist jetzt auf dem Wege, sich die kleinsten Vorgänge zu verdeutlichen durch unsere angelernten Affekt-Gefühle, kurz eine Sprechart zu schaffen für jene Vorgänge: sehr gut! Aber es bleibt eine Bilderrede." (KSA, NF, 9,487) Ohne hier auf Nietzsches Destruktion auch des Lebensbegriffes durch das Konzept eines Willens zur Macht ausführlich eingehen zu können, läßt sich doch zusammenfassend sagen, dass dem Begriff „Leben", so wirkungsmächtig er auch für die folgenden Lebensphilosophen gewesen sein mag, im späteren Werk Nietzsches letztlich keine primäre Bedeutung mehr zukommt,10 insofern „Leben" hier immer als sekundäre Manifestation des Willens zur Macht betrachtet wird.
„Leben" im Zarathustra Alle diese Auseinandersetzungen scheinen im Zarathustra kaum Spuren hinterlassen zu haben. Der Lebensbegriff wird hier weder von der frühen Darwinismusdebatte her thematisiert noch von Nietzsches späterem Projekt einer Physiologie der Kunst. Obwohl unstrittig ist, dass einige Motive und Metaphern implizit auf Nietzsches Auseinandersetzungen mit den Naturwissenschaften Bezug nehmen man denke nur an die Metaphorisierung des Geistes als eines Magens (KSA, ZA, 4, 258) oder des Leibes als einer ,,große[n] Vernunft, eine[r] Vielheit mit einem Sinne" (KSA, ZA, 4, 39). Insgesamt aber wird im Zarathustra ein anderer, nämlich genuin dionysischer Aspekt des Lebens akzentuiert. Thematisch-motivisch begegnet „Leben" im Zarathustra in zwei Formen: zum einen in der Allegorisierung des Lebens in den zwei .Tanzliedern', zum anderen im Konzept der schenkenden Tugend'. Die „schenkende Tugend" läßt sich, wie im Folgenden zu zeigen ist, als Zarathustras nicht mehr subversiv argumentierendes, sondern ästhetisch positiviertes Bild für die pleonektischen oder auch exuberanten Aspekte des Lebens lesen, die Nietzsche in seinen früheren und zum Teil noch gleichzeitigen Nachlassfragmenten herausgearbeitet hat. Dies wird bereits in Zarathustras einleitender Ode an die Sonne deutlich: als „überreiches Gestirn" wird diese angesprochen, als „ruhiges Auge", dessen Glück im rück-
haltlosen Verschenken seines Reichtums bestehe. Diese Zwiesprache kulminiert schließlich im Bild des überfließenden Bechers: „Segne den Becher, welcher überfließen will, dass das Wasser golden aus ihm fliesse und überallhin den Abglanz deiner Wonne trage!" (KSA, ZA, 4, 12) Zarathustra bezieht sich mit diesem Bild auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ,schenken', die sich etymologisch von der Grundbedeutung eines über- oder auslaufenden Gefäßes herleitet. ' Wie die Sonne, die nicht nur 10
1 '
12
Alexander
Hogh, Nietzsches Lebensbegriff. Versuch 2000, 33^15.
einer Rekonstruktion
(Diss.), Stuttgart
u. a.
Mit diesem Gebrauch des Pleonexie-Begriffes orientiere ich mich an Pfotenhauer, der damit auf die naturwissenschaftliche Aktualisierung der sophistischen Pleonexia-Lehre (durch W. H. Rolph) rekurriert (Helmut Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie. Nietzsches ästhetische Theorie und literarische Produktion, Stuttgart 1985, 73f). Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 22. Aufl., Berlin/New York 1989, 629. Vgl. auch die Stelle in ZA III, „Die Heimkehr" (KSA, ZA, 4, 232): „Und weißt du noch,
Die Naturwissenschaften und der Lebensbegriff des Zarathustra
283
in der antiken Pleonexia-Lehre, sondern auch schon in vorgeschichtlichen Sonnenkulten das Symbol sich verschenkenden Überreichtams ist, steigt Zarathustra, nachdem er in der Einsamkeit „seines Geistes genossen" hat, von seinem Berg herab, um sich und seine Erkenntnisse den Menschen zu schenken. Das Prinzip des Sichverschenkens begründet also in programmatischer Weise das Selbstverständnis von Zarathustra, der in seinen Untergangsmetaphem (man denke nur an die Motivik des Über- und Untergangs, der Höhe und der Tiefe usw.) die Bedeutangsebene des vertikalen Abstiegs mit dem Zugmndegehen als einem rückhaltlosen Auf-den-Gmnd-Gehen ineins setzt.13 Zarathustras ,Untergang' ist deshalb keine Herablassung, wie man dies unter Berufung auf Nietzsches aristokratische Selbstinszeniemng interpretieren könnte. Im Gegenteil die Sonnenmetaphorik drückt ja gerade aus, dass das Beschenken kein Akt freiwilliger Großzügigkeit ist, sondern spontanes, notwendiges, fast könnte man sagen: zwanghaftes Sichverausgaben aus einem drängenden Gefühl der Überfülle und Exuberanz heraus.14 Nicht nur mit der häufigen Verwendung des Wortes „schenken" und seiner Derivationen, auch mit der Symbolik der goldenen Farbe bezieht sich Zarathustra zu Beginn seiner Rede auf die erst im letzten Kapitel des ersten Teiles thematisierte „schenkende Tugend": „Sagt mir doch: wie kam Gold zum höchsten Werthe? Damm, dass es ungemein ist und unnützlich und leuchtend und mild im Glänze; es schenkt sich immer." (KSA, ZA, 4, 97). Zum Abbild der schenkenden Tugend wird das Gold also erst dadurch, dass es sich dem alltäglich-pragmatischen Gebrauch und Nutzen entzieht. Attribute wie „mild" und „weich" deuten darauf hin, dass der Wert des Goldes gerade nicht auf seiner realen Nutzbarkeit bemht; der Akt des Schenkens wird damit in eine fast ästhetische Sphäre gerückt.15 Die goldene Farbe als Versinnbildlichung der schenkenden Tugend ist eine fast allgegenwärtige Grundmetapher des Zarathustra.^6 An zentralen Stellen wird durch das Zitieren der goldenen Farbe auf Zarathustras „höchste Tugend" angespielt.17 Für den -
13 14
5
Zarathustra? Als du auf deiner Insel sassest, unter leeren Eimern ein Brunnen Wein, gebend und ausgebend, unter Durstigen schenkend und ausschenkend [...]." Vgl. etwa KSA, NF, 13, 10: „Man geht zu Grunde, wenn man immer zu den Gründen geht." Vgl. KSA, ZA, 4, 137: „Mein Glück im Schenken erstarb im Schenken, meine Tugend wurde ihrer selber müde an ihrem Überflusse!" In der Morgenröthe 112 (KSA 3, 101) wird noch vom Schenken als einer „Demütigung und Bedrohung der Selbstherrlichkeit' des anderen" ausgegangen (Andrea Orsucci, „Art. Lektüren, Quellen, Einflüsse: Antike, griechische", in: Nietzsche Handbuch, 367). Dieser Begriff des Schenkens, der an das Konzept eines „Todestauschs" in den Analysen von Marcel Mauss (Essai sur le Don, dt.: Die Gabe, Frankfurt/M. 1990) erinnert, wird jedoch von Nietzsche später ausdrücklich abgelehnt (insbesondere im Zarathustra finden sich zahlreiche Stellen, die das Schenken entschieden von einem kalkulierten Akt der Machtgewinnung abgrenzen). Dieser Umstand ist besonders deshalb interessant, weil Georges Bataille (La part maudite, dt.: Die Aufhebung der Ökonomie, München 1985) aus Mauss' Analysen eine ökonomische Theorie der Verschwendung abgeleitet hat. Vgl. Stephan Grätzel, Verstummen der Natur. Zur Automatisierung des Wissens, Würzburg 1997, 103ff. Vgl. auch KSA, NF, 11, 105: „Zu Zarathustra: ,die Goldenen' als höchste Stufe." Neben der bereits erwähnten goldenen Sonne und dem Bild des goldenen Balles ist hierbei an folgende Stellen zu denken (alle KSA ZA, 4): der goldene Drache (30), der Vogel mit den goldenen Eiern (42), die mehrfach erwähnte „goldene Angel" des Lebens im „Tanzlied" (282-285), die ,
16 7
,
Dirk Solies
284
Zusammenhang von Leben und schenkender Tugend ist (neben der zentralen Symbolik des Honigs!) vor allem das Bild des goldenen Weines aufschlussreich, in dem deutlich ein Hinweis auf die dionysische Herkunft der schenkenden Tugend mitschwingt. Bereits das Kapitel „Vom freien Tode" hatte mit dem Bild des goldenen Balles zur Thematik der schenkenden Tugend übergeleitet: „Wahrlich, ein Ziel hatte Zarathustra,
er
warf seinen Ball:
nun
seid ihr meines Zieles
Erbe,
euch werfe ich den goldenen Ball zu. Lieber als Alles sehe ich euch, meine Freunde, den goldenen Ball werfen! Und noch ein wenig auf Erden: verzeiht es mir!" (KSA, ZA, 4, 95f.)
so
verziehe ich
Im Kontext der Frage nach dem Zusammenhang von Leben und Freitod deutet sich hier ein radikal verändertes Lebenskonzept an. Das Leben, das es zu erhalten und zu steigern gilt, ist gerade nicht mehr dasjenige, an das sich der Einzelne um seiner selbst willen
geht vielmehr um die Bestimmung des Lebens als Überwindung und Selbstüberwindung. Gerade das Loslassen des Balles im Wurf symbolisiert ja einen freien, über die Selbstmächtigkeit des Einzelnen hinausgehenden Akt, weshalb auch die von Zarathustra als Kardinaltugend bezeichnete Selbstsucht gerade nicht als Festhalten am Prinzip des eigenen Lebens gemeint ist. Das Sichopfern des Individuums als extreklammert,
es
me Form des Sichverschenkens ist deshalb auch kein heroischer Akt, sondern des Willens zur Macht:
„Vieles ist dem Lebenden höher geschätzt, als Leben selber; doch heraus redet der Wille zur Macht!" (KSA, ZA, 4, 149) -
aus
Äußerung
dem Schätzen selber
-
Dieses Zitat findet sich in dem Kapitel „Von der Selbst-Ueberwindung", das sich als poetische Kommentierung von Nietzsches naturwissenschaftlich geprägter Adaption der Willen-zur-Macht-Thematik lesen läßt.18 Das Leben ist also, gerade indem es Ausdruck des Willens zur Macht ist, grenzenloses und rückhaltloses Sichverschenken um des Projektes eines sich steigernden Gattungslebens willen.19 Deshalb drückt Zarathustra in immer neuen Bildern und Metaphern die Logik der Verschwendung aus, dass Schenken eine Notdurft, Nehmen hingegen Erbarmen sei (vgl. KSA, ZA, 4, 279). Der Typus des Schmarotzers hingegen verkörpert das Prinzip des „Alles für mich", der eigennützigen Selbstsucht.
„Sagt mir, tung: -
18
meine Brüder: was gilt uns als Schlechtes und Schlechtestes? Ist es nicht EntarUnd auf Entartung raten wir immer, wo die schenkende Seele fehlt." (KSA, ZA, 4, 98)
Verbildlichung der ewigen Wiederkehr als goldenem Reif (344), der „Waben-Goldhonig" (296), die „Gold-Weintrauben" (278) sowie der goldene Wein (343). Vgl. auch Zarathustras euphorischen Ausruf „das Herz der Erde ist von Gold" (170). Dabei unterscheidet Nietzsche zwischen dem Lebendigen als Gegenstand der Wissenschaft und dem Leben schlechthin: vgl. KSA, ZA, 4, 147: „Dem Lebendigen gieng ich nach, ich ging die größten und die kleinsten Wege, daß ich seine Art erkenne. [...] Alles Lebendige ist ein Gehorchendes" usw.
19
Zur Bestimmung von Erkenntnis und Ästhetik als „Gattungserlebnis" vgl. Stephan Grätzel, philosophische Entdeckung des Leibes, Stuttgart 1989, 143.
Die
Die Naturwissenschaften und der Le bens begriff des Zarathustra
285
Mit der Bestimmung des „Alles für mich" als Entartung wird ein immanenter Bezug zur décadence-Thematik hergestellt und zugleich auf ein zentrales Motiv von Nietzsches Darwinismuskritik angespielt dass nämlich, wie im ,^4nti-Darwin" ausgeführt, „nicht die Nothlage, die Hungerlage, vielmehr der Reichthum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung" und damit nicht der Kampf um Leben, sondern der Kampf um Macht der Normalfall der Fortpflanzung sei (KSA, GD, 6, 120f). Auch hier also geht es Nietzsche dämm, gegen die mangelökonomischen Theorien von Darwin (und Malthus) die exuberanten Formen des Lebens zur Geltung zu bringen. Das Prinzip des „Alles für mich" ist nicht deshalb das Schlechteste', weil es dem ethischen Grundsatz des Altruismus widerspräche, sondern weil es dem internen Zweck der Lebenssteigemng verstanden als ,Erhöhung des Leibes' zuwiderläuft. Gemäß Zarathustras Logik der Verschwendung erscheint der Eigennutz damit als Selbstwiderspruch des sich steigern wollenden Lebens, weil Zarathustras Selbstsucht gerade nicht im Sinne eines Individualegoismus gemeint ist. An dieser Stelle wird deutlich, dass Zarathustras schenkende Tugend mit ihrem Anspmch auf Weiter- und Höherentwicklung des Leibes in enger Anlehnung an das Konzept biologischer Gattangsselektion gedacht ist. Das Sichbilden des höheren Leibes hat gerade das Aufgeben des Eigennutzes des Individuellen zur Voraussetzung darin besteht die Selbstsucht des ,höheren Menschen', seine selbstsüchtige Form des Willens zur Macht. Vergleicht man dieses Konzept mit dem Prinzip der christlichen Liebe, so ist zunächst festzuhalten, dass der Akt des Schenkens nicht durch ein Gebot motiviert ist. So ist auch Zarathustras abschlägige Antwort an die Adresse des Heiligen zu verstehen: „,Was sprach ich von Liebe! Ich bringe den Menschen ein Geschenk!'" (KSA, ZA, 4, 13). Das Prinzip des neutestamentarischen Liehes-Gebots stellt für Zarathustra das Prinzip einer pervertierten und verkleideten Selbstsucht dar. Zarathustras Ablehnung der Liebe bezieht sich damit nicht auf die Liebe selbst schließlich wird die schenkende Tugend von Zarathustra auch als „schenkende Liebe" bezeichnet (KSA, ZA, 4, 98) -, sondern auf die als misanthropische Weltabkehr und -Verleugnung mißverstandene christliche Liebe. Deshalb stellt Zarathustra den drei christlichen Kardinaltugenden Glaube, Liebe und Hoffnung seine ,Schattentugenden' Wollust, Herrschsucht und Selbstsucht entgegen („Von den drei Bösen"). Wobei daran zu erinnern ist, dass „Tugend" im Sinne der virtu, also einer moralinfreien „Tugend im Renaissancestile" (nach dem Vorbild C. Borgias, vgl. KSA, NF, 12, 480) und damit gerade nicht im Sinne eines moralischen Vehikels zur Beförderung einer Sklavenmoral gemeint ist: Die schenkende Tugend ist, wie Zarathustra sagt, eine „irdische Tugend" (KSA, ZA, 4, 42) und steht damit in Einklang mit der Fordemng, der Erde treu zu bleiben und keinen ,hinterweltlerischen' Zielen zu dienen. Nicht nur diese Diesseitsorientierung, auch die an vielen Stellen hervorgehobene Affinität der schenkenden Tugend zu -
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Nach Hirsch zeige die Thematisierung der schenkenden Liebe, dass Nietzsche „uneingestanden" und „wider Willen" „im tiefsten Grund seiner Seele" an das „christliche Bild der sich hingebenden reinen Liebe als der höchsten Erscheinung menschlichpersönlichen Lebens [...] geglaubt" habe (Emanuel Hirsch, „Nietzsche und Luther. Mit einem Nachwort von Jörg Salaquarda", in: Nietzsche-Studien 15/1986, 398^t39).
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Begriffen wie „Herrschen" kaum kompatibel:
und „Macht" ist mit dem christlichen Liebesideal wohl
„Sein Glück heißt der Mächtige Tugend sein strömendes überströmendes Glück, sein herrschendes Schenken." (KSA, NF, 10, 575) -
Thematisierung des Lebensbegriffes in den zwei „Tanzliedern" Zarathustras zu sprechen. Aus ästhetischer Sicht fällt zunächst die schwärmerische, fast schwülstige Weise der Allegorisierung im ersten Tanzlied (KSA, ZA, 4, 139f.) auf- „das Leben" wird hier als eine Schar ,lieblicher' tanzender Mädchen auf abendlicher Waldlichtung und die schenkende Tugend als Cupido dargestellt; im ,anderen Tanzlied' (KSA, ZA, 4, 282-286) ist die Gestalt des Lebens komplexer angelegt und changiert zwischen verschiedenen Eigentliches Thema der ersten wie der zweiten Allegorisierung ist jedoch das von Misstrauen, Konkurrenz und Eifersucht geprägte Dreiecks- und Spannungsverhältnis22 Zarathustras zu Leben und Weisheit (die übrigens nicht selbst erscheint, sondern von Zarathustra nur indirekt zitiert wird). Was beide Thematisierungen voneinander unterscheidet, ist die Erkenntnis des Gedankens der ewigen Wiederkehr, der Zarathustra im dritten Teil inne geworden ist. Diese Erkenntnis ist es, die Zarathustra letztlich mit seinem Leben versöhnt und die Spannung zwischen Leben und Weisheit aufhebt. Auf den Anwurf der das Leben allegorisierenden Frauengestalt, Zarathustra wolle sie bald verlassen, flüstert ihr Zarathustra etwas ins Ohr, das diese zu dem erstaunten Ausruf veranlasst: „Du weisst Das, oh Zarathustra? Das weiss Niemand" (KSA, ZA, 4, 285). Nicht nur diese Reaktion, auch die sich anschließende Apotheose der Wiederkunftslehre im Ja- und Amen-Lied sowie in Die sieben Siegel weist deutlich darauf hin, dass es sich hierbei um eine Formulierung von Zarathustras Wiederkunftslehre Kommen wir abschließend kurz auf die
Frauengestalten.21
handelt.23
Es ist hier nicht der Ort, den in beiden Tanzliedern enthaltenen zahlreichen Anspieund motivischen Analogien nachzugehen. Fragt man jedoch nach dem ästhetischen Kalkül einer solchen Darstellung, so wird die These nicht von der Hand zu weisen sein, dass „Leben" hier in einer substanzialistischen Weise thematisiert wird, die der Thematisierung in den Nachlassfragmenten gerade nicht mehr entspricht. Gerade die Form und die Weise der Darstellung im Zarathustra weisen darauf
lungen, Verweisen
Bishop arbeitet sieben aufschlussreiche Gemeinsamkeiten zwischen Nietzsches ,quasiallegorischer' Frauenfigur in den ,Tanzliedern' und Jungs Anima-Archetypus heraus (Paul Bishop, „Jung's annotations of Nietzsche's works: an analysis", in: Nietzsche-Studien 24/1995, 271-314, hier 298). Salaquarda weist in Hinblick auf die Ariadne-Thematik auf die nahe Verwandtschaft von „Seele", „Leben", „das Weibliche" und „das Selbst" im Zarathustra hin (Jörg Salaquarda, „Noch einmal Ariadne. Die Rolle Cosima Wagners in Nietzsches Literarischem Rollenspiel", in: Nietz-
sche-Studien 25/1996, 99-125, hier 114). Dass dieses Verhältnis die Grundspannung des individuellen Lebens, insbesondere des ,höheren Menschen' ausmacht, wird natürlich auch an anderer Stelle thematisiert, vgl. Zarathustras Ansprache an die ,berühmten Weisen': „Geist ist das Leben, das selber in's Leben schneidet; an der eignen Qual mehrt es sich das eigne Wissen, wusstet ihr das schon?" (KSA, ZA, 4, 134). Michael Platt, „What does Zarathustra whisper in Life's ear?", in: Nietzsche-Studien 17/1988, S. 179-194, hier 192. -
Die Naturwissenschaften und der Lebensbegriff des Zarathustra
287
hin, dass Nietzsche hier auf ein positives, primär-dionysisches und nur noch ästhetisch vermittelbares Lebenskonzept rekurriert, das in den Nachlassfragmenten der bereits der Destruktion durch den Willen zur Macht anheim gefallen ist. Und anders als dort endet (nach der Eingebung des Wiederkunftsgedankens) Zarathustras ménage á trois mit Weisheit und Leben in folgender friedlicher Szene:
achtziger Jahre
„Und wir sahen uns an und blickten auf die grüne Wiese, über welche eben der kühle Abend lief, und weinten miteinander. Damals aber war mir das Leben lieber, als je alle meine Weisheit. -" (KSA, ZA, 4, 285) -
Claus Zittel
Sprüche, Brüche, Widersprüche Irritationen und Deutungsprobleme beobacht am Erzählverhalten und an der Erzählperspektive in Nietzsches Also sprach Zarathustra
I. In der 1881 erschienenen und von Nietzsche in einem Brief zum Vorab-Kommentar erklärten Schrift (KSB 7, 496) Morgenröthe findet sich ein Aphorismus, dessen Thematik und Wortlaut dem Zarathustra-Leser verstörend vertraut vorkommen muß. Ich meine den Aphorismus Nr. 49: ,J)as neue Grundgefühl: unsere endgültige Vergänglichkeit." Hier schreibt Nietzsche: „-
Ehemals suchte
man zum
Gefühl der Herrlichkeit
zu
kommen, indem
man
auf seine Ab-
kunft hinzeigte: diess ist jetzt ein verbotener Weg geworden, denn an seiner Thür steht der Af-
fe, nebst anderem greulichen Gethier, und fletscht verständnisvoll die Zähne, wie um zu sagen: nicht weiter in dieser Richtung: der Weg, wohin die Menschheit geht, soll zum Beweise ihrer Herrlichkeit und Gottverwandtschaft dienen. Ach, auch damit ist es Nichts! Am Ende dieses Weges steht die Graburne des letzten Menschen und Todtengräbers [...] Wie hoch die Menschheit sich entwickelt haben möge, und vielleicht wird sie am Ende gar noch tiefer, als am Anfang stehen! es giebt für sie keinen Übergang in eine höhere Ordnung, so wenig die Ameise und der Ohrwurm am Ende ihrer ,Erdenbahn' zur Gottverwandschaft und Ewigkeit emporsteigen. Das Werden schleppt das Gewesensein hinter sich her: warum sollte es von diesem ewigen Schauspiele eine Ausnahme für irgend ein Sternchen und wiederum für ein Gattungchen auf ihm geben! Fort mit solchen Sentimentalitäten!" (KSA, M, 3, 53f). -
-
Man muß im
wenig später publizierten 1. Teil von Also sprach Zarathustra nicht lange blättern, gleich in der Vorrede stößt man auf die berühmten und vielzitierten Passagen aus den so scheint es -, Verkündigungsreden' Zarathustras, in welchen es unter nur
anderem heißt:
-
„Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden? Alle Wesen bisher schufen Etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser grossen Fluth sein und lieber noch zum Thiere zurückgehn, als den Menschen überwinden? Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham. Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und Vieles ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe, als
290
Claus Zittel
irgend ein Affe. [...] Seht, ich lehre euch den Übermenschen! Der Übermensch ist der Sinn der Erde. [...] Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch ein Seil über einem Abgrunde." (KSA, ZA, 4, 14ff.) -
Wie verhalten sich beide Positionen zueinander? Will man den eklatanten inhaltlichen Widerspmch der zitierten Textstellen nicht nonchalant mit dem Hinweis wegwischen, bei Nietzsche fände sich zu jeder Behauptung immer auch die gegenteilige, sondern als Problem, d. h. als Deutangsaufgabe ernst nehmen, hat man verschiedene Strategien zur Verfügung, damit umzugehen, die vereinfacht dargestellt wie folgt aussehen: Man könnte erstens darauf verweisen, daß Nietzsche mit seinem Zarathustra inzwischen eine andere Denkphase erreicht hat, womit man allerdings vor der Schwierigkeit steht, wenn systematisch betrachtet, die spätere Position einem Rückfall hinter das kritische Reflexionsniveau der früheren gleichkommt, oder wie in unserem Beispiel, die psychologische Entlarvung der späteren Denkfigur als illusionär und sentimental bereits vorab geleistet wurde, und das auch noch in einer Schrift, der noch nachher ein Kommentarstatas zuerkannt wurde. Zweitens könnte man auf die unterschiedlichen Textsorten verweisen, wobei sich zwei Hauptvarianten unterscheiden lassen, (a): Im Zarathustra ist alles ja nur Dichtung, also philosophisch nicht stringent präsentiert oder (b): Im Zarathustra ist, weil es Dichtung ist, alles viel expliziter dargestellt, da Nietzsche, hinter der Maske des Zarathustra offen zu sagen traue, was er sonst nur andeutungsweise darzustellen versteckt, sich ' vermochte. Hier wird die ästhetische Gestalt des Textes entweder als unphilosophisch entwertet, oder wie bei der letzten Variante als äußerliche Verkleidung der Gedanken genommen, oft unterstellend, daß Nietzsche sonst nicht den Mut gehabt hätte, offen und explizit zu sprechen, bzw. daß in der Zarathustra-Dichtung die einfachere und exoterischere Darstellungsform gewählt sei. Drittens kann man darauf insistieren, daß der Zarathustra gerade im Gegenteil eine komplexe Form der Darstellung darbietet, mit welcher die Gedanken esoterisch verrätselt, oder aber in einem komplexen internen Verweisgefüge verschiedenster Metaphernketten erst formuliert werden. Damit hat man just die Gegenposition zu einer Haupttendenz in der Nietzscheforschung eingenommen, die Dichtung primär an deren expressive Gehalte knüpft, diese als exoterische Sprachform deutet, statt im internen
2
Drei Stimmen unter vielen: Volker Gerhardt, „Die Erfindung eines Weisen", in: Ders.: Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra, Berlin 2000, 13; Beatrix Himmelmann, „Zarathustras Weg", ebd., 17; J. Simon, „Ein Text wie Nietzsches Zarathustra", ebd., 233.
Simon, ebd., 233, 241. Entsprechend gebührt bei der Nietzsche-Interpretation der Auslegung der veröffentlichten Schriften methodischer Vorrang. Diese selbstverständlich klingende Deutungsmaxime wird überwiegend seitens der Nietzsche-Interpreten fahrlässig mißachtet. Die Nachlaß-Texte haben zumeist thetischen Charakter und entbehren in der Regel der ästhetischen Gestaltung. Damit jedoch eignet ihnen ein Reflexionsgrad weniger als den durchgestalteten Schriften. Die beliebtesten „Lehren" Nietzsches, wie ,Übermensch', ,Willen zur Macht' und ,Ewige Wiederkunft' „finden" sich primär im Nachlaß und stehen oder fallen mit der eben geforderten Entscheidung.
Sprüche, Brüche, Widersprüche
291
und qua Zitaten auch externen Verweisungsspiel der Metaphern die Ebene der Vermittlung auch im ästhetischen Bereich anzuerkennen. Nun wäre zu untersuchen: Wer sagt zu welchem Zeitpunkt und aufweiche Weise dies und jenes innerhalb von Also sprach Zarathustra, wie entwickeln sich die Positionen im Fortgang der Handlung, wie relativieren sie sich wechselseitig, wie werden sie qua Form unterlaufen usw. Man würde z. B. zuerst konstatieren, daß es die fiktive Figur Zarathustras ist, die zu Beginn eines fiktiven Geschehens bestimmte Lehren verkündet, die dann später wieder zurückgenommen werden, etwa in Gestalt von Selbstparodien. Es ist nicht schwer zu erraten, daß ich für diese letzte Option votiere Man kann angesichts auch jüngster Publikationen nicht oft genug betonen, daß Zarathustra genausowenig Nietzsches alter ego ist, wie Faust das Goethes oder Adrian Leverkühn das Thomas Manns. Nietzsche ist der Autor von Also sprach Zarathustra, in welchem viele Figuren auftreten, die auf komplexe Weise aufeinander bezogen werden; aus einer dieser Figuren nur ein Sprachrohr für Nietzsche zu machen, ignoriert schlicht die ästhetische Verfaßtheit des Textes. Gerade bei traditionalistisch angelegten Deutungen von philosophischer Seite herrscht eine inhaltsfixierte Betrachtungsweise vor, die einzelne Redepassagen aus dem Kontext isoliert deutet, als stünden sie innerhalb eines philosophischen Traktates. Dies geschieht, obgleich rhetorisch immer wieder auf die Bedeutung des Ästhetischen für Nietzsches Texte hingewiesen wird. Konkrete Folgen für die Auslegung zeitigen diese Hinweise jedoch oft in keiner Weise. Im Gegenteil. Immer wieder stieß ich auf heftigen Unmut, wenn ich gegenüber Zarathustra-lnterrireten auf der Künstlichkeit der Kunst insistierte. In weiten Kreisen insbesondere der deutschen Nietzscheforschung gibt es ein manifestes Ressentiment gegen das Raffinement. In Unwürden ergraute Privatdozenten, die mit gebeugtem Rücken in zentralgeheizten Stadierstaben sitzend ,Lebe wild und gefährlich' in die Tastatur ihres Laptops hämmern, wollen sich ihre Beschwörung dionysischer Unmittelbarkeit, der Auferstehung des Leibes (im Text), oder einer Philosophie des Tanzes, des Lebens ungern durch den querulanten Hinweis stören lassen, das sei alles ja nur fiktiv: ästhetisch inszeniertes Leben, und auch noch in dieser Inszeniertheit bloßgestelltes, ästhetisch hinterfragtes, brüchiges Leben. .
4
Solche Lesarten gründen in der Regel auf einem unter lebensphilosophischen Vorzeichen stehenden, expressiven Ästhetikverständnis. Insbesondere wird immer wieder die unter metaphysischen Voraussetzungen entworfene Ästhetik der Geburt der Tragödie als Deutungsfolie für den Zarathustra verwendet, ohne daß die inzwischen von Nietzsche vollzogene Abkehr von der metaphysi-
schen Wertewelt der Geburt der Tragödie beachtet würde. Vgl. dazu: Claus Zittel, Das ästhetische Kalkül von Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra ", Würzburg 2000. Dort wird auch der nötige Kontext und die philosophische Basis für die hier angestellten Überlegungen formuliert, welche nur eine Facette der Zaraí/íwsrra-Problematik fokussieren können.
292
Claus Zittel
II. Ich kehre zum Text zurück und bringe gleich zur Erläutemng einige kleinere Beispiele für verstörende Irritationen: „Zarathustra ist selber der Possenreisser, der über den armen Seiltänzer hinwegspringt" (KSA, NF, 10, 531). In dieser Nachlaßstelle scheint Nietzsche nichts Geringeres zu soufflieren, als daß Zarathustra den Menschen, die sich selbst überwinden wollen, denn dafür steht der Seiltänzer in diesem unmittelbaren Kontext unter anderem auch, arglistig wie der Possenreißer in den Tod stürzt. (Womit nebenbei gesagt der Widerspmch in meinem ersten Beispiel auf dramatische Weise beseitigt wäre, denn so wäre die anvisierte Möglichkeit einer Höherentwicklung nichts weiter als ein hinterhältiges Täuschungsmanöver Zarathustras, ein falsches Versprechen). Ist die Aufmerksamkeit erst einmal wach, fallen weitere Stellen auf, die nun einen anderen Sinn oder wenigstens einen anderen Akzent bekommen: Bereits in der „Vorrede" hatte Zarathustra angekündigt: „Zu meinem Ziele will ich, gehe meinen Gang; über die Zögernden und Saumseligen werde ich hinwegspringen. Also sei mein Gang ihr Untergang" (KSA, ZA, 4, 27). Dies sagt Zarathustra kurz nachdem der Possenreißer „wie ein Teufel" geschrieen und „über Den hinweg" sprang, „der ihm im Wege war" und damit den Seiltänzer zu Tode stürzen ließ (KSA, ZA, 4, 21). Nun kann man über die Possenreißermetaphorik, zieht man auch noch Kontextmetaphern wie die des Schauspielers hinzu, ein dicht gewebtes Netz erkennen, das den ganzen Zarathustra durchzieht, und von dem aus man eine Deutung aufziehen könnte, die die zersetzende, aggressive Funktion der (selbst)-parodistischen literarischen Verfahren ins Zentmm rückt. Das will ich hier nicht tan, nur kurz auf Stellen verweisen, wo Zarathustra über sich selbst sagt, er sei ein: „Menschenfischer und Possenreißer" (KSA, ZA, 4, 297), und zwar der „boshaftigste [...] Menschenfischer" (ebd.), der „vor Liebe und Bosheit" (ebd., 348) lacht, sich mit der ,List seiner Rede' verstellt (ebd., 296) sowie „voller Artigkeit und Arglist" (ebd., 320) spricht. Wenn ich hier eine Nachlaßnotiz heranzog, so tat ich dies keinesfalls um zu proklamieren, man solle den Zarathustra auf den Nachlaß hin auslegen. Dort findet man eine Auslegungsidee formuliert, die gleich wo sie steht, am Text selbst überprüft werden kann.6 Die Zarathustrafigur ist ihr zufolge
6
In dieser
Frage sehe ich mich von Karl Pestalozzi, der sich in seinem schönen Essay: „Zarathustras prophetische Reden im Kontext der Epoche", in: Peter Villwock (Hg.): Nietzsches „Also sprach Zarathustra", Basel 2001, S. 204ff. mit meiner Deutung auseinandersetzt, mißverstanden. Pestalozzi wirft mir vor, ich würde meine eigenen Aussagen durch Selbstzeugnisse Nietzsches, die zu anderen Kontexten gehören, autorisieren wollen. Mir geht es nur um die systematische Option einer anderen Deutung, von der ich nur zeigen möchte, daß auch Nietzsche sie bereits hatte denken können. Der Spielraum möglicher Deutungen soll so erweitert werden, unabhängig davon, zu welcher Deutung Nietzsche wann gerade neigte. Diese historisch-biographische Frage halte ich sowohl für oft unbeantwortbar als auch für systematisch uninteressant. Bei der fraglichen Stelle lege ich mich auf die Stellungnahme Nietzsches zum Prophetentum fest, die gerade am wenigsten fixiert. Diese Deutung wiederum stünde, nur auf die Prophetenstellen gestützt, fraglos auf zu schwachem Grund. Nur im Verein mit den vielen weiteren Studien zu anderen Themenkomplexen wird meine Auslegung, wie ich hoffe, plausibel.
Sprüche, Brüche, Widersprüche
293
nicht essentialistisch zu deuten, sondern sie verwiese von einer Gestaltung immer wieder weiter auf die nächste, und jede einzelne wird instabil. Was die Rollengestaltang anbetrifft kann auch noch eine weitere Funktion beobachtet werden, nämlich wenn die Zarathustrafigur, dadurch daß sie eine bestimmte Rolle einnimmt, vorherige Selbstaussagen konterkariert: z. B. wenn Zarathustra erklärt: „Nicht soll Zarathustra einer Heerde Hirt und Hund werden!" (KSA, ZA, 4, 25) „Nicht Hirt soll ich sein, nicht Todtengräber" (ebd., 26), später dann von einem Hirten träumt, sich fragt wer dieser Hirt sei und schliesslich offenbart, er sei es selbst gewesen (ebd., 273).7 Eine weitere Variante wäre, wenn man Verhaltensweisen befragt, etwa Zarathustras endloses Warten auf den „grossen Mittag" damit konfrontiert, daß eine solche Haltung in diversen Reden zuvor verächtlich gemacht wurde („Unselig heisse ich auch Die, welche immer warten müssen", KSA, ZA, 4, 244). Oder man denke an den häßlichsten Menschen, der in die Rolle Zarathustras schlüpft und mit seinem Röcheln dessen Ringen um den Wiederkunftsgedanken travestiert. Dies sind nur einige Fingerzeige, wie Nietzsche Irritationen erzeugt, die eine unmittelbare Identifikation mit einem Helden stören oder zerstören und den Leser nötigen, auf Widersprüche, Brüche, Ironiesignale, doppelbödige Allusionen und versteckte Zitate, oder konjunktivische Formulierungen zu achten. Wiederum im Nachlaß macht Nietzsche auf diese Differenzierungsnotwendigkeiten aufmerksam: „Und um für diesen Fall die nicht genug zu schätzende Autorität Zarathustra's anzurufen: Zarathustra geht so weit, von sich zu bezeugen ,ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde' [...] Nochmals gesagt: wie viele neue Götter sind noch möglich! Zarathustra selbst freilich ist bloß ein alter Atheist. Man verstehe ihn recht! Zarathustra sagt zwar, er würde -; aber Zarathustra wird nicht [...]" (KSA, NF, -
13,526).
Besonders deutlich wird dieser hypothetische oder konjunktivische Status, durch welchen Aussagen unter Vorbehalt gestellt werden, im permanenten selbstreflexiven Unterlaufen thetischer Setzungen. Beispielsweise wenn Zarathustra in der zentralen Rede „Von den Dichtern" die platonische Dichterkritik aufgreifend bekennt, auch er sei ein lügender Dichter, und unmittelbar darauf seine eigene Übermenschvision explizit gleich zweimal als Dichterlüge deklariert.
III.
Konsequenterweise bekommen
dann die Einzel-Aussagen innerhalb des Zarathustra durch ihren Erzählkontext oft erkennbar einen dezidiert fiktiven Charakter verliehen. So werden etwa im wichtigen Kapitel „Vom Gesicht und Räthsel" die Passagen zur ewigen Wiederkehr' in einen komplexen Erzählzusammenhang integriert, durch welche sie auf vielfaltige Weise je perspektivisch gebrochen werden. Z. B. ist die Darstellung in diesem Abschnitt erzählerisch mehrfach abgestuft fiktionalisiert: 1. tritt ein Erzähler auf, der eine fiktive, märchenhafte Situation auf dem Schiff und Zarathustras mehrtägi-
Vgl. Rober B. Pippin, „Irony and Affirmation in Nietzsche's Thus spoke Zarathustra''', A. Gillespie u. T. B. Strong (Hg.), Nietzsche's new seas, Chicago 1988, 53.
in: Michael
294
Claus Zittel
Schweigen darstellt; 2. wird diese Situation dann näher beschrieben als eine, in der die Schiffsleute allerlei abenteuerliche Reiseerzählungen zum Besten geben („denn es gab viel Seltsames und Gefährliches auf diesem Schiffe anzuhören, welches weither kam und noch weiterhin wollte", KSA, ZA, 4, 197); 3. beginnt Zarathustra, von diesen Geschichten verlockt, selbst zu erzählen. Da seine eigene Erzählung als Beitrag zu dieser Sorte von Geschichten eingeführt wird, ist sie damit auch als ein ebensolches Seemannsgarn bestimmt. 4. erzählt Zarathustra von einem „Gesicht". Nun folgt der Bericht einer Traumvision und darin ereignet sich erst der Disput mit dem Zwerg über die Ewige Wiederkehr. Dann, 5. (ebd., 200), gehen die an das Streitgespräch angeschlossenen und immer noch innerhalb des Traumes angestellten Reflexionen Zarathustras über in ein Selbstgespräch. 6. überfallen Zarathustra plötzlich jedoch, veranlaßt durch das Heulen eines Hundes, schreckliche Erinnerungsbilder aus seiner Kindheit (ebd., 201), die ihn daraufhin (7.) in einen Zustand versetzen, in welchem er nicht mehr weiß, ob er wacht oder träumt und in dem er dann (8.) die nächste Vision hat, in welcher er den Hirten, dem die Schlange in den Mund kriecht, sieht. Die hierauf dargestellte Szenerie mit dem Hirten, der der Schlange den Kopf abbeißt, hat man regelmäßig als Affirmation der Wiederkehr interpretiert. Doch ereignet sich, wie eben gezeigt, diese ,Affirmation' lediglich in einer Vision (1), die Zarathustra innerhalb eines Traumes hat (2), von dem er auf dem Schiff in Form einer Räuberpistole berichtet (3), und die wiedemm vom Erzähler in einen Märchenbericht integriert wurde. ges
IV. Im folgenden werde ich einen formal besonders ausgezeichneten Typ von Irritationen näher untersuchen: die Fiktionsbrechungen in der Erzählperspektive. Jetzt fallt nicht Zarathustra, sondern der Erzähler selbst aus der Rolle. Meines Wissens wurde darauf bislang in der Forschung kaum je geachtet, nur aus der Zeichen-philosophisch orientierten Nietzscheexegese gibt es hierzu Hinweise, z. B. zum Zarathustra von Bevor die Erzählanalyse einsetzen kann, sollte man sich bewußt machen, daß man Nietzsches artistische Verfahren nicht in Gegensatz zu seiner Philosophie bringen sollte. Mit dem Verlassen der Positionen der Geburt der Tragödie hat Nietzsche nicht nur in der Philosophie, sondern zugleich mit seiner ästhetischen Praxis das substantialistische Paradigma verlassen. Er denkt jetzt relational, das heißt es werden nur noch horizontale Verweisungen auf der Ebene der Zeichen vorgenommen, die immer wieder zwar als Effekte notwendige Fiktionen von Wesenheiten hervorbringen, diese aber nicht positiv begründen können. Diese horizontalen Bezüge sind aber keineswegs auf Begriffs-Begriffsrelationen oder Begriffs-Metaphernrelationen beschränkt, sondern verbinden auch Metaphern untereinander zu Ketten und Konstellationen.9 Nun erhalten für Nietzsche auch Kunstformen eine andere Bewertung, die gerade nicht mehr mit einer Symbolsprache auf eine eigentliche, dahinterliegende Bedeutung
Stegmaier8.
Vgl. unten, Anm. 14. Vgl. Claus Zittel, „Die Aufhebung der Anschauung im Spiel der Metapher. Semantik", in: Nietzscheforschung, 7 (2000), 273-285.
Nietzsches relationale
Sprüche, Brüche, Widersprüche
295
sondern allegorisch verfahren und nur noch so tun als ob, sich gebärden als ob ein Reich des Wahren, dessen Ausdruck die Kunst sei, geben würde. In einem poetischen Schlüsseltext erörtert Nietzsche dies anhand des Barockstils. Dieser entstehe Jedesmal beim Abblühen jeder grossen Kunst, wenn die Anforderungen in der Kunst des classischen Ausdrucks allzugross geworden sind, als ein Natur-Ereigniss, dem man wohl mit Schwermuth weil es der Nacht voranläuft zusehen wird, aber zugleich mit Bewunderung für die ihm eigenthümlichen Ersatzkünste des Ausdrucks und der Erzählung. Dahin gehört schon die Wahl von Stoffen und Vorwürfen höchster dramatischer Spannung, bei denen auch ohne Kunst das Herz zittert, weil Himmel und Hölle der Empfindung zu allzunah sind: dann die Beredsamkeit der starken Affecte und Gebärden [...] die Dämmerungs-, Verklärungs- oder Feuerbrunstlichter auf so starkgebildeten Formen: dazu fortwährend neue Wagnisse in Mitteln und Absichten, dazu fortwährend neue Wagnisse in Mitteln und Absichten". Alle diese reinen „Ersatzkünste des Ausdrucks und der Erzählung" seien, so Nietzsche weiter, für diejenigen, welche mit ästhetischen Verfahren vertraut sind, leicht erkennbar, „vom Künstler für Künstler kräftig unterstrichen, während der Laie wähnen muss, das beständige unfreiwillige Überströmen aller Füllhörner einer ursprünglichen Natur-Kunst zu sehen" (KSA, VM 2, 438). Nur in der exoterischen Laienperspektive wird diese Kunst unmittelbar lebendig erscheinen, dem Kunstkenner indes gerade als rhetorische Inszenierung von Lebendigkeit vor Augen stehen, die immer dann aufkommt, wenn die Kunst in die décadence bereits eingetreten ist. In meiner Zarathustrastadie10 habe ich die hier nicht adäquat entwickelbare These zu belegen versucht, daß Nietzsches Zarathustra in seinen Verfahren den genannten und weiteren Bestimmungen des Barockstils entspricht und daher qua Form an sich selbst den erlittenen Verlust der Metaphysik sichtbar macht. Dies zeigt sich unter anderem auch deutlich bei Nietzsches Handhabung der Erzählform: In Also sprach Zarathustra werden Zerstörungen von Illusionen häufig durch die die Reden einleitenden epischen Passagen herbeigeführt. Ich möchte anhand der Untersuchung von Nietzsches Erzählhaltung mit Hilfe nur einiger weniger Beispiele aufzeigen, wie eminent folgenreich es für die Zarathustra-Deutung ist, wenn man den im Text verstreuten selbstreflexiven Hinweisen und formal ausgezeichneten Schlüsselstellen
zeigen, es
-
-
nachgeht.
Eine besonders auffällige Fiktionsbrechung ereignet sich an jener Stelle im Nachtwandlerlied, an der plötzlich die Leser wie Kinder vom Erzähler im Märchenton angesprochen werden: „Und was glaubt ihr wohl, dass damals sich zutrug?" (KSA, ZA, 4, 396). Daraufhin distanziert sich der Erzähler auch noch von seinem Bericht und fügt vorsorglich hinzu: „wie manche Erzähler meinen". Als hätte er damit den Eindruck von Objektivität, welcher sonst durch seine Schilderung immer wieder trügerisch hervorgerufen wurde, noch nicht genug ruiniert, setzt er seine Rede mit der Betrachtung fort: „Diess mag sich so verhalten haben oder auch anders und wenn in Wahrheit an je-
nem
10 1'
Abende der Esel nicht getanzt hat,
so
geschahen doch damals grössere und
seltsa-
Vgl. Zittel 2000 (s. o., Anm. 5). Ebenso bereits im Kapitel „Der hässlichste Mensch": „- Als aber Zarathustra diese Worte gehört hatte, was glaubt ihr wohl, dass sich da mit seiner Seele zutrug?" (KSA, ZA, 4, 328). -
Claus Zittel
296
Wunderdinge als es das Tanzen eines Esels wäre. Kurz, wie das Sprichwort Zarathustra's lautet: ,was liegt daran!'" (ebd.).
mere
In der Vorstufe zu dieser Stelle hieß es gar noch: „Diess mag sich nun so verhalten oder auch anders und wahrlich, nicht alle, welche die Historie Zarathustras erzählen werden's Im nächsten Abschnitt fängt der Erzähler sogar nochmals an: „und wer möchte auch errathen, welche Gedanken Zarathustra dabei über die Seele liefen?" (KSA, ZA, 4, 397). Diese Fiktionsbrechung ist der Höhepunkt einer stetig wachsenden Distanziemng des Erzählers vom Geschehen, welche sich insgesamt im vierten Teil schon mit der Zunahme der epischen Partien andeutete und die schließlich mit der Leseranrede „und was glaubt ihr wohl" deutlich markiert wird. Zudem mehren sich im vierten Teil generell die distanzierenden Ausdrücke, wie etwa: „ersichtlich". Die zuletzt zitierte Stelle beispielsweise wird wie folgt fortgesetzt: „Ersichtlich aber wich sein Geist zurück und floh voraus und war in weiten Femen und gleichsam auf hohem Joche, wie geschrieben steht, zwischen zwei Meeren, zwischen Vergangenem und Zukünftigem als schwere Wolke wandelnd'"13. Der Hinweis, daß nun zitiert wird: „wie geschrieben steht", verweist in Gestalt eines ausdrücklich gekennzeichneten Zitates paradoxerweise zurück auf den Beginn von „Die sieben Siegel" aus dem 3. Teil. Während die Geschichte noch erzählt wird, fingiert ihr Erzähler die Berichte über Episoden aus früheren Lebensphasen seines Protagonisten zu historischen Quellen. Der Text erklärt sich selbst zur Legende und erklärt zudem, daß er selbst dies erklärt, d. h. er macht auf seine fiktionalisierenden Techniken aufmerksam, er erklärt sich als Literatur. Damit öffnet sich eine Kluft zwischen dem geschriebenen Text und dem redenden Zarathustra, der das Schreiben verächtlich machte (KSA, ZA, 4, 48ff). Die erzählte Handlung rückt in weite Feme und wird als abhängig von scheinbar überlieferten Zeugnissen dargestellt, an deren Existenz jedoch der Leser zu keiner Zeit glauben kann, da Nietzsche und sein Erzähler sich keine Mühe geben, der Geschichte den Anschein historischer Wahrheit zu verleihen. Zitiert wird ja gerade nicht aus einer Chronik, sondern aus dem eigenen Buch. Umgekehrt stellt sich der Erzähler, während er doch sich selbst zitiert, sich selber als Leser und Kompilator von Chroniken dar. Somit kann er an dieser Stelle, wenn man sich an die frühere Rede erinnert, einer offenkundigen Fingiemng überführt werden. Oder allgemein gesprochen: Die eingesetzte Chronikfiktion bricht in sich zusammen. Was nur konsequent ist, da zuvor bereits durch das: „wie manche Erzähler meinen" die Position des allwissenden Erzählers preisgegeben worden war. Insofern er sich aber auf jeden Fall als Leser seines eigenen Textes entlarvt, birgt dieses Verhalten noch die besondere Pointe, daß er dies trotz Zarathustras vorherigen Bannfluchs gegen alle Leser tat: „Wer den Leser kennt, der thut Nichts mehr für den Leser. Noch ein Jahrhundert Leser und der Geist selber wird stinken. Dass Jedermann lesen lernen darf, verdirbt auf die Dauer nicht allein das Schreiben, sondern auch das Denken." (KSA, ZA, 4, 48). Was stimmt nun? Doch ereig-
glauben."12 -
-
-
12
KGW, VI/4, 787. Diese im Märchenton gehaltene und dann auch noch gebrochene Erzählung leitet Höhepunkt des Höhlenfestes ein, wo Zarathustra gemeinsam mit den höheren Menschen das „Mitternachtslied" singt! Vgl. a. KSA, ZA, 4, 308; 333. den
13
297
Sprüche, Brüche, Widersprüche nete
sich, wie man jetzt weiß, auch Zarathustras früheres Verdikt innerhalb der eigenen
Erzählung. Fleißige
Leser sind, wie die vielen Zitate hinlänglich verdeutlichen, außer dem Erzähler auch der Autor Nietzsche und Zarathustra selber, der seinerseits aus allerlei Lektüren Material für seine Reden zusammenträgt, und der sogar das „Wort ,Übermensch' vom Weg auflas". (KSA, ZA, 4, 248). Insgesamt gibt es nicht viele solcher Stellen, was erklären mag, daß sie fast ausnahmslos von den Interpreten die sich offenbar von der Geschichte mitreißen ließen, bislang übersehen wurden. Doch jede einzelne ist überaus bedeutsam und erst recht sind alle zusammengenommen von großer Relevanz für die richtige Einschätzung der Erzählhaltung sowie der narrativen Struktur und mithin des fiktionalen Bewußtseins von Also sprach Zarathustra. Daher seien auch noch die wichtigsten anderen genannt: Das erste Mal könnte der Leser bereits am Ende des fünften Abschnittes der Vorrede stutzig werden. Dort hieß es schon: „Und hier endete die erste Rede Zarathustra's, welche man auch ,die ,Vorrede' heisst". (KSA, ZA, 4, 20). Die Vorrede von Also sprach Zarathustra ist jedoch noch nicht zu Ende. Nietzsche erzeugt hier eine irritierende Unsicherheit: ,
Erstens bezieht er sich auf ein fiktives „man", das nicht näher erläutert wird und wie der Erzähler selber für lange Zeit aus dem Gesichtskreis des Lesers wieder verschwindet.
-
Zum zweiten verunsichert er, indem er die bisherige objektiv unmittelbare Erzählsituation plötzlich durch das Dazwischenschalten eines auktorialen Erzählers unterbricht und das ganze Geschehen damit neu perspektiviert, diese Perspektive dann aber nicht stabilisiert, sondern sofort wieder aufgibt. Nach dem sofortigen Wieder-Verschwinden des auktorialen Erzählers wird die durch ihn in Frage gestellte Erzählweise wieder aufgenommen, der nun aber nicht mehr zu trauen ist. -
Drittens irritiert, daß der Erzähler die erste Rede Zarathustras als Vorrede' deklariert und so mit der Bezeichnung von Nietzsches eigenem Buchanfang zusammenfallen und metareflexiv werden läßt. Plötzlich scheint der Erzähler bereits Nietzsches Buch vorliegen zu haben und aus ihm als Quelle zitieren zu können. ,
-
Gattungsbestimmende Deklarierungen von einer Metaebene werden auch in den späteren Teilen eingestreut. Z. B.: „Und dies ist die Erzählung von Zarathustra's Gespräch
mit dem Feuerhunde" (KSA, ZA, 4, ich mir mich selber" (KSA, ZA, 4,
168) oder: „Niemand erzählt mir Neues, so erzähle
246).15
15
Einzig Werner Stegmaier, Nietzsches .Genealogie der Moral', Dannstadt 1994, verweist darauf, daß mit dem Einschub: „wie manche Erzähler meinen" die Überlieferung der Geschichte „ausdrücklich fragwürdig gemacht" wird. 36. Vgl. a. ders.: „Anti-Lehren. Szene und Lehre in Nietzsches ,Also sprach Zarathustra'", in: Gerhardt (2000), 198f. Vgl. zu den Irritationen durch die Bezeichnung „Vorrede" neuerdings auch: Peter Villwock: „Zarathustra. Anfang und Ende einer Werk-Gestalt Nietzsches", in: Ders. (Hg.), Nietzsches „Also sprach Zarathustra, 5ff.
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Weitere überdeutliche Signale für den Leser, daß er auf die Erzählbedingungen und die Erzählhaltang reflektieren sollte, werden im 4. Teil eingesetzt: „Diess aber war der Anfang von jener langen Mahlzeit, welche ,das Abendmahl' in den Historien-Büchem genannt wird. Bei derselben aber wurde von nichts Anderem geredet als vom höheren Menschen" (KSA, ZA, 4, 355). Dies ist das Ende des Kapitels, welches in Also sprach Zarathustra „Das Abendmahl" überschrieben wurde. Hier verwirrt Nietzsche absichtsvoll die Bezüge, spricht von mehreren Historienbüchem, spielt zugleich auf die Abendmahlserzählung der Bibel an und läßt beides ineinander verschwimmen. Dies ist alles andere als ein unwichtiger Befund. Immerhin leitet diese Passage zur folgenden Rede „Vom höheren Menschen" über und stellt die dort enthaltenen Botschaften somit von Anbeginn erzählerisch unter fragwürdige Vorzeichen. Nur hinweisen will ich auf eine andere Art, wie der Erzähler aus seiner Rolle fallen kann, die nicht die Erzähllogik, sondern die Erzählweise anbetrifft. Ich hatte bereits erwähnt, daß der häßlichste Mensch Zarathustras Verhalten travestiert. Wenn er endlich beim dritten Röchelversuch den Gedanken der Ewigen Wiederkehr herauswürgen kann (KSA, ZA, 4, 398f), wird durch die mehrfache Wiederholung der Szene sein Gebaren immer outrierter peinlich, zumal Zarathustra angesichts des ersten Röcheins und Gurgeins des häßlichsten Menschens sein eigenes früheres Verhalten in einem wenig schmeichelhaften Bild ins Groteske verzerrt gespiegelt bekommt: „vom Boden auf nämlich quoll es gurgelnd und röchelnd, wie Wasser Nachts durch verstopfte Wasser-Röhren gurgelt und röchelt" (KSA, ZA, 4, 328). Dies ist eine der wenigen Stellen, wo die erzählerische Illusion, welche das Geschehen in einem ganz und gar historisch und örtlich unbestimmten Phantasieraum ansiedelt, durch einen Vergleich aus der Alltagswelt gebrochen wird, man sieht gleichsam den Autor Nietzsche, wie er im Hotelzimmer sitzt und die Abflußgeräusche hört, was die frappierende Wirkung des durch seine Geschmacklosigkeit bereits desavouierten Vergleichs noch unterstützt.16 -
16
Daß ein entschlossener Optimismus selbst die grellsten Grimassen der Verzweiflung noch umzudeuten versteht, führt A. Bennholdt-Thomsen, Nietzsches „Also sprach Zarathustra" als literarisches Phänomen, Frankfurt/M. 1974, 187, vor. Sie urteilt über das Gurgeln des häßlichsten Menschen, den sie, wie die höheren Menschen insgesamt, bruchlos positiv deutet, wie folgt: „Wenn dieser Mensch am Ende fähig ist, frei zu sprechen und sein Leben zu bejahen, dann hat sich gewissermaßen der Geist der Schwere selbst angenommen und überwunden der Zwerg sich selbst hochgetragen. Zarathustras Erkenntnis und Sieg wird hier vom häßlichsten Menschen nachvollzogen in eigener Sache. [...] Die Worte des häßlichsten Menschen und das, was sie ermöglicht, nämlich sein Sprechenkönnen, objektivieren in einem gewissen Sinne Zarathustras Bewußtwerdungsprozeß und stellen zugleich seinen ersten Erfolg als Lehrer dar." -
Sprüche, Brüche, Widersprüche
299
V. Man könnte nun annehmen, daß vielleicht andere Ordnungskategorien dafür stabil sind, Zahlenverhältnisse oder Gattungsformen beispielsweise. Manfred Rauh hat auf die Rahmung des Zarathustra durch die Höhlenszenerien zu Anfang und Ende hingewiesen. Betrachtet man die von Rauh anhand der Höhlenmetapher behauptete Symmetrie näher, so zeigen sich indes einige folgenschwere Irritationen. Zu Beginn des vierten Buches sitzt Zarathustra vor seiner Höhle, und ebenso im letzten Kapitel. Dort wird überdies der Anfang der „Vorrede" zum ganzen Text wiederholt, wodurch sich eine weitgespannte Spiegelsymmetrie zwischen Anfang und Ende des Buches zu ergeben scheint. Dann wiederum ist dieses Kapitel in sich auf ähnliche Weise symmetrisch, denn seine Eingangspassage wird am Schluß fast wörtlich wiederholt: „Also sprach Zarathustra und verliess seine Höhle, glühend und stark, wie eine Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt" (KSA, ZA, 4, 408). Die Ordnung könnte kaum vollkommener sein. Doch: Was besagt die letzte Stelle? Zarathustra verläßt seine Höhle? Er ist ja bereits längst draußen!18 Plötzlich wird man stutzig. Die symmetrische Ordnung führt zu einem Widerspruch in der Handlungslogik. Die Verlaufslogik und die synchrone Ordnung treten in Opposition zueinander, mit dem Effekt, daß man sich weder an das eine noch an das andere Schema mehr halten kann, ohne in Widersprüche zu geraten. Nun wird man genötigt, die Höhle metaphorisch zu deuten. Ihr Bild verflüssigt sich vom bloß geographischen Bezugspunkt zur Metapher für Zarathustras Inneres oder vielleicht für Zarathustras Philosophie. Die scheinbar feste Ordnung hat sich aufgelöst und weicht dem viel beweglicheren Bezugsgefüge der Metaphern. Die Metaphern setzen sich sofort über die vorläufige Fixierung durch den äußeren formalen Rahmen hinweg und bilden eigene Konstellationen aus. Schaut man so gewarnt auf den Anfang des Schlußkapitels, beginnt man genauer zu lesen und bemerkt, daß sich dort die Irritationen vermehren: „Des Morgens aber nach dieser Nacht sprang Zarathustra von seinem Lager auf, gürtete sich die Lenden und kam heraus aus seiner Höhle, glühend und stark, wie eine Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt. ,Du grosses Gestirn, sprach er, wie er einstmal gesprochen hatte, du tiefes Glücks-Auge, was wäre all dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest!" (KSA, ZA, 4, 405). Eine Reprise des Anfangs denkt man zunächst, doch dann heißt es: Diess hatte Zarathustra zu seinem Herzen gesprochen, als die Sonne aufgieng: da blickte er [...]" (ebd.). Im Unterschied zum Beginn von Also sprach Zarathustra wird nun nicht direkt die Sonne angesprochen, sondern Zarathustra ist jetzt selbst wie eine Sonne. Er spricht nur zu sich und absurderweise im Dunkeln, denn erst danach so kann das „als die Sonne aufgieng" gelesen werden geht die Sonne auf! Die Symmetrie ist dahin, es zeigen sich gerade die Differenzen. Und auch die Sonnenmetapher wird plötzlich dort mehrdeutig, wo man „
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19
Manfred Rauh, „Die Einsamkeit Zarathustras", in Zeitschrift für Religion und Geistesgeschichte 21 (1961), 55-72. Dieser Widerspruch ist, soweit ich sehe, bislang nur Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt/M. 1989, 624, aufgefallen. Die Höhle als Metapher für das Innere läßt sich belegen z. B. durch JGB 289; als Metapher für Philosophie in: KSB 8, 206.
Claus Zittel
300
gerade nicht erwartet, beim direkten Anmf, dessen vermeintlich eindeutiger Adressat verlorengeht und der sich jetzt an Zarathustra selbst zu richten scheint. Diese Irritationen ziehen sich nach ähnlichem Muster durch die ganze letzte Rede, z. B. heißt es kurz darauf ausdrücklich, Zarathustra habe die Augen geschlossen, woraufhin aber es „helle es
vor
ihm" wird und er ,die Zeichen' sieht.
VI.
Allgemein könnte man als Deutangsvorschlag dieser Verfahren ins Spiel bringen, anzunehmen, daß mit dem Zarathustra im Gegensatz zu einem Dichtangsselbstverständnis, welches beanspmcht, zugleich mit dem Verabschieden der Tradition eine neue, wahrere Sprache gefunden zu haben, ein exemplarisch anderer Fall vorliegt: Mit ihm wird eine philosophische Tradition nicht nur thematisch an ihr Ende geführt, durch die Schilderung des Verfalls der Werte infolge des Todes Gottes, sondern zugleich klargemacht, daß damit auch die Bedingungen preisgegeben sind, unter deren Voraussetzung bislang erzählt werden konnte. Die brüchige, anti-organische Erzählweise macht an sich selbst die Folgen des erlittenen Verlustes einsehbar. Das Erzählen ordnet sich so selbst in den diagnostizierten Verfallsprozeß ein. Insgesamt steht damit in Einklang, daß im Zarathustra überwiegend von ästhetischen Verfahren Gebrauch gemacht wird, die man gleichsam als reaktiv-reflexive Spätformen künstlerischer Darstellung bezeichnen kann, namentlich: Parodien und insbesondere Selbstparodien, Travestien, Persiflagen, Pastiches, Ironisiemngen, Illusionsbrechungen, Montagen, exzessives Zitieren, bewußte Fiktionalisiemng (z. B.: erklärter Fabelstatas), verwirrend komplexe Erzählsitaationen, oder die Brüche in der Erzählhaitang. Nietzsches Schreibweise in Also sprach Zarathustra konterkariert den Anspmch, daß im Rahmen einer Erzählung Erfahmngen und Gedanken im Medium der literarischen Fiktion positiv bewältigt und vermittelt werden könnten. Es kommt jetzt nicht mehr zu dieser Bewältigung, weder inhaltlich noch formal, es sei denn in der Lüge, und dies ist die neue Erfahmng. Das Scheitern der Bewältigungsversuche wird nun zum Prinzip der Handlung, die zwar an ein Ende, nie aber an ein Ziel gelangen kann und sich nach immer neuen vergeblichen Anläufen allmählich erschöpft und schließlich im ausweglosen Finale des vierten Teils zwangsläufig zusammenbrechen muß.
IV. Aufsätze
René Heinen
Zum „Spiel auf der Grenze des Ästhetischen und des Moralischen" Nietzsches Vorlesungen über Rhetorik
Eine ernstzunehmende philosophische Auseinandersetzung mit Nietzsches Vorlesungen über Rhetorik setzt Anfang der 1970er Jahre infolge der von Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy besorgten Übersetzung ins Französische ein. Vor allem Paul de Man hat die von den französischen Editoren vorgeschlagene Deutangsperspektive weiterentwickelt, indem er den tropischen bzw. rhetorischen Charakter der Schriften Nietzsches im Hinblick auf die Konsequenzen für die moderne philosophische Theoriebildung überhaupt problematisierte.2 Nietzsches Ausführungen zur Rhetorik sowie die folgerichtige Stilisierung seines Denkens wurden dabei nicht nur als Vorwegnahme des linguistic turn, sondern auch als Vorspiel zur Unterminierung tradierter Diskursivität und Rationalität verstanden. Seither ist die in den frühen sprachphilosophischen Überlegungen festzustellende Skepsis zum Fixpunkt der Nietzsche-Forschung avanciert.3 Die Veröffentlichung der Vorlesungsaufzeichnungen aus der Zeit der Basler Lehrtätigkeit in den Nachberichten zur kritischen Werkausgabe4 hat die Debatte neu belebt. Beiträge zur Quellenforschung bzw. Editionslage haben in diesem Zusammenhang
3
4
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„Friedrich Nietzsche: Rhétorique et langage", in: Poétique, 5 (1971), 99-142; vgl. auch die dekonstruktive Perspektive auf Nietzsche, die Lacoue-Labarthe im gleichen Heft unter dem Titel „Le détour" (deutsch: „Der Umweg", in: W. Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt/Berlin 1986, 75ff.) ausformuliert. Vgl. Paul de Man, „Nietzsche's Theory of Rhetoric", in: Symposium: A Quarterly Journal in Modern Foreign Literatures (1974), 33-51 sowie das Kapitel „Rhetorik der Tropen (Nietzsche)" in: ders., Allegorien des Lesens, Frankfurt/M. 1988 (New Haven 1979). Vgl. zuletzt Ernst Behler, „Nietzsches Sprachtheorie und der Aussagecharakter seiner Schriften",
in: Nietzsche-Studien Bd. 25 (1996), 64ff. Friedrich Nietzsche, Vorlesungsaufzeichnungen (WS 1871/72-WS 1874/75), bearbeitet und herausgegeben von Fritz Bornmann und Mario Carpitella, KGW, Abteilung II, Bd. 4, Berlin/New York 1995. Glenn Most/Thomas Fries, „Die Quellen von Nietzsches Rhetorik-Vorlesung", in: Tilman Borsche/Fritz Gerratana/Aldo Venturelli (Hg.), Centauren-Geburten. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin/New York 1994. Vgl. Fritz Bornmann, „Zur Chronologie und zum Text der Aufzeichnungen von Nietzsches Rhetorikvorlesungen", in: Nietzsche-Studien Bd. 26 (1997), 491 ff.; ferner die Einwände gegen seine edi-
René Heinen
304
Frage nach dem Status der Vorlesungsaufzeichnungen im Hinblick auf interpretatorische Rückschlüsse aufgeworfen. Eine Deutung der Texte, die den Bogen zum bisher vorliegenden frühen Nachlaß bzw. zum veröffentlichten Werk schlägt, scheint jedoch vor dem Hintergmnd des fragmentarischen und in prekärer Weise exzerpierenden Charakters der Manuskripte ausgeblieben zu sein. Die folgenden Ausführungen versuchen sich an einer solchen Erkundung der Texte. Sie wollen dadurch für den Umstand sensibilisieren, daß Nietzsches frühe Sprachphilosophie, wenn davon überhaupt die Rede sein kann, erheblich mehr Deutangsspielraum offenbart als eindimensional skeptische Befunde suggerieren. Kurz gesagt, Nietzsches Vorlesungen über die Geschichte der Beredsamkeit (1872/73), seine Darstellung der antiken Rhetorik (1874) sowie die Einleitung und Übersetzung des dritten Buches der aristotelischen Rhetorik (1874/75) zeigen eine ethische Dimension, die in der Forschung bisher kaum beachtet zwar
die
worden ist.
Dagegen ist die These vertreten worden, Nietzsches Rhetorik-Vorlesungen stünden im Dienst einer „wissenschaftlichen" Korrektur seiner frühen sprachphilosophischen Überlegungen. Insbesondere die Auseinandersetzung mit der Rhetorik des Aristoteles deute auf eine selbstkritische Einschränkung der zunächst radikal formulierten Auffassung „Die Sprache ist Rhetorik" hin. Demzufolge habe Nietzsche das Problem der logischen Selbstbezüglichkeit dieser Aussage, die jede Fortsetzung der Forschung als Rhetorik im traditionellen Sinn oder als Philologie unmöglich mache, gesehen. Die Beschäftigung mit Aristoteles könne als Versuch verstanden werden, die in der Sprachdie forschung seiner Zeit vorhandene Trennung von Sprachbetrachtang und den wissenschaftlichen Diskurs über den behandelten Gegenstand stabilisiert, erneut ernsthaft in Erwägung zu ziehen.
Sprache9,
torische Arbeit bei: E. Behler, „Nietzsches Studium der griechischen Rhetorik nach der KGW", in: Nietzsche-Studien Bd. 27 (1998), Iff. Die Übersetzung und Reinschrift der aristotelischen Rhetorik ist dann als Hinweis auf die Bedeutung dieses Textes zu interpretieren: „nämlich als wichtigster (und vielleicht einziger) Gegenspieler, dessen wissenschaftliche Fundierung der Rhetorik Trennung von Sprache und Sprachbetrachalle früheren und späteren Darstellungen überragt. In diesem Sinn könnte man die tung Beschäftigung mit Aristoteles als Korrelat oder Korrektiv zur Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne sehen, und zwar im Interesse von Nietzsches eigener Lehrtätigkeit, die er damals keineswegs als abgeschlossen ansah". Vgl. Glenn Most/Thomas Fries, ebd., 40. An der betreffenden Stelle zitiert Nietzsche zunächst Gustav Gerber: „Statt der Dinge nimmt die Empfindung nur ein Merkmal auf. Daß im Verhältnis von sprachlicher Bezeichnung und darin begegnender Wirklichkeit die Erkenntnis keine oder allenfalls eine untergeordnete Rolle spielt, macht seine Fortsetzung auf drastische Weise deutlich: „Das ist der erste Gesichtspunkt: die Sprache ist Rhetorik, denn sie will nur eine doxa, keine episteme übertragen." Vgl. Friedrich Nietzsche, Vorlesungsaufzeichnungen, KWG II, 4, ebd., 425. Insbesondere in den Schriften Gustav Gerbers wird diese Trennung aufrechterhalten. Zum Verhältnis Nietzsche/Gerber vgl. Anthonie Meijers, „Gustav Gerber und Friedrich Nietzsche: Zum historischen Hintergrund der sprachphilosophischen Auffassungen des frühen Nietzsche"; in: NietzscheStudien Bd. 17 (1988), 369ff sowie die „Konkordanz" zu wörtlichen Übernahmen und Zitaten am -
-
1
selben Ort.
Zum
„
Spiel auf der Grenze des Ästhetischen und des Moralischen
305
"
Ob die Rede vom Korrektiv insbesondere zur Schrift Ueber Wahrheit und Lüge begründet ist, muß über die Deutung einschlägiger Passagen im Kontext des übrigen Textcorpus geprüft werden. Vorgreifend wird hier daher die These weniger steil formuliert, also von einer eher erweiternden als korrigierenden Dimension der Vorlesungen ausgegangen. Allerdings wird sie in eine völlig andere Richtung gelenkt: Nicht um die wissenschaftliche Fundierung der Sprachtheorie ringt Nietzsche, sondern um das Verhältnis von Rhetorik und Ethik. Im Mittelpunkt steht dann die Frage, ob sich Nietzsche mit einer Rhetorisierung und Asthetisierung des Denkens auch im Hinblick auf ethische Problemstellungen befaßt, deren Analogie seit der aristotelischen Entgegensetzung von sophia und phronesis zum Standardrepertoire philosophischen Argumentierens gehört. Ist die Rhetorik als ein „Nebenschössling der Ethik" zu betrachten, rücken individueller Sprachstil und ethisch angemessene Lebensführung enger zusammen. Die Skepsis gegenüber begrifflicher Verallgemeinerung stünde dann weniger in einem Ausschluß- als in einem Verwandschaftsverhältnis zur Ethik, insofern letztere konkrete und auf die jeweilige Situation abgestimmte Verhaltensempfehlungen gibt, die sich nicht aus allgemeinen Prinzipien ableiten lassen. Die Vorlesungsaufzeichnungen bestätigen aus dieser Sicht indirekt noch einmal die Ablehnung des philologischen Fachpublikums, die Nietzsches Tragödienschrift unmittelbar zuvor hervorgerufen hatte.10 Methodisch ist dem Umstand Rechnung zu tragen, daß die Vorlesungen weitgehend ein Mosaik von Zitaten darstellen, die aus zeitgenössischen Vorlagen größtenteils wörtlich übernommen und höchstens leicht umgeändert wurden. Parallelstellen aus den veröffentlichten Werken sowie aus dem Nachlaß sollen daher hinzugezogen werden, um Kontinuitäten zu späteren Auffassungen Nietzsches zu belegen. Auf diese Weise gewinnt die Interpretation der Vorlesungen zusätzlichen Halt. Eine Kommentierung seines Forschungsprogramms hat Nietzsche unterlassen. Ob seine Auswertung der zeitgenössischen Forschung also eigene Thesen stützen soll etwa diejenige, daß die Sprache Rhetorik ist oder diese Thesen erst in der Auseinandersetzung mit der Forschung gewonnen werden oder aber lediglich einer Ökonomisierung der (ungeliebten) akademischen Lehrtätigkeit geschuldet ist, wird von Nietzsche selbst nicht verdeutlicht. Die vorläufige Annahme, daß Nietzsche für seine Lehrtätigkeit -
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nicht einfach fremde Positionen übernehmen will, sondern Gedanken und Formulierungen exzerpiert, die seinem Verständnis der Sache entgegenkommen, vermag die Frage nach Motivation und Originalität nicht erschöpfend zu beantworten. Wem dies zu vage erscheint, der muß sich umgekehrt fragen lassen, auf welche Weise wir uns denn überhaupt verständlich machen' ' wollen, ohne uns überlieferte und damit zunächst einmal fremde Worte anzueignen. Nietzsches
Biograph hat in diesem Zusammenhang die Auffassung vertreten, Nietzsches Universi-
tätspensum habe vor allem seinen eigenen spezifischen Interessen gedient. Der behandelte Themen-
und Stoffkreis sei für die Ausbildung zum wissenschaftlich arbeitenden Philologen keineswegs geeignet gewesen.: „Er lehrte philologisch fundiert antike Philosophie." Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche: Biographie, 3 Bde, München/Wien 1978, Bd. 1, 529. Noch schärfer formuliert: „Ist nicht alles Reden in diesem weiteren Sinn metaphorisch Übersetzen, wie Hamann sagt: Wir übersetzen unsere Meinung in eine fremde, nämlich in eine überlieferte, unserem Denken vorgegebene Sprache und bringen damit überhaupt erst unser eigenes Denken zur -
René Heinen
306
1. Nietzsches
Darstellung der antiken Rhetorik
Es ist naheliegend, die Darstellung im Hinblick auf ihre Parallelen zur Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge zu deuten. Der Umstand, daß selbst ein zunächst eigenständig erscheinender Teil, wie § 3 „Verhältniß des Rhetorischen zur Sprache", in seinen sprachkritischen Motiven den Quellen (Gerber) weitgehend verpflichtet ist, tritt so in den Hintergmnd. Freilich lassen sich bereits in den Vorlesungen Positionen auffinden, welche die in der frühen Abhandlung entworfene Perspektive ergänzen. Doch zunächst
Klingendem. Darstellung akzentuiert auf ähnliche Weise, daß das menschliche Sprach- bzw. Bezeichnungsvermögen keinem geheimnisvollen Wahrheits- und Erkenntnistrieb entspringt. Die Bezeichnung der Dinge ist durch Not und Schutzlosigkeit erforderlich geworden, hat jedoch nichts mit dem Anlegen eines logisch-adäquaten Maßstabs an die
zu
vertraut
Die
äußere Wirklichkeit zu tan:
„[...] die Kraft, welche Aristo. Rhetorik nennt, an jedem Dinge das heraus zu finden u. geltend machen was wirkt u. Eindruck macht, ist zugl. das Wesen der Sprache: diese bezieht sich, ebensowenig wie die Rhetorik, auf das Wahre, auf das Wesen der Dinge, sie will nicht belehren, sondern eine subjektive Erregung u. Annahme auf andere übertragen. Der sprachbildende Mensch faßt nicht Dinge oder Vorgänge auf, sondern Reize: er giebt nicht Empfindungen wieder, sondern sogar nur Abbildungen von Empfindungen. Die Empfindung durch einen Nervenreiz hervorgerufen, nimmt das Ding nicht selbst auf: diese Empfindung wird nach außen hin durch ein Bild dargestellt: es fragt sich aber überhaupt, wie ein Seelenakt durch ein Tonbild darstellbar ist? Müßte nicht, wenn vollkommen genaue Wiedergabe stattfinden sollte, vor allem das Material, in welchem wiedergegeben werden soll, dasselbe sein, wie dasjenige ist, in
zu
dem die Seele arbeitet? Da es nun aber ein Fremdes ist rauskommen als ein Bild?" (KGW II, 4, 425f.)
der Laut
-
wie kann da genaueres he-
-
Sprache und rhetorische Steigemng des sprachlichen Ausdmcks gleichen sich demnach in dem Bestreben, Wirkung und Eindmck der begegnenden Dinge zu akzentuieren. Daß Verständigung überhaupt gelingt, liegt weniger an der vollkommen getreuen Wiedergabe als an der Übertragung einer besonderen Erregung oder eines herausragenden Aspektes, welche erinnert werden können. Die Sprachbildung ist folglich nicht im Wesen der Dinge verwurzelt, sondern konzentriert sich auf eine markante Struktur. Interessant ist, daß Nietzsche bereits an dieser Stelle die Unmittelbarkeit aus der menschlichen Binnenperspektive tilgt: Nicht die Empfindungen selbst, allein Abbilder der Empfindungen werden verarbeitet. Die Transformation der Nervenreize in Tonbilder und Laute, welche die seelische Erregung im Kontakt mit der Wirklichkeit festhalten, verweist dabei auf die bekannte Passage aus der Schrift Ueber Wahrheit und Lüge, in der Nietzsche diesen Prozeß als
Deutlichkeit." Vgl. Tilman Borsche, „Natur-Sprache. Herder Humboldt Nietzsche", in: ders./Fritz Gerratana/Aldo Venturelli (Hg.), Centauren-Geburten, ebd., 120. Ein Punkt, der für das veröffentlichte Werk außerordentlich wichtig bleiben wird. So etwa in Die fröhliche Wissenschaft, wo Nietzsche unter der Überschrift „Vom ,Genius der Gattung'" den Grad der sprachlichen Vermitteltheit unseres Welt- und Selbstverständnisses als schwerwiegendes Hindernis für das Bewußtsein von Individualität thematisiert. Vgl. KSA, 3, FW, 590ff. -
12
-
Zum
„
Spiel auf der Grenze des Ästhetischen und des Moralischen
doppelte metaphorische Übertragung
bei
"
vollständigem „Ueberspringen
307
der
Sphäre,
mitten hinein in eine ganz andere und neue" gekennzeichnet hat (vgl. KSA, 1, WL, 879). Auch hier, zu Beginn der Darstellung, liegt der Akzent auf der Divergenz der Materialien: Das Medium der Verarbeitung bzw. Wiedergabe (der Laut) ist ein anderes als das der begegnenden Gegenstände oder des Seelenlebens. Insofern wir uns unserem Seelenleben mit Sprachlauten annähern, ist ein Realismus der originalgetreuen Wiedergabe immer schon verloren, die Genauigkeit des „Bildes für etwas" das Maximum des zu Erwartenden. Wenn von der sprachlichen Bezeichnung bestenfalls metaphorische Prägnanz erwartet werden darf, so kann der Rhetorik als bewußter Ausgestaltung dieses bildhaften Charakters kaum vorgeworfen werden, sie durchkreuze die wahre Bestimmung der Sprache auf verwerfliche Art und Weise. Wer die Rhetorik hier als verführerischen Schmuck gegen die eigentliche Bestimmung der Sprache ausspielen wollte, macht sich Nietzsche zufolge nicht klar, daß der Verzicht auf metaphorischen Ausdruck dem Verzicht auf Sprechen und Denken überhaupt gleichkäme. Die Unsinnigkeit, an eine nicht-metaphorische bzw. „unrhetorische Natürlichkeit der Sprache" appellieren zu wollen, hat Nietzsche in einer häufig zitierten Passage der Vorlesungen zugespitzt. Was als Mittel bewußter Stilisierung rhetorisch genannt werde, sei unbewußt immer schon für die Herausbildung und Wirkung von Sprache verantwortlich gewesen, ja die Rhetorik dürfe als „Fortbildung der in der Sprache gelegenen Kunstmittel [...] am hellen Lichte des Verstandes" betrachtet werden (KGW II, 4, 425). Die Darstellung eröffnet somit das Spannungsfeld zwischen reflektierter Sprachgestaltang und einer anthropologisch begründeten Notwendigkeit zu rhetorischer Vermittlung. Daß die Differenz von natürlicher Sprachbildung und willentlichem Ausdruck allenfalls gradueller, nicht jedoch prinzipieller Natur ist, erinnert wiederum an die Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge. Dort wird die Metaphernproduktion als „Fundamentaltrieb des Menschen" zugespitzt, welchen „man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde [...]" (KSA, 1, WL, 887). Die Opposition von Begriff und Metapher läßt sich zudem ebensowenig als strenge Kluft denken. Im Gegenteil, der vorgeblich parasitäre Trieb zur Metaphernbildung erweist sich als überlegene welterschließende Dimension, ohne deren „Kunstmittel" die Herausbildung einer kanonischen und verbindlich erscheinenden Sprachgrammatik gar nicht möglich gewesen wäre. In der Darstellung wird diese Auffassung ebenfalls als Zitat formuliert:
„Dagegen richtig Jean Paul Vorschule der Aesthetik ,Wie im Schreiben Bilderschrift früher war, als Buchstabenschrift, so war im Sprechen die Metapher, insofern sie Verhältnisse u. nicht Gegenstände bezeichnet, das frühere Wort, welches sich erst allmählich zum eigentl.
Ausdrucke entfärben mußte. Das Beseelen und Beleiben fiel noch in eins zusammen, weil noch
13
Als
Beispiel für eine derartige Geringschätzung wird bereits eingangs Hume zitiert: „Wir müssen zugeben, daß die ganze Redekunst, alle die künstliche u. figürliche Anordnung der Wörter, welche die Beredsamkeit erfunden hat, zu nichts weiter dient, als unrichtige Vorstellungen zu erwecken, die Leidenschaften zu erregen, dadurch das Unheil mißzuleiten Betrügerei ist." (KGW II, 4, 415)
u. so
in der Tat eine vollkommene
308 Ich u. Welt verschmolz. Daher ist jede Sprache in Rücksicht terbuch erblaßter Metaphern.'" (KGW II, 4, 442f.)
René Heinen
geistiger Beziehungen ein Wör-
Zwar wird Nietzsche sein Votum für den epistemologischen Vorrang der Metapher in Ueber Wahrheit und Lüge nicht durch das Schrift-Argument stützen. Deutlich zu sehen sind freilich die Parallelen im Hinblick auf das Entfärben, Erblassen bzw. auf den Verlust von Sinnlichkeit, durch den der eigentliche Ausdmck erst entsteht.14 Zudem offenbart die Vorlesung hier eine Quelle für die sprachkritisch gmndlegende Einsicht, daß es im Prozeß der Bezeichnung nicht auf die Beschaffenheit der Gegenstände ankommt,
sondern auf Verhältnisse, welche durch Übertragung eingeholt werden. Bis in das Spätwerk hinein wird Nietzsche an der Auffassung festhalten, daß Sprache „nur die Relationen der Dinge zu den Menschen" bezeichnet, nicht aber die Dinge selbst (KSA,
1,WL,879).15
Der Appell an die Nüchternheit der Begriffssprache, die Festlegung auf ihre abbildende Funktion übersieht somit den integralen Zusammenhang von übertragendem Ausdmck und menschlicher Selbstbehauptung.16 Der Verzicht auf metaphorische und rhetorische Vermittlung käme nicht der wahren Verfassung der Wirklichkeit näher, sondern müßte das „Mängelwesen" Mensch aufgrund fehlender Instinktbindung sowie vergleichsweise geringem Grad der Anpassung an die ihn umgebende Umwelt überfordern und gefährden. Nichts dürfte dem „animal symbolicum" abträglicher sein als eine unmittelbare Konfrontation mit der Welt.17 Die Darstellung der antiken Rhetorik unterstreicht mithin ebenso wie die Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge den pragmatischen Wert rhetorischer Formung und Vermittlung. Was Nietzsche jedoch kritisiert, ist der Umstand, daß Zweckdienlichkeit und Kommunizierbarkeit zu einer Abnutzung geführt haben, welche die symbolerzeugende Kraft im Menschen zunehmend verschleiert hat. Daß wir unsere metaphorischen und rhetorischen Fähigkeiten, die für die Institationalisierung von Sprache ausschlaggebend gewesen sind, derart verleugnen konnten, bis uns die Entgegensetzung von nüchterner Wahrheitssuche und romantischer Schwärmerei plausibel erschienen ist, bildet nach seiner Ansicht das eigentliche Skandalon.
Begriffe, verbindlich erscheinende Wahrheiten sind im Originalton der Abhandlung „Metaphern, abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als
die
16
17
Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen". (KSA, 1, WL, 880f). Vgl. eine Formulierung aus dem Frühjahr 1888, welche die wahrheitstheoretische Perspektive hinzunimmt: „Die Forderung einer adäquaten Ausdrucksweise ist unsinnig: es liegt im Wesen einer Sprache, eines Ausdrucksmittels, eine bloße Relation auszudrücken [...]" (KSA, 13, NF, 14 (122), 303). „Cic. de orat. III sagt, die metaphorische Redeweise ist von der Nothwendigkeit im Drang der
Armut und Verlegenheit erzeugt, nachmals aber gesucht worden wegen ihrer Anmuth. Wie die Kleidung zuerst um die Kälte abzuwehren erfunden, nachmals auch zum Schmuck und zur Veredlung des Körpers gebraucht wurde, so entsprang der Tropus aus Mangel u. wurde häufig gebraucht, wenn er ergötzte." (KGW II, 4, 442). Vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden 131986. Daß die Rhetorik nicht nur Mängel kompensiert, sondern auch zur Selbstbehauptung des Menschen beigetragen hat, betont H. Blumenberg „Anthropologische Annäherung an die Rhetorik", in: ders., Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1981, 116.
Zum
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Spiel auf der Grenze des Ästhetischen und des Moralischen
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309
Die Rehabilitierung des irreduzibel rhetorischen Charakters der Sprache, die den Titel des dritten Paragraphen der Vorlesung letztlich ad absurdum führt, insofern von einem Verhältnis des Rhetorischen zur Sprache, einer Auftrennung von eigentlicher und uneigentlicher Bedeutung nicht mehr die Rede sein kann, wird in der Darstellung anhand der tropischen Formen expliziert. Daß die Sprache Rhetorik ist, bildet den ersten; daß die Wörter „an sich und von Anfang an in Bezug auf ihre Bedeutung Tropen" sind, bildet den zweiten wesentlichen Gesichtspunkt der Erörterung (KGW II, 4, 427). Nietzsche nennt an erster Stelle die Synekdoche als ein „Mitumfassen", welches das Verstehen von einem durch das andere gewährleistet (etwa „Welle" statt „Meer"). Zweitens geht es um die Metapher, die keine neuen Wörter schafft, sondern durch die ungewohnNietzsche te, regelüberschreitende Zusammenstellung bereits existierender Worte einen semantischen eine und eben von damit neue Überschuß, spricht „Umdeutung" die B. des Die dritte metaphorische Bedeutung inauguriert (z. „Koppe" Berges). tropische Form bildet schließlich die Metonymie, die auf „Vertauschungen von Ursach und Wirkung" beruht (so etwa, wenn der Stein als „hart" bezeichnet wird, obwohl dies keine objektive Eigenschaft, sondern eine subjektive Empfindung ist). Zusammenfassend stellt Nietzsche hierzu fest: -
-
„In summa: die Tropen treten nicht dann u. wann an die Wörter heran, sondern sind deren eigenste Natur. Von einer eigentlichen Bedeutung die nur in speziellen Fällen übertragen würde,
kann gar nicht die Rede sein. Ebensowenig wie zwischen den eigentl. Wörtern u. den Tropen ein Unterschied ist, giebt es einen zwischen der regelgerechten Rede und den sogenannten rhetorischen Figuren. Eigentlich ist alles Figuration, was man gewöhnlich Rede nennt." (KGW II,
4, 427)
Tropen klafft folglich ebensowenig ein Abgrund wie zwischen regelkonformer Sprachbenutzung und rhetorischer Provokation dieses gemeinhin geteilten Kodexes. Im Gegenteil, nicht die Figuration bildet den marginalen und damit abkünftigen Modus des wörtlichen Sprachgebrauchs, sondern die herkömmliche Rede erweist sich als Derivat übertragender Sprachtätigkeit. Dies entspricht der für den Nietzsche der Basler Zeit typischen Argumentationslinie. Im Hinblick auf die Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge ließe sich auch formulieren: Keine begriffliche Zuspitzung ohne die welterschließende und Wirklichkeit konstituierende Arbeit der Metapher. Die Darstellung deutet überdies an, wodurch eine Figur ihren Geltangsanspruch aus der Idiosynkrasie des einzelnen Sprachkünstlers heraus behauptet: „Eine Figur, welche keine Abnehmer findet, wird Fehler. Ein von irgend einem usus angenommener Fehler wird Figur." (KGW II, 4, 427)19 Der „Geschmack der Vielen" wird somit zum KriteriZwischen Wörtern und
um, die Abnehmer treffen die Auswahl. Das Phänomen des
Übergangs von Individuali-
Anne Tebartz-van Eist, Ästhetik Zum Streit zwischen Philosophie und Rhetorik bei Friedrich Nietzsche, Frei1994. Ihr hermeneutisch orientierter Ansatz (Black/Ricoeur) übergeht allerdings weite Teile der modernen Theoriebildung zur Metapher, z. B. die Polemik gegen die uneigentliche Bedeutung von Derrida bis Davidson. Einen einfuhrenden Überblick bietet neuerdings Anselm Haverkamp (Hg.), Die paradoxe Metapher, Frankfurt/M. 1998. Das Argument stammt von Gerber. Nietzsche selbst hat darauf hingewiesen; vgl. Anthonie Meijers/Martin Stingelin, „Konkordanz", ebd., 359ff. Zur der
kognitiven Funktion der Metapher im Denken Nietzsches vgl.
Metapher. burg/München
310
René Heinen
Allgemeinheit und umgekehrt, die Möglichkeit, die Energeia gegen das Ergon auszuspielen und letzteres wiedemm dort kritisch einzusetzen, wo der abweichende Sprachgebrauch schlicht fehlerhaft wird, ist damit jedoch keinesfalls geklärt. Näher als in dieser konstatierenden (und entlehnten) Formulierung scheint Nietzsche dem Problem auch in seinen späteren Werken nicht mehr gekommen zu sein. Parallelen zwischen der Darstellung und Ueber Wahrheit und Lüge bestehen also erstens, was den Anthropomorphismus der Sprachkonzeption anbelangt, und zweitens in der Abkehr von korrespondenztheoretischen Wahrheits- und Erkenntnislehren. Drittens wird in beiden Fragmenten die Überzeugung stark gemacht, daß die Figuration den eigentlichen Modus der Sprache bildet, die nicht-figurative Rede jedoch eine sekundäre und spezifische Verengung darstellt. Überdies wird Nietzsche am Schluß der Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge den künstlerisch-intuitiven Menschen dem in bloßen Abstraktionen verharrenden Philosophen bzw. Wissenschaftler vorziehen, so daß es scheint, als schlage Sprachreflexion in Reflexionsfeindlichkeit um (KSA, 1, WL, 889). Die Forschung betont für gewöhnlich die charakteristisch sprachtheoretische Ausweitung, die Nietzsche (im Anschluß an seine Quellen) gegenüber der griechischen und römischen Bearbeitung der Rhetorik vorgenommen habe. Daß er sich durch die Beschäftigung mit den antiken Autoren auch inhaltlich an der Tradition orientiert haben könnte, ist demgegenüber nicht einmal im Ansatz überprüft worden. Die folgenden beiden Abschnitte versammeln Argumente, die für eine solche Auseinandersetzung sprechen. tat in
2. Das Kriterium der Angemessenheit Bereits zu Beginn der Darstellung gibt Nietzsche einen Hinweis darauf, welchen Quellen die Auffassung der Sprache als energeia geschuldet ist. Die von Humboldt begründete Konzeption einer nicht-endlichen Anwendung endlicher Sprachmittel, welche letztlich erst die individuelle Aneignung und bedeutsame Verschiebung eines allgemeinverbindlich geltenden Kanons gestattet, dieses „Bewußtsein der individuellen Würde", das der Sprache Leben einhaucht, bezeichnet er als „römisch, nicht griechisch". Um dies zu akzentuieren, zitiert Nietzsche Schopenhauer:
„Schopenhauer W. als W. u. V. II 129 sagt .Beredsamkeit ist die Fähigkeit, unsere Ansicht eiSache oder unsere Gesinnung hinsichtlich derselben, auch in Anderen zu erregen, unser Gefühl darüber in ihnen zu entzünden und sie so in Sympathie mit uns zu versetzen: dies alles aber dadurch, daß wir, mittelst Worten, den Strom unserer Gedanken in ihren Kopf leiten, mit solcher Gewalt, daß er den ihrer eigenen von dem Gange, den sie bereits genommen, ablenkt u. in seinen Lauf mit fortreißt. Dies Meisterstück wird um so größer sein, je mehr der Gang ihrer Gedanken vorher von dem unsrigen abwich.' Hier wird das beherrschende Übergewicht der Einzelnen Persönlichkeit betont, im Sinne der Römer [...]." (KGW II, 4, 416f.) 20 ner
ferner Arthur Bd. III, 139.
Vgl.
Schopenhauer,
Werke in zehn Bänden
(Zürcher Ausgabe), Zürich 1977,
Zum
„Spiel auf der Grenze des Ästhetischen und des Moralischen
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Affektes, den wir mit einer Sache verbinden, in der Übertragung einer Stimmung, die den Anderen schließlich geneigt macht, unserer Ansicht zuzustimmen, liegt allerdings auch das Gefahrenpotential der Rhetorik. Die Gewalttätigkeit, die darin liegen mag, jemanden über geschickt verfugte Wortkombinationen und Figuren von seiner ursprünglichen Gedankenbahn abzulenken bzw. fortzureißen, scheint manipulativen Tendenzen Tür und Tor zu öffnen. Rhetorische Stilisierung, welche Energetik und Dynamik der Sprache befördert, würde so auf Kosten von Einflußnahme und Einmischung erkauft, die Individualität des vom eigenen Denken abweichenden Gedankens (im alter ego) mithin negiert. Das Meisterstück liegt hier für Schopenhauer wie Nietzsche zunächst jedoch in der Herstellung von Übereinstimmung im Kommunikationsprozeß. Nietzsche ist allerdings von Anfang an bemüht, der platonischen Polemik gegen das Rhetorische keine zusätzlichen Argumente zu liefern. Fraglich bleibt indessen, wodurch er seine Bewunderung für die römische Psychologie der Selbstaufreizung von ihren Gefahren abzuheben gedenkt. Nietzsche erörtert dieses Problem im § 4 der Darstellung, indem er den vehementen und überwältigenden Wirkungen der Rede Erfordernisse der Darstellung zur Seite stellt. Während die aristotelische Rhetorik diese Energie noch im Sender (Ethos: Zustand des Redners) und im Empfänger (Pathos: Zustand der Zuhörers) unterscheidet, faßt die lateinische Terminologie die Wirkungen der Rede generell unter „affectas" zusammen. Will der Redner die Adressaten derart „ergreifen" (oder ergriffen machen), so hat er erstens auf die Reinheit, zweitens auf die Deutlichkeit und drittens auf die Angemessenheit des Gesagten zu achten. Zusammenwirken und Balance dieses Dreiklangs unterscheiden die „charakteristische Rede" bzw. den „charakteristischen Stil" von mißlungenen Redeversuchen, die „gemacht" wirken, „verkehrte Affektationen" auslösen bzw. Stilarten vermischen. Die gelungene, auf den Kontext von Redeanlaß, -bedingungen und Zuhörern abgezirkelte Rede trifft demnach im Austarieren von Reinheit, Deutlichkeit und Angemessenheit den richtigen Ton: „alles aber modificirt nach dem Charakteristischen von Ort Gelegenheit Sprechenden Zuhörenden das Stilgefühl, welches in jedem Falle einen modificirten Ausdruck verlangt" (KGW II, 4, 432). Im Transfer des
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2
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Nietzsche behauptet, Piatons Invektiven seien gegen einen durch populäre Zwecke korrumpierten Gebrauch der Rhetorik sowie gegen die „ganze rohe u. ungenügende unphilosophische Vorbildung der Redner" gerichtet gewesen. Zu philosophischen Zwecken habe er ihre Verwendung dagegen ausdrücklich gelten lassen, vgl. KGW II, 4, 419. Eine Bewunderung, die auch noch im Spätwerk Nietzsches ihren Niederschlag gefunden hat. Etwa in der Götzen-Dämmerung: „Man wird, bis in meinen Zarathustra hinein, eine sehr ernsthafte Ambition nach römischem Stil, nach dem aereperennius im Stil bei mir wiedererkennen- Nicht anders ergieng es mir bei der ersten Berührung mit Horaz. Bis heute habe ich an keinem Dichter dasselbe artistische Entzücken gehabt, das mir von Anfang an eine Horazische Ode gab. [...] Dies Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort, als Begriff, nach rechts und links und über das Ganze hin seine Kraft ausströmt, dies minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies damit erzielte maximum in der Energie der Zeichen das Alles ist römisch [...]" (KSA, 6, GD, 155). „Dann die Vermischung der Stilarten, des erhabenen mit niedrigem, alten mit neuem, poetischen mit Gewöhnlichem. Um passend zu sprechen, muß man nicht nur auf das sehen, was nützt, sondern auch auf das, was sich geziemt." Vgl. KGW II, 4, 432. -
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René Heinen
Charakteristisch wirkt eine Rede demnach, wenn stilisierter Ausdmck und Sensibilizusammentreffen, d. h. es wird ein Gefühl sowohl im Hinblick auf die auszuwählenden Sprachmittel als auch auf das angemessen erscheinende Verhalten erfordert, ohne noch auf allgemeine Sprachregeln bzw. Handlungsempfehlungen zurückgreifen zu können. Die Kunst des Redens besteht dann in der Paßgenauigkeit von Sprachstil und Kontextsensitivität: „Der charakteristische Stil ist das eigentliche Kunstbereich des Redners: hier übt er eine freie plastische Kraft, die Sprache ist ein für ihn bereites Material" (KGW II, 4, 432). Schöpferisch wird der Rhetor dort, wo das von der Überlieferung vorgegebene Sprach- und Praxisinventar auf den jeweiligen Fall angewendet werden muß. Vergreift er sich in der Wahl der Ausdmcks, so überlagert Nietzsche zufolge der artifizielle Charakter das Zutrauen der Hörer.
tät für die Situation
„Dabei empfindet der Zuhörer die Natürlichkeit dh. die unbedingte Angemessenheit u. Einheitlichkeit: während er, bei jeder Abweichung davon, die Künstlichkeit empfindet u. dann mißtrauisch gegen die vertretene Sache wird. Die Kunst des Redners ist, nie eine Künstlichkeit merken zu lassen: daher der charakteristische Stil, der aber erst recht ein Produkt der höchsten Kunst ist: wie die Natürlichkeit des guten Schauspielers." (KGW II, 4, 433)
Natürlich bzw. charakteristisch wirkt der Stil auf die Zuhörer also, wenn die Abstimmung der Sprache auf die konkrete Rede- und Handlungssitaation derart gelingt, daß der vom Redner zu leistende Abstimmungs- bzw. Gestaltangsprozeß darin nicht mehr wahrnehmbar ist. Den Vergleich mit der Natürlichkeit des Schauspielers führt Nietzsche im Anschluß weiter aus: Wie dieser, besitzt der Rhetor die Fähigkeit, eine „Vertauschung des ego" vorzunehmen. „Der wahre Redner redet aus dem nous der von ihm vertretenen Person oder Sache heraus." (KGW II, 4, 433) Spätestens an dieser Stelle wird nun deutlich, daß die gesteigerte Empfindungsfähigkeit für das Verhältnis von Sprache und Situation, für die Anwendung des Regelkanons auf den speziellen Fall, eine ethische Dimension umfaßt. Sich in das Ego des Hörers bzw. in den nous der vertretenen Sache zu versetzen bedeutet, von sich selbst bzw. von privater Borniertheit Abstand zu nehmen und die Sache aus dem Standpunkt der anderen zu sehen. Darin wird eine Offenheit für alternative Gesichtspunkte angezielt, eine Erhebung über sich selbst zu einem allgemeinen Standpunkt angestrebt, die von der Subsumtion des Besonderen unter allgemeine Regeln oder Begriffe gmndsätzlich geschieden werden muß. Ausgehend von der jeweiligen Redesitaation handelt es sich vielmehr um eine Bewegung in umgekehrter Richtung: Angemessen und taktvoll erscheint eine Rede gerade dann, wenn sie Abstand zu den Privatbedingungen des Redners gewinnt und sich im Hinblick auf den in Rede stehenden Gegenstand bzw. die möglichen Reaktionen des Publikums öffnet. Gut zu reden bedeutet dann nicht nur, die Kunst zu beherrschen, etwas gut auszudrücken, sondern auch das Richtige zu sagen, also im Hinblick auf die 4 jeweilige Situation den passenden Ton anzuschlagen. Anders als das eingangs angeDie Hermeneutik hat in diesem Zusammenhang die humanistischen Leitbegriffe Bildung, sensus communis und Urteilskraft in ihrer vorkantischen Bedeutung rehabilitiert. Der sensus communis z. B. beinhalte in der römisch-stoischen Tradition ein positives ethisches Motiv: Die sittliche Bewältigung der konkreten Situation erfordere eine solche Einordnung des Gegebenen unter das Allgemeine, d. h. den verfolgten Zweck, daß sich das Richtige dadurch ergebe. Darin werde allerdings
Zum
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Spiel auf der Grenze des Ästhetischen und des Moralischen
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Schopenhauer-Zitat nahelegt, würde darin aber die Individualität fremder Standpunkte nicht einfach fortgerissen, sondern auf besonders feinfühlige Art respektiert, die wirksame Selbstaufreizung des Redners mithin eine Fähigkeit voraussetzen, die Sache führte
bereits „mit anderen Augen" zu betrachten. Im folgenden § 5 behandelt die Darstellung dann das Verhältnis der charakteristischen Rede zum Schmuck der Rede. Zunächst betont Nietzsche, inwiefern das Stilgefühl auf seiten des Redners ausschlaggebend für die redliche Wirkung ist. Während Reinheit und Deutlichkeit auf das Verständnis abzielen, stellt sich der Eindruck der Rechtschaffenheit ein, wenn sprachlicher Ausdruck und Person des Sprechenden zusammenstimmen: nur wenn der Sprechende und seine Sprache einander adäquat sind, glaubt der Zuhörer den Ernst u. die Wahrheit der vertretenen Sache, er erwärmt sich für den Redner u. glaubt nämlich daß er selbst an seine Sache glaubt, also redlich ist. Die Angemessenheit geht an ihn also auf einen moralischen Effekt hinaus, Deutlichkeit (u. Reinheit) auf einen intellektuellen: verstanden will man werden, als redlich will man gelten." (KGW II, 4, 434)
„[...] an
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Wortwahl und
Figuration müssen also die Persönlichkeit des Sprechenden durchscheilassen; beginnt beim Zuhörer ein Prozeß der Öffnung für das Gesagte, den Nietzsche hier als ein Erwärmen kennzeichnet. Sprachstil und Individualität sollen sich wechselseitig durchdringen, d. h. die im Hinblick auf die Redesitaation erforderte Sensibilität richtet sich gerade auch auf den Sprechenden selbst. Während zu Beginn der Darstellung der Akzent auf dem Umstand liegt, daß eine strikte Alternative von Kognition und Emotion, von deskriptivem Sprachgebrauch in Philosophie bzw. Wissenschaft und emotiver Ausdruckskraft im Bereich der Dichtung nicht mehr zu explizieren ist, arbeitet Nietzsche nun zunehmend ein Motiv heraus, das einer bloßen Willkürlichkeit des Stils widerstreitet. Mit der „agonalen Neigung der Alten" stimmt er gerade darin überein, daß die figurative Rede „Moralität" erkennen nen
erst dann
lassen muß:
„Das eigentliche Geheimniß der rhetorischen Kunst ist nun das weise Verhältniß beider Rück-
sichten, auf das Redliche und auf das Künstlerische. Überall, wo die Natürlichkeil nackt nachgeahmt wird, fühlt sich der künstlerische Sinn der Zuhörer beleidigt, wo dagegen rein ein künstlerischer Eindruck erstrebt wird, wird leicht das moralische Zutrauen des Hörers gebrochen. Es ist ein Spiel auf der Grenze des Ästhetischen u. des Moralischen: jede Einseitigkeit vernichtet den Erfolg." (KGW II, 4, 434)25
Allein das ausgewogene Verhältnis von sprachlicher Plastizität und Rechtschaffenheit des (Selbst)Ausdrucks garantiert das Gelingen der Überzeugungsarbeit. „Nicht nur angemessen, sondern schön muß man die Waffen handhaben nicht nur zu siegen, sondern elegant zu siegen ist Erforderniß bei einem agonalen Volke." Ein charakteristidie hexis, also die sittliche Haltung der Nikomachischen Ethik, bereits vorausgesetzt. Vgl. HansGeorg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 51986, 27. Die Morgenröthe wird diese Gratwanderung unter dem Titel Scylla und Charybdis des Redners aufgreifen: „Wie schwer war es in Athen, so zu sprechen, dass man die Zuhörer für die Sache gewann, ohne sie durch die Form abzustossen oder von der Sache mit ihr abzuziehen!" Vgl. KSA, 3,
M,211.
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scher Stil verurteilt demnach nicht zu schmucklosem Ausdmck; die Schönheit des Stils widerstreitet nicht per se der Ernsthaftigkeit des Gesagten. Was Nietzsche an der antiken Tradition hervorhebt, ist die Tatsache, daß sich Ästhetik und Geltangsanspruch der Rede nicht von vornherein ausschließen, vielmehr soll die „aesthetische Bezaubemng [...] zu dem moralischen Zutrauen hinzukommen, beide sollen sich nicht aufheben" (KGW II, 4, 435). Cicero wird zum Gewährsmann für diese Ausgewogenheit der Tradition, in der sich Sprachgefühl und situative Kompetenz gleichermaßen verschränken: ,„Wer deutlich, wer zusammenhängend, wer mit reicher Fülle u. strahlender Pracht der Sachen der Worte redet u. dabei fast in dichterischen Rhythmen sich bewegt das ist's was ich schön nenne. Wer zugleich sich soweit mäßigt als es die Würde der Sachen u. Personen verlangt von dem sage ich daß er das Lob eines angemessenen Vortrags verdient' [...] Hier erscheint das Charakteristische fast als eine Einschränkung des Schönen: während gewöhnlich das Schöne als Einschränkung des Charakteristischen betrachtet wird." (KGW, II, 4, 435f.) u.
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Das Zitat
aus De oratore III verdeutlicht noch einmal die Wichtigkeit von Maß und Abstand in bezug auf sich selbst, insofern der angemessene Vortrag die Würde der in Rede stehenden Sachen und Personen wahrt. Die Beschränktheit der individuellen Perspektive zurückzunehmen (Mäßigung) bildet im Anschluß an Cicero die Voraussetzung dafür, Sachverhalte aus einem allgemeineren Standpunkt darzustellen. Nietzsches Kommentar, das Charakteristische erscheine in diesem Zusammenhang fast als kritische Grenze der sprachlichen Stilisiemng, unterstreicht die Wichtigkeit ethischer Rücksichtnahme für die Rhetorik. Gespür beweist der Redner durch die richtige Auswahl der Sprachmittel im Hinblick auf Umstände, Zuhörer und Gegenstände, aber auch in bezug auf die eigene Person. Rhetorische Kunstfertigkeit läßt sich dann daran ablesen, daß die „Übertragung des Angemessenen in eine höhere Sphäre von Schönheitsgesetzen" gelingt, die Verklämng mithin „die großen Züge des Charakteristischen" sehen läßt und dabei die rhetorische Natürlichkeit der Sprache in der Nach- und Umbildung zu einer „höheren Natur" steigert (KGW II, 4, 438). Bewußte Steigemng der in der Sprache gelegenen Kunstmittel und gesteigertes Verantwortungsbewußtsein für ihre Auswahl durchdringen sich hier
wechselseitig.
Im Hinblick auf die
skeptische Sprachtheorie, die anhand des frühen Nachlasses häuakzentuiert fig bereitwillig wird, kann Folgendes festgehalten werden: Nietzsches der antiken Rhetorik erweitert die sprachphilosophisch vorgetragene Kritik Darstellung an der Metaphysik um ein ethisches Motiv. Das Kriterium der Angemessenheit gerät dabei nicht in Widerspmch zur Verabschiedung der Adäquationstheorie der Wahrheit, sondern veranschaulicht eine analoge Problemstellung in bezug auf konkretes Sprechen und Handeln. Angemessenheit der Rede bedeutet nicht, aus allgemeinen Begriffen auf Besonderes zu schließen, sondern erfordert umgekehrt, ausgehend von der Besonderheit der Umstände einen Ton oder Ausdmck zu treffen, der die Beschränktheit der eigenen Perspektive überwindet. Die sittliche Bewältigung konkreter Situationen erfordert eine analoge Anwendung auf den Kanon moralischer Prinzipien, also ein praktisches Wissen sehr
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die Vielfalt möglicher Umstände, aus dem sich die angemessene Handlung zumindest näherungsweise ergibt. Nietzsches Darstellung übergeht hingegen das Problem, inwiefern ein Redner über die erforderliche Sprach- und Handlungssensibilität verfügen, diese jedoch zu selbstsüchtigen und hemmungslos unredlichen Zwecken einsetzen könnte. Es erscheint also fragwürdig, ob die Beurteilung der Angemessenheit auszuschließen vermag, daß die Herstellung von Glaubwürdigkeit Teil eines Täuschungsmanövers sein könnte. Dabei würde es sich um eine besonders geniale und perfide Fähigkeit des Redners handeln, das von Nietzsche mit Blick auf die römische Antike bewunderte „Übergewicht der Einzelnen Persönlichkeit" zu entfalten. Festzuhalten bleibt aber auch, daß eine Rhetorik, die die normativen Implikationen des Geltungsanspruchs mißachtet, vergleichsweise schnell in den Verdacht der Substanzlosigkeit geraten kann. um
3. Rhetorik als
„Nebenschössling der Ethik"
Die Entscheidung des Herausgebers der Großoktavausgabe (Otto Crusius, 1912), auf eine Veröffentlichung der §§ 9-16 der Darstellung zunächst zu verzichten, erscheint auch nach erfolgter kritischer Edition nachvollziehbar. Nietzsche liefert größtenteils wertfreie Beschreibungen der antiken Gerichtsrede und ihrer Variationsmöglichkeiten in bezug auf Rhythmik, Thetik, Stilistik etc. Anknüpfungsmöglichkeiten für die bis hierhin entwickelte Deutung bieten erst wieder Einleitung und Übersetzung der aristotelischen Rhetorik. Rhetorik, Poesie und Ethik sind bei Aristoteles integral miteinander verschränkt. Dichtung und Stilbildung vermögen auf exemplarische Weise Analogien herzustellen bzw. Taten zu erfinden und Beispiele praktischen Handelns zu geben (etwa im Berichten früherer Ereignisse). Die Fähigkeit zu bildhafter Sprache und bewußter Formgebung orientiert sich dabei am bereits erwähnten Wahrscheinlichkeitsstatas ethischer Urteile, d. h. rhetorische Kunstfertigkeit und praktische Urteilsfähigkeit setzen gleichermaßen ein Gespür für Ähnlichkeiten, einen allgemeinen Sinn voraus, der die Orientierung in konkreten Situationen gestattet. 27 Der implizite Anstotelismus der Rhetorik-Vorlesungen wird im AnDie humanistische Tradition (z. B. Vico) spricht in diesem Zusammenhang von verisimile, dem Einleuchtenden, das der allgemeine, nicht aus Gründen ableitbare Sinn zu tun gestatte. Der approximative Charakter dieser Prägung ist bis heute im Italienischen (verosimile wahrscheinlich) ver=
nehmbar. Unter Betonung des exemplarischen Charakters ist daher die These vertreten worden, Rhetorik und Poetik bildeten bei Aristoteles einen Teil der Ethik, mehr noch, durch Bezug auf das Beispielhafte werde das Ästhetische bei ihm zum konstitutiven Moment des Ethischen. Das Exemplarische präsentiere dann im einzelnen Fall die allgemeine Regel. Der anschaulich-evidente und nichtexplikative Charakter der Regel habe zur Folge, daß nicht von ihrer mechanisch-gleichförmigen Anwendbarkeit auf den besonderen Fall ausgegangen werden dürfe. Nietzsches moralphilosophische Überlegungen stehen aus dieser Perspektive im Dienst eines „exemplarischen Imperativs", der die Prüfung des Vorgetragenen bzw. Vorgelebten jeweils den Individuen überläßt, andererseits aber durch seine motivierende Kraft einer bloßen Willkür der Beurteilung widerstreite. Vgl. Josef Früchtl, Ästhetische Erfahrung und moralisches Urteil, Frankfurt/M. 1996, 174ff.
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Schluß an Nietzsches eigener Übertragung bewährt, um in einem letzten Schritt die Folgen für die Deutung seiner frühen Sprachphilosophie zu diskutieren. In seiner geplanten Einleitung zur Rhetorik des Aristoteles betont Nietzsche zunächst, inwiefern Aristoteles mit seiner Rhetorik gegen Isocrates, einen Schüler des Gorgias, antritt. Dessen Gerichtsreden hätten sich in den Jahren zwischen 367 und 347 v. Chr. derart großer Beliebtheit erfreut, daß sie von den Buchhändlern gleich im Bündel feilgeboten worden seien. Aristoteles will die Rhetorik vor diesem Hintergmnd als „Wissenschaft der Rede" etablieren, insofern die Sophisten „von dem eigentlichen Inhalte aller Beweise (den Gedanken, R. H.)" gar nicht handeln, sondern sich weitschweifig in Äußerlichkeiten verlieren (KGW II, 4, 534). Nietzsches Respekt vor der enormen Materialfülle der aristotelischen Abhandlung mag eine Deutung als „wissenschaftliches Korrektiv" zur Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge bzw. zum Problem der Selbstre?8 ferenzialität suggerieren. Wahrscheinlicher ist hingegen, daß er der Verzahnung von rhetorischer Stilisiemng und ethischer Handlung bei Aristoteles nachspürt. In der Übersetzung Nietzsches beklagt Aristoteles an den Einlassungen der Zeitgenossen vor allem deren ausschließliche Konzentration auf die Gerichtsrede:
,,[A]uf nichts gehen sie dabei aus als wie sie den Richter so und so zu stimmen vermöchten; und die Hauptsache, nämlich die Lehre von den Beweisen, das wodurch man jemandem zu den nöthigen Gedanken verhilft, bleibt gerade unerörtert." (KGW II, 4, 535f.) Denn im 3. Buch der aristotelischen Rhetorik stehen die Kunst der Beredsamkeit und die Fähigkeit zur logischen Schlußfolgerung in einem auffallend engen Verhältnis.29 Während sich der Sophist darauf konzentriert, den Adressaten über den Schmuck der Rede geneigt zu stimmen, scheint Aristoteles eine nüchternere Version der Redekunst zu favorisieren: „Die rhetor. Art des Beweises nennen wir Gedanken; und in diesen liegt, einfach zu sprechen, die wesentlichste Macht, um jemanden zum Glauben zu bringen." Überzeugungskraft gewinnt die Rede also durch die klare Struktarierung der Gedankenfolge, ja sie erreicht das Einleuchtende des Beweises, insofern die Gedanken zu den Schlüssen gehören, „von denen bekanntlich die Dialektik handelt welche selber entweder ganz oder zu einem guten Theile eben Schlusslehre ist". (KGW II, 4, 537) Die wechselseitige Abhängigkeit erweist sich als so groß, daß die Schlußlehre einerseits als Zurüstang für die rhetorische Kunstfertigkeit auftreten, die Lehre von den rhetorischen angeordneten Gedanken andererseits aber auch als Voraussetzung für eine einleuchtende theoretische Schlußfolgerung dienen kann. Keine Rhetorik ohne Dialektik, keine
„Es hat gar keine Rhetorik bis jetzt gegeben, die eine solche Masse
von Erfahrungen zusammendrängte: nur muß man sie auf eine besondere Weise studiren, und zu der haben wir alle keine Zeit [...] Um den ganzen Aristoteles zu verstehen, ist nicht die rhetorische Seite seines Wesens zu ver-
gessen: diese
drängt
er
in seinen
systematischen
Schriften mit einer
gewissen
Unerbittlichkeit
zu-
rück, die große Charakterstärke verräth." Vgl. Friedrich Nietzsche, KGW II, 4, 527. Das Zusammenspiel von Kognition und Affekt, die Rationalität der Überzeugungsmittel und damit
die Verschränkung von Sachorientierung und Stilisierung in der charakteristischen Rede bei Aristoteles betont bereits Markus H. Wörner, ,fathos als Überzeugungsmittel in der Rhetorik des Aristoteles", in: Ingrid Craemer-Ruegenberg (Hg.), Pathos, Affekt, Gefühl; Freiburg/München 1981, 53ff.
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Dialektik ohne Rhetorik,
so
zen.30
Beide
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ließe sich dieses wiederum dialektische Verhältnis
317
zuspit-
Disziplinen konvergieren ferner dahingehend, den Glauben selbst an diametral
entgegengesetzte Ansichten erwecken zu können. Aristoteles betont dies in der Übertragung Nietzsches jedoch nicht, weil ihm das Potential rhetorischer Verführung wie
dialektischer Täuschung als unproblematisch erscheint, sondern gerade im Hinblick auf einen pädagogischen Umgang mit den Gefahren des Mißbrauchs. „[...] man soll nicht für die schlechte Sache Glauben erwecken, sondern nur damit wir wissen, wie dies gemacht wird und damit wir im vorkommenden Falle, wenn ein Andrer mit der Rede also Mißbrauch treibt es merken und öffentlich zu Schanden machen können." (KGW II, 4, 538) Während nun aber in der Sphäre des logischen Schließens noch zwischen dem Vermögen, falsche Schlüsse zu ziehen, und der bewußten Absicht, diese Fehlschlüsse für bestimmte Ziele einzusetzen, unterschieden werden kann, hält die Rhetorik hierfür keine Abgrenzung mehr bereit. Aristoteles bemängelt demzufolge, daß die Lehre von der Beredsamkeit allein vom Rhetor handelt, das Wissen um ihre manipulativen Möglichkeiten jedoch nicht mehr vom Willen zur Manipulation abhebt:
„Sophist nämlich und Dialektiker verstehen sich gleichermassen auf falsche Schlüsse, der erste aber hat auch den Willen dazu, der letztere nicht; macht einer den rechten Gebrauch von der Dialektik, so nennt man ihn einen Dialektiker, treibt er damit Missbrauch, einen Sophisten. Innerhalb der Rhetorik aber macht man keinen Unterschied mit dem Namen: ob einer sie recht oder falsch gebraucht, er heisst ein Rhetor." (KGW II, 4, 539f.)
Nachteilig wirkt sich mithin im Bereich der Rhetorik aus, daß sie für die Rechtschaffenheit ihrer Anwendung keine Bezeichnung bereithält. Als „Meisterstück" der Verständigung vermag sie sich demnach weder von negativen Intentionen abzugrenzen noch gelingt ihr auch nur eine ausreichende Identifizierung des Mißbrauchs. Aristoteles will aber die Redlichkeit als wesentliches Ingredienz der Rede gegen den Zeitgeist der Advokaten verteidigen: ,,[E]s ist nämlich falsch was einiger der Kunstlehrer aufgestellt haben, dass nämlich die Rechtschaffenheit des Redners gar nichts dazu beitrage, eine Sache glaublich zu machen; vielmehr hat gerade der Charakter, wie man fast sagen möchte, den ersten und wesentlichen Einfluss auf den Glauben." (KGW II, 4, 541) Nietzsche wird als Übersetzer der aristotelischen Rhetorik folglich mit eben jenem Problem konfrontiert, das seine Darstellung der antiken Rhetorik durch Ausarbeitung des Kriteriums der Angemessenheit bewältigen möchte. Mit der Dialektik teilt die Kunst der Beredsamkeit, daß sie für die Wahrheit der vertretenen Sache einnehmen und damit verstanden werden will, mit der Ethik, daß sie als redlich gelten und dadurch glaubhaft werden soll. Allerdings scheint Aristoteles, was den Zusammenhang von Sprach- und Sinnbildung, Selbstausdruck und Verantwortung angeht, zu einer skeptischeren Beurteilung Anlaß zu geben: „Ist aber jemand in ihr gut bewandert und versteht,
aus welchem Stoffe und auf welchem Wege ein gebildet wird, so möchte der auch wohl am besten zu den nöthigen theoretischen Gedanken kommen; vorausgesetzt dass er noch die Lehre hinzunimmt, auf was für Gegenstände sich gerade die rhetorischen Gedanken erstrecken und inwiefern sie sich von den rein logischen Schlüssen un-
Schluss
terscheiden." (KGW II, 4, 537)
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„Freilich wird der, welcher mit jenem Vermögen Missbrauch treibt, grossen Schaden anrichten können; aber das ist gemeinsam bei allen Vermögen und Kräften (das einzige Vermögen der Tugend abgesondert, welches nicht missgebraucht werden kann); gerade die, welche anerkannten Männern den grössten Nutzen bringen [...] z. B. Kraft Gesundheit Reichthum [...] aller deren Nutzen ist bei rechtem Gebrauch ausserordentlich, aber ebenso gross auch, bei unrichtiger Verwendung, ihr Schaden." (KGW II, 4, 538f.) Redner also über ein besonders feinkörniges Gespür für Sprache und konkrete Umstände, besitzt er die außergewöhnliche Gabe, seinen Vorteil in jeder Lage wahrzunehmen und seine Ziele mit genialisch anmutender Geschicklichkeit zu verwirklichen, ist ihm moralisch nicht beizukommen. Angemessenheit und logische Struktur des Dargestellten können mithin durchaus im Dienst einer Manipulationstechnik stehen. In der Übersetzung dieser Passage klingt hingegen ein Dilemma an, das auch im Rahmen der Nikomachischen Ethik thematisiert wird: Die phronesis allein ist nicht hinreichend, um Maß und Richtigkeit der praktischen Handlung zu gewährleisten, vielmehr muß die über die Erziehung eingeübte tugendhafte Haltung (hexis) hinzukommen, „denn die Tugend macht, daß das Ziel richtig wird, und die Klugheit, daß der Weg dazu richtig wird". Fehlt hingegen die Tugend als Fundament, so wird der treffende Ausdmck für schlechte Zwecke instrumentalisiert, das praktische Wissen zur gerissenen Verschlagenheit. Ein enges Verwandtschaftsverhältnis von Rhetorik und Ethik liegt also bei Aristoteles gerade auch im Hinblick auf die Problematik des Mißbrauchs vor. Nietzsche nun konkrete Rückschlüsse aus der Auseinandersetzung mit Aristoteles zu unterstellen führt ins Reich der Spekulation. Das in der Darstellung der antiken Rhetorik hervorgehobene Kriterium der Angemessenheit verbürgt die Wichtigkeit der ethischen Dimension für die Rhetorik die Tugendhaftigkeit des Geltangsanspruchs bzw. Wahrheit des Gesagten garantiert sie allerdings keineswegs. Auffallend bleibt, daß sich die beiden wesentlichen Züge der „charakteristischen Rede" Verständlichkeit und Rechtschaffenheit des Ausdmcks in der Übersetzung des Aristoteles wiederfinden lassen. Das Anwendungsproblem bezüglich der durch gemeinschaftliches Sprechen und Handeln etablierten Regeln scheint mit Aristoteles auch der Gmnd dafür zu sein, daß die Rede leicht politisch zu vereinnahmen ist.
Verfügt ein
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so ergiebt sich, dass die Rhetorik nicht nur ein Nebenschössling der Dialektik ist, als welche wir sie bisher betrachten, sondern auch ein Nebenschössling der Ethik oder um sie mit gutem Rechte noch allgemeiner zu bezeichnen, der Politik. Deshalb nimmt sie auch bei ihren Vertretern so häufig eben auch diese Gestalt an, als sei sie die Politik selber, theils aus mangelnder philosophischer Ausbildung, theils aus Prahlerei und aus anderen höchst menschlichen
„[...]
Beweggründen; [...]." (KGW II, 4, 542)
Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, übersetzt und herausgegeben von O. Gigon, München 61986, 1144 a 8ff.
„Es gibt eine Fähigkeit, die man Gewandtheit nennt. Ihr ist es eigentümlich, das zu tun und erreichen zu können, was zum vorgenommenen Ziele führt. Ist das Ziel gut, so ist sie lobenswert, ist es
schlecht, so ist sie Gerissenheit. Darum nennen wir sowohl die Klugen wie auch die Gerissenen gewandt. [...] Also ist klar, daß man nicht klug sein kann, wenn man nicht tugendhaft ist." Aristoteles, ebd., 1144 a 23ff.
Zum
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Die höchst menschlichen Beweggründe können derart überhand nehmen, daß Rhetorik in Politik und Politik in Rhetorik aufzugehen scheinen. Freilich wird von den Lehrmeistern der Gerichtsrede zumeist übersehen, inwiefern die Kunst der Überzeugung ein stimmiges Verhältnis von Plastizität und Redlichkeit voraussetzt. Aristoteles beklagt ihre ausschließliche Fixierung auf die Beeinflussung des Urteils durch „leidenschaftliche Erregung" des Publikums (KGW II, 4, 541). Nietzsche dokumentiert in den Rhetorik-Vorlesungen hingegen allenfalls ein bedingtes Problembewußtsein. Seine Darstellung läßt den subtilen Schlupfwinkel unbeachtet, den Aristoteles dem Mißbrauch sowohl in der Rhetorik als auch in der Nikomachischen Ethik zugestehen muß. Als Aristoteliker erweist er sich aber, was die Urteilsrichtang der angemessenen Rede anbelangt: Das Richtige zu sagen und glaubhaft zu vermitteln bedeutet dann, von sich selbst zu abstrahieren und sich angesichts der konkreten Situation für die möglichen Standpunkte anderer zu öffnen.
4.
Sprache, Rhetorik, Redlichkeit?
Was die Interpretation der frühen sprachphilosophischen Überlegungen Nietzsches anbelangt, läßt sich bis hierhin Folgendes festhalten: In zentralen Aspekten stimmen die Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge und die Darstellung der antiken Rhetorik überein (Ablehnung adäquationstheoretischer Wahrheits- und Erkenntaislehre, Vorrang des tropisch-figurativen Sprachmodus gegenüber strenger Begriffsbildung), jedoch spricht die Darstellung für eine Auseinandersetzung mit der antiken Tradition, die über die sprachtheoretisch fundierte Skepsis der Abhandlung hinausweist. Der enge systematische Zusammenhang von Rhetorik und Ethik wird, was das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem, Prinzipiellem und Konkretem betrifft, in der Darstellung vernehmbar, ohne daß Nietzsche auf die damit einhergehenden wahrheits- und geltangstheoretischen Probleme näher einginge. Seine spätere Einleitung und Übersetzung der aristotelischen Rhetorik bildet ein zusätzliches Indiz für diese Ausweitung, derzufolge die charakteristische Rede den Gegensatz von rationaler Argumentation und Manipulation durch irrationale Erregung der Gefühle überwindet. Auch die nachgelassenen Fragmente des Winters 1873/74 belegen dieses Bemühen, die ethische Dimension in die Definition der Rhetorik zu integrieren, geben sich aber hinsichtlich des Erfolgs zurückhaltender.33 Daß die Rhetorik-Vorlesungen die Funktion eines „wissenschaftlichen Korrektivs" zur Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge übernehmen, erscheint bei genauerer Betrachtung der Fragmente wenig plausibel. Der Verdacht des „performativen Selbstwiderspruchs" begeht den Fehler, Nietzsches Stilisierung und Asthetisierung des Denkens nicht als Konsequenz, sondern als Kompensation der Metaphysikkritik zu deuten. Das „Was ist Beredsamkeit? [...] Den fremden Intellect und Willen durch Worte erregen? Aber das thut auch der Hitzkopf, der Betrunkene. Mit Besonnenheit dies thun? Aber dies thut auch der Betrüger, der Lügner. Ist es möglich, die Moralität mit in der Definition zu berücksichtigen? Keine Vorschrift sich zu verstellen [...] Durch Worte mit künstlerischer Besonnenheit zu bewirken, dass jemand über eine Sache so denkt und fühlt wie man will. Aber gehört das Erreichen zar Definition? Nein. Auch wenn das Ziel nicht erreicht wird, ist immer noch Rhetorik da." (KSA, 7, NF, 734f.)
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Lob des „künstlerisch-intuitiven Menschen" am Ende des Fragmentes Ueber Wahrheit und Lüge steht aber nicht im Zeichen einer Fluchtbewegung; insofern führt auch die Übersetzung des Aristoteles nicht hinter die Einsicht zurück, daß Sprache mit Nietzsche rhetorisch ist. Wichtig immerhin, daß sich auch der intuitive Mensch noch an die Arbeit des Zusammensetzens begibt, nach dem Zertrümmern nicht einfach die Erkenntnis- und Verständigungsbemühung abbricht. Daß ein „regelmässiger Weg" in die Abstraktion abgeschnitten ist, erfordert somit keine prinzipielle Abkoppelung vom Weg reflexiver Einsicht und Erkenntnis. Als metaphysischer Diskurs über den verhandelten Gegenstandsbereich läßt dieser sich freilich nicht mehr stabilisieren. Insofern wird der „intuitive Mensch" die traditionelle Differenz zwischen philosophischer Begriffsbildung und „Fundamentaltrieb zur Metaphernbildung" einbeziehen müssen. Wenn eine unrhetorische bzw. unmetaphorische Natürlichkeit der Sprache nicht zu explizieren ist, wird der Versuch einer begrifflich endgültigen Ausformulierung und Ausbuchstabiemng dieser These inkonsequent. Nicht das Ende der Philosophie wird somit am Schluß der Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge heraufbeschworen, sondern lediglich das Ende ihrer traditionellen Form. Unter sprachkritischen Voraussetzungen sind unsere Erkenntnisbemühungen nicht einfach zum Scheitern verurteilt, sondern müssen über die formale Ausgestaltung (Rhetorik, Parodie, Ironie etc.) ihre zureichende Reflexion auf die
Sprache dokumentieren.34 Angesichts aktueller Tendenzen der Nietzsche-Rezeption scheint dem Verhältnis von Rhetorik und Redlichkeit eine Schlüsselstellung zu gebühren. Daß Erkenntnis, ja Sprache und Verständigung selbst als Resultat eines fundamental „ästhetischen Verhaltens" beschrieben werden können, legt einerseits den Schluß nahe, der tropische Ausdmck gewähre allenfalls noch (zu demaskierende) Illusionen 5, motiviert andererseits aber auch Versuche, die Bedeutung der ästhetischen Formgebung für Nietzsches Denken zu bestreiten.36 Wird Nietzsches Stilisiemng des Denkens gar im Sinne einer radikal katachrestischen Provokation37 hier nicht als Bildbmch, sondern wörtlich (griech.: Mißbrauch) als Substitut für die fehlende Benennung einer Sache verstanden akzentuiert, so bleibt im Dunkeln, wamm er den ästhetischen Verhaltensweisen (Auslegung, Inter-
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Erst mit Publikation des ersten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches (1878) gelingt Nietzsche der Durchbruch zur aphoristischen Schreibweise als einer Form, die dem sprach- und metaphysikkritischen Status seiner Aussagen Rechnung trägt. Vgl. hierzu auch die wichtige Methodenreflexion unter dem Titel „Das Unvollständige als das Wirksame", KSA, 2, MA I, 16If. Vgl. etwa die Deutung des Zarathustra als poetologisches Nullsummenspiel bei Claus Zittel, Das ästhetische Kalkül von Friedrich Nietzsches .Also sprach Zarathustra ', Würzburg 2000. Nietzsche avanciert dann zum Ahnherrn des philosophischen Realismus, vgl. Cornelia Wieschalla, „Ein Wahrheitsdiskurs, kein Ironiediskurs. Einwände gegen die postmoderne Nietzsche-Lektüre", in: Karl-Heinz Bohrer (Hg.), Sprachen der Ironie Sprachen des Ernstes, Frankfurt/M. 2000, 306-336. Vgl. hierzu exemplarisch die Deutung bei Detlef Otto, „(Kon-)Figurationen der Philosophie. Eine metaphorologische Lektüre von Nietzsches Darstellungen der vorplatonischen Philosophen", in: Nietzsche-Studien Bd. 27 (1998), 119-152. Vgl. auch ders., Wendungen der Metapher. Zur Übertragung in poetologischer, rhetorischer und erkenntnistheoretischer Hinsicht bei Aristoteles und Nietzsche, München 1998. -
Zum
„
Spiel auf der Grenze des Ästhetischen und des Moralischen
"
321
pretation, Überwältigung)
bis zuletzt die Forderung intellektueller Rechtschaffenheit Seite stellt. zur Diese Ambivalenz bedingungslose Asthetisierung hier, Wahrhaftigkeits- und Redlichkeitspathos dort ist besonders in den späteren Werken präsent. Im Hinblick auf die „Masken-Vielfältigkeit und Verschlagenheit" des Geistes, der gerade Verstellung und -
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Täuschung als Gipfel seiner Aneignungsfähigkeit genießt, hält Nietzsche etwa fest:
zur Maske, zum Mantel, kurz zur Oberfläche denn jede Oberwirkt jener sublime Hang des Erkennenden entgegen, der die Dinge tief, vielfach, gründlich nimmt und nehmen will: als eine Art Grausamkeit des intellektuellen Gewissens und Geschmacks, welcher jede tapfere Denker bei sich anerkennen wird [...] es klänge artiger, wenn man uns, statt der Grausamkeit, etwa eine ausschweifende Redlichkeit nachsagte, nachraunte, nachrühmte, uns freien, sehr freien Geistern: und so klingt vielleicht wirklich einmal unser Nachruhm? Einstweilen denn es hat Zeit bis dahin möchten wir selbst wohl am wenigsten geneigt sein, uns mit dergleichen moralischen Wort-Flittern und -Franzen aufzuputzen: unsre ganze bisherige Arbeit verleidet uns gerade diesen Geschmack und seine muntere Üppigkeit." (KSA, 5, JGB, 168f.)
,J)iesem Willen
zum
Schein,
fläche ist ein Mantel
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Interpretationskunst und Wandlungsfähigkeit der Willen zur Macht steht also nach vor die Bemühung des Erkennenden entgegen, zu entlarven, hinter den Oberflächenphänomenen Wesentliches aufzuspüren, zu entdecken statt zu erfinden. Nietzsche Der
wie
unterstellt aber, daß Worte wie „Redlichkeit, Liebe zur Wahrheit, Liebe zur Weisheit, Aufopferung für die Erkenntnis, Heroismus des Wahrhaftigen" auch noch zum „alten Lügen-Putz, -Plunder und -Goldstaub der unbewussten menschlichen Eitelkeit" gehören, weshalb er den moralisierenden Beigeschmack hier vermeiden will. Die Schwierigkeit besteht für ihn darin, (wissenschaftliche) Strenge und intellektuelle Redlichkeit einzuklagen, ohne sich noch an der tradierten „Übermalung" der gewaltsamen und schrecklichen „homo natura" zu beteiligen. Den „Grundtext" fortwährender Auslegungen und Überwältigungen gilt es vielmehr mit „unerschrockenen Oedipus-Augen und verklebten Odysseus-Ohren, taub gegen die Lockweisen alter metaphysischer Vogelfänger" zu betrachten (vgl. ebd.). Auf der Höhe der von ihm selbst vorgetragenen Sprachkritik verbietet sich also eine Ausdrucksweise, die althergebrachte teleologische Versprechungen und Erkenntnisideale im Schlepptau hat. Die Gewissenhaftigkeit, die darin liegt, Erkenntnis nicht mehr jenseits des Fundamentaltriebs zur Metaphernbildung und der Machtwillen anzusiedeln, den Denker nicht länger als „Hinterweltler" zu betrachten, stößt an die Grenzen einer (philosophischen) Sprache, die gerade Sinnlichkeit und Diesseitigkeit verdrängt. Insofern betonen die veröffentlichten Werke eher den willkürlichen und überwältigenden Charakter der Machtwillen- und Interpretationsprozesse: Nietzsche geht somit sicher, zumindest nicht mit der „unehrlichen und moralistischen Verlogenheit" seiner Zeitgenossen identifiziert zu werden (vgl. KSA, 5, GM, 386). Sein Bekenntnis am Ende von Zur Genealogie der Moral, der „unbedingte redliche Atheismus (- und seine Luft atmen wir, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters!)" stehe gerade nicht im Gegensatz zum asketischen Ideal, sondern sei vielmehr Ausprägung christlicher Wahrhaftigkeit, die „am Ende ihren stärksten Schluss, ihren Schluss gegen sich selbst" (vgl. KSA, 5, GM, 409ff.) ziehe, erscheint vor diesem Hintergrund
322
René Heinen
weniger überraschend als konsequent. Die Selbstaufhebung und Selbstüberwindung der Moral mag noch auf einen Zuwachs an Moralität und Gewissenhaftigkeit hoffen3 das angekündigte Werk Der Wille zur Macht, Versuch einer Umwerthung aller Werte wird sich solche ungetilgten Reste teleologischen Denkens nicht mehr erlauben dürfen, also eine andere und neue Sprache sprechen müssen. Auf den ersten Blick scheint die Fragment gebliebene Philosophie der Machtwillen mit einer an der römischen Antike orientierten Psychologie der Selbstaufreizung und (rhetorischen) Selbstermächtigung blendend zu harmonieren. Nietzsche wird aber noch im späten Nachlaß die Selbstberauschung an der Kraft einer bestimmten Deutangsperspektive als „Übergewalt eines dämonischen Einflusses" brandmarken. Auch hier bleibt also die Fähigkeit, zu sich selbst Abstand zu gewinnen, das eigene Verständnis einer Sache selbstkritisch zu reflektieren, Voraussetzung für die Redlichkeit individueller Aneignung. Wenn Sprache Rhetorik ist, ihr Wesen also gerade darin besteht, daß die Zeichen nicht das Wesen der Dinge abbilden, erscheint ein Ethos der Rede bzw. der Verständigung zunächst sinnlos. Fehlt der Wahrheitsbezug, wird Sprache zum unkontrollierbaren Spielball dynamischer Macht- und Kräfteverhältnisse. Darin bleibt unbeachtet, daß Sprache und sittliches Wissen (phronesis) nicht instrumentalisiert werden können wie ein Werkzeug, das ausgewählt wird oder auch nicht. Stilvoll zu sprechen und zu handeln setzt einerseits voraus, daß keine allgemeingültige und letztbegründete Verknüpfung von Zeichen und Sache etabliert werden kann (Skepsis). Zum anderen wird aber ein überlieferter Kanon von Regeln und Prinzipien in Anspmch genommen, der sich in gemeinschaftlicher Praxis sedimentiert hat (Zeichen als Abbreviaturen/Pragmatik).40 In und aus einer solchen Sprach- und Praxisgemeinschaft heraus ist dieses Wissen nicht einsetzbar wie ein Katalog, in dem der je besondere Fall abgebildet wäre. Vielmehr läßt ,
„[...] hier, wenn irgend worin, sind auch wir noch Menschen des Gewissens: dass wir nämlich nicht wieder zurückwollen in Das, was uns als überlebt und morsch gilt, in irgend etwas Unglaubwürdiges, heisse es nun Gott, Tugend, Wahrheit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe; dass wir uns keine Lügenbrücken zu alten Idealen gestatten; dass wir von Grund aus Allem feind sind, was in uns vermitteln und mischen möchte; feind jeder jetzigen Art Glauben und Christlichkeit; feind dem Halb- und Halben aller Romantik und Vaterländerei; feind auch der Artisten-Genüsslichkeit, ArtistenGewissenlosigkeit [...] allein als Menschen dieses Gewissens fühlen wir uns noch verwandt mit der deutschen Rechtschaffenheit und Frömmigkeit von Jahrtausenden [...]" (KSA, 3, M, 16). So heißt es bei ihm mit Blick auf die Auslegung des Todes Jesu durch Paulus: „Ein Gedanke, dem ein solcher décadent nicht Widerstand zu leisten vermag, dem er vollends verfallt, ist als wahr bewiesene. Alle diese heiligen Epileptiker und Gesichte-Seher besaßen nicht ein Tausendstel von jener Rechtschaffenheit der Selbstcritik, mit der heute ein Philologe einen Text liest oder ein historisches Ereigniß auf seine Wahrheit prüft [...] es sind, im Vergleich zu uns, moralische Cretins [...]" (KSA, 13, NF, 14(57), 244f). „Der Gegensatz ist nicht falsch und wahr, sondern Abkürzungen der Zeichen im Gegensatz zu den Zeichen selber. Das Wesentliche ist: die Bildung von Formen, welche viele Bewegungen repräsentiren, die Erfindung von Zeichen für ganze Arten von Zeichen." KSA, 12, NF, 1(28), 17.
sich sagen, daß unabhängig vom Druck konkreter Sprech- und Handlungssituationen gar nicht voll bestimmt werden kann, was zu sagen bzw. zu tun ist. Insofern Nietzsche also die rhetorische Natürlichkeit der Sprache gegen die Gefahr der Begriffshypostasierung in der Philosophie ausspielen, Tropen und figurative Rede in ihren sinnbildenden Potentialen rehabilitieren will, ist zu beachten, daß der Gebrauch von Sprach- und Verhaltensregeln dadurch nicht im willkürlichen Sinne „frei" wird. Besonnenheit des Sprachgebrauchs, der im Hinblick auf die je spezifische Situation angemessene Ausdruck und Tonfall setzen vielmehr die Fähigkeit voraus, sich entsprechend der Natürlichkeit des guten Schauspielers" in eine fremde Person oder Sache hineindenken und einfühlen zu können. Die „Vertauschung des Ego" bildet hierfür in der Darstellung der antiken Rhetorik das Stichwort. Ästhetisch wird die Beredsamkeit Nietzsche zufolge gerade dadurch, daß sie diese Reflexions- und Abstimmungsarbeit verdeckt, wenn sie den charakteristischen Ausdruck trifft. Besonders verständnisvoll reagiert und spricht derjenige, der im vorhinein bereit ist, den möglichen Standpunkt anderer gelten zu lassen und ernst zu nehmen. Die Überzeugung von der Notwendigkeit eines derartigen Ethos der Verständigung eint heute weite Teile der kontinentaleuropäischen und anglo-amerikanischen Philosophie. Während (post)analytische und interpretationstheoretische Strömungen in diesem Zusammenhang das Prinzip der Nachsichtigkeit („principle of charity") anführen, nennt die Hermeneutik dies „Macht des guten Willens".
Die Hermeneutik spricht mit Blick auf dieses gemeinschaftlich geteilte Wissen von „Leitbildern" (z. B. Solidarität, Menschenwürde, Anstand) und beruft sich insbesondere auf Aristoteles, wenn die sittlich-politische Bindungskraft dieser Maßstäbe als nicht lehrbares Wissen charakterisiert wird. Sie können nicht den Geltungsanspruch von Normen erheben, sondern allenfalls von Schemata, die sich immer erst in der Situation des Handelnden konkretisieren. Umgekehrt soll darin aber mehr getroffen werden als in einer bloßen Konvention. Leitbilder „geben wirklich die Natur der Sache wieder", allerdings mit der Pointe, daß deren volle Bestimmung erst in der jeweiligen Anwendung gelingt. Es handelt sich also um Schemata, die ihre Kraft erst in der Offenheit fortdauernder Applikationen entfalten und vervollkommnen. Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, ebd., 326.
Sasan Seyfi
Das
hundertköpfige Hunds-Ungetüm, das ich liebe
Friedrich Nietzsche und das Meer
„Meerluft, unentbehrlich für meinen Kopf (KSB 6, 51), meldet Friedrich Nietzsche im November 1880 von Genua aus ins thüringische Naumburg und verkündet wenig später, daß er überhaupt nur noch am Meere leben könne. Damit scheinen alle Hoffnungen von Mutter und Schwester, daß er sich als pensionierter Philologe in Reichweite befestigen ließe, vorerst zerschlagen. Bereits ein Jahr zuvor, im Mai 1879, hatte Nietzsche seinen Basler Professorenkittel an den Nagel gehängt und vagabundierte seitdem als „fügitivus errans" (= umherirrender Flüchtling) zwischen Engadin und Riviera. Wenn nicht am Meer, so hält sich Nietzsche in den nächsten zehn Jahren fast ausschließlich am Wasser auf, pendelte zwischen Sils-Maria, Genua, Sorrent, Rapallo, Venedig, Portofino, Nizza und Nepael, immer auf der Flucht vor Kopf- und Augenschmerzen, ehe er Turin zu seiner Residenzstadt erklärt. Wäre das Meer nur ein biografisches Aperçu, nur eine bloße Vorliebe für die Küstenregionen und deren heilsames Klima Nietzsche hätte sich dieser Eigenwahrnehmung als erster bemächtigt. Kein Philosoph weist einen höheren Verschleiß an nautischen und maritimen Metaphern auf, deren semantische Bezüge derart vielfältig, widersprüchlich und kontingent scheinen, als hätten sie selbst den Aggregatzustand des Meeres angenommen. In seinen Meeresbildern kann man auf Entdeckung fahren, sich treiben lassen oder untergehen. Denn wo immer sich Nietzsche auf dem Gebiete des Geistes gerne als Seefahrer und Columbus figuriert, bleibt er mit einem Bein an Land, ein „unfreiwilliges Landthier", ein Strandläufer und Meergucker, der seine Füße von der anbrausenden Gischt umspülen lässt oder wie die Eidechse in der Sonne auf einem Felsen ruht und in Gedanken auf Abenteuer ausfährt. Mit dem anderen Bein aber driftet er ab, kommt im wahrsten Sinne des Wortes vom Kurs ab. Versuche, Nietzsches Meeresmetaphern einzukreisen und ihnen eine eindeutige, stabile Bedeutung im Gesamtwerk zuzuweisen, müssen notwendigerweise scheitern und führen einmal mehr das Fortgetragenwerden von der Sprache, die man zu steuern glaubt, vor: -
„Für einen Menschen, den meine Denkweise rund und ganz gemacht hat, ,ist Alles im Meere',
ist das Meer überall: aber das Meer selber hat an Tiefe verloren. Doch ich war auf dem Wege zu einem ganz andren Gleichnisse und habe mich nur verlaufen! Ich wollte sagen: ich bin -
Sasan Seyfi
326
gleich Jedermann als Landthier geboren NF, 11,549)
und
nun
muß ich trotzdem Meer-Thier sein!"
(KSA,
-
Nur wer ausläuft, weiß Nietzsche, kann sich verlaufen. Für ihn besteht das Wagnis des Denkens darin, das Schiff wie ein vorläufig tragfähiges Vehikel zu besteigen und alles „Fest-gestellte" über Bord zu werfen, ohne sicher zu sein, wie lange es trägt und wohin es ihn führt. Das Meer ist sein nicht zu verortender Topos, sein angenehmer Widersacher. Es breitet sich ohne Punkt und Koordinaten aus und kein Vergleich hält ihm stand. Jeder Versuch, das Meer sprachlich einzudämmen, mündet daher nur in einer weiteren Entgrenzung des Meeres, die eine Verflachung darstellt. Die Grenzen zwischen „wörtlich" und „übertragen", zwischen „Gleichnis" und „Verglichenem" lösen sich fortwährend auf und das Meer kann sich bestenfalls noch als Metapher dieser Entgrenzung behaupten, als strömendes und Strömungen in sich aufnehmendes Medium, das den erhabenen, eben noch festen Standpunkt, von dem aus ein Sprechen über das Meer gefunden wurde, unterspült und fortträgt. Das Meer ist Nietzsches exponierte philosophische Sphäre des Übergangs und Untergangs, da es einerseits die Vorstellung vom sicheren Befördertwerden von der Sprache, als einem Vehikel, das man zu steuern glaubt, hervorbringt und gleichzeitig desavouiert, und andererseits das Ende eines als Irrfahrt oder Tanz an der Oberfläche begriffenen Denkweges immer wieder in Frage stellt.
Das
ewige Wagnis
Artillerie und Nautik prägen Nietzsches Denkfiguren. Entlarvt er Wahrheit schon in seinem frühen Aufsatz Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne als ein bewegliches „Heer von Metaphern", sieht er sich auf dem Gebiet des Denkens am liebsten als Columbus, als Seefahrer und Entdecker, der alle Philosophen auf die Schiffe raft, die Sicherheit des Festlandes hinter sich lassend geistige Anker lichtet und sich in die Fluten stürzt. Immer muß es ein Wagnis sein.1 Das Meer kann ihm nicht tief, die Gefahr nicht groß genug sein. „Immer", so fordert er, „sei das tückische Meer oder das erbarmungslose Hochgebirge um den Forschenden!" (KSA, NF, 9, 351) Das Ineinanderspiel dieser beiden extremen Landschaftsformationen hat Nietzsche immer wieder variiert. Sein Zarathustra lehrt, daß die höchsten Berge aus dem Meere kommen: „Dies Zeugnis ist in ihr Gestein geschrieben und in die Wände ihrer Gipfel. Aus dem Tiefsten muß das Höchste zu seiner Höhe kommen." (KSA, ZA, 4, 195) Der Substanzbegriff und die Abgrenzung von Wahrheit entspringen einer terrestrischen, in Nietzsches Augen seßhaft gewordenen Philosophie, die mit der einen Wahrheit auch den einzigen Richtangssinn von Erkenntnis vorschreiben und ihren Machtansprach sichern will. Für ihn zeigt sich „falscher" Wille zur Macht auf Seiten jener Erkenntniswärter, die das lebendige Werden der Wirklichkeit mit Kategorien und Begriffen unter Arrest stellen wollen. Der Glaube an das Gute und das Wahre, der gute
Vgl. hierzu: „Das ist die Hingebung des Größten, daß es Wagnis ist und Gefahr, Würfelspielen." KSA, ZA, 4, 148.
ein
und
um
den Tod
Das
hundertköpfige Hunds-Ungetüm, das ich liebe
327
Verstehen sind für ihn nur Ausdruck eines domestizierten Willens zur Erkenntnis, der die gewalttätige Dressur, die Austreibung des Leibes aus dem Geiste vergessen hat. Nietzsches Metaphysikkritik zielt nicht nur auf eine Abrechnung mit Piaton, Christentum und Kant, sondern in Anlehnung an die Vorsokratiker und Atomisten darauf, daß es keine feststehende Erkenntnis vom Sein des Seienden gibt, weil es überhaupt kein harrendes Sein an sich gibt, sondern nur das Werden als ein dionysisches Auf und Ab, als ein wogendes Widerspiel sich auftürmender Kraftzentren und Willensquanten, die sich ebenso sammeln, übereinanderstürzen und auflösen wie die Wellen des Meeres. Sein Ideal ist ein „Baugenie, dem auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fliessendem Wasser das Aufthürmen eines unendlich complicirten Begriffsdomes gelingt." „Freilich", setzt Nietzsche hinzu, „um auf solchen Fundamenten Halt zu finden, muss es ein Bau, wie aus Spinnefaden sein, so zart, um von der Welle mit fortgetragen, so fest, um nicht von dem Winde auseinander geblasen zu werden." (KSA, WL, 1, 882) Die traditionellen Denkgebäude und Systeme, heißen sie nun „Gott", „das Ding an sich" oder „Logik", stürzen wie Kartenhäuser in sich zusammen. Einzig die fadenscheinig zarte, leichte und akrobatische Form des Aphorismus seit 1876 Nietzsches favorisierte Textsorte soll sich als tragfahige Ideenarchitektar erweisen, weil sie weder statisch noch auf Abschluss angelegt ist. Mit seiner offenen, experimentellen Form ist die Vorstellung abschließbarer Denksysteme und fixierter Bedeutung ebenso verabschiedet wie die Idee des Zu-Ende-Kommens. Guter Stil ist für Nietzsche deshalb auch keine Frage des guten Geschmacks, sondern eine Frage philosophischer Genauigkeit. Gut ist für ihn jeder Stil, „der einen inneren Zustand wirklich mittheilt" (KSA, EH, 6, 304), sei es das Chaos im Dasein oder, daß es keine gesicherten Wahrheiten mehr gibt. Dieses Chaos meint nicht das wüste Durcheinander, sondern die unbekannte Vielheit der Strömungen des Daseins, deren Gesetz wir nicht unmittelbar kennen. Sich auf dieses Chaos, das Meer unbekannter Strömungen hinaus zu wagen, sich ihnen zu überlassen, begreift Nietzsche als das Wagnis des Denkens, einen Topos, den Heidegger zwar ebenfalls als Gütesiegel der Philosophie vergibt. Doch anders als bei Nietzsche gehört bei Heidegger das Denken in den befestigten Bereich des Bauens und Wohnens. Für ihn ist „die Heimatlosigkeit [...] der einzige Zuspruch, der die Sterblichen in das Wohnen ruft".2 Im Gegensatz zu Heidegger bleibt Nietzsche ein Philosoph ohne festen Wohnsitz und schreibt es seinem Glück zu, kein Hausbesitzer zu sein. Wenn überhaupt, so will er seine Stätte am Vesuv oder mitten ins Meer hinein gebaut wissen: Wille
zum
-
-
„Ich würde mir kein Haus bauen [...] Müßte ich aber,
so würde ich, bis ins Meer hineinbauen ich möchte schon mit diesem schönen lichkeiten gemeinsam haben." (KSA, FW, 3, 513)
es
gleich manchem Römer, Ungeheuer einige Heim-
-
:
Martin
Heidegger, „Bauen Wohnen Denken", in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1990,
156.
Sasan Seyfi
328
Schiffbrüche Nietzsches Mesalliance mit den Meer beginnt mit einer Serie von Schiffbrüchen und lässt sich bis in die Zeit holpriger Jugendreime zurückverfolgen: „Eine drükende Schwüle herrscht auf dem Meere Und alles klaget und seufzet sehr Denn man will es als Vorbote sehn Daß über den Meer ein Sturm wird
gehen."3
die Kasusschwäche reicht bis in Das Strickmuster der apokalyptischen Szenarien seine Studienzeit und taucht in den Jahren der „geistigen Umnachtung" wieder auf ist fast immer gleich: Ein Schiff verlässt den Hafen, auf hoher See zieht ein Sturm auf, das Schiff wird von den Wellen zerschmettert, die Mannschaft wäre verloren, wenn nicht in letzter Minute Rettung gekommen wäre. Noch kennt der junge Herr Pastor, wie ihn seine Mitschüler rufen, das Meer nur als dämonische Sphäre des Bösen, des Unbekannten und Unberechenbaren, eine Sphäre, in die man nicht ungestraft vordringt. In seiner Vorstellungswelt erscheint der Schiffbruch noch als schicksalhafte Fügung, als Zurechtweisung dafür, daß man eine natürliche und gottgegebene Grenze überschritten -
-
hat.
In seiner
Untersuchung Schiffbruch mit Zuschauer
hat Hans Blumenberg die Topographie von festem Land und unstetem Meer als Paradox einer Daseinsmetaphorik herausgearbeitet. Obwohl der Mensch seine Institutionen auf dem Festland errichtet, sucht er die Bewegung seines Daseins bevorzugt mit Metaphern der gewagten Seefahrt zu begreifen. So nennt Schopenhauer das Leben „ein Meer voller Klippen und Strudel".5 Selbst wenn es dem Menschen gelingt, die Klippen zu umschiffen, steuere er mit jedem Schritt auf den „unvermeidlichen und unheilbaren Schiffbruch"6, den Tod zu, der ihm dann schlimmer erscheine als alle Klippen. Auch die Wesensbestimmung des Menschen als animal rationale begreift Schopenhauer mit den rhetorischen Figuren der Navigation: Der Mensch „verhält sich [...] zum Thiere, wie der Schiffer, welcher mittelst Seekarte, Kompaß und Quadrant seine Fahrt und jedesmalige Stelle auf dem Meer genau weiß, zum unkundigen Schiffsvolk, das nur die Wellen und den Himmel sieht".7 Die Vorstellung von einer stürmischen und unberechenbaren See konfiguriert das Bild des sicheren, geborgenen Hafens, als dem Ort, an dem die Irrfahrten des Lebens ihr Ende finden sollen. Indem der drohende Schiffbrach die Land-Meer-Grenze markiert, schraubt er das Maß an Kühnheit herauf, das erforderlich ist, um just diese Grenze zu überschreiten.
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4
6 7
Friedrich Nietzsche, Frühe Schriften (FS), 5 Bände, hg. v. Hans Joachim Mette, München 1994, Bd. 1,338. Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt am Main 1979, 13ff. Arthur Schopenhauer, Zürcher Ausgabe (ZA), 10 Bände, hg. v. Angelika Hübscher, Claudia Schmölders u. a., Zürich 1977, Bd. 2, 391. Ebd. Arthur Schopenhauer, ZA, Bd. 1, 127.
Das
hundertköpfige Hunds-Ungetüm, das ich liebe
329
Nietzsches Perspektive auf das Meer bleibt nicht lange die eines unbetroffenen Zuschauers. Schon in seiner mit „Aus meinem Leben" überschriebenen Autobiografie kann sich der 14-jährige Primus nichts „Lieblicheres" denken, als „sich der Strömung zu überlassen, und ohne Mühe auf den weichen Fluthen hinzugleiten". Und in einer frühen Apologie auf Hölderlin macht ihm dessen Hyperion den gleichen Eindruck „wie der Wellenschlag des erregten Meeres".9 Die erotische Konnotation herandrängender Wellen, die Zuckungen und der „Schaum des Epileptischen" Nietzsches Deutschlehrer riet, er solle sich künftig an einen „gesundern, klarern, deutscheren Dichter" halten werden im Zarathustra wieder aufgegriffen. Dort lässt er die aufgehende Sonne am Meere saugen und „seine Tiefe zu sich in die Höhe trinken: da hebt sich die Begierde des Meeres mit tausend Brüsten. Geküßt und gesaugt will es sein vom Durste der Son-
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(KSA, ZA, 4, 159)10 Später, als Nietzsche im Alter von zwanzig Jahren das Internat in Schulpforta verlässt, verfügt er nicht nur über philologische Kenntnisse, von denen er noch als Basler Professor wird zehren können, er besitzt den geistigen Kompass, um sich, wie er sagt, ne".
hinaus auf das Meer des Zweifels zu wagen. Es dauert noch zwölf Jahre, ehe er bei Genua einen ersten Blick aufs Mittelmeer werfen kann. Gemeinsam mit dem neu gewonnenen Freund Paul Rée und seinem Schüler Alfred Brenner bricht Nietzsche im Oktober 1876 zu einer Erholungsreise nach Italien auf. Über Genfund Turin führt die Reise weiter bis nach Genua. Zum ersten Mal in seinem Leben sieht er hier am 21. Oktober 1876 das offene Meer, jenes Element, das in seinen späteren Schriften so häufig als Ort geistiger Befreiung und wieder neu geglaubter Ziele gefeiert wird. Umso mehr verwundert es, daß er diese erste Begegnung herunterspielt. Lakonisch-weltmännisch, als handele es sich um eine alltägliche Spazierfahrt, teilt er der Schwester mit: „Eben von einer Fahrt im Hafen und in's Meer hinaus, zurück. Schönste Abendruhe und Farbe." (KSB 5, 196) Spontan entschließen sich die drei Freunde anstelle der Bahn mit dem Schiff weiter nach Neapel zu reisen, wo Malwida von Meysenbug, eine Freundin Nietzsches, die Gruppe in Empfang nimmt und nach Sorrent begleitet. Für den „HalbKranken" ist es eine Frage der Ehre, auf der dreitägigen Überfahrt als seefest durchzugehen. Stolz und geschönt berichtet er seiner Schwester Elisabeth, „und siehe, wir entgiengen der Seekrankheit". (KSB 5, 197) Als es am dritten Tag etwas stürmischer zugeht, verschwindet einer nach dem andern vom Mittagstisch. Immerhin bezeugt Alfred Brenner: „Nietzsche hielt lange aus."11 Als er jedoch am 8. Mai 1877 Sorrent mit dem Schiff Ancona verlässt, um eine Kur in Ragaz zu versuchen, wird die Passage zur „Höllenfahrt". „Mare molto cattivo" (KGW IV/4, 30), trägt er in seinen Notizkalender ein, und Malwida von Meysenbug erhält aus Lugano ausführlichen Bericht vom menschlichen Elend und den schwärzesten Gedanken dieser Überfahrt, daß er „in Bezug auf Selbstmord allein darüber im Zweifel blieb, wo das Meer am tiefsten sei, damit man -
8
9
10 "
FS 1,24. FS 2, 2. Vgl. auch KSA, NF, 10,346. Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten, chen, Wien 2000, 382.
hg.
v.
der
Stiftung
Weimarer
Klassik,
Mün-
Sasan Seyfi
330
nicht gleich wieder herausgefischt werde und seinen Errettern noch dazu eine schreckliche Masse Gold als Sold der Dankbarkeit zu zahlen habe". (KSB 5, 235) Noch 1886, nachdem die „antisemitische Gans" Elisabeth endlich nach Paraguay abgesegelt ist, wird Nietzsche die Seekrankheit anführen, die ihn als „guten Europäer" daran hindere, Europa zu verlassen: „Auch hat mir jeder Capitän gesagt [...] daß ich zu denen gehöre, die an der Seekrankheit zu Grande giengen, wenn ich's weiter triebe, wie ich's jedes Mal getrieben habe." (KSB 7, 241)
Wellenreiter Der mediterrane Süden wird Nietzsche
schem Vorbild „natürlichen"
zur
Metapher einer geglückten, nach vorsokrati-
Lebensform, die im krassen Gegensatz zur Schwermut der
des Nordens steht.12 In Sorrent wird der Genesende das nächste halbe Jahr bis Mai 1877 verbringen und rückblickend notieren, daß er dort die Moosschicht von 9 Jahren hob. Angeregt durch Paul Rée und die gemeinsame Lektüre der französischen Moralphilosophen beschäftigt sich Nietzsche zunächst mit Wert- und Moralfragen und beginnt mit den ersten Aufzeichnungen zu Menschliches, Allzumenschliches. Schon auf den ersten Seiten des neuen Buches, das im Untertitel als Buch fir freie Geister angekündigt wird, experimentiert Nietzsche mit Fragen wie:
bodenständigen Philosophie
„Kann
man
nicht alle Werte umdrehn? Und ist Gut vielleicht Böse? Und Gott
nur
eine Erfin-
dung [...] des Teufels? Ist Alles vielleicht im letzten Grunde falsch? Und wenn wir Betrogene sind, sind wir nicht eben dadurch auch Betrüger?" (KSA, MA, 2, 17) Gut und Böse, schuldig und unschuldig sind Nietzsche zufolge nicht länger moralische
Werte an sich, sondern kulturgeschichtlich geprägte und daher fragwürdige Begriffe. Die herrschende Moral brandmarkt nach Maßgabe ihrer Interessen diese menschlichen Handlungen als „böse" und jene als „gut", als moralische Kategorien aber setzen sie voraus, daß der Mensch erstens weiß, was er tat und zweitens, daß er aus freien Stücken so und nicht anders handelt. Beide Annahmen zählt Nietzsche zu den metaphysischen Grandirrtümem der Festland-Philosophie. Nur „weil sich der Mensch für frei hält, nicht aber weil er frei ist, empfindet er Reue und Gewissensbisse." (ebd, 64) Solange der Mensch in ein religiöses, soziales und psychologisches Netz von Zwängen verstrickt ist, ist der freie Wille eine Selbsttäuschung. Nietzsche versucht den überlieferten Moralbegriff utilitaristisch umzumünzen: Der Mensch handelt immer „gut", er tat nämlich das, was ihm gut und nützlich scheint, seine Handlungen dienen insofern der Selbsterhaltang, als sie versuchen, Schmerzen abzuwenden und Lust zu steigern, menschlich-
allzumenschlich. An der dionysischen
che ihm mal stürmisch
Sphäre des Meeres, dessen verführerisch schimmernde Oberfläbewegt und aufgerissen wie ein Labyrinth der Hölle, mal glatt
Ulrich Willers erkennt in Nietzsches „Süden" bereits einen Vorboten für „die Möglichkeit der Überwindung der Dekadenz, für die Befreiung, die zwar nie am Ziel ist, aber nie ziellos." Ulrich Willers, „Zäher Wille zum Süden", in: Nietzsche. Süden, hg. v. Stiftungsrat Nietzsche-Haus in Sils Maria, Innsbruck 2000, 85-88.
Das
hundertköpfige Hunds-Ungetüm, das ich liebe
331
und trügerisch wie die Oberfläche eines Spiegels erscheint, entwickelt Nietzsche seine Dialektik von Oberfläche und Tiefe, Innen und Außen, Nähe und Ferne. Hier bricht er mit den überlieferten Begriffsoppositionen der Metaphysik gut böse, wahr falsch, sinnlich intelligibel. Schon zu Beginn von Jenseits von Gut und Böse formuliert Nietzsche den Verdacht, „dass was den Werth jener guten und verehrten Dinge aus-
-
-
macht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zusein". (KSA, JGB, 5, 17)
Überdrüssig der Einsicht in die Unmöglichkeit von Erkenntnis sieht Nietzsche am Mittelmeer die Möglichkeit von neuen, „wieder erlaubten" und „wieder geglaubten Zielen" (KSA, FW, 3, 346) und nennt sich in Anlehnung an Jean Paul einen „LuftSchifffahrer des Geistes". In Genua reflektiert er die Möglichkeit, weiter zu fliegen, als man für möglich hält, dorthin, wo „Alles noch Meer, Meer, Meer ist!" (KSA, M, 3, 331), auch um den Preis, an der Unendlichkeit Schiffbruch zu erleiden. Nietzsche sucht keine einfache Lösung, sondern den schwierigsten Zustand auszuhalten. Er will das Ei nicht zum Stehen bringen, er will Columbus ohne Ankunft sein: „Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns, mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! Sieh' dich vor [...] es giebt kein ,Land' mehr!" (KSA, FW, 3, 480)
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Der Titel seiner in Lieder und Gedichte gerahmten Aphorismensammlung Die fröhliche Wissenschaft geht auf den Frühromantiker Friedrich Schlegel zurück. Dieser hatte in seinem Romanfragment Lucinde erstmals von einer Fröhlichen Wissenschaft gesprochen und damit eine Vereinigung von Lebenskunstsinn und wissenschaftlichem Geist gemeint. An diese Synästhesie knüpfte Nietzsche eine bestimmte Form der Selbstironie: Erst wenn die Menschen gelernt haben, über sich selbst zu lachen, wenn sich das Lachen mit der Weisheit verbündet hat, gibt es die freieste aller Lizenzen, eine fröhliche Wissenschaft. Aus dem Wanderer Nietzsche ist ein geistiger Wellenreiter, ein fröhlich-
dionysischer Prinz Vogelfrei geworden, ein lichtumgürteter Tänzer, der um Moral, Religion und Kunst seine Kreise zieht. Der freie Tanz stellt die Figur einer freien Erkenntnis dar, bei dem Gegenstand und Betrachter wechselseitig in Bewegung bleiben, und der Reichtum der Welt sich aus möglichst vielen verschiedenen Blickwinkeln erschließt. Im uneingeschränkten Wechsel der Perspektiven ist der Mensch zwar von keiner einzelnen Perspektive mehr gefangen, gleichwohl kann er nicht alle Blickrichtungen gleichzeitig einnehmen. Geistige Freiheit lässt sich für Nietzsche nur dadurch gewinnen, daß man in Bewegung bleibt und den unvermeidlichen Wechsel von Perspektiven, ihre Ausschlüsse und Widersprüche bejaht. Fröhliche Wissenschaft heißt,
Gelassenheit darüber finden, daß wir Wirklichkeit nicht anders als beschränkt und perspektivisch erkennen können. Nietzsche versteht Wirklichkeit als unabschließbaren Prozess: Wirklichkeit muß immer wieder neu erfunden, zu einem Netz von Bedeutungen fortgeknüpft und wieder aufgelöst werden. In der Fröhlichen Wissenschaft steht der Schiffbruch unter anderem Vorzeichen, nämlich im Horizont eines unendlichen Meeres, auf das der Mensch schon immer eingeschifft ist. Im Horizont dieses Unendlichen zeichnet sich die Diagnose der Moderne ab: Nicht nur dieses oder jenes, sondern alles ist ins Wanken geraten und es gibt nur
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vorläufige Wahrheiten. Später, im Zarathustra, lässt Nietzsche seinen schiffbrüchigen Helden aus den Fluten steigen und verkünden: „Nichts ist wahr alles ist erlaubt", ein Paradox, das er an anderer Stelle beinah zynisch und resigniert reflektiert: „Also ist auch diese Rede wahr, was liegt daran, daß sie erlaubt ist?" (KSA, NF, 11, 384) Leben bedeutet für Nietzsche immer schon eingeschifft, heillos auf schwankendem Grand dem Schiffbrach ausgeliefert zu sein. Wo kein Land in Sicht, wo jede Hoffüng auf Land verabschiedet ist und der Mensch an den Käfig einer furchtbaren Unendlichkeit stößt, gibt es nur noch eine Möglichkeit, sich über Wasser zu halten: einen heroisch-nihilistischen Wellenritt auf den Schiffstrümmern, eine dionysische Bejahung noch
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des Unter- und Übergangs an der Oberfläche:
„Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu thut Noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich aus Tiefe!" (KSA, FW, 3, 352)
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Verlockungen in der Ferne Ob es wahr ist, daß der liebe Gott überall zugegen ist, fragte ein kleines Mädchen seine Mutter und findet das unanständig, (ebd.) Ein Wink für den Philosophen, der die Liebe zur Wahrheit beim Worte nimmt. Hieß es in der Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft noch vorsichtig: „Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehen zu lassen?" (ebd.), so gilt in Jenseits von Gut und Böse als ausgemacht, „dass sie sich nicht hat einnehmen lassen". (KSA, JGB, 5, 11) Es ist auffällig, daß Nietzsches Wahrheitsaporien zunehmend von erotischen Diskursen flankiert werden, in einer Zeit, da er Lou Salomé, die bezaubernde Junge Russin", weder als Frau noch als Erbin für seine Philosophie hat gewinnen können. Ohne Fragezeichen schließt einer seiner späten Briefe an Lou Salomé im Herbst 1882: „Wie seicht sind mir heute die Menschen! Wo ist noch ein Meer, in dem man wirklich noch trinken kann! Ich meine ein Mensch." (KSB 6, 274)
er-
Lou Salomé, die kluge und attraktive Philosophiestadentin, hätte ein kleines, tiefes Meer für ihn sein können. Im Thüringer Wald hatten sich beide drei Wochen lang in philosophischen Marathongesprächen halbtotgeredet. Doch nachdem Lou seinen Heiratsantrag zurückgewiesen hat, schlägt Nietzsches Wehmut allmählich in Mißtrauen um. Nach und nach verfangt er sich in den bösartigen, verleumderischen Netzen, die seine Schwester Elisabeth auslegt. Noch größer als seine Furcht, nicht ertrinken zu können ist die, verspottet zu werden. Von Leipzig über Basel durch den neu eröffneten Gotthard-Tunnel flüchtet Nietzsche nach Rapallo ans Meer und findet einen anderen, männlichen Erben für seine Philosophie, Zarathustra. Durch Elisabeths Nachrede wandelt sich das „intelligenteste aller Weiber" (KSB 6, 239) in eine „schmutzige übelriechende Äffin mit [...] falschen Brüsten". (KSB 6, 402) „Man muss schon ein Meer sein, um einen schmutzigen Strom aufnehmen zu können, ohne unrein zu werden." (KSA,
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ZA, 4, 15), also grollte Nietzsche-Zarathustra
aus einsamer Höhle, die ihm selbst wie ein ausgetrunkenes Meer erscheint. Es ist kein Zufall, daß er sich nach dieser Zeit, in einer erst 1887 verfassten Vorrede zur Morgenröthe als einen in tiefer Finsternis schürfenden „Maulwurf, „Unterirdi-
schen", „Bohrenden" und „Grabenden" vorstellt, der den Weg des einsamen, verschütDenkers nur beschreitet, um „unser Vertrauen in die Moral zu untergraben". (KSA, M, 3, 11 f.) Sein Pfad zum eigenen Himmel geht immer durch die Wollust der
teten
eigenen Hölle. Von seinem Feldzug gegen die Moral will sich Nietzsche wieder nach oben graben, vom unfreiwilligen Landtier nach und nach wieder in ein Seetier verwandeln. Kein negatives Wort, kein Angriff, keine Bosheit soll mehr vorkommen. Nietzsche will die Negation negieren, in sich selbst ruhen, rund und glücklich in der Sonne liegen. „Zuletzt war ich's selbst, dieses Seegethier: fast jeder Satz des Buchs [Morgenröthe, m. H.] ist erdacht, erschlüpft in jenem Felsen-Wirrwarr nahe bei Genua, wo ich allein war und noch mit dem Meere Heimlichkeiten hatte." (KSA, EH, 6, 329), heißt es rückblickend in Ecce Homo. Schon in der Fröhlichen Wissenschaft steht Nietzsche am Meer „inmitten des Brandes der Brandung, deren weiße Flammen bis zu [sjeinem Fuße heraufzüngeln", und geht auf Distanz. Er blickt hinaus aufs Meer, sieht „ein großes Segelschiff, schweigsam wie ein Gespenst dahergleitend" und fragt: „Sitzt mein Glück selber
an diesem stillen Platze, mein glücklicheres Ich, mein zweites verWenn ein Mann inmitten seines Lärms steht, inmitten seiner Brandung von Würfen und Entwürfen: da sieht er auch wohl stille zauberhafte Wesen an sich vorübergleiten, nach deren Glück und Zurückgezogenheit er sich sehnt es sind die Frauen. Fast meint er, dort bei den Frauen wohne sein besseres Selbst [...] Je doch! Jedoch! Mein edler Schwärmer, es gibt auch auf dem schönsten Segelschiffe so viel Geräusch und Lärm, und leider so viel kleinen erbärmlichen Lärm! Der Zauber und die mächtigste Wirkung der Frauen ist, um die Sprache der Philosophen zu reden, eine Wirkung in die Ferne, eine actio in distans: daDistanz!" (KSA, FW, 3, 424f.) zu gehört aber, zuerst und vor allem
ewigtes Selbst? [...]
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sich an der „zarten schaudernden Meeres-Haut" nicht sattsehen kann nie zuvor gab es eine solche „Bescheidenheit der Wollust", heißt es so scheint es dem von Lou Zurückgewiesenen nun um den Zauber und die mächtigste Wirkung der Frauen bestellt, einer, wie er klarstellt, Wirkung in der Ferne, einer „actio in distans". Distanz wirkt hier wie das Zauberwort und der Bann eines Unnahbaren, der nichts sehnlicher als Nähe sucht. Während das Meeressymbol noch die Möglichkeit einer Identität postulierte, bezeichnet die Allegorie des dahingleitenden Segelschiffs zugleich die Sehnsucht und die Unmöglichkeit der Überbrückung von Distanz. Kaum, daß Lou sich ihm entzieht, schon darf sie ihm nicht mehr zu nahe kommen. Es ist unbedingt notwendig, daß sie „schweigsam wie ein schönes Gespenst" absegelt. Und nur fast meint der inmitten seiner „Brandung von Würfen und Entwürfen" Stehende, daß dort mit ihr sein besseres Selbst dahingleite. In mehr als einem Punkt berühren sich bei Nietzsche die Uneinnehmbarkeit Lou's und die Unbezwingbarkeit des Meeres. Wie ein Dieb mit seiner Beute, so heißt es, schleicht Zarathustra in der Dämmerung mit der kleinen Wahrheit herum, die ihm ein altes Weiblein anvertraut hat. Obwohl es gilt, den Schatz, diese kleine Wahrheit, einzuwickeln und ihr den Mund zuzuhalten, damit sie nicht schreie, ist das vereinbarte So wie
er
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Stillschweigen
nur ein rhetorisch aufgeschobener Schrei, ein Flüstern, das unbedingt werden will. Ohne zu Zögern hebt Zarathustra seinen Mantel, erzählt von der Begegnung mit dem alten Weib und setzt am Ende jenes Zitat in die Welt, das in der Manege geflügelter Worte zum chauvinistischen Nietzschekracher aufgepeitscht wurde: „Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht." (KSA, ZA, 4, 86) Während der Volksmund nicht müde wird, den Aussprach des alten Weibes dem Philosophen in die Schuhe zu schieben die konditionale Entstellung des Zitats in „Wenn du zum Weibe gehst" hat sich hartnäckig gehalten macht die NietzscheForschung bis heute einen kleinen Bogen um die Passage, als handele es sich um eine peinliche, pikante Wahrheit.13 Wenn schon nicht klar ist, was eigentlich mit ihr angestellt wird und worauf sie zielt, so gilt als ausgemacht, daß Nietzsche selbst die Peitsche führen will. Das berühmt gewordene Gruppenfoto aus dem Jahre 1882 deutet immerhin einen Rollentausch an: Unmittelbar, nachdem Lou seinen Heiratsantrag definitiv zurückgewiesen hatte, drängte Nietzsche auf dieses Bühnenfoto mit ihr und Paul Rée, das er bis ins Detail ausstaffierte: Lou als Siegesgöttin auf ihrem Triumphwagen mit der Peitsche in der Hand und ihre beiden Verehrer vor den Karren gespannt. Das auf Lou gerichtete Begehren ist unweigerlich an das Begehren geknüpft, von ihr als Objekt ihrer Begierde erkannt zu werden. An der Peitsche wird auf Nietzsches Regieanweisung hin anstelle des Riemens eine Holunderzweig-Attrappe befestigt, im Thüringischen ein Symbol, das auf Mädchen mit zweifelhaftem Ruf hindeutete. Man mag einwenden, Peitsche hin, Peitsche her, daß auch die entschärfte Requisite letztlich ein Herrschaftsinstrument bleibt, um Macht auszuüben, zu bestrafen und das Widerspenstige zu züchtigen. Zu diesem Zwecke benutzte Xerxes, der persische König der Könige, die Peitsche auf hoher See. Als ein gewaltiger Sturm seine Schiffbrücke von Abyos nach Sestos zunichte machte, befahl er, den Hellespontos, die heutige Dardanellenstraße, durch dreihundert Peitschenhiebe zu züchtigen. Er ließ Fußfesseln ins Meer versenken und dem Wasser Brandmale aufdrücken mit den Worten: „Du bitteres Wasser! So züchtigt dich der Gebieter, weil du ihn gekränkt, der dich nie gekränkt hat. König Xerxes wird über dich hinweggehen, ob du nun willst oder nicht. Wie recht geschieht dir, daß kein Mensch dir Opfer bringt, dir schmutzigem, salzigem Strome."1 Nietzsches Schwester Elisabeth glaubte gar ihrem Bruder posthum einen Gefallen zu tan, als sie den Ratschlag des alten Weibes („Vergiss die Peitsche nicht") damit rechtfertigte, daß es in ihren Trieben und Charakteren ungebändigte Frauen gäbe, „die des Herrn [...] und zwar des starken Herrn bedürfen, um im Zaum gehalten zu werden".15 Einer Rechtfertigung bedurfte es indes nicht. Denn auch wenn die Bedeutung des Peitschens kulturgeschichtlich von zarter Berührung über stimulierende Flagellation bis hin zur tödlichen Verletzung reicht, so ist Nietzsches Peitsche nur eine ironische, augenzwinkernde Requisite seiner Metaphysikkritik. Wenn er Wahrheit als ein Weib figuriert, das sich nicht hat einnehmen lassen Zarathustra nennt auch das weibliche Gemüt
vernommen
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13
Eine löbliche Ausnahme stellt der Aufsatz von Hermann Josef Schmidt dar: ,„Du gehst zu Frauen', Zarathustras Peitsche ein Schlüssel zu Nietzsche" in: Nietzscheforschung, Berlin 1994, Bd. 1, 11134. Vgl. Herodot, VII. Buch, §34-§36. Elisabeth Förster-Nietzsche, Das Leben Friedrich Nietzsche 's, Leipzig 1904, Bd. 2.2, 559-561. -
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eine „bewegliche stürmische Haut auf einem seichten Gewässer" (KSA, ZA, 4, 86) so kann die Peitsche nicht das Instrument sein, um sie gefügig zu machen, sondern nur ein erotisches Accessoir, das die Berührung ihrer Oberfläche andeutet. Das Auspeitschen einer widerspenstigen Wahrheit ist gerade Nietzsches Sache nicht, will er doch den Schein als das Wesen der Wahrheit belassen, jenes abendländische Weg-von-derOberfläche in ein Hin-zur-Oberfläche verkehren, ohne sie zu verletzen. Die Namen und Eigenschaften, sagt Nietzsche, sind den Dingen ursprünglich wie ein fremdes Kleid übergeworfen worden und nun mit ihnen zu Begriffstürmen verwachsen. Die erste Haut ist mit allen dazugekommenen unlösbar verbunden. Das Leben befindet sich in einem unendlichen Prozess der Häutung und mit jeder abgezogenen Haut käme nur eine neue Oberfläche zum Vorschein. Während Schopenhauer noch mitleidig auf den im principium individuationis befangenen Menschen und die beschränkte Weise, wie das Individuum die Dinge sieht herabblickt, erhebt Nietzsche gerade die Täuschung und den Schein zum wesenhaften Prinzip der Wahrheit und zieht das Scheinbare des Meeres jeder durchsichtigen oder darunter verborgenen Wahrheit vor. So sehr Nietzsche die Scham auf erotischem Gebiet verachtet, will er sie für die Erkenntnis in Anspruch nehmen. Ästhetische Wahrheit besteht für ihn darin, daß man nicht alles nackt sehen, nicht bei allem dabei sein und nicht alles verstehen und wissen muß, denn die Wahrheit ist hässlich. In einem mit „Hautlichkeit" betitelten Aphorismus greift Nietzsche die Sehnsucht nach „tiefer" Oberfläche noch einmal auf: -
,
„Alle Menschen der Tiefe haben ihre Glückseligkeit darin, einmal den fliegenden Fischen
gleichen und den Dingen, 3,517)
zu
auf den äussersten Spitzen der Wellen zu spielen; sie schätzen als das Beste an dass sie eine Oberfläche haben: ihre Hautlichkeit sit venia verbo." (KSA, FW,
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Die Haut als sichtbare Oberfläche und Schutzhülle des Körpers ist nicht nur metaphysische Grenz- und Kontaktsphäre zwischen Innen und Außen, sondern produziert als bewegte Oberfläche ein Selbstbild, ein inneres und äußeres Ich. Wenn Nietzsche an dieser Oberfläche bleiben will, so deshalb, um die phänomenologische Selbstgegebenheit dieser Sinngrenze zu behaupten und zu verschieben. Mit tiefen Problemen hält er es „wie mit einem kalten Bade schnell hinein, schnell hinaus. Dass man damit nicht in die Tiefe, nicht tief genug hinunter komme, ist der Aberglaube der Wasserscheuen, der Feinde des kalten Wassers; sie reden ohne Erfahrung". (KSA, FW, 3, 634) Es kann lediglich ein Erahnen, bestenfalls ein negatives, temporäres, aber kein systematisches Vordringen in die Tiefe geben. Tiefe erscheint als notwendiges Imago bewegter und täuschender Oberflächen und wird aus dem Wissen um die Unüberwindlichkeit des Scheins von der Oberfläche abgezogen. Mit jeder vertikalen Abschürfung würden nur weitere Oberflächen, Möbiusbänder zu Tage treten. Erkenntnis soll nicht länger heißen in die Tiefe vordringen, sondern „alles Tiefe soll hinauf- zu meiner Höhe!" (KSA, ZA, -
4, 159)
Vgl. hierzu: „Denn, wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wasserberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt voll Quaalen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis. Arthur Schopenhauer, ZA, Bd. 2, 439. "
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Vorlesung über den Begriff der Tiefe hat Adorno auf die lange philosoTradition hingewiesen, die die Verneinung des Glücks zur metaphysischen Substanz erhöht, indem sie die Tiefe zur leidvollen Erfahrung des Negativen erhebt und das Glück als oberflächlich und flach diffamiert. Es ist Nietzsche, der als erster Schein und Oberfläche rehabilitiert und mit jener Tradition bricht, wenn er dazu auffordert, als Künstler und Schaffender die Wirklichkeit immer wieder von neuem einzukleiden, neue Oberflächen zu produzieren. Die Kunst ist für Nietzsche die Bejahung der Oberfläche. Ihre höchste und wichtigste Aufgabe besteht darin, „das Auge vom Blick in's Grauen der Nacht zu erlösen und das Subject durch den heilenden Balsam des Scheins aus dem Krämpfe der Willensregungen zu retten". (KSA, GT, 1, 126) Auch in diesem Punkt revidiert Nietzsche Schopenhauer. Kann dessen homo navigatus von einem Kunstwerk nur soviel ermessen, „wie ins tiefe Meer jeder Schiffer sein Senkblei so tief hinabläßt, 18 als dessen Länge reicht" ist für Nietzsche jedes Kunstwerk ein potenzierendes, epidermales Scheingebilde, durch das wir das Dasein in seiner Scheinhaftigkeit erkennen und damit ertragen lernen. Schon indem wir uns auf die Rede eines anderen einlassen, indem wir auf seine Worte und Gebärden achten, und vergessen (wollen), wie „er unter der Haut aussieht", beziehen wir einen ästhetischen, notwendigen Abstand, wie ihn die Kunst gebietet, das Pathos der Distanz. In seiner
phische
,
Und täglich
grüßt das Murmeltier
„Und wißt ihr auch, was mir ,die Welt' ist? [...] Ein Meer in sich selbst stürmender und fluthender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Fluth seiner Gestalten." (KSA, NF, 11, 61 Of.) Das Meer mit seinen Gezeiten ist das Medium ewiger Wiederkehr par excellance. Ob man „die kostbarsten Salben und Weine ins Meer gießen dürfe", fragt Nietzsche und findet Trost darin, „daß Alles was war, ewig ist: das Meer spült es wieder heraus". (KSA, NF, 13, 43) Im ewigen Spiel sich wandelnder, stürmender und flutender Kräfte entsteht dieser Gedanke. „6000 Fuss über der Menschheit" entdeckte Nietzsche auf einer Wanderang am Silvaplaner See einen pyramidalen Felsblock, der sich vor Urzeiten aus dem Granit der umhegenden Berge gelöst haben mußte. Es kam ihm ein Gedanke, der wie er dem Freund und Musiker Heinrich Köselitz mitteilt „Jahrtausende braucht, um etwas zu werden" (KSA, GD, 6, 159): der Gedanke der Ewigen Wiederkehr des Gleichen. Zarathustra erzählt diesen „abgründlichen" und schwergewichtigen Gedanken „den kühnen Suchern, Versuchern, und wer je sich mit listigen Segeln auf furchtbare Meere einschiffte" (KSA, ZA, 4, 197) auf einem Schiff. Weniger rätselhaft findet er sich bereits in der Fröhlichen Wissenschaft: „Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: ,Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und -
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17
18
Theodor W. Adorno, Philosophische Terminologie, Frankfurt/M. 1973, Bd. Arthur Schopenhauer, ZA, Bd. 4, 480.
1, 171ff.
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jede Lust und jeder Gedanke [...] alles in derselben Reihe und Folge [...] und ebenso dieser Augenblick und ich selber'." (KSA, FW, 3, 570) Nietzsche lässt diesen Gedanken reifen, teilt ihn in verschiedenen Fassungen erstmals in der Morgenröthe, dann in der Fröhlichen Wissenschaft mit. Im Zarathustra werden Vergangenheit und Zukunft als zwei zu einem Kreis verschlungene Gassen beschrieben, die auf einem Torweg namens Augenblick zusammen laufen. „Diese lange Gasse zurück: die währt eine Ewigkeit. Und jene lange Gasse hinaus das ist eine andre Ewigkeit." (KSA, ZA, 4, 199) Der kosmologische Gedanke der Ewigen Wiederkunft stammt aus der griechischen Antike. Der Mathematiker und Philosoph Pythagoras hatte eine Wiederkunftslehre aufgestellt und der Vorsokratiker Heraklit sah im Werden und Vergehen die Einheit des Seins. Nietzsche geht davon aus, daß es im Universum eine endliche Menge an Energie gibt, die Zeit dagegen unendlich währt. Verschiedene Ereignisse und Entwicklungen sind nichts anderes als eine Änderung der Lagen dieser Energien im Raum, „Kraftlagen", deren Kombinationen zwar unermesslich, aber endlich sind. Da bis zum heutigen Zeitpunkt schon unendlich viel Zeit vergangen sein muß, müssen alle möglichen Entwicklungen schon einmal dagewesen sein und können sich folglich nur noch wiederholen. Nietzsche legt den Akzent jedoch nicht auf eine astronomische Erklärung. Seine Vision der ewigen Wiederkehr bezieht sich auf das menschliche Dasein. Ein Schrecken ohne Ende? Ist die ewige Wiederkehr, ist Endlichkeit in einem ewigen Kreislauf überhaupt vorstellbar? Die ewige Wiederkehr des Gleichen und auch desjenigen, der diese -
Wiederkehr verkündet, kann nur bedeuten, daß das Wissen um die Wiederkehr nicht in die nächste Wiederholung des Lebens mitgenommen werden kann. Das Vergessen wiederholt sich mit. Das Bewußtsein von der ewigen Wiederkehr selbst unterliegt einem Kreislauf von Werden und Vergehen. Ist der Gedanke, daß alles wiederkehren wird ein „lähmender Gedanke" oder eine erlösende Erfahrung? Für Nietzsche ist er beides. Daß sich das Dasein ohne Sinn und Ziel unendlich wiederholen könnte, ist eine schreckliche Vorstellung, sofern sie auf die Ewigkeit des Leidens, des Sinnlosen zielt. Erlösend ist diese Vorstellung insofern, als sich alles Werden und Vergehen zu einem ewigen Kreis des Seins schließt; der Mensch kann seinen Daseinszweck nicht verfehlen, weil es ein Endziel in diesem Sinne nicht mehr gibt. Vor den Schrecken des ewigen, nicht vorübergehenden Nichts, der Sinnlosigkeit seines bisherigen Tuns gestellt, kann der Mensch von nun an sein Leben frei gestalten. Er kann und muß die drohende ewige Leere seines Daseins aus eigener Kraft und frei von Jenseitsversprechungen mit Sinn füllen. Eine solche sinnhafte Wiederkehr des Gleichen wäre die höchste Bejahung des Daseins, eine übermenschliche Bejahung. Zarathustras Lehre vom Übermenschen und die ewige Wiederkehr sind aufs engste miteinander verknüpft. Die Lehre vom Übermenschen ist die Voraussetzung für die Bejahung der ewigen Wiederkehr, weil nur der Mensch, der über sich hinaus gegangen ist, der sich als ein vegetierendes, lediglich seine primären Bedürfhisse befriedigendes Wesen überwunden hat, den ewigen Kreislauf wollen kann. Der Übermensch hat Gott als das sinnstiftende Prinzip ebenso überwunden, wie, als Folge davon, das ihm drohende Nichts, die Sinnlosigkeit allen Seins. Er hat das Abgründige dieses Gedanken hinter sich gelassen und wird imstande sein, diesen für Nietzsche schwersten aller Gedanken zu
ertragen.
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Spiegel der Natur
Spiegel der Natur erkennt sich der Mensch als einen Anderen. Das fünfte Buch der grossen Schweigen" beginnt mit einem Abschnitt über die Stille des Meeres in der Abenddämmerang, abseits des städtischen Lärms: „Hier ist das Meer, hier können wir die Stadt vergessen." (KSA, M, 3, 259) Kann der Betrachter eingangs noch für einen Augenblick diese Stille genießen, wird sie ihm im nächsten Moment schon unheimlich. „Jetzt schweigt Alles!", heißt es. „Das Meer liegt bleich und glänzend da, es kann nicht reden." (ebd.) Nietzsche spielt alle Motive des Schweigens Im
Morgenröthe „Im
durch. Die Stammheit des Meeres und des Abendhimmels wandelt sich von stummer Schönheit in Mitleid über deren Unvermögen, bis hin zur spöttischen Verweigerung zu sprechen. Alle anthropomorphen Zuschreibungen dieses Schweigens erweisen sich als ohnmächtige Hilferufe eines Ausgeschlossenen. Die Natur verschließt wie in Hölderlins Hyperion ihre Arme und läßt den Betrachter außen vor. „Ich stehe wie ein Fremdling vor ihr und verstehe sie nicht."19 Natur in den Dimensionen von Himmel und Meer sind bei Nietzsche keine sprechenden Gegenüber, keine inspirierenden Seelenlandschaften sondern stamme Zeugen, die den Menschen mit ihrer Stammheit überformen, ihm die Sprache verschlagen. Inmitten des Schweigens der Natur steht der Betrachter wie im Auge eines Taifuns: „Oh Meer! Oh Abend! Ihr seid schlimme Lehrmeister! Ihr lehrt den Menschen aufhören, Mensch zu sein!" (KSA, M, 3, 260) Im Meeres-Spiegel erscheint der Mensch nicht nur als sprachloses, nichtiges, sondern als fremdes Element. So fragt Nietzsche, ob ein Mensch nicht ziemlich genau beschrieben ist, wenn man hört, „daß ihm das Meer mit seiner beweglichen Schlangenhaut und Raubtier-Schönheit fremd ist und bleibt?" (KSA, MA, 2, 401) Fremd und ungeheuer ist das Meer, weil es jenseits der eigenen Sphäre liegt. Diese schillernde Fremdheit ist das Unheimliche, oder wie Freud schreibt Jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute Das Unheimliche nistet im Heimischen und raft nach Begegnung, nicht nach symbiotischer Vermählung:
zurückgeht".2
„Wohlauf! Hier ist mein Vorgebirg, und da das Meer: das wälzt sich
zu mir heran, zottelig, schmeichlerisch, das getreue alte hundertköpfige Hunds-Ungetüm, das ich liebe. Wohlauf! Hier will ich die Waage halten über gewalztem Meere: und auch einen Zeugen wähle ich, daß er zusehe dich, du Einsiedler-Baum, dich starkduftigen, breitgewölbten, den ich liebe!" (KSA, ZA, 4, 236) Die Grenze, die Nietzsche zwischen den Antagonismen Meer und Land ausbalanciert, verläuft zwischen Apoll und Dionysos, zwischen dem principium individuationis und rauschhafter Ich-Auflösung. Das Wagnis, mit dem Meer eine „oberflächliche" Verbindung einzugehen, birgt die Gefahr, von ihm wie von einem Raubtier verschlungen und einverleibt zu werden. Aus der Begegnung mit dem Fremden geht das Subjekt nicht -
unbeschadet hervor, aber die Konturen des Eigenen sollen sich in der Begegnung mit dem Fremden nicht auflösen, sondern verschieben. Für Nietzsche kann Identität über19
Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, 615.
20
hg.
v.
Michael
Knaupp,
Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Frankfurt/M. 1967, Bd. XII, 23.
München 1992, Bd. 1,
Das
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haupt erst an dieser Bruchstelle der Nicht-Identität des Individuums mit sich und dem Anderen, entstehen. Deshalb sucht er den zeitweiligen Tanz an der Oberfläche und will innerhalb des rationalen und irrationalen Differenzgeschehens die Waage halten zwischen Übergang und Untergang. Im
Auge des Taifuns
Erwiesen sich Nietzsches frühe Wahrheitsaporien noch als unüberwindbarer Häutungsprozess, bei dem sich immer wieder nur Scheinwahrheiten herausschälten, so wandelt sich ab Mitte der achtziger Jahre die Philosophie des unmöglichen Wissens in die Unterschlagung eines philosophischen déjà vu. Wahrheit ist, wenn man ihre Schleier abnimmt, nicht länger nur Nicht-Wahrheit oder Täuschung, sondern hässlich. Bedurften wir beim frühen Nietzsche der Kunst, um an der Wahrheit nicht zu Grunde zu gehen, ist ausgerechnet im Zarathustra von den Sprachkünstlern, den Dichtern kein Halt, nicht einmal mehr Tiefe zu erwarten: Oberflächliche seien ihm Alle und seichte Meere, predigt Zarathustra, weil sie wie das Meer Tiefe nur vorspiegeln, „sie trüben Alle ihr Gewässer, dass es tief scheine." (KSA, ZA, 4, 165) Nietzsche bewegt sich wieder im platonischen Modus von Wahrheit und trügerischem Schein, einem Modus, den er längst überwunden haben wollte. Wo immer er von den Grenzen der Erkenntnis, vom Hässlichen oder vom Abgrund spricht, in den man lieber nicht schaut, weil er zu seicht sein könnte, legt sich ein neuer diskreter Schleier über die Voraussetzung, daß er die Grenze überwunden, das Dahinter schon gesichtet hat oder beim Eintauchen in tief scheinendes Gewässer auf seichten Grund gestoßen ist. Schmutz und Seichtheit werden zu neuen austauschbaren Attributen von Untiefen, die man lieber nicht ergründet, oder um deretwillen man dem Philosophen umso höher anrechnet, daß er sich überwunden und in die Kloaken der Erkenntnis gestiegen ist: „Nicht, wenn die Wahrheit schmutzig ist, sondern wenn sie seicht ist, steigt der Erkennende ungern in ihr Wasser" (KSA, ZA, 4, 70), sagt Zarathustra. Den „Hinterweltlern", die meinen, daß hinter der Welt der Erscheinungen eine Welt von Wesenheiten verborgen ist, die zu enthüllen Aufgabe der positiven Wissenschaften sei, will Nietzsche seine Fröhliche Wissenschaft entgegen setzen. Aber gerade in ihren Meeresbildern zeichnet sich Nietzsches Rückfall in die Metaphysik ab. Das Buch, von dem er behauptet, es ströme die Dankbarkeit eines Genesenden aus und sein Verfasser sei von der Hoffnung auf Gesundheit „angefallen" worden, enthält jene prominente Parabel, in der ein „toller Mensch" denen, die nicht an Gott glauben, die Todesnachricht überbringt: „Gott ist tot! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!" (KSA, FW, 3, 481 ) Die Nachricht ist verfrüht. Sie wird von denen, die die Tat nicht wahrhaben wollen aber gleichwohl begangen haben, noch nicht vernommen. Daß die Größe dieser Tat
möglicherweise zu groß war und selbst Götter bedurfte, um ihrer würdig zu erscheinen, beleuchten zwei Bilder, die der tolle Mensch als Frage formuliert: „Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen?" (ebd.) Anschließend, im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft ist die Zeit für das „grösste neuere Ereignis" endlich reif und kann von den Philosophen und
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„freien Geistern" vernommen werden. „Endlich", so heißt es, „erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsere Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagniss des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ,offenes Meer'." (KSA, FW, 3, 574) Ohne, daß es Nietzsche ausspricht, ist klar: Gott ist zwar tot, aber er ist damit nicht aus der Welt geschafft. Ein neuer Gott muß her, und
er schlummert hinter den Meeren. Denn wie offen ist dieses Meer? Gibt es wirklich kein Land mehr? Bedeutet an der Unendlichkeit scheitern nicht die Einsicht, daß sie womöglich endet, daß sich am Horizont doch nur wieder Land abzeichnet? Existiert am Meer noch eine präpositionale Sehnsucht nach Unendlichkeit, sucht das Auge auf offener See, dort, wo Nietzsche zufolge das Überwindenwollen überwunden werden soll, doch wieder und sei es, um sie zu umschiffen eine Insel der Seligen. Metaphysik, jene Irrlehre, die eine Welt annimmt, die hinter der Welt hegt, und nicht nur verstanden als dasjenige, was hinter vermeintlich Festehendem und Festeilbarem geglaubt wird, sondern als neues Ziel, droht unversehens in Gestalt eines neuen „Indiens" oder „neuen Amerikas" wieder aufzutauchen. Nietzsche muß hierfür nicht einmal eine neue Insel aufsuchen und erobern. Wie Moses das Meer zurückweichen lässt, kann er an einer x-beliebigen Stelle seinen Anker werfen und verfügen: „hier sei einst die Insel des Übermenschen". (KSA, NF, 10, Demgegenüber stehen nihilistische Sinnbilder, die jede Hoffnung auf Zukunft, auf eine in sich mhende Insel der Seligen vereiteln. Ab Mitte der achtziger Jahre geraten Nietzsches Tanzfiguren aus dem Gleichgewicht und gehen auf Gefechtsstation. Der Ton wird hämmernder, unerbittlicher. Die letzten Planken sollen zertrümmert werden. Oben und Unten, Tiefe und Oberfläche, die polaren metaphysischen Gegensätze nehmen wieder ihre Plätze ein. Alles Tiefe soll hinauf zu seiner Höhe. Der starke Schwimmer, als der sich Nietzsche jetzt bezeichnet, will, nachdem die Wellen um ihn hemm höher und höher gestiegen sind, kein Rettungsanker, keine Arche Noah mehr sein: „Ihr Ertrinkenden alle, meint ihr, ich wüßte nicht, was ihr von mir auf meiner Höhe wolltet: das Meer schlingt euch hinab: nun wollt ihr euch an einen starken Schwimmer anklammem?" (KSA, NF, 11, 388) Die Schwierigkeit, ja die Unmöglichkeit, eine nihilistische Position einzunehmen, weil diese ihren letzten moralischen Impetus nicht abstreifen kann, hat Nietzsche selbst reflektiert: „Der philosophische Nihilist ist der Überzeugung, daß alles Geschehen sinnlos und umsonstig ist; und es sollte kein sinnloses und umsonstiges Sein geben. Aber woher dieses: Es sollte nicht?" (KSA, NF, 13, 45) Das Zugehen auf ein Nichts wäre immer noch ein Sinn, den der Nihilist ja gerade verneint. Auch der Glaube, daß es gar keinen Sinn, keine Wahrheit gibt, müsste mit dem Nihilismus zugmnde gehen. Dagegen wendet Nietzsche ein, daß der Nihilist nicht an die Nötigung glaubt, logisch zu sein, eine Spirale, der auch er sich nicht entwinden kann. Zuletzt arbeitet Nietzsche gegen die Zeit. Ein Buch jagte das nächste, wird für abgeschlossen erklärt und eiligst in den Druck befördert: Der Antichrist, als erster Teil der Umwertung der Werte geplant, Die Götzen-Dämmerung oder wie man mit dem Ham-
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Annemarie Pieper hat überzeugend dargelegt, wie sich Nietzsches Übermensch auf der Insel sogar noch über das Niveau des Schiffs zu erheben vermag. Vgl. Annemarie Pieper, „Zarathustras glückselige Inseln", in: Nietzsche. Süden, 58-60.
Das
hundertköpfige Hunds-Ungetüm, das ich liebe
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philosophiert und Der Fall Wagner. Nietzsche selbst nennt sie seine „drei Ungeheuer". Schließlich Ecce Homo oder Wie man wird, was man ist, ein hochexplosiver Extrakt, das große Nachwort, das er als Vorwort zu seiner Philosophie verstanden wissen will; eine Abrechnung und Selbstbespiegelung, die mit der Legende beginnt: „Ich bin ein polnischer Edelmann pur sang, dem auch nicht ein Tropfen schlechtes Blut beigemischt ist, am wenigsten deutsches." (KSA, EH, 6, 268) Über Mutter und Schwester heißt es: „Mit solcher canaille mich verwandt zu glauben wäre eine Lästerung auf meine Göttlichkeit." (ebd.) Den zehn chronologischen Abschnitten seiner Schriften stellte er drei als Fragen verkleidete Behauptungen voran: Warum ich so weise bin. Warum ich so klug bin, Warum ich so gute Bücher schreibe. Nietzsches Antwort, „Ich kenne Beides, ich bin Beides" (ebd. 264), enthält einen tragischen Widerspruch: Er begreift sich als Feuer und Wasser zugleich, als den Lehrer des Aufgangs und Niedergangs, als Nihilisten und Antinihilisten, als unzeitgemäßen und zeitgemäßen Philosophen, der sich in die europäische Politik einmischen muß, und nicht zuletzt als tosendes und glattes Meer. In diesem Finale fährt Nietzsche sein schwerstes Geschütz auf, Donner und Wetterschläge gegen alles, was „christlich oder christlich-infekt ist" (KSB 8, 482). Das Sperrfeuer auf Demokratie und Idealismus steigert sich zu einer Vernichtungsschlacht gegen das Christentum und das deutsche Kaiserreich. Der letzte Abschnitt Warum ich ein Schicksal bin zeigt, daß Nietzsche sich mit seinem Werk munitionsartig verschmolzen glaubt. Er selbst übernimmt die Rolle Zarathustras, des Antichristen, des Menschheits-Erlösers, und hält sich für das gefährlichste Dynamit, das es gibt. Schon in der Fröhlichen Wissenschaft fürchtete Nietzsche dieses „letzte Stündlein", Stürme, die so stark sind, daß sie sich selbst ausblasen. Er registrierte den Gegensatz zwischen der äußeren Beweglichkeit, dem Sturm und Wellenspiel und einer tiefen Schwere und Müdigkeit. „Noch in diesem Augenblick", heißt es in Ecce Homo, „sehe ich auf meine Zukunft eine weite Zukunft! wie auf ein glattes Meer hinaus: kein Verlangen kräuselt sich auf ihm. Ich will nicht im Geringsten, dass Etwas anders wird als es ist; ich selber will nicht anders werden." (KSA, EH, 6, 295) Schließlich, am 26. Dezember 1888, wenige Tage vor seinem Zusammenbruch in Turin, berichtet Nietzsche seinem treuen Freund Franz Overbeck von diesem halkyonischen Zustand, den Tagen der Ruhe auf dem Eismeer, in denen ein Flammenmeer ausgebrütet wird: „Unter uns! Sehr unter uns! Vollkommene Windstille der Seele. Zehn Standen ununterbrochen geschlafen!" (KSB 8, 551) mer
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Anatol Schneider
Nietzsches ökonomisch-philosophisches Manuskript Metaphysik, Ökonomie und Zeitlichkeit in der zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral
Die Geste der Entlarvung hat im 19. Jahrhundert Konjunktur. Die sich als Kritik bestimmende Philosophie sieht sich angesichts von Religion und Moral vor eine doppelte Aufgabe gestellt: Mit der Verabschiedung des Versuchs, Religion und Moral durch Vernunft zu begründen, stellt sich die Aufgabe einer alternativen Herleitang der raison d'être dieser beiden kulturellen Phänomene. Sie wird u. a. gelöst in der Rückführung von Religion und Moral auf deren gesellschaftliche Herkunft, was es erlaubt, ihre Ansprüche auf Allgemeingültigkeit als Verschleierung eines Moral und Religion eigentlich zugrunde liegenden Partikularinteresses zu unterminieren. Der damit implizierte geschichtliche Charakter der Gesellschaft eröffnet die Perspektive auf die Möglichkeit der Aufhebung des falschen Bewußtseins, was als Rückkehr aus der durch die Herrschaft desselben entstandene Entfremdung erscheint. Grob läßt sich auf diese Weise eine theoretische Grundlinie des 19. Jahrhunderts die Nietzsches Philosophie aber auch dem Denken von Karl Marx gemeinskizzieren, ' sam ist. Beide mag Nietzsche den Begabten in der Morgenröthe auch einen Vorbehalt gegenüber der Ökonomie verbindet zudem die Annahme, bei der Entlarvung der falschen Geltangsansprüche des dominierenden Bewußtseins sei das Augenmerk vor allem auf dessen ökonomischen Ursprünge zu richten. Während Marx an Hand des britischen Kapitalismus, gleichsam an der Schwelle zur Zukunft und damit in diese schon hinüberspähend, die Wahrheit der Gegenwart erkunden möchte, spürt Nietzsche dem moralischen Bewußtsein, das für ihn stets auch ein metaphysisches Bewußtsein ist, in seine ökonomische Vorgeschichte nach. An dieser Stelle scheiden sich jedoch die Wege der beiden Philosophen. Nietzsches Kritik von Metaphysik bzw. Moral und Religion rekurriert zwar auf den Bereich des Ökonomischen und setzt sich damit in ein Verhältnis zu einer langen, von Aristoteles bis zu Adam Smith und Karl Marx
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Vgl. Reinhart Klemens Maurer, „Das Antiplatonische Experiment Nietzsches. Zum Problem einer konsequenten Ideologiekritik", 107, in: Nietzsche-Studien, 8, 1979, 104-126. Vgl. KSA, M, 3, 157f Vgl. a. KSA, NF, 12, 462. Ohne hierbei näher auf die Genealogie der Moral einzugehen, hat jüngst Wolfgang Müller-Lauter den Stellenwert ökonomischer Bezüge bei Nietzsche und ihre Bedeutung für sein Werk aufgehellt. Hierzu: Über Freiheit und Chaos. Nietzsche-Interpretationen II, Berlin/New York 1999, 173-368. -
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Anatol Schneider
reichenden Tradition. Nietzsche beläßt es jedoch dabei nicht, sondern möchte zudem eine zeitliche Implikation deutlich machen. So gewinnt seine ökonomische Perspektive erst in der Aufdeckung einer Deformation des Erlebens der Zeit ihren eigentlichen Sinn. Die nachstehenden Ausführungen werden sich zur Darstellung der Verflechtung von Metaphysik, Ökonomie und Zeit an Nietzsches Text der zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral über „Schuld", „schlechtes Gewissen" und Verwandtes orientieren. Ein eingeschobener Abschnitt wird, manches Nachfolgende schon antizipierend, auf einige philosophiehistorische Perspektiven von Nietzsches Überlegungen hinweisen. Abschließend ist auf Nietzsches Versuch hinzuweisen, sich den Zwängen eines Denkens zu entwinden, das in Moral und Metaphysik seinen prägnantesten Ausdruck gefunden hat.
1. Moral und Zeit Die zweite
Abhandlung der Genealogie der Moral formuliert im Eröffnungssatz ihres Paragraphen die Aufgabe, die (vor-)historisch zu lösen war. „Ein Tier heranzuso die Aufgabenstellung -, wird jedoch angezüchten, das versprechen darf (291) sichts des Umstandes zur Schwierigkeit, daß das in Rede stehende Tier zunächst „ein notwendig vergeßliches Tier [ist], an dem das Vergessen eine Kraft, eine Form der starken Gesundheit darstellt" (292), ja das sogar die ,,leibhafte[n] Vergeßlichkeit" (295) selbst ist. Um zum Versprechen zu gelangen, muß zunächst also die aktive Kraft der Vergeßlichkeit außer Kraft gesetzt werden, und zwar durch Fixierung des Bewußtseins auf ein Datum der Vergangenheit, von dem es zuletzt selbst nicht wieder loskommen will.5 Nietzsche arbeitet demnach mit drei unterschiedlichen Optionen, allesamt Einstellungen zur Zeit darstellend: Vergeßlichkeit, Fixierung auf Vergangenes und Versprechen. Dabei tritt zunächst die Vergeßlichkeit der Fixierung des Bewußtseins (auf ein ersten
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4
Die Sekundärliteratur hat, sofern sie sich dem Problem der Zeit bei Nietzsche zuwandte, zunächst die Idee der Ewigen Wiederkunft zum Thema gemacht, darüber aber manchen Aspekt aus dem Blick verloren. Die derzeit ausführlichste Darstellung zur Frage der Zeit bei Nietzsche, die sich auf das Problem des Ressentiments konzentriert: Christian Koecke, Zeit des Ressentiments, Zeit der Erlösung. Nietzsches Typologie temporaler Interpretation und ihre Aufhebung in der Zeit, Berlin 1994. Literatur zu den bisherigen Ansätzen temporaler Interpretation bei Nietzsche: ebd. 3, Anm. 12. Alle Seitenangaben in Klammern nach Zitaten beziehen sich außer im Teil II des vorliegenden Aufsatzes auf den Band 5 der KSA. Der Beginn der Unzeitgemässen Betrachtung 11 kennt das hier thematische Problem bereits (vgl. KSA, HL, 1, 248). Wie in der Genealogie der Moral nimmt Nietzsche dort zum kritischen Maßstab des menschlichen Zeiterlebens, das sich durch seine Vergangenheitsfixiertheit auszeichnet, ein quasi-natürliches, tierisches Zeiterleben, dessen Signatur unter anderem in seiner Gegenwartsverhaftetheit besteht. Im Zusammenhang damit tauchen bereits wichtige Wortfelder auf, die Nietzsches gesamtes Werk durchziehen (z. B. schwermütig, überdrüssig etc.). Auch neuere Überlegungen stehen dafür, daß die natürlichen Zeichen in der menschlichen Kultur eher auf Vergessen stehen. Hierzu: Jan Assman, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 67. Es handelt sich um „ein aktives Nicht-wieder-los-werden-wollen, ein Fort- und Fortwollen des ein Mal Gewollten, ein eigentliches Gedächtnis des Willens" (KSA, GM, 5, 292). -
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Während Vergessen, so ist zu resümieren, als Bewußtseins allem in der Vergangenheit Erlebten eigentliche Gedes von Losreißung auf und das genwart Ausgreifen eigentliche Zukunft erst ermöglicht, verstellt die FixieBewußtseins die Möglichkeit sowohl von eigentlicher Gegenwart als auch von des rung Zukunft. eigentlicher Ersichtlich ist hierbei nicht an einen logischen Gegensatz gedacht, sondern an zwei Weisen zeitlichen Erlebens. Dabei tendiert der permanente Rückbezug auf Vergangeund dies geschieht, wenn das ,Tier' Mensch benes in der Fixierung Bewußtseins zu kausal denken und somit berechenbar und regelmäßig zu werden (vgl. 292) ginnt, auf eine Eliminierang von Zukunft. Im Horizont der Zukunft kommt nichts Neues mehr auf den so Erlebenden zu, sondern immer nur Bekanntes, Vergangenes. Die Zukunft prädeterminiert das Wiedererleben des schon Erlebten. Demgegenüber besitzt die zweite Variante, gleichsam eine Art von ,natürlichem' Zeiterleben, kritische Funktion. Ihre Beschreibung verweist auf zwei positive Leistungen, welche die kraftvolle Vergeßlichkeit auszeichnen: Sie impliziert die Möglichkeit von Neuem, d. h. die Möglichkeit eigentlicher Zukunft und sie impliziert die Möglichkeit eigentlicher Gegenwart.9 Die begriffliche Auszeichnung dieser zweiten Variante im Text ist zwar offenkundig und damit auch ihre kritische Funktion gegenüber der auf die Vergangenheit fixierten, deutlich negativ konnotierten Zeiteinstellung, gleichwohl tritt diese zweite Möglichkeit nicht gegen das Versprechen auf, das selbst nur in einer ausgezeichneten Form erscheint: als versprechen-Dwr/ê«. Nietzsche unterstreicht ausdrücklich und mehrfach: Nicht jeder darfversprechen. Trotz dieser Auszeichnung bleibt die Entstehung des Versprechens undeutlich. Es gilt als Leistung, für die das vergeßliche Tier selbst die Voraussetzungen schafft doch zugleich muß „der Mensch selbst vorerst berechenbar, regelmäßig, notwendig geworden sein, auch sich selbst für seine eigene Vorstellung, um endlich dergestalt, wie es ein Versprechender tat, für sich als Zukunft gut sagen zu können!" Jedenfalls verlangt versprechen-D«//e« Aufhebung des quasi-natürlichen Zeiterlebens und den Durchgang durch eine zwar notwendige Phase zeitlicher Normierung. Die aus seiner Herkunft herrührende Ambivalenz wird jedoch toleriert, weil es Datum der
Vergangenheit) gegenüber.
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Wie Koecke zutreffend bemerkt, wird die „forcierte Kontrastierung" in Nietzsches Texten zugänglicher, „versteht man dies in einem kritischen Sinne, d. h. nicht als dualistische Quasi-Ontologie, sondern als Möglichkeit, Vorstellungen wechselseitig im Gegeneinander aneinander deutlich zu machen" (Christian Koecke, Zeit des Ressentiments, 14). In Nietzsches Kritik an diesem Zeiterleben ist kein Widerspruch mit seiner Idee der Ewigen Wiederkehr zu sehen. Denn die Ewige Wiederkehr soll ja gerade dazu führen, daß in jedem Augenblick so gehandelt wird, als würde die gesamte Zukunft auf dem Spiel stehen, nicht jedoch dazu daß man ihr passiv ausgeliefert ist. Nietzsche spricht von „ein wenig tabula rasa des Bewußtseins, damit wieder Platz wird für Neues, vor Allem für die vornehmeren Funktionen und Funktionäre, für Regieren, Voraussehn, Vorausbestimmen" (KSA, GM, 5, 291). Nietzsche meint, es gebe „kein Glück, keine Heiterkeit, keine Hoffnung, keinen Stolz, keine Gegenwart ohne Vergeßlichkeit" (KSA, GM, 5, 292). Es heißt, „dieses notwendig vergeßliche Tier [...] hat sich nun ein Gegenvermögen angezüchtet, ein Gedächtnis, mit Hilfe dessen für gewisse Fälle die Vergeßlichkeit ausgehängt wird" (KSA, 5,
GM.291).
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Anatol Schneider
letztlich einen Machtzuwachs bedeutet. So ist Versprechen in seinem Verhältnis zur Vergangenheit wohl am ehesten als Souveränität zu bestimmen, sofern es Bindung an die Vergangenheit ebenso wie Freiheit von ihr bzw., wie es später heißt, Macht über sie (vgl. 294) bedeutet. Im Postulat Nietzsches, noch die Vergangenheit zu übermächtigen, scheint freilich auch die Bedrohung durch, welche das Vergangene für ihn darstellt. Der folgende § 2 arbeitet an der Frage nach der Veränderung des Zeiterlebens, nimmt jedoch einen Perspektivenwechsel vor, indem er das Problem auf moralische Weise faßt. Während § 1 die Entwicklung aus der Perspektive des ,Tieres' Mensch, also von ihrem möglichen Beginn her fokussiert, nimmt § 2 die Entwicklung aus der Position des Protzessendes in den Blick. Die in § 1 dargestellte Umstellung des Zeiterlebens erscheint daher nun als „die lange Geschichte von der Herkunft der Verantwortlichkeit" (293). Und die Umstellung des Erlebens der Zeit wird als zentrale Implikation der Moral erkennbar. Zudem introduziert Nietzsche die typologischen Differenzierungen des Zeiterlebens aus § 1 Vergeßlichkeit, Normierung, versprechen-Dürfen seiner neuen Betrachtungsweise der Umstellung des Zeiterlebens. Die zunächst am Maßstab der Konstruktion eines quasi-natürlichen Zeiterlebens kritisch beschriebene Fixierung des ,Tieres' Mensch auf Vergangenes wird in die ,Vorgeschichte' verwiesen: die „Sittlichkeit der Sitte", die an der zeitlichen Normierung des Menschen arbeitet, ist „vorhistorische Arbeit" (293), aufgrund derer Zeit weder als offener Horizont einer unbestimmten gleichwohl gestaltbaren Zukunft, noch als zwanglose glückliche Gegenwart erlebt werden kann. Zukunft und Gegenwart erweisen sich nun als immer schon prädeterminiert durch Vergangenes. Tief greift diese vorhistorische Arbeit also sowohl bezüglich des Erlebens der Gegenwart als auch bezüglich des Erlebens der Zukunft in das natürliche' Zeiterleben ein. Zuletzt ist der Mensch berechenbar für sich und andere geworden, wenn er in Zukunft sein wird, wie er in Vergangenheit und Gegenwart schon war, als mit sich identisch sich in der Zeit verhaltend, als habe er nicht Teil an ihr. Die aus der gesellschaftlichen Normierungsarbeit resultierende Entzeitlichung des Erlebens, die vom natürlichen Zeiterleben unterschieden wurde, unterscheidet sich nun ihrerseits vom versprechen-Dürfen, das der Voraussetzung der zeitlichen Normierung bedarf und das aber dem ,,souveräne[n] Individuum" vorbehalten bleibt. Dieses vereint Bindung an und Freiheit von der Vergangenheit in einer Weise, die es ihm erlaubt, versprechen zu dürfen worin sich das „stolze Wissen um das außerordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit, das Bewußtsein dieser seltenen Freiheit, dieser Macht über sich" (294) findet. Erst derjenige, der im Strom der Zeit nicht sich selbst verliert, sondern ungezwungen und aus eigener Kraft, sich als „sich selbst gleich" (293) bewahren kann, darf das Privileg der Verantwortlichkeit für sich reklamieren. Der Anspruch hier-
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Nietzsches Ausdruck scheint
beflügelt,
wenn er
diesen Menschen beschreibt. Es ist der Mensch
„des eignen unabhängigen langen Willens, der versprechen darf (KSA, 5, 293), er ist der „Freigewordne, der wirklich versprechen darf (ebd.). Nietzsche schließt damit an die in der Unzeitgemäßen Betrachtung II befindlichen Beobachtungen zum Zeiterleben an. Vgl. hierzu Fleischer, „Die Zeitlichkeit des Menschen. Nietzsches Analyse in seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung", 73, in: Weltaspekte der Philosophie. Rudolph Berlinger zum 26. Oktober 1972, hg. von Werner Beierwaltes und Wiebke Schrader, Amsterdam 1972, 67-81. -
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hat sich als Macht über die Zeit bzw. über das Erleben der eigenen Zeitlichkeit auszuweisen, und zwar so, daß Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart in Einklang aus
gebracht werden.12
Die Grausamkeit der Mnemotechnik präsentiert Nietzsche in § 3 als Antwort auf das praktische Problem, das tierische Bewußtsein des Menschen auf ein bestimmtes Datum der Vergangenheit zu fixieren. Doch Grausamkeit leistet mehr, insofern sie den Menschen „zur Vernunft" (297) bringt. In einer Verkopplung mit der ersten Abhandlung der Genealogie der Moral gilt das Interesse des § 3 zudem wiederum der Umstellung des Zeiterlebens. Auch das in der Genealogie der Moral I verhandelte Problem des Ressentiments, das Nietzsche an zwei typologisch unterschiedenen Weisen des Verhaltens zu Wirklichkeit der ,Stärke' und der ,Schwäche' exemplifizierte, besaß ja, wie schon der Name sagt, eine zeitliche Signatar. Dabei wurde dem Schwachen kurz gesagt ein negatives Verhältnis zu allem Außer-ihm, zur Welt und entsprechend ein negatives Selbstverhältnis zugesprochen, während dem Starken umgekehrt ein vorausgesetztes positives Selbstverhältnis ein positives Verhältnis zur Welt, zu allem Außer-ihm gestatten sollte. Den Anschluß des § 3 an diesen Gedanken aus der Genealogie der Moral I unterstreichen sprachliche Parallelen zur Beschreibung der Selbsterfahrang des Starken in der ersten Abhandlung der Genealogie der Moral, da es nun heißt: „Für sich gut sagen dürfen und mit Stolz auch zu sich ja sagen dürfen das ist [...] eine reife Fracht, aber auch eine späte Fracht" (294f.).13 Zwei Schlußfolgerungen sind dem zu entnehmen: Zum einen korrigiert dies die scheinbar entschieden physiologische Perspektive der Genealogie der Moral I auf das gestellte Problem, indem das Ja zu sich ebenso wie das Versprechen in der Genealogie der Moral II nun als etwas historisch relativ spätes angeführt wird, das der Voraussetzung dessen bedarf, was hier zeitliche Normierung genannt wurde. Zum zweiten unterstreicht dies, der Analyse des Ressentiments entsprechend, daß Macht über die Zeit im Ausgriff des versprechen-Dür/ews auf eigentliche Zukunft („für sich gut sagen dürfen") nicht gelöst von einem positiven Selbstverhältnis („zu sich ja sagen") denkbar ist. Umgekehrt muß derjenige, der sich von der Verletzung der Vergangenheit nicht losmachen kann, nicht nur die Gegenwart falschen, sondern verstellt sich auch Zukunft als einen Raum, in dem eigentliches Handeln und somit Neues möglich ist. Zusammenfassend nach der Exposition des Problemhorizontes in den §§ 1-3 läßt sich also festhalten: zum einen hat Nietzsche auf den sozialen bzw. kulturellen Charakter einiger Eigenschaften des Menschen hingewiesen, der Vernunft, des Gedächtnisses, der Verantwortlichkeit; in dem weiten Sinn, den dieses Wort bei Nietzsche annehmen kann und in dem es Metaphysik miteinschließt, der Moral. Er hat zum zweiten erklärt, daß die Moral auf eine Umstellung des Zeiterlebens hin transparent gemacht werden kann und gemacht werden muß. Nietzsches Überlegung, daß die gesellschaftliche Einbindung des Menschen etwas mit seinem Erleben von Zeit zu tan hat, ist dabei keines-
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hierzu den Beginn des 6. Kapitels der Unzeitgemässen Betrachtung II: „Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr die Vergangenheit deuten." In der Genealogie der Moral 1 heißt es: „Während alle vornehme Moral aus einem triumphierenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst [...]" (KSA, 5, 270). Hierzu: Müller-Lauter, Über Werden und Wille zur Macht. Nietzsche-Interpretationen I, Berlin/New York 1999, 173-328.
Vgl.
348
Anatol Schneider
wegs singular, sondern findet Parallelen im Werk Henri Bergsons und Martin Heideggers, die hieraus ebenfalls die Degeneration eines ursprünglichen oder authentischen zeitlichen Erlebens ableiten. Die Besonderheit Nietzsches gegenüber diesen liegt mehr in einem dritten Punkt. Für Nietzsche stellt sich die Umwandlung des Zeiterlebens als Aufwertung der Vergangenheit im menschlichen Bewußtsein dar und damit als Aufhebung der Möglichkeit sowohl von Gegenwart als auch von Zukunft im emphatischen Sinne.
2. Nietzsches Überlegungen im Verhältnis Smith und Marx
zu
Aristoteles,
Die den §§1-3 folgenden Ausführungen der Genealogie der Moral II werden verkürzt, beschränkt man sich bei ihrer Rekonstruktion nur auf Nietzsches Quellen im 19. Jahrhundert. Vielmehr erscheint es als sinnvoll, Nietzsches Reflexionen zu Aristoteles' Überlegungen in der Nikomachischen Ethik in Beziehung zu setzen sowie zu Autoren wie Adam Smith und Karl Marx.14 Das liegt deshalb nicht fern, weil bei diesen Theoretikern Fragen der Ökonomie in ihrem Verhältnis zur Konstitution der Gesellschaft überhaupt behandelt werden. Die nachstehende Skizze, bei der sich Vorgriffe auf die folgenden Interpretationen nicht vermeiden lassen, soll dies plausibilisieren und einige Punkte markieren, an denen Nietzsche sich von genannten Autoren abwendet. Die für den vorliegenden Zusammenhang relevanten Ausführungen bei Aristoteles finden sich im fünften Buch der Nikomachischen Ethik, das sich mit der Frage der Gerechtigkeit befaßt. Diese Frage und somit die Ethik insgesamt besitzen eine von Grund auf politische Dimension, weshalb Aristoteles gleich zu Beginn der Nikomachischen Ethik das Verhältnis der Ethik zur Staatslehre in den Blick nimmt (z. B. 1094 a 27-b 12, 1195 a 14-1196 a 3, 1102 a 5-25). Die von Aristoteles gezogene Grenze zwischen Gerechtigkeit als ganzer und Gerechtigkeit als Teil verläuft dabei zwischen dem, woran man als einem und einzigem Ganzem nur teilnehmen kann der politischen Gemeinschaft -, und dem, was man als Summe des Einzelnen nur teilen kann, dem Güterbestand.15 Während die Unteilbarkeit der politischen Gemeinschaft die Bedingung der Teilnahme aller ist, bedeutet die Teilung der Summe der einzelnen Güter und ihre Verteilung die Ausschließung jeglicher Teilnahme durch andere als die jeweiligen Eigen-
-
tümer.
zu den historischen Quellen Nietzsches: Marco Brusotti, „Die ,Selbstverkleinerung des Menschen' in der Moderne. Studie zu Nietzsches Zur Genealogie der Moral", in: Nietzsche-Studien, 21, 1992, 81-136; Werner Stegmaier, Nietzsches .Genealogie der Moral', Darmstadt 1994. Zu Nietzsches Verhältnis zu Aristoteles mit alleinigen Bezug auf metaphysische Fragen: Mihailo Duric, Nietzsche und die Metaphysik, Berlin 1985. Vgl. Cornelius Castoriadis, Les Carrefours du Labyrinthe, Paris 1978, 279f.; vgl. außerdem A. Pierre Pellegrin, „Monnaie et chrematistique. Remarques sur le mouvement le contenu de deux textes d'Aristote à l'occasion d'un livre recent", in: Revue philosophique de la France et de
Vgl.
15
l'Etranger, 107, 1982,631-644.
Nietzsches ökonomisch-philosophisches Manuskript
349
Gerechtigkeit bezüglich der Verteilung der Güter wird allerdings nur hergestellt im Blick auf die politische Konstitution der Gemeinschaft. Die Funktion der Gemeinschaft liegt darin, sowohl die ungleichen Menschen als auch ihre ungleichen Produkte miteinander zu vermitteln. Gemeinschaft, so Aristoteles, entsteht also nur „aus verschiedenen und ungleichen Personen, zwischen denen aber eine Gleichheit hergestellt werden soll". (1132 a 17). Auf der Ebene des Gütertauschs wird dieses Gleichheit erreicht durch das kraft Übereinkunft bestehende Geld (1133 a 27 u. b 25), das die Einheit der Gesellschaft realisiert, insofern es das Messen und Vergleichen der Güter erlaubt und die Zuweisung dessen, was jedem zusteht. So spiegelt die durch Geld geschaffene Einheit eine fundamentale Einheit der Gesellschaft, die Aristoteles als Bedürfnis bzw. Bedarf bestimmt: „Dieses Eine ist in Wahrheit das Bedürfnis, das alles zusammenhält." (ebd.). Doch nur indem die Menschen aufgrund ihrer allein politisch zu begreifenden Angewiesenheit aufeinander schon in einer dem Tausch vorausgehenden Relation stehen, können sie den gegenseitigen Austausch von Gutem tatsächlich betreiben (vgl. 1133 b 6).' So erscheint der ökonomische Tausch als Außenseite einer basalen Einheit und Angewiesenheit der Menschen aufeinander, „derrière l'échange constitué il y a l'échange constituant"17 -, in welcher die Gesellschaft stabilisiert und austariert ist und die sich allein politisch, also nur mit Blick auf die auf die Vernunftdimension des Men1 fï sehen bestimmen läßt. Nietzsches Ansatz in der Genealogie der Moral impliziert eine bedeutende Umorientierung, die nicht zuletzt die Streichung jeden politischen Bezuges zu einer gerechten gesellschaftlichen Verfassung bedeutet. Gerechtigkeit wird von ihm konzipiert als sich durch Wiedervergeltang herstellende Gleichheit von Machtverhältnissen, die nichts Drittes ist gegenüber zwei Ansprüchen, sondern die Mitte zwischen diesen Ansprüchen selbst, ihr Ausgleich. Gerechtigkeit kann insofern aber nur wirklich sein zwischen solchen, die sich in annähernd derselben Machtposition befinden, weshalb sie „Vergeltung und Austausch unter der Voraussetzung der ungefähr gleichen Machtstellung"20 bestimmt wird. Die vertragliche Kodifikation dieser Situation hat dann zumindest eine problematische Seite, wie sich in der Genealogie der Moral II zeigt. Legt die Egalisierung durch Versachlichung der Subjekte zu gleichen Rechtpersonen einem Vertragsabschluß keinerlei Hindernis mehr in den Weg, etwa in Form von Standesrücksichten, so -
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18 19
Castoriadis, der Aristoteles Formel vom Bedarf problematisiert, ist der Ansicht, damit bewege sich Aristoteles argumentativ im Kreis. Vgl. Cornelius Castoriadis, Carrefours du Labyrinthe, 291). Cornelius Castoriadis, Carrefours du Labyrinthe, 292; vgl. a. Eduard Will, „Réflexions et Hypotheses sur les origines du Monnayage", 9f, in: Revue Numismatique, XVII (1955) 5-23. Vgl. Cornelius Castoriadis, Carrefours du Labyrinthe, 305 f. Um dies zu verdeutlichen, nimmt Nietzsche auch eine Änderung an der Allegorie der Gerechtigkeit vor. Zunächst geht für ihn „alles Recht auf ein vorangehendes Wägen zurück. Es ist deshalb nicht gut zu heißen denn es führt irre wenn man die Gerechtigkeit mit einer Waage in der Hand darstellt: das richtige Gleichnis wäre, die Gerechtigkeit auf einer Waage zu stehen zu machen, dergestalt daß sie die beiden Schalen im Gleichgewicht hält. Die stellt aber die Gerechtigkeit falsch dar: man legt ihr auch falsche Worte in den Mund. Die Gerechtigkeit spricht nicht: jedem das Seine', sondern immer nur ,wie du mir, so ich dir'"(KSA, NF, 12, 221). Gerechtigkeit ist also ein Sichgeneinander-Auswiegen zweier Ansprüche. -
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KSA, 2, 89.
Anatol Schneider
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erhöht sie doch den Genuß der Erniedrigung im Fall der Strafe. Das Gesetz, könnte man mit der Genealogie der Moral formulieren, mag auf den Ausgleich des Schadens sehen, der Geschädigte sieht jedoch auf den Schädiger, und damit auf den Schmerz, den er diesem gegebenenfalls zufügen darf und somit auf in Aussicht gestellte „Festfreude" (300ff). Die als Ort des vertraglichen Ausgleichs vorgestellte Gesellschaft stellt Nietzsche demnach keineswegs als austariertes „System der Bedürfnisse" vor, worin sich die Einzelheit und Natürlichkeit der Mitglieder der Gesellschaft zur „formellen Freiheit und formellen Allgemeinheit des Wissens und Wollens"21 erhebt, sondern als Stätte konventionalisierter gegenseitiger Erniedrigung und temporaler Zurichtung. Die klassische liberale sowie die marxistische Wirtschaftstheorie zitiert als systematische Positionen -, die Nietzsche mit seinen Überlegungen ebenfalls trifft, haben an der aristotelischen Theoriegrundlage insofern festgehalten, als sie bei der Frage der Konstitution der modernen Gesellschaft beim Phänomen des Tausches ansetzen und stärker noch als Aristoteles auf den Unterschied der Dinge abheben, sofern diese gebraucht oder getauscht werden. Die Tauschsphäre löst sich hier vom subkutanen Einfluß des Politischen und tritt als etwas Letztes in den Blick. Smith beginnt sein Werk Über den Wohlstand der Nationen zwar mit der Analyse der Arbeitsteilung, leitet sie jedoch aus der basalen „Neigung des Menschen [ab, A. S.], zu handeln und Dinge gegeneinander auszutauschen". Marx forscht in Das Kapital zwar zunächst dem Ursprung der gesellschaftlichen Werte nach dieser ist „abstrakt menschliche Arbeit"24 -, realisiert werden die Werte jedoch allererst im „Händewechsel" des gesellschaftlichen -
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Austauschs.25
Nietzsches Vorgehen unterscheidet sich auf charakteristische Weise sowohl von Aristoteles als auch von Smith und Marx. Zwar sieht Nietzsche ebenso wie Aristoteles, daß die Ökonomie nichts Letztes ist, gleichwohl versucht er nicht, Verteilungsgerechtigkeit an Gütern an den ihrerseits nur vernünftig begründbaren politischen Verhältnisse zu messen. Vielmehr kappt Nietzsche den aristotelischen Bezug der Gerechtigkeit zur Politik, indem er einen anderen Maßstab anlegt. Dies ist die sich in juristischen Verhältnissen der Eigentamsordnung ausdrückende Macht. Schon hiermit ist angedeutet, daß auch sein Verhältnis gegenüber Smith und Marx nur ein kritisches sein kann. Zwar ist Nietzsche an ökonomischen Vollzügen interessiert, doch thematisiert er diese nicht auf der Ebene des Gütertausches, wie es in der klassischen Ökonomie geschieht. Weil
Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Sämtliche Werke, hg. v. Hermann Glockner, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, VII, § 186. Der Ansatz beim Tausch interessiert sich in der Regel für die Herleitung des Geldes als Tauschmittel. Der Sinn des Geldes erscheint hier als Erweiterung von Tauschmöglichkeiten. Mit Luhmann zu reden: „Man kann durch Annahme von Geld Tauschmöglichkeiten eintauschen" (Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1994, 230). Vgl. zur Unterscheidung von Gebrauchs- und Tauschwert: Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, hg. v. Horst Claus Recktenwald (München 1999) 22-31; Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1989, Bd. 1, l.Buch, 1. Kapitel. -
Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, 16. Karl Marx, Das Kapital, 53. Ebd., 100, vgl. a. 62.
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damit die Schwierigkeit besteht, den eigentlichen Ort von Nietzsches Überlegungen in der Genealogie der Moral II zu bestimmen, gibt es trotz einer reichhaltigen Literatur zu der vermeintlich leichter verständlichen Genealogie der Moral, keinerlei Versuch, ihre Thesen in ein angemessenes Verhältnis zu wirtschaftstheoretischen Konzepten zu stellen. Immerhin kann gesagt werden, daß sich Nietzsche nach zwei Seiten hin kritisch verhält: Gegenüber der von Aristoteles vertretenen Position, Güterverteilung letztlich an vernünftig begründeter politischer Gerechtigkeit zu messen, schlägt Nietzsche vor, statt der Vernunft den Maßstab Macht einzusetzen. Marx' und Smith' Position bleiben damit für Nietzsche nicht allein insofern defizitär, als sie den Gütertausch als etwas Letztes begreifen wollen, sondern auch, weil sie ebenso wenig wie Aristoteles die zeitlichen Implikationen, welche die juridisch geregelten, ökonomischen Vollzüge mit sich bringen, in den Blick bekommen.
3. Die Zeit der Ökonomie Mit dem dreifachen Ergebnis der §§1-3 steigt Nietzsche in die Behandlung der schon im Titel der Genealogie der Moral II angekündigten Diskussion der Frage nach der moralischen Schuld ein, wobei er in der Behandlung der eigentlich thematischen Frage der Schuld, dieser „furchtbarsten Krankheit, die bis jetzt im Menschen gewütet hat" (333) einen ganz eigenen Weg einschlägt. Der § 4 muß also zweierlei leisten: Einmal ist die gesamte Abhandlung nun in die Richtung der eigentlich annoncierten Probleme zu lenken, der Frage der Schuld und der Frage des schlechten Gewissens, gleichzeitig sind Antworten auf die drei aus den §§1-3 hervorgegangen Problemstellungen zu geben: Also (1) welche kulturelle Praxis generiert durch die Instrumentalisierung von Grausamkeit dasjenige Ensemble von Eigenschaften, worin man einstmals das Spezifikum des Menschen sah (Vernunft etc.), (2) aufweiche Weise bewirkt diese Praxis eine Umstellung des ursprünglichen Zeiterlebens und, (3) wieso vollzieht sich diese Umstellung als Aufwertung der Vergangenheit im zeitlichen Erleben des Menschen. Auf die Frage nach der verantwortlichen kulturellen Praxis bietet § 4 zwei Thesen an. Demzufolge soll der „moralische Hauptbegriff' (297) Schuld aus dem materiellen Begriff der Schulden herkommen sodann sei Strafe ursprünglich als Vergeltung zu begreifen, aber nicht auf der Basis eines freien bzw. unfreien Willens. Da mit dieser zweiten These Strafe als Vergeltung moralischer Schuld ausscheidet, läßt sich Strafe als ,
Als traditionelles Beispiel zur Verhandlung der Frage der Schuld wären Schellings Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809) zu nennen, die in der Weiterentwicklung idealistischer Philosopheme und im Wiederanschluß an christliche Ideen die Schuld des Menschen als Abfall von Gott bestimmen. Nietzsche selbst beschäftigte das Thema zum ersten Mal noch ganz im Bann seiner Schopenhauer-Lektüre. Nietzsche nimmt den Begriff der Schuld hier auf im Sinn der ,,alltägliche[n] Verständigkeit", wie Heidegger das nennt (Sein und Zeit § 98) und womit u. a. zusammenhängt, daß für Nietzsche das Schuldigsein aus einer vorgängigen Verschuldung resultiert und nicht, wie bei Heidegger, der begrifflich an Schelling orientiert ist, umgekehrt „diese [...] erst möglich [wird, A. S.] ,auf Grund' eines ursprünglichen Schuldigseins".
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Wiedervergeltang eines entstandenen Schadens in das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis einbringen, das, laut Nietzsche, „so alt ist als es überhaupt ,Rechtssubjekte' gibt und seinerseits wieder auf die Grundformen von Kauf, Verkauf, Tausch, Handel und Wandel zurückweist" (298). Festzuhalten ist hier zunächst, daß Nietzsche das GläubigerSchuldner-Verhältnis als ein juristisches Verhältnis begreift, das auf sehr vage bestimmte ökonomische Vollzüge nur „zurückweist". Die relevante These besteht in der Behauptung, der Gläubiger halte sich mittels Strafe am Schuldner für die von ihm nicht zurückgezahlte Schuld schadlos, womit die Strafe, ökonomisch gesehen, den Rang einer Ausgleichung erlittener Zinsverluste erhält. Die dabei auftauchende Frage der Äquivalenz (vgl. 298) ist hingegen technischer Natur, insofern es zunächst darum geht, zwischen dem Verlust des Gläubigers und einer möglichen Forderung an den Schuldner überhaupt eine Ebene der Vergleichbarkeit herzustellen. Dabei soll es sogar möglich sein, den Verlust des Gläubigers als Schmerz zu begleichen, womit der Bogen zur Grausamkeit geschlagen wird. So hält die suggestive Verbindung von Ökonomie und Grausamkeit das entscheidende Argument, wie nämlich die geforderte Äquivalenz zwischen Schaden und Rückzahlung zu verstehen ist, vorerst zurück. Lokalisiert § 4 als eigentlichen Ort der Entstehung zentraler moralischer Begriffe die ökonomische Vertragswelt, so stellt § 5 den Bezug zur Umstellung des Zeiterlebens her, als einer von drei möglichen Sinndimensionen, der sozialen, der sachlichen und der zeitlichen. Hier, so Nietzsche, „wird versprochen; hier gerade handelt es sich darum, Dem, der verspricht, ein Gedächtnis zu machen" (298f). Wie dies geschieht, ist wiederum eine rein technische Frage. Zunächst mag es sinnvoll erscheinen, sich überhaupt erst einmal die Situation zu vergegenwärtigen. Nietzsche handelt über gesellschaftliche Verhältnisse, welche den juristischen Tatbestand des Eigentums kennen und in denen „Rechtssubjekte" miteinander zu tan haben.29 Ein Rechtssubjekt zu sein, wird in der Gesellschaft gekoppelt an die Eigenschaft, Eigentum zu besitzen, das unter Belastung verleihbar ist. Die Kategorien von Gläubiger und Schuldner sind damit an die Idee nicht übertragbaren Eigentums gekoppelt, womit die Sphäre des Gütertausches und des bloßen Besitzes grundsätzlich verlassen ist. Vor dem Hintergrund dieser unerläßlichen begrifflichen Voraussetzungen ergibt sich nun folgende Situation. Jemand möchte einen Kredit aufnehmen, also etwas leihen, da er einen Bedarf hat, den er aus eigener Kraft nicht befriedigen kann. Auf niedrigen Bedingungen der Lebenshaltung kann man dabei voraussetzen, daß die Kreditaufnahme im Interesse des bloßen Überlebens als Eigentümer in der Gesellschaft stehen wird. Umgekehrt muß sich der Kreditgeber in einer Lage befinden, in der sein Überleben sichergestellt ist, wodurch er sich erst die Zusatzbelastang einer Kreditvergabe erlauben kann. Der Kredit darf eben nicht aus dem unmittelbar dem Überleben dienenden Vorrat geschöpft sein, sondern nur aus dem, was darüber hinausgeht. Andernfalls würde der Kre-
Luhmann unterscheidet drei Sinndimensionen Sachdimension, Sozialdimension und Zeitdimensiin welche Sinn je respezifiziert werden kann. Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt 1999,
on -,
ii2fr. Die folgenden
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Überlegungen orientieren sich an:
Gunnar Heinsohn, Privateigentum, Patriarchat, Geldwirtschaft. Eine sozialtheoretische Rekonstruktion zur Antike, Frankfurt 1984; ders./Ottmar Steiger, Eigentum, Zins und Geld. Ungelöste Rätsel der Wirtschaftswissenschaft, Hamburg 1996.
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ditgeber durch seine Kreditvergabe unmittelbar sein eigenes Überleben in Frage stellen. Verborgt der Kreditgeber aus dem, was ihm nicht unmittelbar zum Überleben dient, aber Teil seiner zukünftigen Überlebenssicherang darstellt, so bedeutet die Nichtrückgabe des Verborgten aber gleichfalls die immerhin mittelbare Gefährdung seiner Existenz als Eigentümer. Und deren Schwierigkeit besteht ja darin, sich in einer Gesellschaft von Privateigentümern nicht kostenlos mit Gutem versorgen zu können. Angesichts dieser Sorge vor einer Ungewissen Zukunft ist der nicht unmittelbar dem Überleben dienende Vorrat des Kreditgebers mit einer Prämie belegt, die auch dem Zins das Maß gibt. Und jeder erfolgreiche Eigentümer wird auf die Kreditaufnahme verzichten, weil sie ihn doppelt Sicherang des eigenen Überlebens plus Rückzahlung des
Zinses belastet. Nietzsches Überlegungen müssen vor dem Hintergmnd dieser Situation gesehen werden, sie sind allerdings noch in das gezeichnete Bild einzutragen. Das Charakteristische seiner Ausführungen liegt eben darin, daß er die Perspektive auf das Phänomen einer solchen Eigentümer-Gesellschaft, die allein Gläubiger-Schuldner-Kontrakte kennt, verschiebt. Die Brisanz der These, der Schmerz des Kreditnehmers könne als Mittel der Tilgung von dessen Schuld akzeptiert werden, macht der Umstand aus, daß das Mißlingen des vertraglichen vorgesehenen Tilgungsprozesses die Wahrheit des gesellschaftlichen Eigentümer-Zusammenhanges überhaupt ans Licht bringen soll. Die Wahrheit dieser Gesellschaft liegt eben darin, daß dieselbe im Grande eine Veranstaltung zur zeitlichen Konditionierang ihrer Teilnehmer ist, insofern hier jeder individuelle Eigentümer durch die Befassung mit der Vermeidung eigener Verschuldung prädeterminiert ist. Wird die Kreditvergabe demgegenüber als reibungsloser Vollzug betrachtet, kommt zumal deren soziale (wer leiht: derjenige, der Bedarf an etwas hat, der Händler etc.) oder sachliche Dimension (was wird verborgt: Gebrauchsgegenstände, Geld etc.) in den Blick. Es zeigt sich, daß Nietzsches Analyse derart tief ansetzt, daß sie von einer Position, wie die klassische Ökonomie sie vorschlägt, gar nicht mehr erreicht werden kann, und zwar allein deshalb, weil diese das in den Blick gebrachte Problem von GläubigerSchuldner-Kontrakten erst auf der Stufe entwickelter geldwirtschaftlicher Verhältnisse thematisieren kann. Und diese sind auf der ungeschichtlichen Vorstellung eines Gütertausches gegründet, auf die Nietzsche verzichtet. Denn nicht um diesen geht es bei Nietzsche, sondern um Eigentümerverhältnisse und deren temporalen Charakter. So erkennt Nietzsche, daß in der Eigentümergesellschaft, in der sich Eigentümer gegen die Unsicherheit der Zukunft durch Verschuldung und daraus folgende Maßnahmen der Entschuldung absichern müssen, sowohl Gegenwart als auch Zukunft im emphatischen Sinne durch ökonomische Prädispositionen verstellt werden. Diese temporale Eigenschaft wird jedoch erst aus dem Mißlingen der Kreditvergabe wirklich ersichtlich. In ihrem defizienten Modus kommt aber auch die sachliche Dimension deutlicher ans Licht; nun wird nämlich erst die „Logik dieser ganzen Ausgleichungsform klar [...]. Die Äquivalenz ist damit gegeben, daß an Stelle eines gegen den Schaden direkt aufkommenden Vorteils (also an Stelle eines Ausgleichs in Geld, Land, Besitz irgend welcher Art) dem Gläubiger eine Art Wohlgefühl als Rückzahlung und -
-
Vgl. besonders Karl Marx, Das Kapital,
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Ausgleich zugestanden wird, das Wohlgefühl, seine Macht an einem Machtlosen unbedenklich auslassen zu dürfen, der Genuß in der Vergewaltigung: als welcher Genuß um so höher geschätzt wird, je tiefer und niedriger der Gläubiger in der Ordnung der Gesellschaft steht, und leicht ihm als köstlichster Bissen, ja als Vorgeschmack eines höhe-
(299f).31
Nietzsche stellt nun ausdrücklich die traditionelRangs erscheinen kann" len ökonomischen Grundwerte (Geld, Land, Besitz) und auch Grausamkeit nur als Platzhalter dar. Denn als wirklicher Maßstab und Bezugspunkt aller gesellschaftlichen Werte dient: Macht. Sie füngiert als das tertium comparationis, auf das sich die ökonomischen Agenten beim „Händewechsel" ihrer Güter beziehen.32 Sowohl der gesellschaftliche Bedarf (Aristoteles) als auch die „abstrakte menschliche Arbeit" (Marx), nicht anders als Grund, Boden oder Finanzkapital können nur als gleichsam ideologische Substitute von Macht fungieren. Und auch Grausamkeit vermag als Äquivalent der nicht beglichenen Schuld nur darum zu dienen, weil sie im Grunde Machtausübung ist. Im Mißlingen der Kreditvergabe kommt für Nietzsche also die doppelte, sowohl zeitliche als auch sachliche Wahrheit der Eigentümergesellschaft an den Tag. Diese ist eine über Macht (Grausamkeit) gesteuerte Deformation des zeitlichen Erlebens des Menschen, da die Fixierung auf die Notwendigkeit der Schuldentilgung Gegenwart und Zukunft hoffnungslos verstellt. ren
4. Die Zeit der Ökonomie und die
Metaphysik
Die Reformulierung des bislang analysierten Zusammenhangs, nach dem Einschub scheint Bekanntes nur zu wiederholen. Das ist jedoch keineswegs der Fall. zweier Nietzsche unterstreicht nun, daß auch das Gefühl der persönlichen Verpflichtung, der Schuld, also auch der Fixierung des Bewußtseins auf die Vergangenheit in dem Vertragsverhältnis der Kreditvergabe, in dem ersten und ursprünglichen Personen-Verhältnis seinen Ort hat: „hier trat zuerst Person gegen Person, hier maß sich zuerst Person an Person".( 306) Die juristische Zurichtung des Menschen zu mit sich und untereinander identischen Referenzpunkten kontraktueller Abmachungen, Personen, entwickelt sich in der Sphäre ökonomischer Verhältnisse, worin alles gesellschaftliche Miteinander als ein
§§34,
es in Nietzsches Text, daß mit dem Tausch die „Gewohnheit, Macht an Macht vergleichen, zu messen, zu berechnen" (KSA, GM, 5, 306) entstünde. Macht fundiert Wert, den Hegel in der Philosophie des Rechts in seiner Bestimmung des Vertrags als das Allgemeine der verschiedenen einzelnen Sachen bestimmt. Vgl. Hegel, Philosophie des
Weiter unten heißt
zu
Rechts, § 77.
In Nietzsches Rekonstruktion gesellschaftlicher Kohäsion bleibt kein Raum für Vertrauen als funktionales Element von Gesellschaftlichkeit. Das bedeutet nur, daß in den Augen Nietzsches die Dominanz der Vergangenheit total, zuletzt eben unabgeltbare Schuld wird, und sich nicht als Funktion zur Reduzierung gesellschaftlicher Komplexität interpretieren läßt. Zu diesem letzten Punkt: Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1968. Vgl. Werner Stegmaier, Nietzsches ,Genealogie der Moral', 142ff.
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Sich-aneinander-Messen zunächst quantitativen Sinn besitzt. Hier will Nietzsche auch Beginn des Denkens erkennen: „Preise machen, Werte abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen das hat in einem solchen Maße das allererste Denken des Menschen präokkupiert daß es in einem gewissen Sinne das Denken ist: hier die älteste Art Scharfsinn herangezüchtet worden" (306). Zumindest schlaglichtartig wird der Entste-
den
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hungsprozeß der Vernunft (§3) somit angeleuchtet. Denn in der Umgebung ökonomischer Kreditvergabe bildet sich die Gewohnheit aus, „Macht an Macht zu vergleichen, zu messen, zu berechnen. Das Auge war nun einmal für diese Perspektive eingestellt: und [so, A. S.] [...] langte man alsbald bei der großen Verallgemeinerung an ,Jedes Ding hat seinen Preis; Alles kann abgezahlt werden' dem ältesten und naivsten Moral-Kanon der Gerechtigkeit, dem Anfange aller ,Gutmüthigkeit', aller ,Billigkeit', alles ,guten Willens', aller ,Objektivität' auf Erden. Gerechtigkeit auf dieser ersten Stufe ist der gute Wille unter ungefähr Gleichmächtigen, sich miteinander abzufinden, sich durch einen Ausgleich wieder zu verständigen'" (306).36 Nietzsche setzt hier an den Anfang, was bei Aristoteles erst als Ende und Aus-
druck erscheint
die Theorie eines Instrumentes zur Aufrechterhaltang verbindlicher gesellschaftlicher Bezüge, die bei Aristoteles in ihrer spezifischen Verfaßtheit aus Vernunft ableitbar sein sollen -, was der Reziprozität des Sozialen einen grundverschiedenen Sinn gibt und geben muß.37 Von ethischen Eigenschaften wie Billigkeit einmal abgesehen, werden zudem wesentliche Leistungen der Vernunft, die ihr als überzeitlicher Eigenschaft des Menschen vermeintlich zukommen sollen, abgeleitet aus dem -
Ich bin der Ansicht, daß Nietzsche in den §§ 1-3 zunächst sein Programm, entwirft, um es dann auszuarbeiten. D. h. der Personenstatus folgt nicht dem des souveränen Individuums, sondern geht ihm voraus. Anders: Werner Stegmaier, Nietzsches .Genealogie der Moral', 136ff. Vgl. zur rechtsgeschichtlichen Diskussionen des 19. Jahrhunderts: Gerald Härtung, „Zur Genealogie des Schuldbegriffs: Friedrich Nietzsche und Max Weber im Vergleich", in: Archivßr Geschichte der Philosophie, 76, 1994, 302-318. Aufschlußreich, doch eher von assoziativem Wert und außerhalb des von Härtung skizzierten historischen Kontextes liegend, sind die Ausführungen von Jean-Pierre Vernant: Die Entstehung des griechischen Denkens, Frankfurt/ M. 1982, 57, 62f. 97, 98f. und besonders 94f. In einer Nachlaßnotiz erklärt sich Nietzsche über den Zusammenhang von quantitativen Festschreibungen (orientiert allerdings an Logik und Mechanik) und gesellschaftlicher Verständigung. Da die quantitative Abzählbarkeit und Identifizierbarkeit der Dinge nur ihre Außenseite trifft, „das Oberflächlichste", wäre hiermit allerdings „kein .Verstehen', sondern ein Bezeichnen zum Zweck der Verständigung. Die Welt auf die Oberfläche reduziert denken, heißt sie zunächst ,begreiflich' ma-
chen'" ( KSA, NF, 12, 190). Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1133 b 15ff. Außerdem: Jean-Pierre Vernant, Die Entstehung des griechischen Denkens, 95. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1137 a 32 bis 1138 a 4. Vgl. Hirzel, Themis, Dike und Verwandtes. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte bei den Griechen, Leipzig 1907, 178; außerdem G. Bien/K. H. Sladeczek, „Art. Billigkeit", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, I, Basel -
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1971,939-943.
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ökonomischen Akt, der am Anfang sowohl praktischer („guter Wille") als auch theoretischer/wissenschaftlicher Vernunft („Objektivität") steht. In dem in den §§9 und 10 skizzierten Verhältnis zwischen Einzelnen und Gemeinwesen reproduziert sich das Gläubiger-Schuldner-Verhältnis, was den Sachverhalt der temporalen Konditionierung, wenngleich nicht ausdrücklich angeführt, miteinschließt. In der Linie von Nietzsches Überlegungen liegt es auch, die These abzuwehren, Gerechtigkeit wie Dühring meinte, entstünde aus dem reaktiven Gefühl, wogegen sich § 11 ausspricht. Der Einschub zur Methode der Genealogie der Moral, den Nietzsche in § 12 gibt41, hat dann im Zusammenhang der Genealogie der Moral II vor allem die Aufgabe, die in den §§ 13 und 14 ausgeführte Deutung der Strafe einzuleiten, womit Nietzsche seine zweite These aus § 4 aufgreift. Die Überlegungen zur ,Flüssigkeit des Sinns' und die Aufzählung der unterschiedlichen Funktionen der Strafe sollen hier insgesamt die Ansicht widerlegen helfen, der ursprüngliche Zweck der Strafe sei es gewesen, „das Gefühl der Schuld im Schuldigen aufzuwecken" (318).42 Ein Gefühl der Schuld (l)43 wird Die Idee, aus der ökonomischen Vernunft die Vernunft überhaupt abzuleiten, ist bei Nietzsche präsent und liegt in der Reichweite seiner Notizen. Im Nachlaß der 80er Jahre heißt es etwa: „Zur Entstehung der Logik. Der fundamentale Hand, gleichzusetzen, gleichzusehen wird modifiziert, im Zaum gehalten durch Nutzen und Schaden, durch Erfolg" (KSA, NF, 12, 295, 7 [91). Es ist diese Fähigkeit der Vernunft, Ungleiches gleichzusetzen, die im Tausch eingeübt wird. Vernunft erscheint damit historisch als Funktion, das Mannigfaltige auf mit sich Identisches zu reduzieren, um
desto besser handhab- und handelbar zu machen. Autoren wie Wolfgang Müller (Geld und Geist. Zur Entstehungsgeschichte von Identitätsbewußtsein und Rationalität seit der Antike, Frankfurt/M. 1977) oder Alfred Sohn-Rethel (Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis, Frankfurt 1972, bes. Teil 1) sind durch diese Funktion des Tausches zu ihren Arbeiten angeregt worden. Der von Nietzsche verwendete Begriff Scharfsinn, der zwar eine längere Geschichte hat (vgl. G. Katsakoulis, „Art. Scharfsinn", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, VIII, Basel 1992, 1217-1220), wenngleich der Ursprung des deutschen Worts jüngeren Datums ist, fugt sich in das skizzierte Bild. Scharfsinn wird, im Anschluß an Christian Wolffs Bestimmung desselben als „Leichtigkeit, Ähnlichkeiten wahrzunehmen" (Katsoukoulis, ebd., 1219), von Johann Christoph Adelung definiert, als die „Fähigkeit, das, worauf das Denken gerichtet ist, in seinen logisch faßbaren Zusammenhang zu setzen unter Umständen, wo ein gewöhnlicher Verstand eine solche Erkenntnis nicht gewinnt" (vgl. Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 14, Leipzig 1893ff./München 1991, 2198). Güter im ökonomischen Verkehr aneinander zu messen und damit ihre qualitative Differenz zu eliminieren, sie mit anderen Worten als identische zu betrachten, ist die Voraussetzung, sie in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Die Ausbildung von Scharfsinn mag dies insofern ebenfalls begünstigen. Zum Verhältnis zwischen Einzelnem und Allgemeinwesen: Werner Stegmaier, Nietzsches Genealogie der Moral', 147ff. Vgl. hierzu ausführlich Werner Stegmaier, Nietzsches Genealogie der Moral ', 60ff, 70-88. Nietzsche weist diese Ansicht zurück: „Der, welcher gestraft wird, verdient die Strafe nicht: er wird nur als Mittel benutzt, um fürderhin von gewissen Handlungen abzuschrecken" (KSA, MA, 2, 102). Es lohnt sich immer wieder, trotz der Literarizität seines Denkens immer wieder, Nietzsche beim Wort zu nehmen. So zeigt sich in der Genealogie der Moral eine bemerkenswerte Entwicklung in seiner Rede vom Phänomen der Schuld. Zunächst spricht er allgemein von einem „Bewußtsein der Schuld" (vgl. 297), was den äußerlichen Sachverhalt der Verschuldung meint. Schuld erscheint als Tatbestand es
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zugestanden, doch entsteht dieses nicht aus Strafe, sondern im Zusammenhang ökonomischer Verhältnisse (2), innerhalb welcher die Strafe allein sinnvoll verstanden werden kann. Nietzsche rekonstruiert aber nicht nur gemäß seiner ökonomischen Perspektive die Strafe als Tilgung eines durch nicht zurückgezahlten Kredit oder Zins entstandenen Schadens, er meint zudem, eine gleichsam phänomenologische Begründung dieser These geben zu können. Der Reaktion des Schädigers des säumigen Kreditnehmers bzw. des Verbrechers auf seine Bestrafung sei nämlich abzulesen, daß diese keineswegs ein Gefühl der Schuld wecke. Seine Reaktion läßt sich vielmehr in einem unspezifischen Sinn freilich als die Reaktion unternehmerischer Vernunft im Eingeständnis ihres Scheiterns umschreiben, die sich etwa in den von Nietzsche nachstehend gedeuteten Worten ausdrückt: ,„hier ist etwas unvermutet schiefgegangen' [...]. Wenn es damals eine Kritik der Tat gab, so war es die Klugheit, die an der Tat Kritik übte: ohne Frage müssen wir die eigentliche Wirkung der Strafe vor allem in der einer Verschärfung der Klugheit, in einer Verlängemng des Gedächtnisses, in einem Willen, fürderhin vorsichtiger, mißtrauischer, heimlicher zu Werke zu gehn [...] damit zähmt die Strafe den Menschen, aber sie macht ihn nicht ,besser'" (321). Statt der Erklärung des Scheiterns aufgrund persönlicher Schuld, erfolgt eine Analyse, deren Ergebnisse auf die weitere Unternehmensplanung umgelegt werden: Der Verbrecher wird versuchen, die gemachten Fehler zu vermeiden, die Parameter seiner Planung werden an Komplexität zunehmen, er wird klüger zu Werke gehen. Die als Ausfall der Zinstilgung oder Kreditrückzahlung verübte Strafe fixiert den Bewußtseinsapparat auf die Erfahrung des erlittenen Schmerzes, indem sie ihn präokkupiert mit der Auffindung von Strategien seiner Vermeidung. Nach dem Abweis der Vermutung, das Gefühl der Schuld entstehe ursächlich durch Strafe, bleibt noch, den Grand für die Verinnerlichung des Gefühls der Schuld anzugeben, für das schlechte Gewissen also. Der Grand hierfür, den Nietzsche zu einem frühen Zeitpunkt ausmacht, ist bekanntlich ein doppelter: Die Vergesellschaftung des Menschen bedeutet einerseits die Unterbindung der Entladung seiner Triebe nach außen, hat andererseits jedoch zur Folge, daß diese sich nach innen wenden (vgl. 322), Verinnerlichung genannt. Zumal hier zeigt sich die unübersteigbare Ambivalenz, welche die Kultur insgesamt auszeichnet: Zwar führt die Vergesellschaftung des Menschen „eine entsetzliche Schwere", ein „bleiernes Mißbehagen" (322) mit sich, Empfindungen, die im Zusammenhang von Nietzsches Werk die Vergangenheitslastigkeit des Zeiterlebens kennzeichnen, gleichzeitig jedoch war mit einer „gegen sich selbst Partei nehmenden Tierseele auf Erden etwas so Neues, Tiefes, Unerhörtes, Rätselhaftes, Widerspruchsvolles und Zukunftsvolles gegeben daß der Aspekt der Erde sich damit wesentlich veränderte" (323). zwar
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der äußeren Realität (vgl. 299fT.), der im folgenden gleichsam nach innen wandert und sich dort festsetzt. Erstmals verwendet indiziert der Terminus „Gefühl der Schuld" (vgl. 305) noch das Fühlen einer äußeren Schuld, deutet damit jedoch schon gesteigerte Innerlichkeit an. Man fühlt und hat nicht mehr ein bloßes Bewußtsein von etwas. Während die Schuld im ,Gefühl der Schuld' gegenüber dem Gefühl noch ein Moment von Äußerlichkeit bewahrt, zieht im Schuldgefühl (vgl. 321) die Schuld ganz in die Innerlichkeit des Menschen ein, um diese vollständig zu besetzen. Im Schuldgefühl ist alle Äußerlichkeit getilgt, aber auch alle Aussicht auf Entschuldung verstellt (vgl. 330).
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Die Ambivalenz des Phänomens der Verinnerlichung bleibt im folgenden § 19 jedoch beiseite, da Nietzsche ausschließlich auf die pathologische Dimension derselben zusteuert, die in der Verbindung von Verinnerlichung und Verschuldung entsteht, also als Schuld bzw. Schuldgefühl. Mit seiner in diesem Punkt zusammenlaufenden Skizze der zweiten Abhandlung der Genealogie der Moral verwirft Nietzsche sowohl Schopenhauers Auffassung, jegliche Schuld sei Ausfluß eines ursprünglichen Schuldigseins, als auch seine eigene in Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen bezogene Position. Dort hatte er in das an den Anfang der Geschichte der Metaphysik gerückte Fragment Nr. 1 von Anaximander Schopenhauers Überzeugung einer primären Schuld aller individuierten Existenz gleichsam hineinkopiert. Die Darstellung schließlich des Höhepunkts der „Krankheit" (327) des schlechten Gewissens bedient sich zunächst eines nochmaligen Rückgriffs auf das GläubigerSchuldner-Verhältnis. Dieses ist nämlich „in ein Verhältnis hineininterpretiert worden, worin es uns modernen Menschen vielleicht am unverständlichsten ist: nämlich in das Verhältnis der Gegenwärtigen zu ihren Vorfahren" (327). Die ,Ökonomisierung' des Verhältnisses zwischen Vergangenheit und Gegenwart drängt die Gegenwart in die Rolle eines Kreditnehmers gegenüber der Vergangenheit, wobei die zu zahlenden Zinsleistungen wie die kreditierte Summe selbst in dem Maße anwachsen, in dem sich die Gegenwart als erfolgreich, als prosperierend, letztlich als seiend in irgendeinem Sinne erweist. In letzter Instanz erscheint hier das Sein der Gegenwart selbst als geschuldet einer in der Vergangenheit liegenden, nicht mehr zu tilgenden Kreditaufnahme und kann sich somit im Zuge des kulturellen Trends der Verinnerlichung nur noch als ungetilgte Schuld begreifen. Das aus dieser Perspektive interpretierte Verhältnis der einander nachfolgenden Generationen treibt in quantitativer Aufgipfelung schließlich dahin, die Schuld gegenüber dem Ahnherrn in die Schuld gegenüber dem Gott zu transfigurieren (vgl. 328), zeitlich gesehen: in die unaufhebbare Verstellung der Gegenwart durch Vergangenheit. Die Entwicklung unter dem Christentum führt zur Totalisierung der Schuld, zur rückhaltlosen Ver-Schuldung der Welt und, mit der Moralisierung, d. h. der Fixierung der Schuld in der Innerlichkeit des Gewissens, zur Unterbindung jeder wahrscheinlichen Entschuldung. Gegen alle Wahrscheinlichkeit in dieser Situation erlaubt allein der „Geniestreich des Christentums" (331) die Ablösung der Schuld: Gott selbst enthebt den Menschen von seiner Schuld. Nietzsches hinreichend bekannte These besteht also in der Behauptung, daß die durch Schulden bei Menschen charakterisierte Privateigentumswirtschaft die Idee der Schuldigkeit des Menschen erst hervorbringt. Religion hingegen und christliche zumal fungiert als Instrument der Entlastung von kumulierter Schuld. -
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Vgl. KSA, PHG, 1,817-822. Eine Variante hierzu findet sich in dem „unausstehlichen Superlativ-Christentume des Calderón", der in einem Vers die „verdrehteste Paradoxie wagte, die es gibt [...]: die größte Schuld des Menschen ist, daß er geboren ward" (KSA, MA, 2, 135). In dem Vers konnte Schopenhauer gleichsam die emblematische Verdichtung seiner eigenen Position erkennen, so daß Nietzsche mit der Ablehnung des Calderonschen Ausspruches zugleich auch seine Ablehnung gegen Schopenhauers Position formuliert hat.
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Doch beschränkt sich die Prädominanz der Vergangenheit unter den Bedingungen privateigentümerischer Ökonomie nicht darauf, Struktarphänomen der Zeitordnung primitiver Gesellschaften oder des religiösen Denkens zu sein. Sie wird rationalisiert und zum Fundament des philosophischen Nachdenkens selbst. Zuletzt kann Nietzsche daher „von diesem ganzen Gefühl [der Menschheit A. S.], Schulden gegen ihren Anfang, ihre causa prima zu haben" (330) sprechen. Auch Metaphysik, als den ersten Ursachen nachforschende Wissenschaft, erscheint damit als Resultat wie auch als Instrument der Deformation des Zeiterlebens, indem sie das Denken stets auf das Frühere als Ursache des Späteren verweist.46 Die Logik rationaler Begründung, von der Hans Kelsen meinte, sie sei aus dem Gesetz der Vergeltung geboren, liefert das Denken schutzlos an die Vergangenheit aus.
5. Die schenkende
Tugend als Gegenentwurf zum
ökonomischen Denken
Wie stets in Nietzsches Werk, so auch im Fall der hier verhandelten Problemkonstellation, besitzt der kritische Teil größeren Umfang als der affirmative. Als Werk mit dezidiert destruktiver Absicht, gibt die Genealogie der Moral, wenngleich stellenweise emphatisch die Zukunft als Ort der Erlösung beschwörend, wenig positive Anhaltspunkte. Insgesamt rar im Werk des Philosophen wird man, angesichts der in der Morgenröthe formulierten Skepsis gegenüber aller Beschäftigung mit der Ökonomie, auch sonst kaum einen genuin ökonomisch orientierten Zukunftsentwurf zu erwarten haben. Vielleicht jedoch etwas, das sich dagegen absetzt. Immerhin finden sich Andeutungen, welche die Möglichkeit auch der Überwindung der sich in der Ökonomie manifestierenden Konstellation durchscheinen lassen, wobei es Zarathustra ist, dem, gemäß dem Ende der Genealogie der Moral II, die zukunftsverheißenden Worte vorbehalten sind. In der dichterischen Sprache von Also sprach Zarathustra bietet sich Nietzsche ja nicht zuletzt die Möglichkeit, manches anklingen lassen zu können, ohne sich durch die poetische Aufrafting schon einer begrifflichen Verpflichtung zu unterstellen, wofür hier die Rede „Von der schenkenden Tugend" als Beispiel dienen mag. Bereits der Titel verweist ja auf die Entfernung der thematischen Tugend des unverfüglichen wie nichtverpflichtenden Schenkens von den im Bereich ökonomischer Dispositionen geforderten ethischen Eigenschaften. Die Rede „Von der schenkenden Tugend" am Ende des ersten Buches von Also sprach Zarathustra ist eingebettet in einen erzählenden Part. Zarathustra macht sich
Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 994 a 25.
Kelsen hat ohne auf Nietzsche zu rekurrieren, einen ähnlichen Ansatzpunkt gewählt. Seine Überlegungen kranken jedoch, sofern sie sich auf Anaximander beziehen, an der schon interpretierenden Übersetzung des bekannten Fragments Nr. 1. Kelsen schreibt hierüber: „Es ist die erste Fassung des Kausalgesetzes. Aber es ist -[...]- dennoch im wesentlichen noch das Gesetz der Vergeltung. Die Ursache ist noch die Schuld, die Wirkung ist noch die Strafe. Als Schuld der Strafe muß die Ursache der Wirkung vorangehen; [...]. An dieser Dynamik der Vergeltung wird sich das wissenschaftliche Denken zuerst der Zeitkategorie [... ] bewußt" ( Vergeltung und Kausalität, Wien /Köln 1982, 241 f.).
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wieder auf die Wanderschaft und erhält zum Abschied von seinen Jüngern einen Stab 48 gereicht, an dessen goldenem Griffe sich eine Schlange um die Sonne ringelte. Das Geschenk gibt Zarathustra die Gelegenheit zu einer Rede, die zunächst die auszeichnenden Eigenschaften des Goldes zitiert, um diese sogleich als Qualitäten der „schenkenden Tugend" zu dechiffrieren. Die Frage: ,„Wie kam Gold zum höchsten Werte?'", beantwortet Zarathustra durch eine Gegenstandsbeschreibung: „Darum, daß es ungemein ist und unnützlich und leuchtend und mild im Glänze; es schenkt sich immer."4 Zarathustras Metaphorik implementiert mit dem Bild des Goldes ein Motiv in den Zusammenhang der Rede, das traditionellerweise der poetische Platzhalter für den Sachverhalt reiner Verausgabung, reiner Hingabe ist. Sie durchbrechen in der Perspektive dieser poetischen Phänomenologie des Goldes, dessen Qualitäten den sich im Ökonomischen manifestierenden Zirkel von Geben und Schulden, indem sie zugleich als das Gegenteil der von diesem geforderten ethischen Eigenschaften zu verstehen sind. Als ungemein hat es aristokratische Züge, als unnütz erweist es sich als in sich selbst wertvoll. Leuchtend und mild im Glänze wird von ihm schließlich auch behauptet, es schenke sich immer, ähnlich wie das seit Piaton als philosophische Metapher dienende, aus einer unerschöpflichen Quelle verströmende Licht. Folgt man den metaphorischen Assoziationen weiter, so läßt sich jedoch vor allem an Nietzsches Verbindung des Goldes mit dem Bild der Sonne die spezifische Ambivalenz des Sich-Schenkens ablesen. In der Rede „Von alten und neuen Tafeln" etwa wird die gegen die schuldhafte Verhaftetheit an die Vergangenheit gerichtete Bewegung der ,Erlösung' als Zwiefältigkeit eines einzigen Vollzugs beschrieben, den das Sich-Schenken impliziert und den der Verlauf der Sonne am Ende eines jeden Tages exemplifiziert: In dem einen Geschehen des Sonnenuntergangs erscheint der Akt des Untergehens im Sinne eines Vergehens, Sterbens zugleich als Akt einer Vergoldung im Sinne der Bereicherung, des SichDarbringens oder Sich-Hingebens. „Denn noch einmal will ich
zu den Menschen: unter ihnen will ich untergehen, sterbend will ich ihnen meine reichste Gabe geben! Der Sonne lernte ich Das ab, wenn sie hinabgeht, die Überreiche: Gold schüttet sie da in's Meer aus unerschöpflichem Reichtume, also, daß der ärmste Fischer noch mit goldenem Ruder rudert! Dies nämlich sah ich einst und wurde der Tränen nicht satt im Zuschauen. -"5I -
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In der hochromantischen Szenerie schwingt eine kritische Note mit. Sie wird deutlich, Nietzsches Bild der Sonne gegen eine den Vergeltungsgedanken perpetaierende Ökonomie hält, die Folgen zeitigt, wie die in der Genealogie der Moral entfalteten. Die Metapher einer unter- und darin vergehenden, in demselben Akt die Welt aber wenn man
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KSA, ZA, 4, 97. Ebd. Gold hat generell einen positiven Stellenwert innerhalb der Metaphorik des Zarathustra: Vgl. z. B. KSA, ZA, 4, 170. Vgl. Jacob Grimm/Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 7, Leipzig 1958, 702. Vgl. zur Metapher der Sonne und deren Verhältnis zu Hölderlin bei Nietzsche: Vivetta Vivarelli, „Empedokles und Zarathustra: Verschwendeter Reichtum und Wollust am Untergang", bes. 509-514, in: -
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Nietzsche-Studien, 18, 1989, 509-536. KSA, 4, 249.
361
Nietzsches ökonomisch-philosophisches Manuskript
vergoldenden, bereichernden Sonne ihr gilt im übrigen Zarathustras erste und letzte Anrede52 drückt aus: Nur, wenn der Gebende sich selbst nicht zurückbehält als möglichen Adressaten für eine Gegengabe und sei es für deren symbolische Fixierung in der Schuld, kann es sich im emphatischen Sinn um eine Gabe handeln. Der Gebende muß, wenn er im eigentlichen, d. h. nicht im ökonomischen Sinn gibt, sich geben. Oder anders: Der Gebende muß auf die mit dem Eigentum verbundenen Sicherheiten verzichten zugunsten dessen, dem er gibt. So muß gleichsam das Sein des Gebenden selbst in der Gabe liegen, um ihr ein Gegebensein zu verleihen, das den Empfänger der Gabe nicht -
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verschuldet und somit nicht in den das Erleben der Zeit deformierenden Zirkel ökonomischer Vergeltung hineinzieht. Die Gabe scheint so selbst eine eigene Form der Zeitlichkeit annehmen zu müssen, entläßt sie doch sowohl den Gebenden als auch den Empfangenden aus allem Zusammenhang gesellschaftlicher Vergeltung. Die Zeit der Ökonomie jedenfalls dies gilt für Nietzsche wie auch für Jacques Derrida ist nicht die Zeit der Gabe. Die Rede Von der schenkenden Tugend widmet sich dann zumal der Bestimmung der schenkenden Tugend, die sie in Bezug zu ihrem Gegensatz setzt. Zarathustra unterscheidet zwei Formen von Selbstsucht, eine „heilige" und eine „kranke" Form. Von jener sagt er zu seinen Jungem: „Unersättlich trachtet eure Seele nach Schätzen und Kleinodien, weil eure Tugend unersättlich ist im Verschenken-Wollen. Ihr zwingt alle Dinge zu euch und in euch, daß sie aus eurem Borne zurückströmen sollen als die Gaben eurer Liebe." Dieser Selbstsucht steht eine zweite gegenüber, „eine allzuarme, eine hungernde, die immer stehlen will", jene Selbstsucht der Kranken, von der es heißt: „Mit dem Auge des Diebes blickt sie auf alles Glänzende; mit der Gier des Hungers mißt sie Den, der reich zu essen hat; und immer schleicht sie um den Tisch der Schenkenden."54 Die Beschreibung der zwei Formen der Selbstsucht läßt sich verdichten zu einem Nehmen um des Gebens willen, dem ein Nehmen gegenübersteht, das in sich selbst Genüge findet. Daß die letztgenannte Form, der Geiz 5, von dem schon Aristoteles sagt, er sei „unheilbar" (1121 b 13), Nietzsches ganze Ablehnung findet, liegt auf der Hand. Undeutlicher ist hingegen die erste Form. In ihr mischen sich Elemente der Freigebigkeit, insofern es sich hier im engeren Sinn um ein wirkliches Geben handelt, als auch Elemente der Hochherzigkeit, insofern bei Nietzsche das Element der sich in der Zuwendung an die Welt der Menschen selbst darstellenden Persönlichkeit mit-
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Vgl. jeweils
den Beginn der Abschnitte „Zarathustra's Vorrede" und „Das Zeichen". Darüber hinaus finden sich zahlreiche Anspielungen auf die Sonne, so z. B. in der Rede „Von der unbefleckten Erkenntnis" (KSA, ZA, 4, 158f.) oder in der Rede „Vom Ölberge" (ebd., 219). Bei Nietzsche läßt sich dieser Gedanke nur noch erschließen und von Derrida wird er nicht eigens ausgeführt. Vgl. Donner le Temps. 1. La fausse monnaie, Paris 1991, 25f. KSA, ZA, 4, 98. Vgl. H. Reiner, „Art. Geiz", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Darmstadt 1974, 217-219; W. Haase, „Art. Großmut", in: ebd., 887-900. Was Derrida angeht, so sieht er sich außerhalb jeglicher Verbindung mit einer Tradition, welche die Großzügigkeit als Wert affirmieren konnte, da sie gerade die Gabe als solche im Blick hat und sie eben dadurch zerstört (vgl. Derrida, Donnerle Temps, 38). -
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Anatol Schneider
schwingt, das den antiken Euergetismus charakterisiert. Doch fällt die antike, durch ihre Orientierung an den Verhältnissen einer prinzipiellen Ordnung geleistete Zügelung beider Formen von Zuwendung fort, so daß nach der Desavouierung der ordnenden Prinzipien nur noch die Selbstbezüglichkeit des Geizes oder die tragische Geste des sich im Untergang wegschenkenden Individuums bleibt.
Vgl. zu Freigebigkeit und Hochherzigkeit: Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch IV, 1-10. Zum antiken Euergetismus: Paul Veyne, Brot und Spiele. Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike, Frankfurt/New York 1988.
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Andreas Becke
Askese und Ekstase Über Weltflucht und Weltablehnung bei Nietzsche und Sloterdijk
„Jetzt bin ich leicht, jetzt fliege ich, sehe ich mich unter mir, jetzt
jetzt tanzt ein Gott durch mich." Also sprach Zarathustra (KSA 4, 50)
I. Die Religionen haben die Welt nur verschieden abgelehnt; es kommt darauf an, in ihr zu leben. So könnte man Nietzsches Philosophie im Hinblick auf seine Religions- und Metaphysikkritik in Anlehnung an Marx' berühmte These zusammenfassen. Asketen sind für ihn professionelle Weltablehnungsspezialisten, die auch und immer noch etwas wollen; aber ihr Wille richtet sich nicht auf Weltliches, sondern auf Außerweltliches oder auf Hinterweltliches. Die Asketen wollen eher noch das Nichts, als nicht zu wollen. (Vgl. KSA, JGB, 5, 339) Deshalb bemerkt er einmal ironisch: „Der Asket macht aus der Tugend eine Noth." (KSA, MA I, 2, 84) Askese (griech. äskesis) war ursprünglich „Übung" und meinte zunächst die übende Vorbereitung des Athleten auf die Kampfspiele, was verbunden war mit einer enthaltsamen Lebensweise. Der Altphilologe Nietzsche nennt die Asketen daher neudeutsch die sportsmen der „Heiligkeit" und bezeichnet die Askese als ein rigoroses training. (KSA, GM, 5, 379) Aus dem antiken Sportsfreund wurde der geistige und körperliche Entsager und Enthaltsame, dessen Ziel weniger Tugend und Weisheit war, als vielmehr Erlösung und Erleuchtung. Der Asket verzichtet auf Essen und Trinken, Kleidung und Besitz, Schlafen und Wohnen, Handeln und Sprechen, Sexualität und Autonomie.1 Wenn man so will, ist die Askese nicht nur die Verachtung der Lust und möglicherweise sogar die Verdrängung der Triebe, sondern schlicht und einfach die Unterdrückung -
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Darüber informiert umfassend Peter Hawel, Zwischen Wüste und Welt: Das Mönchtum im Abend-
land, München 1997.
Andreas Becke
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der Natur. So jedenfalls mag es dem modernen, aufgeklärten und psychoanalysierten Menschen erscheinen. Daß hier jedoch etwas mehr Vorsicht geboten scheint und die Aufklärung vielleicht über den Aufzu voreilig alle asketischen Ideale verworfen hat, will ich im folgenden klärer Nietzsche hinausweisend mit Sloterdijk zeigen, was uns unausweichlich am Ende zu Heidegger und der Ekstase führen wird. Halten wir jedoch zunächst einmal fest, daß Asketen solche Menschen sind, die mit Hilfe ihres Willens auf unmittelbare Triebbefriedigung verzichten, was andere Tiere (vermutlich) so nicht können.2 In diesem Sinn könnte man sagen, daß der Mensch das asketische Tier ist dasjenige Tier, von dem einige Exemplare seiner Gattung zumindest zeitweise versuchen, asketisch zu leben. Zu allen Zeiten und in allen Religionen hat es derartige Triebbefriedigungsverweigerer gegeben, und es bleibt fraglich, ob nun diese Verweigerungstypen skurril sind oder eher die moderne Gesellschaft, die mit Nietzsche jegliches Asketentum ablehnt. Andererseits hat diese Auflehnung gegen seine eigene Natur noch im 20. Jahrhundert einem auch für indische Verhältnisse etwas seltsamen Zeitgenossen die Bezeichnung „große Seele" eingebracht Mahatma -, unter der er im Westen zum „Heiligen" avan-
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cierte.3
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Was asketische Ideale bedeuten, ist Nietzsches große Frage im dritten Teil seiner Genealogie der Moral von 1887. Seiner Meinung nach lauten die Prunkworte des asketischen Ideals „Armut", „Demut" und „Keuschheit", mit denen wir Menschen an uns herumexperimentierten, wie wir es uns mit keinem Tier erlauben würden, indem wir uns bei lebendigem Leib die Seele aufschlitzen, frei nach dem Motto: „Was liegt uns noch am Heil der Seele?" (Vgl. KSA, GM, 5, 357) Der asketische Priester habe im asketischen Ideal nicht nur seinen Glauben, sondern auch seinen Willen, seine Macht und sein Interesse. (Vgl. KSA, GM, 5, 361) Er werte das Leben ab, indem er das Diesseits in Beziehung zu einem ganz und gar andersartigen Dasein setze, das sich dazu gegensätzlich und ausschließend verhalte, nennt man es nun Nirvana, Paradies oder das „Numinose". Das Leben des Asketen wende sich gegen sich selbst; es verneine sich selbst, weil es das diesseitige Dasein lediglich für eine Brücke, einen Überweg zum
Jenseits, halte: „Der Asket behandelt das Leben wie einen Irrweg, den man endlich rückwärts gehen müsse, bis dorthin, wo er anfangt; oder wie einen Irrthum, den man durch die That widerlege widerlegen solle: denn erfordert, dass man mit ihm gehe, er erzwingt, wo er kann, seine Werthung des Daseins." (KSA, GM, 5, 362) Diese für ihn ungeheuerliche Wertungsweise, die Verneinung und Abwertung des Lebens, sei aber nicht ein Ausnahmefall in der Geschichte der Menschheit, sondern eine immer wieder vorkommende Tatsache. Von einem anderen Planeten aus gesehen müßten die Außerirdischen denken, daß die Erde der eigentlich asketische Stern sei, eine Kugel im Weltall, auf der mißvergnügte und hochmütige Wesen leben, die einen tiefen Verdruß an sich -
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3
Vgl. z. B. Hoimar v. Ditfurth, burg 1985, 338.
So
laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen:
Es ist soweit, Ham-
Siehe Andreas Becke, Gandhi zur Einführung, Hamburg 1999. Siehe dazu Andreas Becke, „Die Struktur der Religion oder: Ist die Phänomenologie eine Methode, die in der Religionswissenschaft zur Anwendung kommen kann?", in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft, 83 (1999), 3-28.
Askese und Ekstase
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und dem Leben als solchem empfinden müssen, daß sie sich so stark weh tan und so viele Schmerzen bereiten wie möglich, und das auch noch aus Vergnügen am Wehtun wahrscheinlich ihrem einzigen Vergnügen. Bedenkt man dazu noch, daß Asketen zu allen Zeiten und in allen Kulturen vorkommen und ihre asketische Lebensweise ihnen sexuelle Enthaltsamkeit befiehlt, fragt sich, wieso sie eigentlich immer und überall auftauchen, weil sie sich ja schlichtweg nicht selbst vermehren können? (Folglich kann es übrigens kein asketisches Gen geben.) Nietzsche vermutet, daß es sich hierbei wohl um eine Notwendigkeit ersten Ranges in der Natur handeln müsse, wenn diese, wie er sagt, lebensfeindliche Spezies immer wieder wächst und gedeiht, daß es wohl ein Interesse des Lebens selbst sein müsse, daß ein solcher Typus des Selbstwidersprachs nicht aussterbe. Das asketische Leben ist für ihn deshalb ein Selbstwidersprach, weil hier ein Ressentiment sondergleichen herrsche, nämlich das eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens, der Herr werden möchte über das Leben selbst. (KSA, GM, 5, 363) Das asketische Ideal und die damit verbundene Weltablehnung hält er für paradox, für eine Zwiespältigkeit, die sich selbst zwiespältig wolle, und sich in seiner Weltablehnung wieder genieße. Daher spricht er auch in Bezug auf die Askese von einer „Vergewaltigung und Grausamkeit an der Vernunft: als welche Wollust damit auf den Gipfel kommt, dass die asketische Selbstverachtung, Selbstverhöhnung der Vernunft dekretirt." (KSA, GM, 5, 364) Er sieht im Leben des Asketen einen Selbstwiderspruch; es sei (weniger psychologisch als vielmehr) physiologisch einfach Unsinn, asketisch zu leben, (vgl. KSA, GM, 5, 365) Aber woher kommt dann das asketische Ideal? Nietzsches These lautet dazu: ,JDas asketische Ideal entspringt dem Schutz und Heil-Instinkt des degenirenden Lebens, welches sich mit allen Mitteln zu halten sucht und um sein Dasein kämpft." (KSA, GM, 5, 366) Das asketische Ideal hält er für ein Mittel, mit dem die tiefsten und intakt gebliebenen Instinkte des Lebens gegen eine partielle physiologische Hemmung und Ermüdung ankämpfen. Das asketische Ideal sei ein Kunstgriff in der Erhaltung des Lebens! Der Asket ist für ihn nichts anderes als der fleischgewordene Wunsch nach einem Anderssein und Anderswosein; ein Hinterweltler par excellence, der das Diesseits ablehnt zugunsten eines Ungewissen und höchst fragwürdigen Jenseits und genau das ist Nihilismus, die Verneinung der Welt. Deshalb beschwört Zarathustra die Menschen, der Erde treu zu bleiben und denen nicht zu glauben, welche von überirdischen Hoffnungen reden, um den Nihilismus vollständig zu überwinden. Mit Aurobindo könnte man sagen, der Asket sei ins Jenseits verliebt und hält die materielle Welt für eine Illusion.5 In Wirklichkeit jedoch ist der asketische Priester nur scheinbar ein Feind des Lebens und vielmehr eine konservierende Gewalt des Lebens, weil er sich permanent mit der Immanenz befaßt, indem er sie ablehnt; alles trete an ihm so mächtig heraus, daß es sofort wieder zu einer neuen Fessel werde und nicht zur Befreiung, weil er ein negatives Weltbild hat: „Sein Nein, das er zum Leben spricht, bringt wie durch einen Zauber eine Fülle zarter Ja's an's Licht; ja wenn er sich verwundert, dieser Meister der Zerstörung, Selbstzerstörung, hinterdrein ist es die Wunde selbst, die ihn zwingt zu leben [...]" (KSA, GM, 5, 367) Darin liegt Nietzsches starkes Argument: Der Asket in seiner
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5
Aurobindo, Das Göttliche Leben I, Gladenbach 21991, 30.
366
Andreas Becke
Askese muß am Leben sein, um das Leben selbst verneinen zu können das ist in der Tat ein Selbstwiderspruch. Was Nietzsche fürchtet, ist weniger die Furcht vor dem Menschen (deren Verminderung er aber für wünschenswert hält), als vielmehr den großen Ekel vor dem Menschen und das große Mitleid mit dem Menschen, was beides zusammen verhängnisvoll sei: Würde sich nämlich der Ekel mit dem Mitleid paaren, „so würde unvermeidlich sofort etwas vom Unheimlichsten zur Welt kommen, der ,letzte Wille' des Menschen, sein Wille zum Nichts, der Nihilismus". (KSA, GM, 5, 368) Asketen vergleicht er mit Ärzten und Krankenwärtern, die selber krank sind: Wer kann da gesund werden? Der asketische Priester müsse uns als der vorherbestimmte Heiland, Hirt und Anwalt der kranken Herde gelten, um seine Mission zu verstehen: „Die Herrschaft über Leidende ist sein Reich, auf sie weist sein Instinkt an, in ihr hat er seine eigenste Kunst, seine Meisterschaft, seine Art von Glück. Er muss selber krank sein, er muss den Kranken und Schlechtweggekommenen von Grund aus verwandt sein, um sie zu verstehen, um sich mit ihnen zu verstehen; aber er muss auch stark sein, mehr Herr noch über sich als über Andere, unversehrt namentlich in seinem Willen zur Macht, damit er das Vertrauen und die Furcht der Kranken hat, damit er ihnen Halt, Widerstand, Stütze, Zwang, Zuchtmeister, Tyrann, Gott sein kann", schreibt er. (KSA, GM, 5, 372) Der Asket ist aber seiner Ansicht nach gar kein Arzt oder „Heiland" bedenken wir: heilig und heilen ist dasselbe Wort -, denn er bekämpft nur das Symptom des Leidens und nicht seine Ursache, nicht die eigentliche Krankheit, sondern nur die Krankheitserscheinung: der Asket ein Kurpfuscher? Das Christentum habe immer nur versucht, das Leiden zu mildern, indem es Trost versprach. Daher nennt Nietzsche diese Religion auch „eine grosse Schatzkammer geistreicher Trostmittel". (KSA, GM, 5, 377) Viel Erquickliches, Milderndes, Narkotisierendes sei in ihm angehäuft; mit Stimulanzaffekten sei versucht worden, die tiefe Depression, die Meiernde Ermüdung und schwarze Traurigkeit selbst zu heilen und den Krankheitszustand aufzuheben für ein fröhliches, glückliches, zufriedenes Leben und das sei, allgemein gesprochen, bei allen großen Religionen so. Deshalb hätten die asketischen Priester dieses Unlustgefühl am Leben durch Mittel bekämpft, die das Lebensgefühl überhaupt auf den niedrigsten Punkt herabsetzen: Nach Möglichkeit soll kein Wunsch, kein Wollen mehr vorhanden sein; den Affekten soll ausgewichen werden; weder soll geliebt, noch gehaßt werden; man soll gleichmütig sein und sich nicht rächen; weder sich bereichern, noch arbeiten, dafür aber betteln; weder Frau noch Sex haben; und das Resultat der Askese soll sein: „Heiligung", „Hypnotisierung" oder „Narkotisierung". Dieses Ergebnis der Askese vergleicht er mit dem Winterschlaf einiger Tierarten, der im verminderten Stoffverbrauch und Stoffwechsel besteht, und, wie er sagt, „bei dem das Leben gerade noch besteht, ohne eigentlich noch in's Bewußtsein zu treten". (KSA, GM, 5, 379) Nietzsche geht es aber um ein bewußtes Leben, wie wir heute sagen würden, nicht um ein verdrängtes, unbewußtes, und er definiert das Leben selbst als Wille zur Macht. (Vgl. KSA, JGB, 5, 27) Die Asketen hätten nie wirkliche Erlösung von dem gefunden, was sie mit ihrer Askese bekämpfen; sie seien ihre tiefe physiologische Depression mit Hilfe ihres Systems von Hypnotisierungsmitteln nie wirklich losgeworden. Für ihn sind dagegen die Absichten auf Aushungerung der Leiblichkeit und Begierde nichts anderes -
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Askese und Ekstase
als Irrsinnssymptome; die Askese sei der Weg zu allerhand geistigen Störungen. Erlösung ist für ihn demzufolge nur noch als Gesamthypnotisierang zu begreifen, die so gesehen nichts mehr mit „Wissen" und „Wahrheit" zu tun haben kann. (Vgl. KSA, GM, 5, 379/380) Oder wie Zarathustra (an der schon zitierten Stelle) über die Askese spottet: „Einst blickte die Seele verächtlich auf den Leib: und damals war diese Verachtung das Höchste: sie wollte ihn mager, grässlich, verhungert. So dachte sie ihm und der Erde zu entschlüpfen. / Oh diese Seele war selber noch mager, grässlich und verhungert: und Grausamkeit war die Wollust dieser Seele!" (KSA, ZA, 4, 15) Deshalb kommt Nietzsche zu dem Schluß: Das asketische Ideal habe die psychische Gesundheit verdorben und das Dasein vergiftet darum ist das asketische Ideal hochgradig nihilistisch. Der Nihilismus ist für ihn Weltablehnung zugunsten einer nicht-existenten Hinterwelt, heißt sie nun Himmel, Hölle oder Nirvana. Diesen Nihilismus will er mit seiner Philosophie überwinden helfen. Der Mensch ist für ihn ein krankes Tier, solange es dem asketischen Ideal folgt. Die Weltablehnung in der Askese faßt Nietzsche terminologisch als Willen zum Nichts, als Widerwillen und Auflehnung gegen das Leben, „aber es ist und bleibt ein Willel [...] Und, um es noch zum Schluss zu sagen, was ich Anfangs sagte: lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen [...]." (KSA, GM, 5, 412) -
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II. Daß der Mensch nicht nur einfach ist, sondern von seinem Sein auch weiß, gilt gemeinhin als sein Glück. Das Wesen des Menschen in seiner Existenz zu sehen, gab sogar im 20. Jahrhundert einer Philosophie oder sollte man sagen: einer Richtung innerhalb der Philosophie? ihren Namen.6 Dieses In-die-Welt-geworfen-Sein muß aber dem sich dabei entdeckenden Individuum nicht immer Freude bereiten im Gegenteil: Daß das Wissen um das eigene Sein auch ein großes Unglück sein kann, bleibt in positivistischen Zeitaltem ein Geheimnis. Daraufhat zwar nicht als erster, jedoch in aller Deutlichkeit Peter Sloterdijk in seinem Buch Weltfremdheit hundert Jahre nach Nietzsches Ablehnung der Weltablehnung durch die Asketen aufmerksam gemacht. Menschen genießen oftmals nicht den Komfort, einfach nur ein Ding unter Dingen zu sein, sondern sie finden sich zuweilen selbst: -
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„Man ist dreiundzwanzig Jahre alt, oder einunddreißig, oder älter, und entdeckt beim Überqueren der Straße oder während ein Schlüsselbund zu Boden fällt, daß man wirklich existiert. Da-
gibt es keinen sicheren Schutz. Weder Theorie noch Alkohol können eine lückenlose Daseinsverhütung garantieren. Safer thinking, safer drinking das hilft nicht in allen Fällen. Auch wer regelmäßig Waldläufe macht und ab dreißig zur Vorsorgeuntersuchung geht, kann vor
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6
Andreas Becke, „Leben an der Grenze des Daseins aus Sicht der Existenzphilosophie", in: Jürgen-H. Mauthe (Hg.), Grenzen gewünscht, gebraucht, erlitten? Grenzerfahrungen in Alltag und Therapie: Tagungsband zu den 14. Psychiatrietagen Königslutter 1996, Königslutter 1997,
Vgl.
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99-109.
Andreas Becke
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nicht ausschließen, daß bei ihm über Nacht der Existenzfall eintritt. [...] Ich sitze am Tisch und existiere; ich erblicke eine Kastanienwurzel und fühle das Würgen im Hals: Existenz."7
Nun sind es seiner Meinung nach gerade die Asketen, die Mönche und Anachoreten, die, nachdem der Existenzfall eingetreten ist, diejenigen sind, für die ihre Nichtexistenz zum Lebensinhalt wird. Sie zogen sich aus der Welt zurück und gingen in die „Wüste", um dort etwas anderes zu finden als ihre eigene Existenz: nämlich die Erlösung vom Leiden daran. In der Wüste werde die Welt minimiert; man reduziert die Welt auf einen unvermeidlichen Rest, solange man in ihr ist. Die Wüste, die hier für jegliches Anachoretentum steht, „trocknet die Gebärfreudigkeit des welthaften Unglücks aus".8 Demgemäß können wir jetzt Asketen definieren als diejenigen leidensfähigen menschlichen Wesen, die das aus ihrer puren Existenz resultierende Unglück nicht (mehr) ertragen können und daher versuchen, aus ihr zu flüchten. Asketen sind Weltflüchtlinge, die sich nicht trauen, den letzten Schritt des Suizids zu gehen. Freilich ist Weltflucht nur solange möglich, wie man in ihr ist, so daß der Anachoret nicht aus ihr flieht, sondern vor ihr. Die Wüste ist demnach nur ein anderes Wort für den Weltschatten, „in dem sich Menschen treffen, sofern sie die Welt weder interpretieren noch verändern, sondern weglassen wollen". Die sogenannte westliche, moderne Zivilisation gilt Sloterdijk als derjenige Komplex, der auf einer Absage an das Prinzip Wüste beruht und daran ist Nietzsche nicht ganz unschuldig, wie wir gesehen haben. Jetzt kann deutlich werden, daß Nietzsches Askesekritik nur ein Schritt ist in der Serie von Schritten der konsequenten Zurücknahme des anachoretischen Extremismus: In der europäischen Neuzeit wird die vita contemplativa insgesamt geächtet zugunsten einer vita activa letztere beherrscht inzwischen alle Lebensbereiche. Nur Aktivität scheint heute wichtig vielleicht das entscheidende Merkmal der spätmodernen Lebenswelt, der es an Kontemplation und Be-5/««-lichkeit mangelt, und Askese nur noch mit Kopfschütteln begegnen würde, wenn es sie gäbe: „Die säkulare Gesellschaft lehnt den westlichen Monastizismus ab, der seinerseits den Orient und die Wüste abgelehnt hatte." In der modernen Welt gibt es keine Mönche und Asketen mehr, dafür aber eine andere Form der Weltflucht: die Drogensucht. Das Merkwürdige ist für Sloterdijk, daß der uns so geläufige Zusammenhang von Droge und Sucht offenbar etwas Modernes ist, der erst in der Neuzeit entsteht. Nicht, daß Menschen in früheren Zeiten sich nicht berauscht hätten, nur wurden sie von den Rauschmitteln nicht süchtig! Damals wurden Drogen beispielsweise als Offenbarungshelfer verwendet, sie hatten eine religiöse Bedeutung und dienten nicht der individuellen, privaten Berauschung. Der ritualisierte Umgang mit den sogenannten Drogen hatte den Sinn, das Göttliche zu vernehmen; Drogenkonsum war der Schlüssel zur Götterwelt. Seitdem aber die Götter in der Moderne offenbarungsmüde geworden seien, wie Sloterdijk formuliert, dient die Droge nicht mehr religiösen Zwecken, wodurch die neuzeitliche Allianz von Droge und Sucht entstehen konnte. Moderne Menschen seien Leute, die sich vor Offenbarungen in Sicherheit gebracht haben, und mit knapper Not -
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7
Peter
8
Ebd., 95. Ebd., 104. Ebd., 105.
9 10
Sloterdijk, Weltfremdheit, Frankfurt/M. 1993,
17f.
Askese und Ekstase
369
würden wir heute einräumen, „daß gesunde Subjekte irgendwie ,an Gott glauben' könjedoch absolut sicher, daß nur Kranke Gott sehen oder hören". Götter und ihre Botschaften seien aus der Menge zulässiger und möglicher „Erfahrungsinhalte" definitiv ausgeschlossen. In bezug auf Göttliches könne heutzutage nicht in irgendeiner Weise von seiner „Existenz" die Rede sein, geschweige denn sei es erscheinungsfähig. Über direkten Offenbarungen schwebe heute die Einsamkeit des religiösen Wahns.12 Werden aber die Drogen entsakralisiert, wird der Rausch nicht mehr religiös kontrolliert, so Sloterdijks These, ist der Weg frei zur Abhängigkeit. Aber wieso kann das moderne Individuum süchtig werden? Wenn die Götter nicht mehr zu den Menschen sprechen, und die Ekstasen uninformativ werden, können sie das individuelle Subjekt übermächtigen: Das profane Selbst verliere seinen Willen, indem es in der decodierten Ekstase in den Sog des privaten und entritualisierten Konsums mit seinen bösen Wiederholungszwängen gerate.13 Anstatt Kraft aus der Ekstase zu schöpfen, werde das Individuum nun selbst vom Rauschgift ausgesogen diese Sog-Umkehrung gehöre zu den Merkmalen der Sucht. Der moderne Mensch darf nur noch sein und nicht nicht sein wollen. Die Droge eröffnet jedoch dem Einzelnen, seinen Willen zum Nichtsein zumindest partiell auszuleben, und man könnte fast sagen, je stärker der Wille zum Nichtsein, um so stärker ist die Sucht. So kann Sloterdijk beschreiben, was es seiner Meinung nach mit den privaten und nichtinformativen Ekstasen der Rauschsüchtigen auf sich hat: „In der Sucht begegnet uns eine individualisierte, das heißt vom Mitwissen der Kulturmitglieder abgespaltene Revolte gegen die Zumutung des Daseins. Durch den entritualisierten Privatgebrauch der Drogen bahnen sich die Subjekte sozusagen wilde Rückwege in die Inexistenz. Oft glauben sie ausdrücklich ein Recht auf solche Ausflüge zu haben, als wären sie in einem Winkel ihres Bewußtseins von der Überzeugung durchdrungen, daß sie zu souverän sind, um sich die Plumpheit des Daseins zumuten lassen zu müssen."14 Manche (unheilbaren) Süchtigen würden sich geradezu mit den Drogen verbünden, um von diesen zu bekommen, was sie selbst nicht (mehr) vermögen, um so das Zwangskontinuum einer schlechten Realität zu unterbrechen. Die Droge ermöglicht den zeitweisen Ausstieg aus der eigenen Existenz und Geworfenheit, also temporäre Weltflucht; und die Sucht ist ein Experiment mit dieser Negation der Welt, von der der Süchtige offenbar kaum noch loszukommen scheint. Durch die Allianz mit der Droge setze das süchtige Subjekt seine Existentialität außer Kraft, durch die es in die Spannungen der Weltoffenheit mit all ihren Herausforderungen hineingehalten werde. Deshalb ist seiner Meinung nach die Droge nicht nur ein Mittel zur Weltflucht, wenn er schreibt: „Wohl ist der Süchtige aus der Sicht der Gesellschaft ein Deserteur, der sich unerlaubt von der Realitätstruppe entfernt."15 Mehr noch entferne sich der Drogensüchtige von seinem Selbst; Drogensucht ist demnach nicht nur Weltflucht, sondern auch Selbstflucht! Denn zur Selbstübemahme könne niemand verpflichtet werden. Nicht allein die chemische nen; wir sind
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11
12
13 14 15
Ebd., 138.
Vgl. ebd., 139. Vgl. ebd., 142. Ebd., 147. Ebd., 148.
370
Andreas Becke
Wirkung,
sondern auch das
süchtige Nervensystem bringe
hervor, wodurch die Droge der Nichtseinstendenz diene.
den
Wiederholungszwang
Nach Sloterdijk fehlt daher so etwas wie ein westliches Nirvana-Konzept Ansätze einer Idee der Inexistentialität, das uns ein freundschaftliches Nichts erschließt. Dem dogmatischen Existentialismus muß seiner Meinung nach ein Inexistentialismus gegenüber gestellt werden, um sich von der westlichen Ontologie mit ihrem Schöpfungspositivismus und ihrer Zwangszustimmung zur Institution „Realität" zu verabschieden. Erst eine Philosophie des Nichts oder Nichtseins kann eine vollständige „Ontologie" sein, wenn das dann noch so heißen darf, oder vielleicht sollte man hier besser von Nontologie sprechen. Während der Osten seit dem historischen Buddha zu sehr das Nichts bedacht hat, bedenkt der Westen immer noch ausschließlich das Sein. Deshalb geht es im Inexistentialismus letztlich nicht um Weltflucht, sondern um die Negation von „ichhaften Spannungen".1 Denn das von seiner eigenen Existentialität überlastete Subjekt sei heute wie seit jeher weniger weltflüchtig als weltsüchtig. Das In-der-WeltSein wird verdrängt durch hektische Betriebsamkeit, als könne dadurch gleichsam Weltlosigkeit zurückgewonnen werden. So kommt er zu folgender religionsphilosophischer Definition: „Sucht ist ein decodiertes, das heißt verdunkeltes und entsprachlichtes Verlangen nach Befreiung vom Existenzzwang. Sie ist der Ernstfall der Privatreligion."1 In ihren gefährlichsten Varianten entstehe die Sucht durch einen privaten und entritualisierten Gebrauch von Drogen, wobei die dabei auftretenden Ekstasen uninformativ seien, aber eine wiederholungsfordernde Wirkung haben können. Die Anfange der Sucht sieht Sloterdijk darin, daß sich die Süchtigen in ein Privatverhältnis zum Überwältigenden setzen, wobei eine formlose Urverneinung mit hinein spiele. An der Droge allein würde jedenfalls keiner zerbrechen; die große Zerrüttung entspringe vielmehr aus der Wechselwirkung von Droguierungen und Entzugskrisen: Das Grauen des Entzugs auf dem Höhepunkt des Wiederholungszwangs führe letztlich zur Unmöglichkeit, eine Person zu sein, das heißt ein Wesen zu sein, das sein relatives Leersein bejahen könne. Deshalb füllt der Süchtige seine Leerheit mit der Droge auf, die ihn dann ausfüllt; er nimmt sie, um von ihr genommen zu werden.19 Drogensucht ist daher die Konsequenz einer halben Philosophie, die, um ganz zu werden, ihres Gegenteils bedarf. -
zu
III. Nietzsches Theorie der Weltablehnung mit Sloterdijks Theorie der Weltkonfrontiert, dann kann man sehen, daß Nietzsche ganz der Bewegung der Aufklärung angehört, wonach man sein eigenes Sein ebenso wie das des lustig-bunten SeiWenn
man
flucht
16 17
18 19
Vgl. ebd., 149. Daher kann sogar die Arbeit eine Drogenfunktion übernehmen: „Die zeitgemäßeste Suchtform unserer Tage, der Workaholismus, mit seinen Derivaten in der Amüsier- und Hobby kultur, illustriert vollkommen die Dynamik eines verwarlosten und unbemerkten Inexistentialismus", schreibt
Sloterdijk (ebd., 155.).
Ebd., 156. Vgl. ebd., 157.
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Askese und Ekstase
enden um einen herum nur noch freudig begrüßen darf außer man gibt zu, daß mit einem etwas nicht stimmt, was dem freiwilligen Gang ins Irrenhaus des letzten Menschen gleichkäme. (Vgl. KSA, ZA, 4, 20) Nietzsche ist gegen die Askese, weil sie gegen das Leben ist, und das Leben selbst ist für ihn Wille zur Macht. Damit vollbringt er das gedankliche Kunststück, die Askese als Teil des Willens zur Macht zu begreifen, also als Teil des Lebens, was nichts anderes heißt, als daß der Wille in der Askese sich selbst ablehnt. Durch diese Nihilismuskritik bleibt aber nur noch der positivistische Weg, sich mit dem Gegebenen abzufinden. Der Weg, die eigene Existenz abzulehnen, bleibt versperrt. So sucht sich der unbewußte Inexistentialismus eigene Fluchtwege, die kaum noch kontrolliert werden können. Als Ausweg aus diesem heillosen Positivismus, Seiendes in seiner Seiendheit einschließlich sich selbst zu bejahen, ohne erneut in einen Nihilismus zu verfallen, bietet Sloterdijk die Idee, ein westliches Nirvana-Konzept, ein freundschaftliches Nichts dem Seinsdenken hinzuzufügen. Dieses zweite Auge des Inexistentialismus könnte zusammen mit dem des Existentialismus zu einem Stereoskopen und damit räumlich-schärferen Bild der Welt führen: der Nontologie, der Lehre vom Sein und vom Nichts. Nietzsche selbst deutet bereits in seinem ersten Buch Die Geburt der Tragödie das individuelle Leben als so leidvoll, daß Nichtsein dem Sein vorzuziehen sei. Er berichtet dort von der alten Sage um König Midas, der den weisen Begleiter von Dionysos, Silen, gejagt hatte, und als er ihn endlich gefangen hat, fragt er ihn, was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Nach einer Weile des Schweigens antwortet der Weise: „Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich bald zu sterben." (KSA, GT, 1, 35) Erträglich werde dieses Leben nur durch die Ekstase, dem Herausstehen aus sich selbst durch Rausch und Traum. Insofern ist die Ekstase nicht der Weg zur Existenz, sondern zur Inexistenz, zumindest kurzzeitig und vorübergehend. Und noch im Frühjahr 1888 optiert er für den Rausch durch Alkohol und Musik, wodurch man sich auf die Stufen sowohl der Kultur als auch der Unkultur zurückbringe, die bereits unsere Vorfahren überwunden hätten: „insofern ist nichts lehrreicher, nichts wissenschaftlicher' als sich zu berauschen [...]". (KSA, NF, 13, 239) Sloterdijk hingegen gibt zwar mit Cioran zu, daß existieren immer heißt, den Nachteil, geboren zu sein, auf sich nehmen zu müssen. Aber als freundlicher Apotheker empfiehlt er uns nicht Rauschgift und Drogen, sondern nach Wegen zu suchen, wie dieser Nachteil in den Vorteil der Weltentdeckung umzuwandeln sei: Gegen die Überwältigung durch das Weltlose helfe die Inspiration durch den Glanz der Welt; gegen die schwarzen Formen der Weltfremdheit rät er zur Weltfreundschaft als wirksamstes Gegengift. Das erinnert an den Humoristen Heinz Erhardt, der in diesem Sinne einmal in einem Film den philosophisch tiefsinnigen Aussprach machte, der bewußt formuliert sowohl Nietzsches Willen zur Macht als auch die Erleuch-
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Vgl. 21
dazu Peter
Sloterdijk,
Der Denker
1986,51.
Vgl. Sloterdijk, Weltfremdheit, a. a. O.,
auf der Bühne:
158.
Nietzsches
Materialismus, Frankfurt/M.
Andreas Becke
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tung eines Buddhas auf den Punkt bringt: „Da wir nunmal sind,
so
wollen wir auch
sein!"
Fraglos gibt es diesen Willen oder „Trieb" zum Leben und Überleben. Ob es aber auch einen umgekehrten, der eigenen Vernichtung entgegenarbeitenden Trieb gibt, einen „Todestrieb", wie ihn bekanntlich Sigmund Freud glaubte entdeckt zu haben, bleibt problematisch. Neben dem Eros, der Gesamtheit der Lebenstriebe, Jenseits des Lustprinzips, wie eine Schrift von ihm heißt, meinte Freud einen Wunsch nach Nichtsein erkennen zu können, der das Lebende wieder ins Anorganische zurückführen soll: Das Ziel allen Lebens sei der Tod, so seine Begründung für den Todestrieb, und außerdem sei schließlich das Leblose früher gewesen als das Lebende.22 Lebenstrieb und Todestrieb verhalten sich demzufolge wie Gott und Teufel in den westlichen Religionen (Judentum, Christentum, Islam), und er denkt dabei an Goethes Mephistopheles, der sagt: „Ich bin der Geist, der stets verneint! / Und das mit Recht; denn alles, was So könnte man fast zu der Ansicht gelanentsteht, / Ist wert, daß es zugrunde gen, die lebenserhaltenden Triebe seien nichts anderes als Umwege zum Tod; wer abkürzen will, nehme den direkten Weg! Dieses Nirvanaprinzip (von dem Freud ausdrücklich spricht), diesem doch partiell auftretenden Wunsch nach völligem Verlöschen, endgültig zu verschwinden und nie wiederzukehren, dieses Bedürfnis nach Wiederherstellung des prä-natalen, prä-uterinen und prä-gametogamischen Zustands, um wieder als Quark im Schaufenster eines Milchgeschäfts zu liegen, richtet sich gegen das eigene Subjekt und nicht gegen äußere Objekte (wie der Destruktionstrieb, der nach Freud von der Selbstzerstörung ablenken soll). Beide Triebe, Eros wie Thanatos, sind aber im Sinne Nietzsches als Wille zur Macht aufzufassen. Nur, wie kann der Wille zur Macht, das Leben selbst, sich nicht wollen? Wie ist dieser teuflische Trieb möglich? Sloterdijk meint, daß der sogenannte Todestrieb genau genommen nicht von Freud entdeckt, sondern wiederentdeckt wurde und daß Freud ein Imitator der antiken klassischen Philosophie sei, was diesem aber bewußt war. Den Begriff Todestrieb möchte Sloterdijk gerne austauschen gegen den Ausdruck Todesappetit, denn den Appetit hält er im Unterschied zum Trieb für bewußtseinsfähig und selbst erfahrbar.24 Trotz aller Kritik Todestrieb läßt sich nicht bezweifeln, daß es hier und da Menam (berechtigten) schen gibt, die zuweilen einen expliziten Appetit nach dem eigenen Tod haben und ihr Geborensein als großen Nachteil auffassen und vielleicht ihr Leben verweigern Nichtsein ist immer leichter als Sein. Die unerträgliche Schwere des Seins eintauschen zu wollen gegen die erträgliche Leichtigkeit des Nichtseins, glaubt er, bei Sokrates finden zu können, der, zum Tode verurteilt, auf seine Flucht verzichtet und seinen Tod nicht nur in Kauf nimmt, sondern offenbar sterben will und freiwillig den Schierlingsbecher trinkt: Eine neue „Wahrheit" über das Sterben offenbart sich.25 Sie habe seit
geht."23
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Sigmund Freud, „Jenseits des Lustprinzips" (1920), in: ders., Studienausgabe Bd. III: Psychologie des Unbewußten, Frankfurt/M. 71994, 213-272, hier 248. Johann Wolfgang von Goethe, „Faust: Eine Tragödie", in: ders., Werke: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 3 Dramatische Dichtungen I, hg. von Erich Trunz, München 161996, 47. Vgl. Sloterdijk, Weltfremdheit, a. a. O., 169f. Wörtlich schreibt er: „Seit dem Augenblick, in dem der zunehmend vom Gift gelähmte Weise seinen Kopf unter einem Tuch verbirgt, um die Krämpfe der letzten Atemzüge ohne Augenzeugen
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Ereignis in einer athenischen Gefängniszelle vor 2400 Jahren eine neue Erscheinungsform angenommen, weil sie gezeigt habe, daß es in der Macht des philosophierenden Individuums stehe, dem eigenen Ende eine überlegene Form zu geben. Damit stehen für ihn Philosophieren und Sterbenkönnenwollen in einer neuen Beziehung: „Philosoph ist demnach, wer sich um die Erhöhung seiner Sterbekraft so sehr bemüht hat, daß er sein eigenes Ende als Willenstat übernehmen kann. Die Idee des Weisen verschmilzt mit der Vorstellung von dem Manne, der das Aufhören mit dem Leben als Kunst betreibt."26 Sokrates ist derjenige, mit dem die abendländische Philosophiegeschichte die Entdeckung des metaphysischen Todesappetits verbinden muß (eine Rolle, die für Indien mit der Weisheit, des Lebens müde sein zu von Buddha beansprucht werden darf) sich nicht selbst übernehmen und ertragen zu müssen bis der natürliche so dürfen, lange diesem
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und fremdbestimmte Tod eintritt, sondern selbst zu entscheiden, wann man sterben will. Zu philosophieren bedeutet für Sokrates, nach nichts anderem zu streben als zu sterben und tot zu sein. Darüber hinaus installieren Sokrates und Piaton die Idee einer unsterblichen Seele, die dem Christentum erst den Boden bereitet, was Nietzsche als erster erkennt und heftig angreift, indem er den Sokratismus als ein Attentat des gehemmten Lebens auf sich selbst begreift, wie Sloterdijk treffend schreibt: „Seither wird ein sich als entlarvend verstehender Krankheitsverdacht gegen alle platonisierende Metaphysik
erhoben."27
Nicht nur, daß Nietzsche im vernünftigen Sokrates die personifizierte Lustfeindlichkeit sieht, mit ihm beginne auch der metaphysische Wahn, der sich immer noch ein Dahinter, eine Hinterwelt, schafft: Was ist, wenn es kein Außerhalb der Höhle gäbe? Was wäre, wenn die Schatten an der Wand schon alles und wir gar nicht angekettet sind, sondern frei? Seiner Meinung nach beginnt mit Sokrates die Dekadenz, der kulturelle Niedergang der Nihilismus. Nietzsche hat zuerst gesehen, daß dieser das Leben im Grunde als Krankheit auffassen muß, wenn es am Ende des vierten Buchs der Fröhlichen Wissenschaft unter dem Titel „Der sterbende Sokrates" heißt: -
„Ich bewundere die Tapferkeit und Weisheit des Sokrates in Allem, nicht sagte. Dieser
was er
that, sagte und
spöttische und verliebte Unhold und Rattenfänger Athens, der die übermüthigsten Jünglinge zittern und schluchzen machte, war nicht nur der weisestete Schwätzer, den es gegeben hat: er war ebenso gross im Schweigen. Ich wollte, er wäre auch im letzten Augenblicke des Lebens schweigsam gewesen, vielleicht gehörte er dann in eine höhere Ordnung der Geister. War es nun der Tod oder das Gift oder die Frömmigkeit oder die Bosheit irgend Etwas löste ihm in jenem Augenblick die Zunge und er sagte: ,Oh Kriton, ich bin dem Asklepios einen Hahn schuldig'. Dieses lächerliche und furchtbare ,letzte Wort' heisst fur Den, der Ohren hat: ,Oh Kriton, das Leben ist eine Krankhein' Ist es möglich! Ein Mann, wie -
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überstehen, sind mit einem Mal die Voraussetzungen für eine neuartige Verkündigung der .Wahrheit' über das Streben nach Weisheit erfüllt." Ebd., 171. Ebd., 172. Ebd., 176. Siehe dazu Volker Gerhardt, „Die Moderne beginnt mit Sokrates", in: Frank Grunert, Friedrich Vollhardt (Hg.), Aufklärung als praktische Philosophie: Werner Schneiders zum 65. Geburtstag, Tübingen 1998, 3-20. zu
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und vor Aller Augen wie ein Soldat gelebt hat, war Pessimist! Er hatte eben nur eine gute Miene zum Leben gemacht und zeitlebens sein letztes Ur-theil, sein innerstes Gefühl versteckt! Sokrates, Sokrates hat am Leben gelitten] Und er hat noch seine Rache dafür gemit jenem verhüllten, schauerlichen, frommen und blasphemischen Worte! Musste nommen ein Sokrates sich auch noch rächen? War ein Gran Grossmuth zu wenig in seiner überreichen Tugend? Ach Freunde! Wir müssen die Griechen überwinden!" er, der heiter
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Genau genommen ist der sterbende Sokrates gar nicht der eigentliche Entdecker des Todesappetits, sondern sein Freund Kriton, wie Sloterdijk zeigt, wobei seine hohe Interpretationskunst darin besteht, etwas zu lesen, was Kriton nicht sagt, sondern verschweigt: Wenn Kriton nämlich Sokrates rät, sich Zeit zu lassen und sich nicht zu beeilen, den Giftbecher zu trinken, und Sokrates daraufhin (zum letzten Mal) belehrend sagt, daß er sich lächerlich vorkäme, so am Leben zu hängen, dann muß Kriton in dem Moment begriffen haben, daß seinem Freund nicht mehr zu helfen ist, weil der Todestrieb bei ihm stärker sein muß als sein Wille zum Leben! Erst nach mehr als zweitausend Jahren habe Nietzsche mit seinem Krankheitsverdacht gegen die platonisierende Metaphysik auch den Erzphilosophen Sokrates wie einen pathologischen Fall in den Blick gefaßt, meint Nietzsches Stärke sieht er darin, Sokrates' sogenannte Weisheit als Morbidität erkannt zu haben, als ob aus Kritons Mund das „Leben selbst" spräche, der Wille zur Macht höchstpersönlich. Für Nietzsche scheine Leben überhaupt der Inbegriff von Kritonismus zu sein, was seinem Wesen nach den Lustgewinn steigern und das Gute verlängern wolle, wohingegen es die Unlust vermeiden und das Übel zu verkürzen suche: „So läßt sich, was Leiden ist, nur von der Tendenz zum Aufhören her verstehen; was Lust ist, nur vom Willen zur Dauer her. Wo immer ein Hauch von Vergehenwollen ins Spiel kommt, dort gäbe es nach Nietzsche Gründe, einen Krankheitsherd zu vermuten; wo hingegen die Verlängerung des Spiels gewollt werden kann, dort laufen die Erfolgslinien des guten Seins hinaus in einen Fortsetzungsroman namens Die Zeit jedoch, in der dieses Leben ewig leben will, sei nicht die tote Ewigkeit der Metaphysik, sondern die unendliche Linie aufeinander folgender Selbstbejahungen des Lebens durch zahllose Wendungen von Schmerz und Lust hindurch die ewige Wiederkehr des Gleichen. Der Ernst des Lebens bestehe für Nietzsche in dem fortwährenden Test auf die Kraft zur Sloterdijk ist hier zuzustimmen, denn Nietzsches Überwindung des Nihilismus, der seiner Meinung nach seit Sokrates in der (westlichen) Welt sein Unwesen treibt, besteht ja gerade darin, das Leben nicht zu verneinen, sondern sogar dann noch zu bejahen, wenn es immer und immer wiederkehrt unendlich oft. Wem angesichts der ewigen Wiederkehr des Gleichen nicht das Lachen vergeht, sondern heiter, fröhlich und gelassen bleibt, hat Nietzsches radikale Ablehnung der Weltablehnung verstanden. Selbstverständlich ist Nietzsches Philosophie der Selbst- und Weltbejahung eine Absage an den Lebensüberdruß, den er im Christentum findet, welches dann noch mit der perfiden
Sloterdijk.30
Ewigkeit."31
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Bejahung.32
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KSA, FW, 3, 569f.
Sloterdijk, Weltfremdheit, a. a. O., 206. Ebd., 207. Vgl. ebd., 208.
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Idee, durch das Mitleiden am Leid Christi teilzuhaben, für ihn das Ausmaß der Perversion annimmt, durch die im schlimmsten Fall der leidende Asket besonders alt wird, oder wie Sloterdijk schreibt: „Für Nietzsche war das Christentum die ingeniöse psycho-
politische Erfindung, die nötig war, um das Elend zu hohen Jahren kommen zu lassen."33 Die Überwindung des Nihilismus, die Zeit nach dem Christentum, müßte eine Zeit ohne Primat der Eile sein, ohne Abkürzungstrieb, ohne eine Metaphysik des Leidens und ohne Erlösungsreligionen, weil nicht mehr erlöst und abgekürzt und gelitten und sich beeilt werden muß. Daß die heutige, angeblich postchristliche Zeit so hektisch ist, zeigt nur, wie weit wir noch von Nietzsches Vision entfernt sind. IV. Die Kemaussage in Nietzsches Philosophie lautet, jeglichen Nihilismus abzulehnen und das Sein, wie es ist, anzunehmen. Sloterdijk hat daraufhingewiesen, daß dieser Schritt noch nicht ganz reicht, und noch die Erschließung eines freundschaftlichen Nichts oder westlichen Nirvanakonzepts notwendig ist, ohne allerdings gleich so etwas wie einen „Todestrieb" unterstellen zu müssen. Diejenige Lehre, die sowohl das Sein als auch das Nichts erfaßt, möchte ich wie gesagt Nontologie nennen. Im Laufe der abendländischen Philosophiegeschichte findet das Nichts immer wieder Erwähnung, meistens aber in dem Sinn, daß es mit dem Nichts nichts weiter auf sich habe und vernachlässigt werden dürfe: Deshalb kann es bis heute kaum gedacht werden.34 Eine Nontologie jedoch muß nicht neu geschaffen werden, sondern wird schon längst betrieben, beispielsweise durch Martin Heidegger, und braucht nur weitergeführt zu werden. In seiner berühmten Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik?, am 24. Juli 1929 in Freiburg i. Br. gehalten, versucht er in seiner hölzernen, stakkatoartigen Sprache nicht nur das Seiende und das Sein, sondern auch das Nichts zu bedenken. Das Nichts zeigt sich seiner Meinung nach zum Beispiel in der Angst, ohne daß etwas Konkretes da wäre, was uns fürchten ließe. Die Angst verschlage uns die Sprache; das Seiende im Ganzen entgleite und das Nichts dränge sich einem auf; das Ego verschwindet, einem ist unheimlich: „Das Nichts enthüllt sich in der Angst aber nicht als Seiendes. Es wird ebensowenig als Gegenstand gegeben. Die Angst ist kein Erfassen des Nichts. Gleichwohl wird das Nichts durch sie und in ihr offenbar, wenngleich wiederum nicht so, als zeigte sich das Nichts abgelöst ,neben' dem Seienden im Ganzen, das in der Unheimlichkeit steht." Mit dem Seienden im Ganzen, dem Sein, begegnet laut Heidegger in der Angst das Nichts. Das Seiende im Ganzen werde hinfällig, aber nicht, weil die Angst es etwa vernichtet, um so das Nichts übrig zu lassen, sondern vielmehr bekunde sich das Nichts eigens mit und an dem Seienden als einem entgleitenden Ganzen. -
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Ebd., 209. Eine löbliche Ausnahme bildet inzwischen Ludger Lütkehaus, Nichts: Abschied vom Sein Ende der Angst, Zürich 1999. Zitiert nach Martin Heidegger, „Wegmarke«", in: Gesamtausgabe, Bd. 9, Frankfurt/M. 1976, 103122, hier 113. -
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Wenn das Seiende im Ganzen entgleitet, begegnen wir dem Nichts; indem es in der uns umdrängt, können wir das „schlechthin Andere", das Nichts, erfahren: „In der hellen Nacht des Nichts der Angst ersteht erst die ursprüngliche Offenheit des Seienden als eines solchen: daß es Seiendes ist und nicht Nichts."36 Nur auf dem Grund der ursprünglichen Offenbarkeit des Nichts, sagt Heidegger, könne das Dasein des Menschen auf Seiendes zugehen und eingehen. Für ihn heißt Da-sein: Hineingehaltenheit in das Nichts. Natürlich ist das Nichts weder ein Gegenstand noch überhaupt ein Seiendes. Diese Hineingehaltenheit in das Nichts, dieses Herausstehen aus sich selbst und dem übrigen Seienden, nennen wir Ekstase. Die Ekstase meint also nicht eine Verzückung und Entrückung, sondern das Wesen des Menschen, weil sich ihm das Nichts und damit das Sein immer schon eröffnet: „Sich hineinhaltend in das Nichts ist das Dasein je schon über das Seiende im Ganzen hinaus."37 Nach Heidegger könnte es ohne diese ursprüngliche Offenheit des Nichts weder Selbstsein noch Freiheit geben. Wie das Sein selbst kein Seiendes ist, so kommt das Nichts weder für sich noch neben dem Seienden vor, sondern sei die Ermöglichung der Offenbarkeit des Seienden als eines solchen für das menschliche Dasein. Es ist nicht der Gegenbegriff zum Seienden, sondern gehört gleichursprünglich zum Wesen des Seins. Nur, wo etwas ist, kann es auch nichten; wäre nicht Seiendes, könnte auch das Nichts nicht „sein". Das Nichts „ist" genaugenommen nicht, sondern es „nichtet"; das Wesen des Nichts bestimmt er als Nichtung. Der Mensch ist nach Heidegger nicht einfach nur, sondern er existiert, indem er aus sich heraussteht, hineingehalten in das Nichts er ek-sistiert. Diese Nichtung erfahrend macht für ihn überhaupt erst den Menschen aus. Das Wesen des Menschen können wir so bestimmen als Ekstase.38 Aber dieses Nichts sei uns zunächst und zumeist in seiner Ursprünglichkeit dadurch verstellt, daß wir uns an das Seiende verlieren. Zugleich verweise uns das Nichts in seinem Nichten gerade an das Seiende. Diese Seins- und Nichtsvergessenheit aufzuheben, verstand Heidegger als seine vornehme
Angst
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Aufgabe. Hier liegt also schon längst eine Nontologie vor, und es ist an der Zeit, das Gespräch mit Heidegger wieder aufzunehmen und die Offenbarkeit des Nichts neu zu bedenken. Seine Warnung, Sein nicht nur als Anwesenheit mißzuverstehen, gibt schon den Verweis auf die Richtung, in die künftig gedacht werden muß. Wenn man nämlich um in Heideggers Sprache zu bleiben auf dem Holzweg ist und auf die Lichtung kommt, wo man, anstatt lauter Bäume zu sehen, eine Ahnung vom Wald bekommt, weil dort der -
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Wald nicht ist, lichtet sich nicht nur das Sein, sondern auch das Nichts. Dieses Bild macht zugleich deutlich, daß Sein und Nichts nicht dasselbe ist, wie Hegel vermutete,39 sondern daß das Nichts (Lichtung) erst das Seiende im Ganzen, das Sein (Wald), sicht-
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Ebd., 114. Ebd., 115. Sloterdijk kritisiert an diesem Ansatz, daß Heidegger die Geschichte des Heraustretens in die Lichtung des Seins oder der Hineingehaltenheit in das Nichts resolut ignoriert habe und daß folglich der Prozeß der Hominisation, die Evolution des Menschen, wie er zum ekstatischen Wesen wurde, berücksichtigt werden müsse. Siehe Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark: Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt/M. 1999, 32ff. Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik, a. a. O., 72.
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bar macht, wo man sonst nur an das Seiende (Bäume) sich verliert und den Wald vor lauter Bäumen nicht zu Gesicht bekommt. Insofern ist die Nontologie nicht nur die Lehre vom Nichts im Unterscheid zur Ontologie, sondern sie muß immer schon beides zugleich sein die Lehre von Sein und Nichts. Die gegenwärtige Philosophie jedoch gibt sich im Hinblick auf solche Fragen ahnungslos und versucht, sich im schlimmsten Fall als Wissenschaft mißzuverstehen (als Wissenschaft wovon eigentlich?). Sie hat erfolgreich, unter massiver Mithilfe Nietzsches, die Metaphysik abgeschafft und Sein und Nichts zu vergessen versucht. Deshalb kann Sloterdijk im Hinblick auf Heidegger sagen: „Was neuere Philosphen die Seinsvergessenheit genannt haben, zeigt sich vor allem an als hartnäckige Ignoranz gegen den unheimlichen Ort des Existierens." Das Existieren, die Ekstase, erschließt dem Menschen gleichermaßen Sein und Nichts. Darum sind Menschen, wo sie Menschen sind, immer schon nontologische Wesen. Dies zu vergessen, zeigt sich für Sloterdijk durch mutwilliges Nichtgewahrwerden der ontologischen Lage, das er im rasanten Lebensbetrieb, ziviler Interesselosigkeit oder anorganischer Erotik auszumachen meint. Die Menschen von heute, die „Gierigen der letzten Tage", würden nicht mehr fragen, wo sie sind, solange sie nur irgendjemand sein dürfen, bemerkt er ironisch. Die ontologische Lage, die genaugenommen eine nontologische Situation ist, liegt nicht nur, wie wir gesehen haben, an einem Übersehen des Seins, sondern auch an dem Nichtwahrhabenwollen des Nichts. Des Seins und des Nichts gewahr zu werden, ist aber mit Askesekritik noch nicht getan. Erst in der Hineingehaltenheit in das Nichts, in der Ekstase, auf der Lichtung, lichtet sich Sein und Nichts gleichermaßen. Wer Askese mit Ekstase verwechselt, sieht nur die Hälfte, wenn er überhaupt etwas sieht: Askesekritik darf nicht zur Ekstasevemachlässigung führen! Dieser asketisch-ekstatisch-individualistische Zug am Menschen ist gemessen an der Geschichte der Menschheit relativ jung, vielleicht zweieinhalb, höchstens jedoch drei- bis viertausend Jahre alt und kulturübergreifend, wie Karl Jaspers mit seiner Konzeption der Achsenzeit gezeigt hat: „Zum erstenmal gab es [damals, A. B.] Philosophen. Menschen wagten es, als Einzelne sich auf sich selbst zu stellen. Einsiedler und wandernde Denker in China, Asketen in Indien, Philosophen in Griechenland, Propheten in Israel gehören zusammen, so sehr sie in Glauben, Gehalten, innerer Verfassung voneinander unterschieden sind. Der Mensch vermochte es, sich der ganzen Welt innerlich gegenüberzustellen. Er entdeckte in sich den Ursprung, aus dem er über sich selbst und die Welt sich erhebt." In sich, so Jaspers, habe der Mensch den Ursprung entdeckt, der ihn zum ekstatischen Wesen macht. Diese Entdeckung wäre vermutlich ohne -
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Sloterdijk, Sphären 1: Blasen, Frankfurt/M. 1998, 27. Dem will er mit dem Begriff Sphäre entgegenwirken: „Die Sphäre ist das innenhafte, erschlossene, geteilte Runde, das Menschen bewohnen, sofern es ihnen gelingt, Menschen zu werden." (Ebd., 28) Das Sein-in-Sphären bildet für Peter
ihn das Grundverhältnis des Menschen, das durch die Nicht-Innenwelt angetastet werde und sich gegen die Provokation des Außen des Nichts? behaupten, wiederherstellen und steigern müsse. Was von Heidgger das In-der-Welt-Sein genannt wurde, heißt bei ihm für die menschliche Exi-
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„In-Sphären-Sein" (ebd., 46.). Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte,
stenz:
Karl 22.
München 1949
[Taschenbuchausgabe 1983],
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Askese kaum möglich gewesen. Erst so konnte sich Sein und Nichts ihm lichten. Einsiedler und Asketen waren es, die es wagten, sich nur auf sich selbst zu stellen, um über den Tellerrand des alltäglich anwesenden Seienden hinauszublicken und das Seiende im Ganzen, das Sein, zu überblicken. Diese Ekstase durch Askese ist nicht weniger als die Erfindung der Philosophie! Sloterdijk sieht darin einen ekstatischen und asketischen Aufstand gegen die alltägliche Banalität und das chronisch gewordene Leiden am Dasein. Ekstase und Askese (als Medium und Ziel der metaphysischen Arbeit am Selbst) hält er nicht für möglich ohne das verstärkte Aufklaffen der ursprünglichen „Unpassung", wie er sagt, zwischen Individuum und Welt: „Die metaphysische Askese ist im Grunde nur die bewußte Ausarbeitung dieser Unpassung. Sie verstärkt den Riß zwischen Individuum und seinem bisherigen Leben und zieht es zunehmend auf ein Gebiet, in dem es für sich selbst das ganz Andere, das Eigentliche, das wahrhaft Seiende wird. Dieses eigentliche Anderssein ist die Ekstase, zu der alle Metaphysiken des Ostens wie des Westens vor ihrer Dekadenz von der Askese zum Gerede hinführen wie zu ihrem einzigen Grund. In der Ekstase haben sie ihren fundierenden Gipfel." Am Anfang wie am Ende der Metaphysik steckt ein ungeheurer Wille zum Wissen; und das Aufkommen asketischer Ideale in den Hochkulturen der Achsenzeit ist historisch gesehen das entscheidende Ereignis, zur Ekstase zu gelangen und zum heutigen Menschen und seiner Welt vorzudringen. Auch wenn seit Nietzsche der Verdacht der Weltflucht gegenüber der platonischen Metaphysik gehegt wird und selbstverständlich nur der die Welt ablehnen kann, der in ihr ist (außer er wäre „Gott"), hat die Ekstase erst das Fundament zum menschlichen Menschen gelegt. Das Nichts an sich ist natürlich weder positiv noch negativ (denn es „ist" noch weniger als das Sein), sondern es geht nur darum, uns in ein neues Verhältnis sowohl zum Sein als auch zum Nichts zu bringen, das heißt ekstatisch zu leben und der nontologischen Grundsituation unseres Daseins gewahr zu werden (was nicht dasselbe ist, wie das Nichts zu wollen). Dieses Übersichhinauswollen der Ekstase, diese Selbsttranszendenz in der Immanenz, diese Feindschaft gegenüber dem „Geist der Schwere", der nach unten zieht, das lehrt auch Nietzsches Zarathustra: Er spricht in Metaphern wie Tanzen und Fliegen und der Schwerelosigkeit. Der Mensch, der noch nicht fliegen kann, sei wie ein VogelStrauß, der zwar schneller als das schnellste Pferd laufe, aber auch noch den Kopf schwer in schwere Erde stecke: „Schwer heisst ihm Erde und Leben; und so will es der Geist der Schwere! Wer aber leicht werden will und ein Vogel, der muss sich selber lieben: also lehre ich." (KSA, ZA, 4, 242) Die Eigenliebe ist Zarathustra zufolge der Weg über sich hinaus (und nicht die „Nächstenliebe"), was der „Geist der Schwere" bisher verhindert habe. Dem Kamel gleich kniet der bisherige Mensch nieder und läßt sich viel aufladen: Der starke, tragsame Mensch, dem Ehrfurcht innewohnt, lade zu viele fremde, schwere Worte und Werte auf sich, und auch manch eigenes sei zudem schwer zu tragen! Er rät stattdessen zur neuen Leichtigkeit dem Kinde gleich, unschuldig und vergessend, neube-
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Sloterdijk, Weltfremdheit, a. a. O., 221. In der Morgenröthe heißt es im Aphorismus
517: „Zur Liebe verführen. Wer sich selber hasst, den haben wir zu fürchten, denn wir werden die Opfer seines Grolls und seiner Rache sein. Sehen wir also zu, wie wir ihn zur Liebe zu sich selber verfuhren!" (KSA, M, 3, 300.) -
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ginnend und spielend, wie ein aus sich rollendes Rad zu sein, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen zum Spiele des Schaffens und Werdens: Dann will der Geist seinen Willen und seine Welt, gewinnt sich der Weltverlorene das ist der vielbeschworene Übermensch. (Vgl. KSA, ZA, 4, 31) Aber man muß Geduld haben und auf sich warten können: „Das ist aber meine Lehre: wer einst fliegen lernen will, der muss erst stehn und gehn und laufen und klettern und tanzen lernen: man erfliegt das Fliegen nicht!" (KSA, ZA, 4, 244) -
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Damit komme ich zum Schluß: Ob etwas ist oder vielmehr nicht ist, ist nicht einerlei! Dies mag eine Trivialität sein; aber gerade deswegen ist dieser Unterschied zwischen Sein und Nichts so fundamental. Nur in der Ekstase, im Herausstand aus sich selbst, auf Heideggers Lichtung, ist dieser Zusammenhang zu sehen. Daher ist die Ekstase die Voraussetzung der Nontologie. Mit der Enthüllung des Nichts durch die Angst (vor dem eigenen Tod) hat der Seinsphilosoph den Weg zur Nontologie gewiesen: Ekstase ist die Hineingehaltenheit ins Nichts, die nur auf dem Boden des Seins möglich ist. Sein und Nichts gehören zusammen wie Wald und Lichtung; und vielleicht ist es der aufrechte Gang, das vertikale Moment im Menschen, das uns an diese Stelle des Übergangs führt und uns zu ekstatischen Wesen macht. Um diesen seltsamen Sachverhalt zu erläutern, erzählt man sich in Indien die Geschichte von den Göttervögeln, auf die auch Sloterdijk zurückkommt: Die Sage geht um Wesen, die höher fliegen können als die höchsten Berge hoch sind. Niemals landen sie auf der Erde, sondern schweben fortwährend in den Lüften; sie brauchen keine Nahrung, denn sie sind unsterblich Göttervögel. Das Seltamste jedoch und auch Gefährlichste im Leben eines Göttervogels findet ganz am Anfang seines Lebens statt, bei seiner „Geburt", wenn man das sagen dürfte, bei seinem Zur-Welt-kommen. Denn das Ei wird nicht, wie bei gewöhnlichen Vögeln, in ein Nest gelegt, sondern in die Luft. Dazu muß der Muttervogel hoch genug fliegen, damit die Sonne entsprechend Zeit hat, das Ei auszubrüten, während es auf die Erdoberfläche zurast. Wenn alles gut geht, reicht die Zeit aus, so daß kurz vor dem Aufprall die Schale noch in der Luft zerspringt. Der junge Göttervogel schlüpft im freien Fall und breitet seine Flügel aus, der Sturzwind bremst ihn ab, und er beginnt wieder zu steigen: „So ist zu der Gattung der seltenen und wunderbaren Vögel ein neues Exemplar hinzugekommen", merkt Sloterdijk an.45 Manchmal jedoch, das kann auch vorkommen, ist die Zeit zu kurz, weil vielleicht Wolken die Sonne verdunkeln oder das Ei zu niedrig abgelegt wurde; das Küken versucht verzweifelt, im letzten Moment herauszukommen, aber es ist zu spät: Die Schale zerschellt auf der Erde. Mühsam befreit sich nun der junge aus den Splittern und ahnt, daß er nie wird fliegen können. Von der Schwerkraft angezogen klebt er auf der Erde, aber nachdem er sich von dem Schock seiner „Geburt" erholt hat, versucht er, da er nicht fliegen kann, wenigstens gehen zu lernen. Deshalb, betonen manche, sei der aufrechte Gang für abgestürzte Göttervögel so wichtig: „Aber soviel die vertikalen -
Göttervogel
Die Nontologie ist demnach noch fundamentaler als Heideggers Fundamentalontologie, weil sie nicht die ontisch-ontologische Differenz, sondern den nontologischen Zusammenhang von Sein und Nichts bedenkt. Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen Zur Sprache kommen: Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt/M. 1988, 101. -
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Tiere auch auf dem Erdboden herumlaufen, sie werden nie das Gefühl abschütteln, daß etwas mit ihnen nicht völlig in Ordnung ist. In einem verborgenen Winkel ihres Gedächtnisses lebt eine Ahnung davon weiter, daß einmal andere Möglichkeiten offenstanden, die ihnen vorenthalten blieben."46 Wenn Sie auch dieses merkwürdige Ziehen zwischen Ihren Schulterblättern verspüren, wissen Sie, was aus Ihnen hätte werden können und wo Ihnen die Flügel wachsen sollten. Was Ihnen bleibt, ist die Ekstase, aus sich herauszutreten, zur Welt zu kommen und gleichzeitig aus ihr herauszustehen. Der Sog des Nichts zieht mich aus mir heraus nach oben, als ob ich es in den dunklen Niederungen des Seins nicht aushalten könnte. Erst auf der Lichtung wird es heller, und ich ängstige mich, weil dort Nichts ist. An diesem unheimlichen Ort findet der Weltaufgang statt, weil ich als ekstatisches Wesen, als weltoffenes Tier, aus mir herausstehe. Ohne diesen Herausstand wäre Weltflucht oder Weltablehnung gar nicht möglich, kurz: Ohne Ekstase könnte es keine Askese geben. -
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Ebd., 102.
Aldo Venturelli
Die Wiederentdeckung des Negativen Nietzsche und der Neomarxismus in Italien
von Morgenröthe im Jahre 1964 begann in Italien die von Colli und Mazzino Montinari bearbeitete kritische Neuausgabe der Werke Nietzsches. Zufällig fiel dieses Jahr mit einem wichtigen Moment in der Geschichte des Neomarxismus in Italien zusammen. Es entstanden damals neue Zeitschriften, die sich von der nationalvolkstümlichen Tradition und von der vorhergehenden Kulturpolitik der linken Parteien loszulösen versuchten. Ihr Hauptziel war eine direkte Auseinandersetzung mit dem Rationalisierungsprozeß und der technologischen Umstrukturierung des Neokapitalismus. Ihrer Meinung nach konnte dieses Ziel nur durch eine Wiederentdekkung der grundlegenden Strukturen des Marxschen Denkens erreicht werden, das von den Verkrastangen befreit werden mußte, die eine lange Geschichte von ideologischen und propagandistischen Deformationen hinterlassen hatte. Auf diese Weise sollte die Theorie wieder mit einem unerwarteten Prozeß der Modernisierung und des wirtschaftlichen und technischen Fortschritts in Verbindung treten, in dem die Klassengegensätze jedoch weiterhin eine entscheidende Rolle spielten. Man glaubte also, direkt zu Marx zurückkehren und über die traditionellen politischen und kulturellen Überlegungen hinausgehen zu können, die das Handeln der linken Parteien geprägt hatten. Unterdessen wurden durch dieses neomarxistische Denken andere Quellen wiederentdeckt: die Frankfurter Schule, der westliche Marxismus von Karl Korsch, der junge Lukács, die Beziehungen zwischen der Avantgarde und der Poetik des Realismus. Man begann, mühsam die oft konfliktreiche Geschichte der verschiedenen Interpretationen des Marxismus oder der schwierigen Beziehungen zwischen Parteien, Gewerkschaften und der soziologischen Wirklichkeit der Arbeiterklasse zu rekonstruieren und versuchte, ohne Vorurteile und mit größerer Neugier, die Ergebnisse der neuen Sozialwissenschaften und ihrer Methoden zu beachten von der industriellen Soziologie bis zur Psychoanalyse, von der Linguistik bis zur Anthropologie. Diese verschiedenen Tendenzen führten dazu, daß den bisher weniger beachteten Kapiteln der großen Klassiker des bürgerlichen Denkens größere Aufmerksamkeit geschenkt wurde, und daß man sich bewußter mit den bedeutungsvolleren Tendenzen der europäischen Kultur und Literatur auseinandersetzte.
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In diesem Rahmen veröffentlichte der Italianist und Literaturtheoretiker Alberto Asor zum Beispiel im Jahre 1965 Scrittori e popólo (Die Schriftsteller und das Volk),
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die volkssozialistische Tradition der italienischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und einige grundlegende Kategorien des Denkens Antonio Gramscis einer strengen Kritik unterzog. In der Einleitung zu einer Neuausgabe dieses Werks im Jahre 1988 hob der Autor retrospektiv die möglichen geistigen Verwandtschaften zwischen dem Autor des Kapitals und Nietzsche, dem Autor der Fröhlichen Wissenschaft, als zwei untrennbare Momente des modernen Denkens hervor. Seiner Meinung nach setzte die Neuinterpretation des Marxismus als Kritik der Ideologie und Bemühung, die bürgerliche Kultur aus einer ganz anderen Perspektive zu untersuchen (als aus der der Arbeiterklasse), notwendigerweise eine „wesentliche nihilistische Sympathie" voraus, die schon damals den Antihistorismus dieser theoretischen Positionen befruchtete. Zweifellos erscheinen diese Verwandtschaften bei einer neuen retrospektivischen Deutung klar, auch wenn man nicht leugnen kann, daß zwischen der neuen philologisch-kritischen Deutung Nietzsches und dem Aufblühen des Neomarxismus in Italien eine zeitliche Parallelität bestand. Weniger klar war damals der Verweis auf die großen Werte des fortschrittlichen bürgerlichen Humanismus, die die Arbeiterklasse und ihre Organisationen erben und in ihrer Kulturpolitik weiterentwickeln sollten. Die aufsteigende Linie der Geschichte und das unaufhaltsame Fortschreiten der Freiheit und der Demokratie wurden natürlich an sich nicht abgelehnt, sondern erschienen als ideologische Verschleierungen der strukturellen Umwandlungen, der realen Konflikte und der technologischen Veränderungen, die die politische Theorie der traditionellen Linken nicht mehr angemessen analysieren und untersuchen konnte. So wurde vor allem Lukács' Interpretation des Kampfes zwischen Fortschritt und Dekadenz, seine Auffassung Nietzsches als Begründer des modernen Irrationalismus und als indirekten Apologeten des Imperialismus wieder in Frage gestellt. Durch diese Loslösung vom alten Nietzsche-Bild Lukács' entstanden im italienischen Neomarxismus vor allem drei Positionen. Die erste setzte sich zum Ziel, die Beziehung zwischen den innovativsten Erfahrungen der historischen Avantgarde und einer deutlicheren Auffassung der Poetik des Realismus zu untersuchen. Als Folge ging daraus auch eine genauere Untersuchung des Bruches zwischen den Intellektuellen und der Gesellschaft hervor, der sich in Deutschland seit den Gründerjahren mit besonderer Schärfe vollzogen hatte. Viele Aspekte der Philosophie und der Ästhetik Nietzsches schienen auf diesen Bruch zurückführbar zu sein, und gleichzeitig verspürte man die Notwendigkeit einer näheren Untersuchung der Nietzsche-Rezeption, die einige Vertreter der radikalen Intelligenz in Deutschland und Österreich zwischen der Jahrhundertwende und der Weimarer Republik gekennzeichnet hatte, von Karl Kraus bis Franz Blei, von Kurt Hiller bis Carl Sternheim. Diese Position wurde zum Beispiel von Paolo Chiarini in seiner Einführung zu einer 1967 veröffentlichten Neuausgabe der Geburt der Tragödie vertreten. Eine ähnliche Position wurde von Cesare Cases vertreten, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Die zweite Position entwickelte eine Interpretation des Denkens Nietzsches mit der wo er
Perspektive einer utopischen Befreiung, der Entdeckung einer neuen spielerischen und allegorischen Dimension, die im Gegensatz zur eindimensionalen Logik der Rationalität
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produktiven und ideologischen Systems des Kapitalismus stand. Diese Position vertrat zum Beispiel Gianni Vattimo in seinem 1974 veröffentlichten Band II soggetto e la maschera. Nietzsche e il problema délia liberazione (Das Subjekt und die Maske. Nietzsche und das Problem der Befreiung), das aber schon durch Untersuchungen in des
den 1960er Jahren vorbereitet wurde. Aus anderen Gründen vertrat diese Position Ferraccio Masini, der 1978 seine Nietzsche gewidmeten wertvollen Aufsätze aus den Jahren von 1967 bis 1978 in dem wichtigen Band Lo seriba del caos. Interpretazioni di Nietzsche (Der Schreiber des Chaos. Interpretationen Nietzsches) veröffentlichte. Vattimo erkannte damals in Nietzsche eine Dimension jenseits des Menschen, der sich historisch verwirklicht hat, eine Art Mensch, der in der Lage ist, sich aus jeder Art von Herrschaft und Autorität zu befreien. Diese Dimension jenseits des Menschen stellte seiner Meinung nach nicht nur eine Steigemng des menschlichen Wesens und die vollständige Entfaltung einer Welt von Symbolen und Ausdracksformen dar, sondern das Prinzip einer neuen Art der Existenz, in der die Autorität, die auf der Tradition, der Vergangenheit, dem Schon-Gewesenen beruht, radikal überwunden und die wirksame Behauptung einer überreichlichen Freiheit möglich wird. Masini erkannte dank einer sehr genauen Analyse die Beziehungen zwischen Nietzsche und einer bestimmten historischen Übergangsphase der bürgerlichen Gesellschaft. In Nietzsche werden der Materialismus und die Dialektik zu einer Voraussetzung für eine Umschreibung eines Bedeutungsfeldes, in dem sich hermeneutische Perspektive und ästhetische Schöpfung in einer unlösbaren Beziehung gegenseitig beeinflussen. Auf diesen theoretischen Voraussetzungen basiert zum Beispiel Masinis Untersuchung der Sprache in Also sprach Zarathustra, die heute noch besonders fruchtbar und reich an Hinweisen und Anregungen
erscheint. Die dritte Position, von der aus sich der italienische Neomarxismus mit dem Denken Nietzsches auseinandersetzte, versuchte, seine Philosophie in ein vermutetes „negatives Denken" einzugliedern, das seine wesentliche Grundlage in einem radikalen Gegensatz zum dialektischen Denken gefunden hatte. Dieses Denken entsprach einem „wirklichen Krisenprozeß", den die große bürgerliche Kultur des 19. Jahrhunderts oft vorwegzunehmen gewußt hatte. Dieses unterstrich gleichzeitig die Notwendigkeit einer radikalen Neugründung der gnoseologischen Voraussetzungen und der Untersuchungsmethoden, die die bürgerliche Ideologie bis dahin angewandt hatte. Diese sollte in der Lage sein, sich mit den realen Widersprüchen auseinanderzusetzen, die das „negative Denken" herausgestellt hatte, ohne auf einfache Erhebungen oder naive Verschleierungen zurückzugreifen. Diese Position wurde vor allem von Massimo Cacciari vertreten in seinem 1976 veröffentlichten Werk Krisis. Saggio sulla crisi del pensiero negativo da Nietzsche a Wittgenstein (Krisis. Aufsatz über die Krise des negativen Denkens von Nietzsche bis Wittgenstein), dem 1973 ein ausführlicher Aufsatz zum Thema Pensiero negativo e razionalizzazione (Negatives Denken und Rationalisierung) vorausgegangen war. In diesem Werk wollte der Autor eine „Kritik der Ideologie" entwickeln, die es ermöglichen sollte, sich direkt mit den verschiedenen Bereichen und Disziplinen der Erkenntnis auseinanderzusetzen. Der Brach, für den Nietzsche mustergültiges Beispiel gewesen war, sollte so auch auf der Ebene der Umwandlungen innerhalb der Physik und des ökonomischen Denkens untersucht werden (von Ernst Mach bis zum neoklassi-
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sehen ökonomischen Denken). Dieser Bruch hatte schließlich die verschiedenen Forder künstlerischen Sprache befruchtet, von der Musik bis zur Architektur und Literatur, und hatte vor allem in der großen Kultur des „finis Austriae", der „Wiener Apokalypse", seinen vollkommenen Ausdruck gefunden. Vor diesem allgemeinen Hintergrund wollte Cacciari die gesamte gnoseologische Umwandlung beleuchten, die die Krise einer festen Bedeutung und einer objektiven Wahrheit und die kritische Untersuchung der Ausdruckskraft jeder Sprachform im Denken des 20. Jahrhunderts herbeigeführt hatte. In dieser Krise wurde der ursprüngliche Kern des Denkens Nietzsches gesehen, das dann von Wittgenstein auf eine höchst ursprüngliche Art wieder aufgenommen und bis zu seinen äußersten Konsequenzen geführt wurde. Da der Zweck dieser Tagung nicht nur ist, historische Debatten zu rekonstruieren, sondern zu einem erneuten Nachdenken über Marx und Nietzsche anzuregen, halte ich es für sinnvoll, unsere Aufmerksamkeit vor allem auf diese dritte Position zu richten. Diese trug mehr als jede andere dazu bei, eine weitreichende und lebhafte Debatte hervorzurufen innerhalb der italienischen Linken, aber auch außerhalb des Kreises von Wissenschaftlern und Fachleuten. Diese Diskussion über Cacciaris Theorie trug, wenn auch indirekt, zu einer tiefgreifenden Umwandlung der vorhergehenden theoretischen Kategorien bei, an denen sich die Politik des italienischen Marxismus und die Organisationen der Linken orientierte. Meiner Meinung nach müssen in dieser Hinsicht zwei Elemente hervorgehoben werden, um seine Interpretation genauer zu kennzeichnen. Wie schon angedeutet wurde, beruht sie hauptsächlich auf der Beziehung zwischen Wittgenstein und Nietzsche; diese wird nicht so sehr auf rein philologischer, sondern vielmehr auf hermeneutischer Ebene untersucht. Wittgensteins Theorie von der Krise der objektiven Bedeutung der Sprache erscheint Cacciari als die letzte und radikalste Entwicklung der gnoseologischen Kritik des späten Nietzsche. Cacciari gehört zu den ersten, die die große Erneuerungskraft erkannten, welche die Neuausgabe der Nachgelassenen Fragmente der Jahre 1887/88 in der Nietzsche-Forschung entfalten konnte. Eine gründliche Kritik der Grundlagen der logischen und wissenschaftlichen Erkenntnis wird seiner Meinung nach zum vorherrschenden Motiv des gesamten Denkens Nietzsches. Das Scheitern der mechanistischen Deutung der Welt, die Entdeckung des nichtobjektiven Charakters jeder wissenschaftlichen Konstruktion, die Kritik an der Zufälligkeit und an der undifferenzierten Synthese von Subjekt und Objekt, dieser „Ernüchterungscharakter" betrifft nicht nur die nihilistischen Folgerungen des späten Nietzsche, sondern tritt schon Cacciari zufolge in seiner aufklärerischen Phase zutage. Die Wahrheit als ein aktiv zu konstruierender Prozeß, sein probabilistischer und konjekturaler Charakter, stellt die große Entdeckung Nietzsches dar: In seinem Denken ist das Hauptproblem nicht mehr die Definition einer Ratio, sondern einer Logik als Enthüllung des wahren Seins. Die Kritik der objektiven Grundlage jeder logischen Erkenntnis führt nicht zu einer einfachen Ablehnung, sondern zu der Hervorhebung ihres Wirkungscharakters: Die Logik liefert also Kriterien und Instrumente, um aktiv einen für uns und unsere Bedürfnisse angemessenen Wirklichkeitsbegriff zu bestimmen. Sie entwickelt sich also zur treibenden Kraft jedes dynamischen Rationalisierungsprozesses auf der Welt. Dies ist natürlich kein linearer, sondern ein konfliktreicher und problematischer Prozeß. Auf diese Weise hat in Nietzsche, Cacciari zufolge, „das negative Denken den men
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ganzen Raum des Nihilismus durchquert und bis auf den Grand seine Verkündigung interpretiert Die reinen Formen verwandeln sich in positive Macht, das Scheitern des A priori ist Rationalisiemng, die Askese ist schließlich die Definition der logischen Struktur der Welt auf dem radikalen Unterschied und der bloßen Konvention beruht der Wert der logischen Form, der uns die Wirklichkeit formulierbar macht". Cacciari lehnt also jede irrationelle Interpretation Nietzsches ab und unterstreicht den nicht dekadenten, sondern positiven Charakter der gnoseologischen Krise, die durch sein Denken bezeugt ist. Er unterstreicht außerdem den konfliktreichen und offenen Charakter jedes Rationalisierungsprozesses, der sich immer wieder erneuern und die Bedingungen für seine Entfaltung schaffen muß. Eine radikale Kritik jeder Vorstellung von Synthese, jeder Hoffnung auf eine nun für immer verlorene harmonische Totalität, sowie jede Erwartung einer utopischen Zukunft, die sich von dieser konfliktreichen und in ständiger Umwandlung befindlichen Wirklichkeit vollkommen unterscheidet, ist die Konsequenz, die diese Interpretation des Denkens Nietzsches nach sich zieht. Aber die Krise, die Cacciari in Nietzsche untersucht, stellt nicht nur einen unumkehrbaren Brach in der Geschichte der Philosophie des 19. Jahrhunderts dar; sie verweist direkt auf die konkrete Phase der ökonomischen, ideellen und organisatorischen Krise, mit der sich die italienische Linke damals auseinandersetzen mußte. Es stimmt, daß die Linke in Italien eben zu jener Zeit ihren größten Wahlerfolg feierte und zum ersten Mal gleichzeitig die Verantwortung der Regiemng und der Opposition übernehmen mußte, wie man mit Nachdruck hervorhob. Aber dies fällt mit einer tiefgreifenden und schwierigen Umwandlung zusammen, die auf politisch-institutioneller Ebene vom Untergang des alten politischen Systems gekennzeichnet ist, auf der wirtschaftlichen von einer sehr hohen Inflation und auf der der öffentlichen Ordnung von einem Erstarken des Terrorismus. Die bedeutendste politische Konsequenz von Cacciaris Buch war die Aufforderung, die Krise nicht nur negativ als Verfall, Zusammenbrach und Unregierbarkeit zu deuten, sondern auch als historische Gelegenheit einer Umwandlung, deren mögliche Ergebnisse von den Ursachen der Krise selbst und nicht gegen sie bestimmt werden sollten. Allgemein forderte Cacciaris Buch implizit dazu auf, jegliche palingenetische Anschauung, jegliches naive Vertrauen auf eine utopische Zukunft, jegliche einfache Hoffnung auf eine andere Gesellschaft aufzugeben. Das entscheidende Element in jedem Projekt politischer und sozialer Verändemng sollte hingegen in der Fähigkeit bestehen, den wirklichen Prozeß der Krise und der Veränderung zu analysieren und zu beherrschen. Neben diesem fast pragmatischen' Aspekt des von Cacciari vertretenen neuen Nietzsche-Bildes darf man jedoch einen weiteren nicht vergessen: Seiner Interpretation gelingt es nicht, sich aus den engen Maschen einer Kritik der Ideologie zu befreien, deren hermeneutische Grandlagen immer vager und problematischer erscheinen. Wenn die Wahrheit sich tatsächlich in Sprache verwandelt, wenn die Sprache wesentlich ein Prozeß der Interpretation ist, wenn die Logik einen überwiegend symbolischen Charakter hat und nicht mehr genaue Definitionen fester Wahrheiten und starrer Begriffe bietet, kann dann eine Kritik der Ideologie existieren, die sich außerhalb dieser Sprache und dieser Interpretation stellt? Wenn diese Möglichkeit nicht gegeben ist, müßte auch die Kritik der Ideologie als eine linguistische Operation definiert werden, als ein Beitrag -
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zur Überwindung der Verkrustungen und der Ausdruckshindernisse, den sozialen Bedingungen und den sozialen Strukturen bestimmt werden. Meiner Meinung nach setzt sich Cacciari nie ausdrücklich mit dem Problem einer neuen methodologischen Definition der Kritik der Ideologie auseinander. Im Gegenteil, es entsteht der Eindruck, daß er weiterhin heimlich an die Möglichkeit eines Systems theoretischer Bezüge glaubt, das sich von dem Rationalisierungsprozeß des negativen Denkens gänzlich unterscheidet. Daraus folgt, daß dieses Denken in seiner vermuteten logischen Struktur untersucht werden kann. Diese logische Struktur wird gleichzeitig direkt mit dem wirklichen Rationalisierungsprozeß identifiziert, den die europäischen und westlichen Gesellschaften seit dem Ende des 14. Jahrhunderts in ihrer tatsächlichen Geschichte erproben sollten. Der Versuch, eine einheitliche strukturelle Grundlage der Ideologie und der Praxis wiederzufinden, bringt eine drastische Verarmung in der Untersuchung jeder politischen und kulturellen Mediation mit sich. Auf der begrenzteren Ebene der Nietzsche-Forschung zum Beispiel befinden wir uns vor einer hermeneutischen Untersuchung der überwiegend einheitlichen Logik im Denken des deutschen Philosophen, aber wir haben große Schwierigkeiten, von dieser Logik zu dem gewundenen Labyrinth von Brüchen und Beständigkeiten, von Querverbindungen und allegorischen Erhebungen zurückzufinden, die Nietzsche und die verworrene Geschichte seiner Rezeption gekennzeichnet haben. Es ist natürlich zu einfach, in diesen beiden grundlegenden Elementen, mit denen wir das Nietzsche-Bild Cacciaris gekennzeichnet haben, die Hauptgründe für die weite Verbreitung, aber auch für das rasche Erschöpfen der Debatte um Nietzsche zu suchen, die im italienischen Neomarxismus zwischen dem Ende der 1970er und dem Beginn der 1980er Jahre stattfand. Das Denken Nietzsches war damals ein konstanter Bezugspunkt in der theoretischen Aufarbeitung, es war Gegenstand von Tagungen in den traditionellen Sitzen der Kulturpolitik der Linken, ihm wurden in den wichtigsten Zeitschriften und bisweilen sogar in der Tagespresse viele Artikel gewidmet. Heute ist Nietzsche sicher nicht in Vergessenheit geraten, aber er übt nicht mehr die brechende Kraft aus, die damals indirekt sogar die politische Debatte beeinflußte. Eine Kluft scheint sich aufgetan zu haben zwischen der pragmatischen Dimension der Tagespolitik und ihren Bedürfnissen und der Notwendigkeit des Nachdenkens, das sich immer weiter von der Gegenwart entfernt und die zurückliegenden und vergessenen Ursprünge jeder Sprache und jedes begrifflichen Systems untersucht. Es ist zum Beispiel schwierig, eine genaue Verbindung zwischen der politischen Tätigkeit, die Cacciari heute als Bürgermeister von Venedig ausübt, und seinen philosophischen Interessen auszumachen, die sich überwiegend auf das Thema des Beginns jeder Denkform richten, auf den Mystizismus in der Sprache, auf die engen Beziehungen zwischen Philosophie und Theologie. In dem bedeutendsten Werk dieser Phase des Nachdenkens Cacciaris, eben Dell'inizio (Vom Beginn), 1990 veröffentlicht, in dem sich Dialog, Aphorismus und Traktat in einer gewählten stilistischen Konstruktion abwechseln, wird Nietzsche nicht vergessen, aber seine Probleme werden immer mehr in den Hintergrund gerückt, von Schelling bis zum Neoplatonismus oder bis zum Mystizismus Eckarts. Von dieser Hintergrundstellung können zweifellos viele Anreize für eine gründlichere Untersuchung einiger bedeutender Momente des Denkens Nietzsches ausgehen, aber
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das ist nicht Thema unserer Betrachtungen. Die Debatte um Nietzsche innerhalb des italienischen Neomarxismus scheint heute ins Stocken geraten zu sein und einer merkwürdigen Mischung aus Pragmatismus und Mystizismus Platz gemacht zu haben. Die tieferen Ursachen für diese Mischung dürfen nicht unterschätzt werden, aber sie stellt gleichzeitig ein unleugbares Anzeichen von Unbehagen und Schwierigkeit dar. Die Ursachen für diese Schwierigkeit zu rekonstruieren, würde eine ausführliche Analyse der bedeutendsten Umwandlungen erforderlich machen, die die italienische Linke in diesen letzten beiden Jahrzehnten erfahren hat. Allgemein führen diese Schwierigkeiten zu der heutigen gespenstischen' Situation des Marxismus, die Jacques Derrida mit besonderem Scharfsinn charakterisiert hat. Natürlich will niemand in Frage stellen, was auf dieses zu Ende gehende Jahrzehnt eingewirkt hat vom Zusammenbrach der Sowjetunion und des Sozialismus in den osteuropäischen Ländern bis zur deutschen Wiedervereinigung. Es stellt aus vielerlei Gründen eine Tatsache dar, die der italienische Marxismus auf seiner Suche nach einer anderen theoretischen Ordnung und durch seine Loslösung von jeglicher Form des Staatssozialismus oft vorweggenommen hatte. Und doch werden diese historischen Ereignisse ein bißchen wie es in Ein weites Feld von Günter Grass geschieht fast beschworen. Sie stellen den Mittelpunkt und die Voraussetzung für jede Erörterung dar, aber die Art und die Struktur dieser Erörterung scheinen besonders darauf zu zielen, sie zu entfernen, sie auf ihre mögliche Bedeutung zu reduzieren. Diese Bedeutung ist nicht nur eine politische Tatsache, sondern bietet Gelegenheit zu einem näheren Vergleich mit den intellektuellen, fast anthropologischen Kategorien, die eine lange und nunmehr der Vergangenheit angehörende Geschichte bestimmt haben. Die starke Resonanzwirkung, der sich die Linke als mutmaßliche Hauptantriebskraft des historischen Fortschritts einst erfreuen konnte, ist heute unleugbar verloren. Abgesehen von nebensächlichen politischen Erfolgen scheint gegenwärtig eine Akustik des leeren Raums und das plötzliche Befinden in der unbequemen Rolle, Rest der Vergangenheit und nicht mehr Vorwegnahme der Zukunft zu sein, die theoretische Ausarbeitung der gesamten Linken zu kennzeichnen, auch wenn man einige vielversprechende Ansätze zur Erneuerung nicht vergessen darf. Es gibt keine einfachen Rezepte, um sich aus dieser Lage zu befreien, und es ist bestimmt nicht Aufgabe der Nietzsche-Forschung, einfache Lösungen anzubieten. Wir können uns jedoch fragen, ob nicht einige Elemente, die aus der Analyse des NietzscheBildes des italienischen Neomarxismus hervorgegangen sind, durch eine streng historisch-philologische Deutung Nietzsches und seiner Rezeption wieder aufgenommen und entwickelt werden können. Diese Art der Deutung hat, wie wir wissen, ein außergewöhnliches Instrument geboten, um Nietzsches Denken von den tragischen Verkrastangen zu befreien, die die Geschichte unseres Jahrhunderts abgelagert hat, und um ihn in seinem ursprünglichsten und authentischsten Kern wiederzuentdecken. Heute befindet sich das Denken von Marx in einer ähnlichen Lage. Sie bietet aber eine nicht mehr wiederkehrende Gelegenheit, alte Vorurteile und abgenutzte ideologische Muster zu überwinden, die oft seine Deutung bestimmt haben. Weder die Philologie noch die Historiographie können das Problem Marx erschöpfen, aber sie stellen ein unersetzbares Instrument dar, um mit Aufmerksamkeit, Neugier und Geduld darüber nachzudenken. Eine gekreuzte historisch-philologische Deutung von Marx und Nietzsche macht es -
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Perspektiven jene entscheidende Konstellation der Moderne zu sich auf ihre Namen berufen hat wie auf zwei entgegengesetzte, aber die beleuchten, sich ergänzende Pole. In diesem Zusammenhang taucht wieder eines der Elemente auf, die das NietzscheBild des italienischen Neomarxismus gekennzeichnet haben, nämlich die Vorstellung, daß Marx und Nietzsche nicht zwei verschiedene und völlig entgegengesetzte Geschichten begründet haben, sondern daß sie Teil eines einzigen und untrennbaren historischen Ereignisses sind. Einige Untersuchungen zur Nietzsche-Rezeption haben uns zum Beispiel gezeigt, daß sich diese entgegengesetzten Pole oft gegenseitig befruchtet haben, und daß die intellektuellen Demarkationslinien zwischen rechts und links oft fließend ineinander übergehen und unvorhersehbar sind: Man denke an Victor Adler und an die frühe österreichische Sozialdemokratie, die zu ihren angesehensten Mitgliedern einige der ersten Schätzer von Nietzsches Denken zählte, man denke an Charles Andler, Lucien Herr, Romain Rolland und an das geistige Klima, das die Dreyfusaffäre begleitete, man denke dann an die Mischung aus Nietzsches Gedankenwelt und Machismus, die die frühe russische Sozialdemokratie besonders um das Jahr 1905 kennzeichnete. Es handelt sich natürlich um bruchteilhafte Entwicklungen, von denen man noch mehr aufzählen könnte. Die Bedeutung dieser kleinen, einzelnen Geschichten kann nicht willkürlich ausgeweitet werden. Sie regt jedoch dazu an, das empfindliche geistige Filigran unseres Jahrhunderts, aus dem oft historische Katastrophen unvorstellbarer Ausmaße hervorgegangen sind, aufmerksam neu zu überdenken. Ihre Umrisse werden deutlicher, wenn wir uns daran erinnern, daß eine Konstellation Nietzsche Marx jenen parallelen Selbstüberwindungsprozeß des Bürgertums entscheidend beeinflußte, in dem sich zum Beispiel Thomas Mann und Robert Musil, Harry Graf Kessler und der Aktivismus Kurt Hillers befanden. Aus diesen bruchteilhaften Entwicklungen taucht wieder ein altes, heute fast vergessenes Problem auf, das des Intellektuellen, seiner historischen Bildung und seiner Funktion in der modernen Gesellschaft. Vielleicht können wir heute genauer untersuchen, wie dieses Problem sogar Nietzsches Denken beeinflußt, von seiner erbitterten Auseinandersetzung mit den jungen Hegelianern, die oft Formen des Wiederaufgreifens und der Aufmerksamkeit gegenüber ihrem Erbe verbirgt, bis zur erlittenen Wahrnehmung eines unheilbaren Bruchs in der europäischen Geschichte, die seine letzten Überlegungen im Jahre 1888 begleitete. Unter diesem Aspekt, d. h. der möglichen Geschichte des Intellektuellen und seiner Funktionen, über die Konstellation Nietzsche Marx nachzudenken, verweist jedoch auf ein allgemeineres Problem: das der Säkularisierung. Abgesehen von ihren Ungewissen und widersinnigen Merkmalen verweist die Mischung aus Pragmatismus und Mystizismus selbst, die wie wir gesehen haben eines der möglichen Ergebnisse des Nietzsche-Bildes des italienischen Neomarxismus darstellt, als ihren letzten Horizont auf dieses Problem. Schon Karl Löwith hatte mit großer Deutlichkeit herausgestellt, daß die Vorstellung eines toten Gottes einen Meilenstein auf dem beschwerlichen Weg darstellt, der von Hegel über die jungen Hegelianer zu Nietzsche führt. Gegenüber der Säkularisierungsidee, als einfacher Projektion der alten begrifflichen Muster der traditionellen Metaphysik auf die Geschichte, war Heidegger wie bekannt immer sehr kritisch eingestellt. Über die Säkularisierung nachzudenken, so wie sie sich in den intelmöglich,
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lektaellen Projekten der Moderne und in der ebenso stürmischen wie leeren .Nationalisierung der Massen' unseres Jahrhunderts verwirklicht hat, bedeutet aber auch, sich mit einer für die historiographische Rekonstruktion entscheidenden Aufgabe auseinanderzusetzen. Die weite Resonanz ihrer Wirkung, der sich die Linke, wie schon angedeutet, lange Zeit erfreuen konnte, fand meiner Meinung nach ihre letzte Rechtfertigung gerade in der Säkularisierungsidee, einer Idee, die heute man kann es nicht leugnen immer fragwürdiger und Ungewisser erscheint. Auch in dieser Hinsicht hat uns die kritische Neuausgabe der Werke Nietzsches viel Material, über das man nachdenken kann und von dem nützliche Untersuchungen ausgehen können, zur Verfügung gestellt. Es sei mir erlaubt, ein kleines, fast nebensächliches Beispiel zu zitieren: Nietzsche las wie bekannt fast mit Verehrung die Memoiren einer Idealistin von Malwida von Meysenbug. Seine Art des Lesens war natürlich frei von jeder Politik, aber Tatsache ist, daß das Werk der Meysenbug nicht nur einer der Schlüsseltexte der Emanzipation der Frauen im 19. Jahrhundert ist, sondern bis heute eine der lebendigsten Beschreibungen der Londoner Emigration europäischer Revolutionäre der Bewegung von 1848 darstellt. Meysenbug befindet sich fast gegen ihren Willen in dieser Emigration, aber ihre persönliche Geschichte ist ein Beispiel für die Umwandlung einer ursprünglich religiösen Erneuerung, die sie vor 1848 erfahren hatte, in eine politische Emanzipation, die sie erfahren sollte, als sie das Exil mit Alexander Herzen, Giuseppe Mazzini und anderen Hauptfiguren der Bewegung von 1848 teilte. Wir können sicher nicht direkt von Meysenbug auf die Untersuchung eines entscheidenden Gedankens, wie dem des toten Gottes bei Nietzsche, übergehen; sie stellt nur einen Anhaltspunkt im verworrenen historischen Hintergrund dar, vor dem bestimmte entscheidende Ideen reiften und sich entwickelten. Viel wichtiger kann in dieser Hinsicht das Material sein, das die in den letzten Jahren begonnene kritische Ausgabe der Werke Overbecks bietet. Auch müssen wir die Ergebnisse der jüngsten historiographischen Errungenschaften zur möglichen Datierung der Evangelien oder zur Geschichte der ersten christlichen Gemeinden berücksichtigen, die für die Genealogie des Christentums und des religiösen Lebens nützlich sind, welche sowohl Marx als auch Nietzsche auf unterschiedliche Weise vornahmen, aber die uns gleichzeitig dazu anregen, mit großer Aufmerksamkeit und kritischer Strenge zu untersuchen, was von ihren Ideen heute fragwürdig und ungewiß erscheint. Beide Probleme, die des Intellektuellen und der Säkularisierung, bleiben heute offene Fragen, über die uns die Konstellation Marx Nietzsche als entscheidender Moment der Moderne noch heute nachzudenken anregt: Sie bieten ein weites Feld, auf dem eine gekreuzte historisch-philologische Deutung von Marx und Nietzsche meiner Meinung nach in Zukunft nutzbringend arbeiten kann. -
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V. Rezensionen
Burkhard Meyer-Sickendiek: Die Ästhetik der Epigonalität. Theorie und Praxis wiederholenden Schreibens im 19. Jahrhundert: Immermann Keller Stifter Nietzsche. A. Francke Verlag, Tübingen und Basel 2001, 352, -
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Vorschlag, formuliert in der Zweiten Unzeitgemässen Betrachtung, den „peinlich anmuthende[n] Gedanke[n], Epigonen zu sein" einmal groß zu denken in Wirkung und Begehren auf die Zukunft und die Lebensfähigkeit einer Kultur hin (KSA, HL 2, 307), ist für Burkhard Meyer-Sickendiek Ausgangspunkt, zentraler methodischer Stachel und gordischer Knoten, der zusammenengeschnürt bleiben soll, um das Thema der Epigonalität, respektive einer Ästhetik des Epigonalen nicht nur als historisches fur das 19. Jahrhundert, sondern in seiner Modernität und aktuellen Relevanz (Brisanz) vorzuführen und argumentativ auszuschreiben. So stehen, wie (fast) zu erwarten, große Namen der Postmoderne wie Michel Foucault, Jacques Derrida und Gilles Deleuze im Hintergrund, im Vorderfeld geben Julia Kristevas Intertextualität und Gerard Genettes Hypertextualität den methodischen Rahmen für die Kontextuierung der Hauptthese der Studie, Nietzsche „als Theoretiker einer Ästhetik der Epigonalität" (41) zu verstehen und seine kultur- und literarkritische Auseinandersetzung mit dem Epigonenzeitalter als einen folgenreichen Paradigmenwechsel ästhetischer Theorienbildung der und für die Moderne zu bestimmen, d. h. als spezifischen Beitrag zu einem Diskurs kultureller Erinnerung, in dem allein noch sinnvoll über Kunst und Geschichte nachzudenken ist (vgl. 326). Epigonalität ist dabei arbeitshypothetisch definiert als „Bewußtseinslage einer literarischen Generation, die damit einsetzt, sich in der Differenz zu ihrer Vorgeschichte zu begreifen und in der Differenz jene Vorgeschichte als ästhetisches Paradigma präsent zu halten" (11). Sie ist „ein Prinzip künstlerischen Tätigseins überhaupt" (41). So schafft sich der Autor die Grundlage zu entfalten, was er vorweg als Ergebnis seiner Studie formuliert: „Sie zeigt den Epigonen [von Immermann bis Nietzsche R. R.] in seiner Resignation vor dem Ballast des literarischen Erbes; sie zeigt ihn in seinem Bemühen um einen letzten Akt der Überbietung tradierter Vorlagen; und sie zeigt ihn ausführlich in seiner Flucht nach vorn, in der Affirmation der Epigonalität als einer ästhetischen Form" (ebd.). Vom bisherigen Forschungsstand Ausgeblendetes soll in den Diskurs respektive dieser aus seiner Selbstreferentialität auf das Feld einer umfänglicheren literar-ästhetischen Kontextuierung gebracht werden. Absicht und Resultat bleiben allerdings, so die Sicht der Rezensentin, different. Zu groß ist die Faszination gegenüber der Binnenperspektive textkritischer Analysen und der Eigengesetzlichkeit des Dikurses, zu übermächtig die Versuchung und/oder Wirkkraft postmoderner Bewußtseinslagen und Begrifflichkeiten, um nicht einem Differenzdenken zu erliegen, -
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gehend
Produktivität, vom
auch ambivalent, so doch ohne Zweifel ist. Vor allem ausBezugswort der Differenz gelingt es Müller-Sickendiek, die
wenn
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Der Begriff stammt nicht von Nietzsche, sondern ist von ihm den zeitgenössischen Diskursen entlehnt und als Aufweis der impotentia des Zeitalters gelesen, das in ihm kongenial sich selbst beschreibt: Nietzsche liest gegen den Strich und positiviert noch dessen pejorativen Gestus.
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Denkfigur der Epigonalität als grundlegend ästhetisches Phänomen der Moderne zu begründen, es in seinem Gründungsakt entlang der Identitätskrise(n) des 19. Jahrhunderts zu verfolgen bis zu seinem Kulminationsort in der Ästhetik Friedrich Nietzsches, wo das Denken der Differenz tatsächlich zur crux einer kritischen Optik auf die Möglichkeiten von Kunst insgesamt wird, um schließlich ihre virulente Aktualität zu behaupten, die auf dem sezierenden und splittenden Blick des Philosophen beruht, der das Problem der Epigonalität als Wertfrage ersten Ranges reflektiert und in der Kontrastierung von Richard Wagner und Johann Wolfgang Goethe nicht als Epochenfiguren, sondern als grundlegende Ästhetiken eines Umgangs mit künstlerischer Vergangenheit,
ihren Motiven und Formen, ihre innere Ambivalenz und Reflexivität auslotet. Ein SichEinlassen auf die Methode intertextuellen Problemverständnisses ist dabei notwendig, dies versteht sich für den Autor nicht nur von selbst, sondern gehört zu seinen vorauszusetzenden Prämissen. Daß dies den Horizont kulturkritischer Analyse einschränkt, würde er nicht unterschreiben, zeigt sich aber an der Engführung von Innerliterarischem und Kulturellem; deren wechselseitige Identifikation, so sinnvoll sie stellenweise ist, etwa in der vergleichenden Themenanalyse zeitgenössischer Romanliteratur, zeigt in der Annäherung an Nietzsches Position ihre Grenzen: Nietzsches Kulturkritik der Moderne, die seiner Ästhetik der Epigonalität inhärent ist, sprengt jede bloße intertextuelle
Bezüglichkeit.
Hält man diese Einschränkung bewußt, liest man die Studie nicht ohne Gewinn. Als literarhistorisch exemplarische Muster epigonalen Schreibens vor Nietzsche wählt Meyer-Sickendiek mit guten Gründen Immermanns Epigonen, Gottfried Kellers Grünen Heinrich und Adalbert Stifters Nachsommer. Bei allen drei Autoren ist der Bezug zum Vorbild deutscher Klassik (Goethe) dezidierter Bestandteil ihrer Werke; allen dreien ist das Problem der Epigonalität existentielles Moment ihres Schreibens; alle drei begreifen ihr Fortschreiben einer literarischen Gattung eingedenk der Unterschiedlichkeit von Epigonentum und Epigonalität als genuin ästhetisches Prinzip literarischer Produktivität. Der Grad des Leidensdrucks gegenüber solcherart Abhängigkeit und das Bewußtsein des eigenen kreativen Beschränktseins setzt sich jedoch auf spezifische Weise ins Künstlerische um. Der Mangel an einer der Zeit kongenialen Kunstform kennzeichnet „Immermanns Diagnose einer epigonalen, von der Stimmung des Interims gezeichneten Generation, Kellers tragische Geschichte eines verspäteten Romantikers, [...] Stifters Entwurf einer letztlich goethezeitlichen Humanität und Geselligkeit" (44). Die interne Spannung in der Entwicklung bis zu Stifter liegt, so der Autor, zusammengefaßt in der Zunahme an Reflexivität und in der Positivierung epigonalen Schreibens (vgl. 17). Allein Stifter macht das Bewußtsein epigonaler Wiederholung, bei der es um die Wiederherstellung, nicht um die Subvertierung der vom literarischen Vorbild geprägten Motive, Bilder, Metaphern geht, zum Prinzip, die Kompensation eines Mangels schlägt radikal um in seine Affirmation. Im Titel seines Romans bereits ist eine epigonale Phantasie eingelagert, die die Differenz und Affirmation zum goetheschen Vorbild in einem fest- und fortschreibt. Restaurativ (vgl. 174ff; 185ff.) wird diese Praxis genannt, sie geht in die Tiefendimension des Vorläufertextes: Nachsommer und Wanderjahre verhalten sich wie Hypertext und Text, d. h. ihr architextueller Zusammenhang soll in dieser Lesart transparent machen, wie sehr der Ursprungstext prä-
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und lesbar bleibt unter der, in der und durch die Form neuer Textkonstitution. Mit Inszenierung des Nach strukturiert Stifter eine Zeitlichkeit, die das Lebenstempo „Effekten gezielter Langsamkeit" (212) besetzt und auf deren Geschichtlichkeit bzw. die ihrer literarischen Gestaltung zielt. Zugleich erlaubt der Rekurs aufs Restaurative Unterscheidungen in den Umgangsformen mit dem Vorläufertext, die zwischen verschwenderischem und bewahrendem Erben angesiedelt sind (vgl. 185f). Stifters diesbezügliche Metaphorik gerät in eine aufschlußreiche Nähe zu der Nietzsches, oder anders: An ihr wird deutlich, daß es Sinn macht, einmal mehr darauf zu verweisen, Nietzsches Stifter-Lektüre gehöre zu den Fundamenten seiner ästhetischen Programmatik, zumal der einer Ästhetik der Epigonalität. Langsamkeit und Herbstlichkeit sind für den Autor Metaphern, die Stifter und Nietzsche verbinden, in eine Gemeinsamkeit von Denklagen setzen, an denen ihre Modernität, d. h. der hohe Abstraktions- und Reflexionsgrad ihrer ästhetischen Bilder und Theoreme deutlich werden. Textliche Beispiele sind unzählig belegbar. Ihre Vielzahl gibt Aufschluß über die Intensität eines Szenarios von Nach-Existenz, Nach-Schreiben und NachDenken, an dem sich die Logik einer Umwertung der Werte Schritt für Schritt in die Konnotationen der Bilder und Begriffe einlagert und sich aus diesen herauskristallisiert, um dem eine Alternative zu formulieren, was Nietzsche als angeborene Grauhaarigkeit (KSA, HL, 1, 305) bezeichnet und als Übermacht des Retrospektiven kritisiert. Es ist der Nietzsche der sogenannten mittleren Phase, der den Autor wesentlich interessiert. Vor allem mit Blick auf Menschliches, Allzumenschliches ist es das positiv besetzte Prinzip der Epigonalität3, das der Perspektivierung des Werkes theoretische und methodische Kontur gibt (41 f.). Im Kontext seiner Historismuskritik und in Auseinandersetzung und Verabschiedung frühklassischer Genie-Ästhetik sowie in der Konfrontation mit Wagner bildet Nietzsche seine ästhetischen Vorstellungen überraschend selbstverständlich, so nachvollziehbar der Autor, an Goethe und Stifter. Bei letzterem findet der Philosoph um ein Wort von ihm aufzugreifen Fingerzeige in Bild und Gedanken, Epigonalität als Kriterium der Moderne zu reklamieren ohne den pejorativen Beigeschmack unüberwindlicher Unproduktivität; der Dichter Goethe wird ihm der große Gegenpart zum Musiker Wagner und zum Paradigma einer anderen Moderne respektive zu einem anderen Paradigma einer gegenwärtigen und zukünftigen Kunst und anti-revolutionären Ästhetik (vgl. 326). Nietzsches Affinität zu Bildern des Herbstes und der Herbstlichkeit geht bis in die Gymnasialzeit zurück. Sie ist in dieser Anfangszeit schon hoch reflektiert.4 Zwar opesent
der mit
-
-
1
4
James Joyces Ulysses und Homers Odyssee werden als weitere prominente Beispiele angegeben. Dies in Differenz zum Nietzsche der Unzeitgemässen Betrachtungen, in denen der negativ besetzte Vorwurf des Epigonentums dominant bleibt und vorsichtige Umwertungsüberlegungen noch kein wirkliches theoretisches Gewicht erlangen (vgl. 41); die Euripides-Kritik der Geburt der Tragödie bildet eher eine Ausnahme. „[...] ich liebe den Herbst sehr, ob ich ihn gleich mehr durch meine Erinnerung und durch meine Gedichte kenne. Aber die Luft ist so kristallklar, und man sieht so scharf von Erde nach Himmel, die Welt liegt wie nackt vor den Augen [...] Nun gehen sie wieder ab, die Schwalben, die nach dem Süden zu die Segel richten, und wir singen wieder sentimental hinterdrein und schwenken die Seidel, und mancher wischt sich die Nase vor Rührung, denn der Postillon bläst: Schier dreißig Jahre bist du alt", (Brief an Franziska und Elisabeth Nietzsche, Pforta, 6. September 1863, KSB I 253).
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riert bereits auch Stifter mit Bildern der Herbstlichkeit (vgl. 208ff.), aber Nietzsche erst potenziert sie radikal und wirkungsästhetisch mit Identifikationen des Reifen, des reifenden Genießens, profiliert sein Verständnis von Herbstlichkeit an Goethe und schreibt ihnen ausdrücklich eine genuin ästhetik-theoretisch geprägte Inhaltlichkeit zu. Sie gilt als „Nietzsches Metapherfür die epigonale Phantasie" (295). Müller-Sickendiek orientiert zu Recht auf den Wandel Nietzschescher Herbst-Bilder; er spricht von einem geradezu transzendentalen Charakter der späten inhaltlichen Bestimmungen. October-Sonne ist die vielleicht aussagekräftigste Metapher; sie verdeutlicht das ins Geistige gehende Moment der Reflexion (vgl. 293). In dieser hermetischen Lesarten-Konzentration auf die Binnendynamik textlicher Korrespondenzen und innerästhetischer Strukturen, die nur aufs Gnoseologisch-Gestalterische abheben, lassen die Aussparungen von, die Binnenperspektive überschreitenden oder außerhalb stehenden Reflexionen Nietzsches wie seine Memorabilia anläßlich der Ereignisse der Pariser Kommune: „Herbst Schmerz Stoppel Pechnelken Astern. Ganz ähnlich beim angeblichen Brand des Louvre Cultur-Herbstgefühl. Nie ein tieferer Schmerz" (KSA, NF, 8. 504) den Schnitt bewußt werden, der sich reduktiv zwischen Text und Geschichte stellt und begeben sich der Chance (und Notwendigkeit), den geforderten historischen Sinn und die kulturgeschichtlichrealen dramatischen Implikationen ins Koordinatensystem der Bestimmbarkeit dessen -
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zu
ziehen, was für den Kulturkritiker sich als Herbstlichkeit definiert. liegt in der Logik des theoretischen Ansatzes, daß der Autor den Blick von der
Es
phantasiebesetzten Herbstlichkeit auf Nietzsches SW/-Bestimmungen richtet und der leitmotivisch wiederkehrenden Opposition Goethe Wagner seine Aufmerksamkeit zuwendet. Ihn interessiert an dieser Gegenüberstellung, bezüglich des Epigonalitätsthemas, die auf unterschiedliche Weise erfolgte Infiltration epigonaler Bewußtseinsund Gestaltungsstrukturen in die Werke und Texte und in die Disposition ihrer Ästhetiken. Dem reichen Stil nach Nietzsche gehören beide als Spätlinge an. Doch der Gegensatz könnte größer nicht sein, wiewohl Epigonalität beide kennzeichnet. Auf konträre Weise. Zwischen bewahrendem und verschwendendem Grundbezug liegt die Differenz, -
zwischen dem klassischen, anti-revolutionärem Stil Goethes und dem überbietenden Wagners, zwischen der Epigonalität und der décadence, zwischen Klassik und Barock, zwischen Herbstlichem und Barockem (vgl. 295ff.). Mit Emphase, so Müller-Sickendiek, habe Nietzsche an Goethe als dessen Grundimpetus, die Erleichterung des Lebens, das Milde und Therapeutische hervorgehoben und daraus, als widersprüchlich innovative Dimension eines solchen Schreibens, eine erinnernde Haltung gegenüber der Kunst und ihren historischen Formen abgeleitet. Dadurch ist es ihm möglich, den Paradigmenwechsel des 18. Jahrhunderts zur Genie-Ästhetik als größte Fehlentwicklung im Künstlerisch-Ästhetischen zu charakterisieren, der unwiederbringliche Verluste an Formbewußtsein zu verantworten habe und zugleich gegenwärtig-perspektivisch an Wagner eine Überbietungsstrategie zu attackieren, in der sich die Defizite künstlerischen Formwillens manifestieren. Was Nietzsche will, ist mehr als nur die polare Feststellung großer Kunst, mehr als ihre Verortung in der und für die Moderne. Ihm geht es vielmehr „um die Möglichkeiten einer genuin spätzeitlichen Kunstform selbst" (296). Er weiß um ihre interne Ambivalenz. Wenn es auch scheinen will, er habe Goethe eindeutig den Vorrang und Zuschlag gegeben und es um ,ßpigonalität versus décadence"
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so eindeutig ist die Sache indes nicht. Sein Verweis, jede klassische Kunst drohe auf ihrem Höhepunkt immer barock zu werden, und auch Goethes Kunst sei eine des Überströmens (wenn auch nicht der Überspannung, vgl. 303), kontrastiert ohne Frage zu Wagner, läßt aber ebenso Raum für Assoziationen des unterschwellig-auffällig Vergleichbaren und wechselseitig Anzuverwandelnden. Zur Bestimmung einer Kultur der Moderne reicht Goethe nur bis zur Utopie, Wagner dagegen tief in die Realität einer sich fort- und überschreibenden Moderne selbst. Das überschlagend Verschwendende Wagnerscher Kunst geriert sich in diesem Kontext nicht nur als dekadent, sondern über den internen Zusammenhang zur Geschwindigkeit, zum Schnellen, zur tempointensiven Eigengesetzlichkeit ihrer Produktion und Wirkung auch als genuin an die Moderne verfallen. In dieser Verfallenheit liegt ihre Modernität. Nietzsches, an Goethe anschließendes Plädoyer für die Langsamkeit und Langeweile5 verrät viel von seiner Kulturkritik, die ihn an der Moderne die Hast als Phänomen kultureller Krankheit erkennen läßt, die dem modernen Menschen die Rückbezüglichkeit auf sein Selbst nimmt und die vita contemplativa, die nötig ist, nicht nur der Kunst, sondern auch dem Leben Stil zu geben. Diese Ambivalenz in die Bestimmung der Epigonalität hineingenommen oder sie aus anderer Optik aus einer Nietzscheschen Ästhetik der Epigonalität herausgelesen zu haben, ist das Verdienst der insgesamt differenzierten und differenzierenden Darstellung Müller-Sickendieks und gibt Anlaß und nicht wenige Anregungen zu weiterer
(299) geht,
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Forschungsarbeit.
Renate Reschke
Hermann Josef Schmidt: Wider weitere Entnietzschung Nietzsches. Eine Streitschrift. Alibri Verlag Aschaffenburg 2000 Was hat
man Nietzsche nicht alles im Jahre 2000, anläßlich seines 100. Todestages, Die erst entstehende Nietzscheindustrie kann einen wirklich wütend darüber angetan. was da alles mit und gegen Nietzsche behauptet und vor allem verkauft wird. machen,
(Vgl. 177f.)
Hermann Josef Schmidt verschafft in seiner kleinen Streitschrift nicht nur seiner Wut über derartige Instrumentalisierungen Luft, sondern er versucht vor allem ein Resümee und einen Ausblick der nunmehr über einhundert)ährigen Forschungen zu Nietzsche. Insofern ist seine Streitschrift positiv als Programmschrift für weitere Forschungen zu Nietzsche zu verstehen, der man, wenn es um die Benennung von Leerstellen der Nietzsche-Forschung (wie z. B. der Erforschung des Verhältnisses von Nietzsche zu Paul „Vor diesem Hintergrund [...] ist die Langeweile nicht zuletzt ein Veto gegen Richard Wagner. Denn was gerade Wagners .Barockstil' kennzeichnet [...], ist das genaue Gegenteil jenes langsamen .Fortgangs von einer Stufe des Stils zur anderen', den Nietzsche zum Kriterium erhob" (306).
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Salomé und Marx Stirner) geht, nur zustimmen kann. (Vgl. 171f.) Zuder gleich gibt Autor dieser Rezension offen zu, daß er in zentralen methodischen Positionen anderer Ansicht als der Autor der hier besprochenen Schrift ist. Trotzdem ist er auch der Auffassung, daß man Schmidts Streitschrift inhaltlich ernst nehmen und nicht totschweigen sollte. Das schließt ein, diese als ein Experiment und nicht dogmatisch zu verstehen. Mit heute nicht mehr gebräuchlicher polemischer Offenheit wird da versucht, die Forschung voranzutreiben. Insofern handelt es sich hier um Vorschläge, die es gilt, kritisch zu prüfen und nicht um Dogmen, die verkündet werden. Selbst den „interpretativen Lasterkatalog" (105-174) der Nietzscheforschung muß man als Vorschlag verstehen und sogar als ergänzungsbedürftig betrachten. Letzteres gilt insbesondere in Bezug auf die systematische Vernachlässigung der sprachkritisch-pragmatischen, der bioethisch-anthropologischen und lebenskünstlerisch-therapeutischen Dimensionen von Nietzsches Leben und Werk, die für gegenwärtiges systematisches Philosophieren von zentraler Bedeutung sind. Auch wenn dem einen oder anderen die Offenheit dieses interpretativen Lasterkataloges schockieren wird und als dogmatisch erscheint, so muß man doch sagen, daß dieser „Lasterkatalog" in zweifacher Hinsicht normal ist: Erstens trifft er im Grunde auch auf beispielsweise die Mängel der Meister Eckhart-Forschung, der Hegel- und MarxForschung und erst Recht auf die Heidegger-, Bloch-, und Lukács-Forschung zu. Was da an Schindluder mit den Autoren und ihren Texten getrieben wird, muß einmal benannt werden und erweist sich als ein allgemeines Problem philosophischer Hermeneutik. Zweitens aber haben wir auch als Nietzscheinterpreten zumindest implizite immer schon solche Kataloge der Beurteilung im Kopf. Warum sollte man sie dann nicht wenigstens explizieren und sie dadurch einem selbstkritischen Umgang zugänglich machen?! So ist denn die Explizierung des Impliziten in Bezug auf unsere Auslegungsvorurteile, die wir immer je schon mitbringen, auch ein Ausdruck intellektueller Redlichkeit. Im Recht ist Schmidt mit seiner Polemik zweifellos dort, wo der radikale Umdenker Nietzsche normalisiert wird und vor allem rechristianisiert wird. Schmidts Kampf gegen die Rechristianisierung Nietzsches ist tatsächlich eine Hauptaufgabe zukünftiger Nietzsche-Forschung. Dabei sollte man allerdings berücksichtigen, daß das Christentum auch nach Nietzsche nicht ein Gegner ist, den es zu vernichten gilt, sondern ein Patient ist, dem man durch einen radikalen Schnitt helfen muß. Schmidts „Entnietzschung" ist die methodische und forschungsstrategische Zusammenfassung seines Hauptwerkes Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche und kann natürlich nicht ohne Kenntnis desselben verstanden werden. Trotzdem will ich mich im folgenden vor allem auf grundlegende methodisch-hermeneutische Probleme der hier zu besprechenden Schrift beschränken, die auch die Zukunft der Nietzsche-Forschung und des Umgangs mit verschiedenen Positionen in ihr betreffen, die m. E. nicht von Schmidt durch den Verweis auf sein Hauptwerk als nicht vorhanden oder gar als nichtig betrachtet werden können. Die Grundfrage dieser Streitschrift ist, was eine adäquate, seriöse, objektzentrierte Nietzscheinterpretation ist. (Vgl. 51-57) Damit wird erneut die alte Frage danach aufgenommen, was es bedeutet, einen Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstand.
Rée, Lou
6
von
Siehe: Volker Caysa, Kritik als existentielle Praktik,
Leipzig 2001.
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Schmidt geht allerdings bei der Antwort auf diese Frage davon aus, daß sie nicht einfach darin bestehen kann, daß wir den Autor immer schon je anders verstehen und sie deshalb als Problem erledigt sei. Nietzscheadäquatheit der Interpretation ist nach Schmidt dann erreicht, wenn wir Nietzsche „konsequent entwicklungsorientiert" interpretieren. (89) Ziel dieser entwicklungsorientierten Interpretation ist es, „absurde Dichotomien" wie „Biographie oder Genese versus Systematik" zu vermeiden. Deshalb ist es für Schmidt mit Kant klar, „daß Biographie oder Genese ohne systematische Perspektiven blind und Systeme ohne Integration biographischen Wissens und genetischer Perspektiven sowie Reflexionen leer oder auch beliebig bleiben." (65) Eigentlich müßte dies als hermeneutischer Gemeinplatz auch für die Nietzscheforschung betrachtet werden, doch das dem so sei, bezweifelt Schmidt. Er meint vielmehr, je mehr Texte zugänglich werden aus denen klar hervor geht, daß Nietzsches „Denken auf sein Leben antwortete und sein Leben durch frühe Erfahrungen bestimmt wurde", desto mehr verstärken sich die Tendenzen „genetischen Desinteresses einer systematisch' orientierten Interpretation". (90, 112f.) Ja, er geht sogar soweit zu behaupten, daß die Nietzscheinterpretation immer mehr eine solche ohne Nietzsche wird und man, analog dem historischen Jesus, dazu neigt, den historischen Nietzsche zur Verschlußsache zu erklären (182). Mindestens dem Mainstream der Nietzscheinterpretation wird hier tatsächlich vorgeworfen, daß sie „zu wenig ernsthaftes Interesse an Friedrich Nietzsche selbst" besitzt, wobei allerdings streng genommen der historische Nietzsche gemeint ist (110-111, 183). Folglich bezichtigt Schmidt nun nahezu die gesamte Nietzscheinterpretation des 20. Jahrhunderts des genetischen Desinteresses und deshalb fordert er eine Rückkehr zu den Quellen der Nietzscheinterpretationen, die er vor allem in dem „genialen Ansatz" von Lou Andreas-Salomé und deren Schrift Friedrich Nietzsche in seinen Werken sieht (Vgl.
113).
Wobei aber strenggenommen eben nicht nur die Traditionslinie Lou Andreas-Salomé mit ihrer religionsphilosophisch-psychologischen Sicht auf Nietzsche von Schmidt wieder positiv aufgenommen wird, sondern auch die von Elisabeth Förster-Nietzsche und deren Konzentration auf den frühen Nietzsche7 (59-87). Für Hermann Josef Schmidt besteht folglich die aufzuhebende Konstellation am Anfang der Nietzscheinterpretation darin, daß „Lou leistete, wozu Lisbeth niemals in der Lage gewesen wäre, theoretische, tiefen scharfe, interpretative Arbeit; aber Lisbeth erzählte, was Lou nicht wissen konnte, weil Nietzsche es ihr nicht zugänglich gemacht hatte, ihr auch seine frühen Texte nicht zur Lektüre anbot, vielleicht sogar vorenthielt, daß er in seinem zweiten Jahrzehnt lange schwankte, ob er Dichter oder Musiker werden sollte/wollte" (85). Den neuen, dritten Weg, den Schmidt hier im Anschluß an diese beide bedeutenden Nietzscheinterpretationen versucht, ist durchaus zu begrüßen und macht die eigentliche Stärke der Schmidtschen Konzeption aus (91-104). Basis einer entwicklungsorientierten Nietzscheinterpretation ist Schmidt die genetische Perspektivierung von Nietzsches Denkweg. Schlüsselfunktion im Schmidtschen genetischen Perspektivismus haben konsequenterweise Nietzsches Frühschriften, deren Auslegung selbst an entwicklungspsychologische und psychoanalytische Untersuchun-
Allerdings wünschte man sich das Verhältnis zu Cosima Wagner doch mindest angedeutet ist es auf Seite 76.
stärker
berücksichtigt.
Zu-
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anknüpft (Vgl. 179). Schmidt will dadurch einer Trennung von Historischem und Systematischem bzw. von Biographischem und Systematischem begegnen und eine solche Trennung ist ihm methodisch tatsächlich nicht vorzuwerfen (Vgl. 122). Die Stärke aber auch ein Hauptproblem der Schmidtschen Genetisierung von Nietzsches Denken scheint ihre inhaltliche Zentrierung auf die Kindheit Nietzsches zu sein (32-39), was methodisch aus dem psychoanalytischen Zentrismus der Schmidtschen Hermeneutik folgt. Die Folge ist nicht nur, daß das Verstehen des Denkens Nietzsches
gen
nicht nur auf seine Herkunft, sondern auf eine bestimmte Phase dieser Herkunft reduziert wird. Wenn man aber das Verhältnis von Denken und Existenz, von Denken und Herkunft in seiner ganzen Komplexität analysieren will, wie es Schmidt zu Recht fordert, dann darf dies Verhältnis nicht auf eine Lebensphase reduziert werden, auch wenn es zweifelsohne eine entscheidende Leerstelle der Forschung ist. Selbst wenn Nietzsche in späteren Lebensphasen Grundkonstellation früherer Lebensphasen wiederholt und erneut durcharbeitet, so wäre doch zu fragen, welche eigenständigen Funktionen diese neuen Lebensphasen in seiner Biographie haben. Gibt es spätere Themen, die noch nicht in der Kindheit vorhanden waren, und welche Funktion haben sie für die Bewältigung der Kindheitserfahrungen? Oder wie ist gar vor dem Hintergrund der Schmidtschen Interpretation die Forderung aus dem Zarathustra, wieder Kind zu werden, zu verstehen, wenn die Kindheit derart traumatisch analysiert wird? Lobt da einer wirklich nur seine Kette, von der er erfahren hat, daß sie immer mitläuft soweit er auch läuft? Außerdem: Wird durch diesen psychoanalytisch-genetischen Perspektivismus Nietzsches Denkgeschichte nicht zu einer Krankengeschichte, insofern sein Denken durch die traumatischen Kindheitserlebnisse pathologisiert wird, die aus der Christianisierung Nietzsches folgen? Zu fragen ist hier folglich, ob Schmidts Systematik nicht biographie- und psychoanalyselastig ist und unter Lebensphasenzentrismus leidet. In diesem Kontext stellt sich auch die Frage, ob der Anspruch von Schmidts genetischem Interpretationismus, sich gegen die „Separierung des Biographischen vom Systematischen" zu wenden und sich nicht auf „lediglich Biographica paraphrasiereden Nietzscheinterpretation reduzieren" zu lassen, wirklich eingelöst wird (Vgl. 27). Bemerkt werden muß allerdings positiv, daß Schmidt nicht annimmt, eine (oder gar seine) Nietzscheinterpretation könnte in einem absoluten Sinne „nietzscheadäquat" sein. Ihm geht es viel mehr um einen möglichst hohen Grad der Adäquatheit und dafür will er Basispersepekiven entwerfen (Vgl. 25-26). Nur bleibt die Frage doch, wie werden hier die Maßstäbe gesetzt. Oft erscheint es so, als führe Schmidt Kriterien ein, die aus seinem Nietzsche absconditus gewonnen wurden, an denen dann alle anderen Interpretationen gemessen werden. „Nietzscheadäquatheit" scheint dann nichts anderes zu sein, als die traditionelle Übereinstimmungsrelation in der Wahrheitstheorie (z. B. des Kritischen Rationalismus). Genau aber gegen diese Bestimmung von Wahrheit polemisierte Nietzsche immer wieder. Wird hier Nietzsches Interpretationismus quasi realistisch interpretiert? Es scheint so. Zwar ist so zu erklären, warum Schmidt so klare und eindeutige Kriterien der „Nietzschadäquatheit" hat. Er nährt sich aber dadurch ungewollt einem entscheidenden Element der Schleiermacherschen Hermeneutik, das Nietzsche (und auch Schmidt) aber gerade überwinden will. „Verstehen" wird nämlich im Kontext
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der Schmidtschen Nietzscheadäquatheit allzuoft als Vermeiden von Mißverständnissen aufgefaßt, um die unverfälschte, ursprüngliche Bedeutung von Texten freizulegen. Dahinter steckt aber eine objektivistische Illusion nämlich die Illusion eines interessefreien, völlig subjektunabhängigen, vorurteilsfreien und in diesem Sinne ursprünglichen Zugriffs auf die eindeutige Bedeutung des Textes. Die Hermeneutik des 20. Jahrhunderts hat aber gerade im Anschluß an Nietzsche gezeigt, daß dies selbst ein methodisches Selbstmißverständnis ist und wir niemals methoden-, interessen-, einbindungsund vor urteilsfrei sagen können, wie es wirklich gewesen ist, weil Verstehen immer relativ zu unseren Beobachtungsinstramenten ist und sich niemals ohne subjektives Zutun, das aus der existentiellen Verwurzelung der Interpretenperspektive resultiert, vollzieht. Und gerade dies Letztere muß doch nicht nur negativ gegen eine Interpretation gewendet werden. Auch Schmidts Nietzschinterpretation sieht doch Nietzsche nur deshalb analytisch schärfer als dieser sich selbst, weil Schmidt über viel subtilere explizite methodische Instrumente, als Nietzsche sie zur Verfügung standen, verfügt und weil er Nietzsche in einer anderen historischen Epoche notwendig von außen sehen muß, was Nietzsche natürlich nur beschränkt möglich war. Verbunden mit dem methodischen Objektivismus Schmidts ist aber, daß Schmidt nicht nur harte normative Maßstäbe der Nietzschadäquatheit in der Nietzscheinterpretation setzt, sondern daß er klar zu wissen scheint, wer Nietzsche war und warum er wurde, was er wurde bzw. wamm er nicht wurde, was er werden sollte oder wollte (vgl. 2022). Damit aber wird unterstellt, es gebe den natürlich-authentischen Nietzsche, es habe jenen „edlen Wilden" aus Röcken gegeben, den eine spießerlich-christliche Erziehung völlig verdarb und die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung, zum Selbstdrill und Kadavergehorsam verkommen ließ (Vgl. 40-49). Allein aus der Perspektive von Nietzsches Machtbegriff stellt sich hier die Frage, warum spricht Schmidt immer nur negativ von Selbstdressur und nicht auch positiv von Selbstbeherrschung? Ja richtig, Nietzsche kritisiert immer wieder jegliche Fremdherrschaft, aber faßt er Herrschaft als Selbstmächtigkeit des Individuums nicht auch positiv auf und müßte man dies nicht methodisch berücksichtigen? Oder hat Schmidt, entgegen Nietzsche, einen einseitigen negativen Machtbegriff? Hermann Josef Schmidt polemisiert immer wieder gegen die Beliebigkeit und Willkür innerhalb der Nietzscheinterpretation. Dabei stellt sich aber nicht nur die Frage der Setzung der Maßstäbe und der damit unterstellten Systematik und inwiefern diese selbst kritisch dargestellt werden (oder eben nicht), sondern in diesem Kontext stellt sich auch die Frage, wieviel systematische Toleranz enthält nun aber die „alternative, streng entwicklungsorientierte Nietzschesicht" Schmidts? (Vgl. 179) Da Schmidt nämlich mit so starken Normativen arbeitet, was natürlich angesichts der vor herrschenden methodischen Pluralität, die ja allzuoft zu einer Art Gleichgültigkeit gerät, auch wohltuend erscheint, stellt sich die Frage, ob sein genetischer Interpretationismus wirklich dialogisch verfaßt ist? Wenn aber Schmidts Interpretationismus wirklich dialogisch gemeint ist, was ihm hier ausdrücklich zugestanden wird, dann muß er davon ausgehen, daß nur durch einen niemals endenden Prozeß des dialogischen Austauschs zwischen Historischem und Logischem, Biographischem und Systematischem, zwischen Interpreten und den zu interpretierenden Texten, von Vergangenheit und Gegenwart, Werk und Wir-
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die Wahrheit in der Nietzscheinterpretation gefunden werden kann. Die aber ist bekanntlich keine festgeprägte Münze, kein allgemeines Äquivalent, das man nach Hause tragen kann und an dem sich alles messen läßt. Vielmehr kann Nietzschadäquatheit in der Nietzschinterpretation nur durch systematische Horizontverschmelzung der verschiedenen Interpretationen erreicht werden. Schmidt hat dazu einen möglichen unter vielen anderen möglichen Vorschlägen unterbreitet, der durch die Fülle des historischen Materials und den systematischen Anspruch beeindruckt. Schmidt fragt sich aber auch nicht, wieviel „Entnietzschung" Nietzsches notwendig ist, um Nietzsche gerecht zu werden. Ist die Entnietzschung wirklich nur negativ aufzufassen, ist sie nur eine Verfallserscheinung der Nietzscheforschung oder ist sie nicht einfach auch eine Konsequenz der globalen Wirkungen Nietzsches auf die Weltphilosophie? Ist sie nicht auch positiv ein Zeichen der Globalisierung des Nietzscheanismus, ohne das dieser in unserer Zeit einen imperialen Anspruch hat, wie ihn noch Elisabeth Förster-Nietzsche vertrat? Wer will, daß Nietzsches Denken wirklich zum Tragen kommt, der muß damit leben, daß er anders verstanden wird, als man ihn selbst versteht! Schmidts Aufklärungsideal, das mit seinem genetischen Interpretationismus verbunden ist, scheint dann zur Verdächtigungsstrategie zu geraten, wenn er das Verhältnis von Denken und Existenz auf das von augenblicklicher Interpretationstaktik und Karrierestrategie des Interpreten reduziert (vgl. 197-198). Uns alle sind Kollegen, die so vorgehen, aus der Vergangenheit und Gegenwart bekannt. Wenn der Interpretationshorizont durch die Karriereperspektive ersetzt wird, dann ist das schärfstens zu kritisieren. Aber Schmidt fragt nicht, was selbst bei dieser Art existentieller Verwurzelung der Interpretation auch positiv herauskommt. Er verdächtigt sie nur der interpretatorischen Unkorrektheit und fordert so implizit eine generelle Trennung von Denken und Existenz, von Interpretation und Interesse, obwohl er doch nur die von Interpretation und Karriere zu Recht einfordert, die man nur als illusionär bezeichnen kann, die aber ein so engagierter Aufklärer wie Schmidt ablehnen muß, meint er seine Ansprüche ernst. Und außerdem, wie viele der großen Nietzscheinterpreten waren politisch korrekte und außerdem noch „gute" Menschen? Wenige! Soll man deshalb ihre Interpretationen vergessen? Was sagt der Charakter eines Interpreten über seine Interpretation? Manches, aber nicht alles und vielleicht sogar nicht einmal das Entscheidende. Denn die Perspektive einer Interpretation ist eben nicht auf ihre Herkunft zu reduzieren, weil sie gegenüber der Herkunft ein eigenständiges Möglichkeitsfeld darstellt. Wie das Wirkliche nicht mit dem Möglichen, das Gewesene nicht mit dem Anwesenden, wie die Zukunft nicht mit der Herkunft identisch ist, so ist auch die Perspektive einer Interpretation nicht vollständig auf deren Genealogie beschränkt. Und gerade dieses Spannungsfeld der Nichtidentität von Genealogie und Perspektivismus des Denkens Nietzsches und seiner Interpretationen wird auch weiterhin die Nietzscheforschung bestimmen, die sich deshalb immer im Spannungsfeld von wachsender Nietzscheadäquatheit und wachsender Entnietzschung, von Nietzschenähe und Nietzscheferne bewegen wird.
kung
Volker
Caysa
Personenverzeichnis
Abel, G.66,252,253,271,281 Abrams, M. H. 75
Adelung, J. C.
356
Adler, A.234 Adler, V.388 Adorno, T.W.81,757,336
Aischylos.101, 103
Alexander d. Große.126
Anakreon.101 Anaximander. 358,359 Andler, C.388
Baur, E.23
Baumgarten, A. G. 165 Becke, A.364,367
Beethoven, L. van.100 Behler, E.165,303,304 Beierwaltes, W. 346 Benders, R. J.91 Benndorf, 0.100-101 Bennholdt-Thomsen, A. 298 Bentham, J. 16-21
Berghahn, K.L.
169
Andreas-Salomé, L. 86,7/5,117,720, 727, 127, 204, 214, 332-334, 398, 399
Bergson, H. 348 Bertaux, P. 706, 123
Apel, K.-0.61-62,65 Archilochos.94, 186, 211
Biedermann, W. Freiherr v.267 Bien, G.355 Bieri, P.58,59 Bishop, P.239,286 Black, M.309 Blei, F.382 Bloch, E. 398 Blumenberg, H.64,299,308,328
.
.
Arendt, H.
24, 72S
Aristophanes. 94, 102 Aristoteles 53,54,105,764,185, ....
270, 231, 270, 311, 315, 316320, 344, 348-351, 354, 355, 359, 361, 362
Arnim, L. A. v.116 Assman, J.344
August, C.267 Augustinus.76 Aurobindo.365
Baligand, M. v.117 Barck, K.76 Bast, R. A. 777 Bataille, G. 283 Baudelaire, C. 265,269-270
Bertram, E.
220
Blunck. R.132
Bohley, R.98 Böhme, H. 64 Bohrer, K.-H. 320 Boltzmann, L. 277 Borgia, C.285
Bornmann. F.303
Borsche, T. 277,303,306 Brandes, G. 106,101,244 Brenner, A. 329 Bretz, M. 760
Personenverzeichnis
404
Brusotti, M.216,348 Bülow, H. v.117 Burckhardt, J. 205 Bürger, G. A. 116 Byron, G. G.267 Cacciari, M.383-386
Dwars, J. F.
98
Ebbinghausen, R.247 Ebersbach, V.
779,727
Eco, U. 64 Eckhart, Meister. 386
Eichberg, R.707
Caesar, G. 1.126 Calderón, P.358 Camus, A.247-261
Eichendorff, J. v.116-117 Eliade, M.238 Elias, N. 168
Cancik, H.95,98,103 Carl August v. Sachsen-Weimar-Eisenach 116
Empedokles.122 Engelhardt, W. v. 52 Engels, F. 76 Epikur. 104
Carpitella,M.303 Cases, C. 382 Cassirer, E. 138-139,777
Castoriadis, C.349 Caysa, V. 48,398 Chamisso, A. v.
116
Chapromis, P. 757 Chessick, R. D.189 Chiarini, P.
222
Colli, G. 756,381 Constant, B. 20 Corssen, W. 93 Couard, CL. 137 Craemer-Ruegenberg, I. 576 Crusius, 0. 315 Dächsei, F.89 Davidson, D.58,309 Davidson. J.797
Deleuze, G.70,277,393 Demokrit.
v.
167,168-170, 172-175, 177-180, 188
Rotterdam
.
.
.
Erhardt, H. 371 Erikson, E. H. 140 101,102,103,231,395 Euripides Evans-Pritchard, E. E.239 ....
382
Cicero. 314 Cioran. 371 Clausius, R.78
Cooper, D. E.
Erasmus
121
Derrida, J.509,361,387,393 Descartes, R. 53, 270 Deussen, P.93, 111,273 Deutsch, H. 190,200-202 Dietzsch, S.53 Dietrich, W.202 Diogenes Laertios.105 Ditfurth, H. v. 364 Dostojewski, F. M. 114 Drerup, H.279
Feuerbach, L. 41,48 Fichte, J. G. 777 Figal, G. 253,255 Figl, J.86,104,152,153,159 Fink, E.168 Fischer, E. 23 Fischer, K. 165,270 Fleischer, M.235 Flitner, A.769
Flusser,V.32,39,41-43,45^16 Förster-Nietzsche, E.85, 93,109, 247, 325, 329, 330, 332, 334, 341,399
Foucault, M.20,65,393 Franz, A. 178 Frege, G.60 Freud, S. 200,338,372 Frey-Rohn, L. 236 Friedrich II. Friedrich August von Anhalt-Zerbst
116 116
Fries, T.303,304 .
Frings, H. S. 64 Frings, M. S.184
Fromm, E.160 Früchtl, J.575 Fuchs, C. 244
Dürer, A.266
Duric, M.348
Gadamer, H.-G.
313,323
Personenverzeichnis Gasser, R.193-194 Gast, P.109,233,244 Gehlen, A.61,62-63,505 Genelli, B.96 Genette, G. 393 Gerber, G.49,52,504,306 Gerhardt, V. 19, 24-25, 48, 65, 83, 86, 96, 164, 170, 209, 242243, 290, 297, 373 Gerlach, H.-M. 48 Gerratana, F.303,306 Gersdorff, C. v.117
Gigon, 0.318 Gillespie, M. A. 293
Glockner, H.350 Gobineau, J. A. Graf de. 122 Goch, K.85, 86, 98,108, 132, 133, 139,790 Goethe,! W. v.74,103,116, 178, 267, 270, 291, 372, 393-397 Gordon, H. 220,230
Gorgias.316 Granier, R. 266 Grätzel, S.283,284 Green, A.203 Gramsci, A. 382 Grass, G. 387
Grimm, J.356, 360 Grimm, W. 356,360 Groddeck, W. 797 Grundmann, T. 58 Grunert, F. 373
405
Heine, H.103,106,110,774, 116,119, 121,129 Heinsohn, G.352 Helmholtz, H. v. 277 Hempfer, K. W.55 Heraklit. 79,183,337 Herbart,J. F.174 Herder, J. G.769,170,178 Hermes, H.60 Herodot. 94, 108,554 Herold, J. A.134
Herr.L.388 Herzen, A.389
Hesiod.94,172 Heyse, K. W. L.80 Hillebrand, B. 164 Hillebrand, E. 233 Hiller, K. 382,388 Himmelmann, B.254,270,290 Hippokrates. 245 Hirsch, E.285 Hobbes, T.21 Hödl, H. G.
85,99
Hoffmann, D. M.275 Hoffmann, M. D.707 Hoffmann, V. 760 Hogh,A. 282 Hölderlin, F.100,102,103,106, 109,176, 188,329,338,560 Holz, H. H.52
Homer.94,103,172,211,595 Horaz.94, 172 Hörmann, W.
Haase, M.-L.275 Haase, W.567 Habermas, J. 75, 28, 61-64, 765, 221 .
.
.
Harnacher. W.303 Hamann, J. G.270
Härtung, G.355
Haubold, J. K.220 Hauptmann, G.727
Haverkamp, A.309 Hawel, P.367 Hederich, B.267
Hegel, G. W. F.19,20,47^18,65, 69, 71, 76, 79, 187, 350, 354, 376, 388, 398
10,29,61,765,182,265, 327, 348, 364, 375-377, 388, 398
Heidegger, M.
.
.
242
Hoyer,T.279,257
Hübscher, A.328
Hufnagel, E.766 Huizinga, J. 769 Humboldt, W.v.
310
Hume,D.54-56,59,507 Husserl, E.
168,
184
Immermann, K.394 Irmscher, H. D.769 Irrlitz, G.53 Isokrates.
316
Jahnn, H. H.231 Janz, C. P. 96, 132, 305 Jaspers, K.148,775,777,377
Personenverzeichnis
406 Jauslin, K. 69 Jean Paul. 178,331 Jenkins, K. 220,223 Jesus v. Nazareth 142-144,149,152 Joisten, K. 33, 121, 184 .
.
.
Joseph II. 116 Joy, B.32 Joyce, J. 395 Jung, CG. 197,234-239,242, 243, 286
Jung, J. H. (Jung-Stilling).
98
Kalb,C. 49 Kambartel, F.60 Kant, 1. 16,53-56,63,65,70,72, 75, 80-81, 105, 777, 165-166, 174, 182-183, 187,249,274 Katharina II. 116 Katsakoulis, G.356
Kaufmann, W.248,254 Kaulbach, F. 60 Keil, G.59,64 Keller, G.394 Kelsen. H.359 Kerényi, K. 200
Kessler, H. Graf.95,388 Kieser, F.243 Kissling, B.230,231 Kittler, F.268
Kjaer.J.705,796
Klass, T. 220 Klenner, H.47
Klibansky, R. 268 Kluge, F.282 Koecke, C.344,345 Köhler, J.112,124 Kohut, H.189 Kokemohr, R. 220 Konfuzius.136 Korsch, K.381
Köselitz, H.123,214,217,244, 266, 336
Knigge, A. Freiherr.
119
Kranich-Hofbauer, K.266 Kraus, K.382 Kristeva, J. 393 Kriton. 374 100, 109, 777, 772
Krug, G.
Kühne-Bertram, G.
277
Kurzweil, R.32,39 Lacan, J. 194 Lacoue-Labarthe, P.303 Lämmert, E.268 Lampert, L. 222,224,229
Langbehn, J.181 Lange, F. A. 52,278
Latacz, J. 707 Lehmann, E.239 Leiber, T.277 Leibniz, G. W.52, 53, 176
Leisegang, H.
727
Lenz, F.23
Lessing, G. E. Lippitt, J.
178 760
Lischka, G. J.39 Liszt, F.112 Locke, J. 52,54-55,59 Love, F. R. 214 Löw, R.230 Löwith, K.769,388
Ludwig II.117 Ludwig XVI.116 Luhmann,N.179,350,352,354 Lukács, G.779,381-382,398 Lukian. 100 Luther, M.177
Lütkehaus, L. 375 Lyotard, J.-F. 166, 167 Mach, E. 383 Man, P. de.303 Mann, T. 291,388 Marc Aurel.
725
MarkLH. 27 Marquard, 0. 70-71 Martin, G.766 Martineau, H. 114
Marx,K.
.
76,343-344,348,350-351, 353, 354, 367, 381-382, 384, 387-389, 398 .
.
Masini, F.383
Mauersberger, A.725
Maurer, R. K. 343 Mauss, M.283 Mauthe, J.-H. 367 Mayer, J. R.277 Mazzini, G. 389
407
Personenverzeichnis
Meijers, A.304, 309 Melde, M.219-220 Mette, A. 197-199 Mette, H. J. 328 Meyer, G.110 Meyer, T.248,258,277
Meyer-Sickendiek, B. 393-397 Meysenbug, M. v.117,329,389
Michel, K. M. 187 Michelet, J. 168 Mieth,G. 776 Mill, J. S. 54 Miller, A.109 Minsky, M.32,39-41,43,45-46 Mohammed.
152 757
Moldenhauer, E. Mommsen, K. 267 170,178-179 Montaigne, M. E. de Montinari, M. 9,757,381 Moravec, H.32,39 Morgan, M. L.272 Most, G. 303,304 Motte Fouqué, F. de la.116 Muchanoff, M. v.117 Müller, R. G.99,100,102 Müller, W. 356 Müller-Lauter, W.9-10,343,347 Musil, R.388 ....
Nancy, J.-L.303 Napoleon Bonaparte.133 Nicolin, F.47
Niemeyer, C.279
Nietzsche, A.86 Nietzsche, C. L.85,89,90,97, 98, 102, 108, 132, 137-140, 146 Nietzsche, E. D.97,134,137 Nietzsche, F.85,88,90,97,98, 108,140, 325, 341 Nietzsche, F. A. L. 132-136,143,146 Nietzsche, G. E. 134 Nietzsche, J. 85 Nietzsche, J. F.134 Nietzsche, M.86 Nietzsche, R.97 NUI, P. 257,244,245 .
.
Nonnos.
94
Novalis.116, 119, 127, 170, 176, 187, 188
Oelkers,J.279 Oettermann, S. 97 Orsucci, A. 283 Ortega y Gasset, J. 107,775 Ortlepp, H. 100,102,104,110, 150-151
Ottmann, H. 99, 191, 244, 278 Otto, D.320 Otto, W. F. 94,95
Overbeck, F. 103,104,247,270, 341,389 Ovid.76,94,100,103,725,757
Panofski, E.268 Parsons, T. 181 Paulus. 143,322 Paulus, J.274 Pausanias.108
Pestalozzi, K. 292 Pfotenhauer, H.282 Pieper, A.249,250,251,252,253, 255, 256, 257, 258,260, 264, 340 Pindar.94 Pinder, W. 93,700,109,110 Pippin, R. B.293
Platon.47, 75, 76, 94, 103, 105, 227, 222, 234-235, 243, 265, 270,311,360 Platt, M.
Piéger,
W. H.
286 767
Plessner, H.61,62-64
Pöggeler, 0. 47 Pogrell, L. v.219 Pohlheim, K.K.
770
Pynchon, T.78
Pythagoras.
337
Quine, W. V. 0.52 Rabelais. F. 177-178 Rau, L.111
Rauh, M.299 Recktenwald, H. C. 350 Redtel, A.102 Rée, P. 775,329,330,334,397-398 Reibnitz, B. v.96 Reich, H.97 Reichstein, T. 239,240-242 Reiner, H.567 .
.
.
Personenverzeichnis
408
Reiser, R.104 Reitzenstein, R.241 Reschke, R.48,96
Rethy.R.272 Ricoeur, P. 309 Riedel, M.275 Ries,W. 19,90,164,188,217 Ritschi, S.110 Ritzel, W.769 Rödl, S.22 Rohde, E.105,111,115, 117,212,214 Rolland, R. 388
Rolph, W. H.282 Rorty, R.55 Rosa, A. A. 382 Rosenthal, B.247 Ross,W. 150,245 Rousseau, J.J. 116,118,223,274 Roux, C. 281
Schmölders, C.525 Schnädelbach, H. 63 Schopenhauer, A. 76,72,80,102,103, 105, 112, 164, 182, 184, 185, 187, 270, 245, 269, 272, 274275, 310-311, 313, 328, 335336, 557, 358 Schrader.W.346 Schule, C.797,194 Schwab, A. 266 .
.
Sedgwick, P. R. Seggern, H.-G. v.
220 52 Sellars, W.60 Seume, J. G.116 Seydlitz, R. Freiherr v.117
Shakespeare, W.77,126 Simmel, G. 764 Simon, J.66,277,290
Singer, P.23-24
Sladeczek, H. 355 15,123,364,367-380 Sloterdijk, P. Smith, A.344,348,350-351 Sohn-Rethel, A. 356 Sokrates. 103,779, 128,135, 136,222-223,372-374 .
Sachsen-Altenburg, A. v.117 Safranski, R.250,258 Salaquarda, J.56,209,233-234, 235,243,265,277,275,275,256 Salis-Marschlins, M. v.117,726 Sallust.93 Sandig, B.247 Saxl, F.265 Schacht, R. 220,221
Schärf, C.253,258 Scheler, M. 61,62-64,766,183-184 777,183,557,386 Schelling, F. W. J. Schenk, Emil. 97 Schenk, Emma.88,59 Schiller, F. v.29, 103, 769 Schings, H.-J. 270,271,274 Schlechte, K.86,109,143,159 Schlegel, F. 170,331 Schleiermacher, F. D. E. 167,400 Schleinitz, M. Gräfin v. 117 Schlette, H. R.241,248,257,258 .
.
.
.
.
Schmidt, H.52 Schmidt, H. J. 86,89,91,92,93,96, 98, 99, 106, 770, 772, 142, 150, 168,177,180,334,391-402 Schmidt, J. 700 Schmidt, R.53 Schmidt-Losch, U.55, 59, 92, 190 .
.
.
.
.
Solger, K.W. F.80 Sophokles.101, 103, 777 Spaemann, R.22 Speck, J.96 Spiegel, S.97 Spinoza, B. de.270,272-276 Starobinski, J.
263,265 48,66, 244, 248, 279, 294, 297, 348, 354, 355
Stegmaier, W.
Stegmüller, W.237 Stein, H. v.
117 114 Sternheim, C. 382 Stierle, K. H. 76
Stendhal
(Beyle, M. H.).
Stifter, A.394-396 Stirner, M.398 Strasser, P.77 Strauß, D. F.142-143
Streitfeld, E.266 Strindberg, A. 726, 149 Stingelin, M.309 Strong, T. B.293 Stüber, K.
55
Personenverzeichnis
409
Tarski, A. 58 Tebartz-van Eist, A.309 Teichmüller, G.105 Thomson, W.78 Tietz, U. 48,49,55,57,60,66 Trunz, E.74
Urpeth,J.760
Vaihinger, H.72, 765
Vattimo, G. 764,777,265,383 Venturelli, A. 303,306 Vernant, J.-P.
WiehLR.277 Wieschalla,C. 320
702, 111 Wilamowitz-Moellendorff, U. v. Willers, U. 330 Winnicott, D. 204 Winterstein, A.197-198 .
Wittgenstein, L.57
Wohlfahrt, G. 755 Wolff, C. 777,556 Wörner,M. H.576
355
Verrecchia, A. 749,150 Veye, P. 362 Vico, G. 575 Villwock, P.292,297 Vischer, F. T. 77-78,267 Vischer-Bilfinger, W. 105,111 Vivarelli,V.360
Vogel, M.
Wendt, H.104 Wenzel, H. 757
96
Vollhardt, F.373 Volz, P. D.55,726,148,150
Xenophon.103 Yovel, Y.270 Ziehen, T.757 Zimmermann, J. G. 271, 272 Zittel, C.264,266,278,291, 294, 295, 320
Zweig, S.
775
Wagner, C. 399 Wagner, R.96,100,102,115,127, 184,394,396-397 Weischedel, W.53
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-
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