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German Pages [369] Year 2009
Nietzscheforschung Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft Band 8
Nietzscheforschung Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft Herausgegeben
von Volker Gerhardt und Renate Reschke
in Zusammenarbeit mit
Jörgen Kjaer Jacques Le Rider Annemarie Pieper Robert B. Pippin und Vivetta Vivarelli
Akademie Verlag
Band 8
Die Drucklegung erfolgte mit Unterstützung der Landesregierung Sachsen-Anhalt (Regierungspräsidium
Halle) Abbildung auf der Titelseite: R. Saudek: Friedrich Nietzsche; Abbildung auf dem Cover des Buchs von Friedrich Mess: Nietzsche der Gesetzgeber, Verlag Felix Meiner, Leipzig 1930 Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags Felix Meiner Redaktion: Silke Erler/Veit Friemert
CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich Die Deutsche Bibliothek
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ISBN 3-05-003621-4
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2001 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der R. Das
Oldenbourg-Gruppe.
eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.
Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. -
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Satz: Veit
Druck und
Friemert, Berlin
Bindung:
Printed in the Federal
Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad
Republic of Germany
Langensalza
Inhalt
Siglenverzeichnis.
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I. Der Nietzsche-Preis Annemarie Pieper (Basel) Laudatio auf Rüdiger Safranski.13
Rüdiger Safranski (Berlin) Nietzsches Zweikammersystem der Kultur.
II.
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Vorträge
„Ich habe das Griechenthum entdeckt..." Nietzsche seine Antike und ihre Wirkung Internationale Tagung der Nietzsche-Gesellschaft, -
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Naumburg (13.-14.10.2000) Wohlfart (Wuppertal) Artisten-Metaphysik Günter
Der antike Boden
von
Nietzsches
Philosophie.33
Volker Ebersbach (Leipzig) Nietzsche im Garten Epikurs.43
Volker Riedel (Jena) Nietzsche und das Bild einer
,dionysischen Antike' in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts.63
6
Inhalt
III. Forum als Kind Gott im Glänze gesehen"? Der frühe Nietzsche (1844-1864) in seinem Verhältnis zu Antike und Christentum 6. Internationales Dortmunder Nietzsche-Kolloquium, Dortmund (7.-9. Juli 1999) „...
-
Hermann JosefSchmidt (Dortmund)
Einführung.
91
Hermann JosefSchmidt (Dortmund) Von „Als Kind Gott im Glänze gesehn" zum „Christenhaß"? Nietzsches früh(st)e weltanschauliche Entwicklung (1844-1864), eine Skizze
95
Eva Marsal (Karlsruhe) Der Sansculotte Jesus Christ Die Christologie des Pfortaschülers Friedrich Nietzsche als eigenständige Rezeption des zeitgenössischen theologischen
Spektrums
.
....
Jörgen Kjaer (Ârhus) Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Christentum in seiner Naumburger und Portenser Zeit.
.
119
137
Volker Ebersbach (Leipzig) Nietzsche ein Grieche unter Römern Vorchristliche Fundamente in Nietzsche Kritik am Christentum.157 -
Kurt Jauslin (Altdorf) Was der Löwe nicht vermochte: etwas für Kinder und Kindsköpfe Über Fritz Nietzsches Naumburger Festungsbuch.189
Rüdiger Ziemann (Langenroda)
Ewiges Ziel und falsche Begriffe Zu Friedrich Nietzsches Prometheus-Drama.205 Renate G. Müller (Dortmund) Erkenntnis und Erlösung Über Nietzsches Umgang mit vorchristlich-griechischem Gedankengut vor dem Hintergrund seiner christlichen Herkunft.219
1
Inhalt
IV. Aufsätze Jörn Pestlin (Berlin) Nietzsche im Völkischen Beobachter Eine Bestandsaufnahme.
235
Heinz Schneppen (Glienicke) Nietzsche und Paraguay: der Philosoph als Bauer?.
249
Hedwig Völkerling (Weimar) Im Schatten von Georg Brandes
Der Däne Konrad Simonsen in seinem Briefwechsel mit Elisabeth Förster-Nietzsche.267
Jochen
Hengst (Hannover) Endspiel eines „Schreibthier"-Lebens Metamorphose, Apotheose und Parodie in Nietzsches
letztem Brief an Jacob Burckhardt.
275
Steffen Dietzsch (Berlin)
Nietzsche und Ariadne.291 Hans-Martin Gerlach (Leipzig, Mainz) Wege der Nietzsche-Kritik Jaspers, Bloch, Lukács.
307
Volker Gerhardt (Berlin) Nietzsches Alter-Ego Über die Wiederkehr des Sokrates.
315
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Carlo Gentili (Bologna) Die radikale Hermeneutik Friedrich Nietzsches.333
V. Berichte und Informationen Hans-Joachim Koch (Gladenbach) Herbst-Kolloquium 2000 der Stiftung Nietzsche-Haus in Sils-Maria
Schwerpunktthema: „Also sprach Zarathustra".339 Uschi Nussbaumer-Benz (Uster) „Nietzsche: Society, Culture and Education"
Bericht über die 10. Konferenz der englischen Friedrich Nietzsche Society, Durham, 8.-10. September 2000.349
VI.
Ausstellung
Stephan Günzel (Berlin) Einführung in die Ausstellung „Ecce homo" von Darrin Morgan zur Eröffnung am 25. August 2000 im Nietzsche-Haus in Naumburg.
361
VII. Rezensionen Christian Lipperheide, Die Ästhetik des Erhabenen bei Friedrich Nietzsche (Lukas Labhart).
369
Günter Gödde, Traditionslinien des „Unbewußten" Schopenhauer Nietzsche Freud (Renate Müller-Buck).
371
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Nietzsche in Frankreich
Rückblick auf das Jahr 2000 -
(Jacques Le Rider)
.
.
.
Personenverzeichnis. Autorenverzeichnis.
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379 389
i
Siglenverzeichnis
Werkausgaben Werkausgaben nach den Kritischen Werk-/ Briefausgaben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1967ff. und 1980. KGW KGB KSA KSB
Kritische Kritische Kritische Kritische
Gesamtausgabe, Werke Gesamtausgabe, Briefe Studienausgabe, Werke Studienausgabe, Briefe
sowie nach der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe Werke bzw. Briefe, München 1933ff. HKGW HKGB
Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Werke Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Briefe
Siglen einzelner Werke AC BA CV DD DS
DW
Der Antichrist Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern
Dionysos-Dithyramben
David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller
(Unzeitgemäße Betrachtungen 1 ) Die dionysische Weltanschauung
Siglenverze ichnis
10 EH FW GD GG GM GMD GT HL IM JGB M MA NF NW PHG SE SGT ST VM WA WB
WL WS ZA WzM
Ecce homo Die Fröhliche Wissenschaft
Götzen-Dämmerung Die Geburt des tragischen Gedankens Zur Genealogie der Moral Das griechische Musikdrama Die Geburt der Tragödie
Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben
(Unzeitgemäße Betrachtungen 2) Idyllen aus Messina
Jenseits von Gut und Böse
Morgenröthe
Menschliches, Allzumenschliches (I und II)
Nachgelassene Fragmente contra Wagner Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen Schopenhauer als Erzieher (Unzeitgemäße Betrachtungen 3) Sokrates und die griechische Tragödie Sokrates und die Tragödie Vermischte Meinungen und Sprüche Der Fall Wagner Richard Wagner in Bayreuth (Unzeitgemäße Betrachtungen 4) Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne
Nietzsche
Der Wanderer und sein Schatten Also sprach Zarathustra Wille zur Macht
I. Der Nietzsche-Preis Verleihung des Friedrich-Nietzsche-Preises des Landes Sachsen-Anhalt am 24. August 2000
Annemarie Pieper
Laudatio auf Rüdiger Safranski anläßlich der Verleihung des Friedrich-Nietzsche-Preises des Landes Sachsen-Anhalt am 24. August 2000
Das Land Sachsen-Anhalt ehrt in diesem Jahr, das zugleich das 100. Todesjahr Friedrich Nietzsches ist, den philosophischen Schriftsteller und Essayisten Dr. Rüdiger Safranski, der für seine intellektuellen Biographien über E. T. A. Hoffmann, Arthur Schopenhauer und Martin Heidegger sowie für seine philosophischen Großessays über die Wahrheit und das Böse mit dem Friedrich-Nietzsche-Preis ausgezeichnet wird. 1. Rüdiger Safranski ist ein philosophischer Geschichtenerzähler. Und das ist wahrlich eine Kunst jenseits von reiner Berichterstattung und diesseits von abgehobener Reflexivität. Indem er Historisches und Systematisches narrativ miteinander verbindet, hat er eine Form des Philosophierens auf den Weg gebracht, in welcher das Historische mehr ist als ein bloßes Ensemble von Daten und Fakten über Personen, Werke, Epochen. Das historische Material wird von ihm nicht in chronologischer Abfolge schlicht aneinandergereiht, sondern einbezogen in eine geistesgeschichtliche Konstruktion, die sich ihrerseits aus bestimmten Ideen, Weltanschauungen, Gefühlslagen speist. Deren Abstraktheit wiederum löst sich dadurch auf, daß sie nicht bezüglich ihrer normativen Orientierungskraft problematisiert, sondern aus ihrem Status isolierter Normativität befreit werden, indem gezeigt wird, wie sie als strukturbildende Elemente einer Geschichte wirksam geworden sind. Dieses narrative Philosophieren, mittels dessen eine normative Aufladung des Historischen bei gleichzeitiger Vergeschichtlichung des Systematischen gelingt, liegt sowohl den vom Preisträger verfaßten Biographien als auch seinen Essays zugrunde. Seine Biographien über E. T. A. Hoffmann, Arthur Schopenhauer und Martin Heidegger sind nicht einfach nur Lebensbeschreibungen, die unter Zugrundelegung des Zeitablaufs mehr oder weniger psychologisierend über Ereignisse berichten, denen im Leben eines Individuums besondere Bedeutung zugesprochen wird, vielmehr handelt es sich um intellektuelle Biographien, in welchen die persönliche Entwicklung eines Menschen im Kontext der Zeit- und Geistesgeschichte dramatisch inszeniert wird. Auf diese Weise vernetzt sich der isolierte Vorgang individueller Ichwerdung mit dem Prozeß der kollektiven Identitätsbildung, erscheint das Schicksal eines Einzelnen auf der Weltbühne
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Annemarie
Pieper
als ein Geschehen, das repräsentativ für ein epochales Selbstverständnis ist und doch zugleich eine irreduzible individuelle Freiheitsgeschichte. Auch in seinen Großessays verfahrt Safranski narrativ, indem er philosophische Konzepte wie Wahrheit und Freiheit nicht einer begriffsimmanenten Systematisierung unterzieht, sondern ihre wesentlichen Aspekte im Durchgang durch vertretene und gelebte Positionen herausarbeitet, die ihrerseits wiederum nicht isoliert betrachtet werden, sondern in ihrer Vernetztheit mit ideengeschichtlichen und sozialpolitischen Zusammenhängen. Innerer und äußerer Horizont verschmelzen auf diese Weise im Auge des Biographen respektive Essayisten, der keinen auktorialen Standpunkt außerhalb der von ihm erzählten Geschichte einnimmt, da auch er sich als in diese Geschichte verwoben begreift, deren Fäden er bis in unsere heutige Zeit ausspinnt. möchte ich Safranskis narrative Kunst, die eine hermeneutische Texte aufschlüsselnde, Sachverhalte enthüllende, Lebensformen entwickelnde Kraft entfaltet, noch etwas eingehender erläutern, indem ich zunächst auf seine Biographien, dann auf die Essays eingehe, und abschließend einen Bogen zu Nietzsche schlage. Meinem Eindruck nach ist es das Verhältnis von Innenwelt und Außenwelt, das Safranski als philosophischen Schriftsteller zutiefst fasziniert und ihn zwischen Anthropologie und Metaphysik hin und her pendeln läßt. Was seine Biographien zu einer ebenso informativen wie genußvollen Lektüre macht, liegt darin, daß er das Leben des Autors und sein Werk aus diesen immanenten und transzendenten Bedingungen heraus zum Vorschein bringt. Wie dies zu verstehen ist, macht eine chinesische Fabel, die Safranski in seinem Essay über die Wahrheit wiedergibt, sehr schön anschaulich (vgl. 11 f.). Ein alt gewordener Maler verschwindet vor den Augen seiner versammelten Freunde in dem Bild, an dem er in den letzten Jahren seines Lebens gearbeitet hat. Während alle das Bild betrachten, sehen sie den Künstler plötzlich auf dem gemalten Weg entlang gehen, der über eine Anhöhe auf ein Haus zuführt, hinter dessen Tür der Maler sich den Blicken entzieht, nachdem er sich noch einmal umgedreht und den Freunden zugewinkt hat. Diese Fabel scheint mir aufschlußreich für die narrative Kunst Safranskis. In seinen Biographien geht es ihm nämlich darum, folgende Aspekte so aufeinander zu beziehen, daß sie sich wechselseitig erhellen und korrigieren. Zum ersten dokumentiert er den Lebensweg des von ihm dargestellten Autors, indem er aus den vorhandenen Quellen unzählige Details herausliest, die er zu einem Mosaik zusammensetzt. Dieses Mosaik zeigt zum Beispiel, wie sich die Persönlichkeit des skeptischen Phantasten E. T. A. Hoffmann um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert herausschält in einer geistigen Atmosphäre, die sowohl durch ein romantisches Lebensgefühl als auch durch ein spekulatives Weltbild geprägt ist. Entsprechend nötigt der Widerstreit zwischen Kunst und Leben zu einer skeptischen Einstellung gegenüber den alltäglichen und den realpolitischen Verhältnissen, deren gespenstische Abgründe Hoffmann aufdeckt. Den 12 Jahre jüngeren Schopenhauer situiert Safranski in die wilden Jahre der Philosophie des deutschen Idealismus, und auch Schopenhauer wird zum Skeptiker, der allen durch den Weltgeist geschürten heilsgeschichtlichen Erwartungen das Ideal einer ästhetischen vita contemplativa entgegensetzt. Martin Heidegger schließlich, ein „Meister aus Deutsch2. Im
folgenden
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Laudatio aufRüdiger Safranski
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land", wird von Safranski in die Tradition Meister Eckharts gestellt und zugleich im Zusammenhang mit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts als ein Philosoph eingefangen, dessen Werk zum europäischen Ereignis wurde. Wie dies den politischen Verstrikkungen zum Trotz geschehen konnte, erzählt der Biograph in einer unaufgeregt anteilnehmenden und sachlich distanzierten Manier, die der Person und ihrer Leistung mehr gerecht wird als blinde Beweihräucherung oder ein Gestus der Überlegenheit, der meint, jede kleinste Äußerung auf ideologische oder psychologische Erklärungsmuster
zurückführen zu können. In die mosaikartige Komposition des jeweiligen Lebensweges eingelassen ist zum zweiten der Aspekt des Werkes. Wie in der chinesischen Fabel das Bild des Malers Auskunft über dessen Sicht der Realität gibt, so interessiert sich Safranski für das Weltbild seiner Autoren, das er zunächst von außen kommentiert, um dann sogleich als dritten Aspekt die Binnenperspektive des Autors mit ins Spiel zu bringen. Dies ist die reizvollste, aber auch schwierigste Aufgabe, denn über die Welt des Künstlers respektive Autors, der in seinem Werk verschwunden ist, lassen sich nur Vermutungen anstellen, in die die Sicht des Biographen sowie anderer Kommentatoren mit einfließt. Safranski versucht gar nicht erst den Eindruck zu erwecken, daß die Welt, in die sich der in sein Werk untergetauchte Autor zurückgezogen hat, adäquat rekonstruierbar ist. Im Grunde könnte man diesem intimen Kern individuell gelebter Existenz auch gar nichts abgewinnen, außer man bezieht ihn wieder in das kollektive Netz zwischenmenschlicher Verhältnisse ein, aus denen das Individuum letztlich nicht aussteigen kann, ohne sich selbst zu verlieren. Und doch zielt eine Biographie letztlich auf das Geheimnis individuellen Selbstseins ab: Wir wollen nicht nur wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält, sondern auch und vor allem, was die Identität einer bestimmten Person ausmacht. Anstatt jedoch den nutzlosen Versuch zu unternehmen, in dieses Geheimnis einzudringen, um es zu entschlüsseln, konzentriert sich Safranski auf das intellektuell Erfaßbare und zieht seine erzählerischen Kreise um das Geheimnis herum, nähert sich ihm in wechselnden Konstellationen, ohne es zu verletzen. Wer mit ihm auf diese Weise ein anderes Ich umkreist, lernt dabei auch sich selbst immer besser kennen und Rechenschaft über die Maßstäbe abzulegen, die er an andere und an sich selbst anlegt. 3. In seinen Großessays, bei denen es sich eigentlich um wissenschaftliche Abhandlungen handelt, die ohne den üblichen Apparateballast daherkommen und statt auf begriffliche Systematik mehr auf assoziative Verknüpfungen setzen, verfahrt Safranski wie in seinen Biographien so, daß er die Spannbreite zwischen Anthropologie und Metaphysik auslotet, diesmal jedoch von metaphysischen Fragestellungen ausgehend: Wieviel Wahrheit braucht der Mensch? Wieviel Freiheit hat der Mensch? Das abstrakte Wort „Mensch" wird dann in geschichtlichen Kontexten individualisiert, und die Probleme der Wahrheit respektive der Freiheit kommen von den Lebensverhältnissen her in den Blick. Wahrheit wird narrativ, erzählbar gemacht, dadurch, daß sie aus der Sphäre der Denkbarkeit in die der Lebbarkeit transponiert und von ihrer existentiellen Bewährung her wiederum hinsichtlich ihrer reflexiven bedacht wird. Innenwelt und Außenwelt lassen sich nicht völlig zur Deckung bringen, aber sie dürfen auch nicht verbindungslos nebeneinander stehen oder sich gar gegenseitig negieren. Die Lebens-
Überzeugungskraft
16
Annemarie Pieper
formen, welche Safranski skizziert, reichen von ganz und gar ichhaften Wahrheiten, wie Rousseau, Kleist und Nietzsche sie exemplarisch gegen den Rest der Welt gelebt haben, bis hin zur totalitären Metaphysik eines Hitler und Goebbels, die die gesamte etwa
Wirklichkeit nach ihren
Vorstellungen eines wahren Lebens gewaltsam umformen woll-
ten.
Es verwundert nicht, daß Safranski diese unerschöpfliche Thematik noch einmal aufgreift, um das Drama der Freiheit als einen Kampf um Wirklichkeit sei es die Wirklichkeit des Guten, sei es die des Bösen zu schildern. In 17 Szenen entfaltet er ein Panorama der Heimat- und Fluchtstätten, die der Mensch sich erfindet, um der Geschichte einen Sinn zu geben, den sie von sich aus entweder nicht hat oder den sie verloren hat. Immer scheint sich das Böse durchgesetzt zu haben, auch dort, wo es als solches nicht beabsichtigt war. Vom Sündenfall bis zu den Vernichtungsstrategien des Nationalsozialismus reicht die Palette der Möglichkeiten, die der Mensch in seinem Bestreben, die Kontingenz des endlichen Daseins zu überwinden, nicht nur in der Imagination durchgespielt, sondern wirklich ausprobiert und dabei seine Freiheit verspielt hat. Safranski läßt in seinen Essays eine Fülle von Autoren zur Sprache kommen, deren theoretische Einsichten mit ihren praktischen Lebenseinstellungen eigentümlich verschränkt sind. Er befragt nicht nur Philosophen Sokrates, Spinoza, Rousseau, Augustinus, Hobbes, Kant, Nietzsche, Sartre -, sondern auch Dichter und Schriftsteller Homer, Goethe, Baudelaire, de Sade, Kafka, Joseph Conrad, Gottfried Benn -, den Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud sowie die Autoren nationalsozialistischer Schriften. Aus unterschiedlichsten Perspektiven wird so anders als in den Biographien nicht eine Person, sondern ein philosophisches Problem umkreist. Daß am Ende keine allgemeinverbindliche Lösung angeboten wird, hängt wiederum mit dem Geheimnis individueller Persönlichkeitsbildung zusammen. Das Problem der Wahrheit und der Freiheit kann niemand stellvertretend für jemand anderen lösen, sondern muß existentiell entschieden werden durch das Individuum, welches sein Leben aus eigener Kraft gestaltet und in seinem Lebenswerk verschwindet. -
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4. Nietzsche ist einer der
von Safranski bevorzugten Autoren. Sein Name kommt in allen seinen Schriften vor. Er wahrt zu ihm eine freundschaftliche Distanz, aus deren entspanntem Abstand es ihm gelingt, Facetten von Nietzsches Abgründigkeit herauszustellen, die sowohl von persönlicher als auch von weltgeschichtlicher Bedeutung waren. Safranski hat jedoch nicht nur Erhellendes über Nietzsche und sein Werk geschrieben, sondern manches auch im Sinne Nietzsches. Die von Safranski vorgelegten Biographien wobei die gerade erschienene über Nietzsche außer Betracht bleibt tragen gemäß dem Schlagwort „Wie man wird, was man ist" jene Bausteine zusammen, aus denen sich ein Bild des Selbstwerdungsprozesses eines Individuums formen läßt. Auf dem berühmten Gemälde Las Meninas von Diego Velasquez erscheint der Maler selbst im Bild, während seine Staffelei nur von hinten zu sehen ist, wobei das von ihm gemalte Bild im Verborgenen bleibt. Hier verschwindet nicht der lebendige Maler in seinem Bild, sondern der Maler bleibt im Bild, wobei sich sein Gemälde dem Betrachter entzieht. Dieser muß versuchen, aus dem Arrangement von Kindern, Zwergen und Hund,
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Laudatio
auf Rüdiger Safranski
17
wie es sich ihm und dem Königspaar darstellt, das schemenhaft in einem Spiegel an der Wand sichtbar wird, auf das vom gemalten Maler in seinem Bild Festgehaltene zu schließen. Nehmen wir einmal für ein anderes Gemälde an, daß der Maler im Bild auf der dem Betrachter abgewandten Seite ein Selbstporträt anfertigt, dann tritt die Schwierigkeit, mit der sich der Biograph konfrontiert sieht, noch einmal deutlich vor Augen. Er muß die Momentaufnahme gleichsam narrativ verflüssigen, indem er das fertige Produkt aus der ihm vorausliegenden Geschichte rekonstruiert, wohl darum wissend, daß ihm ein Blick auf das Selbstbildnis des Künstlers prinzipiell nicht möglich ist. Nietzsche hat bekanntlich sehr darunter gelitten, daß seine Werke zu seinen Lebzeiten nicht die Resonanz fanden, die er sich erhofft hatte. Er glaubte, daß es erst hundert Jahre später Leute geben würde, die ihn verstehen: Schriftsteller, die selber mit Blut zu schreiben vermögen und damit die Voraussetzungen mitbringen, „fremdes Blut zu verstehen" (KSA, ZA, 4, 48); Gebildete, die nicht vollgepinselt sind „mit den Zeichen der Vergangenheit" personifizierte „Gemälde [...] von Allem, was je geglaubt wurde" (ebenda, 153f), sondern die im Zeichen des Übermenschen die Zukunft planen; Gelehrte, die „nicht auf der Strasse stehn und die Leute angaffen, welche vorübergehn: also warten sie auch und gaffen Gedanken an, die Andre gedacht haben" (ebenda 161), sondern solche, die selber denken können. Rüdiger Safranski scheint mir ein solcher Gebildeter und Gelehrter zu sein, der im Sinne Nietzsches zu lesen und zu schreiben versteht. Er schreibt nicht trocken-akademisch, sondern fesselnd, mit Witz und Stil und auf dem Boden einer detaillierten Sachkenntnis. Sehr geehrter Herr Safranski, lassen Sie mich am Schluß das Wort an Sie persönlich richten. Eine Laudatio hat ja immer das Mißliche, daß sie die Verdienste des zu Ehrenden in seiner Anwesenheit rühmt, aber unhöflicherweise dabei so tut, als ob er abwesend oder gar verstorben sei. Ich freue mich, daß Sie in diesem Jahr den FriedrichNietzsche-Preis des Landes Sachsen-Anhalt überreicht bekommen. Sie sind ein würdiger Preisträger! -
Rüdiger Safranski
Nietzsches Zweikammersystem der Kultur
war das Denken eine Leidenschaft, er bezog daraus soviel Lust, Schmerz und Intensität, wie andere Leute aus anderen Körperteilen. Er hat um sein Leben gedacht im doppelten Sinne des Wortes. Er hat um sein Leben gedacht, wie man um sein Leben läuft oder um sein Leben kämpft. Das Denken also als Lebensnotwendigkeit in einem emphatischen und dramatischen Sinne. Um sein Leben denken, bedeutet aber auch: um sein Leben, um das gewöhnliche Leben, herumdenken. Es geradezu vermeiden und einen anderen, einen intensiveren Zustand suchen. In diesem Sinne also: Denken anstatt Leben. Beginnen wir bei der zuletzt genannten Bedeutung: Denken anstatt Leben.
Für Nietzsche
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August 1883. Die heikle Liebesaffare mit Lou Salomé ist vorbei. Eine richtige, robuste Liebesbeziehung war es ja nicht. Nietzsche hat der jungen, hochbegabten Russin, die später zur Muse von Rilke und zur Mitarbeiterin von Sigmund Freud wird, zwei Heiratsanträge gemacht. Lou hatte abgelehnt. Sie war nicht verliebt, sie war nur unendlich neugierig auf Nietzsche, auf dieses wunderliche Gehirntier. Sie wollte eine Arbeitsbeziehung. Paul Rée, Nietzsche Freund und ebenfalls in Lou verliebt, sollte mit von der
Partie sein. Es gab den Plan eines Dreierbundes. Man mietet sich in Wien oder Paris eine Wohnung: getrennte Schlafräume, in der Mitte ein Arbeitsraum, dort trifft man sich, um gemeinsam zu denken und zu schreiben. Daraus wurde nichts. Lou und Rée entziehen sich, Nietzsche wartet, die Verzweiflung wächst. Denn er ist wirklich davon überzeugt, in Lou einen Menschen von grenzenlosem Verständnis für die eigenen geistigen Obsessionen gefunden zu haben. Körperlich war zwischen den beiden wohl nichts geschehen, ein zarter Kuß vielleicht auf dem Monte Sacro, in Oberitalien am Orta-See. Ende August 1883 ist alles vorbei, und Nietzsche schreibt, zurückblickend in einem Brief an Ida Overbeck: „Ich war voriges Frühjahr wie Einer, der viele, viele Jahre von außen nichts mehr erlebt hatte." Plötzlich entdeckt er in seiner Lust des Denkens den Nachteil, nur gedacht und nicht gelebt zu haben. An Franz Overbeck schreibt er: „Ich bin durch das ausschließliche Zusammensein mit idealischen Bildern und Vorgängen so
Rüdiger Safranski
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reizbar geworden, daß ich im Verkehr mit den jetzigen Menschen entbehre." (22.2.1883) Die
unglaublich leide und
depressive
Einsicht vom Sommer 1883 also lautet: Er hat um sein Leben herumgedas hat Leben vermieden. Aber vergessen wir nicht: Nietzsche hat zu diesem dacht, schon wundervolle Bücher geschrieben, über die Geburt der Tragödie, die Zeitpunkt Unzeitgemässen Betrachtungen, Menschliches, Allzumenschliches, die Morgenröthe, die Fröhliche Wissenschaft und den Zarathustra hat er gerade in Arbeit. In dem Brief an Ida Overbeck, vom August 1883, lesen wir noch einen anderen Satz, der uns zur anderen Bedeutung von ,Um sein Leben denken' führt. Zu der Bedeutung, daß Nietzsche um sein Leben gedacht hat, wie man um sein Leben läuft; daß er denkend sein eigentliches Leben gefunden hat. Er schreibt: ,,[I]ch habe noch in keinem Jahre diese Höhen der Empfindung erreicht und bin wahrscheinlich deshalb der beneidenswürdigste aller Sterblichen" (14.8.1883). Nietzsche hat sich im Denken (und Schreiben) ein anderes, ein zweites Leben geschaffen. Nur so hat er offenbar sein erstes Leben ausgehalten, wenn und insofern er es denkend, schreibend, in der Stube und bei seinen großen Wanderungen, absaß und er
durcheilte.
Die zwei Leben, die zwei Naturen Friedrich Nietzsches, daran hat er sich selbst gerieben. Aber noch mehr haben sich die anderen daran gerieben, die brav genug sind, nur ein Leben zu führen. Diese Leute haben sich, zumeist mit Häme, lange und gerne bei jenem Kontrast aufgehalten: auf der einen Seite Nietzsche, wie er sich als Kraftnatur, als Freigeist, als Übermensch, als Zarathustra aufspielt, ein Übermaß an Lebenskraft und Lebenslust verströmend, sich seiner großen Gesundheit rühmend, mit feinem Sinn für die Genüsse des Leibes, mit einer reichen Sprache dafür, jemand, der den hohen Mittag des Lebens besingt, in stolzer Einsamkeit vor einem imaginären Publikum, das ihm verzückt lauscht... Auf der anderen Seite der kränkelnde Nietzsche, allein, oft unter grauem, tiefem Himmel, in unfreiwilliger Askese, scheu und unbeholfen gegenüber Frauen, ängstlich sich umblickend nach der Spießermoral von Naumburg; von einer intriganten Schwester belästigt, gegen die er sich nicht wehren kann; die Mutter schickt ihrem ,Fritz' Würste und warme Socken nach Sils Maria, wo der Sohn Zwiesprache mit Zarathustra hält; sie mißbilligt sein Treiben, was wiederum dem Sohn Kummer über die Maßen bereitet; denn er bleibt ein Muttersohn, er bleibt auch der ein bißchen steife, allzu würdige ,kleine Pastor', wie man den Zwölfjährigen scherzhaft genannt hatte, als er einmal in gemessener Haltung, wie es die Schulregel verlangt, über den Marktplatz daherschritt unterm Platzregen. Zweifellos, es gab diesen Kontrast. Nietzsche hat darunter gelitten. An Hans von Bülow schreibt er Ende 1882: „Was geht es mich an, wenn meine Freunde behaupten, diese meine jetzige ,Freigeisterei' sei ein exzentrischer, mit den Zähnen festgehaltener Entschluß und meiner eigenen Natur abgerungen und abgezwungen? Gut, es mag eine ,zweite Natur' sein: aber ich will schon beweisen, daß ich mit dieser zweiten Natur erst in den eigentlichen Besitz meiner ersten Natur getreten bin." (B VI,290) Ohne diese „zweite Natur", schreibt Nietzsche in einem anderen Brief aus derselben Zeit, hätte er
Nietzsches
Zweikammersystem der Kultur
seine „erste Natur gar nicht ertragen können",
21 er
wäre
an
ihr „zu Grunde" gegangen
(B VI, 291). Die „erste Natur" ist für ihn die Prägung durch christliche Moral, näherhin das Milieu seiner Herkunft, die Naumburger Existenz. Die stickige, kleinbürgerliche, moralingesättigte Luft dort, die ihn steif, überkorrekt, brav, prüde, auch fromm gemacht hat. „Ich bin eine Pflanze nahe dem Gottesacker geboren", schreibt der Neunzehnjährige in einer autobiographischen Skizze. Er ist der typische Musterschüler, der sich, wie er selbst bekennt, schon immer besser in die Lehrer als in seine Mitschüler einfühlen konnte. Die „erste Natur" ist aber auch jenes schon fast osmotische Mitleidenkönnen und -müssen. Nietzsche kann nicht grausam, nicht hart, nicht rücksichtslos sein, wie es einem Übermenschen wohl ansteht. Er ist nicht nur wetter-, sondern auch menschenfühlig. Das führt zu schlimmen Verwicklungen. Obwohl die Mutter und die Schwester, einfach weil sie ihn nicht verstehen können, ihn oft demütigen, klein machen, muß er doch mit ihnen mitempfinden. Er leidet am Übermaß seiner Bereitschaft zu verzeihen. Nur schwer kann er seine Partei halten. Eben noch hat er sich geschworen, der Mutter keinen Brief mehr zu schreiben, da treffen wieder die Socken und Würste aus Naumburg ein, und ,Fritz' bedankt sich artig und gehorcht der Mutter, die verlangt, er solle sich wieder mit der Schwester versöhnen Er ist, anders als er es sich wünscht, ein Genie des Herzens, das Mitleidenmüssen gehört offenbar zu seiner „ersten Natur", zu seinen Instinkten; Mitleid ist nicht, wie er sich bisweilen einredet, ein von Schopenhauer übernommenes Dogma. Das Mitleid macht er auch dafür verantwortlich, daß er allzulange an der Beziehung zu Lou Salomé festgehalten hat, so lange, daß Paul Rée und Lou, wie er glaubt, mit ihm ihren Spott treiben konnten. Er habe sich zu sehr in die Schwäche der beiden hineingefühlt und die eigenen Interessen dabei aus den Augen verloren. An Malwyda von Meysenbug, eine Zeugin der Affäre, schreibt er im Juli 1883: „Aber das Schopenhauersche ,Mitleiden' hat immer in meinem Leben bisher den Haupt-Unfug angestiftet [...] Dies nämlich ist nicht nur eine Weichlichkeit, über die jeder großgesinnte Hellene gelacht haben würde sondern eine ernste praktische Gefahr. Man soll sein Ideal vom Menschen durchsetzen, man soll mit seinem Ideal seine Mitmenschen wie sich selber zwingen und überwältigen: und also schöpferisch wirken! Dazu aber gehört, daß man sein Mitleiden hübsch im Zaume hält, und daß man, was unserm Ideal zuwider geht, wie z.B. solches Gesindel wie L(ou) und R(ée), auch als Feinde behandelt. Sie hören, wie ich mir ,die Moral lese': aber um bis zu dieser ,Weisheit' zu kommen, hat es mich fast das Leben gekostet."(B VI,404) Seiner „ersten Natur" fehlt offenbar das Talent zum Mißtrauen und zur Verfeindung. Er muß es sich erst mit seiner „zweiten Natur" erfinden und anerziehen. Dann allerdings wird er als psychologischer Entlarvungskünstler sein Mißtrauen und als Wille-zurMacht-Philosoph die Verfeindung ins Große treiben. Es ist schon bemerkenswert, wie hier jemand, nur um es bei sich selbst aushalten zu können, schließlich einer ganzen Kultur den Prozeß machen muß. Für Nietzsche also war das Denken jene Kraft, das bloß Gewordene in etwas Gemachtes, etwas Selbstgemachtes umzugestalten. Mit dem Denken wollte er zum Autor seines eigenen Lebens werden. Er wollte es sich selbst verdanken, was und wer er ist. ...
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Rüdiger Safranski
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Er wollte seine eigene Geschichte beherrschen. Aus seinem Leben wollte er ein Projekt des Denkens machen: Nietzsche wollte Nietzsche erfinden. Im Vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft heißt es im Aphorismus Nr. 324: „Nein! Das Leben hat mich nicht enttäuscht! Von Jahr zu Jahr finde ich es [...] begehrenswerther und geheimnissvoller, von jenem Tage an, wo der grosse Befreier über mich kam, jener Gedanke, dass das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe". (KSA, FW, 3, 552)
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Diesen Grundsatz, daß „das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe", verbindet Nietzsche mit seinem Traum: „Wir aber wollen die Dichter unseres Lebens sein." Nietzsche hatte beizeiten angefangen, der Dichter seines Lebens zu sein. Schon im zarten Jugendalter schreibt er Autobiographien nach dem Muster: ,Wie ich wurde, was ich bin'. Aber es genügt ihm nicht, nachträglich über sein Leben zu schreiben. Das Leben soll dichtungs- und denkgerecht gelebt werden. Nietzsche begnügt sich nicht damit, über sein Leben nachzudenken. Das tut jeder. Er aber will sein Leben so einrichten, daß er etwas daran zu denken bekommt. Das Leben als zitierfähige Unterlage, als Experimentieranordnung für das Denken, Essayismus als Lebensform. Nietzsche denkt ausdrücklich und mit Emphase in der ersten Person Singular. Es gibt kaum einen Philosophen ausgenommen vielleicht Montaigne -, der so häufig ,Ich' gesagt hat wie er. Der Grund dafür ist, daß Nietzsche wußte, daß er Nietzsche ist. Er empfand sich selbst als Exempel und als Experiment. Als Exempel empfand er sich, weil er nach einem Ausweg aus dem grassierenden Nihilismus, mit dem wir es ja immer noch zu tun haben, suchte. Seine Antwort: Man hat im christlichen Abendland das Jenseits geheiligt und Kathedralen gebaut. Das war großartig. Aber wenn Gott tot sein sollte, weil wir bemerken, daß wir ihn selbst erfunden haben, kommt alles darauf an, daß wir nicht in die Banalität abstürzen. Praktischer Nihilismus ist für ihn ein Leben, bei dem man nur noch Arbeitstier und Vergnügungstier ¡st. Auf die Heiligung des Diesseits kommt es an. Der moderne Nihilismus, so wie ihn Nietzsche sieht, ist nur noch Ernüchterung. Man hatte dem Leben einen transzendenten Sinn und Wert beigelegt. Wenn dieser Jenseitssinn schwindet, bleibt das Leben zurück: sinn-los. Man hat ein Jenseits geheiligt und das Diesseits profaniert. Verschwindet das heilige Jenseits, bleibt das profanierte Diesseits zurück. Nietzsches Zarathustra zum Beispiel will in der Kunst unterweisen, wie man gewinnt, wenn man verliert. Alle Ekstase, alle Beseligung, die ganzen Himmelfahrten des Gefühls, dieser Hunger nach Intensität, der vormals ins Jenseits ausgriff, sollen sich nun ans unmittelbare, diesseitige Leben halten. Nietzsche will die Kräfte des Transzendierens für die Immanenz bewahren. Überschreiten und doch „der Erde treu bleiben" das ist es, was Nietzsche dem Menschen der Zukunft aufträgt. Der „Übermensch", wie ihn Nietzsche entwirft, ist frei von Religion: er hat sie nicht verloren, er hat sie in sich zurückgenommen. Der gewöhnliche Nihilist hingegen, der „letzte Mensch", hat sie nur verloren und das profanierte Leben zurückbehalten. Nietzsche großes Werk kreist um eine einzige Frage: Wie können wir verhindern, daß wir nach dem Absterben der Religion zu Bestien der Banalität -
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Experimentelle seine Denkens betrifft, so will ich es kurz an seiner berühmt-berüchtigten Lehre von der ewigen Wiederkunft illustrieren. Nietzsche hat viel Aufhebens gemacht von der Lehre der „ewigen Wiederkehr", die er durch seinen Zarathustra verkündigen läßt. Indes ist die Idee der in sich kreisenden, ihren begrenzten ,Inhalt' immer wieder durchspielenden Zeit uralt. Im Bilde der ewigen Wiederkehr drückt sich in der Regel eine resignative Weltmüdigkeit aus. Der kreisende Zeitumtrieb entleert das Geschehen bis zur Sinnlosigkeit. Ganz anders bei Nietzsche. Für ihn bedeutet der zunächst recht abstrus wirkende Gedanke der ewigen Wiederkehr ein Experiment mit sich selbst. Er macht daraus einen Grundsatz der Lebenskunst: Du sollst den Augenblick so leben, daß er dir ohne Grauen wiederkehren kann! Der Gedanke der ewigen Wiederkehr hat bei Nietzsche weniger eine kosmisch-metaphysische Bedeutung, er ist noch nicht einmal im eigentlichen Sinne ein Gedanke der Erkenntnis, der Weltabbildung also, sondern ein Gedanke der Selbstbildung: fast gehört er ins Register der Autosuggestion. Das ist Nietzsches Stil: Die weitläufigsten, großräumigsten Gedanken haben eine existentielle Pointe. Für Nietzsche gilt: Ein Gedanke, der einen nicht irgendwie verwandelt, taugt nichts. Durch den Gedanken der ewigen Wiederkehr will er sich verwandeln lassen. Bilderwütig beschwört er die mögliche Beseligungen im Jetzt. Die Vorstellung des kreisenden Zeitumtriebs denkt Nietzsche zusammen mit dem Bilde des großen Weltspiels. Auch das Spiel basiert bekanntlich auf Wiederholungen, aber wir erleben sie hier lustvoll. Für Nietzsche wird mit dem Tode Gottes das Wagnis und der Spielcharakter des menschlichen Daseins offenbar. Für Nietzsche gehört es zur Lebenskunst, jenen spirituellen Leichtsinn zu gewinnen, um zum Bewußtsein des Weltspiels durchzudringen. Das bedeutet bei Nietzsche das Transzendieren: Das große Spiel
werden? Und
was
das
als den Grund des Seins entdecken. Nietzsches Zarathustra tanzt, wenn er diesen Grund erreicht hat, er tanzt wie der indische Weltengott Schiva. So hat ihn auch, kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch, die Frau des Turiner Kioskbesitzers, bei der er wohnte, beobachtet. Sie habe, berichtet sie, den Professor in seinem Zimmer singen gehört und durch andere Geräusche beunruhigt einen Blick durchs Schlüsselloch getan: Da habe sie ihn „nackt tanzen gesehen". Kein Zweifel in seinen besten Augenblicken gelingt Nietzsche eine spielerische Leichtigkeit der Sprache und des Gedankens, eine Beschwingtheit, die, auch unter Leiden und schwerer Gedankenfracht, zu tanzen versteht, eine Heiterkeit ,trotz allem', eine Mischung aus Ekstase und Gelassenheit. Blickpunkte werden erreicht, von denen aus das Leben als großes Spiel erscheint. Hier werden wir reichlich entschädigt für die bisweilen furchtbaren Gedanken, die sich auch bei Nietzsche finden. Davon soll jetzt die Rede sein. Wir haben gehört, wie Nietzsche sich selbst umgestaltet, wie er seine erste Natur in eine zweite Natur umgearbeitet hat mit Hilfe des Denkens. Dabei geht es darum, „Herr über sich selbst" zu werden. Das ist das Kammerspiel des Willens zur Macht und des Übermenschen. Die ungeheure Ambivalenz im Werke Nietzsches besteht darin: Den Übermenschen wie auch den Willen zur Macht gibt es in zwei Versionen: als Kammerspiel und als Welttheater. Einmal als existentielles Drama der Selbstfindung und Selbstgestaltung, das andere mal als Große Politik, als welthistorische Vision. -
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Der Wille zur Macht als Lebenskunst, als existentieller Pragmatismus. Frage im Mittelpunkt: es mag ja sein, daß die Welt insgesamt sinnlos ist, aber Sinngebung des eigenen Lebens ist sehr wohl möglich, auch wenn man dabei nur eine winzige Sinninsel schafft in einem ungeheuren Ozean des Sinnlosen. Die klassische Formulierung dieses Willens zur Macht in der ersten Person Singular lautet: „Du sollst Herr über dich werden, Herr auch über deine eigenen Tugenden. Früher waren sie deine Herren; aber sie dürfen nur deine Werkzeuge neben andren Werkzeugen sein. Du sollst Gewalt über dein Für und Wider bekommen und es verstehen lernen, sie aus und wieder einzuhängen, je nach deinem höheren Zwecke." (11,20 ) Die „höheren Zwecke" muß jeder sich selbst geben. Die „Tugend" der Selbstgestaltung läßt sich nicht aus einem letzten wahren Prinzip ableiten. Solche Wahrheit gibt es für Nietzsche nicht, es gibt nur Perspektiven. Also kann die Wahrheit dieses Prinzips nur behauptet werden, oder besser: man muß sie wahr machen. Das Kriterium für die Wahrheit der Wahrheit liegt nicht in der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit, sondern darin, daß sie mächtig wird. Die Wahrheit der Wahrheit ist ihre Macht, Wirklichkeit hervorzubringen. Zu diesem Zweck, so Nietzsche, kann man auch Mythen erfinden, die uns orientieren und ermuntern. Sie sind keine Offenbarungen und haben keine transzendente Autorität. Sie sind pragmatische Entwürfe zum Zwecke der „Steigerung des Lebens". Es gehört noch vieles andere dazu: die Sprache, die Musik („ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum",), die Kunst, die Liebe und Freundschaft, die kluge Ernährung, die „große Vernunft des Leibes" usw. Auf dieser Bühne der Selbstgestaltung bedeutet der Übermensch ganz einfach derjenige, der aus der Lebensmaterie physiologisch, sozial, kulturell -, in die er hineingeboren wird und die er als Kontingenz, als Schicksal vorfindet, das beste macht bis hin zum berühmten „amor fati". Nun aber die andere Version: Der Übermensch und der Wille zur Macht als Welttheater, als Vision des künftigen Menschen und eines künftigen Weltzustandes. Beides sollte erreicht werden durch das, was Nietzsche die „Große Politik" nennt. Nietzsche nimmt eine folgenreiche Umformatierung seines existentiellen Pragmatismus am eigenen Leibe vor. Er wechselt von der Dimension der Selbstgestaltung zur Kulturgestaltung im großen Stil. Dabei ist dann von der Menschheit als KollektivSubjekt die Rede, so als könnte die Menschheit ,handeln' und ,planen', wie ein einzelner handelt und plant. Das ist der große Traum, den das 19. Jahrhundert zu träumen beginnt. Die Formel dafür hat Marx gefunden, als er erklärte: Die Menschheit hat bisher ihre Geschichte erlitten, jetzt kommt es darauf an, sie zu machen mit Bewußtsein, Plan und Absicht. Die bisherige Naturwüchsigkeit sollte überwunden und in freies, planerisches Handeln überführt werden. Die Menschheit soll zum Herrn ihrer eigenen Geschichte werden. Die Voraussetzungen dafür sind, Nietzsche zufolge, günstig. Die Wissenschaften haben die religiösen und metaphysischen Illusionen entlarvt. Gott ist tot, der Himmel ist leer. Die Moral und die Systeme der Sittlichkeit haben ihre heilige Sanktionen verloren und zeigen sich in ihrer Künstlichkeit und Konventionalität. Sie sind gemacht worden, also können sie auch anders gemacht werden. Nietzsche ist beschwingt von den Aussichten und Möglichkeiten des Umbaus der Kultur im großen Maßstab. „Aber die Menschen können mit Bewusstsein beschliessen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln, während sie sich früher unbewußt und zufällig entwickel-
Zuerst das
Kammerspiel.
Hier steht die
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[...] Seitdem der Glaube aufgehört hat, dass ein Gott die Schicksale der Welt im müssen die Menschen selber sich ökumenische Ziele stellen." (KSA, Grossen leite MA I, 2) Nietzsche ist also angesteckt von der Euphorie des 19. Jahrhunderts bezüglich der Verbesserungsarbeiten am Menschengeschlecht. Das frühe 19. Jahrhundert hatte dabei das war das Projekt der Hebung des am Geist angesetzt: Geist sollte auf Geist wirken Menschengeschlechts durch die Macht der Bildung. In der Mitte des 19. Jahrhunderts sollte Geist auf die Ökonomie wirken: Hebung des Menschengeschlechts durch Umwandlung der ökonomischen Produktionsverhältnisse. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begann das Projekt Bio-Politik. Der Geist sollte direkt auf den Bios, auf die biologische Lebensmaterie wirken. In diesen Zusammenhang gehören einige der Visionen Nietzsches zur Großen Politik. „Gelehrtes Hornvieh", schreibt Nietzsche, „hat mich [...] des Darwinismus verdächtigt". Nietzsche will kein Darwinist sein, weil er die Verbesserung des Menschengeschlechtes nicht als Produkt einer natürlichen Entwicklung versteht, hervorgebracht durch die Gesetze der Evolution, also hinter dem Rücken des bewußt handelnden Menschen, sondern als bewußte Aufgabe, als Produkt einer freien Schöpfung, sei es, daß der einzelne Mensch sich umgestaltet, sei es, daß eine planvolle Erziehung und Züchtung den gesteigerten Menschen hervorbringt. Große Politik in diesem Zusammenhang bedeutet: bewußte und planmäßige Eingriffe in die biologische Entwicklung. Da der Mensch, wie Nietzsche sagt, „das nicht festgestellte Tier" ist, so ist es seinen eigenen Entscheidungen überlassen, wie er mit der konstitutionellen Offenheit und Plastizität seines Wesens umgeht individuell und kollektiv. Nietzsche hat philosophisch Ernst gemacht mit der Entdeckung der biologischen Autoplastizität des Menschen. Nietzsche hat über Zähmung und Züchtung im großen Stil nachgedacht. Die anthropotechnischen Mittel, die zu seiner Zeit zur Verfugung standen, waren Fortpflanzungspolitik, Selektion, Sterilisierung der sogenannten Fortpflanzungsunwürdigen, Begünstigung bestimmter Partnerkonstellationen, das sind die ,harten' Eingriffe; und als ,weiche' Eingriffe haben Erziehung und Bildung zu gelten. Nietzsche erwägt das ganze damals bekannte und praktizierbare Register der Eingriffsmöglichkeiten. „Nicht fort sollt ihr euch pflanzen, sondern hinauf", fordert Zarathustra. In den nachgelassenen Fragmenten des letzten Herbstes 1888 in Turin Nietzsche arbeitet noch an seinem ungeschriebenen Hauptwerk Wille zur Macht und er ist noch nicht wahnsinnig schreibt er: „Das Bibel-Verbot ,du sollst nicht tödten' ist eine Naivetät im Vergleich zu meinem Verbote an die décadents ,ihr sollt nicht zeugen!' es ist Schlimmeres noch, es ist der Widerspruch dazu [...] Das höchste Gesetz des Lebens, von Zarathustra formulirt, verlangt, daß man ohne Mitleid sei mit allem Ausschluß und Abfall des Lebens, daß man vernichte, was für das aufsteigende Leben bloß Hemmung, Gift, Verschwörung, unterirdische Gegnerschaft sein würde, [...] es ist unmoralisch im tiefsten Verstände zu sagen: du sollst nicht tödten [...]." (13, 594) Wie kommt es zu diesen ungeheuerlichen Sätzen ? Als Nietzsche sie schrieb, am Ende des 19. Jahrhunderts, dämmerte der ungeheure Horizont der technisch machbaren biologischen Verbesserung des Menschengeschlechtes empor. Nietzsche registrierte diesen Prozeß sehr genau und er ahnte, daß die technische Macht über das biologische Leben zunehmen, die Anthropotechniken in Bezug auf ten:
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den Menschen als dem „nicht festgestellten Tier" wachsen werden, und er nimmt diese Herausforderung an. Aber von welchem leitenden Gedanken aus? Nietzsches leitender Gedanke läßt sich klar aussprechen. Er hat ihn bereits in seiner Schrift über Schopenhauer entwickelt. Was ist der Sinn der Kultur, fragt er dort und gibt die Antwort: die „Erzeugung des Genius". (1,393) Die „Einzelnen", notiert er in einem Fragment vom Herbst 1873, müssen sich dem „Wohle der höchsten Einzelnen" unterordnen lassen. Und dies sind die „schöpferischen Menschen" (7, 733). Sie bringen auf der Basis der ausgebeuteten Arbeit die großen Kulturleistungen hervor, in der Kunst, der Philosophie, in den Wissenschaften; und bisweilen machen sie sich selbst zu einem Kunstwerk, das es wert ist, angeschaut zu werden. Diese Heroen des Schöpferischen sind gerechtfertigt nicht durch ihre soziale Nützlichkeit, sondern durch ihr besseres Sein. Sie verbessern nicht die Menschheit, sondern verkörpern ihre besseren Möglichkeiten und bringen sie zur Anschauung. Eine Kultur und ein Staatswesen ist dann gerechtfertigt, wenn in ihm solche „höchsten Exemplare leben können und schaffen können" (7, 733). Diese „höchsten Exemplare" sind, wie es im Tragödienbuch heißt, die „Lichtbilder" (1, 65) in der dunklen Nacht des tragischen Lebensgefühls. Warum dieses „tragische Lebensgefühl"? Ganz einfach deshalb, weil nicht nur der einzelne Mensch, sondern die Menschheit und deshalb auch die Kultur sterblich ist. „Und wenn", so schließt Nietzsche diesen Gedankengang ab, „die so ist ihr als ganze Menschheit einmal sterben muss wer dürfte daran zweifeln! höchste Aufgabe für alle kommenden Zeiten das Ziel gestellt, so in's Eine und Gemeinsame zusammenzuwachsen, dass sie als ein Ganzes ihrem bevorstehenden Untergange mit einer tragischen Gesinnung entgegengehe; in dieser höchsten Aufgabe liegt alle Veredelung der Menschen eingeschlossen." (KSA, WB, 1, 453). Die höchste Aufgabe ist also das Hervorbringen oder Ergreifen von Augenblicken des höchsten Gelingens in einem Menschen, in einem Werk. Dafür hat Nietzsche in seinen Aufzeichnungen ein einziges Mal den eigenartigen Ausdruck gewählt: „die Verzückungsspitze der Welt" (KSA. NF, 7, 200). Man soll sich dabei jenen Augenblick vorstellen, wenn bei höchster Gefahr, im „Hirn des Ertrinkenden" zum Beispiel, eine unendliche Zeit in einer Sekunde zusammengedrängt wird; höchste Verzückung, höchster Schmerz, wenn das ganze Leben noch einmal aufleuchtet, ehe es untergeht. Von dieser Art sind die Lichtbilder und Erleuchtungen des Genius. So wie der Einzelne in diesem Augenblick sein ganzes Leben begreift und als gerechtfertigt erleben kann, so wird auch eine ganze Menschheitsgeschichte vom Lichte dieser aufstrahlenden Bilder erhellt und gerechtfertigt. Die Aufgipfelung in eine solche „Verzückungsspitze" verwirklicht bei Nietzsche den Sinn der Kultur. Die Entscheidung für die „Verzückungsspitze" als Sinn der Kultur steht in einem ausdrücklichen Gegensatz zur anderen möglichen Entscheidung, nämlich, wenn man Glück, Freiheit und Wohlfahrt für die größtmögliche Zahl als Sinn und Aufgabe der Kultur ansieht. Entscheidet man sich dafür, so wird man, das sieht Nietzsche sehr deutlich, eine demokratische Kultur bekommen, wo der Massengeschmack triumphiert. Aber lassen sich „Verzückungsspitzen" und Massenkultur nicht miteinander verbinden ? Handelt es sich hier wirklich um Alternativen, die sich ausschließen ? -
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Für Nietzsche jedenfalls gab es hier nur ein Entweder-Oder. Der demokratische Staat mit seiner Orientierung an allgemeiner Wohlfahrt, Menschenwürde, Freiheit, ausgleichender Gerechtigkeit, Schutz der Schwachen behindert die Entwicklungsmöglichkeit für große Persönlichkeiten, die „Lichtbilder" verschwinden aus der Geschichte und damit verschwindet auch, nach dem Tode Gottes, der noch verbliebene Sinn. Und deshalb greift er bereits in den frühen siebziger Jahren die Demokratie an, noch ehe er, einige Jahre später, mit schrillen Tönen über die „gänzliche Vergutmüthigung des de-
mokratischen Heerdenthiers"
(KSA, NF, 11,587) herziehen wird. Die antike griechische Sklavenhaltergesellschaft gilt ihm gerade deshalb als vorbildliche Kultur, weil sie sich solche Zugeständnisse an das „demokratische Heerdenthier" nicht erlaubt hat. Nietzsche
der antiken Gesellschaft, daß sie ehrlich genug war, den furchtbaren Unterdem ihre Blüte erwächst, nicht zu verhüllen. Die Sklavenhaltergesellschaft grund, ist ein besonders krasses Beispiel dafür, daß die Bildung und Kultur auf einem „erschrecklichen Grunde" (1, 767) ruhen: „Damit es einen breiten tiefen und ergiebigen Erdboden für eine Kunstentwicklung gebe, muß die ungeheure Mehrzahl im Dienste einer Minderzahl, über das Maaß ihrer individuellen Bedürftigkeit hinaus, der Lebensnoth sklavisch unterworfen sein." (ebenda). In neuerer Zeit wird die Welt der Arbeit geadelt, aber das sei Selbstbetrug, denn an der fundamentalen Ungerechtigkeit der Lebensschicksale, die den einen die mechanische Arbeit und den Begabteren das schöpferische Tun zuweist, ändere auch die „Begriffs-Hallucination" von der „Würde der Arbeit" nichts. Die Sklavenhaltergesellschaft offenbart diese Ungleichheit mit brutaler Offenheit, während die moderne Zeit sich schamhafter gibt, ohne doch auf die kulturtragende Ausbeutung verzichten zu wollen. Wenn also die Kunst das Dasein ästhetisch rechtfertigt, dann geschieht das auf dem Untergrund einer „Grausamkeit" (KSA, CV, 1, 768). Diese „Grausamkeit im Wesen jeder Kultur" beweist für Nietzsche abermals, daß das Dasein eine „ewige Wunde" (KSA, GT, 1, 115) ist, und die Kunst, weit entfernt ein Heilmittel zu sein, hält diese Wunde offen. Und was bedeutet diese „Wunde" ? Es ist der gnadenlose Kampf in der Lebensarena des Willens zur Macht. „Es gibt nichts am Leben, was Werth hat, außer dem Grad der Macht gesetzt eben, daß Leben selbst der Wille zur Macht ist. Die Moral behütet die Schlechtweggekommenen vor Nihilismus." Die Natur ist grausam, sie ist das Ungeheure, und es geht grausam zu bei der Herausbildung von gelungenen Exemplaren des Lebens. So lautet die von ihm als heroisch empfundene Einsicht in den Lauf der Welt. In einer „Der europäische Nihilismus" überschriebenen Skizze vom 10.6.1887 eine wichtige Vorarbeit für den Willen zur Macht hat Nietzsche diese Grauen vor der Natur beschrieben. Es betrifft ihre ungeheure Ungerechtigkeit und Rücksichtslosigkeit. Sie bringt Schwache und Starke hervor, Begünstigte und weniger Begünstigte. Es gibt hier keine gütige Vorsehung, keine gerechte Verteilung der Lebens-Chancen. Vor diesem Hintergrund läßt sich Moral definieren als Versuch, die Ungerechtigkeit' der Natur auszugleichen, Gegengewichte zu schaffen. Es soll die Macht der natürlichen Schicksale gebrochen werden. Ein besonders genialer Versuch in diesem Sinne war für Nietzsche das Christentum. Es hat den „Schlechtweggekommenen" drei Vorteile geboten: Es verlieh dem Menschen einen „absoluten Werth, im Gegensatz zu seiner Kleinheit und Zufälligkeit im Strome des Werdens und Vergehens" (KSA, NF, 12, 211); zum zweiten wurde dem Leid und dem Übel ein rühmt
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zum dritten wurde im die Welt als vom Geist durchwirkte und darum erkennbare und wertvolle verstanden. So hat das Christentum verhütet, daß der von der Natur benachteiligte Mensch sich „als Mensch verachtet, daß er gegen das Leben Partei nahm" (ebenda). Die christliche Weltdeutung hat die Grausamkeit der Natur gedämpft und Menschen zum Leben ermuntert und darin festgehalten, die sonst vielleicht verzweifelt wären. Es hat, mit einem Wort, „die Schlechtweggekommenen vor Nihilismus" bewahrt. Wenn man es als Gebot der Menschlichkeit ansieht, dem natürlichen Schicksal nicht einfach seinen Lauf zu lassen, sondern für möglichst viele eine lebbare Ordnung herzustellen, dann müßte man eigentlich dem Christentum dafür, daß es seine „MoralHypothese" in die Welt eingeführt hat, dankbar sein. Nietzsche spricht voller Anerkennung von der wertschaffenden Kraft des Christentums, aber er ist ihm nicht dankbar. Warum nicht? Weil die Rücksichtnahme auf die Schwachen, die Moral des Ausgleichs in seinen Augen die Entwicklung und Entfaltung des höheren Menschentums behindern. Das höhere Menschentum konnte er sich, wie wir inzwischen wissen, nur vorstellen als Aufgipfelung der Kultur in ihren „Verzückungsspitzen", in den gelungenen Individuen und Werken. Der Wille zur Macht entfesselt auf der einen Seite diese Dynamik der Aufgipfelung, und es ist ebenfalls der Wille zur Macht, der sich auf der Seite der Schwachen zur moralischen „Partei" formiert, welche diese Aufgipfelung verhindert und schließlich, so Nietzsches Diagnose, zur allgemeinen Nivellierung und Degeneration führt. Diese „Partei", die aus der „christlichen Moral-Hypothese" die modernen Konsequenzen zieht, ist die Demokratie und der Sozialismus, die deshalb von Nietzsche so energisch bekämpft werden. Denn für Nietzsche ist nicht das Glück und Wohlergehen der größtmöglichen Zahl, sondern das Gelingen des Lebens in einzelnen Fällen der Sinn der Weltgeschichte. Die Kultur der politischen und sozialen Demokratie ist für ihn eine Angelegenheit der verächtlich so genannten „letzten Menschen". Nietzsche wirft die sozialstaatliche Ethik der allgemeinen Wohlfahrt über Bord, weil sie für ihn hinderlich ist bei der Selbstgestaltung eines großen Individuums, sei es individuell durch Selbstgestaltung oder im Maßstab der Großen Politik durch Zucht und Züchtung. Das hier zugrundeliegende Problem läßt sich so formulieren: Nietzsche ist nicht imstande, die Ideen der Selbststeigerung und der Solidarität miteinander zu verbinden oder sie doch wenigstens nebeneinander bestehen zu lassen. In seiner Vision des Willens zur Macht im Sinne der Großen Politik werden Selbststeigerung und Solidarität, Freiheit für das Große Individuum und soziale Gerechtigkeit zu einem unversöhnlichen
„Sinn" gegeben und diese dadurch erträglich gemacht; und
Schöpfungsglauben
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Gegensatz.
Der Kritiker des Christentums hätte an einem entscheidenden Punkt von ihm lernen können: Das Genie des Christentums bestand nämlich über Jahrhunderte darin, auf eine raffinierte Weise beide Optionen, die der Solidarität und der Selbststeigerung miteinander verbunden zu haben. Der Gottesbezug, wenn man ihn nicht nur moralisch verstand, bedeutete eine ungeheure Ausweitung des Seelischen, die spirituelle Verfeinerung erlaubte eine Selbststeigerung, die auf gesellschaftlicher Ebene solidarisch bleiben konnte. Denn diese Steigerungen und Aufschwünge wurden nicht als eigene Leistung, sondern als Gnade verstanden, was den Stolz der Abgrenzung minderte. Außerdem war die
Nietzsches
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in den Zusammenhang der zwei Welten eingelassen: der civitas dei und der civitas civilis. Dort konnte man groß, und hier klein sein. Wer in diesen beiden Welten zu leben versteht, hat weniger Schwierigkeiten, das Prinzip der Selbststeigerung und der Solidarität miteinander zu verbinden. Es gab eine Periode in Nietzsches Leben es war die Zeit von Menschliches, Allzumenschliches als er ebenfalls mit einer Zwei-Welten-Theorie experimentierte. Eine „höhere Cultur", so erklärte er, müsse dem Menschen ein Doppelgehirn, gleichsam „zwei Hirnkammern" geben: „In einem Bereich liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator: mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muss geheizt werden, mit Hülfe der erkennenden Wissenschaft muss den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Ueberzeugung vorgebeugt werden." (KSA, MA II, 209) Nietzsches Visionen vom Übermenschen, vom Genius und vom Sinn der Kultur gehören gewiß zu den heißen Einseitigkeiten und Leidenschaften, die in einem anderen Medium heruntergekühlt werden müßten. Dieses andere Medium ist für Nietzsche die ,kalte Wissenschaft'. Es ist aber, so müßte man ergänzen, auch die Sphäre der Politik. Auch in der Politik sollte eine andere Logik gelten als in Kunst und Philosophie, wo sich der Genius zeigen mag. Dort wünschen wir uns in der Regel Radikalität, Leidenschaft, Tragik, Originalität, also eher extreme Zustände. Aber eine abenteuerliche, eine extremistische Politik ist wenig wünschenswert. Wir brauchen eine abenteuerliche Kultur und eine nüchterne Politik. Deshalb ist es gut, die beiden Bereiche getrennt zu halten, das heißt: die Differenzierung der Wertsphären zu bedenken. Dort die schöpferische Freiheit hier die Gerechtigkeit, dort die Selbststeigerung, hier die Solidarität. Nietzsche, um auf ihn zurückzukommen, hat seinen Gedanken vom „Zweikammersystem" der Kultur, wo auf der einen Seite eingeheizt und auf der anderen abgekühlt wird, leider nicht weiterentwickelt. Aber er hat ihn nicht vergessen. Er wirkt nach in der Gestalt der Ironie. Nietzsche, der sich nun wirklich an seinen Ideen entzünden und erhitzen konnte, blieb immer ein Meister darin, diese Gedanken, besonders wenn sie extrem waren, ironisch abzukühlen. Und das verlangte er übrigens auch von seinen Lesern. In einem Brief an jemanden, der ihn allzusehr bewunderte, schrieb er einmal: „Es ist durchaus nicht nöthig, nicht einmal erwünscht, Partei [...] für mich zu nehmen: im Gegentheil, eine Dosis Neugierde, wie von einem fremden Gewächs, mit einem ironischen Widerstände, schiene mir eine unvergleichlich intelligentere Stellung zu mir."
Selbststeigerung
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II.
Vorträge
„Ich habe das Griechenthum entdeckt..." Nietzsche
seine Antike und ihre -
Wirkung
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Internationale Tagung der Nietzsche-Gesellschaft, Naumburg, 13.-14.10.2000
Günter Wohlfart
Artisten-Metaphysik Der antike Boden von Nietzsches
1.
Philosophie
Biographische Vorbemerkungen
Der Pfarrerssohn Nietzsche studiert nicht Philosophie, sondern Theologie und klassische Philologie. Der Philosoph, sein Erzieher, das ist für Nietzsche Schopenhauer, wie sein Basler Kollege Jacob Burckhardt sagt. Doch was den Einfluß auf Nietzsches Ästhetik angeht, wird Schopenhauer noch von Heraklit übertroffen, der als Einziger zeitle-
Beispiel bleibt. Nietzsche nennt Heraklit in der Reihe seiner geistigen VorfahEmpedokles, Spinoza und Goethe an erster Stelle. Der Altphilologe Nietzsche ist philosophischer Autodidakt. Das Studium der großen Philosophen von Piaton bis Kant bleibt eklektisch. Nietzsche ist kein Philosophie-Historiker, er wird niemals Philosophieprofessor. Seine Bewerbung auf einen philosophischen Lehrstuhl in Basel, wo er von 1869-1879 klassische Philologie lehrt, bleibt erfolglos. 1872 erscheint die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Sie stößt in der philosophischen Fachwelt auf Nichtbeachtung und bei den Philologen auf leidenschaftlichen Widerspruch (v. Wilamowitz). Das Tragödienbuch ist das maßgebliche kunstphilosophische Frühwerk, in bens sein
ren vor
dem der antike Boden bereitet wird, auf den sich der späte Nietzsche trotz aller Selbstkritik auch nach dem Zarathustra wieder zurückstellt. Nietzsche, der Antichrist, setzt der christlichen moralischen Metaphysik eine vom Griechischen herkommende ästhetische Antimetaphysik entgegen, eine Artisten-Metaphysik, deren Motto die letzten Worte Nietzsches sind: „Dionysos gegen den Gekreuzigten". -
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2.
Die Geburt der Tragödie
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der apollinische
Dionysos als Kunst-Gottheit
Worin sah Nietzsche selbst das Neue in seinem Blick auf die Alten? Die zwei entscheidenden Neuerungen des Tragödienbuchs sind einerseits das Verständnis des dionysischen Phänomens bei den Griechen und zum anderen der Neuzugang zum Sokratismus. Zwei Hauptgedankengänge beschäftigen Nietzsche: die Geburt der Tragödie durch das Dionysische und der Tod der Tragödie durch das Sokratische. Gegen Sokrates als Wegbereiter der christlichen Religion steht Dionysos, der Antichrist, der Künstler-Gott. Das
Günter
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Wohlfart
Dionysische ist das Antichristliche. Gegen die moralische Deutung des Daseins, verkörpert in Sokrates, setzt sich Nietzsche im Tragödienbuch durch die Kunst-Religion des außermoralischen Gottes Dionysos zur Wehr, durch eine Artisten-Metaphysik, in der das Dasein nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt erscheint. Sokrates ist die Personifikation der apollinischen Klarheit und Heiterkeit, des Lichts des Wissens und der Selbsterkenntnis. Dionysos dagegen repräsentiert den dunklen Grund des bacchantischen Taumels und Tanzes, die Selbstvergessenheit des Rausches der Liebe. Das Apollinische und das Dionysische sind bekanntlich die beiden Fundamentalkategorien von Nietzsches Ästhetik. Das Ergebnis der Kopulation beider
im heraklitisehen Sinne harmonisch entgegengesetzter Kunsttriebe ist für Nietzsche nicht nur die Geburt der attischen Tragödie, sondern der Kunst überhaupt, die ihrerseits wiederum eine Schlüsselrolle in seiner Philosophie spielt. Die Kennzeichnung des ästhetischen Zustands als eines tragisch-dionysischen Zustands lassen allerdings bereits im Erstlingswerk eine Präponderanz des Dionysischen gegenüber dem Apollinischen erkennen, die sich beim späten Nietzsche immer mehr verstärkt. Das Dionysische ist insofern das eigentliche Novum der Kunst-Philosophie Nietzsches. Es ist der Gegenbegriff, durch den der frühe Nietzsche zum Herold einer antiklassizistischen Ästhetik und der späte Nietzsche zum Lehrer einer antichristlichen Kunst-Religion der ewigen Wiederkunft und des Willen zur Macht wird. Der apollinische Dionysos, der für Nietzsche zur Kunstgottheit par excellence wird, ist und dies ist weniger bekannt Dionysos Zagreus. Aus seinem Geiste ist die Tragödie geboren. Er ist die eigentliche Schlüsselfigur des frühen Tragödienbuches wie auch der tragischen Spätphilosophie. Der orphische Zagreus-Mythos, in dem der von den Titanen zerrissene Dionysos von Apoll wieder zusammengefügt wurde, ist für Nietzsche die Mysterienlehre der Tragödie, der tragische Mythos. Auf diesem Unterboden wächst Nietzsches Zukunftsästhetik, und zwar nicht nur die Artisten-Metaphysik des jungen Nietzsche; auf diesen Boden stellt sich am Ende auch der späte Nietzsche der Götzen-Dämmerung, der letzte Jünger des Dionysos zurück. Wie Nietzsches Bekanntschaft des orphischen Zagreus-Mythos durch Clemens Alexandrinus, Creuzer und Lassalle u.a. beweist, ist das berühmte Gegensatzpaar Apollinisch-Dionysisch keineswegs eine Erfindung Nietzsches, wie mitunter immer noch angenommen wird. Nietzsche hat seine eigene ästhetische Theorie konzipiert, in dem er sich die Gedanken von Creuzer, Lassalle, Michelet und A. Feuerbach u.a. zu eigen gemacht und weitergeführt hat. Entscheidend ist: Der gemäß dem orphischen Mythos von Dionysos Zagreus aus seiner asiatischen Zerrissenheit gerettete und von Apoll wieder zusammengefügte apollinische Dionysos wird für Nietzsche zu der Kunstgottheit schlechthin und mithin zur Schlüsselfigur seines Philosophierens. Der ,zweimal Geborene' (Dio-nysos), der wiedergeborene' Dionysos wird zum Gegenbild des Gekreuzigten. Die dionysische Kunst-Metaphysik steht gegen die christliche Moral-Metaphysik. Der apollinische Dionysos ist die Personifikation der harmonisch-gegenstrebigen Vereinigung (vgl. Heraklit Fragment B 8, B 10 u. B 51) der einander entgegengesetzten Kunsttriebe des Apollinischen und des Dionysischen. Als solcher ist der apollinische Dionysos die göttliche Personifikation der Kunst als der höchsten Form des Willens zur Macht nämlich über Entgegengesetztes. Mittags, im Augenblick der Epiphanie des -
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Artisten-Metaphysik
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apollinischen Dionysos, erscheint alles als schön und gut (vgl. Heraklit, Fragment B 102). Die vollkommen gewordene und als ästhetisches Phänomen gerechtfertigte Welt erscheint als ein sich selbst gebärendes Kunstwerk. Mit seinen ästhetischen Reflexionen im Rekurs auf die Alten hat Nietzsche vor über 100 Jahren Fragen an die Kunst gerich-
tet, deren Aktualität im Bereich der vormals sogenannten .bildenden Kunst', z.B. durch die Arbeiten von Duchamp, Warhol („All is beautiful") und Beuys („Alles ist Kunst") u.a. augenfällig wurde, Fragen, die auch heute noch offen sind.
3.
die
Der Zarathustra -
ewige Wiederkunft als ästhetische Epiphanie
Der Gedanke der ewigen Wiederkunft ist der Grundgedanke des Zarathustra und der ,abgründlichste Gedanke' des späten Nietzsches. Die Ewigkeit der Wiederkunft kann nur aus dem Augenblick begriffen werden (vgl. „Vom Gericht und Rätsel"). In diesem ungeheuren Augenblick der ,Zeit ohne Ziel' erfahrt der Mensch die eigentliche Aufgabe seines Lebens. Der göttliche Augenblick der Ewigkeit der Wiederkunft ist nun nichts anderes als der Augenblick des ästhetischen, d.h. des tragisch-dionysischen Zustands. Er ist der höchste Zustand von Bejahung des Daseins (amor fati), in dem der Nihilismus der Überdruß am Menschen und an allem Dasein überwunden wird. Der tragischdionysische Zustand ist der Zustand, in dem der Gedanke der ewigen Wiederkunft auch des Kleinsten und Nichtigsten ausgestanden wird. Der Augenblick höchster WeltVollendung, der göttliche Augenblick ,plötzlicher Ewigkeit', in dem die Welt vollkommen wird, wie Nietzsche mit Emerson sagt, dieser dionysische Augenblick, in dem der lachende Gott Dionysos durch uns tanzt, ist der Augenblick der ewigen Rechtfertigung der Welt als ästhetisches Phänomen. Mit dieser Erfahrung, der zur stillsten Stunde des vollkommenen Mittags (vgl. „Mittags"), sich ereignenden taghellen ,intuitio mystica', hat Nietzsche den eigentlichen Zweck und die Grunderfahrung seines Philosophierens ausgesprochen. Sie ist zugleich die Grundkonzeption seines Zarathustra. In der Schönheit sind Gegensätze gebändigt: das höchste Zeichen von Macht, nämlich über Entgegengesetztes. Im apollinisch-dionysischen Augenblick des Schönen als dem Augenblick der plötzlichen Ewigkeit der Wiederkunft wird die Erfahrung des Gegenstoßes und der Koinzidenz von Vergangenem und Zukünftigem im gegenwärtigen Augenblick gemacht; Ewigkeit wird verzeitlicht, Zeit verewigt. In diesem Augenblick wird die Zeit in die bzw. in der Über-Zeit des Mittags-Augenblicks plötzlicher Ewigkeit aufgehoben. Zarathustra lehrt aus dem Übermenschen heraus die Wiederkunft. Der Übermensch ist der überindividuelle, schöpferische Mensch, der im ausgehaltenen Augen-Blick in die Tiefe der Welt sub specie des ,großen Jahres der Wiederkunft' (vgl. „Der Genesende") über sich selbst hinauswächst und sein individuelles Selbst im tragisch-dionysischen Zustand vergißt. Der Übermensch ist nicht der Mensch mit dem übergroßen Ego, sondern umgekehrt der über sein Ego und dessen Willen hinauswachsende, es überwindende Mensch. Der Übermensch Nietzsche nimmt den Begriff von Goethe auf- ist für ihn, ähnlich wie für Goethe und Herder, ein Synonym für das Genie. Der Übermensch ist der Mensch, der einen Augenblitz in den ,Brunnen der Ewigkeit' wirft. Der Übermensch ist der ,Blitz', der im Augenblick des kürzesten Schattens -
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Wohlfart
in den ,Mittagsabgrund' der ewigen Wiederkunft fällt. Der Augenblick der ewigen Wiederkunft ist der Augenblick der ästhetischen Epiphanie des apollinischen Dionysos, d.h. des außermoralischen Künstlergottes Dionysos-Zagreus. Nach Nietzsches ArtistenEvangelium ist die Kunst, nicht die Religion, die „metaphysische Tätigkeit" des Lebens. Die Kunst, dieses „größte Stimulans des Lebens", ist das Organon der Philosophie der ewigen Wiederkunft. Nietzsches Grundlehre der ewigen Wiederkunft ist eine Metaphysik der Kunst, eine antichristliche Kunst-Religion, eine .Artisten-Metaphysik'.
4.
Der Wille zur Macht und die ewige Wiederkunft als die zwei Gesichter des Aion Die Schlüsselfunktion von Heraklits Fragment B 52 -
Seit über 100 Jahren bemüht man sich um die Interpretation und Bewertung der magischen Formel vom Willen zur Macht. Vor fast 100 Jahren (1901) erschien zuerst die zum Teil auch heute noch kanonische, epochemachende Kompilation aus Nietzsches Nachlaß unter dem Titel Der Wille zur Macht, die man bis hin zu Heidegger für Nietzsches eigentliches Hauptwerk hielt, die aber spätestens seit der Arbeit von Colli und Montinari als Fälschung erwiesen ist. Die längst zum Schlagwort gewordene und nicht zuletzt auch politisch mißgedeutete Lehre vom Willen zur Macht(ergreifung) bezeichnet in Wahrheit ein nie zur Ausführung gekommenes Projekt Nietzsches. Was ist der Wille zur Macht, dieses „letzte Faktum, zu dem wir herunterkommen"? Im Gegenzug zu Schopenhauer kritisiert Nietzsche den freien Willen als „verhängnisvolle Philosophen-Erfindung" und wiederholt mehrfach: „Es gibt keinen Willen", andererseits aber betrachtet er den Willen zur Macht als „Essenz der Welt", als das „innerste Wesen des Seins". Wie geht das zusammen? Das geht nur zusammen, wenn der Wille zur Macht ein Wille ohne Willen ist, ein Wille ohne ein Ich, das will. Mit seiner Konzeption des Willens zur Macht geht Nietzsche offenbar hinaus über den Gedanken eines individuellen Willens eines Kraftprotz-Übermannes (Holingdales Übersetzung des Übermenschen durch „Superman"), wie er sich ausspricht im ,Ich will'. Dies wird besonders deutlich im 1. Stück des Zarathustra, „Von den drei Verwandlungen". Nachdem der Geist zum Kamel wurde, dem befohlen wird ,Du sollst]', wird er zum Löwen, dessen Geist sagt: ,ich will. Am Ende aber muß der Geist zum Kind werden. Es spielt. Dies ist seine dritte und tiefste Verwandlung, in der nicht nur das christlich-moralische ,Du sollst', sondern auch das heroische ,Ich will' überwunden werden muß, um die göttliche Unschuld des Kindes und des Künstlers, das „heilige Ja-Sagen" im Spiel des Schaffens zu gewinnen. Der Übermensch ist nicht die ,blonde Bestie', sondern der den Löwen-Geist und sein ,ich will' überwindende Mensch, dessen Geist zum Kind wird. Und wieder müssen wir zurück ins tragische Zeitalter der Griechen, um Nietzsche zu verstehen. Antikes Vorbild des selbstvergessenen Subjekts des Willens ohne Willen ist das spielende Kind in Heraklits Fragment B 52, in dem das Lebensspiel bzw. die WeltZeit, d.h. der Aion als ein spielender Knabe beschrieben wird. („Aion pais esti paizon [...]" „Der Aion ist ein spielender Knabe [...]") Heraklits spielender Knabe ist die Präfiguration von Nietzsches spielendem Kind nach der dritten Verwandlung des Geistes, d.h. es ist eine Präfiguration des Übermenschen. Dieses Fragment, sowie Nietzsches
37 Artisten-Metaphysik Umdeutung in sein eigenes Denken, erweist sich als Schnittpunkt, in dem sich die Verbindungslinien treffen, die vom frühen Nietzsche der Geburt der Tragödie und seiner Kunstphilosophie zum späten Nietzsche des Zarathustra und seiner Philosophie der
Wiederkunft und des Willens zur Macht führen und es erlauben, diese beiden schwersten Gedanken der ewigen Wiederkunft und des Willens zur Macht zu verknüpfen: Der Aion ist in Nietzsches Heraklit-Deutung als .großes Jahr' der Welt-Zeit eine göttliche Personifikation der ewigen Wiederkunft. Der Name des Welt-Spiels, das der Aion als Welt-Kind spielt, ist: der Wille zur Macht. Der Aion, in dessen ziellosem Spiel ein Wille ohne Willen waltet, ist eine göttliche Personifikation des Willens zur Macht. Wille zur Macht und ewige Wiederkunft sind die zwei Gesichter des Aion. Der apollinische Dionysos einerseits und der Aion andererseits verschmelzen in der tragischen Spätphilosophie Nietzsches zu dem Gott der ,Artisten-Metaphysik' der ewigen Wiederkunft und des Willens zur Macht als Kunst.1
ewigen
5.
Die Relevanz Nietzsches in postmodernen Zeiten
Nietzsche
wie gesagt gelernter Altphilologe. Diese in ihrer Relevanz für seine bisher wohl zu wenig beachtete Tatsache mag ein Grund sein für den nahePhilosophie zu unvermittelten Sprung vom Boden der Antike auf die Spitze der von ihm scharf kritisierten Moderne, der insbesondere Nietzsches ästhetische Reflexionen auszeichnet. Nach Nietzsche können wir zuerst von den Griechen lernen, was wir selbst erfahren. Im Tragödienbuch betont er die innerste Abhängigkeit jeder Kunst von den Griechen, die er nicht nur in Sachen Kunst als „allerhöchste Lehrmeister unserer Kultur" rühmt. Der christliche Gort ist tot, und mit ihm starb die Metaphysik. Deshalb ist nach Nietzsche zurückzugehen in vormetaphysische Zeiten, d.h. zur vorsokratischen Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. Nietzsches philosophische Paläontologie zielt auf ein schrittweises Wiedergewinnen des antiken Bodens, vor allem auf die Ausgrabung des verschütteten Denkens der Vorsokratiker, in dem er nicht wie vor ihm Hegel etwas bloß Vorläufiges sah, sondern wie nach ihm Heidegger etwas Vorbildliches. Nietzsches Regression ist Progression. Nietzsche versteht seinen Rückgang zur vorplatonisch-vormetaphysischen Philosophie und Mythologie als ein Anlaufnehmen („reculer pour mieux sauter") zum Vorsprung in eine Zukunftsästhetik („Erst das Übermorgen gehört mir"). Zur Zeit der Entstehung des Tragödienbuches sah er sie im Werk Wagners präfiguriert. Später erkannte er die erträumte Wiedergeburt der Tragödie aus dem Geiste der Wagnerischen Musik als Fehlgeburt. Weil die Wurzeln des Nietzscheschen Denkens so radikal hinabreichen in die Antike, zum griechischen Mythos und zu den Vorsokratikern, zu Heraklit als der ursprünglichen Wurzel der Philosophie des frühen wie des späten Nietzsche in der Tat bleibt Heraklit durch alle Entwicklungsstufen sein Hauptgewährsmann, reichen die Äste des Nietzscheschen Baums der Erkenntnis in artibus so weit hinauf in die Spitze der Moderne, die man Postmoderne nennen kann. war
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Vgl. dazu näher G. Wohlfart, Also sprach Herakleitos, Freiburg/München
1991.
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Wohlfart
Ausgrabung des Tempels der Vorsokratiker, sein Wille zur Renaissance tragischen Philosophie Heraklits, dessen Porträt ihn schon früh zum Selbstporträt gerät, kann als Vorspiel einer ästhetischen Theorie der Postmoderne angesehen werden. Nietzsches insbesondere auf praemetaphysischen Einsichten Heraklits beruhende Erfahrung vom Spiel des Lebens (Heraklit, Fragment B 52) als ästhetischem ,Welt-Spiel', von der Harmonie des Gegenstrebigen (Fragment B 8, B 10, B 51) und der Ubiquität des Schönen (Fragment B 102) auch im Häßlichen (B 124), macht ihn zu einem Großvater einer postmetaphysischen Postmoderne. Nietzsches Postvorsokratismus ist ein Vorpostmodernismus. Nietzsches
der
6.
Der Tod des
Ego
Moderne und -
Vorpostmoderne
„Gott ist tot". Die Zeit des christlichen Mittelalters ist ihrer höchsten Bestimmung nach für uns ein Vergangenes. „Wir beugen das Knie nicht mehr". Wenn das Licht des Christentums nach Jahren noch immer leuchtet, so ist dies dem Leuchten eines Lichtjahre
entfernten Sterns vergleichbar, der in Wahrheit längst erloschen ist. An die Stelle Gottes ist in der Neuzeit das Ego getreten: Es ist zum Credo der Moderne geworden. Descartes, der philosophische Anfänger der Moderne bezeichnet in seinem berühmten Discours de la méthode den Satz „Je pense, donc je suis" („cogito ergo sum") als „premier principe de la philosophie"2. Er wurde zum philosophischen Grundsatz der Neuzeit, d.h. der Moderne im weiteren Sinne. Die ,heuristische' Fiktion des „ego sum, ego existo"3 ist der ,archimedische Punkt', von dem aus Descartes die mittelalterliche theozentrische Philosophie aus den Angeln gehoben hat. Das cartesische „ego sum res
cogitans"4.
Kant, der Königsberger .König der Aufklärung' im kritischen Zeitalter der Moderne kritisiert Descartes. Das cartesische ,denkende Ding' wird bei Kant zur bloßen ,Denkbedingung'. Dennoch steht Kant insofern auf den Schultern des Descartes, als seine Transzendentalphilosophie Subjektphilosophie und die kritische Vernunft eine subjektzentrierte Vernunft bleibt. Der erste Satz der Kantischen ,Anthropologie' lautet dementsprechend bezeichnenderweise: „Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle anderen auf Erden lebende Wesen." Nietzsche, der Großvater der Postmoderne gab den Anstoß dafür, daß das Subjekt seitdem aus dem Zentrum .ins X rollt'. Er entlarvt die vermeintliche Erhabenheit des ego als Überheblichkeit. Er entdeckt das subjectum im wörtlichen Sinn als Unterworfenes -, als Niedriges, Abhängiges, als einen unser Denken und unsere Vorstellung begleitenden Schatten. Wittgenstein, der Vater der Postmoderne wird wenig später sagen: „Das denkende, vorstellende Subjekt gibt es nicht".5 2 3
4
Vgl. R. Descartes, Discours, TV, 1 u. 3. Vgl. ders., Meditationes, 2, 3 u. 8. Vgl. ebenda, 2,9 u. 14. L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 5.631.
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Artisten-Metaphysik
Er enthüllt „dieses Ich, oder Er, oder Es (das Ding), welches denkt", „das Wesen, welches in uns denkt"6 als Un-ding, als no-thing, als eine, wenn auch unvermeidliche, Illusion. So wie die Sonne jeden Morgen über uns aufzugehen und jeden Abend unterzugehen scheint, so erwacht jeden Morgen in uns von neuem die Illusion eines Ich, um in den Träumen der Nacht wieder zu verschwimmen, wie ein Spiegelbild in bewegtem Wasser oder wie ein Gesicht im Sand am Meeresufer. Anders gesagt: das Ich ist eine
perspektivische Illusion, gleichsam ein Fluchtpunkt von Denkperspektiven. Nietzsche versichert: „Das ,Subjekt' ist ja nur eine Fiktion; es giebt nicht".7
das
Ego
gar
Nach Nietzsche gilt es dem Aberglauben an ein denkendes Wesen als einen neuzeitlichen Zeus, der Gedankenblitze schleudert, abzuschwören. Nach dem Tod Gottes in postchristlichen, modernen Zeiten steht uns nun der Tod des Ego% in postmodernen Zeiten bevor. Das in der Gegenwartsphilosophie noch immer heiß umstrittene Theorem vom Tod des Ego vor allem im Kreis neokantianischer Kritiker laboriert man unverdrossen an lebensverlängernden modernen Projekten soll seiner zentralen Bedeutung wegen hier noch etwas verdeutlicht werden: .Ich denke' heißt in Wahrheit: ,Es denkt (in mir)'.9 Dies ,Es' ist kein Ding, kein Wesen, sondern das Denken selbst. ,Es denkt' heißt: .Das Denken denkt', Denkvorgänge spielen sich ab. Das Ich spielt keine Denkspiele bzw. Sprachspiele, das Ich ist vielmehr diese Spiele selbst. Es gibt weder einen feststehenden (archimedischen) Ich-Punkt noch ein „stehendes und bleibendes Ich"10 bzw. einen Ich-Begleiter, sondern Ich-Punktuationen, sozusagen ,Ego-Quanten'. Es gibt keinen absoluten Ego-Monarchen, sondern eine Familie ähnlicher, in verschiedenen Relationen stehender Egos, um hier den Wittgensteinschen Begriff der Familien-Ähnlichkeit aufzunehmen, der bereits bei Nietzsche in sprachphilosophischem Kontext vorkommt". Was wir die Identität des Ego nennen ist die jeweilige Identifikation dieser Egos. Die Nietzschesche ,Egokernspaltung' zeigt: Es gibt ebensowenig ein In-dividuum als subjectum wie es ein A-tom als Substratum gibt. Die Suche nach einem vermeintlichen ,Kern des Ich' verläuft wie die Suche nach dem ,Kern' der Zwiebel: was bleibt ist zum Heulen! Um ein anderes Bild zu gebrauchen: Das ,Ich' gleicht einer auf den Strand zulaufenden Meereswelle: Man glaubt ein und dieselbe Wassermasse zu sehen, die sich auf den Strand zubewegt. In Wahrheit handelt es sich um jeweils verschiedene Wassermassen, deren Bewegung sich durch Rotation fortpflanzt und so den Eindruck eines einzigen -
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6
Vgl. I. Kant, KrV, A 346, B 404 u. A 401. Nietzsche, Die nachgelassenen Fragmente, hg.
v. Günter Wohlfart, Stuttgart 1996, 213. Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag des Verfassers in japanischer Sprache in: Menschenontologie, Kyoto 1999 sowie in: Das spielende Kind. Nietzsche, Nachvorsokratiker-Vorpostmoderner, Essen
1999, Kap. 7.
10 11
Im Schwäbischen bzw. Badischen sagt man auch heute denke". Vgl. KrV, A 123. KSA, JGB, 5, 34.
gelegentlich noch: „Es denkt mir" statt „Ich
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Wellenberges erzeugt. Unsere Denkbewegungen erzeugen die Illusion jenes ,Wellenberg-Ichs'! Das eine zugrundeliegende ,Ich' wird zur Vielheit seiner Vorgänge lediglich hinzugedacht. Das Denken ist einem Ensemble von Denkprozessen vergleichbar. Die mehr oder weniger konzertierte Aktion unseres Denkens führen wir auf einen Konzertmeister, einen Dirigenten zurück auf unser ,Ich'. In Wahrheit ist die Situation aber die, daß der Dirigent das Stück, das gespielt wird, nicht oder nur teilweise kennt, er läßt sich vom Orchester dirigieren! Seine Majestät das ,Ich' ist in Wahrheit nur ein ,Hirnwicht', ein ,Hirngespinst', oder neuro-physiologischer ausgedrückt „die Benutzersich nähernden
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Illusion des Gehirns seiner selbst" (D. C. Dennett). Auch hier war Nietzsche seiner Zeit und manchen Denkern unserer Zeit, die den Rückweg von Nietzsche zu Kant antraten, -
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voraus.
7.
Nachbemerkungen zur Nietzsche-Rezeption
Die nunmehr über 100 Jahre währende Nietzsche-Rezeption12 zeigt, daß die von Nietzsche vergeblich ersehnte, erst kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch einsetzende Resonanz aufsein Werk seitdem stark zunahm und noch weiter zunimmt. Der ,Dichterphilosoph', für den Philosophie mehr mit Lebens-Weisheit als mit Wissenschaftstheorie zu tun hatte, wirkte nicht nur durch den philosophischen Gehalt seiner Schriften, sondern auch durch deren z.T. poetisch-prophetischen Stil und nicht zuletzt durch seinen Lebensstil auf Philosophen wie Heidegger und Jaspers, Camus und Sartre; auf Psychologen wie Freud und Jung; Mystagogen wie Spengler und Steiner; auf Dichter wie Benn, George, Gide, Hesse, Hofmannsthal, Malreaux, Heinrich und Thomas Mann, Morgenstern, Musil, O'Neill, Rilke, Shaw, London u.a., sowie in vielfältiger Weise auf die Kunst in unserem Jahrhundert. Noch vor der Epochenschwelle zu Beginn dieses Jahrhunderts in der bildenden Kunst z.B. gekennzeichnet durch ein Phänomen wie die „absence de l'oeuvre" beim ,object trouvé' (Duchamp) -, hat Nietzsche in seiner ,Zukunftsästhetik', insbesondere durch seine Umdeutung des Kunstbegriffs (Die Welt als Kunst, anstatt einer Welt der Kunst der Kunstwerke), mehr als die meisten KunstTheorien der Gegenwart etwa die Heideggers dazu beigetragen, den Geist der Kunst des 20. Jahrhunderts und damit den Geist unserer Zeit in Gedanken zu fassen. Nachdem Nietzsche, der durch leicht mißverständliche Schlüsselbegriffe wie Übermensch' und ,Wille zur Macht', sowie durch provokative Sentenzen Mißdeutungen als Protonationalsozialist (z.B. durch Bäumler) Vorschub leistete, insbesondere im Ostblock, lange Zeit als Wegbereiter des Faschismus und „Vorläufer der faschistischen Ästhetik" (Lukács) geächtet war, erfreut er sich heute dort, insbesondere in der ehemaligen DDR, wachsender Beliebtheit. Die überaus verdienstvolle Arbeit der Herausgeber -
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Vgl. 100 Jahre philosophische Nietzsche-Rezeption, hg. v. A. Guzzoni, Weinheim 1991 u. Nietzsche-Studien, Bd. 10/11, Aufnahme und Auseinandersetzung, Friedrich Nietzsche im 20. Jahrhundert, hg. v. W. Müller-Lauter u. V. Gerhardt, Berlin/New York, 1981. Vgl. auch das dreibändige, z.T. bereits in 2. Auflage erschienene Werk von Richard Frank Krummel, Nietzsche und der deutsche Geist, Berlin/New York 1998.
Artisten-Metaphysik
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der ersten kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches, Colli und Montinari, ¡st ein Indiz für die seit langem bis in unsere Tage (z.B. bei Vattimo u.a.) anhaltende Resonanz in Italien. Die Rezeption der prae-postmodernen ,Artisten-Metaphysik' Nietzsches hält in Frankreich bis in die Gegenwart ungebrochen an (Derrida, Deleuze, Foucault, Bataille, Lacan u.a.). Seit Kaufmanns Nietzsche-Arbeiten hat sich auch in den USA die Auseinandersetzung mit Nietzsche verstärkt (Behler, Danto, Rorty u.a.). In Ostasien ist Nietzsche zusammen mit Heidegger z. Zt. der am meisten rezipierte deutsche Philosoph13. Er hatte recht als er sagte: „Erst das Übermorgen gehört mir".
Vgl. Nietzsche and Asian Thought, ed. by Gr. Parkes, Chicago/London 1991. Ich habe versucht, ein wenig zu dieser Rezeption in Ostasien beizutragen. Die von mir herausgegebenen nachgelassenen Fragmente erscheinen in Kürze in chinesischer Sprache.
Volker Ebersbach
Nietzsche im Garten Epikurs
„Eine Haupteigenschaft: ein verfeinerter Heroismus (den ich übrigens auch bei Epikur anerkenne). In meinem Buche giebt es kein Wort gegen die Todesfurcht. Ich habe wenig davon."
Friedrich Nietzsche, Memoramilia, KSA, NF, 8, 506.
Auftakt: „Wo wollen wir den Garten Epikurs erneuern?" Nach einem physischen und psychischen Tiefststand im Winter 1878/79, einem Tiefstand seines allgemeinen Lebensgefühls, gelingt es Friedrich Nietzsche, sich von den Baseler Lehrverpflichtungen entbinden zu lassen und mit 3 000 Fr. Jahresgehalt, drei Vierteln des vollen, vorzeitig pensioniert zu werden. An Heinrich Köselitz in Venedig schreibt er am 30. September 1879: „Ich habe der Stadt Naumburg ein kleines burgartiges Stück der mittelalterlichen Stadtbefestigung abgepachtet, um hier Gemüse zu bauen auf 6 Jahre (!-!), wie es Brauch ist. Alles ist grün und buschig umwachsen; in einem Thurme der Mauer wird ein langes Zimmer (sehr alterthümlich ) für mich zum Wohnen hergerichtet. Ich habe 10 Obstbäume, Rosen Lilien Nelken Erdbeeren Stachel- und Johannisbeeren. Im Frühjahr geht meine Arbeit an, auf 10 Gemüsebeeten. Alles ist mein Gedanke, und ich habe Glück dabei gehabt. Bei diesen Zukunftsspinnereien spinne ich mitunter auch den lieben Freund in Venedig mit in mein Thurm-Netz hinein sehr dreist, nicht wahr?"1 Vielleicht hat Nietzsche, als er diese Zeilen nach dem Herbstanfang schrieb, am Beginn der dunkelsten Jahreszeit, selbst geschmunzelt. Aber schrieb nicht auch Montaigne seine „Essais" in einem wohnlich eingerichteten mittelalterlichen Turm?2 Der Garten und das Mittelalter eine sonderbare Mischung! Wir finden sie in „Der Wanderer und sein Schatten", jenem abgründigen Anhang zum Zweiten Teil von Menschliches, Allzumenschliches, dicht beieinander: „,Dunkel-Zeiten' nennt man solche in Norwegen, da -
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KSB 5, 448f. W. Ross, Der ängstliche Adler, München 1994, 547.
Volker Ebersbach
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die Sonne den ganzen Tag unter dem Horizonte bleibt: die Temperatur fallt dabei fortwährend langsam. Ein schönes Gleichniss für alle Denker, welchen die Sonne der Menschheits-Zukunft zeitweilig verschwunden ist."3 Der folgende Aphorismus lautet: „Der Philosoph der Ueppigkeit. Ein Gärtchen, Feigen, kleine Käse und dazu drei oder vier gute Freunde, das war die Ueppigkeit Aber saure mitteldeutsche Beerenfrüchte statt Feigen? Sauerkirschen statt Oliven? Stiefmütterchen statt Hibiskus und Oleander? War ihm schon drei Jahre zuvor im mitteldeutschen Bayreuth nicht Tribschen wie „eine ferne Insel der erschienen? Nietzsche kannte Epikur zu gut, um sich auf Dauer derart zu verschätzen. Useners Epicúrea erschienen erst 1887. Aber durch seine Beschäftigung mit den Quellen des Diogenes Laertios, der das ganze Zehnte Buch seines Werkes Leben und Lehre der Philosophen auf Epikur verwendet, war Nietzsche schon als Leipziger Student auf das Schulhaupt des Kepos, den Philosophen des „Gartens", gestoßen und sogleich zu einem Kenner geworden. Mißdeutungen Epikurs durch Übersetzer-Willkür war Nietzsche mit seinem Griechisch gewiß nicht ausgesetzt. Auch das epikureische Lehrgedicht des Lukrez, De rerum natura, war dem Pfortenser gut bekannt. Der Naumburger Soldat schwärmt in einem Brief an den Freund Erwin Rohde am 3. 11. 1867 rückblickend von einem „Leben in freister Selbstbestimmung, im epikureischen Genuß der Wissenschaft und der Künste, in einem Kreise von Mitstrebenden".6 Während der Genesung von seinem Reitunfall weist er am 15. 4. 1868 in einem Brief an Prof. Friedrich Zarncke auf seine Kompetenz als Rezensent in Sachen Epikur und anderer von Diogenes Laertios behandelter Philosophen hin. Rohde gegenüber beklagt er, wieder in Leipzig, am 9. 12. 1868, wie wenig die „Philosophiehistoriker" sowohl dem Demokrit als auch dem Epikur „gerecht werden können, da sie frumb sind".8 Dann erwähnt er den Philosophen lange nicht. Erst während der Baseler Verdüsterungen scheint er sich auf seinen Garten zu besinnen. Es freut ihn, daß ihm eine „lateinische Abhandlung über gewidmet werde. Den kurzsichtigen Besucher römischer Museen beeindruckt der „antike Kopf Epikurs" an einem Ort, wo „Menschen die heilige Treppe hinauf knieen!"10, und an „Epicur's Büste", findet er, sind „Willenskraft und Geistigkeit... im höchsten Grade Von der Entzifferung der Papyri aus Herculaneum erhofft er, der „Democritea und Epicúrea" früher „eifrig genug" getrieben hat, sich eine „Aufdeckung echter Schriften Es sind Freunde höchst unterschiedlicher Art, denen Nietzsche seine Neigung zu Epikur eröffnet. Am 31. 10. 1879 versichert der neue Naumburger Kleingärtner seinem -
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Epikur's."4
Glückseligen"5
Epicur"9
...
ausgeprägt."11
Epicur's!"12
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KSA, MA II, 2, 638 [191]. Ebenda.
KSA, EH, 6, 323. KSB 2, 234. Ebenda, 266. Ebenda, 350. KSB 6, 147. An Franz Overbeck, 20. 5. 1883, KSB 6, 379. An Heinrich Köselitz, 1. 7. 1883, KSB 6, 389. Aus Sils-Maria Ende August 1883 an Heinrich Köselitz, KSB 6, 441 f.
Nietzsche im Garten Epikurs
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Freund Paul Rée in Stibbe: „Viele Wünsche habe ich aufgeben müssen, aber noch nie den, mit Ihnen zusammenzuleben mein ,Garten Epikurs'!"1 Er wird dem Türmchen und dem Schatten der Stadtmauer bald entfliehen. Schon ein halbes Jahr zuvor, am 26. 3. 1879, hat er auf einer Postkarte Heinrich Köselitz, der in Venedig komponiert, gefragt: „Wo wollen wir den Garten Epicurs erneuern?"14 Die Frage wird immer offen bleiben. -
I.
Nietzsche im Garten Epikurs
mit -
Wohlgefallen
Naturphilosophie und die Götter Der junge Philologe Nietzsche ließ sich von 1.
Die
dem Philosophen Schopenhauer in einen fuhren und wußte zunächst noch nicht, ob er einen Klostergarten betreten hatte oder den Garten Epikurs. Stellen wir uns einmal vor, der Frühpensionär Nietzsche hätte in seinem Naumburger Turmzimmer, über grauen Himmel und spärliches, welkendes Grün seufzend, eine Geheimtür gefunden und die Hinterlassenschaft eines mittelalterlichen Alchimisten und Tausendkünstlers entdeckt, einen Apparat, der ihn statt zu einer „Hadesfahrt" zu einer Zeitreise befähigte! Nehmen wir an, er hätte Diogenes Laertios darin als Lotsen begrüßt, der den Epikureern vermutlich nahe genug gestanden hat, um ihren Garten zu finden.15 Stellen wir uns einmal vor, Nietzsche vertauschte in einem Traum oder mittels des genannten Apparates den einem Klostergarten ähnlichen Winkel an der Naumburger Stadtmauer mit Epikurs Garten am Rand des antiken Athen, in jenen „politisch geschwächten Zeiten", denen die Kultur, wie er es sah, „das Allerhöchste" Frankreich zu seiner Zeit etwa „verdankt".16 Was sähe und hörte er dort mit Wohlgefallen? Wenn hier auch Sätze Epikurs herangezogen werden, die Nietzsche vielleicht noch nicht gekannt hat Useners Epicúrea erschienen 1887, und die Vatikanische Spruchsammlung wurde erst 1888 entdeckt so mag dies doch erlaubt sein, weil Nietzsche durchaus in der Lage war, das, was er durch Diogenes Laertios kannte, selbst
Zaubergarten
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gedanklich fortzusetzen. Die „kosmologische Weltanschauung"17, moderner, aber nicht besser gesagt: die ganzheitliche Weltsicht war es, die Nietzsche an den Vorsokratikern, insbesondere an Heraklit, bestach. Er hat es Sokrates und Piaton verübelt, alle ethischen Fragen davon abzukoppeln und so weit ins Metaphysische zu ziehen, daß sich die Ethik in fast allen Punkten in einen Widerspruch zu physikalischen Erkenntnissen begab. Wie sollte ihm nicht Epikurs Versuch gefallen, die Ethik wieder auf ein kosmologisch-physikalisches Fundament zu setzen? Selbst Epikurs Weg in die Philosophie muß ihm bekannt erschienen sein: Der auf der Insel Samos aufgewachsene Denker soll mit 14 Jahren zu philoso13 14
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KSB 5, 460.
Ebenda, 399. Vgl. M. Hossenfelder, Epikur, München 1991; Griechische Atomisten. Texte und Kommentare zum materialistischen Denken der Antike, hg. v. Fr. Jürß, R. Müller und E. G. Schmidt, Leipzig 1977; Joh. Mewaldt, Epikur Philosophie der Freude, Stuttgart 1973. KSA, MA I, 2, 300. Joh. Mewaldt, a.a.O., 11. -
Volker Ebersbach
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phieren angefangen haben, weil ein Lehrer ihm bei der Lektüre Hesiods das Chaos nicht erklären konnte. „Woraus entstand das Chaos, wenn es zuerst entstand?" soll er gefragt haben. „Darauf antwortete jener, es sei nicht seine Sache, sondern die der Philosophen, solches darzulegen." Sextus Empiricus überliefert die Anekdote in seiner Schrift Adversus mathematicos}% Daß Nietzsche als Schüler mit der Mathematik zeitweilig auf Kriegsfuß stand, verbindet ihn noch mit anderen Köpfen, deren sonst auffallende Exaktheit dies verwunderlich erscheinen läßt, etwa Stendhal. Alles Mathematische ist eben dem Psychologen nur theoretisch, also nicht physikalisch, nicht praktisch also nicht wirklich. Auf den Konflikt mit der Null, in den Epikur die Atomistik bringt, wird zurückzukommen sein. Einstweilen paßt Epikurs Konflikt bestens in Nietzsches Weltbild, nach dem der Kosmos nur ein Sonderfall des Chaos ist: „Der Gesammt-Charakter der Welt ist [...] das Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Nothwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heissen."19 Daß in einer solchen Welt kein Platz für Götter oder für einen Gott ist wem hätte das rascher eingeleuchtet als Nietzsche. Epikur war nach zahlreichen Asebieprozessen in Athen vorsichtig: Er leugnete die Götter nicht, sondern er verwies sie in „Metakosmien" oder „Intermundien". Damit war der Zweck seiner Aussage über die Götter erfüllt: Von dorther vermochten sie weder lohnend noch strafend in die Geschicke der Menschen einzugreifen. Also hatte der Mensch von ihnen nichts zu erhoffen, aber auch nichts zu befürchten. Epikur verlieh dieser Auffassung noch eine vornehme Extrastütze, die Nietzsche gleichfalls nicht wenig imponierte: Es widerspreche der Natur des Göttlichen, sich in menschliche Belange einzumischen, und nicht der sei gottlos, der die Gottesvorstellung der Masse beseitige, sondern wer den Göttern die Ansichten der Masse Um nichts anderes als „jene wundervolle Einsicht" ging es Nietzsche, wenn er an Gott und die Götter dachte: Um die Aufhebung ihrer anthropomorphen moralischen Relevanz. Dafür bewunderte er den „Seelen-Beschwichtiger des späteren Alterthums": daß er „die Frage, ob es überhaupt Götter gebe, unfruchtbar" nannte und sagte: „Wenn es Götter giebt, so kümmern sie sich nicht um uns ...".21 Wie die Griechen zum heimlichen Mittelpunkt in Nietzsches Denken geworden sind, weil sich ihre Blüte vor Christus entfaltet hatte, so nimmt Nietzsche auch Epikur gern zum Gewährsmann gegen die Kulturgeschichte zweier nachchristlicher Jahrtausende: „Wie es mit der grösseren Wahrheit steht, ist daraus zu ersehen, dass die erwachenden Wissenschaften Punct um Punct an Epicur's Philosophie angeknüpft, das Christenthum aber Punct um Punct zurückgewiesen haben."22 In seinen frühen Leipziger Studien zu Demokrit ist es Nietzsche schon darauf angekommen: „Epikurs Lehre und Leben war für das Mittelalter der Venusberg des Heidenthums."23 Mit Epikur ließ sich schon 1868 -
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anhänge.20
Empiricus, Adversus mathematicos, 10, 18. KSA, FW 3, 468. Epikur, Brief an Menoikeus, 123. KSA, MA II, 2, 543. KSA, MAI, 2, 81. HKG3, 333. Sextus
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Nietzsche im Garten Epikurs
in einem Versuch gegen die metaphysische „Teleologie seit Kant" trefflich zu Felde ziehen. Die „Befreiung von dem Götterglauben d.h. von einer Metaphysik", die „Lucrez mit begeisterten Worten an Epikur preist" ist zugleich eine Befreiung von der Frage, was „Nach dem Tode" komme, von den „Höllenstrafen" des Christentums. „Epikur hatte für seines Gleichen nicht Grösseres zu thun geglaubt, als die Wurzeln dieses Glaubens auszureißen". Vielleicht verdanken wir es Nietzsches Gesprächen mit seinem Freund, dem Theologen Franz Overbeck, wenn er Jesus Christus selbst und seine erste „Gemeinde" von der Bibel trennt und eine quasi-epikureische Sekte in ihnen zu sehen versucht: „Jesus hatte ja die Sünde „Den ersten Christen lag der Gedanke an ewige Qualen ganz fern, sie dachten ,vom Tode' erlöst zu sein", fährt er in der Morgenröthe fort, um den Apostel Paulus, wie er es gern tut, als Dysangelisten zu entlarven, von dem uns erst die Wissenschaft erlösen könne: „das ,Nach dem Tode' geht uns Nichts mehr an! eine unsägliche Wohlthat, welche nur noch zu jung ist, um als solche weit- und breithin empfunden zu werden. Und von Neuem triumphiert Epikur!"28 Die „Wissenschaft" der Neuzeit wird hier mit Wohlgefallen als Wiedergeburt der vorsokratischen und epikureischen Naturphilosophie gefeiert. ,
abgeschafft!"2
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Diät, Einsamkeit und Freundschaft Epikur lehrte, alles, was man zu einem schmerzfreien Leben brauche, sei leicht zu beschaffen, und die „Lust" seiner Lehre sei nicht die der Schlemmer und Prasser.29 Die Epikureer, so überliefert Diogenes Laertios, „waren schon mit etwas Wein der billigen Sorte zufrieden", auch mit „billigem Brot" und einem „Töpfchen Käse".30 Daher nimmt Nietzsche seinen berühmten Satz: „Ein Gärtchen, Feigen, kleine Käse und dazu ' drei, vier gute Freunde, das war die Ueppigkeit Epikur's." Diese bescheidene Diät hatte einen wohlbedachten Zweck: „Der größte Gewinn der Selbstgenügsamkeit ist die 2.
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Freiheit."32
Nietzsches Genügsamkeit hatte, an welchem Ort wir ihn uns auch vorstellen, dasselbe Motiv. Das Modell, wenig zu besitzen und sich mit bescheidenen Genüssen zu begnügen, um sich die Unabhängigkeit zu bewahren, fand im Garten Epikurs sein größtes Wohlgefallen. Aber seine Diät war eine andere: Rohe Eier, Grahambrot, Milch und allenfalls Schinken der zartesten Sorte. Der Gebieter dieser Diät war die rätselhafte Erkrankung, die ihn gerade zu der Zeit seiner „Hadesfahrt" besonders heftig quälte. Am 22. 1. 1879 schreibt er aus Basel nach Florenz an Köselitz: „Meine Gesundheit ist abscheulich schmerzenreich, wie früher, mein Leben viel strenger und einsamer; ich selber im Ganzen lebe fast wie ein Heiliger, aber fast mit den Gesinnungen des ganzen -
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HKG 3, 385. HKG 3, 334. KSA, M, 3, 70. KSA, NF, 13, 177. KSA, M, 3, 70f. Vgl. Epikur, Brief an Menoikeus, 125, und Epikur, Brief an Menoikeus, 130. Diog. Laert. X. 11. Vgl. Anm. 4. Epikur, Vatikanische Spruchsammlung, 11.
Hauptlehrsatz 2.
Volker Ebersbach
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Epikur sehr seelenruhig und geduldig und dem Leben doch mit Freude zusehend."33 Die epikureische „Bedürfnißlehre" war ihm durch seine Demokrit-Studien während der Militärzeit bekanntgeworden.34 Sie blieb ihm auch während der achtziger Jahre eine bewährte Richtschnur, wenn er etwa am 2. 1. 1886 aus Nizza an des Ehepaar von Seydlitz nach München berichtet: „Aber der Magen, der Vater der Trübsal auch bei mir! Jetzt will er, daß ich von Milch, Eiern, Feigen und Grahambrod lebe ich glaube, ächten
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hat Epicur gelebt, der auch am Magen litt. Das Glück, wie es jener Weise verstand, ist das Glück eines Dyspeptikers.""5 Hier stilisiert sich Nietzsche. Denn Epikurs letztes Leiden war vermutlich urologischer Natur, sehr schmerzhaft, aber kurz. „Fast wie ein Heiliger!" Da spricht der Psychologe, der alle Hintergründe asketischer Ideale durchschaut. Schon Schopenhauer, sein neuzeitlicher Lieblingsphilosoph, ist durch die Jahrhunderte christlicher Askese zu ihren antiken Wurzeln zurückgekehrt und beruft sich im Kapitel 3 seiner „Aphorismen zur Lebensweisheit" beim Thema „Von dem, was einer hat" ausdrücklich auf Epikur. 6 Es sind im wesentlichen zwei antike Wurzeln, vor allem die stoische, aber auch, freilich verdeckt, die demokritisch-epikureische. Mit dieser Erfahrung ruft Nietzsches Zarathustra denn auch aus: „Frei steht grossen Seelen auch jetzt noch die Erde. Leer sind noch viele Sitze für Einsame und Zweisame, um die der Geruch stiller Meere weht Wahrlich, wer wenig besitzt, wird um so weniger besessen: gelobt sei die kleine Armuth!"37 Doch Schopenhauers Pessimismus bleibt noch für „asketische Ideale"38 des Christentums, wie sie Nietzsche in der Dritten Abhandlung seiner Genealogie der Moral beleuchtet, offen. Sie fußen auf der Tradition des Stoizismus. Epikur pflegt die Askese zur Erhaltung der Genußfähigkeit: Brot und Wasser sind höchst lecker, wenn man sie eine Weile entbehrt hat. Sein asketisches Ziel ist die „ataraxia", die Seelenruhe, die das Streben nach Luxus stören würde.39 Es ist eine Askese um der Lust willen. Die Stoa hingegen strebt, um Schmerz und Unlust zu vermeiden oder zu vermindern, nach „apathia", nach einer Verminderung der Wahrnehmungsfähigkeit, also nach „Abtötung des Fleisches". Hier hebt Nietzsche natürlich abwehrend die Hände. Das ist die Lustfeindlichkeit des Sokrates, der die Lust, weil sie vergänglich sei, nicht unter die Güter rechnen wollte, so daß Paulus und die Kirchenväter sie nur allzu gern aufgriffen für eine Askese um Gottes willen. An Epikur betrachtet Nietzsche gerade den Sensualismus mit besonderem Wohlgefallen, sind doch die Sinne nicht nur der einzige Zugang zu den Genüssen, ohne die kein Wesen seines Lebens froh wird, sondern auch die einzigen Werkzeuge der Erkenntnis! Wohin kommen wir denn mit dieser Abstumpfung der Sinne! Auch der Geist müßte ja bald veröden! Und so vergleicht er denn auch in der Fröhlichen Wissenschaft, wenn er „Stoiker und Epikureer" gegeneinander hält, das Verhal-
so
...
KSB5, 383. HKG 4, 55. KSB 7, 134. A. Schopenhauer, Sämtliche Werke, textkritisch bearbeitet und herausgegeben Löhneysen, Stuttgart, Leipzig und Frankfurt/M. 1976, Band IV, 413. KSA, ZA, 4, 63, vgl. 354. Vgl. GM, KSA 5, 339ff.: „Was bedeuten asketische Ideale?" Epikur, Brief an Menoikeus, 131.
von
W. Frhr.
von
Nietzsche im Garten Epikurs
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„Wer aber einigermassen absieht, dass das Schicksal ihm einen langen Faden zu spinnen erlaubt, thut wohl, sich epikureisch einzurichten; alle Menschen der geistigen Arbeit haben es bisher gethan! Ihnen wäre es nämlich der Verlust der Verluste, die feine Reizbarkeit einzubüssen ...". Aus ähnlichen Gründen rückt er in einem Vergleich „Cyniker und den Cyniker in die Nähe des Stoikers und preist abermals die überlegene Haltung des Epikureers. Zur „Ueppigkeit Epikur's" gehören „drei vier gute Freunde", und Zarathustra preist die Genügsamkeit der „Sitze für Einsame und Zweisame". Denn: „Das Leben ist ein Born der Lust; aber wo das Gesindel mit trinkt, da sind alle Brunnen Die Einsamkeit ist das Los derer, die der großen Menge und ihren Lüsten aus dem Weg gehen, um, wie Epikur lehrte, im Verborgenen zu leben.43 Sie hat ein doppeltes Gesicht. Ein Zitat, das er einem nachgelassenen Zettel anvertraut hat („solitudo continuata dulcescit"), behauptet zwar, die Einsamkeit werde, je länger man sie ausdehne, immer süßer.44 Aber eine andere heimliche Notiz nennt die Einsamkeit auch eine „mater saeva eine wilde Mutter der Begehrlichkeiten. Nietzsche betrachtet denn auch mit besonderem Wohngefallen Epikurs beinahe kultische Lobpreisung der Freundschaft: „Die Freundschaft tanzt um die Welt und fordert uns alle auf, zu erwachen zum Preis der Glückseligkeit." Schon die stehende Wendung am Ende von Nietzsches Jugendbriefen an die Freunde Gustav Krug und Wilhelm Pinder beschwört die ewige Dauer ihrer Freundschaft: „Semper nostra manet amicitia!"47 Nietzsches Bedürfnis nach Freundschaft und sein Talent zur Freundschaft sind oft erörtert worden. Auch Epikur wurde ein angenehmer Umgang mit den Menschen nachgesagt. Der „Götternektar der Freundschaft" ist Mittelpunkt einer Betrachtung in Nietzsches Brief vom 10. 1. 1869 an den Freund Erwin Rohde.48 Die Freundschaft gehört sogar zu den Brücken auf dem Weg zum „Übermenschen". Zarathustra stellt sie weit über die Nächstenliebe: „Nicht den Nächsten lehre ich euch, sondern den Freund. Der Freund sei euch das Fest der Erde und ein Vorgefühl des Übermenschen."49 Zu der Verstimmung, die den Bruch mit Richard Wagner herbeiführt, gehört, daß der Meister Nietzsches „Hymnus an die Freundschaft" zu wenig würdigte. Daß Epikur bei allem Lob der Freundschaft in seinem Garten kein „Gemeineingentum" einführte, kann nur Nietzsches Beifall gefunden haben. Sein tiefreichender Blick in den Sozialneid und alles Sozialistische machte ihm auch die Begründung sehr verständlich: „Denn solches täten die Mißtrauischen, die aber seien keine Freunde".50 Wie
ten des ersteren mit dem eines Fakirs.
Epikureer"41
vergiftet."42
cupidinum"45,
40 41
42 43 44 45 46 47 48 49
50
KSA, FW, 3, 544 (306). KSA, MA I, 2, 226f. KSA, ZA, 4, 124. Epikur, Fragment 54 (Plutarch, Zum Prinzip „Lathe biosas" 1. 1128 A). KSA, NF, 10,9. KSA, NF, 14,308. Epikur, Vatikanische Spruchsammlung, 52; vgl. 23, 28, 39 u. a. Z.B. KSB 1,25. KSB 2, 357. KSA, ZA, 4, 78. Diog. Laert. X, 11.
Volker Ebersbach
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Nietzsche darüber dachte, daß auch Sklaven und Frauen im Garten Epikurs willkommen waren, können wir nur erahnen. Er meinte mit „Sklaven" nicht jeden, den in der Antike das Schicksal des Unfreien traf. Ihn selber hätte es treffen können, wäre er als griechischer Gelehrter einem römischen Eroberer in die Hände gefallen, der einen Hauslehrer für seine Söhne brauchte. Im Grunde hatte ihn dieses Los ja seiner eigenen Auffassung nach getroffen, als er ein Baseler Professor wurde, denn er befand darüber, „wer von seinem Tag nicht zwei Drittel für sich" habe, sei „ein Sklave, er sei übrigens wer er wolle, Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter."51 Und „philosophierende Hetären"52, Frauen also, die weder ihn noch sich dem Ehezwang hätten unterwerfen wollen, wären ihm ebenso willkommen gewesen wie Epikur. Hatte er nicht Hoffnungen gehegt, man werde ihm erlauben, Lou in eine solche Rolle zu ziehen? Was Nietzsche auch immer dem „Weibe" anlastet es läuft eigentlich alles darauf hinaus, daß es nicht Freund sein könne. Schaut man sich an, welche Rolle die Männer seiner Zeit und die Männer aller Zeiten davor der Frau zuwiesen, eine Rolle, die den Frauen einfach die Fähigkeit zur Freundschaft vorenthält, ist es schon ungewöhnlich, derlei zu erwarten. -
3.
Das
„
Unpolitische
"
und das Fragmentarische
Epikur war athenischer Bürger, wuchs aber auf seiner Geburtsinsel Samos auf und durchreiste die Ägäis, ehe er am Rand von Athen den Kepos, seinen „Garten", als eine Philosophenschule gründete. Zu seiner Lebenszeit war die Polis keine Sache mehr für jedermann. Das „demokratische" Zeitalter war schon im peloponnesischen Krieg untergegangen. Makedonien hatte die Macht übernommen, Alexanders Nachfolger, die Diadochen, teilten sich das hybride Riesenreich des Eroberers. Es verstand sich von selbst, daß sich ein Philosoph nicht um die Politik kümmerte. Nach Diogenes Laertios befaßte er sich in verschiedener Übersetzung, und das heißt hier in verschiedener Auslegung, „aus einem Übermaß an Gerechtigkeitssinn" bzw. „aus reiner Bescheidenheit" nicht mit Politik. Epikur selbst sagt: „Befreien muß man sich aus dem Gefängnis des Alltagslebens und der Politik."5" Das Zeitalter des Individualismus war angebrochen. Der Stoiker Zenon von Kition und der Skeptiker Pyrrhon von Elis verkörperten es nicht weniger als Epikur. Wo sich die Politik jeder Beeinflussung durch einen einzelnen Bürger entzieht, muß sich der Einzelne, wohin die Politik auch drifte, in den gegebenen Verhältnissen einrichten. Die Privatisierung aller Werte beginnt. Als Individualist sieht Nietzsche, nicht zuletzt durch Schopenhauer dazu ermuntert, sich selber mit der gleichen Selbstverständlichkeit als einen Unpolitischen. Bei fast jeder sich bietenden Gelegenheit verweist er darauf, daß es eines Philosophen unwürdig sei, sich mit Politik zu befassen. Hier sei lediglich daran erinnert, daß ihm ,jede Philosophie, welche durch ein politisches Ereignis das Problem des Daseins verrückt oder gar gelöst glaubt", als „eine 51 52
5j 54
KSA, MAI, 23 lf. Diog. Laert. X, 4ff.; vgl. A. Demandt, Der Idealstaat. Die politischen Theorien der Antike, Köln, Weimar, Wien 1993, 52. Diog. Laert. X, 10. Epikur, Vatikanische Spruchsammlung, 58. Vgl. V. Ebersbach, Nietzsche, die Polis und das Politische, Vortrag auf dem Internationalen Nietz-
sche-Kongreß in Naumburg, 24.-27.
8. 2000
(Manuskript).
Nietzsche im Garten
Epikurs
51
Spaß- und Afterphilosophie" erscheint daß ihm Politik als „Prostitution des Geistes" gilt, und daß er beredt vor dem „neuen Götzen", dem „Ungeheuer" Staat57 warnt. Das „Unzeitgemäße" an Nietzsche, seine Verborgenheit gegenüber den Zeitgenossen ist allerdings keineswegs so entschlossen und selbstgewählt wie das Epikurs, und die Erinnerung an Epikur gereicht ihm lediglich zum Trost. So klagt er am 10. 12. 1885 seinem Adlatus Köselitz: „Es ist jetzt Niemand in Deutschland, der weiß was ich will oder daß ich etwas will oder gar daß ich davon schon einen genügenden Theil erreicht habe, Niemand, dem meine ,Sachen' recht vom Herzen Vergnügen oder Besorgniß und Noth oder irgend Etwas machten Nun, vielleicht ist dies zu wissen eine unschätzbare Einsicht, mit ihr ist man den Gärten Epikurs ganz nahe gekommen, vor Allem aber sich selber ,..".58 Die Resignation dessen, der wirken will, aber die Macht dazu ,
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nicht hat, ist nicht zu überhören. Nietzsche verwirft den Piatonismus und läßt sich doch hin und wieder bei seiner heimlichen Bewunderung ertappen. Zu diesem heimlichen Nicken mag das Nicken zu Piatons Wunschtraum gehören, allein der Weise dürfe herrschen. Die Realitäten freilich raten ihm, mit Aristoteles zu resignieren, es genüge, wenn der Herrscher den Weisen in Ruhe lasse und bestenfalls von ihm einen Rat annehme: denn wir Philosophen brauchen zu allererst vor einem Ruhe: vor allem ,Heute'."59 Ohne daß wir einen direkten Hinweis daraufhätten, weiß sich Nietzsche durch Epikurs Auffassung von Recht und Gesetz darin bestärkt, daß Einzelne durch gewisse Privilegien sowohl vor Mächtigen als auch vor der Macht der Massen zu schützen sind. Epikur: „Die Gesetze sind, was die Weisen betrifft, gegeben, nicht damit sie kein Unrecht tun, sondern damit sie kein Unrecht erleiden."60. Auch Epikurs Relativierung der Moral, es gebe „keine Gerechtigkeit an sich", es gebe sie nur „in den gegenseitigen Beziehungen der Menschen [...] als eine Art Vertrag, einander nicht zu schädigen noch sich schädigen zu lassen"6 mußte Nietzsche mit Wohlgefallen zur Kenntnis genommen haben. Was das letztgenannte, nicht bei Diogenes Laertios, sondern bei Stobaios überlieferte Fragment betrifft, können wir freilich nicht sicher sein, ob Nietzsche es gekannt hat. Im Aphoristischen und Fragmentarischen ähneln sich Epikurs und Nietzsches Werke, nur mit dem entscheidenden Unterschied, daß es bei Epikur der bruchstückhaften Überlieferung, bei Nietzsche einer brüchigen Gesundheit geschuldet ist. Epikur soll über 300 Schriftrollen verfaßt haben, und was wir von ihm besitzen, sind nur wenige Trümmer seiner Lehrbriefe und Hauptlehrsätze und solche verstreuten Zitate. Das Fragmentarische und das Unpolitische freilich bewahren beide zwar vor dem Schicksal des Systematischen, sich zu Ideologien zu entwickeln, nicht aber davor, von Ideologien vereinnahmt oder verunglimpft zu werden. In der Verleumdung, in der Verkennung, im Mißbrauch sind Epikur und Nietzsche Schicksalsbrüder. Schon Diogenes Laertios beklagt „...
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KSA, SE, 1,413. KSA, FW, 3, 403. KSA, ZA, 4, 61. KSB 7, 121f. KSA, GM 5, 352f. Epikur, Fragment 44 (Stobaios 4, 1, 143). ,
Epikur, Hauptlehrsatz 33.
Volker Ebersbach
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Verunglimpfungen des Epikur durch die Stoiker die durch ein Abgleiten der LehVulgärepikureismus, vor allem bei den Römern, scheinbar bestätigt werden. Nietzsche fühlt sich bemüßigt, den „ewigen Epikur" gerade dagegen in Schutz zu nehmen: „Epikur hat zu allen Zeiten gelebt und lebt noch, unbekannt Denen, welche sich Epikureer nannten und nennen, und ohne Ruf bei den Philosophen. Auch hat er selber den eigenen Namen vergessen: es war das schwerste Gepäck, welches er je abgeworfen hat."63 Mit welchem Wohlgefallen hätte Nietzsche, wäre er in jene Zeit verschlagen worden, die Bildung einer Philosophenschule aus dem Freundeskreis des Gartens mitgemacht! „Worum ich Epicur beneide," schreibt er am 26. 8. 1883 aus Sils-Maria an Köselitz, „das sind seine Schüler in seinem Garten; ja da läßt sich schon das edle Griechenland, Denn zuletzt: der Trieb des und da ließe sich gar das unedle Deutschland vergessen! die
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re zum
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Lehrens ist stark in mir." Mit einer sublimen Schmeichelei, die er nachschiebt, Köselitz' Worten über Epikur und Seneca wisse er „Nichts an die Seite zu stellen"64, die er am selben Tag Overbeck gegenüber wiederholt65, läßt er durchblicken, mit wem er beim Sammeln solcher Schüler gern den Anfang machen würde. Sicher wäre Nietzsche, der nur philologischer, nie philosophischer Lehrer werden durfte, gern der charismatische Philosoph geworden, so wie er heimlich den charismatischen Herrscher sucht, „Cäsar mit Christi Seele".66 Epikur lehrte als Schulhaupt freundlich, aber auch apodiktisch und autoritär, verwischte die Spuren, die von Demokrit her zu ihm führten, leugnete, daß Leukipp je gelebt habe. Autoritär wirken auch die schrillen Töne in Nietzsches Spätwerk. Gewisse Grundsätze brauchten nach Epikurs Meinung nicht mehr bewiesen zu werden. Auch Nietzsche meinte: „Was sich erst beweisen lassen muß, ist wenig werth."67 Epikur ließ sich als „Erlöser" (sotér) feiern und wurde noch zu seinen Lebzeiten eine Art Guru. In der Maske des Zarathustra lebte auch Nietzsche seine Guru-Instinkte aus. Einer der Nachfolger Epikurs unter den Schulhäuptern des „Gartens", ein gewisser Apollodor, erwarb sich im zweiten vorchristlichen Jahrhundert den wenig schmeichelhaften Beinamen „der Gartentyrann". 8 Nietzsche fühlte sich zuletzt als „Tyrann von Turin". Epikurs Ideal, „wie ein Gott leben unter den Menschen"70 nichts anderes wäre die vollkommene Ataraxie war eine antike Utopie auf der Schwelle eines Zeitalters, in dem erst Alexander und seine Diadochen, dann die römischen Cäsaren der Versuchung der Selbstvergottung nachgaben. Für Nietzsche wird sie in der Selbstidentifikation mit Dionysos wahnhafte Wirklichkeit. -
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Laert. X, 3. KSA, MA II, 2, 656. KSB 6, 436f. KSB 6, 438. KSA, NF, 11,289. KSA, GD, 6, 70. Diog. Laert. X, 9. Vgl. P. D. Volz, Nietzsche im Labyrinth chung, Würzburg 1990, 383. Epikur, Brief an Menoikeus, 135.
Diog.
seiner Krankheit. Eine
medizin-biographische
Untersu-
Nietzsche im Garten Epikurs
53
Betrachten wir ein letztes Mal das Wohlgefallen in Nietzsches Gesicht, wenn er ausruft: „Et in Arcadia ego.-" und eine mittelmeerische Landschaft mit Hirten und Heroen an die Stelle der Naumburger Stadtmauer zaubert: „Und so haben einzelne Menschen auch gelebt, so sich dauernd in der Welt und die Welt in sich gefühlt, und unter ihnen einer der grössten Menschen, der Erfinder einer heroisch-idyllischen Art zu philosophieren: Epikur."71 Denn alsbald erblicken wir auch besorgte, abwehrende Runzeln, die sich in Nietzsches hohe Stirn graben, wenn er den Garten Epikurs betrachtet.
II. 4.
Nietzsche im Garten Epikurs
stirnrunzelnd -
Atome?
sein Beharren darauf, daß die Sinneswahrnehmung für die Erkenntnis als ein Wahrheitskriterium unverzichtbar sei72, findet noch Nietzsches Wohlgefallen. Früh stößt er aber, da er durch die Hinterpforte seiner Demokritstudien hineinkommt, auch auf den Atomismus, vor dem er wie vor einer befremdlich riechenden Blüte im Garten Epikurs zurückweichen muß. Dabei liegt eigentlich eine denkerische Meisterleistung vor, denn bar jeglicher experimentellen Voraussetzung haben ihn die antiken Philosophen, nach einer Auskunft des Stoikers Poseidonios angefangen mit dem Phöniker Mochos, über Leukipp und Demokrit zu Epikur, nicht empirisch, sondern rein gedanklich entwickelt: Durch Reduktion des Vielfältigen auf ein Einfaches, wie sie schon Thaies, Heraklit, Parmenides, Empedokles, Anaxagoras und Melissos vorbereitet hatten.73 Die Atome der modernen Physik haben denn auch mit denen der griechischen Atomisten ebensowenig zu tun wie die „Urknalf-Theorie mit der biblischen Schöpfungsgeschichte, so angenehm solche Parallelen auch klingen mögen. Der Zahl, der mathematischen Klemme, in die sich Epikur mit seinem unteilbaren „átomos" begibt, ist denn auch nur mit einem Trick zu entkommen: Das Unteilbare wäre mathematisch Null. Eine Summe von Nullen ergäbe Null, also könnten Atome keine Körper bilden. Also führt Epikur die „Minima" ein, die größer als Null, aber kleiner als a sind, eine rein spekulative letzte Maßeinheit vor dem Nichts. Das mag helfen, Epikurs Hader mit der Mathematik zu erklären. Andererseits liegt in diesem Dilemma die Infinitesimalrechnung fast zum Greifen nahe. Aber sie wird erst im 17. Jahrhundert durch Leibniz und Newton gefunden. Nietzsches Einwand gegen die Lehre von den Atomen geht denn auch von der „Zahl" aus. Er, der mit der Mathematik auch seinen Hader hat, macht sie für den „ursprünglich schon herrschenden Irrthum" verantwortlich, daß es „gleiche Dinge gebe (aber thatsächlich giebt es nichts Gleiches), mindestens dass es Dinge gebe (aber es giebt kein ,Ding')." Folglich sieht er „logische Widersprüche in der Atomlehre."74 Sie gehört zu den in Jenseits von Gut und Böse erörterten „Vorurtheilen der Philosophen", ob Denken eine Tätigkeit sei, die ein Subjekt
Epikurs Sensualismus,
...
71 2
73 74
KSA, MA II, 2, 686f.
Epikur, Hauptlehrsatz 24. Vgl. F. Jürß, a.a.O., 73. KSA, MA I, 2, 40ff.
Brief an Herodotos 50ff
Vgl. M. Hossenfelder, a.a.O.,
115ff
Volker Ebersbach
54
habe, wie „die ältere Atomistik zu der ,Kraft', die wirkt, noch das Klümpchen Materie" suchte, „worin sie sitzt, aus der heraus sie wirkt, das Atom."75 Das Atom ist nur eins der „Wechselbälge", die „Subjekt" und „Ding an sich"7 heißen, einer der „vier großen Irrthümer", in denen die „Physiker" sich als „Mechanisten" blamieren und „metaphysische Bedürfnisse", zuletzt „Gott" durch die Hintertür wieder einzufuhren versu-
chen.
Epikur glaubt die Physik der Atome zu brauchen,
um seine Ethik zu begründen, eine Schmerz dem größten Übel, von der Sinals dem höchsten Gut und als Lust von einem der nichts angehe, und von Götdie nicht von uns Tod, trüge, neswahrnehmung, tern die sich in ihren Metakosmien um uns nicht kümmern. Nietzsche glaubt, gerade vor der Annahme von Atomen unbedingt warnen zu müssen, weil er in der Atomistik einen Schleichweg in die Metaphysik argwöhnt, und kommt in den Nachgelassenen Fragmenten immer wieder darauf zurück. Nietzsche muß die Atomlehre logischerweise ablehnen, weil es für ihn nichts Gleiches gibt. Daß es nichts Gleiches gebe, steht aber in seinem Denken in einem bisher kaum beachteten Zusammenhang zu seiner Lehre von der „Ewigen Wiederkunft" mag man sie nun als eine Grille abtun oder als Ansatz zu einer neuen Kosmologie überdenken. Nichts Gleiches kann es nur diesseits eines einzelnen Horizontes im Zyklus der „Ewigen Wiederkunft" geben, in der „Ewigkeit" der „Wiederkunft" aber muß es gerade Gleiches geben, denn das Gleiche ist es ja, das allein wiederkehren kann: „Die Wiederkunft des Gleichen" heißt der Entwurf „Anfang August 1881 in Sils-Maria, 6000 Fuss über dem Meere und viel höher über allen menschlichen Dingen! -"7 Schon in der „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" handelnden Zweiten Unzeitgemässen Betrachtung zieht Nietzsche in Erwägung, daß „die Pythagoreer Recht hätten zu glauben, dass bei gleicher Constellation der himmlischen Körper auch auf Erden das Gleiche, und zwar bis auf's Einzelne und Kleine sich wiederholen müsse."79 Epikur liefert nun gerade auf der Basis seines Atomismus eine Vorahnung dessen, was Nietzsche anfang der achtziger Jahre gefunden zu haben meint: „Nichts Neues kann im All entstehen auf Grund der Unendlichkeit der schon verflossenen Zeit."80 Nietzsche faßt den Gedanken so: „Wenn nicht alle Möglichkeiten in der Ordnung und Relation der Kräfte bereits erschöpft wären, so wäre noch keine Unendlichkeit verflossen. Weil dies aber sein muß, so giebt es keine neue Möglichkeit mehr und alles muß schon dagewe' sen sein, unzählige Male."
Lehre
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KSA, JGB, 5, 30. KSA, GM, 5, 280. KSA, GD, 6, 91. KSA, NF, 9, 494. KSA, HL, 1,261.
Epikur, Fragment 75. Usener Fr. 266. Vgl. Lukrez, De rerum natura, II, 294ff. Dazu F. Jürß, a.a.O., 547, Anm. 49: „D.h. die Anzahl der möglichen Atomkombinationen und Weltsysteme muß während der vergangenen Ewigkeit bereits unendlich oft verwirklicht worden sein." Vgl. M. Hossenfelder, a.a.O., 125: Es gebe nach Epikur im All nichts Neues, „weil im Hinblick auf die unendlich verflossene Zeit und die begrenzte Variationsbreite alles schon dagewesen sein muß." KSA, NF, 9, 500.
Nietzsche im Garten Epikurs
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Finge nun Nietzsche dennoch an, stirnrunzelnd mit Epikur über das Atom, dieses ihm anrüchige Gartengewächs, zu streiten, fände er keinen Partner. Denn der Philosoph der Seelenruhe, der Gelassenheit und der Selbstgenügsamkeit kennt wie Nietzsche selber keine Forschung um ihrerselbst willen. Er beschränkt seine Naturlehre auf die für seine Ethik erforderlichen Fragen, fragt auch nicht, ob es noch etwas zu erfahren gebe, das
seine Ethik umwerfen könnte, und zieht sich im Antworten gern auf ein Schulterzucken zurück: Es könnte so sein, aber es könnte auch anders sein. Das ist übrigens der Punkt, warum Nietzsche und seine virtuellen Mitdenker „Epikureer scheinen": Sie sind „vorsichtig gegen letzte Ueberzeugungen", gegen Gewissens-Ueberlistungen, welche in jedem starken Glauben, jedem unbedingten Ja und Nein liegen." Ihr „nahezu epikurischer Erkenntniss-Hang" will „den Fragezeichen-Charakter der Dinge nicht leichten Kaufs fahren lassen."8 Und nicht einmal die moderne Physik hat ihnen dabei etwas voraus, wenn sie etwa das Licht sowohl als Teilchenstrom als auch als Welle und das „Atom" sowohl als Teilchen als auch als Ladung interpretiert, obwohl das eigentlich jeweils einander ausschließen müßte. Wenn Nietzsche „unsere Empfindungen von Raum und Zeit" für „falsch" erklärt nimmt er gerade die Befunde der Einsteinschen Relativitätstheorie vorweg, die auch zur Teilung des vermeintlich „unteilbaren" Atoms geführt haben. ...
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Lustkalkül, Schmerzkalkül und Machtkalkül
5.
Mit Stirnrunzeln hört Nietzsche im Garten Epikurs auch zu, wenn der Meister die Lehre der Lust als dem höchsten, auf kein anderes rückführbaren Gut und dem Schmerz als dem größten Übel aus atomistischen Voraussetzungen herleitet: Denn daran knüpft sich an, daß man das eine wählen und das andere meiden solle.84 Dazu bedarf es einer Freiheit des menschlichen Willens. Den freien Willen aber gibt es für Nietzsche nicht.85 Er ist ihm ein „Unbegriff der Metaphysik. Allein die Schadenfreude hellt seine Miewie auch die Bildung von Körpern atomistisch zu bene auf: Epikur muß, um ihn einem schon in der Antike viel belächelten Trick greifen, zur nicht näher zu gründen, Annahme der begründeten „parenklisis", einer „Deklination", einer Abweichung der Atome von ihrem parallel gedachten freien Fall, dem sie in seiner unzulänglichen Stoff7 Raum-Vorstellung noch unterworfen sind. Denn wenn ich keinen „freien Willen" habe, funktioniert das auf Wählen und Meiden gestützte Lustkalkül nicht. Immerhin dankt es Nietzsche gern dem Gartenphilosophen, daß er mit seiner Bewertung der Lust die Unterscheidungen von Gut und Böse von vornherein relativiert: „Ohne Lust kein Leben; der Kampf um die Lust ist der Kampf um das Leben."88 Auch Zarathustra folgt von
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KSA, FW, 3, 627f. KSA, MA I, 2, 40. Epikur, Brief an Menoikeus, 129f., vgl. Diog. Laert. X, 27, 30 und 34. Vgl. KSA, MA I, 2, 62; KSA, AC, 6, 181. KSA, JGB, 5, 35f. Vgl. Epikur, Brief an Herodotos, Fragment 82 (Aetios 1, 23, 4) und Lukrez II, 216ff. KSA, MAI, 2, 101 f.
Volker Ebersbach
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Doch ihm uneingeschränkt mit seinem „anderen Tanzlied": „Weh spricht: Vergeh! alle Lust will Ewigkeit -".89 Aber will sie da nicht für Epikur schon zu viel? Treten Runzeln nun auf Epikurs Stirn? Sein Lustkalkül ist ein Kalkül des Gleichgewichts: Lust heißt ihm Freisein von Schmerz, gestillter Hunger, gelöschter Durst.90 Weder der Genuß am Wohlgeschmack des Essens noch der Genuß am wohlschmeckenden Getränk haben darin viel Platz. Epikurs Lust ist nicht zu steigern. Alles, was sie steigern könnte, wird beargwöhnt und unter die Begierden gerechnet, die zu Schmerzen führen oder nicht notwendig sind.91 Die epikureische Seelenruhe, die ,„Windstille' der Seele", empfindet Nietzsche als „Langeweile", die der „Denker" nur erträgt als ein Abwarten von „lustigen Winden" einer „glücklichen Fahrt". Unter den Beziehungen zwischen den Menschen mag wohl, das sieht Nietzsche auch so, die Freundschaft die ausgeglichenste sein, hat sie doch nach Meinung Epikurs, obwohl sie um ihrer selbst willen zu wählen ist, ihren Ursprung im Nutzen.9 Aber läßt sich, könnte Nietzsche, nun seinerseits wieder stirnrunzelnd, einwenden, eine so nüchterne Auffassung auf die Liebe ausdehnen? Ist Epikurs Lustkalkül nicht ziemlich unerotisch? Epikur schließt das Geschlechtliche von seiner Lust nicht gerade aus. Aber er warnt vor seiner Leidenschaftlichkeit94: „Denn der Liebesgenuß hat noch niemals Nutzen gebracht; man muß zufrieden sein, wenn er keinen Schaden angerichtet hat."95 Der Satz, der so etwas wie Orgasmus nicht zu kennen scheint, paßt in die Prüderie der Zeit, in der Nietzsche lebte und dachte. Nietzsche äußert sich denn auch, sosehr er an dieser Prüderie leidet, entsprechend sparsam über die Sexualität. Aber wenn er es tut, sind seine Worte kühn und radikal. „Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in den letzten Gipfel seines Geistes hinauf."96 Was ist die Liebe ohne Leidenschaft für eine orgiastische Natur wie Nietzsche? Für eine „beinahe mänadische Seele"97 sind Liebe und Leidenschaft gar nicht zu trennen: in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhass der Geschlechter". Daß ein Lustkalkül, wie es Epikur im Unterschied vor seinen hedonistischen Vorläufern lehrte, zugleich ein Schmerzkalkül sei, dazu sehen wir Nietzsche noch einmal mit Wohlgefallen nicken. Epikur: „Ja, viele Schmerzen halten wir sogar für besser als die Lustempfindungen, wenn sich nämlich bei uns eine größere Lust als Folge davon einstellt, daß wir eine lange Zeit Schmerzen ertragen haben."99 Aber Schmerz ist für Zarathustra nicht nur ein Gegensatz zur Lust, nicht nur eine gelegentliche Bedingung des ...
„...
89
KSA, ZA 4, 286. ,
90 91 92 9j 94
5 96 97 98 99
Epikur, Hauptlehrsatz 3. Epikur, Hauptlehrsätze 26 und 29. KSA, FW, 3, 409. Vatikanische Spruchsammlung, 23. Vatikanische Spruchsammlung, 21 und Vatikanische Spruchsammlung, 51. KSA, JGB, 5, 87. KSA, GT, 1, 15. KSA, WA, 6, 15. Epikur, Brief an Menoikeus, 129.
Epikur, Epikur, Epikur,
Fragment
11.
Nietzsche im Garten Epikurs
57
Lusterwerbs, sondern selbst Lust: „Schmerz ist auch eine Lust, Fluch ist auch ein Segen, Nacht ist auch eine Sonne, geht davon oder ihr lernt: Ein Weiser ist auch ein
Narr."100
Daß der Schmerz nicht ununterbrochen im Fleisch verweile und der äußerte erfuhr Epikur selbst in dem äuSchmerz nur kurze Zeit währe, weil der Tod folge ßerst schmerzhaften Leiden an seinem Lebensende. Dann kannte euer Meister, könnte Nietzsche die Schüler des Gartens fragen, also auch „diese Tyrannei des Schmerzes, überboten noch durch die Tyrannei des Stolzes, der die Folgerungen des Schmerzes ablehnte"?102 Aber wußte er auch, daß „der grosse Schmerz, jener lange, langsame Schmerz, der sich Zeit nimmt," der „Lehrmeister3des grossen Verdachtes" die „Philosophen" zwingt, in ihre „letzte Tiefe zu steigen"?1 Nietzsche hatte gelernt, den Lehrmeister Schmerz zu schätzen, spätestens als Verfasser der Morgenröthe: „Die vollkommene Helle und Heiterkeit, selbst Exuberanz des Geistes, welche das genannte Werk wiederspiegelt, verträgt sich bei mir nicht nur mit der tiefsten physiologischen Schwäche, sondern sogar mit einem Excess von Schmerzgefühl." Mit dieser Erfahrung ist ihm der „Epicureismus" nur noch eine Verkleidung, eine „Wem genug zu wenig ist, dem „zur Schau getragene Tapferkeit des Geschmacks". ist nichts genug." 06Gut gesagt, Meister Epikur. Aber wieviel ist genug, wenn das nicht mehr zunehmende Glück wie ein abnehmendes empfunden wird? Ist die epikureische „Vegetation des Glücks" nicht etwas für „kleine Gärten des Glücks"?107 Die Epikureer haben zwar nicht „das Glück erfunden" wie die letzten Menschen Zarathustras. Sie sind zwar keine ordinären Hedonisten. Aber sie sind doch selbst nicht ganz unschuldig an Vulgarisierungen ihrer Lehre. Epikurs Garten leidet an der Immunschwäche alles Hedonistischen gegen das Vulgäre. „Der Tod geht uns nichts an. Denn solange wir da sind, ist der Tod nicht da, und sobald er da ist, sind wir nicht mehr."109 Prächtig kombiniert, aber verräterisch. Nicht nur die Angst vor den Göttern will also Epikur den Menschen nehmen. Damit, alle Achtung, machte er immerhin der „Präexistenzform" des Christentums „den Krieg".11 Auch die Angst vor dem Tod soll ihnen genommen werden. Das geht aber nur mit der kombinatorischen Trickkiste. Warum überhaupt? Wozu? Will da nicht wieder einer der Tragik aller menschlichen Existenz ausweichen? Stellt Epikur sich damit nicht Glückskündern und Heilslehrern wie Sokrates und Christus an die Seite? „Dergestalt lernte ich allmählich Epikur begreifen, den Gegensatz eines dionysischen Griechen, insgleichen den Christen, der in der That nur eine Art Epikureer ist und mit seinem ,der Glaube macht selig' dem Princip des Hedonismus so weit wie -
,
...
100
KSA, ZA 4, 403. ,
101
Epikur, Hauptlehrsatz 4. 102 KSA, FW (Vorrede), 3, 346. 103
Ebenda.
104
KSA, EH, 6, 265. KSA, JGB, 5, 225f.
105 106
107
Epikur,
Vatikanische
Spruchsammlung, 68.
KSA, MA I, 2, 339. 108 KSA, ZA, 4, 19. 109 Brief an Menoikeus, 125 und Hauptlehrsatz 2. Epikur, 110 KSA, AC, 6, 245ff
Volker Ebersbach
58
folgt."111
Epikur ist also auch ein Vertreter der „décadence", und „der Epicureismus" ist ein „Hedonismos auf durchaus morbider Grundlage", „die Erlösungs-Lehre des Heidenthums".112 Herr Nietzsche ist ihm nur insoweit mit Wohlgefallen zugetan, als inzwischen „auch dessen er selbst ein „décadent" war. Aber er ist Als solcher weiß Nietzsche sein Verstand ist zuletzt scharf und klar wie ein Kristall, bevor er zerbricht daß die Angst vor dem Tod untrennbar zusammenhängt mit dem „Willen zu Leben", und dieser „Wille zum Leben" ist eigentlich ein Mißverständnis, denn es ist der „Wille zur Macht": „Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht.""4 „Leben ist Wille zur Macht : die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon."115 „Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ,intelligiblen Charakter' hin bestimmt und bezeichnet, sie wäre eben Wille zur Macht und nichts außerdem."116 Was sagt überhaupt der Meister des Gartens zum Thema Machtl Sie ist nichts Schlechtes, sie ist „ein naturgemäßes Gut" und verschafft einem „Sicherheit vor den Menschen"117, wenn man eine ehrgeizige und ruhmsüchtige Natur ist"8 und nicht das Leben im Verborgenen vorzieht. Epikurs Lust- und Schmerz-Kalkül ist also durchaus offen für den Gedanken des Machtkalküls. Aber haben wir darin eine Wahl? fragt nun Nietzsche wieder mit gerunzelter Stirn. Ist nicht jedes Glücksgefühl eigentlich ein Machtgefühl? „Die erste Wirkung des Glücks ist das Gefühl der möglich
-
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Gegensatz".113
-
,
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Macht."119 Und, fragt
Nietzsche weiter, wer das nicht weiß, was weiß der vom „Wege des 170 Schaffenden"? Macht der Hedonismus nicht den Schaffenden erpreßbar? Macht er ihn nicht seiner Aufgabe abspenstig? „Es ist sinnlos, von den Göttern zu verlangen, was also sprach Epikur. Trefflich! Aber in diesem Garman selber zu schaffen ten ist damit nur das Glück gemeint. Und Nietzsche hat einzuwenden: „Der Mensch strebt nicht nach Glück, nur der Engländer thut das." „Entwickelung will nicht Glück, sondern Entwickelung und weiter nichts."123 „Trachte ich denn nach Glücke? Ich trachte nach meinem Werke!"124
vermag"12
,
111
KSA, NW, 6, 426. KSA, AC, 6, 201. 113 KSA, EH, 6, 266. 114 KSA, ZA, 4, 147f. („Von der Selbstüberwindung"). 1,5 KSA, JGB, KSA 5, 27. 116 Ebenda, 55. 112
117
Epikur, Hauptlehrsatz 6. Epikur, Fragment 57 (Plutarch, Über den Seelenfrieden, 2. 465f.). 119 1,8
120 1 '
122 123 124
KSA, M, 3, 240. KSA, ZA, 4, 80ff.
Epikur,
Vatikanische
Spruchsammlung, 65.
KSA, GD, 6, 60f. KSA, M, 3, 96. KSA, ZA, 4, 408; vgl. 295.
Nietzsche im Garten
6.
59
Epikurs
Der Ertrag einer Differenz: Nietzsches
Tragische Anthropologie
Der Nietzsche, der Basel endlich los war, hätte sich in Epikurs Garten gern behaglich eingerichtet. Der Nietzsche des Turiner Herbstes fühlt sich darin schließlich wie der im Rosengehege des Königs Midas gefangene Silen mit seinem tragischen Wissen, niemals geboren zu sein, sei das beste, das Epikur in seinem Brief an Menoikeus heftig zurückweist.125 Nur Dionysos kann den Silen befreien. Der Garten Epikurs, der Kepos, die Philosophenschule der Epikureer, überlebte nahezu ohne Flügelkämpfe und ohne bemerkenswerte Veränderungen der Lehrinhalte bis in die spätrömische Antike. Das Christentum vermochte ihn nicht ganz in Vergessenheit zu bringen. Im 17. Jahrhundert entdecken ihn englische Philosophen wieder, und die Aufklärer des 18. Jahrhunderts lassen ihm ihre Pflege angedeihen. Die Belege dafür, -
daß auch Friedrich Nietzsche, der zwar noch im 19. Jahrhundert, aber schon für das 20. und das 21. Jahrhundert dachte, gelegentlich durch den Garten Epikurs gewandelt ist, sind zahlreich. Aber was sind „Belege"! Das ganze Werk Nietzsches ist, genau besehen, von Epikurs Denken durchseelt, von wohlgefälliger Zustimmung bis zu stirnrunzelnder Zurückweisung. Ein langes Verweilen, ein endgültiges Ankommen, ein Bleiben bis zuletzt entspricht nicht Nietzsches unstetem, rastlosem Naturell. Nur ein antiker Philosoph mag Nietzsche näher gestanden haben als Epikur: Heraklit, dem alles in unablässiger Bewegung bleibt. Worin hat der Garten Epikurs seinen tieferen Sinn? Jeder Betrachtende sieht es: Ausschnitte verschönern die Welt. Selbst ein Ausschnitt aus einem schönen Teil der Welt ist schöner als dieser Teil der Welt. Warum, wozu die ganze Welt begehren, wenn jeder Ausschnitt schöner ist als sie? Der Garten schirmt ab gegen die Welt, ist eine Insel der Ordnung im Chaos des Draußen, so wie der Kosmos nur ein Sonderfall des Chaos sein kann. Aber der Kosmos ist nicht Nietzsches Welt, weder als Ausschnitt noch im Ganzen. Für Nietzsche ¡st Epikur nicht nur der aufgeklärte Ethiker, der erfrischende Naturphilosoph, in dem das Denken der Vorsokratiker weiterglimmt, sondern auch der nachplatonische Philosoph der Müdigkeit, der Resignation. Karl Marx verfaßte, bevor er in den Kryptoplatonismus der Kommunisten verfiel, eine aufschlußreiche Doktordissertation über die Differenz zwischen der demokritischen und der epikureischen Philosophie. Worin besteht nun die Differenz zwischen der epikureischen und der nietzscheschen Philosophie? Epikur und Nietzsche sind sich darin einig, eine Ethik auf naturphilosophische Fundamente zu stellen. Aber Epikur wird zum „Seelen-Beschwichtiger". Er entwickelt eine Lehre von der Glückseligkeit, eine Heilslehre. Er bekämpft die griechischen Voraussetzungen des Christentums, schafft aber in seinem Garten etwas dem Christentum sehr Ähnliches. Nietzsche hingegen hat es auf eine Anthropologie abgesehen, auf eine Anthropologie nicht in entwicklungsgeschichtlicher, ethnischer oder biologisch-medizinischer Hinsicht, sondern als eine aller Soziologie vorzuschaltende Untersuchung der Soziabilität des Menschen unter seinen verschiedenen Existenzbedingungen. Er benutzt den Begriff „Anthropologie" noch nicht, aber er schafft die Voraussetzungen für eine Anthropologie, die bis heute nicht geleistet wurde.
Epikur,
Brief an Menoikeus, 126.
Volker Ebersbach
60
Welchen
Ertrag bringt nun aber die Untersuchung dieser Differenz? Zur Zeit Epikurs Tragödie bereits ausgespielt. Epikurs Lehre zielt darauf ab, Tragödien zu
hat die antike
vermeiden. Seine Formel lautet: Wenn das Menschenleben tragisch wäre, so wäre es nicht lebenswert, aber wir können genug dafür tun, daß es nicht tragisch wird. Nietzsche schüttelt genau dazu stirnrunzelnd den Kopf. Für ihn ist es wie für Aischylos und für Sophokles nicht möglich, sich dem Tragischen der menschlichen Existenz zu entziehen.
Und dennoch sagt er: Ja] Gerade weil es tragisch ist, ist das Leben dem lebenswert, der reich genug an Lebenskraft ist. Dionysos selbst, der mythische Schöpfer der Tragödie, steht vom Anfang bis zum Ende in Nietzsches Denken für die Formel des Lebens überhaupt: „Der dionysische Musiker", heißt es in der Geburt der Tragödie, „ist ohne jedes Bild völlig nur selbst Urschmerz und Urwiderklang ...".' Und zum Thema „Was ich den Alten verdanke" sagt er in der Götzen-Dämmerung: „Die Psychologie des Orgiasmus als eines überströmenden Lebens- und Kraftgefühls, innerhalb dessen der Schmerz noch als Stimulans wirkt, gab mir den Schlüssel zum Begriff des tragischen Gefühls ,..".127 Der dynamische Dionysos und der statische, dogmatisch erstarrende Epikur sind für Nietzsche letztlich doch unvereinbar. Hedonistisch und tragisch werden ihm Gegensätze. Nietzsches Anthropologie ist folglich eine Tragische Anthropologie, und Dionysos ist das Symbol dieser Tragischen Anthropologie. Die Definition der Anthropologie Nietzsches als einer Tragischen Anthropologie ist der Ertrag des Vergleichs seines Denkens mit dem Epikurs. Zur antiken Tragödie gehört das erheiternde, auflockernde Satyrspiel. Wie sähe ein Satyrspiel zu Nietzsches Tragischer Anthropologie aus? „Es brauchte hundert Jahre, bis Griechenland dahinter kam, wer dieser Gartengott Epicur gewesen war", meint Nietzsche, und er fragt: „Kam es dahinter?"128 Kam Nietzsche dahinter? könnte sich Epikur erkundigen. Er könnte den unruhigen, stirnrunzelnden Gast seines Gartens mit glatter Stirn fragen: Wo ist dein „Übermensch"? Wo ist dein „neuer Adel"? Sind das nicht alles Utopien? Willst du nicht doch lieber hier bleiben? Nietzsche mag antworten: Das ist ja gerade der Schlüssel für alles Tragische, was du da Utopie nennst, daß die Welt, wie sie ist, gerade den höchsten Wesen, die sie hervorbringt, alles, alles vereitelt, wonach sie trachten. Ihr Griechen nennt das den Neid der Götter. Aber „was wäre denn zu schaffen, wenn Götter da wären! Also sprach Zarathustra."129 Der, nickt Epikur, der trachtet nicht nach Glücke, sondern nach seinem Werke. Aber was ist dir die höchste Lust? Ist es nicht dein Werk? Ist es nicht das Schaffen? Was ist denn dein Schaffen, dein Werk, wenn es nicht Lust und Glück ist? Also verwendest du nur andere Worte für das, was ich gemeint habe. Schon am Schluß des Zweiten Teils von Menschliches, Allzumenschliches, bevor der „Wanderer" mit seinem „Schatten" zu reden beginnt, beschwört Nietzsche jene „Hadesfahrt" herauf, als die er das Jahr 1879 erlebt hat: „Auch ich bin in der Unterwelt gewesen, wie Odysseus, und werde es noch öfter sein; und nicht nur Hammel habe ich geopfert, um mit einigen Todten reden zu können, sondern des eigenen Blutes nicht ge-
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...
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KSA, GT, 1,44. KSA, GD, 6, 160. KSA, JGB, 5, 21. KSA, ZA, 4, 111.
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Nietzsche im Garten Epikurs
61
schont." Die „Tödten" waren „Epikur und Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer". Er hatte Tribschen, die „ferne Insel der Glückauf dem „Wege des Schaffenden"132 wie einen Garten Epikurs verlassen müssen, weil er sich selbst nicht verraten konnte. Und er bewahrte ihn sich in gut epikureischer Indifferenz, nach der es so, aber auch ganz anders sein kann, wie er Epikur in der Fröhlichen Wissenschaft porträtiert hat.133
seligen"131,
-
130
131
KSA, MA II, 2, 533f.
Vgl. Anm. 132 133
5.
KSA, ZA, 4, 80ff KSA, FW, 3,411.
Volker Riedel
Nietzsche und das Bild einer ,dionysischen Antike' in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts
Zwischen der Romantik und den postnaturalistischen Strömungen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gab es in der deutschsprachigen Literatur und zwar nicht so sehr im quantitativen, wohl aber im qualitativen Sinne nur eine geringfügige AntikeBereits seit 1800 war es im Zusammenhang mit der Herausbildung natiound naler religiöser Strömungen zu einer spürbaren Abkehr von den traditionellen antiken Leitbildern gekommen. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts dann waren jene Schriftsteller, die die literarische Entwicklung auf Dauer am stärksten prägten, vornehmlich der bürgerlichen Realität ihrer Zeit zugewandt, war die Rezeption der Antike kein konstituierendes Merkmal der Epoche mehr gewesen. Erst für die Literatur des 20. Jahrhunderts war wieder eine engere Beziehung zum Altertum insbesondere auch charakteristisch. zum griechischen Mythos Dennoch sind bereits im 19. Jahrhundert die Weichen für das folgende gestellt worden und haben sich Züge herausgebildet, die erst im zwanzigsten voll zum Tragen kadie nach einer Formulierung Manfred Landfesters men. In gewissem Sinne ist für Jahrhunderts ein des des 19. „Laboratorium" diejenige zwanzigsten Antikerezeption gewesen. Dies gilt für die Literatur selbst hier seien der Zugang zu Aristophanes als dem Prototyp eines politisch engagierten Schriftstellers oder die Ironisierung und Travestierung antiker Motive genannt -; dies gilt mindestens ebensosehr für die Philosophie, in der vor allem zwei Richtungen theoretisch ausgeprägt und fundiert wurden, die sich in der poetischen Praxis als höchst produktiv erwiesen haben. Es ist dies einmal die sozialkritische Interpretation der Antike in mehreren Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels, die zwar die Potenzen der Polisdemokratie und des auf „Totalität" ausgerichteten griechischen Menschenbildes schätzten und in deutlicher Anknüpfung an Gedankengut der klassischen deutschen Literatur und Philosophie eine hohe Achtung vor der griechischen Kunst bekundeten, zugleich aber die -
rezeption.1
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Vgl. V. Riedel, Antikerezeption in der deutschen Literatur vom Renaissance-Humanismus bis zur Gegenwart. Eine Einführung, Stuttgart, Weimar 2000, 223-253. Im vorliegenden Aufsatz wird mehrfach auf diese Publikation Bezug genommen. In verschiedenen Vorträgen und Diskussionsbeiträgen. -
2
Volker Riedel
64
sozialen Antagonismen der Antike und die Beschränktheit jener „Totalität" analysierten und sich von „weltgeschichtlichen Totenbeschwörungen" und „Selbsttäuschungen" der bürgerlichen Antikerezeption um 1800 distanzierten3. Zum anderen aber ist es Friedrich Nietzsches Deutung der Antike und ihrer Kunst im Zeichen des Gegensatzes und der Synthese von Apollinischem und Dionysischem bzw. im Zeichen des Dionysos allein, die sich vehement von dem allzu glatten und harmonischen Antikebild der deutschen Klassik und mehr noch von dessen Trivialisierungen im 19. Jahrhundert abgrenzte. Beide Konzeptionen haben nicht unwesentlich dazu beigetragen, daß die literarische Antikerezeption des 20. Jahrhunderts in wesentlich anderen Bahnen verlief als diejenige des achtzehnten. Das klassische deutsche Antikebild, wie es poetisch und theoretisch von Autoren wie Winckelmann, Herder, Goethe, Schiller und Wilhelm von Humboldt vertreten wurde, war geprägt durch Formeln wie „eine edle Einfalt, und eine stille Größe"4, „Verstand und Maß und Klarheit"5 oder Vereinigung von „Sinnenglück und Seelenfrieden"6; Leitgedanken waren Bändigung des Chthonischen, Ausgleich der Gegensätze, Humanität, Heiterkeit und Harmonie; Griechenland galt als „Urbild und Vorbild aller Schöne, Grazie und Einfalt"7, und die Griechen waren „nicht nur ein nützlich historisch zu kennendes Volk, sondern ein Ideal"8. Dabei war man sich allerdings durchaus bewußt, daß Maß und Humanität aus Konflikten hervorgegangen waren, daß es sich bei dem Umgang mit den alten Mythen um eine Milderung, eine Stilisierung und Ästhetisierung handelte und daß die griechische Kunst etwas Einmaliges und Unwiederholbares war. Im 19. Jahrhundert ging dieses Bewußtsein mehr oder weniger verloren. In der altertumswissenschaftlichen Einzelforschung zwar hat man sich den Realitäten der Antike zugewandt aber Schule, Allgemeinbildung', Literatur und im Grunde auch die altertumswissenschaftliche Gesamtinterpretation neigten zur Idealisierung, Harmonisierung und Heroisierung. So hat Gustav Schwab ausdrücklich die schönsten Sagen des klassischen Altertums" nacherzählt, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff stellte den (in der Antike höchst widersprüchlichen) Herakles als einen makellosen Helden unter dem Vorzeichen des preußischen Tugendideals vor „Mensch gewesen, Gott geworden; Mühen erduldet, Himmel er—
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3
4
6
8
Marx, „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte", in: K. Marx/F. Engels: Werke, Berlin 1956-1968, Bd. 8, 115f. Joh. J. Winckelmann, „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst", in: Winckelmann, Sämtliche Werke. Einzige vollständige Ausgabe, v. J. Eiselein, Donaueschingen 1825-1829 (Neudruck Osnabrück 1965), Bd. 1, 30. Joh. W. Goethe, „Griechheit", in: ders., Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887-1919, Abt. 1, Bd. 5/1, 251. Fr. Schiller, „Das Ideal und das Leben", in: ders., Werke. Nationalausgabe, Weimar 1943ff., Bd. 2/1, 396. Joh. G. Herder, „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit", in: ders., Sämtliche Werke, hg. v. B. Suphan, Berlin 1877-1913, Bd. 5, 498. W. v. Humboldt, „Über den Charakter der Griechen, die idealische und die historische Ansicht desselben", in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1903-1935 (Photomechanischer Nachdruck 1968), Bd. 7/2, 609. K.
Nietzsche und das Bild einer
.dionysischen Antike
65
'
worben"9 -, und der seinerzeit hochgeehrte Emanuel Geibel gestaltete in seinen Gedichund in dem Drama „Sophonisbe" eine idealisierte Welt der Feierlichkeit und Schönheit, des Patriotismus und der Harmonie, in der jegliche Tragik in einer glücklichen Perspektive aufgehoben war. Gegenüber einer derartigen Sicht auf das ,klassische' Altertum bedeutet Nietzsches 1872 erschienene Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik einen grundlegenden Neuansatz. Gewiß ist der Philosoph weder, wie er selbst behauptete (KSA, EH, 6, 310f), der „Entdecker" des Dionysischen noch der erste, der Apollon und Dionysos als Antipoden sah, und auch das Wissen um die ,dunklen', ,barbarischen' und tragischen Seiten der Antike hatte schon vor ihm seinen dichterischen Ausdruck gefun-
ten
sowohl die literarischen wie die wissenschaftlichen Vorläufer Nietzsches sind gut erforscht, und ich kann es hier bei dem bloßen Hinweis bewenden lassen1 -; doch kein früherer Dichter oder Denker hatte die Problematik mit gleicher Intensität erörtert für Hölderlin etwa waren Dionysos und Christus Brüder -, und es ist (laut Rudolf Rehn) „vor allem ihm zu verdanken, daß sich das seit der deutschen Klassik vorherrschende Bild vom heiteren, an Maß, Schönheit und Rationalität orientierten antiken Menschen als Illusion erwies"11. Gestatten Sie mir bitte, bevor ich mich dem Bild einer ,dionysischen Antike' in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts zuwende, einige philosophiegeschichtliche, theoretische und methodologische Vorüberlegungen. Es handelt sich um einen sehr speziellen Aspekt der Nietzsche-Rezeption, der zum Zweck der Analyse isoliert werden muß, der aber natürlich in größere Zusammenhänge eingebettet ist. Nietzsches Wirkungen gingen weit über die Literatur hinaus auf Philosophie und Politik, auf Kult und Kultur, auf Altertums- und andere Geisteswissenden
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9 10
Wilamowitz-Moellendorff, Euripides Herakles, Berlin 1959, Bd. 2, 38. M. Vogel, Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums, Regensburg 1966; M. L. Baeumer, „Heinse und Nietzsche. Anfang und Vollendung der dionysischen Ästhetik", in: Baeumer, Heinse-Studien, Stuttgart 1966, 92-124; K. Gründer, „Apollinisch / dionysisch I", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. J. Ritter, Darmstadt 1 (1971), Sp. 442-445; M. L. Baeumer, „Nietzsche and the Tradition of the Dionysian", in: Studies in Nietzsche and the Classical Tradition, ed. by James C. O'Flaherty, T. F. Sellner, and R. M. Helm, Chapel Hill 1976, 165-189; ders., „Das moderne Phänomen des Dionysischen und seine ,Entdeckung' durch Nietzsche", in: Nietzsche-Studien 6 (1977), 123-153; E. Behler, „Die Auffassung des Dionysischen durch die Brüder Schlegel und Friedrich Nietzsche", in: Nietzsche-Studien 12 (1983), 335-354; H. Pfotenhauer, „Dionysos. Heinse Hölderlin Nietzsche", in: Hölderlin-Jahrbuch 26 (1988/89), 38-59; U. Beyer, Christus und Dionysos. Ihre widerstreitende Bedeutung im Denken Hölderlins und Nietzsches, Münster, Hamburg 1992; S. Barbera, „Das Apollinische und das Dionysische. Einige nichtantike Quellen bei Nietzsche", in: Nietzsche und die antike Philosophie, hg. von D. W. Conway und R. Rehn, Trier 1992, 131-152; V. Vivarelli, „Metaphern des Dionysischen", ebenda, 153-171; R. Schlesier, „Olympische Religion und chthonische Religion: Creuzer, K. O. Müller und die Folgen", in: Schlesier, Kulte, Mythen und Gelehrte. Anthropologie der Antike seit 1800, Frankfurt/M. 1994, 21-31. R. Rehn, „Nietzsches Modell der Vorsokratik", in: Nietzsche und die antike Philosophie (wie Anm. 10), 37. Vgl. D. Jähnig, Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte. Zum Verhältnis von Vergangenheitserkenntnis und Veränderung, Köln 1975, 137. U.
v.
Vgl.
-
' '
-
-
Volker Riedel
66
schaffen
wichtige Untersuchungen zu diesem Thema ziehen die Literatur sogar übernicht oder nur am Rande in Betracht12 -, und auch die literarische Antikerezeption ist keineswegs auf die Antike beschränkt, sondern umfaßt nicht minder die Lehre vom „Übermenschen", von der „ewigen Wiederkunft" und vom „Willen zur Macht", die Verehrung der Renaissance oder Schlagworte wie „Barbaren" und „blonde Bestie", bezieht sich auf seine „Artisten-Metaphysik" (GT, KSA 1,13) oder ist von der Sprache des Philosophen fasziniert. (In den Veröffentlichungen Bruno Hillebrands zu Nietzsche und der deutschen Literatur etwa spielt die Antike nur eine marginale Rolle13, und Beda Allemann konzentriert sich auf Auseinandersetzungen „in einem allgemeinen geistesgeschichtlichen Ebenso ist zu bedenken, daß das Dionysische bzw. die Polarität von Apollinischem und Dionysischem der zentrale Aspekt in einem von Nietzsche inaugurierten literarischen Antikebild bei dem Philosophen selbst keineswegs nur auf die Antike bezogen sind und folglich auch in der Literatur allgemeinere Lebensfragen betreffen können. Es soll mir nicht so sehr um ,Einflüsse' Nietzsches gehen als vielmehr um den Wandel des Antikebildes um 1900. Neben genealogischen Abhängigkeiten gibt es typologische Übereinstimmungen und vor allem Wesensverwandtschaften, die in denselben historischen, sozialen und kulturellen Erfahrungen wurzeln. So finden sich einige Parallelen und Ähnlichkeiten zwischen Nietzsche und Conrad Ferdinand Meyer (Konzeption des hervorragenden einzelnen, Affinität zur Renaissance), obwohl sie nur geringe Beund frühzeitig schon rührungen miteinander hatten und die Unterschiede hatte man Analogien zwischen Nietzsches Schrift Also sprach Zarathustra und Carl Spittelers Epos Prometheus und Epimetheus erkannt dieses allerdings war zuerst entstanden Die Suche nach einem Ausweg aus dem bürgerlichen juste milieu im letzten haupt
-
Sinne"14.) -
-
überwogen15, -
.
12
13
Vgl. R. F. Krummel, Nietzsche und der deutsche Geist. Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum [...]. Ein Schrifttumsverzeichnis [...], 3 Bde., Berlin, New York 1974-1998; Nietzsche heute. Die Rezeption seines Werks nach 1968 (15. Amherster Kolloquium zur deutschen Literatur), hg. v. S. Bauschinger, S. L. Cocalis und S. Lennox, Bern, Stuttgart 1988; Nietzsche and Modern German Thought, ed. by K. Ansell-Pearson, London, New York 1991; H. Cancik / H. Cancik-Lindemaier, Philolog und Kultfigur. Friedrich Nietzsche und seine Antike in Deutschland, Stuttgart, Weimar 1999. Nietzsche und die deutsche Literatur[...J, hg. v. B. Hillebrand, 2 Bde., München, Tübingen 1978; B. Hillebrand, Nietzsche. Wie ihn die Dichter sahen, Göttingen 2000; ders., „Literatur und Dichtung (deutschsprachig)", in: Nietzsche-Handbuch. Leben Werk Wirkung, hg. v. H. Ottmann, Stuttgart, Weimar 2000, 444-466. Vgl. auch P. Böckmann, „Die Bedeutung Nietzsches für die Situation der modernen Literatur", in: Deutsche Vierteljahrsschriftfür Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 27 (1953), 77-101; M. Fleischer, „Das Spektrum der Nietzsche-Rezeption im geistigen Leben seit der Jahrhundertwende. Übersicht und Materialien", in: Nietzsche-Studien 20 (1991), 1-47; St. E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, Stuttgart, Weimar 1996. B. Allemann, „Nietzsche und die Dichtung", in: Nietzsche. Werk und Wirkungen, hg. v. H. Steffen, -
-
-
14
15
Göttingen 1974,45-64. Vgl. W. P. Bridgwater, „C.
F.
Meyer and Nietzsche", in: Modern Language Review 60 (1965), 568-
583. 16
Vgl. den
Kommentar zu Spittelers Aufsatz „Meine Beziehungen zu Nietzsche" in: C. Spitteler, Gesammelte Werke hg. v. G. Bohnenblust, W. Altwegg, R. Faesi, Zürich 1945-1958, Bd. 10/2, ,
Nietzsche und das Bild einer
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dionysischen Antike
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Drittel des 19. Jahrhunderts war ein Anliegen, das mehrere Intellektuelle verfolgten und hinzu kam bei den drei Schweizer bzw. in der Schweiz wirkenden Autoren die Kenntnis Jacob Burckhardts. Weiterhin ist zu beachten, daß Bezugnahmen auf Dionysos und das Dionysische (die ja bis zu einem gewissen Grade Schlagworte und Mode-Erscheinungen geworden waren) auch unabhängig von einem eingehenderen Studium Nietzsches erfolgen konnten zumal in den ersten Jahren der literarischen Nietzsche-Rezeption unterliefen bekanntlich zahlreiche Trivialisierungen, Banalisierungen und Mißverständnisse und in bezug auf Apollon und Dionysos gab es sogar noch in der expressionistischen Ära Unsicher-
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heiten18.
Bei den wichtigeren Autoren (und auf diese werde ich mich vor allem beziehen) kann doch auch hier ist zu man in der Regel eine genauere Kenntnis Nietzsches nachweisen unterscheiden zwischen einer expliziten, mehr oder weniger theoretischen Auseinandersetzung in Vorträgen und Essays und einer impliziten Aufnahme von Motiven in einem lyrischen, epischen oder dramatischen Werk. Die Nietzsche-Essays von Heinrich Mann, Thomas Mann, Alfred Döblin oder Gottfried Benn haben einen anderen Charakter als die Anklänge an den „Übermenschen" bei Carl Sternheim19, das Thema der Steigerung und die Explikation des „Möglichkeitssinnes" in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften oder eben die Beschwörung einer rauschhaften Antike bei nicht wenigen Autoren aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hinzu kommt, daß in einem Kunstwerk verschiedene Quellen zusammenströmen. So überlagerten sich Elemente von Nietzsches Philosophie mit Auffassungen seiner theoretischen Vorläufer Schopenhauer, Bachofen und Burckhardt oder seines Freundes Erwin Rohde (dessen Psyche von 1890/94 von nicht unbeträchtlicher Wirkung gerade bei Schriftstellern gewesen ist); die mehr oder weniger ,unklassischen' Antikebilder Friedrich Hölderlins und vor allem Heinrich von Kleists, die bei deren Zeitgenossen wenig Beachtung gefunden hatten, waren jetzt in das Bewußtsein von Dichtern und Publikum gelangt, und Nietzsches Konzeption vom Apollinischen und Dionysischen wurde in Verbindung gesehen mit Sigmund Freuds Unterscheidung von „Ich" und „Es". Last but not least ist Dichtung niemals poetisierte Philosophie, sondern entspringt den schöpferischen Intentionen eines Autors, seinen sozialen Erfahrungen und literaturimmanenten Entwicklungen. Primär ist nicht der Einfluß eines Philosophen, sondern die Auseinandersetzung eines Schriftstellers mit seiner Zeit, die ihn dazu führt, vorü-
17 18
19 0
268-271 und 288; weiterhin: W. Stauffacher, Carl Spitteler. Biographie, Zürich, München 1973, 622-626; P. Pütz, Friedrich Nietzsche, Stuttgart 21975, 77f. Vgl. B. Hillebrand, Nietzsche. Wie ihn die Dichter sahen (wie Anm. 13), 48-67. Vgl. G. Martens, „Nietzsches Wirkung im Expressionismus", in: Nietzsche und die deutsche Literatur (wie Anm. 13), Bd. 2, 79. Vgl. H. W. Reichert, „Nietzsche und Carl Sternheim", ebenda, Bd. 2, 11-35. Vgl. R. v. Heydebrand, Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften". Ihr Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Denken, Münster 1966; Ch. DreslerBrumme, Nietzsches Philosophie in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften ". Eine vergleichende Betrachtung als Beitrag zum Verständnis, Frankfurt/M. 1987; B. Hillebrand, Nietzsche. Wie ihn die Dichter sahen (wie Anm. 13), 103-111. „
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oder auf Dauer Elemente einer philosophischen Lehre aufzunehmen oder umzuformen. Nietzsches Lehre vom Apollinischen und Dionysischen ist äußerst facettenreich. Zu Beginn der Geburt der Tragödie geht er von der „Duplicität" (KSA 1, 25) des Apollinischen und des Dionysischen aus; diese zwei grundlegenden „Kunsttriebe" (ebenda, 30) bedingen sich für ihn wechselseitig und finden in der griechischen Tragödie von den Anfangen bis zu Aischylos und Sophokles zur Einheit. Das Dionysische ist bei Nietzsche die Sphäre des Rausches, des Übermaßes, der Ekstase und des bacchantischen Tanzes, des Chaos, der Kollektivität und des überschäumenden Lebens, verkörpert vor allem in der Musik das Apollinische hingegen ist die Sphäre des Traumes und des Scheins, des Maßes und der Besonnenheit, der Klarheit, Individuation und Harmonie, verkörpert in bildender Kunst, in bildhaft-plastischer Poesie und in der heiteren olympischen Götterwelt. Dabei unterscheidet Nietzsche zwischen dem ,barbarischen' Dionysischen des asiatischen Kults mit seiner Raserei und Ausschweifung und dem eher sublimierten Dionysischen in Griechenland, charakterisiert durch seine Beziehung aufs Apollinische, auf die Möglichkeit einer Versöhnung der beiden Stilgegensätze (ebenda, 31-34). Würde das Dionysische allein herrschen, käme es zu Chaos und Anarchie; dominierte das Apollinische, so hätte dies Erstarrung zur Folge beide Prinzipien seien ' also auf ihr jeweiliges Gegenteil angewiesen. Dennoch sollte die agonale Spannung zwischen diesen „Kunsttrieben" nicht verabsolutiert und ein literarisches Antikebild, das sich ausschließlich auf das Dionysische bezieht, nicht von vornherein als nicht-nietzscheanisch bezeichnet werden.22 Im 18. Kapitel der Geburt der Tragödie erscheint das Dionysische durchaus schon als das übergreifende Prinzip, werden vor allem die Gefahren einer „theoretischen" oder „sokratischen Kultur" aufgezeigt (KSA 1, 115-120)23 -ja, bereits die Formel ,[...] aus dem 4 Geiste der Musik' legt den Akzent allein auf den einen Pol Eine Vorstudie der Schrift 25 hieß Die dionysische Weltanschauung (KSA 1, 551-577) und von den relativ nüchternen Beschreibungen des Apollinischen sticht von Anfang an die eindringliche, suggestive Art ab, mit der das Dionysische vorgestellt wird2 Im Apollinischen leben die Grundzüge des ,klassischen' Antikebildes weiter das eigentümlich Neue bei Nietzsche ist die Konzeption des Dionysischen. Im späteren Werk des Philosophen hat
hergehend
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Vgl. Chr. Schule, „Apollinisch dionysisch", in: Nietzsche-Handbuch (wie Anm. 13), 187-190. So B. Hillebrand in bezug auf Gottfried Benns Werk vor 1930 in der „Einführung" zu Nietzsche und die deutsche Literatur (wie Anm. 13), Bd. 1, 53. Vgl. auch Chr. Schule, „Apollinisch dionysisch" (wie Anm. 21), 189. Vgl. J. Salaquarda, „Dionysos gegen den Gekreuzigten. Nietzsches Verständnis des Apostels Paulus", in: Nietzsche, hg. v. J. Salaquarda, Darmstadt 21996, 298 und 317f. Vgl. D. Jähnig, Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte (wie Anm. 11), 141. Vgl. B. v. Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik", (Kap. 1-12), Stuttgart, Weimar 1992, 21f.; M. Landfester, „Kommentar", in: Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie. Schriften zu Literatur und Philosophie der Griechen, hg. v. M. Landfester, Frankfurt/M. 1994, 451 f. Vgl. B. v. Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche (wie Anm. 25), 56. Vgl. J. Mohr, „Apollinisch / dionysisch II", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (wie Anm. 10), Sp. 445f.; D. Jähnig, Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte (wie Anm. 11), 137; M. L. -
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jenes auch kaum noch eine Rolle gespielt, während dieses immer stärker zu einem Leitbegriff wurde. So identifizierte Nietzsche Zarathustra mit Dionysos und ging in der dem Versuch einer Vorrede zur Neuausgabe der Geburt der Tragödie von 1886 Selbstkritik fast ausschließlich auf das Phänomen des Dionysischen ein (KSA 1,1122). In Götzen-Dämmerung bezeichnete er sich selbst als den ,,letzte[n] Jünger des Philosophen Dionysos" (KSA 6, 160), und Ecce homo ließ er mit der berühmten Antithese ausklingen: „Dionysos gegen den Gekreuzigten" (KSA 6, 374). Sein letztes abgeschlos-
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Werk sind die Dionysos-Dithyramben1 und Briefe vom Januar 1889 unterschrieb er mit dem Namen dieses griechischen Gottes29. Das Dionysische umfaßt bei Nietzsche gleichermaßen „Grausen" wie „Verzückung" (KSA, GT, 1, 28) Leid, Opfer und Untergang (Dionysos ist für ihn in erster Linie der leidende, der zerstückelte Gott30) ebenso wie eine universelle Bejahung des Lebens, den Triumph des Daseins auf dem Untergrund des Schreckens. „Das Jasagen zum Leben", heißt es in Götzen-Dämmerung (KSA 6, 160), „selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen; der Wille zum Leben, im Opfer seiner höchsten Typen der eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend das nannte ich dionysisch, das errieth ich als die Brücke zur Psychologie des tragischen Dichters." Im engeren Sinne handelt es sich um „Kunsttriebe". Diese aber kommen „aus der Natur selbst" (KSA, GT, 1, 30) und dienen nicht nur zur Erklärung einer literarischen Gattung, sondern zugleich zur Deutung eines Weltzustandes31; vom Wesen des Tragischen wird auf das Wesen des Griechentums, von der Kunst auf das Leben geschlossen. Indem Nietzsche bereits das Apollinische nur im Zusammenklang mit dem Dionysischen gelten läßt und später allein das Dionysische in all seiner Ambivalenz anerkennt, grenzt er sich ab von der ,klassischen' Vorstellung einer humanen, harmonischen und heiteren32 Antike und stellt statt dessen ein archaisches, tragisches, grausames Altertum vor Augen33. Dabei verlagert sich im Laufe seines Schaffens der Akzent von der Distanz zum ,klassischen' Antikebild auf die Polemik gegen das Christentum. senes
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Baeumer, „Das moderne Phänomen des Dionysischen" (wie Anm. 10), 133; H. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, Berlin, New York 21999; M. Landfester, „Kommentar" (wie Anm. 25), 421 f. Zur Widerlegung von Versuchen, die offenkundige Dominanz des Dionysischen zu bestreiten, vgl. E. Henrich, „Die Geburt der Tragödie: Eine Präfiguration von Nietzsches Philoso-
phie", in: Nietzsche-Studien 18 (1989), 117f. Vgl. Fr. Nietzsche, Dionysos-Dithyramben, hg. v. W. Groddeck, 2 Bde., Berlin/New York 1991. Vgl. M. Landfester, „Kommentar" (wie Anm. 25 ), 422. Zu Nietzsches später DionysosRezeption vgl. H. Cancik, Nietzsches Antike. Vorlesung, Stuttgart, Weimar 1995, 150-162. KSA, GT, 1, 72f. Vgl. A. Henrichs, „Loss of Self, Suffering, Violence: The Modern View of Dionysus from Nietzsche to Girard", in: Harvard Studies in Classical Philology 88 (1984), 212 und -
220. G. Mattenklott, „Nietzsches Geburt der Tragödie als Konzept einer bürgerlichen Kulturrevolution", in: Positionen der bürgerlichen Intelligenz zwischen bürgerlicher Reaktion und Imperia-
Vgl.
lismus
[...], hg.
v.
G. Mattenklott und K. R.
„Kommentar" (wie Anm. 25), 451. Zu Nietzsches Polemik gegen die
1,11). Vgl. Gh. Ugolini, „Philologica",
Scherpe, Kronberg/Ts. 1973, 105;
„Heiterkeit" der Griechen vgl.
in: Nietzsche-Handbuch
DW
(KSA 1, 561)
(wie Anm. 13), 162.
M. Landfester, und GT
(KSA
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Der Facettenreichtum der Nietzscheschen Auffassung vom Dionysischen hat ohne Zweifel zur Mehrschichtigkeit der literarischen Nietzsche-Rezeption beigetragen. Wir finden Werke, die von der Polarität der beiden „Kunsttriebe" zeugen, ja sogar die Überwindung des Dionysischen durch das Apollinische verkünden häufiger aber ist das Bild einer rauschhaften, abgründigen, irrationalen, ekstatischen Antike. Der Akzent kann auf Leid, Opfer und Zerstörung oder auf einer triumphierenden Bejahung des Lebens liegen und das Apollinische wie vor allem das Dionysische kann als ein Prinzip der Kunst oder als ein Grundzug des Lebens gedeutet werden. Nietzsches Vorstellungen von der Duplizität der zwei Kunsttriebe und sein Bild von einer .dionysischen Antike' sind für die Literatur des 20. Jahrhunderts ebenso wie für mehrere geisteswissenschaftliche Disziplinen äußerst anregend gewesen. Die Altertumswissenschaft allerdings urteilte zunächst vernichtend und dann zurückhaltend insbesondere deshalb, weil sich der Verfasser von Zukunftsphilologie', bald als princeps philologorum der Wilhelminischen Ära etablierte. Selbst Erwin Rohde, der die Geburt der Tragödie gegen Wilamowitz verteidigt hatte, hat es vorgezogen, in seinem hochgradig von Nietzsche abhängigen Buch Psyche den Philosophen nicht zu erwähnen. Seit etwa 1930 fand Nietzsches Frühschrift dann auch in der ,Zunft' eine gewisse Anerkennung, und in der Gegenwart urteilt man zwar nicht einhellig, aber gelassener, erhebt Schrift in der Grundtendenz berechtigte kritische Einwände im einzelnen und hält die 4 für bedenkenswert, ja auch für die Gräzistik bedeutsam. Wir wissen heute, daß Wilamowitz' Kritik einmal darauf zurückzuführen ist, daß das Buch nicht den Normen einer philologischen Publikation und den Gepflogenheiten des wissenschaftlichen Stils entsprach, und zum anderen selbst Ausdruck eines inzwischen überholten, einseitig auf Harmonie und Schönheit zielenden Griechenbildes war. („[...] in der tat liegt der hauptanstoss des buches in ton und tendenz."35) Es spricht vieles dafür, daß Wilamowitz' eigene (bereits erwähnte) Herakles-Deutung auch eine Reaktion auf die Antikekonzeption seines älteren Kollegen gewesen ist.36 Gewiß ist Nietzsches Hypothese, „dass die griechische Tragödie in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des Dionysus zum Gegenstand hatte und dass der längere Zeit hindurch einzig vorhandene Bühnenheld eben Dionysus war" (KSA, GT, 1, 71), angesichts der Quellenlage ein spekulatives Konstrukt Dionysos als Gegenstand der Tragödie ist erst in den Bakchen des Euripides faßbar -37; der Philosoph hat die Korrelation des Apollinischen und des Dionysischen -
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Während Hubert Cancik (Nietzsches Antike [wie Anm. 29], 50-63) die Schrift zurückhaltend beurteilt, steht ihr Joachim Latacz (Fruchtbares Ärgernis. Nietzsches „Geburt der Tragödie" und die
Basel 1998) wohlwollend gegenüber. Vgl. weiterhin die KomReibnitz und Manfred Landfester (wie Anm. 25) sowie Andrea Orsucci, „Altphilologie", in: Nietzsche-Handbuch (wie Anm. 13), 428f. U. v. Wilamowitz-Moellendorff, „Zukunftsphilologie!", in: Der Streit um Nietzsches „Geburt der Tragödie". Die Schriften von E. Rohde, R. Wagner, U. v. Wilamowitz-Moellendorff, Hildesheim
gräzistische Tragödienforschung, mentare von Barbara v.
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1969,40,29.
Vgl. C. Zelle, „Der Abgang des Herakles. Beobachtungen zur mythologischen Figurenkonstellation
in Hinblick auf Friedrich Nietzsche und Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff', in: NietzscheStudien 23 (1994), 200-225. Vgl. B. v. Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche (wie Anm. 25), 257; M. Landfester, „Kommentar" (wie Anm. 25), 591; H. Cancik, Nietzsches Antike (wie Anm. 29), 55.
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allzusehr ins Grundsätzliche gesteigert die Bedeutung des Dionysos (der in der Antike sozusagen eine ,Gottheit zweiten Ranges' war) überbewertet und an dem ,Hauptgott' Apollon die ,dunklen' Züge übersehen (wie sie sich in der Schindung des Marsyas oder in der Rache an Niobe zeigen)" doch er hat auch vertiefte Einsichten in das Wesen der griechischen Kunst und der griechischen Gesellschaft, in die Widersprüchlichkeit der Antike gewonnen. Schließlich darf- namentlich in bezug auf die Rezeptionsgeschichte ein Aspekt der Nietzscheschen Philosophie nicht ausgeklammert bleiben: der politisch-soziale. Nietzsche war einer der schärfsten Kritiker seiner Zeit der bürgerlichen Gesellschaft in all ihrer Mediokrität, des Bismarck-Reiches mit seiner Diskrepanz zwischen Geist und Macht, eines flachen und illusionären eudämonistischen Optimismus -; er zielte nicht auf simple Machtpolitik, sondern auf eine Steigerung der menschlichen Kultur, suchte eine Überwindung des Nihilismus und einen Lebenssinn auch nach Gottes Tod prognostizierte scharfsichtig reale Gefahren der sozialistischen Bewegung und war gleichdoch die Lösungen, die er zu zeigen sam ein Amoralist aus ethischer Verantwortung waren versuchte, antimodern, antiliberal, antidemokratisch, antisozialistisch kat' exochen1. („Die ernste Weltbetrachtung als einzige Rettung vor dem Sozialismus", lautet eine bezeichnende Wendung aus den Nachgelassenen Fragmenten vom Winter 1870/71 bis zum Herbst 1872 [KSA 1, 259].) Sosehr der Nietzsche-Kult in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sosehr insbesondere die Inanspruchnahme des Philosophen durch den italienischen Faschismus und den deutschen Nationalsozialismus auf Äußerlichkeiten, Oberflächlichkeiten, Mißverständnissen, Vergröberungen, Vereinseitigungen und Fälschungen beruhten: sie waren möglich geworden, weil man ihn wörtlich nahm43, weil man bestimmte Schlagworte zwar aus ihrem Kontext riß und die ironischen Brechungen, die Mehrschichtigkeit einander relativierender Aussagen vernachlässigte, aber ,
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Vgl. M. Vogel, Apollinisch und Dionysisch (wie Anm. 10). Vgl. K Gründer, „Apollinisch / dionysisch I" (wie Anm. 10), Sp. 441; A. Henrichs, „Loss of Self, Suffering, Violence" (wie Anm. 30), 205 und 220. Vgl. K. Löwith, „Nietzsches Vollendung des Atheismus", in: Nietzsche. Werk und Wirkungen (wie
Anm. 14), 7-18. Vgl. B. Hillebrand, „Literatur und Dichtung (deutschsprachig)" (wie Anm. 13), 457f. Vgl. R. Polin, „Nietzsche und der Staat oder Die Politik eines Einsamen", in: Nietzsche. Werk und Wirkungen (wie Anm. 14), 27-44; B. v. Reibnitz, „Nietzsches Griechischer Staat und das Deutsche Kaiserreich", in: Der altsprachliche Unterricht 30 (1987) 3, 76-89; H. Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche (wie Anm. 27), 26f., 51 und 64f; H. Cancik, Nietzsches Antike (wie Anm. 29), 4, 35-49 und passim. Vgl. B. Hillebrand, „Einführung", in; Nietzsche und die deutsche Literatur (wie Anm. 13), Bd. 1, 39; ders., Nietzsche. Wie in die Dichter sahen (wie Anm. 13), 5, 93 und 131; ders.: „Literatur und Dichtung (deutschsprachig)" (wie Anm. 13), 457; H.-M. Gerlach, „Politik (Faschismus, Nationalsozialismus, Sozialdemokratie, Marxismus)", in: Nietzsche-Handbuch (wie Anm. 13), 501-504. Schon Arnold Zweig schrieb 1934 in Bilanz der deutschen Judenheit: „[...] kein großer Denker des 19. Jahrhunderts hat durch seine vergröberten und falsch ausgelegten Schlagworte eine solche Niederlage erlitten wie er." (Zit. n.: Nietzsche und die deutsche Literatur, Bd. 1, 255.) Zur Entwicklung von Arnold Zweigs Nietzsche-Bild vgl. St. E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen (wie Anm. 13), 140f. (Siehe auch Anm. 104.) -
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Schlagworte selbst eben von ihm stammten So steht denn auch im Mittelpunkt des heutigen Interesses an Nietzsche nicht mehr der Aspekt des „Übermenschen" und des „Willens zur Macht", sondern seine Kunstphilosophie, der Gedanke, „dass nur als ein aesthetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt erscheint" (KSA, GT, 1, die
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152).45
Die generelle Ambivalenz von Nietzsches Denken schlägt sich mehr oder weniger vermittelt auch in seinem Antikebild nieder. Das archaische und aristokratische Griechenland war für ihn zumal angesichts der Pariser Commune, die nicht ohne Einfluß auf die Geburt der Tragödie gewesen ist46 geradezu eine Gegenutopie zur Moderne.47 Besonders massiv wird dies erkennbar im 18. Kapitel des Buches, worin sich der Philosoph gegen den „barbarischen Sclavenstand" wendet, der „sich anschickt, [...] Rache zu nehmen" (KSA 1, 117), sowie noch direkter im Fragment einer erweiterten Form der „Geburt der Tragödie" (KSA 7, 333-349), das an das vierte Kapitel anschließt und das der Autor, mit geringfügigen Änderungen, zur dritten der Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern unter dem Titel Der griechische Staat umgearbeitet hat (KSA 1, 764-777)48: einem Text, der ausgerechnet im Jahre 1933 erstmals veröffentlicht worden ¡st. Ich werde noch darauf zurückkommen. Allerdings ist Nietzsches Kunstphilosophie in ihrer äußerst sublimierten Form keineswegs linear auf bestimmte politisch-soziale Konstellationen zurückzuführen. Wenn Gert Mattenklott und, ihm folgend, Bernhard-Arnold Kruse das Prinzip des Apollinischen aus dem Triumph einer aristokratischen Ordnung über die Pariser Commune erklären49, dann ist es nicht ganz einleuchtend, wie dies mit der überwiegenden Bevorzugung des Dionysischen zu vereinbaren sei Gert Sautermeister zumindest leitet eher aus der dionysischen Akzeptanz des Leides und des Todes einen Umschlag in kriegerischen Heroismus, in Antihumanismus und Barbarei ab50. Es wird sich zeigen, daß einerseits beide Prinzipien pervertiert werden konnten und daß andererseits der Kulturkritik und „Artisten-Metaphysik" des Philosophen neben manchen antihumanistischen in beträchtlichem Maße auch emanzipatorische Potenzen51 eigen waren. -
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45 46
Zum Mißbrauch der Nietzscheschen Philosophie auf Grund einer ihr immanenten Fragwürdigkeit vgl. K. Löwith, „Nietzsche nach sechzig Jahren", in: Löwith, Der Mensch inmitten der Geschichte. Philosophische Bilanz des 20. dahrhunderts, hg. v. B. Lutz, Stuttgart 1990, 287-290. Vgl. G. Mattenklott, „Nietzsches Geburt der Tragödie" (wie Anm. 31), 103. Vgl. B.-A. Kruse, Apollinisch Dionysisch. Moderne Melancholie und Unio Mystica, Frankfurt/M.
1987,79,525. Vgl. H. Cancik, Nietzsches Antike (wie Anm. 29), 4. Vgl. B. v. Reibnitz, „Nietzsches Griechischer Staat" (wie Anm. 42); H. Schmid, „Von der Geburt -
47
48
der 49
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Tragödie 13), 77.
bis Richard
Wagner
in
Bayreuth (1871-1878)",
in: Nietzsche-Handbuch
(wie
Anm.
G. Mattenklott, „Nietzsches Geburt der Tragödie" (wie Anm. 31), 103-120; B.-A. Kruse, Apollinisch Dionysisch (wie Anm. 46), 129-137 und 518-535. Vgl. G. Sautermeister, „Zur Grundlegung des Ästhetizismus bei Nietzsche. Dialektik, Metaphysik und Politik in der Geburt der Tragödie", in: Naturalismus /Ästhetizismus, hg. v. Chr. Bürger, P. Bürger, J. Schulte-Sasse, Frankfurt/M. 1979, 992, 224-243. Vgl. B. v. Reibnitz, „Nietzsches Griechischer Staat" (wie Anm. 42), 88. -
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.dionysischen Antike
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Eine nachhaltige Rezeption des Nietzscheschen Antikebildes setzte ein im postnaturalistischen Schaffen Gerhart Hauptmanns und in der Dramatik Frank Wedekinds, bei Stefan George, Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke sowie bei Heinrich und Thomas Mann. Gerhart Hauptmann hat zwar in seiner Autobiographie Das Abenteuer meiner Jugend prononciert erklärt: „Friedrich Nietzsche war nicht unser Mann"53, und in bezug auf den „Übermenschen" war er gewiß dessen „geistiger Antipode"54; aber er hat sich mehrfach mit der Geburt der Tragödie befaßt, und nicht wenige seiner Werke sind unabhängig von ihrem Sujet durch ein dionysisches Lebensgefühl bestimmt (etwa die Dramen Die Jungfern vom Bischofsberg sowie Und Pippa tanzt! und die Erzählung Der Ketzer von Soana), oder sie apostrophieren den leidenden Dionysos (wie die Epen Till Eulenspiegel und Der Große Traum). Im Unterschied zu Nietzsche geht es dem Dichter um eine Verschmelzung von Dionysos und Christus, um eine Vermittlung zwischen dionysischer Ekstase und christlicher Liebe. Hauptmanns Reisetagebuch Griechischer Frühling von 1908 stellt nicht das apollinisch-heitere Hellas der deutschen Klassik vor, sondern bekundet Interesse vor allem für den Dionysoskult und die Dionysosmysterien, beschwört eine naturhaftelementare Antike, die ihm den Zugang zur Tragödie, zu ihrem Schrecken, ihren Morden und ihren Menschenopfern eröffnete. „[...] ohne Dionysos kein Hellas", heißt es in den Entwürfen.55 Auch in dem zwischen 1907 und 1912 entstandenen Drama Der Bogen des Odysseus dominiert das Wilde, Düstere, Urtümliche.5 Ist bereits hier ganz das dionysische Element nicht so sehr durch Daseinsanders als bei Nietzsche und als vielmehr vor allem durch Leid und Schrecken bestimmt, so bejahung Triumph ist die ,Atriden-Tetralogie' von 1940/43 vollends durch Mord und Opfer, durch chthonische, orgiastische und archaische Züge geprägt. Selbst in Delphi tritt Apollon hinter Dionysos zurück; das Wiederfinden der Geschwister und die Befreiung des Orestes von den Erinyen schließt den Selbstmord der Iphigenie ein.57 Aus den Erfahrungen der vier-
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P. Pütz, Friedrich Nietzsche (wie Anm. 16), 67-117; weiterhin: H. Rehder, „Nietzsche and His Place in German Literature 1844-1944", in: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 36 (1944), 425-445; J. H. W. Rosteutscher, Die Wiederkunft des Dionysos. Der naturmystische Irrationalismus in Deutschland, Bern 1947, 210-260; A. Guth, „Nietzsches ,Neue Barbaren'", in: Nietzsche. Werk und Wirkungen (wie Anm. 14), 19-26. G. Hauptmann, Sämtliche Werke. Centenar-Ausgabe, hg. v. H.-E. Hess und M. Machatzke, Darmstadt 1962-1974, Bd. 7, 1075. F. A. Voigt, Gerhart Hauptmann und die Antike, Berlin 1965, 49. Voigt (bes. 47-50) schätzt allerdings, insgesamt gesehen, die Bedeutung Nietzsches für Gerhart Hauptmann zu gering ein. Vgl. P. Pütz, Friedrich Nietzsche (wie Anm. 16), 71-76; P. Sprengel, Die Wirklichkeit der Mythen. Untersuchungen zum Werk Gerhart Hauptmanns aufgrund des handschriftlichen Nachlasses, Berlin 1982. Zitiert nach P. Sprengel, Die Wirklichkeit der Mythen (wie Anm. 54), 229. Vgl. W. Schadewaldt, „Gerhart Hauptmann und die Griechen. Zum Bogen des Odysseus", in: ders., Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur, Zürich/Stuttgart 21970, Bd. 2,406-410. Vgl. W. Frick, „Die mythische Methode". Komparatistische Studien zur Transformation der griechischen Tragödie im Drama der klassischen Moderne, Tübingen 1998, 170-212.
Vgl.
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heraus wird das Dionysische eher als etwas ,Barbarisches' denn als ein Jasagen zum Leben empfunden. Auch in den Dramen Frank Wedekinds hat Nietzsche Spuren hinterlassen u.a. durch ein ursprüngliches, elementares Lebensgefühl, das zwar in der modernen Gesellschaft wurzelt, aber durchaus die Kraft antiker Symbole zu nutzen weiß. Es ist aufschlußreich, daß sich bei Wedekind zwischen den Lulu-Tragödien Erdgeist (1895) und Die Büchse der Pandora (1902) eine Wendung von der Lebensbejahung zur Einsicht in die Tragik und Absurdität des Lebens vollzieht.58 Sein letztes Drama Herakles von 1917 stellt einen leidenden, enttäuschten und in sich widerspruchsvollen Helden vor, der dennoch in der Befreiung des Prometheus den Höhepunkt seines Lebens findet und schließlich vergöttlicht wird: eine problematische Gestalt, der viel Dionysisches anhaftet, die zwar anders als in Nietzsches Konzeption rebellische Züge trägt, auf jeden Fall aber nichts mehr mit Wilamowitz' dorisch-preußischem Tugendideal zu tun hat. Die drei Schriftsteller, die für uns vor allem die nach der naturalistischen Phase einsetzende deutschsprachige Versdichtung der Jahrhundertwende' repräsentieren, hatten enge Beziehungen zum Altertum und waren gut mit Nietzsche vertraut. Dabei hat Stefan George zwar viel von der Theoriefeindschaft, dem Ästhetizismus, dem aristokratischen Antidemokratismus und dem Erlösungsgestus Nietzsches übernommen59, im Algaba! einen zum Selbstopfer führenden übersteigerten Machtwillen gestaltet und in den Hirten- und Preisgedichten das Menschenopfer als Selbstaufgabe des einzelnen im Dienste der Gemeinschaft gefeiert, stand aber seiner gesamten Persönlichkeitsstruktur nach dem Rauschhaft-Dionysischen fern. Hugo von Hofmannsthal hingegen, der sich weniger zu Nietzsche bekannte als sich mit ihm auseinandersetzte, hat mehrfach die Gestalt des Dionysos beschworen oder sich mit dem Zusammenhang von Tod und Leund Rainer Maria Rilke legte den Akzent deutlich auf das Apolliniben sche. Hofmannsthal, der vor allem ab 1890 und dann wieder nach der Jahrhundertwende Nietzsche studierte, hat in seinem Frühwerk den Tod als integralen Bestandteil des Lebens gestaltet. So ruft in Der Tod des Tizian der sterbende Maler: „Es lebt der große Pan"6 und verklärt damit den Augenblick des Todes zur höchsten Lebensintensität, und in Der Tor und der Tod wird das Bild eines milden Todes entworfen, das an Les-
ziger Jahre
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beschäftigt60
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Vgl.
R. A.
Firda, „Wedekind, Nietzsche and the Dionysian Experience", in: MLN 87 (1972), 720-
731. St. E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen (wie Anm. 13), 72-78; B. Hillebrand, Nietzsche. Wie ihn die Dichter sahen (wie Anm. 13), 72-78. Vgl. W. H. Rey, Weltentzweiung und Weltversöhnung in Hofmannsthals Griechischen Dramen, Philadelphia 1962; K. G. Esselborn, Hofmannsthal und der antike Mythos, München 1969; H. Steffen, „Schopenhauer, Nietzsche und die Dichtung Hofmannsthals", in: Nietzsche. Werk und Wirkungen (wie Anm. 14), 65-90; ders., „Hofmannsthal und Nietzsche", in: Nietzsche und die deutsche Literatur (wie Anm. 13), Bd. 2, 4-11; B. Hillebrand, Nietzsche. Wie ihn die Dichter sahen (wie Anm. 13), 68-72. Rey und Esselborn gehen allerdings von einem zu direkten Einfluß Nietzsches auf Hofmannsthal aus. H. v. Hofmannsthal, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift, Frankfurt/M. 1975ff., Bd. 3, 42.
Vgl.
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Nietzsche und das Bild einer
sing und Schiller anklingt, Dionysos enthält:
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dionysischen Antike
im Unterschied
zu
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diesen Autoren aber einen Hinweis auf
„Steh auf! Wirf dies ererbte Grau'n von dir! Ich bin nicht schauerlich, bin kein Gerippe!
Dionysos, der Venus Sippe, großer Gott der Seele steht vor dir."
Aus des
Ein
Auch in der Nachdichtung der Euripideischen Alkestis wird im Unterschied zur Vorlage der Begriffeines Todes entwickelt, der nur eine Seite des Lebens darstellt und zu dessen Steigerung beiträgt; die Tragik einer zersplitterten Welt wird gleichsam durch ein dionysisches Mysterium überwunden. Die Vermittlung durch Nietzsche dürfte offenkundig sein aber wo dieser Tragik wie Triumph deutlich herausstellt und die Extreme gleichermaßen bejaht, dort orientiert Hofmannsthal mehr auf Harmonie und Versöhnung der Gegensätze. Stärker betont werden die Spannungen im Werk nach der Jahrhundertwende. Über Jahrzehnte hin beschäftigte sich Hofmannsthal mit einer Bearbeitung der Euripideischen Bakchen, mit dem Einbruch rauschhafter Lebens- und Todestrunkenheit in eine erstarrte rationalistische Ordnung. Während Euripides ein höchst ambivalentes Geschehen schildert und Agaue sich schaudernd von Dionysos abwenden läßt, gestaltet der moderne Dichter eher einen Regenerationsprozeß und läßt Agaue die Macht des triumphierenden Gottes bestätigen. Wie in der Geburt der Tragödie die Wiedergeburt des Dionysos als ein „Strahl von Freude auf dem Antlitze der zerrissenen, in Individuen zertrümmerten Welt" bezeichnet wird (KSA 1, 72), notiert Hofmannsthal: „Der tragische Grundmythos: die in Inidividuen zerstückelte Welt sehnt sich nach Einheit, Dionysos Zagreus will wiedergeboren werden." In der Elektra von 1903 liegt der Akzent sogar völlig auf düsteren, triebhaften Zügen, auf Rachevisionen und teils aus Erwin Rohdes Psyche entlehnten, teils selbst erfundearchaischen Riten, Kulten und Opferbräuchen. Zwar identifiziert sich auch die nen Titelheldin dieses Stückes mit ihrem Schicksal, und durch ihr Selbstopfer stellt sie die Einheit des Ganzen wieder her doch es ist für sie ein tragischer Untergang. Sobald ihre Rache vollzogen ist, stirbt sie. Hofmannsthals Elektra ist in hohem Grade ein Gegenentwurf zum apollinischen Antikebild der deutschen Klassik; das Stück eröffnet in der Literatur des 20. Jahrhunderts die Entwicklung einer dionysischen Konzeption, in der das Irrationale, Atavistische überwog und die vierzig Jahre später Gerhart Hauptmann mit seiner ,Atriden-Tetralogie' fort- und zu Ende führte.64 In Hofmannsthals späterem Schaffen kam dann wieder die Suche nach Vermittlungen zur Geltung. In dem Versdrama Ödipus und die Sphinx von 1904 zwar, einer Ge—
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Ebenda, 70. vgl. G. E. Lessing, „Wie die Alten den Tod gebildet", in: ders., Sämtliche Schriften, hg. v. K. Lachmann, besorgt durch F. Muncker, Stuttgart [u.a.] 31886-1924, Bd. 11, 55; Fr. Schiller, „Die Götter Griechenlands", in: ders., Werke (wie Anm. 6), Bd. 1, 193. H. v. Hofmannsthal, „Aufzeichnungen und Tagebücher aus dem Nachlaß", 17. Dezember 1893, in: ders., Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hg. v. H. Steiner, Frankfurt/M. 1946-1959, Bd. [15]: -
Aufzeichnungen, 106. Vgl. W. Frick, „Die mythische Methode" (wie Anm. 57), 43-65.
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staltung der Vorgeschichte des Sophokleischen Oidipus Tyrannos, klingt eine nur scheinbare dionysische Lebenserfüllung an, der Jubel ist überschattet von tragischer Ironie und der Drohung eines unausweichlichen Verhängnisses doch dieses Verhängnis wird im Sinne eines Selbstopfers des Oidipus gedeutet. Es sollte dann in Des Ödipus Ende (einer unvollendeten Adaptation des Oidipus aufKolonos) zu erneuter Schicksalsund Weltbejahung führen. In der von 1911 bis 1916 entstandenen Operndichtung Ariadne aufNaxos schließlich erfahren die Titelheldin und Bacchus eine (wenn auch auf einem gegenseitigen Mißverständnis beruhende) Verwandlung in ihr wahres Selbst; das Stück endet fern dem tragischen Untergang der Elektra in einer rauschhaften Apotheose des ewigen, überindividuellen Lebens. In Hofmannsthals dichterischem Werk manifestieren sich demnach verschiedene Nuwobei allerdings an die Stelle der ancen der Nietzscheschen Dionysos-Konzeption Koinzidenz der Gegensätze ein Übergewicht entweder des Leides oder (zumeist) der Harmonie getreten ist -; im essayistischen Spätwerk dann (vor allem in Vermächtnis der Antike) kehrt der Autor wieder in die Bahnen des ,klassischen' Antikebildes zurück. Charakteristisch für die Antikebegegnung Rainer Maria Rilkes ist, daß er zwar ein weitgehend ,unklassisches' Altertum beschwört viele seiner Gedichte sind eine intime Nachempfindung und psychologisch eindringliche Deutung tragischer Konstellationen aus dem griechischen Mythos -, daß es sich dabei aber nicht um spezifisch dionysische Züge handelt, sondern daß er das Dionysische allein in dessen Beziehung auf das Apollinische gelten läßt und daß er auf eine Aufhebung, Bewältigung, Überwindung des Leides durch die Kunst zielt. In den um 1900 entstandenen Marginalien zu Nietzsche zitiert Rilke den Satz: „Der tragische Mythus ist nur zu verstehen als eine Verbildlichung dionysischer Weisheit durch apollinische Kunstmittel" (KSA, GT, 1, 141), und führt seinerseits aus: „Mit der Stärke der dionysischen Gewalt, d. h. des rhythmischflutenden, gestaltenfeindlichen Elementes, muß auch die Schönheit und Strenge der Form ihrerseits wachsen als ein Widerstand. Das Volk, dessen dionysische Regungen am heftigsten, am brausendsten sind, muß, um nur bestehen zu können, die strengste 5 Gestaltung in sich und seinen Werken vollziehen." In den Neuen Gedichten von 1907/08 läßt Rilke zwar gelegentlich Düsteres, Erschreckendes oder zumindest Überraschendes anklingen; doch die zwei erschütterndsten Texte (Alkestis und Orpheus. Eurydike. Hermes) stellen Leben und Tod gerade nicht als dionysische Einheit, sondern als grundsätzlich unvereinbare Daseinsbereiche und grenzen sich auch auf diese Weise vom heiter-harmonischen Griechenbild der vor Weimarer Klassik ab. („Orpheus' Sang tönt die gewohnten Lieder, / In Alkestens Arme sinkt Admet", heißt es bekanntlich bei Schiller.6 ) Rilke, der durch das Erlebnis antiker Plastiken im Pariser Louvre, durch seine Reisen nach Italien und durch seine Zusammenarbeit mit Auguste Rodin mit dem Altertum vertraut geworden war, hatte eine starke Affinität zu Apollon. Beide Teile der Neuen Gedichte beginnen mit Sonetten auf Apollon-Statuen, die Bedeutung und Gefährdung der Kunst bis hin zu heutigen Rezipienten namhaft machen und in den Sonetten an Orpheus aus dem Jahre 1922 offenbart sich (auch wenn es keine Zeugnisse dafür gibt, daß Rilke bewußt Konzeptionen -
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R. M. Rilke, Sämtliche Werke, hg. v. E. Zinn, Wiesbaden [u.a.] 1955-1997, Bd. Fr. Schiller, „Die Götter Griechenlandes", in: Schiller, Werke (wie Anm. 6), Bd.
6, 1171 und 1174. 1, 193.
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Nietzsches folgen wollte) eine enge Verwandtschaft mit jenen Passagen aus der Geburt der Tragödie, in denen der Philosoph die Synthese des Apollinischen und des Dionysischen postuliert. Orpheus ist als Sänger dem Apollon und als Leidender und Zerrissener zugleich dem Dionysos nahe auch für Gottfried Benn wird er ein Mittler zwischen dessen dionysischer und dessen apollinischer Phase sein -; der thrakische Sänger wirkt gleichsam wie eine Inkarnation des Nietzscheschen Gedankens von der ästhetischen Rechtfertigung der Welt. Orpheus, der das Reich der Toten wie das Reich der Lebenden kennt, erscheint als ein wahrer, wissender Dichter, der in Anbetracht allen Leides das Leben preisen darf: „Nur im Raum der Rühmung darf die Klage / gehn, die Nymphe des geweinten Quells", heißt es im achten Sonett des ersten Teils und im neunten: -
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„Nur wer die Leier schon hob auch unter Schatten, darf das unendliche Lob ahnend erstatten."
Das Wissen vom Tod erlaubt einen intensiven Lebensgenuß und hohen Erkenntnisgewinn. Unter den Prosa-Autoren, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in das literarische Leben eintraten, hatten vor allem Heinrich und Thomas Mann eine enge Beziehung zu Nietzsche. Heinrich Mann, der mit dem Gedankengut des Philosophen seit Anfang der neunziger Jahre vertraut war, ist in erster Linie von Nietzsches Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und von der psychologischen Analyse des Künstlers, des Komödianten fasziniert gewesen und hat mit Die Göttinnen oder Die drei Romane der Herzogin von Assy (1903) ein Werk geschaffen, das in hohem Maße auf Nietzsches „Artisten-Metaphysik" auf seiner Lehre von der Kunst als der eigentlichen Aufgabe des Lebens beruht.6 Dionysischer Lebensrausch der Schmerz und Tod in sich einschließt sowie die Steigerung und Überhöhung des Lebens durch den Traum, den Schein, die Kunst werden immer wieder aufeinander bezogen. Alle drei Bereiche von sind eine Violantes Dasein „Freiheitssehnen", „Kunstempfinden" und „Brunst" rauschhafte Verwandlung des Lebens zum Kunstwerk. Eine nicht unbeträchtliche Bedeutung hat dabei das Bacchus-Motiv. Trotz dieses und einiger anderer Motive allerdings wie sie namentlich durch die Rollen der Diana, der Minerva und der Venus -
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R. M. Rilke, Sämtliche Werke (wie Anm. 65), Bd. 1, 735f. Vgl. E. Heller, „Rilke und Nietzsche", in: ders., Die Bedeutung Friedrich Nietzsches. Zehn Essays, Hamburg, Zürich 1992, 142-146; B. Hillebrand, Nietzsche. Wie ihn die Dichter sahen (wie Anm. 13), 78-84. Zu Heinrich Manns Nietzsche-Rezeption vgl. H. Fr. Schöpker, Heinrich Mann als Darsteller des Hysterischen und Grotesken, Diss. Bonn 1960; H. Dittberner, Heinrich Mann. Eine kritische Einführung in die Forschung, Frankfurt/M. 1974, 84-87 (mit weiteren Literaturangaben); B. Hillebrand, Nietzsche. Wie ihn die Dichter sahen (wie Anm. 13), 85-93; zu den Göttinnen: U. Kirchhoff, „Das Fest als Symbol der außergewöhnlichen Existenz in Heinrich Manns Göttinnen, in: Wirkendes Wort 18 (1968), 395-415; R. Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus. Der frühe Heinrich Mann, Düsseldorf 1972, 65-68 und 94-97. H. Mann, „Brief an Albert Langen", 2. Dezember 1900, in: Heinrich Mann 1871-1950. Werk und Leben in Dokumenten und Bildern. Mit unveröffentlichten Manuskripten und Briefen aus dem Nachlaß, Ausstellung und Katalog: S. Anger, Berlin, Weimar 1971, 87f. -
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bestimmt werden, die Violante auf der Reflexionsebene des Romans spielt handelt es sich bei der Duplizität von Apollinischem und Dionysischem mehr um allgemeine Lebens- und Kunstprinzipien als um Antikerezeption im engeren Sinne. Die Handlungsebene des Romans ist geprägt durch die moderne internationale Gesellschaft. Mit Heinrich Manns Wendung „von der Behauptung des Individualismus zur Verehrung der Demokratie" werden die Spuren von Nietzsches Kunstmetaphysik in seinem erzählerischen Werk geringer im essayistischen hingegen konzentrierte er sich auf andere Probleme. Symptomatisch für weite Teile der Nietzsche-Rezeption ¡st, daß der Schriftsteller in seinem großen Essay von 1939 nicht die Spannung zwischen Apollinischem und Dionysischem, sondern allein die Identifikation mit Dionysos hervorhob: „Dionysos ein tragischer Gott, den Nietzsche verwandelt hat, bis endlich das Leben dionysisch gerechtfertigt war ,selbst in seinem Furchtbarsten, Zweideutigsten und Lügenhaftesten': diese Gestalt von amoralischer Freudigkeit, Leichtigkeit wurde dem Leidenden das Sinnbild seiner eigenen Art, ,die höchste Art alles Seienden'. ,In alle Abgründe trage ¡ch noch mein segnendes Auch Heinrich Manns Bruder Thomas hat in seiner abschließenden Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung so der Titel seines Essays aus dem Jahre 1947 zwar kurz die Geburt der Tragödie und deren Entgegenstellung des Dionysischen als künstlerisch-seelischer Verfassung und der apollinischen Distanziertheit und Objektivität berührt, doch das Primat des Dionysischen war ihm selbstverständlich: „Nietzsche hat diese tragische Weisheit, die das Leben in all seiner Falschheit, Härte und Grausamkeit segnet, auf den Namen des Dionysos getauft." Dionysischer Ästhetizismus habe den Philosophen „zum größten Kritiker und Psychologen der Moral" gemacht; sein Leben sei „Rausch und Leiden" Die häufige Aufnahme von und Auseinandersetzung mit Nietzsches Leben und Werk in Thomas Manns Erzählepik und Essayistik auf die ich hier nicht weiter eingehen kann betrifft auch das Verhältnis von Apollinischem und Dionysischem in seinem Bild der Antike. In der Novelle Der Tod in Venedig aus dem Jahre 1913 wird Gustav Aschenbach zunächst als ein von Maß und Vernunft geprägter Repräsentant des apollinischen Prinzips, als ein Denker in der Tradition des Sokrates vorgestellt, und Tadzio erscheint ihm wie ein Abbild klassischer Statuen, „vollkommen schön", „an griechische Bildwerke aus edelster Zeit" erinnernd, gekennzeichnet durch „Vollendung der Form" und eine „wahrhaft gottähnliche Schönheit".73 Den alternden Künstler ergreift eine -
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Jasagen.'"71
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H. Mann, „Autobiographie (1910)", ebenda, 122. H. Mann, „Nietzsche", in: Maß und Wert 2 (1938/39), 301. Th. Mann, „Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung", in: ders., Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt/M. 21974, Bd. 9, 686f., 690 und 692. Zu Thomas Manns NietzscheRezeption vgl. P. Pütz, „Thomas Mann und Nietzsche", in: Nietzsche und die deutsche Literatur (wie Anm. 13), Bd. 2, 121-155; B. Hillebrand, Nietzsche. Wie ihn die Dichter sahen (wie Anm. 13), 86-98. Ebenda, Bd. 8, 469 und 473. Zum Tod in Venedig vgl. W. R. Berger, Die mythologischen Motive in Thomas Manns Roman „doseph und seine Brüder", Köln, Wien 1971, 5f.; M. Dierks, Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann. An seinem Nachlaß orientierte Untersuchungen zum Tod in Venedig", zum „Zauberberg" undzur „doseph"-Tetralogie, Bern, München 1972, 18-35. -
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homoerotische Neigung zu dem polnischen Knaben, für die er sich auf den Phaidros und auf andere Platonische Dialoge beruft insbesondere auf die Aussagen des Sokrates über die Sinnlichkeit der Schönheit und die Macht des Eros. Bald aber geht die Aura antikisierender Klassizität über ins Rauschhaft-Dionysische. Düstere, Tod und Hades antizipierende Symbole bestimmen die Novelle von Anfang an, und die scheinbar apollinische Verehrung und Verklärung Tadzios wird mehrfach als ein „Rausch" bezeichnet.74 Den eigentlichen Umschlagpunkt aber bildet ein „furchtbare[r] Traum" von der Ankunft des ,,fremde[n] Gottfes]", von einer dionysischen Orgie75 ein Traum, in dem Denkbilder Nietzsches, Überlegungen aus Rohdes Psyche und anderes mythologisches Material miteinander verschmolzen sind. (Unter den Vorarbeiten befindet sich ein Exzerpt über Dionysos.) Der Traum von dem ,,fremde[n] Gott" ist eingebettet in zwei Reminiszenzen Aschenbachs an den Platonischen Sokrates bis zu einem gewissen Grade durchaus im mit dessen Nietzsche, Einklang Einstellung zu Piaton keineswegs einheitlich war, sondern neben rigoroser Gegnerschaft auch Gemeinsamkeiten aufwies. Dies betrifft namentlich die Korrelation von Lust und Schmerz, von Hervorbringen und Vernichten sowie Phänomene wie „Wahnsinn" und „Rausch", die sowohl Nietzsches DionysosKonzeption wie den Beschreibungen des Eros im Phaidros und im Symposion eigen sind. Wo allerdings bei Piaton das Erotische und bei dem modernen Philosophen das Dionysische der Daseinsbejahung und der Steigerung des Lebensgefühls dienen, dort enden sie im Tod in Venedig in einem Rausch von Ekstase und Trunkenheit, in einer „Richtung zum Abgrunde". Aschenbachs „Seele kostete Unzucht und Raserei des Untergangs"; „Form und Unbefangenheit [...] führen zum Rausch und zur Begierde, [...] zu grauenhaftem Gefühlsfrevel, [...] zum Abgrund."77 Apollinisches wird zu Dionysischem, ohne daß sich die Möglichkeit einer Synthese abzeichnete; es ist das barbarische' Dionysische aus der Geburt der Tragödie, das den Tod nicht als Bedingung des Lebens, sondern als ein Letztes, Endgültiges, als ein Versinken in Lethargie und Chaos sieht. Macht Thomas Mann im Tod in Venedig die Gefahren des einseitig Dionysischen sichtbar, so mündet in dem Roman Der Zauberberg von 1924 der ursprünglich als ein heiteres Gegenstück zu der Novelle geplant war die Polarität des Apollinischen und Dionysischen in einem Zusammenklang der beiden Prinzipien. In dem zentralen Kapitel Schnee verirrt sich Hans Castorp bei einer Skiwanderung und versinkt ebenfalls in einen Traum, der ihm zunächst eine südliche Ideallandschaft mit apollinischen Attributen, eine „verständig-heitere, schöne junge Menschheit" vorspiegelt, dann aber in „Scheußliches" übergeht und als tragisch-dionysischen Hintergrund der klassischen Schönheitswelt ein „Blutmahl", ein Menschenopfer im Tempel der Demeter und der Perse-
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phone zeigt. Ebenda, 490, 494, 503 und 511. Ebenda, 515-517. Vgl. D. Bremer, „Nietzsches Dionysos und Piatons Eros", in: Apophoreta. Für Uvo Hölscher zum 60. Geburtstag, hg. v. A. Patzer, Bonn 1975, 21-72. Th. Mann, Gesammelte Werke (wie Anm. 72), Bd. 8, 517 und 522. Ebenda, Bd. 3, 677-684 (Zit.: 679 und 683f).
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Castorp erwacht und träumt gleichsam gedankenweise weiter. Er erkennt, daß Tod und Leben, Krankheit und Gesundheit, Geist und Natur keine Widersprüche sind: „Der Mensch ist Herr der Gegensätze [...]. Ich will dem Tode keine Herrschaft einräumen über meine Gedanken." Castorp und mit ihm Thomas Mann weiß von der Welt des Magischen und des Chthonischen und grenzt sich insofern ab von dem einseitig apollinischen Griechenideal Winckelmanns; doch er sieht, wie Nietzsche, den Tod als integralen Bestandteil des Lebens, die Kenntnis des Schrecklichen als Voraussetzung für eine Bejahung des Daseins. Im Unterschied zu Nietzsche freilich trägt der Schriftsteller seine Gedanken ohne Kraßheit, mit moralischem Impetus und unter Berufung aufwerte vor, die wir in dieser Beziehung bei Nietzsche vergebens suchen würden „Güte und Liebe": „Ich will dem Tode Treue halten in meinem Herzen, doch mich hell erinnern, daß Treue zum Tode und Gewesenen nur Bosheit und finstere Wollust und Menschenfeindschaft ist, bestimmt sie unser Denken und Regieren. Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken." Wie die Schriftsteller der .Jahrhundertwende' stehen auch nicht wenige der etwas jüngeren Autoren, deren Werk vom Ende des ersten bis zur Mitte des dritten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts zumeist expressionistische Züge trug, im Banne Nietzsches. Man hat die Nietzsche-Rezeption des Expressionismus geradezu als „allgegenwärtig" bezeichnet.80 Das Interesse galt nunmehr vornehmlich dem „Übermenschen" oder aber auch das vitalistisch-dionysische Jasagen zur Welt fand „neuen Menschen" Anklang. Was die (oft unterschätzte) Antikerezeption der Expressionisten betrifft, so stand sie vornehmlich im Zeichen des Dionysischen und orientierte sich an Hölderlin und Kleist, während das apollinische Ideal Winckelmannscher Provenienz entweder stillschweigend negiert oder ausdrücklich zurückgewiesen wurde. Ich werde mich beispielhaft auf einige Dichter beschränken, die sich bewußt mit Nietzsche auseinandergesetzt haben, und dabei besonders auf Gottfried Benn eingehen. Georg Heym hat sich in seinem Gedicht Dionysos von 1910 markant auf Nietzsches Antithese von Dionysos und Christus bezogen. Er beklagt den Untergang der griechischen Götter und der griechischen Kultur, trauert über den Sieg des Christentums und sehnt die Wiederkehr des Dionysos und den Sturz seines Widersachers herbei: -
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Ebenda, 685f. Zu Schnee vgl. E. L. Wirtz, „Zitat und Leitmotiv bei Thomas Mann", in: German Life and Letters 1 (1953/54), 128-134; H. Oppermann, „Die Antike in Literatur und Kunst der Gegenwart", in: Der altsprachliche Unterricht (1956) 10, 41-43; M. Dierks, Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann (wie Anm. 73), 122-125; P. Pütz, „Thomas Mann und Nietzsche"" (wie Anm. 72), 139-143. Zu dionysischen Zügen in doseph und seine Brüder vgl. W. R. Berger, Die mythologischen Motive in Thomas Manns Roman „doseph und seine Brüder" (wie Anm. 73), -
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99-117 und 227-230. St. E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen (wie Anm. 13), 72. Zur Nietzsche-Rezeption im Expressionismus vgl. ebenda, 64-72; R. Samuel/R. H. Thomas, Expressionism in German Life, Literature and the Theatre (1910-1924), Cambridge 1939 (Xerokopie 1978), 69-87; A. Arnold, Die Literatur des Expressionismus. Sprachliche und thematische Quellen, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1966, 62-69; G. Martens, „Nietzsches Wirkung im Expressionismus" (wie Anm. 18), 35-82; weiterhin: R. Blaß, Genese und Struktur der Dichtung Georg Trakls, Diss. Köln 1967, 154-166. -
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„Kehr wieder Gott, dem Pentheus einst erlag. Du Gott der Feste und der Jugendzeit. Kehr wieder aus des Waldes grünem Reich. / Kehr wieder, Gott. Erlösung, rufen wir. Erlöse uns vom Kreuz und Marterpfahl. Tritt aus dem Walde. Finde uns bereit. / Wir wolln dir wieder Tempel bauen, Herr. Wir wollen Feuer an die Kirchen legen, Vergessen sei des Lebens Traurigkeit."8'
Sorge hat 1911 die „Dramatische Phantasie" Odysseus mit der Widmung: „Der ewigen Wiederkehr Seher: Friedrich Nietzsche" und den „Dramatischen Entwurf Prometheus verfaßt, in dem es um die Erschaffung des „Übermenschen" geht. Beide Werke sind voller trunkener, rauschhafter, visionärer Züge bis hin zu Anklängen an Nietzsches Wortwahl. Im Odysseus wird Telemach, ein verzückter
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von den Freiern getötet; ein Seher, der tanzend die Zukunft enthüllt, stirbt ebenfalls; Odysseus aber, eins mit der Natur, kehrt als jubelnder Sieger zurück ein Symbol der „ewigen Wiederkunft". Wenig später hat sich Sorge allerdings von Nietzsche ab-
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und der christlichen Religion zugewandt. Zeitlebens ein Verehrer Nietzsches hingegen war Rudolf Pannwitz, der mit seinem philosophisch ambitionierten Werk einer krisenhaften Kultur geistige Werte unterschiedlichster Herkunft entgegenstellen wollte und von einer Lösbarkeit der Krise dank dem Heroismus des einzelnen ausging. In seiner Schrift Einführung in Nietzsche von 1920 pries er den Philosophen überschwenglich als Erneuerer der dionysischen Religion der Griechen; er selbst erhob den Anspruch, in hymnisch-visionärer Sprache das poetisch auszudrücken, was Nietzsche philosophisch formuliert hatte. 1913 hat er fünfFriedrich Nietzsche gewidmete Dionysische Tragödien veröffentlicht. Nachdem in Der Tod des Empedokles. Ein Tragödien-Schluß der griechische Denker das Volk gewonnen und sich zum König gemacht hat, dann aber freiwillig aus dem Leben geschieden ist, stellt Pannwitz in Philoktetes. Ein Mysterium einen Helden vor, der sich triumphierend als der wahre Eroberer von Troja empfindet, sich innerlich über Herakles und die Griechen erhebt und sich noch im Zusammenbrechen als ein wissender, heroischer, allen anderen überlegener Mensch erweist. Dem Stück Der glückliche König Kroisos. Eine Schicksalskomödie, in dem es um Hybris und Einsicht in die Niederlage geht, folgt als „Herzstück" der Pentalogie Die Befreiung des Oidipus. Ein dionysisches Bild. Die Handlung des Sophokleischen Oidipus auf Kolonos ist eingerahmt von zwei bacchantisch-orgiastischen Partien: einem Prolog mit einem vor der Ankunft der thebanischen Flüchtlinge ausklingenden Dionysos-Fest und einem ekstatischen Epilog, in dem sich, nach dem Tode des Oidipus, hymnische, die Allmacht des Lebens verherrlichende Chorpasssagen zu einem mänadischen Tanz steigern. Der „Übermensch" Oidipus wird mit Dionysos identifiziert, und auch Theseus wird als ein vorbildlicher Herrscher ver-
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Heym, Dichtungen und Schriften, hg. v. K. L. Schneider, Hamburg, München 1960ff, Bd. 1,17. R. Joh. Sorge, Werke in drei Bänden, eingel. und hg. v. H. G. Rotzer, Nürnberg 1962-1967, Bd. 1, 241-273 und 289-311. Vgl. A. Arnold, Die Literatur des Expressionismus (wie Anm. 80), 135137; W. Riedel, Der neue Mensch. Mythos und Wirklichkeit, Bonn 1970, 9-21. G.
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herrlicht. Den Ausklang bildet Iphigenia mit dem Gotte. Ein apollinisches Spiel, in dem das Wiederfinden der Geschwister in Delphi zugleich zu einer Synthese von Apollon und Dionysos führt.83 Pannwitz ist derjenige Schriftsteller, der sich am direktesten um eine Umsetzung Nietzschescher Überlegungen bemühte ohne freilich die poetische Kraft zu diesem ehrgeizigen Projekt zu haben. Hätte jedoch ein begabterer Dichter sich derart eng an philosophische Vorgaben gebunden? Eigenständiger und eigenwilliger war die Nietzsche-Rezeption Georg Kaisers, die, im Hinblick auf die Antike, ihren Höhepunkt in dem Stück Der gerettete Alkibiades von 1920 hatte. Der Autor selbst äußerte darüber: „Der ganze Piaton [ist] darin der ganze und alles aufgelöst in szenischer blutvollster Gestaltung. Ich habe Nietzsche und das des Goethe, Winckelmann umgestürzt. Die Griechenland neu geschaffen 84 Menschheit muß mir danken oder es gibt sie nicht." Sokrates wird hier völlig im Sinne Nietzsches von den Athenern als bloßer Theoretiker ohne Instinkt, als Repräebenfalls in Nietzsentant des Geistes gegen das Leben gesehen, erweist sich aber scheschen Gedankenbahnen, in concreto freilich dessen Bewertung entgegengesetzt selbst als ein dem Dionysos und dem Zarathustra vergleichbarer Exponent eines ganzheitlichen Daseins, der den Tod im Dienste des Lebens, zur Rettung des Alkibiades und Griechenlands auf sich nimmt. Das letzte im Expressionismus wurzelnde Drama, das ekstatisch, archaisch und vitalistisch das ,klassische' Antikebild einer ,dionysischen Revision' unterzog, ist Hans Henny Jahnns Medea von 1926 mit ihrer orgiastischen Steigerung des Sexuellen, die ihren Endpunkt in der Tötung der Söhne findet: eine Konzeption, die nicht linear auf Nietzsche zurückgeführt werden sollte und auf jeden Fall von der apollinischen Komponente seiner Kunstphilosophie absieht, in der aber nicht nur die Kritik an bürgerlichen Kultur- und Moralvorstellungen im allgemeinen, sondern durchaus auch das Wissen um das Triebhaft-Urwüchsige im menschlichen Leben erkennbar werden.85 Eine intensive Beziehung zu Nietzsche und eine einschneidende, extreme Widersprüche nicht ausklammernde, eine Zeitlang politisch höchst bedenkliche Entwicklung sind im poetischen und essayistischen Werk Gottfried Benns zu verfolgen. Benn begann als „dionysischer Rauschkünstler" (KSA. GT, 1, 30) (wenn er auch das Wort ,diony-
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R. Pannwitz, Werke, Bd. 1: Dionysische Tragödien, Nürnberg 1913. -Vgl. R. Samuel/R. H. Thomas, Expressionism in German Life, Literature and the Theatre (wie Anm. 80), 73f; K. J. Skrodzki, Mythopoetik. Das Weltbild des antiken Mythos und die Struktur des nachnaturalistischen Dramas, Bonn 1986, 95-100; St. E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen (wie Anm. 13), 78f; W. Frick, „Die mythische Methode" (wie Anm. 57), 86-98 (Zit.: 87). Zum Philoktetes vgl. E. Lefêvre, „Sophokles' und Rudolf Pannwitz' Philoktetes", in: Antike und Abendland 43 (1997), 33-45. Zu den philosophischen Aspekten von Pannwitz' Verhältnis zu Nietzsche vgl. H.-J. Koch, „Die Nietzsche-Rezeption durch Rudolf Pannwitz. Eine kritische Kosmologie", in: Nietzsche-Studien 26 (1997), 441-467. A. Beierle, „Begegnung mit Georg Kaiser", in: Aufbau 2 (1948), 990. Vgl. H. W. Reichert, „Nietzsche and Georg Kaiser", in: ders., Friedrich Nietzsche 's Impact on Modern German Literature. Five Essays, Chapel Hill 1975, 51-72; weiterhin: G. C. Tunstall, „The Turning Point in Georg Kaiser's Attitude toward Friedrich Nietzsche", in: Nietzsche-Studien 14 (1985), 314-336. Vgl. R. Samuel/R. Hinton Thomas, Expressionism in German Life, Literature and the Theatre (wie Anm. 80), 76f, W. Frick, „Die mythische Methode" (wie Anm. 57), 138-170. -
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sisch' relativ selten gebrauchte); Dionysos und das Dionysische sowie in deren Umkreis Odysseus, Ithaka und Ikaros waren für ihn (wie es Friedrich Wilhelm Wodtke formulierte) „Ausdruck eines stürmisch gegen die Welt der Ratio, der Technik und Naturwissenschaft revoltierenden, nach antik-heidnischem Sinnenrausch begehrenden Lebensgefühls". Frühe Gedichte wie Gefilde der Unseligen und Gesänge gestalten eine Sehnsucht nach dem Süden, nach Verwandlung in einer Mittelmeerlandschaft, nach rauschhafter Auflösung der Individuation und nach Erlösung aus dem Leben im Norden und aus dem Leiden der Gegenwart. Die Verkündigung eines dionysischen Lebensgenusses kann dabei recht aggressiv vorgetragen werden wie in dem Gedichtzyklus Fleisch von 1917, in dem die im Leichenkeller liegenden Toten zum Ausbruch aufgefordert werden in dem „rapiden Drama" Karandasch aus demselben Jahre, in dem Pameelen in ein Museum stürzt und die antiken Mythen in ein schmerz- und lustvolles modernes Leben zurückholen will („Komm du, der durch die Berge rauscht, mit Efeu und Lorbeer dicht bekränzt Mänaden -")89, und vor allem in der dramatischen Skizze Ithaka von 1914, einem Kampfruf gegen die Welt der Wissenschaft und des Universitätsbetriebes: „Wir sind die Jugend. Unser Blut schreit nach Himmel und Erde und nicht nach Zellen und Gewürm. Ja, wir treten den Norden ein. Schon schwillt der Süden die Hügel hoch. Seele, klaftere die Flügel weit; ja, Seele! Seele! Wir wollen den Traum. Wir wollen den Rausch. Wir rufen Dionysos und Ithaka!" In anderen Gedichten wird eine dionysische Allverbundenheit und Verschmelzung mit der Natur in größerer Ruhe beschworen so in der letzten Apostrophierung des Dionysischen in dem Gedicht Sät dich der Traum in die Weite von 1929 , so auch schon, freilich nicht völlig ohne Polemik, in dem Gedicht Karyatide aus dem Jahre 1916, in dem der Dichter das Symbol apollinischen Maßes in eine reißende Mänade verwandeln und sich mit ihr vereinen will: „Breite dich hin, zerblühe dich, oh, blute / dein weiches Beet aus großen Wunden hin: / [...] sieh dieses Sommers letzten blauen Hauch." In dem Essay Lebensweg eines Intellektuellen von 1934 erinnert sich Benn der ,dionysischen Atmosphäre', in der das Gedicht entstanden war wobei auffallt, wie unreflektiert er die Kriegsszenerie eingebracht hat: „Ein Septembertag [1915], ich war Oberarzt am Gouvernement [in Brüssel] und mit einem Auftrag zu einer anderen Behörde geschickt. Die Straße zu gehen war zu kurz, doch von den Horizonten brach das Dionysische, die Stunde war zerstückt und bronzen. Verbranntes überall, auf ihrer Kup-
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Fr. W. Wodtke, Die Antike im Werk Gottfried Benns, Wiesbaden 1964, 14. Zu Benns Rezeption des Nietzscheschen Antikebildes vgl. vor allem diese Publikation; weiterhin: E. Buddeberg, Gottfried Benn, Stuttgart 1961, 118-124 und passim. G. Benn, Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, in Verb, mit I. Benn hg. v. G. Schuster, Stuttgart 1986ff, Bd. 2, 10 und 1,23. Ebenda, Bd. 1,28-32. G. Benn, Gesammelte Werke in vier Bänden, hg. v. D. Wellershoff Wiesbaden 1958-1961, Bd. 2, 351-378 (Zit.: 377). Ebenda, 293-303 (Zit.: 203). G. Benn, Sämtliche Werke (wie Anm. 87), Bd. 2, 67f. Ebenda, Bd. 1,38. -
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Volker Riedel
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pe hatte ein Feuer gewütet, Jahr und Leben hinüber, das Vorspiel war aus, das Ende nahte, das Opfer, aber man mußte sich fassen -: nur einen Blick noch aus diesem Licht, einen Atem noch aus dieser Stunde und: Sieh dieses Sommers letzten blauen
Hauch..."93
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Ein ekstatisches Bekenntnis zum Dionysischen und zwar in ausdrücklicher Abkehr dem zunächst anklingenden apollinischen Griechenbild Winckelmanns und Goethes sowie namentlich aus Hippolyte Taines Philosophie de l'art formuliert Benn 1919 in dem Essay Das moderne Ich: „Hellstes Griechenland, die Taineschen Hellenen, arme sparsame junge Rasse und plötzlich: aus Thrazien: Dionysos.[...] Aus den phrygischen Bergen, von Kybeles Seite, unter dem Brand von Fackeln um Mitternacht, beim Schmettern eherner Becken, einklingend ihm tieftönende Flöte von der Lippe taumelnder Auleten, umschwärmt von Mänaden in Fuchspelz und gehörnt, tritt er in die Ebene, die sich ergibt [...] nun ist die Stunde der großen Nacht, des Rausches und der entwichenen Formen [...] Aber es sind Felder über der Erde, die tragen nichts als Blumen des -
von
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Rauschs."94
zwanziger Jahre ließ Benn die Phase des orgiastisch-vitalistischen Rausches hinter sich; seine Identifikationsgestalten wurden Orpheus und Apollon (bzw. in den vierziger Jahren auch Pallas Athene). Leitgedanken waren nunmehr einmal, unter dem Einfluß Oswald Spenglers, die Reflexion von Vergänglichkeit und Untergang, von Schicksalsverfallenheit und Todesbedrohtheit des Menschen (wobei Benn den ,Verfall' sehr früh beginnen und die gesamte Antike als problematisch erscheinen läßt) und zum anderen waren es die Hoffnungen auf eine Auferstehung in der Kunst, die Adaptation von Nietzsches Kunstphilosophie im allgemeinen und seiner Konzeption des Apollinischen im besonderen. In dem Essay Heinrich Mann. Zu seinem 60. Geburtstage und in der Rede auf Heinrich Mann aus dem Jahre 1931 (in denen er bezeichnenderweise ausschließlich den jungen Autor, vornehmlich den Verfasser der Göttinnen, pries!) nannte Benn Heinrich Mann einen Artisten im Sinne Nietzsches und hob besonders das Rauschhafte seiner Kunst hervor doch das Dionysische erscheint hier bereits als vergangen und historisch.95 Hinsichtlich seiner Forderungen an die gegenwärtige Kunst aber dominieren andere Begriffe: In der Rede aufStefan George von 1934 bekennt sich Benn zur Form: „[...] die Form ist Schöpfung; Prinzip, Voraussetzung, tiefstes Wesen der Schöpfung; Form schafft Schöpfung. Sagen Sie für Form immer Zucht oder Ordnung oder Disziplin oder Norm oder Anordnungsnotwendigkeit." „Formgefühl" werde ein „Zeitalter des Geistes" begründen, charakterisiert durch ,,Abendländische[n] Geist", durch „Zucht und Kunst", „feste bezwingende Gesetze, objektive Machtverhältnisse, Klarheit, Unterschied, Tat". Das Fazit lautet: „[...] es ist dorische Welt. Form und Schicksal."96 Die Rede durfte zwar (weil sich die offizielle' Einstellung zu Stefan George ins Negative gewendet hatte) nicht gehalten werden, wurde aber publiziert und ist nicht zuletzt in den zitierten Passagen eng an Benns Anpassung an die nationalsozialistische Im Laufe der
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n.: Ebenda, 367. Ebenda, Bd. 3, 94-107 (Zit.: 106f). Ebenda, 305-314 und 315-322. Ebenda, Bd. 4, 100-112 (Zit.: 108 und 110f.).
Zit.
Nietzsche und das Bild einer
,
dionysischen Antike
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Im Essay Expressionismus aus dem Jahre 1933 hob der Schriftsteller das Interesse der politischen Führung an der Kunst hervor, interpretierte (mit Anklang an Nietzsche) den Nationalsozialismus als Überwindung des Nihilismus und sah die „dorische Welt" im Kommen. Trauriger Höhepunkt dieser Phase ist der Essay Dorische Welt. Die Geburt der Kunst aus der Macht von 1934, der bereits im Titel auf Nietzsches Frühschrift anspielt und in Anlehnung an Burckhardt und Taine, vor allem aber an das vierte Kapitel der Geburt der Tragödie und an den soeben erschienenen Aufsatz Der griechische Staat am Beispiel Spartas verkündet, daß jede Kultur auf Sklavenarbeit beruhe und daß die Blütezeit des Griechentums nur in Verbindung gesehen werden könne mit der Unterdrückung der Mehrheit der Bevölkerung, mit staatlichem Terror und mit der Vernichtung staatsfeindlicher Menschen. Hatte Nietzsche geschrieben, daß er sich „den dorischen Staat und die dorische Kunst [...] nur als ein fortgesetztes Kriegslager des Apollinischen zu erklären" vermöge (KSA, GT, 1,41) und „daß zum Wesen einer Kultur das Sklaventhum gehöre" (KSA, CV, 1, 767) so behauptet Benn, daß die dorische Welt „auf den Knochen der Sklaven" ruhte, betont das „SpartanischApollinische" und sieht Sparta als „Keimzelle des griechischen Geistes": „Wir leiten also aus Sparta Griechenland ab, und aus dem Dorisch-Apollinischen die griechische
Ideologie gebunden.
Welt."
Das Bekenntnis
zum
Apollinischen
wird in diesem Rahmen als
Überwindung des
Dionysischen formuliert und zwar mit einer Vehemenz, die der auf Versöhnung zielenden Geburt der Tragödie keineswegs eigen ist und die den späteren Werken des Philosophen sogar zuwiderläuft. Benn äußert sich über seine neue Konzeption: „Dionysos steht hier wieder in den Grenzen, in denen er vor 1871 [...] stand" also vor Erscheinen von Nietzsches Schrift. „Zwischen Rausch und Kunst muß Sparta treten, Apollo, die züchtende Kraft."98 Laut Klaus Theweleit ist der Essay Benns faschistischster Text [...] ohne einen einzigen direkten Bezug zur bestehenden faschistischen Realität".99 Diesen Bezug hat der Schriftsteller in anderen Publikationen nicht gescheut so, ebenfalls 1934, im Vorwort zu Kunst und Macht: „Der Nationalsozialismus ist heute eine feststehende politische Erscheinung: seine° Fundamente sind eingelassen in den glänz- und opferdurchtränkten -
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Europas."1
Boden Benn
beanspruchte zu diesem Zeitpunkt eine führende Rolle in der deutschen Kulturpolitik ehe er, als ihm diese verweigert wurde, mit den Nazis brach. Er hat dann auf die Beziehung zwischen dorischer und faschistischer Welt verzichtet doch die Bevorzugung des Apollinischen blieb. In dem Essay Pallas von 1943 verbindet Benn Apollinisches, Sokratisches und Dorisches miteinander, während Dionysos ihm nur noch ein -
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Ebenda, 76-90, bes. 76f., 84 und 89. G. Benn, Sämtliche Werke (wie Anm. 87), Bd. 4, 124-153 (Zit.: 130 und 144-146). K. Theweleit, Buch der Könige, Basel, Frankfurt/M. 198811, Bd. 2x, 673. Vgl. auch Fr. Kittler, „Benns Lapidarium", in: Weimarer Beiträge 40 (1994) 1, lOf.; I. Stephan, „Dorische Welt und Neues Reich. Die Verschränkung von Mythos und Faschismus bei Gottfried Benn", in: dies., Musen & Medusen. Mythos und Geschlecht in der Literatur des 20. dahrhunderts, Köln/Weimar/Wien -
1997,84-105. G. Benn, Sämtliche Werke
(wie Anm. 87), Bd. 4, 198-201 (Zit.: 198).
Volker Riedel
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Essay Das expressionistische Jahrzehnt von 1955 wird das Dionysischen ins Apollinische sogar expressis verbis als generelle Entwicklungstendenz des Expressionismus bezeichnet: Keiner werde „den Schluß jener Mythe anders wünschen, als daß Dionysos endet und ruht zu Füßen des klaren delphiWeingott ist
und in dem
Einmünden des
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schen Gottes".102 Letztlich allerdings verliert das Problem für Benn an Bedeutung. In dem bekannten Essay Nietzsche nach fünfzig Jahren von 1950 spielen Apollon und Dionysos keine Rolle mehr, und Nietzsches Begeisterung für das Griechentum gilt als überholt. -
Gottfried Benns Akzentuierung des Apollinischen in dem Essay Dorische Welt belegt einmal, daß eine antidionysische Wendung keineswegs eine Annäherung an das Griechenbild der deutschen Klassik bedeuten muß dieses war vorrangig an Athen orientiert und schloß ausdrücklich die Polemik gegen Sparta in sich ein (am markantesten in Schillers Aufsatz Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solons) -; zum anderen aber belegt diese ,Bekehrung' zum Apollinischen, daß es keine Linearität zwischen den beiden Nietzscheschen „Kunsttrieben" und ihren politischen oder moralischen Implikationen gibt. Während die Bändigung und Überwindung des Dionysischen durch das Apollinische oft als Sieg der Humanität über das dumpf Triebhafte, nur Vitale erscheint so beispielsweise in Arnold Zweigs Aufsatz Apollon bewältigt Dionysos aus dem Jahre 1936104 -, kann es durchaus auch auf eine Verherrlichung staatlicher Allmacht hinauslaufen. (Benns Reaktion auf das Jahr 1933 verleiht sogar von der Rezeptionsgeschichte her Mattenklotts Interpretation des Apollinischen als Reaktion auf das Jahr 1871 eine gewisse Plausibilität.) Das Dionysische hingegen führt nicht zwangsläufig zu einem Umschlag ins ,Barbarische', sondern kann auch ein humaner Wert sui generis sein. Tatsächlich waren die faschistischen Antikebilder nicht von Rausch und Ekstase, sondern eher von einer konventionellen und heroischen Pseudoklassizität geprägt während der heute fast vergessene Dichter Arno Nadel vom Ende des zweiten bis zum Beginn des fünften Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts ein „Gedichtwerk" mit dem Titel Der weissagende Dionysos schrieb, in dem er eine poetische Gegenwelt zum Deutschland seiner Zeit zu gestalten suchte. In diesem erst 1959 erschienenen Werk wird der griechische Gott im wesentlichen im Sinne Nietzsches verstanden und erlebt, wohnen Lust und Grauen, Leben und Vernichtung eng beieinander und wird ein Jasagen zum Dasein trotz all seines Schmerzes verkündet. Arno Nadel hat nicht „die aristokrati-
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Ebenda, 332-340, bes. 335. G. Benn, Gesammelte Werke (wie Anm. 89), Bd. 4, 377-390 (Zit.: 389). Ders., Sämtliche Werke (wie Anm. 87), Bd. 5, 198-208, bes. 200f. A. Zweig, „Apollon bewältigt Dionysos. Zum achtzigsten Geburtstag Siegmund [sie] Freuds, 6. Mai 1936", in: Das Neue Tage-Buch 4 (1936), 425-428. Der Aufsatz ist u.a. ein Beleg dafür, daß die Begriffe ,apollinisch' und ,dionysisch' bekannt und geläufig waren und in ihrer Duplizität verstanden wurden, daß sie nicht mehr an die Antike gekoppelt zu sein brauchten und daß sie sogar von Nietzsche (dessen Name kein einziges Mal genannt wird) und von den bezeichneten Phänomenen selbst losgelöst und auf ein völlig anderes Thema übertragen werden konnten. (Zu Arnold Zweig siehe auch Anm. 43.) -
Nietzsche und das Bild einer
.dionysischen Antike
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sehe Form der Emierierune" gewählt, wie Benn seinen Eintritt in die ,Wehrmacht' bezeichnete; sein Weg endete 1943 in Auschwitz. Bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts ließ die literarische Apostrophierung des Dionysischen und der Duplizität von Apollon und Dionysos nach. Bruno Hillebrands allgemeine Erkenntnis, daß Nietzsche ab 1950 für die deutsche Literatur keine entscheiwird demnach auf diesem speziellen Gebiet bestätigt. Die dende Rolle mehr literarische Antikerezeption der vergangenen Jahrzehnte ist zwar ebenfalls alles andere als eine Rückkehr zur verklärenden ,Winckelmann-Antike' doch auch das Rauschhaft-Ekstatische von Nietzsches Dionysos-Konzeption und die nur auf mittelbare Weise Politisches reflektierende „Artisten-Metaphysik" dieses Philosophen werden kaum noch poetisch rezipiert. Angesichts der extremen geschichtlichen Erfahrungen im 20. Jahrhundert hat sich vielmehr eine problematisierende Grundhaltung herausgebildet, die die antiken Paradigmata in entscheidendem Maße zu einer sozialkritischen Auseinandersetzung mit der Gegenwart nutzt eine Art des Umgangs mit dem ,Erbe der Alten', wie sie zuerst vor allem von Brecht, aber auch von anderen Autoren entwickelt worden ist. (Es ist bezeichnend, daß der ,Nietzscheaner' Georg Kaiser sich in seiner ,Hellenischen Trilogie' von 1943/45 zwar noch mit der Künstlerproblematik befaßt, aber in erster Linie gesellschaftliche Widersprüche akzentuiert.) Wir können diese in letzter Instanz direkt oder indirekt auf das Marxsche Antikeverhältnis zurückgehende, allerdings auch die Kritik an der marxistischen Wirklichkeit einschließende Strömung bei zahlreichen, und zwar keineswegs nur bei sozialistischen Schriftstellern feststellen. Beispielhaft sei an zwei neuere Adaptationen des Sophokleischen Philoktet erinnert, die ganz anders als in dem Stück von Rudolf Pannwitz Kriegs- und Machtpolitik und deren ideologische Manipulationsmechanismen in Frage stellen, die Korrumpierung von Idealisten und Intellektuellen entlarven sowie krasse und brutale Vorgänge jenseits allen ästhetischen Scheins unmittelbar vor Augen führen: Heiner Müllers Philoktet und Walter Jens' Der tödliche Schlag. Gewiß finden wir gelegentliche Reminiszenzen an Dionysos oder andere Nietzschesche Leitworte; doch selbst Stefan Schütz' Bearbeitung der Euripideischen Bakchen von 1988 ist vor allem geprägt durch die Macht- und Geschlechterproblematik seines Gesamtwer-
spielte106,
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kes107.
Nietzsches Kunst- und Antikekonzeption hat wesentlich beigetragen zu einem neuarentidealisierten Umgang mit den überlieferten Motiven in ihrer konkreten Ausprägung aber ist sie für die neuere Literatur nur noch ein aufgehobenes Moment, nicht mehr eine bestimmende Größe.
tigen,
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Nadel, Der weissagende Dionysos, mit einem Nachw. v. Fr. Kemp, Heidelberg 1959. Vgl. G. Benn, „Brief an Friedrich Wilhelm Oelze", 18. November 1934, in: ders., Briefe, Wiesbaden/München [ab Bd. 4: Stuttgart] 1977ÍT., Bd. 1, 39. Vgl. B. Hillebrand, „Einführung", in: Nietzsche und die deutsche Literatur (wie Anm. 13), Bd. 1, If.; ders., „Literatur und Dichtung (deutschsprachig)" (wie Anm. 13), 465f. Vgl. V. Riedel, „Die Antikestücke von Stefan Schütz in ihrem literarischen Kontext", in: Präsenz A.
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der Antike in der
Gegenwartsliteratur, hg. v. B.
Seidensticker und M. Vöhler
(in Vorbereitung).
III. Forum „...als Kind Gott im Glänze gesehen"? Der frühe Nietzsche (1844-1864) in seinem Verhältnis zu
Antike und Christentum
6. Internationales Dortmunder Nietzsche-Kolloquium, Dortmund, 7.-9. Juli 1999
Hermann Josef Schmidt
Einführung
Das VI. Dortmunder Nietzsche-Kolloquium ,„als Kind Gott im Glänze gesehn'? Der frühe Nietzsche (1844-1864) in seinem Verhältnis zu Antike und Christentum" wandte sich vom 7.-9. Juli 1999 einem von der Nietzscheinterpretation fast ängstlich gemiedenen, weiträumig oder vorsichtig umgangenen Problemfeld zu: War der früheste Nietzsche wirklich ein ,kleiner Pastor', wie seit dem Erscheinen des ersten so suggesti-
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Bandes der Nietzsche-Biographie von Nietzsches Schwester Elisabeth, 1895, in allen mir bekannten Biographien und nahezu allen Interpretationen bedenkenlos vorausgesetzt wurde? Und noch nahezu allerorten vorausgesetzt wird? Oder nahm schon das Kind und nicht erst der Bonner oder gar Leipziger Student Friedrich Nietzsche Abschied vom Christentum? Spielte die durch zahlreiche Texte belegte Graecophilie des Naumburger Kindes eine zentrale Rolle für Nietzsches Denkentwicklung? Entwickelte gar schon der früheste Nietzsche aus seiner Griechentumsliebe (s)eine ,griechische' Privatreligion? Oder ist die tradierte Auffassung doch weitestgehend im Recht? Haben wir es also auch beim früh(est)en Nietzsche allenfalls mit pastorenhausüblichen Theodizeeproblemen eines nahezu normalen, wenngleich hochintelligenten und vielseitig interessierten Jugendlichen oder gar Kindes zu tun? Mit Theodizeeproblemen, wie sie jeder in einer christlich geprägten Kultur intelligente und konsequent denkende Heranwachsende in mehr oder weniger dramatischem Ausmaß kennengelernt haben dürfte? Ging Nietzsche also bereits als Schüler eigene Wege, deren Kenntnis das Denken des Philosophen und Kritikers Nietzsche besser aufschließen könnte als eine ausschließlich auf Texte des späten Nietzsche fixierte Untersuchung? Oder erfolgte Nietzsches Bruch mit dem christlichen Glauben entweder sehr viel später oder niemals vollständig? Da vom Kind und vom Schüler Nietzsche schon seit mehr als sechs Jahrzehnten Texte von über 1.000 Druckseiten, seit 1976 auch zahlreiche Kompositionen und seit 1995 sogar viele Zeichnungen im Druck vorliegen, da seit 1988 dank des Engagements von Prof. Dr. Johann Figl (Universität Wien) und seiner beiden Mitarbeiter Dr. Hans Gerald Hödl und Dr. Ingo Rath eine noch umfassendere Edition der Texte sowie der Zeichnungen des frühen Nietzsche in der ersten Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe, Werke, Berlin, New York, 1995, im Erscheinen begriffen ist, da schließlich mit dem Thema gerade dieses VI. DNK zentrale Tabus und Mythen, vielleicht nicht nur der Nietzscheven
Hermann Josef Schmidt
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interpretation, berührt sind, waren informative, spannende und auch kontroverse Referate sowie Diskussionen wieder einmal gesichert. Ursprünglich war dieses DNK unter einem anderen Titel angekündigt: „Friedrich Nietzsche, der verdrängte Aufklärer und Kritiker?" Da jedoch selbst noch während des vorausgegangenen V. DNK ,„denn ich liebe es schreibend zu denken'. Der junge Nietzsches frühes Verhältnis zu Nietzsche 1844-1864" vom 9. bis 11. Juli 19971 Christentum und Antike selbst von den Referenten ausgesprochen kontrovers beurteilt wurde, erwies es sich als unabdingbar, sich in dieser basalen Thematik zumindest um -
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mehr Klarheit zu bemühen. Um einige der anstehenden Probleme bereits in einer Formulierung Nietzsches fast auf den Punkt zu bringen und auch in Anerkennung der Lebensleistung des Nietzscheeditors Mazzino Montinari, der übrigens schon 1982 zu Nietzsches späten Kindheitserinnerungen veröffentlichte, hatten die Referenten des vorangegangenen DNK eine Notiz des dreiunddreißigjährigen Nietzsche als Haupttitel dieses DNK akzeptiert: „als Kind Gott im Glänze gesehn". Diese Notiz bezieht sich also auf einen Jahrzehnte zurückliegenden Zeitraum. Doch was läßt sich im Blick auf die Religiosität des frühen Nietzsche aus dessen Texten noch rekonstruieren? Hat Nietzsche sich korrekt erinnert? Oder hat er mystifiziert? Hatte er als Kind ein seine Normalerfahrungen sprengendes religiöses Erlebnis? Welche Rolle spielten hierbei ,die Griechen'? Ist es zulässig, Nietzsches frühe Entwicklung aus der Optik deutlich späterer Texte zu interpretieren? So war vorweg deutlich: Je nach Ausgangspunkt und Interpretation verfügen wir nicht nur über einen mehr oder weniger angemessenen Zugang zu möglicherweise zentralen Erfahrungen, Sichtweisen und Kenntnissen des frühen Nietzsche, sondern auch über divergente Perspektiven. Lassen Sie sich überraschen. Vor allem freilich habe ich zu danken: an erster Stelle allen Referenten, die den Mut besaßen, sich zu diesem brisanten, für die Nietzscheinterpretation zumindest in meinen Augen hochrelevanten Thema nicht nur zu äußern, sondern auch darüber zu diskutieren. Der 1999 besonders frühe Zeitpunkt des traditionell jeweils in der Mitte der ersten Woche nach Abschluß der Veranstaltungen des Sommersemesters in Nordrhein-Westfalen beginnenden Kolloquiums machte sich erstmals leider auch negativ bemerkbar. So war es sowohl für Prof. Dr. Johann Figl (Universität Wien) als auch für Dr. Ingo Rath (Salzburg) und Prof. Dr. Wiebrecht Ries (Universität Hannover) nicht möglich, ihre Zusage
einzuhalten. Zu danken habe ich aber auch Institutionen. An erster Stelle wiederum der eigenen Hochschule, der Universität Dortmund, die diese Tagung konsequent fordert, beginnend mit dem Rektorat und insbesondere dem die Teilnehmer begrüßenden Prorektor, Prof. Dr. Uwe Kleinbeck, und keineswegs endend mit meinem eigenen Fach sowie zu meiner großen Freude Studenten unseres Faches Philosophie. Nicht weniger freilich danke ich diesmal dem Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung unseres Bundeslandes Nordrhein-Westfalen und hier insbesondere Herrn Dr. Hartmut Bergmann dafür, sich dem diesmal ablehnenden Votum der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die das vorangegangene DNK dankenswerterweise unterstützte, nicht angeMit Ausnahme der Vorträge von Volker Gerhardt und Band V/VT der Nietzscheforschung, Berlin 1999.
Jörgen Kjaer erscheinen
alle Referate im
Einführung
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schlössen, sondern die Durchführung dieser Tagung in unüblicher Weise abgesichert zu haben. Wiederum danken möchte ich dem Nietzschenetzwerk der Universität Aarhus, das für das V. DNK eine großzügige Unterstützung lockermachen konnte, und insbesondere dem Kollegen Kjaer für sein Engagement sowie der Nietzsche-Gesellschaft, vertreten durch Ralf Eichberg und Rüdiger Ziemann, die das DNK von Beginn an auf eine Weise unterstützt haben, daß es fast als eine Veranstaltung der Nietzsche-Gesellschaft selbst gilt, und in deren wissenschaftlichem Jahrbuch Nietzscheforschung bereits seit dem ersten Band bzw. seit 1994 Beiträge des DNK, beginnend mit dem III. DNK (Nietzsches Kindheit, 20. bis 22. Juli 1993), in auch optisch angemessener Form veröffentlicht werden. Abschließend noch zur Tagung selbst. Wie auch bisher sucht die Reihenfolge der Vorträge der Entwicklung Nietzsches zu folgen. Da zum frühesten Nietzsche leider niemand vorzutragen plante, diese konsequenzenreiche Phase Nietzsches aber nicht völlig übersprungen werden durfte, mußte nochmals ich die Tagung auch als Referent eröffnen. Wiederum freilich gelang es, jenseits der Vorträge und Diskussionen ein besonderes Praliné zu bieten: Die beiden Dortmunder Musiker und Philosophiestudenten Holger Kuhmann und Tjark Baumann stellten am Piano und als Sänger Klavierkompositionen und Lieder des frühen Nietzsche so stimmig vor, daß der Eindruck kaum abgewiesen werden konnte, Nietzsche habe seine frühen Lieder für junge Männerstimmen komponiert.
Hermann Josef Schmidt
Von zum
„Als Kind Gott im Glänze gesehn"
„Christenhaß"?*
Nietzsches früh(st)e weltanschauliche eine Skizze
Entwicklung (1844-1864),
Meine Skizze ist in zwei unterschiedlich umfangreiche Teile gegliedert: Zuerst äußere ich mich zur Nietzscheinterpretation, im Hauptteil jedoch zu Nietzsche(s Texten) selbst. Mit meiner Skizze bezwecke ich, wiederum1 zu möglichst produktivem Nachdenken und intensiver Diskussion zu provozieren, da nun zentrale inhaltliche wie auch formale Fragen der Nietzscheforschung sowie -interpretation angesprochen sind. Der Text entspricht zwar weitgehend dem am 7.7.1999 vorgetragenen Eröffhungsreferat, enthält auch einige der aus Zeitgründen nicht vorgetragenen Passagen; die Anmerkungen wurden erheblich ergänzt. Friedrich Nietzsche wird zitiert nach den derzeit besten Editionen: bei frühen Nietzschetexten, die in der HKG W (ich zitiere sie nach Band und Seite) und auch bereits in der KG (ich zitiere sie nach Abteilung, Band und Seite) erschienen sind, wird die HKG W auch dann weiterhin berücksichtigt, wenn der dort gegebene Text nicht von der Fassung in der KG abweicht, weil in der HKG W ( 1 ) der Anfang jeder Seite der Handschrift durch einen Hochstrich im Text selbst bezeichnet und (2) auch die Seitenzahl der betreffenden Handschrift jeweils seitlich herausgerückt aufgenommen ist. Dadurch wird die Beurteilung der Manuskriptsituation erheblich erleichtert. Hinzu kommt, daß (3) jeder Band der HKG einen (wenngleich sehr knappen) Nachbericht einschließlich Indices enthält und daß (4) die HKG W in ihren fünf Bänden unter dem Titel „Frühschriften", München, 1994, in
jedoch
preiswerten Ausgaben vorliegt. Um terminologisch mehr Klarheit zu erzielen,
verwende ich folgende Sprachregelungen: „frühster Nietzsche" für Nietzsches Kindheit in Röcken (1844-50) und Naumburg (1850-58); „früher Nietzsche" für Nietzsches Jugendjahre in Pforte und Naumburg ( 1858-64); Junger Nietzsche" hingegen erst fur Nietzsches Studentenjahre in Bonn (1864-65) und Leipzig (1865-69), das Militärdienstjahr in Naumburg (1867-68) sowie die erste Phase der Professorenjahre in Basel (1869-76). „Pforte" nach dem Sprachgebrauch Nietzsches für Ort und Schule; „Pförtner" für Personen, die in Pforte leb(t)en; Nietzsche sprach von allem, was sich in Pforte befand oder abspielte, als von Pförtner Gegenständen oder Ereignissen wie z.B. vom „Pförtner Lügensystem" (Brief an Carl von Gersdorff vom 11.10.1866; B I 2, 173). Ein davon abweichender Sprachgebrauch ¡st bei Nietzsche selten. 1
vom Verfasser, „Mindestbedingungen nietzscheadäquaterer Nietzscheinterpretation oder Versuch einer produktiven Provokation", in: Nietzsche-Studien, XVIII (1989), 440-454, sowie die beiden das III. und V. DNK eröffnenden Skizzen (in Nietzscheforschung, Bd. I sowie Bd. V/VI).
Vgl.
Hermann Josef Schmidt
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I.
früh(st)e Nietzsche und die Nietzscheinterpretation Mißverhältnis?
Der
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allzulange ein
Nietzsches früh(st)e weltanschauliche d.h. religiöse und philosophische Entwicklung wirft trotz der erfreulichen Tatsache, daß wir vom früh(st)en Nietzsche überraschend zahlreiche und vielfaltige Texte besitzen und daß sich bereits der früh(st)e ebenso wie der späte Nietzsche gerade zu seiner früh(st)en Entwicklung und zu deren Bedeutung für sein gesamtes Denken und Leben mehrfach geäußert hat, eine Fülle von Problemen auf. So scheinen zahlreiche Texte des früh(st)en und autobiographische Aussagen sowohl des früh(st)en als vor allem auch des späteren Nietzsche nicht so recht zusammenzupassen: Während sich Nietzsche zumal in den letzten knapp anderthalb Jahrzehnten seiner bewußten Existenz in seinen verschiedenen Medien vor allem dann äußerst klar und zunehmend provokant zu seiner frühen Entwicklung äußert, wenn man einzelne Formulierungen nicht isoliert betrachtet, geschieht dies beim früh(st)en Nietzsche selbst eher umwegig: Er deutet in seinen autobiographischen (nur in Ausnahmefällen privat bleibenden) Texten fast immer nur an; in theoretisch anspruchsvolleren Texten der späten Schülerzeit wird er schon deutlicher; und nur Gestalten seiner Dichtungen sprechen sich zuweilen glasklar aus. Doch wie repräsentativ sind (welche Arten von) Aussagen des spät(er)en über den früh(er)en Nietzsche für diesen (anstatt nur für jenen)? Welchen Stellenwert haben Formulierungen der (verschiedenen) Text(art)e(n) des früh(er)en Nietzsche für diesen selbst vor allem dann, wenn wir nicht weiterhin ausklammern, daß der spät(er)e Nietzsche immer wieder seine schon frühe Einsamkeit, Verborgenheit und sein Maskentragen betont? Und wenn Texte des früh(er)en Nietzsche unter dem Gesichtspunkt ihrer Authentizität betrachtet würden, da sie zumindest aus der synchronen Kontextperspektive als enorm vielschichtig erscheinen? Trotz mannigfacher Verdienste hat sich Nietzscheinterpretation in ihren ersten gut einhundert Jahren (18714—1980) um derlei Fragen kaum gekümmert. So wurde die Entwicklung Nietzsches sowie insbesondere der Zusammenhang von Nietzsches Leben, Denken, Texten und Werk kaum profund thematisiert; in der Regel wurde zwischen Biographie und Werkinterpretation nicht nur unterschieden, sondern strikt getrennt. Autobiographische Aussagen des späten Nietzsche z.B. wurden bis in die jüngste Vergangenheit als philosophisch uninteressant überlesen, als Übertreibungen abgelehnt
3
4
Vgl. vom Verfasser, „,stets mein Vorhaben, ein kleines Buch zu schreiben'. Nietzsches Leben und Texte 1844-1864, ein Oberblick", in: Nietzscheforschung, Bd. V/VI, Berlin 2000, und in extenso Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche, I. Kindheit, Berlin/Aschaffenburg (1991) 21991 (Abk.: NaK), und II. Jugend, 1. Teilband 1858-1861, 2. Teilband 1862-1864, ebenda 1993 und 1994 (Abk.: NaJ 1. bzw. 2.). Deren jeweiliger Adressatenbezug wird in der Interpretation in der Regel konsequent übersehen. Vgl. dagegen vom Verfasser, Na, passim, sowie „,stets mein Vorhaben, ein kleines Buch zu schreiben'. Nietzsches Leben und Texte 1844-1864, ein Überblick", in: Nietzscheforschung, a.a.O. Vgl. R. F. Krummel, Nietzsche und der deutsche Geist, Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum bis zum Todesjahr des Philosophen, Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1867-1900, Berlin/New York 1974; erw. Ausgabe 1998.
Von „Als Kind Gott im Glänze gesehn
"
zum
„
Christenhaß '":
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oder aber naiv doch folgenlos wörtlich genommen, in der Regel also entschärft kam es darauf an? -, meines Wissens jedoch niemals aus Nietzsches textlich belegbarer Lebens- und Denkentwicklung heraus subtil analysiert. Ihre Überprüfung z.B. aus der Perspektive der seit 19355 veröffentlichten früh(est)en Texte Nietzsches fand wohl schon deshalb nicht statt, weil diese kaum jemand in ihrem Zusammenhang, unvoreingenommen, gründlich und in Nietzsches frühen Kompetenzen nicht ahnungslos gelesen hat. Erschien das Denken des Kindes und selbst des Jugendlichen Nietzsche weder als wichtig noch als sachhaltig genug, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? Ist es nicht bezeichnend, daß die bisher wohl einzige exklusiv dem frühen Nietzsche gewidmete Dissertation6 an der Universität Dortmund erarbeitet wurde? Und daß die beiden einzigen mir bekannt gewordenen exklusiv dem frühen Nietzsche geltenden Diplom- bzw. Lizentiatsarbeiten bei Karl Pestalozzi in Basel und bei Johann Figl in Wien vorgelegt wurden? Wahrscheinlich hat der in Konkurrenz zur Interpretation von Lou AndreasSalomé8 1895 erschienene erste Band der Nietzsche-Biographie von Nietzsches Schwe-
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Nietzsche früh(st)e Texte findet man in einer sehr umfangreichen Auswahl in den Bänden 1, II und III 1-68 der HKG W, die 1933, 1934 und 1935 erschienen, sowie in B I 1-257, 1938. Die KG W I 1-3 sowie B I 1 soll einschließlich der Nachberichtbände alle Texte und Zeichnungen Nietzsches aus der für unseren Themenbereich zentralen Zeitspanne bis zum Beginn der Studentenjahre präsentieren. Die Briefe (Oktober 1849-September 1864) von und an Nietzsche liegen als B I 1 schon seit 1975 vor; der Nachbericht als B I 4 seit 1993. Nachgelassene Aufzeichnungen Anfang 1852-Sommer 1858 einschließlich vieler Zeichnungen als W I 1 seit dem Sommer 1995, doch Vorstufen, die restlichen Zeichnungen usw. einschließlich wichtiger zum Verständnis des Vorgelegten zentraler Informationen auch über die Abweichungen von der HKG enthält erst der Nachbericht, der noch ebenso aussteht wie die beiden Textbände der Pförtner Schülerjahre Nietzsches. Nachgelassene Aufzeichnungen (Herbst 1858-Herbst 1862) werden als W I 2 wohl gegen Jahresende 1999 erscheinen, Band I 3 mit den Texten der Primanerjahre Nietzsches dürfte am 25.8.2000 erschienen sein; mit dem von H. G. Hödl verantworteten Nachbericht der Abt. W I 1-3 ist wohl frühestens 2002 zu rechnen. R. G. Müller, Antikes Denken und seine Verarbeitung in Texten des Schülers Nietzsche, Dissertation Univ. Dortmund vom 22.11.1993. Martin Pernets informative, insbesondere auf den Forschungsergebnissen Reiner Bohleys aufbauende Baseler Dissertation Das Christentum im Leben des jungen Friedrich Nietzsche, Opladen 1989, berücksichtigt auf den Seiten 85-104 auch Nietzsches Studentenzeit in Bonn 1864/65. J. Kroedel, Heimat und Fremde in der Lyrik des jungen Nietzsche, Lizentiatsarbeit 1982, Universität Basel (Manuskript; Betreuer K. Pestalozzi, dem ich auch die Kenntnis dieser Untersuchung verdanke), und A. M. Eisingerich, Der Mythos-Begriff des jungen Nietzsche (1858-1864), Diplomarbeit Theologie, Katholisch-theologische Fakultät der Universität Wien, 1996 (Betreuer Joh. Figl; die Kenntnis verdanke ¡ch H. G. Hödl). Die Untersuchung von Reiner Bohley, Die Christlichkeit einer Schule. Schulpforte zur Schulzeit Nietzsche 's, Wissenschaftliche Abhandlung zur Qualiftkationsprüfung, Naumburg o.J. (1974), gilt nur am Rande dem frühen Nietzsche selbst. Reiner Bohley hat sich seine beeindruckende Kenntnis auch des frühen Nietzsche wohl erst in den 80er Jahren erarbeitet. L. Andreas-Salomé, Friedrich Nietzsche in seinen Werken, (1894), Frankfurt/M. 1983; vgl. dazu kritisch vom Verfasser, NaJ 1., 40-46.
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suggestiven Zeichnung eines kleinen, überaus braven Pastors Abstinenz der Nietzscheinterpretation entscheidend beigetragen. Fritz zur genetischen doch eher die Brisanz mancher Texte auch des früh(st)en Nietzsche? Oder Jahrzehnts1 beginnt die Situation sich wohl eines einer Nach Vorlaufsphase etwa Jahren des den nun zu Ende gehenden Jahrhunderts entscheidend" erst seit neunziger sich in diesem Jahrzehnt mit den Texten des früh(est)en Und fast der ändern. zu jeder, Nietzsche näher befaßte, dürfte in den Diskussions- oder Publikationszusammenhang der Dortmunder Nietzsche-Kolloquien mehr oder weniger eng eingebunden sein. Doch es bleibt noch allzu viel aufzuarbeiten, vor allem aber unterschiedliche Sichtweisen zu klären und gegebenenfalls zu integrieren.
ster Elisabeth mit ihrer
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E. Förster-Nietzsche, Das Leben Friedrich Nietzsche's, Erster Band, Leipzig 1895; vgl. dazu kritisch vom Verfasser, NaJ 1., 46-57. In die Vorgeschichte genetischer Nietzscheinterpretation gehören u.a. R. Bohley, Die Christlichkeit einer Schule, a.a.O., bzw. „Über die Landesschule zur Pforte. Materialien aus der Schulzeit Nietzsches", in: Nietzsche-Studien, V (1976), 298-320, und, trotz erheblicher Blindheiten, vor allem R. Blunck, Friedrich Nietzsche, Kindheit und Jugend, München/Basel 1953, zum Teil ergänzt und korrigiert nun in: C. P. Janz: Friedrich Nietzsche, Biographie, I, München 1978, 17-275. Zentrale Impulse gaben zwischen 1980 und 1990 wohl insbesondere (1) R. Bohley mit (a) Nietzsches Taufe. „Was, meinest Du, wird aus diesem Kindlein werden?", in: Nietzsche-Studien, IX (1980), 383-405; (b) „Der alte Ortlepp ist übrigens todt", in: W. Barner, u.a. (Hg.), Literatur in der Demokratie. Für Walter Jens zum 60. Geburtstag, München 1983, 322-331; (c) „Nietzsches christliche Erziehung", in: Nietzsche-Studien, XVI (1987), 164-196, sowie (d) „Nietzsches christliche Erziehung", II, in: ebenda, XVIII (1989), 377-396; (2) W. Ross, Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben, Stuttgart 1980; (3) der Verfasser mit (a) „Friedrich Nietzsche: Philosophie als Tragödie", in: J. Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen, Philosophie der Neuzeit, III, Göttingen 1983, 198-241; (b) „Nietzsche ex/in nuce, Früheste Schülerphilosophie in ihrer grundlegenden Bedeutung ftir die Nietzscheinterpretation", in: Zeitschriftfür Didaktik der Philosophie, VI (1984), Heft 3: Nietzsche, 138-147; (c) „Nietzsches Briefwechsel im Kontext, ein kritischer Zwischenbericht", in: Philosophischer Literaturanzeiger, XXXVIII, 1985, 359-78, (d) „Mindestbedingungen nietzscheadäquaterer Nietzscheinterpretation oder Versuch einer produktiven Provokation", a.a.O., (e) NaK, 1991 (= 15.12.1990); (4) Joh. Figl, Dialektik der Gewalt. Nietzsches hermeneutische Religionsphilosophie mit Berücksichtigung unveröffentlichter Manuskripte, Düsseldorf 1984; (5) J. Kjaer, (a) „Drei Nietzschebiographien", in: Orbis Litterarum, XXIX (1984), 169-187; (b) „Der lebensgeschichtliche Hintergrund von Nietzsches Denken, Sozialisation zur Antisozialst", in: Marx-Engels-Stiftung, Wuppertal (Hg.): Bruder Nietzsche? Wie muß ein marxistisches Nietzschebild heute aussehen? Symposium, Wuppertal 9./10. April 1988, Düsseldorf 1988, 173-185, und (c) Nietzsche, Die Zerstörung der Humanität durch .Mutterliebe', Opladen 1990; (6) K. Pestalozzi, „Nietzsches Gedicht ,Noch einmal eh ich weiter ziehe ...' auf dem Hintergrund seiner Jugendlyrik", in: Nietzsche-Studien, XIII (1984), 101-110; (7) R. Kreis, Der gekreuzigte Dionysos. Kindheit und Genie Friedrich Nietzsches. Zur Genese einer Philosophie der Zeitenwende, Würzburg 1986; (8) A. Miller, „Das ungelebte Leben und das Werk eines Lebensphilosophen (Friedrich Nietzsche)", in: Der gemiedene Schlüssel, Frankfurt/M. 1988, 9-78; (9) M. Pernet, Das Christentum im Leben des jungen Friedrich Nietzsche, Opladen 1989, und (10) J. Köhler, Zarathustras Geheimnis, Friedrich Nietzsche und seine verschlüsselte Botschaft, Nördlingen 1989. Insbesondere seit 1992 erscheinen zunehmend innovative Untersuchungen zum frühen Nietzsche sowie zu dessen sozialem Hintergrund; von den kleineren Arbeiten erschienen die meisten in den Bänden I-VI der Nietzscheforschung, 1994-1999.
Von „Als Kind Gott im Glänze gesehn
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zum
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Christenhaß '":
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Was nun mich betrifft, so habe ich auf die Relevanz von Nietzsches frühen Texten seit knapp zwei Jahrzehnten aufmerksam gemacht und die frühen Texte möglichst aus sich selbst und allenfalls aus ihrem synchronen Kontext interpretiert; die Brücke zu den späteren autobiographischen Aussagen Nietzsches hingegen habe ich vorsichtshalber kaum einmal betreten, habe Provokantes beim späteren Nietzsche eher als Anregung gewertet, die Texte des früh(est)en Nietzsche noch genauer zu untersuchen. Nun jedoch skizziere ich erstmals auch in Berücksichtigung autobiographischer Aussagen des Nietzsche der letzten 14 wachen Lebensjahre (1875-88) eine wesentliche12 Linie der weltanschaulichen Entwicklung des früh(est)en Nietzsche.
zwar
II.
Zu Nietzsches
früh(st)er weltanschaulicher Entwicklung
Vortragstitel habe ich die wohl zentralen Probleme des früh(st)en Nietzsche möglichst authentisch zu fixieren gesucht: Das Zitat „Als Kind Gott im Glänze gesehn" stammt nämlich vom späteren Nietzsche, „Christenhaß" hingegen sogar vom frühen. Wenn ich nun in doppeltem Gegensatz zu Schwerpunktsetzungen der Nietzscheinterpretation primär bei Teilaspekten der Theorien des späten Nietzsche und zu der die Geschichte der Nietzscheinterpretation bislang dominierenden Tradition christophiler Deutung zumal des früh(est)en Nietzsche13 eine Entwicklung des vermeintlich kleinen Pastors Fritz nicht nur zu einer wie auch immer verstandenen Christentumskritik, sonIm
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übergangen sei, daß schon früh diese Linie u.a. ergänzt wird durch eine ästhetische Befreiungsperspektive, die weltanschauliche Defizite zu kompensieren sucht. Spätestens in seiner Ödipusinterpretation (Mai-Juni 1864) bringt der Primaner diese Divergenz auf den Punkt: „Der innere religiöse Sinn protestiert sicherlich gegen dieses Stück, wenn der aesthetische auch die vollste Befriedigung gefunden" (II 369). Kunst erscheint mittlerweile als von Religion prinzipiell abkoppelbar (vgl. vom Verfasser NaJ II, 472ff., 586f). Schon das Kind Nietzsche freilich neigt dazu, sich ästhetisch zu artikulieren, wenn es einer inhaltlichen Aussage aus dem Wege zu gehen wünscht; so z.B., wenn sich der Dreizehnjährige (in Aus meinem Leben) zu seiner frühen poetischen Produktion äußert. Zeitweilig (wie z.B. im Sommer 1862) scheint die ästhetische Perspektive die weltanschauliche sogar zu dominieren (vgl. dazu auch den Beitrag von Hans Gerald Hödl in diesem Band). Die deutlichste Gegenposition markieren bisher (1) Joh. Figl, in: (a) Dialektik der Gewalt, (b) „Ästhetische Theorie und tragische Existenz. Musikverständnis als Erlebnishorizont des jungen Nietzsche", in: Mesotes, II (1992), 4/1992, 466-477, (c) „Biographisch orientierte Analysen eines Philosophen. Zu neueren Ansätzen in der Nietzsche-Deutung", in: Nietzsche-Studien, XXIII (1994), 273-284, (d) „Geburtstagsfeier und Totenkult. Zur Religiosität des Kindes Nietzsche", in: Nietzscheforschung, Bd. II, Berlin, 1995, 21-34, und (e) „Die ,Ausbildung der Seele erkennen'. Die Bedeutung der frühen Texte Nietzsches innerhalb seiner Philosophie im ganzen", in: Nietzscheforschung, Bd. V, 1999, sowie (2) J. Kjaer, „Nietzsches Naumburger Texte: synkretistische mythopoetische Theodizee oder antichristliche Theodizeekritik?", in: Nietzscheforschung, Bd. II, 1995, 341367 Replik des Verfassers: „.dergleichen drechselt man als Gymnasiast auf Bestellung' Nietzsches Naumburger Texte, eine Replik auf Jörgen Kjaers ,andere Interpretation' nebst einigen prinzipiellen Anmerkungen", in: Nietzscheforschung, Bd. II, 1995, 369-380 und der Beitrag Jörgen Kjaers in diesem Band der Nietzscheforschung.
Nicht
...
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100 dein sogar
zum
Christen(tums)haß bereits während seiner Schülerzeit Schritt für Schritt
rekonstruiere, hätte ich mich unter eine nicht einlösbare Beweispflicht gestellt, wenn ich
Stützung meiner Sichtsweise nicht aufzahlreiche Veröffentlichungen einschließlich einer umfangreichen Monographie zu Nietzsches früher Denkentwicklung14 verweisen könnte. Da nun jedoch „einen Beweis, der jeglichen Zweifel überwindet, hier zu führen [...] kaum möglich" (III 166f.) und Plausibilität zu erzielen angesichts einer so brisanten These schon ein erheblicher Forschritt ist, beschränke ich mich in dieser, meine eigene Interpretation zugunsten der Präsentation kaum berücksichtigter Nietzschescher Texte etwas zurücknehmenden Skizze darauf, Ihnen nun 10 aus meiner Sicht besonders charakteristische Problemtableaus der weltanschaulichen Entwicklung des frühesten und frühen Nietzsche vor Augen zu stellen: teils als wirkungsvolles Bild wie im Schauspiel, teils als Gemälde, teils nur als schlichte Skizze. Die 10 Problemtableaus selbst verteilen sich auf den Zeitraum von Nietzsches Röckener (1844-50) und Naumburger Kindheit (1850-58) sowie seiner Pförtner Jugend (1858-64) so, daß dabei bis in den Herbst 1864 bis zu 18 der knapp 20 Lebensjahre Nietzsches berücksichtigt sein könnten. Hinter diese zu Beginn seiner Primanerjahre erreichte weltanschauungskritische Position fällt Nietzsche bis ins Jahr 1889 wohl niemals mehr prinzipiell zurück. Nur noch en passant werden nun method(olog)ische Fragen angesprochen. Mit unserem Kolloquiumsthema beginne ich als beeindruckendem zur
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als alle anderen'. Nietzsches Kindheit(stexte) als NaK und NaJ, 1991-1994; ,„so anders Schlüssel zu Nietzsche?", Dortmund 1992; „,Jeder tiefe Geist braucht die Maske'. Nietzsches Kindheit als Schlüssel zum Rätsel Nietzsche", in: Nietzscheforschung, Bd. I, Berlin 1994, 137-160; „Friedrich Nietzsche aus Röcken", in: Nietzscheforschung, 1995, 35-60, sowie gemeinsam mit Roland Dreßler und Rainer Wagner als Bildband Spurensuche, Die Lebensstationen Friedrich Nietzsches 1844-1869, Erfurt 1994. Die nun folgende Skizze bildet den Schlußstein meiner Präsentationen des früh(st)en Nietzsche in diesem Jahrbuch: (1) „Jeder tiefe Geist braucht die Maske", Nietzscheforschung, Bd. I, Berlin 1994, 137-160, skizziert den Gesamtzusammenhang der Kindheit Nietzsches; (2) Werde suchen mir ein Schwans, wo das Zipfelchen noch ganz.' Spurenlesen im Spannungsfeld von Text, Zeichnung, Phantasie und Realität beim etwa zehnjährigen Nietzsche", in: Nietzscheforschung, 267-287, zeigt, wie raffiniert der etwa Zehnjährige schon formuliert und (3) ^dergleichen drechselt man als Gymnasiast auf Bestellung' Nietzsches Naumburger Texte, eine Replik auf Jörgen Kjaers ,andere Interpretation' nebst einigen prinzipiellen Anmerkungen", a.a.O., 369-380, setzt sich mit der bisher prinzipiellsten alternativen Interpretation von Kindheitstexten Nietzsches auseinander. (4) „Friedrich Nietzsche aus Röcken", in: Nietzscheforschung, Bd. II, 1995, 35-60, hingegen sprengt den Rahmen der Texte Nietzsches und rekonstruiert als Hintergrund nicht nur der Kindheit Nietzsches die Röckener Jahre 1844-50; (5), „,stets mein Vorhaben, ein kleines Buch zu schreiben'. Nietzsches Leben und Texte 1844-1864, ein Überblick", a.a.O., skizziert Textarten u.s.w. auch als Reflex der Lebenssituation des früh(st)en Nietzsche; (6) dieser Beitrag konzentriert sich auf eine wesentliche weltanschauliche Linie und (7) „Naumburg oder Pforta? Eine Pförtner Verlust- und Gewinnbilanz", in: Nietzscheforschung, Bd. I, 1994, 291-311, schließlich gibt einen zentrale Bio-
Vgl.
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,„
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graphica berücksichtigenden Vergleich.
Von „Als Kind Gott im Glänze gesehn
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Christenhaß "?
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1. Tableau: „Als Kind Gott im Glänze gesehn Das Zitat stammt vom 33jährigen Nietzsche, der hier von sich selbst spricht: Er bezieht sich dabei in einer privaten Aufzeichnung (28 [7] bzw. IV 3, 363) aus dem Frühjahr oder Sommer 1878, dem Erscheinungsjahr von Menschliches, Allzumenschliches, auf ein 20 bis 32 Jahre zurückliegendes Erlebnis. Wohl erstmals Mazzino Montinari, der verdienstvolle Herausgeber der Kritischen Gesamtausgabe der Werke und des Briefwechsels Nietzsches, hat in einem 1982 veröffentlichten Vortrag Nietzsches Kindheitserinnerungen aus den Jahren 1875 bis 1879 auf diese Zeilen aufmerksam gemacht: und sie zwar vorsichtig, doch leider im Sinne der seit 1895 üblichen Auffassung inter"
pretiert. Gegen diese communis opinio eines kleinen Pastors Fritz erhebe ich seit langem Einspruch. Beim Blick auf Nietzsches späte autobiographische Notizen ist nämlich zu berücksichtigen, daß wir weder vorweg wissen können, ob Nietzsche sich an ein Jahrzehnte zurückliegendes Ereignis trotz „puberaler Amnesie"17 korrekt erinnert, noch, ob er immer bereit ist, eine korrekte Erinnerung ebenso korrekt zu Papier zu bringen. Das Zitat ist offenbar singular. Doch nehmen wir einmal an, Nietzsche hätte sich völlig korrekt erinnert, und auch seine Formulierung wäre angemessen. Was können wir ihr entnehmen? „Als Kind" will
gesehn"'8
haben. Wir erfahren aus Nietzsches Notiz leider Nietzsche „Gott im Glänze weder, wie alt er damals war, noch, welchen Gott er in welcherart Glanz nicht nur erfahren, sondern „gesehn" haben will. So kommen zumindest wir nicht umhin zu berücksichtigen, was wir über den frühsten (noch vorliterarischen) Nietzsche belegterma-
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In: M. Montinari, Nietzsche lesen, Berlin/New York 1982, 22-37. Der Terminus stammt von Ernest Borneman, der die wichtige Entdeckung machte, daß Kinder (vom 3.-12. Lebensjahr etwa) „durchaus fähig sind, verläßliche Auskünfte über ihr Geschlechtsleben zu liefern, daß diese Fähigkeit aber mit dem Fortschritt der Pubertät schwindet und im Erwachsenenalter nicht mehr hergestellt werden kann." Vgl. E. Borneman, Das Geschlechtsleben des Kindes. Beiträge zur Kinderanalyse und Sexualpädologie. München 1988, 82. Zur Problematik vgl. z.B. J. Kotre, Weiße Handschuhe. Wie das Gedächtnis Lebensgeschichten schreibt, München 1996. In Der junge Nietzsche, 1912, 19, führt Elisabeth Förster-Nietzsche zwar an, ihr Bruder hätte noch viele Jahre später geschrieben: „Mit 12 Jahren habe ich Gott in seinem Glänze gesehen", doch diese Passage findet sich weder in der Biographie von 1895 noch in Nietzsches Aufzeichnungen. Es dürfte sich bei der Altersangabe um eine Erinnerungstäuschung oder die Verwechslung mit einer anderen Familienstory handeln, nach der der junge Nietzsche nicht nur einer Pfarrhaushälterin, sondern sogar einem „sehr freisinnige[n] Referendar [...] ,immer wie der zwölfjährige Jesus im Tempel erschienen'" sei (48). Wie sehr sich Nietzsches zwei Jahre jüngere Schwester jenseits aller Flunkerei im Blick auf Nietzsches Kindheit selbst in harten und für Nietzsche äußerst relevanten Fakten täuschen konnte, belegt ihre Aussage, Fritz sei „kaum ein Jahr in der Stadtschule" (Das Leben Friedrich Nietzsche 's, 1, 1895, 31), der Naumburger Bürgerschule, geblieben. Es waren aber für Nietzsche die drei wohl schwersten Schuljahre (etwa von Mai 1850 bis Ostern 1853). Doch nehmen wir selbst einmal die Altersangabe ernst und rechnen wir nach: Hätte sich Nietzsches Schwester korrekt erinnert, müßte sich Nietzsches Aussage auf den Zeitraum von Mitte Oktober 1856 bis Mitte Oktober 1857 beziehen! Dazu weiter unten.
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ßen19 wissen, vor allem aber, was jahrzehnts entnehmen können.
wir
aus
seinen
eigenen
Texten des zweiten Lebens-
So wissen wir u.a. aus Briefen von Nietzsches Vater und Aufzeichnungen seiner Mutter, daß Nietzsche schon vor Vollendung seines zweiten Lebensjahres insbesondere durch seinen Pastorenvater Ludwig auch mit der Rute in versuchter Brechung seines offenbar immensen Eigenwillens christlich erzogen wurde; und daß diese Erziehung des Zweijährigen zumindest bis zum Weihnachtsfest 1846 erfolgreich zu sein schien. Und wir wissen, daß schon das kleine Kind stark auf seinen Vater geprägt war: gewiß nicht nur dank der Rute, sondern vor allem wohl dank musikalischer und sonstiger Zuwendung. Und wir wissen schließlich, daß schon das kleine Kind in die dem Pfarrhaus direkt benachbarte Röckener Dorfkirche mitgenommen wurde, in der es hoch über sich und über dem Altar seinen verkleideten, es täglich zu Gott führenden und für das Kind wohl mit dem Bilde Gottes verschmelzenden Vater auf der Kanzel in einem weit festlicheren Lichtglanz sah als jemals in seinem heimischem Pastorenhaus. Könnte diese Deutung nicht bereits genügen? Daß Nietzsche später vieldeutig von „unsern Vater droben" (I 425 bzw. I 1, 245) sprach, soll nicht übergangen sein. „Gott im Glänze" könnte also Ludwig Nietzsche auf der Kanzel der Dorfkirche Rockens gewie lange? für Gott gehalten oder mit Gott gleichgewesen sein, der von Nietzsche setzt wurde. Nun zu einer zweiten, etwas gewagteren Deutung. „Gott im Glänze" könnte nämlich auch Gott als Gott bedeutet haben. Doch was für einen Gott hat das Kind dann „gesehn"? Jahwe im brennenden Dornbusch? Eine Jesusvision? Gibt es in Nietzsches frühen Texten dafür Anhaltspunkte? In Geschenktexten, insbesondere für seine fromme Mutter20 ,ebenso wie in seiner stellenweise betont frömmelnden großen Autobiographie des Sommers 1858 (I 1-32 bzw. I 1, 281-311) erweckt das Kind zwar den Eindruck, daß es den christlichen Gott zumindest mit seinem geistigen Auge durchaus im Glänze gesehen haben könnte: vor allem als den Herrn des Gewitters und der Blitze. Das gilt nachweislich schon für den Vierjährigen '; und es könnte in zunehmend übertragenem Sinne auch noch einige Jahre länger gegolten haben. Dieser Gott wäre aber dann ein Gott, der auch tötet: in Röcken 1849 zuerst den Vater, wenige Monate später 1850 das Brüderchen, im gemeinsamen Haushalt in Naumburg schließlich 1855 Tante Auguste sowie 1856 Großmutter Erdmuthe. Gerade im Zusammenhang der Schilderung innerfamiliärer Todesfälle wird in Nietzsches Autobiographie des Sommers 1858 nun stereotyp doch zunehmend riskant der HErr zitiert. Doch leider ist schon für den kleinen Fritz alles noch vertrackter, denn ,den' christlichen Gott gibt es ja nicht. Für das Kind spalte-
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Über die Röckener früheste Kindheit sowie deren Rahmenbedingungen informieren R. Bohley, Nietzsches christliche Erziehung, 1987, 164-96, sowie Nietzsches christliche Erziehung, II, 1989, 377-96, K. Goch, Franziska Nietzsche, Ein literarisches Portrait, Frankfurt/M. 1994, Joh. Figl, „Geburtstagsfeier und Totenkult. Zur Religiosität des Kindes Nietzsche", in: Nietzscheforschung, Bd. II, Berlin, 1995, 21-34, und vom Verfasser NaK und NaJ, 1991-94, sowie Friedrich Nietzsche aus Röcken, a.a.O. Auch der Nachbericht zur ersten Abteilung der KG B von Frederico Gerratana und Renate Müller-Buck, Berlin/New York 1993, gibt wertvolle Informationen. 1338-345, 377-389, 402-410 bzw. I 1, 115-125, 177-193,215-226. Vgl. vom Verfasser, Friedrich Nietzsche aus Röcken, 56-58.
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sich der christliche Gott wohl zumindest in einen jahweartigen HErrn als den Herrn der Blitze und mit fließendem Übergang in einen HErrn mit dem Liebes- sowie Zornesantlitz des Ludwig Nietzsche. Soweit ein zweiter Deutungsversuch: Ein christlicher Gott im Glänze kann also bereits für das Kind Nietzsche so manches sein er wäre jedenfalls nicht nur derjenige Gott, der, nachdem die Familie monatelang in gegenteiliger Intention betete, Nietzsches Vater und selbst noch Nietzsches knapp zweijähriges Brüderchen erst nach unsäglichen Leiden ,heimholt', sondern unablösbar davon auch ein Mördergott, also alles, nur nicht sympathisch oder gar moralisch akzeptabel. So verwundert es kaum, daß wir schon in den Texten des frühesten Nietzsche Theodizeeprobleme finden. Ein dritter Deutungsversuch modifiziert nur geringfügig: Hier wäre der Gott im Glänze der antike Herr der Blitze, nämlich Zeus. Es gibt vom etwa Elfjährigen ein Dankgedicht an Zeus, „daß wir nicht wanken." (I 362 bzw. I 1, 145f.) Gestärkt wird die Zeus-Hypothese insofern, als im griechischen Mythos Zeus in überwältigendem Glänze erscheint: vor Semele, der thebanischen Königstochter, die ihn als Zeus ,sehen' wollte und die deshalb verbrennt, aber noch den Zeussohn Dionysos gebiert. Schon der Elfjährige muß 1856 in der Hochphase seiner Graecomanie diesen Mythos gekannt haben. Betont Nietzsche deshalb noch Jahrzehnte später hintersinnig, er habe (im Gegensatz zu Semele) schon als Kind Gott im Glänze gesehen? Und zu überleben vermocht? Vielleicht, weil er sich zeitweilig als Bakche/Böcklein des Dionysos fühlte? Eine im Blick auf Texte des späteren Nietzsche gewiß faszinierende, abenteuerliche, immens konsequenzenreiche These, doch ich komme noch auf sie zurück. Daß schon der Elfjährige in einem Theaterentwurf selbst in die Rolle des Zeus schlüpft, ist dokumentiert (I 327-331 bzw. I 1, 105-110). Und noch im Frühjahr 1859 tritt Zeus als Herr des Gewitters im Drama Prometheus (I 62-73)24 auf. Kurz, auch unser dritter Deutungsversuch hat selbst wieder viele Facetten. Ein vierter Deutungsversuch ist noch riskanter, formuliert nur ein Fragezeichen. Es gibt Anhaltspunkte für epileptische Anfälle nicht nur des Vaters Ludwig während Nietzsches frühester Kindheit 5, sondern auch seines Sohnes in dessen Was bedeutet das für Nietzsches Kindheit? Nun ein fünfter Deutungsversuch: Wer die Erstfassung des Gedichts Alfonso (I 377381 bzw. I 1, 175-180) des Zwölfjährigen berücksichtigt, sieht einen kleinen Denker
te
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Jugend26.
Zusammenhang gehören etwa die Reflexionen schon des Kindes zu ,Unglück', ,Zufall', ,Schicksal' usw. Vgl. dazu auch K. Jauslin (in diesem Band der Nietzscheforschung).
In diesen J
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Weitere Deutungslinien auf dieser Ebene wären die Sonnen-Apollon-Helios-Perspektive, die Binnenperspektive der zweiten Lerche (in „Zwei Lerchen", etwa Mai/Juni 1858), auf die in der Diskussion Renate G. Müller aufmerksam gemacht hat, und die Perspektive des Aars (in Weihnachten, Sommer 1858). Zu alledem vgl. in extenso vom Verfasser, NaK, 1991. Vgl. dazu R. Ziemann, „Ewiges Ziel und falsche Begriffe. Zu Friedrich Nietzsches PrometheusDrama" (in diesem Band der Nietzscheforschung), und vom Verfasser, NaJ 1., 1993, 317-387. R. Bohley, Nietzsches christliche Erziehung, 164-196. Vgl. E. F. Podach: Nietzsches Zusammenbruch,. Heidelberg 1930. Zu Nietzsches Krankheiten zusammenfassend und unbekannte Archivalien Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, Eine burg 1990.
präsentierend das Standardwerk von P. D. Volz, medizinisch-biographische Untersuchung, Würz-
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hoch auf einem Turm nach manchen Regeln der Kunst über Glück meditieren. Wer so wie ein kleiner Schamane oder Buddha meditiert, ,sieht' manches, vielleicht auch „Gott im Glänze". Doch ein christlicher Gott wäre es nach allem, was wir den Texten des Zwölf- bis Dreizehnjährigen entnehmen können, kaum. Dieses Kind ist, wenn nicht 7 bereits in seiner Naturfrömmigkeit angekommen, noch bei ,den Griechen' Fazit: Im Ensemble unserer fünf Deutungsversuche, deren Elemente mannigfach kombinierbar sind, ist die konventionelle pastorenhausherkunftsbezogene Deutung wohl nur für den sehr frühen Nietzsche wahrscheinlich, wenngleich selbst hier nicht gesichert, da zumindest ich die von Nietzsche wohl schon als Kind durchschaute Deutung des Ludwig Nietzsche als „Gott im Glänze" für plausibler halte. Für das Kind vom zehnten Lebensjahr an hingegen erscheint mir eine christliche Deutung eher unwahrscheinlich. Man müßte für sie also spezifisch argumentieren, denn auch diese Notiz ist nicht eindeutig genug. Je nachdem nun, für welchen Zeitpunkt in Nietzsches früh(st)er Entwicklung wir dieses ,Gesehn'-Haben ansetzen, und leider auch, wer man selbst ist, je nachdem werden Deutungsvarianten plausibel oder obsolet. ...
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2. Tableau: Nietzsches frühe Graecomanie oder eine das Griechentum" die „ganze Kindheit hindurch" „
leidenschaftliche
Liebe für
Eine wichtige Informationsquelle sprudelt, wenn man sie zu nutzen weiß, beginnend 1895 mit dem ersten Band der Nietzschebiographie von Nietzsches Schwester Elisabeth, in deren Veröffentlichungen wie insbesondere in Der junge Nietzsche von 1912. So wird nicht mehr nur aus den erhaltenen Texten, aus zahlreichen griechischen' Gedichten sowie einer Liste Stoff zu geschichtlichen Gedichten (I 352f. bzw. I 1, 132134), die insgesamt 71 Themen enthält, deutlich, wo die Interessen des elf- und zwölfjährigen Nietzsche gelegen haben, sondern Schwester Elisabeth berichtet2 daß die Kinder der Familien Krug, Pinder und Nietzsche „solche leidenschaftliche kleine Griechen geworden" seien, daß sie „bei jeder Zusammenkunft" und auch zu Hause „griechische Spiele spielten" und dabei auch ein griechisches' Theaterspiel aufführten es ist eine Fortführung von Der Geprüfte -, daß Lanzenwerfer Fritz das kleine Gretchen Pinder jedoch am Fuß einmal so stark verwundete, daß alle Griechenspiele „darauf verboten" und „für immer in Acht und Bann gethan" wurden. Die Kinder hätten aber „noch lange Zeit griechische Namen und Anspielungen" in ihre Reden und Vergnügungen gemischt, wie ihnen „überhaupt eine leidenschaftliche Liebe für das Griechentum" die „ganze Kindheit hindurch geblieben" sei. Mehrfach schildert Elisabeth, wie ihr großer Bruder Spiele steuerte und wie sehr ihn alle Kinder verehrt hätten. Und nun: ,
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Renate G. Müller hat sich nicht nur in Antikes Denken und seine Verarbeitung in Texten des Schülers Nietzsche, 1993, sondern auch in einer Reihe kleinerer Studien (in den Bänden I-III und V/VI der Nietzscheforschung, 1994-1999) und insbesondere in „Erkenntnis und Erlösung. Über Nietzsches Umgang mit vorchristlich-griechischem Gedankengut vor dem Hintergrund seiner christlichen Herkunft" (in diesem Band der Nietzscheforschung) zu Fragen des Bezugs des frühen Nietzsche zur Antike sowie zu einzelnen Texten pointiert geäußert. Vgl. auch in extenso vom Verfasser Na, 1991-94. E. Förster-Nietzsche, Das Leben Friedrich Nietzsche 's, Erster Band, Leipzig 1895, 44-48.
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„Eine der kleinen Freundinnen trug einmal in der Schule zum Examen das Schiller'sche Gedicht ,Die Götter Griechenlands' vor, und klagte so beweglich um die verschwundenen Götter, daß ein älterer christlicher Freund der Schule bedeutenden Anstoß daran
nahm."29
Die Nietzscheinterpretation freilich hat, wenn mich mein Eindruck nicht trügt, anders als der christliche Freund reagiert, der die Graecomanie der Kinder zu deuten wußte, denn sie ist bis in die jüngste Vergangenheit nicht nur der Auseinandersetzung mit den frühesten Texten Nietzsches aus dem Wege gegangen, sondern hat selbst das Faktum der frühen Graecomanie des Autors der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik und des Antichrist weder zu bemerken geruht noch zu deuten gewußt. Oder doch? Befürchteten vor allem Liebhaber des Mythos des kleinen Pastors Fritz bzw. eines noch lange christlichen jungen Nietzsche den Zusammensturz interpretativer Kartenhäuser? Und Konsequenzen auch für die Interpretation der Philosophie Nietzsches? Wer Schillers fulminantes Gedicht Die Götter Griechenlands zumal in der Erstfassung kennt, weiß, was es bedeutet, wenn in einer Naumburger Töchterschule des Jahres 1856 ein höchstens neunjähriges Mädchen aus der Kinderclique Nietzsches30 dieses Gedicht voller Emotion vorträgt: Das verweist auf den Autor von Der Geprüfte und der zahlreichen graecophilen Gedichte, verweist auf das Kind Nietzsche und vor allem auf dessen offenbar kaum sonderlich christentumsfreudige Emotionen. Nun erst sind wir vorbereitet, uns Texten des Kindes direkt zuzuwenden:
3. Tableau:
.griechische' Selbsterlösung, Selbstvergottung und Feindesjagd
In Nietzsches frühem Nachlaß blieb ein faszinierendes Lust- und Listspiels Der Geprüfte (I 327-331 bzw. I
Fragment eines ,griechischen' 1, 105-110) aus dem Winter
1855/56 einschließlich einer Besetzungsliste erhalten. So entdecken wir, daß und wie schon der Elfjährige sich quasi trinitarisch selbst erlöst, sich vergöttlicht und sich als Jäger (s)eines Todfeindes von erheblichem Druck zu befreien scheint.31 Wenn man es nicht selbst nachlesen könnte, würde man kaum glauben, daß das Kind, um seine Selbsterlösung zu initiieren, bereits in der ersten Szene in die Rolle ausgerechnet Apollons schlüpft; daß es in der nächsten Szene sogar die Rolle des als hungrigen Bettler auftretenden Zeus übernimmt, der den Menschen Sirenius auf dessen Menschlichkeit hin und eben nicht auf Religiosität! prüft, bevor er sich im Glänze seiner Göttlichkeit offenbart, um Sirenius, der in den nächsten Akten von Nietzsche -
-
Ebenda, 48. Ist es Zufall, daß diese Passage im Unterschied zum ihr vorangehenden und folgenden Wortlaut keinen Eingang in die aktualisierte Reprise der Biographie von 1895, in Der junge Nietzsche, Leipzig 1912, fand? Sind Acht und Bann der Griechenspiele auch eine Antwort auf den bedeutenden Anstoß des christlichen Freundes der Naumburger Mädchenbürgerschule? W. Pinder schildert in seinem vierzehnten Lebensjahr in einer leider nicht mehr zugänglichen Autobiographie seinen Freund Fritz: „So leitete er auch alle unsere Spiele, gab neue Methoden darin an und machte dieselben dadurch anziehend und mannigfaltig; überhaupt war er ein in jeder Hinsicht höchst begabter Knabe. Außerdem besaß er einen sehr lobenswerten und gleichmäßigen Fleiß und diente mir auch darin wie in allem andern zum Vorbild. Sehr viele Neigungen wurden durch ihn allein geweckt und genährt" usw. ebenda, 32. Erstmals diskutiert habe ich diesen Text in: „Nietzsche ex/in nuce, Früheste Schülerphilosophie in ihrer grundlegenden Bedeutung für die Nietzscheinterpretation", a.a.O. -
-
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werden müßte, zum Halbgott und so großzügig auf den Olymp zu erheben, daß Sirenius im Gegensatz zu Ganymed sogar seine Eltern mitnehmen kann. Anschließend darf in der Rolle des Menelaos noch dem Todfeind Paris die offenbar erfolgreiche Verfolgung angekündigt werden. In dem am 8.2.1856 aufgeführten Stück selbst durfte Fritz als Menelaos den Räuber seiner Frau und seiner Schätze, Paris, auf der Bühne eigenhändig ,töten'.33 Der Kontrast zum Leistungsangebot der christlichen Götter könnte für den Pastorensohn massiver kaum sein: Zeus und auch alle übrigen olympischen Götter (Szene III) sind dankbar, zugewandt, schenken großzügigst, strafen nicht und erlauben eine ger(a)echte Hinrichtung. Der Gott des heimischen Glaubens hingegen tritt noch 2 1/2 Jahre später in einer Jesus-Christus-Hymne (I 422 bzw. I 1, 240f.) als Schreckgespenst auf. Auch das nächste Tableau entstammt Texten des Kindes, diesmal denen des Zwölfjährigen:
gespielt
4. Tableau: Don Alfonso und der Weise im Walde gegen Rinaldo und Donna Luzia Das erste und vierte Gedicht einer Gedichtsammlung (zum 31. Geburtstag der Mutter 2. 2. 1857) exponieren in mittelalterlicher Maskierung umwegig zwei gleichungleiche Paare, den Schloßherrn und Glückserkenntnissucher Alfonso sowie den von diesem zuletzt aufgesuchten Weisen im Walde schon hier! -, der jedoch auf reifarchaische, solonische Weisheit" anspielt, auf der griechischen' Seite; und auf der christlichen Seite den tödlich erkrankten Schloßherrn Rinaldo sowie dessen opferwillige Tochter Donna Luzia, die als Gegenleistung für die Gesundung ihres Vaters das Gelübde ablegt, den Schleier zu wählen. Das nur durch ein Geburtstagslied sowie ein Fragment Olympos gemilderte Gegenüber dieser beiden Paare erscheint fast als infam: Während Alfonso (I 377-381 bzw. I 1, 175-180) auf seiner Glückserkenntnissuche nach Ablehnung zeitgenössischer Glücksauffassungen sowie der frommen Botschaft läutender Klosterglocken sich von seinem Hochsitz auf dem Turm zu lösen sowie aus der Enge des Turms ins Freie auf Wanderung zu begeben und über die Stationen eines griechische Lebensweisheit verkündenden Paters sowie heroische Glücksauffassungen deklamierenden Fischers schließlich zu einem Weisen im Walde zu gelangen vermag, der „Worte des griechischen Weisen" Solon wiederholt und Alfonso zuletzt mit den Worten „Du weißt am besten dann selbst" auf sich verweist, was Alfonso „beglückt", inszeniert das Kind in Rinaldo (I 382-384 bzw. I 1, 182-185) eine christliche Tragödie, denn das Lebensopfer der Tochter sie wird „bleich und stille" ist umsonst, da das Leben Rinaldos, der das Opfer seiner Tochter als sinnlos ansieht, aber nicht zu verhindern weiß, nun „melangolisch" wird. Einsicht also dort und Menschen, die sich eigenverantwortlich auf sich selbst zu stellen wagen; und uneinsichtige Tragik hier angesichts eines Gottes, der so betrügerisch zu rechnen scheint, daß nicht einmal die kurze Lebenserhaltung eines alten Vaters dank des Lebensopfers der Tochter sinnvoll ist, da beide an ihrer Kommunikationsunfähigkeit scheitern? Was will das Kind seiner mit diesen Texten
am
-
-
-
Schließlich mußten auch die Freunde Wilhelm Pinder und Gustav
Krug die ranghohe
zen. "
34
E. Förster-Nietzsche, Das Leben Friedrich Nietzsche 's, Erster Band, a.a.O., 46. Herodot I 29ff; vgl. dazu vom Verfasser, NaK, 1991, 288-292.
Rolle beset-
Von „Als Kind Gott im Glänze gesehn
"
zum
„
Christenhaß "?
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beschenkten Mutter mitteilen? Wählen wir ein Tableau, das für Nietzsches späte Naumburger Kindheit oder für die ersten Wochen in Pforte stehen kann:
5. Tableau: „Erste
[religions]philosophische Schrift" Der Dreiunddreißigjährige setzt die Aufzeichnung, die mit „Als Kind Gott im Glänze gesehn" beginnt, nach einem Punkt und Gedankenstrich fort: „Erste philosophische
Schrift über die Entstehung des Teufels (Gott denkt sich selbst, dies kann er nur durch die Vorstellung seines Gegensatzes)." (28 [7] bzw. W IV 3, 363) Sollte sich Nietzsche hier korrekt erinnert haben" so wäre er mit diesen Überlegungen zumindest schon jenseits traditionell christlicher Auffassungen angekommen. Für den Zeitraum vom Herbst 1858 bis Frühjahr 1859 ist das durch einen Text Nietzsches belegt, auf den wohl 6 zuerst Johann Figl aufmerksam gemacht hat: „Gott nicht gut nicht böse erhaben über menschliche Begriffe" (I 48).37 Entfallt mit dieser Einsicht nicht bereits für den Vierzehnjährigen die Grundlage des Kults christlicher Religionen? Vielleicht sollte man das nicht weiterhin beharrlich übersehen. Ein Zweites: Sollte tatsächlich bereits der Zwölf- oder Dreizehnjährige (und eben nicht erst der Vierzehnjährige) zu derartigen Überlegungen in der Lage gewesen sein, so sind ihm einerseits auch die von mir unter dem Stichwort ,Graecophilie als Christophobie' rekonstruierten Emotionen und Gedanken durchaus zuzutrauen; und anderseits erscheinen dann Texte wie die Kleine Weihnachtsgabe für meine liebe Mutter von Deinen Fritz Nietzsche 1857 (I 397-399 bzw. I 1, 204-207, wichtige Vorstufe I 462f.) ebenso wie manche Passagen der großen Autobiographie des Sommers 1858 (I 1-32 bzw. I 1, 281-311) als betont exoterisch. Drittens, selbst wenn Nietzsche in seiner späten Kindheit zu diesen Überlegungen fähig oder bereit gewesen wäre, bedeutet dies keineswegs, daß er eindimensional ausschließlich dieser Denkspur nachgegangen wäre. Viertens, für den vom archaischen Griechentum schon als Kind geprägten GegensatzDenker Nietzsche38 wäre der skizzierte Ansatz zwar überaus charakteristisch, für einen primär christlich geprägten wäre er es hingegen nicht: Denn wenn im Gegensatz etwa zu Zeus für einen christlichen Gott „alles möglich" ist, dann müßte dieser Gott (wie z.B. schon der unbewegte Beweger des Aristoteles) auch auf eine Weise zu denken vermögen, die nicht von den Vorstellungen eines Zwölf- oder Dreizehnjährigen limitiert ist. Leider wirft die kurze Notiz des Dreiunddreißigjährigen zahlreiche Probleme auf. So gibt es zu ihr zwei weitere Fassungen, die trotz zunehmenden zeitlichen Abstands aus,
Es gibt in Nietzsches Hinterlassenschaft keinen Hinweis auf eine derartige Schrift. Das besagt freilich wenig, da in Nietzsches Kladden oftmals Blätter fehlen. Joh. Figl, Dialektik der Gewalt, a.a.O., 53. Ein genauer Vergleich dieser Stichwortliste legt in Berücksichtung der insgesamt drei Versionen Nietzsches im Blick auf seine ,erste philosophische Schrift' die Vermutung nahe, die Stichwortliste könnte eine Vorstufe dieser .ersten philosophischen Schrift' gewesen sein, da sich zumindest einige Themen und Sichtweisen decken. Natürlich erinnert Nietzsches Text so massiv an Heraklits Fragment 102, daß auch aus dieser Perspektive Einflüsse nicht völlig ausgeschlossen sein müssen. Zumindest Ernst Ortlepp kannte Heraklits Gnomen gut genug. Vgl. W. Müller-Lauter, Nietzsche, Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin/New York 1971. -
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führlicher ausfielen. Im Juni/Juli 1885, also fast sieben Jahre nach der ersten Aufzeichnung, notiert Nietzsche : ersten Spur philosophischen Nachdenkens, der ich, bei einem Überblick meines Lebens, habhaft werden kann, begegne ich in einer kleinen Niederschrift aus dem 13. Lebensjahre: dieselbe enthält einen Einfall über den Ursprung des Bösen. Meine Voraussetzung war, daß fur einen Gott etwas denken und Etwas schaffen Eins und Dasselbe sei. Nun schloß ich so: Gott hat sich selbst gedacht, damals als er die zweite Person der Gottheit schuf; um aber sich selbst denken zu können mußte er erst seinen Gegensatz denken. Der Teufel hatte also in meiner Vorstellung ein ebensolches Alter wie der Sohn Gottes, sogar einen klareren Ursprung und dieselbe Herkunft. Über die Frage, ob es einem Gott möglich sei seinen Gegensatz zu denken, half ich mir damit hinweg, zu sagen: ihm ist aber Alles möglich. Und Zweitens: daß er es gethan hat, ist eine Thatsache, falls die Existenz eines Gott-Wesens Thatsache ist, folglich war
„Der
-
es
ihm auch
möglich,
-." -
(38 [19] bzw.
VII
3, 344)
-
Weitere anderthalb Jahre später, im März 1887, formuliert Nietzsche in seiner Vorrede der Genealogie der Moral: „In der That gieng mir bereits als dreizehnjährigem Knaben das Problem vom Ursprung des Bösen nach: ihm widmete ich, in einem Alter, wo man ,halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen' hat, mein erstes literarisches Kinderspiel, meine erste philosophische Schreibübung und meine damalige ,Lösung" des Problems anbetrifft, nun, die Ehre und machte ihn zum Vater des Bösen." was
so
gab ich, wie
billig ist,
-
es
Gott
Ist Ihnen zumindest dreierlei aufgefallen? Erstens: In der Veröffentlichung ist der junge Autor ein Knabe, nicht mehr nur ein Kind bzw. in der Privatnotiz ist Nietzsche zwölf und in der Veröffentlichung dreizehn Jahre alt. Zweitens: Das „Problem vom Ursprung des Bösen" ging Nietzsche nach, das Problem also ihm, nicht er dem Problem. Das würde zu vielem passen, denn Nietzsches Probleme waren selten ,freiwillig'. Drittens: Nietzsches Kunst suggestiven Tiefstapeins sowie aufdeckenden Zudeckens zeigt sich, wenn er in seiner Veröffentlichung formuliert: „ihm widmete ich, in einem Alter, wo man ,halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen' hat, mein erstes literarisches Kinderspiel, meine erste philosophische Schreibübung." In seinen privaten Aufzeichnungen liest sich diese „philosophische Schreibübung" noch keineswegs als „Kinderspiel". Vielleicht hatte „man" in diesem Alter zu Nietzsches Zeit in Naumburger Pastorenkreisen tatsächlich noch „halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen"; doch zu diesem „man" gehörte der Nietzsche der Texte von 1856-1858, des Geprüften, der zahlreichen .Griechen'Gedichte, des Alfonso und der Zwei Lerchen höchstens dann, wenn man an graecophile Kinderspiele und bei „Gott" primär an Zeus, Apollon und Dionysos denkt. Im konventionellen Sinne hingegen gehört zu diesem „man" eher ein Leser, wenn er sich auch im nächsten Jahrtausend von Nietzsche oder manchem Interpreten noch an der Nase herumführen läßt. Doch halten wir fest: Es ist dem Nietzsche der erklärt philosophischen Arbeiten seit 1878 offenbar zunehmend wichtig, möglichst deutlich vor Ende seiner Kindheit erster Spuren „philosophischen Nachdenkens [... ] habhaft" geworden zu sein; oder werden zu können? Unsere Tableaus eins bis fünf galten den vierzehn Jahren der Röckener und Naumburger Kindheit Nietzsches; unsere restlichen fünf Problemtableaus gelten den sechs
Von „Als Kind Gott im Glänze gesehn
"
zum
„
Christenhaß "?
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Alumnenjahren Nietzsches
in der altertumswissenschaftlich orientierten Gelehrtenschule Pforte.39 Die restlichen Tableaus entstammen zwar primär den reichhaltigen Texten des Pförtners Nietzsche, doch die Auswahl fiel mir noch schwerer, denn allzu vieles, dessen Berücksichtigung meine Argumentation stärken würde, muß nun unthematisiert bleiben. So überging ich sogar ein Tableau einer frühen Verhöhnung eines nun nietzschemorphen Zeus durch den inzwischen eher naturreligiös gewordenen Naumburger Schüler des Jahres 1858 im Untergang und übergehe nun Tableaus der Rebellion des Prometheus gegen Zeus aus dem März 1859 (im Drama Prometheus samt Chorlied und ), der Rebellion des Philotas gegen Alexander (im Dramenfragment oder der Souveränitätsdemonstration eines Philosophen gegenüber dem groPhilotas) ßen Eroberer (ebenfalls im Dramenfragment Philotas) aus dem Herbst 1859. Außerdem überspringe ¡ch auch alle übrigen Texte der Jahre 1859-60 und setze erst wieder mit Texten von 1861/62 ein. Ebenfalls übergehe ich zentrale Problemtableaus der spätesten Pförtnerjahre Nietzsches, die aufzulisten ich Ihnen erspare. Doch gerade zu Nietzsches Texten der Pförtner Zeit wird während dieses DNK noch einiges exponiert; und manches dürfte sich mit meiner Sichtweise überschneiden oder ihr widersprechen.
Trojas40
Nachspiel4
6. Tableau: Christliche Selbstverfluchung und „Fluch dem Glauben
"
Aus der Zeit zwischen Mai und Winteranfang 1861 Nietzsches Konfirmation war am 10. März stammt ein titelloses privates Traumgedicht (I das wohl zwecks Schutz seines Autors mit ablenkenden literarischen Anspielungen von Dante bis Byron gespickt, in seiner Szenerie und Aussage hingegen zumindest in einer Tiefenschicht so aufschlußreich ist, daß hier wie selten sonst entschlüsselt werden könnte, wer dieser sechzehnjährige Konfirmand inzwischen geworden ist. Wie schon in den drei Phantasien44 des etwa zehnjährigen konnte (nach dem Vorbild u.a. Ernst Ortlepps ) Entscheidendes wohl noch immer nur unter dem Vorwand eines Traumes exponiert werden. Hier nun berichtet ein Ich, daß „der Geist" es einst in des Waldes Nacht getrieben bzw. in eine dionysische Welt versetzt habe: Hinter „einer Mauer, um die sich grüne Epheuranken schlangen", hört es einen so grimmigen Fluch, daß es „zitternd und verstört", ohnmächtig, „kraftlos" und doch „bethört" zu Boden -
-
Vgl. vom Verfasser, NaJ 1., 1993,
275f.)42,
131-257. I 415-20 bzw. I 1,233-38. I 62-73. Joachim Köhler, der sich schon Ende der 80er Jahre in Nietzsches frühen Texten gründlicher umsah und sich zu ihnen kenntnisreicher äußerte als fast jeder seiner Kritiker, hat die Relevanz dieses Textes wohl als erster erkannt. Vgl. Zarathustras Geheimnis, Friedrich Nietzsche und seine verschlüsselte Botschaft, Nördlingen, a.a.O., 47ff. Vgl. P. Deussen, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, Leipzig 1901, 4. Vgl. U. Losch und der Verfasser, „Werde suchen mir ein Schwans, wo das Zipfelchen noch ganz.", in: Nietzscheforschung, Bd. I, 1994, 267-287. Für den frühen Nietzsche und einige seiner Pförtner Schulkameraden entscheidend wohl Ortlepps Vaterunser des neunzehnten Jahrhunderts, vgl. vom Verfasser, NaJ 2„ 1994, 694-741, und nun auch Ernst Ortlepp, Klänge aus dem Saalthal. Gedichte, hg. v. R. Rittig und R. Ziemann, Halle/S. 1999, 17-24.
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stürzt. Erstmals hier begegnen wir in Nietzsches Texten einem Fluch. Selbst gründliche Nietzscheleser erinnern wahrscheinlich nur einen Fluch, nämlich Nietzsches späten „Fluch auf das Christentum" im Namen des Antichrist und im Horizont des Dionysos, dessen Zeichen ja der Efeu ist. Doch „der Geist" ist es der Nietzsches? treibt weiter, immer weiter und läßt ein im Efeu verstecktes Gittertor finden. Schon ertönen „schwere Klagen", die ebenfalls aus dem Dionysoskult bekannt sind. Und nun sieht das Ich etwas so Schreckliches, daß es entsetzt emporspringt: einen wild verzerrten Mönch, der grauenvoll aus seiner Gruft hervorheult, ein Grab und einen Sarg. Kaum hat der Mönch den Eindringling entdeckt, springt auch er auf und hält ihm „ein bleiches Haupt umringt von blutgen Locken" vor die Augen: „Mein Bruder!", rief er, „ist der Tote hier gemordet und durchbohrt von mir, von mir!" Und „heulend küßte er das Grabgesicht und rang die Hände, raufte sich das Haar". Doch kaum gesagt, schon getagt, Mauer samt Traumgesicht schwinden Wie so oft verstummt der frühe Nietzsche, bevor das Eigentliche zur Sprache kommt. Oder hat er es auch hier schon längst gesagt? Er hat es. Nietzsche setzt hier elementares religionsgeschichtliches Wissen um, und so behaupte ¡ch aus Zeitgründen nun einfach: Der Mördermönch steht für spätantikes und späteres Christentum, und das blutige Haupt ist das des orphischen Dionysos Zagreus, der ein älterer, vom Christentum offiziell ermordeter, realiter jedoch großenteils absorbierter Bruder des Christentums ist. Nur ein Christentum, das Dionysos tötet, ertötet, wenn es z.B. konsequent asketisch ist, eben auch das Leben in sich selbst. Und nicht nur das: In seinem Traumgesicht geht Nietzsche sogar noch einen entscheidenden Schritt weiter: Nicht der Eindringling hat diese Einsichten, sondern der für Christentum stehende Mönch selbst hat sie und teilt sie dem Eindringling wie einem Vertrauten mit. Also hatte das Christentum nicht mehr wie in der Spätantike lediglich andere Götter wie Dionysos, sondern (dank Ausscheidung des Dionysischen) bereits in diesem Traumtext sich selbst verflucht? Sieht es nicht fast so aus, als hätte sich in der tiefenphilosophischen Christentumssicht Nietzsches von 1861 bis 1888 kaum mehr Entscheidendes verändert? Formen und ,Gründe' der Selbstzersetzung des Christentums aufzuweisen bleibt spätestens seitdem ein Spezialthema Nietzsches. Primär nun in diesen Zusammenhang gehört eine Reihe von Texten des Siebzehnjährigen aus dem Frühjahr 1862 (II 54-66).4 Den bekanntesten, Fatum und Geschichte (II 54-59),48 der zur bisher belegten Entwicklungslinie Nietzsches schon deshalb paßt, weil er diese in zumal autoanalytischer und programmatischer Hinsicht optimal ergänzt, übergehe ich hier leider ebenso wie die drei Folgetexte, und berücksichtige lediglich einen schwülstigen Schauertext in 165 Versen (Ermanarichs Tod, II 32-37), den Nietzsche auf einem Schulfest am 21. Mai vortrug; und auch von ihm berücksichtige ich nur einen Vers einer Vorstufe, die Ursula Schmidt-Losch im Weimarer Goethe-Schiller-
-
...
Vgl. auch pener und Vgl. dazu 134. Vgl. dazu 84.
V. Ebersbach, „Zwei blutige Erlöser. Dionysos und Christus. Ein Essay", in: G. SchupR. Tezner (Hg.), Glaube und Mythos, Leipzig 1998, 43-62. insbesondere J. Kjaer, Nietzsche, 1990, 107-132, und vom Verfasser, NaJ 2., 1994, 37-
insbesondere J.
Kjaer, Nietzsche, a.a.O., 107-127,
und
vom
Verfasser, NaJ 2., 1994, 37-
111 Christenhaß"? Archiv 1992 ausgegraben hat. Auch in dieser Vorstufe4 ist der Held der von Nietzsche in anderem Zusammenhang ausdrücklich als Christ bezeichnete uralte gotische König Ermanarich, der in ekstatischer Fluchkaskade in goethe'scher Faust-Manier seinen
Von „Als Kind Gott im Glänze gesehn
"
zum
„
Glauben verflucht: „Fluch dem Glauben" d.h. Fluch dem christlichen Glauben. Die Nähe von Traumgedicht und dieser Vorstufe ist evident. Da Nietzsche Ermanarich vor dieser Fluchkaskade davon ausgehen läßt, aus Ressentiment die Ermordung seines eigenen Sohns veranlaßt zu haben, ergeben sich weitere Bezüge zum Mördermönch des Traumgesichts. In Ergänzung dieses Tableaus forme ich aus zwei weiteren Texten Nietzsches ein ,
7. Tableau: Nietzsche ein „Atheist", da ter
nach eingenommen "?
„für das Heidenthum seinem Grundcharak-
Wohl im Juli/August 1879 notierte sich Nietzsche während der Vorarbeiten Wanderer und sein Schatten: „Als Atheist habe ich nie das Tischgebet in Pfforte] gesprochen und bin zum Wochen-Inspektor gemacht worden. Takt!" (42 [68] bzw. IV 1, 466)
von
zu
Der
den Lehrern nie
Schon Mazzino Montinari wies daraufhin, daß zwei Briefe Nietzsches vom 13.3. und 28. 5. 1864 (Brief Nr. 411 und 423, B I 1, 274-276 bzw. 279f.) belegen, daß Nietzsche als Oberprimaner durchaus Wocheninspektor war Nietzsche hätte sich niemals erlauben können, sich dem Wocheninspektorendienst zu verweigern! -, doch Atheist könnte er unabhängig hiervon zumindest als Primaner gewesen sein. So bliebe zu klären, was Nietzsche hier mit „Atheist" meint; und was er meinen kann. In der Spätantike z.B. wurden selbst die Christen schon deshalb als Atheisten bezeichnet, weil sie sich nicht am römischen Kaiserkult beteiligten. Nietzsches frühe Texte legen mir als plausibelste Deutung die Annahme nahe, daß er als Primaner zumindest in demjenigen Sinne längst ,Atheist' war, daß für ihn christliche Religion in keiner Version mehr galt. Eine noch nicht entschiedene Frage hingegen bleibt, ob Nietzsche auch im Blick auf Grundstrukturen griechischer Religiosität schon als Schüler Atheist war, sein konnte (und ob er es bis 1889 im strengen Sinne jemals wurde oder werden konnte). Nietzsche damals also selbst? Um das zu besser: bewegte sich Wo stand identifizieren, helfen wohl nur die aus dem November 1862 stammenden ErmanarichDramenentwürfe (II 144-154) wesentliche Schritte weiter. Die Entwürfe selbst sind zu Tiefenstruktur wohl auch zu komplex, da mit denen anderer etwa heterogen und in ihrer 52 51 auch hier entwickeln zu um meine Argumentation Texte verbunden, zeitgleicher können. So gebe ich nochmals nur ein Resümee. Wieder nämlich läßt Nietzsche vier -
-
49 50 51 52
53
-
Vgl. vom Verfasser, NaJ 2., 1994, 256-260. Vgl. ebenda, 260. M. Montinari, Nietzsche lesen, a.a.O., 35. Versuch einer Charakterschilderung der Kriemhild nach den Nibelungen, II 129-134; Erstes Buch der Lieder von Horaz, II 135-138, und Primi Ajacis stasimi interpretatione et versio cum brevi praefatione, II 155-164, übers, von R. G. Müller, Antikes Denken und seine Verarbeitung in Texten des Schülers Nietzsche, 1993, 275-281 (bzw. optisch komprimierte Fassung 148-153). Vgl. vom Verfasser, NaJ 2., 239-275, 290-295.
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Personen auf vertrackte Weise miteinander agieren; vier Personen, die zum Teil Persönlichkeitsanteile von Nietzsche selbst oder (von) Personen seines sozialen Feldes vertreten. Für unseren Zusammenhang ist wichtig, daß Nietzsche wie schon in Alfonso und Rinaldo nun jedoch erstmals im nämlichen Stück54 zwei Christen mit zwei erklärten Heiden konfrontiert. Auf der christlichen Seite Ermanarich, der in manchem nach Nietzsches Vater Ludwig gezeichnet ist, und dessen Sohn Randwe, der dem noch grenzenlos vertrauenden, gläubigen Kind Nietzsche zu entsprechen scheint: Dieses Kind muß es ja einmal gegeben haben, denn sonst wäre das Entsetzen Nietzsches über die Entdeckung des Vakuums hinter dem Vorhang des Glaubens nicht halb so groß gewesen; auf der heidnischen Seite hingegen Swanhild, blutjunge Ehefrau des uralten Königs, die von dessen Sohn Randwe geliebt wird und diesen wiederliebt, sowie der Berater des Königs, Bekka, den Swanhild nur noch deshalb zu ertragen vermag, weil er der beste Freund Randwes ist. Swanhild ist Instinktheidin sah Nietzsche 1862 oder 1846/47 im Kontrast zu den drei älteren Röckener Nietzschedamen seine Mutter so? -, doch Bekka ist ein Portrait des nun achtzehnjährigen Nietzsche. Diesen Bekka nun charakterisiert Nietzsche in diesen völlig privaten Entwürfen als „Für das Heidenthum seinem Grundcharakter nach eingenommen" (II 149). Eine in ihrer Eindeutigkeit wohl kaum mehr überbietbare Aussage? Und klarster Kommentar nicht nur zu Fatum und Geschichte? Doch Sie lauern wohl längst auf ein das zweite Zitat meines Vortragstitels präsentierendes Tableau, welches sich zu den bisherigen fügt, auf mein -
8. Tableau:
„Christenhaß" sowie „Feindund Vorvorderer Gottes"?
Zweimal sogar fällt das ominöse Stichwort und beide Male charakterisiert Nietzsche mit ihm die Haltung der nämlichen Person in Aufzeichnungen ebenfalls aus dem Spätherbst 1862. Nochmals sind die Ermanarich-Entwürfe unsere Textquelle, und haben Sie es geahnt? die Christen hassende Person ist niemand anders als Bekka. So gehören Bekkas Eingenommensein für das Heidentum sogar seinem Grundcharakter nach und Bekkas Christenhaß für Nietzsche zusammen, sind nur zwei Aspekte des nämlichen Problemzusammenhangs; zwei Aspekte freilich, die einerseits leider noch nicht eindeutig genug erkennen lassen, was hier Grund und was hier Folge ist,55 und die andererseits nicht auf derselben Ebene angesetzt sind, da prinzipiellem Eingenommensein für das Heidentum nicht Christenhaß, sondern Christentumshaß entsprechen müßte. Doch dieses Stichwort hat wohl selbst der achtzehnjährige nicht aufs Papier zu setzen gewagt. -
-
Die 2-Christen-versus-2-Heiden-Konstellation kennen wir schon aus Alfonso (1857) und Rinaldo (1858), dort freilich noch verteilt auf zwei Gedichte der nämlichen Sammlung. Ist der Christenhaß Folge heidnischen Grundcharakters oder hat sich wie schon 1856 der Wanderer auch Bekka/Nietzsche vielleicht aus Christen(tums)haß? erst später „zu den Griechen hingewendet" (I 346 bzw. I 1, 125f). Vgl. dazu R. G. Müller: „,Wandrer, wenn du im Griechenland wanderst ...' Reflexionen zur Bedeutsamkeit von ,Antike' für den jungen Friedrich Nietzsche", in: Nietzscheforschung, Bd. I, Berlin, 1994, 169-179, und „Erkenntnis und Erlösung. Über Nietzsches Umgang mit vorchristlich-griechischem Gedankengut vor dem Hintergrund seiner christlichen Herkunft" (in diesem Band der Nietzscheforschung) sowie nun V. Ebersbach, „Nietzsche ein Grieche unter Römern. Vorchristliche Fundamente in Nietzsches Kritik am Christentum" (ebenfalls in diesem Band der Nietzscheforschung). -
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Von „Als Kind Gott im Glänze gesehn
"
zum
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Christenhaß "t
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Spricht Nietzsche vorsichtshalber (noch) von Bekka, wenn er wohl erstmals das Stichwort „Christenhaß" zu Papier bringt, so bezeichnet er sich ein knappes Vierteljahrhundert später, im Frühling 1886, schon im ersten Absatz seiner Vorrede zur Neuausgabe des ersten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches ganz ungeschützt als „Feind und Vorvorderer Gottes" sowie als gelegentlichen „Anwalt des Teufels". Wieder kann nur der christliche Gott gemeint sein, denn Teufel gibt es im griechischen Mythos nicht. So verweist auch diese Passage auf Nietzsches Kindheit, ergänzt die Aussagen der im 5. Tableau berücksichtigten ersten philosophischen Schrift und stärkt eine christentumskritische Deutung des frühen Nietzsche aus wohl unerwarteter Perspektive. Und so bliebe in meiner Skizze des Verhältnisses von Antike und Christentum beim früh(st)en Nietzsche idealiter noch die Genese und Motivation von dessen Christen(tums)haß sowie der vielleicht nicht nur komplementären Liebe zu ,den Griechen' zu berücksichtigen. Zumindest Letzteres ist hier56 nicht mehr zu leisten. Bleiben wir also noch beim Christen(tums)haß. Wann und wie also sind Bekkas bzw. Nietzsches Christen(tums)haß bzw. Eingenommensein für das „Heidenthum" (sprich: Griechentum) schon von seinem Grundcharakter her entstanden? Wann und wie wurde Nietzsche sich der Genese seiner Weltanschauung bewußt? Helfen uns bei der Beantwortung selbst dieser Fragen noch authentische Texte Nietzsches weiter? Sie tun es. So koloriere ich unser vorletztes, unser 9. Tableau: ich selbst glaube nicht, Verdachte in die Welt gesehen hat „
"
daß jemals
Jemand mit einem
gleich tiefen
Eine an Direktheit schwer überbietbare, erschreckende autobiographische Notiz Nietzsches stammt aus dem Kapitel „Warum ich so klug bin" seiner späten Autobiographie Ecce homo: „In einer absurd frühen Zeit, mit sieben Jahren, wusste ich bereits, daß mich nie ein menschliches Wort erreichen würde." (EH, „Warum ich so klug bin", 10) Fast en passant formuliert Nietzsche hier eine Ungeheuerlichkeit, die auf eine immense und kaum mehr überbietbare offenbar intellektuell-moralische und nicht physische Beeinträchtigung dieses Kindes zurückverweisen könnte. Gestützt wird diese Vermutung u.a. durch eine Nebenbemerkung in Stück 295 von Jenseits von Gut und Böse:
„Wie
es nämlich einem Jeden Fremde war."
Weit mehr als nur einen Vorrede der Neuausgabe ling 1886:
ergeht,
der
von
Kindesbeinen
autobiographischen von
Hinweis
an
immer unterwegs und in der
präsentiert
der erste Absatz der aus dem Früh-
Menschliches, Allzumenschliches, Band I,
„[...]
ich selbst glaube nicht, daß jemals Jemand mit einem gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehen hat, und nicht nur als gelegentlicher Anwalt des Teufels, sondern ebenso sehr, theologisch zu reden, als Feind und Vorvorderer Gottes; und wer etwas von den Folgen erräth, die in Die freilich unschwer zu erschließende Auffassung des Verfassers ist detailliert entwickelt und belegt insbesondere in den Bänden von Na, 1991-1994.
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114
jedem tiefen Verdachte liegen, etwas von den Frösten und Aengsten der Vereinsamung, zu denen jede unbedingte Verschiedenheit des Blicks den mit ihr Behafteten verurtheilt, wird auch verstehen [...]" (MA, „Vorrede", 1).
Berücksichtigung der bisherigen Problemtableaus klärt sich diese Schilderung nun wohl auf: Nietzsche spricht hier über seine Kindheit und Jugend. Vielleicht schon seit Röcken und gewiß in den späten Naumburger Kinderjahren hat Nietzsche mit einem immens „tiefen Verdachte in die Welt gesehen": Verwandte und Bekannte bemerkten nur Außenaspekte, wunderten sich z.B. über den Ernst und die Traurigkeit dieses Kindes. Ein weiterer Aspekt: Wer anders als ein Kind kann glauben, daß niemals „Jemand mit einem gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehen" habe? Ein dritter Aspekt: Auch die erwähnten Fröste und Ängste der Vereinsamung fügen sich schon deshalb zu den erwähnten Belegen bzw. Erlebnissen des Kindes besser als zu Erfahrungen des späteren Nietzsche, weil Nietzsche schon in seinen frühesten Autobiographien (ab 1858) die immense Bedeutung seines Röckener Heimatverlustes57 ein Wort, das nicht nur geographisch verstanden werden sollte für seine Persönlichkeitsentwicklung sowie sein gesamtes Leben stereotyp betont. Viertens: Ist es in der christlichen Umwelt des Kindes und Jugendlichen nicht genau jene „unbedingte Verschiedenheit des Blicks", die den frühen Nietzsche in seinen Texten auszeichnet? Und ihn isoliert? Und eine angemessene Interpretation wohl noch im nächsten Jahrtausend erschwert? Dennoch daß der späte Nietzsche seine Kindheit als extraordinär sieht, ist deutlich. Doch gibt es hierfür in Nietzsches frühen Texten Anhaltspunkte, die über einige Bemerkungen in den Autobiographien hinausgehen? Wie sollen wir sie identifizieren können, wenn z.B. vom sieben- und achtjährigen Kind kaum eine private Zeile oder erhalten blieb? So bleiben uns nur die Texte aus Nietzsches zweitem Jahrzehnt und Aufzeichnungen des späteren Nietzsche, der uns weiterhilft, wenn er z.B. vom Verlust seiner Kindheit In
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Zeichnung58
spricht.
Wiederum im Frühjahr/Sommer 1878 notiert sich Nietzsche: „Sieben Jahre Verlust der Kindheit empfunden." (28 [8] bzw. IV 3, 363) Das paßt zwar zur Zeitangabe aus Ecce homo, doch den Grund erfahren wir auch hier nicht. Leider hilft uns bei der Motivsuche auch eine fünfte Notiz (nun aus dem Sommer 1875) nicht weiter: „In Pobles, als ich über die verlorene Kindheit weinte." (11 [11] bzw. IV 1, 270) In Pobles, dem Geburtsort von Nietzsches Mutter sowie noch vor Naumburg bis 1859 zweiten Heimat auch ihrer Kinder, residierte der geliebte Großvater Oehler, für -
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Der Verfasser geht insbesondere in Na, 1991-94, in extenso diesen Spuren nach, weil schon der frühe Nietzsche auf seine Verletzungen immer wieder zurückkommt. Vgl. auch H. G. Hödl, „Verlust der Heimat. .Röcken' in Nietzsches Autobiographien 1858-63", in: Mesotes, II, 4/1992, 478487. Zu Nietzsches frühen Zeichnungen und ihrem Kontext vgl. nun K. Jauslin, „Hexensprache der Vernunft. Bilderfluchten und Flucht der Bilder in den Kindertexten Friedrich Nietzsches", in: Nietzscheforschung, Bd. V/VI, sowie ders., „Was der Löwe nicht vermochte: etwas für Kinder und Kindsköpfe. Über Fritz Nietzsches Naumburger Festungsbuch" (in diesem Band der Nietzschefor-
schung).
Von „Als Kind Gott im Glänze gesehn
"
zum
„
Christenhaß "?
115
den frühen Nietzsche neben Ernst Ortlepp der wichtigste Gesprächspartner, der jedoch im Dezember 1859 starb. Nietzsche, der 1859 in der Nacht vor des Großvaters Geburtstag dessen Tod geträumt haben soll und selbst erst wenige Tage zuvor einem selbsttötungsverdächtigen Ertrinken in der Saale entgangen war, müßte sich dabei an den Verlust der höchstens 5 km von Pobles entfernten ersten Heimat erinnert haben. Nach dem Tode des Großvaters mußte ja auch das Pobleser Pfarrhaus geräumt werden. Doch das liegt bereits jenseits der Kindheit Nietzsches, deren frühe Einsamkeit Nietzsche ja so nachdrücklich betont. Fasse ich zusammen, so läßt sich die Annahme wohl kaum mehr umgehen, daß den angesprochenen Problemen und Eigentümlichkeiten sowie thematisch extraordinären Dichtungen selbst des Kindes ein ungeheuer wirksames, tief verinnerlichtes Motiv zurunde gelegen haben muß, über das sich Nietzsche allenfalls indirekt aussprach (oder wie ich vermute, auszusprechen vermochte): 10. und letztes Tableau: Dem gilt es den Tod, der das gethan!
"
„
Wohl zeitgleich mit seinen Ermanarich-Entwürfen schrieb Nietzsche im Oktober 1862 in freier Wahl den (auch seinen „Germania"-Freunden präsentierten) Deutschaufsatz Versuch einer Charakterschilderung der Kriemhild nach den Nibelungen (II 129-134). In subtiler Charaktermalerei versucht er bei Kriemhild „diese fürchterlichen Uebergänge von Liebe zu Haß zu begreifen", sucht die Kriemhild, „um die Siegfried wirbt", mit der zu vergleichen,
„[...]
die ihren Bruder und Sohn mordet, um ihrem entsetzlichem Haß volles Genüge zuthun. Hier die träumerische, schüchtern[e], ahnungsvolle Jungfrau, die vor der Mannesliebe zurückbebt, bis sie Siegfried gesehn, dann aber auch in dieser Liebe völlig aufgeht und in ihrer stillen Seligkeit aller weiteren Wünsche und Hoffnungen bar ist; dort ihren sechsundzwanzigjährigen Rachedu[r]st in vollen Zügen ersättigend, diesem einen Gefühl so nachgebend, daß sie den hei-
ligsten Satzungen" (130) Hohn
spricht.
Laut Nietzsche ist
es vor
allem
„der lügnerische Schein [...], der die Fäden des Verderbens um ein ganzes Geschlecht schlingt, und selbst in einer in Liebe versunkenen Natur wie die Kriemhildens ist, unermeßliches Haßund
Rachegefühl anschüren kann". (129f.)
Nachdem Kriemhild „die bleiche" Gestalt des von Hagen auch dank ihrer ahnungslosen Hilfe ermordeten „Vielgeliebten" tot vor sich liegen sah, stand für sie fest: „Dem gilt es den Tod, der das gethan!" (131) Auch in diesem Text geht Nietzsche viele Spuren ab
Vgl. R. Bohley, „Der alte Ortlepp ist übrigens todt", 1983, 322-331; vom Verfasser, NaJ 2., 1994, 694-741; und R. Ziemann, (a) „Vom Lied kann nur der Tod mich scheiden. Zu ,Ortlepp aus Schkölen'", in: Sachsen-Anhalt, dournal für Natur- und Heimatfreunde, VIII, 1998/4, 14-19, (b) ein „,...
Logis
im Saalthale"
über den Dichter Ernst Ortlepp", in: Nietzscheforschung, Bd. V/VI, 2000, und (c) „Dichter in tiefer Nacht. Zu Ernst Ortlepps Gedichten", in: E. Ortlepp, Klänge aus dem Saalthal. Gedichte, a.a.O., 107-129. E. Förster-Nietzsche, Das Leben Friedrich Nietzsche's, Erster Band, 1895, 156, bzw. Der junge
Mutmaßungen
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Nietzsche, 1912,97.
Vgl. vom Verfasser, NaJ 1., 1993, 434ff.
Hermann Josef Schmidt
116 und
berücksichtigt,
daß
es
noch immer
Hagen,
der Mörder ihres
Siegfried
ganz allein
ist, „dessen Tod sie auf alle Weise" (133) ebenso anstrebt wie etwa 7 Jahre zuvor Mene-
laos den Tod des Paris in Der Geprüfte. Die Unterschiede freilich sind eklatant: Menelaos als Heros mußte sich an Paris rächen, mußte ihn jagen und töten, wenn er nicht ehrlos werden wollte; doch Kriemhild mußte nicht nur nicht, sondern sie durfte auch nicht Hagen, geschweige denn ihre Brüder sowie ihr Kind töten oder töten lassen. Dennoch tat bzw. verursachte sie es. So sprengt sie jeden Rahmen, ist eine hypertrophierte Medea und das Gegenbild von Antigone gleichermaßen. Wendet sich Nietzsche nun voller Abscheu und Ekel von ihr ab? Nein, denn für ihn ist sie nun eine „volle, tiefe" Natur: Nicht mehr vor ihr graut ihm, sondern „vor der Herzlosigkeit derjenigen, die den ersten Stein gegen solche Unglückliche aufheben können". (134) Im Gegensatz noch zu 185862 hat Nietzsche Kriemhild inzwischen offenbar nicht nur ,erkannt', verstanden, sondern sogar bewundert; er hat ihr zugestimmt und ihr Ende
akzeptiert. Frage ich abschließend nach einem Grundmotiv, das die aus Nietzsches Texten konstruierten Problemtableaus zu integrieren vermag, so kenne ich noch.immer63 keine stärkere Hypothese als die Annahme tiefster Traumatisierung als Folge des Verlusts der Heimat Röcken infolge des Todes seines Vaters am 30. Juli 1849 nach fast einjähriger schmerzvollster Krankheit sowie einer bereits frühen Projektion dieses als universal erlebten Heimatverlusts ins Metaphysische. Aufzeichnungen von Nietzsches Mutter belegen, wie das vierjährige Kind irritierend wachen und erstaunlich reifen Bewußtseins die Röckener Familientragödie miterlebte: sie bethen auch täglich um die Gesundheit des guten Pappa und sorgen sich mit uns um ihn Fritz ist ganz verständig und hält immer für sich seine Betrachtungen warum der liebe Gott den Pappa nur noch nicht gesund mache und tröstete gestern warte nur meine Mamma wenn es nur erst anfangt zu blitzen dann wird uns schon der liebe Gott eher hören."64
„[...]
Im
Frühjahr
1849 ist der Blitz also noch Zeichen göttlicher Hilfe. Aus Nietzsches Texhingegen kennen wir bereits das genaue Gegenteil, denn spätestens 1854, schon die drei Phantasiegedichte belegen es, hat sich Fritz gerettet und sich wohl bereits 1855 „zu den Griechen hingewendet". Doch was geschah mit und in dem Kind in den fünf Jahren zwischen 1849 und 1854? Leiden und Tod des Vaters müssen insbesondere dann, wenn das Bild des Vaters Ludwig für das Kind mit der Vorstellung des christlichen Gottes verschmolzen gewesen sein sollte, das Vertrauen dieses Kindes auf Gott, den Erbarmer, erheblich beeinträchtigt (wenn nicht völlig zerstört) haben. War Gott nicht in oder mit Vater Ludwig gestorben? Wie und als was konnte ER weiterhin existieren, nachdem Vater Ludwig beerdigt und ten seit 1856
Vgl. I
430 bzw. I 1, 255: „Medea ist zu vergleichen mit der Chrimhilde des Nibelungenliedes nur herrscht in dieser eine deutsche Rohheit, welche sie endlich bis zum Tier erniedrigt, während jene immer den Ideenkreise der Griechen sich anschließt." Vgl. vom Verfasser, „Nietzsche ex/in nuce, Früheste Schülerphilosophie in ihrer grundlegenden Bedeutung für die Nietzscheinterpretation", a.a.O., sowie in extenso Nak, und R. Kreis, Der gekreuzigte Dionysos, 1986. Vom Verfasser, Friedrich Nietzsche aus Röcken, 1995, 56.
Von „Als Kind Gott im Glänze gesehn
"
zum
„
Christenhaß "?
117
Gott nicht der Erbarmer war? Gibt Nietzsches erste philosophische Schrift auch hierauf eine Antwort? Die Enttäuschung über Gott sowie über die diesen Gott weiterhin verehrenden Verwandten, vielleicht auch die Wut des Kindes auf diesen Gott, dem es wie Kriemhild Hagen? vertraut und zu dem es so lange vergeblich gebetet hatte, könnten fundamentaler und konsequenzenreicher kaum gewesen sein. Und nun gaben die Erwachsenen wohl zu weiterer Enttäuschung und Wut Anlaß, stellten sich nicht auf eine nachweisbare Art den Problemen, die für das Kind dadurch entstanden waren, daß im Widerspruch zu allen Gebeten und aller vielbeschworenen Hoffnung auf Gott der Vater dennoch und so erbärmlich gestorben war. Der Zeitpunkt größter Einsamkeit des Kindes müßte, falls Nietzsche sich nicht völlig falsch erinnert, das achte Lebensjahr bzw. 1852 gewesen sein. Doch aus frühesten Texten Nietzsches wird man wohl niemals Genaueres belegen können. Wären sie denn erhalten geblieben? Was hingegen nur drei bis vier Jahre nach 1852 eindeutig belegbar ist, sind die griechische' trinitarische Selbsterlösung Nietzsches sowie die erfolgreiche Jagd des Menelaos auf Paris, den Räuber der Ehefrau und der Schätze des großen Königs; sind seit Anfang 1856 Appelle an den eigenen Mut, um mit ihm selbst noch den „größten Feind" (I 345 bzw. I 1, 125) zu besiegen; sind vergebliche Opferszenen auch im griechischen' Gewände wie in Messenische Kriege (I 366-389); sind scheiternde Schiffe seit 1856; ist Rinaldo, ist grauenhaftes göttliches Unrecht in Der Raub der Prosperpina (I 386-388 bzw. I 1, 187-191) oder in Andromeda (l 150t, 355-357 bzw. I 1, 126-131) 1856/57; ist mutigstes Kämpfen selbst in ausweglosester Situation wie in Leónidas und Telakeus (I 57-59 bzw. I 1, 139-142) und wiederum in Andromeda 1856; ist die anfangs primär in Dichtungen und später auch in Prosatexten sich steigernde Rebellion gegen Götter und zumal gegen den christlichen Gott..: bis 1888/89 bekanntlich, bis „Dionysos gegen den Gekreuzigten" (Schlußworte des EH), dem nun in Nietzsches eigenem Namen erhobenen „Fluch auf das Christentum" (letzter Untertitel von AC) und anderem mehr. Schließen wir den Kreis und brechen wir ab: Kriemhild, deformiert durch ihren sechsundzwanzigjährigen Rachedurst, nur ihrem Racheziel lebend, ¡st selbstverständlich nicht identisch mit Friedrich Wilhelm Nietzsche, der schon früh seine Pluralität kannte, unter ihr litt und sie erst spät als spezifischen introspektiven Reichtum (an)erkannte. Dennoch ergeben sich erstaunliche Parallelen, wenn wir die subtil gezeichnete Entwicklung Kriemhilds zur Heroine mit der Entwicklung Nietzsches bis 1889 zu vergleichen bereit und in Nietzsches Texten seine lebenslange, vielgestaltige und doch so konsequente Gottesjagd nicht weiterhin zu übersehen gewillt wären. So hat Nietzsche spätestens in seiner Kriemhild-Analyse nicht nur eines seiner zentralen Lebensthemen in nur geringer Verfremdung abgehandelt, sondern wohl auch (s)ein Lebensmodell durchgespielt: „Dem gilt es den Tod, der das gethan!" Dazu passen auch einige Gelübde seit der Kindheit, die im Zusammenhang mit der Verkündigung des Todes Gottes erwähnten „Messer der Erkenntnis" (FW 125) und vieles andere mehr. -
-
Spuren der Traumatisierung Nietzsches noch Dionysos-Dithyramben.
durch das immense Leiden des Vaters
präsentieren
selbst
Hermann Josef Schmidt
118
Würden wir die sechsundzwanzig Jahre des Wartens auf Rache und der deformierenden Verstellung Kriemhilds auf Nietzsche vom Zeitpunkt des Todes seines Vaters an übertragen, so kämen wir in den Sommer 1875. Nietzsche näherte sich damals dem Ende seines 31. Lebensjahrs, hat sich im Oktober 1874 zu seinem Geburtstag bereits die Dritte unzeitgemäße Betrachtung: Schopenhauer als Erzieher geschenkt, hätte seine Verstellung also nicht annähernd so lange wie Kriemhild aufrecht erhalten (müssen); und er hätte auch mit seiner Rache nicht annähernd so lange gewartet. Bliebe man in Berücksichtigung des nietzscheinterpretationsspeziflschen christophilen Gegenwindes überaus vorsichtig, so wäre wohl dahingehend zu argumentieren, daß Nietzsche spätealso nach der Hälfte der von Kriemhild benötigten Zeit sich sowohl in stens 1862 Fatum und Geschichte als auch in Texten des Herbstes und sich zumindest für sich selbst klar genug geäußert hat. In Berücksichtigung aller mir bekannten Texte Nietzsches halte ich für die plausibelste Hypothese, daß die emotionale Auseinandersetzung Nietzsches mit der Religion seiner Umwelt nicht erst im letzten Jahr seiner Naumburger Kindheit begann, sondern daß sie damals bereits zu einem ersten befreienden Abschluß kam. So ging es für Nietzsche, der sich in seinen intellektuell-emotionalen Kämpfen mit der heimischen Religion noch zumindest bis in die Studentenzeit insbesondere mit Helden der attischen Tragödie wie Ödipus, Orestes oder Prometheus identifizierte, in dem knappen Vierteljahrhundert, das ihm nach Abschluß seiner Schulzeit für geistige Arbeit noch blieb, wohl primär darum, fern christlicher Perspektiven eigene Wege zu suchen. Welche Wege ist dieser Ödipus, der die Fragepotenz der Sphinx verinnerücht hatte und immer auch das verletzte Kind blieb, auf der Suche nach Kolonos nun nicht abgegangen? Doch derlei Fährten zu folgen gehört eher in den Themenkreis des VII. Dortmunder Nietzsche-Kolloquiums: „,Dionysos gegen den Gekreuzigten'? Friedrich Nietzsches Denkmotiv(e)" vom 24. bis 27. Juli 2001.67 -
freigeschrieben66 -
dazu nun auch E. Marsal: „Der Sansculotte Jesus Christ. Die Christologie des Pfortaschülers Friedrich Nietzsche als eigenständige Rezeption des zeitgenössischen theologischen Spektrums" (in diesem Band der Nietzscheforschung). Die wichtigsten Referate dürften 2002 in Band IX der Nietzscheforschung vorgelegt werden.
Vgl.
Eva Marsal
Der Sansculotte Jesus Christ
Christologie des Pfortaschülers Friedrich Nietzsche als eigenständige Rezeption des zeitgenössischen theologischen Spektrums Die
Einleitung Die Christologie, eine Disziplin der Theologie, beschäftigt sich mit der menschlichen Gestalt Gottes. Christus wird als der menschgewordene Gott interpretiert. Für seine Anhänger ist er damit den Menschen sehr nahe. Er wird als ihr Bruder empfunden, der selbst alle menschlichen Empfindungen kennt, auch die Einsamkeit und das Leid. Dabei bewegt er sich aber immer auf der höchsten sittlichen Stufe und erfüllt trotz aller Ängste seine Aufgabe. Deshalb ist die Christologie der attraktivste Bereich des trinitarischen Gottesglaubens für die Menschen innerhalb dieser Religion, die sich selbst außergewöhnlich finden. Das Pastorenkind Friedrich Nietzsche gehörte zu diesen Menschen. Schon sehr früh hatte er das Bewußtsein, etwas ganz Besonderes zu sein. Bereits ein Gedicht des zehnjährigen Kindes Friedrich Nietzsche charakterisiert ihn als jemand, der sich abseits hält und sich fern von anderen wahrnimmt. Ich zitiere die ersten beiden Zeilen: „Dort auf jener Felsenspitz[e] dort, da ist mein Lieblingssitz [...]" (HKGW, 1, 307). Dieses Empfinden, abgehoben, auf sich gestellt zu sein, und seine eigenen Gedanken zu verfolgen, wird in späteren Zeiten noch oft dokumentiert. Es zeigt sich als bestimmendes Selbstbewußtsein von der ersten Autobiographie an, die der Dreizehnjährige schreibt, damit später im Rückblick keine Verzerrungen der Wahrheit durch Erinnerungslücken zu befürchten sind, bis zur letzten Autobiographie, Ecce homo, oder in seinen letzten Briefen, in denen er sich u.a. auch mit dem Gekreuzigten identifiziert. Und die besondere Gefühlsqualität, die Nietzsche bis zum Schluß für die Person Jesu Christi empfand, wird in der Schrift Zur Genealogie der Moral deutlich. Obwohl Nietzsche als Begründer der Gott-ist-tot-Theologie gilt und das Christentum voller Leidenschaft bekämpfte, auch den Christus der apostolischen und paulinischen Glaubenslehre radikal ablehnt, hatte er doch eine ganz individuelle Einstellung zu Jesus von Nazareth, die bei aller Kritik eine gewisse Achtung für diesen Menschen erkennen läßt. Da wir uns hier unter der Prämisse treffen, daß es im Denken Nietzsches keine Zäsur gab, die einen qualitativen Sprung verursachte, sondern eine sich stetig fortentwickeln-
Eva Marsal
120
Denkbewegung ist, die in der Kindheit einsetzte, will ich bei unserem Thema, der Christologie, auch einen Blick in die Zukunft werfen, nämlich auf die eben erwähnte Schrift, um dort seine Einstellung zu Jesus von Nazareth zu betrachten. In dieser kleinen Streitschrift Zur Genealogie der Moral, die erst 1887 verfaßt wurde, entwickelte er in der ersten Abhandlung, Kapitel 8 eine recht eigenwillige Interpretation unserer Kulturgeschichte. Er skizziert unsere Kulturgeschichte als Sklavenaufstand der Moral, der als sublimer Racheakt von dem verfolgten und verachteten Volk der Juden ausging. Die Juden beabsichtigten, die moralischen Werte, die bis dahin aristokratisch ausgerichtet waren und in der Gleichung reich/ mächtig/ vornehm gut göttergeliebt aufgingen, umzudrehen, und die vom Schicksal Bevorzugten als die Bösen, Lüsternen, Verfluchten und Verdammten zu brandmarken, während jetzt die Elenden, Benachteiligten, Kranken, die Guten Gottgeliebten ewig Seligen sind. Diese Bewertung hat sich nach Nietzsches Geschichtsanalyse auch durchgesetzt. Aber wie erreichten die unbeliebten de
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Juden dieses Ziel? Sie boten der Welt einen Köder, dessen Attraktivität sie durch ein Täuschungsmanöver erhöhten, nämlich durch die Kreuzigung, die diesen Köder als eigenen Todfeind kennzeichnete, und damit von der Welt leichter angenommen werden konnte. Nietzsche schreibt:
„[...]
aus dem Stamme jenes Baums der Rache und des Hasses, des jüdischen Hasses des tiefsten und sublimsten, nämlich Ideale schaffenden, Werthe umschaffenden Hasses, dessen Gleichen nie auf Erden dagewesen ist wuchs etwas ebenso Unvergleichliches heraus, eine neue Liebe, die tiefste und sublimste aller Arten Liebe: [...] als seine Krone, als triumphierende, in der reinsten Helle und Sonnenfülle sich breit und breiter entfaltende Krone, [...] gleichsam im Reiche des Lichts [...] -
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Dieser Jesus von Nazareth, als das leibhaftige Evangelium der Liebe, dieser den Armen, den Kranken, den Sündern die Seligkeit und den Sieg bringende ,Erlöser' war er nicht gerade die Verführung in ihrer unheimlichsten und unwiderstehlichen Form, die Verführung und der Umweg zu eben jenen jüdischen Werten und Neuerungen des Ideals? [...] -
man sich [...] überhaupt noch einen gefährlicheren Köder auszudenken? Etwas, das verlockender, berauschender, betäubender, verderbter Kraft jenem Symbol des .heiligen Kreuzes' gleichkäme, jener schauerlichen Paradoxie eines .Gottes am Kreuze', jenem Myste-
Und wüßte an
rium einer unausdenkbaren letzten äußersten Grausamkeit und Heile des Menschen!" (KSA, GM, 5, 269)
Selbstkreuzigung
Gottes
zum
zur Charakterisierung des Jesus von Nazareth wie ,neue Liebe', tiefste Liebe', triumphierend', ,reinste Helle und Sonnenfülle', .Reiche des Lichts' zeigt deutlich, wie sehr Nietzsche von der Gestalt Jesu fasziniert ist trotz aller Zweifel und Ambivalenzen, die auch sein Jugendleben kennzeichnen, wie vor allem Hermann Joseph
Die Wortwahl
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Schmidt in seinem Werk zum verborgenen Nietzsche herausarbeitet. Um Mißverständnissen vorzubeugen, möchte ich an dieser Stelle noch kurz erwähnen, daß der späte Nietzsche persönlich den Juden durchaus nicht feindlich gesinnt war, er bewunderte im Gegenteil ihre raffinierte Klugheit, ihre außerordentliche Intelligenz und verachtete die Dummheit der Antisemiten, denen er Neid und Eifersucht vorwarf.
121
Der Sansculotte Jesus Christ
Nietzsche ging davon aus, daß Jesus von Nazareth als Person und in seinem Eintreten für die frohe Botschaft mißverstanden und sofort nach seinem Tode umgedeutet wurde1. Der erwachsene Nietzsche unterscheidet also zwischen der historischen Person Jesu und dem Christus des Glaubens, und zwar dem von der Urgemeinde bis hin zur zeitgenössischen bürgerlichen Kirchengemeinde. Da wie gesagt viele Gedankengebäude des späteren Nietzsche in seiner Kindheit und Adoleszenz verwurzelt sind, ist es interessant zu fragen, ob die Christologie und das Jesus-Bild des Jugendlichen schon entsprechende Sprünge und Brüche aufweisen, oder ob sie lediglich die Auffassungen seiner Bezugspersonen reproduzieren und damit zumindest nach außen hin angepaßt sind. Wie schwer es allerdings ist, durch die äußeren Text-Darstellungen an die wirklichen inneren Fragen, Zweifel, Suchprozesse des empfindsamen Heranwachsenden heranzukommen, deutet Werner Ross in seiner Biographie Der ängstliche Adler an, Hermann Josef Schmidt weist es sogar hermeneutisch mit seinen Forschungsergebnissen zum Nietzsche absconditus nach. Da beide Autoren aber zur weiteren Suche nach den verborgenen Gedanken und Gefühlen des werdenden Philosophen ermutigen, wollen wir uns einfühlsam mit diesen Fragen beschäftigen, die vom Schüler Friedrich Nietzsche nicht in wissenschaftlicher Distanz beantwortet werden konnten, sondern nur in tiefster Betroffenheit und voller innerer Kämpfe mit Auf- und Abwärtsbewegungen, wie viele Selbst-
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zeugnisse zeigen.
Bevor wir uns den Texten des Jugendlichen selbst zuwenden, wollen wir uns im erTeil zunächst kurz die Einflußquellen vergegenwärtigen, die Nietzsches Religiosität emotional und kognitiv speisten. Hier werden vor allem Arbeiten von Reiner Bohley, Johann Figl, Klaus Goch und Martin Pernet herangezogen, die sorgfältig die unterschiedlichen theologischen Ausrichtungen der einzelnen Bezugspersonen recherchierten, also die der Familie, des Freundeskreises und der Lehrer. Als weitere Einflußquellen können die theologischen Schriften, die Kirchenlieder und die Sonntagspredigten gelten. Die theologische Bandbreite war durch die beiden Eckpfeiler der pietistisch geprägten Erweckungstheologie und des an der Aufklärung orientierten liberalen Rationalismus gekennzeichnet. Das Kind und der jugendliche Nietzsche mußten sich mit diesen beiden konträren Positionen des Glaubens auseinandersetzen, da die am meisten geliebten Personen gegensätzliche Meinungen vertraten. Deshalb referiere ich im zweiten Teil die Christologien dieser beiden Glaubensrichtungen und ihre künstlerische Verarbeitung durch den Pfortaschüler Friedrich Nietzsche. sten
Die
christologischen Ansätze der Bezugspersonen
Der jugendliche Friedrich Nietzsche war mit den wichtigsten christologischen Strömungen seiner Zeit vertraut. Ich benutze bewußt den emotional gefärbten Ausdruck ,vertraut', da es für den Jugendlichen hier nicht um rein epistemische Anschauungen geht, die in ihrer Vielfalt einem geisteswissenschaftlich aufgeschlossenen Menschen interessant erscheinen mögen, sondern um ,Glaubenskämpfe', die in seiner Ursprungsfamilie im Röckener Pfarrhaus wegen der unterschiedlichen Macht- und Abhängig-
Vgl.
W.
Kaufmann, Nietzsche. Philosoph Psychologe Antichrist, Darmstadt 1988. -
-
Eva Marsal
122
keitsverhältnisse allerdings nicht offen ausgetragen werden konnten. Der mögliche Bruch mit dem mütterlichen Elternhaus, dem Pobleser Pfarrhaus, dessen weltoffene, fröhliche Atmosphäre des geselligen Biedermeiers vor allem der Vater ablehnte, wurde durch dessen Tod verhindert. Friedrich Nietzsche hatte als Jugendlicher zu all seinen Familienmitgliedern eine sehr intensive und liebevolle Beziehung. Bei der Darstellung der für Friedrich Nietzsches religiöse Sozialisation relevanten Personen beschränke ich mich auf deren christologische Anschauungen. Diese beziehen sich auf die Frage: Wer war Jesus Christus und welche Rolle spielt er für das Glück der Menschen? Ist er als Gottes Sohn ihr Erlöser von der Sünde, die zur ewigen Verdammnis führt, oder war er ein besonders sittlich hochstehender Mensch, der ihnen den Weg zum wahren Menschsein wies? Ich beginne mit den Antworten der Familie: Der Vater Carl Ludwig der durch seinen frühen Tod idealisiert wurde (er starb kurz bevor sein Sohn das sechste Lebensjahr erreichte), entstammt einer Theologenfamilie, die sich der kritisch-rationalistisch aufklärerischen Theologie verpflichtet fühlt. Carl Ludwig ist ein tiefreligiöser Mensch, der in seiner Jugend keinen Anschluß innerhalb seiner Altersgruppe findet. Diese Isoliertheit fängt er durch sein Gottesvertrauen und frommes Lebensgefühl auf. Mit Beginn des Theologiestudiums in Halle löst er sich aus dem häuslichen Gedankenkreis und versucht, eine eigenständige theologische Position zu entwickeln. Nach seinen eigenen Angaben, die einem 1841 verfaßten Lebensbericht zu entnehmen sind, schließt er sich zunächst den Rationalisten an und wandte sich dann später unter dem Einfluß der Vermittlungstheologen der Erweckungsfrömmigkeit zu. Dabei tendiert er zu einer Form, die sich nicht pietistisch versteht, sondern vom religiösen Aufbruch der Befreiungskriege, vom philosophischen Idealismus und der Romantik geprägt ist. Das christologische Bekenntnis lautet hier: Jesus Christus ist Gottes Sohn, von ihm ist das ganze christliche Heil abhängig, da er als unschuldiges Lamm Gottes die Sünde der Welt auf sich nimmt. Die Evangelien gelten als Wahrheitsaussagen, alle Berichte, Wunder etc. werden als Realität anerkannt. Die Mutter Franziska Nietzsche', geb. Oehler, war das sechste der elf Kinder des Pfarrers David Ernst Oehler. Ihr Elternhaus war allerdings im Gegensatz zu dem ihres Mannes sehr weltoffen. David Ernst Oehler hinterließ keine Predigten oder sonstige Dokumente, die über seine theologischen Orientierungen eindeutig Auskunft geben könnten. Sein Enkelsohn Adalbert Oehler notiert allerdings in seinen privaten Lebenserinnerungen: „Der Großvater Oehler war kein Pietist, lebte in der Zeit des Rationalismus, war nach damaliger Sitte Mitglied einer Freimaurerloge."4 ,
2
3 4
R. Bohley, „Nietzsches Taufe", in: Nietzsche Studien, IX, Berlin 1980, 390-405; ders., „Nietzsches christliche Erziehung", in: Nietzsche Studien, XVI, Berlin 1987, 171-178. M. Pernet, Das Christentum im Leben des jungen Friedrich Nietzsche, Opladen 1989, 15-26. R. Bohley, „Nietzsches christliche Erziehung", 179-188. A. Oehler, Erinnerungen meines Lebens, unveröffentlichtes Manuskript, begonnen 1838, im Familienbesitz (Transkription: C.-H. Jagenberg), 17. Diese Quellenangabe wurde entnommen aus: K. Goch, Franziska Nietzsche, Frankfurt/M./Leipzig 1994, 79 (Anm. 96).
Vgl.
Der Sansculotte Jesus Christ Klaus Goch kommt nach der Schluß, daß David Ernst Oehler
123
Überprüfung
der
zugänglichen
Dokumente zu dem manchmal zum Wider„eine ganz bemerkenswerte, Persönlichkeit [ist], gebildet, weltoffen, bei aller spruch herausfordernde, prägnante Toleranz konfliktfähig und konfliktbereit, nicht frömmlerisch und nicht devot, mit Kenntnissen und intellektuellen Interessen, die weit hinausgehen über das in seinem Beruf geforderte Maß."5 So drückt sich seine Konfliktbereitschaft z.B. in einer mutigen Predigt gegen den Repräsentanten der weltlichen Obrigkeit, seinen Patronatsherrn, aus.6 Seine erste ordentliche Pfarrstelle, das Pastorat in Pobles, verläßt er zeitlebens nicht mehr, da er hier neben seinen Berufsverpflichtungen seinen vielfältigen Interessen nachgehen kann: „[...] Landwirtschaft und Bienenzucht, daneben Jagdvergnügungen, heitere Geselligkeit, Musik und Dichtung, vor allem aber diese angenehmen Mußestunden in der Studierstube mit ihrer angenehmen Bibliothek, in der die theologische Fachliteratur wohl nicht den allergrößten Platz einnimmt."7 Aufgrund seiner Interessenstruktur entwickelt er keine spezielle Christologie. Seine Tochter Franziska, die bereits im jugendlichen Alter, nämlich mit siebzehn, den dreißigjährigen Junggesellen Carl Ludwig heiratet, orientiert sich seither an den Wertmaßstäben der Familie ihres Mannes. Das junge Ehepaar teilt den Haushalt mit der Mutter und den beiden unverheirateten Schwestern des Ehemannes. Franziska widmet sich, vor allem nach dem frühen Tod ihres Mannes, ganz der standesgemäßen Erziehung ihrer Kinder. Ihr Glaubensleben drückt sich im sonntäglichen Kirchgang und in ihrem ständigen Dialog mit Gott aus, den nichts erschüttern kann. Da sie nämlich nach den Recherchen von Klaus Goch keine sorgende Anteilnahme und Hilfe von ihrer Schwiegermutter und den Schwägerinnen erwarten kann, muß sie aus eigener Kraft einen neuen Rückhalt gewinnen, nachdem „Carl Ludwig, der ,Herr ihres Lebens', von ihr gegangen ist". So konstruiert sie eine väterliche personale Projektion, mit der sie sich selbsttherapeutisch psychisch stabilisieren kann. Sie begreift also den Vater im Himmel nicht als Abstraktum, „sondern als reale Person, mit der sie täglich reden, der sie alle Bedrängnis, all ihren Schmerz anvertrauen kann und den zu Gott gegangenen Carl Ludwig, in seiner irdischen Existenz schon als Idol verehrt und ,vergöttert', stellt sie sich vor als neben dem Allmächtigen sitzend, mit ihm in einer Art von unio mystica verbunden, gleichermaßen (wieder) ,lebendig' und ansprechbar. Der Gott und der Gott gleich gewordene Mann sind für sie die einzig noch wirklich akzeptierten GesprächsIhr Neffe, Adalbert Oehler, beschreibt Franziskas Beziehung zu ihrem verstorbenen Ehemann als eine „untrennbare, fast mystische Gemeinschaft über den Tod hinaus."10 Diese Art der mystischen Frömmigkeit, die auch ganz alltägliche Dinge wie die Bitte, ohne Zahnreißen schlafen zu können," einschließt, ist theologisch durchaus im Bereich des Pietismus anzusiedeln. Zu diesem Schluß kommt auch Martin Pernet: -
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8 9
10 11
K. Goch, Franziska Nietzsche, 82. Ebenda, 69. Ebenda, 76. Ebenda, 148. Ebenda, 149. A. Oehler, Nietzsches Mutter, München 1940, 44f. Vgl. GSA 100-847.
Eva Marsal
124
„Während die Religiosität ihrer Schwiegermutter vornehmlich geistig-rationalistischer
war pietistische Gefühlsfrömmigkeit lehnte sie ganz ab war für Franziska Nietzsche nicht so sehr der Kopf als vielmehr das Herz der Ort ihres Glaubens, ihr Mittler zu Gott."12 Sie gab einer gefühlvollen, herzlichen und stillen Frömmigkeit „den Vorzug vor einem dogmatischen, verstandesmäßig erfaßten Christentum. [...] kümmert sich Franziska Nietzsche zunächst mehr um die Lebendigkeit ihres eigenen Glaubens und des Glaubens ihrer Kinder. Die subjektive Echtheit ihres Glaubens war ihr wichtiger als dessen objektive Wahrheit."13 Die Bibel war ihr Ratgeber für alle Lebensfragen. Da der Adressat ihrer Gebete allerdings nicht Jesus Christus, sondern Gott war, spielte die Christologie für sie keine Rolle. Ihr Bruder, Onkel Edmund, dagegen hatte eine ausgesprochen pietistisch christologische Haltung. Nachdem er dem Neffen zu dessen Konfirmation empfiehlt, dem Teufel mit all seinen Werken zu entsagen, versucht er anderthalb Jahre später, den zweifelnden Fritz durch ein eigenes Bekenntnis im Glauben zu stärken:
Art
-
-
„Er teilt seinem Neffen mit, von dem er wisse, daß er noch eine suchende, ringende und kämpfende Seele sei: ,Jesus Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene und gen Himmel Gefahrene und im Himmel droben noch heute Lebende und Herrschende, das ist jetzt mein einiger Herr, und König meines Herzens, nach dem ich mich allein richte, für den ich leben, arbeiten und sterben will.
Ich habe manche Zeit der Schwankungen durchgemacht, weil ich mich immer noch nach der Menschen, nach meiner eigenen Vernunft und nach der Welt Weisheit richtete [...] Nun aber Jesus der Herr meines Herzens geworden ist, nun ist die Zeit des Schwankens vorüber, nun habe ich einen festen sicheren Halt [...] mein lieber Fritz [...] ich rathe Dir, mach den Herrn Jesus zu Deinem Herrn, nach dem Du dich allein richtest, nicht nach einem Menschen [...] und auch nicht nach einem menschlichen Systeme. Jesus allein, Jesus allein und abermal Jesus allein.'"14
Rosalie^5 die unverheiratete Schwester seines Vaters, die hauptsächlich geistig-religiöse Interessen pflegte, gehörte wahrscheinlich zu der konfessionalistischen Richtung innerhalb der Erweckungsbewegung. Ihre Christologie legte Rosalie in einem Die Tante
selbstformulierten Glaubensbekenntnis nieder: Darin bekennt sie ihren Glauben an Jesus Christus, der „als unser Mittler und Versöhner [...] in die Welt gekommen ist, selig zu machen alle, die an ihn glauben und in seinen Fußstapfen wandeln" und „dessen Tod, so wir im Lichte wandeln, uns rein macht von allen Sünden."16 Zu dieser Tante hatte Friedrich Nietzsche eine sehr enge Beziehung, sie war ihm neben Mutter und Schwester die engste Vertraute. Häufig besuchte er sie während seiner Freistunden von Schulpforta aus und wachte auch an ihrem Sterbebett. Die Tante hatte trotz ihrer tiefen Frömmigkeit einen toleranten Standpunkt und verteidigte ihren Neffen, als dieser sich von der Theologie abwandte. Das Thema Jesus Christus wird sicher ein häufiger Punkt bei ihren vertraulichen Gesprächen gewesen sein.
13 14
15 16
M. Pernet, Das Christentum im Leben des jungen Friedrich Nietzsche, 29. Ebenda, 29. Ebenda, 47. R. Bohley, „Nietzsches christliche Erziehung", 386-390. M. Pernet, Das Christentum im Leben des jungen Friedrich Nietzsche, 34.
Der Sansculotte Jesus Christ
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Während also die Elterngeneration ebenso wie die Väter der bedeutsamen Naumburger Freunde Wilhelm Pinder und Gustav Krug, die eine sehr angesehene Stellung im Kreis der Naumburger Erweckten hatten, die gefühlsbetonte Seite des Glaubens auslebten, waren die Großeltern, vor allem der theologisch forschende Großvater väterlicherseits, stark verstandesgeprägt. Dieser Großvater Friedrich August Ludwig Nietzsche publiziert selbst Werke, die methodisch an der historisch-philologischen Bibelkritik und theologisch an der neologischen Auslegung der rationalistischen Überzeugung orientiert sind. „Diese theologiegeschichtliche Richtung entwirft ein außerordentlich günstiges Bild vom Menschen und seinen natürlichen Fähigkeiten. Der diesem Glaubensbild entstammende Mensch ist zur Tugend geboren und hat in sich selbst die Möglichkeit, sich zu entfalten und so schließlich die Offenbarung Gottes durch seine Vernunft zu ersetzen."17 Die Vollkommenheit seiner eigenen Natur hat zur Folge, „daß er darum keine Umkehr, sondern bestenfalls eine Heiligung der ihm schon mitgegebenen Natur nötig hat, womit die orthodoxe und pietistische Rechtfertigungslehre entfallen."18 Der Mensch ist nach dieser Auffassung nicht von der Erbsünde belastet, hat deshalb auch keine ewige Verdammnis zu erwarten und muß also nicht erlöst werden. Damit entfallt auch die Rolle Jesu als Sühneopfer. Es besteht keine Notwendigkeit der Kreuzigung. Gott muß ja nicht versöhnt werden. Jesus und seine Lehre gleichen jetzt einer vereh-
rungsvoll gebrauchten Vernunftreligion. Da der Großvater davon ausgeht, daß „kein vernünftiger Mann, kein aufgeklärter und denkender Kopf mehr das Christentum für wahr und göttlich halten könne,"19 vertritt er
in seiner Schrift Gamaliel oder über die immerwährende Dauer des Christentums, daß das Christentum, soll es alle Zeiten überdauern, „nichts enthalten (darf), was es nur irgend einem Menschen von gesundem Verstände und gutem moralischen Gefühle verächtlich und hassenswert machen könnte." Seiner Meinung nach findet sich darin auch tatsächlich nichts, „was der gesunden Vernunft geradezu widerspräche [...] nichts, was nicht der menschlichen Natur, der Beschaffenheit unseres Geistes und Herzens, und vor allem unsern Bedürfnissen, Trieben, Fähigkeiten, Lagen und Umständen völlig angemessen wäre."21 Die göttliche Offenbarung äußert sich in der natürlichen Vernunfttätigkeit des Menschen. Jesus als der Heiland ist derjenige, der das Werk der MenschenErleuchtung, der Menschen-Veredelung, der Menschen-Beglückung begonnen hat, seine Gemeinde muß dieses Werk fortsetzen, die Kirche ist eine religiöse Bildungsanstalt für Erwachsene. Die Grundsätze des Christentums drehen sich damit um die Pole: Verherrlichung Gottes und Beförderung des menschlichen Glücks durch Weisheit und Tugend. Friedrich Nietzsche lernte seinen Großvater nicht mehr persönlich kennen, seine zweite Frau, Erdmuthe Dorothea22 übermittelte seine Position ihrem Enkel. 17
18 19
20 21 22
Ebenda, 40. Ebenda, 40. Fr. A. L. Nietzsche, Gamaliel, oder die immerwährende Dauer des Christentums zur Belehrung und Beruhigung bey der gegenwärtigen Gärung in der theologischen und politischen Welt, Leipzig 1796, 10. Ebenda, 107ff. Ebenda, 108. R. Bohley, „Nietzsches christliche Erziehung", 380-386.
Eva Marsal
126
Nun zu weiteren Bezugspersonen: Der für Nietzsche bedeutsamste Religionslehrer war der zweite Geistliche von Schulpforta, der von ihm sehr verehrte Robert Buddensieg. Dieser gehört zur großen Gruppe der erwecklich gestimmten Geistlichen, die besonderen Wert auf die subjektive, erlebnishafte Seite des Christentums legen, wie Sündenerfahrung, Bekehrung und Wiedergeburt in Christus. Theologisch bewegen wir uns im Spannungsfeld von Pietismus und Rationalismus. Damit diese Wirkung für Sie jetzt plastischer wird, habe ich Quellen ausgewählt, die Friedrich Nietzsche kannte und die auf ihn neben den Gesprächen mit den Familienangehörigen und Freunden gewirkt haben.
Die kritisch rationale Richtung Als Beispiel für die kritisch rationale Richtung will ich Ihnen die Position von David Friedrich Strauß vorstellen, die Friedrich Nietzsche wahrscheinlich bereits während seiner Gymnasialzeit kennenlernte.23 In seinem Buch Der alte und der neue Glaube diskutiert Strauß unter der Fragestellung: ,Sind wir noch Christen?', die christologischen Probleme. Der Ausgangspunkt der Christologie liegt in der Erfahrung des dualistischen Gegensatzes von gut und böse, der im Sinne einer Erlösbarkeit für den Menschen aufgehoben werden soll. Da die Schöpfung Gottes als ,gut' beschrieben war, muß das Böse durch eine andere Macht verursacht worden sein und so folgt die Geschichte des sogenannten Sündenfalls, durch den ein Erlöser notwendig wird. Strauß schreibt dazu: „Der Dichter will erklären, wie doch in die
von Gott sicherlich gut geschaffene Welt all das Ungemach worunter der Mensch jetzt leidet, hereingekommen? Gott kann die Schuld nicht haben, der Mensch soll sie wenigstens nicht allein haben: so wird ein Verführer eingeschoben, der das erste Menschenpaar zur Übertretung des göttlichen Verbotes beredet, und dieser Verfuhrer ist die Schlange.
Übel
und
Darunter verstand der Verfasser des Schriftstückes nichts anderes als das bekannte räthselhafte von dem das höhere Alterthum so manches Seltsame zu erzählen wußte; aber das spätere Judenthum und bald auch die Christenheit verstand den Teufel darunter, der, aus der Zenreligion in die jüdische eingewandert, bald in ihr und weit mehr noch in der christlichen, eine so große Rolle spielen sollte. Denken wir nur an Luther, der in diesem Teufelsglauben lebte und webte. Auf Schritt und Tritt machte er sich mit dem bösen Feinde zu schaffen. Nicht bloß böse Gedanken und Anfechtun-
Tier,
J
In seiner Vorrede zur dritten Auflage des Buches Das Leben Jesu schreibt Karl Hase: „Die Veränderungen dieser Auflage sind meist durch das Leben Jesu von Strauß [...] nötig geworden [...] Auch ¡st durch seine schonungslose Kritik die wissenschaftliche Betrachtung des Lebens Jesu wahrhaft gefordert und unser Auge für das, worauf es bei der rein geschichtlichen Forschung ankommt, geschärft worden." K. Hase, Das Leben Jesu, Leipzig, 1840, XIII. Nietzsche empfiehlt seiner Schwester im November 1861 in einem Brief, dieses Buch sowie K. Hases Kirchengeschichte zu lesen.
Dabei stellt er auch den Verfasser vor: „Beide sind von Hase, dem berühmten in Jena lebenden Professor [...] der geistvollste Verfechter des idealen Rationalismus" (KGB, 1/1, 187-188). Es liegt bei der differenzierten Interessenstruktur des Schülers F. Nietzsche nahe, daß er sich auch mit dem Autor beschäftigte, der Hase zu einer Überarbeitung seines Ansatzes angeregt hat.
Der Sansculotte Jesus Christ
127
gen auch äußere Unfälle, die den Menschen betreffen, Krankheit und jähen Tod, Feuersbrunst und Hagelschlag, leitete er von unmittelbarem Einwirken des Teufels und seiner höllischen Spießgesellen her. Ihn selbst konnte man nicht verbrennen, da ja das Feuer sein Element ¡st, aber die armen alten Weiber, die mit Hilfe des Teufels eben jene Dinge, die Luther dem Teufel zuschrieb, Krankheit, Hagelschlag u. dgl. bewirkt haben sollten. Bilden die Hexenprozesse eines der entsetzlichsten und schmachvollsten Blätter der christlichen Geschichte, so ist der Teufelsglaube eine der häßlichsten Seiten des alten Christenglaubens, und es ist geradezu als Culturmesser zu betrachten, wie weit diese gefährliche Fratze die Vorstellungen der Menschen noch beherrscht oder daraus vertrieben ist. Andrerseits jedoch ist die Herausnahme eines so wesentlichen Steins für das ganze Gebäude des Christenglaubens gefährlich. Der jugendliche Goethe ist es gewesen, der gegen Bahrdt bemerkte, wenn je ein Begriff biblisch gewesen, so sei es dieser. 1st Christus, wie Johannes schreibt, erschienen, die Werke des Teufels zu zerstören, so konnte er entbehrt werden, wenn es keinen Teufel
gab."24 Der dreizehnjährige Nietzsche dagegen teilt den
Dualismus zwischen ,gut' und ,böse' nicht zwischen zwei Mächten auf. So erinnert sich der Dreiundvierzigjährige in der Vorrede zur Genealogie der Moral: „In der That gieng mir bereits als dreizehnjährigem Knaben das Problem vom Ursprung des Bösen nach: ihm widmete ich, in einem Alter, wo man ,halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen hat' mein erstes literarisches Kinderspiel, meine erste philosophische Schreibübung und was meine damalige ,Lösung' des Problems anbetrifft, nun, so gab ich, wie es billig ist, Gott die Ehre, und machte ihn zum Vater des Bösen" (KSA, GM, 5, 249). Damit verschärft sich natürlich das Problem der Erlösung für den jungen Nietzsche. Christus muß die Menschen nicht der Hand des Teufels entreißen, sondern sie vor dem Vater des Bösen, also Gott, retten! Infiziert ist der Mensch mit dem Bösen durch die Erbsünde, die damit auch die Notwendigkeit zur Erlösung nach sich zieht. Ich zitiere: „Für eine Verderbnis also, die der Einzelne sich nicht selbst zugezogen, von der es auch gar nicht bei ihm steht, sich aus eigener Kraft loszumachen, soll er, oder für den einmaligen Ungehorsam eines kindisch unerfahrenen Erstlingspaares soll dessen ganze Nachkommenschaft [...] zu ewigen Höllenqualen verdammt sein! Man muß sich wundern, wie eine solche Vorstellung, die gleicherweise Vernunft wie Rechtsgefühl empört, die Gott aus einem anbetungs- und liebenswerthen zum entsetzlichen und abscheulichen Wesen macht, zu irgend einer Zeit, so barbarisch wir uns diese auch denken mögen, annehmbar gefunden, wie die Spitzfindigkeiten, durch die man ihre Härte zu mildern suchte, überhaupt nur angehört werden mochten." „Aus dem alten jüdischen Opferwesen ist die christliche Versöhnungslehre hervorgewachsen. Dem uralten Brauch des Sühnopfers liegt gewiß ein frommes Gefühl zu Grunde, aber es steckt in einer groben Hülle, und die Umwandlung, die sie im Christenthum erfahren, können wir mit nichten als eine Läuterung betrachten. Im Gegenteil. Jedermann weiß, daß die Opfer, womit rohe Völker den Zorn ihrer Götter zu besänftigen meinten, ursprünglich Menschenopfer gewesen sind. Ein Fortschritt, eine Läuterung war es, wie man anfing, an der Stelle von Menschen Thiere als Opfer darzubringen. -
D. Fr.
Strauß, Der alte und der neue Glaube, Leipzig 1872, 20-22.
128
Eva Marsal
Nun trat ja aber an die Stelle der Thieropfer von Neuem ein Menschenopfer. Es war freilich zunächst nur eine Vergleichung: es handelte sich nicht um ein förmliches priesterlich dargebrachtes Opfer; sondern die frevelhafte Verurteilung und Hinrichtung des Messias, des Gottessohns, der sich mit gelassenem Willen in sein Schicksal ergab, durch ein irregeleitetes Volk und seine Obern wurde als Sühnopfer betrachtet. Aber wie das so geht: mit der Vergleichung wurde es nur gar zu bald Ernst. Gott selbst hatte es so geordnet: es war die Bedingung, unter der allein er den Menschen vergeben wollte oder konnte, daß Jesus sich für sie hinschlachten ließ."25 Der Fortschrittsgedanke, der im letzten Abschnitt angesprochen wird, betrifft die Ablösung des Menschenopfers durch das Tieropfer. Dieser Prozeß wird im alten Testament verdichtet in der Geschichte von der Opferung Isaaks dargestellt. Nachdem sich Gott davon überzeugt hatte, daß Abraham bereit war, seinen Sohn Isaak zu töten, schickte er statt dessen einen Widder, der nun auf dem Altar geopfert wird. Die Rolle des Widders nimmt im Neuen Testament Jesus Christus als das „Lamm Gottes" ein, das an Stelle des (erb)sündigen Menschen die Strafe auf sich nimmt und durch diese Sühnehandlung die Versöhnung des Menschen mit Gott herbeiführt. Die Kreuzigung wird von Strauß nicht als ein Offenbarungsakt der Liebe interpretiert, in der Gott aus Erbarmen zum sündigen Menschen, sein Allerliebstes gibt, sein eigen Fleisch und Blut und selbst leidet, um dem Menschen Leid zu ersparen, sondern als willkürliche Greueltat, die jeder Vernunft und jedem moralischen Empfinden wider-
spricht.
Strauß fährt fort: „Wenn sonst ein Unschuldiger, sei es durch rohe Gewalt oder einen sein Leben verliert [...] so bleibt die Wirkung niemals aus und ist nur im Verhältnis zu der Stellung und Bedeutung des Hingemordeten nach Art und Tragweite verschieden. Die Hinrichtungen eines Sokrates, eines [...] Karl I. oder Ludwig XVI., [...] haben jede in ihrer Art [...] gewirkt. Aber gemeinsam war doch allen diesen Fällen, daß ihre Wirksamkeit moralisch, durch den Eindruck auf die Gemüther der Menschen vermittelt war. Eine solche moralische Wirkung hatte auch der Tod Jesu: der tiefe erschütternde Eindruck, den er auf die Gemüther der Jünger machte, die Umwandlung ihrer ganzen Ansicht von der Bestimmung des Messias und dem Wesen seines Reiches, die er in ihnen hervorbrachte, liegt geschichtlich vor." 7 Diese moralische Wirkung auf den Einzelnen ist als aufklärerisches Element für die kritisch-rationale Theorie der einzig bedeutsame Punkt. Da die metaphysische Interpretation, die in einem veränderten Verhältnis der Allgemeinheit zu Gott zum Ausdruck kommt, zur Voraussetzung hat, daß Jesus neben seiner menschlichen Natur auch eine göttliche besaß, die aber den Rationalisten nicht glaubhaft schien, interessiert sie die Frage, ob eine Gottheit leiden und sterben kann, überhaupt nicht. Im Gegenteil, der Gedanke des stellvertretend erlittenen Opfers kommt ihnen barbarisch und unmoralisch
ungerechten Urtheilsspruch
vor.
Ebenda, 27. Genesis 22. Ebenda, 28.
Der Sansculotte Jesus Christ
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Karl Hase arbeitet in der dritten Auflage seines Buches Das Leben Jesu (1840) die Gedanken von Strauß ein. Mit Karl Hase hat sich der Pforta-Schüler Nietzsche beschäf-
Der Pietismus Im Unterschied zu den Rationalisten betonen die Pietisten vor allem die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen. Außerdem hielten sie auch an der altkirchlichen Lehre von den zwei Naturen Christi fest: Die Vorstellung, Jesus sei nur ein sittlich hervorragender Mensch gewesen, wurde als völlig unzureichend schärftens zurückgewiesen. Man bekannte sich mit Nachdruck zur Gottmenschheit Christi. Auch die traditionelle, satisfaktorische Versöhnungslehre wurde weitgehend verteidigt. Der berechtigte Zorn Gottes über die sündigen Menschen konnte nur durch das stellvertretende Strafleiden seines Sohnes gestillt werden. Während der Hallische Pietismus des achtzehnten Jahrhunderts noch das Gespräch mit der Aufklärung gesucht hatte, wurde diese im neunzehnten Jahrhundert verdammt und mit ihr die französische Revolution, und zwar spätestens seit der Hinrichtung König Ludwig des XVI. am 21. Januar 1793. Dagegen ergaben sich durch die Hervorhebung der drei Momente: Erfahrung, Gefühl und Subjektivität, wechselseitige Beeinflussungen mit der geisteswissenschaftlichen Sturm- und Drangzeit sowie der Romantik. Viele Dichter und Schriftsteller dieser Richtungen entstammten pietistischen Elternhäusern. Damit Sie die pietistische Wirkung spüren, will ich Ihnen die Einleitung einer Karfreitagspredigt vorlesen, in der die pietistische Diktion des neunzehnten Jahrhunderts deutlich vertreten ist. Sie entstammt einem Predigtband der damaligen Zeit: „Im Herren Geliebte! Wir begehen heute den Carfreitag, den Todestag unseres Herrn Jesu. Das ist der ernsteste Tag im ganzen Kirchenjahr, eine Bußpredigt für jedes Menschenherz wie keine mehr. Dein Heiland in Todesnot am Kreuz, das ist dein Werk! so ruft er uns zu; du solltest eigentlich also büßen, du solltest Todesqual erdulden, daß du den ewigen Gott verachtet hast und deinen eigenen Weg gegangen bist, und nur aus überschwenglichem Erbarmen hat Gott der Herr sein eigen Kind an deiner statt die Sündenstrafe erdulden lassen. Aber darum auch wehe dem, der dieses unendliche Opfer unseres Gottes gering achtet! Für ihn wird diese ganze Liebe sich verwandeln in unsäglichen Grimm, und die Gnade wird sich für ihn verwandeln in zermalmendes Ge-
richt."29
Sie sehen, Kants aufklärerischer Aufruf, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, der im Rationalismus durchaus Fuß gefaßt hatte, wird hier als Ursache für die Notwendigkeit der Kreuzigung gesehen. Der Mensch soll Gott, den er gar nicht verstehen kann, gehorchen und ihm vertrauen. Diese Haltung vermittelt auch Nietzsches Mutter ihrem Sohn. So schreibt sie als junge Witwe3 ihrem Bruder Ernst zu dessen Verlobung: „Ich
Vgl. Anm. 23. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß Nietzsche seiner Schwester Bücher von Karl Hase empfiehlt, die er nicht selbst gelesen hat, oder zumindest deren Inhalt vom Hörensagen kennt. O. Frobenius, Wie wird' ich glücklich? Wie wird' ich selig?, Gotha 1889, 189. A.
Oehler, Nietzsches Mutter, 65.
Eva Marsal
130
daß ich oft nicht Gottes Wege verstanden habe, aber man muß sich in gewaltige Hand fügen, bis wir dermaleinst im Licht erkennen werden, was hier auf Erden dunkel war." Die beiden konträren Christologien führen also zu ganz konträren Menschenbildannahmen. Dem kritischen, alles bewertenden Menschen des Rationalismus, der auch Gottes Tun nach Maßstäben der Vernunft beurteilt, steht der Pietist gegenüber, der von Gottes unfaßbarer Liebe überwältigt ist, aber auch Angst vor seinem Zorn hat, und deshalb in stiller Demut und Geduld sein unverständliches Schicksal aus Gottes Hand ent-
gestehen,
muß
Demut unter Gottes
gegennimmt.
heißt, die christologische Frage Wer ist Jesus Christus, welche Rolle spielt er Weltgeschehen entpuppt sich also bei näherer Betrachtung als anthropologische Frage: Wer ist der Mensch? Ist der Mensch ein durch die Erbsünde belastetes, erlöDas
-
im
-
sungsbedürftiges Wesen oder eine selbstbestimmte Person, die sich mit Hilfe ihrer Vernunft steuert? Wie geht Friedrich Nietzsche nun mit diesen gegensätzlichen Konzeptionen
um?
Drei
christologische Gedichte von Friedrich Nietzsche
Aus der Fülle der religiösen Schriftstücke habe ich drei Gedichte ausgewählt. Das erste, „Du hast gerufen: Herr, ich komme", wurde im August 1862 verfaßt. Du hast Du hast
gerufen: Herr, ich komme Ich fühl' ein Grauen Vor der Sünde
gerufen:
Herr, ich eile Und weile An deines Thrones Stufen. Von Lieb entglommen Strahlt mir so herzlich, Schmerzlich Dein Blick ins Herz ein: Herr, ich komme.
Nachtgründe
Ich war verloren, Taumeltrunken, Versunken, Zur Höll' und Qual erkoren.
Du bist so milde, Treu und innig,
Du standst von ferne: Dein Blick unsäglich
Beweglich Traf mich gerne.
so
oft:
nun
komm' ich
Und mag nicht rückwärts schauen. Kann dich nicht lassen, In Nächten schaurig,
Traurig Seh' ¡ch auf dich und muß dich fassen.
Herzminnig, Lieb Sünderheilandsbilde! Still' mein Verlangen, Mein Sinn'n und Denken Zu senken In deine Lieb', an dir zu
(HKGW, 2, 80)
hangen. -
131
Der Sansculotte Jesus Christ
Das Gedicht ist von seinem ganzen Duktus her der pietistischen Gefühlswelt zuzuordnen. Alle typisch pietistischen Elemente tauchen auf:
innige Herzensbeziehung zum persönlichen Heiland als Zentrum des Lebens die Betonung der Liebe und ihre Beschreibung in erotischem Vokabular das Bedrohtsein durch die Sünde die
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-
-
Das Gedicht setzt im Perfekt ein und
beginnt mit einer Aktion Christi: seinem Ruf. Hier
der Ruf vom Thron aus, d. h. wir sehen hier Christus in seiner höchsten Form vor uns, als den erlösenden Weltenrichter. Und dieser Weltenrichter blickt dem Jugendlichen mit herzlicher Liebe, sogar in vertiefter Form, nämlich schmerzlich ins Herz. Die Atmosphäre vermittelt eine intime Begegnung, die beiden sind also allein weder von Menschenmengen noch von der Menge der himmlischen Heerscharen umgeben. Eine höchste Auszeichnung für den jungen Menschen. Das Weltgericht braucht der Siebzehnjährige also nicht zu fürchten. In dieser selbstbewußten Zukunftsprojektion ist er, der besondere Mensch, auch in besonderer Weise angenommen. Deshalb eilt er zum Thron und verweilt dort. Der Höhepunkt seines Kinderglaubens, dieses tiefe Bewußtsein seiner Auserwähltheit und Absicherung durch religiöse Mächte, zeigt sich auch in religiös verschobenen Kontexten, wie dem naturreligiösen oder dem graecophilen. Im Lustspiel: Der Geprüfte, das er als Zehnjähriger schrieb, wird er von Jupiter in den Kreis der Götter aufgenommen und kann sogar seine Eltern mit in diesen erlauchten Kreis ziehen. Seine innere Glaubensgewißheit ist so stark, daß sie sich nicht auf den christlichen Kontext zu beschränken braucht. Während Friedrich Nietzsche aber als Kind bei diesem idealen Zukunftsbild stehen bleibt, hat der Jugendliche einen weiteren Horizont. Ambivalenzen, Zweifel, Triebwelten etc. werden angedeutet und ganz der pietistischen Tradition verhaftet als erlösungsbedürftig charakterisiert, wie der Gebrauch der einschlägigen Chiffren dieses Sprachspiels zeigt: verloren, HölV, Qual und Sünde. „Ich war verloren" könnte sich auf die (erb)sündige Struktur des Menschen beziehen, aber bereits die zweite Zeile der zweiten Strophe „taumeltrunken" verweist mit der eigenen Wortschöpfung auf persönliche Verfehlungen. Gleichzeitig deutet diese Wortwahl, die dionysische Elemente wie Rauschzustände und zeitweilige Unzurechenbarkeit impliziert, auf jugendliche Unverantwortlichkeit hin. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, daß das Gegenüber den Vorgang zwar von fern, aber doch sehr aufmerksam, intensiv und oft kontrolliert. So ist es interessant, daß Christus nicht als der Gramgebeugte dargestellt wird, der unter den Sünden seines Dialogpartners leidet. Man hätte erwartet, auf die Zeile „Dein Blick unsäglich" folgt in pietistischer Terminologie ein Wort aus dem Feld ,Trauer/Leid', nein, es folgt der Reim: „beweglich", also: „Dein Blick unsäglich beweglich". Eine ungewöhnliche Kombination im christlichen Kontext. Während der Büßer sich normalerweise der ernsten Reue hingibt, kommt hier bei Friedrich Nietzsche immer noch eine gewisse Leichtigkeit zum Vorschein. Zum Vergleich lese ich Ihnen einige Worte aus dem Gebet von Johann Gottfried Scheibel (gest.
erfolgt
-
-
-
1842) vor:
„Voll Schmerz und Jammer, voll tiefer Beschämung, Allerheiliger [...] erscheine ich vor Dir [...] was bin ich Elender, daß ich mich Deinem Angesicht nahen, daß ich zu Dir mein Herz er-
132
Eva Marsal
heben soll? Nicht sagen, nicht bekennen kann mein bebender Mund meine Schwachheit, meine Sünde; unrein ¡st meine Gesinnung, von der Welt und ihren Lüsten meine ganze Seele befangen; voll Schmach und Unheiligkeit ist mein Leben, nur von Sünde erfüllt; wie ein Sklave bin ich gefesselt von allen Reizungen und Lockungen der Welt und des Frevels. Und dieser mein Leib sollte ein Tempel deines Geistes, o Jesu sein, ein Glied deines Leibes? [...] Wie oft, wie ernst, wie treu ermahntest du mich, zu verläugnen die irdischen Lüste und züchtig [...] zu le-
ben."31
Sie hören den Unterschied. Schwerfällig und demütig klingen diese Selbsterniedrigungen im Vergleich zu den Versen des selbstbewußten Jugendlichen, der sich nicht ermahnt, sondern sich von beweglichen Augen wohlwollend aufmerksam beobachtet weiß. Inhaltlich ist der Unterschied nicht so groß. Die Sünde, die mit Grauen erfüllt, und bei Nietzsche den Anklang des Schaurig-Schönen hat, scheint für beide Autoren mit körperlicher Lust und mit sexuellem Verlangen verknüpft zu sein. Während der Beter rückwärtsblickend seine Fesselung an die Reizungen und Lockungen der Welt voller Scham zugibt, erklärt Nietzsche kurz und bündig: „Und mag nicht rückwärts schauen". Diesen Gedanken baut er im November des gleichen Jahres aus. Er schreibt: „Nichts [ist] verkehrter als alle Reue über Vergangenes [...] Jede That der Notwendigkeit ist gerechtfertigt, jede That notwendig, die nützlich ist. [...] Wenn eine unmoralische Handlung notwendig ist, so ist sie moralisch für uns" (HKGW, 2, 143). Sehr selbstbewußt. Deswegen kann er das Gedicht in erotischem Liebessehnen ausklingen lassen. Eine Ausnahme stellt die vierte Zeile der letzten Strophe dar: „Lieb Sünderheilandsbilde!". Eine verniedlichende Zusammenfassung, die an die kleinen Heiligenbilder erinnert und sehr harmlos ist gegenüber dem etwa ein halbes Jahr zuvor verfaßten Text „Heidenwelt und Christenthum", in dem er das Thema ebenfalls aufgreift, dort aber mit den Worten: „Die Klage der erlösungsbedürftigen Menschheit tönt schmerzlich zerrissen aus der Tiefe der Nacht hervor. Unheimliche Gedanken, grelle Ausbrüche der Verzweiflung und schwärmerisches Sehnen nach einem rettenden Heiland [...]" (HKGW, 2,
64).
Die Betonung der Liebe und ihre Beschreibung in erotischem Vokabular ist ein hervorstechendes Merkmal in der Darstellung der Beziehung zu Jesus Christus. So heißt es im Kirchenlied von Gerhard Tersteegen (1737): Strophe 1 „Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesu offenbart; ich geb' mich hin dem heiigen Triebe, mit dem ich selbst geliebet ward." Strophe 2: „Ich fühl's, zum Heil muß ich dich haben [...] hier ist die Ruh, hier ist Vergnügen, drum folg ich deinen selgen Zügen." Strophe 3: „Du Heiland meines tiefen Falles, für dich ist ewig Herz und alles." Dieser Darstellungsform lassen sich natürlich leicht reale, erotische Gefühle einer anderen Person als Jesus gegenüber unterschieben, und so vermutet Hermann Josef Schmidt aufgrund seiner biographischen Recherchen und der Tiefenanalyse des Jugendwerkes, daß im besprochenen Gedicht mehrere Schichten übereinander bestehen. Unterhalb der religiösen Gefühle verbirgt sich eine erotische Botschaft an seine Schwe-
Joh. G. Scheibel,
Allgemeines evangelisches Gesang- und Gebetbuch, Hamburg 1846, 855.
Der Sansculotte Jesus Christ
133
Zeitgründen möchte ich diesen Gedanken nicht wiederholen, ihn aber zum Nachlesen sehr Wenn auch mit eigenwilligen Interpretationen und einem originären Selbstbewußtsein vorgetragen, ist hier zweifellos das pietistische Gedankengut erkennbar: der Mensch als Sünder, Jesus als sein liebender Erlöser und Heiland, der hoch in Ehren steht. Daß dieses Bild aber keineswegs ungebrochen ist, deutet sich im Gedicht Ludwig der sechzehnte an, das auch als September-Beitrag für die Germania gedacht und kurze Zeit vorher verfaßt worden war. Die Pointe liegt hier in der Parallelisierung der Kreuzigung Christi und der Hinrichtung des letzten französischen Königs. Beide werden unschuldig geopfert und sterben mit der Vergebung auf den Lippen. Ich zitiere: ster Elisabeth. Aus
empfehlen.32
Für andrer Sünden ist entquollen Dein frommes Blut, des Henkers Hohn, Und sterbend ist dein Wort erschollen, Daß du verzeihst und gnädig bist Dem Volk der Revolution. (HKGW, 2, 75)
Gleichsetzung von
Jesus Christus und
XVI. ist im rationalistischen Lager von anderen herausragenden Menschen erreicht werden kann. Nietzsche treibt diesen Vergleich auf die Spitze, indem er die Hinrichtung eines irdischen Königs mit dem Kerygma des christlichen Glaubens, dem Kreuz identifiziert, das ja nur in Anbetracht der Gottessohnschaft Jesu einen Erlösungscharakter besitzt. Damit wird die Kreuzigung auf die gleiche Stufe wie die Hinrichtung gezogen, und Jesus seiner Gottessohnschaft entkleidet, so daß konsequenterweise die beiden letzten Zeilen lauten:
Die
Ludwig
beliebt, betont sie doch, daß die Sittlichkeit Jesu auch
So sprach der Freiheit größter Sohn, der Sansculotte Jesus Christ (HKGW, 2, 75).
Dieser Jesus Christus ist nicht mehr der Sohn Gottes, sondern der Freiheit größter Sohn, in dem Ausdruck Sansculotte gipfelt, zu deutsch: „ohne Kniehose", d. h. ohne die aristokratische Kniehose. Damit kennzeichnete man abwertend die proletarischen Revolutionäre der Französischen Revolution. Kennt man Nietzsches Verherrlichung der aristokratischen Werte und seine Geringschätzung der Französischen Revolution, dann läßt sich der tiefe Fall Jesu ermessen. Während dieser Fall hier aber nicht direkt ins Auge springt, sondern nur erschlossen werden kann, wenn man die Meinungen des jungen Nietzsche kennt, wird im nächsten Gedicht „Vor dem Crucifix"33 (1863) die pietistische Christologie, aber auch die rationalistische, offen verspottet. was
H. J. Schmidt, Nietzsche absconditus oder 154-165. HKGW, 2, 187-189.
Spurenlesen
bei Nietzsche,
Berlin/Aschaffenburg 1994,
Eva Marsal
134 Vor dem Crucifix 1.
„Steinbock da oben, blöder Narr, Herunter! „Was willst du noch, was siehst du starr „Auf diese neuen Wunder? „Du hast nun ausgerungen „Dein Arm ist steif, dein Kopf ist müd „Sah ich, wie jeder vor mir kniet, „War selbst so müd, „War längst herab gesprungen. -
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2.
„Ich taumle hier vor dir in Staub „Und Asche „Herunter! Bist du denn nur taub? „Hier hast du meine Flasche!"
7. Er faßte nach dem kalten Fuß Und wankte; Ihm war's als ob mit eis'gem Gruß Der Heiland nieder dankte. Er riß den Leib den matten Empor und faßte nach der Hand, Der kalten Hand, der Eisenhand, Den Blick gebannt, Aufs Haupt voll düstrer Schatten.
-
Er wirft sie hin zu Scherben. Das Glas zerklirrt, das Steinbild steht Noch unbewegt, am Kreuz erhöht, Sein Auge fleht Zu sterben, bald zu sterben. 3. „Weiß Gott! Das ist ein rechter Tropf,
„Bleib oben, „Führwahr, er hat 'nen harten Kopf „Das Einz'ge, was zu loben. „Die Flasche gieng in Splittern, „Verschüttet ist der herbe Trank „Für Schwamm und Essig sagt er Dank, „Zum Tode krank, „Und wirft doch 'rab den Bittern. -
4. „Nun kommen sie mit Sang und Schall „In Haufen „und lecken ab die Tropfen all „Die an dir niederlaufen. „Sie küssen und sie herzen „Und meinem süßen bittren Trank „Dem sagen sie ein toller Schwank „Den besten Dank „Für deine Todesschmerzen. -
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5. „Und doch
der arme Kerl bleibt hier, „Alleine „Und schaut mich an so bleich, so stier, „Mich dauern seine Beine. „Komm mit mir auf die Erden! „Du standst so lange mag ¡ch nicht! „Du schwiegst so bange lieb ich nicht! „Du armer Wicht, „Wir wollen lustig werden. -
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6. Er stieg hinauf, die Füße schwer Und reckte Sich mählich, lächeld auf, bis er Die Augen sich bedeckte. Ein Schwindel faßt' ihn leise, Doch wieder sah er auf so stier, Rief gellend: Christus, her zu mir! Ich komm zu dir! Glück zu der letzten Reise!
8. Und lebt's? Und weints? Die Thräne rinnt Am Steine; Er schlürft sie gierig und geschwind, Den Rest vom Branteweine. „Du wirst mich retten, retten, „Ich reiße dich mit mir herab, „Reiß mich empor zu dir vom Grab, „Vom ewgen Grab „Und von der Höllen Ketten."-
9. Die Säulen standen todtenstumm, Erschrocken: Sie hörten's dröhnen rings herum, Des Weltgerichtes Glocken. Am Boden lag er leise Umsummte eine Wespe sein Gebrochen Auge, starr Gebein Sie war allein Und summte dumpfte Weise-
-
10. Am Boden eine Münze
lag,
Verrostet, Darauf des Teufels Hand und
Geprägt, was ewig kostet
Schlag
Im Himmel und auf Erden Die Seele, die am Kreuze hängt Und, tief in Sund und Lust versenkt, Sich selig denkt Und doch verdammt muß werden.
Der Sansculotte Jesus Christ
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wir dieses Gedicht mit „Du hast gerufen: Herr, ich komme", so fällt zunächst die neue Konkretheit auf. Während im ersten Gedicht der Innenraum beleuchtet wird, und zwar durch einen inneren Monolog mit einem innerlich lebendigen Christus, dessen Handlungen beschrieben, kommentiert und beantwortet werden, steht hier eine Außenaufnahme gegenüber. Das Sünderheilandsbilde ist zum realen Kruzifix geworden, der Dialogpartner zu einem Säufer, die himmlischen Heerscharen halten sich nicht länger fern, sondern kommen mit „Sang und Schall" und entpuppen sich als Wespen. Die Labsal, die Christus am Kreuz empfing, um den Durst zu stillen, der Essig, wird zu Branntwein, der den Durst des Säufers stillt. Christus selbst bleibt stumm. Er wird wie im ersten Gedicht angesprochen, kommentiert und erhält auf seine Handlungen Reaktionen, diese sind jetzt allerdings laut und äußerlich zugänglich. Aus der pietistischen Innerlichkeit wird damit eine reale äußere Begebenheit, deren katastrophales Ende jeder nachvollziehen kann. Bei dieser äußeren Zerstörung bleibt der Gymnasiast allerdings nicht stehen, er demontiert den Pietismus auch von innen her. So werden alle positiven Aussagen des ersten Gedichts ins Negative verkehrt: Die geduldige Beobachtung aus der Ferne, die im ersten Gedicht mit ,beweglich' verbunden war und eine hinwendende Reaktion zur Folge hatte, wird nun abgelehnt:
Vergleichen
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„Du standst so lange mag ich nicht! „Du schwiegst so bange lieb ich nicht! -
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Christus nicht lassen können und ihn fassen müssen führt jetzt nicht mehr zur Erlösung, sondern zum Verderben. Das Weltgericht offenbart nicht die Macht Christus' über den Teufel, sondern seine Ohnmacht. Der Kreuzestod konnte die Macht der Sünde nicht brechen, der Sünder ist zur ewigen Verdammnis verurteilt. Die pietistischen Chiffren sind versammelt, haben aber keine Kraft mehr, sondern verkehren sich ins Gegenteil. Die subjektive Glaubensgewißheit: „Sich selig denkt" erweist sich als Stein und Eisen gewordener Irrtum. Was aber hat dieses Gedicht mit dem Rationalismus zu tun? Nach dem rationalistischen Glauben ist die Kreuzestat Jesu der Ausdruck seiner hohen Sittlichkeit, aber keine Erlösungstat des Gottessohnes, weil diese ja aufgrund des Menschenbildes überflüssig ist. Der Mensch hat als vernünftiges Wesen keine Erlösung nötig. Meiner Meinung nach greift Friedrich Nietzsche diese Glaubensrichtung durch die Wahl der menschlichen Hauptfigur an, eines Säufers, also jemand, dessen Rationalität durch den Alkohol zerstört worden ist. Erschwerend kommt hinzu, daß er bei dieser Figur nach Hermann Josef Schmidt, seinen alten Freund Ernst Ortlepp vor Augen hat. Ortlepp selbst war ein ehemaliger hochintelligenter Pfortaschüler, der als politisch unerwünschter Dichter ins Abseits und damit in die Trunksucht geriet. Er starb heruntergekommen auf dem Gelände von Pforta. Wie konnte der jungen Nietzsche also dem Menschenbild der Rationalisten trauen? Im Gegensatz zu seinem Großvater, der alles daran setzte, das Christentum als vernünftige Religion zu retten, wird bereits hier dem apollinischen Element der Vernunft das dionysische als eigene Wirklichkeit entgegengesetzt. Von einer differenzierten Einzelanalyse dieses Gedichtes möchte ich an dieser Stelle absehen. Sie finden diese bei Hermann Josef Schmidt. Mir ging es hier nur darum, das
Eva Marsal
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Verhältnis des Gymnasiasten zu den religiösen Strömungen seiner Zeit herauszuarbeiten, die sich für ihn durch Menschen konkretisierten, die er liebte. Trotz aller emotionaler Verbundenheit zeigt der Jugendliche den Mut, eigenes Denken zu beweisen und auch zu dokumentieren. Außerdem wird deutlich, daß die Überlegungen, die später zur Ablehnung und Bekämpfung des Christentums führen, bereits in der Schulzeit einsetzen. Keine der religiösen Bewegungen seiner Zeit konnten seinen Intellekt befriedigen. Seine äußere Lage und die finanzielle Abhängigkeit von seiner Familie verhinderten es allerdings, daß er bereits zu diesem Zeitpunkt den Bruch mit dem Christentum herbeiführt. Friedrich Nietzsche zeichnete sich nicht nur durch eine geniale Sprachbegabung aus, sondern war auch hochmusikalisch und damit äußerst empfänglich für christlich orientierte Musik, wie beispielsweise den Messias von Händel. Dadurch wurde seine innerliche, emotionale Gebundenheit noch intensiver gesteigert. Deshalb war es für diesen gefühlsbetonten Jungen trotz aller intellektueller Gegenargumente sehr schwer, die tief verankerte religiöse Sozialisation zu überwinden. Der innere Kampf prägte seine gesamte
Schaffensperiode.
Jörgen Kjaer
Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Christentum in seiner Naumburger und Portenser Zeit
sei kurz zusammengefaßt, was ich bisher zum Thema geäußert habe: Das Christentum bildet für das Kind Nietzsche in den Naumburger Jahren zunächst einen mythischen Horizont, in dessen Bereich es sich in der Gemeinschaft mit seinen Verwandten geborgen fühlt und an dem es selber aktiv mythopoetisch mitschafft. In dieser Lebenswelt ist Gott vor allem ein Ehrfurcht einflößender Vater und Jesus ein göttliches Vorbild, mit dem er sich unbewußt identifiziert. Das Christentum gibt ihm
Einleitungsweise
Sprache und eine Vorstellungswelt, durch die er seine Gefühle soweit sie sozial akzeptabel sind gegenüber seinen Verwandten kommunikativ erfolgreich ausdrücken kann. Obwohl die soziale Umwelt Nietzsches nicht nur seine Handlungen, sein Verhal-
eine
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Ausdrucksweise, sondern sogar auch seine Gefühle und sein Selbstbild auf erpresserische Weise zu modellieren versucht, gelingt es ihm im Laufe der Naumburger Zeit, sich mit seiner Familie so weit zu versöhnen, daß er seine negativen Gefühle weitgehend aus seinem Bewußtsein drängen und sich zudem einen Freiraum für seine kindlichen Spiele und künstlerischen Aktivitäten verschaffen kann. Man darf nicht vergessen, daß Nietzsche sich viel von dem, was er in seiner Kindheit an Erziehung erfuhr, lustvoll aneignete, so z.B. feine Manieren, eine urban-kultivierte Bildungssprache sowie das Dichten und das Klavierspielen. In all dem verehrte er auch seinen verstorbenen und nachher idealisierten Vater. So hat Nietzsche seine soziale Umwelt, die von den meisten Biographen als fast terroristisch geschildert wird, in seiner Kindheit auf keinen Fall als nur repressiv und unfreundlich erlebt, sondern hat vielmehr das Gefühl gehabt, er handle, denke und spreche im großen ganzen aus eigener, spontaner Motivation. Erst aus dem retrospektiven Gesichtswinkel des heranreifenden jungen Mannes werden ihm die bedrückenden Seiten der Naumburger Verhältnisse bewußt und werden ganz anders reflektiert und gedeutet. Zu der mythopoetischen Welt des christlichen Kinderglaubens gesellen sich Elemente der griechischen Mythologie, ohne daß dies zunächst auf eine innere Distanzierung vom Christentum schließen läßt.1 Die ver-
ten und seine
Vgl. zu dieser Problematik die Diskussion zwischen Hermann Josef Schmidt und mir in Nietzscheforschung, Bd. II, Berlin 1995, 341f.
Jörgen Kjaer
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schiedenen Mythologeme leben sozusagen synkretistisch nebeneinander und Nietzsche verzaubert durch seine kreative Phantasie seine Welt, indem er mythischen Stoff frei kombiniert. In seiner früheren Kindheit haben zwar die gestörten Beziehungen zu seinen Eltern gewiß seelische Traumen bewirkt. M. E. manifestierten sie sich aber erst nachträglich in akuter Form, und zwar in seiner Krise um 1861/62. Von Verstimmtheit ist in den ersten überlieferten Texten nichts zu spüren. Eine básale Ängstlichkeit merkt man jedoch in Nietzsches Texten von den ersten Anfangen bis zu seinen Wahnsinnszetteln. Das für die Entwicklung des Selbstgefühls so wichtige básale Vertrauen basic trust war in Nietzsches Fall von Anfang an bedroht. Nach seiner ersten, vom Tode seines Vaters und des Bruders und der Übersiedlung nach Naumburg verursachten Lebenskrise hatte Nietzsche sich allmählich in Naumburg gut zurechtgefunden, nicht zuletzt dank der Freundschaft mit Wilhelm Pinder und Gustav Krug. Nietzsche scheint vor allem in der Zeitspanne, in der er das Institut des Kandidaten Weber besuchte (1853-55),4 viel Freude am produktiven Zusammenleben und Spielen mit seinen beiden Freunden und auch mit anderen Kindern gehabt zu haben und konnte auch auf der mythopoetischen emotionalen Ebene mit seiner Mutter kommunizieren. Erst die psycho-physiologische Revolution der Geschlechtsreifung, kombiniert mit neuen Ansprüchen, die die Männerwelt an ihn stellte, ließ neue Wertschätzungen entstehen, die mit seiner kindlichen Gefühlswelt und seinem mythopoetischen Horizont in Konflikt gerieten. Aus diesem Konflikt und aus seiner radikalen zweiten Verlust- und Enttäuschungserfahrung in seiner Jugendkrise entstanden das radikale Wahrheitsproblem und das ambivalente Hin und Her zwischen desillusionierender Erkenntnis (Hermeneutik des Mißtrauens) und konstruktiver Interpretation bzw. Illusionsproduktion, wobei letztlich die desillusionierende Erkenntnis die Oberhand gewann, weil sie aus tiefster Lebenserfahrung des gebrannten Kindes entstanden war. Der junge Mann litt an einer permanenten Angst, noch einmal verführt und enttäuscht zu werden. Ich habe dies in meinem Artikel über Nietzsches Naumburger Texte (Nietzscheforschung Bd. 2) näher ausgeführt und abschließend auf das in anderen Zusammenhängen mehrmals von mir angesprochene Problem der Selbstrechtfertigung und Selbstanerkennung hingewiesen. Die folgenden Ausführungen wollen diesen Ansatz ausführlicher entfalten, und zwar unter Berücksichtigung der Lutherschen Rechtfertigungslehre.5 Die ersten überlieferten Texte bezeugen vor allem Nietzsches kindliche Kriegspiele, in denen nicht viel enthalten ist, was auf tiefere innere Konflikte oder auf Konflikte mit seiner Umwelt hindeutet. In den Jahren 1855-56 häufen sich aber im Leben Nietzsches wieder Ereignisse, die sein Leben verdüstern bzw. zu verdüstern drohen und seine frü-
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:
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Aus anderer Sicht diagnostiziert Joachim Kahl eine synkretistische Religiosität bei dem späten Nietzsche: „Friedrich Nietzsches antichristlich maskierte synkretistische Religiosität" in: Bruder Nietzsche, Düsseldorf 1988. In diesem Punkt habe ich meine frühere Ansicht revidieren müssen, und zwar anläßlich der von H. J. Schmidt erbrachten Dokumentation, daß Nietzsches Mutter ihren Sohn nicht stillen konnte und er infolgedessen einer Amme übergeben wurde, vgl. Nietzscheforschung, Bd. II, 34. Vgl H. J. Schmidt, Nietzsche absconditus. Kindheit, Teil 1/2, Berlin/Aschaffenburg 1990, 538f. Zum Thema Nietzsche und Luther vgl. E. Hirsch, „Nietzsche und Luther", Nietzsche-Studien, Jg. 15, 1986, 398f.
Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Christentum
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hen traumatischen Verluste in Erinnerung rufen. Es handelt sich um folgende Ereignisse: Im Sommer 1855 stirbt die geliebte Tante Auguste; im September 1855 fällt die Festung Sebastopol, für deren Verteidigung Nietzsche sich in seinen Kriegsspielen leidenschaftlich eingesetzt hatte; im selben Jahr muß Nietzsche das Institut des Kandidaten Weber verlassen, um ins Domgymnasium aufgenommen zu werden; im April 1856 stirbt die Großmutter und es nähert sich der Tag, wo Nietzsche seine ihm lieb gewordene zweite Heimat verlassen muß, um die möglichst beste Schulausbildung zu bekommen. Vielleicht macht Nietzsche um diese Zeit herum auch seine ersten, schockierenden Erfahrungen mit der männlichen Sexualität, die in damaligen gutbürgerlichchristlichen Kreisen an sich ein Skandal war. Weniger als all dies wäre ausreichend gewesen, um ihn zum ernsthaften Nachdenken über sich selbst und sein gegenwärtiges, früheres und zukünftiges Leben zu veranlassen. Erst jetzt gibt es Texte, die deutlich existentielle Nöte zum Ausdruck bringen. Nicht zufällig handelt es sich dabei häufig um Reflexionen über die Vergänglichkeit und die Zeit. Eins der ersten Zeugnisse eines existentielleren Tons in den Texten Nietzsches ist ein Gedicht an Zeus vom Frühjahr 1856, in dem Zeus gedankt wird, da er uns macht „daß wir nicht wanken" (KGW 1, 146). Das Gedicht intoniert das bereits erwähnte Problem, das Nietzsche schon in seiner frühen Kindheit kannte, und zwar die Angst vor dem Verlust der Selbstbeherrschung durch unkontrollierbare innere Impulse, die seine Beziehungen zu seinen primären Bezugspersonen bedrohen. Spätestens seit dem Tode des Vaters hat Nietzsche Selbstbeherrschung geübt und Strategien der Selbstdisziplinierung und Selbstmodellierung entwickelt, die später in eigentliche Selbstbildungsstrategien im Sinne des damaligen deutschen Bildungsdenkens übergingen, wobei er auf selbständige, kreative und möglichst spielerische Weise Impulse von der Schule, von den Freunden und deren Vätern und von seiner eigenen Familie nutzte. Seit dem Frühjahr 1856 werden aber immer häufiger Probleme der inneren und äußeren Stabilität seiner Existenz in seiner Lyrik thematisiert. Ein Gedicht oder eine Folge von insgesamt 6 Strophen von unterschiedlicher Länge und von unterschiedlichem metrischem Aufbau, die wie ich vermute zum größten Teil Abschriften sind, endet mit der folgenden Strophe: „Wie wönig ist alles / Wie alles so hehr / Das Rauschen des Falles / Der Schatten am Wehr / Es heimeln die Freuden / Der Jugend mich an. / O daß ich muß scheiden / Vom lieblichen Wahn" (KGW 1, 146f). Die erste Strophe entstammt nachweislich einem Gedicht von Hölty, Mailied, die vierte Strophe einem Gedicht von J. H. Voss, Mailied, die fünfte Strophe dem bekannten Gedicht von Hagedorn, Der Mai. Da die zweite Strophe demselben Metrum folgt wie die soeben zitierte letzte Strophe, ist anzunehmen, daß auch diese zwei Strophen Abschriften, und zwar aus ein und demselben Gedicht, sind. Vermutlich ist nur die dritte Strophe von Nietzsche selbst. Es handelt sich somit um eine eigenartige Montage von Strophen, die trotz der heterogenen Herkunft gut zusammenpassen, da alle den idyllischen Geist einer lebensfrohen, naiven und unkomplizierten Freude an der bunten Natur und am Landleben im Frühling atmen und zudem schönstens abgerundet sind, und zwar mit einer Strophe, in der das Idyllische ins Elegische umschlägt, fast als würde Nietzsche die Verwandtschaft von Idylle und Elegie im Schillerschen Sinne demonstrieren.
Jörgen Kjaer
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Obwohl er sich somit wahrscheinlich fremder Worte bedient, horcht man bei dem gekonnten Arrangement auf: Hier klingt zum ersten Mal vermutlich Frühjahr 1856 der elegische Ton an, der viele spätere Naturgedichte Nietzsches prägen wird und einem geschärften Zeitbewußtsein entspringt. Nietzsche, der schon einmal beim Tode des Vaters eine physische und geistige Heimat verloren hat, kann vorgreifend die Ahnung eines nochmaligen radikalen Verlustes „anheimelnder Freuden" in die letzte Strophe hineinprojizieren. Der Autor steht an der Grenze zwischen einer Lebensphase, in der er relativ unreflektiert im Einvernehmen mit seiner sozialen Umwelt lebte und einer neuen Periode, in der die relativ heile Welt verlorenzugehen droht. Die dominante Art, die Zeiterfahrung poetisch zu strukturieren, bleibt lange Zeit die elegische, d.h. es wird von einer aktuellen oder antizipierten Verlusterfahrung aus retrospektiv die geschwundene, glückliche Zeit betrauert. Das hoffnungsvolle Vorwärtsblicken bleibt ausgeschlossen, es sei denn, die trauernde Retrospektion verbindet sich mit der Hoffnung auf ein christlich aufgefaßtes Jenseits oder mit dem Gedanken an eine zyklische Wiederkehr des Verlorenen. Dadurch verwandelt sich das Elegisch-Trauernde gelegentlich ins Idyllische im Sinne Schillers. Nietzsches Pubertätskrise, die sich vielleicht schon um 1856 ankündigte und zu irgendeinem Zeitpunkt zwischen 1859 und 1862 kulminiert, und seine neuen, traurigen Lebenserfahrungen verursachen m. E. zunächst keine Distanzierung vom Christentum, sondern im Gegenteil eine Intensivierung seiner mythopoetischen Lebensstrategie und den Versuch, das Christentum mit seinen neuen Erfahrungen und Kenntnissen zu versöhnen und als Heilmittel gegen seine depressiven Stimmungen, seine Schuldgefühle und inneren Konflikte, gegen seine Angst vor den inneren Trieben, vor dem Verlust der Selbstkontrolle, vor Selbstverlust und Desintegration sowie vor Heimatverlust und Todeserfahrungen zu benutzen. Seit etwa 1856 versuchte Nietzsche, seine christliche Vorstellungswelt als positiv erlebten Teil seiner Kindheit festzuhalten, reflexiv zu vertiefen, mit seinen neuen Erfahrungen und Erkenntnissen zu versöhnen und in seine männliche Identität zu integrieren. Bemühungen in dieser Richtung dokumentieren einige Aufzeichnungen in einem Tagebuch, das Nietzsche Weihnachten 1856 zu führen beschließt. Nicht zufällig fangt er sein Tagebuch in der Weihnachtszeit an, die ihm ein Inbegriff der mythopoetischen Welt ist, die verlorenzugehen droht. Die Begründung des Tagebuchschreibens ist höchst aufschlußreich: „Endlich ist mein Entschluß gefaßt, ein Tagebuch zu schreiben, in welchen man alles, was freudig oder auch traurig das Herz bewegt, dem Gedächtnis überliefert, um sich nach Jahren noch an Leben und Treiben dieser Zeit und besonders meiner zu erinnern. Möge dieser Entschluß nicht wankend gemacht werden, obgleich sich bedeutende Hinterniße in den Weg treten. Doch jetzt will ich anfangen: Wir leben jetzt inmitten von Weihnachtsfreuden. Wir warteten auf sie und sahen sie erfüllt, genossen jene und jetzt drohen sie uns nun schon wieder zu verlassen. Denn es ist schon der zweite Feiertag. Jedoch ein beglückendes Gefühl strahlt hell fast von den einen Weihnachtsabend, bis der andre schon mit mächtigen Schritten seiner Bestimmung entgegeneilt." (KGW 1, 169)6 -
6
Vgl.
dazu auch meine Kommentare in
Nietzscheforschung, Bd. II, 354f.
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Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Christentum
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Thema ist die Zeit, die alles der Zerstörung ausliefert. Das Niedes Erlebten ist ein Aufstand gegen die destruktive Macht der Zeit. Wesderschreiben sich erinnern sind nicht nur die erlebten Freuden, sondern auch er selbst. So sen er will, ist nicht nur das Erlebte von Vernichtung bedroht, sondern auch er selbst als das Subjekt des Erlebten und das Subjekt der Gestaltung seines Lebens. Wankt dieser Entschluß, so könnte die ganze Grundlage seiner Existenz wanken, seine selbststabilisierende Selbstbeherrschung. Kein Zweifel, das gesteigerte Bewußtsein der Zeit führt Nietzsche zunächst nicht vom Christentum weg, sondern gibt im Gegenteil dem mythisch erlebten Christentum, das auch die Zeiterfahrung entschärft, und zwar durch die Wiederkehr des mythisch fundierten Festes, einen neuen existentiellen und reflektierten Stellenwert. Es dient als Antwort auf seine Krisenerfahrungen im allgemeinen und seine neuen Zeiterfahrungen im besonderen. An einer anderen Stelle des Textes hebt Nietzsche hervor, daß es der Tag ist, „an dessen Ende einst zu Bethlehem der Welt das größte Heil wiederfuhr; es ist ja der Tag an welchen meine Mama mich jährlich mit reichen Gaben überschüttet." (170) Es ist ein ganz zentrales Moment des Weihnachtsfestes, daß er sich als Empfänger mütterlicher Geschenke und mütterlicher Aufmerksamkeit im Zentrum der Ereignisse fühlt wie das Christkind, mit dem sich Nietzsche, wie ich annehme, heimlich identifiziert. Wie Nietzsche versucht, seine Lebensprobleme durch christliche Vorstellungen konstruktiv zu bewältigen, habe ich schon früher am Beispiel des kleinen Schauspiels Der Geprüfte illustriert (Nietzscheforschung Bd. II, 348f), und wie er mit seinen existentiellen Problemen ringt und bei wachsendem Problembewußtsein die Vorstellungswelt seiner Kindheit festzuhalten versucht, habe ich in einem noch unpublizierten Vortrag bei den 5. Dortmunder-Nietzsche-Kolloquien an folgenden Naumburger Texten demonstriert: Meeres Sturm (1856), Alfonso (1857), Jason und Medea (1858), Schifferlied (1858), Zwei Lerchen (1858), Colombo (1858). Es handelt sich dabei um Texte, die Hermann Josef Schmidt für Scharniertexte hält und die er benutzt, um die verborgene und hintersinnige Polemik Nietzsches gegen das Christentum nachzuweisen. Sie lassen sich m.E. ebenso gut als Indizien für die von mir behauptete Strategie Nietzsches lesen, sich das Christentum auf einem höheren Reflexionsniveau anzueignen. Im Frühjahr 1859 befindet sich Nietzsche, der nun etwa ein halbes Jahr in Schulpforta verbracht hat, ohne Zweifel auf einem seelischen Tiefpunkt. Aus dieser Zeit stammt das depressive Gedicht In der Ferne, in der Ferne, das er seinem Freund Wilhelm im Mai/Juni schickt. An einem kleinen Gedicht aus derselben Zeit wird deutlich, das die niedergedrückte Stimmung Nietzsches auch mit neuen, von innen kommenden Lebensimpulsen zusammenhängt, die ihm im Verhältnis zu seiner bisherigen Lebenswelt als fremd erscheinen und zu einem Gefühl der Selbstentfremdung führen: „Tief in des Herzens Grunde / Tönt ein gar seltsamer Klang / Wenn ich an ihn gedenke / Wirds mir so weh so bang." (BAW 1, 83) Es ist der unbekannte Gott, von dem Nietzsche in dem bekannten Gedicht seines letzten Jahres auf Schulpforta spricht, der sich meldet, und zwar zunächst als unheimlicher Gast, den er abzuwehren versucht. Später wird Nietzsche diese von innen kommende, unbekannte Macht umwerten, sie als einen wesentlichen Teil seiner selbst anerkennen und weitgehend zur Grundlage seines Wollens machen und im Gegensatz zu seiner bisherigen Weltanschauung interpretieren. Diese ihm Das
übergeordnete
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Jörgen Kjaer
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noch fremd erscheinende, nicht anerkannte Macht ist zunächst der sexuelle Trieb, dann auch entweder davon katalysiert oder verstärkt all das, was bisher sozial geächtet war: seine Aggressivität, sein Streben nach Individuation und männlicher Autonomie und die damit verbundene Wut auf alles, was sich dieser Autonomie kränkend entgegenstellt und entgegengestellt hat, ferner sein kritischer Intellekt und seine sich steigernde Reflexionsfähigkeit, die zunehmend im Dienste dieser Wut arbeiten, seine Neigung zur narzißtischen Selbstidealisierung sowie auch sein manchmal ekstatischer Schaffensdrang. All das bildet ein unentwirrbares Etwas, das sich in ständig wechselnden Leidenschaften, Gefühlen und Stimmungen manifestiert und das die Traumen seiner frühen Kindheit reaktiviert. Um die Bedeutung des Christentums im Zusammenhang mit dieser Krise adäquat zu verstehen, muß man sich einige allgemeine Probleme der familialen Pädagogik vergegenwärtigen, die im Elternhaus Nietzsches auf der Grundlage von Luthers Formulierung des vierten Gebotes praktiziert wurde. Daher sei mir ein Exkurs zu dieser intrikaten Problematik gestattet. Das pädagogische Grundprinzip lief kurz gesagt darauf hinaus, daß man von den Kindern verlangte, sie sollten nicht nur ihren Eltern gehorchen, sondern sie auch lieben. Da man im Lutherschen Protestantismus nicht nur auf die Werke sah, sondern vor allem auf das Herz, d.h. auf das Gefühl und die Gesinnung hinter den Werken, so mußte dies bedeuten, daß ein Kind, das nicht seinen Eltern gehorchte, sich nicht nur ein zu rügendes Fehlverhalten zuschulden kommen ließ, sondern auch verdächtigt werden mußte, ein bösartiges Herz und ein verwerfliches Wesen zu haben. Da Kinder natürlich oft Zorn auf die Eltern fühlen, müssen sie beständig vor ihren eigenen Gefühlen Angst haben, um die Liebe und Anerkennung der Eltern bangen, an ihrer eigenen Existenzberechtigung zweifeln, schwere Schuld- und Schamgefühle entwickeln und ständig nach Bestätigung und Rechtfertigung hungern.7 Diese Konditionierung des Kindes als Schuldiger stellt den heranreifenden jungen Mann, der seiner kindlichen Vorstellungswelt entwächst und sie reflektiert, vor eine Wahl zwischen zwei Hauptmöglichkeiten, es sei denn er bleibt auf einer psychoinfantilen Entwicklungsstufe stehen: Erstens kann er sich von seinen Selbstwert- und Schuldproblemen auf christliche Weise zu erlösen versuchen, wobei alles davon abhängt, ob er zu einem reifen persönlichen Glauben durchbricht, der ihn von den Schuldgefühlen und der Angst vor Gott und Menschen befreit. Zweitens kann er die christliche Interpretation seiner selbst als Sünder und die Autorität und Moral der Eltern, der Pädagogen und der christlichen Kirche aufklärerisch abzulehnen und den Glauben an Gott aufzugeben versuchen, um damit seine eigenen, bisher verworfenen Gefühle als natürlich und berechtigt zu rehabilitieren. Dies ist aber leichter gesagt als getan, denn man entledigt sich solcher tief verwurzelten Schuld- und Schamgefühle und eines so stark internalisierten Selbstbildes nicht ohne weiteres, und ganz besonders nicht ohne Hilfe von außen. Der junge Mensch, der dieses versucht, steht vor einem Problem, dessen Paradoxie man mit dem Problem Münchhausens vergleichen kann, als er auf seinem Pferd im Sumpf stekken blieb. Die Problematik besteht darin, daß ein Mensch, der sich selber mißachtet, diese Selbstverachtung durch eigene Kraft, durch eigenen Willen und Entschluß aufhe-
7
Vgl.
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J.
Kjaer, Nietzsche, Opladen 1990, 282.
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ben und statt dessen die erwünschte Selbstachtung installieren will. Da man aber die Instanz, die einen anerkennt, selber anerkennen und achten muß, wenn die Anerkennung Wert und Geltung haben soll, so gilt eine Anerkennung von Seiten des eigenen Selbst, das man ja eben mißachtet, natürlich nicht, ist keine wirkliche An solchem Schopf kann nur ein Münchhausen sich aus dem Sumpf der Selbstverachtung ziehen. Der sich selber mißachtende Mensch kann aber auch versuchen, die Anerkennung, die ihm seine Eltern verwehrt haben, dadurch zu ersetzen, daß er etwa in einer anderen, positiver eingestellten sozialen Umwelt zu Menschen Kontakt bekommt, die ihm die bisher fehlende Anerkennung und Liebe gewähren. Solche Umwelten und Menschen sind aber nicht leicht zu finden, zumal die meisten Menschen selber an Selbstwertproblemen leiden, und nicht den Überschuß besitzen, sich um die Probleme anderer Menschen zu kümmern. Viel schlimmer ist, daß ein Mensch, der wie Nietzsche seit seiner frühen Kindheit einer seine Selbstachtung kränkenden manipulativen Pädagogik ausgesetzt gewesen ist, eine starke Angst vor nahen emotionalen Beziehungen entwickelt und daher geneigt ist, eher solche Beziehungen zu anderen Menschen zu vermeiden, die eventuell das, was er in der Kindheit vermißt hat, hätten kompensieren können. Diese Vermeidungsstrategie wird natürlich verstärkt, wenn der Betreffende in einem Milieu lebt, wo die meisten anderen Menschen aus ähnlichen gutbürgerlichen christlichen Häusern kommen, und, insofern sie überhaupt nahe Beziehungen zu anderen etablieren können und wollen, die Partner eher zu eigener Selbstbestätigung ausbeuten als sie generös mit Anerkennung und Liebe zu beschenken. Der Mensch steht in diesem Fall dem Dilemma gegenüber, zwischen zwei gleich leid- und verhängnisvollen Möglichkeiten zu wählen: entweder trotz allem den Versuch zu wagen, sich anderen Menschen zu nähern, mit der Aussicht, die Erfahrungen seiner Kindheit noch einmal zu machen, nämlich sich verraten, enttäuscht und gekränkt zu fühlen, die Geliebten zu verlieren und eine nochmalige Schwächung seiner Selbstachtung zu erleiden, oder aber alle nahen Beziehungen konsequent zu vermeiden und ein Leben ohne Liebe und Freundschaft zu leben, was auch eine Schwächung des Selbstgefühls und des Lebensmuts mit sich bringt, die der Mensch dann durch alle möglichen selbstbetrügerischen Strategien zu bekämpfen versuchen muß. Seitdem säkularisiertes Autonomiedenken zur Herrschaft gelangte, wurde es das höchste Ziel des Menschen, sich selber und seine eigenen Wesenskräfte autonom zu entfalten, sich von allerlei religiösen und gesellschaftlichen Zwängen zu emanzipieren und in dieser Welt auf natürliche Weise glücklich zu werden. Nun muß aber das der Despotie eines allmächtigen Gottes und einer machtvollen Kirche entflohene Individuum feststellen, daß es sich einem anderen, noch furchtbareren, launenhafteren und tyrannischeren, aber zugleich viel kläglicheren Wesen ausgeliefert hat, und zwar seinesgleichen, dem anderen Menschen, der ihm die Bestätigung und Rechtfertigung gewähren soll, die er von Gott nicht mehr erhalten will. Dies kann und will der andere in den meisten Fällen aber gar nicht. Dieser Widerspruch erfahrt zudem noch die Zuspitzung, daß die Grundwerte des modernen Menschen selbst in Widerstreit geraten sind,
Anerkennung.8
Diskussion der Hegeischen Anerkennung, Frankfurt/M. 1994. Zur
neueren
Philosophie der Anerkennung vgl. A. Honneth, Kampf um
Jörgen Kjaer
144
denn neben der autonomen Selbstentfaltung will der moderne Mensch auch noch die Liebe als höchste natürliche Lebenserfüllung. Aber nichts liefert uns so radikal einem anderen Menschen aus als gerade die Liebe bzw. der Hunger danach, dessen Stillung von der eigenen, beschädigten Liebesfähigkeit, dem zufälligen Willen und Können sowie den Launen und Interessen des anderen abhängt. So werden andere Menschen zu meinen Göttern und Abgöttern bzw. zu meinen Teufeln, die über mein Lebensglück inappellabel entscheiden. Die Hölle, das sind die anderen, wie es Sartre formuliert: ein diagnostischer Schlüsselsatz des modernen individualistischen Zusammenlebens. Mit diesem allgemeinen Grundproblem der Säkularisierung sind wir bis heute nicht fertig geworden. Die Lösungsstrategie, die Nietzsche in diesem Dilemma verfolgte, und zwar sich selber anzuerkennen, zu lieben, zu rechtfertigen, zu bewundern, zu heilen usw. ist eben genau so absurd wie die Lügengeschichte Münchhausens. Ich habe dieses Problem bei dem späten Nietzsche im Zusammenhang mit einer Analyse von Zarathustras Nachtlied und dem Dionysosdithyrambus Von der Armut des Reichsten näher erörtert. Hier geht es um die Genese dieser Problematik in der Jugend Nietzsches. Ich möchte jedoch, um die Problemstellung zu profilieren, einige aufschlußreiche Zitate ergänzen, die demonstrieren sollen, wie der spätere Nietzsche die Problematik der Rechtfertigung sieht. Es ist charakteristisch, daß Nietzsche, wenn er von Selbstrechtfertigung und dergleichen spricht, oft irgendeine mütterliche Instanz als Spenderin der Rechtfertigung benennt oder das Fehlen dieser mütterlichen Instanz beklagt oder auf eine stiefmütterliche Instanz verweist, die ihm Anerkennung und Bestätigung verweigert. Wie ich die betreffenden Zitate interpretiere, handelt es sich um Reflexe der fehlenden Achtung, Anerkennung und Liebe von Seiten seiner Mutter und um den Hunger nach Kompensation dafür. Diese Kompensation muß er sich letzten Endes selber geben, er muß sich selber bemuttern und rechtfertigen, bzw. die Natur, die in ihm wirkt, muß ihn rechtfertigen. Insofern er erlebt, daß dies geschieht, fühlt er sich sogar vergöttlicht. Im Nachlaß aus dem Jahre 1885 spricht Nietzsche von den Ausnahmemenschen, deren göttlichem Selbstgefühl er sein Leben lang nachstrebt: „Es ist wahrscheinlich, daß bei solchen vollkommenen und wohlgerathenen Menschen zuletzt die allersinnlichsten Verrichtungen von einem Gleichniß-Rausche der höchsten Geistigkeit verklärt werden; sie empfinden an sich eine Art Vergöttlichung des Leibes und sind am entferntesten von der Asketen-Philosophie des Satzes ,Gott ist ein Geist' wobei sich klar heraus stellt, daß der Asket, „der mißrathene Mensch" ist, welcher nur ein Etwas an sich, und gerade das richtende und verurtheilende Etwas gut heißt. Von jener Höhe der Freude, wo der Mensch sich selber und sich ganz und gar als eine vergöttlichte Form und Selbst-Rechtfertigung der Natur fühlt, bis hinab zu der Freude gesunder Bauern und gesunder Halbmensch-Thiere: diese ganze lange ungeheure Licht- und Farbenleiter des Glücks nannte der Grieche [...] Dionysos. Was wissen denn alle neueren Menschen, die Kinder einer brüchigen vielfachen kranken seltsamen Mutter, von dem Umfange des griechischen Glücks [...]." (KSA 11, 680f.) Im folgenden Zitat aus der Fröhlichen Wissenschaft soll ihn die Philosophie, d.h. seine Philosophie, rechtfertigen. -
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9
Vgl. Nietzscheforschung, Bd. III,
127f.
Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Christentum
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„Auf die Schiffel Erwägt man, wie auf jeden Einzelnen eine philosophische Gesammt-Rechtfertigung seiner Art, zu leben und zu denken, wirkt nämlich gleich einer wärmenden, segnenden, befruchtenden, eigens ihm leuchtenden Sonne, wie sie unabhängig von Lob und Tadel, selbstgenügsam, reich, freigebig an Glück und Wohlwollen macht, wie sie unaufhörlich das Böse zum Guten umschafft, alle Kräfte zum Blühen und Reifwerden bringt und das kleine -
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und grosse Unkraut des Grams und der Verdriesslichkeit gar nicht aufkommen lässt: so ruft man zuletzt verlangend aus: oh dass doch viele solche neue Sonnen noch geschaffen würden! Auch der Böse, auch der Unglückliche, auch der Ausnahme-Mensch soll seine Philosophie, sein gutes Recht, seinen Sonnenschein haben.[...] eine neue Gerechtigkeit tut noth!" (KSA 3, -
529f, Aph. 289) Die Vorstellung, daß die Philosophie eines sich selber verachtenden Menschen die fehlende Anerkennung oder Liebe von Seiten anderer Menschen ersetzen kann, ist natürlich ein reiner Wunschtraum, da die Philosophie als Lebensausdruck ja eben auf den Wertschätzungen und hierunter auch auf der Selbstachtung bzw. der fehlenden Selbstachtung eines Menschen fußt. Die einzigen realen Möglichkeiten der Befreiung aus der lebenszerstörenden Selbstverachtung wären, wie gesagt, die Kompensation der fehlenden elterlichen Anerkennung durch die Anerkennung seitens anderer Menschen oder der Durchbruch zu einem gereiften persönlichen Glauben, in dem Gott die souveräne anerkennende und rechtfertigende Instanz ist. Tatsächlich hatte Nietzsche in Naumburg das Glück, nicht nur zwei Freunde, die ihn schätzten, zu finden, sondern auch in ihren Elternhäusern als ein willkommener Gast verkehren zu dürfen, zudem hatte er das von Hermann Josef Schmidt mit Recht stark betonte Glück, bei seinem Großvater das anerkennende Verständnis für seine besondere Begabung zu finden, das ihm seine Mutter nicht entgegenbringen konnte. Dadurch wurden sowohl der Verlust des Vaters als auch das problematische Verhältnis zur Mutter teilweise kompensiert. Es ist dies wahrscheinlich eine der Haupterklärungen des relativ harmonischen Verhältnisses Nietzsches zu sich selber und seiner Umwelt in den Naumburger Jahren. Die Beziehungen zu den beiden Freunden kühlten sich aber im Laufe der Portenser Zeit ab, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil Nietzsche panisch versuchte, die beiden Freunde an sich zu binden und für sein eigenes kompensatorisches Selbstrechtfertigungsprojekt zu instrumentalisieren. Die Möglichkeit des Durchbruchs zum gereiften Glauben scheint ihm trotz seiner Bemühungen darum verbaut gewesen zu sein, vor allem wegen der Depraviertheit des Lutherschen Glaubens, die nicht nur im Elternhaus Nietzsches, sondern generell in den kulturtragenden Schichten herrschte, die das geistige Klima bestimmten. In diesem Zusammenhang möchte ich ganz kurz eine Problematik der Lutherschen Lehre andeuten, die für die Entwicklung der Selbstauffassung der Kinder katastrophal werden kann, die unter dem Regime des vierten Gebotes in der Lutherschen Fassung aufwachsen. Es ergibt sich leicht ein Widerspruch zwischen der geistigen und psychischen Befreiung, auf die die Rechtfertigungslehre abzielte, und der radikalisierten psychischen und geistigen Pression, die Luthers Formulierung des vierten Gebots nahelegt. Luther machte das Verhältnis zwischen Gott und Mensch zu einem persönlichen und individuellen, und die Rechtfertigungslehre interpretierte Gott nicht nur als eine mächtige, sondern auch als eine gnädige und liebevoll rechtfertigende Instanz. Gegen die Rechtfertigungslehre der katholischen Kirche berief sich Luther u.a. auf Pauli Worte im 1. Römerbrief, wo es vom Evangelium heißt, daß „darin offenbart
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wird die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie denn geschrieben steht: ,der gerechte wird seines Glaubens leben'." (Römer 1,17) Indem aber das Kind auf erpresserische Weise dazu manipuliert wird, sowohl Gott als auch den Eltern nicht nur zu gehorchen, sondern sie auch zu lieben, und da es sich verworfen fühlen muß, wenn es dies nicht tut, so wird es ihm später sehr schwierig, Gott als einen gnädigen, liebevollen Vater aufzufassen, es wird eher geneigt sein, sich von einem solchen tyrannischen, sein Selbstgefühl untergrabenden Wesen zu befreien oder sich nach wie vor gezwungen fühlen, sich sowohl Gott als auch seinen Eltern und anderen Autoritäten gegenüber durch gute Werke und Gehorsam zu rechtfertigen. Die Religion wird somit integrierter Teil einer Beziehungsfalle. Es ¡st ein tragisches Paradoxon, daß das, was in Deutschland als eine Befreiung des Christentums von jedem Machtmißbrauch begann, und gleichzeitig als eine Befreiung des Individuums aus Autoritäts- und Machtverhältnissen, die die persönliche Integrität und das religiöse Gefühl des Individuums verdarben und sein persönliches Gottesverhältnis zerstörten, daß diese revolutionierende Emanzipationsbewegung zu neuen Macht- und Autoritätsverhältnissen entartete, und zwar zur Autorität des Fürsten über den Glauben der Untertanen, zum Interpretationsmonopol der Theologen und Philologen gegenüber den Gläubigen hinsichtlich der Auslegung der Schrift und zur bis ins Innerste der Seele greifenden Verfügungsgewalt der Eltern über ihre Kinder. Das letztere ist gewiß das Katastrophalste und leider nicht nur als eine Depravierung der Lutherschen Lehre aufzufassen, sondern auch als eine Konsequenz der angedeuteten, seiner Lehre inhärenten Problematik anzusehen. Zur Depravationsgeschichte dieser Lehre in Deutschland gehört auch, daß die patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen, die die Autorität des christlichen Glaubens unterstützten, zur Zeit der Kindheit Nietzsches im Zerbröckeln begriffen waren. Nicht nur Gott stirbt, sondern auch die väterliche Autorität als ein reelles und allgemein anerkanntes gesellschaftliches Regulationsprinzip. Sie wird durch moderne Regulationsprinzipien ersetzt, z.B. durch den Markt, den modernen Staat, durch die Belohnung von individuellen Qualifikationen und Leistungen. Zudem scheint die soziale Disziplinierung sich immer mehr durch die gegenseitige Spiegelung der Individuuen zu ergänzen, die weder in einem substantiellen religiösen Glauben, noch in Pietät für alte Traditionen noch in Vernunftsgründen verankert ist, sondern in äußerlicher Gewohnheit, kontingenten Modeströmungen, Launen der öffentlichen Meinungen, im Geschmack und im beliebigen Wollen der einzelnen Menschen. In dieser Spiegelung, deren allgemeine Züge Hans Christan Andersen so eindrucksvoll in seinem Märchen Des Kaisers neue Kleider schildert, ist das Individuum gnadenlos dem zufalligen, anderen Mitmenschen ausgeliefert. Im Zuge dieser Entwicklung sinken auch Religion und tradierte Sittlichkeit zur kontingenten Konventionalität ab, der man sich aus purer Angst vor sozialer Ächtung unterwirft. Dieses „Gesellschafts-Etwas", das Baron Instetten in Effi Briest dazu zwingt, sich mit seinem Nebenbuhler zu duellieren, obwohl der Baron im Grunde gar nicht selber an diesen Ehrenkodex glaubt, reduziert tendenziell das Christentum zu einem Moment sozialer Reputierlichkeit. Die Sozialität wird ein System der unendlichen Spiegelung, wo der einzelne ständig auf das Bild Rücksicht nehmen muß, das er in den Augen der anderen hinterläßt, und immer dazu gezwungen ist, sich selbst mit den Augen der anderen zu beurteilen, obwohl man die Autorität die-
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anderen nicht anerkennt. Der moderne Bürger will sein individuelles Selbst nach seinen eigenen Projekten und Visionen realisieren, muß sich aber statt dessen den Mechanismen anonymer gesellschaftlicher Kräfte und dem Blick zufälliger anderer Menschen anpassen. Wenn Gott den einzelnen Menschen nicht mehr sieht, so sehen dafür die anderen ihn um so schärfer, meistens aber ohne Liebe, eher mit Neid, Angst, Mißtrauen oder Gleichgültigkeit. Ein selbständig denkender junger Mann wie Nietzsche konnte nicht umhin, das Moment der Reputierlichkeit in dem Christentum, das in seinem Elternhaus verkündet und praktiziert wurde, und die Ängstlichkeit, die hinter der „Liebenswürdigkeit" und der rücksichtsvollen Höflichkeit der Biedermeierkultur steckte, zu bemerken und zu erkennen. Obwohl, wie Nietzsche selber bekennt, unter seinen Verwandten viele ernsthafte und ehrenwerte Christen waren, so gab es keine Persönlichkeiten, keine theologischen Richtungen und keine religiösen Bewegungen, die den geistigen Ansprüchen Nietzsches, hierunter seinem Erkenntnisstreben, genügten. Der Autoritätsverlust des christlichen Gottes und des Vaters bedeutet aber im Falle Nietzsches keine Entschärfung der angedeuteten Problematik der Lutherschen Pädagogik, denn in seinem Falle erfolgte die Pression auf besonders intrikate Weise durch die manipulative Ausnützung seiner natürlichen Liebe zu seiner Mutter, so daß die Revolte gegen Gott seine Beziehung zur eigenen Mutter und sein Verhältnis zu Frauen überhaupt sowie seine Liebesfähigkeit im allgemeinen in Mitleidenschaft ziehen mußte. Es ist somit nicht schwer zu erklären, wieso Nietzsche der ausweglosen existentiellen Selbstüberforderung verfiel, sich selber rechtfertigen zu wollen. In Nietzsches Jugend lag zudem die Christentumskritik in der Luft, nachdem der Versuch der deutschen Denker gescheitert war, das Freiheitsmoment der Reformation erneut zum Tragen zu bringen. Die allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen, die nüchterneres naturwissenschaftliches Denken förderten, verstärkten den Verlust an Autorität und Glaubwürdigkeit, den der deutsche Protestantismus sich selber zu verdanken hatte, ohne daß die Wissenschaft selber dem geistig Hungernden anderes als einen trivialen Fortschrittsoptimismus als Alternative anbieten konnte. In Anbetracht meiner einleitenden Ausführungen über das relativ harmonische Verhältnis Nietzsches zu seiner christlichen Umwelt zumindest in seinen späten Naumburger Jahren könnte man den Eindruck gewinnen, ich würde mir selber widersprechen, indem ich die Greuel der protestantischen Pädagogik so stark herausstelle. Der Widerspruch liegt aber nicht auf der Ebene der Analyse, sondern ist ein Moment der Wirklichkeit Nietzsches. Meine These ist, daß es in der Naumburger Zeit, trotz dieser widerspruchsvollen Wirklichkeit und trotz der traumatischen Erfahrungen in der frühen Kindheit, Nietzsche tatsächlich gelang, seine sozialen Beziehungen relativ konstruktiv und harmonisch zu gestalten, und zwar dank gewisser glücklicher sozialer Konstellationen und dank einer kreativen und begabten Lebensstrategie, die einen erfolgreichen Kompromiß zwischen Anpassung und Selbständigkeit ermöglichte. Diese Strategie brach aber als Folge der angedeuteten neuen äußeren und inneren Lebensrealitäten und seines wachsenden kritischen Bewußtseins zusammen und wurde von einer anderen emotionalen Orientierung und einer anderen Selbstbildungs- und (Über)Lebensstrategie abgelöst, die sich gegen wesentliche Momente seiner früheren christlich geprägten Lebensstrategie und Gefühlswelt wandte. ser
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Nach diesen allgemeinen Betrachtungen kehre ich zu der Entwicklung Nietzsches zurück. Wegen der inneren Unruhe, die nach der Übersiedlung nach Schulpforta zunimmt, muß Nietzsche seine selbstbildnerischen Bemühungen verstärken, um den Tendenzen zur Desintegration, Destabilisierung, und Selbstentfremdung entgegenzuwirken und die ständig drohende Depressivität abzuwehren. Zunächst versucht er, die Neigungen, die seinen Seelenfrieden bedrohen, in seine Gesamtpersönlichkeit zu integrieren und möglichst die tendenziell antisozialen Mächte sozial akzeptabel zu machen. Z.B. versucht er, sein Erkenntnisstreben in sein Welt- und Selbstbild zu integrieren. Zu diesem Zweck nutzt er den schulischen Unterricht, der ihm ja auch die Möglichkeit bietet, durch seine intellektuellen Leistungen Anerkennung zu gewinnen, wobei nicht vergessen werden darf, daß das Streben nach Anerkennung durch Leistung niemals an sich die Bestätigung ersetzen kann, die man durch Freundschafts- oder Liebesbeziehungen gewinnt. In einigen Aufzeichnungen vom 6. August bis Oktober 1859 (BAW 1, 116-155) stellt er ein ganzes Selbstbildungs- und Studienprogramm auf und reflektiert über das harte, aber auch nützliche Schulleben. Zwar seien die Schuljahre schwere Jahre, weil sich „der frische Geist in engen Schranken schließen" müsse, es komme aber „auf eine gute Benutzung derselben an; die Hauptregel ist, daß man sich in allen Wissenschaften, Künsten, Fähigkeiten gleichmäßig ausbildet und zwar so daß Körper und Geist Hand in Hand gehen. Man muß sich sehr vor Einseitigkeit des Studiums hüten." (127) Hier weht der klassische Geist des deutschen Neuhumanismus. Es ist die Vorstellung von dem ganzen Menschen, dessen Kräfte harmonisch integriert werden sollen. Hütet man sich vor Einseitigkeit, dann „steigen herrliche Früchte aus dem Baume der Wahrheit von einem Geiste beseelt, von einer Sonne beleuchtet hervor" (ebenda). Die Sonne, deren Bedeutung sich parallel mit Nietzsches geistig-seelischer Entwicklung ändert, ist jetzt nicht mehr Jesus oder die Mutter, sondern hat den Charakter des Humboldtschen Wissenschaftsideals angenommen: Die Wahrheit ist eine ganze, und die Suche nach Wahrheit beseelt, belebt und stärkt den Charakter. Durch diese Zentralsonne schützt sich Nietzsche vor der Abspaltung der Erkenntnis von anderen Kräften seines Selbst. Die gedankliche Verwandtschaft mit der früher zitierten Stelle aus der Fröhlichen Wissenschaft ist nicht zu übersehen. Eine Zeitlang schwärmt Nietzsche in den vom deutschen Neuhumanismus geprägten idealischen Vorstellungen, die einigermaßen bruchlos die christliche Weltanschauung ersetzt zu haben oder damit verschmolzen zu sein scheinen, die aber auf jeden Fall eine Tendenz zur Verweltlichung seines Denkens bedeuten. Diese Verweltlichung kann auch an der Entwicklung der Reflexionen über das Vergehen der Zeit abgelesen werden. So heißt es in einer Tagebuchaufzeichnung vom 23. August 1859: „Der Herbst erinnert mich immer an meine zukünftige Stellung in der Welt; denn die Jugend soll dann noch Früchte tragen. Aber es ist mir ein schrecklicher Gedanke, dann nur zu genießen, was einstige Mühe heimgebracht. Meine Seele muß im ewigen Frühling stehen, denn wenn erst die rosige Blüthenzeit vorüber ist, dann ist auch mein Leben vorüber. Wie schwer wird es mir, den irdischen Frühling zu missen, aber um wie viel bittrer ist jenes!" (BAW 1, 137) Der hier gemeinte Gegensatz ist trotz des Wortes „irdisch" nicht der christliche irdischer gegen den ewigen Frühling, wo der irdische Frühling nur ein Vorbote und Symbol des noch herrlicheren ewigen ist, der erhofft und erwartet wird. -
Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Christentum
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Sondern der hier gemeinte Gegensatz ist der zwischen der Jugend einerseits, die als ein Frühling erfahren wird, wo alles noch Freude, Hoffnung und Erwartung ist, und dem Lebensherbst des Erwachsen-Seins andererseits, der zwar Erfüllung ist, aber auch ein Ende ohne Zukunftshoffnung und Erwartung bedeutet, weil die Jenseitsperspektive fehlt. Ein Verweilen am Besitz erlebt der noch nicht fünfzehnjährige Nietzsche schon im Faustschen Sinne als seelischen und geistigen Tod. Unzweifelhaft wird Nietzsches unmittelbares emotionales Erleben immer stärker von einer Weltanschauung geprägt, die sich vom christlichen Denken entfernt. Christliche Heilsvorstellungen von Jenseits, Erlösung und Auferstehung bekommen nun immer mehr entweder den Charakter wortmagischer Heraufbeschwörung einer schon wirkungslos gewordenen Problemlösungsstrategie oder nehmen den Charakter routinemäßig eingesetzter poetischer Stimmungsrequisiten an, was nicht heißt, daß es sich um adressatenbezogenen Opportunismus handeln muß, es aber auch nicht auschließt. Was wortmagische, suggestive Selbsttröstung, bequeme Rücksicht auf die herrschenden offiziellen Wahrheiten seiner sozialen Umwelt oder schonende Rücksicht auf die Gefühle seiner Verwandten ist, ist schwer zu unterscheiden, kann er wohl in dieser Übergangsphase kaum selber entscheiden. Neben dem Streben nach harmonischer Versöhnung von Gegensätzen im Bereich der Persönlichkeit, der Weltanschauung und der Beziehung zur Umwelt und dem Streben nach Anerkennung durch intellektuelle, schulische Leistungen tritt aber immer stärker eine andere Tendenz hervor, die sich schon in den Texten des Kindes bemerkbar macht, und zwar die Tendenz zur narzißtisch selbstprofilierenden Kultivierung seines Andersseins und damit verbunden die Tendenz, verachtungsvoll seine soziale Umwelt als geistlos und gemein abzuwerten. In dieser Tendenz bündeln sich gleichsam die inneren Triebkräfte, die hinter seiner Lebens- und Selbstbildungsstrategie wirken. Die gemeine Welt, von der er sich verächtlich absetzt, ist nicht die christlich verstandene irdische, sündhafte Welt, sondern weist immer mehr die Züge der bornierten und philiströsen Welt seiner christlichen Verwandten auf, und die Perspektive, aus der er diese gemeine Welt wertet, ist nicht eine christliche, sondern ist beherrscht von der grandiosen SelbstIdealisierung des Narziß. Das narzißtische, forciert-reaktive Selbstbild, das eine tiefer liegende Selbstverachtung verdeckt und kompensiert und dessen Außenseite die antisozialen Attitüden und Verhaltensweisen sind, werden von seinen negativen Erfahrungen mit dem Internatsleben, die Hermann Josef Schmidt in ihrer Bedeutung detailliert nachgewiesen hat, verstärkt, und Nietzsche modelt nun sein Selbstbild weitgehend an grandiosen Männer- und Jünglingsgestalten aus der Literatur. Solche idealischen und weltverachtenden Männer und Jünglinge gab es in der damaligen neueren deutschen Literatur in Fülle. Sie erstrecken sich von Goethes Werther, Tasso und Faust über Schillers Karl Moor und Marquis Posa bis zu Hölderlins Hyperion und Empedokles. Auch Byron steuerte mit seinem Manfred zu dieser Galerie idealischer und problematischer Männer und Jünglinge bei. Ganz besonders fasziniert ihn Schillers Drama Die Räuber, mit dem er sich im Herbst 1859 beschäftigt. In diesem Werk sieht er einen „Titanenkampf gegen Religion und Tugend, bei dem aber doch die himmlische Allgewalt einen endlos tragischen Sieg erringt. Furchtbar ¡st zuletzt die Verzweiflung des unendlichen Sünders [...] Wie herrlich die Sonne untergeht; Moor. So stirbt ein Held, anbetungswürdig!" (BAW
1,137)
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Statt der retrospektiven Sehnsucht des pubertierenden Jungen nach dem bald verlorengegangenen Glück seiner Kindheit und statt der prospektiven Hoffnung des alumnus portensis, die Früchte seiner Bildung und seiner Erkenntnis zu ernten, herrscht hier die Faszination vor dem tragischen Untergang eines grandiosen Außenseiters, der sich gegen die Weltordnung gestellt hat. Dieser Wechsel des Ideals ist Indiz der sich verändernden emotionalen Orientierung und der Veränderung seines Welt- und Selbstbildes und seiner Problemlösungsstrategie, Indiz der Änderung dessen, was er später Wertschätzungen nennt. Diese Veränderung, die immer stärker zum Tragen kommt, bedeutet auch eine veränderte Ästhetik und eine Veränderung der Gestaltung der Zeiterfahrung. Statt der traditionellen sentimentalisch-elegischen Trauer um ein versunkenes und als idyllisch vorgestelltes Glück der Harmonie zwischen Ich und Welt, das künstlerisch, mythisch oder christlich religiös restituiert werden soll, werden immer mehr gerade der Verlust, der Schmerz, der Untergang selbst zum ästhetischen Moment.1 Das Ertragen des Leidens wird zum wesentlichen Teil seines männlichen Selbstgefühls und Selbstbewußtseins. Trotzig wird das Leiden an der fehlenden Anerkennung und am NichtVerstanden-Werden uminterpretiert: Nun beweist ihm gerade die Nicht-Anerkennung von Seiten anderer seine Potenz, Einmaligkeit und Höherwertigkeit. U.a. durch solche Auslegung des Leidens und der Sozialität rechtfertigt Nietzsche sich selber. Wieder hat die Bedeutung der Sonne gewechselt: Ihr Wert ist jetzt dem tragischen Untergang zu verdanken. Die neue, gefühlsmäßige Orientierung bedeutet aber nicht, daß die alten Wertschätzungen ausgelöscht werden. Das Katastrophale ¡st eben, daß eine fundamentale emotionale Spaltung eintritt, die ihn einer ständigen Ambivalenz ausliefert. Die narzißtischselbstidealisierende märtyrerhafte Kultivierung des Leidens hat aber noch Momente eines Kompromisses, der es möglich macht, die emotionale Spaltung zu überbrücken, denn als Märtyrer kann er sich sowohl im Rahmen einer christlichen Weltdeutung als auch im Rahmen seines nun sich herausbildenden tragisch-heroischen Weltbildes Wert zuschreiben und sich rechtfertigen. Die Geste des ecce homo in dem Buch mit diesem Titel ist der Versuch einer ultimativen Verschmelzung von christlichem mit säkularisiertem Leidenspathos. Eine entscheidende Erweiterung des Bewußtseins- und Bildungshorizontes erfolgt, als Nietzsche sich mit geschichtsphilosophischen Fragestellungen zu befassen beginnt. Die Beschäftigung mit Geschichtsphilosophie kann aus vielen Gründen nicht überraschen, gehören doch deutsche spätaufklärerische und bildungsphilosophische Vorstellungen von der Entwicklung der autonomen Persönlichkeit sowieso von Hause aus eng mit geschichtsphilosophischen Spekulationen zusammen, die dem Streben des Individuums nach Selbstverwirklichung eine allgemeine, menschheitliche und universalgeschichtliche Perspektive geben wollen. Diese universalgeschichtliche Perspektive kann im Kontext der soeben skizzierten Problematik zum Teil auch als Schutzwall gegen die Entartung des Autonomiestrebens in einen offenen, narzißtisch-anarchistischen Individualismus gedeutet werden. 10
Zum Problem der ästhetischen Gestaltung von Zeit- und Abschied. Theorie der Trauer, Frankfurt/M. 1996.
Verlusterfahrungen:
K. H.
Bohrer, Der
Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Christentum Die
Auseinandersetzung
fällt, bedeutet den
mit der
ersten Versuch
Geschichtsphilosophie,
151
die in das
Frühjahr
1861
Nietzsches, seine Gedanken über sich selbst und die
großen Existenzprobleme philosophisch zu sammeln und zu ordnen. Zunächst dienen die geschichtsphilosophischen Reflexionen anscheinend demselben versöhnlichen Zweck wie die Bildungsphilosophie. Ihr Ergebnis ist aber die philosophische Ablehnung des Christentums als Grundlage seines Selbst- und Weltbildes, seines Selbst- und Weltverhältnisses und seiner Lebensstrategie. Die einschlägigen Texte sind die folgenden: eine Schularbeit, Jäger und Fischer, vom März 1861 (BAW 1, 232f.); ein Beitrag für Germania: Die Kindheit der Völker, vom März 1861 (BAW 1, 235f); ein Beitrag
für Germania, der Ostern 1861 entstand und dessen zwei Abschnitte Fatum und Geschichte und Willensfreiheit und Fatum (BAW 2, 5AÍ.) betitelt sind; ein Fragment eines Briefes an einen Freund, das sich thematisch den beiden letztgenannten Schriften anschließt und wahrscheinlich um dieselbe Zeit geschrieben ist (BAW 2, 63) und schließlich einige autobiographische Entwürfe, Mein Lebenslauf'(BAW 1, 276f). Es ist mir hier leider nur möglich, auf den Text Fatum und Geschichte^ näher einzugehen. In diesem auch von dem amerikanischen Philosophen Emerson beeinflußten Text stellt Nietzsche zunächst fest, daß es unmöglich ist, sich von den christlichen Vorurteilen zu befreien, mit denen man erzogen ist und die man in seiner Kindheit unbewußt internalisiert hat. Es bleibt dabei in der Schwebe, ob die Schwierigkeiten mehr intellektueller oder emotionaler, willensmäßiger Art sind: Ist es schwierig, die christlichen Vorurteile durch natürliche Wahrheiten zu ersetzen, weil es solche nicht gibt, bzw. weil der Intellekt nicht ausreicht, oder hat man wegen der schon stattgefundenen christlichen Beeinflussung des Willens und des Selbst nicht den Mut, den hinreichenden Willen, die Potenz, um sich von diesen Vorurteilen zu befreien? Mehrere Formulierungen lassen vermuten, daß es eher die zweite Alternative ist, die sich der Überwindung des als Vorurteil erkannten Christentums entgegenstellt. Wir sind von unseren ersten Tagen an so eingeengt „in das Joch der Gewohnheit und der Vorurtheile, durch die Eindrücke unsrer Kindheit in der natürlichen Entwicklung unsers Geistes gehemmt und in der Bildung unsres Temperaments bestimmt", daß wir glauben, ,,[e]s fast als Vergehn betrachten zu müssen, wenn wir einen freieren Standpunkt wählen, um von da aus ein unparteiisches und der Zeit angemessenes Urtheil über Religion und Christentum fallen zu können." (BAW 2, 54) Später heißt es: „Wir sind beeinflußt worden, ohne die Kraft zu einer Gegenwirkung in uns zu tragen, ohne selbst zu erkennen, daß wir beeinflußt sind. Es ist ein schmerzliches Gefühl, seine Selbstständigkeit in einem unbewußten Annehmen von äußern Eindrücken aufgegeben, Fähigkeiten der Seele durch die Macht der Gewohnheit erdrückt und wider Willen die Keime zu Verirrungen in die Seele gegraben zu haben." (BAW 2, 58) Man erkennt hier unschwer Züge des Münchhausen-
problems. Der junge Mann, der mit christlichen Vorstellungen aufwuchs und in einem ängstlich auf bürgerliche Wohlerzogenheit achtenden Ambiente Lutherscher manipulativer Pädagogik ausgesetzt war und der jetzt von aufklärerischer Philosophie, dem deutschen Neuhumanismus, der deutschen Klassik, der idealistischen Geschichtsphilosophie und Emerson inspiriert und durch seine Erfahrungen mit den sexuellen Trieben verängstigt -
11
Siehe auch J.
Kjaer, Nietzsche,
107f.
Jörgen Kjaer
152
zu erkennen, ein eigenes Selbst Wesenskräfte entfalten und den Sinn der Geschichte zu zu zu bilden, seine eigenen ergründen, erfahrt es trotz dieses Willens als ein Ding der Unmöglichkeit, sich von der tiefgehenden, emotionalen, hinter seinem Rücken wirkenden christlichen Beeinflussung zu befreien. Es ist jedenfalls, wie er es formuliert, „nicht das Werk einiger Wochen, sondern eines Lebens." Schon den Willen zur Befreiung von den Wirkungen dieser Beeinflussung muß er spontan als Vermessenheit, christlich ausgedrückt als Sünde, auffassen. Sowohl die Erkenntnisraster, durch die er die Welt zu verstehen gelernt hat, als auch die gefühlsmäßige und moralische Bewertung der Welt als auch die erlittene Schwächung des Willens, des Mutes und des Selbst verhindern den Durchbruch ins Natürlich-Vernünftige. Der Ausgangspunkt der Betrachtungen ist ganz deutlich ein spontanes Gefühl, ohnmächtig dem Fatum der Verhältnisse seiner Kindheit ausgeliefert zu sein. Der Text bezeugt somit insofern eine Spaltung des Gefühls, als einerseits die christliche Gefühlswelt seiner Kindheit noch nachwirkt und er andererseits Eigenschaften, Werte und Strebungen wie das Streben nach natürlicher Erkenntnis, nach männlicher Selbstverantwortung und auch ekstatische Exaltation zur Grundlage einer neuen Identität und einer neuen Lebensstrategie macht und von da aus mit Kritik und Verachtung auf seine frühere kindliche Gefühlswelt zurück- und herabblickt. Obwohl der Text am Anfang die Herrschaft der nachwirkenden christlichen Gefühle resigniert feststellt, sind die dominierende Intention und die Leidenschaft des Textes und der darin sich bekundende Wille jedoch deutlich den neuen Strebungen und Wertschätzungen zugewandt. Es ist für das Verständnis von Nietzsches emotionaler Bewertung des Christentums entscheidend, daß die Kindheit aus der neuen Perspektive des jungen Mannes nicht mehr in dem verklärten Lichte des elegischen Rückblicks erscheint, sondern vor allem als eine prosaische Welt, die gerade den seelischen Aufschwung verhindert. Wo das Christentum ihm in seiner Kindheit die Welt mythopoetisch verzauberte, so erscheint es ihm jetzt, wo die neuen Wertschätzungen dominieren, als Inbegriff prosaischer Entzauberung der Welt, und was früher als Heilmittel gegen depressive Stimmungen, Ängste und Schuldgefühle diente, wird nun als geistloser, niederdrückender und prosaischer Alltag verstanden, ja sogar als Ursache seiner depressiven Verstimmtheit. Es ist ohne Zweifel die kleinbürgerliche, ängstlich auf soziale Reputation bedachte, jedes abweichende Benehmen verpönende Abart christlicher Welt-, Menschen- und Lebensdeutung, die Nietzsche jetzt nachträglich als das dominierende Charakteristikum seiner sozialen Umwelt diagnostiziert, wobei er entsetzt entdeckt, daß diese ihn hinter seinem Rücken kontaguös beeinflußt und ihn sowohl daran gehindert hat, die Welt wie auch sich selbst auf natürliche Weise zu erkennen, als auch daran, sich seinen ekstatischen Phantasien hinzugeben und seine schöpferische Potenz authentisch zu entfalten. Diese desillusionierende Entdeckung ist m.E. die zweite und entscheidende Verlust- und Enttäuschungserfahrung im Leben Nietzsches, die erst seine Kindheitstraumen zu vollem Durchbruch brachte. Das neue Selbst- und Weltbild und die neue Lebensstrategie devaluieren und entlarven das alte Welt- und Selbstbild, ja liefern es der Verachtung aus, ohne es aber ein für allemal depotenzieren und entwerten zu können. Die kritische Erkenntnis der Borniertheit, der Trivialität und der integritätsverderbenden Einflüsse sei-
den
Drang spürt,
die
natürliche, vernünftige Wahrheit
Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Christentum
153
Elternhauses setzt die neuen Wertschätzungen voraus, aber Nietzsche kann trotz seiner Erkenntnis und trotz der neuen Wertschätzungen zeitlebens nicht die mythopoetisch-idyllische Atmosphäre seiner Kindheit vergessen, und er kann sie nicht verleugnen, ohne das Gefühl zu haben, er verleugne, kränke, quäle und verrate einen wesentlichen Teil von sich selber und verbaue seine Lebensquellen. Daher ist es ihm auch nicht möglich, die engverbundenen Zentralsonnen dieses Weltbildes, Jesus, den Vater und seine Mutter, konsequent abzuwerten und zu verleugnen, sie sind ein integrierter Teil seiner Wertschätzungen geworden. Wenn diese Wertschätzungen aktiv werden, strahlt ihm die Kindheit im idealisierenden Licht der Erinnerung an das Verlorengegangene als eine Welt der Harmonie. So scheint diese Kindheitswelt noch in einem resignierten Stoßseufzer auf. Aber Nietzsche kann nicht umhin, seine Flucht nach vorn in Münchhausens Sumpf fortzusetzen. Daß die Absage an die Welt der Kindheit und den Trost des kindlichen Glaubens ihm Leiden bringen wird, weiß er, aber da das Leiden nunmehr zum Indiz seiner Höherwertigkeit umgedeutet wird, so zieht ihn unter Umständen das Leiden mehr an, als es ihn abschreckt, und von diesem Standpunkt aus erscheint ihm nun die Sehnsucht zurück ins christlich Tröstliche als Schwäche und Feigheit. Wenn die entgegengesetzten Gefühle herrschen, erscheint ihm aber sein Erkenntnistrieb als zynisch und destruktiv. Die Rechnung geht nicht auf. Das exklusive und auszeichnende Leiden an der Welt reicht nicht hin, um das verlorene Selbstwertgefühl und den verlorenen mythischen Horizont überzeugend und stabil zu kompensieren. Wegen der Ambivalenz muß Nietzsche immer einen Teil von sich selber verachten. Diese Problematik wird um so intrikater, als die Kultivierung des Leidens als Moment der Selbstrechtfertigung und Sinngebung sich immer fester mit dem Wahrheitspathos verknüpft. Die besondere Qualität und Potenz seiner Existenz findet Nietzsche immer entschiedener in seiner Erkenntnispotenz und in seinem Erkenntnisethos. Wahrheit war aber zuerst und vor allem etwas Spontanes und ihm quasi passiv Widerfahrenes: die Desillusionserfahrung. Dann wurde sie ihm Mittel zur Abwehr von kontaguösem Einfluß von außen und in Vereinigung mit seinem Leidenskult Mittel eines offensiven Sich-Distanzierens von der gemeinen Welt. Immer ist aber dieser Wahrheitsstrategie das Moment der Verlust- und Enttäuschungserfahrung inhärent. Indem Nietzsche neue Wahrheiten entdeckt oder entschleiert, reaktiviert er frühe Enttäuschungserfahrungen. Schließlich sieht Nietzsche ein, daß dieses Wahrheitsspiel destruktiv und selbstdestruktiv ist, und daß er auf diese Weise keineswegs sich selbst zu rechtfertigen und seinem Leben Sinn zu geben vermag. So will er die Wahrheit abschaffen, um die konstruktiven schöpferischen Kräfte zum Tragen kommen zu lassen, aber sie tragen eben nicht. Genau wie man sich selber nicht rechtfertigen kann, kann man auch nicht durch puren Entschluß existentielle Wahrheitserfahrungen aus der Welt schaffen. Die erfahrene Wahrheit sind eben die Verlust- und Enttäuschungserfahrungen, hierunter die Erfahrung des Selbstverlustes, der Ohnmacht, der Kränkung, der kontaguösen Infektion des Selbst durch fremde Einflüsse, es sind Erfahrungen, die zum Mißtrauen gegen andere Menschen und zur Angst vor nahen Beziehungen führen. Insofern diese Wahrheiten nicht durch alternative Erfahrungen mit positiven Beziehungen zu anderen Menschen wettgemacht werden, dominieren sie eben, verder-
nes
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Jörgen Kjaer
ben alle mitmenschlichen Beziehungen und strafen alle Versuche Lügen, diese erfahrenen Wahrheiten zu verleugnen. Wie gesagt: Nietzsches Kult des Leidens kann man als säkularisiertes christliches Erbgut deuten. Auch viele andere Aspekte der Philosophie des späteren Nietzsche wie z.B. sein Wahrheitsethos und -pathos kann man als solches verstehen, wie Nietzsche selber meint. Es wäre aber grundfalsch, daraus zu folgern, Nietzsche bliebe also in irgendeinem Sinne doch Christ und vermeide den ultimativen Bruch mit dem emotional stark besetzten mythopoetischen christlichen Horizont durch eine Spaltung des Christentums, zunächst durch eine Spaltung in eine männliche und eine weibliche Version, dann durch eine Spaltung in die authentische und konsequente Lebenspraxis Jesu und die verfälschende Uminterpretation seiner Lehre und seines Lebens durch die Jünger, vor allem durch Paulus. Eine solche Konklusion würde allzu kurz greifen, denn Nietzsche verstößt durch die in diesem Artikel skizzierte Lebens- und Selbstbildungsstrategie der Selbstrechtfertigung radikal gegen den Kern des Lutherschen Christentums, und zwar gegen die Rechtfertigungslehre. Aus der Perspektive dieser Lehre ist auch das, was bei Nietzsche christliches Erbe ist, radikal unchristlich bzw. pervertiertes christliches Erbe. Aus dieser Perspektive sind die drei Gedanken- und Wertschätzungskomplexe, die Nietzsches Philosophie dominieren und in den Texten Fatum und Geschichte schon angedeutet werden, nämlich samt und sonders Ausdruck des hochmütigen Willens eines Menschen, sich selber zu rechtfertigen. Es handelt sich um folgende drei Komplexe: zum einen eine radikalisierte Aufklärungsphilosophie, die im Streben nach Wahrheit kompromißlos Vorurteile aufdecken will und bei dem späten Nietzsche zu einer Art Naturalismus führt, der sowohl eine Psychologie als auch eine Körperphilosophie sowie eine manchmal positivistisch anmutende Wissenschaftstheorie umfaßt, zum zweiten eine Existenzphilosophie, die den Mut und den Willen betont, sein Leben selbstverantwortlich zu gestalten und sein Selbst zu bilden bzw. wachsen zu lassen. Diese Philosophie des Selbst hat neben Wurzeln im antiken Denken und im Lutherschen Protestantismus auch Wurzeln in den Spekulationen der Spätaufklärung über den mündigen Menschen. Auch hier spielt das Wahrheitspathos eine große Rolle, es geht um die Wahrhaftigkeit und Redlichkeit des Denkens und des Lebens. Zum dritten erscheint sie als eine von der griechischen Tragödie, der deutschen Romantik und der christlichen Mystik inspirierte, ekstatisch visionäre Philosophie, deren höchste Steigerung die Vision der göttlichen Selbst- und Welterschaffung ist. Für alle drei Problemkomplexe gilt, daß sie eine Kritik der konventionellen christlichen Moralität und Humanität enthalten, die die Augen vor dem Leiden und der tragischen Dimension des Daseins verschließt und eine verlogene Theodizee konstruiert, die das Leiden der Menschen nicht ernst nimmt bzw. zu eigenen Machtzwecken ausbeutet. Wahrheit im emphatischen Sinne soll bei Nietzsche immer Einsicht in das Leiden und die Bereitschaft implizieren, sich mit dem Leiden des Daseins zu konfrontieren. Auf Schritt und Tritt versagen die guten und gerechten Christen vor den Ansprüchen ihres eigenen Glaubens, nicht zuletzt vor dem radikalen
Wahrheitsanspruch.
Mit dieser Kritik hat Nietzsche ungeheuren Erfolg gehabt. Konventionelle christliche Moralität hat seitdem schwere Legitimationsprobleme. Nietzsches Philosophie
Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Christentum
155
an einer inneren Problematik, die paradoxerweise eher Konvergenz als Divergenz mit konventioneller protestantischer Christlichkeit impliziert. Die Philosophie Nietzsches ist, wie ich nachzuweisen versucht habe, vom Willen zur Selbstrechtfertigung durchtränkt und widerspricht daher dem Kern der Lutherschen Lehre. Genau in diesem Punkt konvergiert Nietzsche aber paradoxerweise mit dem Denkmuster und der Praxis konventioneller protestantischer Christen, denn sie haben auch nicht die Luthersche Rechtfertigungslehre verstanden und beherzigt und haben das Moment der geistigen Befreiung, das in der Lutherschen Lehre beschlossen lag, verkannt und verraten, weil sie in ihrer Kindheit selber die Opfer des oben angedeuteten inneren Widerspruchs der Lutherschen Lehre waren. Daher steckt auch der konventionelle Protestant radikal in der Problematik, sich Anerkennung verschaffen zu müssen, und zwar durch frommes Benehmen, gute Werke, Leistung usw. Während Nietzsche die Selbstrechtfertigungs- und Ressentimentsproblematik des moralisierenden Christen mit nicht überbietbarem psychologischen Scharfsinn analysiert, ist er vor der entsprechenden Tendenz seiner eigenen Philosophie meistens vollständig blind, seine Kritik hat sogar Züge der Projektion. So kann man weitgehend Nietzsches Ressentimentskritik auf seine eigene Philosophie anwenden. In diesem Sinne kann man Nietzsche als Erbe eines depravierten Protestantismus auffassen. Beurteilt man Nietzsches drei Gedankenkomplexe aus der Perspektive einer tiefer verstandenen Lutherschen Rechtfertigungslehre, handelt es sich, wie gesagt, um den denkbar krassesten Gegensatz: Nietzsche will sich durch seine Vernunft über Gott erheben und vermißt sich, im Lichte seiner eigenen, nur allzumenschlichen Intelligenz die göttliche Allmacht zu beurteilen und über ihre Existenz und Gerechtigkeit zu befinden; durch den Willen zur Selbstverantwortung und Selbstbildung will er sein Da-
leidet aber
sein sich selber und nicht Gott zu verdanken haben, und durch die Ekstase will er sich im Gefühlsrausch Gott gleich machen, sich selber vergöttlichen, sich selber erschaffen, anstatt sich als ein Geschöpf Gottes zu betrachten. Abschließend sei auch kurz auf einen anderen wesentlichen Aspekt eines substantielleren Christentums hingewiesen, an dem gemessen Nietzsche mit dem pervertierten, konventionellen Christentum mehr teilt als mit einer christlichen Daseinsauslegung, die immer noch als Weisheit erfahren und gelebt werden kann, und zwar auf die Bedeutung des Leidens. Das Christentum auf die Position zu reduzieren, daß es das Leiden verleugnet und den Gläubigen damit beruhigt, Gott habe alles gut gemacht bzw. er habe jedenfalls für die Guten und Gerechten gesorgt, ist eine Verleugnung der Tatsache, daß für Jesus nicht nur der Leidende, sondern auch der Sünder dem Reich Gottes näher ist als der Glückliche und der Gerechte und daß nur der Leidende und der Sünder die göttliche Wahrheit und Liebe erfahren können. Wie ich an anderer 11 Stelle nachzuweisen versucht habe, ist Nietzsches Leben und Denken nicht durch den Willen und durch die Fähigkeit dazu gekennzeichnet, sich mit seinen eigenen wirklichen Leiden vor allem seinem Leiden an seiner Ohnmacht und an seiner fehlenden Liebesfähigkeit zu konfrontieren, sondern eher dadurch, daß er ständig bemüht ist, seine wahren Leiden zu verleugnen oder zu einem Moment einer grandiosen -
-
12
Vgl.
J.
Kjaer, „Zarathustras
sten'", in:
Nachtlied und der III.
Nietzscheforschung, Bd.
Dionysosdithyrambus ,Von
der Armut des Reich-
156
Jörgen Kjaer
und souveränen Lebensbemeisterung umzudichten. Selbstrechtfertigung, Wahrheitsund Leidenspathos sowie Selbstheroisierung und Selbstvergöttlichung sind bei Nietzsche drei Seiten einer Medaille. Daher depraviert sein Leidenspathos seine Liebesfähigkeit, und anstatt ihn für das Leiden anderer Menschen konstruktiv zu sensibilisieren, wird es Teil einer Strategie, die geradezu seine angeborene Sensibilität abstumpft und das Mitleid grundsätzlich als eine Schwäche denunziert und bekämpft.
Volker Ebersbach
Nietzsche
Ein Grieche unter Römern -
Vorchristliche Fundamente in Nietzsches Kritik am Christentum
„Die Schönheit hat ein Naturrecht darauf, den Menschen
zu gebieten, während die Macht nur über ein Recht verfugt, das mit Gewalt erobert wurde", läßt Bernard de Fontenelle in seinen „Totengesprächen" die Hetäre Phryne zu Alexander dem Großen sagen.
Drei Danksagungen sind hier angebracht. Die erste gilt meinem am 28. Februar 1999 verstorbenen Doktorvater, dem Gräzisten Ernst Günther Schmidt, die zweite dem Satiriker T. Petronius Arbiter. Nietzsche schätzte ihn besonders, den „Meister des presto in Erfindungen, Einfallen, Worten" ,jenen anmuthigsten, übermütigsten Spötter Petronius"2, in dessen Fragmenten „hellster Himmel und trockene Luft"3, „Derbheit und Délicatesse"4 beisammen sind, ein „eigentlich heidnisches Buch"5, bei dessen Lektüre man nach dem Neuen Testament „aufathmet" Daß er nicht nur die Kultur der römische Kaiserzeit kritisierte, sondern auch eine bloß moralisierende Zeitkritik sarkastisch verhöhnte, war Gegenstand meiner Arbeiten über Petron. Die Gestalten seines „Satyricon" waren Griechen unter Römern. Dank sei auch Hermann Josef Schmidt, der mich zu diesem Kolloquium eingeladen und zu meinem Thema ermutigt hat. ...
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1.
Frühe
Labyrinthe
Wie die äußersten Blätter eines Baumes mit dessen Wurzeln hängen auch die letzten Gedanken Nietzsches mit seinen biographischen Wurzeln zusammen. Ohne das Schicksal der Familie, in der er aufwuchs, wäre die frappante Selbständigkeit, mit der er im Bildungsangebot seiner Zeit das Schicksalhafte wählte, kaum zu erklären. Das ist lange KSA, JGB, 5, 47. KSA, AC, 6, 224. KSA, NF, 11,265. KSA, NF, 11,444. KSA, NF, 12,416. KSA, NF, 12,496.
Volker Ebersbach
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nicht beachtet, von Martin Heidegger bestritten, aber inzwischen durch Hermann Josef Schmidt, Rudolf Kreis und Jörgen Kjaer aufschlußreich untersucht worden. Mit der Grundfrage, der Nietzsche schließlich die gesamte Kultur-, Philosophie- und Menschheitsgeschichte unterwirft, die nach dem Ja oder dem Nein zum Leben, bezieht er einen nicht nur vorgeburtlichen, sondern sogar noch vor dem Gezeugtwerden liegenden Standort. Nietzsche übertrumpft hinsichtlich des „décadents" das „Bibelverbot ,du sollst Niemand von uns wird gefragt, ob er nicht todten!'" mit: „ihr sollt nicht leben möchte, wo er leben möchte, niemand kann seine Eltern und Geschwister wählen. Die tragisch-dionysische Weisheit des Silenos, niemals geboren zu werden, sei das Beste, hat Nietzsche ein Leben lange nicht losgelassen. Nietzsche selbst hat uns mit seiner späten Schrift Ecce homo eingeladen, sein Denken auch biographisch zu sehen. In seiner nachgelassenen Abhandlung Die Philosophie im tragische Zeitalter der Griechen spitzt er die Gründe zu, aus denen er sich in seiner philologischen Hauptarbeit den „Quellen des Diogenes Laertios" zuwandte, der einem spätantiken Publikum „Leben und Lehre der Philosophen" kredenzte: „Aus drei Anecdoten ist es möglich, das Bild eines Menschen zu geben." An den „Systemen, die widerlegt sind", schickt er kühn voraus, könne „uns eben nur das Persönliche interessieren"8, „der große Mensch"9. Über sich selbst schwankt er zwischen dem Stolz auf seine elterliche Herkunft und einem heimlichen Verdacht gegen die „décadance" darin, die er 1888 endlich überwunden meint.10 Doch ohne den schmerzlichen Verdacht gegen die eigene Genealogie, ohne eine heimliche Scham, bleiben seine gedanklichen Skizzen über „Zucht und Zuchtwahl" unverständlich oder in der bekannten vulgarisierenden Weise mißbrauchbar. Seine Vivisektion der Priesterseele wäre undenkbar ohne ihre Intimkenntnis aus früher Umgebung und Selbsterfahrung. Gerade die schroffsten Infragestellungen Nietzsches sind Projektionen seiner Selbstinfragestellung. Fernab aller Stilisierung und Verdächtigung sehen wir Nietzsches Vater als einen feinen, hoch gebildeten, beinahe asketisch vergeistigten, zur Hypochondrie neigenden und schließlich wirklich todkranken Landpfarrer, der aber als Erzieher der Altenburger Prinzessinnen auch Hofluft geatmet hatte. Ihm mußte sich nach dem Gesetz der Zeit eine blutjunge, zwar als Pfarrerstochter ebenfalls zutiefst fromme, aber doch wenig gebildete, dafür allerdings sehr lebenslustige sit venia verbo Landpomeranze unterordnen. Auch ohne den frühen Tod des Vaters wäre diese Komposition der Anlagen verhängnisvoll geworden: In einem ländlichen Pfarrhaus, Mitte des 19. Jahrhunderts, war eine kindliche Psyche, in der geistige Lebhaftigkeit und temperamentvolle Vitalität zusammengefunden hatten, sofort von schrecklichen Tabus umstellt. Der frühe Tod des Vaters legt in das Verhängnis nur eine zusätzliche Komponente. Das Kind hält sich gern in Vaters Arbeitszimmer auf, empfangt vom Klavierspiel des Vaters die ersten musikalischen Eindrücke, erlebt als einer, der das Beten gerade lernt, den Vater als Gottesmann, sieht ihn zur Predigt auf die Kanzel über dem Altar der Rök-
zeugen!"7.
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8 9
10
KSA,NF, 13,594,600,611. KSA, PHG, 1,803. Ebenda, 802. KSA, EH, 6, 266.
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Nietzsche
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kener Dorfkirche treten, erlebt ihn als „Gott im Glänze"11. Und dieser Gott so nahe, Gott ähnliche, im Gottesdienst gottgleiche Vater wird krank und stirbt, erscheint dem Knaben wenig später im Traum als aus dem Grab gestiegener Räuber des jüngeren Brüderchens, des, wie sich bald herausstellen soll, einzigen männlichen Komplizen im Haushalt, und auch das Brüderchen stirbt. Wie nachhaltig sich dieses frühkindliche Erlebnis auf das Leben und das Erleben des heranwachsenden Gymnasiasten, des Theologiestudenten, des Philologen, des Philosophen auswirkt, das ist nach den Feststellungen von Rudolf Kreis und Hermann Josef Schmidt schon ein Gemeinplatz geworden. Nietzsche hat den Tod des Vaters im Lauf seines Lebens und Denkens nach und nach, von Erinnerung zu Erinnerung, so Kreis 1986, als „Selbstaufhebung Gottes"12 erlebt. Zunächst überwiegt Trauer. Die eigene Trauer ist den Trauerbekundungen einer schlagartig total verweiblichten Familie ausgesetzt. Sie bestürmt das Kind mit ihren Verzweiflungen und ihren aus der Religion gewonnenen, schwer verständlichen, im Grunde unlogischen Tröstungen. Die Religion, die Gebete und Kirchenlieder und der Herrgott selbst werden gerade in diesen Tröstungen mit Verlust und Trauer befrachtet, mit unbeantwortbaren und, wie sich herausstellt, unerlaubten Fragen. Ist Gott allmächtig, wenn er einem das Unersetzliche nimmt? Ist er gut, wenn er in seiner Allmacht dies tut oder auch nur zuläßt? Tertullians, des Kirchenvaters „Credo quia absurdum est" hätte ins Klima dieser Tröstungen gepaßt. Die emotionalen Labyrinthe, die einen Minotauros beherbergen, nämlich die fortgesetzte Vergewaltigung der Vernunft, gegen die sich Nietzsches Denken vehement zur Wehr setzen wird, nehmen hier ihren Anfang. Die Fragen hören nicht auf. Es sind die Grundfragen atheistischer Überlegungen, die davon, daß sie nicht offen gestellt werden dürfen, nicht an Schärfe verlieren. Jörgen Kjaer hat 1990 davor gewarnt, allein im Vater und im Vaterverlust das Schlüsselerlebnis für Nietzsches Kindheit und spätere Entwicklung zu sehen. Daß man Nietzsche auch als Muttersohn, als einen Fall des mißlingenden Mannwerdens zu sehen habe, mahnte Volker Elis Pilgrim 1986 schon an.13 Allerdings sieht er das Schicksal des Philosophen in allzu oberflächlicher Parallele zu Goethe und Hölderlin, zu Napoleon, Hitler und Stalin, ohne die psychischen Unter- und Hintergründe seines Befundes näher zu beleuchten. Daß zum Schlüsselerlebnis die Mutter gehört, ergibt sich allein daraus, daß der Junge fortan auf sie angewiesen ist die ständig gegenwärtige Folge des Vaterverlustes. Im Abschied vom ländlichen Röcken, in der befremdlichen Enge Naumburger Stadtwohnungen, im Alltag mit den anderen durchweg weiblichen Personen des Haushaltes der Großmutter, zwei Tanten, der jüngeren Schwester- gewinnt die junge Witwe eine kryptomatriarchalische Übermacht, die den Jungen weniger durch Strafe als gerade durch Zuwendung verstören mußte. Das Labyrinthische in der Konstellation ist, daß die Liebe, die für das Gute steht, wie eine Falle wirkt, daß Güte und Wohlwollen an Nachstellungen gekoppelt sind. Die Werte, die dem Jungen in solch einem Klima nahegebracht werden, machen sich allmählich unglaubwürdig. Aber sie scheinen unangreifbar. So muß er sich in Verstellungskünsten üben. Sich zu verstellen schafft aber neue -
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KSA, NF, 8, 505. R. Kreis, Der gekreuzigte Dionysos, Kindheit und Genie Friedrich Nietzsches. Zur Genese Philosophie der Zeitenwende, Würzburg 1986, 12. V. E. Pilgrim, Muttersöhne, Düsseldorf 1986, 119ff.
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moralische Skrupel. Nietzsche hält deshalb später das Tragen einer Maske für ein unentrinnbares Schicksal tiefer und freier Geister: „Alles, was tief ist, liebt die Mas-
ke...".14
Rudolf Kreis hat auch Nietzsches Schwester und die Inzestgefahr ins Gespräch gebracht. Daß diese Geschwisterlichkeit dem inzestnahen Verhältnis zwischen Goethe und Cornelia ähnelt, von der Lehrer-Rolle des Bruders bis zur Ehescheu der Schwester, wie es K. R. Eissler darstellt, ist vielfach belegbar. Der Blick in die Antike, der Nietzsche hätte sagen können, „daß das Inzestverbot zwischen Geschwistern eine späte moralische Erfindung war",15 kommt freilich erst später hinzu. Aber das gemeinsame Los, Halbwaise und eine Generation jünger zu sein als die Erzieher, brachte die beiden in eine Nähe zueinander, die diese Erzieher für beobachtungsbedürftig hielten. Gerade in einem prüden Klima weckt oft erst das Verbot ein Interesse am Verbotenen. Wenn es da etwas Heikles gab, so fiel es mit unter die allgemeine Tabuisierung des Geschlechtlichen durch erziehende Frauen in dieser Zeit. Es ist eine Erziehung zur Scham und durch Beschämung. „Was ist dir das Menschlichste?" wird Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft fragen. „Jemandem Scham ersparen", ist seine Antwort, und die Überwindung der Scham vor sich selber gilt gleich im folgenden Aphorismus als „das Siegel der erreichten Freiheit"1 Frauenstimmen sagen dem Jungen, was von dem Mann erwartet wird, der er werden soll. Nicht irgendein Klein-Fritzchen findet in golden verschnürtem Geschenkpapier Kröten, sondern der „Herzensfritz" weiblicher Personen, der andersgeschlechtliche Ölgötze. Die weibliche Zuwendung ist dem Heranwachsenden angenehm; sie vermittelt Geborgenheit und Bewundertwerden. In seinen späten Dionysos-Phantasien spielt die Erinnerung daran mit, denn Dionysos ist im Mythos vorwiegend von Frauen umgeben. In der Schar der Mänaden durchschwärmt er als „Dionysos gynaimanes"17 die Wälder. Aber zunächst erlebt Nietzsche sie auch als qualvoll und obsessiv. Sie macht ihn einsam. Der Narzißmus der jungen Witwe18 überträgt sich auf den Vaterlosen. Weder die Mutter noch der Sohn ahnen in dem stark moralinhaltigen Klima unfreiwilliger und uneingestandner Verlogenheit, wie ihnen geschieht: Während die Mutter den Sohn wie einen Ersatz-Gatten behandelt, schaut sich der Sohn nach Ersatz-Vätern um, nach irgendeinem männlichen Beistand gegen die aufdringlich andere Gefühlswelt der Menschen, die ihm die liebsten sein sollen. Vieles baut sich ungesehen in ihm auf und steht dann, wenn der Schleier reißt, fertig da. .
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KSA, JGB, 5, 57fT. R. Kreis, Der Nietzsche-Mythos vom Erdenreich. Gegen Gottesmord und Erdzerstörung, Frankfurt/M./Bern 1990,73. KSA, FW, 3, 519. W. F. Otto, Dionysos. Mythos und Kultus, Frankfurt/Main 1989, 155ff. J. Kjaer, Friedrich Nietzsche. Die Zerstörung der Humanität durch „Mutterliebe", Opladen 1990,54.
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2.
Verlangtes und Unverlangtes
Nietzsche durchlebt einen Wechsel der Autoritäten vom Vater auf die Mutter, von der Mutter auf die Lehrer. Die unbewußte Suche nach Ersatzvätern führt ihn schnell zu Büchern. Er begegnet überall Büchern, schon in der Bibliothek des Großvaters, des Dorfpfarrers von Pobles, dann in den Familien seiner Freunde Gustav Krug und Wilhelm Pinder. Lehrer, die kleinstädtischen Schulmeister der Zeit, können ihm schwerlich genügen. Nur des Pfortensers Paul Wilhelm Corssen (1820-1875) gedenkt er, des Mannes, der ihm Sallust nahebrachte und „seinem schlechtesten Lateiner die allererste Censur geben musste"19. In allem, was der Schüler zu Papier bringt, spüren wir den heftigen Atem einer intellektuellen Aufgeregtheit. Es ist die Aufgeregtheit des Suchenden, dessen, der sich im Reich des Wissens, einem Totenreich, durchfragt, weil ihm die Lebenden keine befriedigenden Antworten geben. Der Schüler Nietzsche mag brav scheinen. Aber er ist ein Sucher, dem kein Lehrer genügt, der jeden Lehrstoff daraufhin überprüft, was er ihm persönlich zu sagen hat. Für den Kenner der Antike gehört die Graecomanie in die römische Kulturgeschichte. Sie kam in den Krisen der Republik auf und kennzeichnete künstlerisch veranlagte oder philosophisch gebildete Kaiser wie Nero, Marcus Aurelius, Gallienus. Bei einem Schüler wirkt sie vor dem Hintergrund des humanistischen Gymnasiums von Humboldtschem Zuschnitt, in dem zwar alle drei „alten" Sprachen unterrichtet werden, das Lateinische, das Griechische und auch das Hebräische, aber das Latein entschieden dominiert, zunächst verwunderlich. Interessante Einzelheiten dazu haben Hermann Josef Schmidt in seinen vier Bänden Nietzsche absconditus (1991-1994) und Renate G. Müller in ihrer Dissertation Antikes Denken und seine Verarbeitung in Texten des Schülers Nietzsche (1993) ausführlich behandelt. Vor ihnen ist Horst Althaus 1985 auf die Bedeutung der Griechen in Nietzsches Bildungsgang eingegangen. Die Texte sind zwar in der 1994 wieder aufgelegten Ausgabe der frühen Schriften Nietzsches von Hans Joachim Mette, Carl Koch und Karl Schlechta zugänglich. Doch zu dem mehrfach geäußerten Bedauern über den fotomechanischen, also völlig unveränderten Nachdruck der 1933-1940 nicht weiter gediehenen Historisch-Kritischen Gesamtausgabe gehört auch, daß Renate G. Müllers Übersetzungen der fremdsprachigen Schülertexte nicht hineingenommen wurden, die bereits vorlagen. Zum anderen wäre der heutige Blick auf die Rolle der Griechen in Nietzsches Denken nicht möglich ohne die Aufbereitung der nachgelassenen Fragmente in der ab 1967 von Giorgio Colli und Mazzino Montinari
besorgten Ausgabe.
Die Stelle über Corssen enthält mit dem Geständnis, lange kein guter Lateiner gewesein, einen verdeckten Hinweis auf die größere Neigung zum Griechischen. Anfangs ist ihm das Griechische verständlicherweise schwerer gefallen als das Lateinische. Mit weniger als zehn Jahren, vor dem Übergang zur Quinta des Domgymnasiums im Herbst 1854, hat Nietzsche, der im Deutschen noch lange „dem" und „den" sen zu
KSA, EH, 6, 154. R. G„ Müller, Antikes Denken und seine Verarbeitung in Texten des Schülers Nietzsche, Dissertation, Dortmund 1993, 113.
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1\ verwechselt, im Institut des Kandidaten Weber angefangen, Griechisch zu lernen. Griechische Mythen dringen noch übers Lateinische, über Ovids Metamorphosen, in
seine Phantasie. So verhielt es sich jahrhundertelang mit der europäischen AntikeRezeption. Die karolingische Zeit, Renaissance und Humanismus kannten die Griechen nur über die Vermittlung durch die Römer, auch als nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken 1453 griechische Gelehrte mit ihren Handschriften als Flüchtlinge in Europa erschienen. Des Griechischen und des Lateinischen gleichermaßen mächtige Gelehrte wie Philipp Melanchthon waren die Ausnahme. Die Übermacht des Latein ist so groß, daß der Schüler in griechischen Mythen noch lateinische Götternamen benutzt, beispielsweise in der Szene Der Geprüfte und auch der reife Nietzsche sich noch der latinisierten Schreibweise griechischer Namen bedient, etwa „Aeschylus" statt „Aischylos", „Nessus" statt „Nessos", „Pisistratus" statt „Peisistratos". Sie entspricht der Übermacht, die sich Rom als der stärkere Staat den Griechen gegenüber verschaffte. Wohl mit Recht stellte Alfred von Domaszewski zu Anfang dieses Jahrhunderts fest, daß ohne die römische Kaiserzeit „die Cultur der Antike für uns ebenso versunken" wäre „wie die Cultur, die einst am Euphrat und am Nil geblüht hat"23. Schon daß von Ovid die Metamorphosen, nicht aber die Amores oder die Ars amatoria als Schullektüre Gnade fanden, wirft ein Licht auf das von Prüderie und Pragmatismus gleichermaßen geprägte Bildungskonzept, dem der sittlich gezügelte, militärisch gestraffte Römer besser entsprach als der Grieche, der dem Römer als weichlich, sinnlich, haltlos, verlogen und hinterhältig galt. Soweit sich noch eine selbständige Themenwahl feststellen läßt und soweit die aus dem vorgegebenen Angebot ausgewählte Aufgabe sich bereits von einer „Auftragsarbeit" unterscheidet läßt sich eine Abweichung des Schülers Nietzsche vom zeitgenössischen Bildungsideal in zwei Schritten erkennen. Schon die Verseleien des Kindes greifen antike Themen lieber auf als biblische. Vielleicht hat es in der Erinnerung des Kindes eine Rolle gespielt, daß die Altarkanzel der Röckener Dorfkirche von Säulen mit vergoldeten korinthischen Kapitellen und einem Tympanon eingerahmt wird. In den Begegnungen des Schülers mit der Antike genießen griechische Themen, wenn auch meist noch in einem lateinischen Gewand, den Vorzug gegenüber römischen. Schillers Gedicht Die Götter Griechenlands hat dieser Vorliebe den Weg Genuin römische Themen haben, an den Namen der lateinischen Schulautoren als Schulaufgaben deutlich erkennbar, zehn Arbeiten.26 Bei den lateinisch verfaßten Epigrammen des Pri,
gebahnt.25
Ebenda, 11, Anm. 13. HKG, W 1, 327ÍT. Geschichte der römischen Kaiserzeit, 4. H. Althaus, Friedrich Nietzsche. Eine bürgerliche Tragödie, München 1985, 47. H. J. Schmidt, Nietzsche absconditus. Kindheit 3, Berlin/Aschaffenburg 1993/1994, 807. Der zweite Zug Caesars nach Britannien (HKG, W 1, 39ff); Caesars Einnahme von Brundisium (HKG, W 1, 185fr.); über Cicero (HKG, W 2, 43ff), Livius (HKG, W 2, 123ff), Horaz (HKG, W 2, 135fT. und 313ff), Tacitus (HKG, W 2, 343ff), den Seesieg bei Mylae 38. (HKG, W 1, 188ff), und den Ersten Punischen Krieg (HKG, W 2, 435ff) sowie ein Kommentar zu Thesen eines Mitschülers über ein taciteisches Thema (HKG, W 2, 351).
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stehen sechs römischen nur vier griechischen zur Seite. Drei kürzere und zwei längere lateinische Gedichte29 kommen noch hinzu. Aber den zehn römischen Aufsatzthemen stehen insgesamt fast dreimal so viele kleinere und größere, teils ernsthafte, teils ins Verspielte gehende, teils in lateinischer Sprache verfaßte Ausarbeitungen, Szenen und Übersetzungen mit griechischen, hellenistischen oder dem griechischen Kulturkreis näher als dem römischen liegenden Themen gegenüber.30 An sie schließt der zwanzigjährige Student seine umfangreiche Untersuchung über den Lyriker Theognis von Megara an.31 Ein Teil der Interpretation, die er über das 1. Chorlied des König Ödipus von Sophokles liefert, ist in gutem Griechisch verfaßt.32 Meist sind mythische Gestalten, wie sie Lyrik und Epik reflektieren, Gegenstand der Betrachtung. Aber die Tragödie, die das Personal der Mythen auf die Bühne bringt, steht schon deutlich im Blickfeld: Prometheus, Aias, Ödipus. Der Schüler gab antiken Themen gegenüber biblischen den Vorzug. Der Student kehrt, nachdem er sich eine AischylosAusgabe hat schicken lassen, einem Theologiestudium in Bonn den Rücken und wird in Leipzig Philologe. Die Hauptarbeit des Philologen gilt einer spätantiken Übersicht über die griechische Philosophie: De Laertii Diogenis fontibus Über die Quellen des Diogenes Laertios^ Auch bei den Rezensionen überwiegen die griechischen Themen bei weitem. Als Professor der Klassischen Philologie in Basel widmet er einen großen Teil seiner Lehrtätigkeit den griechischen Tragikern Aischylos und Sophokles. Er denkt über „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" und eine „dionysische Weltanmaners
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HKG,
W 2, 11 Of: Augustus, Maecenas, Claudius Caligula, Claudius Civilis, Livia und Cornelia. Das Epigramm auf Livia, die Gemahlin des Augustus, die ihren ersten Ehemann verließ, als sie mit Drusus schwanger ging und ihr erster Sohn, der spätere Kaiser Tiberius bereits neun Jahre alt war, kann als Warnung des jungen Nietzsche an die Mutter, sich auf keinen Fall wieder zu verheiraten, gelesen werden, denn unter dem Stiefvater Augustus war Tiberius schweren Repressalien und De28
29 30
pressionen ausgesetzt.
Solon, Andromache, Cassandra und Antogona (wieder latinisiert!). HKG, W 1, 303f. und HKG, W 2, 139f. und 141. Der Geprüfte (HKG, W 1, 327ff); Des Cyrus Jugendjahre (HKG, W 1, 34Iff); Wanderer, wenn du nach Griechenland wanderst (HKG, W 1, 346); Andromeda (HKG, W 1, 350f); Cecrops (HKG, W 1, 354f); Antromeda (HKG, W 1, 355ff); Leónidas und Telakeus (HKG, W 1, 357ff); Messenische Kriege (HKG, W 1, 366ff); Hör was ich dir von alten Geschehen (HKG, W 1, 369f); Olympos (HKG, W 1, 381f); Der Raub der Proserpina (HKG, W 1, 386ff); Untergang Trojas (HKG, W 1, 415ff); Über die Medea (HKG, W 1, 430f.); Hecktors Abschied (HKG, W 1, 434f.); Iason und Medea (HKG, W 1, 435 und 436); Gründung von Theben (HKG, W 1, 44ff); Prometheus (HKG, W 1, 62ff); Cum jam Nauslcaam (HKG, W 1, 83); Die Verschwörung des Philotas (HKG, W 1, 156ff); De rebus gestis Mithridatis regis (HKG, W 1, 285ff); Euphorion Cap. 1 (HKG, W 2, 70f); Primi Ajacis stasimi interpretatio et versio cum brevi praefatione (HKG, W 2, 155ff); Sophokles, Trachinierinnen (HKG, W 2, 201ff); Philologische Notizen und Übersetzungen zu griechischen Lyrikern (HKG, W 2, 204ff); Kassandra (HKG, W 2, 252); Primum Oedipodis regis Carmen choricum HKG, W 2, 364ff); Ueber das Verhältniß der Rede des Alcibiades zu den übrigen Reden des platonischen Symposions (HKG, W 2, 420ff). HKG, W3, Iff. HKG, W 2, 365-368. HKG, W 5, 507ff. KSA, PHG, l,799ff ...
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schauung" nach und erarbeitet seine erste spektakuläre Abhandlung: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik36. Er hat Pfarrer werden sollen, davor in die Philologie ausweichen wollen, ist dabei den Römern ausgewichen und den Griechen und ihrer Tragödie begegnet, hat angefangen zu philosophieren und von Anfang an Dionysos, den mythischen Stifter der Tragödie, zum Vater seiner Gedanken gemacht. 3.
Zuflucht, Verdacht und Täuschung
Den Befunden Hermann Josef Schmidts, Rudolf Kreis', Jörgen Kjaers und Renate G. Müllers kann ich nichts Neues hinzufügen. Es kommt mir hier auf den neuen Blick auf das gesamte nietzschesche Denken an, der daraus zu gewinnen ist. Den Römern gegenüber blieb Nietzsche zunächst vergleichsweise kühl. Sie waren ihm der kulturgeschichtliche Korridor zu den Griechen. Was reizte mit dieser magischen Gewalt den kindlichen, den jugendlichen Nietzsche so an den Griechen? Eins liegt auf der Hand: Das vaterlose, in einem verweiblichten Haushalt vereinsamte Kind ist zum Individualisten geworden. Auch Sparta interessiert den „Graecomanen" kaum. Es erinnert ihn wie alles Römische zu sehr an den pfortensischen Internatsdrill und die „Kommunschwemme" in der Saale. Die tiefe Besorgnis, in der Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches II, Aph. 279' alles, was mit „spartanischer Erziehung" zu tun hat, als „Hemmschuh der Cultur" bezeichnet, entlarvt manchen „Päan auf den den er an anderen Stellen von sich gibt, als aufgesetzt, als Notbehelf und Ausflucht aus einem Gedanken, mit dem er nicht fertig wird. In einem seiner letzten Fragmente notiert er im Spätherbst 1888: „Letzte Erwägung Zuletzt könnten wir selbst der Kriege entrathen Ich wüßte einen besseren Gebrauch von den 12 Milliarden zu machen, die der ,bewaffnete Friede' heute ,
Krieg"38,
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Europa kostet".39
Die Griechen sind dem jungen Nietzsche eine Zuflucht vor einer den Römern allzu ähnlichen Umwelt, einer Welt des Gehorsams, der Leistungsforderung, der Staatstreue, der Staatsreligion, der Disziplinierung aller Gefühle. Die Griechen wirken so rätselhaft wie anziehend, weil sie kalte Vernunft und taumelnden Rausch, Gedankenschärfe und kreatives Träumen, klare Berechnung und mystische Schleier so wunderbar vereinen konnten, daß es wie Vollkommenheit wirkt. Die Griechen waren Psychologen. Ihre Mythen haben sich als Vorwegnahme mancher Befunde der Psychoanalyse erwiesen, ihre Mythologeme sind verkappte Psychologeme. Das wird Nietzsche erst später wichtig. Aber als Psychologen sind sie sehr offen für alles, was in der Welt, in der Nietzsche heranwächst, tabuisiert ist, vor allem für das Geschlechtliche in allen Varianten bis zur Panerotik. Alles, was den Heranwachsenden brennend interessiert, aber ganz besonders in einer Erziehung durch Frauen nicht interessieren darf, findet er in der Welt der Griechen offen ausgesprochen. -
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KSA 1,55 Iff.
KSA, GT, 1, 25fT. KSA, MA II, 2, 674f KSA, CV, 1,774. KSA, NF, 13,644.
Ein Grieche
Nietzsche
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Der Knabe baut sich geheime Gegenwelten. Wie andere Kinder sich gern „Höhlen" bauen, so richtet sich „Fritz" bei untergegangenen Völkern ein, auch bei den Goten Ermanarichs, bei den Griechen aber besonders gern. Daß die Griechen Wissensstoff sind, dient ihm als Tarnung wie übrigens die moralisierenden Auslassungen des Rhetors Agamemnon zu Beginn der petronianischen Fragmente wohl dem mönchischen -
Abschreiber als Tarnung für seine dann folgende laszive Auswahl gedient haben. Aber er nimmt die antike Welt nicht nur als Wissensstoff auf. Seine Phantasie identifiziert sich mit ihren Gestalten und macht sie zu einer magischen Zuflucht vor dem drückenden, verletzenden Alltag. Die geschichtlichen Gestalten der Antike, ihre Götter und Heroen, mit denen sich der Schüler weit über Schulerfordernisse hinaus beschäftigt, verwandelt seine Phantasie zu geheimen Protagonisten seiner Auseinandersetzung mit früher Menschen-Umwelt, mit der Familie, mit Freunden und Lehrern. Der Narzißmus der Griechen kommt dem durch narzißtische Mutterliebe hervorgerufenen Narzißmus seiner Einsamkeit entgegen. Ihr Streben nach Autonomie vermittelt ihm die Illusion, autonom zu werden, wenn er sich mit ihnen befaßt. Sie bieten ihm Zuflucht in ihrer Gleichgültigkeit gegenüber dem Kreuz, denn die Griechen lebten, dichteten und dachten in einer Zeit vor dem Kreuz. Die Welt der Nymphen und Hetären zieht ihn an wie in Goethes Erlkönig die Elfen den halluzinierenden Knaben. Er träumt sich als Satyr in diese Gegenwelt. Enthemmte Äußerungen in den ersten Phasen des psychischen Zusammenbruchs geben 1889 auch Erinnerungen aus dieser Gegenwelt In der Arbeit über Horaz finden wir Worte unüblicher Toleranz gegenüber Homoerotischem: leugnen können wir nicht, daß eine tief poetische und gefühlsreiche Natur auch dergleichen veredeln und versittlichen kann".4 Ob sie uns dazu berechtigen, Homosexualität als Nietzsches Problem anzusehen, bleibt ebenso fraglich wie alles, was Joachim Köhler mit sensationsfreudigem Ehrgeiz zusammenträgt. Piatons Symposion, das Nietzsche in seiner letzten schulischen seine „Lieblingsdichtung" nennt und dem sich seine Arbeit über die Rede des Alkibiades44 widmet, kennt die sexistischen Ausgrenzungen der Neuzeit noch nicht. Das orgiastische Temperament Nietzsches, seine, wie er 1886 bekennt, „beinahe mänadische Seele"45 schaut, pubertär erwachend, in die panerotische Welt griechischer Mythen wie in einen Zauberspiegel. Aber die Entdeckung, eine Natur zu haben, die den Griechen als orgiastisch gegolten hätte, hat in einer moralisierenden sozialen Umwelt etwas Beschämendes. Bei den Griechen bliebe sie ohne Vorwurf. Ihnen war alles Erotische heilig. Wie hätte er nicht bei ihnen Zuflucht suchen sollen? Gerade die erotischen Inhalte solcher Gegenwelten machen sie also hermetisch. Sie entwickeln sich jenseits einer hohen, in einer Erziehung durch Frauen weiter erhöhten Schamschwelle. Die Verstellungskünste verfeinern sich, ma-
preis.41
„...
Autobiographie43
Schmidt, Nietzsche absconditus. Kindheit III, 792. W. Lange-Eichbaum, Nietzsche. Krankheit und Wirkung, Hamburg 1948, 14. HKG, W 2, 138, vgl. R. G. Müller, Antikes Denken und seine Verarbeitung in Texten des Schülers Nietzsche, a.a.O., 74. HKG, W 3, 68. HKG, W 2, 420ff, vgl. R. G. Müller, Antikes Denken und seine Verarbeitung in Texten des Schülers Nietzsche, a.a.O., 102ff KSA, GT, 1, 15. ll. J.
Vgl.
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chen auch Nietzsches eigene Denkabläufe zunehmend hermetisch. Der hermetische Verlaufseiner denkerischen Entwicklung, der ständige Mangel an mitdenkenden Adressaten wirft den Schüler, den Studenten, den Philologen zurück auf ungehemmte Selbstgespräche, wie man einem Vergleich der Schubladenfragmente mit den veröffentlichten Aphorismen derselben Zeit leicht entnimmt. Die hemmungslose Artikulation, mit der die Ergebnisse in Nietzsches Spätwerk gleichsam eruptiv nach außen dringt, baut seinen Lesern neue Verständnisbarrieren auf. Dem jungen Individualisten imponiert an den Griechen und ihrem Individualismus auch das Agonale. Es ist freilich nicht das Sportliche, sondern das Bessersein im Geistigen. Früh zum Eigenbrötler geworden, der mit Büchern allein ist, droht er zum Sonderling zu werden, versucht er der Vereinzelung zu entfliehen, indem er sich mit Geistesgaben hervortut, entwickelt er seinen Ehrgeiz der Selbstbehauptung im Bereich der Bildung. Daß er damit seine Einsamkeit vertieft, fällt ihm nicht auf, solange Freunde wie Krug und Pinder an seinen Lippen hängen. Hier findet sein Bedürfnis zu beweisen, daß er der Bessere sei, eine Nahrung, die über den Verdacht der Eitelkeit erhaben ist. Daß er dabei Züge eines Musterschülers annimmt, geschieht mehr zufällig. Mustergültige Musterknaben werden nie Genies. Mit seinen Freunden versucht er in einem Verein zu wetteifern. Meist ist er der einzige, der die verabredete Arbeit pünktlich liefert. Am 19. Oktober 1861, kurz nach seinem siebzehnten Geburtstag, nimmt er seinen „Lieblingsdichter" Hölderlin gegen einen Freund in Schutz, dem „dieser phantasierende Irrenhäusler" nur ein „graecisierender Deutschverächter" ist.46 In Leipzig gründet der Student, einer Anregung seines Lehrers Ritschi folgend, einen Philologischen Verein, in dem er selbst durch Gewissenhaftigkeit und Ideenreichtum brilliert. Nicht zuletzt muß Nietzsche an den Griechen auch etwas fasziniert haben, was ihm aus der vaterlosen Familie nur allzu vertraut war: das latente Matriarchat in ihren Mythen, das die Tragödie mit einer patriarchalischen Propaganda beantwortet. Kjaer hat am Fall Nietzsche auch das überzeugend dargestellt: daß frauenfeindliche Anwandlungen Frauenfeindlichkeit liegt bei Nietzsche ja nicht vor bei Männern oft von Frauen selbst ausgelöst werden. Das nicht im Lehrplan nachweisbare Übersetzungsfragment in dem Deianeira unwissentlich den Tod des aus den Trachinierinnen des Herakles verursacht, ist nicht nur ein „autotherapeutischer Versuch", über den Tod des Vaters hinwegzukommen, sondern auch die Genugtuung über einen Fund, der die für Männer verhängnisvolle Täuschbarkeit der mit einer „Mischung aus Verachtung und Liebe"50 betrachteten „Weiber" veranschaulicht. Aus der Gegenwelt der Griechen gewinnt der junge Nietzsche einen sich immer weiter verschärfenden Verdacht gegen die wirkliche Welt: Er fühlt sich, gleichnishaft gesagt, von Kindheit an wie ein Grieche, den es unter Römer verschlagen hat. Früher Schmerz, das unverstanden Schicksalhafte des Vaterverlustes und des Verlustes heimat-
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Sophokles4
,
HKG, W2, 1. J. Kjaer, Friedrich Nietzsche, Die Zerstörung der Humanität durch Mutterliebe ", a.a.O., 18f, vgl. A. Miller, Der gemiedene Schlüssel, Frankfurt/M. 1988, 41. HKG, W 2, 20Iff. R. G. Müller, Antikes Denken und seine Verarbeitung in Texten des Schülers Nietzsche, a.a.O., 83. R. Kreis, Der Nietzsche-Mythos vom Erdenreich. Gegen Gottesmord und Erdzerstörung, a.a.O., 71. „
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licher Geborgenheit, die Bildungsangebote und die Leistungsforderungen der Schule haben seiner Seele einen Stempel aufgedrückt. Seine tiefere Bildung, sein feineres Fühlen, sein Hang zu phantasiereichem Träumen haben ihn unversehens an den preußischdeutschen Erziehungszielen vorbeigeführt, am Pflichtgefühl, am Staatsdienst, an der Hinnahme einer Staatsreligion, am bedingungslosen Respekt vor der Autorität, an der Disziplin, am Triebverzicht. Wo Nietzsche sich solchen Forderungen unterwirft, als Gymnasiast, Student, Soldat und Sanitäter, tut er es aus martialischer Selbstdisziplin, nach Schopenhauers Vorbild und nie ohne einen Hauch Ironie, wie sie dem gravitätisch durch strömenden Regen nach Hause schreitenden Schüler, einer Anekdote zufolge, schon eigen ist. Auch die Übermacht des Mütterlichen im Haushalt ist römisch, nicht griechisch. Die griechische Frau war fast so rechtlos wie eine Sklavin; die Autorität der Römerin, die ihr Vermögen selbst verwalten durfte und Kaiser machen konnte wie Livia oder die jüngere Agrippina, verwandelte das Christentum in die Matrone und in die Madonna. Inmitten einer christlich-bigotten Kleinbürgerwelt, umgeben von einem teils naiven, teils heuchlerischen Christentum, das überdies mit Argwohn auf die Griechen schaut und sie trotz Goethe, trotz Heine, vielleicht absichtlich noch immer winckelmannisch verkennt, ist Nietzsche selbst so zum Griechen geworden, daß ihm das Christentum gleichgültig, ja suspekt wird. Zugleich sieht er die politischen Verhältnisse, gipfelnd im Krieg von 1870/71, in eine impériale Phase treten, die der Kultur nicht gut bekommen kann. Sonderbarerweise findet der als Machtphilosoph mißbrauchte Nietzsche an der Reichsgründung keinen Gefallen.51 Nietzsche hat sich gleichsam rückwärts in der Kulturgeschichte durchgefragt und ist, vermittelt durch die Römer, die ihn aber weniger interessieren, bei den Griechen angekommen. Nur drei hartnäckige Täuschungen behindern noch die Entfaltung seiner eigentlichen Philosophie, zunächst die Täuschungen über seine Ersatzväter: In Arthur Schopenhauer möchte er voll „Ehrfurcht" seinen „ersten und einzigen Erzieher"52, und in Richard Wagner die Wiedergeburt des antiken Musikdramas sehen. Aber auch sich selbst bleibt er, nicht zuletzt darum, noch lange verborgen. Schopenhauer schleppt ihm den Terminus des Pessimismus ins Denken und bringt ihm die fast tödliche Gefahr der Selbstverkennung im Pessimismus, Wagner die Verwechslung von Oper und Tragödie. Musik ist Nietzsches eigentliches Element, Musik hat er zuerst zu Füßen des Vaters gehört, Musik ist eine Spezialität der Griechen. Althaus53 erkennt das Orgiastische in Nietzsches frühen Erlebnissen mit Wagners Musik, eine „Droge, deren Entziehung ihm nie mehr gelingen wird". So sieht der Philologieprofessor, auch um dem verehrten Freund, der im selben Jahr wie der Vater geboren ist, und dessen Frau Cosima zu gefallen, in Wagners Opern die Wiedergeburt der Tragödie „aus dem Geiste der Musik" und verkennt Tribschen (nicht Bayreuth) als ein „Reich des Hat er Ahnungen von antiker, „dionysischer" Musik, wie wir sie heute auf Grund einiger weniger Papyrusfunde kennen? Schon 1869 weiß er, obwohl er erst angefangen hat, Wagner zu hul-
Dionysos".54
51 52 53 54
KSA, DS, 1, 160. KSA, MA II, 2, 370. H. Althaus, Friedrich Nietzsche. Eine bürgerliche Tragödie, a.a.O., 46. Ebenda, 155ff
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digen, und folglich nur für seine Schublade, im Hinblick auf „Aeschylus Sophocles Euripides", daß „Opern gegenüber dem antiken Musikdrama nur Carikaturen sind" .
den Anschein, Nietzsche lasse sich aus Scheu vor dem Blick auf etwas Furchtbares absichtlich auf solche Verwechslungen ein. Lange sieht er die griechischen Tragiker durch die Brille des Philologen und „verehrt" die Philosophen nur, auch das eine Selbstverkennung: Schopenhauer und Wagner verstellen ihm nicht so sehr den Blick auf die Griechen wie den auf sich selbst. Fast ohne es zu bemerken, wird er aber darüber zum Philosophen. Erst 1878, kurz vor dem Ende seiner Lehrtätigkeit, nach dem Bruch mit Wagner, sieht er sich anders.56 Als Schüler hat Nietzsche von Aischylos die Orestie und den Prometheus in Fesseln, von Sophokles den Aias, den Philoktetes, König Ödipus und Ödipus auf Kolonos und von Euripides teilweise die Bakchen und vermutlich mehr gelesen. Der Philologe wie der Philosoph Nietzsche stellt Aischylos über alle anderen griechischen Tragiker, kreidet es dem Sophokles schon an, daß er den Chor aus der Hauptrolle genommen hat, und sieht in Euripides die Degenereszenz der Tragödie zum „Theater", das er nicht schätzt. Nicht übersehen werden darf auch der tragische Aspekt in anderen Genres der griechischen Dichtung, in den Epen Homers wie in der Lyrik, zumal in der des Theognis von Megara, der über die Schwäche des Adels klagt, und im Geschichtswerk des Thukydides, der kalt den tragischen Untergang der attischen Polis im Peloponnesischen Krieg erzählt. Selbst das Schicksal des Dionysos, des mythischen Stifters der Tragödie, sein Erdenleben, trägt ein Gepräge, das ihn den Gestalten der Tragödie an die Seite stellt, wenn der Zerreißer zerrissen wird, und, freilich auf unkirchliche Weise, Christus ähnlich: Der Erlöser wird zum Märtyrer. Der nicht verwundene frühe Tod des Vaters mit allen genannten Folgen ist das traumatische Moment. Erst in dem 1886 der Geburt der Tragödie vorangestellten Versuch einer Selbstkritik51 wird für Nietzsche „der gute strenge Wille des älteren Hellenen zum Pessimismus" auch ein Wille „zum tragischen Mythus, zum Bilde alles Furchtbaren, Bösen, Räthselhaften, Vernichtenden, Verhängnisvollen auf dem Grunde des Daseins". Fast hat
es
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4.
Aischylos contra Sokrates Tragiker contra Priester -
Zufall oder bezeichnende Parallele? Wilhelm Conrad Röntgen, der die Physik das Durchschauen lehrte, war nur ein halbes Jahr jünger als Nietzsche, der wie bis zu ihm kein anderer die Psychologie aller religiös legitimierten Machtstrukturen in menschlichen Gesellschaften und damit alle Ideologien durchschaute. Wer sich mit der Antike vertraut gemacht hat, mit der griechischen wie mit der römischen, den Unterschieden, Gegensätzen und Berührungspunkten zwischen beiden, wird fast mühelos den unter einer aphoristischen Schreibart verborgenen Bauplan, die groß angelegten Fundamente in Nietzsches Denken erkennen. Hermann Josef Schmidt nennt an Nietzsche und seinem Denken „fast alles exemplarisch, was nur exemplarisch sein -
KSA, NF, 7, 9. KSB, 5, 334f, 337f. KSA, GT, 1, 16.
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kann" und findet in der griechischen Tragödie den Schlüssel zu ihm. Die Antike selbst erscheint dem, der sie wenig kennt, in Nietzsches Werk nur verstreut wie erratische Blöcke. Das Gegenteil ist aber der Fall. Die Antike ist das Verbindende seiner aphoristischen Schreibart, der kontinuierliche Subkontext aller seiner Werke, und die griechische Tragödie, das Tragische überhaupt, hat dabei den Vorrang. Dies genauer zu untersuchen, wäre ein Buch für sich wert. Aristoteles können wir hier beiseite lassen. Er behandelt die Tragödie in seiner Poetik ein gutes Jahrhundert nach ihrer Blütezeit und scheint von archaischen, dionysischen Wurzeln kaum noch etwas zu wissen oder wissen zu wollen. Auch das schuldlose Schuldigwerden, worin Schiller, Schelling und Hegel noch das Wesen des Tragischen sehen, interessiert uns nur insofern, als in einigen Tragödien, exemplarisch im König Ödipus des Sophokles, Schuld ein Sonderfall des tragischen Unheils ist. Wir müssen zwei Themenkomplexe unterscheiden: Nietzsche und die Tragödie und Nietzsche und das Tragische. Die Tragödie ist Theater, und seit dem Zerwürfnis mit Wagner, in dem sich die absichtliche Verwechslung der Oper mit dem tragischen Musikdrama der Antike rächt, bedeutet das Theater Nietzsche nichts mehr. Sein Begriff des Tragischen versteckt sich lange und für ihn selbst irreführend in Schopenhauers „Pessimismus". Aber die griechische Tragödie ist nicht pessimistisch. „Der tragische Künstler ist kein Pessimist", weiß Nietzsche schließlich.59 Er wehrt sich bei aller Bezauberung von Anfang an gegen den Pessimismus, bis er in diesem Pessimismus die Folge christlicher Weltsicht begreift. Aus ärztlicher Sicht galt Nietzsche als robust und vital. Nicht nur, daß er es mit seiner Krankheit schwer hatte; die Krankheit hatte es auch schwer mit ihm. Die Erfüllung des pessimistischen Wunsches, niemals und bei geboren zu sein, wie ihn Nietzsche bei Theognis von findet, ist dem, der ihn hegt, nicht mehr möglich, und zwar tragischerweise, denn er ist ja da! Er kann sich nur noch selbst aus der Welt befördern, sich, den Pessimisten, wie es der späte Nietzsche auch allen Pessimisten empfiehlt. Nietzsche versucht der Befangenheit im Schopenhauer-Jargon, der fatalen Pessimismus-Falle zu entgehen, indem er einen „Pessimismus der Stärke"62, einen „Pessimismus der Zukunft", einen „dionysischen Pessimismus"63 erfindet. Sein Gemüt, durch frühen Vaterverlust, weibliche Erziehung und die fatale, Schuldgefühl erzeugende Notwendigkeit, sich in Verstellungskünsten zu üben, melancholisch gefärbt, kommt dem tragischen Gedanken entgegen. Die christliche Religiosität hilft ihm einfach nicht, den Tod des Vaters zu kompensieren, der ihm als Ungerechtigkeit des Schicksals erscheinen muß. Früh setzt er sich mit dem lateinischen Begriff des Fatum auseinander: „Fatum und Geschichte"64 und „Willensfreiheit und Fatum"65. Um die
Megara60
Sophokles61 -
H. J. Schmidt, Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. Kindheit 1, 67. KSA, GD, 6, 79. Griechische Lyrik, 129. Ödipus auf Kolonos, 1226ff KSA, GT, 1, 12. KSA, FW, 3, 622. HKG, W 2, 54-59. HKG, W 2, 60-62.
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des Schicksals zu erklären, bedient sich die jüdisch-christliche Tradition der „Sünde" und der „Erbsünde". Die letztere dient dann als Argument, wenn einer sich keiner Schuld bewußt sein kann. Nur wenn es keine Unschuld gibt, ist es möglich, daß Gott so straft, wie Nietzsche es an sich und seiner Familie erlebt. Die Unerträglichkeit der Vorstellung, in welcher Weise auch immer am Tod des Vaters
ewige Ungerechtigkeit
schuldig zu sein, führt ihm die Tragödie König Ödipus von Sophokles vor, die er bereits als Gymnasiast kennt. Aischylos, den er auch bald genau liest, bietet ihm, vor allen im Prometheus, den von der Erbsünde entlasteten Begriff des „Frevels"66. In dem Maß, in dem Nietzsche seine seelische Entlastung von der Religion auf die Philosophie verlagert, betrachtet er auch die attische Tragödie, das „ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk"67, als Teil der griechischen Philosophie. So besehen, sollte man die Auseinandersetzung des jungen Nietzsche mit den Griechen auch einmal unter die religiö-
Einflüsse rechnen. Denn das Tragische, das parallel zur „Sünde" den „Frevel" kennt, aber nicht die „Erbsünde", sondern nur das Schicksal, für das niemand etwas kann, nicht einmal die Götter, die selbst durchaus nicht allmächtig, sondern der „moira", bei den Römern dem „fatum" unterworfen sind, nur das Tragische befreit ihn von unerträglichen Schuldzuweisungen, wie sie eine religiöse Erziehung suggeriert. Die Hinwendung zu den Griechen und zum Tragischen leitet also eine psychische Befreiung und Gesundung ein: „Die Griechen, als die wahrhaft Gesunden, haben Ein- für Allemal die Philosophie selbst gerechtfertigt, dadurch daß sie philosophirt haben, und zwar viel mehr als alle anderen Völker". Probleme, für die Nietzsche nur religiöse Bewältigungsangebote gefunden hat, bringen ihn unter tragischem Aspekt zur Philosophie. So wird Nietzsches ,religio' das Tragische. Das Göttliche ist für ihn keine Frage der Konfession wie in den christlichen Kirchen. Die antike Religiosität hatte keine Kirche, kein Glaubensbekenntnis und keinen Klerus. In ihr trafen, wie es in der toleranten Natur des Polytheismus liegt, das Freiwillige und das Selbstverständliche zusammen. Nietzsche spezifiziert das Tragische für sich neu. Unter der Larve des Philologen stößt er zu den dionysischen Ursprüngen des Tragischen vor. Zugleich sieht er unter den griechischen Philosophen die „Vorplatoniker" als Vertreter einer „Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen"69. „Nietzsche verstand doch sein Philosophieren als WieSie bezieht er mehr und dereroberung der griechischen, vorsokratischen mehr als „tragische Weltbetrachtung" im Gegensatz zu einer „theoretischen"71 in sein Denken ein. Wenn Nietzsche das Tragische geistig als Kontrapunkt zum Christentum setzt, sieht er nicht die christliche Sublimation des Arterhaltungstriebes im karitativen Ethos, sondern die lebensverneinende Attitüde in den verschiedenen Graden asketischer Forderungen. Die Tragödie war zunächst ein Gesang der als Böcke verkleideten Chorsen
Ursprünge."70
Vgl. 210.
K.
Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, München 1950,
KSA, GT, 1,26. KSA, PHG, 1,805. KSA, PHG, 1,80Iff.
Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, a.a.O., 362. KSA, GT, 1, 111.
K.
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sänger Symbol einer tiefsinnigen Lebensbejahung. Der Satyr, bocksfüßig und geil, halb Tier, halb Gott, steht dem Griechen für Fruchtbarkeit und Fortpflanzung des Lebens für die Arterhaltung, die einzige Möglichkeit des ständigen Überlebens, einzige Waffe des Lebens gegen den Tod, der für das einzelne Lebewesen zuletzt tragischerweise doch immer triumphiert. Auch Nietzsches Formel vom „Willen zur Macht" geht letztlich darauf zurück, daß das Leben nicht, wie Darwin meinte, nach dem Gleichgewicht strebt, sondern in der Ahnung des Todes immer nach dem Übergewicht streben muß. Es ist die Überlegenheit, die der Sieger eines Agon, eines Wettkampfes, fühlt. Auf der tragischen Bühne stehen keine Menschen, sondern Satyrn, Götter und Halbgötter, in der antiken Religiosität die genealogischen Vorfahren der Aristokratie. Das Tragische erleben, sich ihm stellen, es aushalten, ist folglich edel, ihm auszuweichen, ist bequem, also unedel, pöbelhaft, Sklavenart. Im Tragischen liegt die tiefste Wurzel für Nietzsches „Aristokratismus". Es befreit den, der die Ungerechtigkeit des Schicksals erleidet, von Schuldgefühlen. In diesem Verständnis des Tragischen wurzelt aber auch Nietzsches hartnäckige Polemik gegen Sokrates, den „theoretischen Menschen"72 und das Christentum, das er als religiöse Fortsetzung der sokratisch-platonischen Philosophie versteht: Wer Tragisches erlebt, kann es auf sich nehmen oder versuchen, ihm auszuweichen. Das gewöhnliche, unedle Ausweichen vor Tragischem gilt Nietzsche als Ursprung der, wie er es sieht, falschen Unterscheidung von „Gut" und „Böse", derzufolge das Wissen um das Gute den Menschen besser mache „Sklavenmoral", Grundirrtum aller pädagogischen Utopie. Nietzsche versucht eine Rückumwertung dieser Werte in „Gut" und „Schlecht"73, Schlüsselbegriffe der antiken, speziell der archaisch-griechischen Adelsethik, wie er sie früh an Theognis studiert hat, Grundlage für die Abwertung der „Schlechten" zum „Pöbel", zur „Masse". Die Hellenen „verlieren durch Sokrates die Unbefangenheit. Ihre Mythen und Tragödien sind viel weiser als die Ethiken Piatos und Aristoteles'; und ihre stoischen und epikureischen Menschen sind arm gegen ihre ältesten Dichter und Staatsmänner"74. Nietzsches „tragische Erkenntnis" überträgt die Kritik an Sokrates auf die Evangelien und das paulinische Christentum. Den „Typus Jesus" läßt er unangetastet, ja er versucht ihn, wieder für die Schublade, aller klerikalen Zutaten zu entkleiden.75 Der sokratische Urirrtum aller Tugendlehren wird im Christentum, vor allem in der Kirche, im christlichen Priester, weitergeschleppt. Die „Sünde", die wie Sokrates „Gut" und „Böse" unterscheidet, braucht Erlösung. Zieht man aber sokratisch-christliche Schuldsprüche und das Erlöserische aus Christi Erdenwandel und aus den Lehren der Kirche heraus, werden sie zu tragischen Befunden, wird das ganze Christentum zu einem tragischen Irrweg der Menschheit. Bereits in dem frühen Aufsatz Fatum und Geschichte äußert Nietzsche „Zweifel, ob nicht zweitausend Jahre schon die Menschheit durch ein Trugbild irregeleitet" sei.76 -
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-
-
KSA, GT, 1, 115. KSA, MA I, 2, 67f. KSA, NF, 8, 107f. KSA, NF, 13, 164f. HKG, W 2, 55.
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Auch Versuche, Tragischem auszuweichen, enden in Nietzsches Denken tragisch: Die Moral ist tragisch, weil sie unmoralisch ist. In sich erlebt er die „Selbstüberwindung der Moral aus Wahrhaftigkeit, die Selbstüberwindung des Moralisten in seinen Gegensatz"77 den „Immoralisten". Nietzsches Vater war ein mustergültiges Exemplar des christlichen Moralismus im Priestergewand. Nietzsche wird als Tragiker erst sein eigener Vater und dann der Überwinder seines Vaters. Wie er den Tragiker Aischylos gegen den Philosophen Sokrates setzt, setzt er sich als philosophischen Tragiker gegen den christlichen Priester, den „Seelenhirten" und Gewissenspeiniger, den er als Machtmenschen und Schmarotzer entlarvt, als „jene parasitische Art Mensch"7 die der griechischen Antike unbekannt war. Die Aufführung einer Tragödie, in Opferriten integriert, eine Art orgiastischer „Gottesdienst", hatte nichts von der konfessionellen und disziplinierenden Funktion kirchlicher Feiern. Götzendämmerung und Der Antichrist sind weniger religionskritische, antichristliche Schriften als psychologische, im Grunde anthropologische Untersuchungen zum Typus des Priesters aus der neugewonnenen Position des orgiastischen Tragikers. „Die Psychologie des Orgiasmus", heißt es am Ende der Götzendämmerung, „gab mir den Schlüssel zum Begriff des tragischen Gefühls".79 Der tragische Künstler „sagt gerade Ja zu allem Fragwürdigen und Furchtbaren selbst, er ist -
,
dionysisch".
An die Stelle der christlichen
setzt Nietzsche
Religion und aller auf sie bezogenen Philosopheme Grundüberlegungen zu einer tragischen Anthropologie. Sie erhält durch
den Zarathustra und die Fiktion des „Übermenschen" eine Tendenz. Nietzsche greift das Christentum nicht als eine Religion an, sondern als eine Ideologie, als einen Mißbrauch des Religiösen, der Philosophie, der wissenschaftlichen Erkenntnis für die Ausübung einer Macht, die sich anders nicht legitimieren kann. Es scheint mir deshalb problematisch, ihn als Atheisten zu bezeichnen. Selbst wenn er die Frage, ob er Atheist sei, bejaht hätte, geht schon die Frage an ihm vorbei. Wer sagt, Gott sei tot, und diese Aussage in langer, zu einem großen Teil nicht einmal bewußter Auseinandersetzung mit dem als tragisch erlebten Tod des eigenen Vaters gewonnen hat, ist kein gewöhnlicher Gottesleugner. Die Frage nach Gott bleibt für ihn emotional besetzt. Dem Atheisten ist sie gleichgültig. Eine Vereinnahmung Nietzsches für den Atheismus wäre auch Ideologie. Man braucht nicht fromm zu sein, um das unredlich zu finden. Nietzsche setzt alles Religiöse einer philosophischen Quarantäne aus, um seine Verseuchung durch Ideologie aufzudecken. Ob Nietzsche Atheist war, macht die Gesamtschau seiner Auseinandersetzung mit Religiösem zu einer psychologischen, zuletzt psychiatrischen Frage. Ecce homo schließt mit einem autosuggestiven Kasernenton: „Hat man mich verstanden? Dionysos gegen den Gekreuzigten". Die letzten Wahnzettel sind aber teils mit „Dionysos", teils
transanthropologische81
KSA, KSA, KSA, KSA,
EH, 6, 367. EH, 6, 372. GD, 6, 160. GD, 6, 79. Vgl. K. Joisten, Die 1994.
KSA, EH, 6, 374.
Überwindung der Anthropozentrizität durch
Friedrich Nietzsche,
Würzburg
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Nietzsche
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mit „Der Gekreuzigte" unterschrieben. Unter denen, die der Verwirrte in Ketten legen 4 5 lassen will, ist Christi Ankläger Kaiphas. „Jesus wie ein süßer Geruch" von der Mutter vermittelt „ließ er", so Thomas Mann, „unberührt von seinem Haß auf das historische Christentum, abermals um des Endes, des Kreuzes willen, das er in tiefster Seele liebte, und auf das er selber willentlich zuschritt".86 Die letzte, die dionysisch-ekstatische Denk- und Schreibphase vor dem geistigen Zusammenbruch bleibt, so sehr Nietzsche sich dagegen wehrt, nicht ohne religiöse oder quasireligiöse Anwandlungen: So, wie er in seinem Redlichkeits-Ehrgeiz als Tragiker doch das Gegenteil einer „heroischen Natur"87 bleiben möchte, rechnet er „Religionen" unter die „Pöbel-Affairen"88. Im dionysisch-ekstatischen Gefühlsrausch wird ihm der griechische Gott zum Philosophen: „Dionysos philosophus". „Ich bin ein Jünger des Philosophen Dionysos, ich zöge es vor, eher noch ein Satyr zu sein als ein Die Formel „Dionysos philosophus" besagt nichts anderes, als daß aus dem Blickwinkel der Philosophie alles Religiöse dionysisch ist und eine dionysische Philosophie das Religiöse nicht auszuschließen braucht. Nietzsche hat sich, „das Schicksal der Menschheit auf der Schulter"91, ins Zentrum alles Religiösen philosophiert wie in die Stille im Auge des Taifuns. Er lehnt die Rolle eines Religionsstifters ab hat sie also in Betracht gezogen. Als Autor des Zarathustra wird er von oberflächlichen Lesern ebenso leicht mit einem solchen verwechselt, wie manchem das Wort von der „Selbstvergottung" über die Zunge geht. Aber Nietzsche ist kein Caligula. Sein geistiges Testament im Herbst 1888 ist die vorläufige philosophische Beschlagnahmung Gottes oder der Leiche Gottes. Seinen „Glauben" überweist er gleichsam auf ein Sperrkonto mit dem Code „Dionysos". Die Formel „Gott ist tot" bedeutet einen permanenten Karsamstag. Ein Atheist hätte sich um alle diese Fragen nicht mehr gekümmert. Auch dies führt ihn in eine völlige Fremdheit unter seinen Zeitgenossen, in eine emotionale wie kognitive Isolation, macht ihn ganzen Generationen zum Rätsel oder zum Objekt ideologischen Spekulierens. Der Seufzer darüber, daß ihn noch lange keiner verstehen wird, finden sich bei Nietzsche so viele, daß es lange dauern würde, sie aufzuzählen. Von seiner Zeit erhofft er sich nichts, von der Zukunft alles. -
-
Heiliger."90
-
83
84 85 86
87 88 89 90 91
KSB 8, 57Iff. KSB 8, 579.
KSA, NF, 10,367. Th. Mann, „Nietzsches Philosophie im Lichte Berlin/Weimar 1965,654.
KSA, NF, 12,255. KSA, EH, 6, 365. KSA, NF, 13,613. KSA, EH, 6, 258. KSA, EH, 6, 364.
unserer
Erfahrung",
in: Gesammelte Werke, Band X,
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5.
Tragödie und „Demokratie"
Die Frage, ob Nietzsche Atheist war, ist müßig. Viel wichtiger ist die Frage, wie Nietzsche zur Demokratie stand. Es mutet zunächst paradox an, daß er das Tragische zum Schlüsselbegriff seines Aristokratismus macht, daß die Blütezeit der attischen Tragödie aber gerade in einer Epoche liegt, die wir als die erste Demokratie der Weltgeschichte zu nehmen gewohnt sind. Der Grund ist ein doppeltes, wenn nicht dreifaches Mißverständnis: Die attische PolisDemokratie ist mit der modernen, marktwirtschaftlichen kaum vergleichbar. Wenn wir die heutige und die griechische Demokratie miteinander vergleichen, verstehen wir beide falsch. Die Tragödie erlebte zwar ihre Blütezeit im „demokratischen" Jahrhundert Athens, hatte ihre Wurzeln aber in den Zeiten der Adelsherrschaft, ihr Ahnherr Thespis wurde von dem Aristokraten und Tyrannen Peisistratos gefördert. Der Grundgedanke einer Demokratie, wie die Griechen sie auffaßten, ist nicht das moderne Gleichheitsideal, sondern der Agon, der Wettstreit ums Bessersein in jeder Hinsicht. Das Schaffen der Tragödiendichter Aischylos, Sophokles und Euripides fällt in die Epoche des Themistokles, der Entmachtung des Areopag durch Ephialtes, des Perikles. Die Dionysien waren ein Volksfest. Im Anschluß an die Tragödienaufführungen im Theater des Dionysos fanden die Volksversammlungen statt. Mit der Polis und ihrer „Demokratie" erwacht die Frage nach der Ethik der Politik, 2 und die Tragödie bemüht sich in der Tat um Antworten. Aber die „demokratische" Politik der Athener im 5. Jh. v. Chr. ist weit entfernt von dem, was wir heute, insbesondere in der finanziell beherrschten Marktwirtschaft, unter Demokratie verstehen. Vergleiche mit den Erbauern der Akropolis sind so beliebt, weil man sich gern damit schmückt. Sie sind bei näherem Hinsehen so falsch, so entlarvend, daß sie nur noch unter die ideologischen Taschenspielertricks gerechnet werden können. Was war im 5. Jh. in Athen demokratisch? Etwa 40 000 Freie lebten von der Arbeit ungezählter Sklaven. Frei waren zwar auch die Metöken, die Zugewanderten, ein Drittel der Freien, aber sie hatten wie übrigens auch die Frauen kein Stimmrecht. Das athenische Bürgerrecht, die Befugnis zu einer „demokratischen" Stimmabgabe, war ein kostbares, streng begrenztes und eifersüchtig behütetes Privileg. Es war, genau genommen, sogar rassistisch, da es den geborenen Athenern vorbehalten blieb. Die Polis, Aristokratie und Demos zusammen, war eine kleine Oberschicht, die von der Ausbeutung einer rechtlosen und verachteten Mehrheit lebte. Der Reformer Kleisthenes, der die Isonomie schuf, die Vorform der Demokratie, war, nicht anders als Julius Caesar, ein Aristokrat, der sich seiner Macht versicherte, indem er durch Zugeständnisse an den Demos die Mehrheit auf seine Seite brachte. Der Demos durfte erst mitherrschen und erhielt dann gleiche Rechte im Wettstreit um die besseren politischen Lösungen. Ephialtes stürzte die Aristokratie nicht in einer Revolution, sondern er brach ihre Vormacht unter ohnehin Bevorrechteten, die ihre Vorrechte behielten. Den Aristokraten blieb die Möglichkeit, die besseren politischen Lösungen anzubieten. Die attische „Demokratie" war kein Gegensatz zur Adelsherrschaft, sondern nur eine in ihrem eigenen besser verstandenen Interesse erweiterte Herrschaft Privile-
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Vgl. Chr. Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/M. 1995. Vgl. W. Kaufmann, Nietzsche. Philosoph Psychologe Antichrist, Darmstadt 1980, 333. -
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Diese Oberschicht verhandelte ihre Angelegenheiten eine Zeitlang etwa so, wie heute der Abstimmungsdemokratie entspräche. Aber das tat der Adel in allen Adelsgesellschaften. Nur in der Tyrannis, nur in der Diktatur, nur in „totalitären" Herrschaftssystemen gibt es das nicht. Der Polis-Demokratie war auch keine rationalistische Aufklärung, keine atheistische Bewegung vorausgegangen. Die Volksfeste der Dionysien behielten einen tief religiösen Charakter. Die Götter, die Ahnherren der aristokratischen Familien, wurden von Außenseitern kaum wurde nichts säkulariEs sophistischen abgesehen angezweifelt. siert, weil die antike Religiosität keine Kirche und keinen Klerus kannte. Wer Priester war, hatte eine Art bürgerliches Ehrenamt inne. Nur die Orakelstätten und die Mysterienkulte hatten Priesterkollegien. Es gab kein „laizistisches Prinzip", nicht einmal die Forderung danach. Die attische Polis-Demokratie versuchte einfach, um es im Wettkampf um die besten politischen Lösungen besser zu machen, aus den Fehlern der Adelsherrschaft zu lernen. Das war der tiefere Sinn der attischen Tragödie. Sie enthielt Kritik am Adel, an seinem hochfahrenden, selbstgerechten, selbstgewissen Wesen. Ihre Gestalten waren Götter und Halbgötter, die Vorfahren der Adelsgeschlechter. Es war aber keine hämische oder gehässige, keine verachtende und vernichtende Kritik, sondern eine bedauernde, mitfühlende, die das Allgemeinmenschliche, das „MenschlichAllzumenschliche" eben, einbezog. Die Tragödie ist eine szenische Erörterung des Herrschaftsproblems mit aristokratischen Akteuren, keine Selbstfeier der Demokratie. Sie wie Egon Flaig eine „institutionalisierte politische Pädagogik" im Dienst der Demokratie zu bezeichnen, die das „ehrgeizbezogene Adelsethos" geht abgesehen davon, daß Kunst nie etwas mit dem Zeigefinger zu tun hat, an ihrem Wesen vorbei. Wenn die Tragödie etwas vorführt, so ist es das Versagen Herrschender schlechthin, das, ob sie nun Aristokraten oder Demokraten sind, ein Unglück für die Gesellschaft darstellt. „Mich schaudert / Vor der Volkswut / Und dem SteinwurfhagelWer das Versagen des Adels so thematisiert, gericht", ruft der Aias des nimmt den Adel ernst. Wenn sich also die klassischen griechischen Tragiker mit der 7 „Torheit der Regierenden" befassen, so wollen sie die Demokraten beim Wort nehmen, es besser zu machen. Ihre geschichtliche Tragik besteht darin, daß es ihnen mißlang. Die Perser und Die Sieben gegen Theben des Aischylos vermochten es nicht, Athen vor dem vernichtenden Bruderkrieg gegen Sparta zu bewahren. Das Tragische an ihren Gestalten besteht darin, daß sich die Herrschenden als fehlbar erweisen, obgleich es das Wohl aller erfordert, daß sie unfehlbar sind. Die Polis-Demokratie und die Tragödie waren weder antiaristokratisch noch atheistisch. Vor dem Hintergrund einer intakten Religion sind die szenischen Erörterungen der Tragödie sogar entfernt mit „Predigten" vergleichbar, die auf die „Liturgie" der Opferfeiern folgen. Die attische Komödie stand übrigens der Polis-Demokratie noch weit skeptischer gegenüber als die Tragödie, und sie war es wenn die Stücke auch verloren sind -, die einen Perikles lächerlich zu machen versuchte.
gierter. es
-
-
anprangere,95 -
Sophokles.96
-
Vgl. Chr. Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, Dresden 1990. E. Flaig, Ödipus. Tragischer Vatermord im klassischen Athen, München 1998, 49ff.
Aias, 255ff. B. Tuchman, Die Torheit der Regierenden, Frankfurt/M. 1984.
-
Volker Ebersbach
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Schließlich ist die attische Demokratie nur als Spielart des Agonalen zu verstehen, das Nietzsche an den Griechen und an der Tragödie besonders anzog. Es ist das Streben nach Sieg und Überlegenheit, der antike Inhalt für Nietzsches Formel vom „Willen zur Macht". Die Tragödie selbst brachte es aus der Adelsherrschaft mit in die Demokratie. Die Tragödienaufführungen im Theater des Dionysos am Fuß der Akropolis waren Wettkämpfe wie die politischen Auseinandersetzungen auf der Agora. „Die griechiDas agonale Prinzip erkennt allerdings schen [...] Tragiker dichteten, um zu Gleichheit nur in den Startbedingungen an. Sonst gäbe es keinen Wettkampf. Gleichheit als Ziel, eine egalitäre Demokratie, Gleichheit in jeder Hinsicht lähmt den Leistungswillen, die Kreativität. Egalitäres Denken macht die Demokratie verlogen. Denn außer einer Gleichheit der Startchancen ist Gleichheit nur „Gleichmacherei" und weder möglich noch wünschbar.99 Das agonale Prinzip war die Seele der Adelskultur gewesen, Ausdruck und Ansporn ihres Individualismus, der freilich sowohl in der aristokratischen Zeit als auch im Jahrhundert der „Demokratie" die Herausbildung einer starken staatlichen Macht behinderte, konterkarierte, vereitelte. Die politische Gefahr des Agonalen besteht in der „Hybris" des Siegers, die, so „Homers Wettkampf', seinen tragischen Untergang herbeiführen kann.1 Der Grundgedanke des Agonalen, die „Eris", die den Neid „nicht als Makel"101 erscheinen läßt, äußert sich im fairen Wettkampf. Aber die Eris hat eine doppelte Natur: Sie äußert sich auch in Krieg und Vernichtung, die das Agonale tragisch aufheben wie die Hybris, der Wettkampf mit den Göttern, den der Mensch nicht wagen darf. Für Nietzsche wie für die klassische Tragödie unterlag es keinem Zweifel, daß das „perikleische Zeitalter" die Früchte der Adelskultur erntete aber auch verkommen ließ. Mit der Demokratisierung Athens verfallt Athen; Sokrates setzt das Verfallsdatum: „Socrates war das Element in der Tragödie, überhaupt dem Musikdrama, das sie auflöste, bevor Socrates lebte". Eine Aristokratie, die sich nicht mehr agonal rechtfertigt, die sich in erstarrten Ranggrenzen dem immer neuen Wettkampf entzieht, wird von der Demokratie abgelöst. Die Demokratie der Polis aber bedeutet den Niedergang der Kultur. Im 19. Jh. beobachtet Nietzsche Ähnliches: Er bringt „als gefährliches Charakteristikum der politischen Gegenwart die Verwendung des Revolutionsgedankens im Dienste einer eigensüchtigen staatenlosen Geldaristokratie" in direkten Zusammenhang mit „dem nothwendigen Verfall der Künste"103. Der „Revolutionsgedanke" muß also für Nietzsche eine Zeitlang positiver Bewertung offen gewesen sein. Eine wahrhaft agonale Demokratie könnte vielleicht eine Aristokratie erzeugen, keine der Geburt, sondern eine
siegen".98
-
s
19
00
KSA, MAI, 2, 158. Daß es nichts Gleiches gebe, betont Nietzsche KSA, MA I, 2, 40 und KSA, FW, 3, 471 f., daß die Menschen nicht gleich seien KSA, FW, 3, 389 mit Bezug auf die Antike, daß die Gleichheit ein Dogma sei, KSA, FW, 3, 477. In Also sprach Zarathustra behandelt das Kapitel „Von den Taranteln", KSA 4, 128ff, dieses Problem. Am differenziertesten untersucht Nietzsche es in KSA, GD, 6, 150f.
KSA, CV, l,298f. Ebenda, 787. 02 KSA, NF, 7, 14. 03 KSA, CV, 1,774. 01
Ein Grieche unter Römern
Nietzsche
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kündbare des Verdiensts. Keine andere hatte Nietzsche mit seinem aus dem Geist der Tragödie gewonnenen „Aristokratismus" zunächst im Auge. Erwägungen, daß sich ein Adel durch Erblichkeit gegen das Ressentiment der Massen schützen müsse, werden in unserem Jahrhundert von José Ortega y Gasset aufgegriffen. Wo aber Nietzsche von „Zucht und Züchtung" spricht, spielt immer sein fast masochistisches Mißtrauen gegen die eigene Herkunft, gegen die eigene Natur mit. Im agonalen Prinzip der Griechen sind Aristokratie und Demokratie gleichsam verschwistert. Ihre gemeinsame Forderung ist: Die Besseren sollen bestimmen! Nur Tyrannis, Diktatur, Totalitarismus setzen es außer Kraft. Das letzte Wort über den „Aristokratismus" Nietzsches und sein Verhältnis zur Demokratie ist also noch nicht gesprochen. Als „Grieche" ist Nietzsche jedenfalls kein Antidemokrat. Sein Ausbruch aus der modernen humanistischdemokratischen Denktradition geschieht lediglich aus einer zuletzt bis zur Hysterie gesteigerten Frustration über Spielarten eines verlogenen Demokratismus.
jederzeit
6.
Griechen und Römer
Nietzsche reist nie zu den Griechen. Ihre Spuren fände er allenfalls um Neapel in Unteritalien, auf Sizilien, der „Magna Graecia" der Antike. Aber er sucht auf seinen Reisen nicht danach, interessiert sich weder für Ausgrabungen noch für Ruinen. Wenn er dennoch als Basler Professor wie als Spaziergänger von Genua oder Sorrent und als Silser Eremit bei den Griechen sprichwörtlich „zu Hause" ist, bewegt er sich in einer weitgehend hermetischen Gegenwelt. Agrigent fand er „begabter" als Athen.104 Wollte er die Tempel der Griechen nicht sehen? Viele Römer reisten zu den Griechen, als Eroberer und Sklavenjäger, als Statthalter und Kunsträuber. Sie verachteten die „Graeculi" („Griechlein"), verdächtigten ihre Wahrheitsliebe und ihre Ehrlichkeit wie alle Machthaber die der Intellektuellen. Die Griechen der Antike gelten auch heutigem Verständnis als „kindlich", ihre Kriege als „kindisch". Die Römer stehen für das Erwachsensein in der Antike. Erst Cicero und Vergil kamen zu den Griechen als Lernende, aber auch die Kaiser Tiberius und Nero und die Antonine. Der Grieche Pausanias (2. Jh. n. Chr.) lieferte ihnen das kulturgeschichtliche Itinerar, den antiken „Baedeker". Der philosophierende Kaiser Marc Aurel schrieb griechisch. Als Boethius philosophierte, hatte sich das von den Goten geplünderte Rom völlig gräzisiert, bezogen die ersten Mönche ihre Klöster. Der ältere Cato hat noch vor der Lektüre griechischer Bücher gewarnt, ohne allerdings selbst auf die Lektüre zu verzichten. In einer ersten Krise ihres Staates beginnen die Römer, die Griechen ernstzunehmen. Mit dem Verfall ihres für ewig gehaltenen Staatswesens beginnt ihre Rückbesinnung auf die Griechen. Nietzsche tritt als Philosoph den umgekehrten Weg an: Der Grieche geht zu den Römern. Das ist im übertragenen Sinn gesagt; in der Kulturgeschichte der Antike gab es das wirklich. Die politische Schwäche der Griechen lag in ihrer Zerrissenheit, den Bruderkriegen, denen der Poleis wie denen der Diadochen. Wie viele führende Köpfe der hellenistischen Welt nach der Schlacht bei Pydna (168 v. Chr.) und nach der Zerstörung von Korinth (148 v. Chr.), -
KSA, NF, 8, 109.
Volker Ebersbach
178
der militärischen und staatlichen Überlegenheit der römischen Sieger, integrierende politische Macht im Mittelmeerraum anerkannten und ihr zu dienen suchten, so sah auch der reifende Nietzsche im „Römerreich" einen „Ausweg aus der griechischen ,Selbstzerfleischung'"105. Griechen wie Panaitios, Polybios und Poseidobeeindruckt
von
die
nios ließen sich von der römischen Adelsrepublik überzeugen. Die Adelsrepublik war weder Monarchie noch Republik im heutigen Sinn. Sie kannte, wenigstens vorläufig, keine Tyrannis, hatte keine ausschweifenden Eroberungszüge unternommen wie Alexander, sondern im Wechselspiel von Bündnispolitik und begrenztem Krieg, von Diplomatie und zielgenauer Gewalt ihr Weltreich eingesammelt. Die Römer waren, nachdem sie 146 auch den Handelskonkurrenten Karthago entgültig bezwungen hatten, einer verfeinerten Kultur offen. Polybios von Megalopolis (ca. 200-ca. 129 v. Chr.) kam 167 als einer von tausend „vorgeladenen" Achäern, deportierten griechischen Spezialisten, die in einer milden Geiselhaft gehalten wurden, nach Rom. Er verkehrte bald freundschaftlich im Kreis der „Scipionen" und stellte seine Begabung als Geschichtsschreiber in den Dienst der Römer. Gebildete Patrizier nahmen das besiegte Kulturvolk als ihre Lehrer an. Polybios und seine Mitgeiseln zogen den stoischen Philosophen Panaitios von Rhodos (ca. 185-ca, 110 v. Chr.) nach. Als ihr Schüler lebte eine Generation später auch Poseidonios von Apameia (135-51 v. Chr.) in Rom. Politiker wie Cicero, Pompeius und Hortensius hörten ihn noch. Philosoph und Naturkundler, wie die von Nietzsche geschätzten Vorsokratiker, kannte Poseidonios die Kugelgestalt der Erde, wie sie Eratosthenes von Kyrene (3. Jh. v. Chr.) berechnet hatte, und auch das erste heliozentrische Weltbild des Aristarch von Samos (310-220 v. Chr.), und es gelang ihm, am Atlantik den Zusammenhang zwischen den Mondphasen und den Gezeiten festzustellen. Die Griechen waren Gescheiterte, aber sie hatten den Römern viel zu erzählen und wären ohne die Römer nicht nur an sich selbst gescheitert, sondern auch vergessen worden. In diesen Kreisen entwickelten die bis dahin so pragmatischen Römer, die, so Nietzsche, „in ihrer besten Zeit ohne gelebt hatten, die blind waren für alles Tragische, auf einmal Kunstverstand, Bildung, Gelehrsamkeit, Umgangsformen, ja Poesie und Sinn für Philosophie. Cicero faßte dies zusammen als ,humanitas'. Der Begriffhat nur entfernt mit dem zu tun, was wir heute unter Humanität und Humanismus verstehen. Er war in Nietzsches Philologenzeit noch nicht näher untersucht, so daß seinem sehr kritischen Blick nur die von Herder ausgeformten traditionellen Begriffe zur Verfügung standen, wie in der „Vorrede" über Homers zu sehen ¡st. Die antike, römische ,humanitas* ist, so sieht es Cicero am Ende der Republik, zum Standesideal des ,vir bonus', des ,patricius', des römischen Senators und Aristokraten geworden. Sie schließt gesellige Eigenschaften ein, gibt den Worten und Bewegungen Leichtigkeit, Gefälligkeit, Verbindlichkeit, Entgegenkommen, Anstand, Milde, Heiterkeit, Urbanität, Weitläufigkeit, kurz alles, was Nietzsche „vornehm" findet. Ihre Gegensätze sind bäurische Grobheit, Frechheit, Schamlosigkeit, Aufdringlichkeit, Unbeherrschtheit, Kälte, Strenge, Überheblichkeit, übertriebener Ernst, Übertreibungen aller Art kurz, alles, was Nietzsche „pöbelhaft" findet. Nietzsche verwirft seinen Cicero
Philosophie"106
Wettkampf01
-
Vgl.
M. Riedel, Nietzsche in Weimar, Leipzig 1997, 105. KSA, PHG, 1, 804. KSA, CV, 1,783ff.
Ein Grieche unter Römern
Nietzsche
179
-
voreilig.108
Wäre dieser Hintergrund der ciceronischen ,humanitas' Nietzalso etwas sche bekannt gewesen, er hätte ihn wohl gern aufgegriffen, schon um gegen den christlich geprägten Humanitätsbegriff Herders und der Aufklärung so nach Herzenslust zu polemisieren wie gegen Rousseau. Den Rang eines Standesideals nimmt die ,humanitas' allerdings erst in der Emphase Ciceros an, der, selbst kein in Rom geborener Patrizier, sondern zugereister ,homo novus', sich um so häufiger auf diesen gerade errungenen Wert beruft, je weniger er sicher ist, wie viele Zeitgenossen ihn noch für verbindlich halten, wie lange er noch gilt. In der praktischen Politik beherzigen die Römer nichts mehr davon. Auch Rom war eine Art Polis gewesen. Der Rolle eines Weltreiches war ihre adelsrepublikanische Verfassung nicht mehr gewachsen. Roms Bürgerkriege muten ebenso kindisch an wie die der Hellenen. Der Friede des Prinzipats täuscht. Im Gerangel zwischen Kaiser und Senat dauert eine Art kalter Bürgerkrieg fort. Aber der römische Staat ist dem griechischen an Festigkeit und Dauer weit überlegen. In seiner „Vorrede" über den griechische Staat weiß Nietzsche über diesen eigentlich nichts zu sagen als das, was die ganze antike Welt verbindet: daß die Sklaverei als Grundlage der Kultur notwendig sei: ,jeder Mensch, mit seiner gesammten Tätigkeit, hat nur soviel Würde, als er, bewußt oder unbewußt, Werkzeug des Genius ist". Nietzsche sieht die Römer immer mit griechischen Augen, ein wenig verächtlich wegen ihrer kulturellen Schwäche, die in allen Künsten vorwiegend auf griechische Importe angewiesen ist, wegen ihrer Blindheit für Tragisches, aber mit mehr und mehr Respekt für ihre politische Stärke. Die relative Stabilität der Senatsaristokratie und ihrer Adelsrepublik kann ihm nicht uninteressant bleiben, wo es ihm um Machtfragen geht. An ihrem politischen Erfolg, dem Weltreich, ging sie zwar zugrunde wie der Sieger an der Hybris, aber nicht so rasch und so gründlich wie Athen an seinem Hegemoniestreben im attischen Seebund. In der Genealogie der Moral werden die Römer „die Starken und Vornehmen, wie sie stärker und vornehmer bisher auf Erden nie dagewesen, selbst niemals geträumt worden sind"" Nietzsches Denken begibt sich, ihm selbst weitgehend unbewußt, in ein von der Antike vorgeprägtes kulturgeschichtliches Muster: Er vollzieht den Kompromiß des anarchisch-kreativen griechischen Geistes mit der staatenbildenden Energie der Römer nach. Das „große Kind" Nietzsche (111)111 begibt sich von den „kindlichen", chaotisch-dionysischen Griechen zu den „erwachsenen", ordnungsliebenden, staatstragenden, apollinischen Römern."2 Einen der römischen Senatsaristokratie vergleichbaren Adel, dem er ein Standesideal hätte antragen können, sucht Nietzsche in seiner Epoche vergebens. Er steht also als professoraler „Grieche" unter den „Römern" des 19. Jahrhunderts auf völlig verlorenem Posten. Allein sein weitgehend hermetischer Gedankengang an den Römern vorbei zu den Griechen und von diesen auf die Römer erklärt Nietzsches völlige Fremdheit und Adressatenlosigkeit unter .
108
HKG, W 2, 43-53, vgl. KSB 1, 209; ferner KSA, PHG, 1,811; KSA, MA II, 2, 600. KSA, CV, 1,776. 1,0 KSA, GM, 5, 286. 11 ' R. Kreis, Der gekreuzigte Dionysos, Kindheit und Genie Friedrich Nietzsches. Zur Genese der Zeitenwende, a.a.O., 95. Philosophie 112 KSA, CV, 1,774. Vgl. 109
einer
Volker Ebersbach
180
Zeitgenossen, seine philosophische Einsamkeit. Die Zeitgenossen verstehen ihn wenig, wie die Römer die Griechen verstanden haben. Aber er gibt nicht auf. den
7.
Das
so
„unanständige" Rom
Über Rom sagt Nietzsche in Ecce homo: „Im Grunde verdroß mich dieser für den Dich113 Zarathustra unanständigste Ort der Erde". Er meint das christliche, das päpstliche Rom. Eher versöhnt Dionysos sich mit Apollon wie, der Geburt der Tragödie zufolge, in der attische Tragödie, als mit Christus. „Rom gieng in sein Extrem über als es christlich wurde", heißt es dazu auch in den nachgelassenen Fragmenten.114 Im kai-
ter des
serlichen Rom sind die Christen zwar die erfolgreichsten Widerständler gegen den Personenkult der Cäsaren gewesen. Aber die Apostel und die Kirchenväter hatten den Ehrgeiz, die Gläubigen davon zu überzeugen, das Tragische dieser Welt sei mit dem Erlöser Christus überwunden. Nietzsche sieht den jüdischen Christus mit griechischen nicht mit antisemitischen Augen. Für ihn ist Christus längst eine unter vielen anderen tragischen Gestalten geworden. Er erkennt in der christlichen Ideologie die Fortsetzung der sokratischen wieder, das Ende aller Wahrheit, das Ende aller Weisheit, das Ende der Antike. Das Christentum als Ideologie brachte, so sieht es Nietzsche, die sokratische Gleichheitsdoktrin, die nicht auf die Startchancen des Agon schaut, sondern sich als Ziel darstellt, in einem imperialen, also verlogenen Rahmen. Unter dieser Voraussetzung ist Nietzsches Allergie gegen den diffusen Sozialdemokratismus seiner Zeit, den er als säkularisiertes Christentum versteht, erklärlich. Es scheint, als hätte er die Entwicklung zum Kommunismus vorausgeahnt. Nietzsches „Fluch auf das Christentum" meint bekanntlich das paulinische Christentum. Er meint weniger den gekreuzigten Christus als die Lehre, für die ihn Paulus benutzt. Er formuliert nur eine Antwort auf den paulinisch-christlichen „Fluch auf das erstickt das tragische Bewußtsein des antiken Leben""5. Paulus, der Menschen und verzögert die geistige Entwicklung des Menschen überhaupt. Der Monotheismus selbst wird zum religiösen Muster des egalitär-zentralistischen Prinzips, das alle agonalen Bemühungen vereitelt. Die Juden kommen dabei als monotheistische Ahnen der Christen in dasselbe kritische Licht. Aber Nietzsche meint diese Kritik religionsphilosophisch und nicht antisemitisch. In Gestalt des paulinischen Priesters wirkt das Christentum wie ein Virus in einem Zellenverband. Der Virus kann eine Zelle in ihren Lebensfunktionen so „umdrehen" wie er es braucht. Aus dem Personenkult der Kaiser wird der Personenkult der Päpste, die einst nur Bischöfe von Rom waren. Aus Cäsarismus wird Papismus. Der Todfeind des Agonalen wechselt nur die Maske. „Rom predigte einen Christus, der der dritten Versuchung nachgegeben hat; es hat erklärt, daß er eines irdischen Reiches nicht entrathen könne und hat ebendamit den Antichrist pro-
-
„Dysangelist""6,
1,3
KSA, EH, 6, 340. KSA, NF, 9, 271. 115 H. Wein, Positives AntiChristentum. Nietzsches Christusbild im Brennpunkt nachchristlicher Anthropologie, Den Haag 1962, 92f 114
116
Ebenda, 90.
Ein Grieche unter Römern
Nietzsche
181
-
clamirt"."7
Das weltliche Eigeninteresse der Kirche übernimmt den Imperialismus des antiken Rom, seinen Militarismus, seine Staatsraison, die Verstaatlichung der Religion. Es trägt aber auch den Spaltpilz in die mittelalterliche Legitimation der Macht. Seine Rivalität mit den deutschen Kaisern macht Gestalten wie den Staufer Friedrich II., den ' Nietzsche als „ersten Europäer" feiert, zu seltenen Einzelerscheinungen und ruiniert das „Heilige Römische Reich deutscher Nation". Das Zusammenwirken von paulinischem Priestertum und weltlicher Macht verdüstert nicht nur das Mittelalter. Es wird noch von der Aufklärung weitergeschleppt und durch Rousseau und die Revolution wie durch die spätfeudale „Reaktion" gleichermaßen ins 19. Jahrhundert hinein verlängert. Nietzsches Abneigung gegen das Romanische, die Latinitas des Christentums, des katholischen vor allem1 war eine Zeitlang der Einstieg für einen deutschnationalen, nationalistischen und rassistischen Mißbrauch Nietzsches: Alfred Baeumler macht 1931 daraus „das nordische Heidentum" Nietzsches, versucht aus dem „Griechen" einen „Germanen" zu basteln. Doch schon der Auftakt zur ersten Unzeitgemäßen Betrachtung, unter dem Eindruck der Reichsgründung von 1971 verfaßt, spricht eine andere Sprache: Nietzsche warnt vor einem „Wahn", der „imstande ist, unseren Sieg in eine völlig Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des ,deutschen Reiches'" Das Agonale hat wieder keine Chance! 111 Alle Skepsis gegen Bismarck und wütende Ausfalle gegen Wilhelm II. 191 belegen Nietzsches Aversion gegen die frömmelnde Vermengung von Seelenbevormundung und imperialer Macht, die bereits antisemitische Züge annimmt. Dem „Fluch auf das Christentum" folgt prompt der Fluch auf die Hohenzollern. Der protestantische DomAdolf Stoecker (1835-1909) gehört für Nietzsche ebenso zum unanständigen prediger 4 Rom wie Richard Wagner. Wagner ist für Nietzsches griechischen Geschmack mit dem Parsifal der priesterlichen Psychagogie verfallen, selbst Psychagoge und damit Das Rauschhafte, das der junge endgültig ein Stück unanständiges Rom Verehrer für dionysisch gehalten hat, ist nur der Rausch des Schauspielers, von dessen Triumph über den Künstler sich Nietzsche ebenso abwendet126 wie schon Aristoteles vom Verfall der Tragödie zur Rhetorik: „Die alten Dramendichter ließen ihre Gestalten wie Politiker reden; die jetzigen lassen sie wie Rhetoren Daß es die Kenntnis der Griechen ist, die Nietzsches Kritik am Bismarck-Reich leitet, sieht auch ,
.
geworden.125
sprechen".127
1,7
KSA, NF, 13, 151; vgl. KSA, NF, 13, 176f: „Offenbar verstand
man gerade die Hauptsache nicht: das Vorbild dieser Freiheit von allem Ressentiment... aber Jesus hatte ja die Sünde abgeschafft!" 118 KSA, JGB, 5, 121. 119 Vgl. KSA, JGB, 5, 69f. 120 A. Baeumler, Nietzsche, der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931, 103. DS, 1, 159f. 12'KSA, 122 KSA, NF, 10, 659 und passim. 123 KSA, NF, 13, 643-647; 14, 435, 451, 473f, 479, 503, 526, 743; KSB 8, 399 und passim. 124 KSB 8, 339, 433, 572. 125 Vgl. R. Kreis, Der gekreuzigte Dionysos, Kindheit und Genie Friedrich Nietzsches. Zur Genese einer Philosophie der Zeitenwende, a.a.O., 77. 126 KSA, WA, 6, 37. 127 Aristoteles, Poetik, (zweisprachig), aus dem Griechischen übersetzt von W. Schönherr, Durchsicht der Übersetzung und Anmerkungen von E. G. Schmidt. Leipzig 1972, 1450b.
Volker Ebersbach
182
Walter Kaufmann.128 Und Rudolf Kreis geht sicher nicht zu weit, wenn er sagt: „Hitler 129 genau das, wogegen sich Nietzsches Kassandrarufe richteten." Aber sah Nietzsche in Dionysos und Christus wirklich absolute Gegensätze? Abgesehen davon, daß ihm jedes Denken in Gegensätzen als „Irrthum der Vernunft" 130 erschien, kann ihm nicht entgangen sein, daß beide Gestalten als freilich sehr unterschiedliche Erlöser in die Welt gehen, der eine von Zeus, dem Göttervater, als „Sorgenloser", der andere von Gottvater als Sündentilger geschickt, und daß beide sie wie Märtyrer als tragische Gestalten wieder verlassen, der eine von Titanen zerrissen, der andere am Kreuz. sieht in Nietzsches Kritik am paulinischen Christentum den „Übergang von einem Typ des Narzißmus zu einem anderen, zu einem säkularisierten Narzißmus, da der Mensch nun selber für seine Vergöttlichung sorgen wollte." In einer fortexistierenden griechischen Gegenwelt schwebt Nietzsche die dionysisch gedachte Herrschergestalt, die in Julius Caesar und Napoleon1 nur vorläufig mißlungen ist, als „Cäsar mit Christi Seele"1'3 vor. war
-
-
Kjaer131
...
8.
Grundzüge einer Tragischen Anthropologie
Eigentlich behandelt die Nietzsche-Forschung den Philosophen bei allem Verständnis oft immer noch wie einen Wahnsinnigen: Sie nimmt ihn nicht so ernst, wie er es sich gewünscht hätte, und hält sich für großzügig, wenn sie das Furchtbare, das er gesagt hat, übergeht, durch isolierte Gegen-Zitate zu entkräften hofft oder, was schon besser ist, psychologisch erklärt. Geben wir uns nun damit zufrieden, Nietzsche immer besser, immer „richtiger" zu verstehen, sein Gedankengut mit wissenschaftlichen Argumenten vor Mißbrauch zu schützen? Wird er uns dabei nicht allmählich museal? Nietzsche als wissenschaftliches Spielzeug? Werden wir nicht selbst über unserer Beschäftigung mit Nietzsche zu „Bildungsphilistern"? Verschenken wir, indem wir vor der Urgewalt seiner Fragen ausweichen, nicht den eigentlichen Ertrag seines und unseres Bemühens? Ist es nicht nach dem ideologischen Mißbrauch nur ein anderer Mißbrauch, Nietzsche als psychoanalytisches Lehrstück, als ein Untersuchungsobjekt in der Geschichte der Philosophie zu behandeln? Wollen wir nur Philosophiegeschichte, Ideologiekritik, Psychologie treiben, oder wollen wir auch philosophieren? Wir flüchten vor der Frage nach der Kompatibilität Nietzsches mit dem heutigen „Zeitgeist", wenn wir ihn nur als philosophiegeschichtliches Objekt untersuchen. Gerade dieses Untersuchen kann aber auch zum Weiterdenken verführen. Sind Nietzsches Gedanken weiterzudenken? Oder führen sie in eine Aporie? W. Kaufmann, Nietzsche. Philosoph Psychologe -Antichrist, a.a.O., 235. R. Kreis, Der gekreuzigte Dionysos, Kindheit und Genie Friedrich Nietzsches. Zur Genese einer Philosophie der Zeitenwende, a.a.O., 78. KSA, MA I, 2, 23. J. Kjaer, Friedrich Nietzsche. Die Zerstörung der Humanität durch Mutterliebe ", a.a.O., 33. Z.B. KSA, NF, 9, 149; 10, 251, 282. -
130
„
132 133
KSA, NF, 11,289.
Nietzsche
Ein Grieche unter Römern
183
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Ich erinnere mich an die Rückkehr von einer sommerlichen philosophischen Radfahrt durch anhaltinische Getreidefluren, durch den „Geruch aus Weizenfeldern, der dem Honig nahe kommt"134. Es war vor fünfmal sieben Jahren. In den Semesterferien hatte ich, wie ich glaubte, alles von Nietzsche gelesen. Vor mir lag ein alter Band mit Nietzsches Spätwerk, antiquarisch und geliehen, und ich dachte: Weitergedacht, mit Nietzsche wie gegen Nietzsche, kann erst werden, wenn der Kommunismus gescheitert ist. Der Kommunismus hielt das Denken vieler Zeitgenossen zu beiden Seiten der Mauer als die große Alternative noch lange besetzt, ungefähr so lange, wie ich damals schätzte. Nietzsche hatte mir aber geholfen, ihn zu durchschauen. Allzu ähnlich fand ¡ch die Funktionäre einer alleinherrschenden Partei dem Typus des Priesters, den Nietzsche entlarvt. Der Kommunismus ist gescheitert. Man hat es wie alles Epochale geahnt, aber nicht kommen sehen. Wer hat das Epochale dieses Ereignisses überhaupt schon erkannt? Haben wir es mit einem Sieg der Demokratie zu tun, oder sind wir aufgerufen, auch unsere Begriffe von Demokratie erneut zu prüfen? Jeder Untergang ist geeignet, uns an den eigenen möglichen Untergang zu erinnern. Man hat es entweder mit hämischer Genugtuung oder hilflos enttäuscht hingenommen. Andere haben es händereibend und geldzählend als Triumph der Marktwirtschaft, der Koofmich-Demokratie gefeiert, ohne Rücksicht auf diejenigen, die sich von den Kommandeuren des gestrandeten Schiffes zunächst einmal selbst befreit hatten und es sogleich mit Strandräubern zu tun bekamen. Hat schon einer von uns daran gedacht, daß mit dem Scheitern des Kommunismus, der ja wie die Demokratie aus emanzipatorischen, demokratischen, revolutionären Gedanken hervorgegangen ist und den demokratischen Grundgedanken nur ideologisch verfälscht hat, auch die Zeit gekommen ist, die Konditionen auch der modernen Demokratie selbst neu zu prüfen? Hat sich noch niemand die bange Frage gestellt, ob wir jetzt nicht nur die längere Sackgasse beschreiten? Nietzsche läßt sich nicht als ein Stück Philosophiegeschichte abhaken. Könnten wir beweisen, daß Nietzsches Denken ein Weg in die Aporie ist, wäre es zu den Akten zu legen. Aber Nietzsches Probleme sind uns erhalten geblieben. Wir müssen uns ihnen stellen, schon um einen erneuten vulgarisierenden Mißbrauch Nietzsches abzuwenden, der noch brutaler, noch furchtbarer würde als der bekannte. Die Krise, in die sich die marktwirtschaftlich geprägte Demokratie mit ihrer Tendenz zum Finanztotalitarismus selbst manövriert, braucht nicht das Scheitern der Demokratie zu bedeuten. Nietzsche ist aber kein „Lebensphilosoph", kein „Lebenskünstler", wie Wilhelm Schmid ihn haben will, kein Selbstbedienungsladen für einen aktuellen Hedonismus und kein ökologischer Knigge. Bei mancher Ähnlichkeit ist Nietzsches Differenz zu Epikur, belegt durch mehrere Bezüge in seinem Werk, doch beträchtlich. Sein Werk ist, modern ausgedrückt, eine Anthropologie, oder, zurückhaltender ausgedrückt: Nietzsche, der Meister der Vorrede, wurde zum Vorredner einer Anthropologie. Auch damit ist noch nicht viel gesagt, solange sich anthropologisches Denken in den Grenzen philosophischer Sprachregelungen hält, die Nietzsches Denken als Philosophiegeschichte ausgrenzen. Das fügte sich bestens ein in die fortgesetzte Selbstbestätigung des Bestehenden. Vielleicht wachsen die Generationen, die Nietzsche verstehen, gerade erst heran. Die Nietzsche-Forschung hat in den zurückliegenden Jahrzehnten entscheidende Verständnishilfen KSA, NF, 8, 517.
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erarbeitet. Das Verständnis der Antike, in der Nietzsches Denken beheimatet ist, geht aber zurück. Nietzsches Denken enthält die Grundzüge einer tragischen Anthropologie, ihren Grundriß, ihre Fundamente. Dabei ist es geblieben. Anthropologien, die wir haben, greifen den einen oder anderen Gedanken Nietzsches auf, aber sie umgehen seine Grundfrage, seine Frage an die anthropologischen Voraussetzungen des Sozialen, nach den anthropologischen Konditionen jeder Gesellschaft, sei es eine aristokratische oder eine demokratische. Der Begriff des „Übermenschen" sprengt keineswegs den sozialen Rahmen seines anthropologischen Denkens. Er gibt Nietzsches Anthropologie eine „transanTendenz, die so lange spekulativ bleibt, wie man sie dämonisiert. Nietzsches Anthropologie leitet eine Erforschung der Soziabilität des Menschen ein, die aller Soziologie vorausgehen müßte. Die bisherige Soziologie ist zu eilig an Nietzsche vorbeigelaufen. Den „Willen zur Macht" setzte Nietzsche der These Darwins entgegen, das Leben sei ein Streben nach dem Gleichgewicht. Das Leben ist in Nietzsches tragischer Anthropologie ein Streben nach dem Übergewicht, erzeugt von der Angst vor dem Tod. Ihr agonaler Grundgedanke folgt dem Naturgesetz, daß alles, was sich nicht entwickelt, zurückfallt. Er hält sie offen sowohl für ein aristokratisches als auch für ein demokratisches Gesellschaftsbild, offen für eine agonale, nicht für eine egalitäre Demokratie. Die Demokratie von heute ist weder das Ende der Geschichte, als das sie sich ständig selbst feiert, noch ist sie, wie es eine gleichermaßen ideologisierte Auslegung Nietzsches wollte, ein Irrweg der Geschichte. Aber wir sollten lernen, die Demokratie an ihren eigenen Maßstäben zu messen, wie es Nietzsche mit der Moral getan hat, und jetzt schon zugeben, daß unsere Demokratie bisher nur ein hochherziges Versprechen geblieben ist, so, wie die attische Polis-Demokratie ein ahnungsloses Versprechen bleiben mußte. Man wird die tragische Komponente in Nietzsches Anthropologie nur dann düster und einseitig finden, wenn man sie mit Pessimismus verwechselt. Freilich: Das Tragische kommt auf uns zu, ist über uns verhängt, wir müssen es aushalten. Eine tragische Weltsicht hat am Ende doch etwas Passives wie die „ewige Wiederkunft". Ideologen haben versucht, unter Benutzung Nietzsches aus der Begegnung des Ich mit dem Tragischen eine heroische Weltsicht zu beziehen. Ich würde mich für meinen Teil mit einer elegischen begnügen. Die elegische Weltsicht kommt aus dem Wissen, daß die meisten Dinge dieser Welt, letztlich alle, tragisch enden wie das Leben des Einzelnen selbst mit seinem Tod, denn wir, die „klugen Thiere"136, werden aussterben. Aber der Elegiker kennt auch die Heiterkeit, die des einstweiligen Überstehens und des Entkommens, den nicht glücklichen, aber glimpflichen Ausgang, die köstliche Frist, die Langmut der Gestirne. Ist Humanität nach Nietzsche möglich? Es gibt nach Nietzsche keine Humanität ohne Nietzsche. Nietzsche sagt 1886 in einer seiner „Vorreden": „Man soll nur reden, wo man nicht
thropologische"13
schweigen darf'.137
K. Joisten, Die Überwindung der Anthropozentrizität durch Friedrich Nietzsche, a.a.O. KSA, WL, 1,875. KSA, MA II, 2, 369.
Vgl.
Ein Grieche unter Römern
Nietzsche
185
-
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Kindheit(stexte)
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Ein Grieche unter Römern
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Kurt Jauslin
Was der Löwe nicht vermochte: etwas für Kinder und Kindsköpfe Über Fritz Nietzsches Naumburger Festungsbuch
Die folgenden Gedankengänge schließen an meinen Beitrag zum DNK 1997 an. Damals habe ich in erster Linie poetische Versuche des Naumburger Kindes behandelt.1 Nun geht es um ein Textkonvolut aus derselben Zeit, das nach allgemeinem Sprachgebrauch dem nicht-fiktionalen Bereich zuzuordnen wäre: das sogenannte Festungsbuch, das sich mit dem Krimkrieg befaßt. Zu diesem Text gehören 47 Zeichnungen, die z.T. selbst wieder Mischprodukte aus Text und Bild sind. Der Verlauf des Denkens und Schreibens hat gezeigt, daß ich mich im vorgesehenen Zeitraum nur einem von beiden widmen kann. Weil aber die Bilder beredt sind und die Texte stumm, habe ich mich für die Texte entschieden. Fritz war neun Jahre alt, als er in den Krimkrieg zog, assistiert von seinen Freunden Gustav Krug und Wilhelm Pinder. Noch der erste autobiographische Versuch des Vierzehnjährigen läßt keinen Zweifel, daß es um nichts Geringeres ging als darum, „die Belagerung u. die Schlachten zu vergegenwärtigen." Solche Gegenwart war in der Naumburger Kinderwelt freilich nur en miniature zu erreichen, mit Bleisoldaten und der für sie nachgebauten Festung Sewastopol mit zugehörigem Hafenbecken, immerhin aber auch mit „Kugeln von Pech, Schwefel u. Salpeter" und: „Zum Schluß wurde gewöhnlich die ganze Flotte, ebenso wie alle Bomben verbrannt, wobei oft die Flamme zwei Fuß emporschlug." (KGW, 1, 290) Für die Kinder war dieser Krieg aber fraglose Gegenwart, denn „sogleich wurde für die Russen Parthei genommen u. wüthend forderten wir jeden Türkenfreund zum Kampf auf." Werner Ross hält das alles für pure Angeberei, nicht anders als die Pläne für „ein großes militärisches Wörterbuch", für das neben Lexika auch „ganz neue militärische Bücher" konsultiert worden seien. Tatsächlich aber sind, nach einer Mitteilung von Hans Gerald Hödl,3 Vorlagen für die von Fritz gezeichneten Positionskarten erhalten. '
Jauslin, „Hexensprache der Vernunft. Bilderfluchten und Flucht der Bilder in den KinderFriedrich Nietzsches", in: Nietzscheforschung, Bd. V/VI, Berlin 1999. W. Ross, Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben, Stuttgart 1979, 37. H. G. Hödl, Nietzsches frühe Sprachkritik: Lektüren zu Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" (1873), Wien 1997, 99.
Vgl.
K.
texten
„
Kurt Jauslin
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Die in den Texten zitierten Schlachten und Kriegsereignisse sind jeweils korrekt datiert, und zu den Skizzen der Festungskonstruktionen lassen sich Vorbilder in den zeitgenössischen Lexika finden. In seinem 20. Lebensjahr, also aus größerer Distanz, fällt das Urteil über die kindlichen Kriegsspiele zwar weniger euphorisch, aber doch beträchtlich differenzierter aus: Der junge Mann diagnostiziert bei dem Kind, das er gewesen ist, „[...] eine wahre Sucht nach einem ,Universalwissen', wie ich es zu nennen pflegte; auf der andern Seite wurde das kindliche Spiel nicht vernachlässigt, aber doch mit fast doktrinärem Eifer betrieben, so daß ich z.B. über fast alle Spiele kleine Büchlein geschrieben habe und sie meinen Freunden zur Kenntnisnahme vorlegte." (HKGW, 3, 67) Das Bemühen um Verständnis für die kindliche Wißbegierde ¡st um so bemerkenswerter, als der junge Erwachsene die gesamten poetischen Versuche der frühen Jahre mit einem einzigen Satz abqualifiziert: „Desgleichen machte ich entsetzliche Gedichte, aber doch mit größter Beflissenheit." Das Festungsbuch, das laut Werner Ross entgegen den vollmundigen Kommentaren seines Verfassers nur „bescheidenes Pennälergekritzel" sein soll, ist aber nicht nur das umfangreichste Manuskript aus den Naumburger Kinder- und Jugendjahren Nietzsches, sondern es enthält auf den 98 Druckseiten der KGW auch höchst unterschiedliche Texte, ein Kompendium von beachtlicher hermeneutischer wie heuristischer Komplexität. Eine kursorische Durchsicht ergibt folgende Textsorten: Am Anfang steht der Versuch zu einem Wörterbuch des Festungskrieges, das militärische Fachbegriffe erklärt und lexikalisch die Realien der Kriegführung aufführt, ohne noch auf den konkreten historischen Kriegsfall einzugehen. Es endet mit einem alphabetischen Register zum Festungs- und Seekrieg, das in zwei Fassungen vorliegt. Die im Druck der KGW zweite Fassung (KGW 1/1, 26f.) scheint aber die Rohfassung zu sein, die in der ersten Fassung (KGW 1/1, 24f.) in eine nahezu korrekte alphabetische Folge gebracht ist. Die Festung Sewastopol, die für Fritz der Grund aller Emotion ist, kommt in dieser lexikalischen Aufzählung noch gar nicht vor. In der Tat finden sich in zeitgenössischen Lexika wie dem Brockhaus umfangreiche Einträge zu den Stichworten „Festungsbau" und „Festungskrieg", die stark phänomenologisch strukturiert sind mit der Folge, daß der jugendliche Exzerpist zwischen historischen und modernen Formen der Kriegführung nicht immer unterscheiden konnte. So konstruiert Fritz seine Festung eher nach dem Muster einer mittelalterlichen Burg als eines Bollwerks gegen die schwere Schiffsartillerie der Zeit. Die Darstellung des Krimkriegs und speziell der Belagerung der russischen Festung Sewastopol durch die Alliierten im zweiten Buch vermischt tabellarische Übersichten mit kurzen Erzählungen der Kriegsereignisse und mit weiteren mehr oder weniger ausführlichen Erläuterungen zur Konstruktion von Festungen. Eine erste chronologische Übersicht (KGW 1/1, 32) reicht bis zum Oktober 1854; allerdings sind die dort aufgeführten Daten nicht durchweg verifizierbar. Für die Datierung des Manuskriptes selbst könnte aber der Hinweis auf Fürst Mentschikoff als russischen Kommandeur in Sewastopol (KGW 1/1, 34) von Nutzen sein. Mentschikoff wurde im Februar 1855 abgelöst, die Aufzeichnung müßte also zeitlich früher liegen. Allerdings läßt sich das Datum ante quem nicht beweisen, da es sich auch um Unkenntnis handeln könnte. Eine exakte Datierung post quem liefert aber das zweite „Orakelarium"(KGW 1/1, 66): Zar Alexander, -
-
Was der Löwe nicht vermochte: etwas für Kinder und Kindsköpfe
191
der dort genannt wird, bestieg den russischen Thron nach dem Tod des Zaren Nikolaus am 2. März 1855. Historisch korrekt ist auch die Liste der Schlachten, die unter dem Titel „Eroberung Sepastopolis" (KGW 1/1, 73) den Kriegsverlauf von der Landung der Alliierten am 14. September 1854 bis zum Fall Sewastopols am 10. September 1855 festhält. Selbst die Parteinahme der Jungen für die russische Seite ist keineswegs unhistorisch; sie spiegelt durchaus die offizielle Politik Preußens und der deutschen Mittelstaaten, die im zaristischen Rußland einen Garanten der konservativen Staatenordnung gegen die Westmächte sahen, die z.B. Friedrich August von Sachsen als Wegbereiter des „revolutionären Prinzips in Europa" galten. Österreich, das durch die Russen seine Interessen auf dem Balkan bedroht sah, versuchte vergeblich, die preußische Neutralität in dem Konflikt aufzuweichen. Sofern die von Nietzsches Tante gelesene Vossische Zeitung als Quelle fur den aktuellen Kriegsverlauf benutzt wurde, geschah dies sicherlich nicht im Sinne einer antirussischen Politik. Bei soviel Bemühung um historische Faktizität ist es um so erstaunlicher, daß der Autor des Festungsbuches auf die Gründe für den Konflikt überhaupt nicht eingeht, obwohl die Zeitungslektüre gerade dazu mit Sicherheit Erhellendes beizutragen hatte. Für Rußland, das die Türkei unter dem Vorwand angegriffen hatte, die heiligen Stätten in Palästina für die Christenheit zu sichern, ging es wieder einmal darum, einen Zugang zum Mittelmeer zu gewinnen. Eben das wollten England und Frankreich durch ihren prompten Kriegseintritt verhindern. Bei Fritz Nietzsche aber entwickelt sich der Krieg grundlos und unvorhersehbar wie ein Naturereignis, ähnlich der Feuersbrunst oder den Meeresstürmen, die er in seinen Gedichten entfesselt. Das Merkwürdigste an dieser Historiographie ist aber, daß Fritz auf die in den Gedichten unvermeidliche christlichteleologische Sinngebung verzichtet, die ihm die russische Lesart geradezu anbot: Schließlich warf sich der Zar zum Verteidiger der Christenheit gegen deren muslimische Feinde auf. Der Skandal des Festungsbuches liegt nicht in seinen nicht eingelösten Ambitionen, sondern er liegt in der ostentativen Bedeutungslosigkeit des Textes. Anders als in den Gedichten und dramatischen Versuchen des Jungen entwirft das Festungsbuch keinen Sinnhorizont, weder den einer Mythologie noch den einer Theodizee. Im Hinblick auf das Generalthema dieses Nietzsche-Kolloquiums erklärt dieser Text sich nur ex negativo für zuständig: Dem Verfasser ist die Christlichkeit offensichtlich ebenso egal wie das Griechentum. Ohne Rückversicherung bei der Heilsgeschichte versucht Fritz zwischen den Kriegsereignissen, den Akteuren und dem Instrumentarium des Krieges einen intertextuellen Zusammenhang zu finden, der den Verlauf der Geschichte aus den Realien des Weltenlaufs erklärt. Er kennt weder den positiven Weltgeist Hegels, der sich in der Geschichte verwirklicht noch den negativen Schopenhauers, für den die Geschichte nur der „verworrene Traum der Menschheit"5 ist. Statt dessen entdeckt er das Grundproblem des Historikers: eine Geschichte zu erzählen, von der er außer isolierten Ereignissen nichts weiß, die aber doch Fragment der großen Erzählung sein muß, die gemäß der 4
5
H. Strube, Sachsens Rolle im Krimkrieg, Diss. Erlangen 1952, 21. Auf Strubes sich meine Darstellung der Haltung der deutschen Fürsten im Krimkrieg. A. Schopenhauer, Werke in 10 Bänden, Zürich 1977, II/2, 521.
Ermittlungen
stützt
Kurt Jauslin
192
Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft eine „des neu erwachten Glaubens an ein Morgen oder Übermorgen, des plötzlichen Gefühls und Vorgefühls von Zukunft, von nahen Abenteuern, von wieder offenen Meeren" (KGW V/2, 14) ist. Die Frage nach dem Sinn der Geschichte stellt das von Peirce formulierte epistemologische Grundproblem, „wie es kommt, daß die Beobachtung einer Tatsache die Kenntnis einer andern, unabhängigen Tatsache vermittelt." Diese Anstrengung des Begriffes tritt im Festungsbuch nicht in Ergebnissen hervor, sondern nur in den epistemologischen Versuchsanordnungen, die der Text produziert. Anders als die poetischen Versuche des Jungen scheint sich der Text deshalb der Interpretation zu verschließen: Er scheint bedeutungslos, während die gereimte oder dramatisierte Sprache sofort unter Kunstverdacht gerät und bedeutungsschwanger scheint. Die poetische Form suggeriert Bedeutung, die aus der Tradition der Topoi und Metaphern erwächst. Jeder glaubt zu wissen, daß Gott sich im Gewitter offenbart und jede zeitliche Katastrophe das jüngste Gericht vorwegnimmt. Im Festungsbuch gibt es diesen metaphorischen Überbau nicht, genauer gesagt: Er ist nur fragmentarisch herbeizitiert und damit als das erwiesen, was er auch in den Gedichten bleibt, ein Zitat. Zu diesem metaphorischen Rest, der versucht die Welt durch den Einzug einer symbolischen Wahrnehmungsebene lesbar zu machen, gehört das Fragment eines Kriegslieds (KGW 1/1, 34), das offenbar als zweiteiliges Gedicht mit den Abschnitten „Vor dem Kriege" und „Nach dem Kriege" projektiert war. Die drei kurzen Strophen bewegen sich durchaus auf der sprachlichen Ebene der kindlichen Gedichte; bemerkenswert ist aber, daß es dem Jungen nicht gelingt, zwischen dem Vorher und Nachher epistemisch zu differenzieren, sondern der zweite Teil ist nur eine Wiederholung des ersten, dessen Inhalt einfach ins Perfekt übersetzt wird. Allerdings scheint es dem Jungen nicht entgangen zu sein, daß seine Sprachkonstrukte den vorliegenden Partikeln von geschichtlicher Wirklichkeit nicht gewachsen waren. Er versucht deshalb „einige Sätze in der neuen Sprache" (KGW 1/1, 34) zu formulieren, jener der „Jurisprodenz" nämlich. In der Tat gelingt es ihm, in dieser „neuen Sprache" auf Anhieb zwischen dem Vorher und dem Nachher in der Historie zu differenzieren. Der Abschnitt „Kriegsgesetze" formuliert ein drakonisches Kriegsrecht, in dem die Verhältnismäßigkeit zwischen Tat und Strafe aufgehoben scheint: „Wer von einem Regiment in das feindlich übergeth wird erschoßen. Ein Spion wird gehenkt." (KGW 1/1, 35). Die „Friedensgesetze" halten dagegen an einem Zusammenhang zwischen Tat und Strafe fest, wie er durch das Alte Testament vorgegeben ist: „Wer einen Tod macht wird getödtet." (KGW 1/1, 36). Das Wort „Tod" ist groß geschrieben, d.h. vom Adverb zum Substantiv befördert. Damit aber ist der metaphysische Horizont des alten „Auge um Auge" eröffnet: Der Mörder tötet nicht nur, sondern er „macht [den] Tod", ein Schöpfungsakt, der sich direkt gegen die ursprüngliche göttliche Schöpfung des Lebens richtet. Fritz hat als Aufgabe des Historikers erkannt, was Peirce als epistemologisches Problem definiert hat, nämlich den Zusammenhang zu finden, der zwischen den isolierten Ereignissen bestehen muß, der also die Differenz zwischen dem Vorher und dem Nachher nicht aufhebt, aber durch das Konstrukt einer kausalen Ordnung für den zeitlichen Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erklärt. Er versucht, sich 6
Ch. S. Peirce, Die
Festigung der Überzeugung, Frankfurt/M., Berlin 1985, 82.
Was der Löwe nicht vermochte: etwas für Kinder und Kindsköpfe
dem Problem dadurch zu nähern, daß Abläufe definiert. Das sind:
er
193
unterschiedliche Strukturen für die zeitlichen
„Kriegskronik
Friedenskronik
Unglückskronik" (KGW 1/1, 43). In diesen drei Bereichen herrscht eine
jeweils eigene Logik der Ereignisse, deren jeweils besondere Kausalität durch das jeweils regierende System, Krieg, Frieden oder Unglück, definiert ist. Bemerkenswert und folgenreich ist aber, daß der Junge dem Unglück eine eigene Kategorie einräumt. Damit nämlich ist die von der Heilsgeschichte postulierte Möglichkeit einer teleologischen Interpretation der historischen Abläufe zurückgewiesen: Das Unglück kennt keinen Endzweck, es ist das Element des Zufalligen, das alle Systeme ruiniert. Das Problem des Historikers ist das der Kontingenz. Vom Standpunkt der systematischen Philosophie ebenso wie von dem der sogenannten exakten Wissenschaften ist die Historie tatsächlich nichts als Schopenhauers „verworrener Traum der Menschheit", dem mit keiner Logik beizukommen ist. Die isolierten Ereignisse ordnen sich nicht von selbst zum Kontinuum, sondern nur über das Konstrukt einer Folge von Relationen, die sich, wie Peirce in dem schon zitierten Essay feststellt, mathematisch durch „relative Zahlen" z.B. als x pro y ausdrücken lassen. Fritz hat diesem Problem folgerichtig den umfangreichsten Teil seines Werkes eingeräumt, es umfaßt mit 35 Druckseiten über ein Drittel des Textes. Mit Hilfe seiner „Orakelarien" versucht er, aus den vorhandenen Fakten Prognosen für den weiteren Verlauf des Krieges zu entwickeln. Die Relationen bildet er durch das Auswürfeln der Antworten auf offene Fragen nach dem Muster „Wird Sepastopol im Besitz der Alliierten bleiben?", die jeweils nach Art eines Fragebogens einen ganzen Komplex abdecken (KGW 1/1, 65). Das Ergebnis der Würfe wird mit Hilfe von umfangreichen statistischen Aufstellungen ausgewertet: Die Augenzahl der Würfel liefert die relativen Zahlen, mit denen sich das von Peirce postulierte x pro y formalisieren läßt. Die mit der Zahl einzelner Fragen rasch wachsende Komplexität der „Orakelarien" versucht er korrekt dadurch zu reduzieren, daß er statt einfacher Fragen zusammenhängende Hypothesen formuliert, die jeweils einen Fragenkomplex mit unterschiedlichen Lösungen durchdeklinieren, nach dem Muster: „Frankreich wird 1856 verlieren. Die andern Mächte werden den Krieg fortsetzen bis Sepastopol 1875 wieder erobert wird, und sie verlieren, wogegen Rußland gewinnt." (KGW 1/1, 80). Bei seinem Versuch, die Historie des Krimkrieges in Ordnung zu bringen, ist Fritz Nietzsche offensichtlich auf das grundsätzliche epistemologische Dilemma aller Theorie gestoßen, das ich in einfachen Worten zu formulieren versucht habe mit dem Satz: „Die vielen Fakten machen dumm."7 Die Entdeckung des Dilemmas hat Plato dem Philosophen Thaies von Milet zugeschrieben, der, wie Plato im Theaetet unter Rückgriff auf Aesop berichtet, beim Denken den Blick zu den Sternen hob und dabei in einen Brunnen fiel. Thaies wurde deshalb „von einer witzigen und hübschen thrakischen I.
Habig/K. Jauslin,
rischer Versuch
zur
Der Auftritt des Ästhetischen, Frankfurt/M. 1990, 179; vgl. K. Jauslin, „KursoÄsthetik des Verschwindens", in; Neue Rundschau, 2 1989, 124-138. ,
194
Kurt Jauslin
weil er die Dinge des Himmels wissen wolle, während ihm schon das, was vor seiner Nase und den Füßen läge, verborgen bleibe." Die Philosophen haben auf die unvermeidliche Begegnung mit der Thrakerin unterschiedlich reagiert. Während Hegel beschloß, sie einfach zu ignorieren, und Schopenhauer sie in die undurchschaubare Welt des Willens verbannte, hat die Undurchschaubarkeit des Faktischen den Autor der Morgenröthe in helle Empörung versetzt: „Facta! Ja Facta ficta! Ein Geschichtsschreiber hat es nicht mit dem, was wirklich geschehen ist, sondern nur mit vermeintlichen Ereignissen zu tun: denn nur diese haben gewirkt." Der Philosoph Nietzsche findet in den Ordnungsversuchen der Historiker nur „ein fortwährendes Zeugen und Schwangerwerden von Phantomen über den Nebeln der unergründlichen Wirk-
Dienstmagd ausgelacht,
-
lichkeit."(KGW, M, V/1, 227)
Den kindlichen Verfasser des Festungsbuches berührt die Einsicht noch nicht, daß auch die sogenannten Fakten nur Fiktionen sein könnten: aus dem einfachen Grund, weil er eine solche Differenz nicht kennt. Das Kind unterscheidet nicht zwischen der Wirklichkeit und den Projektionen, die wir uns von ihr machen, sondern es arbeitet an einer Enzyklopädie der Bilder, die nicht an den Kriterien von wahr und falsch, sondern am Kriterium der Vollständigkeit orientiert ist: Es will alles wissen. Was ihn an der Kriegsgeschichte irritiert, ist die Flut der Bilder, die sich gelernten Ordnungsprinzipien entziehen. In der Sprache des Historikers heißt dies: Die Fakten verselbständigen sich; Sinngebungen durch übergeordnete Systeme, wie Recht oder Religion, scheinen nicht zu funktionieren, denn der Krieg entzieht sich sowohl der christlichen wie der bürgerlichen Rechtsordnung, und selbst das mosaische Gesetz scheint ihm nicht gewachsen zu sein. Das epistemologische Dilemma des Historikers wird dem Schüler in Pforta zum Paradigma für die Wahrnehmung von Welt überhaupt, und der im Festungsbuch angerissene Problemhorizont wird in einem der frühesten zusammenhängenden Texte Nietzsches, dem Essay über Fatum und Geschichte vom April 1862 von neuem aufgerollt. Die Erforschung der Fakten, die im Festungsbuch angehäuft sind, dient dem Ziel, „die Triebfedern dieses großen Uhrwerks" zu finden (HKGW, 2, 56), das Natur und Geschichte bewegt. Zwar enthält das Uhrwerk eine immanente, mechanische Kausalität: „Die Ereignisse sind es, die die Ereignisse bestimmen." (HKGW, 2, 59) Aber die „Notwendigkeiten", die sich hinter der Zufälligkeit der Ereignisse verbergen, enthüllt erst der Historiker, der als „Prophet" aus den Ereignissen Prognosen zu entwickeln vermag. (HKGW, 2, 57) Mit andern Worten: Es gilt, die von der Kontingenz verstellte Intentionalität zu finden, die immer von außen gestiftet wird, „während das Faktum", nach dem Urteil der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, „immer dumm ist" (KGW, HL, III/l, 306). Die Geschichte gibt selbst keine Sinnstruktur vor. Darin folgt der siebzehnjährige Autor dem Urteil des Historikers Friedrich Schiller: „Nähert man sich nur der Geschichte mit großen Erwartungen von Licht und Erkenntnis, wie sehr findet man sich da getäuscht." Nicht anders als Schiller konstatiert Nietzsche eine Analogie zwischen Natur und Geschichte, die nahezu als synonym erscheinen, weil die beide beherrschende Kontingenz mögliche Differenzen komplett zudeckt und die Natur, nach SchilQ
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1987, 14.
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lers Worten, „auf ihrem eigenwilligen, freien Gang ihre mühsamsten Erwerbungen oft in einer leichtsinnigen Stunde verschwendet und an einem Werk der Torheit oft Jahrhunderte baut."10 Es ist jene Kontingenz, die Schiller in der Geschichte „der mit ihrem Schicksal ringenden Menschheit" wieder findet, in „der unaufhaltsamen Flucht des Glücks, der betrogenen Sicherheit, der triumphierenden Ungerechtigkeit und der unterliegenden Unschuld."11 Geschichte selbst kann auf keine Intentionalität verweisen, da diese sonst bereits in ihr wirken müßte; deshalb auch ist „der freie Wille", den Fritz Nietzsche in Fatum und Geschichte als Antithese zu einer fatalistischen Ereignisstruktur identifiziert, darin „nichts als die höchste Potenz des Fatums". (HKGW, 2, 59) Wenn es zwischen der Kontingenz der Ereignisse und einer immerhin möglichen Intentionalität keine Kausalverbindung gibt, weil es sich um unvereinbare Systeme handelt, dann muß es eine Methode der Verknüpfung geben, die nicht auf Gemeinsamkeiten der unwiderruflich getrennten Bereiche angewiesen ist. „Denn", so heißt es in dem Aufsatz Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, „zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären, wie zwischen Subjekt und Objekt, gibt es keine Kausalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verfahren, ich meine eine andeutende Übertragung, eine nachstammelnde Übersetzung in eine ganz fremde Sprache" (KGW III/2, 378). Im Festungsbuch war dies die fremde Sprache der „Jurisprodenz". In einer Aufsatzskizze von 1864 findet der Schüler diese fremde Sprache in der „Methode nach der Analogie zu schließen." Was er als Ursache und Wirkung ineinander greifen sah, verbindet der Geist als Mittel und Absicht. (HKGW, 1, 336) Geradezu wie ein Hinweis auf die kindlichen Übungen des Festungsbuches liest sich der Hinweis des Pfortaer Schülers auf die „muthwilligen Spiele [...] des Knaben", denn „so spielt auch unwillkürlich unser Gedanke in den Räumen vaterländischer Geschichte seine seltsamen Spiele, er ist bei allem dabei immer thätig, und zaubert Bilder auf Bilder [...] als ob ein Hauch seines Geistes dabei mit gewaltet habe." (HKGW, 1, 341) Das „Als Ob" ist das Prinzip der Fiktion, ein „ästhetisches Verfahren". Sofern alles Faktische der Kontingenz unterliegt, dem Zufall ausgeliefert bleibt, kann es auch keine intentionalen Ordnungen enthalten, die, gemessen an der unermeßlich chaotischen Wirklichkeit, immer fiktiv bleiben müssen, also Spiel und Kunst, ästhetische Ordnung. „Geschichte objektiv denken", so erklärt der Autor der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung Über den Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, „ist die stille Arbeit des Dramatikers; nämlich alles aneinander denken, das Vereinzelte zum Ganzen weben: überall mit der Voraussetzung, daß eine Einheit des Planes in die Dinge gelegt werden müsse, wenn sie nicht darin sei." (KGW, HL, III/l, 286) Und ganz im Sinne Schillers erklärt er zur menschlichen Tugend, „daß er sich gegen jene blinde Macht der Facta, gegen die Tyrannei des Wirklichen empört und sich Gesetzen unterwirft, die nicht die Gesetze jener Geschichtsfluktuationen sind." (KGW, HL, III/l, 307)12 In Jenseits von Gut und Böse, einem Titel, der den Bereich des Ästhetischen definiert, wird die Argumentation wieder aufgenommen: „Warum dürfte die Welt, die uns etwas an10
Ebenda
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Ders., Über das Erhabene, Nationalausgabe Bd. 21, Weimar 1963, 52. Schiller nennt das „die absolute Unmöglichkeit, durch Naturgesetze die Natur selbst zu erklären und von ihrem Reiche gelten zu lassen, was in ihrem Reiche gilt." Über das Erhabene, 50.
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nicht eine Fiktion sein? Und wer da fragt: ,aber zur Fiktion gehört ein Urheber?' dürfte dem nicht rund geantwortet werden: Warum? Gehört dieses ,Gehört' nicht vielleicht mit zur Fiktion?" (KGW, JGB, VI/2, 50). An dieser Stelle wird die Konsequenz aus der Vermutung des Siebzehnjährigen gezogen, der in Fatum und Geschichte den freien Willen zur höchsten Potenz des Fatums rechnet: Auch das Subjekt der Fiktion ist selbst nur Fiktion. Es muß deutlich gesehen werden, daß die Fiktionalisierung der Weltgeschichte zu den frühen Vorstellungen Nietzsches gehört und vor allem, daß sie nicht nur das historische Subjekt meint, sondern den biblischen Autor der Weltgeschichte. Der aus der Literatur geläufige Topos der Analogiebildung von Weltenlauf und Spiel ist die Theatermetapher, die barocke Stage-Allegorie, die den großen Spielleiter immer auch zum Mitspieler erklärt, zum Akteur der eigenen Fiktion. Darin ist ein Urteil enthalten, weil der Akteur der Weltgeschichte auch immer zugleich Zuschauer und Mitleidender ist, letzten Endes der kompetenteste Kritiker des Spiels. Shakespeares Macbeth formuliert als Theaterkritik die endgültige Verfinsterung der historischen Weltbühne:
geht
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„Life's but a walking shadow, a poor player
That struts and frets his hour upon the stage, And then is heard no more: it is a tale Told by an idiot, full of sound and fury,
Signifying nothing."
Schärfer läßt sich das Urteil über die von der Bibel als Heilsgeschichte konstruierte Historie nicht formulieren: eine Geschichte, die ein Idiot erfunden hat, voll Schall und Wahn, die nichts bedeutet. Die Weltgeschichte ein Schauspiel, oder nach den Worten Grabbes „ein mittelmäßiges Lustspiel, welches ein unbärtiger, gelbschnabeliger Engel [...] während seiner Schulferien zusammengeschmiert hat", das Leben ein Traum: Shakespeares Prospero, der das Maskenspiel auf seiner Insel inszeniert, konstruiert auch die Analogie, in der er zugleich zum Erfinder der Weltgeschichte wird, der ihr Ende kennt, weil er es selbst erdacht und erträumt hat. Der Zusammenhang zwischen StageAllegorie und Weltgeschichte erklärt vielleicht auch, warum im Festungsbuch plötzlich unter dem Titel „Theater de Arts" das Bild einer Guckkastenbühne auftaucht, auf der sich eine Seeschlacht abspielt (KGW 1/1, 44): Die Stage-Allegorie ästhetisiert die Welt zur Bühne, die Historie zum Maskenspiel. Schopenhauers Urteil über die Weltgeschichte als verworrenen Traum der Menschheit ist das Urteil des durch Schiller säkularisierten großen Welttheaters, das ohne den überirdischen Spielleiter weiter läuft: einschließlich des Alptraums von seiner Existenz, wie er Kleists Amphytrion begegnet. Dem siebzehnjährigen Friedrich Nietzsche gelingt in Fatum und Geschichte, über Shakespeares und Schopenhauers Alptraum, eine erstaunliche Projektion über das Erwachen aus diesem Traum, wenn auch nur im Konjunktiv, also in der Sprache der Utopie, die unverkennbar an die eigene Kindheit anknüpft: „[Sjobald es aber möglich wäre, durch einen starken Willen die ganze Weltver13 14
Shakespeare, Macbeth, IV,5, The Cambridge Text, established by J. Pover-Wilson. Chr. D. Grabbe, „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung", in: Werke, Bd. 1, Darmstadt 1960, 241 f.
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gangenheit umzustürzen, sofort träten wir in die Reihe unabhängiger Götter, und Weltgeschichte hieße dann für uns nicht[s] als ein träumerisches Selbstentrücktsein; der Vorhang fällt, und der Mensch findet sich wieder, wie ein Kind mit Welten spielend, wie ein Kind, das beim Morgenglühn aufwacht und sich lachend die furchtbaren Träume von der Stirne streicht." (HKGW, 1, 58) Auf der Suche nach einer einheitlichen Theorie der Weltgeschichte ist der Pfortaer Schüler auf das Kind gestoßen, das er einmal gewesen ist. Was er vorfindet ist „das ,große Kind' des Heraklit" (KGW, GM, VI/2, 339) und damit das entscheidende Bild des griechischen Philosophen von der Entstehung der großen Erzählung, auf das der siebzehnjährige Nietzsche zum ersten Mal anspielt: „Die Zeit ist ein Knabe, der spielt, hin und her die Brettsteine setzt."15 Nichts anderes nämlich tut Fritz, wenn er versucht, mit Würfelspielen den Verlauf des Krimkrieges zu bestimmen. Während die amtlichen Ausleger der Ereignisse damit beschäftigt sind, das Erinnern durch in die Geschichte eingebaute Teleologien zu zähmen, um, wie es in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung heißt, aus der Historie „eine verkappte Theologie" (KGW, HL, III/2, 301) zu machen und schließlich „den christlichen Gott noch in jedem Zufalle wiederzuentdecken und zu rechtfertigen" (J 188, KGW VI/2, 111), schickt sich das Kind an, der „schauerli-
chen Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher ,Geschichte' hieß, ein Ende zu machen" (KGW, JGB, VI/2, 128). In einem Akt des „Als ob" tritt es an die Stelle des Weltenschöpfers, der die Ordnung aus dem Chaos gewonnen haben soll, „heiße es Zeus oder Zufall" (KGW, GM, VI/2, 339). Epistemologisch ist dies, gemessen an einer ideologisch orientierten Wissenschaft, die in der Geschichte die Verwirklichung des Weltgeistes, des Fortschritts oder eines göttlichen Planes zu finden hoffte, ein ungeheuerliches Unternehmen. Das Würfelspiel versucht aus der Kontingenz selbst Intentionalität zu gewinnen, ohne den Umweg über ein in die Geschichte implantiertes Ordnungssystem, das für die benötigten Kausalitäten sorgen könnte, ein Verfahren, das man gewöhnlich als „Magie" bezeichnet. Die Tragweite der Entscheidung für das Würfelspiel läßt sich vielleicht daran ermessen, daß noch Albert Einstein die Quantentheorie mit dem klassischen Argument des Teleologen zurückgewiesen hat: „Gott würfelt nicht." Man kann es auch so ausdrücken: Gott vielleicht nicht Fritz Nietzsche schon und mit ihm das große Kind des Heraklit. Man kann aber auch aus Jenseits von Gut und Böse folgern, daß Gott auch nur würfelt, denn dort heißt es über den obersten Würfler: ,,[E]r scheint unfähig, sich deutlich auszudrücken: ist er unklar?" (KGW, JGB, VI/2, 70). Gott ist, wenn überhaupt, der Inbegriff der Kontingenz. Das Würfelspiel versucht sich an einem epistemologischen Paradoxon: Es will das Gesetz des Zufalls finden, während die klassische Philosophie und Einstein mit ihr sich stets um die Eliminierung des Zufalls bemüht hat, gemäß der lexikalischen Definition: „Zufällig heißt demnach dasjenige Ereignis, welches aus einem System von Ursachen entspringt, das nicht in der Macht des Wollenden oder der Kenntnis der Auffassenden liegt, z.B. eine Folge, die weder von uns beabsichtigt noch auch vorhergesehen ist."16 Selbstverständlich wird die Tragweite des Zufalls durch den Rekurs auf eine verborgene Ursache entschärft, durch den Hinweis auf eine von Simmel in -
15
16
Heraklit, DK 22, B. 53. Kirchner/Michaelis, Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe, Leipzig 1907, 1325.
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der „Entwicklung eines ersten Zustandes" konstatierte Kausalität, die „unter Voraussetzung eben dieses nicht mehr zufallig ist."17 In diesem Sinne haben sowohl Kant wie Hegel Gott von der Notwendigkeit zu würfeln vollständig entlastet. Kant findet darin das erkenntnistheoretische Problem, das uns von Simmel tradiert wird: „Zufallig, im 1R reinen Sinne der Kategorie, ist das, dessen kontradiktorisches Gegenteil möglich ist." Hegels Definition der Zufälligkeit als „Einheit der Möglichkeit und Wirklichkeit"19 bestätigt ohne Umstände die ursprüngliche Rationalität der Genesis, die durch den Eingriff der göttlichen Vernunft dem Wirken des Zufalls entzogen ist. Tatsächlich hat Nietzsche selbst seinem Vorgänger aus den Naumburger Kindertagen in Jenseits von Gut und Böse zu erklären versucht, was jener mit seinem Würfelspiel beabsichtigt habe, nämlich die Verteidigung der von Schiller konstatierten Kontingenz des Weltenlaufs gegen die Intentionalität des europäischen Denkens, die immer auf die Verwirklichung von Zwecken gerichtet ist: um die Natur zu domestizieren, die immer als identisch mit dem Weltenlauf zu sehen ist und fast mit den Worten Schillers beschrieben wird, als ,„die Natur', wie sie ist, in ihrer ganzen verschwenderischen und gleichgültigen Großartigkeit, welche empört, aber vornehm ist"; diese aristokratische Indifferenz des Weltenlaufs also war nur durch die Eliminierung des Zufalls in Knechtschaft zu nehmen, durch die „strenge und grandiose Dummheit" der instrumentalisierten Vernunft, die sich dadurch auszeichnet, daß für die Denker „immer feststand, was als Resultat ihres strengsten Nachdenkens herauskommen sollte."(KGW, JGB, VI/2, 111) Mit andern Worten: Die ermittelten Kausalitäten, ob in der Natur oder in der Geschichte, die eben vermöge der Kausalität zur Heilsgeschichte wird, sind in der existierenden Wirklichkeit jener Entitäten gar nicht enthalten, sondern sie resultieren aus dem Diktat des Willens; daraus aber folgt, da Nietzsche sich an Ockhams Rasiermesser hält und ohne Not „nicht mehrere Arten von Kausalität annehmen" will, daß es nur eine „Kausalität des Willens"(KGW, JGB, VI/2, 51) gibt, mit deren Hilfe die vom Denken vorformulierten Ziele verwirklicht werden sollen. Erst die Negierung des Zufalls sichert den Erfolg: „Kein Sieger glaubt an den Zufall", heißt es deshalb in der Fröhlichen Wissenschaft (KGW, FW, V/2, 195), denn erst die Intentionalität beglaubigt die Sinnhaftigkeit des errungenen Sieges. Diese, vom Philosophen Nietzsche identifizierte „grandiose Dummheit", beschreibt ganz allgemein das Strukturprinzip der auf Ausbeutung der Natur gerichteten modernen Wissenschaft; sie wird denn auch von Nietzsche als eine „Lebens- und WachstumsBedingung" bezeichnet. „Gott würfelt nicht", so wenig wie der Physiker, der streng wissenschaftlich im Experiment immer das findet, was vorher als Ziel der Spurensuche von der Theorie formuliert worden war. Die „Kausalität des Willens" bestimmt nämlich fundamental, daß man immer findet, was man finden will, indem man unnütze Fragen, die Kinderfragen nach dem ,Warum?' nämlich, vermeidet. Die Differenz zwischen Nietzsches „europäischen Denkern" und dem von Fritz praktizierten Auswürfeln der Wahrheit ist offensichtlich. Dieses Kind weiß nichts von der 17
18 19
G. Simmel, Probleme der Geschichtsphilosophie, 1892, zit. nach R. Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Berlin 1904, 841. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke, Bd. 4, Frankfurt/M. 1977, 440. G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik 11, Werke, Bd. 6, Frankfurt/M. 1986, 205.
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Lenkung des Weltenlaufs auf ein Ziel hin, heiße es Atombombe oder Jüngstes Gericht. Es sammelt Ereignisse an, ohne sie durch abstrakte Regeln zu reduzieren, und mit Hilfe der Würfel versucht es, Hypothesen zu formulieren, die nicht aus vorausgehenden Gesetzmäßigkeiten deduziert, sondern abduktiv gesetzt sind. Er versucht, in den Ereignis-
selbst den Code zu finden, der ihm die Welt lesbar macht. Er sucht, mit den Worten des späteren Philosophen, ,jene volle Wahrhaftigkeit", die „die monumentale Historie nicht brauchen können" wird, weil sie immer „das Ungleiche annähern, verallgemeinern und endlich gleichsetzen" will. Diese monumentale Historie ist deshalb nicht, wie die des Kindes, eine Sammlung von „Ereignissen", sondern eine Sammlung der „Effekte an sich", während der „wahrhaft geschichtliche Connexus" nur bewiese, „daß nie etwas durchaus Gleiches bei dem Würfelspiele der Zukunft und des Zufalls herauskommen könne."(KGW, HL, III/l, 257f.) Ohne zu zögern besetzt das Kind die Stelle des großen Würflers, um selbst das Spiel zu spielen, das laut Überlieferung der Regisseur des großen Welttheaters einst entfesselt haben soll. Das Kind orientiert sich dabei nicht an den Regeln der Metaphysik sondern an der Pokerregel, die der Philosoph und SchachWeltmeister Emanuel Lasker formuliert hat: „Beobachte nach Statistik, urteile nach 20 Wahrscheinlichkeit und vertraue der Stärke deiner Hand." Würfeln und Statistik kommen offensichtlich ohne Intentionalität aus, da sie im Wortsinn mit dem Zufall rechnen, und das heißt, daß der Spieler die Kontingenz akzeptiert, der er selbst und sein Handeln unterliegen. Die Ereignisse, die Fritz angesammelt hat, werden nicht anhand religiöser oder mythologischer Muster erklärt, sondern sie werden einem wissenschaftlichen Prozeß unterzogen, der mit Hypothesen und Statistik arbeitet. Dabei wird, wie Thomas S. Kuhn konstatiert hat, nicht eine Theorie getestet, sondern die Geschicklichkeit von Experimentatoren und Theoretikern, wie es schon Hans Vaihinger in der „Philosophie des Als Ob" formuliert hat. Wer sich an das Wirken des Zufalls halten will, befindet sich merkwürdigerweise im Dissens, sowohl mit den Verfechtern der Religion wie mit jenen der instrumentalisierten Vernunft, und zwar deswegen, weil es sich in beiden Fällen um deterministische Systeme handelt. Für die Religion kann es keine Kontingenz geben, weil auch das Unvereinbare nichts als Gottes Wirken ist, der vorgebliche Zufall also nichts als der uns unverständliche Ausdruck einer von Anbeginn gesetzten Intentionalität. Für die sogenannte exakte Wissenschaft weist der Auftritt des Zufalls spätestens seit Hume nur auf eine noch nicht durchschaute Kausalität hin. Aufgabe der Wissenschaft sei es folglich, das von der Kontingenz nur verdeckte deterministische Modell zu finden: durch Reduktionen, die den Zufall und damit die Wirklichkeit der Welt aus den Systemen eliminieren, die damit, nach der Feststellung von Wilhelm Schapp, unbetretbar werden, gleich „der guten Stube der Hausfrau".21 Erst die Eliminierung des Zufalls durch Formalisierung der Natur ermöglicht solche Prognosen auf künftige Wirkungen, die es erlauben, das an und für sich zufällige Handeln auf nutzbare Zwecke hin zu strukturieren. Der methodische Determinismus definiert Wissenschaft von vornherein als Verfahren zur Ausbeutung jener Natur, deren An Sich durch den Zufall geprägt ist. Es gibt, wie Die sen
E. Lasker, Das verständige Kartenspiel, Berlin 1929, zit. n. B. Gräfrath, Ketzer, Dilettanten und Genies. Grenzgänger der Philosophie, Hamburg 1993, 137. W. Schapp, Philosophie der Geschichten, Frankfurt/M. 1981, 190.
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fröhliche Wissenschaft dekrediert, keine „Gesetze in der Natur", die in Wirklichkeit nur die von den Zwecken diktierten „Notwendigkeiten" sind: ,,[N]ur neben einer Welt von Zwecken hat das Wort .Zufall' einen Sinn."(KGW, FW, V/2, 146) Die Evolution ist nicht deterministisch, sowenig wie die menschliche Geschichte, der politische Alltag, das Leben. Alle Wirklichkeit ist durch den Zufall geprägt, jede systematische Welterklärung dagegen durch den Ordnungszwang von Paranoikern. Der Zufall ist, paradox ausgedrückt, die systematische Widerlegung der Paranoia, die in den rigiden Ordnungssystemen der Religion und der Wissenschaft gleichermaßen regierten. Prognosen, wie sie Fritz im Festungsbuch in der klassischen Form von Hypothese und Verifizierung formuliert, sind natürlich gleichwohl möglich und legitim, sofern sie der Kontingenz durch zeitliche Begrenzung Rechnung tragen: Prognosen sind immer nur kurzfristig erfolgreich, weil die mit der Zeit wachsende Komplexität der Ereignisse die Wirksamkeit der Reduktionen immer unsicherer macht. Die Komplexität des Geschehens erhält sich durch den Zufall. Daraus folgt, daß langfristige Prognosen in hochkomplexen Systemen, wie dem Wetter oder der Geschichte, nicht möglich sind. Die Wissenschaft mit ihren zweckdienlichen Reduktionen und die „symbolische Interpretation" der undurchsichtigen Welt lassen sich beide als Strategien gegen den Zufall lesen. Wie in der kulturellen Entwicklung beide Strategien sich überschneiden, so auch im Festungsbuch. Fritz sucht eine verborgene Ordnung mit den Mitteln der Wissenschaft und zeigt zugleich, wie das symbolische Vokabular in die rationale Ordnung eindringt, ohne daß dabei die christliche oder mythische Intentionalität deutlich zum Tragen käme. Tatsächlich ist es das Würfelspiel selbst, das die wissenschaftliche und die symbolische Interpretation vereint, da es sowohl die Geschicklichkeit des Experimentators nach Lasker und Kuhn herausfordert, als auch die Projektionsfähigkeit der Phantasie beim
Entwurf des Noch-nicht-Seienden. Es läßt sich auch nicht von der Hand weisen, daß Fritz und seine Spielgefährten mit ihrer Kombination von Krieg, Zufall und Glücksspiel eine glückliche Hand hatten um einmal im Bild zu bleiben. Die Rede vom „Kriegsglück" weist daraufhin, daß im Krieg dem Wirken des Zufalls stets ein besonderer Stellenwert zugebilligt worden ist. Fritz Mauthner, der den ersten wirklich substantiellen Beitrag zur Philosophie des Zufalls verfaßt hat, fand darüber hinaus einen konsistenten sprachhistorischen Zusammenhang für das von Fritz konzipierte Kontinuum aus Zufall und Krieg, Festungsbau, Artillerie und Würfelspiel. Mauthner führt die Begriffsbildung des Zufalls auf eine Lehnübersetzung aus dem lateinischen Casus (von cadere) zurück, ursprünglich „Fall im Raum" aber auch Vorfall und Zufall: casu hatte die Bedeutung von zufällig. Von cadere leitet sich auch cadentia ab, aus dem die Chance entstand, mit der nun tatsächlich ein Würfelspiel gemeint war. Im Gegensatz zu hazard bezeichnet chance die Möglichkeit, durch Geschicklichkeit einen Treffer zu erzielen, also das Spielerglück. Auf diese Chance geht das deutsche Lehnwort Schanze zurück, aus dem dann der Festungswall wurde. Und auch das Griechische führt, folgt man Mauthner, den Zufall und das Schicksal auf die Artillerie zurück: tychê, das Schicksal, das den Menschen trifft und tynchanô on, ich bin zufallig, gehen auf tynchanein zurück, was eigentlich das Treffen -
von
Wurfgeschossen bedeutete.22
Fr. Mauthner, Wörterbuch der 498-501.
Vgl.
Philosophie, 1910/11, Nachdruck Zürich 1980, hier bes. Bd.2,
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Was sich wie ein Exempel für den Beziehungswahn liest, erweist sich doch als eindrucksvolles Ergebnis einer Spurensuche, die in der Verknüpfung der disparaten Fakten erstaunliche Muster findet. Wenn der „Gesamtcharakter der Welt", gemäß einer Feststellung in der Fröhlichen Wissenschaft, „in alle Ewigkeit Chaos" ist (KGW, FW, V72, 146), bringt der Würfelwurf, der laut Mallarmé den Zufall „niemals auslöschen" wird, auch brauchbare Muster hervor. Nur vor dem Urteil der Vernunft nämlich dominieren, gemäß der Fröhlichen Wissenschaft die „verunglückten Würfe". Angesichts der chaotischen Welt dagegen ist schon das Urteil „verunglückt" eine unhaltbare Vermenschlichung. Der Würfelspieler folgt nicht den Erkenntnisregeln der Vernunft. Vor dem Urteil der Vernunft gilt stets der Satz des Abbé Galiani: „Les dés de la nature sont Der Würfelspieler bedient sich der gezinkten Würfel, weil er in dem, was die Wissenschaft für die Fälschung der Welt hält, schon die wirkliche Welt vermutet, gemäß der Formulierung Carlo Ginzburgs: „Wenn die Realität nicht direkt erfahrbar war, so ergab sich daraus die Legitimation des konjekturalen Fritz Nietzsche konstruiert sein Festungsbuch nach dem konjekturalen Muster, der Methode des Jägers und Sammlers, der aus den Spuren auf Zusammenhänge schließt, um so mit Ginzburg „den plötzlichen Sprung vom Bekannten zum Unbekannten zu vollziehen".25 Im Gang der Geschichte sucht er durch Analyse, Vergleich und Klassifizierung die Gesetze der Erzählung zu ermitteln, mit dem Ziel der „Erklärung von Vergangenheit und Gegenwart in der Diagnose und [...] Entwurf einer wahrscheinlichen Zukunft in der Das Verfahren ist zugleich empirisch und magisch, denn es erklärt auch die Methode zur Entzifferung der göttlichen Botschaft aus ihren irdischen Zeichen und die Lesbarkeit der Welt nach dem Buch der Natur. Alles konjekturale Wissen und Forschen hat gemeinsam, daß seine Ergebnisse nicht reproduzierbar sind, also nicht überprüfbar mit den klassischen Methoden der exakten Wissenschaften. Ginzburg beschreibt das klassische Verfahren des Historikers: „Wenn sich Ursachen nicht wiederholen lassen, gibt es keine andere Alternative, als sie aus ihrer Wirkung abzulei-
pipés."23
Paradigmas."24
Prognose."26
ten."27
Letzten Endes wird man angesichts der Vielfalt der Zeichen folgern müssen, daß die Wahrheit nicht ermittelt, sondern erraten wird, ein Phänomen, das der englische Universalgelehrte des 18. Jahrhunderts Horace Walpole als „Serendipity" bezeichnet hat. In Jenseits von Gut und Böse hat Nietzsche das konjekturale Paradigma ausdrücklich im Hinblick auf die Arbeit des Historikers verteidigt. Der „historische Sinn" wird beschrieben als „die Fähigkeit, die Rangordnung von Wertschätzungen schnell zu erraten, nach welchen ein Volk, eine Gesellschaft, ein Mensch gelebt hat, der ,divinatorische Instinkt' für die Beziehungen dieser Wertschätzungen, für das Verhältnis der Autorität der Werte zur Autorität der wirkenden Kräfte".(KGW, JGB, VI/2, 163f.) Die Lesbarkeit der Zeichen erschließt sich Nietzsche in der Analogie zum Leser, der auch nie den vollständiZit. nach Fr. Mauthner, Bd. 2, 131. C. Ginzburg, „Indizien: Morelli, Freud und Sherlock Holmes", in: U. Eco, Th. A. Seboek Der Zirkel oder im Zeichen der Drei, München 1985, 125-197, hier 140. Ebenda, 167. Ebenda, 138. Ebenda, 156.
(Hrg.),
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gen Text kennt, „er nimmt vielmehr aus zwanzig Worten ungefähr fünf nach Zufall heraus und ,errät' den zu diesen fünf Worten mutmaßlich zugehörigen Sinn".(KGW, JGB, VI/2, 115) Schon im frühen Aufsatz Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn ist die Wahrheitsfindung als Erfindung im Sinne einer Sprachregelung oder Übereinkunft beschrieben, denn „es wird eine gleichmäßig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden"(KGW, WL, III/2, 371). Die Anwendung von Vernunftregeln dagegen führt dazu, daß man findet, was man will, wie „jemand ein Ding hinter einem Busche versteckt, es eben dort wieder sucht und findet"(KGW, WL, III/2,
377).
konjekturale Paradigma, weil es auf Vermutungen beruht, tatsächlich „die Möglichkeit göttlicher Intervention ausschloß", wie Ginzburg behauptet,28 scheint mir eher klärungsbedürftig. Für die erkenntnistheoretischen Entscheidungen Nietzsches erhellend ist aber seine Herkunft aus den griechischen Stadtstaaten. Mit dem Richten nach Maßgabe der Zeichen (griechisch tekmôr, tekmaîresthai) wurde ein „semiotisches Paradigma" formuliert, das es nötig machte, auf Grund von Hypothesen Urteile zu fallen, bei den Griechen laut Ginzburg, durch „Ärzte, Historiker, Politiker, Töpfer, Schreiner, Seeleute, Jäger, Fischer und Frauen."29 Ihre konsequenteste Ausprägung fand die Methode in der hippokratischen Medizin, der auch der Begriff für die konsistente Formulierung der Ergebnisse entstammt, der Aphorismus als „Versuch, anhand von Symptomen und Indizien Ansichten über Mensch und Gesellschaft zu formulieren".30 Drei Topoi von Nietzsches späterer Philosophie gründen auf dem konjekturalen Paradigma der frühen griechischen Philosophie: der Philosoph als Arzt am Körper der Gesellschaft, der Philosoph „als Dichter, Rätselrater und Erlöser des Zufalls"(KGW, ZA, VI/1, 244) und der Philosoph als das Kind des Heraklit: „Über allen Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der Himmel Ohngefähr, der Himmel Übermut."(KGW, ZA, VI/1, 205) Zarathustra, dem gelingt, „was der Löwe nicht vermochte"(KGW, ZA, VI/1, 27), gibt den Dingen das „Von Ohngefähr" zurück und erlöst sie damit „von der Knechtschaft unter dem Zwecke."(KGW, ZA, VI/1, 205) Wer das Festungsbuch verstehen will, muß die Kinderfrage nach dem ,Warum?' ernst nehmen, die von der Schulphilosophie als sinnlose Frage verworfen worden ist. Nicht um Vorwegnahme einer späteren Philosophie handelt es sich, sondern um den Topos des Anfangs. Der kindliche Autor stellt die Kinderfrage, und er entwirft eine Epistemologie, die ihm zu Antworten verhelfen soll, ohne sich um angelernte Sinngebungen zu kümmern. Das bleibt nicht ohne Folgen: Entscheidend sind nicht die Antworten, sondern die Epistemologie, der Weg und nicht das Ziel, und damit ein Begriff von Philosophie als Akt des Selbstdenkens, der später bei Schopenhauer wiedergefunden wurde. „Deshalb ergreift es [den Philosophen], als ob er eines verlorenen Paradieses gedächte, [...] das Kind zu sehen, das noch nichts Vergangenes zu verleugnen hat und zwischen den Zäunen der Vergangenheit und der Zukunft in überseliger Blindheit spielt." (KGW, HL, III/l, 245) Eben diese Blindheit aber ist auch die Voraussetzung für den Anfang, der unter den Auspizien einer bereits zur Vergangenheit gewordenen ZuOb das
C.
Ginzburg, „Indizien", a.a.O.,
Ebenda, 140. Ebenda, 166.
139.
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kunft nicht mehr zu leisten wäre. Der Entwurf, der aus dem Anfang entsteht, ist immer „eine Sache des Spiels, etwas für Kinder und Kindsköpfe." (KGW, JGB, VI/2, 73) Das Naumburger Kind, das sich daran machte, die Weltgeschichte zu erfinden, hält sich, da es keine Zwecke kennt, an bestimmte epistemologische Grundsätze des späteren Philosophen; es ist dem Löwen darin überlegen, daß es im Spiel erreicht, wozu jener auf Raub ausgehen mußte: „Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja/sagen."(KGW, ZA, VI/1, 27) Da ist es wieder, das frühgriechische Paradigma, mit dem der Flug der Eule beginnt, das erst durch Piaton mit der Umdeflnition des Kindlichen ins Kindische als das Widervernünftige der Philosophie ausgetrieben wurde. Das Schlußgedicht des Festungsbuches kommentiert den Fall der Festung Sewastopol mit dem Satz: „Die Würfel sind gefallen", der nichts anderes bedeutet als das Ende der Kindheit und den Beginn des Verhängnisses. Das Versagen des Löwen aber gestatten Sie mir zum Schluß diese waghalsige Projektion weist auf ein anderes Versagen der räuberischen Intelligenz: Unter Thorwaldsens steinernem Löwen wollte Nietzsche Lou Salomé endlich sexuell erobern. Er vermochte es nicht.31 -
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Vgl. dazu: J. Köhler, Zarathustras schaft, Nördlingen 1989. 333f.
Geheimnis. Friedrich Nietzsche und seine verschlüsselte Bot-
RÜDIGER ZIEMANN
Ewiges Ziel und falsche Begriffe Zu Friedrich Nietzsches Prometheus-Drama
Das Jahr 1859 markiert einen Einschnitt in der Biographie des Dichters Friedrich Nietzsche. Ein solcher Satz mag ein wenig großspurig klingen; er spricht immerhin von einem Vierzehnjährigen. Doch schon der Dreizehnjährige hatte sein lyrisches Werk in Perioden eingeteilt, er begann, sich selbst als historisch zu begreifen. Da wundert es fast, daß er die Zäsur des Jahres 1859 nicht reflektiert, bringt dieses Jahr doch die Blüte seiner dramatischen Dichtung und den Abschied von ihr.1 Das vorletzte der Dramen, das letzte, das vollendet oder doch abgeschlossen wurde, trägt den Titel „Prometheus" (HKGW, 1, 62-73). Es entstand im April 1859 und bildet den Anfang einer Reihe von Äußerungen zur Gestalt des Titanen, die alle in das frühe Jahr 1859 fallen. Es fällt nicht leicht zu glauben, daß der junge Dichter den umfangreichen Textkomplex des Werkes in dem angegebenen kurzen Zeitraum bewältigt hat. Die von Hermann Josef Schmidt geäußerten Zweifel2 bleiben. Für die Datierung der Mette-Ausgabe spricht außer dem Zeugnis des Autors (KSB, 1, 59), daß der Name des Titanen in den schriftlichen Äußerungen ebenso unvermittelt verschwand wie er auftauchte. Die wenigen weiteren Nennungen in den Papieren der Schuljahre sind von -
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geringerem Belang.
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Daraufwies schon Renate Müller hin; vgl. R. G. Müller, Antikes Denken und seine Verarbeitung in Texten des Schülers Nietzsche, Dortmund 1993, 75. Ein Brief an die Schwester vom 22. April 1860, den Mette nicht berücksichtigt hat, berechtigt zu der Annahme, daß Nietzsche noch 1860 an Philotas arbeitete, ohne das Stück offenbar zu vollenden; vgl. KSB, 1, 102f. und R. Müller, Antikes Denken und seine Verarbeitung in Texten des Schülers Nietzsche, 75. Unter den Notizen zur Gestalt des Ermanarich von 1862 gibt es einige, in denen man Vorstufen zu einem Versuch dramatischer Gestaltung sehen kann, aber hier ist nichts so weit gediehen, daß sichere Aussagen möglich wären. Vgl. H. J.Schmidt, Nietzsche absconditus, II. Jugend, 1. Teilband, 1858-1861, Berlin/Aschaffenburg 1993, 380f. Vgl. HKGW, 2. Es verwundert nicht, wenn der Schüler in einer dem Lehrer abzuliefernden Interpretation einer Horaz-Ode nicht auf die eigenen Bemühungen um die Gestalt des Titanen eingeht (136), dagegen befremdet es schon, daß Nietzsche in einer recht hochmütigen Kritik Pinders Prometheus-Versuch herb tadelt, ohne auch nur eine Bemerkung dazu zu finden, daß sehr wahrscheinlich seine Anregungen den Freund an diese Arbeit gebracht haben (216).
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Bekanntlich spielte Prometheus rund ein Jahrzehnt später noch einmal eine große Rolle in Nietzsches Werk; er hatte zusammen mit Oedipos in Die Geburt der Tragödie den tragischen Helden der Griechen zu repräsentieren, und der Leser der ersten Auflage fand ihn in einer Vignette des Titelblatts. Prometheus ist eine wichtige Gestalt der griechischen Mythologie und der griechischen und römischen Poesie. Er steht beim antikekundigen und graecophilen jungen Nietzsche in einer beachtlichen Reihe klassischer Helden. Renate Müller und Hermann Josef Schmidt haben diesen Zusammenhang eingehend beschrieben. Prometheus ist aber auch die zentrale Gestalt eines anderen Mythos; dort wurde er zum Vorausbild des seine Grenzen überwindenden, sich von sozialen Bevormundungen und vom Mangel emanzipierenden, sich selbst bestimmenden modernen Menschen. Giordano Bruno, Herder und Bürger sahen in ihm einen Verwandten. Der junge Goethe schnitt sich „das alte Titanengewand" nach seinem „Wüchse"4 zu. Wenn bei Friedrich Schlegel Prometheus als der „Erfinder der Erziehung und Aufklärung" bezeichnet wird,5 darf die ironische Rollenrede nicht die Achtung vergessen lassen, mit der Schlegel an anderer Stelle den Namen des Titanen verwendet. Der spätere Nietzsche mußte Goethes Prometheus als ein Werk jener „naturalistischen" Revolution sehen, die endgültig mit der einzigen wirklichen Kunst des damaligen Europa brach, der des französischen Klassizismus. Es gibt keinen Hinweis darauf, daß Nietzsche jemals Goethes Pandora gelesen hat, aber es ist schon verlockend, in diesem Stück einen Beleg für Nietzsches Theorie zu sehen, nach der Goethe in seinen späteren Jahren versuchte, die künstlerischen Sünden der Jahre seiner frühen Prometheus-Arbeiten in ihren Wirkungen zu mindern (KSA, MA I, 2, 183f). Noch der ironische Umgang mit der Gestalt bekräftigte, daß Prometheus die Aufklärung wohl nicht „erfunden" hatte, daß er aber ihre wichtigste Symbolfigur geworden war. Daran wirkte auch Goethes großes und berühmtes Gedicht mit, so deutlich sich Goethes frühe Arbeiten sperren mußten, wenn man sie ernsthaft für diesen Zusammenhang in Anspruch nehmen wollte. Jean Améry nannte das neunzehnte Jahrhundert das eigentliche Jahrhundert der Aufklärung; trotz aller Medeen und Helenen dürfen wir in Prometheus den eigentlichen klassischen Helden dieses Jahrhunderts sehen, dem im unsrigen vielleicht Sisyphos an die Seite zu stellen wäre. Prometheus war zu einer Gestalt der jüngsten europäischen Literatur geworden. Der junge Nietzsche begegnete ihm allerdings wohl später in Byrons Manfred-Dichtung, die wesentlich von Goethe-Lektüre beeinflußt war; Der befreite Prometheus Shelleys dürfte Nietzsche damals nicht bekannt gewesen sein. In Ernst Ortlepps Gedicht Washington wird gefragt: „Wer gab der Menschheit gluthbeseelt, / Prometheus gleich, die Menschheit wieder, / Nachdem sie lang sich selbst Natürlich geht es um Washington, dessen politisches Werk man damals allgemein mit Mündigkeit und Selbstbe-
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gefehlt?"7
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6 7
Joh. W. v. Goethe, Werke, Bd. 1, Hamburg 1959, 48. E. Behler (Hg.), Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Erste derborn, Wien, Zürich, 1958ff, 28. Ebenda, Bd. 2, 92. E. Ortlepp, Gesammelte Werke, Bd. 1, Winterthur 1845, 39.
Abteilung,
Bd. 5, München/Pa-
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Stimmung des Menschen verband. In diesem Sinne wurde Prometheus dann auch zu einer Identifikationsgestalt der sozialistischen Bewegung. Wer das alles in der Erinnerung hat, wird von dem Prometheus des jungen Nietzsche zunächst überrascht sein. Wo man Erläuterungen für nötig hielt, konnte der Leser auch damals erfahren, daß Prometheus den Menschen das Feuer gebracht habe, welches er vorher den Göttern gestohlen hatte; es war also von einer Straftat die Rede. Das wog aber nicht gegenüber einem anderen Verständnis von Recht, nach dem jede Beherrschung und Behinderung von Menschen schlechthin ein Unrecht ist. Nietzsches Prometheus ist ein Frevler. Im Tragödienbuch steht er für die These, daß verkürzt gesagt wesentliche Kultursprünge, die mit dem Frevel verbunden seien,
den Menschen, die sie erlebten, als Frevel erfahren würden. Um Frevel und Schuld geht es auch in der Prometheus-Dichtung des Vierzehnjährigen. Diese Dichtung ist ein recht formenreiches Gebilde, und der Interpret, der hier von einer Gruppe selbständiger Werke ausgehen wollte, hätte gute Argumente auf seiner Seite. In der einzigen erhaltenen Äußerung Nietzsches über das Werk berichtet der junge Dichter dem Freund Wilhelm Pinder, er habe in jüngster Zeit „meheres" geschrieben (KSB, 1, 59); er zählt dann mit kurzen Charakteristiken fünf Arbeiten auf, deren drei erste hier trotz der genannten Bedenken als ein Werk betrachtet werden sollen. Den ersten Teil bildet ein „Drama in einem Act". Nietzsche nennt es im angeführten Brief „ein mißglüktes Schauspiel, betitelt Prometheus, angefüllt mit einer Unzahl falscher Begriffe über diesen Gegenstand" (KSB, 1, 59). Daraus läßt sich erstens schließen, daß sich der Dichter von dieser Arbeit distanzierte, soviel hier auch Koketterie im Spiele gewesen sein mag. Zweitens scheint damit der Titel nur zu diesem Text zu gehören. Drittens legt die Formulierung die Annahme nahe, daß Nietzsche sein „Drama" als abgeschlossen betrachtete. Den zweiten Teil bilden „drei Gedichte eben darüber" (KSB, 1, 59), also über Prometheus. Diese Aussage ist durchaus irreführend. Es geht um den Menschen in seinem Verhältnis zu dem, was ihn letztlich bestimmt. Die lyrische Trilogie trägt den Titel „Chor der Menschen". Unter dem Titel steht eine szenische Anweisung: „Es ertönt folgendes Lied unter Donnern und Blitzen." Es scheint so zu sein, daß dieser große Gesang aus dreimal drei Strophen das Finale des Schauspiels bildete, in dem diejenigen, um die es im Stück ging, in Anlehnung an den Chor der Alten die ideelle Summe des Geschehens ziehen sollten. Allerdings gibt es dieses Gedicht auch mit dem Titel „Prometheus"; es handelt sich Der Abschreiber um eine Reinschrift, nach der die Mette-Ausgabe den Text bedient sich der lateinischen Schrift, die sonst in keinem der Faksimiles des ersten Bandes der Mette-Ausgabe verwandt wird. So muß Nietzsche nicht der Schreiber gewesen sein, sicher aber wurde der Titel nicht ohne seinen Willen und ohne sein Wissen gesetzt. Sehr wahrscheinlich stammt von ihm die Einfügung „mit Fragezeichen", die in Klammern und in kleinerer deutscher Schrift dem Titel folgt. Sie markiert offenbar den Anfang einer Bearbeitung, auf die auch zahlreiche Fragezeichen hinter einzelnen Versen deuten. Zusammenhängend mit dieser Bearbeitung oder nachdem sie abgebrochen wurde muß schließlich die dritte Arbeit entstanden sein. Anschließend an die Nen-
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von
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bringt.8
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HKGW, 1, 451; vgl. Faksimile neben 96.
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nung der drei Gedichte fahrt Nietzsche im Brief an Pinder fort: „[...] die ich in einer dritten heruntergemacht habe. Diese dritte Schrift ist übrigens ein eigenthümliches Ding ist aber noch nicht fertig, erst 6 enge Quartseiten lang und ist betitelt Fragezeichen und Notizen nebst einem allgemeinen Ausrufezeichen über drei Gedichte betitelt, Prometheus.' Es wird darin ein Dichter im Gegensatz zum Publicum aufgeführt, und das ganze ist ein Gemisch von Unsinn und Blödsinn. Unter andern ist ein Satz von einer ganzen Seite darin. Dann kommen furchtbar lächerliche Verdrehungen, richtig dumme Subjeckte usw usw. vor. Ich weiß nicht wie ich auf solche verrückte Ideen kommen konnte." ( KSB, 1,59) Im Titel der dritten Schrift erscheint also der ursprüngliche Titel des Gesamtwerks als der Titel der lyrischen Trilogie. Wenn Nietzsche im Brief schreibt, er habe die Gedichte in diesem szenischen Text „heruntergemacht", so stimmt das wieder nicht. Er läßt sie von seinen Figuren »heruntermachen', die dabei aber vor allem sich selbst heruntermachen', sich blamieren. Der Text weist seinen Dichter als einen aus, dessen Souveränität sich auch darin zeigt, daß er sich selbst zum besten haben kann. Dieser Wirbel transportiert schließlich Auskünfte zu den Ideen des Unternehmens. Die relative Ausführlichkeit, mit der Nietzsche von diesem Text spricht, zeigt außer der Tatsache, daß er dem Dichter ganz gegenwärtig ist, doch auch, daß er Aufmerksamkeit verdient. Man erkennt da leicht ein romantisches Muster wieder: Der Künstler spricht gegen ein ahnungsloses, aber höchst selbstbewußtes Publikum an, das sich sonst gäbe es ja den Witz nicht Kunstverstand zuschreibt und sich für Kunst interessiert gibt. Vieles erinnert an das Gespräch, das einst Kleist und Brentano ihr Publikum über Friedrichs Der Mönch am Meer führen ließen. Mißverständnisse und Halbwissen lassen da wunderschöne Kalauer entstehen. Für unseren Zusammenhang ist wichtig, daß der junge Nietzsche mit diesem Text seinen Platz in der Dichterwelt erstreitet: Er gehört zuverlässig zu denen, welche die Masse nicht versteht und respektiert. Indem er die Leute am Schluß in Reimen reden läßt, die es in der diskutierten Dichtung nicht gibt, die aber im populären Verständnis als das eigentlich Dichterische gelten, kann er um so sicherer sein, daß er alle seine Kritiker zu Dichtern gemacht habe; sie sind die Dichter, die sie verstehen. Das erste Wort in Nietzsches Drama hat eine Gestalt, die in den Überlieferungen wie Renate Müller betont eine geringe Rolle spielt; meistens wird sie genannt, wo auf alte Weise der Name des Prometheus komplettiert werden muß: Prometheus, Sohn des Iapetos. Dieser Iapetos informiert seinen Sohn darüber, daß er ein Bündnis mit den olympischen Göttern vorbereitet habe. Dessen Zweck soll es sein, das von Prometheus geschaffene Geschlecht der Menschen mit vereinten Kräften zu schützen und zu fördern, vor allem gehe es darum zu vermeiden, daß ständiger Streit ihrer Herren das Glück der Menschen zerstöre. Iapetos verachtet die Götter und weiß, daß auch die Menschen diese Götter verachten. Die Menschen haben aber anders als die Titanen wenige Möglichkeiten, sich der Himmlischen zu erwehren. Prometheus bestreitet die Übermacht der Götter, deren Chef er selbst an die Macht gebracht habe, und befürchtet nun den Verlust seiner Freiheit, seiner Freude, seines Stolzes. Das Vorhaben des Vaters kann er nur noch verhindern, wenn er diesen davon -
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R. Müller, Antikes Denken und seine
Verarbeitung in Texten des Schülers Nietzsche, 63.
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überzeugt, daß jene Götter nicht allmächtig sind. Daß sie ihrer moralischen Qualitäten wegen keinen Respekt verdienen, steht für ihn von vornherein fest. Die nächste Szene, die den olympischen Göttern gehört, bestätigt das. Diese Götter behandeln das neue Geschlecht, das sie ja gemeinsam mit den Titanen schützen sollten, wie eine Beute, die sie unter sich verteilen, bevor der Vertrag geschlossen ist. Von ihren Partnern ist keine Rede mehr. Nun folgt die zentrale Szene, die Nietzsche einer in der jüngeren Literatur weniger beachteten Episode des Prometheus-Mythos nachformt. Der Vertrag soll mit einem Opfer besiegelt werden. Prometheus hat das Schlachtgut so in zwei Haufen arrangiert, daß der mit dem minderwertigen Material attraktiver wirkt als der mit den Leckerbissen. Er erwartet, daß der Gott den Trick nicht erkennen und den minderwertigen Haufen wählen wird, wodurch er sich als keineswegs allwissend erweisen würde. Zeus aber durchschaut den Betrug. Er schwört Rache und „entschwindet". Um Prometheus wird es finster. Gewitter und eine „Erynienschaar" umtoben ihn. „Er sinkt nieder". Hermann Josef Schmidt wies schon auf Anklänge an Schillers Die Kranihin. Der tragische Held hat zwar nicht „verstohlen des Mordes schwere che des Tat vollbracht", aber seine geringere Straftat wandte sich gegen die Höchsten. Akzeptiert der Betrachter Nietzsches Brief an Pinder als Leseanweisung, muß er hier die Grenze zwischen zwei Werken sehen. Das Stück über Prometheus ist abgeschlossen, ein Gedicht über Prometheus schließt sich in der Werkbiographie an. Das im Herbst des gleichen Jahres entstandene Phi Iotas-Drama bestätigt, daß der Dichter eine selbständige Existenz des Gedichts für möglich ansah, wie etwa der abschließende Monolog des Prometheus-Fragments als solchen verstand man damals Goethes großes Gedicht unter dem Titel des Dramas allein in die Öffentlichkeit gegangen war. Diese Analogie stützt aber auch die Annahme, daß der große Schlußchor des Dramas, seine Verwandlung in ein szenisch-lyrisch-musikalisches Ensemble, die ursprüngliche Gestalt-Intention war. Der Weg der Handlung ist seit dem Barocktheater vertraut; wir kennen Goethes ironische Formulierung: „Vom Himmel durch die Welt zur Hölle". Nun endet Faust bekanntlich nicht in der Hölle, und Nietzsches Menschheitsdichtung geht auch nur bis zur nächsthöheren Ebene. Die Menschen, denen gezeigt wurde, was sie von denen zu erwarten haben, die über sie zu wachen vorgeben, sprechen jetzt in drei Chören von ihren Dilemmata und ihren Hoffnungen. Wenn der junge Dichter später auch recht intelligent über sein Werk albert, verbirgt das nicht, welche Bedeutung er ihm zumißt. Die Übernahme eines beträchtlichen Teils der Verse in das letzte Drama zeigt, daß von einem selbstkritischen Verwerfen des Textes nicht wirklich die Rede sein kann. Daran soll auch gegen Hermann Josef Schmidts Vorschlag erinnert werden, den Text als einen ironischen zu lesen, so verständlich der Vorschlag ist. Er geht von der unbestreitbaren Beobachtung aus, daß der Text religiös ist, daß er aber geradezu abenteuerlich Bild- und Sprachmaterialien antiker und christlicher Religiosität vermischt. Noch schwerer fallt es, Barbara von Reibnitz zuzustimmen, die schreibt: „Das Jugend-Opus kulminiert in
Ibykusxo
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H. J. Schmidt, Nietzsche absconditus, II. Ebenda, 363f.
Jugend, 344.
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einer chorischen Feier der christlichen Idee der Sündenvergebung, die in den angefüg.Fragezeichen' komödiantisch parodiert wird."12 Die beiden Briefe an Pinder wurden zu dem Zweck geschrieben, den Freund für eine gemeinsame Prometheus-Arbeit zu gewinnen. Der Plan wirkt großspurig, es wird ein atemberaubender Stoffkomplex vorgeschlagen, der fast den thematischen Schwerpunkt übersehen läßt; der aber hat es in sich. Zwar taucht das Wort „Götterdämmerung" noch nicht auf, das im gleichen Zusammenhang im Tragödienbuch fällt, aber um die Sache geht es schon. So dürfen wir eine verwandte Intention in der Dichtung von 1859 unterstellen, die dann mangelhaft realisiert wäre. „Die Zeit der Kön'ge ist nicht mehr", zitiert unser Dichter wenige Wochen später in seinem Philotas-Stück (HKGW, 1, 64) Hölderlin; Prometheus diskutiert, dem gleichen Vorbild nachstrebend, die Zeit der Götterferne und die Situation des Menschen in ihr. Hermann Josef Schmidt stützt seinen Vorschlag, die lyrische Trilogie als Parodie zu lesen, auch auf die Klangform. Er spricht von einem „Leierton". Die achtzeiligen reimlosen Strophen bestehen jeweils aus sieben dreifüßigen Versen und einem abschließenden zweifüßigen Vers. Die Verse schließen weiblich; allein der vierte Vers jeder Strophe schließt männlich. So wird die Einheit der Strophe betont, die den Deutschen gar leicht in zwei Teile zerfallt. Beim jungen Nietzsche dürfte die Vorliebe für die achtzeilige Strophe vor allem durch das Vorbild der philosophischen Gedichte Schillers bedingt sein. Auch an die frühen Hymnen Hölderlins wäre zu erinnern. Von diesen Vorbildern unterscheidet sich das Chorlied in zweierlei Hinsicht: Es ist reimlos, und es hat sehr kurze Verse. Der von Hermann Josef Schmidt konstatierte „Leierton" entsteht vor allem dadurch, daß alle 72 Verse trochäisch sind. Unsere Sprache hat sehr viele trochäische Wörter; in trochäischen Versen fallen also die Versfüße immer wieder mit Wörtern zusammen, wodurch recht leicht Eintönigkeit entsteht. Der Dichter kann dem dadurch entgehen, daß er mit besonderer Wortwahl diesem Zusammen fall entgegenarbeitet, daß er aus der Not eine Tugend macht oder daß er den Vers meidet. Den zweiten Weg hat Nietzsche hier gewählt. Der Mangel an rhythmischen Effekten oder der Verzicht auf solche Effekte bringt das Lapidare liturgischer Formen in den Text, der durchaus den Eindruck erweckt, daß hier alles Wort sei und daß die rhythmische Ordnung, der keine eigene Entfaltung erlaubt ist, eben nur als dienendes Element mitwirke. In anderem wurde daraufhingewiesen, daß große Muster, aufweiche die Gestalt dieser Lieder deutet, die weltanschaulichen Gedichte Goethes aus den ersten Weimarer Jahren und das Parzenlied aus dem vierten Akt des Iphigenie-Dramas sind. Hier haben wir den Verzicht auf den Reim und ebenfalls die geringe Zahl der Takte im Vers, die dem gewichtigen Wort den Vordergrund lassen. Diese polymetrischen bis freirhythmischen Verse und ihre freie Gruppierung lassen sich schwer nachten
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Zusammenhang14
12
Ij 14
B. von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Weimar 1992, 238. H. J. Schmidt, Nietzsche absconditus, II. Jugend, 342. Vgl. Rüdiger Ziemann, „Der Halb-Unsinn und das Ewig-Närrische", in: Nietzsche im Netze. Nietzsches Lyrik, Ästhetik und Kindheit im deutsch-dänischen Dialog, Aarhus 1997, 39-47.
Ewiges Ziel undfälsche Begriffe
spricht für das Gespür des jungen Dichters, umgestaltete, mit der er zurechtkam.
bilden;
es
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daß
er
sie in
jene strenge
Form
Die Verwandtschaft im Metrischen deutet auf ideelle Nähen. Bilder, die Mythologien und immer wieder eine zum Menschen redende Natur beschwören, schaffen eine Rede, die eigentlich religiös, die aber in einem strikteren Verständnis nicht christlich ist. Das Chorlied spricht nirgends von Gott, es geht um ein Göttliches, dessen Darstellung in jenen alten Geschichten von den Göttern und von Gott vorbereitet scheint. Schon der Eingang, der in gewollter Unbestimmtheit von „Mächten" spricht, die auf dem Olymp heimisch und ewig seien, gibt ein Beispiel. Hier muß man den dritten Text zu Hilfe nehmen. Dort stellt ein kluger Herr, der seinen Aischylos15 kennt, fest, daß des jungen Dichters Formulierung falsch sei, nach der „keine Macht" über jene Mächte reiche (HKGW, 1, 71). Er begreift nicht, daß für eine zeitgenössische Dichtung gleichgültig sein kann, was Griechen ihren Göttern nachsagten. Ein „Rath" fordert den jungen Dichter auf zu erklären, was er ewig nenne. Dieser Dichter wußte schon, daß Dichtung andere Maßstäbe für Wahrheit kennt. Auch wo sie Mythen verarbeitet, erarbeitet sie schließlich neue Mythen. Wenn der Chor verkündet, diese „Mächte" seien „Über Zeit und Leben / Weit erhaben", dann wird das Wort „Zeit" sicher mit einiger Kühnheit gebraucht. Gewiß existierte jemand oder etwas, der oder das ewig wäre, außer der Zeit, aber diese Konsequenz vermeiden Nietzsches Vorbilder aus besten Gründen. Von den Gedichten, die hier als Vorbilder wirkten, käme dem Gedanken eigentlich nur Hyperions Schicksalslied nahe, das allein den Menschen unter der Macht des Schicksals sieht und offensichtlich auch nur ihn in der Zeit. Der Prometheus des Goetheschen Gedichts sieht das, was gerade die Nicht-Besonderheit der Götter belegt, darin, daß auch sie von der Zeit und dem Schicksal beherrscht werden. Die höchste Instanz der Religiosität des Gedichts wird zwar in fünf der neun Strophen recht christlich im Singular genannt, aber dann heißt sie „jene Himmelsmacht" oder „die Gottheit". Daneben stehen vier Nennungen im Plural, unter denen „Götter" eine zum Negativen tendierende Wertung trägt, während die, um die es eigentlich geht, meistens „Mächte" genannt werden, auch „Himmelsmächte". Da spricht Modernes mit. Nietzsche selbst zeigt den Weg zu dem Text, der diesem Sprachgebrauch gleichsam die Legitimation gibt: Das Harfnerlied aus dem Wilhelm Meister, in dem es ja auch um das Schuldigwerden und um den Umgang mit ihm geht. Es soll das Lieblingslied der Frau gewesen sein, nach deren Sohn Nietzsche „Friedrich Wilhelm" genannt wurde; jedenfalls gehört es zu den Requisiten des Kults um diese Königin, und Nietzsche hat es sicher gekannt. In den Papieren des Winters 1858/59 finden wir die Aufzeichnung einer Strophe aus Brentanos Rheinmärchen, die das Harfnerlied parodiert und implizit seinen
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Auf die in jüngerer Zeit erneut aufgestellte These, nach der Aischylos nicht der Autor von Der gefesselte Prometheus sei, kann und muß hier nicht eingegangen werden. Vgl. V. Riedel, „Wandlung des Prometheus-Bildes in Literatur und Philosophie", in: P. D. Bartsch (Hg.), Prometheus heute, Halle 1999, 16; B. von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche. Die Geburt der Tragödie
aus
dem Geiste der Musik, 239.
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Sprecher zurechtweist (HKGW, 1, 49).16 Für unseren Zusammenhang ist das Beispiel auch insofern interessant, als es zeigt, in wie weiten Zusammenhängen sich der junge Nietzsche damals mit den Kategorien der Schuld und der Reue beschäftigte. Es sind dies die Kategorien, in denen sich wohl am engsten Ethik und gängiges Verständnis von Religion berühren.
Wer hier Christliches sucht, findet es. Man sollte aber doch beachten, wie der Dichter das einschlägige Vokabular behandelt. Christus und Gott werden nicht genannt, und es gibt auch keine Wendung, die in ihre Richtung deuten würde. Den Begriff „die Gottheit" finden wir zwar in Luthers Neuem Testament an einigen wenigen Stellen und in wenigen barocken Gesangbuchtexten, aber schon dort haben wir nicht nur eine Bedeutung. Inzwischen ist der Fächer der Bedeutungen größer geworden; das Wort ließ sich
auch zu Nietzsches Zeit für das verwenden, was man aus christlich-biblischer Sicht einen „Abgott" zu nennen hätte. In den Brentano-Versen, die dem Schüler einige Wochen früher des Aufschreibens für würdig befunden wurden, fand er einen Menschen, der mit seiner Schuld und mit seiner Reue allein bleibt, sie nur mit sich austrägt; er las Brentano so, wie der besorgte Dichter seine Texte nicht gelesen haben wollte, weil er wußte, was da stand. Wie man in dem dichten Text Brentanos den zürnenden und verzeihenden Gott nicht finden kann, so findet man ihn auch bei Nietzsche nicht, obgleich da auf den ersten Blick alles in der Konvention geblieben ist; da zürnt und verzeiht ja jemand, aber was da zürnt und verzeiht, läßt sich mit den gängigen Vorstellungen von Gott und Göttern nicht zusammenbringen. Und sehr auffällig ist, daß in der dritten Strophe des dritten Gedichts der entschuldigte Sünder nichts mehr von einem Sünder hat. Er selbst taucht seine Schuld in das Vergessen und steigt in eine nicht mindere Höhe als die der Mächte, von deren Allgewalt das Gedicht ja künden will. Solche Höhe erreicht der Mensch des Gedichts auf seinem Weg durch Dunkel und Dämmerung. Im letzten Gedicht scheint das Göttliche schließlich auch das Schicksal hinter sich zu lassen. Das letzte Wort des Zyklus lautet „Strahlenauge". Es ist ein seltenes Wort, und vielleicht existiert es nur noch dort, wo es Nietzsche offenbar fand, in Hölderlins Hymne an die Unsterblichkeit. Das Schicksal wird mit den „Mächten" des ersten Gedichts eingeführt, dessen dritte Strophe im Bild der abwärtsrauschenden Wasser Hyperions Schicksalslied zitiert. Mit diesem Lied aber auch etwa mit dem Parzenlied aus dem Iphigenie-Drama hat das erste Gedicht den absoluten Abstand zwischen den Menschen und ,jenen Mächten" gemein, aber die übermenschlichen Mächte der zitierten Gedichte unterscheiden sich, wie sie sich auch in den Gedichten des Chorlieds nicht gleich bleiben. Ob man im Falle des ersten Gedichts schon vom Amor fati sprechen kann, muß heute nicht erörtert werden. Die Sympathie mit einem Leben, das nicht mit dem Schicksal hadert und das für einen so jungen Menschen doch überraschende Bekenntnis zu den Fesseln kann man nicht überlesen. Hölderlins großes Bild des mit den Wassern stürzenden Menschen verwendet Nietzsche nur für die Gruppe derjenigen, die das Schicksal nicht annehmen wollen. -
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Vgl. Rüdiger Ziemann, „Das liebe ewige Leben Nietzscheforschung, Bd. I, Berlin 1994, 335ff
Zur Brentano-Lektüre des jungen -
Nietzsche", in:
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Diese Schicksalsphilosophie, die sich in der Schlußszene des dritten Gedichts bis fast Unkenntlichkeit verändert hat, erfährt im zweiten Gedicht eine nicht minder eingreifende Wandlung. Auf den ersten Blick scheint es, als erhielten jene Mächte, die im ersten Gedicht so genannt wurden, nun Bewertungen. Dann aber wird deutlich, daß die Person- und Gestalthaftigkeit desjenigen, das den Menschen bestimmt, nie außer vielleicht als Metapher, als „Dichter-Erschleichnis" existierte. Das wird durch die Gegenüberstellung der „Gottheit, die uns leitet" mit den „Göttern" anderer deutlich. Beide eignen bestimmten Menschen. „Gottheit" kann hier nur als das „Göttliche" gelesen werden, das im Wesen jedes Menschen anders erscheint. Und so sind auch die „Götter" anderer durch moralische Entscheidungen an ihre Plätze gesetzt worden, das heißt, sie stehen für Strebungen von Menschen. Renate Müllers Formulierung von den „Andersgläubigen"17 könnte hier übernommen werden, wenn sie nicht den Gegensatz zu den „rechten Christen" meinen würde; die Unterscheidung liegt auf einer anderen Ebene. Renate Müller und Hermann Josef Schmidt weisen auf die Anklänge an Schillers Gedicht Die Götter Griechenlandes hin. Das wäre zu ergänzen; der junge Nietzsche kannte offenbar auch den bedeutendsten poetischen Widerspruch gegen dieses Gedicht. In der geschichtsphilosophischen fünften der Hymnen an die Nacht zeichnete Novalis zuerst achtungsvoll die fröhliche Griechenwelt des Schillergedichts nach, um dann in drei Stanzen von der kunstvoll verhüllten Schwierigkeit des Bildes zu sprechen. Die dritte Stanze lautet: „Mit kühnem Geist und hoher Sinnenglut / Verschönte sich der Mensch die grause Larve, / Ein sanfter Jüngling löscht das Licht und ruht / Sanft wird das Ende, wie ein Wehn der Harfe. / Erinnrung schmilzt in kühler Schattenflut, / So sang das Lied dem traurigen Bedarfe. / Doch unenträtselt blieb die ewge Nacht, / Das ernste Zeichen einer fernen Macht."19 Die Nacht ist älter als alles Licht; erst ihre Wiederentdeckung in einem erneuerten Menschsein gibt auch dem Tod seinen Platz zurück wie hier nur recht unvollkommen referiert werden kann. Ein geheimnisvolles Ereignis leitet dies ein, auf das die Mythe von Jesus verweist. Der Dichter erzählt sie weiter: Ein Sänger kam aus Hellas und deutete wieder in einer Stanze das Wunderkind: „Der Jüngling bist du, der seit langer Zeit / Auf unsern Gräbern steht in tiefen Sinnen; / Ein tröstlich Zeichen in der Dunkelheit / Der höhern Menschheit freudiges Beginnen. / Was uns gesenkt in tiefe Traurigkeit / Zieht uns mit süßer Sehnsucht nun von hinnen. / Im Tode ward das ewge Leben kund, / Du bist der Tod und machst uns erst gesund." „Der Sänger zog voll Freudigkeit nach Indostan", heißt es dann weiter.20 Man muß nicht sagen, daß diese Mythe nicht christlich sei; sie ist christlich in dem Sinne, in dem Novalis „Christentum" im Europa-Aufsatz21 und in den Fragmenten definiert. Den Schluß jener Stanze des hellenischen Sängers finden wir in den Schlußversen des zweiten Gedichts wieder: „Und der Tod ist ja doch / Nur die Gottheit, die uns / Freudig zu dem ewgen / Ziele leitet." Renate Müller betont, daß dies nicht eigentlich zur
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R. Müller, Antikes Denken und seine Verarbeitung in Texten des Schülers Nietzsche, 70. Ebenda, 69; H. J. Schmidt, Nietzsche absconditus, II. Jugend, 366ff. Novalis, Schriften, Bd. 1, Stuttgart 1960-1977, 142. Ebenda, 146. Ebenda, Bd. 3, 523.
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christlich sei, Christus sagt: „Ich bin [...] das Leben" Die komische Formulierung, nach welcher der Tod „freudig" leitet, erzählt von der Anstrengung der sprachlichen Arbeit. Das Paradoxon „ewiges Ziel" ist allerdings nicht dem jungen Dichter anzulasten. Wir finden es auch im Titan-Roman Jean Pauls, von dem wir im letzten Stück der Prometheus-Trilogie hören. Im Traeödienbuch beschäftigt sich Nietzsche noch einmal ausführlich mit der Gestalt des Prometheus. Obwohl es eigentlich um das Drama des Aischylos geht, beginnt er mit Betrachtungen zu einem jüngeren Werk. In seinem Prometheus-Gedicht habe Goethe „zu enthüllen gewußt", was in jener antiken Tragödie eigentlich gesagt wurde. Das wunderbarste am Gedicht sei der „Zug nach Gerechtigkeit". Dann wird dies ausgeführt: „das unermessliche Leid des kühnen ,Einzelnen' auf der einen Seite, und die göttliche Noth, ja Ahnung einer Götterdämmerung auf der andern, die zur Versöhnung, zum metaphysischen Einssein zwingende Macht jener beiden Leidenswelten" (KSA, GT, 1, 68). Man muß nicht sehr aufmerksam lesen, um zu bemerken, daß hier eigentlich nichts stimmt. Der Prometheus des Gedichts leidet nicht, und die „göttliche Noth" macht niemand besorgt. Nur am Rande ist davon die Rede, daß die Götter für ihre Weiterexistenz auf „hoffnungsvolle Toren" angewiesen seien; und nirgendwo ist von der Sorge die Rede, diese könnten aussterben. Es ist schlechthin euphemistisch, wenn Barbara von Reibnitz schreibt, Nietzsche versuche hier „einigermaßen gewaltsam, Goethe und Aischylos zu harmonisieren".26 Könnte es sein, daß er etwas verwechselte? Goethes Gedicht entstand in enger Nachbarschaft zu dem Drama, das nicht vollendet wurde, das mit dem Gedicht Verse gemeinsam hat und als dessen vorläufig letzten Teil der alte Goethe das Gedicht später ansah. Suchte man im Drama nach Übereinstimmungen mit dem Text des Tragödienbuchs, käme man immer noch in die Nähe gewaltsamer Harmonisierung, aber man fände Argumente für den Versuch. Für ihn spräche jedenfalls, daß das Werk von 1859 sehr die Vermutung nahelegt, der junge Nietzsche habe das frühe Prometheus-Fragment Goethes gekannt, habe die Handlung seines Stücks von ihm aus entwickelt. Die Annahme läßt sich nur mit Indizien stützen. Das wenig bekannte und wenig beachtete Fragment könnte den jungen Dichter gereizt haben, der eigene Wege suchte. Geringe Bekanntheit war in diesem Falle nicht mit erschwertem Zugang verbunden; jede der Ausgaben sämtlicher Werke Goethes enthielt das Fragment. Goethes Stück beginnt mit einer Szene zwischen Prometheus und Merkur; Zeus, der dann Jupiter heißt, läßt seinem Sohn, der Prometheus hier also ebenso ist wie in Nietzsches Stück, einen recht fairen Vorschlag für ein Zusammenwirken unterbreiten. Bevor wir die Einzelheiten des Vorschlags erfahren, hören wir, daß Prometheus mit diesen Göttern, die auch seine Eltern sind, nichts zu tun hat, daß er sie nicht braucht und seine und ihre Sphären getrennt sehen will. Sein Bruder Epimetheus stellt ihm dringlich vor, .
R. Müller, Antikes Denken und seine Verarbeitung in Texten des Schülers Nietzsche, 71. Joh. 14,6. Jean Paul, Werke, Bd. 3, München 1959-1963, 829. Vgl. Anm. 14. B. von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 241.
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welch hoher Wert Gemeinsamkeit ist. Prometheus bricht schroff ab, ohne eigentlich dagegen zu argumentieren. Dann sehen wir ihn in einer Szene tiefsten Einverständnisses mit Minerva, die ihm hilft, und die schließlich seine tönernen Geschöpfe belebt. In der nächsten Szene, die auf dem Olymp spielt und den zweiten Akt eröffnet, zeigt Merkur das strafwürdige Tun der Göttin an, die aus der olympischen Solidarität ausgebrochen ist; er rät dem Jupiter, das neue Geschlecht schnellstens zu vertilgen. Jupiter lehnt das ab; er weiß, daß auch die Bäume der neuen Wesen nicht in den Himmel wachsen werden. Danach folgen Szenen, in denen Prometheus seine Geschöpfe über Leben und Tod belehrt. Mit dem zweiten Akt endet das Fragment; die Hypothesen über den gedachten Ausgang des Stücks sind hier nicht zu diskutieren, sie sind allerdings zu bedenken, wenn es darum geht, das neunte Kapitel des Tragödienbuchs angemessen zu lesen. Im Prometheus-Stück von 1859 finden wir zuerst den Eingang mit dem Vorschlag eines Bündnisses wieder, das Prometheus ablehnt, weil es ihn um sein Werk und um seine Selbständigkeit bringen würde. In beiden Werken wird nach den besonderen Qualitäten der Götter gefragt. Für den Prometheus des Goethe-Stücks sind die besonderen Fähigkeiten der Götter ohne Belang, da er sich selbst genug ist und weiß, daß Götter nichts vermögen, das seine Existenz erweitern könnte. Auch die Götter werden vom Schicksal beherrscht; das macht sie in den Augen des Goetheschen Prometheus zu Vasallen, denen er nicht dienen kann. Die letzteren Aspekte werden in der Dichtung des jungen Nietzsche gewiß gröber behandelt, aber sie fehlen nicht. Daß eine Allmacht, die nicht das Individuum von sich selbst zu scheiden oder es zu einer Welt zu erweitern vermag, keine ist, konnte der Junge dem Prometheus Goethes wohl nicht nachempfinden. So ersetzt sein Held den Nachweis der Irrelevanz solcher Allmacht durch den Versuch, ihre Nichtexistenz evident zu machen. Er wird in einem viel schlichteren Verständnis schuldig, denn was er als Experiment versucht, bleibt ein Betrug. Und aus der Gleichgültigkeit des Goetheschen Prometheus gegenüber den göttlichen Machtansprüchen wird bei Nietzsches Helden der Wille, Thron, Krone und Zepter des Zeus an sich zu bringen und sie „ewig" zu behalten. So sind die dramatischen Dichtungen Goethes und Nietzsches in ihren Ausgängen sehr unterschiedlich und doch ähnlich. In der Fassung des fragmentarischen GoetheDramas, die man in der Zeit Nietzsches lesen konnte, bildete das bekannte Gedicht den Abschluß, indem es als Monolog des Prometheus einen dritten Akt eröffnete. In ihn und damit in die weitere Handlung konnte sich der Leser nur den trotziger werdenden großen „Einzelnen" hineindenken, der sich den Vermittlungsversuchen Minervas mit Nachdruck verweigert. Damit ist die tragisch zerteilte Welt konstituiert, von der Nietzsche später im Tragödienbuch sprach. Zerteilt ist auch die Welt seines Jugenddramas. Hier stehen einander zwei übermenschliche Mächte gegenüber, welche die Menschen leiten, lehren und schützen wollen, welche aber beide dazu nicht fähig und vor allem moralisch nicht berechtigt sind, da sie ihre Eigensüchte nicht mäßigen können. Die Menschen des Goethe-Dramas wissen nichts von den Problemen ihres Schöpfers und Lehrers, die Menschen des Nietzsche-Stücks haben den mythischen Vorgang miterlebt und ziehen, nun als Chor, Folgerungen für ihr Leben. Es wäre schon eine Überlegung wert, ob das Drama des jungen Nietzsche nicht auch als ein Versuch gelesen werden -
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könnte, Goethes unvollendetes Werk in vollkommener Gestalt nachzubilden;
unter den Werken fehlt es nicht an ähnlichen Versuchen. Eine strukturelle Analogie könnte eine solche Vermutung stützen: Das Prometheus-Fragment des jungen Goethe endet in der Fassung, in der es Nietzsche kennenlernen konnte, mit einem lyrischen Text, dessen Verbindung mit den vorhergehenden Szenen relativ locker ist, wie die der lyrischen Trilogie mit dem eigentlichen Drama Nietzsches. Der Umfang des lyrischen Schlußtextes in Nietzsches Stück übertrifft den des Goetheschen Werks nur um etwa ein Viertel; auch solche „Übersteigungen" kennen wir aus Nietzsches lyrischen Kontrafak-
lyrischen
turen.
Ein Wort fehlt in Nietzsches Text, das man erwartet, wenn man sicher ist, daß der Autor die Stücke von Aischylos und Goethe kannte oder auch nur den Text von Schwab
gelesen hatte, das Wort,
um das auch dieser Versuch einer Beschreibung nicht herumkam: Schicksal. Es erscheint erst im burlesken dritten Teil des Werkkomplexes, wo ein kluger Banause mit seinen Aischylos-Kenntnissen glänzt. Dies drängt die Annahme auf, daß der junge Dichter den Begriff im Drama bewußt vermieden hat. Er könnte den einen Pol des Feldes benennen, als welches hier nicht durchaus entschieden das erscheint, was den Menschen letztlich bestimmt; der andere wäre dann der auch nicht als solcher eindeutig benannte „Gott in uns", von dem Hölderlins Hymne an die Menschheit spricht, das Göttliche, wie es dem jungen Nietzsche in der Gestalt des Empedokles begegnete. Im drei Jahre später entstandenen Aufsatz Willensfreiheit und Fatum lesen wir, daß „das Fatum dem Menschen im Spiegel seiner eignen Persönlichkeit erscheint" (HKGW, 2, 60). Betrachtet man den Schluß des vorausgehenden berühmten Aufsatzes Fatum und Geschichte, erfahrt man, daß der junge Philosoph diese Kräfte vor einem Hintergrund wirken sah, den man pantheistisch nennen darf. Es scheint eine Überlegung wert, ob die heterogene Theologie der Prometheus-Dichtung von 1859 „bald Naturalismus, bald Pantheismus, bald Polytheismus" (HKGW, 2, 2), um mit dem im Hölderlin-Aufsatz tadelnd zitierten Freund zu sprechen, nicht eine künstlerische Form war, mittels derer Vorstellungen des Pantheismus des höflichen Atheismus, wie ihn Schopenhauer nannte in den Text gebracht werden sollten. Der Begriff begegnet mit positiver Wertung zwei Jahre nach Prometheus und ein Jahr vor Fatum und Geschichte im Empedokles-Bild des Hölderlin-Aufsatzes (HKGW, 2, 4). Es erinnert an die Mühen dieser Jahre, wenn Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches (KSA, MA, 2, 224) den Pantheismus als denjenigen der „Jahresringe der individuellen Cultur" benennt, der für den Abschied des sich entwickelnden Menschen von der Religion steht. Wir finden den Begriff noch in den nachgelassenen Fragmenten der letzten Arbeitsjahre. Der Versuch, die Philosophie der „Ewigen Wiederkunft" gegen den Pantheismus abzugrenzen, deutet auf Gemeinsamkeiten beider (KSA, NF, 12, 213), und 1888 benutzt Nietzsche bei der Beschreibung seines „Dionysischen" das Attribut „pantheistisch" ohne Distanzierung oder Einschränkung (KSA, NF, 13, 224). Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden. Die Beispiele für Nietzsches Umgang mit dem Begriff ermutigen aber dazu, im frühen Prometheus-Drama Annäherungen an pantheistische Weltsichten und damit natürlich eine deutliche Entfernung aus der Christlichkeit des Elternhauses zu sehen. Es darf daran erinnert werden, daß das Prometheus-Gedicht -
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Ewiges Ziel undfalsche Begriffe
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des jungen Goethe zu seiner Zeit ob zu Recht, ist an dieser Stelle nicht zu erörtern als ein Dokument des modernen Spinozismus gelesen wurde. Das dürfte der junge Nietzsche nicht gewußt haben, wohl aber, daß es mit dem Christentum Goethes seine sehr eigene Bewandtnis hatte. Heute ist das recht uninteressant geworden, es spielte aber in den Goethe-Debatten jener Jahre eine große Rolle. Im Brief an Wilhelm Pinder schrieb Nietzsche über sein Drama, es handle sich um „ein mißglüktes Schauspiel, betitelt Prometheus, angefüllt mit einer Unzahl falscher Begriffe über diesen Gegenstand". So tadelt man eine geisteswissenschaftliche Studie, nicht aber ein dramatisches Kunstwerk. Hier äußert sich nicht die Unbeholfenheit eines minderjährigen Autors auf dem Gebiet des sprachlichen Ausdrucks. Noch in dem recht reifen Hölderlin-Aufsatz vom Oktober 1861 trennt Nietzsche die poetische Sprache, die er sehr klug beschreibt, als „die äußere Form" von der „Gedankenfülle" des Werks, welche dann die stärksten Gründe dafür liefert, den Dichter zu rühmen. Und noch dort betont der junge Nietzsche, daß er nicht über die Voraussetzungen verfüge, „Religionsansichten" in der ihnen angemessenen Form zu behandeln (HKGW, 2, So muß ihm die Dichtung immer auch und vielleicht: vor allem das Feld sein, auf dem das zu verhandeln ist, was eigentlich Gegenstand der Philosophie wäre. Der „Gegenstand", um den es in Nietzsches früher Dichtung geht, ist natürlich nicht in der Hauptgestalt des Dramas, sondern in „Religionsansichten" zu suchen. Über diese konnte man sich in Nietzsches Umwelt nicht nur in wissenschaftlichem Verständnis „richtige" oder „falsche" Begriffe bilden. Indem er von „falschen Begriffen" sprach, distanzierte sich der junge Forscher gleichsam zur Sicherheit und im voraus von Ansichten, die Anstoß erregen konnten. Man liest diese Dichtung richtig, wenn man sie als das Zeugnis einer wichtigen Etappe auf dem eigenen Wege betrachtet, der längst nicht nur der Weg des jungen Dichters durch die Räume der Kunst ist. -
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4).27
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Vgl.
H. J.
Schmidt, Nietzsche absconditus, II. Jugend, 595ff.
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Renate G. Müller
Erkenntnis und Erlösung Über Nietzsches Umgang mit vorchristlich-griechischem Gedankengut vor dem Hintergrund seiner christlichen Herkunft
1.
Einleitung
Erkenntnis und Erlösung, das hört sich fast wie eine Dichotomie an, hier Philosophie, dort Religion, hier Rationalität, dort Glaube, oder wie etwa in dem berühmten Brief an die Schwester Elisabeth vom 11. Juni 1865 „Hier scheiden sich nun die Wege der Menschen; willst du Seelenruhe und Glück erstreben, nun so glaube, willst Du ein Jünger der Wahrheit sein, so forsche." ( KSB, 2, 61) Daß es nicht so einfach ist, werde ich versuchen in meinem Vortrag nachzuweisen. Auch die Implikation, daß Erkenntnis etwas Aktives und Erlösung etwas Passives ist, kann so einfach nicht stehen bleiben. Zunächst wollen wir versuchen, den Begriff Erlösung etwas näher zu bestimmen. Der Terminus Erlösung ist im griechisch-vorchristlichen Bereich sicher ganz anders zu fassen als im christlichen. Im griechischen Bereich haben wir die Begriffe lytroustrai und soteria. Beide sind alte Begriffe, die schon seit der Frühzeit verwendet werden. Es soll Sie nicht verwundern, wenn ich diese philologischen „Ausflüge" mache. Nietzsche war Philologe und interessierte sich für das Wort und dessen Geschichte und Verwendung. In dem Wort lytroustai (eigentlich sich mit Lösegeld loskaufen) spiegelt sich ganz deutlich die indogermanische Wortwurzel des deutschen Wortes lösen erlösen. Sozein und soteria dagegen beinhalten wie das lateinische salus Heil, Rettung. heute werden Knaben Sotiris italienische während Salvatore griechische (Noch genannt, heißen. Auf Deutsch würden beide Heiland genannt werden müssen.) Der Erlösungsglaube von Griechentum und Christentum (falls man so stark vergröbern möchte, da man natürlich auch die erheblichen Unterschiede zwischen einzelnen Epochen, Gruppierungen u.a. nicht außer acht lassen sollte) differiert ganz beträchtlich. Im griechischen Glauben gibt es selbstverständlich Situationen der Bedrängtheit, aus denen der Mensch durch das Wirken des Gottes oder der Götter gerettet werden möchte. Dies geschieht (gegebenenfalls), indem er sie entsprechend anruft. Der antike Mensch kennt auch die Befleckung, wie sie zum Beispiel durch Mord geschieht, und die durch rituelle Reinigung (katharsis) auch eine Lösung (Erlösung lysis) erreicht. Schließlich kennen Mysterienkulte wie Orphik, Demeterkult u.a. die Verbanntheit der Seele aus -
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Renate G. Müller
ihrer göttlichen Heimat, die nur durch den Prozeß der Läuterung und Initiation aufgehoben werden konnte. Im Gegensatz dazu gibt es im christlichen Bereich den Begriff Sünde, der zunächst als Mißbrauch des göttlichen Vertrauens zu interpretieren ist. Er führt zur Verweisung aus dem Paradies und den dazugehörenden Konsequenzen. Der Mensch ist infolgedessen ein durch und durch schuldhaftes Wesen. Erlösung erfolgt nur durch die Entsendung des Gottessohnes auf Erden und den Glauben daran. Dies stellt sich als umfassende Wiederherstellung des ursprünglichen unbelasteten Verhältnisses zwischen Gott und Mensch dar.
2. Zur Prägung und Entwicklung des Kindes Nietzsche Friedrich Nietzsche wurde am 15.10.1844 in ein pietistisches Pfarrhaus der preußischen Provinz Sachsens hineingeboren, am Geburtstag des Königs, als erster Sohn eines Landpfarrers. Viele Daten und Zeugnisse seiner ersten Lebensjahre sind dokumentarisch festgehalten, so daß sich ein recht deutliches Bild der Entwicklung in der frühen Kindheit ergibt. Hermann Josef Schmidt hat bereits in seinem Festvortrag zum 150. Geburtstag Nietzsches dies auf eindrucksvolle Weise mit einer Fülle von Daten gezeigt. Er hat in Nietzsche absconditus sowie vielen anderen Veröffentlichungen und Vorträgen außerdem nachgewiesen, wie stark das Kind religiös geprägt wurde. Ein Kind aber, das religiös-christlich geprägt wird, ist erlösungsbedürftig, weil es erlösungsbedürftig gemacht worden ist. Aber schon ein kleines Kind kann auch die Diskrepanz zwischen dem gesprochenen Wort und dem tatsächlichen Geschehen begreifen. So war dem kleinen Nietzsche sicherlich klar, daß der Herrgott den armen Vater von dem schlimmen Leiden erlösen, d.h. ihn von der Krankheit befreien sollte, letztendlich aber hieß es, daß er ihn sterben lassen solle, was eben keine Heilung, Gesundung (salus) mehr hieß, sondern Sterben, Untergang, und damit im christlichen Sinne Übergang zum Zustand des Heils. So viele Gebete, so viele Lieder und Andachten haben nicht vermocht, den Vater vom Tod zu erretten, der Vater stirbt. Im Kind Nietzsche brechen Welten zusammen. Hermann Josef Schmidt hat deutlich gezeigt, daß Nietzsche einen mehrfachen Heimatverlust erlitt: den Verlust durch den Tod des leiblichen Vaters, den Verlust der dörflichen Heimat Röcken, vor allem aber den Verlust des väterlichen christlichen Glaubens (der allerdings auch schon vorher eingetreten sein kann). Eins allerdings bleibt, verstärkt sich womöglich noch: das Erlösungsbedürfnis. Die Erlösungsbedürftigkeit, oder anders ausgedrückt, das Gefühl der Schuldbehaftetheit ist dem sensiblen Kind von frühester Kindheit eingeprägt worden. Es kann ja auch gar nicht anders sein. In einer christlichen (und gerade in einer solch christlich-erweckten) Familie bezichtigen sich die gläubigen Angehörigen sogar im Alltagsleben stets irgendwelcher Schuld, Fehler, Mißgriffe und/oder entschuldigen sich dauernd deswegen. Ein massiver Schuldkomplex zeigt sich zum Beispiel bei dem unerwarteten Tod des kleinen Brüderchens Joseph. Der Knabe Friedrich nimmt die Schuld am Tod des Brüderchens, den er geträumt hat, willfährig auf sich. Hat er auch die Schuld am Tod des
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Erkenntnis und Erlösung
herzerbarmend schrie, auf sich genommen oder/und geglaubt, ihn vermüssen? Hatte sich der kleine Nietzsche vielleicht insgeheim gewünscht, daß der kranke Vater starb (endlich „erlöst" wurde) und auch daß das kleine Brüderchen sterben sollte, wie man aus der Schilderung des Traums schließen kann? Als die betreffenden Ereignisse dann eintraten, kann das Kind dies als Demonstration der eigenen Macht erfahren haben. Also hätte sich der kleine Nietzsche schon da zu einer Art „Übermensch" hinaufkatapultiert. Aber dieser Hochmut mußte erst recht mit der immer wieder eingeforderten Demut in Konflikt geraten. Eins steht fest: Die Kindheit des jungen Nietzsche war tragisch überfrachtet und er selbst begriff sich als schuldhaft belastet, war also auf jeden Fall erlösungsbedürftig. Die traditionelle Religion war ihm allerdings suspekt geworden, schließlich hatte es der liebe Jesus ja weder verhindert, daß der Vater (der immerhin noch eine geheime Schuld auf sich geladen haben mochte), noch daß das völlig unschuldige Josephchen starb. Weiterhin muß man in Betracht ziehen, daß die übrige Familie Nietzsche mit der Großmutter nach Naumburg umzog, die Witwe mit den Kindern zwei dunkle Hinterzimmer bekam und in Depressionen versank, also für Fritz keine positiven Signale setzen konnte. Fritz und Liese schlössen sich demzufolge immer mehr einander an, was in dem münden konnte, was in My Sister and I beschrieben worden ist und wo H. J. Schmidt einen Ansatz zu seinem „Absconditissimus" sieht. Die Entdeckung der Sexualität der sich einander überlassenen Kinder hat sicher eine weitere Diskrepanz zum öffentlich gepredigten und daheim praktizierten Glauben ausgelöst. (Hier sei vielleicht noch in Klammern eingefugt, daß Luther in seiner Bibelübersetzung den Geschlechtsakt mit „erkennen" („gignoskein") übersetzt. „Und Adam erkannte sein Weib Eva" wie in der Septuaginta „Adam de egno Euan ten gynaika autou". Eine Luther-Bibel war in dem frommen Pastorenhaushalt selbstverständlich verfügbar. Nietzsche hat sogar an ihr lesen gelernt. So meine ich, daß das Leben des jungen Nietzsche von ihm immer mehr als schuldbeladen und zerrissen empfunden wurde. Andererseits wurde er aber auch immer wacher für die Widersprüche im System, die sich ihm schon in den verschiedenen Glaubensausprägungen innerhalb der eigenen Familien präsentierten. Frau Marsal hat uns in ihrem Vortrag die beiden Pole rationalistisch geprägten und pietistisch-erweckten Christentums vor Augen geführt. Daneben und dazwischen gab es sicher noch eine ganze Reihe von Schattierungen. Wie konnte nun der junge Nietzsche mit dem ererbten und z.T. erworbenen Konglomerat der Schuldbeladenheit und Erlösungsbedürftigkeit umgehen?
Vaters, der antworten
so
zu
3. Zu Textproduktionen Nietzsches
aus
der Naumburger Zeit
Wir setzen an mit den frühesten, uns überlieferten Texten. Hermann Josef Schmidt hat schon die frühen Phantasien daraufhin abgeklopft. Antike Bezüge tauchen erstmals in dem kleinen Theaterstück Der Geprüfte von 1854 auf, das ich fast als ein Erlösungsdrama bezeichnen möchte.
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Renate G. Müller
Der Geprüfte ist das erste Stück des Kindes Nietzsche, in dem antike Namen auftauchen und antike Göttergestalten agieren. Das Stück verrät Kenntnisse von Ovids Metamorphosen. Als Menschen agieren Sirenius sowie seine Eltern. Die wenigen Sätze, die den ersten Akt des uns vorliegenden Textes bilden, bestehen in einem Dialog zwischen Jupiter und Apollo. Schon in diesen wenigen Zeilen werden zwei zusammenhängende Hauptmotive des Stückes eingeführt: Dankbarkeit (der Götter) und Belohnung (eines Sterblichen durch Erhebung zum Halbgott). Die Götter handeln human und wirklich „gütig und gerecht", zeigen sich also als moralisch wertvoll. Es gibt eine Erlösung, die in Richtung eines am Gottsein Partizipierens gerichtet ist und somit diametral im Gegensatz zum Christentum steht. Wenn wir die griechische Götterwelt betrachten, können wir feststellen, daß es keine so schroffe Trennung zwischen Mensch und Gott gibt wie etwa im Christentum. Der wesentliche Unterschied zwischen Mensch und Gott ist die Unsterblichkeit, also eigentlich ein temporärer Aspekt. Gerade der Begriff „Halbgott" zeigt ja auch, daß es eine Verbindung zwischen Menschen- und Götterwelt gibt. Die Nymphen, in der antiken Religion eine Art niedrigerer Göttinnen, zeigen sich hier als Mittlerinnen und Führerinnen zum göttlichen Bereich, auf einem Weg, der obgleich „hinab" doch auch hinauf führt. Sie sind auch Helferinnen für die Eltern zum „Zweck" der Vereinigung mit dem Sohn. Spätestens hier wird deutlich, daß dieses Stück über den Rahmen traditionellen griechischen Familienlebens hinausgeht. Durch die in der griechischen Antike geübten Erziehungspraktiken sowie durch das kaum vorhandene Familienleben waren die Bindungen zwischen den Eltern und Kindern nicht so stark bzw. die Anhänglichkeit nicht so groß, wie sie etwa im Biedermeier und in der Spätromantik zumindest dargestellt werden sollten. Die Erlösung ist hier also auch Rekonstruktion eines intakten Familienlebens auf einer höheren Ebene, wobei der Sohn den Führer dazu abgibt. Und so kann man hier wohl auch eine Kompensation für den Verlust der heilen Familie erkennen. Eine Möglichkeit der Erlösung zeigt auch das Gedicht Wandrer, wenn du im Griechenland wanderst auf. Es führt uns zum ersten Mal in den Raum der griechischen Antike, zu den Thermopylen, wo über den heldenhaften Kampf des Leónidas und seiner Männer gegen die Übermacht der Perser gesprochen wird. Der Held, sein „Löwenmut" und seine Vaterlandsliebe sind die beherrschenden Motive, dabei wird einer Solidarität mit den Griechen Ausdruck verliehen. Ebenso wird eine gewisse Wehmut ausgedrückt, die sich wohl aus dem Bewußtsein oder besser noch „Erfühlen" der zeitlichen und kulturellen Distanz ergibt. Aber der mutige, ja todesmutige Leónidas ist für das ängstliche Kind, das sich auch andernorts Mut zusprechen mußte, sicher ein Vorbild. In Vergänglichkeit des Glücks manifestiert sich nicht nur diese Wehmut, sondern wir bemerken hier auch ein persiflierendes Element. Das „Glück", aber auch das Elend des antiquarischen Menschen werden uns vor Augen geführt. Am Ende des Gedichts wandelt sich der kontemplative Wanderer sogar zum blutleeren Pilger, der an seiner negativen Geisteshaltung bzw. der Unfähigkeit zu einem eigenen positiven Lebensentwurf scheitert. Insofern wird mit dem christlichen Bild des Pilgers ein Gegenmodell für das eigene Leben geliefert. So läuft die Erlösung auf jeden Fall nicht! Der junge Nietzsche dieser
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Zeit verfügt schon über beachtliche Geschichtskenntnisse, und diese Kenntnisse bzw. dieses Geschichtsbewußtsein, das im folgenden noch weiter ausgebaut wird, führen natürlich auch dazu, Religion, zumal die angestammte Religion als historisch gewachsen zu sehen und ihr damit etwas den Stachel zu nehmen, oder die Erlösung von ihr voranzutreiben. Inzwischen ist sicher auch deutlich geworden, daß, je mehr sich der junge Nietzsche gerade in antikes Gedankengut versenkt und von dort Erkenntnisse gewinnt, um so mehr ein Loskauf, eine Lösung-Erlösung auch von seiner eigenen christlichen Existenz erfolgen kann und muß. Das Gedicht Kekrops (über den sagenhaften Gründer der Stadt Athen) weist auf einen Wanderer und Seefahrer hin, der (entgegen dem landläufigen griechischen Mythos) in Griechenland Fuß faßt und dort zuerst seine „Wehr", dann seine Burg baut. Ich meine, daß gerade dieses Gedicht ausgesprochen autobiographische Züge trägt, und glaube, dies durch eben diese Ungenauigkeit in der Sache belegen zu können. Nietzsche ist ja aufgebrochen aus dem Land der Religion seiner Väter („Ägypten" steht wohl für Orient; „Palästina" wäre wohl zu transparent gewesen) und hat im Land des griechischen Mythos eine Zuflucht gefunden, aus der heraus er sich auch gegen die christliche Herkunft wehren (eine „Wehr", eine Schanze bauen) kann. Die genannten Texte aus der Naumburger Zeit sind allesamt Privattexte; somit können wir davon ausgehen, daß es sich dabei um Themen handelte, die ihn wirklich interessierten. Andererseits sollte auch nicht die Verbergungsfunktion dieser (für die Angehörigen so unverfänglichen, weil aus dem weit entfernt liegenden Gebiet des antiken Mythos stammenden) Themen übersehen werden. Nietzsche versucht in seinen Texten seine Probleme aufzuarbeiten. Hermann Josef Schmidt nennt diese Versuche deshalb „poetoautotherapeutisch". D.h., wir haben es in diesen Texten nicht mit einer lediglich antike Inhalte referierenden Haltung zu tun, sondern mit einer subjektiv-tendenziösen, nämlich sich aus dem ererbten christlichen Konglomerat zu lösen. Und da seine Kenntnisse des griechischen Mythos schon so gut sind, gilt es besonders aufzupassen, wenn eine Ungenauigkeit, eine Verfremdung, ja sogar ein ,Fehler' auftaucht. Hier scheint dann eigenes verborgen zu sein und der antike Mythos (nicht nur aber auch) als Mittel der Verschleierung der eigenen Erkenntnis zu dienen. Gleichzeitig läßt sich eine Entwicklung in seiner Beziehung zum antiken Mythos und insbesondere zur antiken Götterwelt feststellen. Während zur Zeit des Geprüften die griechische Götterwelt für ihn noch ganz positiv ist, schleicht sich nach und nach immer mehr Kritik an diesen Göttern in die Texte, sogar der Göttervater Zeus kann schließlich lächerlich gemacht werden. D.h. die Erkenntnis macht auch nicht vor den hehren Göttergestalten der antiken Welt Halt, sondern nimmt (auch dies ganz in antiker Tradition) ihre Schwächen zum Anlaß der Kritik an ihnen. Diese Götter kann man sogar wie das spätere Stück Untergang Trojas zeigt- persiflieren und auf sublime Weise .vorführen'. Andererseits dienen aber auch Beispiele aus dem griechischen Mythos dazu, auf dunkle Aspekte griechischer Götter hinzuweisen, und zwar zuerst auf den „Erderschütterer" Poseidon (Kekrops; Andromeda), dann aber auch auf den lichten Apollon (z.B. als Verantwortlichen für den Tod des Helden Achilleus, mit dem sich Nietzsche wohl zeitweise identifiziert hat, und als ,Schänder' von Dryope). Es ist aber klar, daß Götter, die mora-
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lisch derart diskreditiert werden, nicht mehr als Erlösung Ermöglichende und Gewährleistende angesehen werden können. Sie gehören zum Spiel, aber es geht in erster Linie nicht um sie, sondern um die Menschen. Es läßt sich aber festhalten, daß der Facettenreichtum des griechischen Mythos Nietzsche Möglichkeiten an die Hand gegeben hat, das Thema der Beziehung GottMensch auf andere Weise durchzuspielen, als es in der stereotypen, dogmatischflxierten eigenen Religion selbst ohne den massiven innerfamiliären Druck! kaum möglich gewesen wäre. Es gibt in diesem Bereich für ihn kein statisches Gottesbild, auch kein kanonisiertes Verhalten des Menschen gegenüber den Göttern. Die Menschen, die Nietzsche in diesen frühen Produktionen agieren läßt, sind großenteils ,heroische' Menschen, die sich sehr wohl im Umgang auch mit den Göttern behaupten können. Ihnen gilt Nietzsches Sympathie. Beispiele dafür sind der aufbrechende und trotz aller Schwierigkeiten sein Ziel findende Kekrops, der das Ungeheuer besiegende Perseus, der wehrhafte und sich nicht unterwerfende Leónidas. Aber schon im letzten Beispiel sehen wir, daß sich auch ein tragisches Moment dem heroischen beigesellt. Noch deutlicher wird dies an der Figur des Achilleus, des vielleicht zu Unrecht Gezeugten und schon deshalb Tragischen. In der Darstellung griechischer Inhalte kann sich Nietzsche verstecken (abscondere!) und sich in Masken zeigen, er kann in die Rolle verschiedener Heroen/Heroinen schlüpfen, er kann auch mit ihnen leiden, indem er sich in ihre Situation versetzt. Er kann sich selbst erlösen, indem er sich mit der heroischen Gestalt identifiziert. Dem starken Menschen, der sein Leben in die eigene Hand nimmt, wird hierbei der Vorzug gegeben. -
4. Zu Textproduktionen
aus
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Nietzsches Zeit in
Schulpforta
Das setzt sich auch in der Pforta-Zeit fort. So finden wir beispielsweise einen Aufsatz der Untertertia, der auf ein mythisches Ereignis bezogen ist: Gründung von Theben. Textgrundlage ist wie in früheren Texten aus der Naumburger Zeit Ovid mit seinen Metamorphosen. Es ist deshalb einleuchtend, daß eine enge Verbindung zu früher bearbeiteten Themen besteht, zumal gerade die Geschichte des heimatlos gewordenen Kadmos Nietzsche an seine eigene Existenz erinnert haben mag. Auch hier gibt es wieder immanente Gotteskritik, diesmal an Zeus (im Gegensatz zur Textvorlage erfolgt kein Opfer an ihn, den „Räuber" und Entführer). Neben diesem Schulaufsatz, in den Nietzsche aber geschickt seine Konterbande einzuschmuggeln weiß, haben wir auch Privattexte aus dieser Zeit, nämlich zwei Theaterstücke: Das erste davon ist Prometheus. Hier kann man feststellen, daß die versteckte Kritik an Gott/Göttern aus der Naumburger Zeit klar zutage tritt. Aber noch etwas anderes, ganz wesentliches zeigt sich: die Mentalität von einem, der auf seine Unabhängigkeit pocht, der die Götter herausfordert und mit dieser Herausforderung nicht zurechtkommt (Prometheus), der auch ,menschlich' defizitär geschildert wird, genauso wie die von ihm kritisierten Götter. Dieser Prometheus ¡st kein Anwalt der Menschen, sondern ein auf die eigene Ungebundenheit bedachter Mensch, der den eigenen Ansprüchen aber nicht genügen kann: Möglicherweise ist auch dies ein negatives Selbstbildnis und eine aus
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Erkenntnis und Erlösung
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noch einen Schritt weitergehen und nach den GötBeispiel dafür könnte seine „Medea" sein. Das zweite Drama Die Verschwörung des Philotas zeigt im Gegensatz zu Prometheus einen historischen Hintergrund. Es agieren keine Götter, nur einer, der für einen Gott gehalten werden will: Alexander. Die Schwäche dieses „großen" Alexander wird ebenso gezeigt, wie die des Verschwörers Philotas. Die „Freiheit" wird beschworen, ähnlich wie in Schillers Räubern, denen das Stück manchmal sehr nahe kommt; aber Nietzsche läßt es offen, ob diese Verschwörer der Freiheit würdig sind. Die Figuren des Prometheus und des Philotas sind beide nicht geeignet, ein Modell für eine gute Lebensführung zu liefern. Ein neues Motiv bringt die Einführung des Philosophen Kallisthenes (erstmals in einem Stück Nietzsches agiert ein Philosoph!). Nietzsche deutet an, daß dem Philosophen Möglichkeiten zu Gebote stehen, sich durch Rückzug aus der Welt der „Begierden" auch dem Druck eines Tyrannen zu entziehen. Aber dieses Lebensmodell wird nur beiläufig erwähnt und findet weiter keine Beachtung, auch wenn es in ihm weitergearbeitet haben mag und als Vorläufer zu dem Komplex Philosophie als Tragödie gelten kann. Ganz andere Vorbilder liefern dagegen zwei große lateinische Arbeiten. Als erste ist De rebus gestis Mithridatis regis zu nennen, die gegen Ende der Untersekunda geschrieben wurde. Nietzsche übertrifft bei der Zeichnung des schillernden Wesens dieses ,Machtmenschen' sogar die romanhaften Beschreibungen der Alten. Manchmal spürt man ganz deutlich, daß Nietzsche auf Seiten dessen steht, der von ihm in seiner Schilderung mitgestaltet wurde: Der ,dämonische' Mithridatis ist ein Teil seiner selbst. Einem anderen Machtmenschen wird in der großen lateinischen Arbeit aus der Obersekunda Quibus caussis motus Cicero in exilium concesserit gehuldigt: Caesar, der auch schon in früheren Aufsätzen sehr positiv behandelt wurde. Cicero, um den es eigentlich in diesem Text geht, erfährt die ganze Verachtung Nietzsches. Während der beiden Primanerjahre beschäftigt sich Nietzsche neben anderem intensiv mit Themen der griechischen Tragödie. Auch in den Epigrammen, die ich auf dem letzten Kolloquium in Bezug auf die Schicksalsproblematik besprochen habe, geht es z.T. um tragische Personen. Und damit nähern wir uns dem, was ich einmal den „tragischen Komplex" nennen will. Er wird eingeleitet von zwei lateinischen Gedichten, deren erstes ohne Überschrift ist (Diffuso liquido nitet...), in dem es sich um die verheerenden Auswirkungen von „Neid" handelt. Im zweiten Gedicht Per áspera ad astra geht Nietzsche von einem Bild aus der Natur, dem sterbenden Löwen, aus, um dann allerdings auf den Tod eines mythischen und tragischen Helden, Herakles, überzugehen. An der Schilderung des Löwen ist besonders sein Freiheitsdrang hervorzuheben; er will nicht in Gefangenschaft („gefesselt") gepflegt werden, „sondern in den Wäldern leben". Auch der „Mut" des Löwen und sein „nicht gezähmtes Herz" werden im Vergleich mit Herakles herausgestellt. „Morti non domitum pectus" (für den Tod nicht gezähmtes Herz) steht hier, also der Dativ, nicht etwa der Ablativ „morte" (durch den Tod). Das „Herz" des Menschen soll nicht im Hinblick auf das Ende („für den Tod") domestiziert werden. Auch eine Absage an das Christentum, das genau dies jahrtausendelang gemacht hat, indem es nämlich Menschen mit Todesfurcht und Angst vor Strafen im Jenseits zu einem systemadäquaten Verhalten brachte.
Erfahrung Nietzsches.
Oder will
er
tern jetzt auch die Heroen demontieren? Ein
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Im Hinblick auf Herakles ist sein Tod ein Mittel zur Verherrlichung (ut celebret). Angesichts des Todes verläßt ihn der Mut nicht, der ihn während seines Lebens so ausgezeichnet hat, im Gegenteil, sein Verhalten vor dem Tode ist von einer bemerkenswerten Konsequenz. Durch diesen Tod („morte") wird er belohnt und unter die Götter aufgenommen. Hierbei spielt Nietzsche auch auf griechische (insbesondere hellenistische) Verstirnungssagen an.1 Herakles wird gerade im Hellenismus mit einer ganzen Reihe anderer als Soter (Retter, Heiland) angerufen. Beide Gedichte kann man als Expositionen zu anderen Arbeiten Nietzsches sehen: So
tauchen in der lateinischen Arbeit Primi Ajacis stasimi
interpretado et versio cum brevi
praefatione gerade „invidia" und „fama" (Neid und Gerücht) aus dem ersten Gedicht als wichtige Faktoren innergemeinschaftlichen Verhaltens wieder auf. Der andere wichtige Gesichtspunkt in dieser Arbeit ist die Frage nach der Verantwortlichkeit der Göt-
ter/eines Gottes für den Wahnsinn des Aias. Für die Choreuten ist da stimmt Nietzsche mit Sophokles überein nichts anderes als Fremdeinwirkung (und zwar durch Götter) möglich, da „wir, wenn wir das frühere Leben des Mannes betrachten, zugeben, daß er von sich aus niemals über Herden hergefallen wäre". (160) Eine zweite Möglichkeit außer dem direkten Eingreifen wäre, daß es sich um eine „gottgesandte Krankheit" (Sophokles, Aias 185 „theia nosos") handeln würde. Nietzsche spricht in diesem Kontext sogar davon, „daß die Götter Schuld deines Wahnsinns sein können"(160). Allerdings spricht er hiervon nur als einer Möglichkeit, nicht einer Notwendigkeit. (Er drückt sich sehr distanziert aus, vielleicht gerade deshalb, weil er wegen der Gehirnkrankheit seines Vaters schon oft über dieses Problem -
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nachgedacht hatte)2 Das (also eine Möglichkeit, nicht eine Notwendigkeit) finden wir auch im folgenden Kommentar bestätigt, als er sagt, „wenn dein Wahnsinn nicht von den Göttern kommt und auch nicht aus deiner Seele" (sin non e deis venit insania ñeque e tua anima) (161). Das zeigt zwar, daß der Wahnsinn nach Nietzsches Meinung nicht nur von den Göttern herrühren kann, sondern auch in ihm selbst (in seiner Seele) entstanden sein kann, gleichzeitig wird hier aber von Nietzsche noch eine dritte Möglichkeit angedeutet, die
aber nicht thematisiert wird. Könnte es sein, daß er anzudeuten versuchte, daß Aias oder vielleicht auch ein anderer durch seine soziale Umwelt in den Wahnsinn getrieben wurde? Der Held des zweiten Gedichtes (Herakles) spielt die Hauptrolle in der von Nietzsche übersetzten Monologpassage aus den Trachinierinnen des Sophokles. Dieses Stück des Sophokles hat zwei große Hauptdarsteller: Deianeira und Herakles, die nicht zusammen auftreten, sondern von denen jeder nacheinander jeweils die Hälfte des Stückes bestreitet. Die inhaltliche Verbindung ist die unwissentliche Tötung des Herakles durch ein mit Gift getränktes Gewand, das ihm Deianeira sendet. Sie hatte dieses Gift von dem sterbenden Kentauren Nessos als Liebeszauber bekommen. Als Herakles die junge Kriegsgefangene Iole zu seiner Nebenfrau nehmen will, erinnert sich Deianeira an dieses Mittel, und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Herakles wurde auch als nördliches Sternbild angesehen. Theia nosos kann auch morbus sacer, die heilige Krankheit als die Anfalle C. L. Nietzsches auch in dieser Hinsicht deutbar.
Epilepsie bedeuten. Vielleicht sind
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Erkenntnis und Erlösung
Die von Nietzsche übersetzte Passage stammt aus dem zweiten Teil des Dramas, das der Figur des sterbenden Herakles gewidmet ist. Sie ist ein an den Sohn Hyllos gerichteter Monolog des Herakles. Der Schüler Nietzsche spricht in seiner Übersetzung schon in der ersten Zeile Herakles als den Leidensmann an: „Der Mühen Fülle und der Leiden Brand, kaum auszusprechen hab ich durchkämpft" (201). Das ist zwar eine Sicht des Herakles, wie sie besonders in der Zeit des Hellenismus, in der Herakles ja nicht nur als Soter Retter, Heiland3 sondern auch als Schmerzensmann verehrt wurde, vertreten wurde, hier aber schießt die Übersetzung über den Text hinaus mit einem Hendiadyoin, wie es so im Text nicht steht. Hat hier die Erinnerung an die Leiden eines, ja seines, Vaters auf die Übersetzung Einfluß gewonnen? Die höchste Qual, so Herakles, und er vergleicht mit Früherem, was er durch Hera und Eurystheus hatte erdulden müssen, wird ihm jetzt durch Oineus Tochter, also Deianeira, zugefügt. Der Name Deianeira selbst fällt in dem ganzen Monolog nicht ein einziges Mal, man sieht, daß auch hier wie so oft die Frau nichts gilt, daß sie nur als Tochter einer Vaters, eines Mannes, angesprochen werden kann. Andererseits hat Nietzsche aber sicher auch um die Bedeutung des Namens „Deianeira" gewußt. Er bedeutet „den Mann vernichtend"! „So arg gequält, wie jetzt des 0[i]neus Kind, / Listblickend, das um mich ein Netz, / Erinnienkunstgewebe, mir nur Tod, / Herumschlang" (201). Ein wichtiges Wort fällt in diesem Zusammenhang: Das „Netz" (amphiblestron, Umhang, Überwurf) kann zwar auch mit Netz übersetzt werden, erscheint aber im Kontext des Stückes sinnlos. Deianeira hatte Herakles ja ein Festgewand gesandt, in dem er die Opferungen vornehmen sollte. Hier scheint Nietzsche im falschen Drama zu sein, denn in einem anderen tragischen Stoff ist das Netz von entscheidender Bedeutung, das Netz, das Klytämnestra dem heimkehrenden Agamemnon überwirft, um ihn dann zu ermorden.4 Was bedeutet es also, daß Nietzsche diese Übersetzung des Wortes wählt? Er setzt die unwissentliche Tötung des Herakles durch Deianeira in einen Bezug zu dem kaltblütig geplanten Mord der Klytämnestra an Agamemnon. In gutem Glauben Unrecht tun, d.h. aus Unwissen etwas Schlimmes begehen, kann also in seinen Konsequenzen genauso schlimm sein und genauso erfahren werden wie etwas geplantes Schlechtes. Deianeira denkt nicht nach; durch ihre Naivität wird sie schuldig. Ihr gutes Wollen verkehrt sich in sein Gegenteil. In gewisser Weise wird sie schuldlos schuldig. Es zeigt sich also eine Radikalisierung des Schuldbegriffs. Doch kommen wir zu Nietzsches Übersetzung zurück, und zwar zur Übersetzung der Verse 1068ff. Nietzsche übersetzt: „[...] gib sie in meine Hand / Daß ich erkenne, wie dich mein Geschick / Ergreife, ob du es vermagst, entstellt, / Mit Recht entstellt ihr Bild zu sehn." (201) Mag diese Formulierung der Absicht des Herakles auch lebhaft nachempfunden sein, die Übersetzung ist dennoch auffallend ungenau. Besonders fällt dabei das wiederholte „entstellt" auf. Nach den schaurigen Schilderungen der Wirkung des Giftes schon vorher kann man sich dieses Wort als Epitheton für den vor Schmerzen rasenden Herakles vorstellen. Dieser ist nur noch von dem Gedanken an Rache beseelt. Gleiches für Glei-
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Epitheton, das mehreren Wunderheilern in der Spätantike gegeben wurde. Vgl. Aischylos, Agamemnon, 1382f. Ein
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ches! Das Wort „entstellt" weist natürlich auch wieder zurück zu dem Vater Nietzsches, der durch seine Gehirnkrankheit zuletzt wohl wirklich „entstellt", kaum noch einem menschlichen Wesen gleich, gewesen sein mag. Und damit kommen wir zu der Frage: Warum hat Nietzsche auf einem separaten Quartblatt ausgerechnet diesen Text und noch dazu ohne Überschrift (sie wurde vom Herausgeber ergänzt) übersetzt? In Pforta wurde in Unter- und Oberprima Sophokles gelesen; allerdings Aias (s.o.) und Philoktet. Es ist allerdings zu vermuten, daß Nietzsche selbstständig, wie ja angeregt wurde, weiterstudierte5 und dabei auf diesen Text stieß, der ihn so anrührte, weil er längst Verschüttetes oder verschüttet Geglaubtes in ihm wieder wachrief, so daß er versuchte, dessen furchtbare Wirkung durch eine eigene Übersetzung zu bannen, auch hier also möglicherweise ein autotherapeutischer Versuch. Dazu kommt noch, daß Nietzsche, der ein außerordentlich feines Gespür für psychologische Zusammenhänge hatte, sich vielleicht auch in die Gestalt des derart angesprochenen Hyllos hineinversetzen konnte, zumal das Bild seines so über die Maßen leidenden Vaters sich wohl tief in die Seele gebrannt hatte. Diese Übersetzung kann also wohl auch ein weiterer Versuch der Erlösung von der Obsession des sterbenden Vaters sein, eine Obsession, die ihn noch weiter quälen wird (Silvesternacht in Bonn). Wenn wir nun diesen schrecklich leidenden Heros mit der anderen sophokleischen Figur vergleichen, mit der sich Nietzsche auch schon beschäftigt hat, nämlich dem Aias, können wir deutliche Unterschiede feststellen. Der gekränkte Aias wurde von der Göttin Athene verblendet und dann auch noch ,vorgeführt'; Herakles aber, der seine Frau wegen einer Jüngeren verlassen will, kann sich in deren Seelenzustand überhaupt nicht hineinversetzen, sieht nur seine eigenen Qualen und will sich rächen. Neben seiner massiven Ichbezogenheit sehen wir auch eine gewisse Arroganz. Sie äußert sich beispielsweise in „Mich, der der größten Mutter Sohn ich bin, / Des Vater Zeus der Sternenherrscher ist." (202) Dem ,Rang' eines Herakles gebührt es wohl auch, daß dieser nach dem Blitz des Zeus (seines Vaters) schreit, was ansonsten eine Strafe für Hybris ist, (wie man in früheren Texten Nietzsches wiederholt finden kann), erfleht er als Erlösung von seinen Schmerzen. Hat Nietzsche also möglicherweise durch die Negativzeichnung dieses Herakles ein gesteigertes hybrides Verhalten darstellen wollen? Oder wollte er dem Schrei eines Ausgezeichneten und/oder Stigmatisierten nach Erlösung den angemessenen Ausdruck verleihen? Damit kommen wir zu der dritten über die Nietzsche sich geäußert hat, genauer gesagt zu zwei Tragödien, da er den Ödipus auf Kolonis in seine Argumentation über Das erste Chorlied des „König Ödipus" immer wieder miteinfließen läßt. Diese ungemein umfangreiche Arbeit über Sophokles hat Nietzsche im April und Mai 1864 geschrieben, also im letzten Halbjahr der Oberprima.
Sophoklestragödie6,
6
Außerdem besaß Nietzsche schon im Dezember 1862, wie aus einer Briefstelle hervorgeht, eine Sophokles-Ausgabe, „die mir ungemein gefallt" (KSB, 1, 339), und wird sie wohl fleißig benutzt haben. Außer zu diesen hat sich Nietzsche auch zu Philoktet geäußert, der ja auch Unterrichtsgegenstand war; leider hat der Herausgeber diesen Text in der HKG nicht abgedruckt.
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Erkenntnis und Erlösung
Nietzsche schildert den Ödipusmythos in lebhaften Farben, wobei er besonders die Wahrheits- und Gewißheitssuche des Ödipus („er wollte ganz sicher sein") (KSB, 1, 365) betont, ebenso dessen Instrument der Wahrheits- und Erkenntnissuche „den scharfen Verstand", von dem er „angestachelt und gereizt" wird. Dieser „scharfe Verstand" zeigt sich aber nur im Umgang mit der Sphinx, nicht in Bezug auf ein Durchschauen der eigenen Existenz, d.h. da scheint für ihn ein blinder Fleck zu sein. Eine Merkwürdigkeit zeigt sich da, wo Nietzsche schreibt: „Als er auf diese Weise ankam, wohin er wollte" (der Tragödie gemäß ist Theben gemeint) (KSB, 1, 365). Das sagt Sophokles aber nicht. Will Nietzsche vielleicht andeuten, daß Ödipus eigentlich (vielleicht unterbewußt) das tragische Verhängnis will, daß er sein „furchtbares Schicksal" auf sich nehmen will? Der zweite Teil stellt die Frage nach der Schuld des Ödipus. Dabei weist Nietzsche Spekulationen und „Sophismen" zurück und meint dagegen, man müsse fragen, „wie Sophokles selbst über die Schuld des Ödipus urteilte" (KSB, 1, 366). Das ist sicher ein sehr lobenswerter Entschluß, aber Nietzsche begeht im Folgenden selbst einen schweren Fehler, da er mit Argumenten (und vielen Zitaten) aus Ödipus aufKolonos die Probleme von König Ödipus bewältigen will, da es sich „um zwei notwendigerweise miteinander zusammenhängende Ödipustragödien" handelt. Dabei bedenkt er anscheinend nicht, daß der versöhnliche Ödipus auf Kolonis ein ausgesprochenes Spätwerk des Sophokles ist und eine ganz andere Sicht vermitteln will.7 Mit Hilfe der Verquickung dieser beiden Tragödien gelingt es Nietzsche auch ganz leicht, die Unschuld des Ödipus herauszustellen, er bezeichnet ihn sogar als „frömmsten der Menschen, der, obwohl die Orakelsprüche sich zu irren schienen, tief erschüttert war" (367). Im folgenden zeigt Nietzsche den Unterschied zwischen Aias und Ödipus. Dem Aias sandte Athene den Wahnsinn (so Nietzsche in seiner Zusammenfassung), dagegen weise in den beiden Ödipustragödien nichts darauf hin, daß ein Gott eingegriffen habe, bzw. „daß Ödipus aufgrund eines von der Gottheit gesandten Wahnsinns, einer von den Göttern stammenden Verblendung, alles getan habe." (368) Aber gerade in der zu besprechenden Tragödie König Ödipus antwortet Ödipus auf die Frage des Chors „welche Gottheit trieb dich an?" (dich zu blenden), „Apollon hat das, Apollon, o Freund, Schlimme, das Schlimme vollbracht"8. Aber sofort im nächsten Vers betont er, daß er die Blendung „eigenhändig" (autocheir) vornahm. D.h., wenn hier eine Beeinflussung durch einen Gott vorliegt, so ist sie viel sublimer als im Aias. Nietzsche schreibt weiter: „Unfreiwillig sich zu vergehen, ist ein Leiden infolge eines göttlichen Schicksals." (To de douch hekousios hamartanein in pathos estin ek theias tyches.) (368) Diese „theia tyche" ist doppeldeutig; es kann sich einmal um ein „von Gott gesandtes" Schicksal handeln, andererseits aber auch um eben ein „göttliches" Schicksal, ein Schicksal, das den Betroffenen aus der Schar der übrigen Sterblichen weit heraushebt, und sei es um den Preis des immensen Leids!
Das ist bei einem etwas 8
verdächtig.
genealogisch, historisch, chronologisch
König Ödipus, 1329f.
so
korrekt Denkenden wie Nietzsche
Renate G. Müller
230 Im gleichen Abschnitt spielt Nietzsche immer wieder mit dem
Ödipus auf Kolonos.
Versöhnungsgedanken
Und er weist auf noch etwas hin, daß eigentlich die Eltern schuld sind, denn sie haben das Kind ja aussetzen lassen. Das ist jedoch überhaupt nicht griechisch gedacht, da die Kindesaussetzung auch in klassischer Zeit überall in Griechenland noch praktiziert wurde. Aber vielleicht will er die Aufmerksamkeit auf noch Früheres lenken: Laios hatte schon vor seiner Ehe mit lokaste einen Fluch auf sich geladen, und zwar, als er sich in Chrysippos, den Sohn des Pelops verliebte und ihn entführte, und der sich daraufhin tötete. Nietzsche, der sich auch sonst gern gründlich und „ex arches" informierte, kann diesen Mythos durchaus gekannt haben, er nennt ihn allerdings nicht. Vielleicht weist dieses „aussetzen" aber auch daraufhin, daß sie es gar nicht erst „in die Welt setzen" sollten. Auch hier ein zu Unrecht Gezeugter wie Achilleus wie auch Fritz? (Vom Vater gezeugt, als dieser schon krank war.) Nachdem Nietzsche nun Ödipus exkulpiert hat, macht er das gleiche mit den Göttern; ja, er geht sogar soweit zu sagen, daß ein Gott Ödipus dieses Leiden schickte, „um die sittliche Ordnung zu retten" (368). Die Götter handeln nicht, indem sie auf „Vermessenheit" und „Willkür" der Menschen reagieren, sondern „nach den heiligsten und gerechtesten Gesetzen" (368), die allerdings inhaltlich nicht gefüllt werden. Das scheint mir schon ganz in der Nähe von ,die Wege des Herrn sind unerforschlich' zu liegen, dem man sich nur ,sola fide' nähern könne. Im Aias hatte Athene noch ein klares Orientierungsmuster vorgegeben, indem sie sagte: „[...] den Besonnenen lieben die Götter, den Frevler hassen sie" (tous de sphronas theoi philousi kai stygousi tous kakous).9 Hier dagegen wird der unschuldige Ödipus (wenn auch verdeckt) von Apollon als „miasma"10 des Landes benannt, genau von dem Gott also, dem Ödipus immer vertraute, in den er seine Hoffnung zur Rettung der Stadt setzt, den er als „Herrscher" (anax) und „Retter" (soter) bezeichnet. Auch aus dem letzten Satz dieses Teils „über die Schuld" des Ödipus scheint mir klar zu werden, daß Nietzsche sich über die Grausamkeit des Apollon im klaren war, und die Worte von den „heiligsten und gerechtesten Gesetzen" sowie eines „edlen und sittlichen Schicksals" bloß Tünche waren. Er schreibt nämlich, daß „uns offenbar wird, daß nach sophokleischen Vorstellungen irgendein feindlicher Gott ohne vorheriges Fehlen des Menschen Verblendung in die Seele hineinschleudert" (KSB, 1, 368). Um das Problem der Schuld von Gott und/oder Mensch geht es auch in einem Kommentar zu Aischylos Agamemnon: Kassandra. Hierbei handelt es sich um einen Kommentar des Schülers Nietzsche über einen Teil des Agamemnon des Aischylos. Dieser Kommentar setzt ein mit einer Beschreibung der Haltung Kassandras gegenüber Klytemnästra „stumm und unerbittlich" (252). Doch schon im nächsten Satz kommt die verhängnisvolle Beziehung Kassandras zu Apollon zur Sprache. Nietzsche übersetzt: „Ins Weh ja bringst zum zweiten Mal du mich" (V. 1082; 252). Er läßt dies unzusamdazu gemenhängend stehen und verweist nicht auf die Erklärung, die bei geben wird, sondern setzt sofort den Vers des Chores dagegen: „Auch in der Sclavin Geist noch bleibt das Göttliche" (V. 1084; 252). To theion, das Göttliche, das ist die aus
Aischylos"
9
Aias 132f.
10
König Ödipus, 91. Vgl. Aischylos, Agamemnon
1 '
121 Iff
Erkenntnis und Erlösung
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mantische Gabe, die Stimme des Gottes, die aus ihr spricht. Dann stößt Kassandra mit Vehemenz ihre Geschichte hervor, was Nietzsche nüchtern kommentiert: „Sie sieht zuerst die Vergangenheit des Hauses, dann das Bevorstehende. Und zwar erst das Geschick Agamemnons, dann ihr eigenes." (252) Nietzsche zitiert bzw. übersetzt die Verse 1146ff, in denen Kassandra das Los der Nachtigall als glücklich preist. Nietzsche, der in seinen frühen Gedichten oft das Bild der Nachtigall (neben der Lerche) verwendet, greift diese Verse sicher begierig auf, gibt hier in seiner Übersetzung der Nachtigall die Attribute, die sonst der positiven, daseinsbejahenden Lerche zugeordnet werden: „hell schmetternd", „beschwingt" (253), ist dann aber wahrscheinlich schon so sehr im eigenen Vokabular befangen, daß er falsch übersetzt, statt „von Tränen frei" mit „abgesehen vom Klaggesang" (V. 1148; 253). Diese vier Verse der Übersetzung sind abgesetzt vom folgenden Text mit seinen Zitaten. Nietzsche wollte sie also offensichtlich besonders betonen. Wenn „Nachtigall" das Symbol für nächtige Aspekte des eigenen Selbst ist, Kassandra die Nachtigall aber als äußerst positiv darstellt, so rückt sie ihr Schicksal in eine noch viel dunklere Nacht. „Mein aber harret Mord von doppelschneidiger' Axt!" (V. 1149; 253) Im folgenden stellt Nietzsche kurz dar, wie sie jetzt weissagen wird: „klar und hell wie Morgenwind" (253) und wie sie durch Apollon zur Gabe der Weissagung gekommen ist. Dann leitet er die folgenden Zitate, die wiederum hervorgestoßene Sehersprüche sind, mit den merkwürdigen Worten ein (Kommentar): „Wiederum erfaßt sie die Begeisterung" (253). „Begeisterung" kann hier sicher nicht im modernen positiven Sinn verstanden werden, schon eher als Begeisterung, d.h. als mantischer Wahnsinn. Danach reihen sich die Zitate ohne Kommentar: „Ha, seht ihr dort sitzen an der Schwelle, sie die kleinen Kinder, schaurig Traumgespenstern gleich" (V. 1217fi). Warum wählt Nietzsche diesen Satz, wo doch für den Kontext viel deutlichere fallen? Ist hier eine Reminiszenz an seine früheste Jugend, den geträumten und vorausgeschauten Tod des kleinen Brüderchens, den Vater als Wiedergänger und Traumgespenst?12 Es folgen die Vergleiche, die auch Aischylos wählt: Ägisthos „ein feiger Löwe" (V. 1224), Klytemnästra „die verfluchte Hündin" (V. 1258f.) und er fährt direkt mit dem Kommentar fort: „[...] sie ruft den Lykeios zu Schutz" (253). Mit „Lykeios" ist Apollon gemeint. Allerdings ist hier einzuwenden, daß sie den Apollon nicht zum Schutz ruft, sondern sich ihrer äußeren Attribute als Seherin (Stab und Binde) entledigt, ja, diese sogar mit Füßen tritt. Kassandra rechnet mit Apollon ab: „[...] er hat allen Schimpf über sie ergehen lassen, nun auch das Ende". Apollon hat zugelassen, daß sie überall verhöhnt wurde, er hat seine Rache voll ausgekostet, sie ein verachtetes Sklavendasein führen lassen, um sie dann wissenden Auges doch noch einem schrecklichen Tod zu überantworten. Aber durch diese Erkenntnis und die Formulierung dieser Erkenntnis wird Kassandra auch ruhig und kann ruhig dem Tod entgegensehen. „Gekommen ist die Stunde." Und Nietzsche kommentiert: „Ruhmvoll zu sterben sicher ist der Menschen Trost."
12
Bei Aischylos beziehen sich diese Worte (V. seines Bruders Thyestes.
1217f.) auf die
von
Atreus
geschlachteten
Kinder
Renate G. Müller
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5.
Schlußbemerkungen
Nach diesem Durchgang durch die verschiedenen Tragödien und Nietzsches Beschäftigung mit ihnen kann man sagen, daß alle Varianten von Nietzsche einfühlsam dargestellt werden, bei jeder der vier Personen mag er seine Assoziationen gehabt, Vergleiche angestellt und sich und sein Schicksal in den unterschiedlichen Figuren erkannt haben. Griechische Tragödien haben ja auch nach zweieinhalb Jahrtausenden immer noch ihre Anziehungskraft, weil wir uns in ihnen wiederfinden können. Umso mehr galt dies sicher für den jungen Nietzsche, der schon als Kind solche Traumata erlebt hatte. Wollen wir nun zum Schluß noch einmal nach den Möglichkeiten der Erlösung bei den verschiedenen tragischen Personen fragen: Herakles, Aias, Ödipus, Kassandra. Herakles kommt durch unmenschliches Leiden zur Erlösung und darüber hinaus sogar zur Vergöttlichung. Aias muß sich selbst töten, um der Schande zu entgehen. Ödipus muß mit der schrecklichen Erkenntnis geblendet weiterleben und findet erst nach langem Umherirren den Frieden durch seinen Tod auf Kolonos. Kassandra ergibt sich ihrem Schicksal (dem Tod), nachdem sie mit dem Gott abgerechnet hat. Wenn wir von dem ersten (Herakles) einmal absehen, so läßt sich bei allen ein Erkenntnisprozeß bemerken. Aias erkennt, daß er über die Rinderherden hergefallen ist, Ödipus erkennt, daß er seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet hat, Kassandra erkennt, daß Apollon sich an ihr rächen will. In all diesen Fällen der Erkenntnis und Selbsterkenntnis ist sie mit unermeßlichem Leid verbunden und mündet schließlich in die Erlösung durch den Tod. Und so kann ich vielleicht mit einen lateinischen Zitat aus einem Epigramm des siebzehnjährigen Nietzsche schließen: „Multa doloris habet secum sapientia multa." Eine Linie, die man verfolgen kann, bis „Was bandest du dich mit dem Strick deiner Weisheit? Was locktest du dich ins Paradies der alten Schlange? Was schlichst du dich ein in dich in dich?... Selbstkenner! Selbsthenker!" (Zwischen Raub-
vögeln)
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IV. Aufsätze
JÖRN PESTLIN
Nietzsche im Völkischen Beobachter Eine Bestandsaufnahme
Nietzsche-Rezeption war von ihren Anfangen im ausgehenden 19. Jahrhundert bis Zäsur 1945 ein äußerst vielschichtiger Prozeß und voller Widersprüche. Sie beschränkte sich bei weitem nicht nur auf den Bereich der akademischen Philosophie. Aber auch was heute mit dem Begriff Nietzsche-Kult umschrieben wird: die hymnischen Gedichte von Conradi, Dehmel oder George, die Bilder und Plastiken von Olde, Klinger, Dix, Munch, die Kompositionen von Strauss und Mahler oder auch die Visiten eines Adolf Hitler in der „Villa Silberblick" repräsentieren nur einen kleinen Ausschnitt aus der ganzen Bandbreite der Rezeptionsgeschichte Nietzsches. Das „Alltägliche" und „Profane" der Nietzsche-Rezeption ereignete sich zu einem gut Teil in den Massenmedien, in Presse und Funk. Hier wurde Nietzsche unter ganz verschiedenen politischen, ideologischen und kulturellen Vorzeichen thematisiert und für ein Massenpublikum aufbereitet. Gerade wenn es um die Frage des Gebrauchs Nietzsches durch die nationalsozialistische Propaganda und Ideologie geht, kommt man an den Massenmedien nicht vorbei. Waren sie doch die wichtigsten Instrumente der NS-Propaganda. Da der Völkische Beobachter die nationalsozialistische Zeitung schlechthin war, soll im Folgenden anhand einiger Beispiele dargestellt werden, welches Nietzsche-Bild der Völkische Beobachter seinen Lesern präsentierte und welche Funktion Nietzsche im öffentlich propagierten Selbstbild und Selbstverständnis des Regimes zugewiesen wurde. Wenn es so etwas wie ein auf höchster Ebene autorisiertes nationalsozialistisches Nietzsche-Bild gab, dann müßte sich dieses eigentlich im Völkischen Beobachter wiederfinden. Anders herum könnte die These dann lauten: Das im Völkischen Beobachter gezeichnete NietzscheBild war das offizielle des Dritten Reiches. Bei der Suche nach dem Stichwort Nietzsche stößt man im Völkischen Beobachter zwangsläufig auch auf das Weimarer Nietzsche-Archiv. Nietzsche und das Archiv seiner Schwester bilden im Zentralorgan der NSDAP häufig eine Einheit. Daher wurde das Nietzsche-Archiv, beziehungsweise die publizistische Thematisierung des Archivs, nicht aus der Untersuchung ausgeklammert. Erfahrungen auch aus der jüngeren Geschichte lehren, daß häufig das ungedruckte mehr als das gedruckte Wort über das Verhältnis des Autors beziehungsweise seines Die
zur
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Jörn Pestlin
Auftraggebers zu seinem Thema sagt. Deshalb steht zunächst auch nicht das durch den Völkischen Beobachter verbreitete Nietzsche-Bild im Mittelpunkt der Untersuchung. Zuerst sollen drei Ereignisse näher beleuchtet werden, die für die Leser des Völkischen Beobachters nicht stattfanden. Das Besondere an diesen Ereignissen ist: Ihnen haftet nichts Subversives oder Regimekritisches an, weshalb es auch nicht zu verstehen ist, warum sie nicht einer breiten Öffentlichkeit publik gemacht wurden. Auf der anderen Seite aber dienen gerade diese Ereignisse heute zur Illustration der Instrumentalisierung und Vereinnahmung Nietzsches durch die nationalsozialistische Propaganda. Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch die Rezeptions- und Wirkungsgeschichtsschreibung. 1.31. Januar 1932: Das Deutsche Nationaltheater Weimar ist bis auf den letzten Not-
platz ausverkauft. Theaterprominenz aus dem In- und Ausland, Vertreter des italienischen diplomatischen Corps und der internationale Presse sind anwesend. Die 85jährige
Elisabeth Förster-Nietzsche und Adolf Hitler wohnen ebenfalls der deutschen Uraufführung des Dramas Hundert Tage aus der Feder Mussolinis bei. Die meisten Premierengäste erwarten an diesem Abend sicherlich keine großes Theater, vielmehr verstehen sie sich selbst als Teil eines Politikums. Das Berliner Tageblatt berichtet anderntags „von mit Hakenkreuz geschmückten Gästen"1. Und der Völkische Beobachter sinnt über die weltanschauliche Bedeutung des Napoleon-Dramas nach.2 Nachdem der Schlußapplaus verhallt ist, besucht Adolf Hitler mit einigen seiner Getreuen die Förster-Nietzsche in ihrem Archiv. Höflichkeiten werden ausgetauscht und die Räumlichkeiten besichtigt. Dann korrigiert der Reichsbildberichterstatter der NSDAP, Heinrich Hoffmann, die Positur seines Führers noch etwas, ein leises Klicken und das Foto, daß vielen als das Symbol der Instrumentalisierung Nietzsches durch den Nationalsozialismus gilt, ist für die Ewigkeit festgehalten: Hitler neben der NietzscheBüste. Da der Völkische Beobachter vom 31. Januar bis 7. Februar 1932 verboten war, berichtete er erst am 9. Februar ausführlich von dem Weimarer Theaterereignis. Hitlers Anwesenheit im Nationaltheater wurde dabei hervorgehoben. Über dessen Visite im Nietzsche-Archiv erfuhr der Leser aber nichts. Auch Hoffmanns Foto fand nicht den Weg in die Zeitung. Es findet sich kein Beleg dafür, daß es in der deutschen Tagesoder Wochenpresse vor 1945 abgedruckt wurde: weder in den Parteiblättern noch in anderen Zeitungen. Die NS-Propagandisten sahen offensichtlich keinen Grund, Hitlers Besuch im Nietzsche-Archiv einer breiten Öffentlichkeit zu lancieren. Unveröffentlicht blieb das Foto allerdings nicht. In der Bilddokumentation Hitler wie ihn keiner kennt ist besagtes Foto zu finden. Dieser Bildband ist wie eine fotografierte Biographie angelegt: Von Eltern- und Kinderfotos bis zu einem Bild, das Hitler bei einer Lagebesprechung für die Reichspräsidentenwahlen im März 1932 zeigt, reicht die Auswahl. Konzipiert war der Bildband als Propagandamittel für die Wahlkämpfe des
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O. Bauer, „Angeblich von Mussolini: ,Hundert Tage'", in: Berliner Tageblatt, Morgen-Ausgabe, Nr. 54, 2. 2. 1932. Völkischer Beobachter, Reichsausgabe, Nr. 40, 9. 2. 1932. H. Hoffmann (Hg.), Hitler wie ihn keiner kennt. 100 Bild-Dokumente aus dem Leben des Führers, Berlin 1932.
Nietzsche im Völkischen Beobachter
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Jahres 1932. Die gekonnt inszenierten „Schnappschüsse" sollten Hitler ein neues Image verleihen. Nicht als Agitator und Parteiführer, sondern als netter, volksverbundener Privatmann der nichts mit den „Bonzen" des Weimarer Systems gemein hat sollte Hitler unters Wahlvolk gebracht werden. In Vorbereitung der zweiten Runde der Präsidentenwahlen am 10. April erging von der Reichspressestelle der NSDAP an alle NS-Zeitungen die Aufforderung, vom 29. März bis zum 3. April unterschiedliche Aspekte der Person Hitler in den Vordergrund der Berichterstattung zu stellen und diese reich zu illustrieren. Als Bildquelle wurde dezidiert auf Hitler wie ihn keiner kennt verwiesen4. Das Foto von Seite 92 kam aber auch bei dieser Propagandaoffensive der Nationalsozialisten nicht zum Einsatz. Das bedeutet aber nicht, daß das Bild unbekannt war. Denn „Hoffmanns Fotoband löste ein starkes Echo aus [...] und entwickelte sich zu einem Bestseller"5. Zwischen 1932 und 1941 brachte es das Buch auf die beachtliche Auflage von 420 000 Exemplaren. Nach 1933 wurde der Fotoband in ein Verzeichnis der zur Beschaffungfür Schulbüchereien geeigneten Bücher aufgenommen. Ob und in welchem Umfang der Inhalt des Buches aber wirklich bewußt wahrgenommen wurde und die öffentliche Meinung prägte, läßt sich nicht klären. Die Auflagenhöhe allein sagt über die tatsächliche Wirkung eines Buches wenig aus. Was den Lesern deutscher Zeitungen und Zeitschriften offensichtlich verborgen blieb, konnten sie in einer französischen Zeitschrift finden. Die linke Illustrierte Vu druckte das Bild aus dem Nietzsche-Archiv neben zahlreichen anderen Fotos aus dem fraglichen Bildband ab. Deshalb war es auch einigen kritischen Zeitgenossen bekannt und veranlaßte diese zu teilweise recht bissigen Kommentaren. So schrieb Karl Kraus: „War schon die Einführung Hitlers in die Welt Wagners ein Mißgriff, so ist es vielleicht eine noch größere Fahrlässigkeit, daß man ihn auf die geistige Verwandtschaft mit Nietzsche aufmerksam gemacht hat, ja geradezu ein faux pas, ihn im Weimarer Kreis neben der Büste zu photographieren. Eine französische Zeitung hat die Aufnahme veröffentlicht und ein englischer Gelehrter (Kraus bezieht sich hier auf einen Artikel in Das neue Tage-Buch J. P.) weist auf das Unpassende der Verbindung mit einem Autor hin, der gerade mit dem Deutschtum seine bedenklichsten Wortspiele trieb, wie jenes ,Horneo und Borneo' zum Rassenproblem. [...] So spricht die Büste auf der Photographie. Was ist dem Weimarer Kreis nur eingefallen? Wie konnte Goebbels den Führer so irreführen, daß er ihm ein solches Nebenbild empfahl? Da hat man in Genf mehr Takt und Sinn für Anordnung bewiesen, als man jenen hinter den Großrabbiner von Australien setzte. Mit Nietzsche ist's nichts."8 Veröffentlicht wurde diese Schrift aber erst 1952 -
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posthum. R. Herz (Hg.), Ebenda.
Hoffmann & Hitler. Fotografie als Medium des Führer-Mythos, 1994,
Vu.rir. 213, 1932, 518.
Lästerung Nietzsches", in: Das neue Tage-Buch, Paris/Amsterdam, Nr. 3, 15. 7. 1933,73. K. Kraus, „Die dritte Wallpurgisnacht", in: Karl Kraus, Schriften, Bd. 12, hg. v. Chr. Wagenknecht, Frankfurt/M., 1989, 76f.
J. L. Beevers, „Die 8
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Das Foto Hitlers neben der Nietzsche-Büste gilt in der Rezeptionsgeschichte als das für die Einverleibung Nietzsches durch die nationalsozialistische Propaganda schlechthin. Bei einer Analyse der Quellen, genauer der nur spärlich vorhandenen Quellen, wird aber deutlich, daß dieses Bild für die NS-Propaganda im Zusammenhang mit der Thematisierung Nietzsches keine Rolle spielte: Kein Nietzsche-Artikel wurde mit diesem Bild illustriert.
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2. Am 2. Oktober 1934 stattet Hitler dem Nietzsche-Archiv seine fünfte Visite ab. Der eigentliche Grund für diese Weimar-Reise war eine Neuinszenierung des Lohengrin am Nationaltheater. Der Völkische Beobachter bringt auf seiner Titelseite eine kurze Meldung über Hitlers Weimar-Aufenthalt. Sein Besuch bei Elisabeth Förster-Nietzsche findet ebenfalls kurze Erwähnung. Daß Hitler bei dieser Visite seine finanzielle Unterstützung für den Bau der Nietzsche-Gedächtnishalle zugesichert hat, erfahrt der Leser aber nicht. Knapp vier Jahre später, am 3. August 1938, feiert in Weimar die regionale Parteiund Politprominenz das Richtfest dieser Halle. Das Berliner Tageblatt meldete in der Rubrik „Kurz Berichtet" nüchtern: „Der Bau der Nietzsche-Gedenkstätte in Weimar, mit der das Dritte Reich einen der eigenwilligsten deutschen Denker ehren wird, ist soweit fortgeschritten, daß ihre Eröffnung im nächsten Frühjahr stattfinden kann. Im Vorraum des Nietzsche-Hauses werden die Büsten derjenigen Philosophen, Dichter und Musiker aufgestellt, deren Werke Nietzsches geistige Entwicklung entscheidend beeinflußten. Ein breiter Raum in dem Neubau soll auch dem Nietzsche-Archiv eingeräumt werden, daß den Nachlaß des Dichterphilosophen verwaltet. Ihrer Anlage und Aussage nach wird die Weimarer Nietzsche-Gedenkstätte zu den repräsentativen kulturellen Bauwerken des Reiches zählen."10 Die nationalsozialistischen Provinzpresse die Thüringer Gauzeitung aus Weimar informierte unter der Überschrift „Glückwünsche Adolf Hitlers zum Bau der NietzscheGedächtnishalle Gauleiter Sauckel beim Richtfest Eine Kulturtat des Nationalsozialismus"1 ' ausführlichst über das Richtfest. Der Autor des Artikels sparte nicht mit pathetischen und huldvollen Worten. Der Nationalsozialismus unter Führung Hitlers sei die erste und einzige Bewegung, die Nietzsche gerecht werde und die dessen Lehre in die politische Tat umgesetzt habe, lautete der Grundtenor seiner Eloge. Wie das konkret aussieht, verriet er allerdings nicht. Der Autor beließ es bei Allgemeinplätzen. So heißt es bei ihm vielsagend nichtssagend: „Am sichtbarsten aber gestaltet sich das Bekenntnis der deutschen Nation zu Nietzsche in der mächtigen Gedächtnis-Halle, die in unmittelbarer Nachbarschaft des Nietzsche-Archivs im Entstehen begriffen ist und über der gestern die Richtkrone aufgezogen wurde. Bei der gestrigen Richtfeier war es von besonderer Bedeutung, daß Gauleiter und Reichsstatthalter Sauckel die persönlichen Glückwünsche Adolf Hitlers übermitteln konnte. So ist auch dieser Bau ein Bindeglied zwischen Weimar und dem Führer. Und weiter muß dies herausgestellt werden: Natio-
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Völkischer Beobachter, Norddeutsche Ausgabe, Berlin, Nr. 277, 4. 10. 1934, 1. Berliner Tageblatt, Nr. 361/362, 3. 8. 1938, 10. E. Trautmann, „Glückwünsche Adolf Hitlers zum Bau der Nietzsche-Gedächtnishalle", in: Thüringer Gauzeitung, Weimar, Nr. 180, 4. 8. 1938, 1.
Nietzsche im Völkischen Beobachter
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nalsozialistische Kräfte sind es, die auch diese kulturelle Großtat, als welche wir den Bau der Nietzsche-Gedächtnishalle empfinden, vollbringen. Der Nationalsozialismus ehrt sich selbst, indem er auf eine so großzügige Weise Friedrich Nietzsche ehrt. Viele große Geister hätten um das Erbe Friedrich Nietzsches gerungen, ein einziger habe es in seinen grundsätzlichen, wesentlichen Teilen verwirklicht, diese Lehre des großen, harten Philosophen: Adolf Hitler und mit ihm seine Bewegung."12 Das Zentralorgan des NS-Staates aber schwieg zu dieser „kulturellen Großtat". Hitlers Engagement für Weimar fand im Völkischen Beobachter keine Erwähnung. Dessen Kulturseiten waren statt dessen mit den Bayreuther Festspielen beschäftigt. Am Tage des Richtfestes von Weimar vermeldete der Völkische Beobachter dann auch, daß der Führererlaß vom 22. Mai 1938 zur Errichtung der Richard-Wagner-Forschungsstätte in die Tat umgesetzt wurde.13 Das Berliner Propagandaministerium setzte 1938 andere Prioritäten als das ferne Weimar: Im Gegensatz zu Wagner galt Nietzsche offensichtlich nur als lokale Größe. 3. Im letzten Beispiel ist die Sachlage unklarer. Ihren Ausgangspunkt nahm diese Geschichte offensichtlich bei dem amerikanischen Autor Heinz Frederick Peters. In seiner Biographie über Elisabeth Förster-Nietzsche Zarathustras Schwester. Fritz und Lieschen Nietzsche ein deutsches Trauerspiel heißt es: „Während einige von Elisabeths ältesten Freunden gezwungen wurden, Deutschland zu verlassen [...], informierte Elisabeth ihren schwedischen Freund (Ernst Thiel, J. P.) stolz, daß das von ihm so viele Jahre geförderte Archiv zum Zentrum der Verbreitung der nationalsozialistischen Ideologie erklärt worden sei. Zusammen mit Hitlers Mein Kampf und Rosenbergs Mythos des Zwanzigsten Jahrhunderts hatte man Also sprach Zarathustra im Grabgewölbe des Tannenberg-Denkmals deponiert [...]. Damit Thiel sehe, ,wie sehr das Nietzsche-Archiv mitten in der gegenwärtigen Bewegung steht', schickte ihm Elisabeth einen langen Zeitungsartikel (Völkischer Beobachter, 4.5.1934, J. P.) und teilte ihm mit, daß es eine feierliche Tagung gegeben habe, an der die großen Führer Hans Frank und Alfred Rosenberg und 18 berühmte Professoren und Juristen teilgenommen hätten."14 Die Geschichte Peters über die Grablegung Nietzsches in Tannenberg wird in vielen Arbeiten zum Thema Nietzsche und der Nationalsozialismus kolportiert. So ist bei Bernhard Taureck zu lesen: „1934 wird Nietzsches Also sprach Zarathustra im Grabgewölbe des Tannenberg-Denkmals neben Rosenbergs Der Mythus des 20. Jahrhunderts und Hitlers Mein Kampf niedergelegt. Dieses bildete die wohl schauerlichste Geste: Nietzsches Buch für das Leben, eingesargt neben den todestrunkenen Bibeln der -
Nationalsozialisten."15
Steven E. Aschheim schreibt: „Die Verbindung zwischen Nietzsche und dem Nationalsozialismus wurde auf höchster Ebene autorisiert sowie mit publizitätswirksamem 12 13 14
Ebenda. Völkischer Beobachter, Norddeutsche Ausgabe, Berlin, Nr. 215, 3. 8. 1938, 5. H. F. Peters, Zarathustras Schwester. Fritz und Lieschen Nietzsche ein deutsches Trauerspiel, München 1983,300. B. Taureck, Nietzsche und der Faschismus. Eine Studie über Nietzsches politische ihre Folgen, Hamburg 1989, 80. -
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Philosophie und
Jörn Pestlin
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und zu Fanfarenklängen vollzogen. Gemeinsam mit Hitlers Mein Kampf und neben Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts wurde ein Exemplar des Zarathustra im Gewölbe des Tannenberg-Denkmals deponiert." Bei Manfred Riedel heißt es: „Zarathustra in Tannenberg: das war die Krönung des Lebenswerkes von Elisabeth Förster-Nietzsche, die kurz nach Hitlers Machtübernahme das Nietzsche-Archiv ,mitten in der gegenwärtigen Bewegung' stehen sah." Das Problem ist nur, einer quellenkritischen Überprüfung hält die TannenbergGeschichte Peters nicht stand. In dem von ihm zitierten Brief schrieb Elisabeth FörsterNietzsche an Ernst Thiel voller Stolz vom „geliebten und angebeteten Reichskanzler Hitler"18 und von der konstituierenden Sitzung des Rechtsphilosophischen Ausschusses der Akademie für Deutsches Recht am 4. Mai 1934 in den Räumen des NietzscheArchives. Das Thema Tannenberg erwähnte sie aber mit keiner Silbe in diesem Brief. Es ist allerdings nicht auszuschließen, daß Peters sich bei der Quellenangabe geirrt hat und sich auf einen anderen als den von ihm angegebenen Brief der Förster-Nietzsche an Thiel bezieht. Gegen Peters Geschichte spricht aber auch die Überlieferung, daß Hitler Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts wenig geschätzt haben soll obgleich die Authentizität dieser Überlieferung auch nicht gesichert ist.19 Der auch während der NS-Zeit nicht unumstrittene Charakter dieses „nationalsozialistischen Standardwerkes" wird dadurch deutlich, daß bis 1937 Gegenschriften zu Rosenbergs Buch erscheinen durften sofern sie Rosenberg persönlich und nicht Partei oder Staat attackierten. „Das Hauptwerk Alfred Rosenbergs wurde niemals parteiamtlich als grundlegende Darstellung der nationalsozialistischen Weltanschauung anerkannt."20 Aus dieser Perspektive stellt sich dann schon die Frage, ob Hitler und Rosenbergs politische Gegenspieler Goebbels und Bormann es geduldet hätten, wenn dessen Schrift in einen so engen symbolischen Zusammenhang mit Mein Kampf gestellt worden wäre. Ein gewichtigeres Argument gegen diese Geschichte ist allerdings die Tatsache, daß die Grablegung der drei Bücher in der zeitgenössischen Presse nicht vorkam. Und wenn Aschheim Peters Tannenberg-Geschichte mit den Worten fortschreibt: „Die Verbindung zwischen Nietzsche und dem Nationalsozialismus wurde auf höchster Ebene autorisiert sowie mit publizitätswirksamem Pomp und zu Fanfarenklängen ist er nur konsequent und hat theoretisch völlig recht. Denn solch ein symbolischer Akt wie der von der Förster-Nietzsche bzw. Peters beschriebene, macht nur „mit publizitätswirksamem Pomp und zu Fanfarenklängen" Sinn. Die Bücher „wider dem deutschen Geiste" wurden am 10. Mai 1933 ja auch nicht heimlich in den Heizungskellern der Universitäten, sondern vor den Augen der Weltöffentlichkeit verbrannt. Warum sollten die Nazis
Pomp
-
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vollzogen"21,
16
18
19 20
21
St. E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, Stuttgart, Weimar 1996, 258. M. Riedel, Nietzsche in Weimar. Ein Deutsches Drama, Leipzig 1997, 136. Unveröffentlichter Brief von Elisabeth Förster-Nietzsche an Ernst Thiel, 29. 5. 1934, Thielska
Galleriet, Stockholm. H. Picker, Hitlers Tischgespräche, Stuttgart 1963, 269.
R. Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970, 9. St. E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, a.a.O., 258.
Nietzsche im Völkischen Beobachter
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dann in aller Stille und verborgen vor der Öffentlichkeit, somit auch ohne jeden propagandistischen Wert, die fraglichen Bücher in Tannenberg deponieren? Das Denkmal in der Nähe des ostpreußischen Ortes Hohenstein es wurde 1927 errichtet, zur Erinnerung an den Sieg der 8. Armee unter Hindenburg und Ludendorff über die russische Armee im August 1914 war ein Ort, dessen sich die Nationalsozialisten gern und ausgiebig für propagandistische Auftritte bedienten. Am 2. Oktober 1935 erklärte Hitler die Anlage Tannenberg zum Reichsehrenmal. Aber schon der Tannenberg-Tag 1933 wurde öffentlichkeitswirksam mit dem gemeinsamen Auftritt Hindenburgs und Hitlers inszeniert. Und auch ein knappes Jahr später war die Beisetzung Hindenburgs (t 2.8.1934) in Tannenberg über Tage Titelthema der Presse. In den ausführlichen Berichten über beide Ereignisse wurde Tannenberg aber in keinem Nebensatz als Ort ritueller Buchniederlegungen beschrieben. Man kann also sagen, daß dieser Akt zumindest im Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit nie stattgefunden hat. -
-
Diese drei
machen deutlich, wie sich im Laufe der Rezeptionsgeschichte die bestimmter Bewertung Ereignisse verändert hat. Marginalien oder Mythen der InstruNietzsches durch das NS-Regime gelten heute als Beispiele schlechthin mentalisierung für den planmäßigen Mißbrauch Nietzsches durch den Nationalsozialismus. Die oben dargestellten Beispiele sollten nicht den Eindruck erwecken, daß der Nationalsozialismus bei seiner öffentlichen Selbstdarstellung und Legitimation bei Nietzsche keine Anleihen nahm oder daß der Philosoph für die NS-Propaganda bedeutungslos war. Vielmehr soll mit den Beispielen darauf verwiesen werden, daß ein Teil der großen Gesten und symbolischen Handlungen, mit denen die Verbindung Nietzsche-HitlerFaschismus besiegelt wurde, nicht für die breite deutsche Öffentlichkeit inszeniert wurden und somit auch nicht Bestandteil des öffentlich propagierten Nietzsche-Bildes waren. Dieses öffentliche Nietzsche-Bild wurde auch weniger durch die Ideologen und Nietzsche-Kenner des NS-Staates wie Alfred Baeumler oder Alfred Rosenberg geprägt, sondern im wesentlichen durch unbekannte oder namenlose Journalisten und Publizisten. Wie deren Arbeit aussah, soll im folgenden anhand einiger exemplarischer Beispiele aus dem Völkischen Beobachter beschrieben werden. Bereits Ende 1920 erwarb die NSDAP diese Zeitung. Sie geht auf den 1887 gegründeten Münchner Beobachter zurück. Mit dem Völkischen Beobachter legte sich die Partei ein Zentralorgan zu, noch bevor sie über regionale Blätter verfügte. Das die Partei kennzeichnende Führerprinzip wurde auch auf die eigene Pressepolitik übertragen. Die später organisierte nationalsozialistische Provinzpresse mußte sich den Anweisungen der Parteizentrale unterordnen. Für die Behandlung politischer Tagesfragen waren die Vorgaben des Völkischen Beobachters maßgebend. Somit repräsentiert der Völkische Beobachter in gewisser Weise die gesamte nationalsozialistische Parteipresse. Und mit der Machtergreifung erlangte er de facto den Status eines Regierungsorgans. In wie vielen Artikeln des Völkischen Beobachters seit 1920 Nietzsche thematisiert wurde, läßt sich nicht genau sagen. 40 Artikel konnten recherchiert werden, zu 22 weiteren gibt es Hinweise in verschiedenen Bibliographien. Unvollständigkeit oder Fehlerhaftigkeit der bibliographischen Angaben erlauben es allerdings nicht, diese Artikel
Beispiele
aufzufinden.
Jörn Pestlin
242 Neun der 40 Artikel erschienen zwischen 1925 und
1933, davor keiner. Nach der
Machtergreifung stilisierte die NS-Propaganda diese Jahre zur „Kampfzeit". In gewisser Weise läßt sich dieser Terminus auch auf den publizistischen Umgang mit Nietzsche zu dieser Zeit anwenden. Im Völkischen Beobachter wurde während der „Kampfzeit" mit und um Nietzsche gerungen. Ein Artikel zu Nietzsches 25. Todestag war ganz in diesem kämpferischen Gestus abgefaßt, trotzdem verriet er auch Unsicherheit im Umgang mit Nietzsche. Die endgültige Entscheidung, ob dieser in die Ahnenreihe des Nationalsozialismus aufgenommen werden konnte oder sollte, schien noch nicht gefallen. Vieles sprach aber dafür. Die Klage darüber, daß seine „Philosophie vom Übermenschentum" im 1. Weltkrieg von der englischen Propaganda als Ursache für den deutschen Militarismus ausgemacht wurde, ist nicht Klage über einen propagandistischen Kurzschluß, sondern darüber, daß Deutschland nicht siegreich war. Weil es Deutschland nämlich genau an diesen „Übermenschen" fehlte. Nietzsche drohe durch die schmähliche Niederlage in Vergessenheit zu geraten, da „die heutigen Machthaber in Deutschland alle Ursache haben, den Verkünder der Idee des Herrenmenschentums möglichst totzuschweigen. Denn Friedrich Nietzsche und der allgemeine Gleichheitsbrei, der Marxismus und Pazifismus schroffere Gegensätze sind nicht auszudenken! Was würde er wohl sagen zu der Phrase: Nie wieder Krieg? [...] In der Erkenntnis vom unersetzbaren Werte der großen Persönlichkeit mit dem energischen Machtwillen begegnen wir, Nationalsozialisten, uns mit Nietzsche [...] Nicht durch Arbeit, wie die Nutznießer des Novemberverbrechens uns bis auf den heutigen Tag vorschwatzen, können wir unsere Freiheit zurückerobern, sondern nur durch Kampf, und zum wahren Frieden gelangen wir nur durch Sieg! [...] In der Natur gibt es keinen Zustand, den wir mit dem Begriff Frieden bezeichnen können, sondern es herrscht ununterbrochener Krieg, und da wir Menschen ebenso Natur sind wie alles andere, so können wir uns von diesem Urgesetz des Krieges nicht losrei-
ßen."23
Bei aller
kämpferischen Euphorie
blieb ein
Unbehagen. Auf der einen Seite war das
gute Gefühl, einen philosophischen Gewährsmann für die eigene Ideologie gefunden zu haben, andererseits ließ dieser es an anderen Stellen an der notwendigen Eindeutigkeit und Geradlinigkeit fehlen: „So in seiner Stellung zur Judenfrage, wobei er sich bald als Antisemit, bald als Philosemit bekennt. Ebenso wenig klar spricht er sich darüber aus, was er unter Rasse, Nation versteht."24 So richtig fest zuzugreifen traute man sich noch nicht, da waren zu viele Stacheln. Fünf Jahre später, wieder zu einem Todestag, waren die Bedenken zerstreut. Auf die Frage: „War Nietzsche Antisemit?"25 gab es eine klare Antwort: „Er war es. War es im
eigentlichsten, reinsten und heiligsten Sinne des Wortes: aus Glaube an die Größe deutschen Wesens und an den Ewigkeitswert deutschen Volkstums und aus Liebe zur deut:"
23 24
„Friedrich Nietzsche. Zu seinem 25. Todestage", in: Völkischer Beobachter, München, Nr. 124, 25.8. 1925,4. Ebenda. Ebenda. E. v. Baer „Nietzsche als Warner ausgabe, Nr. 201, 24725. 8. 1930.
vor
der
jüdischen Gefahr",
in: Völkischer
Beobachter, Bayern-
Nietzsche im Völkischen Beobachter
243
sehen Volksseele." Auch die 1925 noch vermißten „rassischen Bekenntnisse" wurden jetzt bei ihm ausgemacht, ganz deutlich meinte man bei ihm vernehmen zu können, „daß im Grunde alle Unterschiede zwischen den Menschen erbliche, rassische sind [...] und der Kampf zwischen der aristokratischen und der demokratischen Welt zu einem
Rassenkampf [wird]."
27
Die Inbesitznahme Nietzsches durch das Zentralorgan der NSDAP wird auch durch den Umfang, in dem seines 30. Todestages gedacht wurde, deutlich. Fünf Artikel füllten eine „Nietzsche-Gedenkseite". Drei Tendenzen lassen sich aus den Artikeln ablesen. Nietzsche wurde als Inkarnation einer völkisch-nationalsozialistischen Mission in Szene gesetzt. Er wurde als Autorität benannt, die das Parteiprogramm der NSDAP zur historischen Mission erhöht: „In ihm lodert das Sammelbekenntnis der deutschen Minderheit, welche die Gespenster der Vergangenheit abschüttelt, um mit dem Willen zur Macht im deutschen Freiheitsmorgen auf dem Weg des Schaffenden über die Brücke Daneben wurde er, wie schon gesagt, als Kronzeuge für die zur Zukunft zu schreiten." Objektivität des Antisemitismus aufgerufen. „Das Urteil des großen Philosophen über die Juden ist ernst, objektiv, ohne gehässig zu sein [...] Er warnte nicht aus Haß oder Abneigung gegen die Juden, er warnte, weil er die Gefahr sah [...]." Sein vernichtendes Urteil sei frei vom antijüdischen Ressentiment, obwohl er Grund dazu hätte: War es doch der jüdische Einfluß, der so manch negative Wendung in seinem Leben bewirkte. So waren es ein Jüdischer Privatgelehrter" und ein Jüdischer Freund", wie in einem anderen Artikel mehr „nebenbei" behauptet wird, die Nietzsches Distanzierung von Wagner befördert und eine Heirat mit Lou Salomé verhindert hätten.30 Um Nietzsche wurde im Völkischen Beobachter ein publizistisches Gefecht ausgetragen: „Friedrich Nietzsche wird heute immer häufiger von internationaldemokratischen Literaten als Kronzeuge für ihre Welt aufgerufen. Kein Zweifel: in den Schriften dieses Mannes [...] findet sich manch ein Wort, das solchen Anruf zu rechtfertigen scheint. Wer aber nicht auf Einzelsprüche sieht, sondern die grundsätzliche geistige Haltung in Betracht zieht, wird sich über die Dreistigkeit wundern müssen, die aus ihm, dem ersten und schärfsten Antidemokraten, einen Kronzeugen für die Demokratie machen möchte."31 Hier wurde ein Interpretationsmonopol formuliert und beansprucht, denn Mehrdeutigkeit und Ambivalenz waren mit der faschistischen Ideologie nicht vereinbar. Ganz oder gar nicht, lautete die Devise. Diese Haltung kommt in einem Beitrag zur so genannten „Lex Nietzsche" vom November 1929 deutlich zum Ausdruck: 26 7
8
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32
Ebenda. uns heute?", in: Völkischer Beobachter, Bayernausgabe, Nr. 201, 24725. 8. 1930. E. A. Mayr, „Der Wahrheit Freier", in: Völkischer Beobachter, Bayernausgabe, Nr. 201, 24725. 8. 1930. E. v. Baer, „Nietzsche als Warner vor der jüdischen Gefahr", a.a.O. „Nietzsches Beziehungen zum Hause Richard Wagners", in: Völkischer Beobachter, Münchner Ausgabe, Nr. 201, 24725. 8. 1930. „Was ist Nietzsche uns heute?", a.a.O. Willy Haas, „Wir fordern eine ,Lex Nietzsche"", in: Literarische Welt, Nr. 29/1929. Haas schreibt in dem Artikel, daß die Förster-Nietzsche Dokumente ihres Bruders unterschlagen und gefälscht
„Was ist Nietzsche
Jörn Pestlin
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„In der Berliner literarischen Welt' fühlt sich der Herausgeber, der Jude Willy Haas,
bemüßigt, das Nietzsche-Archiv und Frau Elisabeth Förster-Nietzsche auf das niederträchtigste anzugreifen und gleichzeitig eine ,Lex Nietzsche' zu fordern, d.h. ein Ge-
setz, welches den Nachlaß bedeutender Männer dessen Erben entzieht und ihn der Allgemeinheit' ausliefern soll [...] Was dem Juden Haas an der 83jährigen Schwester Nietzsches nicht paßt, ist natürlich ihre deutsche Gesinnung [...] damit das von Frau Förster-Nietzsche geschaffene Nietzsche-Archiv solchen Linksrepublikanern, Juden und Psychoanalytikern ausgeliefert werde, spricht Haas der Schwester des großen Philosophen jegliches Verdienst um die Herausgabe von dessen Werk und Nachlaß ab. [...] der Jude Haas verficht mit talmudartiger Verdrehungskunst seine Hypothese weiter, denn er will etwas finden und er will das Nietzsche-Archiv seinen literarischen Rassegenossen ausgeliefert sehen. Was der Jude im Nietzsche-Archiv finden möchte ist folgendes: ,Zum Beispiel, daß Nietzsche ihren Mann (den Mann seiner Schwester, der deutschvölkisch war) für kein sehr großes Geisteslicht hielt; oder daß er dem deutschen Kaiserreich eine restlose katastrophale Niederlage wünschte; oder daß er sich überhaupt schämte, ein Deutscher zu sein'. Wie schön, wenn die Linksrepublikaner Friedländer, Bloch, Benjamin usw. das im Nietzsche-Archiv finden und in der Marxistenpresse ausschlachten könnten. Da lohnt es sich schon, die nationalgesinnte Schwester Nietzsches anzupöbeln, ihre Verdienste um ihren Bruder abzustreiten, ihre ,blinde' Liebe zu ihrem Manne lächerlich zu machen, ihre Hochschätzung des Faschismus anzugreifen Die Thematisierung Nietzsches im Völkischen Beobachter vor 1933 diente auch für rhetorische Angriffe auf die politischen Gegner der NSDAP. 1934, zu Nietzsches 90. Geburtstag, war der Ton im Völkischen Beobachter versöhnlicher. Jetzt mußte nicht mehr mit der Jüdisch-marxistischen Presse" und den „international-demokratischen Literaten" um Nietzsche gestritten werden. Dieses Problem wurde seit 1933 anders geregelt. Das Deutungsmonopol war errungen; der forschkämpferische Gestus wurde durch einen romantisch verklärenden ersetzt. Es mußte nicht mehr für und mit Nietzsche gestritten werden, seine Vision hatte sich erfüllt. Jetzt konnte mit ihm ein Wegweiser und Vorkämpfer der „Bewegung", der mit seinem Zarathustra einen Leitfaden für die neue Gesellschaft geschaffen hatte, verehrt werden. „Zu seinen Lebzeiten erst spät und nur selten verstanden und gewürdigt, dann durch Jahrzehnte hindurch langsam ins Volk hineingewachsen, ist erst jetzt die Zeit gekommen (sie brach am 30. Januar 1933 an!), in der wir sagen können und dürfen: unser Nietzsche! Denn wir leben und wirken in unendlich vielen kleinen und großen Zügen im Kernpunkt seiner Welt- und Menschenanschauung und gerade sein ,Zarathustra', das hohe Lied vom Menschen, vom Übermenschen ist tief in unsere Gegenwart und Wirklichkeit hineingerückt. Es ist Dichtung; Weisheit und Lehre zugleich, und wird Helfer und Kämpfer-Führer für jeden einzelnen, weil es voller stürmischen, germanischen Geistes ist. Sein Zarathustra ist ein Nordischer, und der Übermensch, den er zeigt und lehrt, ist ein Menschen-Hochbild, ein deutscher ,Mensch', deutsch im Sinne Dietrich
[...]."33
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hätte, deshalb fordere
er ein Gesetz zum Schutz des Nachlasses Nietzsches. Dieser Artikel Auslöser einer breiten publizistische Diskussion. „Eine ,Lex Nietzsche'"? in: Völkischer Beobachter, München, Nr. 210, 11.9. 1929.
war
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Nietzsche im Völkischen Beobachter
Eckarts -, der den Willen zum Unmöglichen, zum Ziel der Ziele, zur Vollendung, tief und leuchtend in sich trägt. Es ist wesenhaft und blutsmäßig ein zielvolles Bekenntnis, ein Mahn- und Wahrzeichen für den ringenden und zweifelnden, unterliegenden und fliegenden Menschen auch der kommenden Zeit" Nietzsche wurde zur unantastbaren Autorität erhoben, der man Verehrung zu zollen hatte. „Künftig gehört er nicht mehr den Professoren, die ihn zerlegen und Widersprüchen nachspüren, sondern denen, die seine Gestalt in ihrer Ganzheit schauen. [...] Heute sehen wir, wie abwegig es ist, eine Gestalt wie Nietzsche, die zum Mythos erhoben ist, psychologisch-psychoanalytisch zu untersuchen. Solche Einmaligkeiten wie Nietzsche können mit Maßen der Wissenschaft nicht gemessen werden. Darum geht auch jede Polemik gegen ihn daneben."36 Diese Stilisierung Nietzsches zum nationalsozialistischen Mythos unterstrich den absoluten Besitzanspruch der NS-Ideologie an Nietzsche. Durch die Mythologisierung entzog sie ihn jeglicher Diskursivität; es ging nicht mehr um das Warum einer Verehrung, sondern nur noch um die zum Dogma erhobene Verbeugung vor der Autorität. Die Exegese seiner Texte war endgültig abgeschlossen und seine Visionen hatten sich erfüllt. „Das germanische Erbe unserer Natur hat mit Adolf Hitler den Sieg davongetragen über die Mächte die es aufzulösen und zu zerstören drohten. Damit hat aber auch Nietzsches Werk seine Erfüllung Neben diesem rein affirmativen Nietzsche-Bild, das in dem Philosophen eine Vordenker und Propheten des Nationalsozialismus sah, gab es in der Zeit des Dritten Reich bekanntermaßen auch differenzierende bis ablehnende Stimmen von systemkonformen Philosophen" Im Völkischen Beobachter waren zumindest die ablehnenden Meinungen nicht zu vernehmen. Es sei denn indirekt, auf dem Umweg einer Kritik ihrer Schriften. Unter der Überschrift „Nietzsche Judenfreund?" attackierte Hauptsturmführer Heinrich Härtle ein Mitarbeiter Rosenbergs Curt von Westernhagen und dessen Buch Nietzsche Juden Antijuden. In einer Zitatenschlacht meinte Härtle die Position Westernhagens die er an keiner Stelle des Artikels benannte zu widerlegen. Am Schluß des Artikels griff er ein aus anderen Artikeln schon bekanntes Interpretationsmuster wieder auf. Nietzsche stehe nicht zur Disposition, zumindest nicht in der Öffentlichkeit: „Wer sich an einem großen Deutschen vergeht, besudelt das Deutschtum, wer sich an
gefunden."37
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Dietrich Eckart (1868-1923) wurde zu den „Märtyrern der Bewegung" gezählt, er war erster Redakteur des Völkischen Beobachters und Herausgeber der antisemitischen Zeitung Aufgut deutsch. Er nahm am Hitler-Putsch in München 1923 teil. Hitlers Mein Kampf endet mit einer Widmung an Eckart. Theodor Zenker, „Es gibt Kameradschaft", in: Völkischer Beobachter, Norddeutsche Ausgabe, Nr. 287/288, 14/15. 10. 1934,5. R. Paulsen, „Gilt Nietzsche heute?", in: Völkischer Beobachter, Norddeutsche Ausgabe, Nr. 289, 16. 10. 1934. W. Seinbeck, „Zum 35. Todestag Friedrich Nietzsches", in: Völkischer Beobachter, Norddeutsche Ausgabe, Nr. 237, 25. 8. 1935, 5. Vgl. H. Langreder, Die Auseinandersetzung mit Nietzsche im Dritten Reich. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte Nietzsches, Kiel 1971.
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einem geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus vergreift, versündigt sich am 9 Nationalsozialismus" lautete drohend der Schlußsatz der Härtle-Kritik. Im Oktober 1944 zu seinem 100. Geburtstag, hatte Nietzsche es zum ersten Mal auf die Titelseite des Völkischen Beobachters geschafft. Der Krieg wütete seit fünf Jahren in Europa, er hatte alle Lebensbereiche erfaßt und sich tief in das Bewußtsein aller ein-
geschnitten. Goebbels hatte das Leben zum „totalen Krieg" erklärt; die Terminologie der Kriegs- und Durchhaltepropaganda war allgegenwärtig. Deshalb verwundert es auch nicht, wenn Alfred Baeumler vom „Kämpfer", „Soldaten der Erkenntnis" und „Propheten des Krieges" sprach, wenn er Nietzsche meinte. „Als Kämpfer hat er gelebt und im einsamsten Kampf des Geistes ist er wie der germanische Held auf der Klippe gefal-
len."40 Bei Baeumler ist der von Nietzsche prophezeite und vom deutschen Volk ausgefochtene Krieg aber kein Krieg bei dem es um Macht, Land und Rohstoffe geht, sondern ein „Geisterkrieg, ein Krieg der Weltanschauungen von ungeheurem Ausmaß."41 Es ist der Kampf um das Überleben einer schöpferischen Menschheit, die sich selbst bedroht. Die seelenlose Moderne mit ihren „Erleichterungen der Zivilisation", die der schaffende Mensch selbst hervorgebracht hatte, drohte ihn jetzt zu vernichten. „Der Mensch ist heute des Menschen größte Gefahr. Blicken wir dieser Gefahr ins Auge. Das Volk, das im ersten Beginn der Katastrophe Friedrich Nietzsche hervorgebracht hat, ist heute auch das einzige, das die Größe aller Gefahren sieht, die der Menschheit bevorstehen." Der Krieg wurde so zur historischen Mission des deutschen Volkes verklärt, weshalb auch kein Aufgeben möglich war. Baeumler integrierte Nietzsche in die allgegenwärtige Kriegs- und Durchhaltepropaganda, allerdings ohne dabei nur demagogisch zu sein. „In dieser Stunde erinnern wir uns des Mannes, der aus Verwirrung und Entwürdigung heraus das reine Bild des Menschen neu gewonnen hat. Er hat uns den Menschen vorgelebt und vorgedacht, dessen Idee wir verteidigen, den Menschen der schenkenden Tugend, deren innerster Kern die Tapferkeit ist, die Mutter aller Tugenden, jene Tapferkeit, die auch in der stärksten Bedrängnis die Gewißheit des schöpferischen Lebens nicht verliert: ,Was mich nicht umbringt, macht mich stärker'"4 lautete Baeumlers Fazit. Dieses Bild des heroischen und kämpferischen Nietzsche ¡st allerdings kein genuin faschistisches: Mindestens seit dem 1. Weltkrieg zirkulierte es in der deutschen Öffentlichkeit. Als Fazit der Recherchen läßt sich so viel sagen: Die Thematisierung Nietzsches im Völkischen Beobachter zielte häufig auf die geistige Legitimierung und intellektuelle Erhöhung des Regimes. Vor allem das Bild des Propheten Nietzsche wurde dafür beschworen. Es war aber nicht so, daß hinter dieser Instrumentalisierung eine lenkende und organisierende Kraft stand. Keine staatliche Stelle, keine politische Organisation und kein Ministerium war für Nietzsche und das, was über ihn geschrieben und der H. Härtle, „Nietzsche Judenfreund?", in: Völkischer Beobachter, Norddeutsche Ausgabe, Nr. 332, 27. 11. 1936. A. Baeumler, „Friedrich Nietzsche. Zu seinem 100. Geburtstag am 15.Oktober", in: Völkischer Beobachter, Berliner Ausgabe, 13.10.1944, 1. -
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Ebenda.
Ebenda, 2. Ebenda.
Nietzsche im Völkischen Beobachter -Anhang
247
deutschen Öffentlichkeit präsentiert wurde, zuständig. Daß die eher kritischen und ablehnenden Haltungen zu Nietzsche nicht publizistisch aufbereitet und verbreitet wurden, könnte sich auf den Einfluß Rosenbergs auf das Zentralorgan der NSDAP zurückfuhren lassen. Quellen, die dies These belegen, ließen sich bislang aber nicht finden. Auch aus dem Goebbels-Ministerium gab es keine Leitlinien oder Sprachregelungen, die vorschrieben, wie Nietzsche in der Presse zu behandeln sei1. Was und wie über Nietzsche im Völkischen Beobachter geschrieben wurde, war vor allem Sache von Journalisten und Redakteuren „vor Ort". Sie formten das öffentliche Nietzsche-Bild maßgeblich.
Anhang: Brief Elisabeth Förster-Nietzsches an Ernst Thiel vom 29.
5. 1934
Mein liebster und bester Freund Auf Deinen letzten lieben Brief, der so manche politische Aufzählung brachte, möchte ich Dir einmal recht von Herzen schreiben, daß die Knechtschaft unter welcher uns das Ausland sieht, Deutschland gut erträgt, wenn auch viel gebrummelt wird. Aber eines kann ich Dir sogleich sagen, gegen unseren angebeteten Reichskanzler Hitler sagt niemand etwas und ebenso genießt der Minister des Innern, Dr. Frick, das allgemeine Vertrauen. Wer hier in Deutschland das Brummein verursacht, das sind die kleinen Machthaber, die Angestellten der S.A., die zum Beispiel in der Studentenschaft oft eine sehr verkehrte Rolle spielen, indem sie die ehrwürdigen Professoren ganz beiseite lassen und der Jugend ein verkehrtes Machtbewußtsein einflößen. Gewiß darüber haben die Universitäten, soviel ich höre, allen Grund sich zu beklagen. Aber trotzdem hörte ich gerade in der letzten Woche zwei Professoren mit voller Gewichtigkeit sich darüber aussprechen, daß die höchst merkwürdige und wundervolle Rückkehr des Deutschtums zu sich selbst, doch von einem so hohen Wert wäre, daß man die Schwierigkeiten der Übergangszeit ertragen müßte. Vielleicht ist unser herrlicher Reichskanzler nicht ganz so stark und hart wie Mussolini, der, als er zur Macht kam ziemlich unbarmherzig, viele jugendliche Parteiangehörige, die sich nun wichtig und mächtig dünkten, einfach aus ihrer Stellung entfernt hat. Reichskanzler Hitler hat immer betont, daß er Allen, die mit ihm die Zeit des Kampfes durchgekämpft haben, einen Vorrang und Vorzug in der BeMit einer bekannten Ausnahme. Eine Presseanweisung aus der täglichen Pressekonferenz des Reichspropagandaministeriums vom 11. 11. 1935 lautet: „Der Führer nimmt heute nachmittag an der Trauerfeier für Frau Förster-Nietzsche teil. Es wird gebeten, die entsprechenden Berichte gut herauszubringen." In: NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit, hg. v. Hans Bohrmann, München 1984ff, Bd. 3, 1,750.
Setzung der führenden Stellen geben müßte; diese Güte benutzen alle die kleinen Wich-
tigtuer.
Also, ich möchte es nochmals zusammenfassen: unsere Reichsregierung genießt zum allergrößten Teil das volle Vertrauen des Volkes; aber die andern Führer in hohen Stellungen, und wie gesagt, die kleinen Unterführer, haben sich noch nicht ganz auf die Wünsche des Volkes eingerichtet. Aber das wird schon kommen. Gerade in den letzten Tagen hörte ich, daß unser lieber Reichskanzler Hitler Einige, die sich mächtig dünkten, aber unerfreulich wirken, aus ihrer Stellung entfernt hat. Wir dürfen doch nicht vergessen, daß wir eine ganz außergewöhnliche Revolution erleben. Sonst waren solche Umwälzungen mit schrecklichem Blutvergießen verbunden und das ist doch diesmal vollständig vermieden. Der Fehler ist, daß Einzelnes in dieser ganzen Umwälzung oft allzu hastig und unüberlegt gemacht worden ist, was uns allen manchen Schaden zugefügt hat, z.B. in der Judenfrage, wo nun unter dem Zustrom der östlichen Juden, all die ausgezeichneten alten Judengeschlechter in Deutschland leiden mußten. Ich komme aus einer alten Zeit und konnte deshalb niemals den gesamten Antisemitismus begreifen. Vor 80 Jahren gab es das gar nicht. Ich habe in meiner ganzen Kindheit und frühen Jugend nur einen einzigen Juden überhaupt kennen gelernt, das war Prof. Stahl, der völlig ungetauft, der Führer der preußischen konservativen Partei war, und als solcher hochangesehen, von allen Seiten sehr verehrt wurde. Aber die Einwanderung der minderwertigen Judenrasse aus dem Osten, wogegen sich mein Mann vor mehr als 50 Jahren mit größter Entschiedenheit wandte, hat die ganze Stellung des Judentums in Deutschland verdorben. Anbei schicke ich Dir einen Zeitungsausschnitt, aus welchem du nun wohl ersehen kannst, wie sehr das Nietzsche-Archiv mitten in der gegenwärtigen Bewegung steht. Das kommt hauptsächlich durch Prof. Dr. Emge, der ein führendes Mitglied der Akademie für deutsches Recht ist und deshalb veranlaßt hat, daß der Ausschuß für Rechtsphilosophie im Nietzsche-Archiv tagte. Es war eine große feierliche Tagung, die großen Führer Dr. Frank und Alfred Rosenberg von der Spitze, und dazu noch 18 berufene Professoren und Juristen. Für mich waren die Reden von Dr. Frank und Rosenberg, die nicht in aller Ausführlichkeit im „Völkischen Beobachter" stehen; wahrhaft erschütternd, denn ich fühlte deutlich, wie sehr mein Bruder in dieser ganzen Bewegung mitwirkt. Einer der Herren, Prof. Binder aus Göttingen, sagte zu mir: „Für Sie sind diese Stunden eine gloriose Auferstehung Ihres Bruders". Ich werde Dir auch einige andere Artikel in der nächsten Zeit schicken, worin sehr gut ausgeführt wird, wie einzelne Bemerkungen Nietzsches in Hinsicht seiner Stellung zu dem wiedererwachten Deutschtum zu verstehen sind. Ich fühle mich nun auch wieder viel wohler, aber den ganzen Winter hat mich eine quälende Grippe geplagt, so daß ich ganz lebensmüde geworden war. Jetzt geht es mir ganz gut.
Mit den
innigsten Grüßen an Dich und Deine Lieben. Deine alte getreue Dr. hc. El. Förster-Nietzsche
Heinz Schneppen
Nietzsche und Paraguay: der Philosoph als Bauer?
Nietzsche und Paraguay das ist die Geschichte einer deutschen Siedlerkolonie, deren Name ein Programm bedeutete. Es ist die spannungsreiche Geschichte von Bruder und Schwester, von zwei Schwägern, die Welten voneinander trennten. Es ist ein Verhältnis zu drift, mit einer Frau zwischen Gatten und Bruder. Es ist ein Familiendrama, das in den Jahren 1886-1890 spielt, mit Elisabeth Förster, geborener Nietzsche, in der führenden weiblichen Rolle. Ihrem Mann, Bernhard Förster, den sie im Alter von 39 Jahren geheiratet hatte, war sie ohne Zögern nach Südamerika gefolgt. Ihren Bruder Friedrich, den frühpensionierten Basler Professor, hatte sie nicht überreden können, mit ihr in Paraguay eine neue Existenz zu beginnen. Aber als „Zarathustras Schwester" blieb sie ihm auch in der Ferne verbunden.1 Dies bezeugt der Dialog zwischen Bruder und Schwester. Ihre Briefe sind ein document humain2 und zugleich ein Beitrag zum Thema der „Schwestern berühmter Männer", in dem den Frauen meist die dienende Rolle zugeschrieben wird.3 Dabei ist die Beziehung der Geschwister von größerem intellektuellen Reiz als die von Wolfgang und Nannerl Mozart oder von Johann Wolfgang und Cornelia Goethe. Indem Elisabeth ihren Bruder um 35 Jahre überlebte, hat sie das Erbe ihres Bruders bewahrt, geprägt und zum Mythos stilisiert. Nietzsche und sein Werk waren durch lange Jahre, was seine Schwester daraus gemacht hat. Als der Wagnerfreund Förster 1882 wegen seiner antisemitischen Agitation seine Lehrerstellung verlor, setzte er alles daran, Gesinnungsfreunde und Partner für die Gründung einer Kolonie im Ausland zu gewinnen, um dort seine „völkischen" Ideale zu -
So der Titel des Werks von H[einz] Frederick] Peters, Zarathustras Schwester. Fritz und Lieschen ein deutsches Trauerspiel, München 1983. Siehe auch: B. Maclntyre, Forgotten Nietzsche Fatherland. The Search for Elisabeth Nietzsche, New York 1992. Zu Nietzsche: C. P. Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, Bd. Ill, München 1979. Nietzsche Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe (KGB). Hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin/New York, 111/ 3-6, 1982-1984. Alle zitierten Stellen in heutiger Rechtschreibung und Zei-
3
chensetzung.
L. F. Pusch (Hg.), Schwestern berühmter Männer. Zwölf biographische Porträts, Frankfurt/M. 1985; dort: K. Goch, „Elisabeth Förster-Nietzsche. Ein biographisches Porträt".
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Heinz Schneppen
verwirklichen, die sich mit sozialen und reformerischen Zielen verbanden. Land für die Kolonie glaubte er in Paraguay zu finden, das er von 1883 bis 1885 bereiste. Sein Bericht ist die solide Bestandsaufnahme eines dünn besiedelten Landes, dessen Regierung an der Einwanderung europäischer Siedler gelegen war. Förster ging es darum, abseits der europäischen Dekadenz ein „Neu-Germanien" zu gründen, damit, „falls dieses Deutschland zwischen Felsen und Meere einmal den Russen, den Juden oder den Welschen anheim fällt, das ideale Deutschland verjüngt und voller Kraft lebe, um die großen Gedanken deutscher Kultur wieder aufzunehmen und in redlicher Arbeit fortzuführen."5 Seinen Kolonisten war weniger an Ideologie als an billigem Land gelegen. Ihnen ging es um eine Zukunft für sich und ihre Kinder.
Ein gespanntes Verhältnis Für seine Ziele konnte Förster mit der
Unterstützung seiner Frau, nicht aber mit der seines Schwagers rechnen. Ihr Verhältnis war kompliziert. Als Menschen fand Nietzsche Förster akzeptabel, an den Fähigkeiten des Kolonisators hatte er seine Zweifel, den Politiker lehnte er ab. Nach der Hochzeit seiner Schwester schrieb Friedrich Nietzsche an seinen Freund Franz Overbeck in Basel, daß ihm Dr. Förster nicht unsympathisch sei; er habe etwas Herzliches und Edles in seinem Wesen und scheine recht zum Handeln gemacht. Aber seine „Wertschätzungen" seien nicht gerade nach seinem Geschmack.6 Förster reite abwechselnd seine beiden Steckenpferde, Paraguay und den Antisemitismus. Er, Nietzsche, habe selbst den Gedanken einer Kolonisation in Paraguay geprüft, „nicht ohne den Hintergedanken, ob nicht daselbst auch für mich sich einmal ein Asylon fände", habe aber aus klimatischen Gründen diese Möglichkeit verworfen. Paraguay sei ein „prachtvolles Stück Erde für deutsche Landbebauer", und ein Pommer oder Westfale könne unter nicht zu phantastischen Erwartungen wohlgemut dahin absegeln: „Ob gerade meine Schwester und mein Herr Schwager dort am Platze sind, ist eine andere Frage; und ich gestehe, mit meiner Mutter zusammen oft sogar schrecklich besorgt zu sein."7 Immer wieder müsse er hören, daß es nicht gerade logisch sei, mit der deutschen Regierung unzufrieden zu sein, „und sich der Regierung von Paraguay anzuvertrauen, die hundert mal unsicherer und bedenklicher" sei. Er fürchte, so vertraute er der Mutter an, daß die Schwester keine Ahnung von dem habe, was sie erwarte. Hoffentlich müsse sie nicht zu viel leiden.8 Vor allem war der Antisemitismus des Schwagers Grund seiner Sorge. Ende Mai 1885 hatte er seiner Mutter geschrieben, daß beide („ich meine Dr. Förster und mich") sich bisher schicklich und mit sehr viel gutem Willen benommen hätten. „Die Sache ist aber gefahrlich, und wir wollen etwas auf der Hut sein; für meinen persönlichen Ge4
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B. Förster, Deutsche Colonien in dem oberen La Plata Gebiet mit besonderer Berücksichtigung von 1886. E. F. Podach, Gestalten um Nietzsche, Weimar 1932, 140. KGB 111/3, lOlf. An Franz Overbeck. Leipzig, 17. 10. 1885. Ebenda, 97. An Franz Overbeck. Leipzig, 6. 10. 1885. Ebenda, 155. An Franziska Nietzsche. Nizza, 25. 2. 1886.
Paraguay, Naumburg
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schmack ist ein solcher Agitator zum näheren Verkehre etwas Unmögliches." Aber auch die Nähe seiner Schwester „zum Agitator in einer zu drei Viertel schlimmen und schmutzigen Bewegung" schaffte dem Bruder Probleme.10 Er habe eine Schwester verloren, die mit ihrem Gatten, „zum Zwecke der Kolonisation" nach Südamerika unterwegs sei, schreibt Nietzsche Mitte Februar 1886 an eine Bekannte in Genf:, „[...] es sind gute Aussichten vorhanden, daß die Sache gelingt, aber je mehr sie gelingt, um so fester sind sie an diese ferne Welt geknüpft. Zuletzt ist es nicht einmal Paraguay, was mir am meisten das Gefühl gibt, meine Schwester verloren zu haben. Mir sind die Gesinnungen meines Schwagers, für die er lebt und stirbt, fremder als Paraguay." Anderthalb Jahre später räumt er gegenüber seiner Mutter ein, daß die Nachrichten aus Paraguay „sehr erquicklich" seien, „doch fehlt bei mir immer noch auch der leiseste Wunsch, mich in die Nachbarschaft meines antisemitischen Herrn Schwagers zu setzen. Seine und meine Ansichten sind verschiedne Ansichten und ich bedaure dies nicht". Dem Kolonisationsprojekt stand er mit gemischten Gefühlen gegenüber. Im Entwurf eines Briefes an die Schwester (vom 5. 6. 1887) hatte er seine Einstellung in einer solchen Schärfe formuliert, daß er es offenbar für besser hielt, den Brief nicht abzusenden: „Soweit Eure Unternehmung eine antisemitische Unternehmung ist und man hat mir das inzwischen ad oculos demonstriert habe ich im inneren Herzen kein Vertrauen zu ihr. Ja nicht einmal viel Wohlwollen, fromme Wünsche. Gelingt das Werk des Dr. Förster, so will ich mich um Deinetwillen damit zufrieden geben und möglichst wenig daran denken, daß es zugleich der Triumph einer von mir geringgeschätzten Bewegung ist, gelingt es ihm aber nicht, so werde ich mich am Zugrundegehen einer antisemitischen Bewegung freuen und Dich um so mehr bedauern, daß Du dich aus Pflicht und Liebe an eine solche Sache gebunden hast." Nietzsche schließt sarkastisch: „Mein Wunsch ist zuletzt, daß man Euch deutscherseits etwas zu Hilfe käme und nämlich dadurch, daß man die Antisemiten nötigte, Deutschland zu verlassen: wobei ja nicht zu zweifeln wäre, daß sie Euer Land der Verheißung' Paraguay anderen Ländern vorziehen würden. Den Juden andererseits wünsche ich immer mehr, daß sie in Europa zur Macht kommen, damit sie ihre Eigenschaften verlieren (nämlich nicht mehr nötig haben), vermöge derer sie als Unterdrückte sich bisher durchgesetzt haben. Im Übrigen ist es meine ehrliche ein Deutscher, der bloß daraufhin, daß er ein Deutscher ist, in Anspruch nimmt, mehr zu sein als ein Jude, gehört in die Komödie: gesetzt näm-
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Überzeugung: lich, daß er nicht ins Irrenhaus gehört."13
Die Gefühle für seine Schwester nähern sich einem Tiefpunkt, als ihn Ende 1887 Nachrichten erreichen, wonach ihn in Deutschland Äußerungen von Schwager und Schwester in die Nähe der „antisemitischen Canaille" rücken. Seine Geduld sei erschöpft: „Ich bin jetzt gegen die Partei Deines Gatten im Zustand der Notwehr. Diese verfluchten Antisemiten-Fratzen sollen nicht an mein Ideal greifen!! Daß unser Name durch Deine Ehe mit dieser Bewegung zusammengemischt ist, was habe ich daran 10 1'
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Ebenda, 54. An Franziska Nietzsche. Venedig, Ende Mai 1885. Ebenda, 148. An Elisabeth Förster. Nizza, 7. 2. 1886.
Ebenda, 150. An Emily Fynn. Nizza, Mitte Februar 1886. KGB III/ 5, 171. An Franziska Nietzsche. Venedig, 18. 10. 1887. Ebenda, 82. An Elisabeth Förster (Entwurf). Sils Maria, kurz vor dem 5. 6. 1887.
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Du hast die letzten 6 Jahre allen Verstand und alle Rücksicht verloren. das schwer wird. Ich habe, wie es billig ist, nie von Dir verlangt daß mir Himmel, Du etwas von der Stellung [verstündest], die ich als Philosoph zu meiner Zeit einnehme; trotzdem hättest Du, mit ein wenig Instinkt der Liebe, es vermeiden können, so geradewegs Dich bei meinen Antipoden anzusiedeln. Ich denke jetzt über Schwestern ungefähr so, wie Schopenhauer dachte sie sind überflüssig, sie stiften Unsinn." schon
gelitten! was
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Elisabeth in Paraguay Ihr bekomme Paraguay ausgezeichnet, so Elisabeth in ihrem ersten Brief aus Asuncion, datiert 26. 4. 1886, an den Bruder. Bis jetzt gehe alles gut, „die Regierung und alle Menschen, mit denen wir in Berührung kommen, sind sehr entgegenkommend." Man habe in der Hauptstadt ein „nettes kleines Haus" gemietet, werde aber wohl bald aufs Land ziehen, „da dies elegante Stadtleben doch Geld kostet und wir nicht erwarten können, daß es mit dem Stück Land, was die Regierung Bernhard für seine Kolonisationszwecke wahrscheinlich fast umsonst gibt, so schnell gehen wird."15 Der ersten Nachricht folgt Ende Mai ein langer Brief, der sich wie ein Werbeprospekt für Paraguay liest.16 Sie lädt den Bruder ein, den nächsten Winter (von April bis September 1887 ) in Paraguay zu verleben.: „Es ist das herrlichste Wetter der Welt, immer hell, trocken und klar. Italien ist nichts dagegen." Er möge nicht zu lange zögern, „daß Du es noch mit uns genössest, solange wir noch in der Kultur weilen." Überhaupt gefalle ihr Asuncion, „das sich gegen die langweiligen La-Plata-Städte wie Rosario und Buenos Aires ordentlich interessant ausnimmt. Der Tyrann ist doch nicht so übel gewesen mit seiner Bauwut. Es stehen nun sein Palast, sein Theater, sein Mausoleum halb oder dreiviertel vollendet, und wieder etwas zum Ruin geworden, doch sehr majestätisch da." Der Staat werde nun wohl die Bauten vollenden, „denn man hat jetzt auch das Geld dazu." Es komme jetzt viel Kapital ins Land. Die Leute in Argentinien wüßten recht gut, daß Paraguay ein „aufsteigendes Land" sei, und kauften enorme Gebiete. Eine neue Bank werde gegründet, Handel und Gewerbe nähmen sichtlich zu. Damit ist Elisabeth beim Thema. „Denke Dir, daß gewiegte Geldleute meinen, man kann sein Geld nicht besser und sicherer als hier anlegen. Wir haben unser kleines Vermögen auf der Bank liegen, welche ganz und gar sicher ist und 6% gibt." Ihr Mann sei der Meinung, daß Fritz hier von seinem kleinen Vermögen leben könne, ohne seine Pension. Besser noch erscheint ihr der Plan, zusammen mit dem Bruder eine 300 Morgen große schöne Besitzung am Rande der Stadt zu kaufen. „Es dünkt mich wie eine Pflicht, als müßte ich Dir dazu zureden. Es wäre dann für Dein Leben gesorgt, denn mit Milch, Ananaszucht, Bananen, Orangen und Alfalfa (Luzernklee, welcher hier ungeheuer gekauft wird) könnte man außer dem täglichen Leben noch mäßig gerechnet 10% Reingewinn herausnehmen." Wenn alle drei zusammen kauften, so könnten alle drei
López17
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Ebenda, 218f. An Elisabeth Förster (Entwurf). Nizza, Ende Dezember 1887. KGB III/4, 161f. An Friedrich Nietzsche. Asunción, 26. 4. 1886. Ebenda, 179-187. An Friedrich Nietzsche. Asunción, 27. 5. 1886. Francisco Solano López, der von 1862-1869 als Präsident Paraguay diktatorisch
regierte.
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davon leben, und das Kolonisationsprojekt könnte noch daneben bestehen. Freilich müsse der Bruder es sich schnell überlegen, denn die Grundstückspreise seien seit ein bis zwei Jahren fast um das Doppelte gestiegen. Auch brauche man in Paraguay nichts zu furchten, denn „es ist das denkbar friedlichste Volk. Du könntest hier sicher und vollkommen unabhängig leben und würdest außerdem mit der Zeit noch wohlhabend. Und wie würdest Du Dich zum Schaffen angeregt fühlen bei dieser reinen trockenen Luft! Du würdest eine riesige Bibliothek und vielleicht ein Klavier mitbringen, alles andere hätten wir schon für Dich." Unter dem „herrlichen Himmel" Paraguays frage sie sich, was den Bruder eigentlich in alte überlebte Verhältnisse unter einem Wolkenhimmel zwinge, „der drückend auf der Seele liegt. Diese freien ungebundenen Zustände, diese Unabhängigkeit hier, mit der vollkommenen Harmlosigkeit und Friedfertigkeit der hiesigen Bewohner zusammen, ergeben ein solches Sicherheitsgefühl, was man in Europa, wo alle Staaten auf einem Vulkan stehen, nie haben kann." Für sie selbst steht fest: „Es ist mir zu eng in Deutschland." Am 5. 9. 1886 schreibt die Schwester ihrem „Herzensfritz" einen Brief nach SilsMaria. Sie habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, ihn „hier zu sehen und festzumachen." Sie rühmt die Qualität der Milch, den Überfluß an Papaya, dessen Pepsin ihm gut tun würde, wie überhaupt die Milch- und Eierkost. Dann kommt sie zu den „geschäftlichen Dingen." Schon früher habe man ihm den Vorschlag gemacht, ihn am „Aufschwung des Landes mitprofitieren zu lassen", jetzt könne man Bestimmteres dazu sagen. Er solle ihnen 6 000 Mark senden, für die man ihm eine halbe Quadratlegua Land abtreten und schönes ausgesuchtes Milchvieh kaufen würde: „Eine halbe Quadratlegua enthält so etwas wie 3 700 Preußische Morgen, das ist ein Stück Land, das man bei uns zu den größten Rittergütern rechnen würde." Eine Geldanlage dieser Art wäre eine Art Sparbüchse für den Bruder. Verfügte er in fünf Jahren über das Geld, um die Überfahrt und die Kosten der ersten Einrichtung zu bezahlen, „so wärst Du ein Großgrundbesitzer und Deine Herde nährte Dich und vielleicht noch einen Freund." Vom vierten, fünften Jahr an könne er mindestens zwanzig junge fette Ochsen verkaufen, abgesehen davon, daß er auch einen Teil seines Landes mindestens zum doppelten oder dreifachen Preis verkaufen könne, denn so hoch werde er steigen, wenn sie dort kolonisierten. Sie bittet ihren Bruder, sich schnell zu entscheiden, da Land und Vieh zum 1.1. zu bezahlen seien „und wir hätten Dein Geld dazu schon da." Wünsche er aber nur sein Geld vorteilhaft anzulegen, „so möchten wir Dich bitten, uns die 6 000 Mark zu 8% zu leihen." Aber dann machten sie den Gewinn, während ihnen doch daran gelegen sei, ihn daran zu beteiligen. Wenn es ihm sicherer erscheine, könne er auch ihren Besitz mit einer ersten und einzigen Hypothek belasten, „da riskierst Du nicht das Geringste und hast doch mindestens die doppelten Zinsen wie in Deutschland." Sollte er Bedenken haben, auf ihre Vorschläge einzugehen, so möge er es unumwunden sagen, „denn wenn uns auch ein Gefallen damit geschieht, falls Du uns das Geld bis zum 1. Jan. für Dich sein, und dieser Zweck wäre ia schickst, so soll es auch noch mehr ein Vorteil 18 falls Du tätest." es verfehlt, ungern ganz Der Gedanke, ihren Bruder zum Grundbesitzer in Paraguay zu machen, hatte Elisabeth schon vor ihrer Ausreise nach Paraguay bewegt. Ob der Bruder nicht für 300 Mark -
KGB III/4. 205-213. An Friedrich Nietzsche. Landhaus Tuicua bei Asuncion, 5. 9. 1886.
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ein kleines Besitztum „Friedrichsland" erwerben wolle? Es würde sie freuen, wenn auch aus ihrer Familie ein solcher Vertrauensbeweis käme, nachdem schon einige Geschwister ihres Mannes dem Beispiel von „Mama Förster" gefolgt seien. Für den Betrag könne man ungefähr 50 Morgen kaufen und drei Kühe mit ihren Kälbchen dazu. Sie würde ihn nicht bitten, wenn es nicht auch zu seinem Vorteil wäre. Aber er möge sich beeilen, schreibt sie am 3. 2. 1886 ihrem Bruder aus Naumburg, damit das Anlagekapital sie noch auf deutschem Boden erreiche.1 Schon am 7. 2. 1886 bittet der Bruder die Schwester in lockerem Ton, ihn unter gleichen Verhältnissen und Bedingungen „zum südamerikanischen Grundbesitzer" zu machen, wenn es denn dazu diene, ihrem „Herrn Gemahl eine gute Meinung über den unverbesserlichen Europäer und Anti-Antisemiten" zu ° verschaffen. Nietzsche fügt hinzu: „Ernstlich geredet: ich würde Dir alles schicken, was ich habe, wenn es helfen könnte, Dich bald wieder zurück zu fuhren." Die Schwester kehrte nicht zurück, aber auch Nietzsche dachte nicht daran, noch mehr Geld in Paraguay zu investieren. Seine Reaktion auf die Anfrage seiner Schwester läßt daran keinen Zweifel. Eine Übersiedlung nach Paraguay schloß er aus, wie er seiner Schwester am 3. 11. 1886 versicherte: „Mich brächte man nicht mit zehn Pferden dahin, wo, wenn ich recht berichtet bin, nicht einmal eine gute Bibliothek zu finden ist. Unter uns gesagt, meine liebe Schwester, wie ich nun einmal zum Leben und zur Aufgabe gestellt bin, die ich zu erfüllen habe, so habe ich Europa notwendig, weil es der Sitz der Wissenschaft auf Erden ist; auch fand ich bisher keine Gründe, die es mir verleideten; und gerade jene großen Bewegungen und Umstürze, welchen es wahrscheinlich in den nächsten 20 Jahren entgegengeht, finden in mir einen gut vorbereiteten und ' gründlichst beteiligten Zuschauer." Sollte er gezwungen sein, Europa zu verlassen, „so dürfte ich aus Gesundheitsgründen keine warmen Länder wählen." Was aber sein Geld betreffe, „so rät mir mein Verstand, wie der meines Freundes Overbeck, jetzt unbedingt davon ab, mich irgendwo damit zu binden und die vollkommen freie Verfügbarkeit und jederzeitige Flüssigmachbarkeit desselben aufzugeben." Gegenüber seiner Mutter bekräftigte er wenige Tage später seine ablehnende Haltung. Die ganze Idee, ihn zum Grundbesitzer in Paraguay zu machen, habe übrigens auch das gegen sich, daß er so in Basel seiner Pension verlustig ginge. „Eins oder das Andre. ,N. hat eine halbe Meile Land, und Vieh darauf das wäre in dem sparsamen und vernünftigen Basel ein worauf man mir mit dem besten Gewissen der Welt die Pension entziehen Argument, 11 würde." Seinem Freund Overbeck teilt er mit, daß er „in Betreff der Paraguayer Angelegenheiten Nein gesagt habe." Er ärgere sich im Stillen, daß man ihm nicht erspart habe, Nein zu -
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sagen.23
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Ebenda, 122. An Friedrich Nietzsche. Naumburg, 3. 2. 1886. KGB III/3, 147. An Elisabeth Förster. Nizza, 7. 2. 1886. Ebenda, 277f. An Elisabeth Förster. Nizza, 3.11. 1886. Ebenda, 280. An Franziska Nietzsche. Nizza, 13. 11. 1886. Ebenda, 201 f. An Franz Overbeck. Nizza, 14. 11. 1886.
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Nietzsche und Paraguay: der Philosoph als Bauer
Nueva Germania
geneigt, sich selbst an Paraguay zu binden, so verfolgte er teils beeindruckt, die Fortschritte des Kolonisationsprojekts. Im Mai doch, teils kritisch, Freund Franz Overbeck in Basel, daß die deutschen Koloniseinem 1887 berichtete er Territorium ein von der Größe eines kleinen Fürstentums, mit herrlinunmehr über sten Arten Nutzholz und einer Wasserstraße verfügten. Wenige von allen chem Hochwald, Köselitz in Venedig, daß es möglich sei, daß Heinrich schreibt Nietzsche an Tage später eine der größten Eisenbahnen der Welt, welche vom La Plata zum Panama-Kanal gehen werde, entweder durch die Kolonie hindurch oder doch nahe an ihr vorbei führe, wobei sich schon beim Bahnbau ein Vermögen verdienen ließe. General Osborne, früher Gesandter der Vereinigten Staaten in Argentinien, der mit der Regierung in Asuncion über diesen Plan verhandle, habe seiner Schwester zum Abschied gesagt, sein schönster Gedanke sei, eines Tages mit der Eisenbahn zu kommen, „to see the little Queen of Nueva Germania." Denn was für die Deutschen Neu-Germanien hieß, hatte sich für die Paraguayer in Nueva Germania verwandelt. Nach zweijährigem Aufenthalt in Asunción konnte Elisabeth Förster am 5. 3. 1888 in der 200 km nördlich der Hauptstadt gelegenen Kolonie Einzug halten, begrüßt mit Flintenschüssen, Blumen, Brot und Salz. Dem Essen an der langen Tafel folgten die Reden, den Reden später am Abend, unter dem Kreuz des Südens, deutsche Lieder. Gott habe Nueva Germania gesegnet, so Elisabeth an die Mutter, „er hat aus jeder Mark, welche wir hatten oder liebende Herzen uns schenkten oder liehen, fünf Mark gemacht. Sonst ist es gar nicht zu erklären. Wir haben ein herrliches Besitztum, ein großes Haus, fünf kleine Häuser, zwei mittelgroße, wir haben 100 Stück Rindvieh, acht Pferde, wir haben einen Laden mit 6 000 Mark Waren und einen Monatsumssatz von 2 000 Mark." Weil die Leute es sich gar nicht anders erklären könnten, stehe ihr Mann in dem Ruf, eine sehr reiche Frau geheiratet zu haben. Ihre Familie wisse es besser: „Gottes Segen ist es, der auf redlicher Arbeit ruht."26 Redliche Arbeit allein konnte jedoch das fehlende Kapital nicht ersetzen. Als Nietzsche im Sommer 1888 erste Gerüchte über die bedrängte Lage der Kolonie erreichten, riet er seiner Mutter, sich nicht unnütz Sorgen zu machen. Aber räumte ein, daß man eigentlich über die Finanzierung des Unternehmens nicht unterrichtet sei. Er merke das jeweils an den Fragen seiner Freunde in Nizza. Ob denn ein großes deutsches Bankhaus dahinter stünde? Oder sei das Geld etwa geborgt? Kolonien gründen, ohne über reichlich Geld zu verfügen, sei kaum möglich. Es sei so wie mit den großen Hotels. Der erste Besitzer setze sein Vermögen aufs Spiel, der zweite, der das Hotel billig übernehme, gedeihe. Wie viele große Schweizer Vermögen seien nicht schon mit Koloniegründungen in Südamerika drauf gegangen! Dann macht Nietzsche sich selbst und seiner Mutter Mut. Das Ermutigende liege in dem Vertrauen der Paraguayer, die „so eine große Sache" Förster sicher nicht „bloß auf persönliche Sympathie hin" in die Hände gegeben War Nietzsche auch nicht
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HI/5,
74. An Franz Overbeck. Chur, 13. 5. 1887. 79. An Heinrich Köselitz. Chur, 20. 5. 1887. Ebenda, Brief an Franziska Nietzsche vom 18. 3. 1888, zitiert bei
KGB
Peters, Zarathustras Schwester, 147.
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hätten: „Zuletzt sind es Südamerikaner sehr kluge Leute. Offen gesagt, wenn die vertrauen, dürfen wir es hundert Mal." Aber nicht nur die Mutter, auch die Schwester sucht er in seinem Brief vom selben Tag moralisch zu stärken, wobei er es vermeidet, die Gerüchte zu erwähnen, die über die Kolonie zirkulieren. Lange schon habe es ihm auf dem Herzen gelegen, ihr seine Freude über das „Definitivum" ihrer Übersiedlung auszudrücken und über die Art und Weise, wie sie sich vollzogen habe. „Auch daß Deine Gesundheit der Menge neuer Pflichten und Sorgen so tapfer Stand hält, ist keine kleine Beruhigung. Wir haben es beide, auf eine etwas verschiedene Weise schwer wir haben es beide andrerseits auch wieder gut. Wir lassen uns nicht so leicht fallen uns nicht und die Sachen nicht, die 28 uns angehen. Das eigentliche malheur in der Welt ist alles bloß Schwäche..." In ihrem fast gleichzeitigen Brief aus Nueva Germania zum 44. Geburtstag des Bruders klingen bei der Schwester Töne an, die sich vom Optimismus früherer Briefe unterscheiden. „Wieviel Freud und Leid ist schon an uns vorübergezogen, verlohnt es eigentlich zu leben? Für so zart empfindende Menschen, wie wir nun einmal sind, hat das Leben mehr Schmerz als Freude und es muß uns ganz unbändig gut gehen, damit man den Schmerz ganz vergißt." Sie habe eine „unbeschreibliche Sehnsucht," ihn wiederzusehen. Zum neuen Lebensjahr wünscht sie, daß es ihm Freude bringen und sich seine Gesundheit kräftigen möge. Was die Sicherung seines Alters angehe, „so wollen wir Dir ein Stück schönes Land verschreiben, was vielleicht einmal ein hübsches Stück Geld wert ist." Man werde mit der nächsten Post den Kaufkontrakt schicken und als Kaufgeld die 300 Mark betrachten, die er seinerzeit gestiftet habe, die 600 Mark von der Mutter und die 1 000 Mark, welche die gute Mama für ihre Möbel gezahlt habe. Er möge aber nicht vergessen, ihren Mann zu seinem Vertreter und Verwalter zu ernen-
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Über den eigenen Sorgen vergißt Elisabeth nicht das Werk ihres Bruders. Sie freut sich über seine wachsende Anerkennung, auch wenn sie damit die Hoffnung aufgebe, daß er je nach Paraguay komme, „denn Ruhm ist ein süßer Trank." Allerdings wünsche sie sich für die Verbreitung seines Werks einen „anderen Apostel" als Herrn Brandes30, der ihn zwar „in Mode" bringen werde, mit dem er aber lieber nicht persönlich zusammen treffen möge. Die Vermutung liegt nahe, daß Elisabeth (und ihren Mann) die Vorstellung stört, daß sich ausgerechnet ein Jude für ihren Bruder engagiere. Die Antwort des Bruders auf den Brief der Schwester zeigt seine Empfindlichkeit, aber auch, daß Nietzsche dabei ist, die Grenze zum Wahn zu überschreiten. Jetzt sei die Zeit gekommen, von ihr Abschied zu nehmen: „Jetzt, wo sich mein Schicksal entschieden hat, empfinde ich jedes Deiner Worte an mich mit verzehnfachter Schärfe: Du hast nicht den entferntesten Begriff davon, nächstverwandt mit dem Menschen und Schicksal zu sein, in dem sich die Frage von Jahrtausenden entschieden hat, ich habe, ganz wörtlich geredet, die Zukunft der Menschheit in der Hand." Dann wechselt er den Ton. Er verstehe, wie sie aus der Unmöglichkeit heraus, die Dinge so zu sehen wie er, fast in -
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KGB III/5, 431. An Franziska Nietzsche. Sils-Maria, 14. 8.9. 1888. Ebenda, 427. An Elisabeth Förster. Sils-Maria, 14. 9. 1888. KGB III/6. 295f. An Friedrich Nietzsche. Nueva Germania, 6. 9. 1888. Georg Brandes (1842-1927), dänischer Literaturhistoriker von europäischer
Wirkung.
Nietzsche und Paraguay: der Philosoph als Bauer
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einen Gegensatz zu ihm habe flüchten müssen. „Was mich dabei beruhigt, ist, zu denken, daß Du es auf Deine Weise gut gemacht hast, daß Du jemanden hast, den Du liebst und der Dich liebt, daß von Dir eine bedeutende Aufgabe zu erfüllen bleibt, der Dein Vermögen sowohl wie Deine Kraft geweiht ist, endlich, was ich nicht verschweigen will, daß eben diese Aufgabe Dich etwas fern von mir geführt hat, so daß die nächsten chocs dessen, was sich jetzt vielleicht mit mir begibt, Dich nicht erreichen." Er bittet seine Schwester inständig, sich „von keiner freundlichen und in diesem Falle gefährlichen Neugierde" leiten zu lassen, „die Schriften, die jetzt von mir herauskommen, zu lesen." Was er zu tun habe, sei furchtbar; „ich fordere nicht Einzelne, ich fordre die Menschheit mit meiner entsetzlichen Anklage als Ganzes heraus; wie auch die Entscheidung fällt, für mich oder gegen mich, in jedem Fall haftet unsäglich viel Verhängnis an meinem Namen ..."31 Es ist das letzte Dokument im Dialog der Geschwister. Wenige Wochen später brach Friedrich in Turin zusammen. Mit freudigem Herzen das neue Jahr angefangen", so lautet am 1.1.1889 in Nueva Germania Elisabeth Försters erster Eintrag in ihr Und: „Viel Gutes steht in Aussicht." Noch ist sie ohne Nachricht über den geistigen Zustand ihres Bruders, der gerade um die Jahreswende in den Wahnsinn eintritt, von dem ihn erst der Tod am 25. 8. 1900 befreit. Ihr Tagebuch beschreibt in diesen Januartagen die Details des Alltags: die Hitze, den Beginn der Maisernte, das persönliche Befinden. Die ersten zwei Toten unter den Siedlern werden registriert, aber auch die erste Geburt. Aber nicht nur das private, auch das politische Geschehen wird im Tagebuch vermerkt. Am 10. 2. 1889 ist von einer „sogenannten Revolution" im Nachbarort San Pedro die Rede, die aber, wie „alles in diesem Lande recht harmlos" sei, denn „das Volk scheint nicht so recht zu solchen Dingen geeignet." Ironisch vermerkt sie die Anpassungsfähigkeit ihres „peon" Basilio, der auf dem Land im blauen Halstuch der Liberalen erscheine, während er sich in der Stadt mit dem „schreienden Rot" der konservativen Colorados schmücke. Elisabeth war in diesen Tagen allein, ihr Mann auf dem Weg in die Hauptstadt. Dort ging es um den Vertrag mit der Regierung, die den deutschen Auswanderern für ihr Siedlungsprojekt zwölf Leguas Land33 zur Verfügung gestellt hatte. Der Vertrag sah vor, daß Förster innerhalb von zwei Jahren 140 Familien am Rio Aguaraymi ansiedeln mußte. Aber da die Zahl der Siedler hinter den Erwartungen zurückblieb, sah sich Förster nicht in der Lage, seinen Teil des Vertrags zu erfüllen. Er riskierte damit seine Kaution und den Zusammenbruch des Unternehmens. -
Tagebuch.32
Doppelter Zusammenbruch Seit hundert Jahren ist Nietzsches Krankengeschichte Gegenstand der Forschung und seit Thomas Manns Dr. Faustus auch der Literatur. Während die Ärzte eine „progressive Paralyse" vermuten, aber auch eine erbliche Belastung nicht ausschließen, stellte Elisabeth ihre eigene Diagnose. Am 23. 3. 1889 schreibt sie aus Nueva Germania an 31 32 33
KGB III/5, 473f. An Elisabeth Förster (Entwurf). Turin, Mitte November 1888. Nietzsche-Archiv im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar (GSA) 72/858. Eine
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7500
preußische Morgen.
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den Direktor der Nervenklinik in Jena, Prof. Otto Binswanger, daß niemand die „Leidens- und Lebensgeschichte" ihres Bruders so gut kenne wie sie. Die Ursache seines Leidens sei „einzig und allein das Chloral," das ihr Bruder viele Jahre hindurch als Schlafmittel genommen habe. Wenn jetzt gelehrte Freunde ihres Bruders „aus seinen Büchern Geistesverwirrung demonstrieren", so verwechselten sie „Genie mit Wahnsinn." Auch Kants Philosophie habe es nicht geschadet, daß dieser zuletzt geistesgestört gewesen sei. Ihr Bruder aber sei noch jung und könne noch alles überwinden.'4 Bedeutet Friedrichs Zusammenbruch zugleich das Ende der Korrespondenz zwischen Bruder und Schwester, so kreisen jetzt die Briefe von Tochter und Mutter um die Gesundheit von Bruder und Sohn. Am 9. 4. 1889 schreibt Elisabeth ihrer „lieben guten Mama" aus Nueva Germania, wie sehr sie der Gedanke quäle, „daß vielleicht das Schreckliche vermieden worden wäre, wenn ich drüben geblieben sein würde, und das macht mich so unglücklich." Dann mahnt die Tochter die Mutter, sich nicht einreden zu lassen, daß die Krankheit, die den Bruder befallen habe, in ihm angelegt gewesen sei: alles sei nur eine Folge des Chloral. „Wenn sie ihn in Jena nicht bis zu Tode vergiftet haben, ehe mein Brief ankommt, so ist vielleicht noch eine Rettung möglich, obgleich die Ärzte nicht auf die Stimme der Erfahrung hören." Leider könne sie nicht aus der Kolonie fort, solange nicht die gegenwärtigen Schwierigkeiten überwunden seien. Sie kritisiert die mangelnde Unterstützung aus der Heimat, findet aber auch harte Worte für ihren Mann, der von ihrem Schmerz um den Bruder keine Notiz nehme und sich „liebund herzlos" zeige, „während ich es so nötig habe, auf liebevolle Weise auf andere Gedanken gebracht zu werden." Aber ihre Kritik gilt nicht nur dem Gatten, sondern auch dem Kolonisator, wenn sie feststellt, daß sie wohl wisse, „daß ohne mich diese ganze Koloniegründung eine dunkle und Ungewisse Sache gewesen wäre. Das sage ich, ohne mich zu rühmen, sondern nur um mich zu entschuldigen, daß ich meinen armen Fritz im Stich gelassen habe." Um so mehr bewegt sie jetzt das Schicksal ihres Bruders, der in ihrer Sicht nicht in eine geschlossene Anstalt, sondern in die vertraute Umgebung seiner Mutter gehört. In ihrem Brief vom 30. 5. 1889 rät sie ihrer Mutter, Friedrich den „mörderischen Händen" seiner Ärzte zu entreißen, denn „unser armes Lamm gehört doch Dir und mir, und nun lassen sie nicht einmal Dich zu ihm." Bei seinem Freiheits- und Einsamkeitsbedürfnis eingesperrt zu sein, sei entsetzlich auch sie spränge dann zum Fenster hinaus. Hätte man ihn in Freiheit gelassen, mit sanfter Hand seine Diät geregelt, so wenig Fleisch wie möglich und keine Medizin, „so wäre er nach kurzer Zeit wieder hergestellt worden". Sie habe zu den Ärzten nicht das geringste Vertrauen. „Je bedeutender ein Mensch ist, desto mehr beeilen die Ärzte sich, ihn zu Grunde zu richten. Denke an Friedrich III.!36 Als Elisabeth dies schrieb, hatte sich ihr Mann schon einige Wochen in Asuncion aufgehalten, um in Gesprächen mit Regierung und Gläubigern die Zukunft der Kolonie zu sichern. Von den wirtschaftlichen Sorgen ist in ihrem Brief nur am Rande die Rede. -
K. S. Guthke, „Die Geburt des Nietzsche-Mythos aus dem Ungeist Elisabeths", in: NietzscheStudien, Berlin/New York 1998, Bd. 26/1997, 545-549. GSA 100/ 533,2. An Franziska Nietzsche. Nueva Germania, 9.4. 1889. Alle zitierten Briefe an die Mutter nach heutiger Rechtschreibung und Zeichensetzung. Ebenda. An Franziska Nietzsche. Nueva Germania, 30. 5. 1889.
Nietzsche und Paraguay: der Philosoph als Bauer
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Sie warnt ihre Mutter vor dem Erzeugnis der „gemeinen Phantasien" des „schmutzigen Burschen" Klingbeil, das jedoch zu dumm sei, um gefährlich zu werden. Hätte sie nicht des Bruders wegen ein „schweres Herz", wäre das Leben in der Kolonie für sie „eine wahre Lust." Aber es würde die Mutter vielleicht trösten, wenn ihr die Tochter versichere: „Das Werk, was wir hier schaffen, ist so großartig und für die Zukunft so vielversprechend, daß noch Generationen Berns [Bernhards] Namen segnen werden."" Die wirkliche Lage war anders. Als Förster Ende Mai Asuncion verließ, sah er keinen Ausweg. Die Chemnitzer Kolonialgesellschaft, die finanzielle Basis seines Projekts, protestierte seine Wechsel, während sich in Asuncion seine Bemühungen um einen Kredit von 10 000 „Pesos fuertes" zerschlugen. Am 2. 6. 1889 schrieb er nach Chemnitz, daß das seltsame Verhalten der Gesellschaft ihm die letzte Möglichkeit nehme, sich „hier kaufmännisch und geschäftlich zu halten. Mein körperlicher und seelischer Zustand ist derartig, daß ich die Ablösung von meinem harten Dienst als nahe bevorstehend annehmen muß."39 Am 3. 6. 1889 nahm er sich in San Bernardino das Leben. Erst Tage später erhielt Elisabeth die Nachricht. In ihrem Brief an die Mutter vom 2. 7. 1889 ist von großen Zahlungsverpflichtungen ihres Mannes die Rede und von seinem Gefühl, von Gott verlassen zu sein „und da hat nun Empörung und Sorge seinem Leben ein Ende gemacht, da seine Nerven durch die beständigen Sorgen so angegriffen waren." Man mag in diesem Satz die Andeutung eines Freitods erblicken. Sie selbst hat ihr Leben lang daran festgehalten, daß er einem „Nervenfieber" oder einer „Nervenattacke" erlegen sei. Wie die Krankheit des Bruders erforderte auch der Tod ihres Mannes die -
Legende.41
Der Tod des Mannes verdrängte für einige Wochen das Schicksal des Bruders. Im Brief an die Mutter vom 22. 6. 1889 zog sie eine erste Bilanz. Das seit Monaten veränderte Verhalten ihres Mannes erkläre sich durch seine finanziellen Verpflichtungen, über deren Ausmaß sie nicht in ihrem ganzen Umfang unterrichtet gewesen sei. Aber so sehr auch der Schmerz über den Verlust des Gatten sie bedrückt: „Ich darf an nichts denken als das Werk zu retten und die Schulden zu bezahlen." Sein Name dürfe nicht geschmäht und verdächtigt werden. Ihr „Einziggeliebter" sei kein berechnender Egoist gewesen. „Aber dieses edle arme Herz brach, starb in Bitternis, weil Deutschland seinen einzigen Kolonisator im Stich gelassen, der Einzige, welcher etwas erreicht mit der heiligen Flamme der Begeisterung." Aber nicht nur Deutschland, auch das Christentum war Adressat ihrer Klage. Sie verflucht ihr „blindes Gottvertrauen" und den „kalten unbewohnten Himmel." „Es ist kein Gott, nur ein blindwütendes Schicksal."42 Sie klingt wie ihr Bruder.
Der frühere Siedler Julius Klingbeil veröffentlichte nach seinem Bruch mit der Kolonie: Enthüllungen über die Dr. Bernhard Förster 'sehe Ansiedlung Neu-Germanien in Paraguay, Leipzig 1889. GSA 100/ 533,2. An Franziska Nietzsche. Nueva Germania, 30. 5. 1889. E. F. Podach, Gestalten um Nietzsche, a.a.O., 159. GSA 100/ 533, 2. An Franziska Nietzsche. Nueva Germania, 2. 7. 1889. A. Nagy, „Suicidio en San Bernardino", in: La Princesa de Salerno y otros relatos, Asunción 1971. 63. GSA 100/ 533,2. An Franziska Nietzsche. Nueva Germania, 22. 6. 1889.
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Heinz Schneppen
Bruder, Schwester, Paraguay In den nächsten Monaten entwickelt sich in ihr ein Gedanke, in dem sich Sorge und Anspruch verbinden: „Nach Deutschland komme ich nicht wieder, ich habe eine Abneigung gegen dasselbe, daß es meinen inniggeliebten Bern im Stich gelassen hat." Aber, so wirbt sie am 21. 10. 1889 bei der Mutter, „könnt Ihr nicht herüber kommen? Ihr würdet hier alles viel schöner finden, als wie Ihr es Euch jetzt vorstellt. Du kannst Dir nicht denken, wie einem ein solches Besitztum ans Herz wächst. Wir haben es aus der Wildnis selbst geschaffen. Jeden freut es, der es sieht. Auch das Herrschaftshaus, eigentlich eine rote Lehmscheune mit Strohdach, ist eines der behaglichsten Wohnhäuser geworden, in dem man keine Hitze spürt. Hier interessiert mich jeder Strauch, jede Pflanze, jedes Tier, drüben ist mir alles gleichgültig. Wenn erst meine Verhältnisse geordnet sind, so daß ich weiß, was ich habe und nicht habe, will ich Dir bestimmte Vorschläge machen. Vor März wäre an keine Übersiedlung nach hier von drüben zu denken." In der Natur und in der „Gesellschaft lieber und verständiger Leute" würde ihr Bruder viel eher gesund. „Aber die große Schwierigkeit ist, daß kein Schiff einen Geisteskranken an Bord nimmt. Ihr müßtet es mit einem italienischen Schiff versuchen und von Genua aus fahren. Dies ist außerdem die schnellste Art der Beförderung, und ich denke, dort wird man es gar nicht merken, daß er krank sei. Der Italiener hat überhaupt so eine Vorstellung, als ob bei den Deutschen und Engländern es nicht immer richtig im Kopfe sei, da wundert man sich gar nicht über Sonderbarkeiten. Hier könnte er so laut reden wie er wollte, mit Ausnahme eines Dieners oder Wärters würde ich Fremden- und Dienstbotenzimmer in die entfernteren Nebenhäuser verlegen. Ich wollte das Haus schon herrichten, daß Ihr Euch wohlfühlen solltet, und die Monate April bis November sind herrliche Monate, sich einzugewöhnen." Fritz würde sich an Pferden, Kühen und Garten erfreuen. Ihr selbst scheint es unmöglich, sich fern von Luft, Pflanzen und Tieren wieder in Deutschland einzuleben. Eine Rückkehr würde ihr alles rauben, was ihr das Leben erträglich mache. Sie sei „mit Leidenschaft" Kolonist und Bauer.43 Am 2. 2. 1890 beschwört sie erneut die Mutter, mit Fritz, einem handfesten Diener und dem Hausmädchen Alwine nach Paraguay zu kommen. Das Haus in Naumburg sei für eine Unterbringung des Bruders nicht geeignet, während sie über das passendste Haus mit hohen kühlen Zimmern verfüge. Drei Wochen später steigert sie den Druck auf die Mutter, der sie vorhält, den armen Bruder nicht auf der Stelle aus seinem „Gefängnis" befreit zu haben. Es sei um wahnsinnig zu werden, wenn man sehe, „wie eine Mutter ihren herrlichen Sohn so ins Grab legt bei lebendigem Leibe." Die Mutter, so die Tochter, sei eine herzensgute Frau und zu allerhand Aufopferung bereit, aber zu schwach und empfindlich. Jetzt sei sie sich ganz und gar sicher: „Nirgends ist Fritz so gut aufgehoben wie hier bei mir. Ich nehme Euch alle mit. Du sollst mal sehen, wie Du den Entschluß segnest. Hier sind wir beisammen. Ihr habt Eure Pensionen, ich habe mein Besitztum, meine Kühe u.s.w. Wenn wir unsere Mittel zusammentun, so sind wir hier reiche Leute. Ihr könnt Euch jede Bequemlichkeit gestatten. Und liebe Mama, das will ich Dir nur sagen, eine größere Ehrerbietung als mit welcher Ihr hier behandelt Ebenda. An Franziska Nietzsche. Nueva Germania, 21. 10. 1889.
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werdet, könnt Ihr nirgends besser finden. Im tiefsten Vertrauen gesagt, Du darfst es gegen Niemand erwähnen, aber es hilft alles nichts: ich werde hier als die vornehmste Frau betrachtet und das Haus umschwebt ein Nimbus von Unnahbarkeit. Wer weiß, wie
lange unser armes Lamm lebt und ob er je wieder ganz gesund wird. Aber er soll seine Lebenszeit nicht wie ein Gefangener zubringen, sondern wie ein König, und das kann er nirgends so gut wie hier." Die gute Mama solle „einmal energisch" sein und nicht argumentieren, daß sie eine alte Frau sei und an ihrem Haus in Naumburg hänge: „Frage Dich, wem nützt Dein Haus? Keiner Seele, es ist für Fritz so unpassend wie möglich. Hast Du in N. irgendwelche Lebensaufgabe zu erfüllen? Nein gar keine. Habe ich hier in Nueva Germania eine zu erfüllen? Ja sicherlich. Kann Fritz irgendwo so billig und dabei so höchst comfortable leben mit Reitpferd, Diener u.s.w. wie hier? Nein gewiß nicht. Also nun verdamme Dich nicht selbst zu einer erbärmlichen kleinlichen Einsamkeit." Bliebe sie allein zurück, würde sie dastehen „als eine kleinliche Egoistin, welcher ihre kleinliche Bequemlichkeit lieber ist als ihre beiden Kinder." Aber Elisabeth wird sich bewußt, daß eine Übersiedlung von Bruder und Mutter nur möglich ist, wenn sie beide selbst nach Paraguay begleitete. Während sie den Brief schreibt, reift ihr Entschluß und das Verständnis für die Lage ihrer Mutter, die „so allein so verlassen" dastehe: „Ja ich will zu Dir kommen, wenn es irgendmöglich ist und Dir beistehen." Sie werde ein Retourbillet nehmen, das billiger sei und für 8-10 Monate gültig. Der Brief zeigt aber nicht nur einen Stimmungswandel gegenüber der Mutter. Kritisch prüft sie das Verhalten der Freunde ihres Bruders, wobei sie zu einem Urteil kommt, das manchen überrascht: „Die beiden Einzigen, welche wirklich zu einem Opfer bereit wären sind Juden. Ich habe mich nämlich auch geändert, ich bin antisemitenfeindlich, weil sie Schwätzer sind und den Juden hold, weil sie helfen und handeln."44 Aber es sind nicht nur die fehlenden Reisemittel, es ist auch die Lage der Kolonie, die ihre Abreise verzögert. „Wäre ich jetzt eine kleinmütige verzagte Trauerweide gewesen, so wären die Gläubiger über mich hergestürzt und die ganze Kolonie wäre ruiniert gewesen." Jetzt habe sie wohl das Schlimmste hinter sich, schreibt sie am 23. 4. 1890, auch wenn mit ihrer Ankunft in Deutschland nicht vor Juli zu rechnen sei. Der Brief der Mutter aus Jena habe sie in der Meinung bestärkt, daß „Ihr nach hier kommen müßt, denn natürlich wollen wir unser armes Lamm nicht zum Gespött werden lassen. Auf der ganzen Welt kann er es nicht freier und besser als hier haben." Naumburg sei dagegen der ungeeignetste Ort, ihr Haus, umgeben von der „frechen Straßenjugend", das unpassendste, was man sich aussuchen könne. Naumburg könne für den Bruder nur eine „Zwischenstation" sein. Für den Bruder erhofft sie eine Besserung seines Zustands durch Paraguay, für sich Trost durch die Gesellschaft von Mutter und Bruder.45 Diesen Erwartungen machen zwei Briefe der Mutter ein Ende. Hatten Mutter und Tochter bisher von der Hoffnung auf eine Heilung gelebt, so müssen sich beide jetzt an die Diagnose „unheilbar" gewöhnen. „Daß Du es für so ganz unmöglich zu halten scheinst, mit Fritz herüber zu kommen, ist für alle meine Hoffnungen und Lebenspläne ein schwerer Stoß gewesen." Aber wenn die Mutter nicht wolle, dann sei nichts zu ma-
Ebenda. An Franziska Nietzsche. Nueva Germania, 2. 2. 1890. Ebenda. An Franziska Nietzsche. Nueva Germania, 23. 4. 1890.
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chen. Unter diesen Umständen habe ihre Reise nach drüben keinen Zweck, antwortet Elisabeth Ende Mai ihrer Mutter. Seit sie deren Nachricht über den Bruder erhalten habe, sei sie wieder krank.: „Nur mit einem Lebenszweck ist es mir möglich zu leben, aber so für mich allein, da mache ich mir zu schwere Gedanken."4 Wenige Wochen später haben sich Stimmung und Pläne geändert. Ihrer Mutter gibt sie zu bedenken: „Man ist in der Welt Hammer oder Amboß, nun gut, ich bedanke mich für den Amboß, ich will lieber Hammer sein." Der kriegerische und mutige Geist ihres Mannes sei in sie eingezogen. Die Kolonie sei beider Kind, „ein Schmerzenskind, aber die sind ja immer die liebsten. Wenn ich nach Deutschland komme, will ich mein Nueva Germania auch in die rechten Hände bringen." Vielleicht bekomme sie auch eine Audienz beim Kaiser, „es ist mir alles gleich, wenn ich nur meine Ziele erreiche." Aber Nueva Germania ist nur ein Motiv für die Reise, für die ihr immer noch das Geld fehlt. „Unser teurer lieber Fritz zieht mich zu mächtig, ich muß sehn, wie es ihm geht und wie ihm zu helfen ist."47 Ende Juli 1890 muß sie ihrer Mutter mitteilen, daß es ihr nicht vor Jahresfrist möglich sein werde, die Kolonie zu verlassen, wenn überhaupt. Sie deutet an, daß ihr in Deutschland „Unannehmlichkeiten" gemacht werden könnten. Auch habe sie in der Kolonie noch viele Pflichten zu erfüllen. Kann die Tochter ihre Mutter schon nicht in Naumburg beraten, so erteilt sie ihr aus der Ferne Lektionen. Sie erkennt die Aufopferung der Mutter an, die jedoch ohne Erfolg sei, ja sogar Schädliches bewirke. Die Mutter solle Fritz nicht zum Idioten anfuttern, ihn nicht in seinem „unwürdigen Zustand" anderen Leuten vorführen, ihm vielmehr die Gesellschaft von Personen verschaffen, denen seine Größe bewußt und deren Bestreben es sei, „das Höchste und Größte in ihm zu wecken." Wenige Tage später kommt sie auf das Thema zurück. „Laß ihn nicht in Blödsinn verfallen, selbst Toben ist besser als stumpfsinnige Heiterkeit und Dickwerden." Vielleicht solle man es einmal mit hypnotisch-magnetischen Kuren versuchen, wie sie gegenwärtig in Frankreich bei Geisteskranken mit außerordentlichem Erfolg praktiziert würden. Sie selbst, so erzählt sie der Mutter, habe ihre gestörte Gesundheit durch das Reiten wieder hergestellt und sei jetzt eine passionierte Reiterin zum allgemeinen Erstaunen. Sie sei jetzt an Luft, Licht und große Räume gewöhnt, so daß sie sich im kleinen Haus in Naumburg wie ein eingesperrter Vogel vorkäme. Sie schwanke hin und her, ob sie hinüber fahren und ihren Besitz hier endgültig verkaufen solle. Drüben hätte sie endlich wieder eine Lebensaufgabe: „Dir die Pflege unseres armen Lammes zu erleichtern." Aber der Brief an die Mutter schließt in Resignation: „Ich wollte, ich wäre tot oder eine wirklich alte Frau. Ich bin so müde, jung zu sein."49 Sie war 44 Jahre, als sie dies schrieb. Als sie starb, war sie fast 90. Im Oktober ist sie in besserer Verfassung. „Ich habe so unendliche Sehnsucht nach Euch und der Gedanke, daß ich jetzt zu Euch reisen kann, hat mich so froh gemacht." Zu Weihnachten hofft sie bei Mutter und Bruder zu sein. Sie hat ihren Besitz für zehn Monate an zwei junge Adlige verpachtet, deren Charme nicht ohne Wirkung bleibt: Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda.
An An An An
Franziska Nietzsche. Franziska Nietzsche. Franziska Nietzsche. Franziska Nietzsche.
Nueva Germania, Nueva Germania, Nueva Germania, Nueva Germania,
28. 5. 1890. Juni 1890. 29. 7. 1890. 6. 8. 1890
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„Das Leben ist recht amüsant mit den beiden." Es
tue ihr gut, gewaltsam aus ihrem Schmerz und der verzweifelten Schwermut gerissen zu werden. Dann beschreibt sie der Mutter ihre innere Wandlung. Sie habe sich sehr verändert: „Ich bin in eine etwas verhärtete Gemütsart hineingewachsen und durchaus nicht besser geworden. Als ich die Menschen als demütige christliche Mitschwester behandelte, da trampelte alles auf mir herum, jetzt, seit ich die Menschheit mit einer gewissen Überlegenheit behandle, da bin ich der Stolz der Kolonie, ,unsere liebe Frau Doctor', ,die Fürstin von NuevaGermania,' und meine Gläubiger in Asuncion haben aus eigener Initiative meine Verhältnisse viel viel besser geordnet, weil ich eine so famose energische Frau bin. Christliche Demut ist eine schöne Sache, aber in Wirklichkeit unanwendbar und unersprießlich." Aus ihrer eigenen Erfahrung zieht sie dann für die Mutter Konsequenzen. Notwendig erscheint ihr ein anderes Haus, mit Garten, um dem Bruder Abwechslung und Beschäftgung zu verschaffen. Wenn die Mutter schon nicht herüberkäme, müsse sie ihren Lebensstil ändern, denn ihr jetziges Leben könne sie nicht ohne Schaden für ihre Gesundheit fortsetzen. „Das ist die große Weisheit des Lebens, die Umgebung und das Leben so zu gestalten, daß man nicht unnütz Kräfte vergeudet. Man hat seine Kräfte immer nötig, und hat man sie verschwendet, so fehlen sie zur rechten Zeit. Ich denke manchmal, daß ich von uns dreien die allerpraktischste bin, selbst meine Pächter erstaunen sich, wie verständig mein Landgut eingerichtet ist und was ich für ausgezeichnete Dienstboten habe. Jeder kennt seine Pflicht und steht an der Stelle, wo er seine Kräfte am nützlichsten verwerten kann." Sie ist froh, daß sie endlich reisen kann, aber ihr bangt zugleich vor dem Ende der Reise. „Ach meine liebe Mama, wie fürchte ich mich aber vor diesem ersten Wiedersehen und dem Anblick des armen Herzensfritz!"50 Ende 1890 ist sie in Naumburg. Hatte die Mutter zunächst geglaubt, die Tochter würde sie bei der Pflege ihres Sohnes entlasten, so wurde ihr bald klar, daß die Tochter nicht von ihrem Plan abzubringen war, nach Paraguay zurückzukehren. Sie kämpfte in der Presse gegen die Gegner ihres Mannes, veröffentlichte ihre Version der Geschichte und versuchte, wenn auch ohne Erfolg, die deutsche Regierung für Nueva Germania zu interessieren.51 Mehr Erfolg hatte sie mit ihrem Aufruf, Geld für eine Kirche in Nueva Germania zu spenden, für eine kleine Gemeinde Deutscher, „welche sich im fernen Land nach gemeinsamer Erbauung in deutscher Predigt und deutschem geistlichen Lied sehnen, welche sich von ganzem Herzen einen Prediger wünschen, der mit ihnen lebt, ihre Ehen segnet, ihre Kinder tauft und sie in kummervollen Stunden tröstet."52
Rückkehr und Abschied Als sie im August 1892 allein in Nueva Germania eintraf, war die Stimmung ihr gegenüber geteilt. Sie mußte einsehen, daß es ihre Kräfte überstieg, das Werk ihres Mannes fortzusetzen. Die Stimmung der Kolonisten näherte sich dem Tiefpunkt, während sich Ebenda. An Franziska Nietzsche. Nueva Germania, 8. 10. 1890. E. Förster, Dr. Bernhard Förster's Kolonie Neu-Germania in Paraguay, Berlin 1891. E. F. Podach, Gestalten um Nietzsche, a.a.O., 164.
Heinz Schneppen
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die Kritik gegen sie und ihren Mann verstärkte, in dem einige einen Betrüger, andere einen ahnungslosen Idealisten erblickten. Förster, so konnte man 1894 in den KolonialNachrichten lesen, habe wenigstens die Courage gehabt, „den Leitbock seiner Herde zu machen, während andere Koloniegründer, im friedlichen europäischen Hinterhalt sitzend, sich am grünen Tisch im Kolonisationssport gefielen. Förster hat die Folgen seines Plans auf sich genommen und damit ist ihm vieles verziehen. Aber, und das kann nicht genug betont werden, er war sicher die denkbar ungeeignetste und unpraktischste Persönlichkeit zu einem solchen Unternehmen. Kapitalkräftig, ein in hohem Maße ideal veranlagter Schwärmer, durch seine ganze Erziehung und seinen Lebensberuf mit der schönen Rechenkunst unbekannt geblieben, glaubte er, daß die ganze übrige Menschheit auf seine Anschauungen zugeschnitten sei. Wenn man einmal ein eklatantes Kolonialfiasko haben will, stelle man nur wieder einen deutschen Schulmeister an desBernhard und Elisabeth hatten sich auf ein Unternehmen eingelassen, an sen dem sie beide scheiterten, wie andere mit anderen Projekten. Beide waren nicht nur Täter, sondern auch Opfer, nicht nur Täuscher, sondern auch Getäuschte und wenn nur von sich selbst. Ihr Werk in Paraguay enthält Schatten, aber auch Licht. Bernhard Förster sollte man nicht nur mit dem identifizieren, was er vorher geschrieben, Elisabeth nicht nur mit dem, was sie später getan hat. Im Sommer 1893 fuhr Elisabeth nach Deutschland zurück, nachdem sie den „Försterhof für 15 500 Mark an einen Baron von Frankenberg-Lüttwitz verkauft hatte. „Ich kann nicht sagen, ,ich freue mich', dazu ist die Sache zu ernst und schwer." So Elisabeth am 9. 6. 1893 im Brief an die Mutter. Anfang Juli werde sie von Asuncion aus nach Naumburg reisen, wo sie Anfang August eintreffen werde.54 In Deutschland brauchte sie einige Zeit, um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Am 15. 1. 1895 nahm sie mit einem Aufruf von Nueva Germania Abschied. Es sei ihre heiligste Pflicht und innigstes Bestreben gewesen, „das schöne Werk des Früh vollendeten dem Ziele, das ihm vorgeschwebt hatte, näherzubringen aber wie wenig vermögen die schwachen Kräfte einer Frau!" Jetzt bitte sie um Hilfe für ihr „ehemaliges Pflegekind NeuGermania", wie eine Mutter, „welche sich nicht mehr um ihr Kind kümmern kann, aber von Herzen besorgt ist, es in guten treuen Händen zu wissen." Sie schließt mit einer neuen Vision: „Eine andere große Lebensaufgabe: die Pflege meines einzigen, teuren Bruders, des Philosophen Nietzsche, die Sorge für seine Werke und Beschreibung seines Lebens und Denkens, nimmt von jetzt an meine ganze Zeit und Kraft in Anspruch so bin ich genötigt, den kolonialen Angelegenheiten Lebewohl zu sagen."55 Aber das Grab ihres Mannes hat sie ihr Leben lang an Paraguay erinnert, „jenes merkwürdige Land, das mir einige Zeit Heimat war." So schrieb sie 1923 nach Asunción an einen Bewunderer ihres Bruders.56 Leider hätte sie ihren Bruder nicht bewegen können, ihr nach Paraguay zu folgen. Für Natalicio Gonzalez, Historiker und Präsident seines Landes, hätte Paraguay vielleicht Nietzsches Leben und Werk verändert: „Was
Spitze."5
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Kolonial-Nachrichten, NI 9g 1894, zit. bei E. F. Podach, Gestalten um Nietzsche, a.a.O., 173f. GSA 100/533, 2. An Franziska Nietzsche. Nueva Germania, 9. 6. 1893. Bayreuther Blätter, Bayreuth 1894, Jg. 17, 175f. V. Díaz-Pérez, Microepistolario, Palma de Mallorca 1983, 108. Rückübersetzung aus dem Spanischen. Im Nietzsche-Archiv befindet sich kein deutsches Konzept.
Nietzsche und Paraguay: der Philosoph als Bauer
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aus Nietzsche geworden, wenn ihm die unüberwindliche Abneigung gegen den antisemitischen Schwager nicht den Weg nach Paraguay versperrt hätte? Wie hätte sich die Begegnung mit diesem melodiösen Land ausgewirkt, dessen Wesen auf Maß und Ausgeglichenheit beruht? Welche Wege wären seine philosophischen Betrachtungen gegangen? Dies sind einige der Rätsel, mit denen die fruchtbare Phantasie spielen
wäre
kann.'37
Nietzsche ist nie nach Paraguay gekommen, seinen Besitz hat er nie gesehen. Am 1. 2. 1890 hatte die Mutter als Vormund der Tochter die Vollmacht erteilt, die in Paraguay befindlichen Ländereien ihres „gegenwärtig geisteskranken" Sohnes zu „verpachten und zu verkaufen." Bernhard Försters Tod in San Bernardino war das Ende einer Utopie. Für Elisabeth Nietzsche wurde Paraguay zur Wende ihres Lebens. Nueva Germania existiert noch heute, auch wenn nur wenig an den deutschen Ursprung erinnert.
N.
Gonzalez, „Nietzsche y el Paraguay", in: El Milagro Americano, Asunción 1983, 381. Gonzalez
war
Präsident 1958/59.
Hedwig Völkerling
Im Schatten
von
Georg Brandes
Der Däne Konrad Simonsen in seinem Briefwechsel
mit Elisabeth Förster-Nietzsche
1998 ging eine Tagung des Nietzsche-Forums Weimar unter der doppeldeutig „dialektischen" Thematik „Nietzsche im Norden. Der nordische Nietzsche?" sowohl den verschiedenen Facetten skandinavischer Nietzsche-Rezeption nach, wie sie auch versuchte, Spuren des Einflusses nordischer Literatur und Philosophie im Werk Nietzsches zu markieren. Dieser Kontext assoziiert eine Reihe großer Namen: Kierkegaard, Ibsen, Hamsun, Strindberg, Ola Hansson und Georg Brandes. Der vorliegende kleine Beitrag weist auf eine eher sekundäre Figur in der auf Skandinavien bezogenen Nietzsche-Rezeption, die weniger aus sich selbst heraus relevant ist für den genannten Zusammenhang, aber einen sehr bezeichnenden Reflex auf die Situation und die geistigen Kämpfe der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts darstellt. Auf Konrad Simonsen war ich im Zuge der Auswertung des Briefwechsels Georg Brandes' mit dem Nietzsche-Archiv in Weimar Sein chamäleonartiges Bild in den verschiedenen Beleuchtungen war auffällig. In Simonsens eigener Korrespondenz mit Elisabeth Förster-Nietzsche erscheint mit mancherlei Verknüpfungen zu den Realien seines Lebens die geistige Biographie eines Menschen, der sich vom Verehrer Georg Brandes' zu einem seiner schärfsten persönlichen Feinde entwickelt, ja, sich geradezu als Antipode Georg Brandes' begreift. Der Bestand des Nietzsche-Archivs (GSA 72) enthält 72 Briefe Simonsens aus dem Zeitraum von 1906 bis 1935; die Konzepte der Gegenbriefe E. Förster-Nietzsches liegen nicht ganz vollständig vor. Der Verlauf der Korrespondenz läßt sich dennoch nahtlos rekonstruieren.
gestoßen.1
Diese
Untersuchung wiederum war Teil
eines Projektes, das am Goethe- und Schiller-Archiv Wei1996 bis 1999, mit Mitteln der Volkswagen-Stiftung ermöglicht, angesiedelt war und die Erfassung und Verzeichnung des umfangreichen Bestands der an das Nietzsche-Archiv gerichteten Briefe zum Ziel hatte. Seit 1950 befinden sich der Nachlaß des Philosophen und die Bestände des ehemaligen NietzscheArchivs in der Villa auf dem „Silberblick" in Weimar im GSA. mar von
Hedwig Völkerling
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Simonsen schrieb zum Teil französisch; er litt unter seinem unbeholfenen Deutsch. Ich werde beim Zitieren stillschweigend richtig stellen. Konrad Simonsen war im Mai 1906 von Darmstadt kommend zum ersten Mal im Nietzsche-Archiv und bei Förster-Nietzsche. In einem resümierenden Brief vom 24. Mai 1906 schreibt er der Archivherrin: „Ich bin keine Eckermann-Natur, in meiner Liebe aber bin ich treu; nicht als Schüler von Nietzsche, aber als Mann, welcher durch ihn entwickelt worden ist, frei und ewig dankbar ihm gegenüber[...]." In diese Dankbarkeit schließt er die Schwester mit ein. Durch sie habe er „Leben und Geschichte" Nietzsches kennengelernt und sei nach Weimar gekommen, wo sich seine „geistige Heimat" befinde. Auf dieser Grundlage entwickelt sich eine Korrespondenz, die bis zum Tod FörsterNietzsches reicht. Anfangs von ihr nur unverbindlich-freundlich geführt, gewinnt der Däne, mit Georg Brandes bekannt, offenbar zunehmend E. Förster-Nietzsches Interesse. Sie schickt ihm die Taschenbuchausgabe der Werke Nietzsches mit ihren BandEinleitungen und berichtet im September 1907 im Zusammenhang mit der Sendung ihrer Streitschrift gegen Overbeck/Bernoulli um angeblich verlorene NietzscheHandschriften, des Pamphlets Das Nietzsche-Archiv, seine Freunde und seine Feinde, plump vertraulich von dessen „außerordentlicher Wirkung". Ich komme auf Elisabeth Förster-Nietzsche zurück. Vorerst soll es um Konrad Si-
monsen
-
gehen.
Simonsen lebte
von 1875 bis 1945, war 1904 Magister Artium der Vergleichenden Literaturwissenschaft und promovierte 1909 mit einer Arbeit über „Goethes Naturgefühl". Offenbar durch die vorliegenden Studien zu Nietzsche von Georg Brandes angeregt der zweite Nietzsche-Interpret in Skandinavien, Ola Hansson, taucht in Simonsens Briefen an Förster-Nietzsche nicht auf -, ist er fortan in seiner Person geradezu eine Verkörperung der „Linie Goethe-Nietzsche unserer Kulturbewegung", wie es Karl Heckel 1915 in einem Brief an die Prinzipalin des Archivs formuliert (15. November). Und er wird damit zugleich zu einem ergebenen Bewunderer des Ästhetikers, Kritikers und Literarhistorikers Georg Brandes vorerst, wie sich zeigen sollte. Dessen Name und ein Aufsatz von 1906, Nietzsche in seinen Briefen, den Simonsen im Feuilleton der dänischen Zeitung Politiken veröffentlicht hatte, öffneten ihm die Tür des Weimarer Nietzsche-Archivs. Über Dänemark geht Nietzsches Name um die Welt. Das ist ebenso Gemeinplatz wie Nietzsches berühmtes Wort von den „guten Nordwinden", mit dem er Georg Brandes' Bemühungen dankbar quittierte, durch seine Vorlesungen 1888 an der Universität Kopenhagen die Aufmerksamkeit auf ihn, Nietzsche, zu lenken. Weniger bekannt sind Brandes' Begleitworte zu seiner Abhandlung über Nietzsches Aristokratischen Radikalismus, die aus diesem Kolleg hervorgegangen war und die er Ende 1989 an die Deutsche Rundschau sandte: ,,[E]in Aufsatz über einen genialen und tollen Deutschen, für den ich mich seit Jahren lebhaft interessiere und mit dem ich lange Zeit als sein fast -
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einziger ,Anerkenner' in Correspondenz stand, bis die Geisteskrankheit, die ihn ergriffen hat, unserer Correspondenz ein Ende machte". 1890 wurde die Arbeit in der „Deutschen Rundschau" gedruckt, deren Mitarbeiter Georg Brandes von ihrer Gründung 1874
Im Schatten
von
Georg Brandes
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Von 1877 bis 1883 lebte er auch in Berlin, Liebermann hat ihn gemalt das Porträtbild hängt heute in der Kunsthalle Bremen.2 Brandes' Verdienste um Nietzsches Ruhm hat E. Förster-Nietzsche nie vergessen das entsprach ihrer Selbststilisierung als Sachwalterin des Erbes ihres berühmten Bruders -, ebenso wenig wie die Tatsache, daß von den Nietzsche-Interpreten des Nordens Brandes der einzige war, der mit ihrem Bruder noch im direkten Austausch stand. Damit bezieht sie schließlich auch Stellung für Brandes gegen Konrad Simonsen, als dieser von Brandes abfällt. Zwischen 1912 und 1914, als Simonsen seine Theorien mit den Angriffen auf Brandes ausarbeitet, schweigt sie Simonsen gegenüber. Ursprünglich hatte sie wohl gehofft, in ihm einen neuen Propagandisten in Dänemark für das Werk Nietzsches zu gewinnen; Brandes' „Nietzsche-Periode" war Ende der 90er Jahre ja im wesentlichen abgeschlossen. Georg Brandes' eigene Korrespondenz mit Elisabeth Förster-Nietzsche setzt 1894 ein im Zusammenhang mit der Herausgabe des Briefwechsels Nietzsche-Brandes (1904). Sein letzter Brief an Förster-Nietzsche vom 26. Dezember 1912 ist für unseren Kontext besonders aufschlußreich; er handelt direkt von Konrad Simonsen und nimmt Bezug auf ein Zusammentreffen der beiden Dänen an einem Gesellschaftsabend im NietzscheArchiv im Mai 1910: „Dieser Herr war am Vormittag in Weimar von Hotel zu Hotel gegangen, um mich aufzuspüren und mir seinen Besuch zu machen. Er stellte sich, als könnte er den Augenblick nicht erwarten, da er mich bei Ihnen am Abend sehen sollte. Er hatte mich schon öfters in Kopenhagen heimgesucht und mich mit seiner Verehrung geplagt. Plötzlich ist nun dieser Herr auf einmal in vier Sprachen englisch, deutsch, französisch, dänisch als mein leidenschaftlicher Injurient aufgetreten. Die gröbsten Injurien und die dümmsten Lügen gegen mich fließen von seiner Feder. In Kopenhagen hatte er eine ganze Reihe von Universitätsvorlesungen gegen mich angekündigt. Die Indignation der jungen Studenten hat die Serie unterbrochen, indem sie ihn so auspfiffen, daß er zuletzt nicht fortsetzen konnte. Und nun setzt er in den Zeitungen seine Campagne fort [..J.Brandes, der während der ganzen Zeit im Ausland war, fragt Förster-Nietzsche: ,,[H]aben Sie eine Ahnung, was den Umschlag in seiner Haltung hervorgerufen hat? Wie Sie vielleicht wissen, ist der Herr sexuell abnorm, liebt das männliche Geschlecht, nicht das weibliche. Was aber habe ich mit diesem seinem Defekt zu tun?" Soweit die Situation. Wie es dazu kam, läßt sich in Simonsens Briefen an die Archivleiterin nachvollziehen: 1906 (20.12.) dankt er für die Nietzsche-Taschenbuchausgabe, nimmt einen Passus Förster-Nietzsches aus ihrem Vorwort auf: ,,[D]iese Ausgabe soll Reisebegleiterin nach dem Süden, in die Berge und an das Meer sein" und kehrt diesen gleichsam um: „[...] ja, auf dem Meer, auf Reise nach Island und Norwegen, auf dem Ozean, wenn Tag um Tag ein und dieselbe stille Fläche, derselbe große Sonnenhimmel im Norden über und um uns verbreitet ist, dann sind es die schönsten Stunden, Nietzsche in sich aufzunehan war.
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Für
Untersuchungen zu Brandes' Wirken in Deutschland und als „deutscher Schriftsteller" siehe: Fambrini, „Ola Hansson und Georg Brandes: Einige Bemerkungen über die erste Rezeption Nietzsches". In: Nietzsche-Studien, 26 (1997), 421. A.
Hedwig Völkerling
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Mehr als im Süden soll er gelesen werden und von Nordländern mehr als von Südländern. Die romanische Rasse ist im Welken, die Form ist jetzt ihr einziges Großwerk, und diese Form hat Nietzsche geerbt und mit seinem echt germanischen Denken ausgefüllt. Die Zukunftsheimat der Nietzsche-Philosophie liegt gewiß mehr im Norden als im Süden." Damit ist ein Stichwort gegeben und ein Tenor angeschlagen: „Rasse", „germanische Rasse", der Simonsens Blick auf Nietzsche fürderhin bestimmen und ihn in schärfsten Gegensatz zu Georg Brandes bringen wird. Germanentum und Judentum werden geradezu als Antonyme aufgefaßt und behandelt, und der erfolg- und einflußreiche jüdische Gelehrte Brandes als lediglich journalistische Begabung diskreditiert, dem es an wirklichem Kunstverständnis fehle, dessen Interpretation von Genies der „germanischen Rasse" Shakespeare, Goethe, Ibsen, Nietzsche blutsmäßig bedingt notwendig in die men.
Irre
gehen müsse. -
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Essenz solcher Theorien ist die bereits apostrophierte Schrift Simonsens von 1913 „Georg Brandes: Jüdischer Geist in Dänemark" (deutsch: „Georg Brandes: Moderner Geist in Dänemark", 1914). Wie kam es zu diesem Sinneswandel? Simonsen, hart um wirtschaftliches Überleben, ja, zeitweise verzweifelt um die nackte Existenz kämpfend, zermürbt durch persönliche Schicksalsschläge, war anfallig dafür geworden, sich einer „völkischen" Abwehrbewegung gegen die „Vorherrschaft einer jüdischen Clique im öffentlichen Leben" anzuschließen. Wie der Verleger Theodor Fritsch in seinem Nachwort zu der deutschen Übersetzung des Simonsenschen Buches im antisemitischen Hammer-Verlag Leipzig betrachtet auch Konrad Simonsen selbst seine antijüdischen Bestrebungen als einen „Geistes- und Kulturkampf vornehmster Art". Wie aber hätte Simonsen wohl seine beabsichtigte Ehe mit einer nicht jungen, nicht schönen, aber sehr reichen Jüdin in Kopenhagen interpretiert und gerechtfertigt vor diesem Hintergrund und eingedenk seiner persönlichen Veranlagung, von der wir durch Brandes' Brief an E. Förster-Nietzsche wissen? Die Unglückliche war schwerkrank, starb kurz vor der Eheschließung und ließ Simonsen als Ent- und Getäuschten zurück, der sein ganzes Leben auf die Hoffnung gesetzt hatte, durch sie reich zu werden, und nun wieder vor dem Nichts stand. „Mein Schmerz über meine Braut ist nicht so groß wie mein Schmerz über die furchtbaren Aussichten meiner Zukunft", schreibt er am 3. November 1911 an Förster-Nietzsche. Das kommentiert sich selbst. Für Elisabeth Förster-Nietzsche war das wohl nun eine interessante Geschichte. Schon vor Brandes' Brief von 1912 war sie auch informiert über Simonsens Homosexualität. Ihr kam dabei zupass, daß ihr 1878 geborener Neffe Richard Oehler, wissenschaftlicher Bibliothekar und seit 1910 im Umkreis des Archivs als Mitglied der wichtigsten Führungsgremien sowie als Herausgeber und Kommentator der Werke Nietzsches auftretend, ebenfalls mit Simonsen bekannt war. „Die Welt ist klein und rund", wie sie in anderem Zusammenhang feststellt, und ihre Neugier und Schwatzhaftigkeit trugen kräftig dazu bei. Wichtiger für unseren Zusammenhang aber ist folgendes: Simonsen beabsichtigte, Elisabeth Förster-Nietzsches Biographie ihres Bruders (1910) ins Dänische zu übersetzen, und beklagte sich bitter bei ihr, daß Georg Brandes ihm davon abriete mir der Be-
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Im Schatten
von
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Georg Brandes
gründung, Nietzsche würde wenig gelesen und die ihn läsen, hätten keine Übersetzung nötig. Den wahren Grund vermutet Simonsen in Ressentiments von Brandes ihm gegenüber, weil er in seinem Goethe-Buch Brandes' Arbeiten zu dem Dichter nicht zitiert habe (19. Dezember 1910). Er bittet Förster-Nietzsche um Vermittlung. Kühl umgeht
diese seine Bitte: Eine Übersetzung ins Schwedische sei ihr ohnehin lieber, teilt sie ihm in einem Brief vom 29. Dezember 1910 mit. Andererseits findet sie sich aber bereit, Simonsen in äußerster Not mit einer bestimmten Summe zu helfen. Abgesehen von diesen Querelen im einzelnen ist soviel festzuhalten: Primäre Ursache für Simonsens zügellosen Antisemitismus ist seine persönliche wirtschaftliche und geistige Situation; die Motive seines Handelns liegen psychologisch kompliziert vermittelt in wissenschaftlichen Eitelkeiten und persönlichen Verletzungen. Wie in einem Brennglas erscheint diese spezifische Ausprägung von Rassenideologie bei Simonsen in seiner Korrespondenz mit dem Nietzsche-Archiv. Der folgende Passus aus Simonsens Brief vom 2. März 1912 bringt geballt seine hauptsächlichen Angriffspunkte gegen Brandes. Nach einem Loblied auf die Archivherrin wendet er sich Brandes selbst zu: „Nur einer kommt Ihnen nahe in Kraft-Gefühl, in Stärke und Anlage, jeden Widerstand zu besiegen und jene ,longue patience' zu haben, welche nötig ist, um nicht aufzugeben und das bin ich. Georg Brandes [...] ist mir jetzt ein Hindernis, dieses ,Talent', welches keinen einzigen selbständigen Gedanken geschaffen hat und immer auf die Dänen geschimpft hat und aufsein Martyrium, daß er nicht Professor wurde [...] Eine ,Schulbegabung' ist er und ein Mann, welcher alle großen Geister aufgesucht hat; aber jede Rassenfrage verneint er, jedes religiöse Gefühl, jede nationale Bewegung." Simonsen beklagt, daß ihn die dänische Presse unterdrücke, die fest in liberaljüdischer Hand sei, und gibt sich überzeugt: ,,[A]ber wie eine neue Zeit kann auch eine neue Wahrheit nicht zu Tode geschwiegen werden [...]." Einer der wenigen, der dies bereits so sehe, sei Knut Hamsun, der ihm alle seine Werke geschickt und ihm einen begeisterten Brief geschrieben habe, teilt er Förster-Nietzsche am 4. Februar 1914 mit.3 Brandes wirft Simonsen vor allem vor, daß er sich nicht zu seinem Judentum bekenne. „Warum machte er sich nicht eine Ehre daraus, Jude zu sein; besaß er doch die geistvollen Redensarten, die Frechheit, die Initiative und das cholerische gar nicht träumende -, ja, leidenschaftliche Gemüt Eigenschaften, welche den Dänen fremd sind." Rhetorisch fragt Simonsen die Archivleiterin: „Verstehen Sie jetzt, daß ich eigentlich gegen meinen Willen Antisemit wurde? Gegen Juden zu kämpfen ist schlimmer als es für -
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Tatsächlich macht ein komplementärer Blick auf die Beziehung Simonsen Hamsun noch um vieles deutlicher, wie sehr sie sich als Brüder im Geiste empfanden. Das Buch von K. Simonsen Den moderne Mennesketype, 1917 (deutsch: „Der Typus des Menschen unserer Zeit"), von Hamsun warm empfohlen, ist eine rassistische, antisemitische Verherrlichung der germanischen Seele. Es kann als eins der subtilsten antisemitischen Signale Knut Hamsuns gelten, wenn er im Fazit seines gleichfalls 1917 erschienenen, 1920 nobelpreisgekrönten Hauptwerks „Segen der Erde" zur Charakterisierung seines Helden eben diesen „Typus des Menschen unserer Zeit" aus Simonsens Hetzschrift benutzt. Diesen Hinweis verdanke ich Detlef Brennecke, Skandinavist, Birstein gleichfalls Referent auf der Tagung „Nietzsche im Norden. Der nordische Nietzsche?" von 1998. Vgl. auch A. Simpson, „Knut Hamsun's Anti-Semitism". In: Edda, 11, 1977, 283f. -
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Hedwig Völkerling
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Brandes einst war, gegen Dänen zu kämpfen." Unübersehbar neidet er Brandes dessen „Begünstigungen", wenn er schreibt: Er bekam alle Stipendien, er holte Geld von überall; er und sein Bruder, der Finanzminister und zugleich unser größter Theaterkritiker" [Eduard Brandes] (4. Februar 1914). Deutlich ist: Simonsen hält seine Verachtung des „liberalen Judentums" für berechtigt, welches seine „Rasse" aus Opportunismus verneine und somit Verkörperung allen Parasitischen sei. Er wehrt jedoch die pauschale Etikettierung als Antisemit ab, ja, geht noch einen Schritt weiter (19. September 1914): Indem er noch einmal auf seine Charakteristik Nietzsches als einen durchaus preußischen Geist und damit immanent antijüdisch in seinem Brandes-Buch verweist, setzt er seine eigene Lebensauffassung mit der vermeintlichen Nietzsches gleich. Er sei Antisemit wie Nietzsche es war. Im übrigen verehre und bewundere er Walther Rathenau. In dieser schillernden Haltung Simonsens zu Juden und Judentum ist eine gewisse Parallele zu E. Förster-Nietzsches eigenen Anschauungen unverkennbar. Als Witwe Bernhard Försters, einem der bekanntesten Antisemiten des Bismarck-Reiches, erklärt sie später angesichts der vernichtenden antijüdischen Kampagne Hitler-Deutschlands, sie persönlich sei sehr gegen die „plötzliche Judenverfolgung, damit hätte man getrost noch etwas warten können, denn es leiden darunter ausgezeichnete, hochbegabte Menschen, gute Freunde, an denen wir innigsten Anteil nehmen". Diese Äußerung findet sich in einem Brief vom 12. Mai 1932 an ihren schwedischen, nichtarischen Freund und Gönner des Nietzsche-Archivs Ernest Thiel. Sie schließt mit der Hoffnung, „dass noch mildere Gesetze kommen und uns die Besten der fremden Rasse als Deutsche erhalten bleiben". Man könnte Konrad Simonsen als eigentlich periphere Figur in der nordischen Nietzsche-Rezeption abtun und dessen Attacken gegen Georg Brandes unerheblich finden. Dann wäre das Fehlen Simonsens in David Marc Hoffmanns Chronik Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs (1991) sogar folgerichtig. Interessant und aufschlußreich für die geistige Signatur Deutschlands im Vorfeld des Nationalsozialismus aber ist es, daß ein Mann wie Ernst Wachler, unter anderem Mitarbeiter völkischer und antisemitischer Zeitschriften, seit 1902 als Leiter der „Weimarischen Zeitung" in der Stadt der Klassik und eines ständig wachsenden Nietzsche-Kults ansässig, 1933 auf eben diesen Simonsen Bezug nimmt. Unter dem Titel „Ein Däne über Nietzsche" verweist Wachler in der antisemitischen Halbmonatsschrift Hammer (Nr. 739/740) retrospektiv auf Simonsens Brandes-Buch, dessen deutsche Übersetzung wie erwähnt bereits 1914 im Hammer-Verlag (sie!) erschienen war. Wachler betont in seinem Beitrag des Dänen Simonsen Verdienst, „des Angehörigen also eines germanischen Brudervolkes", als erster Nietzsche gerade unter dem „Rasse"-Gesichtspunkt verstanden und gewertet zu haben und schreibt dies dem „völkischen Deutschen unserer Tage" als „Weg zu neuem Verstehen seines großen Landsmannes" ins Stammbuch. Das eigentliche Problem der Auseinandersetzungen in der Literatur Skandinaviens selbst, nämlich Nietzsche als Gegenstand zweier Lesarten und damit der Verkörperung zweier Richtungen der Literaturentwicklung, bleibt außerhalb Wachlers Blickfeld. Daß „
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Im Schatten es um
von
Georg Brandes
273
die „materialistische" Nietzsche-Interpretation
Brandes andeuten.
von
ging und andererseits
irrationale, symbolistische Auslegung, kann ich Gegen diese Vereinnahmung Nietzsches unter den pangermanischen Auspizien des Nationalsozialismus hatte Simonsen nicht nur nichts; er schickte Wachlers Beitrag, nur
um
stolz, selbst
an
Förster-Nietzsche,
wo er
im Bestand des Nietzsche-Archivs
zu
finden
ist. Von Weimar nach Weimar; das Netzwerk funktionierte. Daß hinter dem nur mit „E. W." unterzeichneten Artikel wirklich Ernst Wachler stand, konnte ich zweifelsfrei ermitteln. Längst war auch Simonsen angekommen in den Maßgaben einer geschichtlichen Entwicklung, die von völkischen Ursprüngen über Formen des organisierten Antisemitismus letztlich zur nationalsozialistischen Bewegung führte. Bewußt nutzte er so zum Beispiel Beziehungen, die sich ihm durch seinen Kontakt mit dem NietzscheArchiv erschlossen. Bereits 1914 versicherte er sich der Unterstützung des Literarhistorikers und Schriftstellers Adolf Bartels, neben Wachler eines weiteren Wortführers der deutschnationalen und völkischen Bewegung. Bartels war auch Mitglied des von Wachler gegründeten sogenannten „Jungbrunnen-Tisches" in Weimar, zu dem mit Elisabeth Förster-Nietzsche und Peter Gast ebenfalls die beiden zu dieser Zeit dominierenden Persönlichkeiten des Nietzsche-Archivs gehört haben.5 Über Bartels, der intensive Kontakte zur völkischen Verlagsszene hatte, brachte Simonsen dann die deutsche Übersetzung seines Brandes-Buches im Leipziger Hammer-Verlag unter.6 Im Gegenzug bemühte er sich für Bartels in Skandinavien. Wie bereits erwähnt, war Simonsen das Nietzsche-Archiv ab Herbst 1914 wegen Förster-Nietzsches Parteinahme für Georg Brandes verschlossen. Obgleich er der Archiv-Herrin die deutsche Ausgabe seines Buches dedizierte und am 19. September 1914 von Jena aus, wo er sich bei seinem Freund und Übersetzer Alfred Voigt aufhielt mit „germanischer Gesinnung, voller Freude, diese große Zeit in Deutschland zu erleben" grüßte, reagierte diese nicht mehr. Simonsens recht disparater Entwicklung in den nächsten Jahren er interessierte sich für Genie, Kommunismus, Katholizismus, Parapsychologie, schrieb ein Buch über Dostojewski (1924) und eine Selbstbiographie „Tausend und ein Tag" (1926) entsprach auch ein geographisch weit gespanntes Leben zwischen Algier, Jerusalem, Kairo, Griechenland, Indien, Sumatra und Rußland. Mit fataler Zwangsläufigkeit schien sich 1934 Simonsens Prophétie von 1913/14 erfüllt zu haben, die Zukunft werde ihm gehören und Elisabeth Förster-Nietzsche mit der Zeit über Brandes und ihn anders denken (13. September 1913). Wachlers Beitrag öffnete dem Dänen nach zwanzig Jahren erneut die Tür des Nietzsche-Archivs, wo man Edda-Abende veranstaltete und wo zum Beispiel der Germanist Andreas Heusler, der vor allem zu altnordischer Literatur und in der NibelungenliedPhilologie arbeitete und seine Villa bei Basel „Haus Thule" genannt hatte, am 27. Juni -
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Vgl. A. Fambrini, „Ola Hansson und Georg Brandes: Einige Bemerkungen über die erste Rezeption Nietzsches", a.a.O., 427. Vgl. Artikel „Wachler", in: Weimar. Lexikon zur Stadtgeschichte, hg. von G. Günther, W. Huschke, W. Steiner. Weimar 1998, 475 und Artikel „Bartels", 27. GSA 147/793.
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Hedwig Völkerling
1933 über „Herren-Ethik in der Saga" referierte. Simonsen revanchierte sich für den Empfang mit einem zweiten Artikel über „Nietzsches Schwester", der 1935 in „Riget", Kopenhagen, erschien. Er erhielt 1934 ein neues Foto von Förster-Nietzsche und schrieb am 27. September 1935, er halte Vorträge über „die deutsche Seele, gleichzeitig eine Huldigung an diese deutsche Seele, die in Tiefe, Stärke und durch Herz, Güte, Treue, Pflichtgefühl, Soldatengeist und Wille (auch zum gefährlichen Leben) alle Seelen der anderen Völker überragt [...]. Ich halte darauf: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen." Das war der letzte Brief; das Letzte Wort. Elisabeth Förster-Nietzsche verstarb bald danach, am 8. November 1935.
Jochen Hengst
Endspiel eines „Schreibthier"-Lebens Metamorphose, Apotheose und Parodie in Nietzsches letztem Brief an Jacob Burckhardt1
Nietzsches vielzitierte Anweisung an die Philologenzunft aus der Vorrede zur Morgenröthe, „gut lesen, das heißt langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen lesen..." (M, KGW V 1,9), legt sie nicht eine topographische Lektüre nahe, deren Vorgehensweise die Höhen und Tiefen einer Textlandschaft wie ein Feld abzuschreiten oder wie einen Körper abzutasten hätte, nicht nur sukzessive und linear, sondern auch flächig und reversibel, nicht auf eine fixe Bedeutung abzielend, sondern im schweifenden Dialog, den vielen Texten und Gedanken in dem Einen Raum und Sprache gebend? Der Versuch dieser Lektüre soll im folgenden am Beispiel von Nietzsches letztem Brief an Jacob Burckhardt, dem legendären Dokument aus Nietzsches Turiner Korrespondenz und einem der bedeutendsten Briefe der deutschen Literaturgeschichte, wie ich meine, unternommen werden. Was diesen Brief betrifft, so hat sich bei ihm wie wohl bei keinem anderen Text Nietzsches „die Phantasie der Kommentatoren [...] überschlagen"," besiegelte er doch letztendlich das Schicksal seines Urhebers. In Kürze noch einmal die Fakten: Der Brief veranlaßte seinen Empfänger Jacob Burckhardt in Basel am 6. Januar des Jahres 1889 unmittelbar im Anschluß an die Lektüre, Nietzsches Freund Franz Overbeck aufzusuchen und von seinem Inhalt zu unterrichten. Overbeck, den schon die vorausgegangenen Turiner Briefe „in stark steigerndem Maße an Geistesstörung" denken ließen," setzte sich nach Rücksprache mit dem Leiter der örtlichen psychiatrischen Klinik Prof. Ludwig Wille noch am Abend des folgenden Tages in den Zug nach Turin, wo es ihm
Vortrag, gehalten am 28. April 1999 an der Universität Hannover anläßlich meiner Habilitation für das Fachgebiet Neuere deutsche Literatur und Theorie der Literatur. Die mündliche Fassung wurde für die schriftliche Form leicht überarbeitet und mit Anmerkungen versehen. Der Duktus des Vortrags wurde jedoch weitestgehend beibehalten. A. Verrecchia, Zarathustras Ende. Die Katastrophe Nietzsches in Turin, Wien/Köln/Graz 1986, 234. J
„Taghell
ich schon seit einiger Zeit zu ahnen scheute", in: Franz Overbeck und FriedFreundschaft, nach ungedruckten Dokumenten und im Zusammenhang mit der bisherigen Forschung dargestellt von Carl Albrecht Bernoulli, 2. Bd., Jena 1908, 115. war nun, was
rich Nietzsche. Eine
276
Jochen Hengst
9. Januar gelang, Nietzsche zur Rückkehr nach Basel zu bewegen. Einen Tag darauf wurde Nietzsche in die Klinik mit dem sprechenden Namen „Friedmatt" gebracht, womit er aufhörte, „ein selbständig handelnder Mensch zu sein", wie sein Biograph Curt Paul Janz vermerkt.4 Läßt man die äußeren Umstände der Niederschrift und die Frage nach einer zielgerichteten Aussage oder Botschaft des Briefes einmal außer acht, um ihn ausschließlich als sprachliches Dokument zu betrachten, so fällt auf, daß, anders als bei vorangegangenen Briefen und einigen Passagen der kurz zuvor vollendeten Werke Ecce homo, der Dionysos-Dithyramben oder des Zarathustra, der Tonfall zumeist nicht pathetisch wirkt sondern sich durch prosaische Nüchternheit und stilistische Fertigkeit auszeichnet. Auch für die Handschrift des Briefes gilt, daß sie gegenüber vielen schwer lesbaren, teils gekritzelten Entwürfen, Brouillons und Manuskripten ein ruhiges klares Schriftbild aufweist. Ohne in irgendeiner Weise den Anspruch einer graphologischen Analyse zu erheben, erweckt das Autograph zumindest nicht den Eindruck, der Brief sei „von Sinnen geschrieben", wie Overbeck verlauten läßt. Gegen Ende des Briefes, wo der Platz wie üblich knapp ist, wird an den Rändern weitergeschrieben, darüber hinaus zeigen sich wenig Korrekturen oder Nachträge. Das Vorhandensein eines knappen Konzepts im möglicherweise existierten mehrere, läßt sogar vermuten, daß der Verfasser das Schriftstück stichwortartig vorformuliert und anschließend ausgearbeitet hat. Auf der Rückseite des Briefumschlags hingegen befinden sich Schriftzüge, die eher einen nervös hingeworfenen Eindruck machen könnten, allerdings nicht von Nietzsches sondern von Overbecks Hand: „Brief des wahnsinnig geworden Dr. Nietzsche, Turin vom 6. bzw. 5. Januar 1889, der über seine Abholung durch mich nach Basel entschied."7 Nun lassen sich aus dieser Beobachtung sicherlich keine Aussagen über Nietzsches oder Overbecks derzeitige psychische Verfassung ableiten,8 jedoch unterscheidet sich der Duktus von Nietzsches Schrift in diesem Brief deutlich von jenen späteren auf Zetteln überlieferten Graphemen der Jenaer Zeit, was für eine eigenartige Zwischenstellung dieses Dokumentes sprechen könnte. Auch wird an dieser Stelle und im folgenden keinesfalls angezweifelt, Nietzsche sei „au cours de ces journées turinoises, passé de l'autre côté de la pure et simple réalité objective", wie es bei dem französischen Nietzsche-Exegeten Pierre Klossowski heißt.9 Es sollte aber festgehalten werden, daß für Nietzsche selbst Gesundheit und Krankheit nichts wesentlich verschiedenes waren, sondern ihre Relevanz einzig aus der sozialkritischen Perspektive seines Angriffs auf die zeitgenössische „Sklavenmoral" des späten 19. Jahrhunderts erhielten: „Der ,Veram
Nachlaß,6
4
5 6 7 '
C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, Biographie, 3. Bd., „Die Jahre des Siechtums/Quellen und Register", München/Wien 1979, 36. Ebenda. Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar, Signatur GSA 71 234. Nachlaß J. Burckhardt Nr. 18, ÜB Basel. Zum unmittelbaren Eindruck des Geschehens auf Nietzsches nächsten Freund vgl. C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, Biographie, 3. Bd., a.a.O., 58ff. P. Klossowski, Nietzsche et le Cercle vicieux. Essai. Nouvelle édition revue et corrigée, Paris 1969, 335; deutsche Ausgabe: Nietzsche und der Circulus vitiosus deus, übersetzt von R. Vouillé, München 1986.
Endspiel eines Sehreibthier"-Lebens
277
„
rückte', die Idiosyncrasie beweisen nicht die Unwahrheit einer Vorstellung, sondern deren Abnormität; es läßt sich mit ihr nicht für eine Masse leben." (KGW V 2, 11 [156],
399) Unter Berücksichtigung von Nietzsches sozialkritischer Definition von Krankheit geht es mir, wie der Gegenstand meines Vortrags auf einen ersten flüchtigen Blick vielleicht nahelegen könnte, nicht um die vieldiskutierte Frage, unter welchen pathologischen Zeichen sich die Turiner Auflösung der Persönlichkeit des Philosophen vollzogen
haben könnte.10 Es soll im folgenden vielmehr vollkommen von der Person und der Persönlichkeit des Philosophen, im übrigen auch seiner Metaphysik, abgesehen werden, um den Brief als literarisches Ereignis in den Vordergrund zu stellen. Es geht um die Perspektive des „rechten Schreibthier-leben[s]u, das Nietzsche im September 1888 gegenüber seiner Mutter in einer der zahlreichen Selbstbelustigungen erwähnte. Und wenn es schon in einem frühen Text Nietzsches vom Juli 1862 heißt: „In meiner Stube ist es todtenstill meine Feder kratzt nur auf dem Papier denn ich liebe es schreibend zu denken," (BAW 2,71) so wird hier nicht zuletzt das multiple Selbstgespräch der eigenen hörend-schreibend-denkenden Existenz beschrieben, das sich, wie auch die Nietzsche-Forschung heute weiß, seine erstaunliche Luzidität bis zum endgültigen Verstummen bewahrt hat. Aus dieser Perspektive wird der Brief an Jacob Burckhardt zu einem schriftlichen Dokument von außergewöhnlichem „richesse de ,sens'", wie Klossowski bemerkt, insofern sich in ihm mit den Metamorphosen des Ich zugleich auch die „apothéose de 1' intellect' nietzschéen"1 und die Parodie all dessen verdichtet, was sich in seinem Leben angesammelt hat, bzw. was er in seiner unmittelbaren Umgebung beobachten konnte. André Breton erkannte in diesem Brief vermutlich Nietzsches ganz speziellen Beitrag zu einer „kritischen Paranoia" und nahm ihn deshalb in seine Anthologie des Schwarzen Humors auf, und was Klossowskis Abhandlung Nietzsche et le Cercle vicieux betrifft, so steckt dieser Brief gewissermaßen den Rahmen ab, auf den das Unternehmen hinausläuft, um eine triebsemiotische Grundstruktur der Sprache Nietzsches freizulegen. Es sei angefügt, daß über den französischen Umweg mit der Zeit auch die deutschsprachige Nietzsche-Forschung herausgefunden hat, daß die großen philosophischen Entwürfe „Wille zur Macht" und „Ewige Wiederkehr" nur noch bedingt zur metaphysischen Welterkenntnis taugen und einer textkritisch orientierten Rezeption Platz machen mußten.14 Als profiliertestes, jüngst erschienenes Resultat sind in dieser Hin-
10
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Frage haben die Worte von Hans Wollschläger ihre Gültigkeit längst noch nicht verloren: stets auch eine exzeptionelle Disposition zur Krankheit", die sich jedem pathologischen Schema widersetzt. Siehe: H. Wollschläger, „ECCE HOMO/Zur Krankheit Friedrich Nietzsches", in: LYNX Jahrbuch, 1967/1968, hg. vom Club Lynx, Hamburg 1968, 225. An Franziska Nietzsche in Naumburg, Jahrbuch 1967/1968, hg. vom Club Lynx, Hamburg 1968, Zu dieser
„Ausnahme-Menschen haben 11
225. "
12 13 14
An Franziska Nietzsche in Naumburg, Sils-Maria, an einem der letzten Tage, 14. September 1888, KGB III 5, 431. P. Klossowski, Nietzsche et le Cercle vicieux, a.a.O., 343. Vgl. A. Breton, Anthologie des Schwarzen Humors, deutsche Ausgabe, München, o.J. 212ff. Vgl. W. Ries, „Zur Nietzsche-Philologie in der gegenwärtigen Nietzsche-Rezeption", in: Nietzsche-
Studien, 24, 1995,324.
Jochen
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Hengst
sieht sicherlich die Manuskript-Edition von Ecce homo und die textgenetische Edition der kurz vor dem Brief an Burckhardt fertiggestellten Dionysos-Dithyramben zu nennen. Der Herausgeber der letzteren, Wolfram Groddeck, entdeckt in ihnen eine vorsprachliche Struktur, die mir auch für den Burckhardt-Brief von Bedeutung zu sein scheint. Und zwar überlagern sich laut Groddeck in Nietzsches Dithyramben eine poetisch-sprachkritische und eine „medieynische" Ebene, von der Nietzsche in Ecce homo kalauert.15 Georges Bataille hatte diese doppelte Grundstruktur der Sprache Nietzsches schon in einem Aufsatz aus dem Jahre 1949 als die spannungsgeladene Verbindung von „intellektueller Klarheit" mit einer größtmöglichen Intensität intimer Erfahrung bezeichnet.16 Ergänzt man darüber hinaus diese beiden sprachlichen Ebenen mit Klossowski um die des Komplotts, so käme eine dritte Form des Diskurses hinzu. Klossowskis zentrale Hypothese lautet: „La pensée lucide, le délire et le complot forment un wobei Delirierendes bei Klossowski nicht etwa tout indissoluble chez Nietzsche als bloßes pathologisches Phänomen sondern eher als ein strukturell opponierendes Verhältnis des Individuellen zur Realität der Übereinkunft verstanden werden sollte. Es scheint mir nun sehr wichtig zu sein, dieses Beziehungsgeflecht als ein integrales Ensemble zu fassen, denn das eine müßte ohne das andere notwendig seine jeweilige analytische und praktische Effizienz einbüßen. Nietzsches Prosa entfaltet ihre parodistische Schärfe nur über ihre delirierende Klarheit und ihren Willen zum Komplott, wie andererseits die mögliche Praxis eines Komplotts grundsätzlich auf klares Denken und Parodie zurückverwiesen wird.18 Die Leistung Klossowskis, um die es mir daher aus-
[...].",'
W. Groddeck 16
17 18
(Hg.),
Friedrich Nietzsche:
Dionysos-Dithyramben. Textgenetische
Edition der Vor-
stufen und Reinschriften, 2. Bd., Berlin/New York 1991. 210.
G. Bataille, „Nietzsche" ( 1949). in: Nietzsche, hg. von J. Salaquarda, Darmstadt 1980, 46. P. Klossowski, Nietzsche et le Cercle vicieux, a.a.O., 12. Wenn im folgenden des öfteren Klossowskis Nietzsche-Analyse herangezogen wird, so also nicht etwa deshalb, weil sie in der deutschsprachigen Nietzsche-Forschung bisher nur am Rande eine Rolle spielte. Diese Positionierung im Abseits ist vielleicht nicht so sehr auf die Scheu der Leserschaft vor einem Autor zurückzuführen, der Sade als seinen Nächsten bezeichnet, sondern sie wurde auch durch Klossowskis selbststilisierte und wohl nicht ganz ernst zu nehmende „ignorance", sich auf das zu beziehen, was bereits zu Nietzsche gesagt worden ist, ein gut Teil selbst provoziert (P. Klossowski, Nietzsche et le Cercle vicieux, a.a.O., 11). Bekanntlich hat sich Klossowski nicht nur als Übersetzer der Fröhlichen Wissenschaft und der Nachgelassenen Fragmente Nietzsches einen Namen gemacht, sondern auch Heideggers Nietzsche ins Französische übertragen. Diese Übersetzung (1971) erschien zwar erst nach dem eigenen Nietzsche-Buch, doch läßt sich dadurch eine gewisse Rezeptionslinie natürlich nicht verschweigen. Den Unterschied zwischen Klossowski und Heidegger aber nur darauf zu reduzieren, daß Heidegger den „Willen zur Macht" und Klossowski den „Circulus vitiosus deus" in den Mittelpunkt der Untersuchung stellt (vgl. R. E. Künzli, „Nietzsche und die Sémiologie. Neue Ansätze in der französischen Nietzsche-Interpretation", in: Nietzsche-Studien, 5, 1976, 273), möchte ich an dieser Stelle einmal dahingestellt bleiben lassen. In seinem historischen Kontext gesehen ist das von Klossowski entworfene Nietzsche Bild neben den Analysen beispielsweise von Michel Foucault und Maurice Blanchot als kritische Reaktion auf Sartres Nietzsche-Verdikt, die Rede von der ,,kultivierte[n] Vision" von Sils-Maria, zu verstehen (J.-P. Sartre, Saint Genet, Komödiant und Märtyrer, übersetzt von U. Dörrenbächer, Reinbek 1982, 540). Selbstaussagen Klossowskis zufolge ereignete sich das von ihm entworfene NietzschePortrait (neben dem von Sade) unter den Bedingungen einer fremd anmutetenden mystischen Er-
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geht, besteht in der Freilegung und Lesbarmachung einer Komplexität von Denkfiguren man betrachte sie nun als „un salto mortale dans le thème du ,complot' et de la ,parodie'"19 oder als eine „synthèse disjunctive"20 -, deren Beschreibung das erstaunliche Maß an Intensität, das Nietzsches Schreibprozeß auszeichnet, sensitiv werschließlich
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den lassen möchte.
Gegenüber Klossowski, für den das Parodistische nur eine von mehreren DenkfiguNietzsches ist, geht es mir jedoch darum, daß sich die Parodie im aphoristischen
ren
Prozeß
von
Nietzsches Prosa spätestens seit der Niederschrift des Zarathustra als ein
eigenständiges literarisches Experiment abzuzeichnen beginnt. Es formuliert sich dezidiert in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft vom Herbst des Jahres 1886, wo Nietzsche von sich spricht: „Ach, es sind nicht nur die Dichter und ihre schönen lyrischen Gefühle', an denen dieser Wieder-Erstandene seine Bosheit auslassen muss: wer weiss, was für ein Opfer er sich sucht, was für ein Unthier von parodischem Stoff ihn in Kürze reizen wird? ,Incipit tragoedia' heisst es am Schlüsse dieses bedenklich-unbedenklichen Buchs: man sei auf seiner Hut! Irgend etwas ausbündig Schlimmes und Boshaftes kündigt sich an: incipit parodia, es ist kein Zweifel" (FW, KGW V 2,14). Mit diesen Worten gibt Nietzsche einen Hinweis auf die vier Jahre zuvor erschienene erste Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft und erweitert die ersten Worte ihres Schlußaphorismus „Incipit tragoedia" um die Ankündigung von Parodischem. Er verweist damit aber auch auf den vorhergehenden Aphorismus, in dem sich die Erfahrung von der Tötung Gottes durch die Menschen formuliert. Diese ungeheuerliche existentielle Spaltung, die Abschaffung des Garanten unserer Identität, ließ sich für Nietzsche einzig durch die Apotheose der Menschen selbst rechtfertigen, ein Gedanke für -
fahrung: „Ich
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versetze mich in Sade oder Nietzsche und erblicke in ihnen etwas, das ich bereits vorher gesehen hatte. Ich sehe z.B. Sade und erblicke ihn dabei physisch ganz wie er ist und höre ihn sprechen. Das gilt erst recht fur Nietzsche, den ich noch besser zu kennen glaube, ich sehe ihn, denn ich weiß, welche Art Mensch er war." (M. Jakob, „Gespräche mit Pierre Klossowski", in: Aussichten des Denkens. Gespräche mit Emmanuel Lévinas u.a., München 1994, 149) In dieser Identifikation Klossowskis mit Nietzsche sieht Rudolf E. Künzli zu Recht die Schwierigkeit eines Kommentars über Nietzsche et le cercle vicieux (R. E. Künzli, „Nietzsche und die Sémiologie", a.a.O., 272), was jedoch nichts an der Tatsache ändert, daß Klossowski in der Auseinandersetzung mit Sartre ein besonderer Ort zukommt, der die geheime Achse im französischen Nietzsche-Disput bildet (E. Biser, „Das Desiderat einer Nietzsche-Hermeneutik. Der Gang der Wirkungsgeschichte" in: Nietzsche-Studien, 9, 1980, 27). Dabei sucht Klossowski Nietzsche nicht nur auf ein zirkuläranarchisches Grundkonzept festzulegen (ebenda), sondern er setzt genau an Sartres These vom „geheimen Mechanismus des Strategems" der Wiederkehr an (J.-P. Sartre, Saint Genet, Komödiant und Märtyrer, a.a.O., 542), um es vom Stigma der „Irrealisierung" und des bloßen Glaubenssatzes zu befreien. M. de Gaudillac, „Le Colloque de Cerisy-la-Salle, Juli 1972", in: Nietzsche-Studien, 4, 1975, 325. „Toute l'œuvre de Pierre Klossowski est marquée par un certain usage de la synthèse disjonctive, du double point de vue d'une théorie du corps et d'une théorie de la pensée qui se reflètent l'une l'autre. Car l'inconscient n'est pas psychique, il est inséparablement physique et noologique. Le syllogisme disjonctif de Klossowski est comme cette double articulation." G. Deleuze und F. Guattari, „La synthèse disjonctive", in: L'Arc, 43, 1970, 54; zitiert nach R. E. Künzli, „Nietzsche und die Sémiologie", a.a.O.. 272.
Jochen Hengst
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den, wie Nietzsches „toller Mensch" wußte, noch niemand reif geworden war. Seitdem lastet das Bild der toten Gottheit als eine Art Medusenhaupt über unserer Existenz, um die versagte moralische Pflicht einzufordern. In der anschließenden Prosa des Zarathu-
kreisen Nietzsches Gedanken um die Frage nach den Konsequenzen dieses Ereignisses und versuchen mit dem Gedanken der „Ewigen Wiederkehr" seine Gesetzmäßigkeit und eine mögliche Lehre zu fassen. Erst in der Götzendämmerung aber, einer Abhandlung, die mir in nuce dem Problem der Sprache verpflichtet zu sein scheint, wendet sich Nietzsche der Frage nach dem Wie dieser Konsequenzen zu, einer Frage, die auch für das in der zweiten Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft angekündigte Experiment des Parodischen von Bedeutung gewesen sein könnte. „Wie die ,wahre Welt' endlich zur Fabel wurde", der zentrale Abschnitt der Götzen-Dämmerung, behandelt die historisch-ästhetische Dimension der mit dem Tod Gottes reflektierten Identitätsspaltung und thematisiert den Auszug des Menschen aus der historischen Geschichte in die Fiktion. Denn „mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft' (GD, KGW VI 3,75), und mit dem Ende der geschichtlichen Identität des Menschen verkündet Nietzsche die Freisetzung sich selbst fabulierender Identitäten. In einem der unmittelbar voraufgehenden Abschnitte wurde Gott als lastende Grammatik ausgemacht, und auch von dem Willen weiß Nietzsche jetzt, „dass er bloss ein Wort ist" (GD, KGW VI 3,71). Die Identitäten sind zu fiktiven Worten geworden, das Ich zur Fabel die moralische Pflicht zur Selbstapotheose des Menschen aus dem Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft aber, die jetzt auf der Ebene der Tatsachen keinen Bestand mehr hat, „bleibt als Semiotik unschätzbar" (GD, KGW VI 3,92). Vor dem Hintergrund dieser Verlagerung der „Tod-Gottes-Erfahrung" auf die Ebene des Fiktiven beginnt Nietzsche die Befreiung der Wörter aus der grammatischen Umklammerung zu reflektieren. Die apotheotische Selbstsetzung der Wörter könnte also möglicherweise als die Fortsetzung des in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft erwähnten parodischen Experiments verstanden werden. Denn wie sollte sein literarischer Mechanismus anders zu verstehen sein als die fiktive Selbstparodie von Worten? Die Formulierung dieser Abschnitte fällt in die Zeit von Nietzsches Turiner Euphorie und definiert sicherlich einen der programmatischen Höhepunkte des „Schreibthier-lebens". Der Brief an Jacob Burckhardt, so meine These, läßt sich daher, obwohl er keineswegs als die bewußte Weiterführung des „incipit parodia" bezeichnet werden sollte und zumeist nur symbolische Identitäten parodiert, doch als ein Reflex auf dieses Experiment lesen. Ich möchte dieses im folgenden anhand von sechs nicht chronologisch geordneten, signifikanten Satzfolgen des Briefes zu verdeutlichen suchen. Zu Beginn parodiert sich die Apothese des Menschen durch die Verwandlung Nietzsches in einen personifiziert vorgestellten Gott: „Lieber Herr Professor, zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privatstra
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Egoismus
weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen. muß Opfer bringen, wie und wo man lebt."21 Zum Verständnis der Personifizierung scheint mir eine Textstelle aus Ecce homo von Interesse zu sein, insofern sie das Thema der Metamorphose aus dem allgemeinen Kontext der Kritik des ChristenSie sehen,
21
so
man
An Jacob Burckhardt in Basel, Turin, 6. Januar 1889 diesem Brief erscheinen im folgenden direkt im Text.
(KGB
III
5, 577f). Die Stellenangaben
zu
Endspiel eines „Schreibthier"-Lebens
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turns herauslöst und zu einer körperlichen Ebene, der eigenen fleischlichen Abstammung in Beziehung setzt: ,,[I]ch bin, um es in Räthselform auszudrücken, als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch und werde alt." (EH, KGW VI 3, 262) Nietzsche ersetzt also in sich den Vater, seinen Erzeuger und Stellvertreter der
zentralen Gottesinstanz, durch ein Schöpfungsprinzip, das für ihn nur dezentral erfahren werden kann, einen unendlich produktiven Mechanismus des Mütterlichen. Der parodistischen Auflösung des Einen entspricht die Apotheose des Anderen, ein Zwiegespräch, das sich seit der Niederschrift von Ecce homo im Denken Nietzsches intensiviert, um in der Umwerthung aller Werte ein unmittelbares „Ereigniß ohne Gleichen" zu beschwören, das nicht nur als ein „litterarisches, sondern ein alles Bestehende Erschütternde[s] [...] die Zeitrechnung" verändern sollte.22 Die Serie der späten Turiner Briefe zeugt insgesamt von der zunehmend schwindenden Distanz Nietzsches zu diesem sprachlichen Anschwellen, für das der Brief an Jacob Burckhardt gewissermaßen den Fluchtpunkt bildet, indem er unter dem Zeichen einer komplottartigen Metamorphose, einer delirierenden Apotheose und Parodie in stets erneuten Anläufen Nietzsches göttliche Inkarnationen konkret zu formulieren beginnt. Zweite Satzfolge über das Thema Parodie und Lektüre: „Doch habe ich mir ein kleines Studenten-Zimmer reservirt, das dem Palazzo Carignan (- in dem ich als Vittorio Emanuele geboren bin) gegenüber liegt und außerdem erlaubt, die prachtvolle Musik unter mir, in der Galleria Subalpina, von seinem Arbeitstisch aus zu hören. Ich zahle 25 fr. mit Bedienung, besorge mir meinen Thee und alle Einkäufe selbst, leide an zerrissenen Stiefeln und danke dem Himmel jeden Augenblick für die alte Welt, für die die Menschen nicht einfach und still genug gewesen sind." (KGB III 5, 578) Derart kurze Skizzierungen der unmittelbaren Umgebung und kleinere Alltagsszenen fungieren in den späten Briefen als eine Art Prosabilder, in denen Nietzsche die unmittelbare Gegenwart seiner Turiner Tage mit der wiedererfahrenen Wirklichkeit einer vergangenen Kunstlandschaft konfrontiert. Gegenüber Jacob Burckardt, dem fachkundigen Altertumsforscher und Renaissance-Spezialisten, werden Bemerkungen zur italienischen Architektur, Kunst und Musik erwähnt. Was die Anekdote des vorliegenden Briefes aber von vorhergehenden unterscheidet, ist, daß sie unmittelbar mit dem Thema der Metamorphose, der abgelegten Verwandlung in den 1878 gestorbenen ersten Monarchen des Vereinigten Königreichs Italien, Vittorio Emanuele IL, konfrontiert wird, dessen Wiedergeburt Nietzsche in den um 1680 erbauten Pallazzo Carignano verlegt. Dadurch erhält die auf den ersten Blick idyllisch anmutende Szenerie eine beunruhigende, gleichsam gespenstische Atmosphäre, deren Surrealität an einige Bilder von Giorgio de Chirico erinnert. Ein charakteristisches Moment der Sprache Nietzsches fällt bei Betrachtung dieser Sätze jedoch erst auf den zweiten Blick auf, und zwar die Parodie von Gelesenem. Warum leidet der Gott, so ist zu fragen, an zerrissenen Stiefeln?23 Folgt man den Berichten der Biographen stand es mit Nietzsches äußerem Erscheinungsbild zu jener Zeit nicht zum Besten, aber dieses dürfte, so meine ich, keinen hinreichenden
2j
An Constantin Georg Naumann in Leipzig, Turin, 26. Nov. 88 (KGB III 5, 491); vgl. auch: an Paul Deussen in Berlin, Torino, via Carlo Alberto 6, III, 26. Nov. 88 (KGB III 5, 491 f.). „Zerrissenen Sohlen" schreibt Gottfried Benn in seinem berühmten Gedicht. Vgl. G. Benn, „Turin", in: Lyrik Auswahl letzter Hand, mit einem Essay von Max Rychner, Zürich 1975, 189.
Jochen
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Hengst
Grund zur Verwendung dieses Bildes abgegeben haben. Vielmehr verarbeitet Nietzsche mit ihm in parodistischer Weise Das Neue Testament, genauer gesagt einen Vers aus dem Evangelium nach Matthäus. Im Schlußteil des Briefes macht die Erwähnung „Ich habe Kaiphas in Ketten legen lassen" (KGB III 5, 579) auf dieses Evangelium aufmerksam. Bei Kaiphas handelt es sich bekanntlich um jenen Hohenpriester, vor den der ergriffene Jesus geführt wird und auf dessen Frage, ob er der Christus, der Sohn Gottes sei, die bedeutungsschweren Worte „Du sagst es" antwortet.24 Denn dadurch ist er der Gotteslästerung überführt und wir wissen nun, warum Kaiphas in Ketten gelegt werden soll ihm werden zur Stigmatisierung des Frevelhaften die Kleider zerrissen. Die Parodie und Umkehrung dieses Rituals setzt Nietzsche zum Schluß des Briefes fort, indem er auf seine eigene Kreuzigung zu sprechen kommt, deren Durchführung er „auf eine sehr langwierige Weise" und von „deutschen Ärzten" in fataler Verkehrung der realen Entwicklungen in die Vergangenheit projiziert (KGB III 5, 579). Ein paar Zeilen vorher kommt Nietzsche wieder in signifikanter Weise auf die Kleidung zu sprechen, und zwar im Rahmen einer Einladung Burckhardts nach Turin zu einer schönen Plauderei bei einem Glas Veltliner, bei der „Neglige des Anzugs Anstandsbedingung" ist (KGB III 5, 579). Zwar ist die Kleidung in diesem Fall nicht zerrissen, aber sie soll betont nachlässig sein und fungiert als eine Art Gegenuniform, um Burckhardt chiffriert verstehen zu geben, daß er in den Kreis der Antichristen aufgenommen ist. Worauf es mir an dieser Stelle ankommt, ist zu zeigen, daß Parodistisches in diesem Brief zum Reflex einer Lektüre wird, die sich über die gesamte Prosa des Briefes erstreckt und sich in Anspielungen vorbereitet, bevor sie zum Schluß in eine offene Wendung, die Worte „Kaiphas" und „kreuzigen" umschlägt. Genau in diesem Sinne durchzog Parodistisches auch die Dionysos-Dithyramben, wie Wolfram Groddeck am Beispiel des Abschnitts über Ariadne sehr genau beschrieben hat (Groddeck II 213),25 und genau in diesem Sinne stellt Parodistisches auch zur Zeit die Überlegungen zur Neuedition von Nietzsches Nachlaß vor ein Problem, das schon für den ehemaligen NietzscheHerausgeber Mazzino Montinari von einer derartigen Bedeutung war, daß er es für zweifelhaft hielt, Nietzsches Schriften aus dem Nachlaß in der bisher edierten Form überhaupt noch zitieren zu können. Es geht um die Frage, wie Materialien herauszugeben sind, deren Befund noch im Unklaren läßt, wie groß der jeweilige Anteil von auktorialem Text, Zitat, Selbstzitat, Wiederholung und Plagiat ist. Der Brief an Jacob Burckhardt fügt sich zumindest in diese Thematik ein und zeigt, wie sehr Schreiben für Nietzsche die parodistische Verarbeitung von Lektüre bedeutete. Was darüber hinaus für die psychoanalytische Fragestellung von Interesse ist: Der Brief unterscheidet sich dadurch auf entscheidende Weise von einem modernen Hysterismus, der seine Verstellungen nicht sichtbar machen kann. In welche Grau- oder Schattenzone der Diskurse also Nietzsches Persönlichkeit im Januar des Jahres 1889 auch immer geraten sein mochte, im Brief an Jacob Burckkardt bezeugen die Spuren parodistischer Sprachkritik, daß genau diese Sichtbarmachung der Verstellung mit einer Kunstfertigkeit und Luzidität aktualisiert wurde, die hinter der Prosa des Werkes nicht zurücksteht. -
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Matth. 26, 64. W. Groddeck (Hg.),
Dionysos-Dithyramben, 2. Bd., a.a.O., 213.
Endspiel eines „Schreibthier"-Lebens
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Dritte Satzfolge über die Parodie des anständigen Verbrechers: „Nehmen Sie den Fall Prado nicht zu schwer. Ich bin Prado, ich bin auch der Vater Prado, ich wage zu sagen, daß ich auch Lesseps bin [...] Ich wollte meinen Parisern, die ich liebe, einen neuen Begriff geben den eines anständigen Verbrechers. Ich bin auch Chambige auch ein anständiger Verbrecher." (KGB III 5, 578) Die Verwandlung in den Gekreuzigten, die sich in den letzten Tagen der Turiner Zeit nicht nur auf den Burckhardt-Brief beschränkt und häufig in der Korrespondenz erscheint, ist auch der Reflex eines Komplotts, das gegen die Führer des kaiserlichen Deutschland gerichtet ist. Nietzsches „souveraine malice",26 die die „großen Abenteurer und Verbrecher" (KGW VIII 3, 14[182], 158) als ihre Repräsentanten neben den Gekreuzigten treten läßt, versteht sich als permanente Opposition des Individuellen zur „Heerdenthier-Moral" (JGB 202, KGW VI 2, 126). Für Nietzsche werden daher „der Narr und der Heilige die zwei interessantesten in enger Verwandtschaft das ,Genie'" (KGW VIII 3, 14[182], 158), Arten Mensch und in den letzten Werken „le thème des affinités de l'artiste et du criminel se fait de 27 plus en plus fréquent." Gegenüber Jacob Burckhardt parodiert Nietzsche also nicht zufällig diese Gestalt, wobei ihre Exponenten jetzt den Zeitungsberichten und gesellschaftlichen Meldungen entnommen werden. Das Interesse für diese Medienform läßt sich ganz allgemein auf die zunehmende Personalisierung der Ereignisse und den Hang Nietzsches zu seiner eigenen Popularisierung zurückführen, spätestens seit der Arbeit an Ecce homo war er zu seinem eigenen Propagandisten geworden. Was Nietzsche nun bewog, ausgerechnet auf den in den Gazetten erwähnten Fall des Prostituiertenmörders Prado und des Geliebtenmörders Henri Chambige zu sprechen zu kommen, so soll den von Kommentatoren und Biographen geäußerten Vermutungen keine weiteren hinzugefügt werden, jedoch möchte ich das Augenmerk auf die Parodie des „anständigen Verbrechers" in der Gestalt Prados lenken. Auch in einem späten Brief an August Strindberg findet Prado Erwähnung, er erscheint dort als der „hereditäre Verbrecher décadent, selbst Idiot kein Zweifel!" Zugleich wird er als der „klassische Typus" des Verbrechers im Sinne eines „zu starken Menschen für ein gewisses sociales niveau" vorgestellt.28 Nietzsche bezieht also wieder den Blickwinkel seiner Kritik der Übereinkunft. Der Schlüssel zu Prado, um den es hier einzig geht, findet sich aber am Schluß des Briefes, an dem Nietzsche Strindberg von seiner Arbeit an Ecce homo berichtet und beiläufig erwähnt, das Ganze sei nicht langweilig, denn er habe es „mitunter [...] im Stil ,Prado' geschrieben." Prado wird hier also zu einer verbrecherischen Schreibweise des Künstler-Artisten selbst, und ich bin der Ansicht, daß Nietzsche bei der erstmaligen Vergegenwärtigung dieses Namens sofort wie ich selbst und mit mir sicherlich viele andere Leser auch das berühmte Madrider Museum mit im Ohr geklungen haben wird, dessen Weltruhm sich vorzugsweise seiner Kunst- und Gemäldesammlungen verdankt. Der Verbrecher Prado wird zumindest auf der Ebene des Unbewußten also stets der Künstler gewesen sein, wobei dieser spezifisch spanischen Conjunktion von -
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...,
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27 "
28
29
P. Klossowski, Nietzsche et le Cercle vicieux,
Ebenda, 295. An
August Strindberg in Holte, Torino,
508). Ebenda, 509.
a.a.O., 291.
via Carlo Alberto 6, III, 8. Dezember 1888
(KGB
III
5,
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Kunst und Bösem für Nietzsche spätestens seit seiner Begeisterung für Bizets Carmen als Kontrapunkt zu deutscher Wagnerischer „Massen-Kunst" (NW, KGW VI 3, 417) der Weg bereitet worden war. Schließlich wird auch der erwähnte Ferdinand Vicomte de Lesseps, unter dessen Leitung 1859-69 der Suez-Kanal erbaut wurde, seine Aufnahme in den Burckhardt-Brief nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken gehabt haben, daß er eine Zeit lang französischer Konsul in Madrid gewesen war. Statt inhaltlicher Motive, nach denen die Biographen Janz und Verrecchia beispielsweise fahnden, wurde Nietzsche, wie ich meine, einzig von dem Namen Prado angezogen, der mit dem Auftauchen in der Gazette in nuce die für sein Denken unlösbar ineinander verflochtenen drei Komponenten verdichtete, und zwar das gegenüber der „Heerdenthier-MoraT1 Verbrecherisch-Komplottartige, das Ästhetisch-Parodistische und das luzide SpanischRaffinierte. Kurz nach dem Brief an Strindberg heißt es gegenüber Overbeck: „Meine jetzige Erholung ist spanische Operette, aus Madrid: das geht über Alles hinaus, lauter feierliche canailles, Spitzbuben durch und durch, aber mit grandezza -".30 Ich kann an dieser Stelle auf eines der zentralen, sicherlich problematischen und auch hochaktuellen Anliegen von Nietzsches gesamtem Werk, das Komplott der „Heerden-" und Sklavenmoral, das vor dem Abdriften in den Bereich gefährlicher Willkür einzig durch die ästhetische Kritik der Parodie geschützt wird, nicht weiter eingehen. Was den Brief an Jacob Burckhardt betrifft, so kommen Komplott und Parodie in dem Oxymoron „anständiger Verbrecher" zum Ausdruck. Vermutlich wurde er als „neuer Begriff gerade Burckhardt angeboten, weil der ehemalige Basler Professoren-Kollege für Nietzsche aus der Distanz allmählich zum Repräsentanten eines Renaissance-Ideals geworden war, das diesem Begriff eine historische Dimension verlieh. Nicht zuletzt deshalb wurde Burckhardt in einem zwei Tage vorher verfaßten Brief auch als der „großer Lehrer" begrüßt. Mit dem „anständigen Verbrecher" beschwört Nietzsche nämlich den Künstler-Demiurgen der Renaissance und der „alten Welt, für die die Menschen nicht einfach und still genug gewesen sind", wie es oben hieß, und der in der modernen Welt, zur verbrecherischen Existenz gezwungen, wie in einer Falle sitzt.32 Denn die demiurgischen Schöpfungen verstehen sich als die Produktion von Differenzen setzenden Realien, nicht als Reproduktionen, weshalb Schaffen für Nietzsche grundsätzlich bedeutete, dem lastenden Vorhandenen Gewalt anzutun. Im Brief an Georg Brandes vom 20. November 1888 bringt Nietzsche den sogenannten „neuen Begriff genau in diese sinnfällige Beziehung zur Renaissance, wenn es von dem in Jenseits von Gut und Böse zum „Raubmenschen" apostrophierten Cesare Borgia (JGB 197, KGW VI 2) heißt: „Cesare Borgia als Papst das wäre der Sinn der Renaissance, ihr eigentliches Symbol ,.."33 Vierte Satzfolge über das plurale „Schreibthier-leben": „Was unangenehm ist und meiner Bescheidenheit zusetzt, ist, daß im Grunde jeder Name in der Geschichte ich -
An Franz Overbeck in Basel,
Torino, via Carlo Alberto 6.III,
um
den 17. Dezember 1888, KGB III
5,531. 31 2
33
An Jacob Burckhardt in Basel, Turin, 4. Januar 1889, KGB III 5, 574. Vgl. Chr. Petrinos, „Le repentir, une mise à nu", in: Repentirs, Ouvrage édité à l'occasion de l'exposition au musée du Louvre, Hall Napoléon du 12 mars 1991 au 17 juin 1991, 47. An Georg Brandes in Kopenhagen, Torino, via Carlo Alberto 6, III, 20. Nov. 1888 (KGB III 5,
483).
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„
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bin; auch mit den Kindern, die ich in die Welt gesetzt habe, steht es so, daß ich mit einigem Mißtrauen erwäge, ob nicht alle, die in das ,Reich Gottes' kommen, auch aus Gott kommen." (KGB III 5, 583) In einem kurz zuvor geschriebenen Brief an Cosima Wagner zählt Nietzsche ein paar der Namen auf, die er ist: „Ich bin unter Indern Buddha, in Griechenland Dionysos gewesen, Alexander und Caesar sind meine Inkarnatio-
insgleichen der Dichter des Shakespeare Lord Bakon. Zuletzt war ich noch Voltaire und Napoleon," um die nicht undelikaten Worte folgen zu lassen: „vielleicht auch Richard Wagner ..."34 Ohne an dieser Stelle im einzelnen auf die göttlichen und heroischen Inkarnationen und das in der Forschung vieldiskutierte Verhältnis zu Cosima Wagner, Nietzsches „Ariadne", auf die im Brief an Burckhardt ja ebenfalls Bezug genommen wird, näher einzugehen, fällt die delirierende Erweiterung des Metamorphoti-
nen,
schen auf, die Nietzsche im Burckhardt-Brief vornimmt, insofern er sagt, daß nicht nur diese Einzelnen sondern „im Grunde jeder Name in der Geschichte ich bin". Klossowski hat aus dieser Beobachtung grundlegende Rückschlüsse auf Nietzsches Lehre von der „Ewigen Wiederkehr des Gleichen" gezogen und sie als das vom Tod Gottes instituierte Bewegungsgesetz der Austauschbarkeit sämtlicher Identitäten beschrieben. Bezüglich der Frage nach dem „Schreibthier-leben" Nietzsches kommt es mir jedoch an dieser Stelle auf Klossowskis Beantwortung der Frage an, was die Instituierung dieses Gesetzes für den sprachlichen Mechanismus von Nietzsches Denken bedeutet. Denn Klossowski sieht in Nietzsches Sprache, und zwar am Augenscheinlichsten im Brief an Jacob Burckhardt, die Rückkehr zu einer sehr körperlichen Sprache angelegt, „d'une sémiotique pulsionnelle",35 die unserer modernen literarischen Erfahrung vielleicht gar nicht so fremd ist. Man sollte nun keinesfalls auf Klossowskis Simulation des wissenschaftlichen Diskurses hereinfallen, um sie für eine Art neuer psycholinguistischer Theoriebildung zu halten. Ich erinnere daran, daß Klossowski in seiner Abhandlung über Sade sich die auf Plato zurückgehende Unterscheidung eines „philosophe ,honnête homme'" und eines „philosophe ,scélérat'"36 zu eigen gemacht hat, und jeder, der schon einen Blick in Klossowskis essayistische oder fiktionale Prosa geworfen hat, wird wissen, welcher Spezies er sicher nicht zuzurechnen ist. Das Ganze weist eher Züge einer Art Arno Schmidtscher „Etym-Theorie" auf, wobei Schmidts Stilisierung des literarischen Genies zum „Gehirntier"37 für die literarische Schreib-Tätigkeit im Gleichschritt mit Nietzsche ja auch eher den Bereich des Animalischen als den des Menschlichen reklamiert und sich in der Tat, ohne dieses Thema hier weiter zu vertiefen, zwischen Triebsemiotik und Etym-Theorie einige vergleichbare Konturen aufzeigen ließen. Man könnte die Semiotik der Triebe, um auf die Terminologie Nietzsches zurückzukommen, als eine Art sprachliche „Umwertung der Werte" bezeichnen, die sich in strenger OppoAn Cosima Wagner in Bayreuth, Turin, 3. Januar 1889, KGB III 5, 573. P. Klossowski, Nietzsche et le Cercle vicieux, a.a.O., 37. P. Klossowski, Sade mon Prochain. Précédé de Le Philosophe Scélérat, Paris 1967, 17; deutsche Ausgabe: Sade mein Nächster, Aus dem Französischen von G. Ricke und R. Vouillé sowie M. Luckow, Wien 1996. A. Schmidt, Vorläufiges zu Zettels Traum, Frankfurt/M. 1977, 3; ders., „Müller oder vom Gehirntier", in: ders., Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe II, Dialoge Band 2, hg. von der A. Schmidt Stiftung Bargfeld, Redaktion W. Schlüter, Zürich 1990, 243ff. -
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sition zur Sprache des Bewußtseins befindet, denn ihrer Dezentralität ¡st das Bewußtsein nicht ein Ort der Aufklärung oder Erkenntnis, sondern umgekehrt, wie es bei Klossowski heißt, ein Ort der „chiffrage des messages transmis par les impulsions: le déchiffrement est en soi l'inversion du message, que s'attribue l'individu ..." Aus triebsemiotischer Perspektive wird der individualisierte Körper Resultat des Zufalls, Ort der Begegnung einer Gruppe von Trieben, die für jenes Intervall individuiert wurden, das ein Mensch als Instrument des Bewußtseins bildet und die ausschließlich danach verlangen, sich zu entindividualisieren. Ohne diese Individuierung, den Verknappungsprozeß einer Bewußtseinsbildung, wie Michel Foucault sagen würde, ist der Körper nur als er selbst präsent, gehört dann aber keiner Person mehr. Nietzsches semiotisches Gesetz, so Klossowski, annulliert das irreversible Einfürallemal der Individuierung und erzeugt eine neue Version des Schicksals, die den Körper nicht mehr als Eigentum des Ich betrachtet, sondern ihn als Ort der Triebe und ihres zirkulierenden Zusammentreffens anerkennt. Deren Sprache, und hiermit kommt Klossowski unmittelbar auf die obige Satzfolge des Burckhardt-Briefes zu sprechen, erkennt jeder individuierten Vorstellung (représentation) nur den Status der Reaktualisierung eines früheren Ereignisses zu, der Isolierung eines Momentes in einem Kontinuum. Jeder Gedanke wird zur Spur eines Vorhergedachten, jeder Name in der Geschichte ist, wenn auch als ein jeweils anderes Kontinuum, für das Zirkuläre der Triebsemiotik immer ich. Das semiotische Gesetz, so könnte man sagen, hat sich für Klossowski der Aufgabe verschrieben, die Geschichte von den noch immer auf unserem Bewußtsein lastenden Identitäten zu befreien, es funktioniert wie eine Art ewiger Palimpsest, und seine Form ist die der radikalen Parodie, von der Deleuze bemerkt: „Die wirklich treffende Parodie im Sinne Nietzsches oder Klossowskis will nicht die Kopie eines Vorbildes sein, sondern in ihrem parodistischen Akt sowohl das Vorbild als auch die Kopie verändern."40 Auf diesem Fundament baut Klossowski seine Theorie der ästhetischen Simulacra und Phantasma auf, die an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden kann. Es bleibt jedoch festzuhalten, daß, so sehr diese „Theorie" auch als literarisches Spiel zu verstehen ist, sie sich im Zuge der archivarischen Rückwendung ihres „mémoire pulsionnelle", das Klossowski von Nietzsche ableitet, der kritischen Aufgabe verschrieben hat, auch avant-texte zu Hilfe mit ihres sein, um aphoristischen Widerstandes gegen falsche Begriffsbildungen die aktuelle, von abgestandenen Realitätsgerechtigkeiten verkrustete und von Zukünften überschattete Gegenwart als einen Schauplatz des Möglichen freizulegen. Mit anderen Worten, die Triebsemiotik kommuniziert als delirierende Bewegung des Individuellen, als strukturelle Gegenbewegung zur verordneten Übereinkunft, immer auch mit ihren anderen sprachlichen Instanzen, um beispielsweise dem Komplott anzuzeigen, Klossowski weist auf diesen Punkt nachdrücklich hin, um möglichen Mißverständnissen vorzubeugen daß dessen experimentelles Programm, der Terrorismus oder kategori-
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P. Klossowski, Nietzsche et le Cercle vicieux, a.a.O., 52. M. Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Inauguralvorlesung am Collège de France, 2. Dezember 1970; aus dem Französischen von W. Seitter. Frankfurt/M. 1991, 20. G. Deleuze, „Diskussion", in: P. Klossowski, Nietzsche und der Circulus vitiosus deus, a.a.O., 423. P. Klossowski, Nietzsche et le Cercle vicieux, a.a.O., 362. P. Klossowski, „Circulus vitiosus", in: Nietzsche und der Circulus vitiosus deus, a.a.O., 413.
Vgl.
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sehe Imperativ, der dem Gedanken der „Ewigen Wiederkehr" insofern zugrunde liegt, als er dazu aufzufordern scheint, sämtliche mögliche Identitäten als Ganzes zu durchlaufen, nichts anderes sein kann als die Parodie eines realen Terrorismus bzw. eines kategorischen Imperativs unserer freiheitlich industriellen Massen- und Konsumgesellschaft, insofern diese uns dazu anhält, als ungeschützte Projektionsfläche des aggressiim wahrsten Sinne des ven Willens einer anonymen Totalität zu dienen und zugleich Wortes unseres eigenen Glückes Schmied sein zu müssen. Fünfte Satzfolge über die Parodie des schöpferischen Dichters: „Da ich verurtheilt bin, die nächste Ewigkeit durch schlechte Witze zu unterhalten, so habe ich hier eine Schreiberei, die eigentlich nichts zu wünschen übrig läßt, sehr hübsch und ganz und gar nicht anstrengend. Die Post ist 5 Schritt weit, da stecke ich selber die Briefe hinein, um den großen Feuilletonisten der grande monde abzugeben." (KGB III 5, 578) Wiederum fällt das Stilprinzip des Briefes auf, die großen karikaturistischen und „medizynischen" Botschaften in Nebensätzen und dem unauffälligen Ambiente des Alltagslebens zu verstecken und damit ihrer Untiefe in der modernen Welt Ausdruck zu verleihen. Auf diese Weise wird der „Narr der Ewigkeiten" eingeführt, der im letzten Akt des Werkes auch das letzte Wort hat, „lorsque le philosophe se sera abîmé", wie es Klossowski Auch diese Parodie wird in der vorherigen Turimetaphorisch zum Ausdruck ner Korrespondenz vorbereitet. Im Dezember 1888 reklamiert Nietzsche die Rolle des Narren für sich, indem er gegenüber seinem Dresdener Verleger Ferdinand Avenarius schreibt: „In diesem Jahre, wo eine ungeheure Aufgabe, die Umwerthung aller Werthe, auf mir liegt und ich, wörtlich gesagt, das Schicksal der Menschen zu tragen habe, gehört es zu meinen Beweisen der Kraft, in dem Grade Hanswurst, Satyr oder, wenn Sie es vorziehen, ,Feuilletonist' zu sein, sein zu können, wie ich es im ,Fall Wagner' bin. Daß der tiefste Geist auch der frivolste sein muß, das ist beinahe die Forgewesen 4 mel für meine Philosophie". Die Nähe des Gedankens der „Umwertung" zum „wörtlichent5 Schicksal der Menschheit" ist aus triebsemiotischer Perspektive natürlich außerordentlich aufschlußreich, insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, daß sich eine poetologische Adaption der Rolle des Narren schon in den Turiner DionysosDithyramben vollzog, genauer gesagt im 7. Dithyrambus, der diese Figur für die Dichtung auf merkwürdige und atypische Weise von außen in den Dithyrambus treten läßt. Sie erhält dadurch, wie es bei Groddeck heißt, die Gestalt einer Farce, der dionysische Hanswurst jedoch die einer poetischen Selbstreflexion.46 Und vielleicht verknüpft sich in diesem lyrischen Ereignis Nietzsche als eine Sprachfigur, „in der Karikatur und Autor der Karikatur unauftrennbar werden."47 Denn ein „göttlicher Hanswurst", wie es am 3. Januar 1889 gegenüber Cosima Wagner heißt, war „dieser Tage mit den Dionysos-
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bringt.4
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P. Klossowski, Nietzsche et le Cercle vicieux, a.a.O., 121. An Ferdinand Avenarius in Dresden, Turin, 10. Dezember
1888, KGB III 5, 516f.
Hervorhebung vom Verfasser. W. Groddeck (Hg.), Dionysos-Dithyramben, 2. Bd., a.a.O., 207. P. J. Th. M. Ciaessens, „ECCE ACTOR oder: wie man spielt was man ist. Notizen zum Bewußtsein als Erkenntnistheater", in: Friedrich Nietzsche (1844-1900), Beiträge zur Nietzsche-Forschung anläßlich des Jubiläumsjahres, hg. von S. S. Gehlhaar, Cuxhaven/Dartford 1995, 43.
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Dithyramben fertig geworden", und zwei Tage später wird diese Figur in Nietzsches entscheidendem Brief an Jacob Burckhardt parodiert. Daß mit der Figur des Hanswurst und dem Genre der Farce literaturgeschichtlicher Boden betreten wird, der auch auf die Comedia del arte verweist, sich das Ganze also auch im Zuge einer metaliterarischen Reflexion vollzieht, sei nur nebenbei vermerkt, wichtig dagegen ist, daß Nietzsches Parodie auch die letzte Konsequenz aus seiner Analyse des „anständigen Verbrechers" zieht, der für ihn im Zeitalter des gesellschaftlich empfundenen Terrorismus unzeitgemäß geworden war. Die Initiative zum parodischen Experiment muß für Nietzsche auch auf die Gefahr hin vollzogen werden, einer Tölpelhaftigkeit der Rezeption Vorschub geleistet zu haben, d.h. mißverstanden worden zu sein, oder selbst künftiges Experimentalobjekt von Psychiatern zu werden. Wenn Klossowski feststellt, daß Nietzsche letztendlich „par le biais de Yhistrionisme pur et simple" versucht, „de surnager au naufrage de son identité en tant que Nietzsche lucide"4 so wäre dieses dahingehend zu korrigieren, zumindest was den Brief an Burckhardt betrifft, daß parodische Distanz zu dieser Rolle bezogen zu werden versucht, auch wenn Nietzsches Persönlichkeit letztendlich in dem Spiel zerrieben wird. Nietzsches Opfer konnte nicht verhindern, daß die Reproduktion der Welt sich in Zukunft tatsächlich als eine Folge des Histrionismus erweisen und sich in den Gesellschaftsspalten der Gazetten ausdrücken würde. Der Stimme seiner inversiven triebsemiotischen Gesetzmäßigkeit folgend wußte Nietzsche schon in Jenseits von Gut und Böse, daß nicht „ein ,Trieb zur Erkenntniss' der Vater der Philosophie ist, sondern dass sich ein andrer Trieb, hier wie sonst, der Erkenntniss (und der Verkenntniss!) nur wie eines Werkzeugs bedient hat" (JB 6, KGW VI 2, 14), und Klossowski resümiert dieses Werk Nietzsches sehr treffend, wenn er aus ihm als zentralen Gedanken ableitet, daß „non pas la liberté [...] est la vraie loi créatrice de la nature", sondern „la contrainte intellectuelle" als „une impulsion contraignante et sélective", und zwar „en raison même de ses illusions." Darüber hinaus fallt in der hier behandelten das Wort auf: ist nicht die Schöpfung der Welt und neuer Denn „unterhalten" Satzfolge Wahrheiten heute zum Markenzeichen einer massenmedialen Unterhaltungsindustrie geworden, deren Kreationen sich nur mehr durch schlechte Witze zu erkennen geben? Daß sich Nietzsches Experiment des Histrionen als ein ausschließlich parodisches zu erkennen gibt, unterstreicht die italienisch verfaßte Wendung zum Schluß des Briefes: „siamo contenti? son dio, ho fatto questa caricatura", womit auch die kleine „Schreiberei" gemeint ist, die gleich zum Briefkasten gebracht werden soll, der Brief, der gerade niedergeschrieben wird, um mit dem Verfließen der Sprachen den Übergang der formalen Grenzen zwischen Parodie und Karikatur anzuzeigen. Letzte Satzfolge über das Schweigen: „Sie können von diesem Brief jeden Gebrauch machen, der mich in der Achtung der Basler nicht heruntersetzt." (KGB III 5, 579.) Die letzten Worte des Briefes kehren zu einem nüchtern-prosaischen Ton zurück, nachdem Nietzsche mit der berühmt-berüchtigten und gern-zitierten Phrase „Wilhelm Bismarck und alle Antisemiten abgeschafft", die Briefendung mal wieder, wie er andernorts wit,
An Cosima Wagner in Bayreuth, Turin, 3. Januar 1889, KGB III 5, 572. P. Klossowski, Nietzsche et le Cercle vicieux, a.a.O., 340. Ebenda, 359.
Endspiel eines „Schreibthier"-Lebens
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zeit, „etwas indianerhaft gerathen" war.51 Gerade die letzten nüchternen Worte aber hätten Burckhardt zu denken geben können, denn ihre Botschaft besteht auf den zweiten Blick in einer Antinomie, ähnlich Kafkas an Max Brod adressierten Zettel, den er in seinem Schreibtisch unter vielen anderen Nachlaß-Papieren aufbewahrt hatte, und auf dem er den Freund anwies, sämtliche Nachlaßmaterialien ungelesen zu verbrennen.52
Brod befand sich ja nach dem Durchstöbern der Materialien seines verstorbenen Freundes und der damit verbundenen notwendigen Lektüre des Zettels in einer von Nachlaßforschern und Editoren vieldiskutierten Zwickmühle, einer Situation, die auch Burckhardt hätte verspüren können, denn „jeder Gebrauch", den er und nach ihm alle anderen Leser von dem Brief nur hätten machen können, ohne Nietzsche in der Achtung der Basler herunterzusetzen, konnte nur ein Gebrauch sein, der ihn nicht der kommunikativen „Heerdenthiermoral" aussetzte und ihn in jener voröffentlichen Grauzone des UnGelesenen beließ, die auch Kafkas Zettel gegenüber Max Brod einforderte. Auch was diesen inoffiziellen, privaten Status der Schrift betrifft, so findet er sich nicht isoliert im Spätwerk Nietzsches und erscheint dort unter der Chiffre des Inedierten. Schon im Dezember 1888 plante Nietzsche, „Aufträge zur Herstellung einer Manuscript-Ausgabe [zu] geben | ,Der Antichrist. Umwerthung aller Werthe' |, [...] [die] vollkommen geheim" bleiben sollte, sie diene ihm als Vielleicht ist an dieser Stelle nicht nur das Agitative von Interesse, sondern auch etwas unausgesprochen Gebliebenes, etwas Verborgenes. Schon der 3. Teil des Zarathustra kennt das Schweigen als poetisches Mittel, um den „Grund und letzten Willen" zu verbergen, und was dessen vierten Teil betrifft, so wünschte Nietzsche zum Schluß gar sämtliche verteilten Manuskript-Exemplare von Freunden und Bekannten zurückzuerhalten, „um dies ineditum gegen alle Zufalle von Leben und Tod sicher zu stellen..."54 Und auch die dithyrambische Poetologie macht, wie Groddeck herausgestellt hat, die „Kunst des Schweigens" als letzten Schritt kenntlich.55 Dem französischen Dichter Catulle Mendès überreichte Nietzsche die Dithyramben schließlich als „inédita und inaudita".56 „Sollten die allerbesten Dinge unbekannt bleiben? die allerbesten Menschen eingerechnet! Gehört es zum Wesen des Vollkommenen nicht .berühmt' zu werden?"57 Die doppelte Botschaft, den Brief und mit ihm Teile seines gesamten Werkes als Inédita zu betrachten und es in diesem Sinne nur als nichtöffentliche Schrift lesbar werden zu lassen, wird durch Unterschrift mit „Friedrich Nietzsche" besiegelt. Das Normale wird in diesem Falle zum Besonderen, denn die vorhergehende Korrespondenz wurde „à bon escient", wie Klos-
„Agitations-Ausgabe."53
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5 6 7
An Elisabeth Förster in Paraguay, Sils Maria, 14. September 1888 (KGB III 5, 429). R. Reuß, „Lesen, was gestrichen wurde. Für eine historisch-kritische Kafka-Ausgabe", in: Einleitung, hg. von R. Reuß unter Mitarbeit von P. Staengle, M. Leiner und K. D. Wolff, Basel/Frankfurt, M. 1995 (F. Kafka, Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte, hg. von R. Reuß und P. Staengle), 9. An Georg Brandes in Kopenhagen (Entwurf), Turin, Anfang Dezember 1888, KGB III 5, 500. An Heinrich Köselitz in Berlin, Turin, Sonntag, 9. Dezember 1888 via Carlo Alberto 6, KGB III 5, 514. W. Groddeck (Hg.), Dionysos-Dithyramben, 2. Bd., a.a.O., 466-68. An Catulle Mendès in Paris (Entwurf), Turin, 1. Januar 1889 (KGB III 5, 570f). An Emily Fynn in Genf, Torino, Via Carlo Alberto, 6. XII. 1888 (KGB III 5, 507).
Jochen Hengst
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sowski zurecht
bemerkt,58 je nach Adressat mit verschiedenen Inkarnationen signiert, so
Beispiel vorhergehende Brief an Burckhardt vom 4. Januar mit „Dionysos", andere mit „Der Gekreuzigte", „Caesar", „Antichrist", „Der Immoralist" oder einfach „Unthier". Auch kam einer Unterschrift kurz zuvor eine Funktion im Rahmen der Poetologie zu. Die Umwandlung der „Zarathustra-Lieder" in Dionysos-Dithyramben bestätigte Nietzsche gewissermaßen, so Groddeck, durch Änderung des signierenden Doppelnamens von „Nietzsche Cäsar" in „Nietzsche Dionysos". Aber warum nun die Rückkehr zum eigenen Namen? Läßt mit der letzten luziden Handlung, nach dem Abschreiten eines vermutlich unabschließbaren Zirkels fremder Inkarnationen, das „Schreibthier-leben" zeichenhaft einen notwendigen Akt der Wiederkehr des Gleichen auftauchen, um den Namen Nietzsche in diese Serie von Verwandlungen sowohl als Parodie des Gleichen wie Apotheose des Fremden einzureihen und rückzuübertragen? Auf der vorletzten Seite des Autographen zeichnet sich in deutlich hervorgehobenen klaren Linien, wie eine verborgene Untiefe der labyrinthischen Schriftlandschaft, die rätselhafte Buchstabenfolge „A s t u" ab chiffriertes ,INRI' oder Abkürzung für das französische Wort ,astuce'? Vielleicht kann diese Parodie eines unbekannten Wortes oder mehrerer imaginärer Wörter auch als jener Fluchtpunkt bezeichnet werden, auf den Nietzsches aphoristischer Schreibprozeß spätestens seit der Niederschrift der Fröhlichen Wissenschaft sich hinzubewegt, um endlich auf „das wilde und beherrschende Sein der Wörter"61 selbst zu treffen. zum
der
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58
59 60 '
P. Klossowski, Nietzsche et le Cercle vicieux, a.a.O., 334. W. Groddeck (Hg.), Dionysos-Dithyramben, 2. Bd., a.a.O., 469. Vgl. A. Verrecchia, Zarathustras Ende, a.a.O., 236f. M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, aus dem Französischen von U. 365.
Koppen, Frankfurt/M. 1971,
Steffen Dietzsch
Nietzsche und Ariadne*
Fragt nicht: Wohin? / Wir ziehn / Wir ziehn / ward uns aufgetragen / Seit Ur-Urvätertagen. Wieder drängt Er uns, / Wieder verhängt Er uns / Seinen ewigen Fug: / Den Weiterzug / Den Weiterzug. Wir ziehn,
so
Karl Wolfskehl
Wir Modernen seien so ganz anders als die Griechen, letztlich wäre uns „das Griechische sehr fremd", sagt Nietzsche in der Morgenröthe. Der Unterschied zu ihnen, zumal im Denken, läge u. a. in der uns Heutigen ganz eigenen mentalen Unübersichtlichkeit, am Chaotischen, auch am Unentschlossenen unserer Seelenverfassung und unserer Vorstellungen. Die Griechen, da ihnen die Gefahr des Lebens immer unmittelbar gegenwärtig, „suchten im Nachdenken und Erkennen eine Art Sicherheit des Gefühls und letztes refugium" wir dagegen hätten nun auch „die Gefährlichkeit in's Nachdenken Das hat Gründe in der Art unseres Lebens und natürlich Folund Erkennen modernes für unser Denken, beispielsweise, daß es und Nietzsche selbst steht gen prominent dafür seither immer unter Verdacht gestellt ist. Nietzsche vermutet nun: „Wollten und wagten wir eine Architektur nach unserer so müsste das Labyrinth unser Vorbild sein!" Allerdings, so schränkt Seelenart Nietzsche erfahrungsbelehrt ein: ,,[W]ir sind zu feige dazu!" 2 Im folgenden möchte ich nun diese Wahrnehmung Nietzsches aufnehmen und einer Wendung von Oskar Becker folgend mit der vorsichtigen Verwegenheit des Philosophen' versuchen, dem Grund, Sinn, auch den Stärken unserer labyrinthischen Exi-
getragen"1. -
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Abschlußvortrag des Internationalen Nietzsche-Kongresses, Pfarrkirche Röcken, 27. August 2000. Fr. Nietzsche, Morgenröthe, KSA, Bd. 3, 143. Ebenda. 152.
Vgl.
O. Becker, Dasein und Dawesen,
Pfullingen 1963,
103.
Steffen Dietzsch
292
nachzuspüren. Und ihr damit womöglich durchaus Positives abgewinnen, also angesichts der erwartungsgemäß vielen Irrungen und Wirrungen keineswegs nur warnen, kritisieren oder resignieren. Damit ist noch einmal die Frage berührt: Wie weiterlestenz
ben in der ,Zeitenwende
Wertewende'?
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1. Theseus
Wir alle kennen das Vorspiel dieser Geschichte. Jene Erzählungen vom des Labyrinth Kreter-Königs Minos, der einer der Söhne des Zeus war, die der mit Euhatte. das „Land im dunkelwogenden Meere"4, wie es in der Odyssee Kreta, ropa heißt, wir erinnern uns, birgt düstere Erbschaft, rätselhafte Verhältnisse; alle dort würden lügen und wen wundert's, dort ein Labyrinth zu finden. Mit dessen Bau wurde Dädalus beauftragt. „Dädalus", berichtet Ovid in den Metamorphosen, „rühmlich bekannt durch Geschick in den bildenden Künsten, schafft das Werk. Merkmale verwirrt er und führt in die Irre / Täuschend den Blick durch die Zahl vielfältig gewundener Wege. / So wie der lautere Strom des Mäandros in phrygischen Auen treibt sein Spiel [...] so machte der Gänge / Wirrwarr Dädalus auch voller Trug, und er fand zu der Schwelle / selbst kaum wieder den Weg: so ist das Gebäude verfäng-
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lich."5
Dieses besonders verwickelte Werk
gelingt
ihm
vor
allem auch durch
Fähigkeiten
gewissermaßen ,hinter dem Rücken', durch eine invisible göttliche hand. Als Dädalus später dann Labyrinth und Auftrag entfliehen will auf dem Luftweg, als einzig verbleibendem Ausweg -, da merkt er schmerzlich, daß man einen solchen Gesellschaftsvertrag mit himmlischen Mächten nicht straflos aufkündigt, zumal als Mensch -
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nicht. Auf der Flucht büßt er das Liebste ein: Sein Geselle und Sohn Ikarus stürzt ab. Und ein Unglück kommt selten allein als würde der unselige Bau nicht allein schon genügen, er beherbergte zudem noch ein unbändiges Mischwesen, einen Minotaurus (ein Stiermensch). Der gehörte gewissermaßen zur königlichen Familie, denn er war Frucht einer Mesalliance der Frau des Minos, Pasiphae, mit einem weißen Stier. Diese unkonventionelle Neigung kam bei der Herrin allerdings nicht nur aus Eigenem. Denn: jener weiße Stier sollte eigentlich bei der Königskrönung von Minos geopfert werden. Das herrliche Tier erschien ihm aber dafür allzu wertvoll; und auf diesen Stier nun wurde die Libido der Pasiphae von den erzürnten Göttern listig ,zur Strafe' Bei der umgeleitet. Bewerkstelligung ihrer Liebesspiele half wiederum der einfallsreiche Dädalus, der eine artifizielle Kuh konstruierte, in die Pasiphae hineinschlüpfen konnte Für den Bastard nun, der aus dieser ,Liebe' entsprang, wurde das Labyrinth errichtet, um ihn dorthin wegzusperren. Zu seiner Versorgung aber machte der von den Göttern Ehemann die Athener gehörnte tributpflichtig, die ihm (im neunjährigen Turnus) junge Knaben und Mädchen für den Minotaurus bringen mußten. -
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Homer, Odyssee, 19. Gesang, Vers 172. „In Kreta mündet die orientalische Kultur in eine andere, aber nicht in die griechische, ein" (J. Ortega y Gasset, „Meditationen über Don Quijote", in: ders., Ästhetik in der Straßenbahn. Essays. Hg. v. K. Barck u. St. Dietzsch, Berlin 1987, 23). Ovid, Metamorphosen, VIII, 159-170.
293
Nietzsche und Ariadne
Bis eines Tages aus Athen mit dem Ruf eines Helden Theseus nach Kreta fuhr, um jenen Tribut aufzukündigen. Bei dieser Mission verliebte sich Theseus zunächst in eine der beiden Töchter König Minos', Ariadne. Die ahnt, wohin der Vater den Athener schicken wird, sie gibt ihm heimlich zweierlei mit: ein Wollknäuel, an dessen Faden er sich aus dem Labyrinth zurückfinden müßte, und ein geweihtes Schwert gegen den Minotaurus. Die Geschichte geht prima vista gut aus: Der Tiermensch wird getötet „Wie Kreta dampfte von dem Blut des Minotaurus!"6 -, der Rückweg aus dem Labyrinth gefunden, und Ariadne verläßt mit Theseus Kreta. Unterwegs jedoch, auf der Insel Naxos, verliert sich das junge Paar; denn Dionysos, der ein Gott ist, begehrt rechtens
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Ariadne als seine Braut, wie das höheren Orts schon beschlossen war. Für Theseus beginnt jetzt ein neues Drama: Er wird bald Ariadnes jüngere Schwester, Phädra, heiraten woraus sich, was aber hier nicht weiter erzählt werden kann, ein anderes Liebesdrama entwickelt: eine verhängnisvolle ménage à trois, die dann in die weitere Vorgeschichte des trojanischen Krieges gehört. Kann nun der so in Kampf, Befreiung, Liebestäuschung und Enttäuschung verstrickte Theseus einer sein, der wie ihn noch Karl Jaspers sehen wollte „die Wahrheit um jeden Preis sucht" ? Ein Wahrheitsstreiter? Der rechtschaffene Hellene gegen das frem-
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de, usurpatorische Kreta? Als Theseus, nachdem er den Stiermenschen getötet hatte und
er die gefangene attiderentwillen er überhaupt gekommen war, zurückführen wollte, erlebte er eine Überraschung. Die wollten das Labyrinth gar nicht verlassen. „Ich drang in sie und sagte, ich brächte ihnen die Befreiung", so erinnerte sich Theseus, da riefen die:
sche
Jugend,
um
„Die Befreiung wovon?" Nun gut Theseus ist ein glücklicher Überwinder sowohl des Labyrinths als auch des Minotaurus. Sein Selbstverständnis jedenfalls bleibt ungebrochen triumphal istisch, -
denn werden die Menschen durch ihn nicht wirklich freier, besser, glücklicher? Kurz: also wieder Athener? Ein Unbehagen angesichts dieser Lichtgestalt jedoch bleibt: Ist denn das, was er wohlgemerkt -fremdbestimmt als Ausweg findet, in Wirklichkeit nicht bloß ein Weg ins Aus? Denn Nietzsche z. B. winkt im Blick auf ihn bloß ab: „Der Held sich selbst bewundernd, absurd werdend."9 (KSA, NF, 12, 402) Und unerwartet bleibt auch das Labyrinth als Ziel-, Heil- und Auswegloses -, dem Theseus so geschickt entronnen zu sein schien, eben gerade sein Schicksal. Denn, so erzählt Friedrich Nietzsche die Geschichte weiter: „,Ariadne', sagte Dionysos, ,du bist ein Labyrinth: Theseus hat sich in dich verirrt, er hat keinen Faden mehr; was nützt es ihm nun, daß er nicht vom Minotaurus gefressen wurde? Was an ihm frißt, ist schlimmer als ein Minotaurus.' Du schmeichelst mir, antwortete Ariadne, aber ich bin mei-
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[1677], I, 1. Für die Berliner Schaubühne rev. Übersetzung von S. Werte, Berlin, Spielzeit 1987/88, Berlin 1987, 7. K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin/Leipzig 1936, J. Racine, Phädra
202. A. Gide, „Theseus". Gesammelte Werke, hg. v. P. Schnyder, Abt. X, Bd. 4, Stuttgart 1997, 291. Zu Theseus vgl. auch: D. Lauenstein, Die Mysterien von Eleusis, Stuttgart 1987, 69-77.
Steffen Dietzsch
294
Mitleidens müde, an mir sollen alle Helden zu Grunde gehen: das ist meine letzte Liebe zu Theseus: ,ich richte ihn zu Grunde'." (Ebenda) Diese kretische Lektion läßt uns neben anderem zunächst wohl darüber klar werden, daß der Umgang mit dem Labyrinth keineswegs bloß ein geistiges Vergnügen ist, so wie eine knifflige Denksportaufgabe, sondern daß es dabei immer um existentielle Entscheidungen (um Leben, Tod und Liebe) geht. Und vor allem, was schon André Gide aufgefallen ist, es muß besonders „das betont werden die Fessel am Bein, grob gesprochen. [Theseus] möchte, nachdem er den Minotaurus bezwungen hat, weitergehen. Er ist gehalten gezwungen zurückzukehren." Und also könnte es in einer vorläufigen Nachricht aus dem Labyrinth heißen: Aus diesen Konstellationen uns zu lösen übersteigt erstens die Kraft unseres auf sich selbst verwiesenen Menschenverstandes allein (egal wie viel analytische Kompetenz in ihm sei). Des Weiteren erfahren wir zweitens etwas über die „Auto-idolâtrie" (KSA, NF, 13, 80), wie Nietzsche sagt, solcher leitfadengestützten Wahrheitsapostel (wie Theseus). Daß die nämlich, da sie gern die Umstände vergessen, die sie ein Licht der Wahrheit oder der Liebe ,am Ende des Tunnels' erkennen lassen (oder zu erkennen glauben), letztlich doch bloß unfreiwillige Parodien auf jedes wirkliche Selbstdenken abliefern. Wir alle kennen solche Wahrheits- und Auswegsucher, die quer durch die Zeiten immer mit irgendeinem ,Kurzen Lehrgang' an der Hand durchs Labyrinth der Geschichte ir-
nes
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ren
...
Und schließlich, daß drittens diese Art von Wahrheitssuche mit Gewalt verbunden ist: Denn es wird, hoch motiviert und mit felsenfester Überzeugung, das Richtige zu finden und zu tun, Blut vergossen das des Stiermenschen, der als Lfomensch erscheint. Das Fazit hier: „Theseus wird absurd, sagt Ariadne, Theseus wird tugendhaft." (KSA, NF, -
12,402) Die Tugend aber, und
so ist es von Nietzsche überliefert, „die Tugend in Sonderheit hat Gebärden am Leibe, daß man dyspeptisch [also verstopft St. D.] sein muß, um [...] seine Würde aufrecht zu erhalten." (KSA, NF, 13, 417) Die Entzauberung des Labyrinths, so wie sie von unserem Helden Theseus vollzogen wird, hängt also eigentlich an einem sprichwörtlich dünnen Faden. -
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2. ,Die Herrin des Labyrinths.' An jenen ,Faden der Ariadne' sollten sich also von vornherein nicht zu viele Hoffnungen knüpfen. Nun gut, er hat einmal, einmal gute Dienste geleistet. Das Wollknäuel, das wir seither idealtypisch mit dem Namen der Ariadne verknüpfen, war übrigens auch gar nicht das ihre. Es gehörte vielmehr zum Werkzeugbestand des Dädalus, der gab es in einem schnellen Einfall den hilfesuchenden Liebenden. Die Baumeister des Labyrinths brauchten den Faden, um schließlich zum Feierabend wieder zurückzufinden, nach Hause zu kommen. Der Faden der Ariadne kann gewissermaßen als ein Sinnbild für, um einen Begriff aus der neueren Philosophie zu benutzen, analytisches' Denken verstanden werden. Er bringt uns nirgendwo anders hin als immer wieder dorthin zurück, wo wir schon waren. -
10
A.
Gide, „Tagebuch 1903-1922". Gesammelte Werke, Abt. II, Bd. 2, Stuttgart 1990, 271.
Nietzsche und Ariadne
295
„Dieser Faden", so wird Theseus bei André Gide beruhigt, „verknüpft dich mit der Ver-
Kehre zu dir zurück!" Ariadnes Faden hilft also gar nicht etwa ,durch' das Labyrinth .hindurch', gesetzt den Fall, es gäbe überhaupt ein ,hindurch'. Wenn jener Faden ein Signum für den Logos wäre, na dann um so schlimmer für den dann sehr eindimensionalen Logos! Das Ariadne-Problem faßt sich für Nietzsche zusammen in der verzweifelt-ahnungsvollen Vermutung aus Ecce homo: „Wer weiß außer mir, was Ariadne ist!" 11 Und wohlgemerkt: es wäre hierbei gleich anfangs davor zu warnen, sich den Fragehorizont Nietzsches von vornherein privatbiographisch zu verstellen, kurz: „Nietzsches Ausruf ,Was ist Ariadne!' umzudeuten in die Frage ,Wer war Ariadne?' und darauf zu antworten ,Cosima' ist ein geschmackloser Scherz." Für Nietzsche ist Ariadne interessant nicht so sehr wegen jenes Fadens, sondern weil sie labyrinthisch kompetent ¡st und weil sie selbst ein Labyrinth ist, in dem man sich verlieren kann wie eben Theseus, „den Ariadne in Haft hielt"14, wie André Gide diesen labyrinthischen Bann der Kreterin wahrnimmt. Ariadne bleibt die ,Herrin des Labyrinths' (Karl Kerényi). Ariadne fasziniert Nietzsche gerade durch die „Lockung des Labyrinths, der Anziehung des Unbekannten, der Verführung d(s)eines Mutes."15 Nachdem beide, Ariadne und Dädalus, dem heimatlichen Labyrinth entronnen sind, wird aus dem sizilianischen Exil des Baumeisters (das im Übrigen mit seinem gewaltsamen Tod enden wird) von einer aufschlußreichen letzten Begegnung berichtet, bei der Ariadnes labyrinthische Konfession deutlich wird: „Ertragen muß man können, glaube ich, vielleicht versuchen, dem Zauber zu entrinnen, der sich im Labyrinth unendlich mir erfüllen sollt'. Wie war das süß, sich schwingend, wiegend, singend, ganz ergeben in dieser Welt, in unserm Labyrinth zu leben!"1 Hier erinnert sich Ariadne also noch einer anderen Funktion des Labyrinths: als Ort des Tanzes. Der hier zelebrierte kultische Tanz aber, so wissen wir seit Walter F. Otto, ist ein Symbol der „Rechtfertigung des Seins der Welt, von allen Theodizeen die allein unwiderlegliche und ewige. Er [der Tanz] lehrt nicht, er diskutiert nicht er schreitet nur, und mit diesem Schreiten bringt er ans Licht, was im Grunde aller Dinge ist: nicht Wille und Macht, nicht Angst und Sorge, und was man alles der Existenz aufbürden will, sondern am unmittelbarsten aber die Wahrheit des Lebendi-
gangenheit. Kehre zu ihr zurück!
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...
gen."17
In den
Bewegungen des Tanzes erst entwickeln wir eidetisch eine verschlungene, ,labyrinthisch' zu beschreibende Gestaltform. Der Tanz ist so ein ,Bau-
dann bald als
1' 12
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14 15 16
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A. Gide, „Theseus", a.a.O., 284. Fr. Nietzsche, Ecce homo, hg. v. R. Richter, Leipzig 1908, 101. K. Hildebrandt, „Über Deutung und Einordnung von Nietzsches ,System'", in: Kant-Studien, 41 (1936), H. 3/4, 250. Im gleichen Sinn auch J. Salaquarda, „Noch einmal Ariadne: Die Rolle Cosima Wagners in Nietzsches literarischem Rollenspiel", in: Nietzsche-Studien, 25 (1996), lOlf. A. Gide, „Theseus", a.a.O., 292. Ebenda, 284. H. Günther-Gournia, Ariadne, Darmstadt 1976, 20. W. F. Otto, Mythos und Welt, Stuttgart 1963, 217.
Steffen Dietzsch
296
im Werden oder, wenn man so will, die Erzeugungs-,Logik' des Labyrinths. Es wird also zuvor gewissermaßen erst ertanzt. Ganz ähnlich hat auch Nietzsche die Nähe von Labyrinth und Musik gesehen, als er schrieb: „In der Musik nämlich lassen sich die Menschen gehen" (KSA, M, 3, 152). Und er glaubt daran, wie er in einer späten Nachlaßsentenz schreibt, „daß eine Musik kommen wird eine dionysische Musik." (KSA, NF, 13, 227) Diese Musik, sollte sie Zukunftsmusik werden, wird von allem Zweckhaftigen zu befreien sein, in ihr wird wieder die Lust am Spielerischen lebendig werden. „Die Musik der Zukunft wird eine Kunst für Künstler sein, wie sie schon Nietzsche ersehnte: ,eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche Kunst, welche wie eine reine Flamme in einen unbewölkten Himmel hineinlodert!'"1 Eine solche Musik kann niemals bloß zum Vorwand und zur Triebfeder für unsere Empfindungen etwa werden, sondern umgekehrt: „Anstatt auf den Widerhall zu achten, den diese Musik in unseren Gefühlen hervorruft, schenken wir unser Gehör und unsere ganze beharrliche Aufmerksamkeit den Klängen selbst, dem bezaubernden Vorgang, der da gerade im Orchester wirklich stattfindet [...] Diese Musik", und darauf machte einmal der große spanische Nietzscheaner Ortega y Gasset sehr nachhaltlich aufmerksam, „ist etwas, was nicht zu unserem Innern gehört: Sie ist ein entferntes Objekt, dessen Ort sich völlig klar außerhalb unseres Ichs ermitteln lässt und vor dem wir uns als reine Betrachter fühlen."19 Diese Musik „bezieht ihre Inspiration jedoch aus einer geistigen Haltung, die der der Menge radikal Die dionysisch genannte Musik als der dem Labyrinth angemessene, weil räum- und horizonterweiternde Klang, als „Wiedergeburt der Tanzformen lässt eine anmutige, vornehme, geistreiche und feine Musik erhoffen" , die zur kommunikativen Verkehrsform des labyrinthischen Menschen avancieren kann. Dessen Musik stellt sich ihm dar als klingendes und schwingendes, gewissermaßen tongewordenes ,Perspektiv', das ihm dann auch den Gesichtssinn schärft. Hier, in Musik und Tanz, „bringt der Mensch nicht etwas hervor durch stoffliche Gestaltung, sondern er ist selber die Antwort, die Gestalt, die Wahrheit."22 Im Tanz-Symbol erfaßt Nietzsche die Idee des Lebens als Leichtigkeit gegen die Gebundenheit des Seins, und so versinnbildlicht es alle Kraft zur „Überwindung des grossen Feindes aller Menschenwürde des Geistes der Schwere."22 Ganz so, wie es im Zarathustra dann heißt: „Wer einst fliegen lernen will, der muß erst stehn und gehn und laufen und tanzen lernen."(KSA, ZA, 4, 244)24 Und dementsprechend, bei dieser Präferenz praktisch-geistiger Vermögen des Menschen für seine integrierte
plan'
...
widerspricht."20
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21 22 23 24
W. Dahms, Die Offenbarung der Musik. Eine Apotheose Friedrich Nietzsches, München 1922, 256. J. Ortega y Gasset, „Musicalia", in: ders., Ästhetik in der Straßenbahn, a.a.O., 126. J. Ortega y Gasset, ebenda, 115. Die Differenz, sagt Ortega, ist in etwa die zwischen Beethovens Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande und Debussys L'Après-midi d'un
faune (vgl 116/117). W. Dahms, Die Offenbarung der Musik, a.a.O., 258. W. F. Otto, Mythos und Welt, a.a.O., 217. C. Roos, Nietzsche und das Labyrinth, Kopenhagen 1940, 35. Und also singt Zarathustra ein „Tanz- und Spottlied auf den Geist der Schwere, meinen allerhöchsten grossmächtigsten Teufel, von dem sie sagen, dass er ,der Herr der Welt' sei" (ebenda, 140).
297
Nietzsche und Ariadne
Selbsterzeugung als Lebendiger, als Werdender, ist für Nietzsche Dionysos unentbehrlich, denn: „Die Kunst des Dionysos ist die Musik; denn die Musik fängt an, wo die gestaltende Vernunft, d. h. das Wort aufhört." Nietzsche sieht im Labyrinth ein treffliches Metonym für den dynamisch unendlichen, aber nicht unbegrenzten Bau der Welt und den Menschen in ihm. „Der Labyrinthos", so Karl Kerényi, „durch Mäander und Spirale angedeutet, war ein Ort der Umgänge, doch kein Ort der Ausweglosigkeit, selbst wenn er ein Ort des Todes war." Auf einen erkennenden Umgang mit ihm wird es nicht mehr so sehr ankommen, vermutet Nietzsche mit einigem Recht. Man wird seiner hintergründigen Wirklichkeit, seinem ,Bauplan', ohnehin nicht auf die Spur kommen, auch nicht auf dem philosophischen Königsweg more geométrico. Das aber bedeutet nun keineswegs etwa eine Verabschiedung des Rationalen. Denn gerade „Denken heißt", wie es einmal metaphorisch trefflich gesagt wurde, „ins Labyrinth eintreten, einen Irrgarten entstehen lassen [...] sich in den Gängen verlieren, die es nur deshalb gibt, weil wir sie unablässig gra-
ben."27
Vielmehr also wäre jetzt gefragt, anstelle eines universal-methodologischen, geometrischen Blickes von ,oben', einen perspektivischen, für Überraschungen offenen Blick im ,Innern' einzuüben. Es sollte fortan gar nicht mehr darum gehen, etwa ein ,An-sich' der Wirklichkeit des Labyrinths zu erkunden, sondern mit seinen immer wechselnden Erscheinungen des immer Gleichen zurechtzukommen. Der labyrinthische Mensch wird daran interessiert sein müssen, sein vielleicht ursprünglich enggeführtes Erkenntnisinteresse an einem bloßen Überblick und dann schnellem ,Durchkommen' durch das Labyrinth aufzubrechen. So käme er auch bald dazu, das Begehren des ,kurzen Weges' nach ,draußen' als unangemessen abzulegen und überhaupt die Dichotomie von ^rinnen' versus ,draußen' zu überwinden; auch würde dabei ein Begriff wie ,Mittelpunkt' ganz neu, nämlich sozusagen operationalistisch bestimmt werden können. Als Theseus einmal den Meister Dädalus besuchte, traf er dort auf dessen unglücklichen Sohn Ikarus. An ihm wurde das Dilemma, das mit dem Begreifen des Labyrinths verbunden ist, verzweifelt deutlich: „Ach, wie satt habe ich das Vernünfteln, das Ableiten. [...] Ich habe alle Straßen der Logik durchlaufen. Ich bin es überdrüssig, auf der horizontalen Ebene umherzuirren. Ich krieche und möchte mich aufschwingen; möchte meinen Schatten, das Gewicht der Vergangenheit abwerfen! ,Das arme, liebe Kind', sagte Dädalus. ,Er glaubte, dem Labyrinth nicht mehr entkommen zu können, und begriff nicht, daß das Labyrinth in ihm war'."28 Nietzsche nun will also den zunächst eigentlich verständlichen Denkansatz, nämlich das Labyrinth als Labyrinth erkennen zu wollen, sich von ihm eine wahre, d.i. vollständige Idee zu bilden, es also überschauen, es begreifen zu wollen, ganz überwinden. ...
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26 17 8
C. Roos, Nietzsche und das Labyrinth, a.a.O., 106. K. Kerényi, Dionysos. Urbild des unzerstörbaren Lebens, Stuttgart 1994, 71. C. Castoriadis, Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft, Frankfurt/M. 1981, 7. A. Gide, „Theseus", a.a.O., 286. Also, wie einmal Friedrich Dürrenmatt gesagt hat: „Ich glaube, daß der Versuch, sich über das Labyrinth einen Plan zu machen, scheitern muß" (Die Welt als Labyrinth. Die Unsicherheit unserer Wirklichkeit. Franz Kreuzer im Gespräch mit Friedrich Dürrenmatt und Paul Watzlawick, Wien 1982, 36).
Steffen Dietzsch
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schlug sich hierbei früh schon, seit der Geburt der Tragödie, auf die Seite der dionysischen Weisheit gegen das Pathos der Wahrheit. In diesem Konflikt, so Nietzsche, „erkennen wir in Sokrates den Gegner des Dionysos." (KSA, GT, 1, 88) Wäre es denn beispielsweise auch nur vorstellbar, bloß kognitiv mit Labyrinthen umzugehen, beispielsweise mit solchen, die wir exemplarisch bei Jorge Luis Borges finden können? Bei ihm erfahren wir von sich ausdehnenden Labyrinthen, von Labyrinth-Kaskaden. Und es sind ja wohl gerade solche Konstellationen, die die Referenzgebilde für den Begriff Labyrinth recht eigentlich ausmachen. Eindrucksvoll lakonisch hat Borges einmal die Unverfügbarkeit des Labyrinths, zumal für den
Nietzsche
Verstand eines Menschen, versinnbildlicht: „Das Netz aus Stein zu lösen, das mich hält, / Zeus könnt' es nicht."30 Zum Labyrinth gehört, wie Nietzsche einmal an Freund Overbeck anläßlich seiner Vertonung von Lou Andreas-Salomés ,Hymnus an das Leben' schrieb, insgesamt ein Man soll Jasagendes Pathos par excellence, von mir das tragische Pathos bereit sein auch zu etwas, was kleine Geister ,sich verirren' nennen würden. Kurzum: Alle Erkenntnis-Obsessionen sollten im Labyrinth schnell verschwinden. Es ist eine ,mentale Drehung' angeraten, die auf ein Leben mit und in Labyrinthen insistiert. Nietzsches Intention wird dabei mustergültig schon in jenem Barock-Diktum zusammengefaßt, in dem es heißt:
genannt."3
„Wie irrt ihr Sterblichen, die ihr den Irrbau seht Für einen
Irrgang an, der euch soll nur verführen."32
Man mag im
Labyrinth vorderhand ratlos sein, doch wenn es im Labyrinth schon um Rätsel geht, dann um das Rätsel des Lebens und Überlebens, um Selbsterhaltung und die ist neben der Freiheit immerhin eines der beiden Grundpostulate neuzeitlicher Phi-
losophie überhaupt. Für unsere Gegenwart
hat jüngst Jacques Attali auf eine dem Leben mit dem Labyrinth innewohnende „Ökonomie des Vergnügens, der Freiheit und des Humors" aufmerksam gemacht, denn „am Ausgang eines jeden Labyrinths wird der Mensch immer nur auf weitere Labyrinthe stoßen. Auf Labyrinthe aus Labyrinthen. Manche werden glauben, dort Gott zu finden; andere die Wahrheit, andere eine ironische Skepsis oder eine panische Verzweiflung. Und schließlich wieder andere ganz einfach einen rätselhaften und Ungewissen Weg zur Weisheit."33 Die selbstbewußt-entschiedene Aufnahme der Wanderung durchs Labyrinth, die Annahme des Labyrinths, folgt also weniger einem Erkenntnis- als einem Lebensmotiv, das, um noch mal jene Barockwendung aufzugreifen, so bestimmt werden kann:
Vgl. auch: D. Lauenstein, Die Mysterien von Eleusis, a.a.O., 77-86. J. L. Borges, „Das Labyrinth", in: ders., Gedichte, hg. v. R. Schrott, S. Völlger u. M. Krüger, München 1999,35. Fr. Nietzsche, Ecce homo, hg. v. R. Richter, a.a.O., 88. D. C. von Lohenstein, „Aufschrift eines Labyrinths". In: G. R. Hocke, Manierismus in der Literatur, Reinbek 1959, Textanhang, 295. Zu Nietzsches Schätzung des Barock: KSA, Bd. 2, 437f. J. Attali, Wege durchs Labyrinth, Hamburg 1999, 185. -
299
Nietzsche und Ariadne „Wer aber durch den Bau vernünftig irre geht, wird seines Heiles
wären also schließlich
Weg,
auch,
der Wahrheit Richtschnur
finden."34
das Bild nicht überstrapaziert, so Hier lernen wir unsere ,Umwegigkeit' ,Laboratorien Subjektivität'. wir bemerken schnell die Hybris des Individuellen, wir ganz (Umtriebigkeit) kennen; werden konfrontiert mit Täuschungen, Hieroglyphen, Symbolen, Absurditäten, Mythen, Masken, mit Begriffslosem und Unbegreiflichem, mit Kalkulierbarem und mit Fehlläufen. Also: wir sollten dergleichen zu entziffern lernen, sollten es für uns les- und lebbar machen. Denn schließlich, so Nietzsche: „Das Leben ist Schein als Ziel." (KSA, NF, 7, 199) Das aber führt uns auf,jenes Abgründige in Nietzsche, das er ,Dionysos' nennt"35.
Labyrinthe etwas wie
wenn man
von
3. ,Dionysos philosophos' „Ich war der Erste", sagt Nietzsche in einer Vorarbeit zu Ecce homo, „der zum Verständniß des älteren Hellenen jenes wundervolle Phänomen, das auf den Namen Dionysos getauft ist, wieder ernst nahm. Mein verehrungswürdiger Freund Jakob Burckhardt in Basel verstand durchaus, dass damit Etwas Wesentliches gethan sei: er fügte seiner Cultur der Griechen einen eignen Abschnitt über das Problem bei." (KSA, NF, 13,626f.) Von allem Anfang an sucht Nietzsche das Phänomen Dionysos zu begreifen. Und wir können ihn dabei bei einem Prozeß der Selbstidentifikation beobachten. Es ist bei Nietzsche hierbei nicht ein vielleicht bloß philologisch-gelehrtes „Verstehen dieses Mythos beabsichtigt oder bewirkt; sondern es handelt sich", wie Jaspers einmal richtig bemerkte, „um die bewusste Wahl eines Symbols, dass ihm für sein eigenes Philosophieren brauchbar scheint."36 In der Epiphanie, in der Nietzsche das Dionysische uns zuerst enigmatisch präsentiert, „erscheint vor dem Thore dieses höllischen Labyrinthes ein grosses Segelschiff, schweigsam wie ein Gespenst dahergleitend. Oh diese gespenstische Schönheit! Mit welchem Zauber fasst sie mich an! Wie? Sitzt mein Glück selber an diesem stillen Platze, mein glücklicheres Ich, mein zweites verewigtes Selbst? Nicht todt sein und doch auch nicht mehr lebend? Als ein geisterhaftes, stilles, schauendes, gleitendes, schwebendes Mittelwesen? Dem Schiffe gleichend, welches mit seinen weissen Segeln über das dunkle Meer hinläuft! Ja! Ueber das Dasein hinlaufen! Das ist es! Das wäre es!" (KSA, FW, 3, Nietzsche versteht sich wie in diesem Bild als der „letzte Jünger und Eingeweihte des Gottes Dionysos", der ein „Zweideutiger" ist, ein „Versucher-Gott, dem ich", bekennt Nietzsche, „einstmals, wie ihr wisst, in aller Heimlichkeit und Ehrfurcht meine Erstlinge dargebracht habe". (KSA, JGB, 5, 238) -
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424)37 -
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D. C. von Lohenstein, a.a.O., 285. K. Kerényi, Bachofen und die Zukunft des Humanismus. Mit einem Intermezzo über Nietzsche und Ariadne, Zürich 1945,28. K. Jaspers, Nietzsche, a.a.O., 330. „Es ¡st seine Schiffsepiphanie heute schon von einem wundervollen griechischen Vasenbild, das für Nietzsche kaum noch existierte, allgemein bekannt." (K. Kerényi, Bachofen, a.a.O., 31); vgl. auch A. v. Salis, Theseus und Ariadne, Berlin/Leipzig 1930, 14f.
Steffen Dietzsch
300
Dionysos wie Nietzsche mag die Menschen auf besondere Weise! So zitiert ihn Nietzsche einmal mit der Äußerung: „Der Mensch [und hier hat er natürlich zuerst Ariadne vor Augen! St. D.] ist mir ein angenehmes, tapferes, erfinderisches Tier, das auf Erden nicht seinesgleichen hat, es findet sich in allen Labyrinthen noch zurecht. Ich bin ihm gut: ich denke oft darüber nach, wie ich ihn noch vorwärts bringe und ihn stärker, böser und tiefer mache als er ist." (Ebenda, 239) Darin gerade sieht auch Nietzsche seine strikteste Bestimmung, denn das dionysische Mysterium das ist der Wille zum Leben. Zu der dionysischen Eigenheit alles Lebendigen in Geist und Geschmack gehört nun aber, wie Nietzsche durchaus auch in einem mentalen Selbstporträt erkennt, „eine Sympathie für das Schreckliche und Fragwürdige, weil man unter anderem schrecklich und fragwürdig ist." (KSA, NF, 13, 90) Im mythologischen Bild des Dionysos entwirft Nietzsche namentlich im Zarathustra sowohl ein Gleichnis des labyrinthisch verstrickten Menschen, aber immer wieder auch sich selbst. Im Dionysischen erlebt der Mensch eine Kraft der Rückverbrüderung, die ihn als Einzelnen zurückbringt in eine Allgemeinheit des Menschlichen. ,„Ich' bin ,Ich und meine Umstände'", so ist einmal von Ortega y Gasset jener Begriff des labyrinthischen Menschen bestimmt worden. Rückblickend aus des Sicht des Ecce homo konstatiert Nietzsche diesbezüglich einmal ein urbildliches Menschen-Problem. Er beklagt da nämlich, hinweisend auf Zarathustras Sonnen-Gesang, des Menschen Furcht und Einsamkeit: „Dergleichen ist nie gedichtet, nie gefühlt, nie gelitten worden: so leidet ein Gott, ein Dionysos. Die Antwort auf einen solchen Dithyrambus der Sonnen-Vereinsamung im Lichte wäre Ariadne Von allen solchen Räthseln hatte Niemand bisher die Lösung, ich zweifle, daß je Jemand auch hier nur Räthsel sah." Was aber ist dieses Rätsel? Es überhaupt zu erkennen haben nur diejenigen überhaupt eine Chance, die nicht „mit feiger Hand einem Faden nachtasten" wollen, wie es im Zarathustra heißt. (KSA, ZA, 4, 197) Diese Verbundenheit mit Dionysos ist für Nietzsche das nahezu Königsberger schismatische Zeichen, an dem sich die Menschen untereinander erkennen könnten, denn die „Dionysos-Lehre enthält als ihr Kernstück die Behauptung, dass die stolzeste Gesinnung den leitenden Faden verwirft."39 Es ist dies eben das Ja zur labyrinthischen Situiertheit des Menschen, der fast immer umsonst sein eigenes, unerreichbares Gegenüber ruft und an dem gleichwohl als Unbestimmtes die Sehnsucht nach Ariadne frißt... In einer Vorarbeit zu Ecce homo heißt es: ,,[E]s geht überall gefahrlich zu, man ist nicht umsonst mit der schönen Ariadne befreundet, für das Labyrinth besteht eine eige...
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...
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ne
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Neugierde." (KSA, NF, 14, 484) „Der Sinn ist jedenfalls der", so könnte
man diesen Abschnitt mit den Worten von Freund Köselitz resümieren: ,,[A]ls Nietzsche nur Held (Theseus) war, ging er von Ariadne (Wagner) fort; da er Überheld Gott (Dionysos) wurde, naht er sich ihr wieder ohne Gegnerschaft, ohne Mitleid, aber warnend: an mir wirst du zugrunde gehen, ich
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Ders., Ecce homo, hg. v. R. Richter, a.a.O., 101. C. Roos, Nietzsche und das Labyrinth, a.a.O., 131. Also: Die freien Geister „verachten den .Strick', den die ,Tugendhaften' ihnen aufzwingen möchten, um sie zu ihrer eigenen Tugend hinüberzuretten"
(ebenda, 132).
Nietzsche und Ariadne
301
Labyrinth!" Das bezieht sich auch auf eine andere Notiz Nietzsches: „Ariadträumend: ,vom Helden verlassen träume ich den Über-Helden'." (KSA, NF, 10,
bin dein ne
433)
In der zuvor zitierten Schlußsentenz ,Ich bin dein Labyrinth' aus der Klage der Ariadne bemerkt der vertraute Freund Köselitz, wie Nietzsche die mythologische Vorlage ganz nach Eigenem interpretiert, sie sogar umkehrt. Ariadne, die Herrin des Labyrinths, erfahrt in Dionysos nun selbst das Labyrinth. Das aber bedeutet auch: In der Beziehung beider ist wieder Reziprozität eingezogen. Es ist dies Nietzsches letztes Wort, „da Dionysos und Ariadne als das goldene Gleichgewicht der Dinge aus seiner Seele symbolhaft Denn: In Ariadne „trifft Dionysos zuletzt auf sich selbst."42 Beide sind in einer vollkommenen Selbstverstrickung miteinander verwoben. Gerade so, wie Menschen es genau dann sind, wenn sie das Dionysische als Bestimmung annehmen in den Fährnissen des Lebens. Was aber heißt das? Nichts weniger als die gewissermaßen ,Handlungslogik' des Labyrinths aufnehmen und bereit sein, in dionysischer Aktivität alles ,So ist es' „umzuschaffen in ein ,So wollte ich es!'"43, als „die Tortur des Schaffenmüssens, als dionysischer Trieb." (KSA, NF, 10, 457) Dionysos-Nietzsche macht uns dabei zuletzt mit dem tiefsten Geheimnis des Labyrinths bekannt. Das ist seine Konstellation der ,ewigen Wiederkehr'. Das Wort Nietzsches dafür: „Das Verlangen nach Zerstörung, Wechsel, Werden kann der Ausdruck der übervollen, zukunftsschwangeren Kraft sein (mein Terminus ist dafür, wie man weiß, das Wort ,dionysisch')!" (KSA, FW, 3, 621) Dieser dionysische Impetus ist also ein Ewig-sich-selbst-Schaffen und ein Ewig-sich-selbst-Zerstören. „ein Nordwind bin ich reifen Feigen." (KSA, NF, 10, 457) Nietzsche-Dionysos findet dementsprechend seine tiefste Bestimmung als Künstler, im Dichten, im Musizieren. Dort also, wo seine „dionysische Mitgift" am stärksten wirkt. Dort, wie exemplarisch gerade im Dithyrambus, wo „sprachgewaltiges Ausbrechen, Strömen" Umgang mit Grausamem, Eruptivem, mit Zugrundegehen, Elementarischem etc. formbestimmt, formvollendet möglich wird. Nietzsche sieht dafür eben exemplarisch die Kunst an als die Verkehrsform der „Bejahung des Vergehens und Vernichtens", als „das Entscheidende in einer dionysischen Philosophie, das Jasagen zu Gegensatz und Krieg, das Werden mit radikaler Ablehnung auch selbst des Begriffs -
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emportauchen."41
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Heinrich Köselitz an Franz Overbeck, v. 29. Mai 1890, in: F. Overbeck/H. Köselitz, Briefwechsel, v. D. M. Hoffmann, Berlin/N. Y. 1998, 308. Jörg Salaquarda kommentiert dies dann so: „Der Held soll zum Über-Helden werden, damit in ihm nicht nur die .Erhabenheit' des Menschen, sondern auch die Schönheit' des Übermenschen sichtbare Gestalt gewinne" (J. Salaquarda, Noch einmal Ariadne, a.a.O., 113). E. F. Podach, Nietzsches Zusammenbruch, Heidelberg 1930, 57. B. Allemann, „Nietzsche und die Dichtung", in: Nietzsche. Werk und Wirkungen, hg. v. H. Steffen, Göttingen 1974, 61. Fr. Nietzsche, Ecce homo, a.a.O., 101. Ebd., 60. K. Reinhardt, „Nietzsches Klage der Ariadne", in: Die Antike, Bd. XI (1935), H. 1 (April), 103. Fr. Nietzsche, Ecce homo, a.a.O., 67.
hg.
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42
43 44
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Steffen Dietzsch
302
Hat man Nietzsches letztes Bekenntnis dazu ist jener Schlußsatz des Ecce homo: mich verstanden? Dionysos gegen den Gekreuzigten ..." Das ist zunächst unmißverständlich! Nietzsche votiert wohl für den griechischen Gott, weil ihm der mit seiner Wandlungsfähigkeit, seinen Masken, seinem Widerspruch, seiner Kultur der Distanz und nicht zuletzt wegen seines gnadenlosen Schicksals, namentlich so wie er von seinesgleichen grausam zu Tode gebracht wird, archetypisch für das einsteht, was er den höheren' Menschen nennt. Dionysos ist also auf andere Weise, diesseitiger als die Botschaft von Golgatha, uns als ein Symbol unseres Menschseins gegenwärtig, nämlich, um es mit Walter F. Otto auszudrücken, als „des in Eins verschlungenen Lebens und Sterbens (es) verfolgen ihn Not und Leiden; die Siege werden zu Niederlagen, und von strahlender Höhe stürzt ein Gott in die Schrecken des Aber dann, in seinen letzten klaren Augenblicken, sieht es Nietzsche plötzlich: In dem, was er an Dionysos schätzt, ist der Nazarener doch gar kein Antipode, sondern eher ein Bruder im Geiste als Gekreuzigter, nicht als Christus. Und so unterzeichnet Nietzsche dann seine letzten Ariadne-Briefe mit Dionysos oder der Gekreuzigtel Beide Götter beginnen ein zweites Leben nach dem Tode. Auf Dionysos bezogen heißt das: „Die Größe der Idee des Dionysos lebt fort in der Tragödie", sie ist „im Kult des Dionysos zu ihrer weltgeschichtlichen Gestalt So erleben wir bei dieser Identifikationsgeschichte Nietzsches zugleich seine Geburt als Künstler aus dem Geist des Dionysos. Denn er Dionysos „ist das mythologische Symbol des Doppel-Ichs, des Labyrinths, des Chaos."50 „
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Untergangs."48
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herangewachsen."49
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4. Was bleibt von Ariadne? ,Ariadne', das ¡st die ,überaus Bedeutung ihres Namens. Man hat sie „eine menschliche
Reine',
so
Aphrodite"51
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„scheint
die wörtliche genannt. Sie
zu jenen Gestalten uralten, vorhellenischen Götterglaubens zu gehören, die, nach der auf Kreta herrschenden Überlieferung, von dort ausgezogen sind, um dem Das kann natürlich nie Menschengeschlecht in der Runde ihre Segnungen zu konfliktfrei bzw. eindimensional geschehen. Kein Wunder also, daß in den verschiedensten Lesarten dieses Mythos der schnelle Wechsel bzw. fließende Übergang von Gabe und Täuschung, von „höchster Wonne und herzzerreißendem Weh"53 als augenfällig dominant beschrieben ist. Ariadne selbst ist also konstitutiv ein dionysisches Wesen. Wie alle Frauen um Dionysos war auch sie eine der Mänaden, bei denen sich Zornesund Liebeswut paaren. Wie es beispielsweise am Schluß der Klage der Ariadne heißt:
bringen."5
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9 0 1
2 3
Ebenda, 126. W. F. Otto, Dionysos. Mythos und Kultus, Frankfurt/M. 1996, 182. Ebenda, 189. C. Roos, Nietzsche und das Labyrinth, a.a.O., 139. W. F. Otto, Dionysos. Mythos und Kultus, a.a.O., 167. A. v. Salis, Theseus und Ariadne, a.a.O., 40f. W. F. Otto, Dionysos. Mythos und Kultus, a.a.O., 170.
303
Nietzsche und Ariadne „Oh komm zurück, mein unbekannter Gott! mein Schmerz\ mein letztes Glück! ..." (KSA, DD, 6, 401)
eines sich über zwei Jahrzehnte hinziehenden Ariadne-Y^omn\ex.es bei Nietzsche steht im Konzept seines Empedokles-Dramas von Anfang der Siebziger die Frage: „Flieht Dionysos vor Ariadne?" In der Dramaturgie der Beziehungen beider wäre dies eine wohldefinierte Ausgangssituation. Denn, so die rhetorische Frage des Dionysos in der Klage der Ariadne: „Muss man sich nicht erst hassen, wenn man sich lieben soll? ..." (Ebenda) Beide gehören zusammen: ,„Oh Ariadne, du selbst bist das Labyrinth: man kommt nicht aus dir wieder heraus' ,Dionysos, du schmeichelst mir, du bist göttlich'" (KSA, NF, 12, 510). Sie kennt die Gründungsgeheimnisse des Labyrinths, er dessen Binnenalltag, aber ohne ihren Faden Am
Beginn
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herumsteigend auf lügnerischen Wortbrücken, auf Lügen-Regenbogen zwischen falschen Himmeln herumschweifend, herumschleichend." (KSA, DD, 6,
„...
378)
Nietzsche exemplifiziert am Ariadne-Problem, und da folge ich nachdrücklich Salaquarda, daß es ihm „primär um das Problem der Kultur zu tun (ist), und im Zusammenhang damit um die Frage, wie wir Menschen leben können und sollen."54 Vor allem vom Zarathustra an beherrscht das Labyrinth-Motiv Nietzsches Denken. Die Passionen zwischen Dionysos-Nietzsche und Ariadne steigern sich dann, nein, nicht in eine Passionsgeschichte, sondern, wie wir es einer Notiz Nietzsches vom Herbst 1887 entnehmen können, in ein „Satyrspiel zum Schluß". (KSA, NF, 12, 401) Eine überraschende Andeutung zum Verstehen dieser Textbruchstücke Nietzsches verdanken wir seinem alten Freund Franz Overbeck: „Welch interessanter Fund mit der Klage der Ariadne", schreibt er einmal an Heinrich Köselitz, „ich erstaunte wieder über den Geist und Humor dieser Aber: worin besteht die Heiterkeit? Anders als Theseus mit „seiner Unfähigkeit zu lachen"5 will uns Nietzsche u. a. begreiflich machen, daß eben, entgegen der geläufigen Praxis, „,Denken' und eine Sache ,ernst nehmen'" gar nicht zusammengehören sollte. (KSA, JGB, 5, 148) Daß es also so etwas wie eine Fröhliche Wissenschaft sollte geben können. Kurz: „Lachen das ist ungefähr, wenn nicht die klügste, so doch die weiseste Antwort auf solche Fragen." (KSA, NF, 13, 417) Auch was den Sinn von labyrinthischen Dialogen wie dem folgenden betrifft: „- Oh Dionysos, Göttlicher, warum ziehst Du mich an den Ohren? Ich finde eine Art Humor
Verwendung."55 -
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J.
Salaquarda, Noch einmal Ariadne, a.a.O., 117. Franz Overbeck an Heinrich Köselitz, v. 22. Mai 1890, in: F. Overbeck/H. Köselitz, Briefwechsel, a.a.O., 307. „Es ist aber eine alte Wahrheit, dass es Heiterkeit nur gibt, wo eine Überwindung ist, d. h. wo der Geist über die Materie triumphiert" (W. Dahms, Die Offenbarung der Musik, a.a.O., 258). Diese Textstücke sind „ein Gegenstück zum Evangelium [des Zarathustra- St. D.] oder im älteren Sinn des Worts, eine Parodie" (C. Roos, Nietzsche und das Labyrinth, a.a.O., 118). G. Deleuze, Kritik und Klinik, Frankfurt/M. 2000, 136. ...
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Steffen Dietzsch
304 in deinen
498)57
Ohren, [und darauf] Ariadne:
warum
sind sie nicht noch
länger?" (Ebenda,
Die anschwellende Heiterkeit, in die uns Dionysos-Nietzsche je tiefer, je länger wir mit ihm und Ariadne verweilen, verwickelt, kommt nun von der Vermutung, daß eben das mental Naheliegendste im Labyrinth, das ,Pathos des Umsonst', also der Nihilismus', gerade im Labyrinth nicht das letzte Wort ist, das man über uns verhängt hat. Solchem Nihilismus nämlich kann man generell auf zweierlei Weisen begegnen. Einmal, indem man artifizielle intellektuelle Sinnwelten (Wissenschaft, Religion) etabliert. Also indem man in die Architektur des Labyrinths partiell eingreift, sie gewissermaßen reduziert, aufbricht, so oder so Auswege sucht, pfiffig wie beispielsweise unser ernster Befreier Theseus. Aber dabei eben auch in der fadenscheinigen Illusionswelt von Theseus befangen bleibt! Der Erkenntnis-Held Theseus entfloh nicht zu seinem Besten, wie wir wissen dem Labyrinth, aber er verlor Ariadne. So blieb er taub für das, was Ariadne fürs Labyrinth noch bereithielt und was ihr Dionysos in die Ohren bläst, nämlich das Ja zur Bejahung, das Ja ohne Verdächtigung, also, wie es am Schluß der Dionysos-Dithyramben heißt: ein -
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„ewiges Ja des Sein's, ewig bin ich dein Ja." (KSA, DD, 6, 405) Aber wie äonenweit ist unser aufklärerischer Held Theseus davon entfernt. Und er war, so mußten wir jüngst bei Gilles Deleuze bestürzt lesen, „nicht einmal ein wahrer Grieche, sondern [o Gott!] eher avant la lettre eine Art Deutscher, wo man einen Griechen zu treffen hoffte."58 Oder aber zweitens, man ,überwindet' das Nihilistische (des Labyrinths), indem man Indem man z. B. das Labyrinth wechselt. Jedenfalls so tut es ironisch imitiert. Wie? als ob. Das heißt, es wie eine Flucht aussehen lassen. Mit einem ganz sinnlichen Ziel: fliehen ins ,Exil der Heiterkeit' (Odo Marquard). Auch dort sind wir natürlich wieder in einem Labyrinth. Dieses Labyrinth aber „ist kein Bauwerk mehr, sondern Klang und Musik In ihm ist eine Atmosphäre der Simulation, des Scheins, der Täuschung aber, so ist sofort mit Deleuze rhetorisch zu fragen: „Ist die Kunst nicht die höchste Macht des Falschen?"60 Das ist aber dann, wie Deleuze richtig sagt, „nicht mehr der Weg, auf dem man sich verliert, sondern der Weg, der wiederkehrt. (Dieses) und der Moral, sondern ein Labyrinth des Labyrinth ist nicht mehr eines der Erkenntnis Lebens und des Seins als lebendes." ' -
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geworden."59 -
„Ariadne besitzt die Ohren von Dionysos: Ariadne steckt ein kluges Wort in die Ohren von Dionysos. D. h.: Die dionysische Bejahung vernommen, macht sie diese zum Objekt einer zweiten Bejahung, die Dionysos vernimmt" (G. Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, Hamburg 1991, ...
58 59 60 61
203). G. Deleuze, Kritik und Klinik, a.a.O., 140. Ebenda, 142. Ebenda, 143. Ebenda, 144.
Nietzsche und Ariadne
305
Bei dem neuen Sichzurechtfinden in diesen ,Labyrinthen des Lebens' kommt es nun einer parodistischen Umkehrung des antiken Motivs der Übergabe des Leitfadens. So wie damals Ariadne das nützliche Know-how an ihren damaligen Liebsten gab, so ist es jetzt Friedrich Nietzsche, der augenzwinkernd Ariadne die nun adäquaten Fingerzeige geistiger Orientierung übermittelt. „Ich würde", so Nietzsches moderner ,Ariadnefaden' durch unsere heutigen Labyrinthe, „mir sogar eine Rangordnung der Philosophen erlauben, je nach dem Range ihres Lachens bis hinauf zu denen, die des goldenen Gelächters fähig sind. Und gesetzt, daß auch Götter philosophieren, wozu mich mancher Schluß schon gedrängt hat -, so zweifle ich nicht, daß sie dabei auch auf eine übermenschliche und neue Weise zu lachen wissen und auf Unkosten aller ernsten Dinge! Götter sind spottlustig: es scheint, sie können selbst bei heiligen Handlungen das Lachen nicht lassen." (KSA, JGB, 5, 236) Nur so sind wir dann nicht mehr in Gefahr, wie Nietzsche sagt, „stückweise von irf\1 gend einem Höhlen-Minotaurus des Gewissens zerrissen" (ebenda, 48) zu werden. Und, so steigert Dionysos-Nietzsche die Ansprüche an den göttlichen Humor des freien Geistes (der uns Menschen als schwarzer erscheint), wer wäre denn noch dazu bereit, wie jene orientalischen „Freigeister-Orden par excellence" (KSA, GM, 5, 399) einen Schritt weiter zu gehen und zu denken: ,„Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt' ..."? (Ebenda) Wohlan, konstatiert Nietzsche: „das war Freiheit des Geistes, damit war der Wahrheit selbst der Glaube gekündigt... Hat wohl je schon ein europäischer, ein christlicher Freigeist sich in diesen Satz und seine labyrinthischen Folgerungen verirrt? kennt er den Minotaurus dieser Höhle aus Erfahrung?" (Ebenda) Im Labyrinth also, so die Einsicht Nietzsches, gibt es keine gefalligen, genehmen Antworten oder Lösungen, sondern nur Fragen, beängstigende Fragen. „Une époque n'est pas fait, heureusement, d'unité, de cette unité que certains découvrent et inventent ,après coup': elle est tissée de démarches diverses, voire d'épistémologies enchevêtrées. La vie de l'esprit chemine dans ce labyrinthe ,.."63 Und dem Fragenden geht es wie Theseus Ariadne verweist ihn, ohne Faden, wieder ins Labyrinth Also: „der mythologische Name des Zweifels heisst Labyrinth."64 zu
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Kurzum: Nietzsche entläßt uns mit diesem Befund: „Ein labyrinthischer Mensch sucht niemals die Wahrheit, sondern immer nur seine Ariadne was (immer) er uns auch sagen möge." (KSA, NF, 10, 125) Der Librettist von Ariadne aufNaxos hat, als er sich mit dem Ariadne-Rätsel auseinandersetzte, jenen Hauch von unstillbarer Sehnsucht spüren können. Er bemerkte bei seinen Recherchen nach Ariadne an sich auf einmal wieder „ein solches schwindelndes Verloren-sein in der Welt, ein solches Sich-nicht-Besinnen-Können wer bin ich denn? -
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Hier, „im ,Labyrinth der Brust', um mit Goethe zu reden", werden „negative Ideale gebaut" (KSA, GM, 5, 325f). J. Duvignaud, „Le climat culturel de l'année 1938", in: Programm der Tagung Le Collège de So-
ciologie (1937-1939) et la Science des Religions des Religionswissenschaftlichen Instituts der Universität Leipzig (4.-7. Okt. 2000), 17. C. Roos, Nietzsche und das
Labyrinth, a.a.O.,
135.
Steffen Dietzsch
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und hier dieser, der da steht? wer ist das? es ist eine wie komme ich denn hierher namenlose Fremdheit, eine Art von Angst." Sind wir also wirklich bereit, solche mentalen Folgelasten dieses letzten mythischen Befunds Nietzsches aus dem Labyrinth seines passionierten Geistes wirklich zu tragen? „Ariadne ist das unerreichbare Dort."''6 Das aber sollte man sich vergegenwärtigen, ich liebe dich wenn man mit Nietzsche zu sagen wagte: Ariadne ...
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Hugo v. Hofmannsthal an Ottonie Gräfin Degenfeld, v. 7. Jan. 1911. Hofmannsthal schrieb auch einmal für Willy Haas „Instruktionen für einen Essay zum Verständnis der Ariadne [auf Naxos St. D.] in Wahrheit ein schwer errungenes allegorisches Werk, das selten verstanden wird" (W. Haas, Die Uterarische Welt. Erinnerungen, München 1957, 46). C. Roos, Nietzsche und das Labyrinth, a.a.O., 136. -
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Hans-Martin Gerlach
Wege der Nietzsche-Kritik Jaspers, Bloch, Lukács -
„In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war Heidelberg ein Treffpunkt junger Wissenschaftler, die von der geistigen Aufbruchbewegung der Epoche des Jugendstils und des frühen Expressionismus erfaßt waren. Einige von ihnen", so schreibt Silvia Markun in ihrer Bloch-Biographie, „nicht einmal alle, waren als Dozenten der Universität verbunden, andere kamen nur im Umkreis bedeutender Hochschullehrer zusammen."1 Und einer der bedeutendsten war wohl Max Weber, zu dessen Sonntagssessionen neben den
alten Geheimräten eben bekanntlich auch jene drei junge Wissenschaftler gehörten, die das deutsche und internationale Geistesleben des 20. Jahrhunderts wesentlich mitbestimmen sollten, nämlich Karl Jaspers, Ernst Bloch und Georg Lukács. Auch Hans Saner geht in seiner Jaspers-Biographie auf diese Dreierbeziehung ein. Im Zentrum des oben erwähnten geistigen Aufbruchs, der sich naturgemäß eben und gerade bei den jugend- oder sonstig bewegten Jungen artikulierte, stand das Philosophieren jenes Denkers, dessen 100. Todestag im Jahre 2000 Anhänger und Kritiker in Deutschland und weltweit mit Kongressen, Tagungen, Weihereden und Ausstellungen gedachten Friedrich Nietzsche. Die deutsche Universitätsphilosophie tat sich zu seinen Lebzeiten freilich schwer mit ihm (und die deutsche Universitätsphilosophie war bis zu diesem Zeitpunkt der Jahrhundertwende vornehmlich die der alten Geheimräte). Für Wilhelm Dilthey ist er so ein „schreckendes Beispiel" dafür, „wohin das Brüten des Einzelgeistes über sich selbst führt" und Wilhelm Windelband (um nur zwei zu nennen) sieht in ihm das Abbild eines „nervösen Professor(s), der gern ein wüster Tyrann sein möchte."3 Vor allem im Ausland sind zunächst von Nietzsches Denken faszinierte Geister vorhanden (z.B. der Däne Brandes, der Italiener Zoccoli und der Franzose Lichtenberger). Aber -
Beitrag auf der internationalen Jaspers-Tagung in Klingenthal (Elsaß), die von der Österreichischen Jaspers-Gesellschaft (Graz) und der Schweizer Karl-Jaspers-Stiftung (Basel) im September 2000 durchgeführt wurde. 1
J
S. Markun, Ernst Bloch, Reinbek 1982, 23. W. Dilthey, „Die 3 Grundformen der Systeme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts", in: ders, Gesammelte Schriften, Bd. IV, Stuttgart/Göttingen 1963, 528f W. Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Tübingen 1921, 566f.
Hans-Martin Gerlach
308
auch einige, dem neuen Zeitgeist sich verwandt fühlenden Jungen in den Zirkeln der akademischen Geheimräte fühlen sich von diesem provokanten Denker Nietzsche direkt oder indirekt angesprochen; indirekt insofern, als Nietzsches Philosophieren von den Künstlern und Dichtern des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts aufgenommen und über die verschiedenen Kunstströmungen und Stile in der Dichtung zu einer breiten geistig-kulturellen Bewegung verarbeitet wurde, deren Gärhefe Nietzsche gleichsam darstellte. Nicht unbeeinflußt läßt er deshalb auch jene schon erwähnten drei jungen Intellektuellen und Wissenschaftler, die sich im Heidelberger „Weberkreis" mit einer gewissen Regelmäßigkeit trafen. Wenngleich in ihren frühen Arbeiten Friedrich Nietzsche nur gelegentlich vorkommt, so zeigen doch Lukács' Die Seele und die Form und Blochs Spuren und der Geist der Utopie diesen lebensphilosophischen und teilweise geradezu expressiv-messianisch anmutenden (besonders bei Bloch) Geist der Zeit, der nicht nur, wohl aber wesentlich auch von Friedrich Nietzsches Denken her stark beeinflußt ist. Einzig Karl Jaspers hat wie wir aus der Sanerschen Bearbeitung des Nachlasses zu den Großen Philosophen wissen schon 1916 eine Nietzsche-Vorlesung durchgeschrieben und Notizen zu Lehrveranstaltungen sowie frühe Strukturentwürfe und Kommentare zu einzelnen Werken hinterlassen, von denen Hans Saner schon im 2. Nachlaßband zu den „Großen Philosophen" der Meinung war, daß es „für den interessierten Spezialisten" eine „lohnende Aufgabe" wäre, „die älteren und neueren Gedanken und Perspektiven herauszuarbeiten, die das Nietzschebild von Jaspers, wie es uns in seinem Nietzsche-Buch erscheint, erweitern könnten." Auch ich bin hier nicht in der Lage dies zu tun, da dazu intensive Archiv-Recherchen vonnöten gewesen wären, die anderen vorbehalten sein mögen. Mich interessierte vielmehr die Tatsache, wie diese drei Jungen Gelehrten", die sich in Heidelberg vor dem Ersten Weltkrieg im Hause Weber am Vorabend einer gewaltigen europäischen, ja weltweit wirkenden Umbruchssituation trafen, in den 30er und 40er Jahren, die ja teilweise ein furchtbares Folgeprodukt dieses sozialpolitischen und kulturellen Umbruchs waren, mit Friedrich Nietzsche umgingen, der von jenen „Jüngern Zarathustras", wie sich die SS Himmlers in ihren schwarzen Totenkopfuniformen selbst bezeichnete, zunächst zu ihrem „Leibphilosophen" erklärt wurde, ehe man merkte, daß dies nicht ohne Probleme abgehen konnte und man schließlich den „Propheten des Zarathustra" beiseite -
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legte.
Karl Jaspers äußerte sich bekanntlich in den Jahren 1935/36 gleich zweimal öffentlich zu Nietzsche. Einmal wirbt er angesichts der Baeumlerschen Nietzscheder weltanschaulichen Interpretation (wie generell Vermarktung Friedrich Nietzsches im Nationalsozialismus) in seinem Nietzsche-Buch für ein „Verständnis seines Philosophierens." Und zum anderen in der Gronninger „Vernunft und Existenz"-Vorlesung geht er auf die „geschichtliche Bedeutung Kierkegaards und Nietzsches" im Zusammenhang mit seiner Darstellung der „Herkunft der gegenwärtigen philosophischen Situation" ein.5 Im gleichen Zeitraum erscheint in Zürich auch die erste Ausgabe von -
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H. Saner (Hrg.), Karl Jaspers, Die großen Philosophen Nachlaß 2, München/Zürich 1980, 910. Vgl. K. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin 1936ff; ders., Vernunft und Existenz, München 1987. -
Wege der Nietzsche-Kritik Jaspers, Bloch, Lukács
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Blochs Erbschaft dieser Zeit6, in dem er dem „Impuls Nietzsche" ein Abschnitt widmet. Die spätere Ausgabe wird schließlich jene Mitte der 30er Jahre im Kreise der deutschen intellektuellen Linken geführte Expressionismus-Debatte aufnehmen, in welcher Bloch sich mit Lukács Expressionismusaufsatz von 1934 („Größe und Verfall des Expressionismus") auseinandersetzt und dessen Schwarz-Weiß-Zeichnung, die auch Nietzsches Denken miteinbezieht, nicht akzeptieren will; eine Position übrigens, die Bloch gegen Lukács auch in den 50er Jahren nach dem Erscheinen von dessen Zerstörung der Vernunft besonders in seinen „Leipziger Vorlesungen zur Philosophiegeschichte" Nietzsche betreffend weiter ausbauen sollte. Lukács ist es schließlich, der sich schon in seinen Studien in den 30er Jahren7 mit der deutschen Katastrophe 1933 und ihren ideologischen Wegbereitern beschäftigt, zu denen er wie er es in der Anfang der 40er Jahre konzipierten, aber erst 1954 erschienenen Arbeit Die Zerstörung der Vernunft schreibt auch „Nietzsche als Begründer des Irrationalismus der imperialistischen Periode"8 zählt, was ja dann bekanntlich sehr unterschiedliche Reaktionen hervorrief. Was ist nun das zentrale Anliegen dieser drei Denker in Bezug auf die Philosophie Friedrich Nietzsches? Wo gibt es möglicherweise partielle Übereinstimmungen und wo liegen die grundsätzlichen Differenzen in ihren Einschätzungen von Größe und Grenzen jenes Denkers, der wohl heute weltweit der bekannteste deutsche Philosoph sein dürfte? Für Jaspers ist das zentrale Anliegen zum einen das, was er schon im Untertitel seines Buches formuliert hat, nämlich nicht nur eine „Einführung" in Nietzsches Philosophie zu sein, deren es zwischenzeitlich schon genug gab, sondern vielmehr eine solche in das „Verständnis seines Philosophierens", was auch im Bezug zu Jaspers' Konzept des „Verstehens" in seiner methodologisch-psychiatrischen Frühphase stand, deren methodische Orientierung ihm hier dazu diente, mit den bislang „typischen Methoden der Nietzsche-Deutung" ins Gericht zu gehen (gegen die Isolierung einzelner Lehren, gegen die Unverbindlichkeit einer falschen Stilisierung der Persönlichkeit, gegen allen Psychologismus und gegen mythisch-symbolistische Verklärung), die mit Nietzsches Denken als einem bloß „Hervorgebrachten" nur „hantieren." Man müßte so Jaspers viel eher „selbst eintreten in die Bewegung des eigentlichen Nietzsche."10 Wie Kant sich einst schon vornahm, nicht Philosophie, sondern Philosophieren lehren zu wollen, so will uns auch Jaspers' das Verständnis des Nietzscheschen Werkes zu lehren versuchen, denn es geht Jaspers nicht um ein bloßes Aneignen fremden Gedankenmaterials, sondern auch gemäß Nietzsche übrigens, der „nicht Leser überhaupt, sondern seine Leser, die zu ihm gehören"" suchte, um ein „Verstehen einer philosophischen Wahrheit", aus der „ein mögliches Selbstwerden", „ein Offenbarwerden meiner selbst durch die Weise, wie mir das Sein offenbar wird", erwächst. Das versucht Jaspers bekanntlich dann in den drei Teilen seines Werkes, die dem Leben Nietzsches, seinen Grundgedan-
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Vgl. E. Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Zürich 1935 (später Bd. 4 der Suhrkampschen Gesamtausgabe 1962ff.). Vgl. G. Lukács, Zur Kritik der faschistischen Ideologie, Berlin/Weimar 1989. Vgl. ders., Die Zerstörung der Vernunft, Berlin/Weimar 1954f. K. Jaspers, Nietzsche, Berlin 1950, 12. Ebenda, 14. Ebenda, 26.
Hans-Martin Gerlach
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Antriebe in der Mannigfaltigkeit der ken als „die Erscheinung seiner 2 besonderen Inhalte seines Denkens" und schließlich der Suche der Ganzheit seines Denkens in seiner Existenz gewidmet sind. Bei aller Jaspers'schen Sachkenntnis des Nietzscheschen Denkens wird uns im Buch aus diesem Grund nie etwas Fertiges, in sich Abgeschlossenes, sondern vielmehr ein Weg, ein Prozeß, ein Werden sich ständig überwindender, vorantreibender Wahrheiten gezeigt; eine dialektische Bewegung des Denkens also, die sich ständig gegen sich selbst wendet, sich aufhebt, neu beginnt, die Brüche klar erkennen läßt und so alles andere als von der Art jener Hegelschen Dialektik ist, die über die Kategorie der Vermittlung schließlich die in sich ruhende Totalität erreicht. Selbstwerdung durch die Aneignung Nietzsches ist die Aufgabe, die Jaspers sieht. Nicht sich einfachen Sätzen und Forderungen unterwerfen, sondern durch ihn jenen „Weg zu finden, zur echten Einfachheit des Wahren"13, das muß ständige Aufgabe bleiben. Zum anderen bemüht sich Jaspers darum besonders in seinen GronningerVorlesungen Nietzsche gemeinsam mit Kierkegaard in der geschichtlichen Bedeutung für die Herkunft der gegenwärtigen philosophischen Situation herauszustellen, wobei es ihm nicht um einen „Faktenpositivismus" einerseits oder parteiliche Weltanschauungsbildung andererseits, sondern um die Darstellung der Zweideutigkeit beider geht, und zwar sowohl in ihren Folgen als auch in ihren Wesenskernen, denn sie „heben jede Befriedigung auf" und sind „in der Tat die Ausnahmen."14 Auch Jaspers sieht beide Denker in ihrer geschichtlichen Zweideutigkeit in der Herkunftslinie der gegenwärtigen philosophischen und Zeitgeist-Situation stehen, wie Bloch und Lukács. Im Gegensatz zu diesen beschränkt er sich aber ganz im Sinne Kierkegaards und Nietzsches selbst wohl auf deren „Ausnahmesituation", „ohne Vorbild einer Nachfolge zu sein."15 Sie entlassen das Individuum ohne eine bestimmte Aufgabe, ohne ein Ziel zu setzen, was allerdings die Gefahr in sich birgt, (insbesondere bei Nietzsche) das jede Haltung und Weltanschauung, jede Gesinnung „sich ihn als Gewährsmann holt."16 Was philosophisch Baeumler und ideologisch-weltanschaulich Rosenberg ja auch zu tun versuchten, wenn sie Nietzsche in die Ahnengalerie des Nationalsozialismus einordneten, pikanterweise Rosenberg in offensichtlicher Unkenntnis der Sachverhalte gemeinsam mit den Nietzsche-Gegnern Paul de Lagarde, R. Wagner und H. St. Chamberlain. Nietzsches häufig formulierte Bemerkung, daß man nicht ihm, sondern sich selbst folgen soll, wird von Jaspers ernst genommen; allerdings derart, daß er meint: „Ein jeder kann durch sie (Kierkegaard und Nietzsche H. M. G.) nur werden, was er selbst ist. Aber was das in den Nachfolgenden ist, ist bis heute nicht entschieden."17 Und die bleibende Frage ist es deshalb, wie denn zu leben sei für uns, „die wir nicht Ausnahme sind, aber im Blick auf diese Ausnahme unseren inneren Weg suchen."18 Für Jaspers steht jedenfalls fest, daß
ursprünglichen
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Ebenda, 22. Ebenda, 31. K. Jaspers, Vernunft und Existenz, Ebenda. Ebenda, 30. Ebenda, 31. Ebenda.
a.a.O., 31.
Wege der Nietzsche-Kritik Jaspers, Bloch, Lukács
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Blickabwendung von diesem Denken (Keim der Unredlichkeit) noch die ideologische Vermarktung, wie übrigens auch deren öffentliche Enttarnung ihres nur ideologischen Begehrs, uns etwas Hilfreiches in „Sachen Nietzsche" bringen können. Aber wir sollten bemerkt haben, daß es ihre Aufgabe war, „die Erfahrung dieses Zeitalters im eigenen Wesen zu Ende zu vollziehen, seine Wirklichkeit selbst vollkommen zu sein, um sie zu überwinden", was freilich nur möglich ist, weil sie eben gerade nicht Repräsentanten dieser Zeit, sondern ihre ärgerliche Ausnahme sind.1 Und wir sollten dabei auch verstehen, daß durch beide „eine Weise der Denkerfahrungen der Existenz wirk10 sam geworden" sei, „deren Folgen noch nicht allseitig an den Tag gekommen sind" die es aber ermöglichen, unseren inneren existentiellen Weg selbst zu suchen. Jaspers hat in diesen beiden Arbeiten der Jahre 1935/36 einen Versuch der „Rettung" des Philosophen vor allen Vermarktungen, Blickabwendungen und vernichten wollenden Gegenentwürfen vorgenommen und so mußte dabei der etwas vereinseitigende Eindruck entstehen, daß Nietzsche (genau so wie Kierkegaard) für Jaspers einer der weder
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unmittelbaren Vorläufer des Weges zum existentiellen Denken gewesen wäre. Wir wissen allerdings (und das sicher genauer seit dem Erscheinen der beiden Nachlaßbände zu den Großen Philosophen; aber dem aufmerksamen Leser des Vorwortes zur 2. und 3. Auflage des Nietzsche Buches dürfte das auch nicht entgangen sein), daß Jaspers ursprünglich ja noch ein Kapitel vorgesehen hatte, in dem „durch Sammlung von Zitaten das Irren Nietzsches in naturalistischen und extremistischen Wenden belegt wurde. Das ergab ein vernichtendes Bild. Aus Achtung vor Nietzsche habe ich es Der gedruckte Nachlaß-Band 2 gewährt uns nun einen kleinen Einblick in den „kalten" Nietzsche bzw. jenen, gegen den Jaspers (nach Hans Saners Meinung) „eine eigenartige Scheu" hegt, ihm „zu nahe zu treten". Und diese resultiert vielleicht daraus, „daß Jaspers auch damals die Problematik der Nietzsche-Kritik für sich nicht befriedigend be-
weggelassen."21
reinigt hat."2
In seinen nachgelassenen Aufzeichnungen wirft Jaspers in seiner „Kritik an Nietzsche" dessen „falsche Kleider" vor, die sich insbesondere in der „Bibelimitation im ,Zarathustra'" ausdrücke, er wendet sich gegen das „Übermaß der Worte", die mit seinem „Schmollstil" verbunden sind. Die „biologischen Wendungen" schließlich bergen auch Gefahren. Und Jaspers der Psychiater und Philosoph verweist auch auf die „angeborene Maßlosigkeit", die „durch die Krankheit vollends enthemmt" werde, was immer zu bedenken sei. Vor allem aber sieht Jaspers Gefahren aus jenen „großartig verführenden, zu barbarischer Falschheit und Niedertracht führenden Visionen Nietzsches" erwachsen. Auch in Blochs Kritik an Nietzsche finden wir in seiner Erbschaft dieser Zeit ähnliche Positionen. Auch Bloch meint, daß sich im Parsifal und im Zarathustra nicht nur Degen kreuzten (wie Nietzsche behauptete), sondern auch „Maskenzüge". „Wie Wagner verwandt, maskenkult und dekorativ zeigte gerade Zarathustra seinen griechisch-persisch-biblischen Goldschnitt: intellektuelle Rechtschaffenheit in Gestalt -
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Ebenda, 16. Ebenda, 31. K. Jaspers, Nietzsche, a.a.O., 6.
H. Saner (Hg.), Karl Ebenda, 927.
Jaspers, Die großen Philosophen, a.a.O., 913.
Hans-Martin Gerlach
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eines persischen Religionsstifters lehrt mit Bibelsprache den Antichristen."24 Und dazu kommt überall „die Sprache äußerster Berauschung", die aus dem gleichen Kopientraum kam, „worin damals das Bürgertum lag". Das alles ist für Bloch nun eine Mischung von „Sprengpulver und Räucherwerk" zugleich, „von Morgen und Urvorgestern", „von Revolte und Archaismen".25 Was allerdings das von Jaspers kritisierte „Visionäre" anbetrifft, so erhält dies bei Bloch eine andere Wendung. Am Beispiel des Dionysos legt Bloch dar, daß dessen Spannung nicht zu Apollo, sondern zu „Zeus" bestehe, also „zu Druck, Gesetztheit und Bann, zur Ruhe, nicht zum Licht"26. Also ist er in seinem Wesenskern anders zu verstehen als „korybanwenn er denn auf die „richtige Seite der Beute" käme tisch trüber Lärm, in betrunkenen Höhlen", als „bloße frühere Bewußtseinsstufe, blutbe27 sudelt, kreißende Ananke und Mordnatur, Höhlen Gegensatz zum Licht." Bloch sieht (aber eben auf der richtigen Seite) im Kult des Dionysos „revolutionäre Dialektik der Geschichte" als Grundwiderspruch des Menschen zur Entfremdung, „welcher ihm zugleich ein Weg ist." Dionysos als „sprengender Gott", der noch „außer sich ist und falsche Formen zerbricht", der bei Nietzsche aber ein „abstraktes Ziel", eine „romantische Utopie, ohne Kontakt mit der Geschichte" darstellt, wobei Bloch jedoch meint, daß die Geschichte sich ihren Kontakt selber nehme, denn: „die List der Vernunft ist Selbst der Nietzsche der Spätphase (Wille zur Macht) ideologisiere „nicht bloß Imperialismus", sondern eine „inhaltlich unbestimmte Emportendenz" Und dieser andere Nietzsche, der zwar kaum „Luft vom anderen Planeten" sei, aber eben auch keine „gewohnte vom der suche „nicht bloß ungebleichtes, sondern in utopische Feuer gesetztes Diesseits."32 Und so verwundert es denn nicht, daß am Schluß der Blochschen Auseinandersetzung mit Nietzsche, in der auch er (wie Jaspers auch), die vielen Fährnisse sieht, die der Zeitgeist aus dessen Lehre im 20. Jahrhundert herausgearbeitet hat, dieser zu einem anderen Schlußakkord kommt und dessen Differenz zu Jaspers gerade aus dem anderen Philosophiebegriff hervorwächst, den der Hoffnungsphilosoph Bloch hat, denn Dionysos ist nicht die Ruine in welche sich die Reaktion flüchtet, „sondern als auf die Fahnen der Revolution gesetzt die Feuerschlange oder der utopische Blitz."33 Und gerade hier muß auch die Differenz zu Georg Lukács hervorbrechen, der als Marxist und politischer Funktionär in den Jahren nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in der Emigration in der Sowjetunion zwei ideologiekritische und analytische Arbeiten verfaßt (1933 „Wie ist die faschistische Philosophie in Deutschland entstanden?"; 1941/42 „Wie ist Deutschland zum Zentrum der reaktionären Ideologie geworden"), in denen sein Blick auf Nietzsche festgeschrieben ist, der dann 1954 in der Zerstörung der -
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groß."29
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bürgerlichen"31,
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4 25
26 27 28
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33
E. Bloch, Erbschaft dieser Zeit, a.a.O., 360. Ebenda. Ebenda, 361. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Ebenda, 362. Ebenda, 364. Ebenda, 363. Ebenda, 360.
Wege der Nietzsche-Kritik Jaspers, Bloch, Lukács
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Vernunft so fragwürdig-problematisch hervortrat und der der doktrinären Haltung des Ostens gegen Nietzsche eigentlich den Boden bereitete. Aus Zeitgründen kann ich hier nicht näher darauf eingehen. Aber soviel sei bemerkt, daß Lukács, der an sozialistische Vorgänger wie Franz Mehring und andere anknüpft, deren ideologische Verankerung des Nietzscheschen Denkens in einem bestimmten sozialökonomischen Boden nunmehr unter den Bedingungen äußerst zugespitzter weltpolitischer Verhältnisse weiter ausbaut. Wenngleich auch Georg Lukács die Stärken Nietzsches kennt und er seine „oft außerordentlich geistvolle Kritik der spätbürgerlichen Dekadenz" lobend hervorhebt, die ja gerade der war, so ist dies für Lukács letztend„Schlüssel auch zu seiner internationalen lich nur eine „immanente Kritik, d.h. eine Kritik der Dekadenz von der Dekadenz aus", die nicht in der Lage sei, „ihre gesellschaftlichen Grundlagen" aufzudecken, da sie nicht „auf ihre sozialen Wurzeln"35 eingehe. Wenn dies aber geschieht und Lukács ganzes Konzept läuft in dieser Richtung -, so wird Nietzsche zu einem „prophetischen Vorkämpfer und Vorläufer der späteren reaktionären Tendenzen." Nietzsche der ideologische Wegbereiter also, auf dessen Bahnen dann die braune Barbarei zu ihrem Sieg und ihre Katastrophe marschierte. Weder Jaspers, der schon auf dem ersten Rencontres Internationales 1946 in Genf mit Lukács in anderen, aber ähnlichen Fragen aneinander geriet, noch Bloch mochten diese Linie direkt akzeptieren. In einem Brief an Lukács vom 25.6.1954 schreibt Bloch bezüglich dieser Verbindung: „Und kommt da nicht ein höchst ungemäßes 7 Glänzen an die Fahne, besser in das Aborthaus Hitler?" Ich komme zum Schluß und möchte festhalten, daß bei aller Kürze der hier zur Verfügung stehenden Zeit natürlich vieles nur angedeutet, ja nur angerissen werden konnte. Eines aber können wir wohl erkennen, daß Friedrich Nietzsches Denken, welches schon auf die drei „Jungen" des Heidelberger Weberkreises einen nicht unbeträchtlichen Eindruck gemacht hatte, sie gerade in den Schwierigkeiten der politischen und geistigen Situation der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht verließ. Und bei einer hohen Akzeptanz, welche Nietzsche trotz aller vollzogenen Kritik bei ihnen genoß, sie jedoch aus seinem Philosophieren die unterschiedlichsten Konsequenzen zogen. Während ihm der eine auf dem Weg zur Existenzfindung einen festen Platz einräumte, sah ihn der andere auf dem revolutionären Weg eines utopischen „Noch-Nicht" dann stehend, wenn er eben auf die „richtige Seite" fallt und der dritte, der ihn auf die falsche Seite fallen sah, spürte ihn als geistigen „Wegbereiter" Hitlers. Wie in einem Focus kamen in Nähe und Distanz dieser drei Denker des 20. Jahrhunderts zu Nietzsches Denken wohl fast alle Probleme zusammen, die dieses Jahrhundert generell mit Nietzsche hatte. Für Jaspers ist aber die Kritik all dieser Nietzscheschen Verkehrungen nicht einfach nur eine Kritik Nietzsches schlechthin, „sondern eine Wiederherstellung Nietzsches aus seinem Mißbrauchtwerden"38.
Wirkung"34
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G. Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, a.a.O., 235. Ebenda. Ebenda, 234. E. Bloch, Briefe, 1903-1975, Erster Band, Frankfurt/M. 1985, 202. H. Saner (Hrg.) Karl Jaspers, Die großen Philosophen, Nachlaß 1, München/Zürich 1980, 485
Volker Gerhardt
Nietzsches Alter-Ego Über die Wiederkehr des Sokrates
1. Die Wiederkehr des Gleichen Wie kann man einen Gedenktag, der ja eine Wiederholung darstellt, besser begehen als durch das Gedenken an eine Wiederholung? Und dies bei einem Denker, für den die „ewige Wiederkehr" der zentrale Gedanke ist? Also wäre das Beste, hundert Jahre nach Nietzsches Tod über den Gedanken der ewigen Wiederkehr zu sprechen, über den sich nach hundert Jahren der Interpretation vielleicht sogar etwas Neues sagen läßt zu all dem, was bislang hierüber bemerkt worden ist: (1.) radikalste Absage an einen Endzweck der Geschichte oder einen möglichen 5/«« gesellschaftlichen Handelns, (2.) Rückbindung aller Vorgänge an den Kreislauf des Lebens und der Natur (weswegen es auch die Tiere sind, die diesen Gedanken äußern), (3.) Auszeichnung des Augenblicks, so daß die jetzt geschehene Tat eine unausdenkbare existentielle Bedeutung erhält, (4.) die äußerste Referenz für alle individuellen und kulturellen Zyklen, die dem Schaffen die freie Bahn immer neuer Renaissancen eröffnen und (5.) die unübersehbar theatralische Bedeutung des Gedankens, den nur ein Künstler denken kann, der sein Stück immer von neuem interpretiert und aufgeführt sehen möchte und dabei die Wiederholung als Steigerung denken muß. Heute, in größerem Abstand zu Person und Werk, muß auch der individuelle Charakter der ewigen Wiederkehr mitgedacht werden. Denn wir erkennen Friedrich Nietzsche als eine tief gespaltene, ihre eigenen Gegensätze ausbuchstabierende, um ihre Identität fürchtende und auch noch die stillsten Stunden ihrer Existenz als Sensation offerierende Person. Der Denker des Augenblicks versteckt sich hinter der Maske eines mit seiner eigenen Geschichte beladenen und weit in die Zukunft ausgreifenden Propheten, den er rachsüchtig gegen die Rache, voller Bosheit gegen das Böse, gütig gegen das Gute, mitleidig gegen das Mitleid, grundlos gegen Gründe und mit Gründen für den Abschied von aller Begründung predigen läßt. In Zarathustra schafft sich Nietzsche das literarische Widerspiel, in dem sich alle Widersprüche seines eigenen Daseins wie in einer abnormen Vergrößerung betrachten lassen. Wenn nun der Gedanke der Wiederkehr diesen Zarathustra zugleich entsetzt und beruhigt, dann erkennen wir den Grund in nichts anderem als in der Wiederkehr des Glei-
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Volker Gerhardt
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chen. Denn daß er, Zarathustra-Nietzsche, kosmisch als ein mit sich selbst Gleicher ausgezeichnet sein soll, muß diesem jederzeit mit sich selbst in Widerspruch lebenden Denker als größte Bedrohung und zugleich wie eine Erlösung erscheinen Daß Nietzsches innerer Gegensatz, zu dessen Steigerung und Beschwichtigung er den ganzen Kreislauf der Dinge heraufbeschwört, keineswegs nur ein Thema für Psychologen ist, will ich mit der folgenden Betrachtung zeigen. Ich spreche von Nietzsches Alter-Ego und bitte den Ausdruck wörtlich zu nehmen: Es ist das Doppel des eigenen Ich und dennoch ein anderes Ich. Und so, wie es bei Nietzsche nicht nur ein Ich ist, so ist auch das Alter-Ego auf verschiedene Personen aufgeteilt. -
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2. Ein weltgeschichtliches Verbrechen Urteilen wir nach Friedrich Nietzsches erstem Buch, dann ist Sokrates der größte Übeltäter der Weltgeschichte. Denn Sokrates hat das Größte zerstört, was die Menschheit in ihrer schönsten kulturellen Blüte hervorzutreiben vermochte: die Tragödie. Zum Ersatz hat er uns die Weltgeschichte hinterlassen. Sokrates, den Nietzsche sich nicht scheut, einen „Verbrecher" zu nennen, hat seinesgleichen, den bloßen Zuschauer, auf die Bühne geholt, und damit den Abstand zwischen der hohen Kunst und dem Publikum eingeebnet. Mit seinem Freund Euripides, dem er beim Dichten geholfen haben soll, hat er alles hochsinnige Bühnengeschehen zur bloßen Handlung verflacht und damit das Pathos ausgetrieben, von dem die klassische Tragödie lebte. Mit seinem notorischen Mangel an Musikalität fehlte ihm angeblich auch der Sinn für Mythos und Kunst. Damit hat er den „Urschooss", aus dem das Tragische stammt und in dem es allein erträglich sein soll, ausgetrocknet. Sokrates ist der „Typus" des modernen Menschen,1 der alles auf Begriff und Theorie abstellt und der damit dem wirklichen Geschehen keinen Raum mehr läßt. So bleibt am Ende von der ursprünglichen Vielfalt des Daseins nur ein dürrer Begriff, eben der Begriff der „Weltgeschichte", und Sokrates erscheint als ein Vorläufer Hegels, dem der junge Baseler Professor den Kampf angesagt hat. Darin fühlt er sich seinem älteren Baseler Kollegen, Jacob Burckhardt, verbunden. Es ist für die Sache, die ich entwickeln will, nicht unerheblich, daß Nietzsche sich auch in seiner Opposition gegen Hegel in eine Wahlverwandtschaft mit einem älteren Mann hineinphantasiert, einem Gelehrten und Künstler, den er grenzenlos bewundert und den er gleichwohl in seiner Leistung überbieten möchte eben: Jacob Burckhardt. Neben Schopenhauer und Wagner ist Burckhardt einer jener langen Schatten, aus denen Nietzsche heraustreten möchte: Daher fallt auch seine Hegel-Kritik viel schärfer aus als die ironische Distanzierung Burckhardts; und dessen kunsthistorische Idealisierung der Renaissance steigert Nietzsche zum kulturphilosophischen Renaissancismus, um sie in ihrem entscheidenden Akt gut zweitausend Jahre ins vorsokratische Griechenland vorzuverlegen, so daß Sokrates kommen und ihr angeblich durch theoretische Distanzierung das Pathos nehmen konnte. -
Dazu: V.
Gerhardt, „Die Moderne beginnt mit Sokrates", in: F. Grunert/F. Vollhardt (Hg.), AufkläPhilosophie, Tübingen 1998, 3-20.
rung als praktische
Nietzsches Alter-Ego
317
Weil Sokrates das „Pathos", also den aus dem Leiden geborenen theatralischen Ausdruck, durch die vergleichsweise nüchtern-rationale „Handlung" ersetzt, wird er in der Geburt der Tragödie zum paradigmatischen Gegner dessen stilisiert, was Nietzsche im
unmittelbaren Rückgriff auf die frühen Hellenen und im Verein mit Wagner wiederbeleben will. Daß dies nicht ohne innere Widersprüche möglich ist, wird augenblicklich klar, wenn wir sehen, daß auch Nietzsche ohne Handlung nicht auskommen kann. Er stellt sie lediglich unter den pathetischen Titel der „Tat" und weiß genau, daß es keine größere „Tat" in der Geschichte des Denkens gegeben hat als das Sterben des Sokrates, von dem wir in Piatons Phaidon die eindringlichste Schilderung haben, in der Philosophie und Kunst unauflöslich verbunden sind. Und dennoch wird Sokrates als Banause dargestellt, der die Philosophie auf einen über zweitausendjährigen Abweg ins bloß theoretische Denken geführt hat. In den auf die Geburt der Tragödie folgenden Schriften kommt Sokrates nur zeitweilig ein bißchen besser weg. Zwar hat Nietzsche in den Aphorismenbüchern der so genannten mittleren Werkperiode gelegentlich ein anerkennendes Wort für den Märtyrer des philosophischen Denkens übrig. Aber auch diese Wertungen kommen von oben herab; da ist er der „weiseste Schwätzer, den es gegeben hat" (FW 340; 3, 569 ), ein „Gassen-Dialektiker" (MA 1, 433; 2, 282) oder ein Weiser „voller Schelmenstreiche" (WS 86; 3, 592); immerhin wird ihm der Ehrentitel eines „Freigeistes" verliehen (MA 1, 437; 2, 284), und es bleibt bewußt, daß er ein „Zweifler" und „Neuerer" ist (M 116;
3, 108).
3. Sokrates und Zarathustra Nietzsche-Kenner müssen aufhorchen, wenn da jemand als „Neuerer" bezeichnet wird. Für einen Renaissancisten und habituellen Sensationalisten wie Nietzsche kann es eigentlich keine höhere Auszeichnung geben als die, etwas Neues in Gang gebracht zu haben. Doch bei Sokrates versetzt das Nietzsche nicht in die Begeisterung, die er mit Blick auf andere Neuerer, wie etwa Heraklit, Thukydides oder Machiavelli, zum Ausdruck bringt. Gleichwohl hört man zwischen 1882 und 1885, in den Jahren, in denen Also sprach Zarathustra entsteht, so gut wie nichts von Sokrates, obgleich natürlich klar ist, daß er in diesem Buch der ewige Zuschauer ist. Denn Zarathustra ist der Gegentyp zu Sokrates, der ihm in vielem noch so nahe bleibt, daß man ihn auf dem Weg des altpersischen Neutestamentiers ständig mitdenken muß: Zarathustra sucht die Einsamkeit, um dort seine Selbsterkenntnis zu vollenden; Sokrates hingegen geht zu den anderen, um sich in ihnen zu erkennen. Zarathustra scheitert schon beim ersten Versuch, seine Botschaft in die Städte zu bringen; auf dem Marktplatz findet er nur „Possenreisser", die ihn immerhin vor den Gefahren warnen, die einem wahrhaft Weisen in den Städten drohen. Das hat Sokrates, der von seiner Stadt zum Tode verurteilt wird, nicht beachtet; gewiß, er hätte das Todesurteil noch abwenden können, wenn er bereit gewesen wäre, nicht länger auf dem Markt zu lehren. Aber er ist zu einer giftigen „Fliege des Marktes" geworden (Z 1, Von den Fliegen des Marktes; 4, 67f), hat sich mit dem Pöbel gemein
Volker Gerhardt
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und mußte schließlich, da die Menge alles falsch versteht, dem herrschenden Mißverständnis zum Opfer fallen. Daß sich der Vorwurf der Menge auf das nächste, aber scheinbar fernste Problem des Menschen, nämlich Gott, bezieht und Sokrates wegen „Gottlosigkeit" verurteilt wird, hat einen tiefen Sinn, der damit zusammenhängt, daß die Selbsterkenntnis ohne den Horizont der Welt, der den Namen Gottes trägt, nicht
gemacht
zu
haben ist.
Sokrates, dem ein Gott das gnothi sauton zur Aufgabe macht; und das weiß niemand besser als Nietzsche, für den das Koordinatenkreuz der Weltorientierung an einem himmlischen Faden hängt, der das Selbst direkt mit Gott verbindet. Doch eben deshalb hätte Sokrates wissen müssen, daß man auf dem Markt nur an Götter glaubt, „die grossen Lärm in der Welt machen" (ebenda, 66). Entsprechend erklärt Zarathustra schon zu Beginn seines Weges zu den Menschen, dass „Gott tot" sei, bemüht sich um eine kleine Schar von Jüngern, mit denen er gleichwohl nicht argumentiert, wie Sokrates es tat, sondern denen er predigt. Dabei sucht Zarathustra, der mania des Sokrates nicht unähnlich, nach einem ekstatischen Selbst, das an einen Gott glauben möchte, der tanzen kann (Z 1, Vom Lesen und Schreiben; 4, 49). Und wie Piaton das Göttliche in dem erkennt, was uns das Nächste ¡st (Nomoi 726a), so läßt auch Nietzsche seinen Zarathustra durch nichts als ihn selbst gläubig werden: Jetzt", so ruft er aus, „tanzt ein Gott durch mich" (Z 1, Vom Lesen und Schreiben; 4, 50). Das weiß
4. Umkehr des
Höhlengleichnisses
Kein Zweifel: Zarathustra soll der bessere Sokrates sein. Er verliert sich nicht in den Selbstwiderspruch des Nicht-Wissens, er meidet die Seichtigkeit der öffentlichen Plätze, er spricht nur „vom Freunde", ohne ihn zu haben, und zieht für die entscheidenden Gespräche sogar die Tiere vor. Natürlich wissen wir auch bei Sokrates nicht, inwieweit er sich von seinen Schülern verstanden fühlt. Der Abstand zwischen ihm und seinen Gesprächspartnern ist erheblich und am deutlichsten dort, wo er zum Sterben gezwungen ¡st. Zwar sind, mit Ausnahme von einem (!), die treuen Freunde versammelt; aber niemand versteht, wie es ihm möglich ¡st, so furchtlos auf den Tod zuzugehen. Denn wenn sie ihn verstünden, brauchten sie sich keine „Beweise" und „Geschichten" von der Unsterblichkeit der Seele erzählen zu lassen; dann sähen sie allein an seinem Verhalten, was die Unsterblichkeit bedeutet. So aber ist er genötigt, logische Fabeln zu erzählen, die wenigstens einen Schein von Unendlichkeit erzeugen, der die Erwartung stützen kann, sie auch im eigenen Dasein auszufüllen. Darin ist die Seele ganz bei sich selbst. Zarathustra hat seine Apotheose in einer Höhle, in der die ganze Welt versammelt ¡st, um ihr „Eselsfest" zu feiern. Natürlich ist das primär die Wiederkehr des Tanzes um das goldene Kalb und eine derbe Alternative zu Golgatha, die dem nunmehr allein bleibenden Zarathustra die Hoffnung zu geben scheint, daß er bei einer erneuten Erdenfahrt auf gleich gesinnte Andere stoßen wird. Aber wenn man weiß, daß Nietzsche Sokrates zum Vorläufer des Jesus von Nazareth macht, dann sieht man, daß der Schlußteil von Also sprach Zarathustra auch ein Gegenstück zur Gefängnisszene des Phaidon ist.
Nietzsches Alter-Ego
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In der für Also sprach Zarathustra typischen Bilder- und Metaphernflut ist hier schließlich wohl auch die Absicht im Spiel, an die Stelle des alten „Höhlengleichnisses" ein neues zu setzen. Schon in der ersten Szene des Buches ist nicht etwa Zarathustra gut platonisch aus seiner Höhle zur Sonne empor gestiegen, sondern die Sonne ist zur Höhle des Zarathustra gekommen, so daß er sie gnädig begrüßen kann: „Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest." (Z 1, Zarathustra's Vorrede 1;A, 11) Hier wird die „kopernikanische Wende" unmittelbar vor Zarathustras Höhle inszeniert. Es ist, sit venia verbo, eine gezielte philosophiegeschichtliche Blasphemie.
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5.
Maskenspiel
Doch, wie gesagt, von Sokrates selbst ist gar nicht die Rede. Er, der bei Piaton die Gespräche führt, kommt in Nietzsches wichtigstem Werk nicht zu Wort auch wenn er ständig gegenwärtig ist. So liest man staunend an jener Stelle, an der nicht einfach nur der Mensch, sondern seine „Tugend" zum „Sinn der Erde" erklärt wird: „Wissend reinigt sich der Leib; mit Wissen versuchend erhöht er sich; dem Erkennenden heiligen sich alle Triebe; dem Erhöhten wird die Seele fröhlich." (Z I, Schenkende Tugend 2; 4, -
100)
Das könnte sokratischer nicht sein. Aber erst in den letzten Aphorismenbüchern, in Jenseits und in der Götzen-Dämmerung, also schon kurz vor dem Zusammenbruch, findet Sokrates namentlich Erwähnung (GD, Das Problem des Sokrates; 6, 67-79): Der in der Geburt der Tragödie als Ahnherr des theoretischen Optimismus vorgeführte Denker wird nun zum pessimistischen Maulwurf (vgl. J 208; 5, 137), zum Advokaten des „Heerden-Instinkts" (J 202; 5, 124), zum „Plebejer" (J 191; 5, 112) und „Pöbelmann" (J 212; 5, 146), ohne Rücksicht darauf, daß Sokrates als Bildhauer immerhin ein geachtetes Handwerk gelernt hat. Schließlich verliert Nietzsche jede Hemmung, sieht im Scharfsinn des Sokrates eine „Rhachitiker-Bosheit" (GD, Das Problem des Sokrates 4; 6, 69), vermutet in der Dialektik „nur eine Form der Rache" (ebenda, 7; 6, 70), nennt ihn einen „Hanswurst" und „unanständig" obendrein (ebenda, 5; 6, 70) und fragt so als könnte über die Antwort kein Zweifel bestehen: „War Sokrates ein typischer Ver-
brecher?" (Ebenda, 3; 6, 69) Das alles hat mit dem historischen Sokrates natürlich nichts mehr zu tun, wohl aber mit dem Maskenspiel Friedrich Nietzsches, der sein wahres philosophisches Gesicht verdecken muß, um nicht zu erkennen zu geben, wie alt und gespalten er tatsächlich ist. Sollte uns ein Blick hinter Nietzsches Masken gelingen, können wir vielleicht erkennen, wie groß sein Leiden an seinen Gegensätzen wirklich ist und wie tiefes in die Geschichte des Denkens reicht. Dabei erweisen sich die ihm üblicherweise zugesproche-
Verdienste sagen wir abkürzend: sein „Anti-Essentialismus" und sein „Ästhetiselbst als vertraute Wiederholungen alter Positionen, die schon einmal nach allen Regeln der Kunst und ohne Anleihen bei einer Wesens-Metaphysik überwunden worden sind. Wir erkennen in Nietzsche den Sophisten, der wie Sokrates, der ja auch ein Sophist gewesen ist, über den Sophismus hinaus gelangen möchte. Dieses Verlannen
zismus"
-
-
Volker Gerhardt
320 gen Nietzsches ist am Beginn eines einer Philosophie der Zukunft.
neuen
Jahrhunderts der wohl
wichtigste Fingerzeig
6. Sokrates und Alkibiades Kehren wir zu Nietzsches Anfangen zurück: Kurz vor dem Schulabschluß in der Pforte bittet der neunzehnjährige Musterschüler seinen Griechischlehrer, einen Hausaufsatz „Ueber das Verhältniß der Rede des Alcibiades zu den übrigen Reden des platonischen Symposions" schreiben zu dürfen. Der Aufsatz, der noch heute in der Bibliothek von Schulpforta liegt, liest sich wie das Dokument eines zelebrierten Abschieds von der Schule: Nach der Theorie kommt nun die Praxis des Lebens. Nachdem in den sechs Reden des Symposions, die der junge Nietzsche souverän in ihrer gedanklichen Einheit erfaßt, die Idee des Eros entwickelt worden sei, erfolge mit dem Auftritt des trunkenen Alkibiades die Selbstdarstellung der Realität: Bis hin zu der von Sokrates vorgetragenen Rede der Diotima bleibe, so Nietzsche, alles Theorie. Erst mit Alkibiades zeige sich „die Liebe zum Urschönen in ihrer Wirkung auf das praktische Leben des Menschen", und zwar, wie Nietzsche fortfahrt, „die Wirkung dieser Liebe im einzelnen Menschen".2 Dieser Umschlag von der bloßen Philosophie zum wirklichen Leben falle deshalb so deutlich aus, weil Alkibiades „ein vom Sokrates ganz abgefallner, der Philosophie völlig entfremdeter Jüngling" (422) sei. Gleichwohl steht dieser Jüngling unter dem übermächtigen Einfluß des Sokrates: „Die Einwirkung des Sokrates auf einen [...] so genialen Menschen [nämlich Alkibiades] ist die wunderbarste, die Plato als Beweis jener erwähnten Rückwirkung hätte anfuhren können." (Ebenda) Die „erwähnte Rückwirkung" sei eben der Eindruck, den der mit seiner Liebe zum Schönen erfüllte Sokrates auf andere mache. Piatons überlegene Kunst aber liege nun darin, daß er den im Umschlag auftretenden Gegensatz in seiner Einheit sichtbar mache. Damit kommt Nietzsche auf die „künstlerische Anlage des Dialogs" (ebenda):
„Hierbei ¡st zu beachten, daß mit dem Auftreten des Alcibiades ein Umschwung des Tones eintritt; es ist der kühnste künstlerische Griff, daß in dem Augenblick, wo die Rede des Sokrates die Hörer gleichsam auf das hohe Meer des Schönen gefuhrt hat, die Schaar der Trunkenen und Schwärmenden eindringt, und doch die Wirkung der Rede des Sokrates nicht vernichtet, sondern gesteigert wird. Die Rede des Alcibiades ist das Werk des Eros, ebenso wie es die Rede des Sokrates ist. Aber die Rede des Alcibiades wirkt durch Thatsachen, wie die des Sokrates durch Ideen; und die Thatsachen wirken kräftiger und überzeugender als die ausgesprochnen
Ideen."
(422f.)
Und schließlich: „Durch den Gegensatz des Sokrates und Alcibiades kommt endlich jene dämonische Doppelnatur des
Eros selbst
zur
Anschauung, jenes Mitteninnen
zwischen Göttlichem und Menschli-
chen, Geistigem und Sinnlichem [...]." (423)
Fr. Nietzsche, „Ueber das Verhältniß der Rede des Alcibiades zu den übrigen Reden des platonischen Symposions" (1864), in: Frühe Schriften, Bd. 2, hg. v. J. Mette (BAW), 420-424, 421 f.
Nietzsches Alter-Ego
321
geneigt, in der von Nietzsche hervorgehobenen ,,wundersame[n] Vereinigung philosophischer Reden mit dem Genüsse des Weines" (ebenda), in der sich Idee und Man ist
Wirklichkeit, Form und Stoff verbinden sollen, ein Vorzeichen der acht Jahre später
behaupteten Dialektik
der beiden Kunstgottheiten, Apollon und Dionysos, auszumachen. Doch für unseren Zusammenhang sind die Personen wichtiger: Der junge und doch schon so altkluge Nietzsche bringt für beide größtes Verständnis auf; er sieht das Geschehen sowohl von Sokrates wie auch von Alkibiades her. Seine Sympathie gilt beiden gleichermaßen. Da er Alkibiades einen „genialen Menschen" nennt, ist sogar eine Identifikation nicht ausgeschlossen. Die aber ist gewiß nicht gegen Sokrates gerichtet. Denn der wird für seine, alle vorausgehenden Reden aufnehmende und auf das Höchste steigernde Rede mit einem Künstler verglichen, der das von den anderen „allmählich aufgeführte Gebäude [...] zu einer Kuppel rundet" (420). Dieses Lob auf Sokrates zielt natürlich auf Piaton, der das Ganze ja literarisch in Szene setzt. Mit der Würdigung seiner Leistung schließt der Schulaufsatz ab. Um die Parallele zur späteren Bewertung von Sokrates und Piaton sichtbar zu machen, kommt es hier noch einmal auf den Wortlaut an: „So erscheint das Auftreten des Alkibiades als der Wendepunkt des kunstvollen Dramas und zugleich der Philosophie nach der Seite der Wirklichkeit hin; und, wenn es mir erlaubt ist, ei-
nen Vergleich zu wagen, so hat Plato alle Theile des Dialogs in diesen Knotenpunkt zusammengeschnürt, nicht anders als wie Zeus die verschiedenen Seiten und Häute des Menschen mit der Nabelschnur zusammenband und in einem Knoten vereinigte." (423f.) Platon als Gott, der mit seiner Kunst den Menschen macht das ist die höchste denkbare Auszeichnung. Nietzsche hält zeit seines Lebens an ihr fest. Da Sokrates aber nicht nur als Kunstfigur in Piatons Dialogen auftritt, sondern ein wirklicher Mensch gewesen ist, der Piaton allererst zu seinen göttlichen Leistungen stimuliert, also im historischen Athen zu Piaton nicht grundsätzlich anders steht als zu dem von Nietzsche im Symposion gerühmten Alkibiades, muß Piatons Stellung zu Sokrates im wirklichen Leben geklärt werden. Und das geschieht in der Geburt der Tragödie, der ich mich nun ein we-
nig gründlicher zuwende.
7. Ein Philosoph des Lebens Bevor dies aber geschieht, muß beiläufig erwähnt werden, daß Nietzsche noch vor der der Geburt der Tragödie eine Vorlesung hält, die erste, die er überhaupt anbietet und die er drei Semester später, zeitgleich mit der Publikation der Geburt, im Sommer 1872 wiederholt. Zwei weitere Wiederholungen im Winter 1875/76 und im Sommer 1876 folgen. Diese Vorlesung steht unter dem Titel Die vorplatonischen Philosophen, und sie endet, wie es nicht anders sein kann, mit Sokrates.3 Es gibt aber noch eine weitere Vorlesung, die er im Winter 1871/72 hält, also in eben den Monaten, in denen Die Geburt der Tragödie geschrieben wird. Ihr Titel lautet Ein-
Abfassung
3
Nietzsches Aufzeichnungen finden sich in: Nietzsche, Werke. Kritische Bd. II, 4, Berlin/New York 1995, 211-362.
Gesamtausgabe (KGW),
Volker Gerhardt
322
leitung in das Studium der platonischen Dialoge. Es ist eine großangelegte PlatonVorlesung, die Nietzsche in seiner vergleichsweise kurzen Baseler Lehrtätigkeit insgesamt viermal hält.
so behutsam, aufwendig und ehrtatsächlich mit einem Gott der Philosophen zu tun. Er trägt Aufbau und Inhalt aller Dialoge vor, erörtert die philosophischen Grundprobleme, bemüht sich insbesondere um die Konzeption der Tugenden und die Deutung der Ideenlehre, außerdem behandelt er mit sichtlichem Fleiß die Fragen der Echtheit, der Datierung, des Lebensalters der erwähnten Personen, der geschichtlichen Quellen sowie der Rezeption im neunzehnten Jahrhundert. Man merkt, daß Nietzsche Eduard Zeller nach Kräften nutzt, aber er nimmt auch Ansichten anderer Interpreten auf. Als Beispiel erwähne ich nur Karl Friedrich Hermanns Geschichte und System der Platonischen Philosophie von 1839. Hermann sieht die „geistige Einheit" der platonischen Werke „weder in einer methodischen Verknüpfung, noch in einer durchgehends gleichen Weltanschauung, sondern in dem individuellen Geistesleben des Urhebers" (II, 4, 17).5 Es ist also die Person des Philosophen, aus der die Einheit seines Denkens entspringt. In diesem Sinn sucht Nietzsche die Individualität Piatons zu erfassen: Als „Mittelpunkt des platonischen Wollens" sei seine „legislatorische Mission" zu begreifen (II, 4, 54). Er verwerfe „die gesammte antike Kultur" und stelle sich dem „Homer gegenüber" (II, 4, 55). Seine „Lebensweise" zeige, „wie er das nachzuahmende Vorbild" sein wolle (II, 4, 54). Piaton wolle tätig sein wie Solon und Lykurg; er möchte so wirken, wie er es im Siebenten Z?r/e/beschrieben habe, und er wolle das realisieren, was er in den Nomoi entworfen habe. Jedoch: „Ein ungeheurer Schmerz begleitet ihn immer: nie etwas Ähnliches zu erreichen." (II, 4, 55) Piaton, dem Gesetzgeber, der hier mit einer Absicht vorgestellt wird, die später Zarathustra leitet, wird also ein existentielles Versagen unterstellt. Daß Piaton in den Nomoi drei oder vier Stufen der Realisierung unterscheidet, die ihn keineswegs als Versager erscheinen lassen, bleibt unerwähnt. Doch wie dem auch sei: Aus seiner Betrachtung Piatons zieht Nietzsche einen Schluß, den wir uns merken müssen: „Voraussetzung für eine solche Mission [als Gesetzgeber einer Kultur; V.G.] ist der unbedingte Glaube an sich. Dies zeigt sich z.B. darin, daß er Socrates nicht anders zu idealisiren weiß als indem er ihn sich gleichmacht." (II, 4, 55). Piaton also glaubt unbedingt an sich selbst und identifiziert sich mit Sokrates. Diese These macht neugierig darauf, wie Nietzsche in der im Semester zuvor gehaltenen Vorlesung über die vorplatonische Philosophie denn eigentlich den Sokrates darstellt. Nachdem die Entwicklung von Thaies bis Zenon mit Kennerschaft, aber auch mit deutlichen Anleihen bei Schopenhauer geschildert ist, setzt die Würdigung des letzten Vor-
In dieser
Einleitung nähert Nietzsche sich Piaton
furchtsvoll, als habe
4
er es
KGW, II, 4, 7-188. K. Fr. Hermann, Geschichte und System der Platonischen Philosophie, Erster Theil, die historischkritische Grundlegung enthaltend, Heidelberg 1839 (Sperrung von Nietzsche; keine Sperrung bei
Hermann).
In der „Vorrede" zum ungeschriebenen Buch über den „Griechischen Staat" heißt es, daß Piaton die „ganze Inbrunst und Erhabenheit seiner politischen Leidenschaft" auf den Glauben an die Machbarkeit eines idealen Staates warf und „an dieser Gluth verbrannte" (GS; 1, 776). -
323
Nietzsches Alter-Ego
platonikers mit unfreiwilliger Komik ein: Sokrates sei, so heißt es, „ein ethischer Autodidakt" (II, 4, 353). Was soll der Begründer der Ethik auch anderes sein? Doch wir verstehen schon: Nietzsche will kenntlich machen, daß Sokrates selbst ein ungeheurer Anfang ist, ein originärer Impuls, der aus einem schier unglaublichen Akt der Selbsterziehung stammt:
Sokrates „[...] ist ein ethischer Autodidakt: ein moralischer Strom geht von ihm aus. UngeheuWillenskraft auf eine ethische Reform gerichtet. [...] Er ist der erste Leèensphilosoph und alle von ihm ausgehenden Schulen sind zunächst Lebensphilosophien. Ein vom Denken beherrschtes Leben! Das Denken dient dem Leben, während bei allen früheren Philosophen das Leben dem Denken u. Erkennen diente [...]. So ist die sokrat. Philosophie absolut praktisch: sie ist feindselig gegen alles nicht mit ethischen Folgen verknüpfte Erkennen. Sie ¡st für dedermann u. populär: denn sie hält die Tugend für lehrbar." (II, 4, 353f.) re
Das ist ein bemerkenswertes
Urteil, auch
was die implizite demokratische Konsequenz Tatsächlich Philosophierens angeht. gibt es die auf jedermann bezogene innere des Denn Logik Philosophierens: jedes ausdrückliche Denken setzt aus eigenem Anspruch auf die mögliche Wirksamkeit des Gedankens, den als Gedanken immer nur Einzelne haben können, die als Denkende nur durch Gedanken, also durch das Argument, überzeugt werden können. Das Argument aber gilt ohne Ansehen der Person, kann also prinzipiell von jedem vorgebracht werden. Nietzsches Tragik hat auch damit zu tun, daß er diese Dynamik des Denkens zwar an Sokrates erkennt, sie aber für sich selbst nicht zu akzeptieren vermag. Er glaubt, der Aristokratismus des Denkens gehe mit einem sachlichen Vorbehalt gegenüber der Menge einher; doch an Sokrates hätte er lernen können, daß man zur exemplarischen Ausnahme nur wird, indem man sich konsequent an allgemeine Einsichten hält.
des
8. Das Denken wird existentiell Es mag sein, daß die Philosophie als solche schon eine Absurdität darstellt. Aber wer so naiv ist, es mit dem Philosophieren zu versuchen, der setzt notwendig auf seine eigene Einsicht und muß diese Unterstellung notwendig auch bei jedem anderen gelten lassen, der ihm seinerseits mit einer eigenen Einsicht entgegentritt. Das wird an Sokrates exemplarisch, denn er setzt keine für sich bestehenden Texte in die Welt; er hält auch keine allgemeinen Reden in die Öffentlichkeit des menschlichen Daseins hinein, sondern er sucht jeden, der ihm gegenübertritt, als Individuum zu überzeugen. Er weiß, daß die Allgemeinheit der philosophischen Einsicht ihr Element in jedem Einzelnen hat. Das Individuum ist das Moment des Denkens, das alles, was es in Gedanken faßt, selbst nur als Individuelles begreifen kann. Es begreift nicht nur sich, sondern auch seinesgleichen notwendig im Medium der Individualität. Deshalb bezeichne ich das Individuum auch als das „Element der Welt" und stelle mich sowohl dem Doppelsinn dieser Formel wie auch ihrem metaphysischen Gehalt. Und die Größe des Sokrates besteht für mich darin, daß er diese der Natur des Denkens eingeschriebene Individualität an sich selber exekutiert. Er denkt nicht nur selbst, er führt nicht nur vor, was das Selberdenken für ihn selber heißt, sondern er bringt es in -
Volker Gerhardt
324
seinem Leben und Sterben auch zur äußersten Konsequenz. In Sokrates wird das Denken existentiell. Davon hat Nietzsche eine Ahnung; aber mehr leider auch nicht. Für Nietzsche zeigt sich die Individualität des Sokrates darin, daß er gegen sophistische Tendenzen seiner Zeit opponiert: Die „Polemik gegen die Sophisten" war „eine kühne Stellung eines Einzelnen" (II, 4, 357). Schließlich erweise er sich in seiner Überwindung der Todesfurcht als der „letzte Typus des Weisen, den wir kennen lernen" -
(II, 4, 360). 9.
Ästhetischer Sokratismus
am Text seiner Vorlesungen über Piaton und über die vorplatonische Philosophie gearbeitet hat, so lange er sie anbot, zeigt ein unscheinbarer Zusatz aus dem
Daß Nietzsche
Jahre 1876. Darin zitiert er die Ansicht eines Autors, der in seinem 1875 veröffentlichten Buch über Sokrates und Xenophon die Ansicht vertritt, Sokrates sei in dem „Prof. Lotze zu Göttingen" „wiedergeboren" (II, 4, 27). Nietzsches Spott ist unüberhörbar, gleichwohl dürfte er höchst bewußt zur Kenntnis genommen haben, daß seine philosophierenden Zeitgenossen mit einer Wiederkehr des Sokrates rechneten. Und wenn wir nun die Geburt der Tragödie genauer lesen, erkennen wir, daß Sokrates nicht in Göttingen, sondern in Basel wiederkehrt. Von den 25 Abschnitten der Geburt der Tragödie sind der 12., 13., 14. und 15. dem Sokrates gewidmet. Sie stehen im Mittel- und Wendepunkt der Schrift, denn hier vollzieht sich der Übergang von der antiken Tragödie zum modernen Musikdrama, das Wagner aus dem Geiste Schopenhauers zu schaffen vermag und das Nietzsche schon hier als Vorspiel seiner eigenen epochalen Wirksamkeit präsentiert. Hätte Wagner die (ja nur an ihn gerichtete) Vorrede der Schrift aufmerksam gelesen, er hätte schon 1872 wissen können, daß der ehrgeizige Jüngling ihn lediglich als einen „Vorkämpfer" seiner eigenen Mission begreift. Im zwölften Abschnitt wird Sokrates als Gehilfe des Euripides vorgeführt, dem Dichter, der angeblich keinen Sinn mehr für das Dionysische hat und dem es nicht gelingt, das Drama „allein auf das Apollinische zu gründen" (GT 12; 1, 85). Diese künstlerische Verirrung wird als „aesthetischer Sokratismus" bezeichnet, dessen „oberstes Gesetz", wie Nietzsche sagt, „ungefähr so lautet: ,alles muss verständig sein, um schön zu sein'". Dies sei der „Parallelsatz" zu der sokratischen These ,„nur der Wissende ist tugendhaft.'" (Ebenda) Zur Erläuterung heißt es, daß die Wirkung der Tragödie „niemals auf der epischen Spannung, auf der anreizenden Ungewissheit" beruhte, sondern „auf jenen grossen rhetorisch-lyrischen Scenen, in denen die Leidenschaft und die Dialektik des Haupthelden zu einem breiten und mächtigen Strome anschwoll". Und dann folgt der für das Verständnis Nietzsches schlechthin entscheidende Satz: „Zum Pathos, nicht zur Handlung bereitete Alles vor: und was nicht zum Pathos vorbereitete, das galt als verwerflich." (Ebenda, l,85f.) Damit ist dann auch das schneidende Verdikt motiviert, mit dem der zwölfte Abschnitt endet: „so ist also der aesthetische Sokratismus das mörderische Princip". Sokra-
A.
Krohn, Sokrates und Xenophon, Halle 1875.
-
325
Nietzsches Alter-Ego
„Gegner" des Dionysos, er ist der ,,neue[...] Orpheus, der sich gegen Dionyerhebt" und „den übermächtigen Gott selbst zur Flucht nöthigt" (ebenda, 87f.). sus vernichtend das Urteil des Dionysikers Friedrich Nietzsche über den „mörderiSo schen" Apolliniker Sokrates ausfallt: Die Macht des Sokrates könnte größer kaum sein. Er vertreibt einen Gott und steht damit im Bunde mit einem anderen Gott, auf den Nietzsche, wie wir wissen, auch nicht verzichten kann. Denn die Lyrik und Tragödie der frühen Griechen entsteht nur aus der Dialektik von Dionysos und Apoll. Ganz so vernichtend ist das Urteil also nicht; außerdem muß uns zu denken geben, daß der Sokrates, den Nietzsche hier kritisiert, einen Schüler hat, der zum wirkungsmächtigen Anwalt des „ästhetischen Sokratismus" wird und sich die Gleichung zwischen Wissen und Tugend zu eigen macht. Dieser Schüler wird als „der göttliche Plato" bezeichnet, der von den unbewußt-dionysischen Quellen der ästhetischen Inspiration gewußt hat und sich zum ästhetischen Programm seines Lehrers bekennt. Dennoch erscheint Piaton nicht als Exekutor eines „mörderischen Princips". Er wird unverändert als eine Art Zeus verehrt, weil er ein Künstler ist, der etwas Neues geschaffen hat. Er hat der Nachwelt das „Vorbild einer neuen Kunstform gegeben, das Vorbild des RoUnd Sokrates? Warum fallt das Urteil über ihn so vernichtend man 's" (GT 14; 1, 94).8
tes ist der
aus?
-
10. Die Identifikation mit zweien sich diese Frage am Ende des zwölften Abschnitts gestellt, wird man im nachfolgenden Text nicht wenig überrascht. Denn die Rede über Sokrates ist ein einziger Superlativ und dies keineswegs, um die Abgründigkeit seines Verbrechens auszuloHat
man
ten.
-
Gewiß: Sokrates ist eine „gänzlich abnorme Natur", eine „wahre Monstrosität" und damit eine sensationelle Existenz, die gleich einer „Naturgewalt", mit den „allergrössten instinctiven Kräften", aus „göttlicher Naivetät und Sicherheit" heraus alles in ihren Bann zieht. Doch das durch ihn in Gang gesetzte „ungeheure Triebrad des logischen Sokratismus" verbreitet keineswegs nur die Helle des Bewußtsein, sondern läßt ihn „als etwas durchaus Räthselhaftes, Unrubricirbares, Unaufklärbares" erscheinen (GT 13; 1,
90f).
Das aber nicht, weil Sokrates sich selbst in den Schatten einer bloß auf andere und anderes gerichteten Vernunfterkenntnis stellte. Im Gegenteil: Durch den „monströsen defectus" seines bestimmenden Bewußtseins wird er genötigt, den „logischen Trieb" auch „gegen sich selbst zu kehren". Erst dadurch kann er den Widerspruch in seiner Piaton ist für Nietzsche vor allem der Künstler, der sich der ,,starre[n] Consequenz des sokratischen Urtheils über die Kunst" nur unterwirft, um „im Kampfe gegen sich selbst" bestehen zu können (Griechischer Staat; 1,116t). Piaton ist also entschuldigt. Er braucht den ethischen Rigorismus des Sokrates, um als Künstler in ein Gleichgewicht zu finden. Und daß er dabei Großartiges schafft, belegt nicht nur die romanhafte Kunstform der Dialoge, sondern auch sein Entwurf eines „vollkommenen Staates", in dem der junge Nietzsche eine der höchsten Schöpfungen der platonischen Philosophie erkennt (ebenda).
Volker Gerhardt
326
Seele, den die Berufung auf das daimonion anzeigt, austragen, kann er die logische Tätigkeit der Philosophie als seine „Musik" ansehen und darf als der Prototyp des „theoretischen Menschen" gleichwohl als der „wahrhafte Erotiker" wirken. Erst in diesem zum Austrag gebrachten Widerspruch zu seiner eigenen Vernunft kommt es zu dem „würdevollen Ernste", mit dem Sokrates „seine göttliche Berufung überall und noch vor seinen Richtern geltend" macht (ebenda). Sokrates, so hebt Nietzsche schon in seiner ersten Äußerung hervor, hat sich als „der Einzige" vorgefunden, der sich eingestehen mußte, „nichts zu wissen" (ebenda, 1, 89). Er hat es „als ein Einzelner" gewagt, „das griechische Wesen zu verneinen" (ebenda, 1, 90). Sein „ungeheurer Charakter" hat auch noch dort gewirkt, wo er gar nicht wirken wollte. Aber das, was sein „Cyklopenauge" (GT 14; 1, 92) bewußt in den Blick nahm, wird
zwangsläufig einem Wandel unterworfen:
„[...]
er
[Sokrates],
der Einzelne
[!], tritt mit der Miene der Nichtachtung und der Ueberlegen-
heit, als der Vorläufer einer ganz anders gearteten Cultur, Kunst und Moral, in eine Welt hinein, deren Zipfel mit Ehrfurcht zu erhaschen wir uns zum grössten Glücke rechnen würden."
(GT13; l,89f.) Das ist eine kaum zu überbietende Auszeichnung. Aber es ist nicht alles: Sokrates wird von Nietzsche als der „Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichte" bezeichnet (GT 15; 1, 100). Aus der Vorrede zur Geburt der Tragödie wissen wir, daß sich Nietzsche im erhofften Verein mit Richard Wagner selbst in einem solchen „Wirbel und Wendepunkt" der Geschichte wähnt. Deshalb fällt es auch nicht schwer, das, was er in einer hymnischen Passage über Sokrates und Piaton sagt, auf ihn selber zu beziehen. Ja, wir verstehen nichts von der Eloge auf die in ihren inneren und äußeren Sensationen so überbordende, einzigartige Existenz des Sokrates, wenn wir sie nicht als eine Selbstprojektion des jungen Friedrich Nietzsche enträtseln. Und das wahrhaft Monströse dieser Identifikation über zwei Jahrtausende hinweg liegt nicht allein in der -
-
Benennung der Widersprüche in dieser „fragwürdigsten Erscheinung des Alterthums", die eine „ungeheuere Bedenklichkeit" (GT 13; 1, 90) freisetzt, sondern wohl darin, daß Nietzsche sich in einem Akt mit Sokrates ««¿/seinem Schüler Piaton identifiziert: „Der sterbende Sokrates wurde das
neue, noch nie sonst geschaute Ideal der edlen griechiJugend: vor allen hat sich der typische hellenische Jüngling, Plato, mit aller inbrünstigen Hingebung seiner Schwärmerseele vor diesem Bilde niedergeworfen." (Ebenda, 91) Was Nietzsche hier Piaton attestiert, das hat er als Schüler in seinem aus eigenem Antrieb geschriebenen Aufsatz über Alkibiades selber getan. Und er wiederholt es als jun-
schen
ger Baseler Professor, nachdem ihm bewußt geworden ist, daß Sokrates den Typus des „theoretischen (und damit auch des „modernen") Menschen" repräsentiert (GT 15 u. 18). Denn auch darin ist Sokrates ein Neuerer, „ein ganz neugeborner Dämon" (GT 12; 1, 83), dem der „göttliche Plato" (ebenda, 87) zu einer literarischen Wiedergeburt verhilft. Dieses Produkt höchster künstlerischer Stilisierung erscheint dann als Lehrer einer ganz neuen Form der .griechischen Heiterkeit' und Daseinsseligkeit, welche sich in Handlungen zu entladen sucht und diese Entladung zumeist in maeeutischen und erziehenden Einwirkungen auf edle Jünglinge, zum Zweck der endlichen Erzeugung des Genius, finden wird." (GT 15; 1, 101)
„[...]
Nietzsches Alter-Ego
327
Man braucht nur einen Seitenblick auf die in den ersten Baseler Jahren gehaltenen Vorträge über Die Zukunft unserer Bildungsanstalten (1, 641-752) zu werfen, um zu erkennen, daß Nietzsche von der deutschen Jugend fordert, was die „Schwärmerseele" Piatons in ihrer „inbrünstigen Hingabe" vorgemacht hat. In dem, was über Piaton gesagt wird, liegt also eine gehörige Portion Selbsterkenntnis der Schwärmerseele Nietzsches, der sich selbst für den Genius hält, der nach Möglichkeiten sucht, maieutisch und pädagogisch auf „edle Jünglinge" einzuwirken. Lesen wir die Passage im Licht der Baseler Hoffnungen Nietzsches, dann erfahren Sokrates und Piaton ihre Wiedergeburt in einer Person und die trägt den Namen Friedrich Nietzsche.9 -
11. Sokrates als Retter In der gemeinsamen Leistung von Sokrates und Piaton haben wir alles beisammen, was Nietzsche sich 1872 als seine eigene Aufgabe erträumt. Ob er geahnt hat, daß er mindestens zwei Leben hätte haben müssen, um seinem hohen Ziele auch nur nahe zu kommen, wissen wir nicht. Aber wir dürfen es vermuten und müssen darin einen Schlüssel zu seinem Leiden sehen: Er hätte sein eigener Lehrer und Schüler sein müssen, er hätte seine exemplarische Existenz unbeirrt leben und sie zugleich in höchster künstlerischer Vollendung darstellen müssen, um sein Ziel zu erreichen. Welche Leistung unter diesen Bedingungen möglich gewesen wäre, hat uns Nietzsche noch in der Geburt der Tragödie verraten. Und es wird nun gewiß niemanden mehr überraschen, daß es Sokrates ist, an dem Nietzsche die exemplarische Wirkung einer Philosophie illustriert, die Leben zu retten vermag, so wie er es sich von seinem eigenen Denken erhofft. Nach Nietzsches Darstellung ist Sokrates der Ahnherr der welthistorischen Kehre zur wissenschaftlichen Kultur. Er nennt ihn mit der Lust an jenem Gegensatz, den er selber aushalten möchte, einen „Mystagogen der Wissenschaft"; Sokrates soll die „Universalität der Wissensgier" erzeugt haben (GT 15; 1, 99), in deren Folge die Wissenschaft zur alles andere beherrschenden Macht werden konnte. In seinem Leben und Sterben habe Sokrates die „Universalität" exemplarisch gemacht, die erst von da an als „ein gemeinsames Netz des Gedankens über den gesammten Erdball, ja mit Ausblicken auf die Gesetzlichkeit eines ganzen Sonnensystems, gespannt wurde." (GT 15; 1, 100) An diese Schilderung, in der Sokrates als Denker der Globalität (um nicht zu sagen: der Globalisierung) erscheint, knüpft Nietzsche die Schlußfolgerung: „[...] wer dies Alles, sammt der erstaunlich hohen Wissenspyramide der Gegenwart, sich vergegenwärtigt, der kann sich gar nicht entbrechen, in Sokrates den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichte zu sehen." (Ebenda) Das Erstaunliche an dieser Diagnose ist, daß Nietzsche die geradezu schicksalhafte Notwendigkeit der epochalen Kehre anerkennt. Und ich brauche nur zu zitieren, um kenntlich zu machen, daß Sokrates hier nicht mehr und nicht weniger als die Rettung der Menschheit vor sich selbst inauguriert: In Der griechische Staat ( 1, 776) sagt Nietzsche, daß in der Deutung des Idealstaats übertreffen werde.
er
auch noch die
glühendsten Platon-Verehrer
Volker Gerhardt
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an die These von Sokrates als dem „Wendepunkt und Wirbel" der Weltgeschichte an] dächte man sich einmal diese ganze unbezifferbare Summe von Kraft, die für jene Welttendenz [der sokratischen Erkenntnis] verbraucht worden ist, nicht im Dienste des Erkennens, sondern auf die praktischen d. h. egoistischen Ziele der Individuen und Völker verwendet, so wäre wahrscheinlich in allgemeinen Vernichtungskämpfen und fortdauernden Völkerwanderungen die instinctive Lust zum Leben so abgeschwächt, daß, bei der Gewohnheit des Selbstmordes, der Einzelne vielleicht den letzten Rest von Pflichtgefühl empfinden müßte, wenn er, wie der Bewohner der Fidschi-Inseln, als Sohn seine Eltern, als Freund seinen Freund erdrosselt: ein praktischer Pessimismus, der selbst eine grausenhafte Ethik des Völkermordes aus Mitleid erzeugen könnte" (ebenda).
„Denn [so schließt Nietzsche
Sokrates ist also eine „Welttendenz"! Hätte es sie nicht gegeben, hätte sie nicht dafür gesorgt, daß die destruktiven Energien der Menschheit durch Erkenntnis und Wissenschaft absorbiert werden, gäbe es nichts anderes als den Tod dem Leben vorzuziehen. Denn der „Pesthauch" des Lebens wäre unerträglich (ebenda). So ist Sokrates, wohl gemerkt: allein durch die Widersprüche, die er hervorzubringen und auszuhalten vermochte, zum Retter der menschlichen Kultur geworden. Ich kenne keinen Philosophen nach Piaton, der Sokrates Größeres zugetraut hat als Friedrich Nietzsche. Aber auch niemanden nach Sokrates, der sich stärker auf das Unmögliche geworfen hätte als dieser Nietzsche. Auch darin haben wir einen Reflex auf ein Zeitalter zu sehen, dem alles möglich zu sein schien. -
-
12. Der verkannte Sokrates dann zu der extremen Abwertung des Denkers, der ihm, nach seinem nahe steht und den er sich keineswegs, wie wir gesehen haben, als einen rationalistischen Simpel zurechtlegt? Wie kann er den Sokrates, der sich selbst eine „Stechfliege" (myops) nannte (Apologie 30e), um kenntlich zu machen, daß er auf dem Marktplatz jeden an sich selbst erinnert, umstandslos zur gemeinen „Fliege des Marktes" erklären, die nur aus „Rache" sticht? (Z 1, Von den Fliegen des Marktes; 4, Wie kommt
es
eigenen Urteil,
68)
Um eine
so
überzeugende
müßte ich geben, °
zu einer grundlegenden Kritik Hier will ich mich mit drei Bemerkungen begnügen, deren Absicht es ist, Sokrates und Nietzsche wenigstens so zu kontrastieren, daß jeder selbst entscheiden kann, wer von beiden ihm näher steht: Die erste Bemerkung bezieht sich auf Nietzsches Identifikation mit Sokrates. Für sie gibt es eine Bestätigung aus der Zeit, in der Nietzsche sich definitiv für die Philosophie und gegen die Philologie entscheidet. Es ist eine Nachlaß-Notiz aus dem Sommer 1875, die mit einem Schlag eine philosophische und persönliche Kontinuität über zwei Jahrtausende hinweg deutlich macht: „Socrates, um es nur zu bekennen, steht mir so nahe, dass ich fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe." (NF 1875, 6 [3]; 8, 97)
Antwort
zu
ansetzen. Die ist in Kürze nachzulesen.
„Sensation und Existenz. Friedrich Nietzsche nach hundert Jahren", in: Nietzsche-Studien, 29, 2000; eine gekürzte Fassung in: Merkur, August 2000.
Nietzsches Alter-Ego
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Nietzsche sieht sich in unmittelbarer Nachbarschaft des Sokrates. Er ist gleichsam ein wiedergeborener Piaton; aber er kann das Schwergewicht der Wiederkehr nicht ertragen. Er muß das abwehren, was ihm am nächsten kommt. Tatsächlich lassen sich frappierende Parallelen zwischen Sokrates und Nietzsche nennen, die wiederum unsere eigene existentielle Nähe zur Antike erkennen lassen. Dem gegenüber fallen die kleinen Modifikationen der Moderne, die sich mit dem behaupteten Abstand wichtig macht, nicht ins Gewicht. Die Antike ist uns näher als wir glauben, und sie bleibt dies trotz des Aufwands an Hermeneutik, die den Abstand so groß wie möglich erscheinen lassen möchte. Je größer die behaupteten historischen Distanzen sind, um so gewaltiger nimmt sich die Leistung der Hermeneutiker aus, die aber zu keiner ihrer Aussagen gelangen könnten, wenn sich die Vergangenheit uns wirklich entfremdet hätte. Was ich meine, zeigt sich an Sokrates. Er ist uns nahe, und in der existentiellen Nähe erfahren wir zugleich die uns bindende, uns tragende Kraft der Sachlichkeit. Seine Existentialität gewinnt ihre Kraft aus der Allgemeinheit des Wissens und der sie stützenden Gründe. Ihre Leistung führt uns Sokrates in seinem ihn selbst tragenden Vertrauen in das Wissen vor. Nietzsche hat dieses Vertrauen verloren, und sein Verhängnis ist, daß er darin auch noch eine Errungenschaft sieht. Tatsächlich aber ist seine Modernität nur ein romantisch verbrämter Schritt hinter Sokrates zurück. Dies um so mehr, als er die Individualität und Existentialität des Sokrates erkennt. Er wußte von seiner Gegenwart, hat aber nicht auf das Medium geachtet, in dem sie möglich wurde: Er hat sich im Wissen bewegt und zugleich der darin gewonnenen Sicherheit mißtraut. Er hat, völlig zu recht, die Individualität forciert, aber übersehen, daß er sich nicht gleichzeitig von der Universalität distanzieren kann. Ich zitiere nur eine auf Sokrates gemünzte Bemerkung aus dem Sommer 1875. Sie ist auch deshalb so aufschlußreich, weil sie einen Gegensatz zwischen Philosophie und Wissenschaft behauptet, der weder für Sokrates noch für uns selber gelten kann: Sokrates ist ,,[d]as Individuum, welches auf sich selbst stehen will. Da braucht es letzte Erkenntnisse, Philosophie. Die andern Menschen brauchen langsam anwachsende Wissenschaft." (NF 1875, 6 [7]; 8, 99) Die Eigenständigkeit des Sokrates ist richtig gesehen; auch daß es in der Ethik eine letzte Verbindlichkeit geben muß. Die aber kann für ein selbstbewußtes Wesen nicht frei von (begrifflichem) Wissen sein. Folglich muß sie auch eine Beziehung zur Wissenschaft haben können, was schließlich auch bedeutet, daß Sokrates, anders als Nietzsche, keine prinzipielle Differenz zwischen sich und dem Volk installieren muß. Die zweite Bemerkung ist auf die gravierende Folge des Verlusts an Sachlichkeit bezogen und hat mit dem Begriff der Philosophie zu tun, den wir Sokrates verdanken, dem Nietzsche aber nicht gewachsen ist. Auch hier nehme ich eine Notiz aus dem Nachlaß von 1875 auf, die das Leiden an Sokrates verrät, ein Leiden, das sich Nietzsche im Pathos der Distanz erträglich und produktiv zu machen versucht. „Socrates: da bleibt mir nichts als ich mir selbst; Angst um sich selbst wird die Seele der Philosophie." (NF 1875, 6 [21]; 8, 106) Das ist zunächst ein kaum zu überbietendes, tief bewegendes Zeugnis existentieller Nähe. Sokrates ist ihm so nahe wie er sich selbst. Eine Distanz ist nicht erkennbar:
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Volker Gerhardt
Denkt er an ihn, dann ist er bei sich selbst. Aber in dieser Nähe verwechselt Nietzsche sich mit seinem Vorbild: Er hält die Furcht (deos),u die den Sterblichen befallt und gegen die Sokrates alle Tugenden, vor allem aber die Tapferkeit aufbietet, für die „Angst", die der Nihilismus sich selbst erzeugt. Im Zeichen des Nihilismus wird die „Angst um sich" tatsächlich zur Seele der Philosophie. Die sokratische epimeleia, die „Sorge um sich selbst", aber ist von ganz anderer Art: Sie stammt aus dem Ernst (spoude), in dem sich das Individuum (als der Teil, der es in seiner Unteilbarkeit ist) mit dem Ganzen verbunden weiß und mit dem es seinen Platz stellvertretend für jeden anderen Teil der Ordnung, zu der es gehört, behauptet. Die Unsterblichkeit des Sokrates ist das Zeugnis der unverbrüchlichen Beziehung des Einzelnen zum Ganzen, dem er allein deshalb verpflichtet ist, weil er von ihm weiß. Dieses Wissen, das ja stets das eigene Wissen ist, enthält die Verbindlichkeit zu einem ihm entsprechenden Handeln. Wer nicht in Widerspruch zu sich selbst geraten will, wer auch nur Interesse an seiner Einheit als Einzelner hat, der sucht seiner Einsicht zu folgen. Die befolgte Einsicht aber ist die Tugend. Zarathustra predigt die Tugend, als sei sie seine eigene Erfindung. Er verlangt „Tapferkeit", „Gerechtigkeit", „Treue", Wahrhaftigkeit" und „Redlichkeit". Die „Angst" überläßt er den „letzten Menschen", die allemal froh sind, daß sie mit dem Leben davon kommen. Der Übermensch hingegen beweist seinen „Mut" gerade auch gegenüber dem Tod. So greift auch Zarathustra im Medium des Wissens über die Lebensgrenze des Individuums hinweg. Weit davon entfernt, die „Angst" zur „Seele der Philosophie" zu machen, gründet er das Schicksal der großen Seele auf die „Tapferkeit" und auf das, was Nietzsche amor fati nennt. Es ist eben das, was Sokrates in der These über die „Unsterblichkeit der Seele" zu beweisen sucht. Indem Nietzsche auf die „Liebe", auf die „Tapferkeit" und die anderen Tugenden setzt, glaubt er auf das Wissen verzichten zu können. Für ihn ist mit dem „Erkennen" der Untergang des Menschen besiegelt.12 Was dem Sokrates die individuelle Sicherheit des Handelns gibt, gilt Nietzsche als Anzeichen für die größte Gefahr. Auf diese Diskrepanz bezieht sich meine dritte und letzte Bemerkung.
In der Eröffnungsszene der Politeia läßt Piaton den alten Kephalos die Befindlichkeit eines Menschen vor dem Tod beschreiben. Kephalos verwendet die Ausdrücke hypopsia (Argwohn, Verdacht), deima (Frucht, Schrecken; Schrecknis, Schreckbild), phrontis (Sorge, Besorgnis, Kummer) und deos (Furcht, Scheu, Angst vor einer Gefahr) (Res pub 330d/e). In anderen Zusammenhängen ist auch von phobos (Scheu, Furcht, Schrecken, Angst; Ehrfurcht) die Rede. „In irgend einem abgelegnen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte, aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mußten sterben." (Ueber das Pathos der Wahrheit; 1, 759f.; später entsprechend in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne; 1, 875)
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13. Sokrates treibt Musik Nietzsche spielt seine musikalische Begabung gegen Sokrates aus, und da für ihn, als Schüler Schopenhauers, die Musik das Tragische schlechthin zur Darstellung bringt, spricht er dem angeblich unmusikalischen Sokrates das tragische Bewußtsein ab. Das klingt nur so lange schlüssig, wie man nichts von Sokrates und Piaton weiß ja vielleicht auch nur, so lange man an die kompositorische Begabung Nietzsches glaubt. Für Piaton kann es als erwiesen gelten, daß er aus tragischem Bewußtsein philosophiert. Denn warum will er als politischer Gesetzgeber die Aufführung von Tragödien einer besonders strengen Prüfung unterziehen? Weil die Gesetzgebung allemal das größere Drama darstellt! Kein Geschehen auf der Bühne kann die Tragödie dessen, der sich mitten im Leben an die Gestaltung des Lebens wagt, übertreffen (Nomoi 817b/c). Und Sokrates? Hat er nicht die Tragik seiner eigenen Lebensleistung vor Augen, wenn er nur an Alkibiades denkt? Und wie steht es mit Charmides oder gar mit Kritias, dem Wortführer der Tyrannen, der sich einst als sein Schüler gebärdete? Welche Lehre erteilen die personifizierten Gesetze, wenn sie Sokrates anhalten, sein Todesurteil als rechtmäßig hinzunehmen? Von der Tragik dieses Todesurteils will ich gar nicht sprechen. Hätte nicht Piaton allen Grund zu der These gehabt, daß nach diesem Urteil keine Philosophie mehr möglich ist? Und Sokrates selbst? Was mag er empfunden haben, als er noch an seinem Todestag erfahren muß, daß die um ihn versammelten Schüler, trotz der aktuell nachhelfenden Unterweisung, seine Lebenslehre nicht verstehen? Sie begreifen noch nicht einmal angesichts seines Todes, daß Philosophieren sterben lernen heißt. Die Modernen sind darin nicht besser als die anwesenden Schüler des Sokrates. Dafür aber haben sie, zumindest seit der Romantik, so viel von Ironie gehört, daß sie wenigstens in der sokratischen Ironie den tragischen Untergrund erkennen könnten. Außerdem hat sich das Verständnis der Kunst so beträchtlich erweitert, daß heute niemand mehr erwarten wird, Sokrates müsse ein Musikinstrument spielen oder Verse schmieden, um als Künstler gelten zu können. Daß nun ausgerechnet Nietzsche der Ironie des Sokrates auf den Leim geht und glaubt, es habe erst einer poetischen Bearbeitung Äsopischer Fabeln bedurft, um den Beweis seiner musischen Begabung zu erbringen, kann man nur als ein fatales Mißverständnis bezeichnen, zu dem er freilich durch sein Vorurteil gegenüber dem Wissen disponiert ist: Sokrates hat ja Recht darin, sein Philosophieren als seine „Musik" zu bezeichnen. Auch das Erkennen hat eine Melodie; das Denken ist dem Tanz verwandter, als Zarathustra zu wissen scheint. Wie musikalisch Sokrates nicht nur im bloßen Denken, sondern auch in dessen Darstellung ist, zeigt er in dem mit Leichtigkeit erzählten Mythos vom Kreislauf der Seelen im Kreislauf der Welt, die in einem Kreislauf aller Elemente besteht (Phaidon 107d ff). Die Unsterblichkeit liegt schon darin, eine solche Dichtung unmittelbar vor dem eigenen Tod erzählen zu können. So gehorcht Sokrates seinem Gott. Seine über die Jahrtausende hinausragende Größe haben wir nicht zuletzt darin zu sehen, daß er, ohne das Wissen zu schmähen, gläubig bleibt und an den Grenzen des Wissens zum Dichter wird. Es ist bekannt, daß Sokrates schon alle wesentlichen Einsichten der Religionskritik zur Verfügung stehen; schon den frühen Dialogen Piatons ist zu entnehmen, welche Distanz zu den Dichtern, Rhapsoden -
und Rhetoren möglich und nötig ist. Denn das Wissen ist und bleibt das Element, auf das der Mensch alles beziehen können muß, wenn es für ihn eine mitteilbare Bedeutung haben soll. Davon ist Sokrates trotz seiner unübertroffenen Einsicht in die Grenzen des Wissens nicht abgerückt. Im Gegenteil: Er erkennt, daß die Grenzen des Wissens uns nur deshalb auf die Kunst und auf das Vertrauen in die Götter verweisen, weil wir sie nur wissend schätzen können. Die mögliche Einheit von Selbst und Welt, die uns in Kunst und Gott gegenwärtig ¡st, haben ihren mitteilbaren Wert nur im Medium des Erkennens. Nur im begrifflich vermittelten Wissen kann sich der Mensch seines eigenen Werts versichern. Nur in seinem Licht lassen sich alte Tugenden und neue Werte fordern. Also hat auch Nietzsche in allem, was wir von ihm wissen, auf das Wissen gesetzt. Auch er hat sich in seinem Verlangen nach der Kunst, in der verzweifelten Suche nach neuen Horizonten und in seinem Wunsch, dem Ganzen des Daseins einen neuen Wert zu geben, faktisch aufsein Wissen gegründet. Es ist das Rätsel seiner Wirksamkeit, daß er sich in diesem Punkt nicht eingestehen konnte, was er tat. Vielleicht wollte er nicht zu erkennen geben, wie nahe er Sokrates wirklich stand und: daß er den Kampf gegen ihn nicht gewinnen konnte. Aber sein Kampf hat nunmehr den Vorteil, daß uns Sokrates heute noch näher sein kann. Wir wissen nun genauer, wofür wir mit ihm zu kämpfen haben. Dazu gehören nicht nur mit Nietzsche die Vernunft, die Tugend und die Wissenschaft, sondern auch gegen Nietzsche das Recht und die Menschlichkeit. Allein darin verdanken wir Nietzsche mehr als jedem anderen Philosophen nach Kant und Hegel. Der Wert alles dessen, was er preiszugeben versuchte, kann und muß uns größer erscheinen, als dies aus der Optik des neunzehnten Jahrhunderts zu erkennen möglich war. Das zwanzigste Jahrhundert hat uns vor Augen geführt, welch verheerende Folgen es haben muß, auf Recht und Demokratie, auf Menschlichkeit und Vernunft zu verzichten. Im einundzwanzigsten Jahrhundert kann uns Nietzsche immerhin lehren, daß der Mensch seine großen Aufgaben nur im Bewußtsein seiner Individualität angehen kann. Die Individualität aber kann weder von ihrem Leib, noch von der „grossen Vernunft" dieses Leibes abgetrennt werden. Also gehören auch die Sinnlichkeit und die Kunst zu ihren Elementen. Aber wir verstehen weder den Leib noch die Sinnlichkeit noch die Kunst, wenn wir uns nicht selbst verstehen. Und dieses Selbstverständnis vollzieht sich, wie Sokrates wußte, im Medium von Begriffen, in denen wir niemals bloß bei uns selber sind. Wenn wir diese kleine Einsicht in die Komplementarität von Individualität und Universalität in der Lektüre Nietzsches nicht vergessen, wenn wir seine Nähe zu Sokrates begrifflich einlösen, dann werden seine Schriften auch im einundzwanzigsten Jahrhundert unverzichtbar sein. -
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Carlo Gentili
Die radikale Hermeneutik Friedrich Nietzsches
Die Einbeziehung Nietzsches in den Horizont der hermeneutischen Studien kann nicht für einen unrechtmäßigen, a posteriori vollzogenen, durch die letzten Entwicklungen bedingten Vorgang gehalten werden. Im Gegenteil, sie fuhrt uns zu dem problematischen Umfeld zurück, in dem die Hermeneutik ihre Selbständigkeit durch einen scharfen Gegensatz zur philologischen Tradition errungen hat. Demnach wollen wir auf den frühen Nietzsche zurückgreifen, nämlich den Nietzsche, der dem Griechentum neue Bedeutung verlieh. Dabei müssen wir aus Platzmangel, gezwungenerweise, die Entwicklungen, die dieser Ansatz auf Nietzsches späteres Denken überträgt, außer acht lassen. Nietzsches Interesse für die Griechen entsprang weder der bloßen Gelehrsamkeit noch dem Wunsch, das Wissensfeld der klassischen Studien zu erweitern, sondern der Überzeugung, daß im Griechentum noch ein Kulturmodell wahrnehmbar wäre, das Anwendungsmöglichkeiten auf die gegenwärtige, insbesondere auf die deutsche Welt finden könne. Das führt Nietzsches Unternehmen in Bezug auf das Altertum zu einem Paradoxon: Einerseits setzt er die Instrumente seiner Bildung als Altphilologe ein oder glaubt es zu tun während er andererseits gerade mit diesen Instrumenten ein Ziel verfolgt, das dem der philologischen Überlieferung gegenübersteht. In diesem Zusammenhang muß der Streit, der nach der Veröffentlichung von Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik zwischen Nietzsche und den Philologen ausbricht, gelesen werden. Es geht dabei nicht nur um einen Streit zwischen Schulen (F. Ritschel und O. Jahn) wobei es auch und nicht nur nebensächlich das ist sondern allgemeiner: Dieser Streit spiegelt den Gegensatz zwischen einem orthodoxen philologischen Ansatz (d.h. auf einer historisch-kritischen Methode nach Wilamowitz) und einem als hermeneutisch definierbaren Ansatz wider, den Nietzsche, und nach ihm Rohde, ästhetisch nennen wird. D.h., dieser Ansatz wird letztendlich von einer Frage bestimmt: von der Frage nach der Rolle der Kunst in Bezug auf die Wissenschaft die sich in der damaligen deutschen Kultur als zeitgemäß stellt. In diesem Zusammenhang tritt die Neudefinition der Zweckbestimmung der Wissenschaft mit der jüngsten philologischen Überlieferung in Konflikt. Die Ziele der Wissenschaft werden nämlich durch Berücksichtigung des ästhetischen Gesichtspunktes in Frage gestellt, dagegen hatte die oben genannte philo-
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logische Tradition, die sich als selbstaufbauende, selbstverstehende, wissenschaftliche Disziplin betrachtete, die Absicht, sich von jeglicher vermeintlichen philosophischen Einmischung frei zu machen. Viktor Pöschl bietet uns einen klaren Umriß der Einwurzelung von Nietzsches Verstehensauffassung in der Beurteilung des Altertums seitens der deutschen Kultur während der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts als die Aufgaben der Hermeneutik auch in Hinblick auf diese Beurteilung definiert werden. Schon W. von Humboldt, Goethe und F. A. Wolf hatten in ihren Werken darauf hingewiesen, daß das Studium des Altertums nicht nur dem Interesse der Gelehrsamkeit Folge leisten solle, sondern die Pflicht innehabe, Modelle für eine konkrete und aktive Bildung zu erbringen. Demnach wird das philologische Wissen auf seine Lebensdienlichkeit hin geprüft. Aus Goe-
thes Motto „man muß etwas sein, um etwas zu machen" wird nach Pöschl in Nietzsches Perspektive der Grundsatz „man muß etwas sein, um etwas zu verstehen". „Wer sich mit Kulturphänomenen befasst", führt Pöschl seine Nietzsche-Interpretation weiter, „darf sich nicht auf eine nur rationale und nur rezeptive Tätigkeit beschränken. Im Akt des Verstehens ist die ganze Existenz involviert." Gerade das Fehlen dieser Bezugnahme ist das, was Nietzsche der Philologie seiner Zeit vorwirft. Nach Pöschl ist Nietzsche ein Vorläufer dieser grundsätzlichen Auffassung der Hermeneutik, die dann bei Gadamer voll zum Ausdruck kommen wird, weil dieser die Lebensdienlichkeit als ganzheitliches Moment des Verstehens hervorhebt. Für Nietzsche geht es folglich darum, so wie er es in der Fröhlichen Wissenschaft behaupten wird, „ob die Wissenschaft im Stande sei, Ziele des Handelns zu geben, nachdem sie bewiesen hat, dass sie solche nehmen und vernichten kann". Nietzsches Einstellung zur Wissenschaft die sozusagen das Rückgrat seiner reiferen Überlegungen ist wird gerade bedeutend durch seine Einstellung zur Philologie, von der Geburt der Tragödie an, vorgegriffen. Wir können hier jetzt nicht die Frage beantworten, ob Nietzsches Philosophie kurzerhand als antiwissenschaftlich abgefertigt werden soll, oder ob sie nicht vielleicht eine Phase kritischer Revision der Wissenschaft innerhalb ebendieser Philosophie einleitet und voraussagt. Sicher ist, daß Nietzsches Einstellung nur verstanden werden kann, wenn man den Bruch, zu dem es in Deutschland um die Jahrhundertmitte im Bereich der Altertumsstudien kam, in Betracht zieht, weil sich gerade daraus die Hermeneutik als selbständige Disziplin entwickelt hat. Daß die Wissenschaft nicht nur die Aufgabe innehabe, das Wissen zu erweitern, sondern auch die Ziele des Handelns bestimmen solle, war Teil einer philosophischen Beurteilung der Wissenschaft: sowohl bezogen auf ihren Status als auch auf ihre Methode. Auf diese Anforderung hin reagierte die Philologie wie oben angedeutet indem sie sich in eine rein methodische Dimension zurückzog, und als eigene Aufgabe die der schlichten Textinterpretation ansah. Im Gegensatz zu einer gegliederteren und umfassenderen Betrachtung der Altertumswelt, die deren Wert als Vorbild für das moderne Kulturleben herstellt, im Gegensatz zu einer methodischen Auffassung, die die Ganzheit der Kultur bewahrt, indem die inneren Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Formen des geschichtlichen Wissens hervorgehoben werden, entscheidet sich die Philologie für den Weg des methodischen Selbstverständnisses. Dadurch macht sie sich von -
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Die radikale Hermeneutik Friedrich Nietzsches
der
Philosophie unabhängig,
aber
gleichzeitig verwehrt
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sie sich damit eine
ganzheitli-
che, geschichtliche Beurteilung der Altertumswelt. Daß die akademische Welt die von August Boeckh eröffnete Perspektive ablehnte, brachte diese idealistischen
Entscheidung eindeutig zum Ausdruck. In Übereinstimmung mit seiner Bildung, die dennoch durch die Auseinandersetzung mit W. von Hum-
boldt, Wolf, Ast und Schleiermacher belebt worden
war, konzentriert Boeckh seine Aufmerksamkeit auf die universale Produktivität des menschlichen Geistes. In diesem Rahmen faßt er die Philologie als „eine Wiedererkenntniss und Darstellung des ganzen vorhandenen menschlichen Wissens" auf, das gemeinsame Wurzeln mit der Philosophie hat, insofern sie „in Bezug auf die Erkenntniss des Geistes coordinirt" ist: „die Philosophie erkennt primitiv, gignwvskei, die Philologie erkennt wieder, ajvagignwvskei". Die Philologie ist folglich einerseits ein Erkennen des Erkannten und andererseits und gleichzeitig, weil Suche nach dem strukturalen Prinzip der Geistesproduktivität, Teil der Philosophie. Sie löst die Besonderheit der Aufgabe im universalen Netz der Beziehungen, die die Kultur ausmachen, wobei sie die Form einer Enzyklopädie annimmt. Boeckh gelangte zu diesem Ergebnis, indem er sich Schellings in den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums enthaltenen Methodenangaben zu eigen macht. Schelling definierte den Begriff der Methode in Bezug auf das Universale und Absolute und wies dabei daraufhin, daß die Lehre dieser Methode „aus der wirklichen und wahren Erkenntniß des lebendigen Zusammenhangs aller Wissenschaften hervorgehen könne". Diesen Zusammenhang, der die Universalität der Wissenschaft verwirklicht, kann nur die Philosophie erfassen, insofern sie „besondere Wissenschaft" und gleichzeitig „die absolut allgemeine" ist. Gegen den behaupteten Vorrang der Philosophie wurde der universalen Methodologie Boeckhs eine streng disziplinare Methodik entgegengestellt. Das antiphilosophische Vorurteil begann sich schon bei K. Lachmann, Boeckhs Kollegen in Berlin seit 1829, herauszubilden und fand dann bei O. Jahn, dem künftigen Lehrer Wilamowitz', und sogar bei F. Ritschi, dem künftigen Lehrer von J. Bernays, H. Usener und Nietzsche, überzeugte Parteigänger. Erst in den achtziger Jahren und dank dem Werk von Usener, der Ritschi 1866 auf den Lehrstuhl in Bonn gefolgt war, erfahrt die Art und Weise, wie die Philologie aufgefaßt wird, laut M. Landfester „eine hermeneutische Neuorientie-
rung".
Die soeben genannten Namen fuhren uns zur Aktualität unseres Problems zurück. Der schnell umrissene Hintergrund ermöglicht uns, die Polemik, die Nietzsche und Rohde Wilamowitz gegenüberstellten, hermeneutisch auszulegen. Doch diese Auslegung bedarf einer Prämisse, die nur in einer Frage ausgedrückt werden kann: Wie ist es möglich, daß Nietzsche, trotz offensichtlicher philologischer und geschichtlicher Verdrehungen, die der junge Wilamowitz genau feststellte, ein als universal gültig anerkanntes Bild des Griechentums geschaffen hat? Eine Antwort ist nur möglich, wenn die berühmte Polemik als Gegenüberstellung von Methoden verstanden wird, die die Ziele des Altertumsstudiums in der Universalität der Kultur unterschiedlich betrachten. In der ersten Buchbesprechung der Geburt der Tragödie (Zukunftsphilologie!, Berlin, 1872) hebt Wilamowitz den höchsten Widerspruch des Buches, aber auch, natürlich unwillentlich, dessen spezifische Qualität hervor: „herr Nietzsche", schreibt er, „tritt ja
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nicht als wissenschaftlicher forscher auf, seine Weisheit ist eine „auf dem wege der intuition erlangte". Wilamowitz erfaßt klar den Widerspruch zwischen einer Überlieferung, die beabsichtigte, ihr Erbe auf einer „historisch-kritischen Methode" aufzubauen, die „wissenschaftliches Gemeingut" geworden ist, die von „Erkenntnis zu Erkenntnis" geht, die jedes geschichtliche Phänomen „allein aus den Voraussetzungen der Zeit, in der sie sich entwickelt", versteht und dieser neuen, vorurteilslosen und antiwissenschaftlichen Art, die auf dem Wege der Intuition vorgeht. Und gerade wegen dieser vermeintlichen „Wissenschaftlichkeit" der philologischen Tradition greift Rohde Wilamowitz an. In seiner Widerrede (Afterphilologie, Leipzig, 1972), überschüttet er den Gegner mit der gleichen Beschuldigung des proton pseudos, die an Nietzsche gerichtet worden war. Die Antike mit den Augen der Wissenschaft betrachten wollen, bedeutet, ihr einen Gesichtspunkt, besser gesagt, eine wahre geistige Perspektive überzustülpen, die ihr nicht eigen ist: Es ist eine „naive Unklarheit", mit der „ein Jeder [d.h. Wilamowitz], ohne immer deutliches Bewußtsein, seine eigenen Lieblingsvorstellungen auf das Alterthum überträgt". Das bedeutet, hermeneutisch gesagt, daß der Gegenwartshorizont einfach durch den Vergangenheitshorizont ersetzt wird; verkennt man den geschichtlichen Umstand des Bruches mit dem Altertum, wird der Abstand zwischen Gegenwart und Vergangenheit mit dem eingeschlichenen Eingriff einer Methode gefüllt, die gerade davon ausgeht, daß es diesen Bruch in der Wirklichkeit nie gegeben habe. -
V. Berichte und Informationen
Hans-Joachim Koch
Herbst-Kolloquium 2000 der Stiftung
Nietzsche-Haus in Sils-Maria Schwerpunktthema: „Also sprach Zarathustra"
Nach der Begrüßung und Einführung in das diesjährige Thema durch den Stiftungspräsidenten Karl Pestalozzi zerstreute Peter Villwock (Zürich) das Vorurteil, daß Zarathustra ein „Unterhaltungs-Buch" sein könnte; nein: „Pfui Teufel!", so schrieb Nietzsche am 6. April 1883 an Freund Köselitz. Seine erste Begegnung mit Zarathustra hatte Nietzsche 1881, als er bei Emerson den Namen erstmalig las. Im Herbst 1887 konzipierte Nietzsche „das vollkommene Buch". In ihm sollte am Schluß von Ariadne, Theseus und Dionysos ein Satyrspiel aufgeführt werden. Damit sind wir bei der letzten Metamorphose des Zarathustra angelangt: seine Verwandlung in Dionysos. Schon im Empedokles-Projekt von 1870 hatte dieser griechische Gott auftreten sollen. In Nietzsches letztem Werk von Anfang 1889, den Dionysos-Dithyramben, scheinen Zarathustra und Dionysos zum Verwechseln ähnlich. Das Ende des letzten Dithyrambus „Von der Armuth des Reichsten" enthält die letzten Worte, die Nietzsche überhaupt geschrieben hat: Die Eingangszeilen enthüllen Nietzsches Inbegriff der Einsamkeit. Ohne einen verständnisvollen Gesprächspartner erlebte und durchlitt er seine Selbsterfahrung. In dem Dithyrambus „Zwischen Raubvögeln" hat er diese Thematik zusammengefaßt. Nietzsches letztes Wort ist „Wahrheit". Eine Wahrheit des Zarathustra lautet: das ewige Weitergeben. Den Abendvortrag des ersten Kolloquiumtages bestritt Karl Pestalozzi mit dem Thema „Zarathustras prophetisches Reden im Kontext der Epoche". Hart-Nibbrig bezeichnete den Redner als den Garanten dafür, daß wir nicht abdriften in Alpinismus oder Weltanschauungs-Geschwafel. Pestalozzi berichtete dann über ein ZarathustraBuch aus dem Jahre 1904 von dem lutherisch-liberalen Theologen Albert Kalthoff, der in seiner Kirche in Bremen Zarathustra-Predigten gehalten habe. Später suchte er Sozialismus und Christentum zu verbinden. Schließlich sah er in Nietzsche den Erneuerer des übereralterten Christentums und den Erneuerer der Kultur. Nietzsche beteiligte sich schon früh an der Diskussion über D. F. Strauss. Seine Erste Unzeitgemässe Betrachtung stellt eine einzige große Abrechnung mit dessen Buch dar. Sein Hausgenosse und Freund, der Theologe Franz Overbeck, dachte ähnlich über die Unmöglichkeit, das Christentum zu modernisieren. Nietzsche hatte in seiner Geburt der Tragödie bereits das Neue, die Wiederkunft des Dionysos, festgeschrieben. Seine späte-
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ihm katholisierend erscheinenden Parsifal war deshalb weil dieser die Hoffnung groß, Lügen strafte, die Nietzsche in Wagner gesetzt hatte. Als freier Geist versagte er es sich, über die Negation des Christentums hinauszugehen, er hielt sich offen für ein Neues, das er noch nicht kannte. Mit seinen Freunden planten sie ein Kloster für freie Geister als Vorbereitungsstätte für die Zukunft Europas. Die Struktur des Zarathustra ist darin vorbereitet. In der Folge entstanden die Aphorismenbücher von Menschliches, Allzumenschliches bis zur Fröhlichen Wissenschaft. Es ist erstaunlich, daß Nietzsche mit Also sprach Zarathustra seine Darstel lungs weise erneut wechselte und sich nun als Dichter präsentiert. Literaturgeschichtlich destruierte Nietzsche das inhaltlich Ausgesagte der Bibeltexte; er nimmt ihre sprachliche Autorität in Anspruch, um ihre inhaltliche Autorität zu untergraben. In dem Abschnitt „Von den Hinterwäldlern" spricht Zarathustra von seinen Leiden am Christentum, an das er wie an Gespenster geglaubt hätte (KSA, ZA, 4, 2ff.)); er spricht jetzt die Sprache eines Abtrünnigen. Ein anderes Register ist die KlassikerParodie. Im Kapitel „Vom Lande der Bildung" gibt es eine autobiographische Erklärung: „Wahrlich, ihr könnt gar keine besseren Masken tragen, ihr Gegenwärtigen, als euer eignes Gesicht ist! Wer könnte euch erkennen] Vollgeschrieben mit den Zeichen der Vergangenheit, und auch diese Zeichen überpinselt mit neuen Zeichen: also habt ihr euch gut versteckt vor allen Zeichendeutern!" (Ebenda, 19ff.) Der Bezug zu dieser Parodie ergibt sich im Bildungsstand, in den Naturwissenschaften als auch im Ersatz für den sonntäglichen Gottesdienst in der Lektüre der deutschen Klassiker und dem Hören von deutscher Musik. „Ach, wie bin ich all des Unzulänglichen müde, das durchaus Ereignis sein soll!! Ach, wie bin ich der Dichter müde!", so stöhnt Nietzsche durch den Mund Zarathustras (ebenda, 1 f.). Man denke an das Kapitel „Von alten und neuen Tafeln": „Hier sitze ich und warte, alte zerbrochene Tafeln um mich und auch neue halb beschriebene Tafeln. Wann kommt meine Stunde?" (Ebenda, 3 ff.) Die Dissertation von Klaus Zittel „Das ästhetische Kalkül von Nietzsches Also sprach Zarathustra" (Würzburg 2000) enthält folgendes Fazit: „Zarathustra glaubt selbst nicht an seine Wahrheiten. Tritt er als Prophet auf, darf man sich von ihm nicht irreführen lassen [...] Nietzsche selbst macht unmißverständlich klar, was er von Propheten hält."1 Nietzsche warnt oft genug selbst davor, seine Selbstdarstellung für bare Münze zu nehmen. „Zittels extreme Infragestellung der Prophétie im Zarathustra kam mir gelegen", so Pestalozzi „weil die Zeiten schrecklicher historischer Erfahrungen dahinterstehen, die Europa im vergangenen 20. Jahrhundert mit Propheten eines Dritten Reiches oder eines erreichbaren glücklichen Endzustandes der Geschichte erschüttert haben." Als Renate Reschke über das Treffen des Dionysos mit dem Papst sprach, ging der Tanz so richtig los. Tanz und das Tänzerische haben tragende Bedeutung für die Selbstbestimmung und Selbstdarstellung der Figur des Zarathustra, ja er ,definiere sich' geradezu über den Tanz. Wichtig sei auch, daß es eine Spannung gebe zwischen dem Tanz als der realen Aktion und der Metapher des Tanzens. „Nietzsche breitet das ganze Spektrum aus und arbeitet es an der Spannung daran ab." An der Art und Weise des Tanzes re
Enttäuschung über Wagners
so
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Nietzsche unserer
spielt hier auf das an, was er in der nachgelassenen Schrift „Gedanken über die Zukunft Bildungsanstalten" ausführt (KSA 1, 761-763).
Herbst-Kolloquium 2000 der Stiftung Nietzsche-Haus in Sils-Maria
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zeige sich eine ganze Kultur. Wie und ob überhaupt getanzt würde, darin zeige sich für Nietzsche auch der Wert einer Religion. Tanz wirke hier als Metapher der Opposition und der Destruktion und zugleich als Formulierung eines Gegensatzes, wenn sich mit Tanz für ihn zugleich Helle, Leichtigkeit und Transparenz verbinden. Damit umreiße
Nietzsche seine gesamte Kulturkritik: 1. Zarathustra trifft die alten Männer (KSA, 4, 317ff), die noch immer die Welt regieren und weiter regieren wollen. Sie wissen gar nicht, daß sie schon gestorben sind. Lieber tanzen. Es sind die Beine, die die Differenz der unfreiwilligen Gegner ausmachen. Doch der Papst und die Gesellschaft der alten Männer geben nicht auf. Gierig nutzen sie ihre kleine, lächerliche Energie, um nicht abtreten zu müssen. Sie werden zu Puppen, die tanzen müssen, nach einer Melodie, die anachronistisch vielleicht mehr die zu ihnen passende Bewegung parodiert. Sie zeigen damit ihr Unvermögen, sich und ihr Werk erhalten zu können. Der letzte Papst endet mit der machtideologischen Floskel „Lieber Gott anbeten in dieser Gestalt, als gar keine Gestalt." Zarathustras Hoffnung stirbt an einer Verzerrung der Tanzähnlichkeit mit der alten Welt. 2. Anmaßendes Tanzen oder Dionysos imitiert Gott. Zarathustra nimmt für sich die Weltbestimmung als Tänzer in Anspruch. Als Wirbelwind muß er ein guter Tänzer2 sein. Die Inszenierung des tanzenden Gottes wird zur Selbstinszenierung des tanzenden Propheten. Durch den Tanz fordert Nietzsche eine ganze Religion heraus, um sie ad absurdum zu führen. Tanz und Lachen sprengen die Ordnungen der Schwere, befreien zu einer Erfahrung des Raumes gegen das Bewußtsein der Schwere. Gegen den Tanzrausch einer gierigen Moderne setzt Nietzsche den Tanzrausch der dionysischen Mysterien. Der ekstatische und der sanfte Tänzer-Gott sind des christlichen Gottes Rivale. Ihn zu ehren tanzt niemand mehr. Sein Symbolwert wird dem Christentum suspekt und damit fremd. Er läßt Zarathustra sagen: „Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde." (KSA, 4, 28) Die Vorstellung vom tanzenden Gott opponiert gegen den Gott der Christen, gegen Christus, gegen das Kreuz, gegen das gewaltsam festgehaltene, gemaßregelte Leben. Vielleicht kann Zarathustra den tanzenden Gott Dionysos erst denken, weil der anmaßende christliche Gott schon tot ist? Nietzsche setzt den antiken Gott wieder in seine Rechte. Die große Vernunft des Leibes wird neben der Ideologie des illusionär gewordenen christlichen Machtanspruches als Nietzsches Argument gegen die Décadence sichtbar. Mit dionysischem Lachen wird auf leichtem Fuß über die Sinnenfeindlichkeit hinweggetanzt. 3. Der Tanz des Denkens gegen die Moderne? Im Tanz kann die Grenze des Bewußtseins aufgehoben werden. In der Geburt der Tragödie heißt es über den Hang der sokratischen Kultur zum Unsinnlichen und zur Instrumentalisierung der Vernunft: „der Tanz ihres Denkens stürzt sich sehnsüchtig auf immer neue Gestalten [...], um sie zu umarmen." (KSA, GT, 1, 119) Das Erschrecken des theoretischen Menschen vor den Konsequenzen seiner Art zu denken und zu leben hat ihn in eine todessüchtige Verzärtelung getrieben, an seinen „Druckfehlern [ist er] elend erblindet." „Das Denken [will] -
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R. Reschke, „Das anmaßende Tanzen des Gottes oder Dionysos dementiert Gott", in: V. Gerhardt (Hg.), Also sprach Zarathustra, Berlin 2000, 263. Dies., „Tanzen-Lachen-Tod oder Der Tanz des Denkens (gegen die Moderne)" in V. Gerhardt (Hg.), Also sprach Zarathustra, a.a.O., 273-278.
Hans-Joachim Koch
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wie das Tanzen gelernt sein will als eine Art Tanzen [...] Tanzenkönnen mit den Füssen, mit den Begriffen, mit den Worten; habe ich noch zu sagen, dass man dass man schreiben lernen muss?" (KSA, GD, 6, es auch mit der Feder können muss,
gelernt sein,
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26-29)
Zarathustra läßt seine Philosophie tanzen. In der Liaison von Denken, Traum und Tanz verschieben sich die Perspektiven für Dinge aufs Wesentliche und aufs Lebendige: „dass sie lieber noch auf den Füssen des Zufalls tanzen". Heraklit lieferte das Bild
Aion als spielenden Knaben, der in seiner weltbildenden Tätigkeit das ewige Auf und Ab des Seins auf dem Würfelbrett realisiert. Zum Tanzen gehört das Lachen wie das dem Tänzerischen komplementäre Element des Weltbezuges (KSA, ZA, 4, 29f). Dieses Lachen dient der Destruktion eines Denkens, dessen einzige Kennzeichen ein eskalierender Vampirismus gegen das Denken und das Leben ist. Nietzsche sieht aber auch die Kehrseite von Tanzen und Lachen. Dem Tanz des Gottes steht auch eine Art Höllentanz zur Seite; dem Lachen kann sich der Schrecken anverwandeln. 4. Zarathustra, der mit dem Leben tanzt. Das Bild vom tanzenden Gotte ist das Gleichnis vom Göttertanz als Lebenstanz. Jedem Tanz aber eignet ein nur ihm spezifisches Begehren. So sehr Erotik und Sinnlichkeit zum Leben gehören, Nietzsche bleiben sie suspekt. Es sind die „schlimmen tanzenden nackten Mädchen", die den freien Geistern die Freiheit wieder nehmen und die Seelen in erneute sklavische Abhängigkeit versetzen, wie uns das Tanzlied lehrt. (Ebenda, 139ff.) Im anderen Tanzlied (ebenda, 282ff.) verschieben sich die Präferenzen für den Umgang mit dem Leben. Zarathustra erkennt, daß der Lebende ein Seiltänzer ist, ein Possenreißer. Der Schrecken über den Sprung des Possenreißers unterbricht die lebensbewahrende Anstrengung und führt zum Tod. An dieser Erfahrung ist nicht vorbeizudenken: Zum Bild des Lebens gehört die Balance; im Tanz bewahrt sie vor den Abstürzen und Abgründen, solange man den Tanz beherrscht. In der Table ronde, die die Lektüre „Gesicht und Rätsel" aus Zarathustra II kontrovers diskutieren sollte, kamen im Grunde nur Selbstdarstellungen der Literaturwissenschaftlerin Barbara Naumann (Zürich), des Theologen und Overbeck-Spezialisten Nikiaus Peter (Basel) und des Literaturwissenschaftlers Daniel Müller (Lausanne und Erfurt) zustande. Insgesamt mußte bedauert werden, daß Nietzsche hier den Philosophen „als Lektüre" quasi weggenommen und dem literarischen und theologischen Kühlschrank überstellt oder wie Volker Gerhardt es nannte unter philologische Quarantäne gestellt wurde, wie es die Tendenz der Nietzsche-Forschung der letzten fünfundzwanzig Jahren ist.4 Die Philosophin Beatrix Himmelmann aus Berlin, die bei Volker Gerhardt habilitiert, trug über „Zarathustras Einsamkeit" vor. Die Einsamkeit erscheint als Bedingung für die Steigerung, die Zarathustras Existenz erfahrt. Was aber wird für seine „grosse Seele" zur Gefahr? Seine übergroße Liebe zu den Menschen und das Mitleid mit deren Not? Er ist voll von der Güte des Verschenkens, um leer, d.h. um Mensch zu werden. Verschwendung ist „wahre Liebe". Welcher Art jedoch ist die Erfahrung, die Zarathu-
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Zu „Nietzsche unter philologischer Quarantäne" siehe V. Gerhardt, „Ein Blick zurück auf Nietzsche" in: ders., Vom Willen zur Macht, Berlin/New York 1996, 338, in Anm. 8.
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Marktplatz in der Stadt erntet er Spott und Unverständnis bei seiner Rede vom Übermenschen, den er im Grunde als Chiffre für die Selbstüberwindung und den Weg zu sich selbst verstanden wissen will. Das kann nur jeweils Einzelne angehen. Die Unschuld des spielenden Kindes soll zur positiven Gestaltung der gewonnenen Freiheit führen. Der freie Geist selbst wird zum Schöpfer seiner Orientierungen, seiner Tugenden. „Frei wovon?" nein, „frei wozu? Kannst du dir selber dein Böses und dein Gutes geben und deinen Willen über dich aufhängen wie ein Gesetz? Kannst du dir selber Richter sein und Rächer deines Gesetzes?" (KSA, ZA, stra als Mensch unter Menschen macht? Auf dem
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4,6-10)
Zuletzt erleben wir Zarathustra in seiner Enttäuschung über die Fruchtlosigkeit seines Bemühens um die Menschen, so daß er zuletzt vor den Menschen in die Einsamkeit des Gebirges flüchtet. „Ich trachte lange nicht mehr nach Glück! [sagt er zu seinen Thieren] ich trachte nach meinem Werke." (Ebenda, 10-12) Anke Bennholdt-Thomsen (Freie Universität Berlin) hat 1974 in ihrer Habilitationsschrift „Nietzsches Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen. Eine Revision" den Zarathustra den Philosophen weggenommen und wieder der Literaturwissenschaft übereignet. Es geht darin um einen Handlungsverlauf und die wichtige Unterscheidung von res und verba, das heißt von Gesprochenem und der Art, wie gesprochen wird. Damit sei die Literarizität des Zarathustra wieder allgemeiner ins Bewußtsein gerückt worden. Das Thema hieß „Träume und Visionen als Erkenntnis- und Darstellungsmittel in Also sprach Zarathustra". Träume und Visionen überfallen Zarathustra, die in ihrem Bildmaterial auf die Lehre verweisen und seinem Lernprozeß dienen. Das ewig leidende und widerspruchsvolle Selbst findet darin seinen Ausdruck. Die Rednerin richtete ihre quellenkritische Betrachtung auf die Genese der Kapitel „Der Wahrsager" und „Vom Gesicht und Rätsel" sowie auf die Verfahrensweise Nietzsches. Eine größere Rolle spielt für Nietzsche eine Traum-Erzählung aus dem Roman von Jean Paul Bäume, Frucht und Dornenstücke; oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs (1817), in welcher der tote Christus vom Weltgebäude herab verkündet, „dass kein Gott sei". Die atheistische Aussage dieses Traums befördert einen autobiographischen Zusammenhang mit Nietzsches eigenen Träumen. Als Verzweiflung in den Herzen Platz nahm, rief Christus durch die Staubwolken aus Totenasche: „Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Kennt ihr das unter euch?" Und beim späteren Nietzsche hören wir die Frage des Zarathustra: „Wer trägt meine Asche zu Berge?" (KSA, ZA, 4, 14f.) Bei aller Ähnlichkeit der beiden Traumsphären Jean Pauls und Nietzsches ist festzuhalten, daß Jean Paul die Ewigkeit in Ringen, Kreisen und dem Bild des Regenbogens beschreibt, während Nietzsche in „Die sieben Siegel" Jean Pauls Lektüre umdichtet, indem er den „hochzeitlichen Ring der Ringe [zum] Ring der Wiederkunft" umwertet (ebenda, 16f). Nietzsches Zarathustra hört, am Torweg gegen den Geist der Schwere kämpfend und das Gesicht der ewigen Widerkunft erahnend, einen Hund heulen: „Mein Gedanke lief zurück. Ja! als ich Kind war, in fernster Kindheit: da hörte ich einen Hund so heulen." Zarathustra erschrak und sah den jungen Hirten, wie ihm eine schwarze Schlange aus dem Mund hing. Schließlich ruft er dem Hirten zu, der Schlange den Kopf abzubeißen. Nietzsche zeigt, wie die Selbstüberwindung des Ekels die Rettung bringen kann. Das Ja -
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Leben muß diesen Schmerz bejahen können. In diesem Kontext ist das Heulen des Hundes in Verbindung mit dem Todesgedanken zu werten. Das Heulen und der Glokkenton verbinden Lust und Schmerz. Die Zitate werden jeweils kombiniert mit analogem autobiographischem Material. Nachdem Karl Pestalozzi anfangs auf die Wichtigkeit der Anlehnung an Mazzino Montinaris Nüchternheit in der Quellenarbeit hingewiesen hatte und die seriöse Art, mit Nietzsche umzugehen, sprach dessen frühere Assistentin Vivetta Vivarelli (Universität Florenz) über „Meeresstile" und „röchelnde Todesstille" in Zarathustras metaphorischer Landschaft und warf abschließend einen vergleichenden Seitenblick auf Nietzsche und Arthur Schopenhauer. Während die lähmende Meeresstille bei Arthur Schopenhauer ein seelisches Ideal darstellte, ist sie bei Nietzsche ein Ausdruck des Gemüts: ,,[D]as Meer schläft [...] Aber es atmet warm, das fühle ich. Und [...] dass es träumt." Das ist geradezu der Gegensatz zu einem Leben mit den blinden Augen eines Schopenhauerischen Stoikers. Nietzsches Absicht war es, den Tod umzugestalten, wie es ¡hm in dem geplanten Drama Empedokles vorschwebte. Oder wie seine Jünger Zarathustra dessen schrecklichen Traum in der Burg des Todes deuteten: „,Dein Leben selber deutet uns diesen Traum', oh Zarathustra! Bist du nicht selber der Wind mit schrillen Pfeifen, der den Burgen des Todes die Thore aufreisst? [...] du Fürsprecher des Lebens!" (Ebenda, 174,34-175,13) Die Metapher der Meeresstille scheint in gewissem Sinn seine Beziehung zu Wagner zusammenzufassen. Im Vorwort zu Menschliches, Allzumenschliches bezeichnet Nietzsche seine eigene Wagnerianische Vergangenheit als die schönste, aber auch gefährlichste Meeresstille seiner Fahrt. Die beiden Pole von Windstille des Mittags und Sturmwind mitternächtlicher Todesmüdigkeit fallen im Grunde zusammen. Die Verschmelzung von Zeit und Tageszeit, in der alle schroffen Gegensätze aufgehoben werden, führt uns wieder der Nietzscheschen Ewigkeit zu. Das glatte Meer des Mittags ruht auf der unergründlichen Ebene des Dionysischen. In späteren Notizen bezeichnet der Begriff des Apollinischen das Prinzip des Verharrens vor einer erdichteten Welt, vor der Welt des schönen Scheins. Vor ihr wird der Mensch stiller, wunschlos. Der Name des Dionysos steht dagegen für Werden, als wirkende Wollust des Schaffens, der zugleich der Inbegriff der Zerstörung sein kann (KSA, NF, 4, 611,8-11). Zum Schluß wurde im Publikum noch der Wunsch nach einem Brückenschlag zwischen dem verteilten Blatt über Ernst Machs Wissenschaftsdiskussion und der oben erwähnten „beruhigenden Wirkung von Windstille" laut. Im Kapitel „Von der Wissenschaft" sagt der höhere Mensch zu Zarathustra: „Wir suchen Verschiedenes hier oben, ihr und ich. Ich nämlich suche mehr Sicherheit [...] heute, wo Alles wackelt [...] Ihr aber [...] sucht nach Unsicherheit, Furcht nämlich das ist des Menschen Erbund Grundgefühl [...] Solche lange alte Furcht, endlich fein geworden, geistlich, geistig heute, dünkt mich, heisst sie: Wissenschaft." Gegen diese negative Auffassung von Wissenschaft im Sinne von Windstille, Winter, Stillstand und Bewegung wendet sich Zarathustra dem Gegenteil zu: nämlich mit Mut und Lust, alles Ungewisse und Ungedachte zu bewältigen. Der Text machte deutlich, daß sowohl Mach als auch Nietzsche die zu damaliger Zeit übliche festgestellte Wirklichkeit' heftig kritisierten in dem Sinne, daß alles Begriffliche, das wir über der Natur ausbreiten, nur schematisierte Abzum
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straktionen' und Zeichen sind, die ausschließlich in den Bereich sinnlicher Aneignungsmöglichkeiten gehören, aber ,selbst ein Stück Seele' sind, die ,selbst einen Teil der psychischen Arbeit leisten, und das Ergebnis fertig dem Bewußtsein überliefern'. Mit anderen Worten: Wissenschaftliches Wissen ,beruhigt', bringt ,Windstille', gibt aber keine absolute Orientierungs-Sicherheit. Einen weiteren wichtigen Beitrag lieferte der Sprachwissenschaftler Erich Kleinschmidt (Köln) unter dem Stichwort „Vergessenheit. Überlegungen zu einer amnestischen Kulturtheorie in Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra". Das Gedächtnis
als schmerzende Mnemotechnik, das sich unermüdlich im Kreise dreht, wird bei Nietzsche aber nicht zu einem produktiv erlebten Kulturinstrument, sondern zu einer problematischen Struktur aus Glauben und Schuldigwerden. Vergessen ist kein Mittel der Befreiung. In seiner Sprachtheorie bekämpft Nietzsche geradezu das Vergessen, weil es das Mittel ist, sich Wahrheit einzubilden. Will man Wahrheit denken, muß man sich aber unter die Herrschaft der Abstraktionen, der Verallgemeinerungen begeben, statt sich durch „seine plötzlichen Eindrücke durch die Anschauung fortreissen zu lassen." Kleinschmidt handelte das Vergessen als die Abwesenheit von Erinnerung auf mehreren Ebenen ab. Der weitläufige Exkurs in die Semantik des Vergessens mutete hier vielen Zuhörern wie ein gestelztes und hochgestochenes Abschweifen in abstrakte Gefilde professioneller Sprachtheorie an, die kaum noch eine Nähe zu Zarathustra erkennen
ließ.
langjähriger Besucher der Nietzsche-Kolloquien verspürte „leicht masochistische Regungen" bei seinem Geständnis, daß er „dem Vortrag sehr gerne zugehört und dabei fast alles nicht verstanden" habe; und er quittierte diese Selbstdarstellung der Vergessenheit mit einer satirischen Aufzeichnung von Elias Canetti: „Der Gipfel der Vergeßlichkeit ist doppelt: Du organisierst für einen ein Fest und vergißt, ihn einzuladen!" Ein
Peter André Bloch, der seit 25 Jahren die treibende Kraft und der Gründer des Nietzsche-Kolloquiums in Sils-Maria ist, versprach in seinem Vortrag über „Die Rätselhaftigkeit des Zarathustra" etwas über den Zarathustra zu sagen und eine Synthese der bisher in der Stiftung gehaltenen Referate zu geben. „Was hat sich gewandelt? Die Zeit der großen Assoziationsvorträge ist vorbei, um auf einigen Stichworten Nietzsches eigene Denkszenarien aufzubauen. Seitdem wurde zur Grundlage für den Umgang mit Nietzsche nach Mazzino Montinari die Auseinandersetzung mit dem Nihilismus in Europa, der vielschichtige Perspektivismus und der Kompetenzanspruch des suchenden Nietzsche in der Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften, mit der Erkenntnistheorie, der Theologie und leztlich mit dem Sinn des Lebens, den Nietzsche in der Einsamkeit der Natur zu finden glaubte." Die Rätselhaftigkeit der Welt ist nicht nur durch Denken entschlüsselbar, sondern auch durch Beobachtung und gewissenhafte Auseinandersetzung. Das gilt auch für unsere Standortbestimmung heute, bei der es auch darum geht, sich ernsthaft mit Also sprach Zarathustra auseinanderzusetzen, aber nicht wie etwa Rüdiger Safranski, der sich in einem Interview zu der Behauptung verstieg: „Zarathustra ist Nietzsches schwächstes Buch. Immer der Prophetenton, immer zu viel Pedal, ein langweiliges Dauerpathos, das hält kein Mensch aus. Das ist nur etwas für Übermenschen. Wahrscheinlich hat keiner dieses Buch wirklich von Anfang bis zum Ende durchgelesen. Gewirkt hat das Buch als Gerücht. 1918 und 1945 haben ihm gesinnungs-
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eine Art Kriegsverbrecherprozeß gemacht. So hat Zarathustra überlebt. Ich kann auf ihn verzichten." Er, Safranski, würde als Einstieg viel lieber das vierte Buch der Fröhlichen Wissenschaft empfehlen, das Nietzsche „Sanctus Januarius" genannt habe, es seien fünfzig Seiten, die fast den ganzen Nietzsche auf der Höhe seiner Darstellungskunst enthielten, beschwingt, gedankenreich, wunderschön. Peter Bloch bedauerte diesen Ausrutscher über den Zarathustra sehr, wenngleich auch die Bemerkungen über die Philosophie der Fröhlichen Wissenschaft die ganze Anerkennung Nietzsches durch Safranski erkennen ließen. Im Zarathustra geht es nach Bloch um Verwandlung auf dem Weg zum Übermenschen. Das sei die philosophische Evangelisierung des Freien Geistes. Neu an dem Buch seien die Darstellungsdimensionen. Nach etlichen Diskursen über Initiationsszenen im Zarathustra, über Zarathustra als „Brandstifter" auf dem Weg zum Übermenschen, über die Relativierung des Gottesbegriffs, Nietzsche als Meister des Paradigmenwechsels oder über die Lehre vom Übermenschen besprach Peter Bloch das Rätsel der Selbsterlösung und Selbstverständigung, die so auch Frau Reschke auch auf andere hin angelegt war. Das ganze Treiben auf dem „Esels-Fest" sei angelegt auf Rede und Gegenrede, auf das Bezogensein auf Anderes und auf Andere. Und zu allerletzt wurde sich Zarathustra auch über seine „letzte Sünde" klar: über sein „Leid und Mitleiden". Da erwachte sein ganzer Stolz in ihm und er rief: ,,[W]as liegt daran! Trachte ich denn nach Glücke! Ich trachte nach meinem Werke!" Da sollte für Zarathustra sein
tüchtige Schwachköpfe
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grosser Mittag" beginnen. Der sonntagmorgendliche
Gesprächskreis zum Tagungsthema sollte, wie im Vornoch nicht ausgesprochene Dinge zur Sprache bringen, um dann eine Gesamtdiskussion entstehen zu lassen. Gegenstand des Interesses waren die Fragen um die Apokalypse, um die Vergessenheit und dann um eine etwaige »geschlossene', d.h. systematische Philosophie Nietzsches. Weil gerade Ungeschlossenheit und Widersprüchlichkeit den Reiz von Nietzsches Philosophie ausmachen so resümmierte Pestalozzi das Ergebnis der Fragen nach einer Systematik -, sei die Antwort darauf ein klares Nein! Nietzsche sei nicht zu systematisieren. Der Mystik-Forscher Alois Haas aus Zürich griff als letzter noch einmal das Grundthema auf in seinem Vortrag „,Der grosse Pan ist tot!' Nietzsches Verkündigung des Todes Gottes als aktuelle Provokation". Nietzsche schrieb um die Jahreswende 1870-71 unter dem Einfluß Hölderlins die Skizze Empedokles mit dem Gedanken im Hinterkopf „Der grosse Pan ist tot". Über die Gründe, die zum Tode Gottes dann geführt haben, äußert sich Nietzsche widersprüchlich: 1. Gott wurde ermordet; 2. er starb durch das Christentum, nämlich an seiner eigenen Schwäche; 3. heißt es anderswo wegweisend, Gott erstickte „an der Theologie wie die Moral an der Moralität". Ein Übermaß an theologischem Gerede deckte Gott zu, so daß er überhaupt nicht mehr sichtbar wurde; 4. steckt in all diesen Vorstellungen die Feuerbachsche Lehre, daß Gott ein Produkt des Menschen selber sei, eine Projektion des Menschen darstelle: ,,[d]enn nun wird der Mensch verantwortlich für alles Lebendige", gewissermaßen ein Ersatz für den Tod Gottes, der Mensch selbst wird für sich selbst verantwortlich. Am ausführlichsten äußert sich Nietzsche zum Tode Gottes in dem berühmten 125. Aphorismus der Fröhli-
jahr,
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R. Safranski, „Hundert Jahre Nietzsche
eine -
Biographie", in: Das Buch,
19.
Jg. 2000, 40-41.
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chen Wissenschaft „Der tolle Mensch". Schon im 19. Jahrhundert auf dem Höhepunkt der europäischen Aufklärung ist das Wort vom Tode Gottes zu einem Manifest des Unglaubens geworden. Es sei möglich, daß Nietzsche als Junge mittelalterliche Texte gelesen habe, denen zufolge ein König erkannte, warum sich der Zustand seines Reiches dermaßen verschlechtert habe: durch Macht, anstatt Recht usw. Als letzte Ursache der Mißwirtschaft wird gesagt: „Deus est mortus, ergo horum regnum peccatoribus est repressum, Got ist tot, und deswegen ist das ganze Reich voller Sünder". Seit dem 14. Jahrhundert gibt es eine Fülle von Bezeugungen des Todes Gottes, die hier nicht analysiert werden können. Das Wort vom Tode Gottes ist insofern ein epochales Wort, das die nihilistische Grundbewegung der abendländischen Metaphysik in Form einer geschichtlichen Bewegung artikuliert und in Geschichte übersetzt. Johann Figl hat jüngst gezeigt, daß eine ganze Argumentationskette Nietzsches in der Richtung verläuft, daß es ja die Theologen seien, die praktisch Gott aus der Geschichte hinausexerziert hätten. Es bleibt am Schluß zu fragen: „circulus vitiosus deus?"6 Wer möchte nicht in diesem deus letztlich den Übermenschen sehen, der das Schauspiel zu seinem eigenen Vergnügen gestaltet? Die Folge daraus ist die sogenannte Postmoderne, in der alles nur noch in fragmentarischer Weise behandelt wird, in Diskursen, Theater, Rede, Textproduktion ein Triumph der Rhetorik der Sterblichkeit, in der der Mensch seinen Götter denkenden Intentionen punktuell freien Lauf lassen kann. Das macht der Zufall. Man müßte das Moment des Zufälligen hier auch philosophisch bedenken. Pestalozzi nannte den Vortrag eine Schlußklammer, die Alois Haas über die Kolloquiumstage gebildet habe. -
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P.
Klossowski, Nietzsche und der Circulus vitiosus deus. München 1986.
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„Nietzsche: Society, Culture and Education" Bericht über die 10. Konferenz der englischen Friedrich Nietzsche SocietyDurham, 8.-10. September 2000
Thomas H. Brobjer präsentierte anhand relativ neuen Materials Nietzsches Schulzeit betreffend einen angehenden Philologen bzw. Philosophen, der kein so brillanter Schüler war wie gemeinhin angenommen und der auf jeden Fall nicht aufgrund guter Noten (sie waren da nur durchschnittlich) vom Naumburger Domgymnasium nach Schulpforta wechselte. Brobjers Nachforschungen resultieren in einer Art qualitativer Ehrenrettung des Domgymnasiums, das im Vergleich mit Schulpforta zum Teil sogar besser abschneidet (griechische Geschichte, lesen ganzer griechischer Texte schon in der Tertia, moderne Sprachen und Wissenschaften, Verbot, Übersetzungen zu benutzen, kleinere Klassen), zudem ebenfalls historisch-kritisch arbeitete und eher weniger religiös ausgerichtet war. Schulpfortas Pluspunkt scheint vor allem in der formal höheren Qualifikation der meisten Lehrer bestanden zu haben. In Band 28 (1999) der Nietzsche-Studien, 302-322, ist ein Teil von Brobjers Präsentation nachzulesen. Diesen Aufsatz schließt Brobjer mit einem Zitat Nietzsches, in welchem dieser die „Vergeudung unserer Jugend" beklagt, insofern „man uns ein dürftiges Wissen um Griechen und Römer und deren Sprachen ebenso ungeschickt, als quälerisch beibrachte [...] hätte man uns mit dem Ringen und Unterliegen und Wieder-Weiterkämpfen der Grossen [...] auch nur Ein Mal die Seele erzittern machen! Vielmehr blies uns der Hauch einer gewissen Geringschätzung der eigentlichen Wissenschaften an, zu Gunsten der Historie, der,formalen Bildung' und der ,Classicität'!" (313). Miguel Matilla skizzierte die Art von Schulbildung, die sich der ,junge Nietzsche" gewünscht hätte: erstens agonistisch, insofern sie die eigene Aktivität steigert, und außerdem unzeitgemäß. Für den frühen Nietzsche gelte auch umgekehrt: Alles, was uns wirklich bildet, ist agonistisch. Unsere wahren Erzieher sind agonistisch. Bildung ist Befreiung unserer produktiven Einzigkeit (Matilla verwies auf SE, KSA 1, 340f). Die Erziehung der deutschen Jugend beruhe für Nietzsche auf einer unfruchtbaren (im Grunde römischen) Konzeption von Kultur, die auf den Wissenschaftler abziele, nicht auf den kultivierten Menschen, die verbesserte Physis wie bei den Griechen. Für diese mußte sich jedes Talent in der Rivalität, im Kampf entwickeln; Ziel der agonistischen Erziehung war das Wohlergehen der einzelnen Stadtstaaten. Weil Philologen auf keine Weise von einem Rivalisieren mit der Antike zeugen, können sie keine Wirkung auf ihre Zöglinge haben. Den Wissenschaften fehle generell „a practical turn". Für Matilla selbst impliziert „agonistisch" im
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engeren Sinne Interaktion (auch z.B. mit einem Schach-Computer); in einem weiteren Sinne könne ein Buch, ein Film, Musik, ein Lebensstil etc. ebenfalls als agonistisch gelten. Nietzsche und auch Nietzsches Werke sind demzufolge agonistisch. Dirk Held analysierte die Stellungnahme Nietzsches in frühen Schriften zum grundlegenden Prinzip des universitären Forschungsimperativs, der Einheit von „research, teaching and learning". Peter Yates erklärte, daß Nietzsche den philosophischen Kanon als Teil der tiefen Wurzeln der bestehenden Kultur auffaßte und als Kulturkritiker das in verschiedenster Form darin enthaltene asketische Ideal und den Nihilismus aufspürte. Daß er sich derselben Selbstaufhebung unterzog wie das asketische Ideal, resultiere in einer Stillegung des Denkens im dionysischen Rausch, dem Anderen der Philosophie, mit dem sich Nietzsche auf in der Philosophie einzigartige Weise anfreundete. Marco Casanovas Ausführungen betrafen Nietzsches Konzept der Temporalität menschlicher Existenz, die wesentlichen Bedingungen für Bildung/Erziehung, nämlich, so Casanova, Heiterkeit („serenity"), gutes Gewissen und Zuversicht, sowie die Rolle des Augenblicks und der plastischen Kraft des Lebens. Marcin Milkowski ging in seinem Vortrag mit Nietzsche der Frage nach, warum die klassische Philologie ihre humanistischen Wurzeln verloren habe, und betrachtete speziell die Rolle des Erziehers bzw. der Erzieher in Also sprach Zarathustra, als Bildungsroman interpretiert. Er betonte, wie wichtig „sources" (Quellen, Ursprünge) dazu zählte er auch soziale, physiologische und psychologische Faktoren für Nietzsches Arbeit sind. Die Vision dieses „Outsiders", die Idee einer neuen Philologie, eines Wettspiels mit der Antike mit dem Ziel der Überwindung des alten Erbes in der Praxis, um Werte einer neuen Kultur zu schaffen, kann Milkowski zufolge jedoch kein ernsthaftes Projekt in unserer modernen Welt darstellen. Nietzsche sei schließlich zur Einsicht gekommen, nur Philosophie könne Philologie verändern, und habe philosophische und philologische Kritik miteinander verschränkt. Auch die von ihm inspirierten Philosophen Heidegger, Arendt oder Foucault, gleichfalls „Outsider", hatten die Illusion, eine Neuinterpretation der Griechen könnte unsere aktuellen Haltungen verändern. Erziehung aber brauche neue Lösungen, doch für Inspirationen solle man sich lieber an John Dewey als an Nietzsche wenden. Bei letzterem stelle sich nämlich die Frage, was ihm mehr entspreche: eine totalitäre Herrschaft oder ein NLP-Trainer. Nur hinsichtlich der Selbsterziehung könne man sich teilweise auf Nietzsche stützen. Pascal de Peter sah Nietzsches Agon-Begriff eine dreistufige Entwicklung: (1) unter dem Einfluß von Heraklit im Rahmen eines ästhetischen Aristokratismus, den Nietzsche positiv mit physischer Gewalt, Krieg und Sklaverei assoziiere; (2) ein demokratisierter, mit rationaler Debatte assoziierter Agon wird in Betracht gezogen; (3) mit dem Begriff der „großen Politik" sowie des radikalen Aristokratismus habe Nietzsche die zweite Stufe -
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verworfen wohingegen in Foucaults agonaler Demokratie Nietzsches schwache, kranke und kriminelle Menschen nicht mehr zugrundezugehen haben, sondern sich der Identität widersetzen, die ihnen von Macht/Wissensdiskursen der disziplinierenden Macht aufgezwungen worden waren. Alan Watt versuchte sich an einer „Nietzschean Critique of Nietzsche's Theory of Culture" und postulierte, Nietzsches Kulturtheorie sei überhaupt ein gravierenderes Problem als von manchem Interpreten dargestellt und unerfreulich in ihren Implikationen. Watt konzentrierte sich auf die Konzeption des erlösenden Men-
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sehen, der in SE 6 als Ziel der Kultur erscheint. Nietzsche sei zerrissen zwischen der Vor-
stellung einer zukünftigen Eliminierung der Gründe für das Leiden und andererseits dem Versuch einer Bejahung der Welt einschließlich der das Leiden verursachenden Elemente. Carol Diethe setzte sich mit „Nietzsche's Opposition to Women's Education" auseinander, die in einem eigentümlichen Gegensatz zu Bernhard Försters positiver, progressiver Einstellung hinsichtlich der Bildung von Frauen steht. Förster, Lehrer an einem Berliner Gymnasium zur Zeit als er Nietzsches Schwester Elisabeth 1875 in Bayreuth erstmals traf, hatte freilich zweifellos, so Diethe, Piatos (bzw. Sokrates') Ausführungen zur Rolle von weiblichen Wächtern in der Republik und rassistische Motive im Sinne, während Nietzsches „man of dynamite" mit der konservativen Mehrheit im Wilhelminischen Deutschland gleichzog. Doch durfte Elisabeth Nietzsche z.B. Grundlagen der Physik erlernen, in Madame Paraskis Privatschule für das Naumburger Establishment. Elisabeth beklagte sich bitter darüber, daß ihre Schulbildung, wie die aller Mädchen, nach der Konfirmation praktisch zu Ende war (sie durfte noch ein paar Monate in Dresden eine Schule besuchen). Trotz alledem verteidigte sie noch 1935 Nietzsches konservative Position. Obwohl Nietzsche 1874 an der Universität Basel für die Zulassung von Frauen
stimmte und später Meta von Salis dazu ermunterte, bei Jacob Burckhardt zu studieren, sei seine Haltung dazu doch eher negativ geblieben (Brief an Franz Overbeck vom 31. März 1885). Die ihm von Meta von Salis entgegengebrachte Verehrung habe keinesfalls Nietzsches Bewunderung gefunden, und Diethe zitiert dementsprechend aus dem an seine Schwester gerichteten Brief vom 7. Mai 1885: „Alles was für emancipation des Weibes' schwärmt, ist langsam, langsam dahinter gekommen, daß ich ,das böse Thier' für sie bin. In Zürich, unter den Studentinnen, große Wuth gegen mich. Endlich!" (KSB 7, 49) Was Diethe nicht berücksichtigt: Die hier polemisch angesprochene „Emancipation des Weibes" war eines der zentralen Themen seines Antipoden Wagner im Rahmen von dessen eigenwilliger Buddhismusinterpretation. Diethe meinte desweiteren, die Konzeption des Übermenschen habe Nietzsche in seiner Haltung nur bestärken können; keine gelehrten Bücher, sondern sexueller Verkehr sei das Rezept für gelangweilte Frauen (in einem anderen Ton geschrieben, hätte dieser Gedanke zu jener Zeit aber durchaus attraktiv wirken können, insofern er implizierte, daß auch respektablen Hausfrauen sexuelle Begierden nicht fremd sind). Sollten solche Aussagen Nietzsches aber nicht ebenfalls im Kontext seiner generellen Kritik an den Bildungsanstalten gelesen werden? Und gar als Herausfor-
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derung zum agonalen Spiel? Wendy O'Shea-Meddour zeigte „Nietzsche And The ,Woman' All At Sea" und belegte, daß es sich nicht um einen masochistischen weiblichen Trieb handelt, wenn feministische Akademikerinnen heute auf einen Philosophen wie Nietzsche zurückgreifen. Justine McGill thematisierte eine für die Modernität spezifische Unverantwortlichkeit, bzw. einen bloßen Verantwortungsmechanismus, einem Baum, der gefallt wird, (das Konferenzmotto lautete: „The tree fell, but did anyone hear it?") oder auch speziell dem weiblichen Körper gegenüber, während Nietzsche einer Verantwortlichkeit das Wort rede, welche Opfer abverlangt und Vorbedingung für Philosophie und Größe ist. McGill referierte Gilles Deleuze und stellte fest, die Charakterisierung von Frauen erscheine bei ihm zwar als misogyn, doch die geheime, positive Bedeutung der Frauen wäre die reiner NichtVerantwortlichkeit, personifiziert in Ariadne. McGill sprach demgegenüber, sich als
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valable Nietzsche-Interpretin auslegend, einer im Körperlichen verankerten Erfahrung sterblicher Frauen das Wort, die zudem besser als ein Baum oder allgemein die Natur in der Lage sind, sich zu verteidigen, ihren Willen zur Macht gegen das schlechte Gewissen und die asketischen Ideale ins Spiel der Realität zu bringen. Rohit Sharma interpretierte ebenfalls Aspekte des Weiblichen. Dabei bezog er sich auf diverse Gedichte, zuletzt und insbesondere auf Die fromme Beppa sowie Die kleine Brigg. In bemerkenswert subtiler und auch überraschender Weise verknüpfte Sharma zentrale Gedanken Nietzsches mit den Gedichten im Kontext von Sein/Werden und Individuation. Es gelang ihm überaus überzeugend, Aspekte des Weiblichen in ihrer Bedeutungsvielfalt
freizulegen.
Rebecca Bamford beleuchtete anhand Mikhail Bakhtins dialogischer Ästhetik Nietzsches Gedanken über die Kunst bzw. seine Ästhetik der Dissonanz, bezog auch Kants Unterscheidung zwischen dem Schönen und dem Erhabenen in ihre Überlegungen und in ihre Evaluation des biologischen Bedürfnisses nach Kunst einerseits und desjenigen nach Gewißheit ein. Von Nuno Nabais wurde das Thema „Nietzsche und das Erhabene" in einem Plenumsvortrag grundlegend erörtert, von Paul van Tongeren die Bedeutung von „Measure and
Bildung". „Educating pain" lautete der bewußt doppelsinnig gefaßte Titel von Abraham Oliviers Erkundungen über die Hintergründe von Nietzsches Plädoyer für den Schmerz als „das mächtigste Hülfsmittel der Mnemonik". Olivier zitierte diese Worte aus GM II, Nr. 3 (KSA 5, 295), um einleitend festzustellen, Nietzsches Plädoyer für den Schmerz überrasche uns heute, da wir vielmehr fragen, wie politische Grausamkeit und Folter dem Vergessen anheimgegeben bzw. eliminiert werden können. Nur: Der von Olivier eingangs
anzitierte Passus nimmt selber mit aller Deutlichkeit Abstand von solchen Mnemoniktechniken: „[Vielleicht ist sogar nichts fürchtbarer [...] an der ganzen Vorgeschichte des Menschen [...] ,[...] nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss' das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden". Ganz klar wird darunter von Nietzsche gleich im selben Passus auch „die ganze Asketik" subsumiert während Olivier, gemäß der vorgeblichen Überraschung, erst gegen Ende seines Vortrages zu diesem Ergebnis kam. Die Ausführungen dazwischen waren gleichwohl subtil. Es ging um den Schmerz des Werdens, als Exzeß des Begehrens, der uns, selbstdestruktiv, weil über unsere Grenzen hinaus, jenseits von Begierdenerfüllung treibt. Olivier verfolgte sodann die Argumentationslinie Nietzsches, der Schmerz, den wir erfahren, sei nicht der Schmerz selber, sondern nur eine artistische Projektion; noch weniger Zugang haben wir zum Schmerz anderer; um schließlich zur wiederum eher überzogenen Frage zu gelangen, wie eine Philosophie, welche die Realität von Schmerz so destruktiv zu verneinen scheint, für erzieherische Zwecke (bzw. Bildung im Sinne von creation und education) genutzt werden könne? Olivier streifte Nietzsches frühe Aussagen über das Inokulieren (bzw. Okulieren) von Edlem in Verwundungen, kam dann auf den späteren Nietzsche bzw. die eingangs zitierte Textstelle zurück und erteilte schlußendlich die Absolution: „The point seems not to use pain to educate, but actually to educate pain." Was letztendlich auch heiße, Erziehung hin zum Schmerz qua kreative Lebenskraft. Nietzsches Konzept sei daher nicht gleichzusetzen mit der Konzeption von -
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„Nietzsche: Society, Culture and Education"
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Erziehungsmittel, nicht mit den seit Plato speziell im Westen vorherrschenden repressiven ideologischen Methoden. Tom Bailey hingegen sah sich veranlaßt, gegen Nietzsche-Interpretationen zu argumentieren, welche das praktische Subjekt auf eine Fiktion, ein sich manifestierendes Epiphänomen, einen Kräftefluß reduzieren, und er postulierte einen Willensbegriff bei Nietzsche, der nicht nur in engem Bezug zu dessen positiver Ethik steht, zumal was den Edlen betrifft, sondern der das Kantische Projekt eines positiven freien Willens reformuliert. Peter Fitzsimons betonte, eine Entscheidung für Parameter und Art einer persönlichen Herausforderung bzw. Selbstüberwindung setze ein mächtiges, für die zukünftige Entwicklungsrichtung verantwortliches Subjekt voraus, das sich von identitätsstiftenden gesellschaftlichen Definitionen distanziere. Yunus Tuncel beleuchtete den kulturellen Kontext, in den das Individuum geworfen ist, sowie dessen Entwicklungsschritte von der Geburt bis zum Tod; er nahm Zarathustras Verhältnis zu seinen Strafe als
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Schülern bzw. zu uns als Modellfall auch für unseren Schritt ins neue Jahrtausend. Ein stilistischer Genuß war Richard Smiths Plenumsvortrag, seine echt britisch ironischkritischen Überlegungen zu „Authenticity and Higher Education: the Nietzschean Uni-
in the Twenty-First Century". Christopher Moore fragte nach der Möglichkeit Nietzsche geforderten guten Lesens bei der heutigen Flut von Publikationen und neuen Medien, fragte auch, was heute gute Leser seien und gab zur Antwort, es werden diejenigen sein, die am gesündesten in einer Demokratie sind, in Meinungspluralität und einem System technologischer Wunder. Nietzsches Weisheit sei im Fluß geblieben und überzeugend in der Diskussion. David Owen gab die Bühne frei für: „The Madman Speaks His Mind", sprach über „Nietzsche and the Enlightenment" und explizierte Nietzsches Radikalisierung von Kants Aufklärungsbegriff anhand der Figur des tollen Menschen und der Reaktion der Menge. Mick J. Bowles legte exemplarisch anhand von Nietzsches Schriften dar, daß wir gesetztenfalls diese als Vollendung der Kritik akzeptieren, weil Nietzsche uns davon zu überzeugen vermochte, daß die Bewegung von Kritik und Kultivierung/Bildung zuvörderst eine Sache der Biologie bzw. von Kräfteverhältnissen ist. Anna-Lena Carlsson zeigte „Different Qualities and Directions Of Power", nämlich überreich-lebensbejahende beim Intuitiven (das im alten Griechenland die Oberhand gewonnen hatte) und bedürftige, sich an Festes klammernde, lebensverneinende, und suchte ihre Sicht abzusetzen einerseits gegen Maudemarie Clarks Interpretation von WL (in Nietzsche on Truth and Philosophy, 1990) als Ausdruck eines erst nach JGB überwundenen lebensverneinenden Ideals, und andererseits gegen Wolfgang Welsch, der Nietzsche bloß als Initiator einer radikalen Asthetisierung unseres Lebens in einer pluralistischen Kultur verschiedener Ebenen von auffasse und die Unterschiede zu einer nietzscheanisch verstandenen hohen Kultur minimalisiere; nicht zuletzt in der Vorrede zu MA werde diese Diskrepanz deutlich, wo Nietzsche den sich aus den Fesseln des Bestehenden lösenden, heranreifenden „freien Geist" präsentiert, der dem Intuitiven gleich, schließlich aus Überfülle heraus zu schaffen vermag. Dagegen postulierte Ken Cussen, der selbstproklamierte Arzt der Kultur habe länger als selber vermeint an der diagnostizierten Krankheit (Décadence) gelitten und im Juli 1881, zur Zeit der Publikation der Morgenröthe, realisiert, daß er kein kohärentes Mittel dage-
versity des
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von
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Ästhetisierungsprozessen
Uschi Nussbaumer-Benz
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gen besaß, daß seine bisherigen Rezepte (angefangen von der ästhetischen Rechtfertigung der Welt inklusive Wiedergeburt der Tragödie über eine radikale Wissenschaftlichkeit aus ihrem metaphysischen Kokon ausbrechender freier Geister bis hin zu einem absoluten Willen zur Wahrheit, welcher aber zugegebenermaßen, siehe Vorrede M, aus dem metaphysischen Moralbegriff resultiere) vielmehr selber Symptome der Krankheit waren. Erst 1886, im Versuch einer Selbstkritik, die Nietzsche nunmehr der GT vorausschickte, habe er radikal „metaphysischen Trost" verworfen. Also sprach Zarathustra dokumentiere sein Ringen. Nietzsches Bestrebungen wurden von Cussen aber als letztlich erfolgreich qualifiziert (er verwies diesbezüglich auf sein demnächst erscheinendes Buch). Gegen Cussen (und seine zwei Belegstellen M I, Nr. 45 sowie Vorrede Nr. 4: „[...] es [das Buch] stellt in der That einen Widerspruch dar und fürchtet sich nicht davor: in ihm wird der Moral das Vertrauen gekündigt warum doch? Aus Moralität!") wäre einzuwenden, daß Nietzsches Gedankenführung zur Selbstauflösung der Moral nicht einfach Krankheitssymptom, sondern sehr wohl strategisch ausgerichtet ist und zudem ein Rezept impliziert, das hier nur mit einem knappen Zitat vom Winter 1883/1884 (24[28]) angedeutet werden kann: ,jDarauf ging ich weiter in der Bahn der Auflösung, darin fand ich für Einzelne neue Kraftquellen [...] ich erkannte, dass der Zustand der Auflösung, in der einzelne Weein Abbild und Einzelfall des allgemeinen Daseins sen sich vollenden können wie nie ist." Dies klingt doch stark nach einem Buddhismus, der „ein Gegenstück zum indischen"(NF November 1882-1883 4 [2, siehe auch 1]) wäre Friedrich Ulfers präsentierte einen von ihm und Mark Daniel Cohen verfaßten Text über „The Idea of,Bildung' in the Context of Nietzsche's Process Ontology". Gegen das Aristotelische Konzept der Substanz und das Parmenideische/Platonische des Seins habe sich Nietzsche auf den Ausgangspunkt westlicher Philosophie, das Heraklitische Werden inklusive Agon, einem Ineinander von Gegensätzen, besonnen. Seine Prozeß-Ontologie als Nicht- oder besser Überdeterminiertheit, als Überfülle von Möglichkeiten der Manifestation, die sich in permanentem Wettstreit befinden, um vorübergehendes, flüchtiges Dasein wetteifern. Daher die Konzeption von Wille zur Macht als Pathos, Agonie oder Leiden. Davon zu unterscheiden sei der Wille zur Macht, welcher Stabilität und Beständigkeit anstrebt, als biologischer Imperativ, d.h. Überlebenshilfe in militaristischem Sinne. Im tragischen Zeitalter der Griechen sei der Wille zur Macht als Bildung im normativen Sinne Hand in Hand gegangen mit einer Bildung als Pathos und unaufhörliches Werden und Vergehen. Ulfers/Cohen zeigten auf, daß und wie im Rahmen einer Prozeß-Ontologie der Begriff „Bildung" eine andere Bedeutung erhält und daß Nietzsche nicht umhin konnte, sich gegen die tradierte Bildungsidee zu wenden. Die Hybris des Unternehmens Wissenschaft im weitesten Sinne und seiner Bildung bestehe in der Transformation des Willens zur Macht in einen Willen zur Beherrschung. Pathos wird von Nietzsche auch Spiel genannt, daher die Rede von Philosophie als „gay (playful) science". Im Rahmen seiner Prozeß-Ontologie basiere überdies auch Ethik nicht auf unveränderlichen herrschenden Strukturen oder Universalisierungen. Sie ist postmodern im Sinne Zygmunt Baumans und Simon Critchleys in Anlehnung an Levinas (bemerkenswert, diese Assoziation mit Nietzsche!), bewegt sich um den Begriff der Singularität, verstanden als ein dem Willen zur Macht als Wille zur Gleichsetzung (Levinas) Widerstehen, und spricht von Großmut oder schenkender Tugend (noblesse oblige und lebt gefährlich) statt von Gerechtigkeit. -
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„Nietzsche: Society, Culture and Education"
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„Who is the ,music making Socrates'?" fragte Stefan Lorenz Sorgner, in Anlehnung an Walter Kaufmanns Hervorhebung dieses Ausdrucks aus der Geburt der Tragödie; und er postulierte in Übereinstimmung mit Kaufmann, das Konzept des Musik machenden Sokrates habe Bestand auch noch in Nietzsches später Philosophie. Sorgners Argumentation geht aus von der Einführung des Sokrates in GT als dritter kulturprägender Gott (sokratisch-alexandrinisch) neben Apollo (artistisch-hellenisch) und Dionysos (tragischbuddhistisch). Musik, die für Nietzsche zu jener Zeit wirklich zählt, ist dionysisch, repräsentiert implizit die ursprüngliche Einheit der Welt, welche in sich widersprüchlich ist, ohne Individualität, in jeder Hinsicht stets sich verändernd und unerträglich für Menschen. Indem Nietzsche nun Musik mit Sokrates zusammenspannt, entsteht eine tragischsokratische Kultur, in welcher die Menschen nur an diese eine Welt voller Wechsel und mehr oder minder starker Schmerzen glauben, die erklärt und gerechtfertigt ist via wissenschaftliches Denken; dies führe zu einer von Nietzsche bis zuletzt anvisierten immanenten, tragischen, aber wissenschaftlichen Weltsicht, die gemäß Sorgners weiteren Ausführungen vollkommen mit seinem Konzept der ewigen Wiederkehr, inklusive interaktiver Machtquanten, und darüber hinaus mit der neueren Physik vereinbar ist. Vasti Roodt gehört zu den wenigen Nietzsche-Interpreten, die Nietzsche unweit von Hannah Arendt positionieren, insofern sie in ihrem Vortrag Nietzsches Gewichtung von Praxis, des Schaffens und Handelns als primäres Mittel zur Selbstwerdung fokussierte (z.B. MA I, Nr. 263 und II, Nr. 366). Man bleibt ein Selbst dank Gedächtnis, und das Vergessen ermöglicht dynamisches Agieren, somit auch das Empfinden einer Identität; Bildung als Selbstwerdung im Ausdruck von Trieben oder Affekten, impliziert Physiologie. Identität ist an Performance gebunden, die sich in einem zwischenmenschlichen Bedeutungshorizont gleichsam einer Arendtschen „space of appearance" abspielt und die dem im Grunde pluralen, dissonanten Selbst Bedeutung sowie eine Art Dauerhaftigkeit vermittelt. Die Performance eines stilisierten Selbst werde von Nietzsche anvisiert sowie eine entsprechend fragile politisch-gesellschaftliche Existenz, kein Laissez-faireLiberalismus, sondern eine Organisation, deren wichtigstes Charakteristikum das Pathos der Distanz ist. Nietzsche war noch weniger als Marx bereit, auf Hegels List der Vernunft zu vertrauen,
einer optimalen menschlichen Selbstverwirklichung zu gelangen, doch „große Politik", betonte Richard Schacht in seinem Plenumsvortrag, ist für Nietzsche eine Politik der Kultur, und Politik als Dimension des menschlichen sozialen Lebens eine Arena des trotz Disharmonien idealerweise lebensfördernden kulturellen Wettstreits. Politik ist aber auch eine Kunst des „cultural (and therefore human) engineering" (Kulturtechnik), spätestens seit Plato. Man könne Nietzsches Philosophen der Zukunft zwar im Sinne hegelianischer „welthistorischer Individuen" bis hin zu einem Hitler, Stalin oder Alexander und Napoleon auffassen Schachts Absicht aber war zu zeigen, daß man Nietzsche mit gleicher, wenn nicht mit größerer Plausibilität anders lesen könne, als Schöpfer von Werten, die letztlich das Material für die Politik darstellen. So unkonventionell eine Politik im Sinne Nietzsches auch sein mag, auf der Basis seiner Philosophie könne sie in ihren interum zu
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pretativen Forderungen gar nicht anders als zurückhaltend, versuchend, undogmatisch zu sein; d.h. sie wird in Fragen der Praxis wie der Theorie des politischen Lebens so viel wissenschaftliche Reflexion und Wissen wie möglich auf den Tisch legen und, immer
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wieder aktualisiert, jeweils entsprechend nötige Modifikationen vornehmen. Dennoch ist politische Theorie bei Nietzsche nicht szientistisch, da wissenschaftliche Erkenntnisse in seinen Augen nicht unbedingt auch die meisten der wichtigsten Fragen beantworten. „Business as usual" verhalte sich strategisch innerhalb des Rahmens bestehender menschlichsozialer und politischer Spiele, während es Nietzsches „großer Politik" z.B. um die Frage gehe, welche Spiele es sein sollen; und er eine Mixtur bevorzuge von verschiedenen, modifizierbaren, ungleich verteilten Arten von Spielen auf diversen Ebenen. Kein politisches Spiel könne absolut und letztendlich von einer politischen Theorie verworfen werden, und dennoch attackiere Nietzsche als Partisan höheren Menschentums spezifische Spiele, nämlich insofern sie für diese bestimmten Individuen oder Gruppen nicht optimal bzw. lebensfördernd sind. „Nietzsche for Democracy?" fragte Alan D. Schrift in seinem Plenumsvortrag, und er argumentierte, Nietzsche liefere durchaus konzeptionelle Ressourcen für die Ausarbeitung einer radikal-demokratischen Politik, in Anlehnung an Gilles Deleuze einerseits und Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, William E. Connolly etc. andererseits. Eine solche beinhalte Konzepte wie das einer radikalen Kontingenz, einer ständigen Selbstüberwindung und eines steten Krafterwerbs, einer über die von externen Autoritäten gesetzten Grenzen hinaus wirkenden Meisterschaft, eines von Grund auf individualisierten Einzelnen, eines „work in progress" ohne feste, starre Identität, sei sie selbst- oder fremdbestimmt und handle es sich um Nation, Rasse, Ethnie oder Geschlecht (gender): werdende Übermenschen qua idealisierte Konglomeration von widerstreitenden Kräften, die Nietzsche mit Wohlgeratenheit identifiziert. Radikale Demokratie entspreche einem agonalen, durch Spannungen, Offenheit und Respekt gekennzeichneten Gesellschaftskonzept. Auch im Einzelnen ist ein Agon wirksam, und dem Pathos der Distanz, welches auf Rangordnungen in der gesellschaftlich-sozialen Sphäre hinwirkt, gesellt Nietzsche ein Verlangen nach immer größerer Distanzerweiterung innerhalb der Seele bei. Solche inneren Erfahrungen souveräner Individuen und Philosophen der Zukunft förderten, Schrift zufolge, Conolly zitierend, auch eine gewisse Empathie für andere und somit wohl die gute Eris. Jacob Golomb stellte in seinem Plenumsvortrag nochmals die bekannte Frage: „Nietzsche: The Godfather of Fascism?" und suchte nachzuweisen, daß Nazis, speziell Alfred Baeumler und Alfred Rosenberg, sich zu Umecht auf Nietzsches Wort „Wille zur Macht" bezogen, daß selbst Heidegger in seinen Vorlesungen Krieg fälschlicherweise als Ausdruck eines Nietzscheschen „Willens zur Macht" auffaßte. Golomb verwies darauf, daß bezeichnenderweise der erste längere Passus über den Willen zur Macht im ZarathustraKapitel „Von der Selbstüberwindung" figuriert, und zog dementsprechend eine deutliche Trennungslinie zwischen Nietzsches Verwendung von Macht versus Kraft und von Macht versus Gewalt. Besondere mentale Ressourcen sind nötig für einen Sieg über die Kraft, für Prozesse der Selbstüberwindung; und mit solchen Triumphen entwickeln wir uns zu einem Kunstwerk, zum authentischen Selbst eines Übermenschen (z.B. eines Griechen oder auch Renaissancemenschen), zu einer aktualisierten Macht, während Kraft ein quantitatives, von der deskriptiv-mechanischen Physik abgeleitetes Konzept sei. Und Gewalt, inklusive die gegen sich selbst gewendete, nämlich Selbst-Tyrannei, verdrängt und vernichtet im Gegensatz zu Macht andere Vektoren. Obwohl die qualitative Macht des Individuums oder der Gesellschaft kein Garant für materiellen Erfolg und Sieg ist, -
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sie eine spirituell-geistige und kulturelle Überlegenheit. Von mächtigen Individuen erlassene Gesetze seien schöpferischer Ausdruck, nicht Gewaltakt. Mächtige Individuen seien großzügig, unabhängig, unvoreingenommen, dynamisch-vital, fähig zur Selbsterkenntnis, Selbstbejahung sowie Instinktsublimierung. Biologische Faktoren hingegen spielen bei Nietzsche keine Rolle. Gegen Golombs Vision eines solchen notwendig menschlichen sublimierten Macht-Begriffs ist jedoch der eindrucksvolle Passus von Juni-Juli 1885 (38[12]) anzuführen: „Und wißt ihr auch, was mir ,die Welt' ist? [...] ein Ungeheuer von Kraft [...] als Kraft überall, als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und ,Vieles' [...] Diese Welt ist der Wille zur Macht und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht und nichts außerdem!" Da fragt sich noch immer, wie und aus welchem Grunde zwischen guter und schlechter Eris zu unterscheiden, sich zu entscheiden sei bzw. wie und aus welchem Grunde zwischen entsprechend differenten Auslegungen des Übermenschen (der von vielen Referenten mehr oder weniger ausführlich thematisiert wurde). Richard Schacht, Alan Schrift u.a. waren in radikaler Redlichkeit bereit, die anscheinende Offenheit von Nietzsches Übermensch-Begriff für Interpretationen auch von Seiten bzw. nach dem Selbstbild eines Hitler, John Tanner, Abraham Maslow oder George Bernard Shaw zu akzeptieren. Daß Nietzsche jedoch einem seit Jahrhunderten, Jahrtausenden in diversen Ausprägungen tradierten Übermensch-Begriff mit seiner Konzeption entgegenzuwirken intendiert, dieser Erkenntnis sollten Nietzsche-Freundinnen zu Beginn dieses neuen Jahrtausends endlich zum Durchbruch verhelfen: Der Übermensch, ursprünglich indisch-arisch, in den drei wirkungsmächtigsten monotheistischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam, auch als „Messias", „Menschensohn" o.a. bekannt, erobert diversen bisher maßgeblichen Überlieferungen zufolge durch heilige Kriege, mit Waffengewalt und Repression, die Welt, um ein Reich des Friedens zu schaffen. Nietzsche hingegen bringt eine andere, die (ein schöner Zu-fall!) wohl noch ursprünglichere Traditionslinie ins agonale Spiel, welche prophezeit, die Welt werde gewonnen, befriedet und zu Wohlstand geführt ohne den Einsatz von Waffengewalt und Repression ...'
gewährleiste
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Ich bitte
um
Nachsicht für den bloßen Verweis auf zwei demnächst erscheinende Aufsätze
zu
die-
Thema, in denen ich detailliert über die beiden Traditionslinien und speziell Nietzsches Quellentext referiere: „(Wieder-)Geburt des ,andren' Ideals: Zur (nicht nur) politischen Bedeutung einer verborgenen Quelle Nietzsches", in: S. S. Gehlhaar (Hg.), Neuere Texte zur Nietzsche-Forschung (Bd. II), Reihe Nietzscheana, Bd. 15, Cuxhaven/Dartford 2001; „.Erlösung dem Erlöser': Nietzsches welthistorisches Konzept mit ,Hand' und ,Fuß"\ im Protokollband zum Internationalen Kongreß zum 100. Todestag Friedrich Nietzsches, Naumburg, 24. bis 27. August 2000, Sonderband des Jahrbuchs Nietzscheforschung, Berlin 2001. Und betreffs George Bernard Shaw: „Oscar Levys nietzscheanische Visionen", in: W. Stegmaier, D. Krochmalnik (Hg.) Jüdischer Nietzscheanismus, Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 36, Berlin/New York 1997, 188-208, speziell 199f., 203f. sem
VI.
Ausstellung
STEPHAN GÜNZEL
Nietzsche verbrennen Einführung in die Ausstellung „Ecce homo" von Darrin Morgan (New Castle/Australien) zur Eröffnung am 25. August 2000 im Nietzsche-Haus in Naumburg
„Wir Furchtlosen aber, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters [...] Man wird uns schwerlich köpfen, einsperren, verbannen; man wird nicht einmal unsre
Bücher verbieten und
verbrennen."1
1. Darrin Morgans künstlerische Ausdrucksform der von ihm so bezeichneten Pyropoiesis arbeitet mit der Provokation der Bücherverbrennung. Eine Provokation, gar ein Tabubruch ist dieser Akt aus berechtigtem Grund: 1st darin doch die bestialische und barbarische Aggression wie planmäßige Ignoranz gegenüber dem intellektuellen Leben symbolisiert, die sich am 10. Mai 1933 auf dem Opernplatz in Berlin just am Zentrum der Institutionalisierung der Intellektualität ereignete und sich auf lange Zeit im historischen Bewußtsein Europas einbrannte. Anders als im heutigen Verständnis, fast 70 Jahre nach dem Ereignis, war das Verbrennen von Büchern nicht seit jeher die ultima ratio einer an sich selbst und weit bedenklicher an den Umständen gescheiterten Vernunft, sondern legitimiertes Mittel der philosophischen Kritik im verstandesgesteuerten Kampf gegen Metaphysik und kirchliche Dogmatik. Kein Geringerer als David Hume forderte 1748 am Ende seiner (Philosophischen) Versuche über eben diesen menschlichen VerstandJene Bücher dem Feuer zu übergeben, die nicht „einen abstrakten Gedankengang über Größe oder Zahl"3 -
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1
Fünftes Buch, „Wir Furchtlosen", 379., „Zwischenrede des Narren", KSA, FW, 3, 631 f., hier 632. Just an diesem Tag hält der für die Interpretation Nietzsches im Sinne des Nationalsozialismus entscheidende Philosoph und Pädagoge Alfred Baeumler seine Antrittsvorlesung an der Berliner Universität. Zum Text und weiterem Material in Betreff der Geschehnisse des Tages und seiner Vorbereitung vgl. „Das war ein Vorspiel nur... ". Bücherverbrennung Deutschland 1933: Voraussetzung und Folgen. Ausstellung der Akademie der Künste vom 8. Mai bis 3. Juli 1983, hg. v. H. Haarmann, W. Huder und K. Siebenhaar, Berlin/Wien 1983, 3.3., „Die Aktion", 195-218, hier 195 f. D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, übers, v. R Richter, mit einer Einleitung hg. v. J. Kulenkampff und den Beilagen „David Hume: Mein Leben", „Brief von Adam -
Stephan Günzel
362
enthielten. Die Vereinigung von empiristischem Pathos und positivistischem Hochmut gipfelt in der inquisitorischen Manie, der zufolge die zahllosen Bücher „über Gotteslehre und Schulmetaphysik", so Hume, jedes für sich „ins Feuer [zu] werfTen]" sei, um es seiner Bestimmung zu übergeben „denn", Hume weiter, jeder einzelne dieser Bände „kann nichts als Blendwerk und Täuschung enthalten" Die ursprünglich als Sammlung von Essays konzipierte Druckschrift wird erst zehn Jahre nach ihrem erstmaligen Erscheinen als das geläufige Enquiry erscheinen unter einem Titel, dessen Bedeutung im Deutschen nur unzureichend mit Untersuchung' wiedergegeben ist. Nicht wird hier eine Geometrisierung des menschlichen Verstandes unternommen, noch werden ihm seine ihm eigenen Grenzen angezeigt. Vielmehr wird dessen Befragung' durchgeführt; und nicht er selbst wird in der letzten Instanz angehört, sondern seine Produkte werden vor den Richtstuhl geführt, um sie als das zu überführen, was sie Humes Ansicht nach sind: „Blendwerk" also Produkt und Nährstoff der Flammen zugleich. -
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2. „Flamme bin ich sicherlich"5 schreibt der, dessen Leben heute vor einhundert Jahren unweit von hier erlosch. Der andere große Empiriker unter den neuzeitlichen Metaphysikkritikern sah die Radikalität im Vorgehen des Schotten genau: „Hume fordert [...] die Vernunft auf, ihm Rede und Antwort zu geben" paraphrasiert Nietzsche 1885 Kants Urteil über Hume. Nietzsche dagegen warf sich zurück auf die Seite der Metaphysik, vollendete die Ellipse des der Arena der Philosophie, und begab sich ins Feuer, aus dem der moderne Heraklit zu stammen glaubte, und damit auf den wieder und wieder angehäuften Scheiterhaufen der performativen Selbstwidersprüchlichkeit. Nach dem Untergang der übernatürlichen Lichtquellen und nach dem „Hahnenschrei des Positivismus"8 wie wir in Götzen-Dämmerung lesen stellen sich Erleuchdie eine Indifferenz zwischen den Lichtquellen und tungsverhältnisse ein, umgreifende ihren Objekten zeitigen: Dem Untergang der ,,alte[n] Sonne"9 folgt nach Nietzsche zwar eine neue und mit ihr der Mittag, an dem die Schatten verschwänden; die Vorstellung dieses Augenblicks größter Klarheit verbleibt aber im kosmographischen Raum der Platonischen Allegorie, in der die Zeichen der Erde durch das Gestirn in seinem Zenit
Hippodroms,7
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ausgebrannt werden.10 4 '
6
8
5 10
Smith an William Strahan", übers, v. J. Kulenkampff, Hamburg 1993 [1748], 12. Abschnitt, „Über die akademische oder skeptische Philosophie", 193 [G 135/S 165]. Ebenda; kursiv, St. G. ,„Scherz, List und Rache.' Vorspiel in deutschen Reimen", 62., KSA, FW, 3, 367. April-Juni 1885, 34[70], KSA, NF, 11, 442; kursiv, St. G. Vgl. Erstes Hauptstück, „Von den ersten und letzten Dingen", 20., „Einige Sprossen zurück"; KSA, MAI, 2, 41 f., hier 42. „Wie die ,wahre Welt' endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrthums", KSA, GD, 6, 80f„ hier 80. Ebenda. „Man erinnert sich, welche sonnenhafte Gewalt des Austrocknens, Ausdörrens, Abbleichens aller Realien bei Piaton die Idee vollzieht. Umgekehrt saugt bei Nietzsche auch das geringfügigste Sinnending, das Zittern eines Blumenblattes, das volle Sonnenbrennen der Idee in sich ein, bis von der
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Nietzsche verbrennen
Nein, es ist keine neue Sonne, die ihr Licht über das Weltalter des zu überwindenden Nihilismus ausgießt, sondern es ist das Lodern von Flammen, deren akzidentelles Spiel die Substanzen verbrennt. Das Licht des Feuers erzeugt eine Atmosphäre der Instabilität aller Referenzverhältnisse und ihrer Hierarchien, der Zustand im Höhlen-Kino, in dem die Projektionsflächen sich gegeneinander verschieben und die Objekte gleich dem Cartesischen Schattenspiel wie Wachsfiguren in einem Animationsfilm mutieren. Jene Metapher der ,Flamme' also ist ob der genannten historischen Hintergründe vorsichtig zu gebrauchen und kann nicht unterschrieben werden, solange die sie begleitenden Konnotationen benannt und Begriffe voneinander differenziert sind. Was Nietzsche betrifft, so faßt er in der Bezeichnung ,Flamme zu sein' den Charakter des „Weise[n]", welcher als eine „Flamme" wie Nietzsche in Der Wanderer und sein Schatten schreibt „sich selber nicht so hell [ist], als den anderen, denen [er] leuchtet"11. Wie Zarathustra kehrt diese Figur des Weisen also in die Situation der Höhle zurück. Dabei hegt dieser nicht die Absicht, die Bewohner der Höhle zur Flucht überreden zu wollen. In ihrer promethischen Funktion ist die Flamme tatsächlicher Ort der Umarbeitung und Quelle der Produktion, keinesfalls aber selbstreferentielles Ziel gleich einer gereinigten Vernunft oder gar Mittel der Auslöschung unliebsamer, verbrämter Meinungen. ,Feuer' ist für Nietzsche Zustand und Art des schaffenden Philosophen im Prozeß des Denkens, Pyropoiesis. So läßt Nietzsche seinen Zarathustra behaupten: „Verbrennen musst du dich wollen in deiner eignen Flamme: wie wolltest du neu werden, wenn du nicht erst Asche geworden bist!"1 Hier heben die zeitgemäßen Betrachtungen von Darrin Morgan, Jahrgang 1969, an: Die Installation, die wir im Zimmer 4, „Also sprach Zarathustra", sehen, erlaubt die Betrachtung der photographischen Zeugnisse, welche die Produkte des australischen Künstlers zeigen, die entstanden, als er an Orten der Lebensreise Nietzsches dessen ,Zarathustra' verbrennt und mit der Hinterlassenschaft des Feuers, der Asche, Zeichen auf die Oberfläche der Erde einträgt. Die von einer Lichtquelle auf einer Ausgabe des Zarathustra geworfenen Bilder werden dabei mit den Projektionen einer Flamme konfrontiert und dynamisieren den in der Negation der Photographie zum Stillstand gekommenen Ablauf der Kunstproduktion vor allem auch den des Verschwindens der Zeichen durch Wind, Wellen und Verwitterung. -
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Idee keine ,Idee' mehr übrig bleibt [...] Der Wert aller Werte, die Idee aller Ideen, Gott, wenn man will, ist von Nietzsche nicht entwertet, entgottet, desidealisiert; sondern verweltlicht worden [...] Ja, diese Idee dringt nun endlich [...] in das Leben, in die Physis ein, und nun kommt hierdurch erst unsere Natur zum Vorschein, da diese Sonne keinen weltfremden Thron mehr einnehmend, ihr selbst innewohnt." (S. Friedlaender, Friedrich Nietzsche. Eine intellektuale Biographie, Leipzig 1911, „Orientierung", 5-16, hier 9; kursiv, St. G.) Zur Bedeutung von Nietzsches metaphorischer wie auch physischer Geographie vgl. weiterhin St. Günzel, „Nietzsches Geophilosophie und die ,gemäßigte Zone' im Denken des Abendlandes", in: Dialektik Zeitschrift für Kulturphilosophie, Heft 2000/1, 17-34. Neuntes Hauptstück, „Der Mensch mit sich allein", 570., „Schatten in der Flamme", KSA, MA I, 2, 233. Za I, „Vom Weg des Schaffenden", KSA 4, 80-83, hier 82. so
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Stephan Günzel
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Die Wandtafeln, auf denen der Künstler die etappenweise Verbrennung des Zarathustra' dokumentiert, erinnern uns zudem daran, daß Nietzsche, einem Bericht Peter Gasts zufolge, die Druckmanuskripte zu Zarathustra I-III selbst dem Feuer übergeben hatte.13 Im Sinnbild der Asche' verdichtet sich für Nietzsche eine Seinsweise, deren Auszeichnung in dem „Paradox"14 einer vernichteten Existenz besteht, die sich gleichwohl überliefert, die fortbesteht als der unaufhebbare Rest, die Asche. Nietzsche bildet hierbei eine Haltung aus, in welcher der Darwinismus sich mit alttestamentarischen Gerechtigkeitsvorstellungen paart. So notiert er sich in der Entstehungszeit von Die Fröhliche ,
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Wissenschaft:
„Unsere ganze Welt ist die Asche unzähliger lebender Wesen: und
wenn das Lebendige auch wenig im Vergleich zum Ganzen ist: so ist alles schon einmal in Leben umgesetzt gewesen, und so geht es fort." (KSA, NF, 9, 472f.; kursiv St. G.) Sicher ist in den Installationen auch ein gewisses Scheitern des Künstlers an und in Nietzsches Gedankenlabyrinth zu erkennen und im Verbrennen von Nietzsches Text
noch
so
auch ein resoluter Erhebungsakt über das feine Gewebe der Gedanken. Die Stille, die in den Bildern zum Ausdruck kommt bzw. die in der Umwelt der Ereignisse zu vermuten ist, kann die Assoziation mit der Vernichtung als Auslöschung nicht völlig vergessen machen. Es bleibt ein Unbehagen gegenüber dem Spiel mit dem Feuer, dem wir auch im Anschluß an diese Einführung beiwohnen können, wenn Darrin Morgan diesem Paradox in einem pyro-performativen Akt vor unseren Augen an diesem Tag und diesem Ort in anderer Form Gestalt verleihen wird und damit vielleicht all die eminenten eben dieses und dieses Ortes, auf die wir eingestellt sind, der Signifikationen Tages des aussetzt. Feuers Bedrohung Denn in Raum 5 wird im Anschluß an diese Einführung die 1882er Niederschrift des Hymnus auf das Leben von einer durch den Künstler entzündeten, schwefligen Flamme durchkreuzt werden, die den wellenförmigen Durchstreichungen von Nietzsches Hand im Manuskript folgt und die Aufzeichnung sodann von Asche gezeichnet zurücklassen wird. Die Melodie des Hymnus geht auf eine Komposition aus den Jahren 1873/74 zurück und wurde von Nietzsche reaktiviert, als ihm Lou von Salomé ihre Verse zukommen läßt, die ihn vielleicht gerade aufgrund ihrer Naivität ergreifen und von uns mit seiner Melodie versehen als eben Das Gebet an das Leben in der Bearbeitung für Orchester durch Peter Gast überliefert sind. In der Version von Salomé findet sich denn auch die Zeile: ,,[L]aß deine Flamme meinen Geist entzünden I und in der Gluth des Kampfes mich / die Räthsellösung deines Wesens finden!"15 Wenn die Asche das ist, was bleibt, dann folgt Darrin Morgan auf sublime Weise dem Plan Nietzsches, den er in einem Brief an die Mutter bekundet hatte, jene Vertonung eines Tages in Naumburg aufführen zu lassen. Und an Hans von Bülow schrieb Nietzsche im Oktober 1887, daß dieser -
13 14
15
Vgl. Kommentar, KSA 14, 281. J. Derrida, Feuer und Asche, übertragen und mit einem Nachwort versehen von M. Wetzel, Berlin 1988 [1987], 53. Brief von Nietzsche am 1. September 1882 aus Naumburg an Heinrich Köselitz in Venedig, KSB 6, 249f., hier 249; kursiv, St. G.
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Nietzsche verbrennen
auf das Leben [...] einmal [gesungen werden soll], in irgend welcher nahen oder fernen Zukunft, zu meinem Gedächtnisse [...], zum Gedächtnisse eines Philosophen, der keine Gegenwart gehabt hat und eigentlich nicht einmal hat haben wollen".16
„Hymnus
gesungen werden, wie es in dieser Woche sicher gewird heute hier geräuschlos (zurück)bleiben, als Asche und als diese für immer nur eine vergangene Gegenwart haben. Denn, erinnern wir uns daran, daß das Jubiläum heute weniger eines ist, das an Nietzsches Denken erinnert, als daß es sich auf das Ende einer langen Zeit gewaltigen Nicht-Denkens, eines Schweigens bezieht. Der
Hymnus soll jedoch nicht
schieht, sondern
er
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3. Es gibt noch andere Räume mit Installationen hier im Haus zu erkunden. Der Künstler, dessen Arbeiten seit drei Jahren auf das Thema Des Feuers, des Schweigens und des Lachens im deutschen Geist des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts bezogen sind, bemächtigt sich im Zimmer 3 jenes berühmten Zitats aus Also sprach Zarathustra, mit dem Nietzsche auch die Götzen-Dämmerung enden läßt. Zarathustra forderte darin von der ihn umgebenden Menschenkohle, sie solle Diamant werden: „Werdet hart!"17, befiehlt Zarathustra denen, die ihm zuhören. Als Variation auf die „Rede des Hammers" zeigt diese Betrachtung eine halbe Tonne Küchenkohle am Boden des Raumes, worüber eine ,neue Tafel' hängt: „Werdet Flamme!", steht dort. Wir könnten auch lesen: „Verglüht wie die vorsokratischen Kometen der Philosophie!"; „Überwindet Euch und Eure Vergangenheit!" dies wären die Bedeutungen des Satzes bei Nietzsche gewesen, die Darrin Morgan ¡hm in seiner Pyropoiesis verleihen will. In anderer Weise bemächtigt sich Morgan in Zimmer 6 der zum Klischee gewordenen Dynamit-Metapher, die er dadurch ad absurdum führt, daß er eine Postkarte aus der Souvenirstadt Weimar mit Spiritus brennbarem Geist in einer Flasche Eau de Toilette der Marke ,TNT' arrangiert. Die Installation in Zimmer 2, „Der Wanderer und sein Schatten", wendet sich erneut der physischen Sinnfälligkeit zu und überträgt die Figur des Wanderers und seines Schattens in das Feld des Buchmaterials zurück: Hier können wir bei entsprechenden Lichtverhältnissen beobachten, wie der Schatten einer Figur über den Boden wandert, der durch die aus dem gesamten Buch herausgeschnittene Silhouette einer englischen Ausgabe des Ecce homo erzeugt wird, auf deren Titelansicht der Bergbesteiger Caspar David Friedrichs über dem Nebelmeer zu sehen ist. Mit Ecce homo kommen wir in umgekehrter Reihenfolge schließlich zur letzten und für den Namen der Ausstellung zentralen Installation im Zimmer 1, „Von den drei Verwandlungen". Der Künstler hat hier in aufwendiger Kleinarbeit aus dem der Verrottung überlassenen Holz des Kirchturms von Lützen Würfel mit einer Kantenlänge von sieben Zentimeter herausgeschnitten und sie zu einer Mauer aufgetürmt, auf wel-
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16
17
Brief
von
Nietzsche
175f„ hier 175.
am
22. Oktober 1887
aus
Venedig
an
Hans
von
Bülow in
Hamburg,
KSB
8,
Vgl. „Der Hammer redet", KSA, GD, 6, 161; und bereits „Von alten und neuen Tafeln", 29, KSA,
ZA, 4, 268.
Stephan Günzel
366 cher die
Vergrößerung einer Seite aus der Nietzscheschen Familienbibel abgedruckt ist, derzufolge der geschundene Christus vor Pilatus und die Menge geführt wird. „Ecce homo!" „Seht, welch ein Mensch"18 spricht Pilatus zum Mob und hebt damit die Unschuld des Zu-Kreuzigenden hervor, die ihm das Römische Gesetz zusprechen würde. Diese Szene, diesen Freispruch von Schuld, den Nietzsche sich mit dem Werk-
und Lebensrückblick am Ende seines Schaffens beimißt, steht als eine Mauer in Schrift und wird noch vor der Entzündung des Hymnus niedergerissen werden durch eine Flasche, die gemäß Nietzsches Verachtung von Alkoholika mit Tafelwasser aus den Venetianischen Thermen bei Recoaro in der Nähe des Gardasees gefüllt ist, wo sich Nietzsche 1881 zu Zwecken der Erholung aufhielt. Die fallenden Würfel gemahnen dabei an Nietzsches Konzeption einer weder göttlichen noch bloß menschlichen Gerechtigkeit, dargestellt im wiederholten Werfen der Würfel von der Erde aus an das Himmelszelt, von wo aus sie auf die Erde zurückprallen. Dieser irdisch-überirdische Spieler, der mit den Göttern an einem Tisch zecht dieser Spieler wollte Nietzsche sein. Was immer diese Dimension des Spiels bedeuten mag ob sie weltpolitisch ist oder das individuelle Schicksal auszeichnet so lenkt uns doch ein letztes Detail auf einen Wesenszug im Denken Nietzsches: Es ist der des spielenden Kindes, dessen Zeug Darrin Morgan aus dem Holz des Kirchturms hat entstehen lassen. Zuletzt bleibt es für uns fraglich, ob Nietzsche die anvisierte Selbstschöpfung geglückt ist oder ob er nur derjenige war, der ihre Form bestimmt hatte. Eines jedoch ist sicher: Mit Form und Themen wußte er zu spielen ebenso wie Darrin Morgan. vor uns
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Joh.
19,5.
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Christian Lipperheide: Die Ästhetik des Erhabenen bei Friedrich Nietzsche. Die Verwindung der Metaphysik der Erhabenheit. Königshausen & Neumann, Würzburg 1999 (= Nietzsche in der Diskussion), 25.- DM Nietzsches Kritik der Metaphysik äußert sich ästhetisch als Kritik des Erhabenen; seine „Ironisierung des Erhabenen" läßt sich als „Angelpunkt seiner Metaphysik-Kritik" ansehen (8). Christian Lipperheide erbringt in dem anzuzeigenden Buch dafür den Beweis, unterläßt es aber, zu zeigen, worin jenes „kritische Erhabene" liegt, welches die erste und die letzte Seite des Buches (7 und 98) zu Recht für Nietzsches eigene Texte kategoriell in Anspruch nehmen. Dies hätte wohl nur eine ästhetische Analyse eines einschlägigen Textes gezeigt, in der eine literarische De(kon)struktion und „Verwindung" des Erhabenen praktisch durchgeführt wird: besonders „schön" im Kapitel „Vor Sonnen-Aufgang" im dritten Teil von Also sprach Zarathustra. Lipperheide beleuchtet sonst sehr schön die verschiedenen Aspekte des Erhabenen in Nietzsches Äußerungen zur Ästhetik und konfrontiert diese mit den Ästhetiken des Erhabenen von Pseudo-Longin, Burke, Kant, Hegel, Schopenhauer, Wagner, Vischer, Adorno und nur im letzten Abschnitt Lyotard: „Leitet Nietzsche die Kritik eines traditonell-Erhabenen und einer Metaphysik der Vernunft ein, so zeigt er als betont ästhetischer Denker in der Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen wesentliche Aspekte der Ästhetik Adornos und der Philosophie der Postmoderne an" (49, vgl. 98). Dem ist so, weil bei Nietzsche seit der Geburt der Tragödie das Phänomen des Erhabenen mit dem Leib zusammengeschlossen, dadurch aber einer ,,logozentrische[n], transzendentalen Funktionalisierung" (17) bei Kant entzogen und (auch) die „idealistische Aufhebung der Ästhetik als Philosophie der durch Kunst erregten Sinne" (21) zurückgenommen wird. Schön ist für Nietzsche im eigentlichen Sinne nur der Mensch: „Der Mensch in seinem leiblichen Sein gilt als Ursprung und Maß aller Dinge" (90). Der ästhetische Zustand wiederum wird von ihm im Gegensatz zu Kant und Schopenhauer als Rausch gefaßt. Entsprechend wird das Erhabene rund um die Geburt der Tragödie von Nietzsche in Form des von Lipperheide so genannten „DionysischErhabenen" positiv besetzt: ,,[D]as Erhabene bei Nietzsche [beruht] auf dem Rausch des Wesens als Übermaß des Willens und der Affekte im Einklang mit der Natur als Wille zur Macht jenseits einer akzidentellen Vernunft" (46). Im Ausgang vom Leib und seiner Erfahrung im Rausch erfolgt in einer zweiten Phase die Kritik am „Metaphysisch-Erhabenen", die mit der am „Geist" überhaupt zusammenfallt: „Seit ich den Leib besser kenne, sagte Zarathustra zu einem seiner Jünger ist mir der Geist nur noch gleichsam Geist; und alles das „Unvergängliche" das ist nur ein Gleichniss" (ZA, „Von den Dichtern"). Jenes „hohle" Erhabene (Adorno) erscheint Nietzsche physiologisch als „überkompensatorische Selbstelevation des ,kranken Tieres' Mensch" (79). Dadurch kommt es zu der „musikalisch schlechte[n] Erhabenheit Wagners" (62). Nach dieser Kritik wird Nietzsche nicht mehr „Erhebung", sondern „Erleichterung in der Musik" suchen (69). Nietzsches „Übermensch" das immerhin läßt sich zu dieser „strategischen" (Klossowski) Figur sagen ist und hierin zeigt sich die Bedeutung des Themas des Buches -
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(Miß-)Verständnis Nietzsches in „Nietzsches rhetorischer EntwicklungsStrategie" (96) geradezu bestimmt durch die „Verwindung" und „Ironisierung" (8 und 76) des Erhabenen und der „häßlichen Überbleibsel der Metaphysik": durch die Überwindung der Stufe des Löwen in der des Kindes, in der Erreichung des „Schönen" jenseits des „Erhabenen", des „Über-Helden" gegenüber dem „Helden" (ZA, „Von den Erhabenen"), des Lachens gegenüber dem „tragischen" Ernst der Überwindung des für das
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,
„Geistes der Schwere", Zarathustras „Tod- und Erzfeind" (ZA, „Vom Lesen und
Schreiben").
Schließlich nimmt Nietzsche Position für den „Stil" überhaupt (vgl. „Zur Lehre vom Stil" im Brief an Lou vom 8./24.8.1882), im Spätwerk für den „grossen Stil" gegenüber der „Stillosigkeit" Wagners und der „décadence": „Die Umwertung des Erhabenen vollzieht sich bei Nietzsche innerhalb seiner Ästhetik des Stils als Kritik des Transzendenten" (62). Für Nietzsche ist nun das „,Pathos der Distanz' [...] différentielle Grundlage ästhetischer Moral" (22). Das „Dionysische", der Rausch erscheinen im Spätwerk erst möglich durch die „Form": „Verliert sich in Nietzsches Spätphilosophie die Spur des Begriffs des Apollinischen, so ist es sein Form-Begriff, der den Bereich begrenzt und bestimmt, in dem der künstlerische Rausch als solcher möglich wird und der Zustand der steigernden Kraft und die Fülle des Seins sich selbst einlöst" (ebenda). Es kommt zu einer, in einem neuen Sinne „tragischen", spannungsvollen Zusammenführung von „Apollinischem" und „Dionysischem", die jedoch keine „Versöhnung" ist und sein will: „[...] seine [d.h. des ,Classikers'] wahrhafte Größe [wird] durch die Kraft charakterisiert, die seinem schärfsten Gegensatz nicht nur unter sich hat und niederhält, sondern ihn in sich verwandelt, nicht unterdrückt, sondern zur vollen Entfaltung kommen läßt. So läßt sich die Wechselbeziehung zwischen Dionysischem und Apollinischem, Rausch und Traum, Erhabenheit und Schönheit, Schaffen und Empfangen, Form und Chaos in Sein und Werden in Hinblick auf den großen Stil begreifen, ohne Nietzsche einen Versöhnungsgedanken und eine Teleologie unterzuschieben und seine Philosophie in ein System einzubinden" (91; vgl. auch 51: „[...] das Erhabene sprengt den Horizont der Versöhnung"). „In der Dynamik des Willens zur Macht erscheinen [...] das Apollinische und das Dionysische als zwei komplementäre Energieformen: Apollo repräsentiert den Überwältigungswillen des Individuums in der phänomenalen Welt sowie das Bedürfnis nach Herstellung der Schönheit des Seins aus dem Chaos des Werdens Dionysos markiert die ewige Zerstörung des Scheins und der Starrheit der Formen als sich wiederholende Möglichkeit der Entwicklung und Selbstüberwindung in der spielerischen Schönheit der Unruhe und Unschuld des Werdens. Über die apollinische Tendenz zur Erstarrung und Kälte, die in der Stagnation enden will, brandet innerhalb der inkommensurablen Ökonomie des Daseins die hohe Flut des Dionysischen in ewiger Zerstörungs- und Schaffenslust. Waltete über der dionysischen Schrecklich- und Häßlichkeit der apollinisch-schöne Schein, so erhebt sich nun über das apollinisch-häßliche Erhabene das schöne Spiel des Dionysischen." (93f.) Im Ganzen zeigt sich, daß Nietzsches Überwindung oder Verwindung der Metaphysik „am Leitfaden des Leibes" geschieht, eines Leibes aber, welcher das „Gesetz", letztlich auch die „Wahrheit" als „der jeweils fixierte Wahn, der das Leben auf einer be-
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stimmten intentionalen Perspektive festlegt und sich erhalten läßt" (84), braucht, um „leben", schaffend sich „überwinden" zu können. Dies wiederum scheint zuletzt das ästhetische Pendel bei Nietzsche in Richtung einer gleichsam „architektonischen" Sprach-Kxxnst ausschlagen zu lassen zuungunsten der Musik (53): „Erhabenheit" schreibt Lipperheide „vermag sich erst zu entwickeln in der Macht der Sprache"
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(57f).
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von Nietzsches Kritik am Erhabenen ist, wie gesagt, brisant und von auf dessen „Höhe" abgehandelt. Leider erschweren die vielen Druck- und Lipperheide Die Nichtunterscheidung manche Formulierungsfehler die anspruchsvolle Lektüre. von Zitaten aus publizierten oder aber aus unpublizierten Schriften scheint nicht vertretbar. Hier noch einige Hinweise: Es fehlt bei Lipperheide der Hinweis auf die Bedeutung Burckhardts für Nietzsches (ambivalente) Kritik am „Barock" Wagners und für seine Konzeption des „grossen Stils". Nietzsches Hinwendung zur Architektur (68) erfolgt bekanntlich vor allem aufgrund der Rezeption von dessen „Cicerone". Im Hintergrund des Gegensatzes „Held"/„Über-Held" steht der von Theseus/Dionysos eine Abwandlung des Gegensatzes von Apollinisch und Dionysisch, die Lipperheide unberücksichtigt läßt.
Das Thema
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Lukas Labhart
Günter Gödde, Traditionslinien des „Unbewußten". Schopenhauer sche Freud, edition diskord, Tübingen 1999, 656 Seiten, 78.- DM
Nietz-
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Nachzuweisen, daß „sich Freud im Rahmen von Problemstellungen und Denkansätzen bewegt hat, die der eigentlichen Philosophie angehören, auch wenn er behauptet hat, sie sorgfältig vermieden zu haben" (S.585), ist das Anliegen der breit angelegten histori-
schen Studie Günter Göddes über die Wurzeln und Traditionslinien des Unbewußten. Der Verfasser ist selber Tiefenpsychologe und Psychotherapeut in Berlin. Sein Hauptanliegen ist in der Tat eine (Wieder-) Annäherung von Philosophie und Psychoanalyse, bzw. der Metapsychologie Freuds. Durch ein Aufdecken der Traditionslinien des Unbewußten in der Geschichte der Philosophie will Gödde die von Freud so sorgsam gewahrte Distanz aufheben, indem er auf die immer schon implizite Philosophie in jeder Metapsychologie hinweist. Der Philosophie des Unbewußten einen größeren Stellenwert innerhalb der Metapsychologie einzuräumen und dem Freud-NietzscheSchopenhauer-Diskurs weitere Impulse zu geben sind denn auch die ausdrücklich genannten Ziele seiner Arbeit, verbunden mit der Frage, wie es überhaupt dazu kommen konnte, daß die Philosophie des Unbewußten in der Psychoanalyse so sehr vernachlässigt worden ist. In diesem Zusammenhang bemängelt Gödde auch, daß in allen größeren biographischen Versuchen zu Freud die Philosophie des Unbewußten des 18. und 19.
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Jahrhunderts keinen Platz findet (weder bei Bernfeld, noch bei Sulloway, Burkholz, Schmid-Hellerau u. a.). Eine Geschichte des Unbewußten, die ein Desiderat der Forschung bleibt, ist das
Buch dennoch nicht. Es ist vielmehr der Versuch, sich in dreizehn Abhandlungen, die, wie der Autor betont, sich auch einzeln betrachten und lesen lassen, dem Problem zu nähern. Das erkenntnisleitende Interesse, das sie einzelnen Abhandlungen verbindet, gilt der Frage nach den historische Quellen des Unbewußten bei Freud. Die Vorgeschichte des psychologischen sprich wissenschaftlichen Begriffs des Unbewußten habe sich, so Gödde, auf philosophischem Terrain abgespielt. Dabei unterscheidet er vier verschiedene Traditionslinien: Eine kognitive (unbewußte Gedanken) bei Leibniz, Kant, Herbart, Fechner und Helmholtz, eine in der Vorromantik beginnende, wesentlich naturhafte Konzeption des Unbewußten bei Herder, Goethe, Schelling und Carus, die sich dagegen wehrt, in der Vernunft das Maß aller Dinge zu sehen. Gödde nennt sie die vitale Traditionslinie. Drittens eine triebhaft-irrationale bei Schopenhauer, Nietzsche und Eduard von Hartmann, und viertens eine genetische, auf die Freud stieß, als er sich anhand der Erinnerungen in die Kindheitsgeschichte seiner Patienten vertiefte. -
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Entwicklung des Unbewußten bei Freud Im Folgenden versucht Gödde dann die Entwicklungslinien von Freuds eigener Konzeption des Unbewußten in der Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition zu orten und zu charakterisieren. Dabei betont er immer wieder Freuds Stellung im Spannungsfeld zwischen Philosophie und Wissenschaft, im Gegensatz etwa zu seinem Lehrer Brentano (Psychologie vom empirischen Standpunkt, Wien 1874), der die Existenz unbewußter Vorstellungen vollkommen leugnete und Eduard von Hartmann scharf verurteilte. Freud habe in den 90er Jahren die Weichen für eine Psychologie des Unbewußten gestellt. Wichtige Autoren waren dabei Taine, dessen Unbewußtes jedoch Die
stark rationalistische Züge aufweist, Fechner, der versucht hat das Unbewußte in der Wissenschaft ,hoffähig' zu machen, Theodor Lipps (Grundtatsachen des Seelenlebens, 1883) und Wilhelm Jerusalem. Die erste metapsychologische Konzeption des Unbewußten, wie sie auch in der Traumdeutung ausgeführt wird, steht noch stark in der rationalistischen Denktradition von Leibniz, Kant, Herbart, Fechner und Lipps, weshalb Gödde sie auch als „im wesentlichen kognitiv" charakterisiert (196). Gödde ordnet den drei großen Schaffensperioden Freuds, drei verschiedene Konzeptionen des Unbewußten zu: Eine Verdrängungstheorie, eine Triebtheorie und drittens das Es als Sitz des Unbewußten zu dem noch unbewußte Ich- und ÜberichAnteile hinzukommen. Die Konzeption des Unbewußten in Freuds Spätwerk (1920— 1939) interpretiert Gödde als Annäherung an Schopenhauer und Nietzsche. Nach dem ersten Weltkrieg habe sich die Psychoanalyse immer mehr von einer reinen Erfahrungswissenschaft entfernt und sich zum Spekulativen hin entwickelt, wobei Philosophen wie Empedokles und Piaton, aber auch Schopenhauer und Nietzsche zunehmend Bedeutung erlangten. Erst sehr spät hat Freud sich dazu durchgerungen, den Glauben an die inhärente Güte der menschlichen Natur in Frage zu stellen und die Bedrohtheit des Ich in Abhängigkeit von den finsteren Mächten des Unbewußten zu sehen. Erst im Spätwerk wird die Autonomie des Ich zwischen der bedrohlichen Triebnatur des Es und der repressiven kulturvermittelnden Instanz des Über-Ich radikal
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vermittelnden Instanz des Über-Ich radikal in Frage gestellt. Das menschliche Seelenleben wird zunehmend als Wechselspiel von Eros und Tanatos begriffen. In Freuds letzter Konzeption des Unbewußten (Das Ich und das Es, 1923) nehmen die lebensfeindlichen, irrationalen Tendenzen des Unbewußten einen viel größeren Platz ein als bisher. Die dritte Phase entdeckte mit dem Todestrieb den Hang zur Destruktion und Aggression und seine Aufnahme Adoption durchs das Über-Ich, also die Wirksamkeit und Macht der Triebnatur auch und gerade im Bereich des Gewissens. Dies aber hat Nietzsche lange vor Freud entdeckt. Für ihn beherbergten die unbewußten Triebe des Menschen seit jeher ein ungeheuer destruktives Potential. Erst in dieser Phase trete, so Gödde, die Affinität zu Schopenhauer und Nietzsche deutlich zutage.
Schopenhauer und Freud Freud selber nannte in den Vorlesungen (1917) Schopenhauer ausdrücklich als seinen Vorgänger. Zu ihm hatte er ein sehr viel unbefangeneres Verhältnis als zu Nietzsche. Thomas Mann stellte erstaunt fest, daß Schopenhauers Beschreibung des Willens und des Intellekts „aufs Haar" dem Freudschen „Es" und „Ich" gliche (Freud und die Zukunft, 1936), und auch Horkheimer betonte, daß Freud sehr viel mit Schopenhauer zu tun habe, in gewisser Hinsicht manche entscheidende Seite seiner Philosophie fortführe und ausarbeite, ohne dabei irgendwie persönlich an Schopenhauer gedacht zu haben. Dieser Auffassung schließt sich Gödde an, der hinzufügt, daß die Grundstruktur der Freudschen Theorie des Unbewußten in der Willensmetaphysik Schopenhauers vorgeprägt ist. Auf Schopenhauers direkte Vorläuferschaft ist immer wieder hingewiesen worden. Zuletzt sehr ausführlich in einer Studie von Zentner (Die Flucht ins Vergessen. Die Anfänge der Psychoanalyse Freuds bei Schopenhauer, 1995/ Dieser legt sein Hauptaugenmerk auf Schopenhauers Entdeckung der Verdrängung und ihre krankmachenden Auswirkungen. „Die eigentliche Gesundheit des Geistes" besteht laut Schopenhauer „in der vollkommenen Rückerinnerung" (Philosoph. Vorlesungen). Schopenhauer verfügte über vielfaltige klinische Beobachtungsdaten, so daß Freuds Diktum der „merkwürdig klaren Intuition" unangemessen ist. Wahnsinn definiert er als Lücke in der Erinnerung, während die Gesundheit ein lückenloses Ganzes fordere. Wahnsinn sei gewissermaßen das letzte „Rettungsmittel des Lebens" für einen durch extremes Leid gepeinigten Geist. Um sich zu retten, zerreiße er gleichsam den Faden seines Gedächtnisses und fülle die Lücken mit Fiktion aus (Die Welt als Wille und Vorstellung, 1819). Die klinische Erkenntnis der Verdrängung auf der Freud seine zentrale Annahme des Unbewußten gründete, geht auf Schopenhauer zurück. Gödde hält jedoch fest, daß Freud für seine Erkenntnisse zurecht einen höheren Erkenntniswert beanspruche als für Schopenhauers intuitive Einsichten. Auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht sei Freud in wesentlichen Punkten über Schopenhauer hinausgegangen. Er resümiert die Kapitel über Schopenhauer mit den Worten Thomas Manns, der festgestellt hat, daß Schopenhauers „im klassischen Sinn nicht eben humanistische Feststellung, daß der Intellekt dazu da ist, dem Willen gefällig zu sein, ihn zu rechtfertigen, ihn mit oft sehr scheinbaren Motiven zu versehen, die Triebe zu rationalisieren",
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skeptisch-pessimistische Psychologie in sich berge, die dem was wir heute Psychoanalyse nennen, vorgearbeitet hat. eine
Nietzsche und Freud Kein anderer Denker des 19. Jahrhunderts hat so radikal wie Nietzsche den Schwanengesang der Vernunft angestimmt und die Macht des Unbewußten betont. Demgegenüber blieb Freud nur noch die Aufgabe, dieses Unbewußte zu entziffern. Sein eigentliches Verdienst ist nicht die Entdeckung, sondern die Entzifferung des Unbewußten, dessen Übersetzung in die Sprache des Bewußtseins, wie Freud dies erstmals in der „Traumdeutung" unternommen hat. Die letzten drei Abhandlungen sind Freud und Nietzsche gewidmet. In ihnen resümiert Gödde im wesentlichen die Ergebnisse, die Gasser in seiner monumentalen Vergleichsstudie über Nietzsche und Freud (Berlin, 1997) in der Folge Assouns (Freud et Nietzsche, Paris 1980) vorgelegt hat. Er betont die Übereinstimmungen in Nietzsches und Freuds Anthropologie. Lange vor Freuds Unbehagen in der Kultur (1930) hat Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches (1878) auf die krankmachenden Wirkungen der Zivilisation hingewiesen. Die Kulturlast, so schreibt Nietzsche darin, sei inzwischen so groß geworden, „dass die cultivierten Classen der europäischen Länder durchweg neurotisch sind". Gerade aufgrund der Hinwendung zur triebhaft-vitalen Basis als der kernhaften Sphäre des Menschseins, zur Triebunterdrückung und zur Sublimierung als gesunder Form der Triebunterdrückung könne, so Gödde, Nietzsches Anthropologie als Vorstufe der Psychoanalyse betrachtet werden. Den Hauptunterschied erblickt er lediglich darin, daß Nietzsche dem Machttrieb die Vorherrschaft im Unbewußten eingeräumt hat, während Freud vom Primat der Sexualtriebe ausgeht. Im erkenntnistheoretischen Skeptizismus Nietzsches, neben dem sich der Freudsche Wissenschaftsoptimismus gelegentlich fast naiv ausnimmt, sieht Gödde kein grundsätzliches Problem. Die Psychologie Nietzsches charakterisiert er mit dem von Klages geprägten Begriff Entlarvungspsychologie, der er die Tiefenpsychologie Freuds als eine in einem explizit wissenschaftlichen Kontext entstandene Richtung gegenüberstellt. Gödde unterstreicht Nietzsches Behauptung, niemand habe jemals „mit einem gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehen" wie er (Menschliches, Allzumenschliches). Nietzsches Entwicklung zum Psychologen müsse auch, so Gödde, im Kontext seiner eigenen Krankheit und der damit einhergehenden Selbstanalyse gesehen werden. Seine schonungslose Wahrheitssuche sei Freuds streng analytischer Vorgehensweise verwandt. Große Ähnlichkeiten finden sich in der Beschreibung der Verdrängung, Rationalisierung und Projektion. Beide betonen die neurotische Dynamik der Affektunterdrückung, die Entstehung des schlechten Gewissens durch eine Wendung der Aggression nach innen (durch Verinnerlichung). Beide sehen in der Entwicklung des Schuldgefühls den Preis für den Kulturfortschritt. Gödde kommt zu dem Schluß, Freud sei ein entlarvender Psychologe in der Tradition Nietzsches und folgt darin Ellenberger, der bereits 1973 die Tiefenpsychologie Freuds in eine breite „entlarvende" Tradition von den französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts bis zu Schopenhauer, Marx, Nietzsche und Ibsen gestellt hat. Lediglich in der systematischen Erforschung des Unbewußten sei Freud über Nietzsche hinausgegangen. Nietzsches fundamentale Einsicht, daß auch die Wissenschaft nur ein Paradig-
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Welterklärung sei, eine bestimmte Art der Interpretation und nicht der direkte Zugang zur Wahrheit selbst, spielt in Göddes Auseinandersetzung keine Rolle. Wissenschaft und Philosophie sind für Freud zwei grundsätzlich verschiedene Formen der Weltauslegung und in seinem Gefolge auch für Günter Gödde, der mit seinem Buch dazu beitragen will, die Kluft zu überwinden und zu zeigen, wieviel Philosophie immer schon in jeder rein wissenschaftlich und empirisch aufgefaßten Psychologie steckt. Eine Kluft, die freilich nur von Freud, nicht aber von Nietzsche gesehen wurde. ma zur
Renate Müller-Buck
Nietzsche in Frankreich
Rückblick auf das Jahr 2000 -
Mehrere neue Übersetzungen und kommentierte Ausgaben sind zuerst zu erwähnen. Mit seiner Neuübersetzung von Jenseits von Gut und Böse (Par-delà bien et mal, Paris, Flammarion, GF Nr. 1057) hat Patrick Wotling eine empfehlenswerte Studienausgabe mit ausführlicher Einleitung, Anmerkungen, Bibliographie, Index nominum und Index rerum geliefert. Parallel zu dieser wertvollen und preiswerten Taschenbuchausgabe erschien ebenfalls im Verlag Flammarion eine Nietzsche-Werkausgabe in einem 1440 Seiten starken Dünndruck-Band (Œuvres, Paris, Flammarion), in dem Patrick Wotling die Werke von der Fröhlichen Wissenschaft (Le Gai Savoir) bis zum Nietzsche contre Wagner in neuen Übersetzungen gesammelt hat, die alle schon als Einzelbände in der Taschenbuch-Reihe GF-Flammarion erschienen waren (Éric Blondel war dabei neben Wotling selbst der aktivste Übersetzer). Zu den erstaunlichsten und erfreulichsten Phänomenen der französischsprachigen Nietzsche-Rezeption gehört die große Vielfalt der Übersetzungen. Diese jüngste Übersetzung von Jenseits von Gut und Böse durch Patrick Wotling ist die sechste französische Übertragung seit Par-delà le bien et le mal, von L. Weiskopf und G. Art aus dem Jahre 1898. Jede neue Übersetzung ist zugleich eine neue Interpretation und kann die Fortschritte der Nietzsche-Philologie nutzbar machen. Erst vor kurzem war die französische Übersetzung der Nietzsche-Ausgabe von Colli und Montinari mit dem Band IX der Fragments posthumes (Nachgelassene Fragmente) Sommer 1882-Frühling 1884 in der Übersetzung von Anne-Sophie Astrup und Marc de Launay (Paris, Gallimard, 1997) vollständig geworden. Der Erstlings-Band der Ausgabe war dreißig Jahre zuvor erschienen (Band V, Le gai savoir, übersetzt von Pierre Klossowski). 2000 kam nun der erste Band der „neuen" Colli-Montinari-Ausgabe in der berühmten und prestigevollen Reihe „Bibliothèque de la Pléiade" von Gallimard, unter der Leitung von Marc de Launay. Dieser erste Band entspricht dem Band 1 der KSA (von der Geburt der Tragödie bis zu den Basler nachgelassenen Schriften) und enthält außerdem einige Jugendschriften (auf der Grundlage der Gesamtausgabe von Mette und Schlechta und der jüngsten Textausgaben der italienischen Colli-Montinari-Ausgabe durch Giuliano Campioni und andere). Der gründliche und synthetische Kommentar und die zahlreichen Anmerkungen machen diese Pléiade-Ausgabe lehrreich und anre-
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Rezensionen
selbst wenn die „alte" Colli-Montinari-Ausgabe im gleichen Verlag allein schon wegen der Nachgelassenen Fragmente für den französischen Nietzsche-Forscher unverzichtbar bleibt. Wird sich die Prophezeiung von Paolo D' lorio in dem von ihm herausgegebenen Sammelband HyperNietzsche, Paris, Presses Universitaires de France, erfüllen ? Werden die vielbändigen „historisch-kritischen" Klassikerausgaben durch solche „Open Sources" wie HyperNietzsche im „worldwide web" in Zukunft ersetzt ? In diesem Band werden alle Dimensionen dieses ambitionierten, kollektiven Projekts dargelegt, das Paolo D'lorio von der Scuola Normale Superiore in Pisa zur École Normale Supérieure in Paris begleitet und betreut hat. Ich wollte http://www.hypernietzsche.org besuchen, hatte aber kein Glück : im Augenblick nicht zugänglich. Zum Glück hatte ich meine gedruckten Nietzsche-Ausgaben noch nicht weggeworfen ! Zwei Zeitschriften haben 2000 einen Sonderband Nietzsche herausgegeben. Für die von Michel Meyer (Brüssel) geleitete Revue internationale de philosophie, Nr. 211 (2000/1), hat Angele Kremer-Marietti (selbst hat sie den Artikel „Nietzsche et l'épistémologie réfléchissante" beigetragen) Beiträge von Jean Granier („Penser avec et contre Nietzsche"), Babette E. Babich („Nietzsche et Eros"), Daniel Breazeale („Critical History, and „das Pathos der Richtertums",,), Jacques Le Rider („La vie, l'histoire et la mémoire dans la seconde Considération inactuelle"), Angelika Schober („Présences de Nietzsche en France"), Matthieu Kessler („Nietzsche et la métaphysique"), Holger Schmid („Zur Epistemologie des Labyrinths"), Thierry Simonelli („Nietzsche dans la généalogie de la psychanalyse") versammelt. Von ungewöhnlichem Umfang (480 Seiten) und im für diese Reihe üblichen Großformat ist das besonders eindrucksvolle, von Marc Crépon herausgegebene Cahier de L Heme zu Nietzsche. Der Band wird durch Erstübersetzungen weniger bekannter Texte aus dem Nachlaß und aus den Briefen eröffnet (die Ausgabe von Nietzsches Briefen in französischer Übersetzung ist leider noch auf die ersten zwei Bände, bis Ende 1874, beschränkt). Erste Abteilung : „Autour de la langue, du sens et du style" (Marc Crépon, „La langue, l'esprit, les classiques. Nietzsche et la question de la langue maternelle" ; Marc de Launay, „Le style l'esprit libre" ; Max Marcuzzi, „Les sites du sens" ; Mario Ruggenini, „Foi dans le Je et foi dans la logique. La question ontologico-grammaticale du Je dans la pensée de Nietzsche" ; Jacques Le Rider, „Nietzsche et Goethe"). Zweite Abteilung : „Nietzsche et les Grecs" (Denis Thouard, „Le centaure philologue : Nietzsche entre critique et mythe"; Michèle Cohen-Halimi, „Comment peut-on être naïf? Une lecture de La Naissance de la tragédie" ; Michel Haar, „Nietzsche et Socrate" ; Yannis Constantinidès, „Les législateurs de l'avenir : l'affinité des projets politiques de Platon et de Nietzsche"). Dritte Abteilung : „Nietzsche et la musique" (Arnaud Villani, „Physique et musique chez Nietzsche"; Mazzino Montinari, „Nietzsche contra Wagner : été 1878" ; Éric Dufour, „L'année 1872 de Nietzsche : La Naissance de la tragédie et Manfred Meditation"). Vierte Abteilung : „La critique de la métaphysique et de l'histoire" (Gespräch mit Michel Haar; Josef Simon, „La crise du concept de vérité, crise de la métaphysique" ; David B. Allison, „Nietzsche ne connaît pas de noumènes" ; Jocelyn Benoist, „Nietzsche est-il phénoménologue ?" ; Fabio Merlini, „Pathologie de l'histoire et thérapie de la mémoire. L'inscription historicisante de la vie" ; Marc de
gend,
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statut de la volonté de puissance dans l'oeuvre publiée de Nietzsche" ; Paolo D'Iorio, „L'éternel retour. Genèse et interprétation"). Fünfte Abteilung : „La critique de la civilisation et de la morale, la conversion des valeurs" (Françoise Dastur, „Qui est le Zarathoustra de Nietzsche ?" ; Pavel Kouba, „Le signe du nihilisme" ; François Chenet, „Nietzsche, ou le nouvel Érostrate ?" ; Sylvie Courtine-Denamy, „Amour du prochain, amour du lointain. Pour une approche de l'homme pudique chez Nietz-
Launay, „Le
sche").
Zwei Bücher haben die schier unerschöpfliche Geschichte der französischsprachigen Nietzsche-Rezeption weiter erforscht und dokumentiert. Angelika Schober, Ewige Wiederkehr des Gleichen ? Hundertzehn Jahre französische Nietzscherezeption, ist in deutscher Sprache im Verlag Presses Universitaires de Limoges erschienen. In diesem kurzen Überblick (150 S.) sind die Abschnitte zum Thema „Nietzsche und die Religion(en)" besonders lesenswert. Jean-François Balaudé und Patrick Wotling haben in der Taschenbuchausgabe Lectures de Nietzsche (Paris, Librairie Générale Française, Le Livre de poche, Références Nr. 577) eine Sammlung klassischer Aufsätze der französischsprachigen Nietzsche-Forschung zusammengetragen und eingeleitet. Da findet man nicht nur Michel Foucaults bedeutende Studie „Nietzsche, la généalogie, l'histoire" dem Jahre 1971 wieder, sondern auch „Fatalisme et volontarisme chez Nietzsche" Jeanne Champeaux, „Nietzsche législateur" von Yannis Constantinidès und jeweils zwei wichtige Aufsätze von Henri Birault, Éric Blondel, Richard Roos und Patrick Wot-
aus
von
ling.
Jean-Pierre Faye, der 1998 Le vrai Nietzsche, „den wahren Nietzsche", mit dem Untertitel Guerre à la guerre, „Krieg dem Kriege", gegen die vermeintlichen Verleumder des Philosophen in Schutz nehmen wollte, veröffentlichte im Verlag Grasset & Fasquelle den merkwürdigen und faszinierenden Essay Nietzsche et Salomé. La philosophie dangereuse. Die Begegnung des Theoretikers mit dem „SaloméPrinzip", in Lou verkörpert, ist für Jean-Pierre Faye der Ausgangspunkt für freie Variationen zu Nietzsche als Außenseiter, „Volksfeind" und Provokateur. In der Nachfolge von Georges Bataille interpretiert er Nietzsches radikale Kulturkritik als revolutionäres und zugleich pazifistisches, anti-nationalistisches Programm. Jacques Ponnier, Nietzsche et la question du moi, Paris, Presses Universitaires de France, fand ich etwas enttäuschend. Man merkt bald, daß der Titel etwas irreführend ist : Es ging dem Autor darum, einen Freudianischen tiefenpsychologischen Einblick in Nietzsches Ich zu gewinnen, wobei nichts wirklich Neues zur Kenntnis von Nietzsches Existenz und Persönlichkeit beigetragen wird. Am interessantesten ist das Vorwort von Paul-Laurent Assoun, der einen frappierenden Satz aus den Protokollen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung zitiert ; in der Sitzung vom 28. Oktober 1908 bemerkte Sigmund Freud : „Eine solche Introspektion wie bei Nietzsche wurde bei keinem Menschen vorher erreicht und dürfte wahrscheinlich auch nicht mehr erreicht werden." Nun aber ist schwer, selbst mit den Mitteln der psychoanalytischen Methode, Nietzsches Ich besser als Nietzsche zu erörtern... Fruchtbarer scheint mir der Ansatz von Mario Ruggenini im erwähnten Cahier de LHerne (S. 125-146), der nicht „la question du moi", sondern „la question du je" als „question ontologico-grammaticale" untersucht.
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Originell und anregend fand
ich das Buch
von
Antonia Birnbaum, Nietzsche. Les
l'héroïsme, Paris, Éditions Payot & Rivages. Den Heroismus, von dem hier die Rede ist, soll man nicht mit dem in der Nietzsche-Rezeption der Jahrhundertwende klischeehaft gewordenen „Heldentum" des Übermenschen verwechseln. Antonia Birnbaum meint viel eher den „héros moderne" von Charles Baudelaire, den Walter
aventures de
Benjamin
im
Passagen-Werk
besten
interpretiert
hat. Um Nietzsches Brisanz zu A. Birnbaum : „II s'agit de penser un héroïsme qui ressortisse non à un moi clos et univoque voulant s'imposer à toute force, mais à la liberté de se mouvoir dans le monde qui se joue nécessairement dans et par un rapport aux autres et à la vie collective." So verstanden, handelt es sich um einen „héroïsme émancipateur". Antonia Birnbaum kommentiert auf überzeugende Weise den „epistemologischen Heroismus", der sich im Nachgelassenen Fragment vom Ende 1880 formuliert : „Ich will es dahin bringen, daß es der heroischen Stimmung bedarf, um sich der Wissenschaft zu ergeben !" Der „héros moderne" ist der „Übergangsmensch" nach dem Tod Gottes und des Menschen und vor dem Übermenschen, wenn man Michel Foucaults Einsicht in Les Mots et les choses ernst nimmt, daß „La mort de Dieu est synonyme de la disparition de l'homme et la promesse du surhomme signifie d'abord et avant tout l'imminence de la mort de l'homme." Die existentielle „heroische Stimmung" ist in diesem Zusammenhang nichts anderes als der konsequente Individualismus als Ablehnung aller Normen. Seit dem grundlegenden Nietzsche et la critique du christianisme, 1974, hat Paul Valadier in wiederholten Ansätzen einen souveränen und imponierenden Stil der Nietzsche-Interpretation eingeführt, der jedesmal neue Akzente zu setzen vermag und Nietzsche in einem neuen Licht erscheinen läßt. Das schmale Buch Nietzsche l'intempestif („Nietzsche der Unzeitgemäße"), Paris, Beauchesne Éditeur, ist wieder ein sehr gelungener Beitrag zur Nietzsche-Diskussion. Valadier prägt den schönen Ausdruck von der „maladie du sens" („Krankheit der Sinngebung"), die eine Folge der asketischen Ideale darstellt. „L'homme faible ne supportant pas le réel en son troublant mystère prétend le .corriger' en éliminant toute la part qui diffère de lui, il prétend donc savoir ce qu'il en est des choses et prononcer avec assurance leur vérité." Die fröhliche Wissenschaft bedeutet, „que l'exercice de authentique de la raison passe une acceptation de la finitude humaine, de ce que Nietzsche appelle le ,perspectivisme', sans prétendre se faire centre et se prononcer souverainement sur le tout des choses." So gesehen, wäre Nietzsches Perspektivismus der ausgerechnete Gegensatz zu einem „Prometheischen" Wissen, und sein Kampf gegen das Christentum hätte den Zweck, „d'ouvrir la voie à une affirmation triomphante, non de l'étant, mais du monde en sa profondeur chaotique et proprement divine", und durch das Christentum hindurch den modernen Glauben zu bekämpfen : „Le scientisme, l'idéologie du progrès, le socialisme, et même l'athéisme dans la mesure où il reste lié à la ,volonté de vérité à tout
verstehen, sollte
man
am
„détacher l'héroïque du monumental", zeigt
prix'".
Jacques Le Rider
Personenverzeichnis
Adorno, Th. W.369 Aesop. 193,331
Augustinus.16
60,68,163,168,170,172, 174,211,214,216,227,230 Alexander d. Gr. 50, 52, 178, 225, 356
Babich, B. E.376 Bachofen, Joh. J.67 Baer, E. v.242-243 Baeumer, M. L.68-69 Baeumler, A.40,181,241,246, .308,310,356,56/ Bahrdt, K. Fr. 127
Agamemnon.165 Agrippina.167 Aischylos
.
.
.
.
Alexander, Zar. .
.
190-191
Alexandrinus, C.34 Alkibiades 165,320-321,326,331 Allemann, B.66,301 Allison, D. B. 376 Althaus, H. 161, 162, 167 ....
Altwegg, W. Améry, J.
66 206
Anaxagoras.53
Andersen, H. Chr.146 19,21,97,203, Andreas-Salomé, L. 243, 298, 364, 370, 377 Ansell-Pearson, K.66 .
.
.
.
.
.
Apollodor.
52
Arendt, H.350,355
Areopag. 174 Aristophanes. 63 Aristoteles 51,169,171,181-182,354 Arnold, A.80,81 .
.
Art, G.375 Aschheim, St. E.66, 71, 74, 80, .52,239-240 Assoun, P.-L. 374,377 Ast, Fr.335
Astrup, A.-S.375 Attali, J.298
Augustus. 163 Avenarius, F.287
Bailey, T.353
Bakhtin, M. 352 Balaudé, J.-Fr. 377 Bamford, R.352 Barbera, S.65 Barck, K.292 Barner, W.98 Bartels, A.273 Bartsch, P. D. 211 Bataille, G.41,278,377 Baudelaire, Ch. 16,378 Bauer, 0.236 Baumann, H. 93 Baumann, Z.354
Bauschinger, S.
66
Becker, 0.291 Beethoven, L. v. 296 Beevers, J. L. 237 Behler, E.41,65,206 Beierle, A.82 Benjamin, W. 244,378 Benn, G.16, 40, 67, 68, 80,
Personenverzeichnis
380
82-87,287 Bennholdt-Thomsen, A. 343 Berger, W. R. 78,80 .
Bergmann, H.92 Bernays, J.335
Bernfeld, S.372 Bernoulli, C. A.268,275
Beuys, J.35 Beyer, U.65
Binder, J. 248 Birault, H.377 Birnbaum,.378 Biser, E. 279 Bismarck, O. Fürst v. 181
Biswanger, 0.
Buddeberg, E.83 Buddensieg, R.125-126
Bülow, H. v. 20,364,565 Bürger, Chr. 72 Bürger, G. A. 206 Bürger, P. 72 Burckhardt, J. 33,67,85,275,277-278, 280-289,299,316,351 Burke, Ed.369 Byron, G. G.109,149,206 .
.
.
.
.
Caesar, G. 1. 52,174,182,225 173 Caligula (Gaius Claudius Nero) ...
Campioni, G.375
Blumenberg, H.794 Blunck, R.98
Camus, A. 40 Cancik, H. 66,69-72 Cancik-Lindemaier, H. 66 Canetti, E.345 Carlsson, A.-L.353 Caras, CG.372 Casanova, M. 350 Castoriadis, C. 297
Boeckh, A. 335 Böckmann, P.66
Chamberlain, H. St.310
258
Blanchot, M.278
Blaß, R.80 Bloch, E. 244,307-313 Bloch, P. A. 345,346 Blondel, É. 375,377
Boethius.
Bohley, R.
177
97,98,101,103,115,
.121, 124 Bohnenblust, G.66 Bohrer, K. H. 750 Bohrmann, H. 247 Bollmus, R.240
Borges, J. L.298 Borgia, C. 284
240 Bormann, M.'. Borneman, E. 707 Bowles, M. J. 353 Brandes, Ed.272 Brandes, G.256,267-272,284, .289,307 Breazeale, D.376 87 Brecht, B.' Bremer, D.79 Brennecke, D. 277 Brentano, Cl.208, 211>-212, 372 Breton, A.277 .
.
Bridgwater, W. P. 66 Brobjer, Th. H.349 Brod, M.• 288-289 Bruno, G.: 206
Cato.177
Chambige, H. Champeaux, J.
283 377 331 377 281
Charmides. Chenet, Fr. Chirico, G. de. Cicero. 177,178,226 Ciaessens, P. J. Th. M.287 Clark, M. 353 Cocalis, S. L. 66 Cohen, M. D. 354 Cohen-Halimi, M.376 Colli, G. 36,41, 161,249,375 Connolly, W. E. 356 Conrad, J. 16 Conradi, H. 235 Constandinidès, Y. 376, 377 Conway, D. W. 65 Corssen, P. W.161 Courtin-Denamy, S.377 Crépon, M. 376 Creuzer, G. Fr. 34 Critchley, S.354 Cussen, K.353-354
Dahms, W.
296, 303
381
Personenverzeichnis Danto, A. C.
Ephialtes.174 Epikur.43-48,50-61
Debussy, Cl.296 Degenfeld, O. Gräfin v. 306
Euripides.70,168,174,316,324
109 41 Darwin, Ch. 171, 184 Dastur, Fr.377
Dante
Alighieri.
Dehmel, R. 235 Deleuze, G. 41,279,2*6,303, .304,352,356 Demandt, A. 50 Demokrit. 44,46,48,52,53 Dennett, D. C.40 Derrida, J. 41,364 Descartes, R. 38 Deussen, P. 109,281
Dewey, J.350 Díaz-Pérez, V.264 Dierks, M.78,80 Diethe, C.351 Dietzsch, St.292 44, 45, 47, 49, Diogenes Laertios 50,51,52, 158 D'Iorio, P.376,377 Dittberner, H.77 Dix, 0.235 Döblin, A. 67 Dörrenbächer, U.278 Domaszewski, A. v.162 ....
.
Dostojewski, F. M.
273 100 Drusus.163 Duchamp, M. 35, 40 297 Dürrenmatt, Fr.
Dreßler, R.
Dufour, É.376
Duvignaud, J.
305
Ebersbach, V.50,110 Eckhart, D. 245 Eco, U.201
Eichberg, R. 93 Einstein, A.55,197 Eiselein, J.
64 M. 97 Eißler, K. R.160 Ellenberger, H.374 Emerson, R. W.35, 151 Emge, C. A.248
178 Eratosthenes v. Kyrene. Ermanarich. 165 Esselborn, K. G.74
Faesi, R.66 Fambrini, A.269,273
Faye, J.-P.377
Fechner, G. Th.372 Feuerbach, A.34 Figl, Joh. 91,92,97,95,99, .102, 107, 121,347 Firda, R. A.74 Fitzsimons, P. 353
Flaig, E.175 Fleischer, M. 66 Förster, B.244,249-252,254-255, 257-260,263-265,351 Förster-Nietzsche, E. 20-21, 91, 101, 104,106,115,124,126, 129, 132-133, 160,219, 221,235-236,238-240, 244,247-248,249-265, .267-274,288,351 Fontenelle, B. de.157 Foucault, M.41,278,286,290, .350,377,378 Frank, H.239 Freud, S. 16,19,40,67,371-375 .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
Freytag, A. 260 Frick, W.73,75,82 Frick, W.247 Friedländer, S. Friedrich, C. D. Fr.
244,363 208, 365
Friedrich II. 181 Friedrich III.258
Fritsch, Th.270 Fynn, E. 25/, 289
Eisingerich, A.
Gadamer, H. G.334 Galiani, Abbé. 201
Empedokles.33,53,216,372 Engels, Fr.63-64
Gasser, R.374 Gaudillac, M. de.279 Gehlhaar, S. S.287, 357 Geibel.E. 65 George, St.40,73-74,84,235
Gallienus.161
Personenverzeichnis
382
Gerhardt, V.40,92,316,328, .547,342 Gerlach, H.-M. 77 Gerratana, Fr. 702 Gersdorff, C. v. 95 Gide, A.40,295,294-295,297
Ginzburg, C.201-202 Goch, K. 702, 121-123,249 Goebbels, J.16,237,240,246-247 Gödde, G.371-375 Goethe, C.160,249 Goethe, Joh. W. v. 33,35,61,64,82, .84, 127, 149, 159, .160, 165, 167,206, .
.
.
.209,210,214-217 .249,505,334,372 Golomb, J.356 Gonzalez, N.264,265 Grabbe, Chr. D.796 Gräfrath, B. 799 Granier, J.376 Groddeck, W. 69,278,282,287,290 Gründer, K. 65, 77 Grunert, F.576 Guattari, F. 279 Günther, G. 273 .
.
.
Günther-Gournia, H.295 Günzel, St. 363 Guth, A.73 Guthke, K. S. 258 Guzzoni, A.40 Haar, M. 376 Haarmann, H. v. 361 Haas, A.346-347 Haas,W. 243,244,306
Habig, 1.
795
Hagedorn, Fr. v.
139
Härtle, H.245 Hamsun, K. 267,271 Hansson, 0. 267-268 Hartmann, Ed. v. 372 Hase, K. 726, 129 Hauptmann, G.73, 75 Heckel, K.268 Heftrich, E.69 37,169,191,194, Hegel, G. W. Fr. 198,316,332,355,369 Heidegger, M.13-15,36,37,40, .
.
.
.
.
.
.158,278,350,356 Heine, H. 167 Held, D.350 Heller, E.77 Helm, R. M. 65 Helmholtz, H.
v.
372
Henrichs, A.69,71 Heraklit.33-38,45,53,59,707, 197,202,317,342,354 Herbart, Joh. Fr. 372 Herder, Joh. G.35,64,178,179, .206,372 Hermann, K. Fr. 322 Herodot.53,55,106 Herz, R.237 .
.
.
Hesiod.46 Hess, H.-E.73 Hesse, H.40
Heusler, A.
273 80-81 Hildebrandt, K.295
Heym, G.
Hillebrand, B.66, 67-68, 71, 74, .77-78,87 Himmelmann, B.342 Himmler, H.308
Hindenburg, P. v.241
Hirsch, E.758 Hitler, A.16,159,235-241,245, 247-248,313,356-357 Hobbes, Th.16 Hocke, G. R.298 Hödl, H. G.91,97,99,7/4,189 Hölderlin, Fr.65,67,80,149,159, .166,210,216,346 .
.
.
Hölty, L. Chr.
139
Hoffmann, D. M.272,507 Hoffmann, E. T. A. 13-14 Hoffmann, H. 236 Hofmannsthal, H. v. 40,73-76,506 .
.
.
Holingdale, R. J.36 Homer.168,292,322 Honneth, A. 745 Horaz. 111,162, 165,205 Horkheimer, M. 373 Hortensius.178
Hossenfelder, M.45,53, 54 Huder, W.567 Humbodt, W. v.64, 148, 334-335 Hume, D. 199,567-562
383
Personenverzeichnis Huschke, W.273
Klinger, M.
235
Ibsen, H. 267,270,374 Isaak.128
Klossowski, P.276-279,285,285.289,547,369,375 Koch, H.-J.82
Jähnig, D.65,68
Koch, C. 161 Köhler, J.98,109, 165,203
Jagenberg, C.-H.
122
Jahn, 0.333,335 Jahnn, H. H. 82 Jakob, M.279 Janz, C. P. 98, 249, 276, 284 40, / 70, 293, 299, 307-313 Jaspers, K. Jauslin, K.103,114, 189, 193 Jean Paul.214,343 Jens, W. 87 Jerusalem, W. 372 Jesus v. Nazareth 46-47, 52, 57, 120, .121,173,318,366 .
.
.
.
.
Johannes. 127 Joisten, K.184
Jürß, Fr.45,53,54
Jung, CG.40
Koppen, U. .
.
.
290
43,45,51,52,255,273, 289,301,303,339,364
Köselitz, H. .
.
Kotre, J.101 Kouba,P.377 Kraus, K.237 Kreis, R.98, 116, 158, 159, 160, .
164,166,179,181-182 Kremer-Marietti, A.376 .
.
.
Kritias.
331
Krochmalnik, D. 357 KroedeU.97 Krohn, A.324
Krüger, M. 298 Krug, G.49, 104,106, 124, 138,
Kaiser, G.82,87
145,161, 165, 189,200 Krummel, R. Fr.40, 66, 96 Kruse, B.-A. 72 Künzli, R. E.278-279 Kuhmann, H. 93 Kuhn, Th. S.199-200
Kallisthenes.225
Kulenkampff, J.361-362
.
.
Kafka, Fr.16,288-289 Kahl,J.138
Kaiphas.173
Kalthoff, A.339 Kant, 1.16,33,38,59,40,47, .198,258,308,332, .353,362,369,372 Kaufmann, W. 41, 120, 174,182, 355
Kemp, Fr. 87 Kerény, K.291,299-300 .
.
.
Kessler, M.
376
Kierkegaard, S.267,308,310-311
Kirchhofe U. 77 Kittler, Fr.85
Kjaer, J.
92,93,98,99,110,137,
.
.
.
.
138, 140, 141, 142, 144, 151, 155, 158, 159,160,
.164, 182 .
.
Klages, L.374 Kleinbeck, U.92 Kleinschmidt, E. 345 Kleist, H. v.16,67,80,196,208 Kleisthenes. 174
Klingbeil, J.259
.
Lacan, J.41 Lachmann, K.75, 335 Laclau, E.356
LagardeP.de. 310 63, 68-69, 70, 335 Lange-Eichbaum, W. 165 Langreder, H. 245 Landfester, M.
Lasker, E. 199-200 Lassalle, F.34 Latacz, J.70 Lauenstein, D.293, 298 Launay, M. de. 375,376-377 Lefèvre, E.82 Leibniz, G. W. 53, 372 Leiner, M.289 Lennox, S. 66 Le Rider, J. 376
Lesseps, F. V. de. 283-284 Lessing, G. E. 74-75 Leukipp.52, 53
Personenverzeichnis
384 354
Melanchthon, Ph.162
Lichtenberger, H.307
Melissos.53 Mendès, C. 289 Menoikeus 46, 47, 48, 52, 55, 56,
Livia.765, 167
.57,59 Mentschikoff, Fürst.190 Merlini, F.376 Mette, H. J. 161,205,207,375 Mewaldt, Joh.45
Levinas, E.
Lipperheide, Chr. 369-371 Lipps, Th.372 48 Löwith, K.77, 72 Lohenstein, D. C. v.298 London, J.40 López, Fr. S.252 Losch, U. 709 Lotze, R. H.324 Luckow, M.285 Ludendorff, E.241 Ludwig XVI.128, 133
Löhneysen, W. v.
Lukács, G.307-310,313 Lukrez.44,54,55 Luther, M.126-127,138,142,147, .155,212
Lykurg.322 Lyotard, J.-Fr. 369 Mach, E. 344 Machatzke, M. 73 Machiavelli, N.317 Maclntyre, B. 249 Mahler, G.235 Mallarmé, St. 201 Malreaux, A. 40 Mann, H.40,67,73,77,78,84 Mann,Th.40,67,73,77,78-80, .173,257,373 Marcus Aurelius. 161,177 Marcuzzi, M.376 Markun, S. 307 Marquard, 0.304 Marsal, E.778,221 Martens, G. 67,80 Marx, K.24,59,63-64,87, .355,374 Maslow, A. 357 Matilla, M.349-350 Mattenklott, G. 69,72, 86 Mauthner, Fr. 207 Mayr, E. A. 243 McGill, J.352
Mehring, Fr.313
Meier, Chr.
Meister Eckhart.
174 15
....
Meyer, C. F. 66 Meyer, M.376 Meysenbug, M. v. 21
Michelet, J.34 Milkowski, M.350 Miller, A.98,166 Mochos. 53 Mohr, J. 68 Montaigne, M. E. de.22,43,61
Montinari, M.36,41,92,101,111, .161,249,282,344, .345,375,376 Moore, Chr.353
Morgan, D.361-366 Morgenstern, Chr.40
Mouffe, Ch. 356 Mozart, M. A. (Nannerl). 249 Mozart, W. A. 249 Müller, D.342 Müller, G.705-704 Müller, H. 87 Müller, R. 45 Müller, R. G. 97,7/7,161,164,765, 205,206,208,213-214 Müller-Buck, R. 702 Müller-Lauter, W. 40,107 Munch, E.235 Musil, R. 40,67 Mussolini, B.236, 247 .
.
.
.
.
.
Nabais, N.352 Nadel, A. 86-87 159,182,356 Napoleon Bonaparte Naumann, B.342 Naumann, CG. 287 ....
Nero.161,
177
Newton, 1. 53 Nietzsche, A.139 Nietzsche, C. L. 102-103,112,116, 117, 122-123, 137-140, .
...
.
.
385
Personenverzeichnis .
.
147, 153, 158, 161, 168,
.
169, 172,220-221,226228,230-231 Nietzsche, E.102,125,221 20-21,97-98,102,112, Nietzsche, Fr. 115,116,121-124,129130, 138, 141, 144, 145, 147, 148, 153,158, 159, 161,221,250-251,254256,258,260-265,277 Nietzsche, Fr. A. L. 125 Nietzsche, J.102-103,138,220.221,231 Nietzsche, R.124 Nikolaus, Zar. 191 .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
Novalis.213 Nussbaumer-Benz, U.357
Ockham, W. v.198 Oehler, A.122, 123 Oehler, D. E.115,122,145,161 Oehler, E.129 Oehler, Ed. 124 Oehler, R.270 Olde, H.235 Olivier, A.352-353
O'Neill, E. G.40 Oppermann, H. 80
Orsucci, A.70 177,292,296,300 Ortega y Gasset, J. Ortlepp, E.707,109,115,135,206 Osborne, General.255 O'Shea-Meddour, W. 351 Ottmann, H. 66,69,71 Otto, W. F. 160,295,296,302 Overbeck, 1. 19 Overbeck, Fr. 19,44,47,52,250,254.
.
.
255,268,275-276,284,
.
.
.
298, 301, 303, 339, 351 Ovid. 162,222,224,292 Owen, D.353 .
.
.
.
Pannwitz, R.
81-82,87
Parmenides.53 Panaitios v. Rhdos. 178 Paraski, Mme. 351 Parkes, Gr.41 Parmenides. 354 Pascal, B. 61
Patzer, A. 79 Paulsen, R. 245 Paulus.48, 180 Pausanias.177 Peirce, Ch. S.192-193
Perikles.174, 175 Pernet, M.97,98,121,123,124 97,98,339-340,344, Pestalozzi, K. .346,347 Peter, N. 342 Peter, P. de. 350 Peters, H. Fr.239-240,249 Petrinos, Chr. 284 .
.
.
Petronius Arbiter.
157
Pfotenhauer, H. 65 Picker, H.240 Pilatus. 366 Pilgrim, E.159
Pinder, W.49, 104, 105,106, 124, 138, 141, 145, 161, 166, 189,200,205,207-208, .209-210,217 .
.
.
.
.
.
Platon.33,45,61,79,82,171, 193,203,285,317-321, 324-327,329,550,331, .354,356,562,372 .
.
.
.
.
.
Plutarch.58
Podach, E. F. 103,250,259,263, .264,301 Pöschl, V.334 Polin, R.71
Polybios v. Megalopolis. 178 Pompeius.178
Ponnier, J.377 Poseidonios
v.
Apameia.53
Pover-Wilson, J.
178 196
Prado.282-283
Pseudo-Longin.369
Pütz, P. 13,78,80 Pusch, L. F.249
Pyrron v. Elis.50 Racine, J.293 Rath, 1.91,92 Rathenau, W. 272 Rée, P.19,21,45 Rehder, H. 73 Rehn, R.65 Reibnitz, B.v.68,70,77,209-210,
Personenverzeichnis
386
.277,214 Reichert, H.W. 67 Reschke, R. 340,547,346 Reuß, R. 289
Schiller, Fr.
v. .
.
.
.
64, 75, 76, 86, 105, 149, 162, 169, 194-195, 196,
198,209-210,213,225
.
.
.
Schlechta, K.161,375 .
Rey, W. H.74
Schlegel, Fr.206
Richter, R.295,300,361 Ricke, G.285 Riedel, M.778 Riedel, V.63.87,211 Riedel, W.87 Ries, W.92,277 Rilke, R. M.19,40,73-74,76 Ritschi, Fr. 166,333,335 Ritter, J. 65
Schleiermacher, Fr. D. E.335 Schlesier, R.. 65 Schlüter, W.285 Schmid, H.72,376
Rittig, R. 709 Röntgen, W. C.168 Rotzer, H. G.87
Rodin, A.76 Rohde, E.44,49,67,70,75, .79,333,335-336 Roodt, V. 355 Roos, C. 296-297,300,303, .305,306 Roos, R. 377
Rorty, R.41 Rosenberg, A. 239-241,245-246,310,356
Ross, W. 45,98,121,189,190 Rosteutscher, J. H.73 Rousseau, J-J. 16,61,179,181 .
Ruggenini, M.376, 377 Rychner, M.287 Sade, D.-A.-Fr. de, Comte 16,278.279,285 Safranski, R. 13-17,345-346 ...
Salaquarda, J. 68,278,295,301,303 Salis, A. v.300,302 Salis, M. v. 351 Samuel, R.80,82 Saner, H. 307-308,311 Sartre, J.-P.40,144,278 .
.
.
Sauckel, Fr.238 Sautermeister, G. 72 Schacht, R. 355, 357 Schadewaldt, W.73 Schapp, W. 199 Scheibel, Joh. G. 131-132 Schelling, Fr. W. J. 169,335,372 Scherpe, K. R.69
Schmid, W. 183 .285 Schmidt, A. 157 Schmidt, E. G .45 Schmidt, G. Schmidt, H. J 95, 95, 98, 99, 102,103, 104,105,106, 109,110, 111,113,114,115,116, 120, 121, 132, 135,757, 758, 141, 145, 149, 157158, 159, 161, 164,765, .
168,205-206,209-210, 213,277,220,221,223
Schmidt-Hellerau, C. 372 Schmidt-Losch, U. 111 Schneider, K. L.87 Schnyder, P.293 Schober, A. 376,377 Schöpker, H. Fr.77 13-14,21,26,33, Schopenhauer, A. .48,50,61,67, 167.168, 169, 191, 193, .194,196,216,316, .322,324,344,369, .
.
.
.371-373
Schrift, A. D.356-357 Schrott, R.298 Schule, Chr. 68 Schütz, St. 87 Schulte-Sasse, J.72
Schupper,.770
Schwab, G.64,216 Seboek, Th. A.207 Seidensticker, B.87 Seinbeck, W.245 Seitter, W.286 Sellner, T. F. 65 Sextus Empiricus. 46 Seydlitz, R. v.48
Shakespeare, W. 196,274 Sharma,R. 352
387
Personenverzeichnis Shaw, G. B.40, 357 Siebenhaar, K.567 Simmel, G.197-198 Simon, J. 376 Simonelli, Th. 376 Simonsen, K.267-274
Tezner, R.7/0 Thaies v. Milet. 53, 193,322 Thaureck, B.239 Themistokles.174 163, 168, 169, 171 Theognis v. Megara
Simpson, A.271
Theweleit, K.85 Thiel, E.239-240,247-248,272 Thomas, R. H.80,82 Thouard, D.376
Skrodzki, K. J. 82 Smith, R. 353 Sokrates. 16,33-34,45,48,57, 78-79, 82, 168, 171172,176,316-332,355 ....
Solon.322 Sophie v. Sachsen. 64 .
Sophokles
.
.
....
68, 163, 166, 168-170, 174,226,228-229
.
Sorge, R. Joh.81 Sorgner, St. L.355 Speck, J.98 Spengler. 0.40,84 Spinoza, B. de.16,33,61 Spitteler, C.66 Sprengel, P.73 Staengle, P. 298 Stahl, Fr. J. 247 Stalin, J.W. 159,356 Stauffacher, W. 67 Steffen, H.66,74, 301
Stegmaier, W.
357
Steiner, H. 75 Steiner, R. 40 Steiner, W. 273 Stendhal (Beyle, M. H.).46
Stephan, 1.85 Sternheim, C.67 Stobaios.61 Stoecker, A.181 Strauß, D. Fr.126-129,339 Strauss, R.235
267,283-284 Strube, H.797
Strindberg, A.
Sulloway, Fr.372 Suphan, B.64
Thespis.174 .
Thukydides. 168,317 Tiberius.765, 177 Tongeren, P. v.352
Trautmann, E. 238 Tuncel, Y.353 Tunstall, G. C.82
Ugolini, Gh. 69 Ulfer, Fr. 354 Usener, H.44,45,335
Vaihinger, H.
199
Vergil.
177
Valadier, P. 378 Vattimo, G.41 Velasquez, D.16
Verrecchia, A.275,284,290 Villani, A.376 Villwock, P.339 Vischer, Fr. Th.369 Vivarelli, V. 65,344 Vöhler, M.87
Vogel, M.65,71 Voigt, A. 273 Voigt, F. A.73 Vollhardt, F.576 Volz, P. D.52,103 Vouillé, R.276,285
Wachler, E. 272-273 Wagner, C. 167,285,287 37, 49, 100, 167-169, 181, Wagner, R. .
.
.
.
.
.
.
.
Tacitus.762 Taine, H. 84,85,372 Tanner, J.357
Tersteegen. G.
132
Tertullian.159
.
.
.
.
237,243,249,301,310, 312,316-317,324,326, 340,344,351,369,370
Walpole, H. .
201
Warhol, A.35 Washington, G.206-207 Watt, A.351
Personenverzeichnis
388 Weber, M.307-308 Wedekind, Fr. 73,74 Wein, H. 780
Weiskopf, L.375
Welsch, W. 353 Werle, S. 293 Werner, R. 77
Westernhagen, C. v.245 Wetzel, M. 364 Wilamowitz-Moellendorff, U. v. 33, .64-65,70,74, .333,335-336 .
Wolf, F. A.334-335 Wolff, K. D.289 Wotling, P. 375,377 Yates, P.
350
Zarncke, Fr.44 Zelle, C.70 Zeller, Ed.322 Zenker,Th. 245
Wille, L. 275 64,80,82,84 Winckelmann, Joh. J. Windelband, W. 307 Wirtz,,E. L. 80
Elea. 322 Kition. 50 Zentner, M. 373 Ziemann, R. 93,705,709,775,210 Zinn, E. 76 Zittel, K. 340 Zoccoli, E.307
Wittgenstein, L.38-39
Zweig, A.77,86
.
.
Wilhelm II.
181
.
.
.
Wodke, Fr. W.
83
Wollschläger, H.277 Wohlfart, G.37,39
Zenon Zenon
v. v.
.
.
.
Kursiv gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf den Fußnotentext.
Autorenverzeichnis
Steffen Dietzsch Petersburger Platz 3 D-10249 Berlin
Jörgen Kjaer
Volker Ebersbach
Ndr. Ringgade, bygn. 325 DK 8000 Aarhus C
Aarhus Universitet Institut for germansk
Jörn Pestlin Raumerstr. 28 D-10437
filologi
Walter-Markov-Ring 34 04454 Holzhausen
D
-
Carlo Gentili Université Degli Studi di
Bologna Dipartimento di Filosofía Via Zamboni, 38 I-40126 Bologna
Volker Gerhardt Humboldt-Universität zu Berlin Institut für Philosophie Unter den Linden 6 D- 10099 Berlin
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-
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Rüdiger Safranski Johann-Georg-Str.
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Günter Wohlfart Am Bahnhof 14 D 57539 Breitscheidt -
-
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