»Negative Philosophie« und dialogische Kritik: Zur Struktur poetischer Theorie bei Lessing und Herder [Reprint 2013 ed.] 9783110911442, 9783484320475


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German Pages 148 Year 1988

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Table of contents :
Vorwort
Verzeichnis verwendeter Abkürzungen
EINLEITUNG
Zur Geschichte poetischer Theorie im achtzehnten Jahrhundert
1. Kontinuität oder Bruch?
2. Hermeneutik der Kritik: methodische Vorüberlegungen
ERSTES KAPITEL. Herders poetische Hermeneutik
ZWEITES KAPITEL. Herder und Lessing: »Ein Dialog und kein Dialog?«
1. »Geschichte« und »System«: zur Textgestalt des Laokoon
2. Herders Rhetorik der Geste
3. Zur dialogischen Struktur der Herderschen Kritik
4. Kritik als »negative Philosophie«
DRITTES KAPITEL. Laokoon oder die Sprachlosigkeit der Theorie
1. Semiotische Ästhetik und das Problem poetischer Imagination
2. Natur als Artefakt: die Determinanten des Sehens
3. Poesie als »natürliches Zeichen«: die Selbstvergessenheit der Sprache
4. Die Destruktion des Zeichens: Poesie als »Kraft«
AUSBLICK
Ursprung und Immanenz: zur Dialektik des Geniebegriffs in der Hamburgischen Dramaturgie
Bibliographie
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»Negative Philosophie« und dialogische Kritik: Zur Struktur poetischer Theorie bei Lessing und Herder [Reprint 2013 ed.]
 9783110911442, 9783484320475

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 47

Eva M. Knodt

»Negative Philosophie« und dialogische Kritik Zur Struktur poetischer Theorie bei Lessing und Herder

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988

Gefördert durch den President's Council on the Humanities der IndianaUniversity.

Meinem Bruder Götz in memoriam der Kreidezeiten gewidmet.

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Knodt, Eva M.: »Negative Philosophie« und dialogische Kritik : zur Struktur poet. Theorie bei Lessing u. H e r d e r / Eva M. Knodt. Tübingen : Niemeyer, 1988 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 47) NE:GT ISBN 3-484-32047-8

ISSN 0083-4564

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988 Alle Rechte vorbehalten. O h n e Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: Fotosatz Froitzheim, Bonn D r u c k : G u i d e - D r u c k G m b H , Tübingen

Inhalt

Vorwort

VII

Verzeichnis verwendeter Abkürzungen

VIII

EINLEITUNG

Zur Geschichte poetischer Theorie im achtzehnten Jahrhundert...

1

1. Kontinuität oder Bruch? 2. Hermeneutik der Kritik: methodische Vorüberlegungen

1 8

ERSTES KAPITEL

Herders poetische Hermeneutik

18

ZWEITES KAPITEL

Herder und Lessing: »Ein Dialog und kein Dialog?«

33

1. 2. 3. 4.

33 42 49 56

»Geschichte« und »System« : zur Textgestalt des Laokoon Herders Rhetorik der Geste Zur dialogischen Struktur der Herderschen Kritik Kritik als »negative Philosophie«

DRITTES KAPITEL

Laokoon oder die Sprachlosigkeit der Theorie

65

1. Semiotische Ästhetik und das Problem poetischer Imagination . 2. Natur als Artefakt: die Determinanten des Sehens 3. Poesie als »natürliches Zeichen«: die Selbstvergessenheit der Sprache 4. Die Destruktion des Zeichens: Poesie als »Kraft«

66 79 91 105

V

AUSBLICK

Ursprung und Immanenz: zur Dialektik des Geniebegriffs in der Hamburgischen Dramaturgie Bibliographie

VI

Vorwort

Diese Arbeit ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Mai 1987 von der philosophischen Fakultät der University of Virginia angenommen wurde und hier im wesentlichen unverändert vorliegt. Das Thema der Arbeit ist das Verhältnis von Dichtung und Dichtungstheorie. In dieser Problemstellung stellt sie den Versuch dar, etwas zusammenzubringen, was für mich auseinandergefallen war. Der Rekurs auf die Literaturkritik Lessings und Herders rechtfertigt sich von daher, daß darin Denken und Dichten, die »zwo Enden des menschlichen Geistes« (Herder), in einzigartiger Weise verbunden und dennoch geschieden zusammenwirken. Als das Produkt für mich entscheidender Studienjahre an der Universität von Virginia ist diese Arbeit in einer Weise von deren intellektuellem Klima geprägt, die es kaum noch zuläßt, über die Herkunft meiner Einsichten im einzelnen Rechenschaft abzulegen. Gerade deswegen aber auch mag sich dies erübrigen. »Der Wald,« sagt Herder, »hat keinen Namen.« Wenn ich dennoch einige der »Bäume« beim Namen nenne, so um ihnen meine besondere Dankbarkeit auszusprechen: allen voran meinem Lehrer Professor Benjamin Bennett, dessen sokratischer Geist den Fortgang der Arbeit entscheidend gefördert hat. Ferner danke ich den Professoren Beth Bjorklund, Paul Cantor und Walter Sokel für ihre vorwärtsweisende Kritik, meinen Freunden Elizabeth Bredeck, Stuart Barnett, Sveta Davé, Michael Levine und Peter und Sylvia Schmitz-Burgard für zahllose anregende Diskussionen, sowie dem Max Niemeyer Verlag für die Annahme des Manuskripts. Besonderen Dank gebührt Professor Ernst Behler, der im Rahmen eines im Sommer 1987 gehaltenen N E H Seminars die Arbeit gelesen und mich zur Veröffentlichung ermutigt hat. Frühjahr 1988

E v a M . Knodt

VII

Verzeichnis verwendeter Abkürzungen

Die folgenden Abkürzungen erscheinen mit Angabe von Band- und Seitenzahlen im Text. GGA SW HBR

Goethe, Johann Wolfgang. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hrsg. Ernst Beutler. 27 Bde. Zürich: Artemis, I94¡?ff. Herder, Johann Gottfried. Sämmtliche Werke. Hrsg. Bernhard Suphan. 33 Bde. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1877-1913. - . Briefe: Gesamtausgabe 1763-1803. Hrsg. von den nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) unter Leitung von KarlHeinz Hahn. 8 Bde. Weimar: Böhlau, 1977-1984.

LB

- . Lebensbild:

Sein chronologisch geordneter Briefwechsel,

verbun-

den mit den hierhergehörigen Mittheilungen aus seinem ungedruckten Nachlasse, und mit den nöthigen Belegen aus seinen und seiner Zeitgenossen Schriften. Hrsg. Emil Gottfried von Herder. 3 Bde. Erlangen: T. Biasing, 1846. LM

Lessing, Gotthold Ephraim. Sämmtliche Schriften. Hrsg. Karl Lachmann und Franz Muncker. 3. Aufl. 23 Bde. Stuttgart: G ö -

L

- . Lessings Laokoon. Hrsg. Hugo Blümner. 2. Aufl. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1880. Mendelssohn, Moses. Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. In Gemeinschaft mit F. Bamberger, H . Borodianski (Bar-Dayan), S. Rawidowicz, B. Strauss, L. Strauss. Begonnen von I. Elbogen, J . Guttmann, E. Mittwoch. Fortgesetzt von Alexander Altmann. 17 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt: Friedrich Frohmann Verlag Günther Holzboog K G , i 9 7 i f f .

schen, 1886-1924.

JubA

VIII

EINLEITUNG

Zur Geschichte poetischer Theorie im achtzehnten Jahrhundert Discourse lives, as it were, on the boundary between its own context and another, alien, context. (Mikhail M. Bakhtin, Discourse in the Novel)

ι . Kontinuität oder Bruch? D a ß sich im achtzehnten Jahrhundert ein grundlegender Wandel innerhalb von Dichtung und Dichtungstheorie vollzogen habe, ist ein Gemeinplatz der Literaturgeschichte. D e r »Geist der Goethezeit« (Korff) ist konstitutiv für unser postromantisches Selbstverständnis selbst noch dort, w o wir uns davon zu befreien trachten. Zahlreich sind daher die Versuche gewesen, die N a t u r dieses historischen Bruchs begrifflich einzufangen, so etwa als Ubergang von der »Nachahmungs-« zur »Ausdrucksästhetik« (Abrams), als Emanzipation der Kunst von der Rhetorik (Todorov) oder im Gegensatz von Symbol und Allegorie (Benjamin). D i e Schwierigkeiten, die sich aus solchen Abgrenzungen ergeben, sind bekannt: der Rekurs auf zentrale Theoreme der Ästhetik des achtzehnten Jahrhunderts zur Gewinnung von Periodisierungskriterien innerhalb dieses Zeitraums tendiert dazu, die selten ganz geklärten Voraussetzungen dieser überkommenen Theoreme zu perpetuieren; abgesehen davon, daß eine ganze Reihe dieser Begriffe - ich erinnere hier nur an den Begriff des Kunstsymbols - mittlerweile bis zur völligen Unbrauchbarkeit entsemantisiert worden sind. Ein weiteres Problem betrifft die auffällige Diskontinuität im Verhältnis von Theorie und Praxis: wofür ist die Entstehung der Ästhetik als einer philosophischen Disziplin ein S y m p t o m ? Indiziert dieses Ereignis einen korrespondierenden Neubeginn im Bereich poetischer Praxis, oder lediglich deren plötzliche Problematisierung, aus welchen Gründen auch immer, im philosophischen Bewußtsein? Ist der Begriff von Dichtung als konstitutiver sprachlicher Kreativität eine Erfindung

romantischer Kunsttheorie? U n d welche Rolle spielen die oft als

»präromantisch«

eingestuften »Ubergangsgestalten«

wie Lessing und

Herder innerhalb dieses Zusammenhangs? Drittens schließlich stellt sich die Frage, ob die »Romantische Revolution« (Todorov) einen radikalen ι

Neubeginn markiere oder aber als Fortführung und Kulmination sich allmählich entwickelnder Tendenzen zu werten sei. Daß sich derlei Fragen aus dem Stehgreif kaum beantworten lassen, versteht sich von selbst, hängt doch ihre Beantwortung letztlich davon ab, welche Voraussetzungen über die Natur poetischer Sprache, das Verhältnis von Theorie und Praxis und die Dynamik historischen Wandels jeweils an die Geschichte herangetragen werden. Wenn ζ. B. Korff den Ubergang von der Aufklärung zur Romantik als eine in der Systemphilosophie des Deutschen Idealismus kulminierende dialektische Selbstbewegung des »Geistes der Goethezeit« beschreibt, so unterstellt er ein historisches Modell, in dem die retrospektive Kontinuität der Ereignisse je schon garantiert ist. Korffs Geschichte folgt einer quasihegelianischen Teleologie von Wegbereitern und Höhepunkten. Ihr Wesen ist progressive Entwicklung im linearen Kontinuum der Zeit. War die Literaturgeschichte mit der Kritik ihrer Hegelianischen Prämissen für geraume Zeit in Verruf geraten, so erstaunt es nicht, daß ihre Wiederbelebung in dem Moment einzusetzen begann, w o sich im Gefolge der Veröffentlichungen Foucaults und Kuhns eine Alternative zur Geistesgeschichte anzubieten schien, die Geschichte nicht länger teleologisch, sondern als Abfolge heterogener

»Diskursformationen«

(Foucault)

oder

»Paradigmen«

(Kuhn) 1 konstruiert. Diese führen ein monadenhaftes Dasein, ihre Suk-

I

Die Begriffe der »diskursiven Formation« bzw. der »Episteme« und des »Paradigmas« sind nicht synonym und ihre Konfiation ist daher irreführend. Foucaults »Episteme« bezeichnet ein abstraktes Regelsystem, das die Gesamtheit diskursiver und nichtdiskursiver Praktiken einer Epoche bestimmt. Kuhns »Paradigma« dagegen liegt der naturwissenschaftliche Modellbegriff zugrunde, d.h. es bezeichnet eine bestimmte Weise, Wissenschaft zu betreiben, die mit der Formalisierung ihrer konzeptuellen Voraussetzungen weder identisch ist, noch darin sich erschöpft. Praktionäre rivalisierender »Paradigmen« mögen in »unterschiedlichen Welten« leben (Kuhn, Revolutions 150), sind aber darin noch immer Mitglieder einer paradigmenübergreifenden wissenschaftlichen Gemeinschaft. Bei Foucault dagegen ist »Wissenschaft« selbst nur ein spezifischer Ausdruck bzw. Teilbereich einer bestimmten diskursiven Formation (Archäologie Obwohl Kuhn und Foucault eine ganze Reihe von Voraussetzungen teilen (so u. a. die polemische Ablehnung einer »neutralen Metasprache« zur Beschreibung »inkommensurabler« kultureller Praktiken und damit der Idee eines linearen Fortschritts), ist die Applikation des »Paradigmenmodells« auf die Kulturwissenschaften nicht unproblematisch. Wie Bernstein mit Recht hervorhebt, steht sie fast ausnehmend im Zeichen kulturrelativistischer Intentionen, was Kuhn in ein schiefes Licht gerückt hat, ohne ihm gerecht zu werden (93-108). Eine brilliante reductio ad absurdum des »relativistischen« Kuhn bietet Davidson (»Conceptual Scheme«) und daran anknüpfend Rorty (»World Well Lost«),

2

Zession ist ohne Zweck und Ziel. Das Ordnungsprinzip dieser Geschichtsschreibung ist das der Diskontinuität, des Bruchs. Dementsprechend leugnet sie Entwicklung als das allmähliche Zutagetreten einer ursprünglichen Wahrheit (Foucault, Archäologie 199f., »Genealogie« 86). Die wohl radikalste Applikation der Kuhnschen und Foucaultschen Prämissen auf die Geschichte poetischer Theorie hat jüngst David Wellbery geliefert. Sein Versuch, Lessings Laokoon historisch und theoretisch zu situieren, geht aus von der Prämisse, daß die Entstehung der Ästhetik im achtzehnten Jahrhundert systematisch an das repräsentationeile Paradigma der Leibniz-Wölfischen Schule gebunden bleibe, als deren kritische Antithese sie sich zu etablieren trachte. Erscheint sie darin einerseits als Krisensymptom des Repräsentationsdenkens, so behaupte doch dieses ihr gegenüber seine Macht, indem es ihr das Vokabular und die grundlegenden Werte vorschreibe und damit die Grenzen dessen abstecke, was über Dichtung gesagt werden könne. Gerade in ihrer gegen die Exzesse einer sich verselbstständigenden Ratio gerichteten Forderung nach einer perfectio cognitionis sensitiva (Baumgarten) erweise sich ihr konservativer Charakter: die Rebellion der unterdrückten Sinnlichkeit ende in einer Metaphysik intuitiver Präsenz, die mit der Degradierung des poetischen Mediums zum sekundären, rein instrumentell verstandenen Moment die für das rationalistische Denken konstitutive Form-Gehalt Dichotomie sowie die Fakultätenpsychologie nurmehr zementiere. In diesem Kontext liest Wellbery die kunsttheoretischen Beiträge von Baumgarten bis Lessing als progressive Elaborierung der Implikationen des Wölfischen Zeichenmodells, welche im Laokoon mit »systematischer Rigorosität« (7) zu Ende gedacht worden seien: With Lessing's Laocoon, the semiotically based aesthetics of the Enlightenment, ideally at least, comes to an end. Herder, in his »On Studiousness in Several Learned Languages« of 1764, already begins to elaborate the hermeneutic-philological paradigm for the study of cultural artifacts that it was his great intellectual achievement to inaugurate. For Herder, inquiry focuses on the individual uniqueness of languages and texts as it emerges from and reflects the historical specificity of a people's, or a genial individual's, spirit (Geist), not on the adequacy of a language or text to an ideal form of representation. The very being of language and art begins to shift: no longer means for conveying mental representations, they become expressions of an antecedent subjectivity. We can take Herder's work to mark the commencement of a transformation in the way language and other cultural objects are experienced and conceptualized, a profound revolution in the way culture thinks of itself. (238)

Nun ist die Behauptung, daß Herder mit der Aufklärung radikal gebrochen habe, keineswegs neu. Und auch der »Paradigmenwechsel,« den

3

Wellbery zwischen Lessing und Herder ansetzt, verweist auf genau jenen Bruch, den die Literaturgeschichte bislang als Ubergang vom Neoklassizismus zur Romantik beschrieben hat. So hat u. a. schon M. H. Abrams, der die romantische Revolution im Spiegel der zunehmenden Verdrängung reflektierender durch projektive Metaphern verfolgt, die Akzentverschiebung »from work to poet« in fast den gleichen Worten charakterisiert: Poetry [die romantische] is the overflow, utterance, or projection of the thought and feelings of the poet; or else (in the chief variant formulation) poetry is defined in terms of the imaginative process which modifies and synthesizes the images, thoughts, and feelings of the poet. This way of thinking, in which the artist himself becomes the major element generating both the artistic product and the criteria by which it is to be judged, I shall call the expressive theory of art. (21/22) Nun geht es aber Wellery nicht eigentlich um den historischen Umschlag vom Neoklassizismus zur romantischen Kunstphilosophie, sondern um den Aufweis der internen Kohärenz innerhalb eines Korpus von theoretischen Texten der Aufklärung. Seine Hinweise zum Verhältnis Lessings zu Herder bleiben kursorisch und dienen lediglich der Absicht, das »repräsentationeile Paradigma« in seiner systematischen Positivität zu erfassen. Gerade darin impliziert aber sein Projekt ein den abgesteckten Bereich überschreitendes historisches Modell und damit eine Theorie historischen Wandels, selbst wenn diese nicht unmittelbar zur Anwendung gelangen. Und wenn Abrams und Wellbery auf der Beschreibungsebene vollkommen übereinzustimmen scheinen, so gehen sie doch in der qualitativen Einschätzung des Bruchs radikal auseinander. Gegen Wellbery (und m. E. zu Recht) deutet Abrams die romantische Revolution als eine reaktive Bewegung, die das für die mimetischen Theorieansätze charakteristische Prioritätsverhältnis von Natur und Kunst lediglich umkehrt: »for the representative eighteenth-century critic, the perceiving mind was a reflector of the extremal world; . . . and the resulting art work was itself comparable to a mirror presenting a selected and ordered image of life. By substituting a projective and creative mind and, consonantly, an expressive and creative theory of art, various romantic critics reversed the basic orientation of all aesthetic philosophy« (69; Hervorhebungen von mir). Damit ist das Verhältnis zwischen »Nachahmungs-« und »Ausdrucksästhetik« als eines komplementärer Unvereinbarkeit bestimmt. Qua Reaktion markiert die romantische Revolution den Bruch innerhalb einer Tradition, die sie gerade damit fortführt: »romantic aesthetics was no less an instance of continuity than of revolution in intellectual history« (70).

4

Die Rede vom »Paradigmenwechsel« dagegen, will sie mehr sein als ein modisches Accessoire, impliziert ein Verhältnis der »Inkommensurabilität« 2 zwischen altem und neuem Paradigma, das Kuhn explizit von demjenigen »logischer Unvereinbarkeit« absetzt. Denn letzteres impliziert einen gemeinsamen logischen Bezugsrahmen, innerhalb dessen die Unvereinbarkeit zweier Theorien feststellbar ist, während eine solche Gemeinsamkeit im Fall echter »Inkommensurabilität« nicht gegeben ist (Bernstein 84). Hinter der Alternative »Kontinuität oder Bruch?,« an der sich die jüngsten Debatten um die Historiographie der Wissenschaftsgeschichte entzündet haben, 3 steht die richtige Einsicht, daß die möglichen A n t w o r ten auf ein vorgegebenes Problem den Raum abstecken, innerhalb dessen eine gegebene intellektuelle Gemeinschaft jeweils operiert. Das Ausmaß dessen, was wir selbst mit unseren Antagonisten an unbefragten Voraussetzungen teilen ist größer, als wir uns gemeinhin zuzugestehen bereit sind. Es gibt, wie Stanley Fish überzeugend dargelegt hat, keinen Widerspruch ohne grundsätzliches Einverständnis, keine effektive Kritik ohne ein gemeinsames Idiom, ein geteiltes Universum der Rede (303^). Für Fish erledigt sich damit, wie f ü r Abrams, die Frage »Kontinuität oder Bruch?« von selbst: die Interpretation von Diskontinuität als eine Form der Kontinuität ermöglicht beiden die Assimilation historischer »Brüche« in die Immanenz einer »interpretive community,« deren Stabilität die periodisch wiederkehrenden »Revolutionen« überdauere (Fish 1

3

}$6tt.).

Die Vagheit dieses zentralen Kuhnschen Terminus ist eine Quelle von Mißverständnissen. Doppelt und Bernstein zufolge ist bei Kuhn zu unterscheiden erstens: zwischen »Inkommensurabilität,« »Unvergleichbarkeit« und »logischer Unvereinbarkeit« (Kuhn, Revolutions 103, 150; Doppelt 119; Bernstein 79Í.) und zweitens: zwischen »Inkommensurabilität« bezüglich (a) den zentralen Begriffen einer Theorie, (b) den jeweils als relevant bezeichneten Problemen und (c) den jeweiligen Standards und Wertungskriterien, nach denen eine Theorie beurteilt wird. Die unterschiedliche Akzentuierung innerhalb dieser Aspekte hat zu diametral entgegengesetzten Interpretationen Kuhns geführt: läuft die Betonung von (a) auf einen radikalen konzeptuellen Relativismus (d. h. auf die Vorstellung hermetisch abgeschlossener Kulturen oder Epochen) hinaus, so impliziert die Betonung von (b) und (c) durch Doppelt und Bernstein eine Sprengung des positivistischen Wissenschaftsbegriffs und damit die Öffnung der ethnozentrischen Monoperspektive auf die Vielfalt heterogener Kulturen hin. Die Literatur zu dieser Diskussion um Kuhn, die sich schnell zu einer allgemeinen Relativismusdebatte ausgeweitet hat, ist mittlerweile kaum noch überschaubar. Eine Übersicht der wichtigsten Positionen nebst nützlichen bibliographischen Hinweisen bietet Bernstein in seiner instruktiven Zusammenfassung der Kontroverse (51-108).

5

Der Vertreter der »Diskontinuitätsthese« würde darin indes keinen Einwand, sondern im Gegenteil, eine zusätzliche Evidenz für sein eigenes Modell erblicken: Fish beschreibe eben nichts anderes als die Regeln desjenigen Spiels, an dem er selbst partizipiert und aus dem er nicht herauskann, solange er es spielt. Tatsächlich ist die akademische »interpretive community,« die Fish beschreibt, in der Geschichte nichts als eine Episode. Das wirklich Neue entsteht, wenn man Foucault und Kuhn folgen will, jenseits des Alten. Bei Lichte betrachtet sind indes die Differenzen zwischen diesen Standpunkten weit weniger radikal als sie scheinen, weil letztlich reduzierbar auf die Frage, wie breit man eine »interpretive community« bzw. ein »Paradigma« jeweils ansetzt, und welche Auswirkungen man einer darin sich vollziehenden Veränderung auf die Gesamtheit kultureller Erscheinungen zugestehen will. Wellberys »Paradigma« umfaßt das in der Wölfischen Schulphilosophie systematisierte Repräsentationsdenken, Fishs die Institution akademischer Literaturkritik und dasjenige von Abrams die Totalität der Literaturtheorie von Plato bis zur Romantik. Erklärt Abrams' allumfassende Perspektive seine Betonung der Kontinuität gegenüber dem Bruch, so ist aber diese Akzentuierung plausibel nur auf dem Hintergrund eines historischen Modells, das seinerseits die Diachronie der Geschichte durch die Linse eines systematischen, durch die Relation zwischen den möglichen Komponenten ästhetischer Theorie (Natur/Werk/Autor/Publikum) abgesteckten Rahmens betrachtet. Denn erst diese Systematik erlaubt es Abrams (i) die einzelnen »Epochen« der Theoriegeschichte als Varianten einer einzigen Problematik, (2) ihr Verhältnis zueinander als eines gegenseitiger Implikation und (3) den historischen Ubergang von einer zur anderen aus der immanenten Dynamik eines Beziehungsgefüges heraus zu begreifen, das in dem Moment in sein Komplement umschlägt, wo einer dieser Aspekte als begründendes Prinzip gesetzt wird (3-29). Zugespitzt auf unsere Frage nach dem Verhältnis Herders zu Lessing ergibt sich aus diesen Überlegungen folgendes: in Wellberys Version der Geschichte kann ein Dialog zwischen beiden nicht stattgefunden haben, während aus Abrams' Perspektive ein solcher Dialog, indem er lediglich neue Antworten auf alte Fragen produziert, nichts wirklich neues zu erbringen vermag. Wenn ich im folgenden die Frage nach dem paradigmatischen Status des Wölfischen Systemdenkens in Lessings Diskurs wieder aufnehme, so um (1) gegen Wellbery den Nachweis zu führen, daß es sich bereits bei der Poetik des Laokoon um die vom Standpunkt einer autono6

men poetischen Einbildungskraft aus geführte Kritik der Aufklärungsästhetik handelt, die den »Bruch« mit dem Repräsentationsdenken bereits vollzogen hat und um (2) zu zeigen, daß es sich bei der literaturkritischen Praxis Lessings und Herders um die notwendige Form eines Theoretisierens handelt, das unter den Bedingungen einer als verbindlich akzeptierten philosophischen Tradition den Rahmen der von dieser logisch abgesteckten Möglichkeiten sprengt. Die Laokoonkontroverse zwischen Lessing und Herder (Laokoon, 1766; Kritische Wälder, 1768/69) wird zum Testfall dieser Hypothesen. Eine genaue Analyse von Herders kritischer Strategie legt nahe, daß es ihm offensichtlich weniger an einer Widerlegung der systematischen Voraussetzungen des Laokoon, denn an der Verteidigung dieses Werkes gegen mögliche Mißverständnisse gelegen ist. Herder liest den Laokoon als ein Werk, das in der ironischen Diskrepanz zwischen systematischem Gehalt und fragmentarischer Form gleichsam seine eigene Selbstkritik enthält. Herders parodistische Kritik zielt auf den Aufweis dieses Bruchs und damit allem voran auf die Illumination der rhetorischen Struktur des Laokoon. In Lessings Auffassung von künstlerischer Produktion und Rezeption weist er ein teleologisches Moment nach, das sich aus den systematischen Prämissen des Laokoon in keiner Weise ableiten läßt. Hinter diesem Bruch zwischen Grund und Folge deckt Herder ein konzeptuelles Vakuum auf, das den Ubergang zu einer Theorie poetischer Imagination als sprachlicher Kreativität fordert, ohne daß Lessing ihn selbst explizit vollzieht. Lessings Projekt, Malerei und Dichtung aufgrund der besonderen Natur ihrer Zeichen zu unterscheiden, gerät dort an seine Grenzen, wo es die Existenz einer sprachlich differenzierten Welt logisch voraussetzt, die Herder zufolge als das Produkt der poetischen Einbildungs-»Kraft« gedacht werden muß. Indem Herder jenen Ort benennt, auf den die formale Geste des Laokoon zeigt, trifft er dessen Intention und lokalisiert gleichzeitig den Gegenstand einer künftigen »Metapoetik« (SW 32:184) in einem Bereich, der die Aporien des Repräsentationsdenkens hinter sich gelassen hat. Mit dieser Reversion im Prioritätsverhältnis von Kunst und Natur, so möchte ich behaupten, ist der Umschlag zur Romantik strukturell vollzogen. Die »Nachahmungsästhetik« des Neoklassizismus geht über in eine Philosophie der Kunst, die das »Wesen« der poetischen Einbildungskraft selbst zum Gegenstand macht, sei es als Theorie sprachlicher Kreativität oder als Metaphysik einer transzendentalen Subjektivität. Bemerkenswert 7

in diesem Zusammenhang ist jedoch die Tatsache, daß die romantische Doktrin poetischer Autonomie von denjenigen, die ihr theoretisch zum Durchbruch verholfen haben, eine systematische Ausformulierung nie erfahren hat. An deren Stelle tritt bei Lessing und Herder ein literaturkritischer Diskurs, der zwischen »Aufklärung« und »Romantik« in eigenartiger Weise in der Schwebe bleibt, indem er einerseits das Repräsentationsdenken vom Standpunkt eines linguistischen a priori aus problematisiert, während er gleichzeitig alles daransetzt, dessen systematische Implikationen zu unterdrücken. Was ist der paradigmatische Status einer solchen Kritik? Die Antwort auf diese Frage - und damit kommen wir zur zentralen These meines Arguments - liegt in den formalen Implikationen dieser Kritik. Um zu präzisieren, was ich damit meine, ist es zunächst notwendig, die hermeneutischen und methodischen Voraussetzungen dieser Fragestellung selbst ein wenig näher zu beleuchten.

2. Hermeneutik der Kritik: methodische Vorüberlegungen Beginnen wir mit einigen prinzipiellen Einwänden, die sich gegen eine Lektüre des Laokoon zur Sprache bringen ließen, die diesen Text gleichsam durch die retrospektive Brille Herders gegen den Strich dessen liest, was er zu sagen scheint: was ist der Garant dafür, daß Herders Kritik der Intention dieses Werkes tatsächlich gerecht wird und es sich dabei nicht um ein wenn auch vielleicht produktives MißVerständnis handelt? Denn wenn es Lessing allen Ernstes um eine Problematisierung der Aufklärungsästhetik und nicht, wie Wellbery meint, um deren Perfektionierung gegangen sei, sollte man nicht erwarten dürfen, daß er sich deutlicher dementsprechend ausgedrückt hätte? Wodurch, mit anderen Worten, rechtfertigt sich die Annahme, daß die Verwendung zentraler Theoreme zeitgenössischer Theorie in Lessings Diskurs ironisch gegen deren im Kontext des Wölfischen Systementwurfs eindeutig fixierten Bedeutungen gerichtet sind? Und welcher Stellenwert schließlich kann der Herderschen Kritik im Rahmen einer solchen Fragestellung legitimerweise zugesprochen werden? Um Mißverständnisse zu vermeiden, zunächst eine grundsätzliche Bemerkung: die Evidenz für mein Argument ist, auch wenn die Weise seiner Präsentation mitunter den gegenteiligen Anschein erwecken mag, keine rezeptionsästhetische, und zwar aus mehreren Gründen nicht. Die 8

Rezeptionsästhetik - ich beziehe mich an dieser Stelle auf die von Hans Robert Jauß formulierte Variante der Theorie - begreift den Text als eine Sinnentelechie (»Provokation« 186), deren »Wahrheit« jedoch infolge der Verlagerung der Kategorie des Sinnes vom Text in den Lektüreakt nur auf dem Umweg über seine Geschichte einzuholen ist (173). Abgesehen von den Schwierigkeiten, in die eine derart totalisierende Betrachtungsweise angesichts der historischen Kontingenz und Unvollständigkeit ihrer Materialbasis geraten muß, ist die optimistische Annahme, daß die »Wahrheit« überlieferter Texte im Medium ihrer Rezeption tatsächlich zur Sprache gelange, unmittelbar wenig einleuchtend (die Rezeptionsgeschichte des Laokoon scheint eher das Gegenteil nahezulegen), zumal Jauß die letzten Konsequenzen seiner theoretischen Prämissen zu ziehen nicht bereit ist. Denn entweder er macht mit der Auffassung des Textes als Summe tatsächlicher und möglicher Sinngebungen Ernst, einschließlich ihrer relativistischen Implikationen, oder aber er muß die tatsächliche Rezeptionsgeschichte einer normativen Betrachtungsweise unterwerfen, deren Kriterien jedoch in dem Maße, wie sie das »empirische« Material zu kontrollieren beanspruchen, aus diesem selbst nicht können abgeleitet werden. Dieser Widerspruch bleibt bei Jauß ungelöst stehen: während er mit der problematischen Unterscheidung zwischen der Geschichtlichkeit sogenannter »historischer Ereignisse« einerseits und derjenigen literarischer Produkte andererseits die Kategorie der Bedeutsamkeit zunächst ausschließlich in der Rezeption zu lokalisieren scheint,4 sieht er sich wenig später dazu veranlaßt, diese Bedeutsamkeit wieder ans »Werk« zurückzubinden: »Das »Urteil der Jahrhunderte« über ein literarisches Werk ist mehr als nur >das angesammelte Urteil anderer Leser, Kritiker, Zuschauer und sogar Professoren«, nämlich die sukzessive Entfaltung eines im Werk angelegten, in seinen historischen Rezeptionsstufen aktualisierten Sinnpotentials, das sich dem verstehenden Urteil erschließt, sofern es die »Verschmelzung der Horizonte« in der Begegnung mit der Überlieferung kontrolliert vollzieht (186; Hervorhebungen von mir). Hat man aber solchermaßen das »Werk« selbst zur potentiellen Kontrollin-

4

»Der Perceval von Chrétien de Troyes ist als literarisches Ereignis nicht im gleichen Sinne »historisch« wie zum Beispiel der etwa gleichzeitige dritte Kreuzzug. . . . Der geschichtliche Zusammenhang, in dem ein literarisches Werk erscheint, ist keine faktische, für sich selbst bestehende Ereignisfolge, die auch unabhängig von einem Betrachter existierte. Zum literarischen Ereignis wird der Perceval nur für seinen Leser« (iyi{.).

9

stanz erhoben, so ist es nur ein kleiner Schritt, z. B. die sogenannte »Geschichtsresistenz« literarischer Texte aus den immanenten Bedingungen ihres »Kunstcharakters« abzuleiten (177). Die Kriterien solcher Asthetizität sind jedoch, wie Jauß' eigene literaturkritische Praxis zeigt, an den Normen eines modernistischen Kunstverständnisses orientiert, dessen eigene historische Bedingtheit unreflektiert bleibt (i78ff.). Wolfgang Isers Der Akt des Lesens illustriert das gleiche Dilemma. Um die Anarchie der empirischen Rezeption wieder in die überschaubare Logik des Werkes zurückholen zu können, entwickelt er ein Textmodell, das als Systemreferenz für die qualitative Analyse rezeptionsgeschichtlicher Prozesse dienen soll. Doch im Bestreben, den in dem oben skizzierten Dilemma implizierten hermeneutischen Zirkel zu sprengen, verstrickt er sich, wie übrigens auch der ebenfalls phänomenologisch orientierte Ansatz E. D. Hirschs, nur umso tiefer darin, indem auch er einen seinerseits historisch gebundenen Werkbegriff (nämlich den des bürgerlichen Romans des 18. und 19.Jahrhunderts mitsamt der diesem korrespondierenden Konzeption eines asozialen und ahistorischen Lesers) zu metahistorischen Strukturkonstanten rezeptioneller Erfassungsakte mit transzendentalem Anspruch hypostatsiert (Zima 282ff.). Will sagen: die Frage nach der Angemessenheit der Herderschen Lessingkritik ist im Rahmen des rezeptionsästhetischen Ansatzes nicht plausibel zu beantworten. Denn was sich aus Jauß' Perspektive als einseitige Privilegierung einer innerhalb der Geschichte des Laokoon einzigartig dastehenden Rezeption dieses Werkes ausnehmen muß, läßt sich nicht im Rekurs auf ein Textmodell verifizieren, das prinzipiell den gleichen hermeneutischen Bedingungen unterliegt wie jener »Erfassungsakt,« als dessen Korrektiv es dienen soll. Diese knappen Andeutungen mögen genügen, um das hier verfolgte Projekt von der Fragestellung und den methodischen Voraussetzungen der Rezeptionsästhetik abzugrenzen. Ins Positive gewendet bedeutet dies folgendes: die Relevanz der Herderschen Kritik für eine Interpretation des Laokoon sowie die Evidenz für diese Interpretation ergeben sich allein aus dem Kontext eines Unternehmens, das die Frage nach der Stellung Lessings und Herders innerhalb der »Romantischen Revolution« auf dem Wege einer Reformulierung dieser Frage in gattungstheoretischen Kategorien zu beantworten sucht. Herders »Rezeption« des Laokoon ist in diesem Zusammenhang in dem Maße von Belang, als die Kritischen Wälder an einer kommunikativen Konvention partizipieren, die - wie ich zu zeigen hoffe - durch die dialogische Struktur des Laokoon bereits 10

etabliert, bzw. darin antizipiert ist. Die Analyse beider Texte als Momente eines Dialogs zielt darauf ab, die gattungsspezifischen Determinanten dieser Konvention in Abgrenzung zu den diskursiven Regeln zeitgenössischer Systemphilosophie zu bestimmen. In dieser Fragestellung ist das Unternehmen demjenigen Wellberys nicht unähnlich, geht es doch in beiden Fällen um die Rekonstruktion jener Tiefenstrukturen (Saussures »langue«), die die Texte als Akte konkreter Sprachverwendung (»parole«) regeln. Der Unterschied besteht darin, daß Wellbery den Laokoon

mit der Gattungsintention systemati-

scher Philosophie vorbehaltlos gleichsetzt, statt diesen Text als Ausdruck einer Gattung sui generis zu begreifen ( n o ) . Diese vorgängige Entscheidung verleitet Wellbery zu einer »Dechiffrierung« des Laokoon

entlang

der im Wölfischen Systemdenken kodifizierten Regeln, die mit der Reduktion

möglicher

Bedeutsamkeit

auf

diejenige

propositionaler

Gehalte das Verhältnis Lessings zur Schulphilosophie nur als eines fundamentaler Komplizenschaft zu fassen vermag. Damit radikalisiert Wellberys »strukturalistischer Blick« 5 ein epistemologisches Vorurteil, das in mehr oder minder expliziter Form die Literatur zur Dichtung und Dichtungstheorie

des

achtzehnten

Jahrhunderts

fast

ausnahmslos

beherrscht. Denn ob ich den Ubergang von der Aufklärung zur Romantik mit Korff als Entfaltung eines im Transzendentalen Idealismus zu sich selbst kommenden »Zeitgeistes« deute, oder ihn mit Wellbery als den radikalen Umschlag von einem »repräsentationellen« zu einem »hermeneutischen Paradigma« interpretiere, ist letztlich belanglos gegenüber der beiden Interpretationsansätzen gemeinsamen retrospektiven Teleologie, die das »Wesen« der romantischen Revolution in einer Transformation

epistemologischen

lokalisiert. Noch Abrams formalistischer Ansatz ist letz-

ten Endes von dem Bestreben geleitet, die Signifikanz der Metapher innerhalb eines »primären,« durch das System möglicher Theorievarian-

5

Die methodische Orientierung an Foucault, und zwar an dem »frühen« Foucault der Ordnung der Dinge und der Archäologie, dem es um die systematische Rekonstruktion des »Wissens« unterschiedlicher Epochen geht, ist hier kaum zu übersehen. Dennoch scheint mir selbst aus einer Foucaultschen Perspektive eine positive Gleichsetzung des Laokoon mit der »Episteme der Repräsentation,« wie Wellbery sie vornimmt, kaum zu rechtfertigen. Vielmehr müßte eine Foucaultsche Analyse dieses Werkes dessen epistemologische Vielschichtigkeit als Ausdruck einer Uberlagerung heterogener Epistemen deuten, selbst wenn die hermeneutische Frage nach der Intention einer solchen Heterogenität ausgeklammert bliebe. (Zur selbstkritischen Relativierung der »strukturalistischen Frühphase« Foucaults siehe Dreyfus/Rabinow [79-100] und de Certeau.)

II

ten abgesteckten Bezugsrahmens zu begrenzen. Die Distanz, die Dichtung und Literaturkritik qua Form zum philosophischen Diskurs der Aufklärung bzw. der Romantik schaffen, verflüchtigt sich. Es ist diese Distanz, der die folgende Analyse der Laokoonkontroverse auf die Spur zu kommen sucht. Dabei richtet sich das Augenmerk auf diejenigen Momente im literaturtheoretischen Diskurs des achtzehnten Jahrhunderts, die dem Systemdenken entgleiten, um sich außerhalb desselben einzuschreiben als Konstituenten einer diskursiven Konvention, die weder diejenige des Wölfischen noch des romantischen Systemdenkens ist. Die Bedeutsamkeit dieser Distanz - eine Bedeutsamkeit anderer Ordnung als der propositionalen - ist, wie ich zu zeigen versuche, eine systemkritische, und die Aufgabe wird darin bestehen, sie als eine gattungsspezifische Differenz, d. h. als den Effekt einer bewußten Abweichung von den diskursiven Konventionen zeitgenössischer Systemphilosophie auf den Begriff zu bringen. Nun ist freilich mit einer solchen Reformulierung der Fragestellung das Evidenzproblem noch bei weitem nicht gelöst. Denn einen Text als Kritik zu qualifizieren heißt, ihm eine Intention zuzuschreiben, die sich nur schwer verifizieren läßt, zumal dann, wenn sie sich wie bei Lessing explizit überhaupt nicht artikuliert und deshalb nur auf dem indirekten Wege einer Analyse der rhetorischen Strategie des Textes zu ermitteln ist. Der Versuch, den antisystematischen Sprachgestus des Laokoon als Ausdruck einer systemkritischen Absicht zu deuten, begibt sich also von daher schon auf ein unsicheres Terrain. Zudem ist die Kategorie der »Intentionalität« in einer Weise belastet, die ihre Verwendung von vornherein auszuschließen scheint. Die Philosophie der Nachmoderne hat uns gelehrt, dem Glauben ans Subjekt und damit an eine sich selbst gegenwärtige Intention als sinnstiftende Instanz der Sprache zu mißtrauen.6 Andererseits kann aber selbst Derrida nicht umhin zuzugeben, daß die Entscheidung darüber, ob eine Äußerung als ernstgemeinte, oder aber als ironisches, parodistisches bzw. kritisches »Zitat« zu lesen ist, an ihr selbst schlechthin nicht immer abzulesen ist und folglich ohne den Rekurs auf die »Absicht« eines Subjekts nicht getroffen werden kann (»Limited Inc.« 208). Für Derrida spricht dies jedoch keineswegs für die Existenz eines solchen Subjekts. Im Gegenteil, er wendet die prinzipielle Uneinholbar6

Zur Kritik der »Intentionalität« bei Husserl siehe Derrida (Speech and Phenomena, insb. 9off.) und Ricoeur (Hermeneutics 101-128), bei Austin/Searle siehe Derrida (»See,« »Limited Inc.«) und Frank (»Entropie« 1 j8ff.). Zur Kritik des Autors als sinnstiftender Instanz des »Werkes« siehe Foucault (»Author«).

12

keit der »Intention« gegen die Entscheidbarkeit dieser Frage überhaupt, um damit dem Gegensatz von »eigentlicher« und »uneigentlicher« Bedeutung als solchem den Boden entziehen zu können. Dem Zwang dieses Arguments ist zugegebenermaßen nur schwer zu widerstehen. Desungeachtet möchte ich aus Gründen, die im Laufe der Untersuchung erhellen werden, an einer relativen Unterscheidung zwischen seriösem und ironischem Sprachgebrauch und damit an einem wenn auch modifizierten Subjektbegriff festhalten. Wenn ich deshalb der Verlegenheit halber den Begriff der »Intentionalität« weiterhin verwende, so weder im Sinne einer vorsprachlichen, sich selbst gegenüber transparenten Subjektivität (Husserl), noch als die »illokutionäre Kraft« standardisierter Sprechakte (Searle), sondern um jene Teleologie zu markieren, die den Sinn einer individuellen Äußerung als Einheit semantischer, rhetorischer und pragmatisch-kontextueller Aspekte konstituiert. Die Intention eines Textes so zu formulieren heißt aber gleichzeitig, diese »Einheit« als diejenige eines hermeneutischen Sinnentwurfs zu begreifen, der der Gebrochenheit von Subjektivität und der prinzipiellen Unbegrenztheit

des

semantisch-pragmatischen

Kontextes

eingedenk

bleibt, ohne sich jedoch im »Labyrinth« einer »unendlichen Analyse« zu verlieren (»Limited Inc.« 208). Es heißt weiterhin, die unumgängliche Zirkularität eines interpretativen Zugriffs zuzugestehen, dessen Resultat auf paradoxe Weise Voraussetzung seines Gelingens ist. Denn wie kann ich die Intention eines Textes post festum

aus dem Zusammenwirken

diskursiver und nichtdiskursiver Momente heraus begreifen, wenn eben diese nichtdiskursiven Momente überhaupt erst signifikant werden, nachdem die Gattungsintention des Textes bereits verstanden ist, d. h. sie auf eine der Analyse vorausgehende Interpretationshypothese bezogen werden? Dieser hermeneutische Zirkel ist unhintergehbar und letztlich ohne den imaginativen Sprung einer schöpferischen Re-konstruktion nicht zu bewältigen (Frank, »Archäologie« 49, »Entropie« 158; Davidson, »Metaphor« 245), die es indes immerfort neu »am Text« zu erproben gilt. Die Schwierigkeit eines solchen Unternehmens besteht darin, daß wir den Text ja nie »an sich,« sondern immer schon in Form kanonischer Bedeutungen, d. h. mit ganz bestimmten Vorurteilen konfrontieren (Gadamer 284ff.). Thomas Kuhn hat auf dieses Dilemma eine Antwort gegeben, die der vorliegenden Arbeit gleichsam als methodische Leitlinie dient: »When reading the works of an important thinker, look first for the apparent absurdities in the text and ask yourself how a sensible person could have written them. When you find an answer, I continue, when those passages

13

make sense, then you may find that more central passages, ones you previously thought you understood, have changed their meaning« (Essential Tension xii). Was Kuhn hier beschreibt ist die prinzipielle Offenheit eines hermeneutischen Verfahrens, das die aus der Konfrontation eines Textes mit einer bestimmten Gattungserwartung resultierenden Ungereimtheiten als Indizien für die mögliche Inadäquatheit dieser Erwartungen deutet, und diese »Anomalien« auf dem Wege einer imaginativen Modifikation des ursprünglichen Vorverständnisses beseitigt. Jedes Verstehen, sei es einzelner Äußerungen, fremder Sprachen oder kultureller Praktiken, vollzieht sich in der von Kuhn beschriebenen Weise, selbst dann, wenn die Diskrepanz zwischen Vorverständnis und der jeweiligen Aktualisierung des Textes weniger augenfällig ins Bewußtsein rückt. Die Evidenz dafür, daß die Rekonstruktion einer bestimmten Intention, linguistischen Struktur oder kommunikativen Konvention einem Text bzw. einem Korpus von Texten tatsächlich angemessen ist, kann daher - wie Kuhn zu Recht bemerkt - nur eine kumulative sein. »[E]ine Vermuthung,« schreibt Lessing im gleichen Sinne, ist »um so viel wahrscheinlicher, je mehrere und größere Unbegreiflichkeiten sich daraus erklären laßen« (L331), d.h. ihre Überzeugungskraft steht und fällt mit der internen Plausibilität der Gesamtinterpretation. Nicht also die Zirkularität der Argumentation, sondern bestenfalls die mangelnde Breite ihrer textuellen Basis ließe sich gegen die folgende Interpretation einwenden, mag sie doch auf den ersten Blick dem Projekt eines Linguisten ähneln, der sich anmaßte, eine ganze Sprache vollständig aus einer einzigen Unterhaltung rekonstruieren zu wollen. Doch dieser Schein trügt. Denn tatsächlich ist die Gattungshypothese, deren Plausibilität ich anhand der Laokoonkontroverse zu erweisen suche, das Ergebnis einer Untersuchung, die über Lessing und Herder hinaus solche Autoren miteinbezogen hat, deren literaturkritische Schriften (wie u. a. diejenigen Mendelssohns, Hamanns und Goethes) eine auffällige formale Affinität zu denjenigen Lessings und Herders aufweisen. Die exemplarische Beschränkung der Arbeit auf die Debatte zwischen Lessing und Herder ist demnach eine rein praktische Entscheidung. Sie motiviert sich aus den strategischen Zielen einer Darstellungsweise, die derjenigen Lessings und Herders darin folgt, daß sie anstelle von Resultaten den Prozeß anzudeuten sucht, der zu ihnen hinführt. Uber die Notwendigkeit einer solchen formalen Affinität zwischen Gegenstand und Darstellung mag sich streiten lassen. Ich habe mich dafür entschieden, weil sie auf dem Wege einer Konkretisierung des von Kuhn beschrie14

benen hermeneutischen Prozesses eine graduelle Problematisierung gängiger Vorurteile ermöglicht und dadurch, wie ich hoffe, der Notwendigkeit einer alternativen Interpretationshypothese zusätzlichen Nachdruck verleiht. Ob dies tatsächlich der Fall ist, mag der Leser entscheiden. Ausgangspunkt der Untersuchung bilden dementsprechend jene »Ungereimtheiten,« die sich aus der Diskrepanz zwischen den systematischen Entwürfen zum Laokoon und der narrativen Form der Endfassung, sowie aus dem Verhältnis dieses Werkes zu Lessings übrigen literaturkritischen Schriften ergeben, in denen er - wie ζ. B. in der wenig später erschienenen Hamburgischen Dramaturgie (1767-69) - vom Standpunkt einer autonomen poetischen Einbildungskraft aus argumentiert, ohne jedoch die Rhetorik der Nachahmungsästhetik völlig preiszugeben. Diese Ungereimtheiten werden intelligibel in dem Moment, wo sie mit Herder als Ausdruck einer ironischen Distanz zur Ästhetik der Aufklärung begriffen werden, die deren Diskurs in seiner Positivität bereits überschritten hat. Eben dadurch wird es Lessing möglich, dessen Elemente anders als im vorgeschriebenen Sinne zu verwenden und diesen Diskurs mit den Mitteln einer »parodistischen Stilisierung« (Bakhtin) gegen den Strich seiner eigenen Logik zu bürsten. Die Möglichkeit einer solchen Distanz ist, wie sich anhand der Entwürfe zur Fortsetzung des Laokoon zeigen läßt, das Resultat einer Radikalisierung der zeichentheoretischen Implikationen des Repräsentationsdenkens, die die fragmentarische Poetik des Laokoon auf ihr Komplement einer Theorie poetischer Kreativität hin aufsprengt. Mit der Relokalisierung des Poetischen in einem idealen »Ursprung« iniziiert Herders Kraftmetaphysik eine Reversion im Prioritätsverhältnis von Natur und Kunst, die jedoch qua Metaphysik - d. h. in dem Maße, wie sie die »zentrierte Struktur« eines Systems impliziert - im Banne dessen verbleibt, was sie umgestürzt zu haben glaubt (Derrida, »Struktur« 423).7 Die Einmündung der »Romantischen Revolution« in den Transzendentalen Idealismus Kants, Fichtes und Hegels illustriert jene »Logik des Supplements« (Derrida, Grammatology i44ff.), die auf dem Wege immer neuer Substitutionen des begründenden Prinzips endlose Varianten des gleichen Mythos generieren (»Struktur« 423). In diesem Kontext muß die eigentümliche Form der Literaturkritik Lessings und Herders als Indikator jenes epochalen »Ereignisses« gelesen werden, mit dem sich Derrida zufolge die »widersprüchliche Kohärenz« einer Struktur zu reflektieren beginnt, deren Zentrum »der Strukturalität 7

Vgl. dazu die Ausführungen zu Abrams auf den Seiten 4 und 6 dieser Arbeit.

!

5

sich entzieht, weil es sie beherrscht« (»Struktur«423).8 Mit dieser Einsicht vollzieht sich jene Akzentverschiebung vom »was« des Denkens auf den metatheoretischen Aspekt seines »wie« (LB 1.3.1:289), die für das Theorieverständnis von Lessing bis Goethe und über diesen hinaus bis zur Jenaer Romantik charakteristisch bleibt. Ein kanonisch gewordenes Diktum Friedrich Schlegels vorwegnehmend,9 schreibt Herder im Entwurf zu einer Denkschrift auf Baumgarten aus dem Jahre 1767: »Es liegt in der Schwäche der Menschlichen Natur, immer ein System errichten zu wollen; vielleicht liegt es auch in der Schwäche derselben, es nie errichten zu können. Wer diese letzte zeigt, wird nützlicher, als wer drei Systeme errichtet« (SW 32:182; Hervorhebung von mir). Entscheidend ist hier das Wörtchen »zeigen,« denn es markiert jenen »Bruch« mit den sprach- und kommunikationstheoretischen Voraussetzungen des Systemdenkens, durch den sich Kritik als eine Gattung sui generis konstituiert, in der die »Schwäche« des Denkens selbst zur demonstrativen Geste wird. Diese zitiert das »klassische« Idiom des Repräsentationsdenkens und den »romantischen« Diskurs poetischer Autonomie, um sie in Form eines »internen Dialogismus« (Bakhtin 280) gegeneinanderzusetzen,10 der gegenüber der systematischen Reduktion von Natur auf Kunst (bzw. Kunst auf Natur) auf der irreduziblen Polarität beider insistiert. Als Schauplatz eines Kampfes rivalisierender Diskurse, dessen Ausgang unentschieden bleibt, reflektiert die Kritik ein Bewußtsein, das die »Romantische Revolution« kritisch überbietet noch bevor sie Gelegenheit hat, sich im Systemdenken des deutschen Idealismus zu etablieren. Ihr innovatives Moment besteht darin, daß sie (1) die »widersprüchliche Kohärenz« des Systemdenkens durch ihre verbale 8

Es wäre verfehlt, Derridas Rede vom »Ereignis« (oder auch die kryptischen Ausführungen in der Einleitung zur Grammatologie) in einem historischen oder gar geschichtsphilosophischen Sinne zu verstehen, unterliegt doch dieses »Ereignis« wie alle absoluten Anfänge selbst jener »Dezentrierung,« die es angeblich einleitet. Derrida setzt es mit Nietzsche an, ich dagegen mit Lessing und Herder; was nicht heißt, daß es sich nicht noch weiter zurückverfolgen ließe. Als strukturelles Moment der Struktur selbst hat es im Grunde »immer schon« begonnen (»Struktur« 422). 9 »Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden« (Schlegel Athenäum, Fragment no. 53, Kritische Ausgabe 2:173). 10 Als gattungsspezifisches Strukturmoment der Literaturkritik Lessings und Herders ist dieser »interne Dialogismus« von einem tatsächlichen Dialog streng zu unterscheiden. Herders Dialog mit Lessing aktualisiert dieses Prinzip in der Absicht, es als ein Kompositionsprinzip des Laokoon selbst transparent zu machen. 16

Struktur exponiert und gleichzeitig zum »Antiparadigma« einer alternativen Logik macht, deren Rationalität den aristotelischen Prinzipien der Identität und des Widerspruchs tatsächlich »inkommensurabel« 1 1 ist, und (2) die »Wahrheit« der romantischen Revolution gerade dadurch bewahrt, daß sie sie verschweigt, d. h. in eine kommunikative Strategie verinnerlicht, die den semiotischen Bezug der Sprache zugunsten eines Sprechens preisgibt, in dem Sinn sich als Prozeß im dialogischen Vollzug eines produktiven Verstehens entfaltet.

Ii Hier verwende ich den Begriff der »Inkommensurabilität« in Kuhns »weak sense«: »In applying the term >incommensurability< to theories, I had intended only to insist that there was no common language within which both could be fully expressed and which could therefore be used in a point-by-point comparison between them« (Zit. n. Bernstein [80]; Hervorhebung von mir).

17

ERSTES K A P I T E L

Herders poetische Hermeneutik Worte sind der Seele Bild Nicht ein Bild! sie sind ein Schatten! Sagen herbe, deuten mild Was wir haben, was wir hatten. Was wir hatten, w o ist's hin? Und was ist's denn, was wir haben? Nun, wir sprechen! Rasch im Fliehn Haschen wir des Lebens Gaben. (Johann Wolfgang von Goethe)

Die folgenden Überlegungen zielen darauf ab, Herders hermeneutischen Ansatz im Verhältnis zum semiotischen Sprachbegriff der Aufklärung zunächst vorläufig zu situieren. Ausgangspunkt bildet die augenfällige Inkongruenz - oder sagen wir lieber Spannung - zwischen hermeneutischer Theorie und deren praktischer Applikation in Herders Auseinandersetzung mit der Philosophie Alexander Gottlieb Baumgartens (»Denkschrift auf Baumgarten, Heilmann und Abbt,« 1767). Während Herder hier über eine Formulierung des hermeneutischen Problems in der Theorie nicht hinausgelangt, gerade weil Hermeneutik als Antwort auf die im Repräsentationsdenken latente Sprachskepsis reaktiv an dessen Voraussetzungen gebunden bleibt, so indiziert demgegenüber seine hermeneutische Praxis einen innovativen Sprung, in dem der semiotische Bezug bereits zugunsten jenes kreativen Sprachbegriffs preisgegeben ist, den Herder erst mit der Sprachabhandlung von 1772 (Uber den Ursprung der Sprache) theoretisch einzuholen beginnt.

I.

Die Hermeneutik ist ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts. Als »Kunst des Verstehens« (Schleiermacher) reflektiert sie jene Wende zum historischen Denken,1 die das menschliche Wissen in zwei nach Gegenstand und Methode streng geschiedene Bereiche spaltet: »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir« (Dilthey 5:144). Ist bei Dilthey die ι

Zur Geschichte der Hermeneutik siehe Gadamer (162-228), Palmer (75-217) und Ricoeur (Hermeneutics 43-63).

18

kategoriale Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften V o r aussetzung der Perfektibilität einer Disziplin, die sich in Konkurrenz zu den exakten Wissenschaften etabliert und folglich diesen gegenüber zu legitimieren hat, so ist diese Trennung im Moment ihrer Entstehung noch keineswegs selbstverständlich. Warum affiziert Geschichte die menschliche Existenz und nicht diejenige der Natur? Die Frage so zu formulieren heißt, die Entstehung des historischen Bewußtseins als Reaktion auf die Erfahrung einer fundamentalen kulturellen Selbstentfremdung zu deuten. Denn eben jene Zeitlichkeit, die im Bereich der Naturerkenntnis das Wissen der »Wahrheit« näher zu bringen scheint, unterwirft die Produkte menschlicher Kultur einem unaufhaltsamen Verlust an Intelligibilität. Dieser Sinnverlust wird in dem Moment zum Problem, w o er mit den Geltungsansprüchen einer durch die Tradition oder gar durch die Autorität Gottes selbst sanktionierten Uberlieferung in Konflikt gerät, d. h. auf den Gebieten der Theologie und der antiken Textüberlieferung. A l s »regionale« hermeneutische Disziplinen (Ricoeur, Hermeneutics

43) sind

die historische Bibelkritik und die antike Textphilologie zunächst rein pragmatisch orientiert, insofern die Entwicklung exegetischer Techniken dem Ausgleich dieses Konflikts und damit dem begrenzten Ziel einer Reintegration der fremdgewordenen Uberlieferung untergeordnet bleiben. D i e Ausweitung der Hermeneutik zur universalen Methode der Kulturwissenschaften und schließlich zu einer »Ontologie des Daseins« (Heidegger) setzt erst in dem Moment ein, w o mit der Reflexion aufs sprachliche Medium

dieser Uberlieferung das »regionale« Problem theo-

logischer und antiker Textkritik als ein strukturelles Problem jeglicher Verständigung erkannt wird. D i e Aufklärung hat die Sprachlichkeit des Menschen als Signatur seiner Freiheit und Endlichkeit zugleich gelesen (Wellbery 41).

Im

Gegensatz zum Tier vermag der Mensch seine Erfahrung der Flüchtigkeit des Augenblicks zu entreißen, indem er sie in einem A k t freier Bezeichnung gleichsam verewigt. Deren Kommunizierbarkeit freilich verlangt die Unterwerfung dieser Freiheit unter eine Konvention, deren Verbindlichkeit erst die Möglichkeit einer adäquaten Dekodierung des Gemeinten und damit intersubjektive Verständigung garantiert. Im Rahmen einer solchen Sprachauffassung ist für Hermeneutik weder Bedarf noch Platz. 2

ζ

Z u r Unvereinbarkeit der semiotisch fundierten Interpretationstheorie der A u f klärung mit den Prinzipien der Hermeneutik siehe den A u f s a t z v o n R . Leventhal.

19

Denn mit der Relegierung des Mißverständnisses an die Unvollkommenheit »natürlicher« Sprachen wird die Aufgabe der Hermeneutik von einer philosophischen Semiotik übernommen, die auf dem Wege normativer Sprachregelung das Mißverstehen grundsätzlich beseitigen zu können glaubt. Noch Herder unterliegt der Faszination durch den Traum einer solchen »Semiotik a priori« (LB 1.3.1:30ο), 3 obwohl er die Möglichkeit seiner Realisierung bereits radikal in Frage stellt: »Eine völlig Philosophische Sprache müßte die Rede der Götter seyn, die es zusahen, wie sich die Dinge der Welt bildeten, die die Wesen in ihrem Zustande des Werdens und Entstehens erblickten, und also jeden Namen der Sache genetisch und materiell erschuffen« (SW 32:180). Das Ideal der Philosophie scheitert an dem Paradox, daß Wahrheit und Freiheit einander ausschließen. Die »Sprache der Götter« ist notwendig, gehorcht dem Diktat des Seins, welches unmittelbar darin sich ausspricht. Das »willkürliche« Zeichen dagegen steht ein für eine Abwesenheit, die es nie einzuholen vermag. In diesem Abstand nisten Irrtum und Lüge, Mißverständnis und Skepsis (Wellbery 23). Es gibt, wie Herder richtig bemerkt, keinerlei Garantie dafür, daß verschiedene Menschen ihre Vorstellungen tatsächlich nach den gleichen Regeln kodieren, daß sie dieselbe Vorstellung mit dem nämlichen Wort verbinden oder überhaupt etwas denken, wenn sie ein Wort aussprechen. Denn selbst wenn »alle Menschen so ziemlich einig darin sind, was sie weich oder hart, glatt oder raub nennen: so kann ich doch nie sagen, ob sie völlig einig sind, weil ich keinen Weg habe, es zu versuchen« (SW 32:23). In derlei Zweifeln artikuliert sich indes kein qualitativ neues Sprachbe3

Obwohl für Herder alle Sprache in einem radikalen Sinne »poetisch« ist, hält er an einer relativen Unterscheidung zwischen Dichtung und Philosophie fest. In der Baumgartenschrift bildet das Kriterium dieser Differenz das je unterschiedliche Telos beider: Poesie zielt auf »sinnliche Schönheit,« Philosophie auf »Wahrheit« und »intellektuale Vollkommenheit« (LB 1.3.1:300). Daraus leiten sich die Forderungen nach »Deutlichkeit« der philosophischen Begriffe, streng analytischer Methode und die Ablehnung des pseudo-poetischen »beinahe Philosphirens« ab (301). Herder erkennt den Selbstwiderspruch, in den er sich mit seiner eigenen Schreibweise begibt - »Doch ich falle vielleicht selbst in den Fehler, den ich tadle« (302) - , rechtfertigt dies aber hier zunächst noch mit didaktischen Motiven. Erst in den Fragmenten gelingt Herder eine Präzisierung des Unterschiedes in semiotischen Kategorien. Dichtung und Philosophie markieren die zwei extremen Enden einer innersprachlichen Polarität oder - in der historischen Terminologie der Theorie der »Lebensalter« - Anfang und Ende eines Dissoziationsprozesses des poetischen Wortes zum Zeichen. Vgl. dazu die beiden Ausgaben der Ersten Sammlung der Fragmente (SW 1 ¡131-240 und SW 2:58-108).

20

wußtsein, sondern lediglich die Kehrseite eines Sprachoptimismus, in dem solche Skepsis allemal latent ist. Diese Skepsis bricht in dem Moment offen aus, wo die metatheoretische Reflexion auf die Voraussetzungen des philosophischen Sprachideals die Grundlosigkeit der Annahme einer Stabilität der Zeichenbeziehung ans Lageslicht befördert. Der aufklärerische »Mythos des Zeichens« (Wellbery) ist je von Geschichte schon angefressen. Denn gerade indem das Wort qua Schrift der Zeit widersteht, verfällt es deren Bedingungen. Der Preis der Dauer ist die Enteignung seines Sinnes, die es beliebigen Kontexten und Intentionen verfügbar macht. Die romantische Hermeneutik entsteht zunächst als Reaktion auf diese Erfahrung: »Schleiermachers Idee einer universalen Hermeneutik bestimmt sich von da aus. Sie ist aus der Vorstellung entstanden, daß die Erfahrung der Fremdheit und die Möglichkeit des MißVerständnisses eine universelle ist« (Gadamer 167). Die »Kunst des Verstehens« indiziert allem voran dessen Abwesenheit. Darin ist sie ein Krisensymptom. In der Generalisierung des Mißverstehens und entsprechend im Ruf nach einer Rückkehr zum »ursprünglichen Sinn« erscheint das Sprachideal der Aufklärung in invertierter Form als universeller Mangel. Und wenngleich Hermeneutik sich als Therapie solcher Skepsis präsentiert, so bleibt sie doch solange erfolglos, wie sie sich von ihrer negativen Fixierung an die Idealität eines »ursprünglichen Sinnes« nicht zu lösen vermag. In Herders literaturkritischen Schriften der sechziger Jahre kommt diese Verschränkung von Sprachskepsis und Geschichtsbewußtsein deutlich zum Ausdruck. Die kulturelle Landschaft seiner Zeit erscheint ihm als ein gigantisches Miß Verständnis: das Verhältnis zur antiken Uberlieferung ist in einer Weise gestört, die »das ganze Ziel der Dichtkunst verrückt« habe (SW 8:406), eine eigene ernstzunehmende literarische Tradition existiert nicht, und das zeitgenössische theoretische Terrain ist ein Schauplatz babylonischer Sprachverwirrung: »Secten im Geschmack, Partheien in der Dichtkunst, Schulen in der Weltweisheit streiten gegeneinander: keine Hauptstadt, und kein allgemeines Interesse: kein großer allgemeiner Beförderer und allgemeines Gesezgeberisches Genie« (SW 1:141). Dennoch hat Herder eine hermeneutische Theorie nie eigentlich formuliert, was überraschen mag bei einem Denker, der stets im Zusammenhang der Entstehung der historischen Wissenschaften genannt und vom Historismus selbst als Vorläufer reklamiert wurde.4 Der Versuch einer 4

Friedrich Meinecke hat Herder einen »Bahnbrecher des Historismus« genannt ( 3 8 1 ) und damit eine folgenschwere Verbindung zwischen dem Verfasser der

21

Rekonstruktion der Herderschen Hermeneutik sieht sich deshalb auf eine Praxis verwiesen, die Herder nur ab und an durch metatheoretische Reflexionen kommentiert. Derartige Reflexionen finden sich bezeichnenderweise vor allem im Zusammenhang seines Versuchs, mit der ästhetischen Theorie der Aufklärung in einen intellektuellen Dialog zu treten, ist doch dies der Ort, an dem sich Tradition als selektive Kanonisierung der Uberlieferung eigentlich erst konstituiert und die drei oben erwähnten Ebenen zusammenlaufen. In diesem Zusammenhang sind die Entwürfe zu einer ursprünglich als „Denkschrift auf Baumgarten, Heilmann und Abbt" konzipierten Abhandlung von besonderem Interesse, insofern sich Herder hier ausdrücklich um eine theoretische Klärung seiner hermeneutischen Position bemüht.4 Im Urentwurf zu dieser Abhandlung skizziert Herder ein Modell des Verstehens, das die Kluft zwischen Geist und Buchstabe in der Spontaneität intuitiven Nachempfindens zu überbrükken hofft (LB 1.3.1: 287^). Die Vorrede zum Torso radikalisiert den intuistischen Zug dieser platonisch-leibnizschen Hermeneutik in der Forderung an den Leser, die »todten Buchstaben« des Textes (Abbild) auf die dahinterliegende expressive Totalität einer individuellen »Seele« (Urbild) hin zu transzendieren: Schwer sind die Augenblicke abzulauern, da sich die Seele entkleidet, und sich uns wie eine Schöne, in bezaubernder Nacktheit darstellet: daß wir uns an die Denkart des andern anschmiegen, und wie durch einen Kuß Weisheit lernen. Einige Züge von der Art, wo man unmittelbar lernen kann: sind nützlicher, als große Gelehrsamkeit, die wir aus dem todten Buchstaben fürs Gedächtniß lernen, und dabei in unsrer eignen Seele alt und grau werden. (SW 2 :i6i)

Gleichsam nur wider Willen gibt die erotische Metaphorik preis, was wenig später offen zutage tritt, daß nämlich das hermeneutische Projekt solchermaßen formuliert den Keim seines Versagens bereits in sich trägt.

5

Schrift Auch eine Philosophie zur Geschichte der Bildung der Menschheit (1774) und Ranke gezogen (430), die noch in Szondis Kritik des Historismus fraglos vorausgesetzt wird (1:62). Die in mehreren Bruchstücken überlieferte »Denkschrift« blieb unvollendet und ist leider bei Suphan nur in Auszügen dokumentiert (siehe SW 32: 175-192). Eine vollständige Wiedergabe der beiden Urentwürfe (»Fragment des Entwurfs zu einer Denkschrift auf A . G . Baumgarten, J . D . Heilmann und Th. Abbt,« »Von Baumgarten's Denkart in seinen Schriften«) bietet das Lebensbild (LB 1.3.1:275-346). In der Umarbeitung dieser Materialien zum Torso (»über Thomas Abbts Schriften«) hat Herder die hermeneutischen Überlegungen der Urfassung präzisiert, sich ansonsten aber ganz auf Abbt konzentriert. Der Rest der Entwürfe ist an verschiedenen Stellen in die Fragmente eingegangen. Siehe dazu Suphans Bemerkungen in der Einleitung zu Band 2 (vff.).

22

Denn die Auffassung des Textes als »Abdruck der Seele« (8:339) bzw. »Spiegel des Herzens« (SW 2:261) präsentiert lediglich eine geringfügige Variante zur »intuistischen Zeichendoktrin« der Aufklärung (Wellbery 38), nicht aber eine wirkliche Alternative. Zwar wird der Referent des Textes nicht länger im bezeichneten Objekt, sondern stattdessen in der Individualität seines Urhebers verankert, aber ansonsten lassen sich in Herders Textbegriff sämtliche Implikationen der aufklärerischen Sprachauffassung wiederfinden: die Trennung von Form und Gehalt, die Sprachunabhängigkeit des Referenten und die Forderung nach Transparenz der Sprache. Diese Degradierung der sprachlichen Materialität des Textes zur bloßen »Hülle« ( L B 1.3.1:278), einer Art gefallenen Form des Geistes, zwingt nun den Interpreten zu einer allegorischen Entzifferung, die ihrer Tendenz nach Vermittlung negiert, um sich in der quasimystischen Vereinigung zweier »reiner Geister« zu erfüllen. In ihrer Angewiesenheit auf jenen »todten Buchstaben,« den sie zu hintergehen trachtet, ist eine solche Lektüre jedoch ständig vom Mißlingen bedroht. In der Praxis nämlich resultiert der Zugriff aufs »Buch an sich« (Herder »Über den >Gebrauch< des Hohenliedes,« zit. n. Irmscher, »Probleme« 300) gemäß der unerbittlichen Logik des Zeichens in den Regreß einer unendlichen Semiose, die ihr menschlich unerreichbares Telos im nie zu fixierenden Ursprung der Seele hat - mit anderen Worten: zur Idee Gottes: »Wie erhebt sich hier auf einmal die Idee, in der ich mir das Bild der Gottheit gedenke: er, der die Morgensterne und die Geister mit Namen ruffet; den Gedanken von ferne kennet, ehe er geboren wird: nur Er, der Schöpfer, kennet eine von ihm erschaffne Seele!« (SW 2:258). Die Lokalisierung der »Wahrheit« in einer idealen Identität von Sein und Begriff entzieht diese dem menschlichen Zugriff und treibt das Denken zurück in die endliche Sphäre des Scheins. Die Vereinigung findet nicht statt: und so »zeichnet er [der Biograph] das Bild der Sonne nicht aus ihrem stralenden Antlitz, sondern nach ihrem Wiederschein im Wasser« (SW 2:259). Endet damit das Projekt, Verstehen unter platonisch-leibnizschem Vorzeichen theoretisch zu begründen, im Aufweis seiner Unmöglichkeit, deren ruinösen Konsequenzen gegenüber die Insistenz auf einem transzendenten

»Commerzium

menschlicher Geister« ( L B

1.3.1:288)

als

Garant für ein je schon verbürgtes Einverständnis einen nur schwachen Trost darstellt, 6 so versagt es nicht minder dem Anspruch gegenüber,

6

Um sich dessen zu vergewissern rekurriert Herder häufig auf Metaphern aus dem Bereich der Physik: »Das haben die Seelen, sagt Plato, mit dem Magneten

23

Subjekt und Objekt des hermeneutischen Aktes theoretisch zu vermitteln. Denn schließlich geht es Herder ja um einen »kritischen Kommentar« ( L B 1 . 3 . 1 : 2 8 9 ) über Baumgarten, der sich vom Standpunkt und dem Interesse einer bestimmten Gegenwart aus legitimiert und damit jene hermeneutische Distanz notwendig voraussetzt, die das Prinzip einfühlenden N a c h empfindens zu hintergehen sucht. Dazu lese ich dir vor: ich zergliedere ihre Schriften, oder vielleicht ihren Geist in denselben. Wie, wenn mein Buch dich anfeuert, sie selbst zu lesen, ihre Güte und Fehler zu sehen, und dir ihre Denkart eigen zu machen - wie? wenn ich dich auf den Pfad risse, den sie gegangen sind, und dir die Abwege zeigte, auf denen jene sich verirrten, und dir die Bahn anwiese, wo ihre Schritte aufhörten, damit du weiter gehen könntest - wenn ich die unvollendeten Plane und Circel und Entwürfe darlegte, . . . damit du diese Plane ergänztest und zur Vollkommenheit brächtest! - (LB 1.3.1 ¡278) Eine solchermaßen verstandene Kritik operiert nun aber gezwungenermaßen auf der Ebene der »Abbilder,« die sich entweder von der Warte des Ideals oder aber eines sich selbst vollkommener wähenden Abbildes als verbesserungsbedürftig darstellen. In jedem Fall erfordert ihre Realisierung einen ontologischen Sprung, unter dem die Einheit des hermeneutischen Aktes hoffnungslos zerbricht. Herders paradoxe Forderung an den Kritiker, er solle nicht »Systeme,« sondern deren »Urbild« verbessern (SW ι : 142), indiziert die Kapitulation der Theorie vor einem Problem, für das er innerhalb des von ihm gewählten Rahmens keine Lösung findet und auch nicht finden kann.

gemein, daß sie sich einander ihre Kraft mittheilen und sich mit einer fortgehenden Reihe von Wundern beseelen« (SW 32:176). Die theoretische Unableitbarkeit des Allgemeinen bleibt solange ein Problem, als die hermeneutische Fragestellung sich am Cartesianischen Erkenntnismodell orientiert, d. h. Verstehen als Konfrontation zwischen zwei isolierten Individuen begriffen wird. Leibniz' Monadologie stellt in diesem Zusammenhang einen faszinierenden Lösungsversuch für jene Aporie bereit, die sie selbst hervorruft: während der Monade infolge ihrer »Fensterlosigkeit« jegliche Kommunikation mit dem Außen versagt ist, kommuniziert sie aber qua vollständig determiniertes Individuum immer schon mit einem Universum, dessen Totalität sich ganz aus ihm deduzieren läßt. Diese - eine Auflösung der Grenzen zwischen Subjekt und Objekt, Innen und Außen implizierende - Analogie zwischen Mikro- und Makrokosmos kann als Variante zu Gadamers Diktum gelesen werden, daß das Verstehen »zum Sein dessen gehört, was verstanden wird« (xvii).

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2.

Nun ist es eine Sache, eine Theorie auf die ihr zugrundeliegenden Aporien hin transparent zu machen; eine andere, diese zum Kriterium ihres Wahrheitsgehaltes zu machen. Nicht daß die Wahrheitsfrage zu vermeiden wäre, sie muß sogar gestellt werden, aber in Bezug auf das, was im Rahmen hermeneutischer Theorie überhaupt erreichbar ist und ferner auf die gleichzeitige hermeneutische Praxis, deren nachträgliche und möglicherweise unzulängliche Explikation sie darstellt. Gerade in Herders bewußtem Verzicht auf Systematisierung liegt selbst ein eminent hermeneutisches Problem, dessen Lösung ihrerseits zurückverweist auf die jeweils vom Interpreten an die Texte herangetragenen Voraussetzungen über die Natur der Sprache und des Verstehens. Die traditionelle Herderkritik illustriert nur allzu deutlich, wie die vorgängige Unterstellung einer instrumentalistischen Sprachauffassung und eines formallogischen Wahrheitsbegriffs zwangsläufig in einer Reduktion der Texte auf widersprüchliche Propositionen endet, deren strategische Intention unverstanden bleibt.7 Ein Blick auf den praktischen Teil der Baumgartenschrift belehrt uns darüber, daß Herder sein an Radikalität der Selbstaufgabe kaum zu überbietendes hermeneutisches Programm nicht ohne eine gewisse Ironie appliziert. Unter dem Vorwand einer Apologie des Philosophen unternimmt er das Unmögliche, zwischen zwei unvereinbaren Dichtungskonzeptionen über den gemeinsamen Nenner der Baumgartenschen Formel der oratio sensitiva perfecta eine scheinbare Brücke zu schlagen, indem er den systematischen Unterbau mitsamt der »barbarischefn] Terminologie« (SW 32:190), die bei Baumgarten die Bedeutung des Wortes »sinnlich« konstituieren, als pure Akzidenzien eines in der Wölfischen »Denkart« geschulten Kopfes herunterspielt, um dann diese Formel zur Grundlage seines eigenen Projekts einer »Metapoetik« (32:184) der ungeteilten Seele zu machen. Herders unverhohlene Bewunderung für die methodische Strenge und analytische Schärfe des Denkers Baumgarten mag leicht darüber hinwegtäuschen, daß es gerade nicht die »Genauigkeit» (LB 1.3.1:302), sondern vielmehr die suggestive Unbestimmtheit seiner For-

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Der hermeneutische Zirkel verweist hier auf ein grundsätzliches Dilemma der Herderschen Dichtungstheorie: ihr Sinn erschließt sich erst dann, wenn die Notwendigkeit einer Form begriffen ist, die in dem Moment, wo sie begriffen ist, überflüssig wird.

mei ist - »bis zur Vieldeutigkeit reich und prägnant« (SW 4:132), »weil zweitens mit diesen wenigen Worten das Meiste angedeutet wird* (SW 32:185) - die es Herder erlaubt, den Text »als eine lebendige Werkstätte aufzuschließen« (SW 32:177). Die dadurch nahegelegte Kontinuität zwischen Herder und Baumgarten ist indes so trügerisch wie die scheinbare Unschuld der Worte, die sie ermöglicht, referieren doch diese Worte nicht auf ein kontextneutrales Phänomen »Dichtung,« sondern zurück auf jene systematischen Voraussetzungen, deren Produkt sie sind. Statt diese Voraussetzungen nun aber direkt anzugreifen, bedient sich Herder eines weit subtileren Verfahrens: er unterstellt das gemeinsame Interesse an einer psychologischen Ästhetik und schiebt seinem imaginären Gesprächspartner, dem »Philosophen des Gefühls« (Baumgarten und/ oder dem Leser), die Beweislast für die Existenz einer unabhängig von Sinnlichkeit und Sprache wirkenden Ratio zu: Die Menschliche Seele liegt vor ihm, ihrem sinnlichen d. i. ihrem wirksamsten und lebendigsten Theile nach, wie ein ungeheures Weltmeer, das auch selbst bei seiner stillen Zeit voll Fluthen scheint, die an die Wolken reichen: da stelle ich dich, o Philosoph des Gefühls, wie auf einen hohen Fels mitten unter den Wellen. Nun siehe in den dunkeln Abgrund der Menschlichen Seele hinunter, wo die Empfindungen des Thieres zu den Empfindungen eines Menschen werden, und sich gleichsam von fern mit der Seele mischen: siehe herab in den Abgrund dunkler Gedanken, aus welchem sich nachher Triebe und Affekten, und Lust und Unlust heben. Setze das Gefühl der Schönheit an seine Stelle zwischen den Engel und das Thier, zwischen die Vollkommenheit des Unendlichen und zwischen die Sinnenlust des Viehes, als eine Pflanze betrachtet. Bist du es, der einen Gedanken und ein Gefühl zählen, mäßen und wägen kann; so bestimme den Reichthum, die Erhabenheit und Würde einer Menschlichen Känntniß. Kannst du den Sonnenstral eines Gedankens und einer Empfindung theilen: so theile jene schwangere, jene nachdrucksvolle Vorstellung, die bald mit dem schärfsten, bald mit ausgebreiteterm Licht auf meine Seele würket; und sondre sie von dem Schimmer der Rede. (SW 32:186)

Die negative Antwort, deren Schlußfolgerungen Herder dem Leser anheimstellt, trifft Baumgartens Ästhetik an ihrem schwächsten Punkt: jener stillschweigend vorausgesetzten und niemals problematisierten Vorstellung einer in Vernunft und Sinnlichkeit gespaltenen Menschennatur, die Ästhetik zwingt, ihr Ideal von Vollkommenheit an dem des logisch diskursiven Denkens normativ auszurichten. Den Grund dafür lokalisiert Herder in der habituellen Gebundenheit des Baumgartenschen Denkens an die philosophische Terminologie der Wölfischen Schule, die eine Ästhetik als Wissenschaft der »unteren Seelenkräfte« einerseits ermöglicht, ihr aber gleichzeitig unüberwindliche Schranken setzt. Gerade hier 16

bleibt nun aber die historische Kritik nicht stehen. Aus dem »Geiste« eines Schriftstellers zu lesen heißt vielmehr, in dergleichen »Fesseln« die historisch kontingenten »Muttermale seiner Zeit« zu erkennen und davon zu abstrahieren (LB 1.3.1:290). Herder beschreibt die hermeneutische Strategie historischer Kritik als eine »chymische Operation,« die aus »zufälligen Schlacken« das »trinkbarfe] Gold« reinen Geistes gleichsam herausdestilliert (LB 1.3.1:290). In Wahrheit jedoch handelt es sich dabei um ein ganz innerhalb der Sprache operierndes Verfahren, das der Baumgartenschen Formel durch ihre Verschiebung in ein verändertes semantisches Umfeld eine völlig neue Bedeutung verleiht. Seines systematischen Gegensatzes beraubt, wird der Begriff der »Sinnlichkeit« bei Herder zum allumfassenden, der reflexiven Dissoziation in Sinnlichkeit und Ratio vorausgehenden und diesen Gegensatz enthaltenden Prinzip, »Abgrund der Seele,« wenn nicht gar zur Seinsweise des empfindenden und sprachlich schöpferisch sich äußernden poetischen Subjekts schlechthin. Die suggestive Kraft der Ozeanmetaphorik darf uns jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die darin implizierte These von der Unteilbarkeit der Seele auf ebenso unsicherem Boden steht wie diejenige, gegen die sie sich richtet, ist sie doch strenggenommen so wenig beweisbar wie ihr Gegenteil. Denn wie müßte ein Argument beschaffen sein, das Baumgartens axiomatische Voraussetzungen zu widerlegen imstande wäre? An welche gemeinsame Grundlage könnte es zur Herbeischaffung von Evidenzen appellieren? Eine derartige Gemeinsamkeit existiert nicht. Ein imaginierter Disput zwischen Herder und Baumgarten würde unweigerlich in jener Pattsituation enden, wo einer dem anderen wechselseitig die Beweislast für die Wahrheit seiner Behauptung zuschöbe. Als Ursache dieser Unentscheidbarkeit macht Herder die systematische Geschlossenheit eines Denkens verantwortlich, das sich zwar von außen sprengen, nicht aber eigentlich widerlegen läßt: »Da ich den Grund von allem diesen Streitigen als etwas unsicher getastet habe, ohne daß ich auf die Folgerungen habe sehen wollen; so hätte ich mehr gethan, wenn ich, im Fall diese Ableitungen unsicher wären, den Grund dieser Unsicherheit richtig entdeckte, als wenn ich ebenso ungewiße Behauptungen ihnen entgegen setzte« (SW 32:181/82). An dieser Stelle wird der sokratische Grundzug von Herders philosophischer Strategie beispielhaft deutlich. Die aporetische Zuspitzung der Auseinandersetzung zwingt den Leser zu Schlußfolgerungen, die selbst unausgesprochen bleiben: mit der Einsicht in die Grundlosigkeit aller 2

7

positiven »Behauptungen« löst sich die Sprache aus ihrer repräsentationeilen Verankerung und hängt gleichsam für eine Weile im luftleeren Raum, eine Brücke über dem »Abgrund der Seele,« durch nichts gehalten als die interne Verknüpfung ihrer Elemente. Die Entscheidung zwischen den Standpunkten wird damit zu einer existenziellen Frage der Wahl, die sich, um Sprache an Welt zurückzubinden, anders als im Rekurs auf eine außersprachliche Welt legitimieren muß. Während in der Theorie Subjekt und Objekt, Wortverstand und Interpretation scheinbar vermittlungslos einander gegenüberstehen, erweisen sie sich in der hermeneutischen Praxis als zwei inseparable Momente eines einzigen Prozesses. Wahrheit ist weder auf Seiten des Subjekts noch des Objekts in der Positivität seines Gehalts. Sie entsteht vielmehr aus der dialogischen Konfrontation beider, gleichsam ex negativo, in jenem begrifflosen Vakuum, wo die Gefährdung des Grundes der Sprache im Moment ihrer Uberwindung aufblitzt. Von dieser Perspektive aus gesehen stellen sich die theoretischen Ausführungen der Baumgartenschrift in überraschend neuem Licht dar. Es zeigt sich nämlich, daß Herder das metaphorische Reservoir der platonischen Tradition, auf das er in Ermangelung eines angemesseneren Vokabulars zurückgreift, in signifikanter Weise abwandelt. Wenn er das Paradox der Form in der platonischen Leib-Seele Metapher einzufangen sucht, appelliert er an die unmittelbare Evidenz jener Intuition, die uns sagt, daß ein Zeichen mehr ist als seine materielle Ausdehnung, ein lebendiges Wesen mehr ist als ein toter Körper. Daher der unwiderstehliche Drang des Denkens seit Plato, dieses mehr zu isolieren, in seinem Wesen zu erfassen und dabei den materiellen Modus seiner Existenz zu negieren. Es ist diese Intuition, die dazu verführt, Form als Behälter, Körper als »Hülle« und Verstehen als Kommunion »reiner Geister« zu denken. Aber paradoxerweise führt gerade der Versuch einer Einlösung dieser Intuition zur Zerstörung dessen, was sie zu versprechen scheint. Der forcierte Zugriff auf's Wesen tötet die »Seele« und behält zurück das, was er negiert, eine »tote Hülle,« die bestenfalls noch »allegorisch« einsteht für den transzendenten Bereich einer unzugänglichen Wahrheit (Adams 13). Herder evoziert die Logik dieses traditionellen rhetorischen Topos, um sie an entscheidender Stelle zu durchbrechen: in dem Augenblick nämlich, »da sich die Seele entkleidet,« erscheint sie nicht, wie man erwarten möchte, als immaterielle Wahrheit, sondern als Körper, »wie eine Schöne, in bezaubernder Nacktheit.« Und entsprechend koinzidiert in der Baumgartenschrift der »Geist« schließlich mit der kruden Materialität seines sprachlichen Ausdrucks:

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»sinnlich vollkommene Rede« bedeutet letztenendes nicht mehr und nicht weniger, als was die »lakonischen« Worte sagen: »kein Gedanke, der unter dem Wort ist« (LB I.3.11296). Hans Dietrich Irmscher hat auf die zentrale Bedeutung des plastischen Schönheitsideals für Herders Hermeneutik hingewiesen. Entscheidend für Herders Auffassung plastischer Schönheit ist nicht - wie noch für Winckelmann - dessen Transparenz auf ein quasi-platonisches Ideal, sondern das darin sich verkörpernde Individualitätsprinzip (»Hermeneutik« 30). In der materiellen Determiniertheit der Gestalt realisiert sich »Geist« nur in dem Maße, wie er »sich selbst Raum« schafft (SW 8:74). Als »Abdruck der Seele« (SW 8:339), ganz im wörtlichen, reliefartigen Sinne genommen, wird die Plastik für Herder zum sinnlich greifbaren Korrelat des Leibnizschen Monadenbegriffs und damit zum Paradigma eines Formbegriffs, an dem sich das Denken vergewissert, wenn es in seinem Versuch, sprachlichen Ausdruck in Analogie zum plastischen zu denken, irre zu werden droht. In den Fragmenten beklagt Herder die Folgen einer literaturkritischen Praxis, die »das Denken ohne Ausdruck erhäschen wollte« (SW 1 ¡396). Um diesem »Unsegen« entgegenzuwirken strapaziert Herder die Ausdrucksmöglichkeiten seiner Sprache bis zum Äußersten: Sprache ist »Werkzeug,« »Behältniß und Inhalt der Litteratur« zugleich (SW 2:12); der Dichter »dachte Worte, und spricht Gedanken« (SW 1:403) etc.. Intelligibilität ist vornehmlich eine Frage linguistischer Konvention, und die Irritation, die von Herders ungewöhnlichen Formulierungen noch immer ausgeht, läßt den Widerstand ermessen, den die zeitgenössische philosophische Terminologie einem Denken entgegensetzt, das sich weigert, deren konstitutive Dichotomien als reale Gegebenheiten zu akzeptieren.

3· Mit dieser Verlagerung des Geistes in die Immanenz des materiellen Modus seiner Existenz eröffnet sich eine Alternative zur platonischleibnizschen Hermeneutik, die deren Aporien umgeht, indem sie das repräsentationeile Erkenntnismodell zugunsten eines kreativen Sprachbegriffs preisgibt. Hermeneutik geht über in Sprachphilosophie bzw. Dichtungstheorie. Denn das »Commerzium menschlicher Geister« ist die Sprache selbst, innerhalb derer Subjekt und Objekt, Vergangenheit und 29

Gegenwart kraft der Historizität des Mediums immer schon vermittelt sind: »Ich schreibe nur Geschichte, wie sie mir erscheinet, wie ich sie weiß« (SW 8:466, Anm. 1). Dieses »ich« ist freilich nicht mehr identisch mit jenem willkürlich schaltenden Subjekt, das einem objektiven Geistesgehalt nachträglich eine gegenwartsbezogene Bedeutsamkeit verleiht, sondern der »Idiot« (SW 2:14), dem die »geheime Gedankenübersetzung« (SW 3:126) des Fremden ins Bezugssystem seiner Muttersprache zur unabdingbaren Voraussetzung jeglichen Verstehens wird. Damit kehrt sich das Prioritätsverhältnis von Subjekt und Objekt, Individuellem und Allgemeinem diametral um. Gerade dieser »Idiotismus« nämlich, die subjektive Gebundenheit des Verstehens an einen sprachlich und kulturell determinierten Kontext, wird nun zur Grundlage einer durch die Allgemeinheit der Sprache garantierten Objektivität, von deren Warte aus der mystische Sprung aus der Zeit heraus in die radikale Andersheit einer fremden Psyche als voluntaristischer Akt einer falschen Subjektivität erscheint: »Wir glauben allein zu seyn und sinds nie: wir sind mit uns selbst nicht allein; die Geister andrer, abgelebter Schatten, alter Dämonen, oder unsrer Erzieher, Freunde, Feinde, Bildner, Misbildner, und tausend zudringender Gesellen wirken in uns« (SW 16:37). Es ist dieser sprachlich determinierte Aspekt des Verstehens, der es Irmscher ermöglicht, Herders »Commerzium menschlicher Geister« im Sinne von Gadamers »wirkungsgeschichtlichem Bewußtsein« zu deuten. Doch selbst noch in diesem überaus vorsichtigen und differenzierten Rekonstruktionsversuch erscheint Herders Kontamination heterogener Erklärungsmodelle als Ausdruck eines im vorkritischen Stadium befangenen Denkens, das die daraus resultierenden Widersprüche »nie reflektiert« habe (»Hermeneutik« 41, Anm. 138). Dies ist nicht der Fall. Zwar ist es richtig, daß die widersprüchliche Koexistenz einer holistisch-immanenten und einer platonisch-intuistischen Sprachauffassung auf einen unaufgelösten Widerspruch am Grunde von Herders Denken verweist. Mißverständlich bleibt eine derartige Feststellung jedoch, wenn unterschlagen wird, daß die scheinbare Homogenität moderner Theorieansätze durch die bewußte Suspendierung eben jener Probleme erschlichen ist, deren Lösungsversuch Herder ins Paradox treibt. So nimmt z . B . Gadamer im entscheidenden Moment, wo es darum ginge, die in der Konzeption des hermeneutischen Zirkels implizierte Produktivität des Verstehens mit seinen deterministischen Prämissen zu vereinbaren, Zuflucht zur Metapher des »Horizonts,« in der das kreative Prinzip, das es eigentlich zu erklären gälte, auf magische Weise als Eigenschaft des Systems

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erscheint (288). Die mit Wittgenstein einsetzende »behavioristische« Wende innerhalb der Sprachphilosophie verweist die Fragestellung traditioneller Hermeneutik in den Bereich der »Pseudoprogenie« und beruhigt sich im pragmatischen Erfolgskriterium einer reibungslos funktionierenden sozialen Interaktion. Wer dagegen mit Manfred Frank im Namen einer »schöpferischen Individualität« Einspruch erhebt, riskiert sich damit ins metaphysische Abseits zu begeben, ohne das Problem, um das es hierbei geht, eigentlich zu lösen. Es bleibt, so scheint es, lediglich die Wahl, entweder die Sprache oder das Subjekt zu hypostasieren.8 Die Art und Weise wie Herder je nach der spezifischen Beschaffenheit des jeweiligen Kontextes die eine oder andere Seite dieser Alternative in den Vordergrund stellt, um sie implizit durch ihr Komplement zu relativieren, zeugt von einer inneren Konsequenz, die auf ein Bewußtsein von der fundamentalen Unzulänglichkeit aller einseitigen Erklärungen deutet. Ein jeder der in der Baumgartenschrift operierenden hermeneutischen Ansätze läuft für sich genommen auf eine für Herder unakzeptable Negation menschlicher Kultur hinaus: der platonische durch seine Abwertung des Diesseitigen, der holistische durch seine Leugnung des poetischen Prinzips schlechthin, als die Fähigkeit zu denken, was noch nie gedacht worden ist. Gegen diese falsche Alternative insistiert Herder auf einem Begriff von Verstehen als einer genuin schöpferischen Aktivität, die den »Geist« im Akt seiner Erfassung überschreitet. Als Resultat eines metaphorischen Sprungs impliziert aber die Produktion von Bedeutung via Form, das heißt im Medium der Sprache, immer auch ein »Zerbrechen von Form« (Bloom 2): »Ich sammle . . . und erweitere bald ihre Aussichten, bald ziehe ich sie zurück, oder lenke sie seitwärts. Ich zerstücke und nähe zusammen, um vielleicht das bewegliche Ganze eines Pantins zu verfertigen« (SW 1:135). I m »Platonische[n] Mährchen« von der Seele (SW 1:397) protestiert das poetische Subjekt gegen seine Auslieferung an die heteronome Gewalt des Systems, indem es den ewigen »Uberschuß« (Irmscher, »Hermeneutik« 51) seiner eigenen Kreativität über jegliche mögliche Realisierung feiert. In der allegorischen Kluft zwischen »Urbild« und »Abbild« eröffnet sich jener Raum von Virtualität, der es Herder ermöglicht, »von dem, was ein Schriftsteller sagt, darauf zu schließen, was er könnte sagen« (SW 2:251) und in dem Baumgartens

8

Dieses Dilemma zeigt sich in jener Pattsituation, in der Franks Versuch einer Vermittlung zwischen analytischer Philosophie und Poststrukturalismus vom Standpunkt der Hermeneutik Schleiermachers endet (»Entropie« 184-203).

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Problem überhaupt erst als ein Sprachproblem diagnostizierbar wird: »Und so stand auch für die Aesthetik die Form bereit, ehe der Einguß da war« (SW 32:191). Gleichzeitig aber bedeutet die Insistenz auf dem Gemeinsamen jenseits allem Trennenden 9 - gerade indem es sich der theoretischen Verifizierbarkeit entzieht - eine Geste der Solidarität mit einer Tradition, die Herder zu brechen sich anschickt, noch bevor sie überhaupt Gelegenheit hatte, sich als kulturell wirkungsmächtige Kraft zu etablieren.

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»Alle Menschen arbeiten an Einem Produkt nur aus verschiednen Aufgaben und Zahlen und jeder auf seine Weise« (SW 8:255).

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ZWEITES K A P I T E L

Herder und Lessing: »Ein Dialog und kein Dialog«? Zwischen dem Ahnlichsten gerade lügt der Schein am schönsten; denn die kleinste Kluft ist am schwersten zu überbrücken. (Friedrich Nietzsche, Zarathustra)

Also

sprach

Die rhetorische Struktur der Baumgartenschrift ist konstitutiv in dem Maße, wie die Leib/Seele Metaphorik gegenüber dem Zeichenbegriff der Aufklärung die hermeneutische Internalisierung des Sinns vollzieht und gleichzeitig subvertiert: die »Seele« markiert sowohl den privilegierten Bereich einer präformativen Innerlichkeit als auch den nachträglichen Effekt der irreduziblen Materialität einer jeden individuellen Determination. Als Schnittpunkt zweier unvereinbarer Perspektiven auf die Sprache - einer intuistischen und einer holistischen - bleibt die paradoxe Bildlichkeit der »körperlichen Seele« selbst unübersetzbar. In dieser »Ungleichzeitigkeit« artikuliert sich ein Verhältnis zur philosophischen Tradition, das in der simplen Alternative »Kontinuität oder Bruch?« nicht aufgeht. Wo steht nun Lessing innerhalb dieses durch Wolff/Baumgarten und Herder abgesteckten Koordinatensystems? Im Rahmen dieser Fragestellung kommt dem folgenden Kapitel eine zweifache Funktion zu: es geht zunächst um die Präzisierung der durch die besondere Textgestalt des Laokoon aufgeworfenen Formproblematik und fernerhin, auf dem Wege einer Analyse der rhetorischen Struktur der Herderschen Kritik, um die Formulierung vorläufiger Interpretationshypothesen, deren Evidenz im weiteren Verlauf der Untersuchung zu erweisen sein wird.

ι . »Geschichte« und »System« : zur Textgestalt des

Laokoon

Wellbery beschreibt die Argumentationsstruktur des Laokoon folgendermaßen: »it interweaves various intentions and codes, bringing together, for example, contingent polemical aims, archeological and art-historical opinion, aesthetic norms, an anthropology, cultural prejudices, an idiosyncratic will to self-justification often deserving the label vanity, an 33

incomparable stylistic élan, and other important as well as trivial elements« (109). Um in einem derartigen Ozean auseinanderstrebender Bedeutungen den Kurs nicht zu verlieren, trifft er folgende methodische Entscheidung: »I shall discuss the Laokoon from a single perspective. I shall treat it as if it presented a global theory of aesthetic signification« (109). Diese einseitige Privilegierung eines Aspektes, nämlich des systematischen, hypostasiert diesen zum »eigentlichen Gehalt,« gemessen an dem die Weise seiner Präsentation - »a stimulating but disordered essayism« (109) - als ein zu vernachlässigendes Akzidenz erscheint. Die Frage nach dem Stellenwert des Wölfischen Systemdenkens innerhalb der rhetorischen Ökonomie dieses Werkes bleibt unerörtert. M. H. Abrams verfolgt die Geschichte der Literaturtheorie von Plato bis zur Romantik entlang der Transformation ihrer konstitutiven Metaphern: »A particular aim of this book is to emphasize the role in the history of criticism of certain more or less submerged conceptual models what we may call >archetypal analogies< - in helping to select, interpret, systematize, and evaluate the facts of art« (31). Kann er mit der Einsicht in die Metaphorizität aller Sprache, einschließlich derjenigen »metaphysischer Systeme,« den poetischen, philosophischen und literaturkritischen Texten prinzipiell den gleichen Status zuschreiben, so manifestiert indes sein formalistischer Ansatz die gleiche Indifferenz gegenüber der Form wie der strukturalistisch orientierte Wellberys. Was Abrams interessiert, sind die systematischen Implikationen der Metaphern, insofern »they yield the ground plan and essential structural elements of a literary theory, or of any theory« (31 ; Hervorhebungen von mir), als deren »uneigentlicher« Ausdruck sie erscheinen. Damit werden die metaphorischen Verschiebungen zum Index einer epistemologischen Transformation, deren generative Matrix (d.h. das »System« möglicher Theorievarianten) die metaphorischen Bedeutungen a prion enthält und ihr Wuchern kontrolliert. Gleichzeitig kann aber selbst Abrams nicht umhin zuzugeben, daß die Dichter und Kritiker der Romantik sich gerade nicht des abstrakten Vokabulars zeitgenössischer Systemphilosophie bedienen, sondern stattdessen auf das metaphorische Reservoir anderer, verschütteter Denktraditionen zurückgreifen (58). Ist das ein Zufall? Und wenn nicht, wie motiviert sich diese Wahl? Wie kaum ein anderer Text bietet sich Lessings Laokoon als Untersuchungsgegenstand für eine solche Fragestellung an, ist doch die Genese dieses Textes in einer Weise überliefert, die die bedeutungskonstituierende Rolle formaler (Um)gestaltung gerade aus der 34

Spannung zwischen systematischen und systemsprengenden Tendenzen in Lessings Diskurs heraus zu begreifen erlaubt. Der »Urentwurf« zum Laokoon (Ai, L 353-357), den Lessing Blümner zufolge bereits in der Breslauer Zeit konzipiert hatte (L scheint zunächst das Primat des Systems durchaus zu bestätigen. Er enthält den Kern einer Gattungstheorie, die auf dem Wege einer systematischen Bestimmung der »Grenzen« zwischen Malerei und Dichtung den praktischen Folgen des Horazschen ut pictura poesis entgegenzuwirken sucht. Doch bereits im dritten Entwurf (A3, L 387-390) hat Lessing - nachdem er in einem zweiten (A2, L 357-386) eine leicht revidierte Form der systematischen Skizze den Freunden Mendelssohn und Nicolai zur Kritik vorgelegt hatte - den ursprünglichen Plan zugunsten einer unsystematischen Entwicklung von Gedanken fallengelassen, die an Winckelmanns Beobachtungen zur Laokoonstatue anknüpfen. In der Endfassung schließlich versucht Lessing gar den Eindruck zu erwecken, als sei die systematische Deduktion der Künste das Resultat seiner Überlegungen, und nicht deren Ausgangspunkt: »Sie [die Aufsätze] sind zufälliger Weise entstanden, und mehr nach der Folge meiner Leetüre, als durch die methodische Entwicklung allgemeiner Grundsätze angewachsen. Es sind also mehr unordentliche Collectanea zu einem Buche, als ein Buch« (L 148). Damit ist das zentrale Interpretationsproblem des Laokoon benannt: was sind die Motive dieser formalen Umgestaltung? Und was ist das Verhältnis zwischen dem systematischen Gehalt auf der einen Seite und seiner Präsentation in Form einer »Geschichte des Gegenstandes« (L 257) auf der anderen? Daß Lessings Bestreben, die Spuren seines Systems zu verwischen, aus der Perspektive der Textgenese eindeutig als Fiktion erkenntlich wird, hilft uns hier kaum weiter; ebensowenig wie die fast apologetisch wirkende Rechtfertigung dieser Umgestaltung: »Wenn mein Raisonnement nicht so bündig ist als das Baumgartensche, so werden doch meine Beyspiele mehr nach der Quelle schmecken« (L 148). Das Provozierende an dergleichen Beteuerungen besteht darin, daß sie im Grunde nichts erklären. Mehr noch, gerade die Transparenz der Fiktion zwingt zu einer grundsätzlichen Reflexion der Formproblematik und scheint sie gleichzeitig unmöglich zu machen. Denn um den Stellenwert des systematischen Gehalts innerhalb eines Textes und sein Verhältnis zur Darstellungsweise exakt bestimmen zu können, muß ich beide Aspekte auf einen Kontext beziehen, der eine zumindest relative Abgeschlossenheit für sich beanspruchen kann. Wie aber lese ich ein »Buch,« das kein Buch sein will und in seiner fragmentarischen Gestalt tatsächlich 35

keines ist? Wie lese ich ein »Buch,« dessen Anfang und Ende von einer prozessualen »Offenheit« des Denkens zeugen, demgegenüber jede Textkonstituierung zwangsläufig inadäquat bleiben muß? Meine Antwort auf dieses Dilemma ist ein Kompromiß, mit dem ich dem Prozeßcharakter des Lessingschen Denkens dadurch gerecht zu werden hoffe, daß ich das veröffentlichte Fragment des Laokoon als einen wenngleich nur relativ begrenzten Kontext betrachte und dieses »Buch« ins Verhältnis setze (i) zu den unterschiedlichen Varianten des »Systems,« (2) zu den Entwürfen zur Fortsetzung des Laokoon und (3) zu Lessings übrigen literaurtheoretischen Schriften, insbesondere den Abhandlungen über die Fabel (1759) und der Hamburgischen Dramaturgie (1767-69). Insofern eine jede dieser Texteinheiten letztlich nur bedingt von den anderen abgrenzbar ist, wird es darum gehen, ihre Grenzen so durchlässig wie möglich zu halten. Wenn ich sie zunächst als relativ geschlossene Kontexte voneinander isoliere, so um jene Ungereimtheiten herauszuarbeiten, die sich aus einer Kontextualisierung des Laokoon unweigerlich ergeben und deren Bedeutsamkeit es im weiteren Verlauf der Untersuchung zu klären gilt. (1) Die Varianten des »Systems«: Der »Urentwurf« zum Laokoon (Ai, L 353-357) skizziert eine streng logische Deduktion der Kunstgattungen, mit der Lessing, ausgehend von der Begründung beider Künste im Prinzip der »Naturnachahmung,« die Unterschiede zwischen Malerei und Poesie in Bezug auf Gegenstand und Darstellungsweise aus der besonderen Natur des jeweiligen Mediums, d.h. ihrer »Zeichen« herzuleiten sucht: Die Mahlerey brauchet Figuren und Farben in dem Räume. Die Dichtkunst artikulirte Töne in der Zeit. Jener Zeichen sind natürlich, dieser ihre sind willkührlich. Und dieses sind die beyden Quellen aus welchen die besondern Regeln für eine jede herzuleiten. Nachahmende Zeichen neben einander können auch nur Gegenstände ausdrücken, die neben einander, oder deren Theile neben einander existiren. Solche Gegenstände heißen Körper. Folglich sind Körper, und ihre sinnlichen Eigenschaften der eigentliche Gegenstand der Mahlerey. Nachahmende Zeichen auf einander können auch nur Gegenstände ausdrükken, die auf einander, oder deren Theile auf einander folgen. Solche Gegenstände heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie. (L 354)

Was genau meint Lessing hier mit dem Ausdruck »nachahmende Zeichen«? Mendelssohn hat in seinem Kommentar zum Entwurf A2 diesen Ausdruck durch den der »natürlichen Zeichen« ersetzt wissen wollen (L

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3 59) u n d nicht zu Unrecht. Denn offensichtlich ergibt der Schluß vom unterschiedlichen Medium beider Künste (Figuren und Farben im Raum/ artikulierte Töne in der Zeit) auf deren je »eigentlichen Gegenstand« nur unter der Voraussetzung einen Sinn, daß das Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikat in Malerei und Dichtung ein »natürliches,« d. h. durch Ähnlichkeit gekennzeichnet ist. Aber wie verträgt sich diese Voraussetzung mit der zweiten Prämisse, derzufolge die Poesie, im Gegensatz zur Malerei, sich »willkührlicher Zeichen« bediene? Mendelssohn legt hier den Finger auf ein Problem, das die logische Konsistenz der Lessingschen Deduktion in empfindlicher Weise bedroht. Denn entweder müßte Lessing mit der dritten Prämisse den Schluß vom Medium auf den Gegenstand und damit die Möglichkeit einer Deduktion der Dichtung in Analogie zur Malerei preisgeben, oder aber er besteht auf der »Natürlichkeit« des poetischen Mediums und riskiert die Uberzeugungskraft seines Arguments. Denn die semiotische Asymmetrie zwischen Bild und Schrift, die Mendelssohn zufolge der Sprache die Darstellung koexistenter Objekte ja durchaus ermöglicht (L ist schwer hinwegzudiskutieren. Und selbst angenommen, man würde Lessing die semiotische Kommensurabilität von Malerei und Dichtung zugeben, so wäre immer noch zu klären, wie sich der Schluß vom temporalen Medium der Poesie auf den Gegenstand der »Handlungen« rechtfertigt. Der von Mendelssohn vorgeschlagene Ausdruck »Bewegungen« (L 359) wäre hier sicherlich der angemessenere, enthält doch der Begriff der »Handlung,« wie Lessing selbst in den Abhandlungen über die Fabel (1759) betont, ein teleologisches Moment, das aus der Temporalität des Mediums allein nicht herzuleiten ist (LM 7:429). Mögen sich alle Handlungen in der Zeit ereignen, so sind damit noch lange nicht alle temporalen Prozesse »überhaupt Handlungen« zu nennen. Noch schärfer tritt diese Diskrepanz zwischen Zeichen und Bezeichnetem im dritten und vierten Syllogismus hervor. Infolge der Einsicht, daß Objekte in der »Natur« immer in Wirkungszusammenhänge eingebettet sind und entsprechend Handlungen immer »gewißen Wesen anhängen« müssen, sieht sich Lessing zunächst veranlaßt, der Malerei die Darstellung von Handlungen und der Poesie von Körpern, wenn auch »nur andeutungsweise« zu gestatten (Ai, L 354). Mit diesem Zugeständnis wird nun aber gleichzeitig eine Erweiterung des zweistelligen Zeichenmodells um eine pragmatische Dimension unumgänglich: es ist die »Einbildungskraft« des Betrachters, die die angedeutete Bewegung aus den »Figuren und Farben« der Malerei auf indirektem Wege ermittelt. Worin 37

genau besteht nun die Rolle der Imagination innerhalb der »Nachahmungsästhetik« des Laokoon? Wo liegen ihre Grenzen? Zugegeben, der Künstler muß der Einbildungskraft durch die Wahl des »prägnantesten« Augenblicks entgegenkommen, indem er den Moment so wählt, daß daraus »das vorhergehende und vergangene am begreiflichsten wird« (Al, L 354). Aber es fragt sich doch, wie die bedeutungskonstituierende Rolle der Imagination sich mit der klassischen Zeichendoktrin verträgt, derzufolge der Sinn des »natürlichen Zeichens« in der Natur der bezeichneten Dinge selbst begründet liege (siehe u. a. Wolff, Ontologia, Werke Abt. 2, 3:689)? Alles, so scheint es, hängt letztlich davon ab, in welchem Sinne Lessing den Begriff der »natürlichen« bzw. den der »nachahmenden Zeichen« verstanden wissen wollte, und gerade darüber gibt uns der »Urentwurf« keine Auskunft. Mit einer brillanten Umformulierung des ersten Syllogismus hat Lessing in der Endfassung sämtliche dieser Komplikationen mit einem Male zum Verschwinden gebracht, indem er die terminologische Unterscheidung zwischen »willkürlichen« und »natürlichen« Zeichen überhaupt nicht mehr verwendet und stattdessen von einem »bequemen Verhältnis« zwischen Zeichen und Bezeichnetem spricht: »wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältniß zum Bezeichneten haben müßen,« heißt es nun, »[s]o können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Theile neben einander existiren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Theile auf einander folgen« (L 250-251). Da die Metapher des »bequemen Verhältnisses,« nicht zuletzt infolge ihrer suggestiven Unbestimmtheit, ein ganzes Spektrum möglicher Zeichenbeziehungen zu umfassen vermag - von strikter Identität bis zur entferntesten Ähnlichkeit - kann Lessing den im vierten Entwurf (A4, L 390-398) durch »Bewegungen« ersetzten Begriff der »Handlung« in der Endfassung wieder in die Ableitung aufnehmen. Das eigentliche Problem der semiotischen Relation in Malerei und Dichtung sowie die Frage nach der Rolle der Imagination sind damit indes bei weitem nicht geklärt. Und so erstaunt es kaum, daß dieser Umformulierung zum Trotz die Mendelssohnschen Einwände in den kritischen Rezensionen Garves und Herders erneut wieder auftauchen. Lessing hat wiederholt darauf bestanden, daß keiner dieser Einwände ihn wirklich treffen und in diesem Zusammenhang auf eine geplante Fortsetzung des Arguments verwiesen, die nie geschrieben wurde. In einem Brief an Nicolai vom 26. Mai 1769 rechtfertigt er die von Garve

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bemängelte »Unbestimmtheit« in seiner Argumentation damit, daß er im Laokoon »nur kaum den Einen Unterschied zwischen der Poesie und Malerey zu betrachten angefangen habe, welcher aus dem Gebrauche ihrer Zeichen entspringt, in so fern die einen in der Zeit, und die andern im Räume existiren« (LM 17:290; Hervorhebungen von mir). Welchen anderen Unterschied kann Lessing hier im Sinne gehabt haben? (2) Die Entwürfe zur Fortsetzung des »Laokoon«: Die Frage, wo Lessing eigentlich »hinaus will« (an Nicolai, 13. April 1769, LM 17:287), ist leicht nicht zu beantworten, sind doch die Entwürfe zur Fortsetzung des Laokoon auf vereinzelte Andeutungen in Lessings Korrespondenz mit den Freunden Nicolai und Mendelssohn sowie auf hingeworfene Gedanken im Nachlaß beschränkt, der neben zahllosen Einzelbeobachtungen zur Kunst Anmerkungen zu Winckelmann tierpsychologische Betrachtungen und zeichentheoretische Reflexionen enthält. Nur einer der Nachlaßentwürfe skizziert einen Plan der Gesamtkonzeption, deren dreiteilige Anordnung Lessing jedoch schon bei der Ausarbeitung des ersten Teils nicht eingehalten hat (Blümner, L ioif.). Von besonderem Interesse für unsere Fragestellung erweisen sich in diesem Zusammenhang die von Blümner unter A4.3 zusammengefaßten Überlegungen nebst der dazugehörigen Materialien (C2). Hier nämlich geht Lessing jenem Problem genauer nach, über das er im ersten Teil mit einer eleganten Formulierung hinwegzugehen scheint: dem Problem der semiotischen Relation in Malerei und Dichtung. Ausgehend von der ursprünglichen Prämisse, derzufolge die Malerei durch »natürliche,« die Poesie hingegen durch »willkürliche« Zeichen nachahme, deutet dieser Entwurf einen Gedankengang an, der die Gültigkeit dieser Prämisse von ihren möglichen Ausnahmen her anficht: (1) . . . Die Zeichen der Mahlerey sind nicht alle natürlich; und die natürlichen Kennzeichen willkührlicher Dinge können nicht so natürlich seyn, als die natürlichen Kennzeichen natürlicher Dinge. Es ist auch sonst viel Convention darunter. Exempel von der Wolke. (2) Sie hören auf, natürliche zu seyn, durch Veränderung der Dimensionen. Nothwendigkeit des Mahlers, sich der Lebensgröße zu bedienen. . . . (A4.3, L

396) Eine menschliche Figur von einer Spanne, von einem Zolle, ist zwar das Bild eines Menschen; aber es ist doch schon gewißermaaßen ein symbolisches Bild: ich bin mir der Zeichen dabey bewußter, als der bezeichneten Sache . . . (C2, L 428)

Während Lessing hier den exklusiven Anspruch der Malerei auf »natür39

liehe Zeichen« mit bisher ungeahnter Radikalität in Frage stellt, versucht er parallel dazu Fälle aufzuweisen, in denen sich die Dichtung tatsächlich natürlicher Zeichen bedient: (3) Die Zeichen der Poesie nicht lediglich willkiihrlich. Ihre Worte als Töne betrachtet, können hörbare Gegenstände

natürlich nachahmen.

Welches

bekannt. Aber ihre Worte als unter sich verschiedner Stellen fähig, können dadurch die verschiedne Reihe der Dinge auf einander und neben einander schildern. . . . (A 4.3, L 396)

In der Endfassung des Laokoon hat Lessing das »natürliche« Bedeutungspotential der Sprache wie Onomatopoesie, Wortstellung und Reim anhand zahlreicher Beispiele, vor allem aus dem Homer, ausführlichst erläutert. Aber ist damit die Ambiguität des »bequemen Verhältnisses« getilgt? Was folgt aus der Möglichkeit einer Umkehrung der semiotischen Relation in Malerei und Dichtung für das gattungstheoretische Projekt einer systematischen Abgrenzung beider Künste? Was folgt daraus für das Prinzip der Naturnachahmung überhaupt und für die Frage schließlich nach der Rolle und dem Status der Einbildungskraft innerhalb der Kunst? Die einzige Stelle, an der sich Lessing zur Frage natürlicher Signifikation in der Dichtung eingehender äußert, ist der bereits zitierte Brief an Nicolai vom 26. Mai 1769. Auf der Grundlage der neugewonnenen Einsicht, derzufolge beide Künste mittels willkürlicher und natürlicher Zeichen »nachahmen« können, unterscheidet Lessing hier zunächst zwischen einer »höheren« und einer »niederen« Kunstgattung in Malerei und Poesie, um daraus den paradoxen Schluß zu ziehen, daß die »höchste« Poesie sich allein im Drama realisiere, »denn in diese[m] hören die Worte auf willkührliche Zeichen zu seyn, und werden natürliche Zeichen willkührlicher Dinge« (LM 17:291). Dies ist nicht der Ort, um auf die konzeptuellen Schwierigkeiten dieses Briefes im einzelnen einzugehen. Denn es ist unschwer zu sehen, daß Lessings zeichentheoretische Spekulationen hier ein Ausmaß an terminologischer Komplexität erreicht haben, das es kaum noch ermöglicht, sie als »Antwort« auf die theoretischen Komplikationen der »Urfassung« unmittelbar zu beziehen. Bemerkenswert und irritierend zugleich ist indes nicht allein der Inhalt dieses Briefes, sondern der Zeitpunkt seiner Abfassung im Mai 1769. Denn offensichtlich müssen wir daraus schließen, daß Lessing sich noch mit dem Plan einer Fortsetzung des Laokoon getragen hat, nachdem sein folgendes Projekt, die Hamburgische Dramaturgie, zu Ostern 1769 bereits vollständig erschienen war. Steht der Brief an Nicolai in irgendeinem Zusammenhang mit der Dramenkonzeption der Hamburgischen 40

Dramaturgie? Vermag uns dieser Text möglicherweise Aufschluß zu geben über die semiotische Kategorisierung des Dramas als »höchster« poetischer Kunstgattung und damit auch über die geplante Fortsetzung des Laokoonf (3) »Laokoon* im Kontext der »Hamburgischen Dramaturgie«: Bereits ein flüchtiger Blick auf die Hamburgische Dramaturgie genügt, um festzustellen, daß Lessing hier neues theoretisches Terrain betreten hat. Die semiotischen Schlüsselbegriffe des Laokoon - »Nachahmung der Natur,« »natürliches Zeichen,« »poetisches Gemähide« - fehlen völlig oder sind ganz in den Hintergrund getreten. Die zentrale Frage des Laokoon, wie die Poesie ihrer willkürlichen Zeichen zum Trotz nachahmen könne, taucht nicht einmal am Rande mehr auf. Stattdessen reflektiert Lessing das Verhältnis von »Genie« und »Gesetz,« »historischer Wahrheit« und »poetischer Wahrscheinlichkeit,« um eine Dramaturgie des Mitleids zu entwickeln, die Sophokles und Shakespeare gleichermaßen gerecht zu werden vermag. Eine noch »unordentlichere« Sammlung von Aufsätzen als der Laokoon, macht dieser laufende Kommentar zur aktuellen Theaterproduktion nicht einmal mehr den Versuch einer Systematisierung seines Arguments. Stattdessen wird der Leser mit einer Fülle von Einzelbeobachtungen überschwemmt, hinter denen ein kontinuierlicher Gedankengang kaum oder nur mit Mühe zu erkennen ist. Wie weit sich Lessing aber hier bereits von dem gedanklichen Umkreis des Laokoon in Richtung auf eine »romantische« Dichtungskonzeption entfernt hat, davon zeugt eine Passage, die den Prozeß poetischer Welterschließung in einem geradezu Herderschen Idiom beschreibt: In der Natur ist alles mit allem verbunden; alles durchkreutzt sich, alles wechselt mit allem, alles verändert sich eines in das andere. Aber nach dieser unendlichen Mannichfaltigkeit ist sie nur ein Schauspiel für einen unendlichen Geist. U m endliche Geister an dem Genüsse desselben Antheil nehmen zu lassen, mußten diese das Vermögen erhalten, ihr Schranken zu geben, die sie nicht hat; das Vermögen abzusondern, und ihre Aufmerksamkeit nach Gutdünken lenken zu können. Dieses Vermögen üben wir in allen Augenblicken des Lebens; ohne dasselbe würde es für uns gar kein Leben geben; wir würden vor allzu verschiedenen Empfindungen nichts empfinden; wir würden ein beständiger Raub des gegenwärtigen Eindruckes seyn; wir würden träumen, ohne zu wissen, was wir träumten. ( L M 10:82)

Die Erwartung, die durch den Laokoon aufgeworfenen Interpretationsprobleme von seiten der Hamburgischen Dramaturgie her direkt zu 41

erhellen, sieht sich also zunächst getäuscht. Eine »Übersetzung« des Dichtungsbegriffs des Laokoon in das Vokabular der Dramaturgie, oder der neuen Dramenkonzeption in die zeichentheoretische Terminologie des Briefes an Nicolai, scheint ohne weiteres nicht möglich. Dennoch oder vielleicht gerade deswegen - bleibt das Rätsel ihrer Gleichzeitigkeit bestehen. Die folgenden Kapitel versuchen sich diesem Rätsel zu nähern, indem sie zwei weitere Kontexte in die Interpretation des Laokoon einbeziehen, von denen einer durch die Auseinandersetzung Herders mit diesem Text, der andere durch Lessings Verhältnis zur semiotischen Ästhetik der Aufklärung konstituiert wird. Wenn ich diese Aspekte nicht, wie dies durchaus möglich wäre, streng getrennt behandle, so um eine schematische Gegenüberstellung zu vermeiden und stattdessen dem dialogischen Zug dieser Auseinandersetzungen auch durch die Form meiner Darstellung gerecht zu werden.

2. Herders Rhetorik der Geste Unmittelbar nach dem Erscheinen des Laokoon im September 1766 schreibt Herder an Scheffner, er habe das Werk an einem Stück »recht heisshungrig« und »3. mal nacheinander durchgelesen« (an J. G. Scheffner, Sept./Okt. 1766, H B R 1:6z). Aus diesem Brief spricht jene spontane Begeisterung, mit der - wie Goethe im achten Buch von Dichtung und Wahrheit berichtet - die junge Dichtergeneration den Laokoon begrüßt hatte. Als Herder sich zwei Jahre später endlich zu einer offiziellen Stellungnahme entschließt, ist die ursprüngliche Begeisterung bereits einem wesentlich reservierteren Urteil gewichen. Zwar wird er nicht müde, den Laokoon als ein »Muster von praktischem Scharfsinne« zu loben (SW 3:105), doch ist die zweifelnde Distanz hinter diesem Lob kaum zu überhören. »Ich läugne Hrn. L. viel, und in seinem Grunde Alles,« verkündet er im ersten Kritischen Wäldchen, »aber darum läugne ich nicht alle Sachen, die nur Er auf diesen Grund bauet« (SW 3:144); und in einem Ton, der in der Beschwörung grundsätzlicher Solidarität bereits das unvermeidliche Mißverständnis zu antizipieren scheint, fügt er nur wenig später hinzu: »Ich wollte um alles nicht, Hrn. L. einen falschen Sinn angedichtet zu haben: in der Sache selbst mit ihm eins, machen mich nur in dem Grunde der Sache seine Schlüsse und Verbindungen verlegen. Dünkt jemand dieser Unterschied unbeträchtlich - so liegt mir nichts daran; andern wird er beträchtlich scheinen« (SW 3:149). 42

Wozu dieser eigenartige Vorbehalt? Will Herder allen Ernstes behaupten, man könne auf der Grundlage irrtümlicher Voraussetzungen und eines fehlgeleiteten Raisonnements zu gültigen, um nicht zu sagen wahren Schlußfolgerungen gelangen, man könne recht haben aus verkehrten Gründen? Ohne sich sonderlich um die eigenartige Formulierung solcher Äußerungen zu kümmern, hat man gewöhnlich versucht, sie als taktische Maßnahmen aus dem polemischen Kontext der Fehde zwischen Lessing und Klotz heraus zu erklären. Hatte Klotz das Erscheinen des Laokoon als willkommenes Anzeichen für die Desintegration der mit Nicolais Allgemeiner Deutscher Bibliothek assoziierten Autoren begrüßt und gegen Winckelmann auszuspielen versucht, so sei es, behaupten Haym (i:2joff.) und Clark (Herder 78ff.), Herder darum gegangen, Winckelmann gegen Lessings Angriffe zu verteidigen, sich aber gleichzeitig dessen Solidarität gegen Klotz zu versichern. Damit ist zweifellos ein Aspekt der Kritischen Wälder benannt. Der in seiner Nutzlosigkeit verzweifelt anmutende Versuch, die Anonymität seiner Autorschaft zu wahren, das Bestreben, alles aus seiner Schrift zu verbannen, »was einen Lessing beleidigen wollte« (An Lessing, Januar 1769; HBR 1:13ο),10 und schließlich die lutherische Pose des »ich kann nicht anders,« mit der Herder gegen Ende der Auseinandersetzung sein Werk als ein »Opfer» der Anerkennung präsentiert (SW 3:186) - all diese Details verweisen in der Tat auf den Kontext der Klotzkontroverse und sind von den Zeitgenossen bereits in diesem Sinne verstanden worden (Nicolai an Lessing, 18.10.1768, LM 19:277^). Überdies ist kaum wahrscheinlich, daß Lessing, der seinerseits aus seiner Enttäuschung über das niedrige Niveau der Rezensionen seines Werkes keinen Hehl gemacht hatte (An Nicolai, 13. April 1769; LM 17:287), Herders unmißverständliche Seitenhiebe gegen eine durch machtpolitische Motive korrumpierte Kritik entgangen sein sollten. 11 Die Beharrlichkeit, mit der Herder auf dem prinzipiellen Einverständnis mit seinem Kontrahenten insistiert, verleiht jedoch der Form dieser Beteuerung ein Gewicht, das es unmöglich macht, sie als unverfängliche rhetorische Beschwichtigungsformel abzutun. Wenn Herder lediglich behaupten wollte, daß er als Mitglied der gleichen Sprachgemeinschaft so viel an gemeinsamen Voraussetzungen mit Lessing teilt, daß damit ein 10 Siehe dazu Herders Beteuerung am Ende des Ersten Wäldchens: »Uebrigens sey jedes Wort, und jede Wendung verbannet, die wider Hrn. L. geschrieben schiene« (SW 3:186). 1 1 Vgl. Herders polemische Bezugnahme auf Klotz' Acta Litteraria im Eingangskapitel des Ersten Wäldchens (SW 3:7f.).

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gewisses Einverständnis auf der sogenannten Beobachtungsebene (bezüglich der »Sachen« im Sinne von »Tatsachen«) zwangsläufig gegeben ist, so wäre eine solche Feststellung zwar in einem trivialen Sinne richtig, aber eben deswegen auch keiner besonderen Hervorhebung wert. Ob Laokoon tatsächlich den Schmerz unterdrückt oder nicht, kann daher keine Frage sein. Was zählt sind die jeweiligen explanativen Kontexte, in denen dergleichen »Fakten« überhaupt erst bedeutsam werden. Aus der Identifizierbarkeit einzelner gemeinsamer Beobachtungen läßt sich aber nicht schließen, daß diese vor und jenseits aller interpretativen Zusammenhänge existieren. Und wenn Herders Verteidigungspose gegenüber Winckelmann oder seine Vorliebe für perspektivische Metaphern die Existenz solcher kontextneutralen »Tat-Sachen« suggerieren mögen, so wird doch gerade diese Vorstellung im Verlauf der weiteren Argumentation in einer Weise problematisiert, die sie als Referenzpunkt des Einverständnisses ausschließt. Die solidarische Geste, so scheint es zunächst, trifft ins Leere; und es ist überhaupt fraglich, ob sich Herders argumentative Strategie im Rekurs auf die Entstehungsbedingungen der Kritischen Wälder ausreichend motivieren läßt, ob sie sich überhaupt dadurch motivieren läßt. Man betrachte zum Beispiel das Verhältnis der Exposition zum Ganzen des Ersten Wäldchens: auf die Versuche seitens der Klotzianer, Lessing »auf Winckelmanns Kosten« (SW 3:7) zu loben, antwortet Herder zunächst mit einer Klärung der Fronten, indem er die Differenzen zwischen Winckelmann und Lessing in Bezug auf »Schreibart,« Gegenstand und Methode bis zur Unvergleichlichkeit betont. Spricht aus Lessing »der Critikus: der Kunstrichter des Poetischen Geschmacks: der Dichter« (SW 3:9), so aus Winckelmann der vom griechischen Schönheitsideal inspirierte »Künstler« (SW 3:10); intendiert jener eine praktische Abgrenzung zweier Künste, so dieser eine »Historische Metaphysik des Schönen« (SW 3:10). Und wo Winckelmann ein architektonisch durchstrukturiertes »Lehrgebäude« liefert, selbstgenügsam in sich ruhend gleich einem »Kunstwerk der Alten« (SW 3:11), präsentiert Lessing mit seinem losen »Zusammenschuß [sie] von Collektaneen« (SW 3:7) einen »unterhaltende[n] Dialog für unsern Geist« (SW 3:12). Es ist kaum einzusehen, wie Herder unmittelbar daran anschließend zu einer »Apologie Winckelmanns gegenüber den Angriffen Lessings« (Blümner, L 134) übergehen kann, 12 ohne dem gegen Klotz gerichteten Argument jegliche kritische 12 Vgl. auch Haym (1:252, 254).

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Spitze zu nehmen. Und ebenso muß Herders Lob von Lessings »praktischem Scharfsinne« ohne sonderliches Gewicht bleiben, wenn er ihm seinerseits mit einer Metaphysik poetischer Kreativität antwortet, die mit einer reductio ad absurdum der Lessingschen Position gerade jenen praktischen Gewinn aufs Spiel setzt, um dessentwillen sich Lessing der philosophischen Spekulation zu enthalten vorgibt. Während nämlich Herders Interesse sich auf nichts Geringeres als das »Wesen« der Dichtung selbst richtet, geht es Lessing in erster Linie um die Korrektur einer falschen Kunstpraxis: der »Schilderungssucht« in der Poesie und der »Allegoristerey« in der bildenden Kunst (L 147). Diesem »falschen Geschmacke« entgegenzuwirken bezeichnet er als die »vornehmste Absicht« seines Werkes (L 148). Und wenngleich Lessing andern Ortes den unmittelbar praktischen Nutzen der Kritik radikal in Zweifel zieht13 und, wie wir noch sehen werden, sein Interesse am Gegenstand kaum weniger spekulativ ist als das Herdersche, so liefert der Laokoon dennoch vergleichsweise konkrete, für die literaturkritische Praxis brauchbare und vor allem kommunizierbare Urteilskriterien, wohingegen Herders spekulativer Begriff der »Kraft« derlei kritische Entscheidungen an die Instanz einer irrationalen, weil weder explizierbaren noch mit Bezug auf intersubjektiv gültige Prinzipien legitimierbaren Intuition delegiert. Man sollte annehmen, daß Herder angesichts der polemischen Zuspitzung der Laokoonkontroverse eigentlich darauf bedacht sein müßte, die Differenzen zwischen sich und Lessing so weit wie möglich herunterzuspielen. Stattdessen hat man den Eindruck, als suche er geradezu nach Anlässen zum Widerspruch. Häufig schiebt er seinem Gegner Positionen unter, die dieser strenggenommen gar nicht vertritt; so etwa, wenn er behauptet, Lessing mache den körperlichen Schmerz zur »Hauptidee« 13 Im 52. der Antiquarischen Briefe schränkt Lessing den impliziten Leser des Laokoon auf jene »höchst seltenen Grübler« ein, die willens seien, ihre »Kenntnisse« und ihren »Scharfsinn« auf Materien anzuwenden, wie Lessing sie im Laokoon abhandelt. »Aber Tausend gegen Eines, daß sich unter diesen kein Dichter, kein Mahler finden wird. Es hat daher nie meine Absicht seyn können, unmittelbar für den Dichter, oder für den Mahler zu schreiben. Ich schreibe über sie, nicht für sie. Sie können mich, ich aber nicht sie entbehren. Um mich in einem Gleichnisse auszudrücken: ich wickle das Gespinste der Seidenwürmer ab, nicht um die Seidenwürmer spinnen zu lehren, sondern aus der Seide, für mich und meines gleichen, Beutel zu machen; Beutel, um das Gleichniß fortzusetzen, in welchen ich die kleine Münze einzelner Empfindungen so lange sammele, bis ich sie in gute wichtige Goldstücke allgemeiner Anmerkungen umsetzen, und diese zu dem Kapitale selbstgedachter Wahrheiten schlagen kann« (LM 10:420). Vgl. dazu auch den Entwurf zum Laokoon A2.1 (L 358).

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von Sophokles' Philoktet (SW 3:51). Dann wiederum attackiert er ihn mit Argumenten, deren Tragweite zunächst bei weitem nicht ersichtlich ist, so daß es schwerfällt, die Relevanz dieser Divergenzen im Detail zu erkennen. Inwiefern ist es von Belang, ob Timanthes bei seiner bildlichen Darstellung der Opferung der Iphigenie den Agamemnon im Interesse der Schönheit verhüllt oder, wie Herder behauptet, um die Würde des Königs zu retten (SW 3:62)? Was hängt letztlich davon ab, ob Homer den Priamus seinen Trojanern das Weinen verbieten läßt, weil er diese als Barbaren charakterisieren wollte, die um der Tapferkeit willen »alle Menschlichkeit vorher ersticken« (L 153) mußten, oder weil Priamus befürchten muß, die Verzweiflung könne seine Helden kampfunfähig machen (SW 3:23)? Was schließlich die prinzipielle Kritik an Lessings systematischen Voraussetzungen betrifft, so entsteht vollends der Eindruck, als renne Herder offene Türen ein. Hatte er in spontaner Reaktion auf seine Lektüre des Laokoon »es sehr billig, genau u. fruchtbar« gefunden, »dass das Neben einander für den Maler, u. das Auf einander für den Dichter« das Wesentliche sei (an J. G. Scheffner, Sept./Oct. 1766, HBR 1:63), so hält er drei Jahre später Lessings systematischer Klassifizierung der Künste entgegen, daß die Willkür der linguistischen Zeichenbeziehung eine Beschränkung der Dichtung auf die Darstellung sukzessiver Gegenstände keineswegs rechtfertige; ein bereits von Mendelssohn gegen Lessing ins Feld geführtes und von jenem durchaus ernstgenommenes Argument.14 Darüberhinaus wendet Herder ebenfalls Mendelssohn folgend ein, daß sich der teleologisch determinierte Begriff der Handlung, wie Lessing ihn in seinen Abhandlungen über die Fabel (1759) entwickelt hatte, aus der rein formalen Kategorie der Sukzession in keiner Weise ableiten lasse, wohingegen der angemessenere Begriff der »Bewegung« wiederum dem energischen Wesen der Poesie nicht gerecht werde. Lessing war diese Schwierigkeit keineswegs entgangen, hat er doch - was Herder natürlich nicht wissen konnte - gerade diesen Punkt im Verlaufe seiner Auseinandersetzung mit Mendelssohn mehrmals revidiert. Die Signifikanz dieser Revisionen werden uns noch beschäftigen. An dieser Stelle sei nur soviel dazu gesagt, daß Lessing mit der schließlich gegen

14 SW 3:13 5 f. und die entsprechende Kritik Mendelssohns an einem der ersten Entwürfe zum Laokoon (Fragment A2.3, Anm. 1 - 3 , [L 359]). Lessings ausdrückliche Berücksichtigung dieses Einwandes im XVII. Kapitel der Endfassung (L 2j8) wird von Herder stillschweigend übergangen. 46

Mendelssohns Einwände durchgesetzten Rückkehr zum Begriff der Handlung ganz offensichtlich die systematische Konsistenz seines Arguments zugunsten eines Dichtungsbegriffs opfert, der demjenigen Herders zum Verwechseln nahe kommt. Nicht geringere interpretatorische Schwierigkeiten bereitet Herders Kritik an Lessings Konzeption des »fruchtbarsten Moments,« mit der dieser durch die normative Ausschließung sowohl des transitorischen als auch des höchsten Affekts aus der bildenden Kunst die Versöhnung der lebendigen Dynamik menschlicher Schönheit mit der Statik des plastischen Materials erklären und garantieren zu können glaubt. Herder hält dem entgegen, daß derlei Restriktionen in ihrer Konsequenz das Mimesispostulat ad absurdum führen müssen, um dann Lessings »einzigem Augenblick« einen »ewigen Anblick« (SW 3:81) entgegenzusetzen, der, wie Haym treffend bemerkt, »zuletzt doch nur eine Metapher [ist], und der Kern dieser Metapher eine Tautologie für die Forderung der Schönheit, über deren reale Bedingungen wir lediglich nichts erfahren« (1:261). Daß Lessing sich über die Vorläufigkeit und Begrenztheit der eigenen Bemühungen wie kaum ein anderer im Klaren war, zeigt seine vorsichtig relativierende Unterordnung jeglicher Theoriebildung unter die konstitutive Aktivität des »Genies« (L 170) - eine systematische Notwendigkeit für eine Theorie, die sich selbst als nachträgliche Abstraktion aus einer bestehenden Kunstpraxis präsentiert.15 Doch selbst noch in diesem Punkt sieht sich Herder - im Gegensatz übrigens zu allem, was er anderen Ortes zum Genie zu sagen hat - zum Widerspruch genötigt: »>Wie manches, sagt Hr. Leßing, würde in der Theorie unwidersprechlich scheinen, wenn es dem Genie nicht gelungen wäre, das Widerspiel durch die That zu erweisen.< Ich glaube schwerlich. Was in der Theorie wahrhaftig unwidersprechlich ist, und nicht blos so scheint, wird nie von einem Genie widerlegt werden, zumal wenn die Theorie in unsern unerkünstelten Empfindungen läge« (SW 3:48). Nur wenige Kapitel später rekurriert Herder selbst auf die konstitutive Kraft des »Genies,« um diese gegen Lessings Behauptung von der »fortschreitenden Manier« der Dichtung zu mobilisieren: »Der Kunstrichter soll hier ein furchtsames Vielleicht sagen;

15 Die gleiche Geste findet sich in der Vorrede zur Fabelabhandlung von 1759 (LM 7:416) und in der Hamburgischen Dramaturgie (1769), wo der periodische Rekurs aufs Genie geradezu zum Strukturmoment der theoretischen Reflexion wird. Zur Dialektik von »Genie« und »Gesetz« bzw. »Kritik« vgl. insb. die Stücke 7, Ii, 26, 34, 48, 79, 100-104.

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das Genie entscheidet mit der starken Stimme des Beispiels« (SW 3 : 1 5 4 ) . 1 6 In beiden Fällen ist der Widerspruch jedoch nur ein scheinbarer, insofern Herder Lessing einmal vom Standpunkt einer Theorie a priori, das andere Mal von dem einer Theorie a posteriori aus angreift. Irritierend ist nicht der Einwand als solcher, sondern die Tatsache, daß Herder ihn im vollen Bewußtsein dieses Unterschiedes für notwendig hält. Liegt hier ein Mißverständnis vor oder gar, wie Blümner meint, ein absichtliches ( L 5*5)? Der Vorwurf mangelnder Verständnisbereitschaft ist so leicht nicht abzufertigen. 17 Z u denken geben sollte indes nicht nur Herders wiederholte Beteuerung grundsätzlicher Einigkeit mit Lessing, sondern mehr noch Lessings eigene Reaktion auf das Erscheinen des Ersten

Wäldchens:

während sein Bruder Karl in Ubereinstimmung mit dem allgemeinen Tenor der Kritik der Meinung war, Herder sei weder »in den Geist« des Laokoon

eingedrungen, noch habe er verstanden, worauf Lessing hinaus-

gewollt habe (an Lessing, 9 . 3 . 1 7 6 9 , L M 19:299), und selbst Hamann fand, er habe »ziemlich neben Lessing geschrieben,« 18 läßt Lessing unmißverständlich durchblicken, daß er selbst mit Herders Kritik »sehr

16 Zu Herders Genieverständnis siehe u. a. die Fragmente über die neuere Deutsche Litteratur (1767), 1. Sammlung, Kap. 15 (SW 1 : 2 0 7 - 2 1 1 ) sowie die entsprechenden Ausführungen im Vierten Wäldchen (SW 4:22-24) und das fünfte Kapitel der Kalligone (1800) »Von Kunstrichterei, Geschmack und Genie« (SW 22:192-224); darin insb. 202ff. 17 »Aber diese Herder'sche Kritik ist eines der prägnantesten Beispiele für die oft so sophistische Art, in welcher Herder Lessings Worte verdreht, ja man könnte manchmal meinen, absichtlich mißversteht« (Blümner, L 525). Blümners nicht nur von seiner Voreingenommenheit als Lessingkommentator her verständliche Irritation stellt jedoch eher die Ausnahme dar. Die wenigen Arbeiten, die sich ausführlicher mit Herders Erstem Wäldchen auseinandersetzen, sind durchweg älteren Datums und daher vorwiegend geistesgeschichtlich orientiert. Formale und stilistische Eigenarten werden, wenn sie überhaupt in den Blick geraten, auf eine Angelegenheit persönlichen Temperaments reduziert. Henry z . B . kommentiert Herders Einwand gegen Lessings Theorieverständnis folgendermaßen: »Wieder redet der junge Herder, der nicht jenes strenge logische Vermögen Lessings besitzt, an diesem vorbei, weil er sich unter der drängenden Fülle eigener Gedanken gar nicht die Mühe nimmt, Lessing genau zu verstehen« (62). Das gleiche Verfahren findet sich bei Haym (1:285-288), May (i8ff.), und Schütze (1:65-69). Clark (Herder 79) und Fugate ( 1 2 1 ) konstatieren eine gewisse Ironie in Herders Haltung gegenüber Lessing, ohne jedoch deren Implikationen weiter nachzugehen. 18 Hamann in seiner Rezension der Kritischen Wälder in der Königsberger Zeitung vom 6.Feb. 1769: »Das erste Wäldchen scheint überhaupt für Winckelmann, und wo nicht über, doch wenigstens ziemlich neben Lessing geschrieben zu sein« (zit. n. Blümner, L 134, Anm. 3). 48

wohl zufrieden« war: »Noch hat sich keiner, auch nicht einmal Herder, träumen lassen, wo ich hinaus will,« schreibt er im April 1769 an Nicolai, »[a]ber Herder will ja die kritischen Wälder nicht geschrieben haben! . . . Der Verfasser sey indeß, wer er wolle: so ist er doch der einzige, um den es mir der Mühe lohnt, mit meinem Krame ganz an den Tag zu kommen« ( L M 17:287). Angesichts eines derartigen Versteckspiels fragt man sich: auf welcher Ebene wird hier eigentlich kommuniziert? Möglicherweise ist diese Frage falsch gestellt, vielleicht auch nur zu früh. So wie sie dasteht ist nicht einmal klar, wie eine Antwort, in welchem Sinne auch immer, aussehen könnte. Die Beteuerungen gegenseitigen Einverständnisses beweisen per se nichts. Denn selbst angenommen, man akzeptiert eine bestimmte interpretative Konjektur als Evidenz für eine gewisse Intention, so ist damit noch längst nicht garantiert, daß diese tatsächlich in der verbalen Realisierung aufginge, sagt doch die dialogische Geste allein nichts darüber aus, was sich defacto innerhalb des kommunikativen Prozesses abspielt. Aber darum geht es auch gar nicht. Die Frage nach der Kommunikationsebene zielt zunächst lediglich auf die Determination der Konvention, der dieser Dialog folgt, wenn es einer ist, oder besser, die er etabliert, und seine Abgrenzung zum monologischen Sprechen des Systematikers oder dem Pseudodialog der Polemik. Im folgenden wird es zunächst darum gehen, den Begriff des Dialogischen und in diesem Zusammenhang den gattungstheoretischen Status der Herderschen Kritik zu präzisieren, um von da aus die Frage zu stellen, ob sich in Lessings Diskurs ähnliche Kompositionsprinzipien nachweisen lassen, die als Evidenzen dafür dienen können, daß hier tatsächlich im Rahmen einer gemeinsamen

Konvention kommuniziert wird.

3. Zur dialogischen Struktur der Herderschen Kritik Die Widersprüchlichkeit von Herders Argumentationsstil, die eine Fixierung seiner theoretischen Position ungemein erschwert, ist immer wieder als charakteristisches Merkmal insbesondere seiner kritischen Frühschriften vermerkt worden, nicht zuletzt deshalb, weil man diese fast ausnahmslos an den diskursiven Erwartungen eines Denkens gemessen hat, das Eindeutigkeit der Begriffe, Widerspruchsfreiheit und stringente Entwicklung des Gedankens als ungeschriebenes Gesetz rationaler Argumentation voraussetzt. Die konventionelle bzw. gattungsspezifische Gebundenheit dieser von der Aufklärung als universale Grundlage der autono49

men Methodenvernunft proklamierten Prinzipien bleiben dabei unreflektiert. Und so gerät unversehens zum Mangel, was als bewußte Alternative zum Methodenideal der Aufklärung intendiert ist.19 Diese Behauptung bedarf der Erklärung, geht es mir doch keineswegs um die Wiederbelebung des gängigen Topos vom »Uberwinder der Aufklärung.« Denn wenngleich der Verstoß etwa gegen den Satz des Widerspruchs im Namen einer alternativen Rationalität ein deutliches Bewußtsein von der historischen Kontingenz sogenannter Vernunftprinzipien indiziert, so betrifft doch das darin sich artikulierende Unbehagen nicht die Autorität verbindlicher Normen als solche. Der Protest richtet sich vielmehr gegen die Kanonisierung eines bestimmten

Methodenideals, das Herder und, wie

noch zu zeigen sein wird, Lessing deshalb so radikal in Frage stellen, weil sie es seiner sprach- und erkenntnistheoretischen Implikationen wegen als Grundlage kultureller Selbstverständigung für untauglich halten. Das Ideal der Widerspruchsfreiheit ζ. B. steht und fällt mit der Vorstellung einer subjektunabhängigen Welt selbstidentischer Objekte, deren immanente Rationalität dem Denken zur Erforschung aufgegeben ist. Wahrheit stellt sich dann ein, wenn dieses Ziel erreicht ist. Als eine Relation zwischen einem einsamen Cartesianischen Subjekt und einer ihm fremd gegenüberstehenden Außenwelt ist solche Wahrheit ihrem Wesen nach monologisch. Sie artikuliert sich idealiter im neutralen Medium einer Sprache, die jedes Element der Welt korrekt bezeichnet und in einen geordneten Zusammenhang bringt, um sich am Ende diesem gegenüber selbst auszulöschen.20 Das gleiche gilt mutatis mutandis

auch für die

Polemik, zumindest in ihrer klassischen Form. Norbert Feinäugle über19 So u.a. bei Meinecke (38of.), Wellek ( i : i 8 2 f . ) , Staiger ( 1 2 1 - 1 2 8 ) , Schütze (1:67), um nur einige Beispiele zu nennen. Generell ist anzumerken, daß die traditionell dominierende geistesgeschichtliche oder biographische Orientierung der Forschung mit ihrem Interesse an »gedanklichen Gehalten« einem Verständnis Herders bisher im Wege gestanden hat. Eine Tendenzwende zeichnet sich seit Anfang der siebziger Jahre ab, indem jüngere Arbeiten wie die von Blackall, Schick, Kathan, Heizmann und Morton das von Herder präsentierte Formproblem zumindest als Problem ernstzunehmen beginnen. Als eine erfreuliche Erscheinung und symptomatisch für den Trend, Herders Texte als poetische zu lesen, in denen der diskursive Gehalt nur ein Moment innerhalb einer komplexen rhetorischen Struktur darstellt, kann der jüngst von Koepke und Knoll herausgegebene Band kritischer Essays gelten. 20 Eine hervorragende kritische Darstellung der rationalistischen Sprach- und Erkenntnistheorie bietet David Wellbery am Beispiel Christian Wolffs. Vgl. dazu auch Wessell (»Aesthetics 1«) und Cassirer. Zum »monologischen« Charakter des Cartesianischen Erkenntnismodells siehe u.a. Bernstein ( 1 1 6 ) , Apel (1:305) und Bakhtin (269).



sieht dies, wenn er den »dialogischen Charakter« der Lessingschen Streitschriften auf eine »polemische Grundform« reduziert, die von der Tradition der gelehrten Disputation her zu begreifen sei (147). Aus dem gleichen Grunde halte ich den Gattungsbegriff der Polemik, wie ihn u. a. Haym (1:287) und Fugate (120) zur Charakterisierung von Herders kritischen Frühschriften verwenden, für unangemessen. Denn als »Vortrag einer Wahrheit, da dieselbe wider ihre Feinde gerettet wird,«21 folgt die Polemik der monologischen Logik des diskursiven Denkens, statt sie nach außen hin zu öffnen. Die kompositionelle Form des Dialogs - extensives Zitieren der gegnerischen Position mit anschließender Widerlegung - ist reines Ornament, in Lessings prägnanter Formulierung »ein Dialog und kein Dialog« (LM 13:128), insofern die Antithetik ihrer rhetorischen Struktur die Qualität der »Wahrheit« im Grunde nicht affiziert. Der Leser wird damit überflüssig. Seine kritische Funktion als neutrale Instanz erlischt, sobald die Wahrheit in der Position des Siegers fixiert ist. Lessing hat diese Art der Auseinandersetzung im berühmten »Kanzeldialog« seiner Axiomata in vernichtender Weise karrikiert: »Nehmlich; ich unterbreche den Hrn. Pastor: aber der Hr. Pastor hält sich nicht für unterbrochen. Er redet fort, ohne sich zu bekümmern, ob unsere Worte zusammen klappen, oder nicht. Er ist aufgezogen, und muß ablaufen« (LM 13:128). Doch selbst wenn sie sich weniger extrem gebärdet, bleibt die Polemik ein tendenziell monologischer, geschlossener Diskurs. Wenn ich demgegenüber den Dialog von der Polemik absetzen möchte, so nicht als formalästhetischen Gattungsbegriff, sondern als ein »dialogisches Grundprinzip seiner [Lessings] ursprünglichen Wort- und Spracherfahrung« (Schröder 21). Dieser Unterschied ist beträchtlich, insofern er den literaturkritischen Diskurs Lessings und Herders von seinen impliziten sprachtheoretischen und hermeneutischen Voraussetzungen her zu begreifen erlaubt, ohne dessen dialogische Qualität auf die kompositioneile Form des literarischen Dialogs zu verengen oder von dem letztlich kontingenten Faktor seiner Aktualisierung in einer tatsächlichen Dialogsituation abhängig zu machen. Anders gesagt: wenn Schröder recht hätte, müßte sich ein dialogisches Moment im Laokoon nachweisen lassen selbst dann, wenn die Kritischen Wälder nie geschrieben worden wären, und zwar in Form eines Kompositionsprinzips, das diese Kritik als sein esoterisches Implikat enthält und damit den Akt der Rezeption in seiner verbalen Struktur antizipiert. I i Zedlers Universal-Lexikon,

siehe unter »Methode,« zit. n. Feinäugle (128).

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M. M. Bakhtin hat in einem brillianten Essay über den »Diskurs im Roman« dieses Phänomen als »internen Dialogismus« (280) beschrieben, den er seinerseits als Ausdruck eines »kopernikanischen Sprachbewußtseins« deutet. Dieses dezentriert den philosophischen Traum einer geschlossenen homogenen Sprache und mit ihm den eines durch seine Beziehung zum Objekt eindeutig fixierten Bedeutungsgehalts, indem es den Sinn an eine Sprache mit offenen Rändern zurückverweist, die den systematisierenden Tendenzen szientistischer Ordnungsbestrebungen zum Trotz sich als Schauplatz heterogener Subsysteme behauptet. Die Übervölkerung der Sprache mit fremden Intentionen (294) unterwirft sie Bedeutungseffekten, die sie der Kontrolle einer autonomen Subjektivität entreißt und diese ihrerseits an die Eigendynamik der Sprache ausliefert: »The word, directed toward its object, enters a dialogically agitated and tension-filled einvironment of alien words, value judgments and accents, weaves in and out of complex interrelationships, merges with some, recoils from others, intersects yet with a third group: and all this may crucially shape discourse, may leave a trace in all its semantic layers, may complicate its expression and influence its entire stylistic profile« (Bakhtin 276). Als historisches Argument wirft Bakhtins Theorie des Romans ein Licht auf die Schwächen jener strukturalistischen Geschichtskonstruktionen, die in der Nachfolge Foucaults die Vielfalt heterogener Diskurse einer Epoche ins Prokrustesbett einer homogenen »Episteme« oder eines »Paradigmas« haben zwängen wollen. In ihrer normativen Beschränkung auf sogenannte »seriöse Sprechakte« (Philosophie, Wissenschaft) machen sie sich unfreiwillig zum Anwalt jener Tendenzen, die Bakhtin zufolge lediglich eine Seite einer irreduziblen Polarität »zentripetaler« und »zentrifugaler« Tendenzen im Leben einer Sprache ausmachen (270, 274). Damit entgeht dem archäologischen Blick die Spezifität all jener Diskurse, die an den Rändern der »Epistemen« deren ständige Subversion betreiben. In nuce enthält Bakhtins Hermeneutik des Romans eine ganze Gattungstheorie, deren Implikationen für eine Theorie der Literaturkritik ich im folgenden kurz andeuten möchte. Wie der Roman kann die Entstehung der Literaturkritik als Reaktion auf ein Sprachbewußtsein gelesen werden, dem die Worte als Schnittpunkte miteinander konkurrierender Sprach-Welten zitierbar geworden sind - ein Bewußtsein, das in der »parodistischen Stilisierung« solcher Sprachwelten seinen deutlichsten Ausdruck findet. Doch während der Roman sich dieses Kompositionsprinzips zu darstellerischen Zwecken bedient (um das polyphone »Bild

einer Sprache« zu zeichnen), unterstellt es die Literaturkritik einer kritischen Absicht. Charakteristisch für beide Gattungen ist eine selbstreflexive, ironische Distanz zu dem jeweils verwendeten Sprachmaterial, die es nicht erlaubt, das Bewußtsein des Textes mit einer der darin zur Sprache kommenden »Stimmen« vorbehaltlos zu identifizieren. Bei Herder wird die kritische Funktion einer derartigen Selbstdistanzierung ganz deutlich, wenn er mit der provkativen Verkehrung von Zustimmung und Dissens die starre Antithetik der Polemik auf eine dreidimensionale, im eigentlichen Sinne dialektische Kommunikationssituation hin aufsprengt: Wenn meine Zweifel und Wiedersprüche die Leser des Laokoons dahin vermögen, ihn nochmals, ihn so sorgfältig, als ich, zu lesen, und ihn aus meinen Zweifeln, oder meine Zweifel aus ihm, zu verbessern: so habe ich der Sache des Laokoons weit mehr gevortheilet, als durch ein kaltes Lob, hinter welchem jeder Leser, so, wie sein Urheber und Besitzer, gähnet. Meine Schrift selbst: wie würdig mir Laokoon geschienen, um darüber zu denken! sey ein Opfer meiner Achtung an den Verfasser desselben: Lobworte darzubringen habe ich nicht. (SW 3:186)

An die Stelle des polemischen Gegensatzes von Wahrheit und Irrtum tritt hier die produktive Dynamik eines Zweifels, der »zu eignen Gedanken reize[n]« will (SW 16:167) ~ nicht umsonst hat Herder seinem Ersten Wäldchen ein Bild des Sokrates gleichsam als Motto vorausgeschickt. Liegt in dieser maieutischen Absicht die gemeinsame »Sache« zweier Kritiker, die auf unterschiedlichem Wege möglicherweise ein ähnliches Ziel verfolgen? Herders notorische »Zweifel-Frag- und Erklärungssucht« (SW 1:133) macht vor sich selbst jedenfalls nicht halt: sie extrapoliert einen esoterischen Untertext, der sich seinerseits im Lichte des Kritisierten als kritikwürdig darstellt. Als Aufräumungsarbeit im »Schutte« kritischer Materien (SW 3 74) hat diese Kritik ihren Referenzpunkt außerhalb ihrer selbst, in der »freiem Aussicht« jenseits des positiv Formulierten (SW 3:188). In Relation zu diesem virtuellen Erkenntnissubstrat sind Kritik und Kritisiertes gleichermaßen defizient und folglich reversibel und komplementär. Aus dem Eingeständnis dieser Abhängigkeit spricht die Einsicht, daß alles was sich sagen läßt in einem fundamentalen Sinne defekt und folglich auf immer verloren ist, wenn es nicht in einen kommunikativen Kontext eintritt. Die Kritik, die im Gegensatz zum Systemdenken seit jeher die Einsicht reflektiert, daß sie in einem sprachlichen Universum, in einer Welt von Texten operiert, überwindet diesen Mangel paradoxerweise gerade dadurch, daß sie sich ihm bewußt aussetzt, d. h. sich selbst als ergänzungsbedürftig reflektiert und damit jene »freiere 53

Aussicht« antizipiert, in der sie sich erfüllt, ohne jedoch der Versuchung zu erliegen, sie ein für allemal fixieren zu wollen. Kommunikation wird unter solchen Voraussetzungen zu einer Frage der Strategie, die in dem Maße objektivierbar, d. h. einer Analyse zugänglich ist, wie sie als konstitutives Moment in die Form der Kritik eingeht. Herders kommunikative Strategie im Ersten Wäldchen gewinnt Kontur, wenn man sie auf dem Hintergrund der bereits diskutierten »Denkschrift auf Baumgarten« liest. Denn ein Vergleich zwischen beiden Kommentaren offenbart - gerade wegen der auffälligen Ähnlichkeiten - einen signifikanten Unterschied, der ins Zentrum von Herders Lessingkritik trifft. In beiden Fällen gelingt Herder die Anknüpfung an den Gegenstand über den Umweg einer Isolierung der »Sachen« von ihrem jeweiligen Begründungszusammenhang. Im Falle Baumgartens geht diese Prozedur nicht ohne Gewaltsamkeit ab. Die betont zur Schau getragene Naivität des Wörtlichnehmens verbirgt nur dürftig die Radikalität einer Interpretation, die im Akt scheinbarer Affirmation dem Affirmierten durch seine Deplazierung in ein verändertes metaphorisches Umfeld eine völlig neue Bedeutung verleiht. Ganz anders liegt dagegen der Fall bei Lessing: hier nämlich lokalisiert Herder den Bruch, der die Isolierung der »Sache« ermöglicht, als ironische Diskrepanz zwischen Grund und Folge in der argumentativen Struktur des Laokoon selbst. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die bereits zitierte Solidaritätsbekundung Herders: »Ich läugne Hrn. L. viel, und in seinem Grunde Alles: aber darum läugne ich nicht alle Sachen, die nur Er auf diesen Grund bauet« (SW 3:144; Hervorhebung von mir). Das Wörtchen »nur« ist hier entscheidend. Offensichtlich, so ist dies zu verstehen, macht Lessing stillschweigende Voraussetzungen über die Natur seines Gegenstandes, die aus seinem System per se nicht abzuleiten sind. Nun sind Inkonsistenzen innerhalb der Logik einer Argumentation auf zweierlei Weisen interpretierbar: entweder als Unvermögen oder aber als Teil einer rhetorischen Strategie, die das erkenntnisproduktive Potential des Widerspruchs in kritischer Absicht ausbeutet. Herder schließt, möglicherweise in Analogie zu seinem eigenen Verfahren, auf letzteres und unterstellt damit seinem Kontrahenten jene Distanz zu der von ihm verwendeten Terminologie, die in der »Denkschrift« erst durch eine Sprengung der Geschlossenheit des Baumgartenschen Denkens auf ein Außen hin als kritische Einsicht greifbar wird. Baumgartens Problem besteht darin, so sehr »mit der Sprache« zu denken (SW 32:178), daß er ihr verfällt, statt wie Lessing die überkommene philosophische Termino54

logie, um mit Bakhtin zu reden, lediglich »in Anführungszeichen« zu gebrauchen. Dient demnach die »Ehrenrettung« Baumgartens der Redynamisierung eines im Gespinst seiner eigenen Begriffe erstarrten Denkens, so geht es Herder in seinem Lessingkommentar allem voran um die Illumination der rhetorischen Struktur eines Werkes, das den zeitgenössischen ästhetischen Diskurs einer ihm heterogenen Absicht unterwirft: »So weit nun sind schon alle Kunstrichter gekommen, die über die Grenzen der Künste nachdachten; aber der Gebrauch, den Hr. L. macht, gehört ihm« (SW 3:74). Im Kontext dieser Absicht muß die eingangs gestellte Frage nach dem Verhältnis der »Sachen« zu ihren »Gründen« eine andere Form annehmen. O b es tatsächlich möglich ist, jemandem recht zu geben, ohne seine Gründe zu akzeptieren, wird belanglos gegenüber der Frage, was die kaum verhüllte Widersinnigkeit einer solchen Haltung aussagt über den, der sie für sich reklamiert. Mit anderen Worten: es geht um das erkenntnisproduktive Potential dieser Haltung als einer rhetorischen Geste und deren Ökonomie im Gesamtzusammenhang von Herders Argumentation. Bereits Rudolf Haym hat auf den parodistischen Charakter dieser Geste hingewiesen: Den Bestreiter Winckelmanns wieder bestreitend, parodiert er - mehrfach bis auf Wendungen des Ausdrucks - das Verfahren des Ersteren. Schritt für Schritt dem freien Gange Lessings, eben auch wie ein Spaziergänger, folgend, widerlegt er nicht sowohl, vielmehr er ergänzt die von diesem gewonnenen Ergebnisse. Er verläßt ihn oft nur, um auf einem Umwege wieder mit ihm zusammenzutreffen, aber er hat auf dem Umwege Manches mitgenommen, was jener, absichtlich oder unabsichtlich, bei Seite gelassen. Er will meistens die Behauptungen seines Vorgängers nur >einschränkenGründen< einverstanden, und indem er eine andere Begründung gibt, verwandelt - vertieft oder verschiebt sich auch die Meinung. - (1:253) Liegt der Wert dieser Beobachtung darin, daß sie die Diskussion von der diskursiven Ebene auf diejenige der Implikationen der Form verschiebt, so bleibt doch der zentrale Widerspruch in Herders kritischer Haltung unaufgelöst stehen. Wenn das Heraussprengen der »Tatsachen« aus dem Begründungszusammenhang des Laokoon und ihre Einbettung in einen anderen - der, wie Haym zu Recht feststellt, mit dem Lessingschen strenggenommen weder vereinbar noch in sich konsistent ist (1:267) ~ diese selbst nicht unbeträchtlich modifiziert, dann stellt sich die Frage, wie von einer »Widerlegung« bzw. »Ergänzung« von Lessings Ergebnis-

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sen im Detail und von einem Einverständnis bezüglich der »Meinungen« überhaupt sinnvoll die Rede sein kann. Wie die »Sachen« als Produkt eines gegebenen Kontextes zugleich außerhalb desselben verifizierbar sein sollen, ist unmittelbar nicht einzusehen und bedarf der Erklärung. Indem Haym diesen paradoxen Tatbestand kommentarlos hinnimmt, entgeht ihm die eigentliche Intention der Herderschen Parodie. Dieser nämlich geht es nicht allein um die argumentative Korrektur einer fragwürdigen Position, sondern immer auch um deren metatheoretische Problematisierung. Anders gesagt: Herders provokative Exponierung des Widerspruchs zwischen »Sachen« und »Gründen« erfüllt zuallererst die Funktion eines Zitats, ist es doch Lessing selbst, der im Laokoon an Winckelmanns Beobachtungen anknüpft, um ihn in seinen »Gründen« zu widerlegen: »Die Bemerkung, welche hier [in Winckelmanns Beschreibung des Laokoon; E.K.] zum Grunde liegt, daß der Schmerz sich in dem Gesichte des Laokoon mit derjenigen Wuth nicht zeige, welche man bey der Heftigkeit deßelben vermuthen sollte, ist vollkommen richtig. . . . Nur in dem Grunde, welchen Herr Winkelmann dieser Weisheit giebt, in der Allgemeinheit der Regel, die er aus diesem Grunde herleitet, wage ich es, anderer Meynung zu seyn« (L 150). Mit dieser Formulierung scheint Lessing sein kritisches Selbstverständnis im Rahmen jenes Gegensatzes zwischen Besonderem und Allgemeinem anzusiedeln, den Herder lediglich in parodistischer Absicht evoziert. Aber worin genau besteht die Intention dieser Parodie? Die Antwort auf diese Frage führt uns auf eine Ebene in Lessings Diskurs, wo in der metatheoretischen Reflexion des Verhältnisses von Empirie, Theorie und Kritik die Verschränkung der Form- bzw. Darstellungsproblematik des Laokoon mit einem ganz bestimmten kritischen Selbstverständnis offensichtlich wird.

4. Kritik als »negative Philosophie« In einer Replik auf Mendelssohns Betrachtungen über die Quellen und Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften (1757) formuliert die Exposition zum Laokoon den Gegensatz von Besonderem und Allgemeinem in der Gegenüberstellung zweier rezeptiver Haltungen, der intuitiven des »Liebhabers« und der reflektiven des »Philosophen« (L i ^ i . ) . Die wirkungsästhetische Projektion des Verhältnisses von Theorie und Praxis auf den Gegensatz von Ratio und Gefühl ist bereits bei Mendels-

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söhn vorgegeben, ebenso die empiristische Modifikation dieser rationalistischen Dichotomie durch das Primat des Besonderen. Theorie ist hier nicht allein der Praxis entgegengesetzt, sondern als Abstraktionsprozeß allgemeiner Prinzipien auf das Besondere als seinen Ursprung bezogen. Dieses Theorieverständnis ermöglicht Lessing die Dynamisierung des Gegensatzes von Theorie und Praxis innerhalb eines zirkulären Denkmodells, in dem Theorie und Kritik als komplementäre, wenn auch in entgegengesetzter Richtung wirkende Vermittlungsprinzipien fungieren: während der Philosoph auf induktivem Wege vom Besonderen zum Allgemeinen voranschreitet, soll der Kunstrichter im Rückbezug der allgemeinen Prinzipien aufs Besondere den Realitätsbezug der Theorie garantieren. Worauf es dabei ankomme sei die »Richtigkeit der Anwendung auf den einzeln Fall« (L 146). Ahnlich definiert Herder noch in der Kalligone (1800) Kritik als einen »Ausspruch nach einer Regel, die dem Beurtheilten sowohl als dem Urtheiler anerkennbar, von beiden anerkannt und dem Werk anpassend ist, über welches gesprochen werden soll« (SW 22:220). Der Eindruck geglückter Synthese, wie er sich in dergleichen Formulierungen präsentiert, ist indes trügerisch, bleibt doch das zentrale Vermittlungsproblem nach wie vor ungeklärt. Die Frage, die sich hier unmittelbar einstellt, ist diejenige nach der exakten Bedeutung von »Richtigkeit« bzw. Angemessenheit in diesem Zusammenhang. Adäquatheit ist ein relationeller Terminus. Folglich setzt die Kritisierbarkeit der Theorie (oder der literarischen Praxis vice versa) einen Standpunkt jenseits von Theorie und Praxis voraus und kann daher nicht vom Standpunkt der Praxis aus erfolgen. Wenn demnach der kritische Rekurs auf die Praxis zum Kriterium der Theorie werden soll, wie Herder und Lessing dies fordern, so wäre zu klären, in welcher Weise diese in die kritische Perspektive eingeht. Bereits Mendelssohn sieht sich mit diesem Problem konfrontiert, wenn er einerseits die Erweiterung der Theorie durch Einsichten in die geheimsten »Triebfedern« der Seele fordert, gleichzeitig aber um die Widerstände nicht herum kommt, die die als präreflexiv konzipierten menschlichen »Empfindungen« einer solchen Introspektion entgegensetzen (JubAi:i67). 2 2 22 »Die menschliche Seele ist so unerschöpflich als die Natur; das bloße Nachdenken kann unmöglich alles ergründen, was ihr zukömmt, und die Erfahrung allein pflegt selten entscheidend zu seyn. Die glücklichen Augenblicke, in welchen wir die Natur gleichsam auf der That ertappen, entwischen uns niemals so leicht, als wenn wir uns selbst beobachten wollen; und wenn sie da

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Diese Überlegungen geben Anlaß zum Zweifel, ob Theorie als induktiver Prozeß überhaupt gedacht werden kann. Herder radikalisiert diese Problematik in seinem » Vorläufige[n] Discours : von dem Ursprünge der Kunstrichter« (1767), indem er das zirkuläre Vermittlungsmodell Lessings auf die temporale Linearität der Geschichte projiziert. Die logische Priorität des Besonderen wird zur historischen und das Problem seiner Vermittlung mit dem Allgemeinen zur Frage nach dem »Ursprung des Kunstrichters.« Wie Lessing postuliert Herder zunächst einen »Leser von Empfindung und Geschmack« (SW 11245) als den »ersten Kunstrichter,« um dann die unbequeme Frage zu stellen, »wie aus dem, der bisher blos empfand, ein Denker; und aus dem Genie ein Weiser wurde« (SW 11246). Wenn Herder die Antwort darauf schuldig bleibt, so weniger aus Verlegenheit, als um die Legitimität der Fragestellung von ihren Voraussetzungen her anzugreifen. Denn kaum hat er den »Leser von Empfindung und Geschmack« als »ersten Kunstrichter« gesetzt, verweist er ihn auch schon in ein »goldenes Zeitalter« jenseits aller Geschichte: »Er war jenem unschuldigen Paare gleich, dem sich im Garten des Vergnügens jede Frucht des Schönen und Guten darbot, ehe es vom Philosophischen Erkänntnißbaum genascht hatte« (SW 1:24$). Als nostalgischen »Rousseauismis« (Clark, Herder

67) kann man diese

Passage nur dann deuten, wenn man über die besondere Verwendung der Paradiesgartenmetaphorik

im Kontext des »Discours«

hinwegsieht. 23

Dieser nämlich ironisiert die Vorstellung präreflexiver Unmittelbarkeit in einer Weise, die den Klagen über deren Verlust den Boden entziehen muß. Die von Reflexion ungetrübte Empfindung, die sich »den Bienen ähnlich« an den Werken weidet, »ohne doch wie die Raupen und Heuschrecken, Kunstrichterliche Gerippe der Pflanzen zurückzulassen« (SW

sind, so ist die Seele allzusehr mit ihren besondern Absichten beschäfftiget, als daß sie wahrnehmen könnte, was in ihr selbst vorgehet.« Diese Zweifel bezüglich des Projekts einer psychologischen Ästhetik scheinen jedoch für Mendelssohns weitere Überlegungen folgenlos zu bleiben, wenn er unmittelbar daran anschließend fordert: »Man wird also die Erscheinungen, bey welchen die Triebfedern unsrer Seele in der größten Bewegung sind, sorgfältig zergliedern, und mit der Theorie vergleichen müssen, um auf diese ein neues Licht zu verbreiten, und ihre Grenzen mit neuen Entdeckungen zu bereichern« (JubA 1:167). Wie ein solcher »Vergleich« überhaupt stattfinden kann, bleibt unklar. 23 Die gleiche Indifferenz gegenüber den Implikationen der Paradiesmetaphorik kennzeichnet die Paraphrasierungen des »Discours« durch Fugate (7 3 f.) und Kathan (81 f.).

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ι :246), existiert ebensowenig wie das reine voraussetzungslose »Sehen.«24 Wie die »Praxis des Genies« ist sie eine Fiktion der Theorie, die ihr Objekt als ihren sprachlosen, nicht zu erinnernden »Ursprung« projiziert- einen Ursprung, den einzuholen ihr nur um den Preis seiner Zerstörung gelingen kann.25 Erweist sich nämlich der »empfindende« Leser immer schon als Philosoph, sobald er »dem Gefallen und Eindruck« nachdenkt, »den Schönheit und Wahrheit auf ihn machfen]« (SW ι ¡245), so operiert der Kritiker mit einem Begriff seines Objektbereichs, dessen Umfang und Grenzen durch eine bestimmte theoretische Perspektive bereits festgelegt sind. Und wenn es Lessing gelingt, Homer im Rahmen seines systematischen Arguments zum Sprechen zu bringen, so nicht, weil sich die Regeln des homerischen Epos dem Kritiker in unschuldiger Selbstevidenz präsentieren, sondern deshalb, weil Lessing den Homer bereits mit den Augen des Theoretikers liest. Mit dieser Einsicht fällt Lessings zirkuläre Konstruktion in sich zusammen und mit ihr ein kritisches Selbstverständnis, das sich als Vermittlung kategorial geschiedener Bereiche begreift. Die Notwendigkeit solcher Vermittlung erübrigt sich da, wo es nichts zu vermitteln gibt. Dadurch sind aber Kritik und Theorie einander in einer Weise nahegerückt, daß sie zusammenzufallen scheinen, und es fragt sich, wie sich auf der Grundlage von Herders Argumentation Kritik gegenüber der Theorie überhaupt noch zu legitimieren vermag bzw. als deren Korrektiv dienen kann. Erstaunlicherweise ist es nicht Herder, sondern Lessing selbst, der eine Antwort auf diese Frage andeutet, wenn er im XVI. Kapitel des Laokoon seine kritische Methode, gleichsam gegen sich selbst, folgendermaßen reflektiert: »Ich würde in diese trockene Schlußkette weniger Vertrauen setzen, wenn ich sie nicht durch die Praxis des Homers vollkommen bestätiget fände, oder wenn es nicht vielmehr die Praxis des Homers selbst wäre, die mich darauf gebracht hätte« (L 252). Wenn Lessing hier die Einlösung seines kritischen Programms reklamiert, so 24 Vgl. Herders brilliante Widerlegung der empiristischen Illusion im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit Riedel im Vierten Wäldchen (SW 4:5-10). 25 »Man setze die Kräfte unsrer Seele, das Schöne zu empfinden, und die Produkte der Schönheit, die sie hervor gebracht, als Gegenstand der Untersuchung: . . . die Wissenschaft des Schönen, setzt die vorige [die »Kräfte unsrer Seele« als Objekt der Theorie] voraus; aber gar nicht auf demselben Wege fort; ja sie hat gar das Gegentheil zum Geschäfte. Eben das Gewohnheitsartige, was dort schöne Natur war, löset sie, so viel an ihr ist, auf, und zerstörts gleichsam in demselben Augenblick« (SW 4:22/23).

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nicht, ohne dessen konzeptuelle Voraussetzungen in subtiler Weise zu untergraben. Interessant ist diese Passage vor allem in Bezug auf die Art der Evidenz, mit der Lessing seinen Anspruch absichert. Die darin implizierte Reversibilität von induktivem und deduktivem Verfahren ergibt nur unter der Voraussetzung der Identität von Besonderem und Allgemeinem einen Sinn. Gerade deren Demonstrierbarkeit aber ist undenkbar ohne die Affirmation ihres Gegenteils. Denn die Etablierung des Identitätsprinzips ist möglich nur über den Umweg des Satzes vom Widerspruch, dessen Beweisbarkeit seinerseits das Identitätsprinzip als »wahr« voraussetzt. In dieser Geschlossenheit, mit der die logische Demonstration ihr Resultat in jedem ihrer Schritte antizipiert, indem sie es immer schon voraussetzt, ist das systematische Denken tautologisch und ohne eigentlichen Erkenntnisgehalt. Gegen den Zirkel dieser Begriffsdialektik mobilisiert Lessing die negative Evidenz gespielter Unwissenheit: er gibt vor, vergessen zu haben, ob sein Raisonnement von einer allgemeinen Hypothese oder dem Gegenstand selbst seinen Ausgang genommen habe. Was sich aber nicht unterscheiden läßt, ist so gut wie nicht existent und folglich getrost zu vernachlässigen. Das Postulat perfekter Harmonie zwischen Empirie und Theorie wird somit durchschaubar als das, was es ist: eine metaphorische Umschreibung für die paradoxe Natur eines Erkenntnisprozesses, in dem die konzeptuellen Trennungen der Theorie in Wahrheit nicht statthaben, während eben jene Trennungen zur Formulierung dieser Einsicht, gleichsam als deren negative Bedingungen, unverzichtbar sind. Lessings Entwürfe zum Laokoon bestätigen, was Herder nicht ahnen konnte, aber mit intuitiver Sicherheit als dessen Kunstcharakter diagnostiziert, daß nämlich die durch die betonte Zufälligkeit der Präsentation suggerierte Nähe zur Sache ein bewußter Kunstgriff ist, mit dem Lessing sein längst ausgearbeitetes System nachträglich in der Fiktion einer »Geschichte seiner Meditation« (L 684)26 zerstreut. Indem Herder gleich zu Beginn der Auseinandersetzung seinen Entschluß bekundet, »den Laokoon als eine Sammlung von Materialien« (SW 3:7) zu betrachten, lokalisiert er dessen eigentlichen Wahrheitsgehalt jenseits des starren Entweder-Oder von Empirie und Theorie, »Sachen« und »Gründen,« in 26 Diese Beobachtung macht Christian Garve in seiner Rezension des Laokoon, die 1769 anonym im 9. Band der Allgemeinen Deutschen Bibliothek erschien (wiederabgedruckt bei Blümner, L 683-703). Garve trifft damit den selbstreflexiven Charakter eines Werkes, das den »Kunstgriff« des Homer, sein Objekt in eine »Geschichte des Gegenstandes« aufzulösen (L 257), bewußt imitiert.

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der fiktiven Struktur des Werkes: »Leßings Schreibart ist der Styl eines Poeten, d. i. eines Schriftstellers, nicht der gemacht hat, sondern der da machet, nicht der gedacht haben will, sondern uns vordenket, wir sehen sein Werk werdend wie das Schild Achilles bei Homer« (SW 3:12). Theorie wird zur Kritik und damit jener überlegen nicht durch einen privilegierten Zugang zum Objekt, sondern indem sie eine bestimmte Haltung sich selbst gegenüber einnimmt. Der Unterschied ist letztlich eine Frage der Präsentation, des »Styls.« Kritik, so ließe sich die Quintessenz dieser Passage vielleicht formulieren, ist ein Theoretisieren, das sich im Akt seiner Präsentation selbst reflektiert. Während das theoretische Denken konzeptuelle Grenzen errichtet, arbeitet das kritische an deren Verwischung. Der Philosoph sucht seinen Gegenstand außerhalb seiner selbst, um dann über dem Graben zu verzweifeln, der sich zwischen ihm und der Welt auftut. Der Kritiker hält dem entgegen, daß es sich bei diesen Trennungen um Konstruktionen des Denkens handelt, die in Wahrheit nicht existieren. Denn es ist unmöglich, wie Lessing subtil andeutet, die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt, Allgemeinem und Besonderem, Deduktion und Induktion im Erkennen eindeutig zu fixieren. Dies heißt indes nicht, daß die Kritik mit dieser Einsicht den Restriktionen der Theorie entkommt. Jede Kritik setzt einen bestimmten theoretischen Standpunkt voraus, ein poetisches »Kapital selbstgedachter Wahrheiten« (LM 10:420), die-indem sie Ort und Umfang der Praxis definieren - durch diese nicht zu widerlegen ist. Paradoxerweise ist es also gerade die geheime Komplizenschaft zwischen Theorie und Dichtung, die die Theorie immunisiert gegen alles, was sich der Einverleibung sträubt, die sie tatsächlich »unwidersprechlich« macht, wie Herder behauptet (SW 3 ¡48), oder auch hoffnungslos zirkulär. Aber schlägt damit nicht die zunächst befreiende Einsicht, daß »alles Faktische schon Theorie« ist(GGA 17:723), in einen radikalen Solipsimus um? Wie kann man dieser Einsicht zum Trotz mit Herder und Lessing noch auf der Falsifizierbarkeit der Theorie durch die Praxis beharren? »Jeder spricht sich nur selbst aus, indem er von der Natur spricht,« schreibt Goethe noch Jahrzehnte später, »und doch darf niemand die Anmaßung aufgeben wirklich von der Welt zu sprechen« (An L. F. Schultz, 8 . 1 . 1 8 1 9 , G G A 21:320). Ist diese »Anmaßung« gleichbedeutend mit jener »Ironie,« die Goethe im Vorwort zur Farbenlehre {1808) zum Kriterium »eigentlicher Theorie« erhebt (GGA 16:11)? Oder ist sie nur eine Geste der Verzweiflung, mit der ein im Kerker des eigenen Selbst Gefangener sich über die Unüberwindlichkeit seiner Gefängnismauern hinwegzutrösten sucht? 61

Das Irritierende an der obigen Formulierung besteht darin, daß hier als ein Imperativ erscheint, was Goethe im Grunde als strukturelles Moment des metatheoretischen Bewußtseins selbst verstanden wissen will. Wenn er in der Geschichte der Farbenlehre behauptet, daß »wir uns die Wissenschaft notwendig als Kunst denken [müssen], wenn wir von ihr irgendeine Art von Ganzheit erwarten« wollen, weil nämlich »im Wissen sowohl als in der Reflexion kein Ganzes zusammengebracht werden« könne (GGA 16:332), so ist damit lediglich eine Seite seines Theorieverständnisses benannt. Die volle Tragweite dieser Einsicht, ihre »ironische« Dimension, wenn man so will, offenbart sich erst im Rahmen einer Präsentation von Wissenschaft, die mit der historischen Kontextualisierung des eigenen Projekts die »Ganzheit« der Theorie bereits im Moment ihrer Konstituierung zum Teil einer Geschichte des Wissens relativiert hat, an dessen ständig sich hinausschiebenden Rändern »Welt« auf unerwartete Weise sich wiedereinstellt. In den Fragmenten hat Herder diese Fragmentarisierung als unvermeidliches Ende seines Projekts einer Geschichte als Sprachgeschichte antizipiert, noch bevor er es überhaupt in Angriff genommen hat: »Es muß diese allgemeine Betrachtung der Menschlichen Erkenntniß durch und mittelst der Sprache eine negative Philosophie geben,« und zwar in dem Moment, wo das totalisierende Denken im Akt seiner Vollendung die selbstgesetzte Grenze überschreitet, und in der plötzlichen Konfrontation mit dem ihm radikal Fremden des Terrors einer solchen Befreiung innewird: »Ein Mann, der diese negative Weltweisheit hervordächte, stünde an dem Umfange der Menschlichen Erkenntniß, wie auf einer Weltkugel, und wenn er über diese Schranken sein Haupt nicht erheben, und in freie Luft umherblicken könnte; so wagte er doch seine Hand hinaus, und riefe: Hier ist Leeres, und Nichts! Und der hätte in einem andern Verstände die höchste Sokratische Wissenschaft: Nichts zu wissen!« (SW 2:17) Die Konsequenzen dieser Überlegungen für unsere Ausgangsfrage liegen auf der Hand: wenn Empirie und Theorie in einer Weise verbunden sind, daß die Frage nach den »Sachen« unabhängig vom theoretischen Rahmen gegenstandslos wird, dann muß daraus folgen, daß Lessings nachträgliche Aufhängung seiner Überlegungen an Winckelmanns Laokoondiskussion ebenfalls Teil der formalen Fiktion des Werkes ist.27 Gerade weil Lessing 27 Wie aus den Entwürfen ersichtlich ist, hatte Lessing die eigentliche Auseinandersetzung mit Winckelmann ausdrücklich für die geplante Fortsetzung des

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weiß, »daß zwey verschiedne Schriftsteller deswegen noch nicht einerley Meinung sind, weil sie sich an gewissen Stellen mit einerley Worten ausdrücken« (LM 6:428), kann er seinem Gegner die Beschreibung des Laokoon getrost zugeben. Unstreitig leidet dieser in unterdrücktem Schmerz. Und doch ist derjenige Laokoon, der seinen Schmerz unterdrückt, weil die materiellen Schranken der bildenden Kunst eine Darstellung des Schmerzes im Interesse der Schönheit verbieten, ein anderer als derjenige, der nur so und nicht anders leiden kann, weil es ihm die »Größe« seiner griechischen Seele gebietet. Es ist dies der Punkt, auf den Herder den kritischen Finger legt. Im Gegensatz jedoch zu einer Kritik, die im Versuch, das Kritisierte qua Negation zu überwinden, wider Willen ihm verfällt, vermag die Parodie dessen irrtümliche Voraussetzungen transparent zu machen, indem sie es in ironischer Affirmation wiederholt. Einem Chamäleon gleich betreibt sie Mimikry am Kritisierten und vermag gerade dadurch ihm zu entkommen. Wie Lessing präsentiert Herder das Produkt mehrjähriger Reflexion im Gewand eines fortlaufenden spontanen Kommentars (»mit dem Griffel in der Hand« [SW 1 ¡248]), wie dieser verwischt er die Spuren seines Systems bis zur Unkenntlichkeit in kritischen Wäldern »ohne Plan und Ordnung« (SW 3:188), deren Form er mit Lessings eigenen Worten rechtfertigt: »Wenn mein Raisonnement nicht so bündig ist, als das Leßingsche, so werden vielleicht meine kritischen Erörterungen mehr nach der Quelle schmecken« (SW 3:185^). Wie Lessing schließlich postuliert er eine Ebene kontextunabhängiger Beobachtungen als gemeinsame Grundlage, deren schiere Existenz im Verlaufe der Diskussion fragwürdig wird. Damit wird die Parodie zu einem gleichzeitig auf zwei verschiedenen Ebenen operierenden Mittel indirekter Kommunikation: signalisiert Herder einerseits seinem Kontrahenten, daß er die subtile Ironie seines Verfahrens durchschaut hat, so fixiert er andererseits, an den Leser gerichtet, den Standort seiner eigenen Kritik. Mit der Imitation von Lessings Haltung gegenüber Winckelmann setzt er sein eigenes Unternehmen diesem gegenüber in ein analoges Verhältnis und gibt damit deutlich zu verstehen, wie das Folgende, etwa die Verteidigung Winckelmanns in Bezug auf das Schreien des Philoktet, zu verstehen ist: so wenig der Laokoon wirklich einen Angriff auf Winckelmann darstellt, so wenig dient Herders alternative Interpretation einer Rehabilitierung desselben.

Laokoon io6f.).

aufgespart. Vgl. A5 (L 398-402) und Blümners Kommentar (L 99t.,

63

Vielmehr liegt die Signifikanz dieser Interpretation allein im Kontext von Herders eigenen Zwecken und Absichten, die denjenigen Lessings in gewissem Sinne so »inkommensurabel« sind wie diejenigen Winckelmanns. Nun haben uns die Reflexionen dieses Kapitels, wie dem aufmerksamen Leser nicht entgangen sein wird, in einer quasidialektischen Bewegung im Kreise herumgeführt. Der Zweifel an der Beteuerung grundsätzlichen Einverständnisses »in der Sache selbst« hat uns entlang der parodistischen Logik der Herderschen Kritik an einen Punkt geführt, wo diese Beteuerung tatsächlich plausibel erscheint. Solche Plausibilität ist das Resultat einer vom Leser zu vollziehenden Erkenntnisleistung, die im Zuge der Unterminierung des Gegensatzes zwischen »Sachen« und »Gründen« den Referenzpunkt des Einverständnisses in einen Bereich verschiebt, der diesen Gegensatz als falsche Alternative hinter sich gelassen hat. Die dadurch nahegelegte Gemeinsamkeit zwischen Lessing und Herder reicht tiefer, als jede vordergründige Ubereinstimmung im Detail je reichen könnte, insofern sie eine jedem positiven Wortsinn vorausliegende Ebene metatheoretischer Verständigung betrifft: die Haltung gegenüber der Sprache, dem Status des Gegenstandes, der Kommunizierbarkeit theoretischer Einsichten. Dennoch ist, so ließe sich einwenden, mit der dialektischen Umkehrung von Zustimmung und Dissens deren paradoxe Koexistenz noch bei weitem nicht motiviert. Und wenn der eigentliche kommunkative Vorgang in dieser Kontroverse sich tatsächlich hinter dem Text abspielt, auf einer nichtdiskursiven Ebene suggestiver Anspielungen und ironischer Gesten, so läßt sich doch die Existenz einer diskursiven Argumentationslinie in dem Text nicht leugnen, die zwar möglicherweise im Gesamtzusammenhang zu relativieren ist, deren exakte Funktion jedoch zu bestimmen wäre. Der nächste Schritt wird also darin bestehen müssen, die von Herder und Lessing jeweils verfolgten eigenen Zwecke und Absichten zu rekonstruieren und ihr Verhältnis zueinander genau zu bestimmen.

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DRITTES K A P I T E L

Laokoon oder die Sprachlosigkeit der Theorie O geht, und sprecht vom blauen Äther nicht, ihr Blinden! (Friedrich Hölderlin, Hyperion)

Joe Fugate hat Herders argumentative Position gegenüber Lessing unter folgenden vier Aspekten zusammengefaßt: »(i) Neglect of the historical; (2) Recognition of the importance of character individuality . . . (3) Statements too general to allow for exceptions; (4) Acceptance of Greek models and rules as standards for his own day and time« (131). Nimmt man hier noch das Prinzip der »Subjektivierung« der Ästhetik (Schütze 2:291, 301) hinzu, so ergibt sich etwa folgendes Bild, das im großen und ganzen das Spektrum der Forschung abdeckt: in Herders Kritik artikuliere sich der Protest der jungen Sturm und Drang Generation gegen den universalen Anspruch der auf überhistorische Normen gegründeten »Regelpoetik« der Aufklärung. Diese Auffassung fällt jedoch in mehr als einer Hinsicht hinter den in der Laokoonkontroverse tatsächlich erreichten Stand der Diskussion zurück. Zum einen wird die Differenz der Standpunkte auf jenen Gegensatz von Besonderem und Allgemeinem, Subjekt und Objekt reduziert, der, wie wir gesehen haben, für Lessing nicht minder problematisch ist als für Herder. Zum anderen wird als selbstverständlich vorausgesetzt, daß es sich beim Laokoon allen Ernstes um den Versuch einer Konsolidierung neoklassizistischer Positionen handele. Diese Annahme wird im einzelnen zu überprüfen sein. Ausgehend von Herders Kritik an den gattungs- und zeichentheoretischen Grundlagen des Laokoon skizziert das folgende Kapitel einen Gedankengang, der auf dem Wege der Rekonstruktion der geplanten Fortsetzung des Werkes Herders Einwände gleichsam beantwortet, indem er zwischen dem Dichtungsbegriff der Abhandlungen über die Fabel (1759) und der Geniekonzeption der Hamburgischen Dramaturgie (1767-69) eine Brücke schlägt. Eine solche Relativierung des fragmentarischen ersten Teils innerhalb der geplanten Gesamtkonzeption des Laokoon ermöglicht es (1) den Konvergenzpunkt der Kontroverse zwischen Lessing und Herder exakt zu bestimmen und (2) die »Ungereimtheiten« des ersten Teils des Laokoon als Momente einer Argumentationsstrategie zu begreifen, die auf dem Terrain der zeitgenössischen Ästhetik die von dieser verdrängte Frage

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nach dem Status poetischer Einbildungskraft zu stellen und zu beantworten sucht.

ι. Semiotische Ästhetik und das Problem poetischer Imagination Wie Lessing nähert sich Herder seinem Gegenstand über die U m - und A b w e g e einer Kritik, die sich zunächst eher wie eine Verschleppungsstrategie ausnimmt, indem sie sich schier endlos in Nebensächlichkeiten ergeht und selbst dann, wenn sie sich endlich auf das Argument des Gegners einläßt, mehr an der Exponierung von Widersprüchen denn an ihrer Lösung interessiert zu sein scheint. Wie die verdoppeldne Geste parodistischer Imitation die ironische Diskrepanz zwischen Form und Gehalt als Strukturprinzip des Laokoon

in den Vordergrund hebt, haben

wir bereits gesehen. Dem entspricht auf diskursiver Ebene ein Verfahren, das

Lessings

systematische

Prämissen

beim Wort

nimmt

und

die

»Sachen«, d . h . die angeblich daraus deduzierten Resultate, mit den logischen Konsequenzen dieser Voraussetzungen konfrontiert. O b w o h l es diese Voraussetzungen sind, die letztlich zur Debatte stehen, verfährt Herder zunächst rein immanent. So setzen seine Einwände gegen die Doktrin des »fruchtbaren Moments« bezeichnenderweise nicht an der deduktiven Beweisführung des X V I . Kapitels an, w o Lessing deren N o t wendigkeit lediglich formal begründet, sondern dort, w o er sie als »Gesetz der Schönheit« aus der antiken Kunstpraxis herzuleiten sucht: »so hatte der weise Grieche ihr [der Malerei] weit engere Grenzen gesetzet, und sie bloß auf die Nachahmung schöner Körper eingeschränket. Sein Künstler schilderte nichts als das Schöne; ... Die Vollkommenheit des Gegenstandes selbst mußte in seinem Werke entzücken« (L 155). Was der Ausdruck »die Vollkommenheit selbst« an dieser Stelle genau bedeutet, ist bei weitem nicht klar, und selbst im weiteren Verlauf beläßt Lessing den Schönheitsbegriff im Bereich spekulativer Unbestimmtheit. 1 Die Umbiegung der psychologischen Fragestellung Winckelmanns in eine

ι

Dabei bleibt Lessing durchweg im Bereich gängiger Leerformeln, wenn er Schönheit als »sichtbare Hülle« der Vollkommenheit oder als »übereinstimmende Wirkung mannigfaltiger Theile« faßt (A2.5, L 363; vgl. auch A2.9, L 370 und A 5.8, L 399), ohne sich auf Mendelssohns Frage nach dem Ursprung der Schönheit und ihrem Verhältnis zur Vollkommenheit (Ai, L 384ff.) oder das für Herder in diesem Zusammenhang relevant werdende Leib-Seele Problem einzulassen. 66

kunsttechnische indiziert jedoch eine Theorieabhängigkeit dieser Beobachtung im Sinne von Lessings systematischen Voraussetzungen, die es nahelegt, den Ausdruck der »Vollkommenheit selbst« als inhaltliche Konkretisierung des »fruchtbaren Moments« zu lesen: das »Gesetz der Schönheit« ist identisch mit jenem künstlerischen Selektionsprinzip, das mit Rücksicht auf die materiellen Bedingungen der Malerei das Transitorische sowie den höchsten Affekt aus der bildenden Kunst ausschließt. N u r wenig später formuliert Lessing diesen Gedankengang ganz explizit: Kann der Künstler von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick, und der Mahler insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur aus einem einzigen Gesichtspunkte brauchen; sind aber ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederhohlter maaßen betrachtet zu werden: so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblickes, nicht fruchtbar genug gewählet werden kann. . . . Ferner. Erhält dieser einzige Augenblick durch die Kunst eine unveränderliche Dauer: so muß er nichts ausdrücken, was sich nicht anderes als transitorisch denken läßt. Alle Erscheinungen, zu deren Wesen wir es nach unsern Begriffen rechnen, daß sie plötzlich ausbrechen und plötzlich verschwinden, daß sie das, was sie sind, nur einen Augenblick seyn können; alle solche Erscheinungen, sie mögen angenehm oder schrecklich seyn, erhalten durch die Verlängerung der Kunst ein so widernatürliches Ansehen, daß mit jeder wiederhohlten Erblickung der Eindruck schwächer wird, und uns endlich vor dem ganzen Gegenstande eckelt oder grauet. (L 164/65)

An dieser Stelle setzt Herders Kritik an: »aber was ist denn eigentlich, was in der Natur nicht transitorisch, was in ihr völlig permanent wäre?« (SW 3:75). Lessings Restriktionen kehren sich, so folgert Herder, gegen ihre eigene Intention. Sie nehmen der Kunst ihren »besten Ausdruck« und verdammen sie zur Nachahmung »toter Natur,« jener Welt materieller Gegenständlichkeit, die nur der Grobheit unserer Sinne wegen in uns den täuschenden Eindruck von Dauer erweckt. Unter dem Zugriff der Kunst erstarrt das Leben zu Stein, das »Grauen« wird zur Schreckvision des Todes (Wellbery 120), denn selbst diese scheinbar permanente Welt selbstidentischer Objekte entkomme, so Herder, jener Hypostasierung durch die bildnerische Nachahmung nicht, die Lessing mit seinem Ausschluß des Transitorischen zu vermeiden sucht: »So gut als ich zu einem lachenden La Mettrie sagen kann, wenn ich ihn zum dritten, viertenmal, noch lachend sehe: du bist ein Geck! so gut werde ich auch endlich zu Myrons Kuh sagen können: nun, so gehe doch fort, was stehest du?« (SW 3:76). Man hat Herder vorgeworfen, er ziele mit diesem Argument an

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Lessing vorbei, insofern dieser mit dem Transitorischen lediglich Veränderungen von einer gewissen Gewaltsamkeit habe ausschließen wollen. Tatsächlich denkt Lessing vornehmlich an Erscheinungen, die »plötzlich ausbrechen und plötzlich verschwinden,« wobei weitgehend offen bleibt, welche konkreten Fälle im einzelnen unter der Kategorie des Transitorischen begriffen sind; abgesehen davon, daß Lessings Gebrauch dieses Begriffes nicht immer ganz konsistent ist.2 Aus dem Kontext geht meines Erachtens jedoch eindeutig genug hervor, was Lessing im Sinne hat. Als »Centrum einer Handlung« (L 251), das die Bewegung gleichsam im Stillstand bannt, ist der »fruchtbare Moment« eminent transitorisch. Aus keinem anderen Grund kann Goethe in seinem Gegenentwurf zum Laokoon von 1798 den »höchsten darzustellenden Moment« gerade im Transitorischen, im flüchtigen Ubergang zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht lokalisieren, ohne Lessing damit eigentlich zu widersprechen. Und dies gilt für Herders »ewigen Anblick« nicht minder, sofern er das gleiche Phänomen metaphorisch einzufangen sucht. Die Gemeinsamkeit hier liegt in der Fragestellung, nicht in den unterschiedlichen Formulierungen der jeweiligen Antworten. Noch Büchners Frage im Lenz, wie ein Kunstwertk Leben haben könne (1:86), muß in diesem Kontext gelesen werden, auch wenn die Form seiner Antwort in dieser Novelle bereits die Kapitulation der Theorie indiziert. Trotzdem ist der Vorwurf gegen Herder unberechtigt, geht es ihm doch nicht eigentlich um die Alternative transitorisch oder nicht, auch nicht um eine vielleicht präzisere Metapher für das Phänomen des »fruchtbaren Moments,« sondern um die grundsätzliche Problematisierung der konzeptuellen Voraussetzungen, die eine solche Alternative scheinbar erzwingen. Indem Herder Lessings inhaltliche Konkretisierung des »fruchtbaren Moments« als unzulänglich zurückweist, deckt er eine Sackgasse auf, in die Lessing zwangsläufig geraten muß in dem Maße, wie er seine Überlegungen innerhalb eines auf dem Imitationspostulat basierenden theoretischen Rahmens ansiedelt. Und dieser bildet in der Tat den Ausgangspunkt nicht nur für die systematische Deduktion des XVI. Ka-

2

Lessing denkt ganz offensichtlich an gewaltsame Affekte wie Zorn- oder Schmerzensausbrüche, sowie plötzliche Veränderungen in der Stellung von Körpern (vgl. L i 6 j und die Kontroverse um den »schwebenden« Mars [ L 202-206, A n m . c]). Blümners Frage, ob das Beispiel des lachenden La Mettrie von Lessing glücklich gewählt sei, da mit dem Lachen ebenso das Lächeln und damit der Reiz als »Schönheit in der Bewegung« aus der Kunst verbannt werde, ist nicht ganz unberechtigt (Blümner, L 518).

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pitéis, wo die mimetische Funktion beider Künste das tertium comparationis des unterscheidenden Vergleichs bildet,3 sondern ebenso für die in »zufälliger Weise entstandenen]« (L 148) Überlegungen der ersten Kapitel. Anders gesagt: der Konflikt zwischen Raum und Zeit in der Malerei, der den theoretischen Bewältigungsversuchen von Diderot bis Büchner zum Trotz immer wieder aufbricht, ist intelligibel nur auf dem Hintergrund zweier fundamentaler Annahmen, die das kunsttheoretische Denken seit der Antike in Bann halten: der Begründung des »Wesens« der Kunst in der Naturnachahmung und der Differenzierung der Künste in den Kategorien von Raum und Zeit. Wie das Mimesisprinzip im einzelnen gefaßt wird - ob mit Plato als unvollkommene Kopie eines zeitlosen Urbildes, ob mit Aristoteles als Aktualisierung einer in der Natur latent vorhandenen Möglichkeit, oder ob schließlich mit Lessing als Motivation des ästhetischen Zeichens im Rahmen einer allgemeinen Theorie der Signifikation - ist dabei relativ belanglos; ebenso die jeweils unterschiedliche Akzentuierung etwa in der Frage der Hierarchie der Künste. All diese Differenzen sind vereinbar in dem Maße, wie sie als Varianten einer einzigen kunsttheoretischen Problematik am Diskurs einer philosophischen Tradition partizipieren, die den Gegensatz von Kunst und Natur und das ontologische Primat der Natur als gegeben voraussetzt. Lessing knüpft ganz bewußt an diese Tradition an. Wie oft genug hervorgehoben wurde, ist der gesamte systematische Unterbau des Laokoon bereits zu Lessings Zeiten ein Allgemeinplatz der Theoriediskussion.4 Und wenn er die Malerei auf das »Gesetz der Schönheit« verpflichtet, so greift er mit der Frage nach dem selektiven Prinzip im Akt der künstlerischen (Re)produktion ein Problem auf, das zur gleichen Zeit in Frankreich unter Anderen von Diderot und Batteux unter dem Schlagwort der »belle nature« diskutiert wurde.5 Im Grunde handelt es sich bei dieser Diskussion um eine ästhetische Variante der metaphysischen Theodizeeproblematik: »Das objective Ideal,« schreibt Mendelssohn in seinem

3

4 5

Wellbery macht zu Recht darauf aufmerksam (103), woraus meines Erachtens aber nicht ohne weiteres folgt, daß Lessing damit selbst im Banne des von ihm kritisierten ut pittura poesis befangen bleibe (105). Das eigentliche gemeinsame Prinzip beider Künste ist eine auf die Natur-Kunst Dichotomie nicht reduzible sprachlich-poetische Imagination. Wellbery verkennt den metaphorischen Charakter, den der Nachahmungsbegriff und seine Derivate (»mahlerisch,« »sinnlich,« »poetisches Gemähide« etc.) in Lessings Diskurs annehmen. U . a . von Todorov (137). Eine ausführliche Darstellung der Quellen des Laokoon bietet Blümner in seiner Einleitung. Vgl. dazu Todorov, Kap. 4. 69

Kommentar zu einem der ersten Laokoonentwürfe Lessings, »ist das Maximum der Schönheit. Die Natur hat es im ganzen Weltall erreichet und eben deswegen in allen ihren Theilen nicht erreichen können. Auch war die Schönheit nicht ihre Hauptabsicht, und sie hat sehr oft der Vollkommenheit, oder dem Guten und Nützlichen weichen müssen« (A2, L 384/85). Wie kann der Künstler, der immer nur einen beschränkten Ausschnitt, nie das Ganze zu fassen vermag, dem Gesetz der Schönheit folgen, ohne gegen das Nachahmungsprinzip zu verstoßen? Solange »Schönheit« objektiv als Qualität der Natur begriffen wird, wie dies bei den Theoretikern der »belle nature« durchweg der Fall ist und selbst noch etliche von Lessings Formulierungen dies nahelegen (vgl. u. a. L 155), ist die simultane Befolgung beider Forderungen unproblematisch, weil lediglich eine Frage negativer Selektion. Deren Kriterien müssen prinzipiell im Rekurs aufs Objekt explizierbar sein, selbst wenn dies in der Praxis nicht immer gelingt. Bei Mendelssohn liegt der Fall jedoch anders. Wenn das Ideal der Schönheit nur dem Ganzen zukommt, kann es nicht auf dem Wege eines Auswahlverfahrens, sondern allein durch ein Uberspringen der Natur in Richtung aufs Ideal erreicht werden. Der Künstler, so Mendelssohn, müsse »dem Ideal näher kommen als selbst die Natur,« und folglich die menschliche Figur »so darstellen, wie sie von der Natur hervorgebracht worden wäre, wenn die Schönheit dieser einzelnen Person ihre Hauptabsicht gewesen wäre« (A2, L 385). Lessing geht an einer Stelle des Laokoon - in krassem Gegensatz übrigens zu seinen zentralen Thesen - sogar soweit zu behaupten, daß die höchste Schönheit sinnlich überhaupt nicht darstellbar sei.6 Mendelssohns Variante der Mimesisproblematik enthält wesentlich radikalere Implikationen als ihr französisches Gegenstück und präsentiert dementsprechend auch größere theoretische Schwierigkeiten. Denn die 6

So in seinem Kommentar zu einem Helenaporträt des Zeuxis nach der Beschreibung des Homer: »Laßt ihn aber auch das höchste Ideal der weiblichen Schönheit gemahlt haben: so ist es doch gewiß, daß sein Gemähide die allgemeine Wirkung nicht kan gehabt haben, die man der Beschreibung des Dichters zugestehen muß« ( A 2 . I 3 , L 3 8 i ) . Der Grund dafür: der Dichter kann Schönheit nur indirekt, durch Andeutung, Wirkung auf andere etc. darstellen. Dieser »Mangel« wird aber dadurch zum Vorzug, daß die sinnliche Unterdeterminierung des Objekts der Imagination einen größeren Spielraum an Projektionsmöglichkeiten läßt: »die Kunst kann nicht mehr thun, als die Natur selbst, und das schönste Gesicht in der Natur selbst, wird nicht aller Menschen Beyfall in einerley Grade haben. Homers Helena ist und bleibet die einzige, an der niemand etwas auszusetzen findet, die alle Menschen gleich stark entzücket« (ebd.).

70

Verlagerung des Ideals in die Immanenz der Kunst resultiert in einer Akzentverschiebung innerhalb des Nachahmungskonzepts, die dessen Bedeutung ins Gegenteil verkehrt: mimesis wird zu poeisis.7 Die Rettung des Mimesisgedankens erfordert daher die Reformulierung dieses Konzepts in einer Weise, die die auseinanderstrebenden Bedeutungen zu integrieren in der Lage ist: der Dichter ist Schöpfer gerade indem er nachahmt, freilich nicht die Natur in ihrer Objekthaftigkeit, sondern das ihr unterliegende kreative Prinzip. Als »second maker« (Shaftesbury) muß er sich gleichsam zum Gott aufschwingen, um dessen Werk im einzelnen zu übertreffen, was er indes nicht vermag, ohne gleichzeitig dem Begriff der Gottheit zu widersprechen. Allem voran aber stellt sich die Frage, wie ein sterbliches Individuum zum Begriff des Ideals überhaupt gelangen kann. Der platonische Mythos der Wiedererinnerung, demzufolge die Existenz des Urbildes in der Seele des Künstlers den kreativen Prozeß mit intuitiver Sicherheit leite, stellt in diesem Zusammenhang zweifellos die naheliegendste Antwort dar, und es erstaunt nicht, daß man aus Ermangelung alternativer Erklärungen immer wieder auf den platonischen Anamnesegedanken zurückgreift. Sobald jedoch das Schönheitsproblem als ein semiotisches formuliert wird, d. h. als Frage nach der besonderen Natur des ästhetischen Zeichens, bricht der im Nachahmungspostulat latent angelegte Konflikt offen aus, zunächst als eine Krise des »natürlichen« Zeichens und schließlich des Zeichenbegriffs überhaupt. Indem Herder diesen Widerspruch im Schönheitsbegriff akzentuiert, lenkt er die Aufmerksamkeit auf eine Ebene in Lessings Diskurs, die gleichsam hinter dem Rücken des gattungstheoretischen Projekts eine Frage ganz anderer Art verfolgt. Dieser Untertext verzeichnet seismographisch den Zersetzungsprozeß zentraler Theoreme der zeitgenössischen Ästhetik, die der Konfrontation mit ihren eigenen Ansprüchen nicht standzuhalten vermögen. Lessings Haltung dabei entspricht dem eines Experimentators: er geht aus von der gängigen Deduktion der Künste aus dem Prinzip der Naturnachahmung, formuliert sie als Hypothese (was lei-

7

Todorov sieht in dieser Akzentverschiebung die wesentliche Leistung der romantischen Kunsttheorie, setzt aber meines Erachtens die »Romantische Revolution« viel zu spät, nämlich erst mit Moritz an. Der Bruch zwischen »Klassik« und »Romantik« ist aber so radikal nicht, wie es die Literaturhistoriker gern hätten. Bereits Baumgartens Nachahmungsbegriff in den Meditationes ist, nicht zuletzt infolge der Einflüsse neoplatonischen Gedankenguts, extrem zweideutig.

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der nur allzuoft übersehen wird) und macht die Probe auf ihre Tragfähigkeit: Ich schließe so. Wenn es wahr ist, daß die Mahlerey zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nehmlich Figuren und Farben in dem Räume, diese aber artikulirte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältniß zu dem Bezeichneten haben mäßen: So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Theile neben einander existiren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Theile auf einander folgen. (L 25of.; Hervorhebungen von mir.) Die Malerei bedient sich »natürlicher« Zeichen im Raum, die Poesie »willkürlicher« Töne in der Zeit. (Im Gegensatz zu den Entwürfen ist in der Endfassung dieser Unterschied lediglich impliziert. A n seine Stelle tritt, aus Gründen die uns noch beschäftigen werden, die normative Forderung

nach Motivierung

des ästhetischen Zeichens

schlechthin

[2. Prämisse], was in der Deduktion des Dichtungsbegriffs zu erheblichen logischen Komplikationen führt. Aber bleiben wir zunächst bei der Malerei.) Der qualitative Unterschied im semiotischen Status von Malerei und Poesie ist dabei nicht minder bedeutsam als ihre raum-zeitliche Distribution, vor allem im Zusammenhang der Frage nach der Hierarchie der Künste. Dubos beispielsweise rekurriert auf die Doktrin der »natürlichen Zeichen,« um die Überlegenheit der Malerei über die Dichtung zu rechtfertigen: »Je crois que le pouvoir de la peinture est plus grand sur les hommes que celui de la poésie; & j'appuye mon sentiment sur deux raisons. L a premiere est que la peinture agit sur nous par le sens de la vue. La seconde est que la peinture n'employe pas des signes artificiels, ainsi que le fait la poésie, mais bien des signes naturels« ( 1 : 2 1 6 ) . Die Zugkraft dieses gängigen Arguments steht und fällt mit der seit Plato geläufigen Annahme, daß der Referent des »natürlichen Zeichens« in der Natur der Dinge selbst gegründet sei - sei es als strukturell isomorphe Abbildbeziehung oder als metonymischer Kausalzusammenhang. 8 K r a f t ihrer natürlichen Zeichen, so folgert Dubos, sei die Malerei in der Lage, direkt aufs Auge, und damit unmittelbar auf die Seele zu wirken (»On peut dire, poétiquement parlant, que l'œil est plus près de l'âme que l'oreille« 8

Die klassische Formulierung der Doktrin des »natürlichen Zeichens« stammt aus Piatos Kratylos und bleibt bis ins achtzehnte Jahrhundert verbindlich. Wolff: »Si significatus ratio in ipsis rerum notionibus continetur, Signa naturalia dicuntur« (Ontologia, par. 956, Werke 2. Abt. 3:689). Zur Begriffsgeschichte vgl. Coseriu.

72

[1:217]), w a s 'hr den privilegierten Status eines notwendigen und universalen Kommunikationsmediums verleihe. Noch Lessing bemerkt in einem der Nachlaßfragmente, daß die »natürlichen Zeichen« der Malerei »einen großen Vorzug vor der Poesie gewähren« (C3, L 430), da ihre Wirkung »unendlich geschwinder und lebhafter« sei als die der willkürlichen Zeichen (Ai, L 355), insofern sich der bezeichnete Gegenstand in allen seinen Teilen »auf einmal übersehen« (A2, L 363) lasse. Mit der Forderung nach einem »bequemen Verhältniß« zwischen Zeichen und Bezeichnetem befindet sich Lessing zunächst also ganz im Einklang mit der zeitgenössischen Zeichentheorie. Während aber die Verwendung natürlicher Zeichen für Dubos den Vorzug der Malerei begründet, wird gerade diese Tatsache bei Lessing zum Hindernis, zur »materiellen Schranke« angesichts einer Natur, in der nach Herders Worten nichts »völlig permanent« ist (SW 3:75).' In ihrer Beschränkung auf die semiotischen Möglichkeiten koexistierender materieller Objekte eliminiert die Malerei - gerade in ihrer Funktion als natürlichem Zeichen auf der Signifikantenebene jene Temporalität, die für die Signifikatebene konstitutiv ist. Obwohl Herders Interesse an der zeitgenössischen Semiotik letztlich über die kunsttheoretische Problematik hinaus auf die erkenntnistheoretischen Implikationen des Repräsentationsdenkens zielt, ist doch der Einwand, den er in Richtung einer reductio ad absurdum des Imitationspostulats vorantreibt, identisch mit dem Problem, auf das Lessing, Goethe und selbst noch Büchner eine Antwort suchen, ohne es lösen zu können. Gerade weil die Natur, wie Lessing selbst zugibt, »immer veränderlich« ist (L 164), gerät sie überhaupt erst in jenen Widerspruch zur Statik des artistischen Mediums (»Figuren und Farben im Raum«), der die Notwendigkeit des »fruchtbaren Moments« formal begründet (vgl. den vierten Syllogismus im XVI. Kapitel, L 251). Dieser Widerspruch manifestiert sich im Widerstand, den die krude Materialität der von Plastik und Malerei verwendeten Zeichen der temporalen Dynamik des Objekts bzw. der Imagination entgegensetzt: »The space of painting,« schreibt Wellbery, »is a frozen space which can assert itself to such a degree as to resist being taken up into the movement of subjective experience« (Wellbery 120). Lessing versucht dieser Schwierigkeit dadurch zu begegnen, daß er 9

Rudowski übersieht diese zusätzliche Dimension in Lessings Argument, wenn er die Frage stellt, wie Lessing auf der Grundlage der gleichen systematischen Voraussetzungen wie seine Vorgänger zu völlig anderen Schlußfolgerungen bezüglich der Hierarchie der Künste gelangen könne (17Í·)·

73

zunächst das Moment der Zeit als zusätzliche Bedingung der Seinsweise von Körpern einführt, um dann der Malerei, was die Darstellung temporaler Prozesse betrifft, gewisse Zugeständnisse zu machen.

Dabei

operiert er aber mit einem Zeitbegriff (Zeit als lineares Kontinuum von Seinspunkten, verbunden durch den Kausalnexus von Ursache

und

Wirkung), der mit dem Wesen der Bewegung in eigenartige Kollision gerät. Denn was heißt, »Körper existiren nicht allein in dem Räume, sondern auch in der Zeit« ( L 2 5 1 ; Hervorhebungen von mir), oder die Malerei könne »auch Handlungen nachahmen, aber nur andeutungsweise durch Körper« (L 2 5 1 ) ? Die aus Lessings systematischen Prämissen zwangsläufig folgende konzeptuelle Dissoziation von Raum und Zeit erfordert nun ein Prinzip, das theoretisch zu vermitteln imstande ist, was zwar unabhängig voneinander gedacht, nicht aber eigentlich wahrgenommen

werden

kann. U n d

insofern in der

Wahrnehmung

Raum und Zeit auf untrennbare Weise ineinander verwoben sind, bleibt die Behauptung, daß Körper im Raum, oder vice versa, Bewegungen in der Zeit existieren, eine reine Abstraktion. 1 0 Mit dem normativen A u s schluß

des Transitorischen

-

selbst

in

jenem

restringierten

Sinne

genommen, in dem Lessing es offenbar verstanden wissen wollte - ist indes, wie Herder nachweist, diesem Problem nicht

beizukommen;

ebensowenig aber auch mit der quasimystischen Transzendierung der

10 Der Euclidische Raum und der absolute, räumlich überdeterminierte Zeitbegriff ist von Newton bis Kant verbindlich. Herder hat zeitlebens vom Standpunkt einer relationellen Raum und Zeitvorstellung dagegen polemisiert. Objekte existieren für ihn nicht im leeren, logisch ihnen vorausliegenden Raum, sondern konstituieren Raum, indem sie sich »Raum schaffen.« Entsprechend ist Zeit das individuelle »Maas« eines Dings (Metakritik, SW 21:$9). Gegen Kants transzendentale Deduktion der Kategorien stellt Herder das alternative Projekt einer physiologisch-psychologischen Ästhetik, die die Genese von Raum und Zeit aus der sinnlichen Erfahrung herleitet. Die Anfänge dieses Projekts reichen zurück bis in die frühen sechziger Jahre und führen über die Kritischen Wälder (1. und 4.Wäldchen) und die Plastik (1778) bis hin zur Metakritik (1799), wo sie ihre systematische Ausformung findet. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, daß bereits Leibniz auf der Grundlage des Prinzips der Identität des Ununterscheidbaren zu einer relationellen Theorie von Raum und Zeit gelangt, die er in seiner Korrespondenz mit Clarke (1716) gegen Newton verteidigt. Ballard zieht frappierende Parallelen zu den Einsichten der modernen Relativitätstheorie, wenngleich aufgrund der für Leibniz zugänglichen empirischen Evidenz sowie aus Ermangelung eines angemessenen technischen Vokabulars eine unseren heutigen Standards von »Wissenschaftlichkeit« genügende Begründung ausgeschlossen war.

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Zeit im »ewigen Anblick,« obwohl es Herder damit gelingt, Lessings Argument von der abschwächenden Wirkung »wiederholter Erblickung« scheinbar wegzudiskutieren. Wenn trotzdem Herders Zugriff auf den »fruchtbaren Moment« auf den ersten Blick überzeugender wirkt, so deshalb, weil er die Perspektive der Betrachtung vom Kunstwerk auf die Wirkung verschoben hat. Der »ewige Anblick« bezeichnet nichts anderes als jene vertraute ästhetische Erfahrung des Kunstschönen, die de facto existiert ungeachtet der Schwierigkeiten, sie theoretisch in den Griff zu kriegen. Während Herder diese Erfahrung metaphorisch benennt, geht es Lessing um die Wiedergewinnung der hinter falschen Antworten verschütteten Frage nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit. Er geht aus von jenem gängigen Argument, das diese Bedingungen im Werk zu lokalisieren sucht und demonstriert dessen Scheitern. Dies manifestiert sich an dem Punkt, wo der Mythos des »natürlichen Zeichens« versagt und Lessing, um das Ineinander von Raum und Zeit in der ästhetischen Erfahrung begreiflich zu machen, auf ein Prinzip rekurrieren muß, das durch die Doktrin der »natürlichen Zeichen« nicht abgedeckt wird: auf das Prinzip der Imagination. Im Kontext dieser Absicht erhellt die eigenartige Ambivalenz, mit der Lessing das Selektionsprinzip der Malerei nicht nur in Bezug auf das zu repräsentierende Objekt als Ausschluß des Transitorischen, sondern zugleich auf die zu erzielende Wirkung definiert (bereits der Ausdruck »andeutungsweise« verbirgt die Frage nach der Wirkung, während er sich grammatikalisch aufs Objekt bezieht): der Moment müsse so gewählt werden, daß aus ihm »das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird« (L 251). Entsprechend hält er für die Ausschließung des »höchsten Affekts« zweierlei Rechtfertigungen parat: zum einen durch seine Subsumption unter die Kategorie des Transitorischen, zum anderen durch seine Unterwerfung unter die Forderungen der Einbildungskraft: »Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freyes Spiel läßt. J e mehr wir sehen, desto mehr müßen wir hinzu denken können. Je mehr wir dazu denken, desto mehr müßen wir zu sehen glauben. . . . dem Auge das Aeußerste zeigen, heißt der Phantasie die Flügel binden« (L 165). Die Inkongruenz zwischen beiden Begründungen ist zu augenfällig, um nicht auf eine Absicht hinzudeuten. Die zunächst als Eigenschaft der Natur postulierte Schönheit entpuppt sich schließlich als pure Funktion der Imagination: »was wir in einem Kunstwerke schön finden, das findet nicht unser Auge, sondern unsere Einbildungskraft, durch das Auge, schön« (L 194).

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Dieser Gedankengang findet, wie ich im letzten Kapitel näher ausführen werde, sein Komplement in einer Wirkungsstrategie der Kunst, die deren esoterischen »Endzweck« gerade aus der Diskrepanz zwischen Kunst und Natur herleitet. Indem die Kunst »wirklich« absondert, was wir ansonsten lediglich »in unsern Gedanken absondern, oder abzusondern wünschen« (e. g. Raum und Zeit), vermag sie uns gleichzeitig »dieser Absonderung zu überheben« (Hamburgische Dramaturgie, LM 10:83); und zwar dadurch, daß sie eine imaginative Transzendierung dieser Schranken anregt, die - wenn sie ins Bewußtsein tritt - die Wahrnehmung als solche und damit die »Absonderungen« der sogenannten Wirklichkeit auf ihren poetischen Grund hin durchsichtig macht. Mit diesem Zugeständnis an die Imagination als einen konstitutiven Faktor ästhetischer Erfahrung löst sich das Rätsel von Raum und Zeit in der Malerei (und damit Büchners Frage, wie ein Werk der Kunst Leben haben könne) sozusagen von selbst. Das, war wir Schönheit nennen, jener unerklärliche Uberschuß des Signifikats über den Signifikanten, ist in Wahrheit ein Effekt der ästhetischen Illusion, ein Produkt unserer Einbildungskraft. Als materielles Artefakt präsentiert das Werk die Momentaufnahme eines Handlungszusammenhangs, deren Struktur dem Betrachter eine Reihe von Anhaltspunkten liefert, anhand derer er das Vor- und Nachher in einem imaginativen Akt indirekt zu ermitteln in der Lage ist. Goethe hat diese »supplierende« Tätigkeit der Imagination anhand eines Experiments aus der Wahrnehmungspsychologie illustriert: U m die Intention des Laokoon recht zu fassen, stelle man sich in gehöriger Entfernung, mit geschlossenen Augen, davor; man öffne sie und schließe sie sogleich wieder, so wird man den ganzen Marmor in Bewegung sehen, man wird fürchten, indem man die Augen wieder öffnet, die ganze Gruppe verändert zu finden. Ich möchte sagen, wie sie jetzt dasteht ist sie ein fixierter Blitz, eine Welle, versteinert im Augenblicke da sie gegen das Ufer anströmt. Dieselbe Wirkung entsteht, wenn man die Gruppe nachts bei der Fackel sieht. (»Uber Laokoon,« G G A 1 3 : 1 6 6 )

Die Literatur enthält zahlreiche Beispiele, die Goethes Beobachtung bestätigen. In seinem berühmten Kunstgespräch, erzählt Büchners Lenz schließlich eine Geschichte, um den Eindruck eines Gemäldes verbal vermitteln zu können (i:8/ff.) Goethe selbst rekonstruiert in seinem Laokoonessay die durch die Plastik »angedeutete« Handlung; freilich nicht ohne warnend hinzuzufügen, daß man »die Wirkung, die das Kunstwerk auf uns« mache - an anderer Stelle spricht er von dieser »Fiktion« als dem »poetische[n] Teil« der bildenden Kunst (»Baukunst« [1795], G G A 1 3 : 1 1 0 ) - »nicht zu lebhaft auf das Werk selbst« übertrage

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( G G A 13:169). 1 1 Lapidarer formuliert Lessing in einem seiner Nachlaßfragmente den gleichen Gedanken: »Das Leben der Bewegung welche sie [die Werke] zu haben scheinen, ist der Zusatz unserer Einbildung; die Kunst thut nichts als daß sie unsere Einbildung in Bewegung setzt« (C12, L 446). Damit hat das »subjektive« Moment künstlerischer Produktion das Imitationspostulat zu einem bedrohlichen Grade unterwandert. Die Rede ist nicht eigentlich mehr von einer repräsentationeilen Relation zwischen einem Artefakt und einem Objekt der Natur, sondern von einem teleologischen Prinzip im Akt künstlerischer Produktion und Rezeption-12 Zu Komplikationen ganz ähnlicher Art führt Lessings Versuch, die Poesie in Analogie zur Malerei als deren exakt symmetrisches Gegenstück zu deduzieren. Während sich bei der Malerei erst bei der inhaltlichen Konkretisierung des »fruchtbarsten Moments« im vierten Syllogismus Probleme ergeben, wirkt die komplementäre Ableitung der Poesie von vornherein forciert. Fragwürdig vom Standpunkt einer streng logischen Deduktion ist nicht erst die Differenzierung zwischen »Bewegungen« und »Handlungen,« sondern bereits der Schluß vom »Mittel« poetischer Nachahmung (»artikulierte Töne in der Zeit«) auf deren eigentlichen Gegenstand als einen sukzessiven. Ermöglicht wird dieser Schluß allein dadurch, daß Lessing mit der zweiten Prämisse - »wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältniß zu dem Bezeichneten haben müßen« (L 250) - Malerei und Dichtung auf eine gemeinsame semiotische Grundlage stellt. Hatte er noch in den Entwürfen die »willkührlichen Zeichen« der Poesie von den »natürlichen« der Malerei abgesetzt, so sollen in der Endfassung beide Künste kraft der »Natürlichkeit« ihrer Zeichen nachahmen. Es ist diese Prämisse, nicht der Begriff der Handlung als solcher, gegen die Herder sich wendet. Denn wenngleich es Lessing mit der Insistenz auf dem »bequemen Verhältnis« den Anschein einer logischen Deduktion zu wahren gelingt, so nur um den Preis einer Verlagerung des »Mittelpunktes« poetischer Wirkung vom Zentrum auf die Peripherie. 11

In Witickelmann und sein Jahrhundert (1805) bezeichnet Goethe das Gefühl der Erhabenheit angesichts der Ruinen auf klassischem Boden als eine »notwendige Täuschung« ( G G A 13:428). 12 Im Denken des achtzehnten Jahrhunderts sind die Bereiche von Produktion und Rezeption nicht streng getrennt, eine Einsicht, die die moderne Rezeptionsästehtik gegen ein falschverstandenes Autonomiekonzept und die daraus folgende Verabsolutierung der Produktionssphäre erst mühsam wiedergewinnen mußte. Alles Rezipieren ist ein produktiver, konstitutiver Akt. Vgl. dazu das erste Kapitel dieser Arbeit »Herders poetische Hermeneutik.«

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Gegen diese Kommensuration des Inkommensurablen besteht Herder auf der Willkürlichkeit des poetischen Mediums: »Hier ist das Natürliche in den Zeichen, ζ. E. Buchstaben, Klang, Tonfolge, zur Wirkung der Poesie wenig oder nichts: der Sinn, der durch eine willkührliche Uebereinstimmung in den Worten liegt, die Seele, die den artikulirten Tönen einwohnet, ist alles« (SW 3:136). Obwohl Herders Einwand Lessing letzten Endes nicht trifft, ist er nicht völlig unberechtigt, wird doch der tiefere Sinn der Forderung nach einem »bequemen Verhältnis« zwischen Zeichen und Bezeichnetem erst aus den zeichentheoretischen Spekulationen des Nachlasses voll ersichtlich (vgl. dazu Kapitel 3.4 unten). Zunächst sieht es jedoch tatsächlich so aus, als ob Lessing mit dieser Forderung in der zweiten Prämisse als ein Axiom formuliert, was im Kontext seines bisherigen Arguments nur als normative Forderung verstanden werden kann, weswegen der Eindruck einer gewissen Zirkularität in der Deduktion des Dichtungsbegriffs nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Was immer zum Lob von Lessings »systematischer Rigorosität« (Wellbery 7, Todorov 137, 145) hervorgebracht worden sein mag, Herder stellt irritiert deren Abwesenheit fest: U m auf einen fruchtbarem Weg zu kommen, als dieser trockne Nebenbegrif [der Sukzession] gewähret, macht Hr. L. einen Sprung, den ich ihm nicht nachtuhe. »Die Poesie schildert durch successive Töne; folglich schildert sie auch Successionen, folglich hat sie auch Successionen, und eigentlich nichts als Successionen zum Gegenstande. Successionen sind Handlungen; folglich» und folglich hat Hr. L . was er will; aber woher kann ers haben? Den Begrif der Handlung fand er in der Succession; und daß sie nur fortschreitende Gegenstände schildere, Schloß er, weil sie in successiven Tönen schildert - w o bleibt hier die Kette? (SW 3:143)

Den Bruch in der »Kette« lokalisiert Herder an jenem Punkt, wo die Forderung nach Motivierung des poetischen Zeichens (Wirkung durch Sukzession) mit der dem Handlungsbegriff eigenen Teleologie kollidiert: »Der Begriff des Successiven ist zu einer Handlung nur die halbe Idee: es muß ein Successives durch Kraft seyn: so wird Handlung« (SW 3:139). Handlung impliziert den Begriff der Sukzession, gleichsam als ihre conditio sine qua non, ohne darauf reduzierbar zu sein. Daß Herders Einwand in dieser Form überhaupt notwendig wird, ist umso erstaunlicher, als Lessing selbst in den Abhandlungen über die Fabel (1759) den Begriff der Handlung ganz im Herderschen Sinne als eine »Folge von Veränderungen« definiert hatte, »die zusammen Ein Ganzes ausmachen« (LM 7:429). Jeder einzelne von Herders Einwänden findet sich bereits in Mendelssohns Kommentar zum ersten Entwurf des Laokoon (A2, L 357-386).

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Lessing selbst hat sie sämtlichst reflektiert und in der Endfassung antizipiert. Er gibt zu, daß die Dichtung aufgrund der Willkürlichkeit ihrer Zeichen koexistierende Gegenstände darstellen könne, nur umso hartnäkkiger darauf zu bestehen, daß sie es nicht solle. Er gibt zu, daß der Begriff der Handlung in dem der Sukzession nicht aufgehe und korrigiert zunächst diesen »Sprung« im System, indem er das Wort »Handlungen« durch »Bewegungen« ersetzt. In der Endfassung heißt es dann unter Verzicht auf jede weitere terminologische Spezifizierung freilich wieder kategorisch: »Gegenstände, die auf einander, oder deren Theile auf einanderfolgen, heißen überhaupt Handlungen« (L 251). Diese terminologische Diskrepanz deutet auf einen Widerspruch der gleichen Ordnung, wie ihn Herder bereits im Herzen der Schönheit aufgedeckt hatte. Als ein der Schönheit in der Malerei komplementäres

»Integrationsprinzip«

(Wellbery 183) trägt »Handlung« die Signatur des Genies, d.h. einer Einbildungskraft, die dem systematischen Zugriff einer semiotischen Ästhetik entgleitet, die aber, einmal ins philosophische Bewußtsein gerückt, den zeitgenössischen ästhetischen Diskurs unaufhaltsam von innen her aushöhlt.

2. Natur als Artefakt: die Determinanten des Sehens Was ist der Status dieser Einbildungskraft? Wozu ist sie ein »Zusatz?« Für Herder ist die Antwort klar: »Kraft« ist das »Wesen der Poesie,« eine »Kraft, die dem Innern der Worte anklebt, die Zauberkraft, die auf meine Seele durch die Phantasie und Erinnerung wirkt« (SW 3:139). Will sagen: der Dichter schafft Welt in einer Sprache, die noch nicht in Subjekt und Objekt, Zeichen und Bezeichnetes zerfallen ist. Die Rede von einem »Zusatz unserer Einbildung« ergibt von einer derartigen Position aus keinen Sinn, denn als konstitutive sprachliche Kreativität ist die poetische Imagination Bedingung der Möglichkeit von Welt und nicht etwas, das sich isolieren ließe. Demgegenüber fällt auf, daß Lessing im Laokoon die Begriffe der »Einbildungskraft« und der »Poesie« nicht synonym verwendet. Selbst wenn er im Vergleich zur Malerei die Poesie als die »weitere,« und infolge der Temporalität ihres Mediums der Einbildungskraft kommensurablere Kunst bezeichnet, so bleiben doch beide Begriffe in einer nie ganz geklärten Weise geschieden; und zwar in dem Maße, wie Lessing der Dichtung mit der Forderung nach Motivierung ihrer Zeichen »Schranken« verleiht, die sie - wie Herder zu Recht geltend macht -

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eigentlich gar nicht hat. So wie die Imagination die »Figuren und Farben« der Malerei auf die fehlende Bewegung hin transzendiert, muß sie die nur »mit einem Zug« angedeuteten Körper aus der poetischen Handlung indirekt erschließen. Auch die Dichtung wird damit den Forderungen einer Einbildungskraft unterworfen, die durch die Kunst als ihr Medium wirkt, ohne ganz darin aufzugehen. Man würde vergeblich suchen, wenn man die Frage nach dem Wesen der Imagination im Laokoon oder irgend sonstwo in Lessings Werk explizit gestellt zu finden hoffte. Und doch möchte ich behaupten, daß eben jene nicht gestellte Frage das unsichtbare Zentrum, nicht erst der romantischen Kunsttheorie, sondern bereits der Poetik des Laokoon markiert. Sie ist der Motor hinter Lessings immensem Interesse an der zeitgenössischen Zeichentheorie, hinter der Frage nach den »Grenzen der Malerei und Poesie,« der geheime Konvergenzpunkt schließlich in der Kontroverse mit Herder. Dabei steht das Verschweigen der Frage in einem direkten und notwendigen Zusammenhang mit der spezifischen Form, die ihre Antwort in Lessings Werk annimmt. Auf dem terminologischen Terrain einer Ästhetik, die systematisch verdrängt, was sie desungeachtet voraussetzt, nähert sich Lessing dem Phänomen der Imagination gleichsam durch die Hintertür, über den Umweg der Problematisierung eines Mythos, des Mythos vom »natürlichen Zeichen.« Diese Problematisierung setzt in dem Augenblick ein, wo Lessing in den »natürlichen Zeichen« der Malerei ein konstitutives Moment imaginativer »Willkür« aufweist. Ermöglicht diese Einsicht die Umkehrung der traditionellen Hierarchie der Künste, so gerät damit aber gleichzeitig der gesamte konzeptuelle Unterbau des Laokoon auf eigentümliche Weise in Bewegung. Infolge der Unterordnung der Malerei unter die Forderungen der Einbildungskraft verschiebt sich die ursprünglich zwischen Bild und Wort verlaufende Grenze zwischen »Natur« und »Konvention« als Gegensatz zwischen »sehen« und »hinzudenken« ins sogenannte natürliche Zeichen selbst. Infolge dieser Ausgangsposition erscheint bei Lessing die Frage nach der Imagination gleichsam in verhüllter Form, als Versuch einer Isolierung der »Natur« im sogenannten »natürlichen Zeichen.« Was ist es, was wir sehen, wenn wir ein Werk der Kunst betrachten? Goethes Antwort auf diese Frage scheint sich zunächst als die naheliegendste anzubieten: die Demarkationslinie zwischen Natur und Kunst, Realität und Fiktion, verläuft zwischen Innen und Außen, den Bereichen des Sichtbaren und des Unsichtbaren. Die »supplierende« Tätigkeit der 80

Imagination setzt in dem Moment ein, wo der visuelle Eindruck durch das Schließen der Augen unterbrochen und im Inneren fortgesetzt wird. Diese in ihrer Simplizität bestechende Antwort verdunkelt aber das eigentliche Problem, indem sie den Unterschied zwischen ästhetischer Erfahrung und empirischer Wahrnehmung tendenziell verwischt, ist doch im empirischen Bereich, im Gegensatz zu dem der Kunst, die Bewegung keineswegs »unsichtbar.« Lessing, der diese Frage in den zeichentheoretischen Spekulationen des Nachlasses verfolgt, schlägt demgegenüber eine andere Strategie ein. Er konfrontiert die Doktrin der »natürlichen Zeichen« mit ihrem eigenen Anspruch und verfolgt so die Spuren des Unsichtbaren mitten im Sichtbaren: »Die Mahlerey sagt man, bedienet sich natürlicher Zeichen. Dieses ist überhaupt zu reden wahr. Nur muß man sich nicht vorstellen, daß sie sich gar keiner willkührlichen Zeichen bediene; wovon an einem andern Orte. Und hiernächst laße man sich belehren, daß selbst ihre natürlichen Zeichen, unter gewißen Umständen, es völlig zu seyn aufhören können« (C2, L 428). Interessant ist hier vor allem der letztgenannte Fall von »Willkühr« in der Malerei: die auf eine Instabilität im Verhältnis zwischen Signifikant und Signifkat hindeutende Veränderung im Status des natürlichen Zeichens selbst. In einem anderen Fragment geht Lessing diesem Phänomen weiter nach: »Die Zeichen der Mahlerey sind nicht alle natürlich; und die natürlichen Kennzeichen willkührlicher Dinge können nicht so natürlich seyn, als die natürlichen Kennzeichen natürlicher Dinge. Es ist auch sonst viel Convention darunter. Exempel von der Wolke« (A4.3, L 396). Die Prämisse, derzufolge die Malerei sich natürlicher, die Poesie dagegen willkürlicher Zeichen bediene, ist damit in der Form, wie sie noch in den Entwürfen als Axiom in die systematische Deduktion der Künste eingegangen war, nicht länger zu halten und wird von Lessing konsequenterweise in der Endfassung modifiziert. Um den Anteil des Konventionellen im natürlichen Zeichen isolieren zu können, unterscheidet Lessing nun auf der Signifikatebene zwischen einer primären und einer sekundären Repräsentation, wodurch sich Goethes Gegensatz zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren auf einen zwischen Materiellem und Immateriellem verschiebt.13 Lessings Termino13 Mitchell spricht in diesem Zusammenhang von »direkter« und »indirekter« Repräsentation (102). Wellbery versucht, Lessings Zeichenmodell mit Hilfe der glossematischen Terminologie Hjelmslevs zu erhellen. Die voreilige Gleichsetzung der im Laokoon abwesenden Erkenntnistheorie mit derjenigen Wolffs verführt ihn jedoch zu einer Modifikation des Hjelmslev'schen Zeichenmo81

logie läßt sich am besten an Hand der Allegorie verdeutlichen, in der die verschiedenen Repräsentationsebenen sich als Resultat unterschiedlicher Zeichenfunktionen begreifen lassen. Als natürliches Zeichen fungiert ein Signifikant nur auf der primären Ebene der Repräsentation, in dem Maße wie er »natürliche Dinge« (sprich: dreidimensionale Objekte im Raum) repräsentiert, und zwar in einer Weise, daß die »Figuren« und »Linien unter sich eben das Verhältniß haben, welches sie in der Natur haben« (C2, L 428). Die Wolke im Bild repräsentiert eine Wolke, sonst nichts. Alles, was darüber hinausgeht, ist schon allegorischer, konventioneller Verweis auf eine sekundäre, immaterielle Ebene des Ausdrucks, auf der der »natürliche« Signifikat »Wolke« seinerseits zum Signifikanten eines »willkürlichen Dinges« (sprich:

abstrakten

Begriffes) wird. Die hieran anschließenden Fragmente verzeichnen eine unmerkliche aber nicht zu übersehende Infiltration der »natürlichen« Domäne der Malerei durch die »Willkühr« poetischer Imagination - oder anders herum formuliert: eine progressive Reduktion des Objekts - , in deren Verlauf Lessing die Grenze zwischen »sehen« und »hinzudenken« bis zu jenem »Nullpunkt« der Nachahmung (Todorov, 1 1 3 ) vorantreibt, w o ein Ei dem anderen gleicht und Natur und Kunst in Identität zusammenfallen. Die perfekte Imitation, die Kunst der Wachsfigurenkabinette, hebt sich selbst auf. Ästhetische Illusion schlägt um in simplen Betrug. Lessings auffälliges Interesse an der Wahrnehmungspsychologie der Tiere steht in engem Zusammenhang mit dem Versuch, diesen »Nullpunkt« der Nachahmung in Abgrenzung zur Kunst genau zu bestimmen. »Von der Bewegung in der Mahlerey,« so lautet eines dieser Fragmente, »warum sie nur Menschen und keine Thiere darinn empfinden« (A5, L 402). Ein anderes reflektiert das Verhältnis von Kunst und Natur anhand der bekannten, bei Plinius überlieferten Anekdote von den Vögeln und den Trauben: »Zeuxis, erzehlt man, mahlte einen Knaben, welcher Trauben trug, und in diesen war die Kunst der Natur so nahe gekommen, daß die Vögel darnach flogen. Aber dieses machte den Zeuxis auf sich selbst unwillig. Ich habe, sagte

dells, die sich für die weitere Analyse fatal auswirkt: das bei Hjelmslev undifferenzierte »content material« soll bei Lessing eine bereits in Objekte ausdifferenzierte und sprachlich artikulierte Welt sein ( i $ i , 1 jy). Das Ergebnis der Analyse ist damit vorprogrammiert, abgesehen davon, daß das glossematische Modell die Trennung von Form und Gehalt in einer m. E. unzulässigen Weise zementiert. 82

er, die Trauben beßer gemahlt als den Knaben: denn hätte ich auch diesen gehörig vollendet, so hätten sich die Vögel vor ihm scheuen müssen« ( C 1 2 , L446). Goethe hat später in seinem Essay »Uber Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke« (1798) diese Anekdote aufgegriffen und sie einer anderen gegenübergestellt, derzufolge ein A f f e in völliger Konfusion von Sein und Schein sämtliche Käfer aus den Illustrationen eines naturgeschichtlichen Werkes »herausgespeist« hatte ( G G A 13:180). Dieser Vergleich provoziert den einen der Gesprächspartner zu der Frage, w o denn nun der Unterschied liege zwischen dem Gemälde des »großen Meisters« und den Illustrationen eines wissenschaftlichen Handbuchs, zwischen Täuschung und Betrug. Goethes Antwort deutet in Richtung jenes Paradoxons, das bereits Mendelssohn im Wesen der ästhetischen Illusion auf gewiesen hat: als eine »höhere Stufe« der Wahrnehmung enthält die ästhetische Illusion eine ironische, selbstreflexive Komponente, die der Täuschung, der simplen Verwechslung von Sein und Schein, fehlt. Wir lassen uns täuschen von der Kunst, ohne jemals völlig das Bewußtsein zu verlieren, daß wir getäuscht sind, daß die Präsenz des dargestellten Gegenstandes eine imaginäre und keine wirkliche ist. 14 Tiere dagegen kann man betrügen aber nicht täuschen, eben weil ihnen die Fähigkeit zu solcher Reflexion abgeht. In Goethes Augen beweist die Anekdote des Plinius per se weder etwas für, noch gegen den Kunstwert des Gemäldes, sondern lediglich die Tatsache, »daß diese Liebhaber echte Sperlinge waren« ( G G A 13:179). Demgegenüber wird in Lessings Versuch, den Meister gegen sich selbst bzw. sein fehlgeleitetes Ideal zu retten, paradoxerweise gerade die Möglichkeit des tierischen Betrugs durchs Detail zum Beweis für den Kunstcharakter des Ganzen: »Wie sich doch ein bescheidner Mann oft selbst chiquaniret! Ich muß mich des Zeuxis wider den Zeuxis annehmen. Und hättest du, lieber Meister, den Knaben auch noch so vollendet, er würde die Vögel doch nicht abgeschrecket haben, nach seinen Trauben zu fliegen. Thierische Augen sind schwerer zu täuschen als menschliche; sie sehen nichts als was sie sehen; uns hingegen verführet die Einbildung, auch das zu sehen glauben, was wir nicht sehen« ( C 1 2 , L 446/47). Der Betrug ist das Resultat eines Irrtums, eines durch den Naturalismus der

14 Vgl. den Abschnitt »Von der Illusion« in Mendelssohns Von der über die Neigungen spiel (74Í.,

Herrschaft

(JubA 2 : 1 5 4 - 1 5 5 ) sowie den Briefwechsel über das Trauer-

94Í.).

83

Trauben allein ausgelösten bedingten Reflexes. Die im Gemälde nur »angedeutete« Bewegung des Knaben, die die Flucht der Vögel hätte auslösen können, muß den tierischen Augen entgehen. »Natur,« so scheint es, ist das, was Tiere an der Nase herumzuführen vermag. Alles was auch nur einen Zollbreit von solchem Naturalismus abweicht, die geringsten Veränderungen in der Dimension, im Colorit, in der Proportion in Richtung auf ein Ideal, verwandeln das natürliche Zeichen unweigerlich in ein »symbolisches Bild,« indem sie zwischen den beiden Polen des »natürlichen« Zeichens einen allegorischen Graben aufreißen, der nur durch die menschliche Einbildungskraft zu überbrükken ist, denn »ich muß die verjüngte Figur in meiner Einbildungskraft erst wieder zu ihrer wahren Größe erheben, und diese Verrichtung meiner Seele, sie mag noch so geschwind, noch so leicht seyn, verhindert doch immer, daß die Intuition des Bezeichneten nicht [sie] zugleich mit der Intuition des Zeichens erfolgen kann« (C 2, L 428). Dieser Gedankengang resultiert in der paradoxen Konsequenz, daß einerseits Natur und Kunst unversöhnlicher denn je sich gegenüberstehen, während sich andererseits der Gegensatz zwischen »natürlichen« und »künstlichen« Zeichen bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Lessings Unternehmen, die Unterschiede zwischen Poesie und Malerei auf der Grundlage ihrer gemeinsamen Fundierung in der Naturnachahmung zu bestimmen, endet damit in der völligen Nivellierung dieser Unterschiede. Die durch das Kriterium der Täuschbarkeit von Tieren errichtete Grenzlinie zwischen angeblich kategorial verschiedenen Bereichen, verläuft mitten durch die Kunst. Das »natürliche Zeichen« erweist sich als zur Kategorie dessen gehörig, wovon es zugleich das Gegenteil sein soll: ein willkürliches Zeichen mit einer ganz bestimmten, konventionell festgelegten Funktion, nämlich derjenigen der Ähnlichkeit.15 Diese spekulative Unterminierung des eigenen theoretischen Fundaments kann für das darauf errichtete Gebäude nicht ohne Folgen bleiben, und tatsächlich ist Lessing gezwungen, den normativen Geltungsanspruch der daraus abgeleiteten Kunstgesetze erheblich einzuschränken. Hatte er

15 Dies heißt jedoch weder, daß die Poesie als die »weitere Kunst« die Malerei überflüssig mache (Mitchell 107), noch daß sie als »advanced level in the progress of semiosis« die Malerei als rudimentäres semiotisches Stadium hinter sich lasse (Wellbery 136), denn in beiden Fällen wird das Primat des Bildes vor der Schrift unterstellt. Lessings Einsicht in den konventionellen Charakter des natürlichen Zeichens deutet vielmehr auf die Reversion dieses Prioritätsverhältnisses hin. Vgl. dazu auch Kap. 3.4 unten. 84

zunächst die Allegorie als willkürliches Zeichen kategorisch aus der Malerei verbannt, so sieht er sich nun dazu veranlaßt, dieses Verdikt zumindest teilweise wieder zurückzunehmen »in so fern die Kunst dadurch auf den Geschmack der Schönheit zurückgeführet, und von dem wilden Ausdrucke abgehalten werden kann« (A4.3, L 396). Dieses Zugeständnis überrascht kaum, folgt es doch notwendig aus der Eliminierung der kategorialen Differenz zwischen natürlichen und willkürlichen Zeichen. Und als Zeichen, als Produkt der Kunst bzw. semiotisches Konstrukt, ist dem Ideal der Schönheit ein irreduzibles allegorisches Moment eigen: es gibt keine Schönheit in der NaturErstaunlich ist demgegenüber die Tatsache, daß Lessing dieser Einsicht zum Trotz weiterhin auf dem Ausschluß der Allegorie beharrt. Zwar betrifft dieser nurmehr die Verwendung »allzu weitläuftiger Allegorieen, welche allezeit dunkel sind« (A4.3, L 397), aber es fragt sich doch, wie eine solche »Mißbilligung« der Allegorie selbst in dieser eingeschränkten Form noch zu rechtfertigen ist. Diese Ungereimtheit verweist auf einen latenten Widerspruch in Lessings Argumentation, dessen Ursprung in deren konzeptueller Ausgangsposition selbst zu suchen ist. Denn die Imagination mit Lessing und Goethe als »supplierende« Tätigkeit zu definieren heißt, sie innerhalb eines Dualismus von Subjekt und Objekt anzusiedeln, dessen Logik die Grenzen absteckt, die der Einsicht in ihr Wesen innerhalb des Repräsentationsdenkens gesetzt sind. Nirgends wird dies deutlicher als in Lessings Diskussion der Allegorie. Im Zusammenhang des Versuchs, die Imagination gleichsam auf dem Wege negativer Abgrenzung zu bestimmen, erscheint die Allegorie als ein Fall konventioneller »Abweichung« innerhalb einer Kunstgattung, die sich »überhaupt zu reden« natürlicher Zeichen bedient und an deren Repräsentationsmodus sie deshalb qua Abweichung gebunden bleibt. Anders gesagt, wenn ich die »Wolke« im 16 So schreibt Herder in der Plastik: »Ich kann sagen, daß bildende Kunst eine beständige Allegorie sei, denn sie bildet Seele durch Körper, und zwei größere αλλα kanns wohl nicht geben, insonderheit wenn man die Philosophen der Gelegenheit und der prästabilirten Harmonie um Rath fragt« (SW 8:79), erkennt aber sofort die Inadäquatheit dieser nur »uneigentlich gesprochen[en]« Redensart (SW :8o) im Anbetracht eines Gebildes, in dem die Seele »sich Form schafft« (SW 8:79). Das ganze ist, wie bei Lessing, ein Sprachproblem, ein Kampf in der Sprache gegen die Hypostasierungen des Denkens, gegen die Unmöglichkeit, etwas zusammenzubringen, was die Sprache bereits unheilbar getrennt hat. Unter diesem Aspekt wäre die systematische Funktion des Spinozismus (Leib/Seele) und der organischen Metaphern in Herders Diskurs näher zu untersuchen.

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Bild nicht zu allererst als »natürliches Zeichen,« d. h. als Wolke identifizieren kann, muß die konventionelle Dekodierung des Signifikanten »Wolke« notwendig scheitern. Noch die willkürlichen Zeichen der Sprache unterliegen in einem gewissen Sinne dieser Bedingung, woraus sich für Lessing im Zusammenhang der Deduktion der Dichtung ganz unerwartete Schlußfolgerungen ergeben (vgl. dazu Kapitel 3.4 unten). Der Nachweis konventioneller Signifikation in der Malerei führt also aus dieser Perspektive paradoxerweise zu einer Radikalisierung der Doktrin des natürlichen Zeichens, die das »Sehen« in der Kunst mehr denn je am Paradigma empirischer Wahrnehmung zu orientieren scheint. Damit wird die ästhetische Erfahrung in einer Vision begründet, in der sich »Natur« gleichsam nackt und ohne Vermittlung darzubieten scheint. Als ideale Selbstverdoppelung des Objekts ist diese Vision in einem radikalen Sinne mimetisch (Wellbery 10). Als exakte Verdoppelung dieser Verdoppelung markiert der »Nullpunkt« der Nachahmung den Punkt, an dem jene Übertragung empirischer Wahrnehmungsmuster auf die ästhetische Erfahrung stattfindet, die die Freiheit der imaginativen Konkretisierung des ästhetischen Objekts (»sehen« + »hinzudenken«) an diese Muster zurückbindet: »Je mehr wir sehen, desto mehr müßen wir hinzu denken können. Je mehr wir dazudenken, desto mehr müßen wir zu sehen glauben« (L 165 ; Hervorhebungen von mir). Indem die perfekte Imitation an der Nahtstelle zwischen Natur und Kunst die »supplierende« Tätigkeit der Imagination in Gang setzt, scheint sie sich gleichzeitig deren Bedingungen zu entziehen. In den tierpsychologischen Betrachtungen wird der eigenartige Status dieses »Nullpunktes« in seiner ganzen inneren Zerrissenheit deutlich: insofern er den tierischen Betrug ermöglicht, steht er außerhalb der Kunst, ist er identisch mit einer Natur, von der er als Bild, d. h. durch den minimalen Abstand einer trügerischen Verdoppelung getrennt ist. Das Problem besteht nun darin - und hier bricht die Analogie zwischen tierischer und menschlicher Wahrnehmung zusammen - , daß das »natürliche Zeichen,« selbst in einem solch radikalen Sinne verstanden, »unter gewißen Umständen, es völlig zu seyn aufhörft]« (C2, L 428), indem es zum Träger »allegorischer« Bedeutungen werden kann, die sich durch eine einfache Übertragung empirischer Wahrnehmungsmuster auf die Kunst nicht dekodieren lassen. Allein die schiere Möglichkeit der Allegorie in der Malerei zerschneidet nun aber jenes Band der Notwendigkeit, das der klassischen Auffassung zufolge das natürliche Zeichen mit seinem Referenten verbindet. Denn wenn ein und dasselbe Zeichen je 86

nach »Umständen« entweder als natürliches oder willkürliches Zeichen fungieren kann, ist die Frage, um was für eine Zeichenrelation es sich jeweils handelt, ohne den Rekurs auf einen außerhalb des Zeichens liegenden Kontext nicht zu beantworten. Dies gilt nicht nur für willkürliche, sondern für natürliche Zeichen nicht minder, muß ich doch die Möglichkeit einer konventionellen Bedeutung ausgeschlossen haben, um das natürliche Zeichen als solches »sehen« zu können. Natürliche und willkürliche Zeichen erweisen sich damit als durcheinander vermittelt, als unterschiedliche Effekte räumlicher Konfigurationen, die je nach »Umständen« eine mimetische Aktualisierung entweder ermöglichen oder ausschließen. Erst Herder hat den konventionellen Charakter des von Lessing als »primär« gesetzten Kontextes empirischer Erfahrung ausdrücklich reflektiert, indem er hinter der »unmittelbaren Empfindung« isolierter »Inselbegriffe« ein ganzes Netz relationeller Bezüge, versteckter Urteile und logischer Schlußketten aufdeckt. Im Gegensatz zum Urteil, so behauptet er im Vierten Wäldchen, seien im »Sehen« die Schlußregeln in einer Weise automatisiert, die sie als zweite Natur erscheinen lassen: »Der Begrif von Größe, von Weite, von Entfernung, scheint Empfindung, unmittelbares Gefühl: daß ers aber nicht sey, das zeigen unsre oftmaligen Irrthümer und die kleinsten Versuche mit Reflexion. Sie zeigen, daß alle diese Ideen Urtheile, spätgefaßte Urtheile, die Folgesätze aus vielen, anfangs verfehlten, und noch oft fehlenden Schlüßen sind« (SW 4:9). Dennoch endet noch dieser polemisch gegen Riedel gerichtete Versuch einer Widerlegung der intuistischen Erkenntnistheorie in der gleichen unvermeidlichen Zirkularität, an der auch Lessings Versuch einer Abgrenzung von Natur und Konvention scheitert. Die konventionelle Kontextualität der Wahrnehmung bleibt negativ an die Möglichkeit einer »unmittelbaren Gewißheit« des Selbst gebunden, die mit der Identität des Selbstbewußtseins diejenige der Außenwelt garantiert.17 Demgegenüber besteht Lessing auf der Unmittelbarkeit des Sehens und versucht zunächst, die Determinanten der jeweiligen Aktualisierungen des Zeichens aus dem unterschiedlichen Material der einzelnen Künste herzuleiten. Ob Homers »Wolke« als Wolke oder als Zeichen für »unsichtbar machen« aktualisiert werde, sei eine Frage der Materialität des Mediums. Während der Poesie als der »weiteren Kunst« prinzipiell 1 7 »Unmittelbar, durch ein inners Gefühl bin ich eigentlich von nichts in der Welt überzeugt, als daß ich bin, daß ich mich fühle« (SW 3 :y).

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beide Möglichkeiten offen stünden, sei in der Malerei aufgrund der materiellen Präsenz des Signifikanten eine Allegorisierung ausgeschlossen. Ebenso verhalte es sich mit dem »Gewand« in Malerei und Dichtung. Im Gemälde blockiere das Gewand die Tätigkeit der Einbildungskraft, dem Dichter dagegen sei »ein Gewand kein Gewand; es verdeckt nichts; unsere Einbildungskraft sieht überall hindurch« (L 192). Ein Vergleich zwischen den Signifikanten »Wolke« und »Gewand« zeigt indes, daß diese Unterschiede nicht eigentlich, wie Lessing suggeriert, im Material, sondern in den konventionellen Determinanten der Wahrnehmung zu suchen sind. Der Grund dafür, daß die Einbildungskraft durch das »poetische« Gewand hindurchblickt, mit einiger Anstrengung vielleicht auch noch durch das gemalte, nicht aber durch die im Bild repräsentierte Wolke, besteht darin, daß den Gesetzen der empirischen Welt zufolge ein Gewand mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit immer einen menschlichen Körper verbirgt, während dies bei Wolken nur unter den außergewöhnlichsten Umständen der Fall ist; weswegen denn die Deutung der Wolke im Sinne von »unsichtbar machen« einer zusätzlichen Information bedürfte, etwa durch die Situierung des Gemäldes innerhalb eines mythopoetischen Kontextes. Gerade damit aber überschreitet Lessing zufolge das Gemälde die Grenzlinie zwischen Bild und Schrift und wird zur »weitläuftigen Allegorie.« An dieser Stelle wird der tiefere Zusammenhang sichtbar, der die »Mißbilligung der Allegorie« mit der Doktrin des »fruchtbaren Moments« verbindet. Wie die Allegorie ist das Transitorische »dunkel,« und zwar im Sinne einer semantischen Unterdeterminierung, die - indem sie eine restlose Aktualisierung der mimetischen Funktion des Zeichens im Kontext empirischer Erfahrung verhindert - nur über den Umweg eines komplexen logischen Schlußverfahrens zu kompensieren ist. In Lessings Kommentar zur Kontroverse um den »schwebenden Mars« gelangt diese Verquickung der Allegorieproblematik mit derjenigen des »Transitorischen« ganz deutlich an die Oberfläche. Der Anlaß des Streits ist, wie so oft bei Lessing, ein winziges philologisches Detail - die Frage nach der »korrekten« Übersetzung des Ausdrucks Mars pendens im Zusammenhang einer Beschreibung der Embleme auf den Helmen römischer Krieger bei Juvenal - doch eigentlich geht es Lessing um die Klärung des Allegoriebegriffs, d. h. um die Frage, ob die antiken Münzen zur Kunst, oder zur »Bildersprache« zu rechnen seien (B8, L 409). Hatte Spence für eine wörtliche Ubersetzung des Juvenal plädiert und sich dabei auf die Existenz einer Münze berufen, auf der angeblich ein auf die Göttin 88

Rhea herabschwebender Mars abgebildet sei, so erklärt Lessing das ganze Beweisverfahren für illegitim und geht sogar soweit zu behaupten, Spences Reproduktion der Münze sei korrumpiert durch ein Vorurteil. Statt den Dichter, wie er vorgibt, durchs Bild zu erklären, verfahre er genau umgekehrt: seine Deutung der Münze sei das Ergebnis einer vorgängigen Entscheidung bezüglich der zweifelhaften Stelle im Juvenal. Lessings Argument: Spences Münze kann gar nicht existieren. »Ein schwebender Körper, ohne eine scheinbare Ursache, durch welche die Wirkung seiner Schwere verhindert wird, [ist] eine Ungereimtheit..., von der man in den alten Kunstwerken kein Exempel findet. Auch die neue Mahlerey erlaubet sich dieselbe nie, sondern wenn ein Körper in der Luft hangen soll, so müßen ihn entweder Flügel halten, oder er muß auf etwas zu ruhen scheinen, und sollte es auch nur eine bloße Wolke seyn« (L 204). Der Dichter helfe hier nicht weiter; die Stelle bei Juvenal sei sowieso »verdorben« und könne bestenfalls »figürlich,« d. h. im Sinne von »unentschloßen, unentschieden« gelesen werden (L 20jf.). Folglich sei die Münze im Kontext jener Kunstwerke zu erklären, die den Mars in der gleichen Situation stehend abbilden. Ironischerweise ist es gerade Lessing, dessen Augen durch ein »gefaßtes Vorurtheil« getrübt sind und der sich jener exegetischen Prozedur bedient, die er Spence ankreidet. Aber worin besteht eigentlich die »Ungereimtheit«? Ist nicht die kontextuelle Determinierung der Figur als des Gottes Mars ein hinreichender Grund für die Suspendierung der Naturgesetze? Und ist der Rekurs auf die Eigengesetzlichkeit der mythopoetischen Welt überhaupt notwendig, um diese Münze zu begreifen? Herder zum Beispiel hat keinerlei Schwierigkeiten, den schwebenden Mars mit seinen Standards von Wahrscheinlichkeit in Einklang zu bringen: »Mars in dem gegenwärtigen Falle ist ja nichts minder, als ein schwebender Körper, ein ohne scheinbare Ursache schwebender Körper, der ungereimt wäre, der das Auge beleidigte, der die Regeln der Bewegung, der Schwere, des körperlichen Gleichgewichts aufhübe - wo ist dieß alles unser Mars? Es ist ein sich herabsenkender Körper, der eben nach den Regeln der Bewegung und Schwere und des Gleichgewichts die Erde sucht, oder mit Shakespears schönem Ausdrucke vom Merkur, der mit seinem Fuße den Hügel küsset« (SW 3:85). Lessing freilich würde selbst Herder noch widersprechen, denn nicht der »schwebende Mars« an sich, sondern als Vorwurf der Malerei konstituiert für ihn die eigentliche »Ungereimtheit.« Indem sowohl Spence als auch Herder die Münze als Darstellung eines »transitorischen« Zustandes deuten, verwandeln sie die Münze in ein »verabrede89

tes Zeichen.« Ob ich zu dessen Verständnis mit Spence die Wahrscheinlicheitsregeln der antiken Götterwelt bemühen muß, oder mit Herder den Bezug auf die »Lehrsätze der Bewegung« für ausreichend halte, ist dabei belanglos, solange ich lese, d. h. das Zeichen im Rekurs auf einen außerhalb liegenden konventionellen Kontext entziffere. Lessing dagegen sieht nichts, als was er sieht: das »natürliche« Abbild eines reglos stehenden Mars: »Ich erblicke eine liegende Rhea; und da dem Stempelschneider der Raum nicht erlaubte, die Figur des Mars mit ihr auf gleichem Boden zu stellen, so stehet jener ein wenig höher. Das ist es alles; schwebendes hat sie außer diesem nicht das geringste« (L 204). Zweifellos ist diese Deutung forciert, »gesuchter und metaphysischer,« wie Herder sagt, und bestimmt weniger dadurch, was Lessing sieht, als durch das, was er nicht sehen will. Und ob die Hinwegdeutung des Abstandes, der den Mars von der Erde trennt, tatsächlich einen geringeren Aufwand an »symbolischen Schlüssen« erfordert, ist mehr als fraglich. Aber darum geht es gerade: Lessing wird durch Spence in eine Situation gedrängt, die ihm keine andere Wahl läßt, als die Münze zum »natürlichen Zeichen« gleichsam zu allegorisieren. Denn nicht im quantitativen Ausmaß der logischen Operation, sondern im Grad ihrer Bewußtheit liegt für Lessing das Kriterium der Willkürlichkeit: »ich bin mir der Zeichen dabey bewußter, als der bezeichneten Sache« (C2, L 428). Lessings Widerspruch entzündet sich daran, daß Spences Version des Mars das »Auge . . . beleidiget« (L 205). Das »Widernatürliche« beim Anblick einer im Bild erstarrten Bewegung besteht darin, daß wir etwas sehen, was unseren durch die empirische Erfahrung konstituierten Erwartungen zuwiderläuft. Dadurch wird das Zeichen als Zeichen ins Bewußtsein gerückt und die Imagination zur Konstruktion eines »sekundären« Kontextes gezwungen (der »primäre« ist identisch mit diesen Erwartungen), der diese Dissonanz zu neutralisieren in der Lage ist. Beim »natürlichen« Zeichen bleibt demgegenüber dieser Prozeß kontextueller Sinndeterminierung weitgehend unbewußt, so daß tatsächlich der Eindruck entstehen kann, die »Intuition des Bezeichneten« erfolge »zugleich mit der Intuition des Zeichens« (C2, L 428). Tatsächlich vertritt Lessing hier eine Position, die derjenigen Spences nähersteht, als er eigentlich wahrhaben will. Denn für beide repräsentiert der »schwebende Mars« eine »Ungereimtheit,« die es auszugleichen gilt, während für Herder sich dieses Problem überhaupt gar nicht erst stellt. In der schieren Möglichkeit eines Disputs bezüglich dieser Frage erweist sich 9°

aber der Naturbegriff als eine Variable, 1 8 determiniert durch psychologische und historische Faktoren auf der einen, und - wie Herder zu Recht betont - der illusionsbildenden Kraft der Kunst auf der anderen Seite: »der Wahrscheinlichkeit der Augen wird da immer ohne Lehrsätze der Bewegung abgeholfen« (SW 3:86).

3. Poesie als »natürliches Zeichen« : die Selbstvergessenheit der Sprache Es versteht sich von selbst, daß mit der Einsicht in die wesensmäßige Instabilität der Zeichenbeziehung der Gegensatz von Allegorie und natürlichem Zeichen nurmehr als relativer gedacht werden kann. Beide Zeichen markieren die extremen Pole eines Kontinuums, innerhalb dessen die Ubergänge fließend sind. A b e r wie legitimiert sich auf dieser Basis die normative Gleichsetzung des Ästhetischen mit der semiotischen Funktion der »Natürlichkeit« der Zeichenbeziehung? Warum, mit anderen Worten, soll die Kunst unseren Erwartungen korrespondieren, statt sie zu durchbrechen? Die Widersprüche, die sich aus der Problematisierung des semiotischen Status der Malerei ergeben, hat Lessing im Laokoon

zunächst

scheinbar nicht reflektiert. Können sie ihm entgangen sein? Oder hat er aus praktischen Gründen, um des gattungspoetischen Nutzens seiner Arbeit willen, am Primat empirischer Erfahrung und damit an der Vision als Paradigma ästhetischer Erfahrung festgehalten? Mit Sicherheit ist diese Frage nicht zu beantworten, und ich möchte sie deshalb vorerst zurückstellen, um den Implikationen dieser Widersprüche f ü r Lessings Dichtungsbegriff nachzugehen. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bildet die Frage nach dem Verhältnis von normativen und axiomatischen 18 »Kein Wort in der Menschlichen Sprache ist vieldeutiger, als Natur: unzählich sind fast die Irrthümer, Mißdeutungen, Zänkereien, die über φύσις, ov, υποσ[τ]ασις, εντελεχεια, natura, forma substantialis, essentia, Natur, Stand der Natur, in der Philosophie entstanden sind« (Viertes Wäldchen, SW 4:181). Der Grund: Natur hat einen historischen Kern, folglich ist die Ableitung absoluter ästhetischer Normen aus der Antike nicht möglich. Bei Lessing wird diese Einsicht erst in der Hamburgischen Dramaturgie explizit: dort nämlich vollzieht er erstens die Reduktion der Natur auf Konvention (vgl. das Argument bezüglich der »natürlichen Zeichen« der Leidenschaften im 3. Stück) und zweitens die Historisierung der Natur zur Geschichte (vgl. das Argument zum Verhältnis von »historischer Wahrheit« - »Wahrscheinlichkeit - »innerer Wahrheit«),

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Aspekten in Lessings Dichtungsbegriff. Es fällt nämlich auf, daß Lessing die Doktrin der »natürlichen Zeichen« einmal als praktische Kunstregel formuliert - so etwa, wenn er vom Dichter fordert, er solle die willkürlichen Zeichen der Poesie »zu der Würde und Kraft der natürlichen . . . erhöhen« ( C j , L 430) - , während sie in die systematische Deduktion des X V I . Kapitels als nicht weiter hinterfragte Prämisse eingeht. Wie wir uns erinnern hatte Herder sich daran gestoßen, daß Lessing mit der Forderung nach Motivierung des ästhetischen Zeichens Malerei und Dichtung auf eine gemeinsame semiotische Grundlage stellt. Was immer Lessings zeichentheoretische Spekulationen motiviert haben mag, sie haben in die zweite Prämisse eine Zweideutigkeit eingeführt, die für seinen Dichtungsbegriff nicht ohne Folgen bleiben kann. Ist das »bequeme Verhältnis« zwischen Zeichen und Bezeichnetem in der Dichtung zu verstehen als Identität beider - im radikal mimetischen Sinne des »Nullpunkts« der Nachahmung - oder als Ähnlichkeit, d. h. als E f f e k t der ästhetischen Illusion? In dieser Doppelgesichtigkeit der Motivationsforderung verweist Lessings Dichtungsbegriff auf zwei heterogene Bezugssysteme, die er als mögliche Bedingungen seiner Lesbarkeit kodifiziert, um sie in der Art

eines

»internen

Dialogismus«

(Bakhtin)

gegeneinanderzusetzen.

Zunächst werde ich die Konturen dieser jeweiligen Kontexte andeuten, um dann abschließend unter Einbeziehung der Herderschen Kritik die A r t ihres Verhältnisses eingehender zu bestimmen. Gewöhnlich hat man versucht, die gattungstheoretischen Motive hinter Lessings Dichtungsbegriff im Rekurs auf jenen Fragehorizont zu erhellen, in dem die semiotische Klassifizierung der Künste in Kategorien von Raum und Zeit ihren'Ursprung hat: den Streit um die Rangordnung zwischen Poesie und Malerei. Dichtung, so argumentiert ζ. B. Todorov, werde zum Problem in dem Moment, w o die Reflexion aufs sprachliche Material einen latenten Konflikt zwischen ästhetischer N o r m und poetischem Medium an die Oberfläche bringe (137). Tatsächlich gibt es etliche unter Lessings frühen Entwürfen zum Laokoon,

die in diese Richtung zu

deuten scheinen, so u. a. das folgende Fragment: Poesie und Mahlerey, beyde sind nachahmende Künste, beyder Endzweck ist, von ihren Vorwürffen die lebhaftesten sinnlichsten Vorstellungen in uns zu erwecken. Sie haben folglich alle die Regeln gemein, die aus dem Begriffe der Nachahmung, aus diesem Endzwecke entspringen. Allein sie bedienen sich ganz verschiedner Mittel zu ihrer Nachahmung; und aus der Verschiedenheit dieser Mittel müßen die besondern Regeln für eine jede hergeleitet werden. Die Mahlerey braucht Figuren und Farben in dem Räume.

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Die Dichtkunst artikulirte Töne in der Zeit. Jener Zeichen sind natürlich. Dieser ihre sind willkührlich. (A2.2, L 358/59)

Das tertium comparationis, das Herder in Lessings Vergleich zwischen Malerei und Poesie vergeblich sucht, ist hier im gemeinsamen Ziel der »Nachahmung« gegeben, und die Problematik der Dichtung erscheint tatsächlich als Resultat eines Konflikts zwischen diesem »Endzwecke« und den der Poesie zur Verfügung stehenden »Mitteln.« Wie ist es möglich, fragt Todorov, daß Dichtung trotz ihrer willkürlichen Zeichen nachahmen könne (139)? Dennoch enthält diese Passage eine fundamentale Ambiguität, die noch Todorovs Rekonstruktion der dahinterstehenden Fragestellung affiziert. Indem nämlich Lessing das Objekt der Nachahmung nicht weiter spezifiziert, nicht einmal beim Namen nennt, beläßt er das Telos der Kunst im Bereich eigenartiger Unbestimmtheit. Diese Feststellung ist keineswegs trivial. Im Gegenteil, gerade ihre scheinbare Trivialität indiziert die Verquickung des Imitationspostulats mit einer Epistemologie, in deren Rahmen der Rangstreit zwischen den Künsten im Grunde immer schon entschieden ist, und an der deshalb die Frage nach der Natur poetischer Imagination notwendig scheitert. Im Vierten Wäldchen beklagt Herder die Sprachlosigkeit einer Theorie, deren habituelle Gebundenheit an die »Sprache des Gesichts« es ihr unmöglich mache, den Begriff der Vollkommenheit anders als unter Zuhilfenahme visueller Metaphern, d. h. als sichtbare Schönheit der Form zu denken (SW 4:45). 19 Das gleiche visuelle Paradigma liegt dem Begriff der Nachahmung zugrunde: das Kriterium ihres Gelingens ist die momentane Evidenz des Wiedererkennens im Gegeneinanderhalten zweier Bilder. Mit dem Nachahmungsbegriff kontrolliert diese Intuition das gesamte metaphorische Feld abgeleiteter Begriffe wie »Ähnlichkeit,« »Transparenz,« »bequemes Verhältnis« etc., indem sie es der Logik jenes 19 In diesem Sinne kontert Herder Lessings Kritik an Hallers »Alpen« (... wie steht es um den Begriff des Ganzen?« [L 262]) mit dem Einwurf, daß es dem »energischen« Wesen der Poesie »an dem Bilde des Ganzen ganz und gar nicht« gelegen sei (SW 3:149). Auf den visuellen Ursprung sowie den metaphorischen Charakter des »Ganzen« weist bereits Mendelssohn hin: »Ich stelle mir vor, daß die Regelmäßigkeit und Schönheit des Ganzen Ideen sind, auf welche man in der Poesie nicht gerathen kan, wenn wir sie nicht von der Malerey und Bildhauerkunst entlehnen . . . und hernach per principium reductionis auf Poesie und Beredsmakeit [anwenden]« (A2, L 384). Die daran anschließende Gegenüberstellung der griechischen Phantasie mit der unsinnlichen Phantasie der Hebräer und den »wild[en] und unbestimmten Ideefn]« Klopstocks (A2, L 383) kritisiert Lessings Verabsolutierung der »mahlerischen« Einbildungskraft des Homer als ein kulturelles Vorurteil.

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konventionellen Kontexts unterwirft, den sie gleichzeitig als ihr Objekt setzt: Natur, und zwar Natur als gesehene. Wellbery hat durchaus recht, wenn er behauptet, daß Malerei und Dichtung trotz Lessings vehementer Kritik am Horazschen ut pittura poesis auf einer anderen Ebene in der »Idee des Gemäldes« wieder zusammentreffen (i98f.). Dies heißt aber gleichzeitig, daß die Poesie den Wettstreit mit der Malerei solange nicht gewinnen kann, wie sie mit dieser auf einem Feld konkurriert, das durch die ästhetischen Normen des Auges konstituiert wird und in dem folglich die Überlegenheit der Malerei bzw. ihre Kehrseite, die Willkür des Zeichens als Mangel, je schon gesetzt sind. Bezeichnenderweise ist für Herder die Frage nach dem »Rangstreit« der Künste kaum noch intelligibel, eine »leere Grille« (SW 3:1 $9), die letztlich auf die Binsenweisheit hinauslaufe, »daß Worte keine Farben, und der Mund kein Pinsel sey« (SW 3:160). Das Ausmaß, in dem die konzeptuelle Logik des visuellen Paradigmas den poetologischen Diskurs ihrer Herrschaft unterwirft, indem sie a priori begrenzt, was über Dichtung überhaupt gesagt werden kann, wird nirgends deutlicher, als in jener zentralen Passage im XVII. Kapitel des Laokoon, wo Lessing die Motivationsforderung poetischer Rede gegen Mendelssohns Einwand rechtfertigt: Es ist wahr; da die Zeichen der Rede willkührlich sind, so ist es gar wohl möglich, daß man durch sie die Theile eines Körpers eben so wohl auf einander folgen laßen kann, als sie in der Natur neben einander befindlich sind. Allein dieses ist eine Eigenschaft der Rede und ihrer Zeichen überhaupt, nicht aber in so ferne sie der Absicht der Poesie am bequemsten sind. Der Poet will nicht bloß verständlich werden, seine Vorstellungen sollen nicht bloß klar und deutlich seyn; hiermit begnügt sich der Prosaist. Sondern er will die Ideen, die er in uns erwecket, so lebhaft machen, daß wir in der Geschwindigkeit die wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden glauben, und in diesem Augenblicke der Täuschung uns der Mittel, die er dazu anwendet, seiner Worte bewußt zu seyn aufhören. (L 259)

Im Vergleich zu der oben zitierten Passage aus den Entwürfen fällt auf, daß die Unterscheidung zwischen »natürlichen« und »willkürlichen« Zeichen in der Endfassung nicht länger zur Abgrenzung zwischen Malerei und Poesie, sondern zwischen Poesie und Prosa dient, d. h. zwischen Zeichen in ästhetischer Funktion einerseits und erklärender Funktion andererseits. Diese Akzentverschiebung, die nur auf dem Hintergrund der Einsicht in die grundsätzliche semiotische Kommensurabilität von Poesie und Malerei zu begreifen ist, steht quer zur raumzeitlichen Distribution der Künste, denn nicht nur die Rede, sondern auch die Malerei

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hat, wie Lessing in den Fragmenten mehrfach betont, ihre Prosa, und zwar genau dann, wenn sie die »Schranken« ihrer Kunst überschreitet und zum »symbolischen Bild« wird. Doch während bei der Malerei die ästhetische Funktion ihrer Zeichen die primäre darstellt, und es folglich darum geht, sie vor dem Abgleiten in die »Prosa,« d. h. einen konventionellen, sekundären Repräsentationsmodus zu bewahren, erscheint gerade dieser in der Sprache als primär: die Zeichen der Poesie sind willkürlich. In der Identifizierung des Ästhetischen mit der »Natürlichkeit« des Zeichens wird die Willkürlichkeit der Rede, Signatur einer Abwesenheit, zum wesensmäßigen Mangel, den es zu kompensieren gilt. Sämtliche der von Lessing mit größter Ausführlichkeit analysierten »Kunstgriffe« des Homer - Wortstellung, Gebrauch der Metapher, A u f lösung von Körpern in Handlungen etc. - sind dieser Absicht funktional untergeordnet. Wellbery, der im Rahmen seines Interpretatiaonsansatzes der Transparenzforderung nicht von ungefähr einen entscheidenden Stellenwert beimißt, kommentiert dies folgendermaßen: »In natural signification, the referent, which is to be brought to an intuitive representation, is embodied in the sign vehicle. As a result, the perception of the sign easily moves toward an intuitive apprehension of the referent: the >Intuition des Bezeichneten« (intuition of the signified) occurs simultaneously with the »Intuition des Zeichens« (intuition of the sign)« (236). Für Wellbery ist die ästhetische Forderung nach Motivierung der Sprache gleichbedeutend mit ihrer Verleugnung: Sprache soll ihren Charakter als Sprache abstreifen, um den Gedanken gleichsam in seiner Nacktheit hervortreten zu lassen. Das Telos ästhetischer Erfahrung, so Wellbery, liege jenseits der Sprache in der intuitiven Quasiperzeption des Objekts. Zweifellos ist dies der Punkt, an dem sich Lessings Diskurs dem ideologiekritischen Blick in seiner ganzen Verwundbarkeit darbietet, und es bedarf keines sonderlichen Scharfsinnes, um hinter Lessings Ideal des »poetischen Gemähides« ein Zurückschrecken vor den eigenen Konsequenzen freizulegen, eine instinktive Geste der Abwehr gegen die Bedrohung der Vision in ihrer unmittelbaren Präsenz durch den »dunklen« allegorischen Verweisungscharakter der Schrift. 20 Auch Herder hat, freilich mit ganz anderen Reservationen, die Grenzen des Lessingschen Dichtungsbegriffs in seiner Kritik an dessen

20 Exemplarisch bei Wellbery, Mitchell und, von einem anderen Standpunkt aus, auch bei Wessel (»Death of God«). Gemeinsamkeiten: Vorwurf gedanklicher Inkonsequenz, Ideologieverdacht.

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Homerlektüre scharf akzentuiert. Indem Lessing den »Nebel« des Homer als »eine poetische Redensart für unsichtbar machen« deute (L 240) und dessen Götter auf einen jener »Kunstgriffe« reduziere, mittels derer der Dichter die »personifirte[n] Abstracta« der Mythologie in handelnde Wesen verwandele (L 22jf.), mache er Homer unfreiwillig zu einem jener »nüchternen Dichter unsrer Zeiten, die Prosaisch denken, und Poetisch sprechen, deren gradus ad Parnassum die Zauberkammer ist, ihre Gedanken der Prose in eine Sprache des Dichters, in Poetische Redarten zu verwandeln« (SW 3:106). In der Reduktion des Mythos auf ein »Register allgemeiner Begriffe« (SW 3 ¡89) entgehe Lessing dessen wahrer Ursprung in der poetischen Einbildungskraft eines Dichters, der als »zweitefr] Prometheus« seinem Volk im Mythos eine Welt erschuf (SW 3:i03). 2 1 Herders Kritik an Lessings »Wolkentheorie der Griechischen Götter« (SW 3:109) zielt weit über eine individuelle Meinungsverschiedenheit bezüglich Lessings Homerlektüre hinaus auf jene »wolkige« Theorie poetischer Sprache bzw. der Metapher, die ihr zugrundeliegt. Sie übertrifft die Lessingkritik moderner Kommentatoren noch an Radikalität, indem sie an ein Dogma rührt, das in Form der Auffassung von Dichtung als einem »sekundären semiotischen System« in semiotisch und strukturalistisch orientierten Theorieansätzen ein zähes Nachleben führt: die Definition des Poetischen als Abweichung von der Norm. 2 2 Lessing subsumiert die Metapher unter die Kategorie der quasi-natürlichen Zeichen mit der Begründung, daß sie statt der »Aehnlichkeit mit

21 Herders Auffassung des Mythos weist starke Parallelen zu derjenigen Vicos auf, der - im Gegensatz zur rationalistischen Auffassung des Mythos als verzerrter Darstellung historischer Fakten - auf dessen Eigenwert als Produkt einer »poetischen Logik« insistiert. Auch Herders Auffassung der Homerischen Götter ist im Vicoschen Sinne zu lesen, steht doch deren »Individualcharakter« nicht im Gegensatz zum abstrakten Begriff, sondern verkörpert ein »imaginatives Universalium« (Vico 74, 312), das dem konzeptuellen Gegensatz zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen vorausgeht. Zum Verhältnis Herders zu Vico siehe die Arbeit von Isaiah Berlin. 22 So u.a. bei Todorov: »It should suffice to indicate that symbolic evocation is grafted onto direct signification, and that certain uses of language, such as poetry, cultivate it more than others« (9). Nicht nur das Konzept »direkter Signifikation« ist hier problematisch (und dies nicht erst seit Derridas Kritik in der »Mythologie blanche«), sondern ebenso die darin implizierte Auffassung der Dichtung als Autoreflexivität. Indem diese nämlich das Symbol als Spezialfall unter die Kategorie des Zeichens subsumiert, verbaut sie sich die Möglichkeit, das Poetische als primär zu denken. Eine ernstzunehmende, und der Auffassung Herders weit näher stehende Alternative bietet Adams' auf William Blake rekurrierende Polarität von Symbol und Zeichen.

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den Dingen« eine andere einführe, »welche das bezeichnete Ding mit einem andern hat, deßen Begriff leichter und lebhafter erneuert werden kann« (C3, L 431). Unschwer läßt sich hinter dieser Definition der Metapher das klassische »Substitutionsmodell« wiedererkennen, mit all seinen Konstituenten: der Zentrierung aufs Wort, der Unterscheidung zwischen »eigentlicher« und »uneigentlicher« Bedeutung, dem Primat der wörtlichen Bedeutung.23 In seiner normativen Bindung an die Prosa impliziert es darüberhinaus eine Teleologie der Sprachentwicklung, die im Bild, d. h. einer sinnlich-imitativen »Natursprache,« ihren Ursprung habe und über einen Prozeß zunehmender Abstraktion zum konventionellen Zeichensystem verkommen sei (vgl. C3, L 43of.). Dichtung erscheint darin als eine sekundäre Operation, ein Ensemble rhetorischer »Kunstgriffe,« das die verlorene sinnliche Unmittelbarkeit als Schein widerherstellen soll. Herder subvertiert dieses Modell, indem er auf dem »Individualcharakter« der Homerischen Götter und auf der »Gleichursprünglichkeit« (Heidegger) von Dichtung und Mythos, Sprache und Welt besteht: nicht die Dichtung, die Malerei ist abgeleitet.24 Gleichzeitig lokalisiert er aber damit das Poetische in einer »Natur« jenseits des natürlichen Scheins, d. h. an einem Punkt, der von Lessings Dichtungstheorie nicht einzuholen ist, weil noch das natürlichste Zeichen qua Zeichen auf eine Welt verweist, die durch einen Graben von Willkür von ihm getrennt ist. Was ist der Status dieser Welt? Wo kommt sie her? Kein Begriff ist jemals unschuldig, zumal dann, wenn seine Bedeutung durch den Kontext eines philosophischen Systems eindeutig festgelegt ist. Die auffällige Präsenz zentraler Theoreme der zeitgenössischen Philosophie, insbesondere derjenigen Christian Wolffs, in Lessings Diskurs ist nicht zuletzt deshalb so irritierend, weil dem Laokoon der erkenntnistheoretische Unterbau völlig fehlt. Die Existenz der Außenwelt, so scheint es zumin-

23 Zur Kritik der Aristotelischen »Substitutionstheorie« vom Standpunkt einer Theorie des Diskurses siehe Ricoeur (Metaphor 9 - 4 3 , 65ff)24 »Wenn also in der Mythologie und Geisterlehre der ältesten Dichter der Individuelle oder Historisch handelnde Theil vor dem Charakteristisch handelnden das Uebergewicht behält: und eben diese Dichter doch die ursprünglichen Stifter und Väter dieser Mythologie und Geistelehre gewesen; so sei die bildende Kunst, so fern sie Mythologisch ist, blos ihre Dienerin« (SW 3:89f.). »Die Bildhauerkunst entsteht ihr [der Poesie] am weitesten: die Malerei aber, in ihrer Komposition zumal, zumal in der Komposition Dichterischer Geschöpfe, die ursprünglich Wesen der Einbildungskraft und nicht des Anschauens sind, tritt der Poesie weit näher« (SW 3 ¡93 ; Hervorhebung von mir).

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dest, wird als fraglos gegeben vorausgesetzt. In einem derartigen epistemologisch »neutralen« Kontext kann Lessing den Begriff etwa der »anschauenden Erkenntnis« nicht verwenden, ohne eine ganze Weltanschauung zu zitieren, in der die verdrängte Frage nach dem Ursprung der Welt bereits beantwortet ist, ehe sie überhaupt gestellt werden kann. Die Wölfische Philosophie ist vielleicht eine der radikalsten Varianten jenes spektralen Erkenntnismodells, das Richard Rorty jüngst einer fundamentalen Kritik unterzogen hat. Wolffs Erkenntnistheorie ist eine intuistische,25 d. h. die Möglichkeit der Erkenntnis liegt begründet in der »Kraft der Seele« (vis repraesentativa), Objekte via »Vorstellungen« im Geiste zu reproduzieren und sich dieser Vorstellungen in einem Akt freier Apperzeption bewußt zu sein, in der sich das Objekt gleichsam als natürliches Zeichen seiner selbst präsentiert. Entscheidend dabei ist, daß die Abbildrelation lediglich zwischen den als vorsprachlich konzipierten »Vorstellungen« und der Objektwelt, nicht aber zwischen Sprache und Welt stattfindet. Als eine atomistische Ansammlung arbiträrer Bezeichnungen für die in direkter Intuition verankerten Ideen bleibt Sprache sekundär, ein Instrument innerhalb der Kommunikation und der Ökonomie der Erkenntnis. Es ist dies der Punkt, wo jener Gegensatz zwischen »anschauender« und »figürlicher« (bzw. »symbolischer«) Erkenntnis seine systematische Begründung erhält, an der sich noch Lessings Unterscheidung zwischen Poesie und Prosa zu orientieren scheint: die »figürliche,« auf die Zeichen statt die »Sachen selbst« gerichtete Erkenntnis ermöglicht philosophisches Wissen auf dem Wege einer progressiven Analyse der in der Anschauung global aber »verworren« gegebenen Ideen in ihre konstitutiven Bestandteile. Am Endpunkt philosophischer Erkenntnis steht die vollständige, von jedem Erdenrest geläuterte Repräsentation der Welt in Kategorien rein logischer Beziehungen. Ästhetik, so argumentiert Wellbery, entstehe in dem Moment, wo die im Wölfischen Zeichenmodell latente Sprachskepsis - in der »symbolischen Erkenntnis« liegt die Möglichkeit eines leeren Pseudowissens, ein zentrales Motiv der Herderschen Sprachkritik - offen ausbricht. In ihrer Baumgartenschen Version verstehe sie sich als Antithese zur Philosophie, die mit der Forderung nach einer perfectio cognitionis sensitivae den jetzt als Verarmung empfundenen Abstraktionsprozeß rationaler Erkenntnis

25 Die folgende Zusammenfassung der Wölfischen Erkenntnistheorie stützt sich auf Wellberys umfassende Darstellung in den ersten beiden Kapiteln seines Buches.

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zu kompensieren trachte.26 Wellbery behauptet nun mit Recht, daß es sich hierbei lediglich um eine Akzentverschiebung innerhalb der Bewertung der systematischen Voraussetzungen der Wölfischen Erkenntnistheorie handele, welche selbst unangetastet bleiben. In dieser prekären Ausgangslage liege der Grund für das zwiespältige Verhältnis zwischen Ästhetik und Semiotik: zwar etabliere sie sich mit der Frage nach dem Wesen der Kunst als eines »ästhetischen Zeichens« ausdrücklich innerhalb eines semiotischen Rahmens, gleichzeitig aber negiere sie diese ihre Grundlage, indem sie ihr Telos in einem prälinguistischen Ursprung ansiedele: »poetry sheds its semiotic character - the symbolic cognition ordinarily provided by the arbitrary signs of language - and regains the experience of presence, the transparency to intuition, which language left behind« (23z).27 Es liegt mir fern, die Affinitäten zwischen Lessings Diskurs und dem der zeitgenössischen Metaphysik leugnen zu wollen. Denn nicht nur bewegt er sich in deren terminologischem Rahmen, sondern mehr noch, das argumentative Schema des Laokoon scheint tatsächlich dem für das Wölfische Erkenntnismodell charakteristischen Dreischritt zu korrespondieren: Ausgangspunkt ist eine als gegeben vorausgesetzte Natur, es folgt deren temporärer Verlust in der Willkürlichkeit der Zeichenrelation und schließlich ihre Wiedergewinnung im Prinzip der Imagination. In dieser Korrespondenz liegt der Grund, der es Wellbery ermöglicht - wenn auch um den Preis einer fragwürdigen Harmonisierung der Brüche - den Laokoon dem repräsentationellen Paradigma des rationalistischen Denkens restlos einzuverleiben. Als Hypothese ist eine derartige Rekonstruktion der Lessingschen Poetik selbstverständlich möglich und legitim wie alle Interpretationshypothesen. Sie bleibt jedoch anfechtbar solange sie all das unterschlägt, was über diesen beschränkten Horizont hinausragt, jene 26 »Equidem arbitror philosophis apertissimum esse iam posse cum iactura multae magnaeque perfectionis in cognitione et veritate logica materialis emendum fuisse, quicquid ipsi perfectionis formalis inest praecipuae. Quid enim est abstractio, si iactura non est?« (Baumgarten Aesthetica par. 560, zit. nach Schweizer 24of.). Vgl. dazu auch Schweizers Interpretation der Stelle (66f.). 27 Diese Behauptung ist nicht erst für Lessing, sondern bereits in Bezug auf Baumgarten anfechtbar. Schweizer warnt mit Recht davor, das »erkenntnistheoretische Problem der ästhetischen Wahrheit . . . von dem Problem der Ausdrucksbedeutung« und damit Objekt und Subjekt bei Baumgarten zu trennen (73Í.). Wie Schweizers Kommentar zeigt, stellen die Komplexität und vor allem Dunkelheit der Baumgartenschen Gedankengänge den Interpreten vor Probleme, die es kaum erlauben, den Philosophen ohne weiteres mit Wolff oder seinem popularisierenden Schüler Meier auf eine Ebene zu stellen.

99

Widerhaken in Lessings Denken, die freilich erst im Lichte dessen, was darauf folgt, als Anomalien signifikant werden. Der Laokoon

ist ein Fragment und von Lessing ganz bewußt als ein

solches veröffentlicht worden. Diese Tatsache rechtfertigt nicht nur eine Berücksichtigung des Nachlasses, sondern verpflichtet zu einer Relativierung des fragmentarischen ersten Teils im Rahmen der geplanten Gesamtkonzeption, wie hypothetisch und spekulativ dergleichen Konjekturen auch immer sein mögen. Das folgende Diagramm (Abb. 1) ist der Versuch einer schematischen Darstellung der argumentativen Struktur des Laokoon, aus der sich ersehen läßt, wo Lessing »eigentlich hinauswill« und die es zudem ermöglicht, Herders kritische Position präzise dagegen abzugrenzen.

Teil I Gattungspoetik (exoterisch)

MALEREI „natürliche Zeichen"

Teil II Philosophie der Kunst (esoterisch)

Zweck: „Nachahmung"

NATUR

Î

> Wirkung: „Vergnügen"

I I

POESIE „willkürliche Zeichen

(Teil III ?) Abb. 1 Das Verhältnis beider Teile ist umgekehrt symmetrisch: der erste Teil etabliert die Differenzen ihrer gemeinsamen

zwischen Poesie und Malerei auf der Grundlage

Fundierung im Prinzip der Naturnachahmung. Der

zweite Teil führt im Gefolge der Problematisierung des semiotischen Status dieser Differenzen zu deren Verwischung und zur Begründung beider Künste im Prinzip der Imagination. Der Grund für diese strukturelle Symmetrie ist bereits in der Fragestellung des ersten Teils enthalten. Dessen explizite Absicht ist praktisch-pädagogischer Natur: es geht Lessing um die kritische Durchleuchtung des Horazschen ut pictura

poesis

und um die Korrektur der aus dieser allzuwörtlich genommenen Metapher resultierenden falschen Kunstpraxis. Das Motiv hinter Lessings ioo

Gattungspoetik ist, wenn man will, durchaus konservativ. Allein der Versuch, das antike Kunstideal gegen den verdorbenen Geschmack eines barbarischen Zeitalters zu mobilisieren, bleibt eigenartig halbherzig, ist als solcher bereits ein Kompromiß. Denn unweigerlich muß er mit jenem spekulativen Interesse an der Frage nach dem Wesen der poetischen Imagination in Kollision geraten, mit dem Lessing in den jahrhundertelangen Streit um die Rangordnung der Künste eingreift, um ihn ein für allemal zugunsten der Dichtung zu schlichten. Beide Fragestellungen sind unversöhnlich, ist doch die von Goethe und seinen Zeitgenossen so enthusiastisch begrüßte Befreiung der Poesie möglich nur um den Preis einer Suspendierung gerade jener Prämissen, die für die Einlösung der pädagogischen Intention unabdingbar sind. Die widersprüchliche Koexistenz einander ausschließender Ansprüche resultiert in einer Spannung, unter der die argumentative Integrität des Werkes zerbricht. Der fragmentarische Status des Laokoon

sowie die Inkonsistenzen im Bereich der

Terminologie sind der Index solcher Unversöhnlichkeit. Im Keim nämlich enthalten sie jenen intellektuellen Sprengstoff, der in dem Maße, wie Lessing den Fragehorizont der zeitgenössischen Ästhetik hinter sich läßt, eine Fortsetzung des Werkes innerhalb dieses Rahmens ausschließt. Der Ort dieses Bruchs läßt sich ziemlich genau lokalisieren. Der Nachweis eines Moments imaginativer Willkür im »natürlichen Zeichen« schafft zunächst die Voraussetzungen, auf deren Hintergrund die Unterordnung der Malerei unter die Forderungen der Einbildungskraft plausibel wird und sich die traditionelle Privilegierung der Malerei als unhaltbar erweist. Genau an dieser Stelle bricht nun aber der Gedankengang ab. Lessing problematisiert den Mythos des »natürlichen Zeichens« und nur diesen; die Konzeption des Zeichens selbst bleibt unangetastet. Unterm Strich bleibt eine Einbildungskraft, die Lessing zwar als eine poetische begreift, aber im Sinne einer zezrf>e»produzierenden und

zeichenentzif-

fernden »geistigen« Aktivität, deren exakter Status solange zweifelhaft bleiben muß, wie der des Zeichens selbst nicht thematisiert wird. Und mit dieser Unbestimmtheit im Begriff der Imagination scheint Lessing tatsächlich innerhalb der Grenzen des Repräsentationsdenkens zu verbleiben, selbst wenn die Implikationen seines Arguments eindeutig darüber hinausweisen. Es kann nicht genügend betont werden, daß die Reduktion des natürlichen Zeichens auf einen Effekt der ästhetischen Illusion an sich noch keinen Einwand gegen das Repräsentationsdenken darstellt. Lessings Einbildungskraft ist frei und doch zugleich in Ketten. Sie ist frei in Form jenes irreduziblen Moments selbstreflexiver »Willkür,« ιοί

das sie instand setzt, die imaginative Präsenz eines existenziell abwesenden Objekts zu erzwingen und damit identisch ist mit der Bedingung der Möglichkeit symbolischen Handelns, der Sprache überhaupt. Sie ist jedoch gebunden, insofern die Konkretisierung des ästhetischen Objekts im Begriff des Möglichen an seine Grenzen stößt und damit der Verbindlichkeit einer in formallogischen Kategorien beschriebenen Welt unterworfen bleibt. 28 Damit endet Lessings Versuch, den Objektivismus der Nachahmungsästhetik durch eine »Subjektivierung« der Kunst zu überwinden, paradoxerweise in einer Zementierung des Primats der Natur. Das Diktat des Auges mitsamt seiner Spiegelmetaphorik herrscht nach wie vor ungebrochen, die Dichotomie von Subjekt und Objekt bleibt prinzipiell intakt. In diesem »Mißlingen,« das seinen sichtbarsten Ausdruck im Fragmentcharakter des Werkes findet, rächt sich die Verdunkelung

der

erkenntnistheoretischen Implikationen des zeitgenössischen Zeichenmodells. A b e r muß man dies mit Welberry als Affirmation oder gar als Perfektion der Aufklärungsästhetik deuten (238)? Setzt nicht die schiere Möglichkeit der Vollendung eines Paradigmas eine Perspektive voraus, die diese übersteigt? Oder gar ein Bewußtsein, das dessen Antinomien bis zu jener Grenze vorangetrieben hat, w o eine vollständige Umkehrung der Fragestellung, der Perspektive, die Schaffung eines neuen theoretischen Vokabulars unvermeidlich geworden sind? Mit anderen Worten: ist das erkenntnistheoretische Vakuum am Grunde des Laokoon

möglicherweise

die Form eben jener Frage, die er zu verdrängen scheint? Wenn es zutrifft, daß der fragmentarische Charakter des Laokoon

ihn

28 Wellbery übersieht dies, wenn er behauptet, die Imagination operiere »with optimal freedom, in total independence from actual sense experience« (190). Dagegen Baumgarten: »Ergo phantasia perceptiones reproducuntur, et nihil est in phantasia, quod non ante fuerit in sensu« (Metaphysial par. 559, zitiert nach Bohnen 91, Anm. 23). Klaus Bohnen hat auf die Grenzen hingewiesen, die der Einbildungskraft als »produktiv reproduzierendefm] oder reproduktiv produzierende[m] Vermögen« (ebd.) innerhalb des Wölfischen Systementwurfs gesetzt sind. Noch in der Ausweitung der Einbildungskraft auf die Modalitäten des »Möglichen« (Baumgarten) und des »Wunderbaren« (Bodmer/Breitinger) bleibe sie in ihrer Bindung an den Satz vom Grunde und des ausgeschlossenen Dritten dem formallogischen Wahrheitsbegriff der Schule verpflichtet: »in der bloßen Ausmessung der immerhin vorstellbaren oder in einer interessanten Reduktion auf das Vorstellbare eingeholten Welten bleibt der Bezug auf das produktive Gesetz der Individualität ausgeklammert« (94). Eine tatsächliche Alternative zum Wölfischen Erkenntnismodell und damit eine wirkliche Befreiung der Einbildungskraft gelingt Lessing erst mit der impliziten Gleichsetzung von Imagination und Sprache. Siehe dazu Kap. 3.4. unten. 102

z u m Mißverstandenwerden prädisponiert und folglich einer ihn vervollständigenden Kritik bedarf, wenn es weiterhin zutrifft, daß man, wie H e r d e r betont, Lessing »erst verstehen« müsse, »ehe man ihn widerlegt« (SW 3 : 5 2 ) , dann stellen sich mit einem Male die Versicherungen gegenseitigen Einverständnisses in einem völlig veränderten Lichte dar, und die These, daß Lessings Poetik in der Herderschen Kritik gleichsam zu sich selbst k o m m t , enthält nichts Anstößiges mehr. Denn die einzige Bedingung, die diese Kritik erfüllen muß, besteht darin, daß sie die losen Enden in Lessings Gedankengang aufnimmt und deren Implikationen weiterdenkt. Herders kritischer Kommentar leistet genau dieses. E r vollendet die auf halbem W e g e steckengebliebene Befreiung der Imagination, indem er in einem radikalen Wechsel der Perspektive das Prioritätsverhältnis von Kunst und N a t u r , Subjekt und Objekt umkehrt: Wir leben in einer Welt von Erscheinungen, wo eine auf die andre folgt, und ein Augenblick den andern vernichtet; alles in der Welt ist an den Flügel der Zeit gebunden, und Bewegung, Abwechslung, Wirkung ist die Seele der Natur. Metaphysisch also - doch wir wollen hier nicht Metaphysisch; sinnlich wollen wir reden: und im sinnlichen Verstände, nach der Erscheinung unsrer Augen giebt es da nicht unabläßige, daurende Gegenstände gnug, die also die Kunst nachahmen soll? Allerdings, es giebt solche; und dies sind gewissermaßen alle Körper, und zwar so fern sie Körper sind. (SW 3:75) In gewissem Sinne gibt Herder Lessing alles z u : die Existenz der materiellen Außenwelt, das ästhetische Postulat der Naturnachahmung und die Realität des sich daraus ergebenden Konflikts zwischen Raum und Zeit in der Malerei. Aber die Gewichtung dieser Prämissen hat sich in einer Weise verlagert, die sie als Resultate

und nicht länger als Voraussetzungen

erscheinen läßt (siehe Abb. 2, S. 104). »Metaphysisch also - « so wäre der abgebrochene Gedankengang fortzusetzen, gibt es keine Objekte in der Natur. Ihr Wesen ist pure Energie, ein Heraklitisches Werden und Vergehen in ständigem Flux, für dessen Wahrnehmung die menschlichen Sinnesorgane nicht geschaffen sind. Als eine der empirischen Welt noch vorausliegende Unbekannte ist N a t u r uns auf immer verborgen. Das, was wir N a t u r nennen, die Welt der in Raum und Zeit existierenden Phänomene, ist immer schon ein sinnlich-poetisches Konstrukt, Resultat der absondernden, ausdifferenzierenden Aktivität der Sinne. Herder verwendet den Ausdruck »sinnlich« wie Baumgarten synonym für »poetisch,« was aber nicht mehr in systematischem Gegensatz zu den oberen Fakultäten Vernunft und Verstand, sondern im ursprünglichen Sinne von poeisis zu verstehen ist als eine konstitutive

103

Lessing: χ ι τ

POESIE Handlungen nacheinander

ZBT



U NATUR

IMAGINATION

nebeneinander RÄUM

Körper

RÄUM

MALEREI Γ Herder:

BNffíGit

• POESIE 1+ Seele KRAFT

MUSIK 0flr

,

,

nacheinander

J ÉNERútE >NATUR

nebeneinander WERK

Auge

WERK

MALEREI

Abb. 2 Aktivität der Sinne, die »aus Vielem, das uns zuströmt, ein lichtes Eins« machen (SW 8:193)

un

d darin, wie Nietzsche es formuliert hat, bereits

»unbewußte Dichter« sind (9:637).29 »Wir leben immer in einer Welt,« sagt Herder, »die wir uns selbst bilden« (SW 8:252). Diese Einsicht, die Herders Standpunkt innerhalb der Laokoonkontroverse nicht besser charakterisieren könnte, findet sich bezeichnenderweise nicht in den Kritischen Wäldern, sondern in einem unveröffentlichten Entwurf zu der erkenntnistheoretischen Preisschrift Vom Erkennen und, Empfinden

der

menschlichen Seele (1778) aus dem Jahre 1774. Im Dialog mit Lessing erscheint sie dagegen - aus Gründen, die noch zu klären sein werden lediglich in sublimierter Form, als unterschwelliges Thema eines im zeitgenössischen Idiom über zeitgenössische Probleme ästhetischer Theorie konversierenden Diskurses, der dem Lessingschen an Subtilität der sprachlichen Formulierung um nichts nachsteht.

29 »In dem Walde sinnlicher Gegenstände, der mich umgiebt, finde ich mich nur dadurch zurecht und werde über das Chaos der auf mich zudringenden Empfindungen Herr und Meister, daß ich Gegenstände von andern trenne, daß ich ihnen Umriß, Maas und Gestalt gebe, mithin im Mannichfaltigen mir Einheit schaffe und sie mit dem Gepräge meines innern Sinnes, als ob dieser ein Stempel der Wahrheit wäre, lebhaft und zuversichtlich bezeichne. Unser ganzes Leben ist also gewissermaassen eine Poetik: wir sehen nicht, sondern wir erschaffen uns Bilder« (»Über Bild, Dichtung und Fabel,« Zerstreute Blätter, 3.Sammlung [1787, 1798], [SW 15:525^]). 104

4· D i e Destruktion des Zeichens: Poesie als »Kraft« Wenn ich gegen Ende des zweiten Kapitels im Zusammenhang mit Lessings und Herders jeweiligen Absichten den Begriff der »Inkommensurabilität« verwendet habe, so war dieser Lapsus in den Jargon zeitgenössischer Theoriediskussion keineswegs unbeabsichtigt. Denn Herders Umkehrung des Verhältnisses von Natur und Kunst resultiert in einer Metaphysik poetischer Kreativität, die in einem gewissen Sinne den gattungspoetischen Voraussetzungen des Laokoon

tatsächlich »inkom-

mensurabel« ist, während sie gleichzeitig, indem sie die von Lessing offen gelassenen spekulativen Fragen beantwortet, dessen konsequente Fortführung darstellt. Dieses paradoxe Verhältnis reflektiert sich ebenso in Herders Wahl der Terminologie wie in deren systematischer Konstellation. Lessing setzt Raum und Zeit als »leere« Dimensionen und lokalisiert die Künste entsprechend ihrer jeweiligen Materialbasis innerhalb dieses abstrakten Koordinatensystems, wobei die imaginative Konkretisierung des ästhetischen Objekts die Vermittlung der im natürlichen Zeichen gegebenen Dissoziation von Raum und Zeit leistet. Herders »Korrektur« dieses Modells betrifft zwei Aspekte: zum einen eliminiert er die Dichotomien von Raum und Zeit, Form und Gehalt im Begriff geformter Materie bzw. einer sich Form schaffenden Einbildungskraft; zum anderen sprengt er die Zweiteilung der Künste auf eine quasidialektische Dreiheit hin auf, indem er den Raum/Zeit Gegensatz auf die Aristotelische ergon/energeia

Unter-

scheidung projiziert und diese Zweiheit innerhalb der metaphysischen Triade von R a u m , Zeit und K r a f t ansiedelt. 30 N u n weist indessen Herders alternatives Erklärungsmodell vom systematischen Standpunkt aus betrachtet kaum weniger Inkonsistenzen auf 30 Die metaphysischen »Grundbegriffe« von Raum, Zeit und Kraft waren Herder von den Vorlesungen und vorkritischen Schriften Kants her geläufig (cf. Howard 446, Anm. 13; Haym i:2é2f.). Herder verwendet sie von den Fragmenten anwärts (Dritte Sammlung [1767], [SW 1:419]) bis hin zur Metakritik von 1799. Die aristotelische Unterscheidung zwischen »Werk« und »Energie« übernimmt Herder lediglich aus zweiter Hand von dem Engländer John Harris (1709-1750), dessen Discourse on Music, Painting, and Poetry (1744) seit 1756 in deutscher Ubersetzung vorlag und Herder bekannt war (Blümner L 32Í., Haymi:2é2f.). Harris reduziert die Komplexität der Aristotelischen Begriffe auf einen Aspekt, nämlich den Gegensatz von Werk und Aktivität, und wendet ihn, was Aristoteles nicht tut, auf Malerei und Poesie an. Zur Aristotelischen Bedeutung dieser Termini siehe Peters unter ergon bzw. energeia. Zu Herders Kenntnis des Aristoteles siehe Suphan (SW 2:376, Anm. 192). 105

als das Lessingsche. Das »Wesen« der Poesie ist »Kraft,« aber gleichwohl soll sie »energisch« wirken. Worin genau besteht der Unterschied zwischen »Kraft« und »Energie«? Wenn Werk und Energie im Aristotelischen Sinne als komplementäre Modalitäten des Seins aufgrund ihres Telos unterschieden sind - d. h. energeia das Sein unter dem Aspekt der Aktivität, ergon unter dem seiner Vervollkommnung im Produkt bezeichnet - , muß dann nicht der Musik ebenso wie der Dichtung ein »Idealganzes« (SW 3:153) entsprechen, das die funktionale Einheit der sukzessiven Teile garantiert und Musik als Harmonie von Tönen vom schieren Geräusch unterscheidet? Und enthält die Rezeption eines Werkes nicht immer auch ein energisches Moment? Wirken Malerei und Musik tatsächlich in eben der Weise durch Raum und Zeit auf Auge und Ohr wie die Poesie durch »Kraft« auf die »Seele« wirkt? 31 Herder gibt uns keine Antwort auf diese Fragen. Seine Terminologie bleibt vage, ihr Applikationsbereich uneindeutig. Und wenn sich darin die tendenzielle Unvereinbarkeit der gattungspoetischen und der metaphysischen Fragestellung anzuzeigen beginnt, so aber auch die berechtigte Weigerung, den Gattungsgrenzen jemals mehr als nur einen relativen Status zuzuschreiben. Ungeachtet solcher terminologischen Schwierigkeiten besteht aber bezüglich der generellen Richtung seiner Argumentation kaum ein Zweifel. Ganz offensichtlich geht es Herder um eine Dynamisierung des Lessingschen Modells, die das Ineinander von Raum und Zeit nicht länger in der nachträglichen Vermittlung zweier unabhängig voneinander existierender Dimensionen, sondern in deren prädissoziativer Einheit lokalisiert. Was bei Lessing als conditio sine qua non künstlerischer Nachahmung deren Wirkungsmöglichkeiten einschränkt, fällt in der ergon/energeia Unterscheidung in einer Vorstellung geformten Materials als des je eigentümlichen Wirkungsmediums der einzelnen Künste zusammen: Figuren und Farben wirken Herder zufolge nicht »im Räume,« sondern »durch den Raum,« artikulierte Töne nicht »in der Zeit,« sondern »durch die Zeitfolge« (SW 3:136). Diese Umdeutung der Wirkungshedingungen zum Wirkungsmedium relativiert die Kategorien von Raum und Zeit zu sekundären Bestandteilen einer prosaischen Welt, die sich ihres »Ursprungs« in der ästhetischen Illusion nicht mehr erinnert. Sie ermöglicht desweiteren die Korrelation der unterschiedlichen Gattungen mit den einzelnen Sinnesorganen, ebenso die zusätzliche Ausdifferenzie-

31 Diese und ähnliche Einwände finden sich u.a. bei H a y m (1:267-268) und Howard (446-448).

106

rung zwischen Plastik und Malerei auf der Werkachse, Poesie und Musik auf der Energieachse.32 Als »unmittelbar auf die Seele« wirkende »Kraft« geht Poesie in dem raum-zeitlichen Koordinatensystem nicht auf. Konstituiert sie qua emanatives Prinzip die Welt als einen raum-zeitlichen Wahrnehmungszusammenhang, so steht ihr qua Zeichen das gesamte Universum raum-zeitlicher Erfahrungsmöglichkeiten offen. Sie partizipiert gleichermaßen am Energischen der Musik wie am Werkcharakter von Malerei und Plastik, gerade deswegen aber, so Herder, mache keines der beiden ihr »ganzes Wesen« aus (SW 3:138). Die These, deren Plausibilität ich abschließend zu erweisen suche, ist folgende: Herders Substitution der Natur durch das Prinzip einer poetisch-sprachlichen Einbildungskraft rundet Lessings Argument zu einer geschlossenen Kreisstruktur ab, die als Ganzes jene Dialaktik von »Genie« und »Gesetz« umfaßt, mit der Lessing selbst in der Hamburgischen Dramaturgie die Poetik des Laokoon auf ihr Komplement hin aufsprengt und damit gleichzeitig innerhalb eines umfassenderen Rahmens relativiert. Eine derartige Verlängerung der Fluchtlinien der Laokoonkontroverse bleibt zunächst rein hypothetisch. Sie liefert aber einen Kontext, der es erlaubt, die Debatte in ihrer Gesamtheit zu begreifen. Von dieser Warte aus erweisen sich nämlich die für sich genommen einander ausschließenden und in ihrer Einseitigkeit defizienten Positionen als zwei Phasen einer einzigen dynamischen Polarität. Im Laokoon betrachtet Lessing das Phänomen der Imagination unter dem Aspekt strikter Immanenz, d. h. als ein unter den Voraussetzungen einer bereits vorhandenen und sprachlich artikulierten Welt/Natur wirkendes Prinzip. Die Kunstgesetze formulieren die Bedingungen, unter denen die Imagination im Modus der Kunst ein Maximum an illusionärer Präsenz der als Objekt gesetzten Natur leistet. Herder dagegen argumentiert vom Standpunkt eines radikalen »Ursprungs« und verfolgt die Genese des Gegensatzes von Kunst und Natur aus dem ihn begründenden Prinzip als einen Prozeß zunehmender Dissoziation des poetischen Wortes zum willkürlichen Zeichen. Beide Perspektiven, so möchte ich behaupten, sind kom32 Obwohl die Raum-Zeit-Kraft-Triade vom Ersten übers Vierte Wäldchen und die Plastik bis zur Metakritik konstant bleibt, repräsentiert dieses Schema nicht Herders endgültiges »System.« Modifikationen: die Korrelation der Künste mit den Sinnesorganen führt zur zusätzlichen Ausdifferenzierung innerhalb der ergon-energeia Achsen (Poesie-Musik, Plastik-Malerei), wobei die Plastik zum sinnlich-materiellen Korrelat der Sprache wird. Hier liegt Herders Alternative zum bipolaren Zeichenmodell: sprachliche Form in Analogie zur plastischen ist »Abdruck der Seele.« Vgl. dazu Kap. 1 oben.

107

plementär und gehen an ihren extremen Enden ineinander über. Der verbleibende Abschnitt dieses Kapitels dient der Rekonstruktion jenes Gedankenganges, in dem Lessing selbst das Argument des Laokoon bis zu dem Punkt vorantreibt, wo die Auffassung der Dichtung als eines »natürlichen Zeichens« mit Herders Kraftmetaphysik zusammenfällt. Dieser Umschlag ereignet sich in der zwingenden, wenngleich selbst nicht ausgesprochenen Schlußfolgerung einer reductio ad absurdum des bipolaren Zeichenmodells, die die beiden Grundaxiome semiotischer Ästhetik, das Imitationspostulat und die Doktrin der »natürlichen Zeichen,« auf bisher ungeahnte Weise in Frage stellt. Beide Aspekte der Lessingschen Poetik stehen, wie wir uns erinnern, in einem komplexen Abhängigkeitsverhältnis: ist die Forderung nach Motivierung des »ästhetischen Zeichens« auf das Imitationspostulat als ihren Legitimationsgrund bezogen, so sind beide ihrerseits einem dritten, dem »Endzwecke« der »Täuschung,« funktional untergeordnet. Das »bequeme Verhältnis« zwischen Zeichen und Bezeichnetem dient der Maximierung des imitatorischen Potentials des jeweiligen Mediums, die in der imaginativen Präsenz des Objekts die im Zeichen gesetzte Differenz von Form und Gehalt zum Verschwinden bringen soll. Lessing beschreibt die ästhetische Illusion als einen Zustand extremer Selbstvergessenheit der Sprache, als den Effekt einer poetischen Verfahrensweise, »durch die uns der Dichter seinen Gegenstand so sinnlich macht, daß wir uns dieses Gegenstandes deutlicher bewußt werden, als seiner Worte« (L 247). Es mag erstaunen (weil von seiner Position aus gesehen nicht ganz konsistent), daß Herder sich mit Lessing bezüglich dieses »Hauptzweck[s] Poetische[r] Täuschung« (SW 3:153) in völliger Ubereinstimmung befindet. Die Meinungen treten da auseinander, wo Herder das Ausmaß der ästhetischen Illusion von der Stärke der dichterischen »Kraft,« Lessing dagegen von der Einhaltung technischer Kunstgesetze abhängig machen will. 33 Hierunter zählt Lessing all jene technischen »Kunstgriffe,« die wie z. B. die Verwendung der Metapher, onomatepoetischer Lautentsprechungen und besonderer Wortstellungen - die Illusion fördern, indem sie die »willkürlichen Zeichen« der Rede den »natürlichen« näher bringen. In jenem bereits erwähnten Nachlaßfragment, in dem Lessing die »natürlichen« Bedeutungspotenzen der Sprache auslotet, nennt er außer der Onomatopoesie und der Metapher nun aber noch einen dritten Fall, 33 Dieser Unterschied zeigt sich deutlich in der Kontroverse über Hallers »Alpen« (L 259-263 und SW 3 : 1 4 0 - 1 4 3 ) . 108

in dem die Wortfolge eines Gedichts den Effekt eines natürlichen Zeichens erziele, und zwar dann, wenn »alle die Worte vollkommen so aufeinander folgen, als die Dinge selbst welche sie ausdrücken« (C3, L 431). Homer ist für Lessing unübertroffener Meister in der Beherrschung dieses Effekts, insofern er »nichts als fortschreitende Handlungen« schildere (L 252) und die daran partizipierenden Gegenstände nur mit »Einem Zuge« andeute: »Ein Schiff ist ihm bald das schwarze Schiff, bald das hohle Schiff, bald das schnelle Schiff, höchstens das wohlberuderte schwarze Schiff. Weiter läßt er sich in die Mahlerey des Schiffes nicht ein. Aber wohl das Schiffen, das Abfahren, das Anladen des Schiffes, macht er zu einem ausführlichen Gemähide, zu einem Gemähide, aus welchem der Mahler fünf, sechs besondere Gemähide machen müßte, wenn er es ganz auf seine Leinwand bringen wollte« (L 253). In Lessings Augen besteht Homers Poetizität gerade darin, daß er selbst noch koexistierende Gegenstände in einer Weise zu »mahlen« verstehe, der kein »Mahler mit dem Pinsel folgen könnte,« indem er die Gegenstände selbst in Handlungen auflöst: Homer »weis durch unzählige Kunstgriffe diesen einzeln Gegenstand in eine Folge von Augenblicken zu setzen, in deren jedem er anders erscheinet, und in deren letztem ihn der Mahler erwarten muß, um uns entstanden zu zeigen, was wir bey dem Dichter entstehen sehn« (L 253). Statt den Wagen der Juno als ein Objekt zu beschreiben, läßt Homer ihn »vor unsern Augen Stück vor Stück zusammensetzen« (ebd.); das berühmte Schild des Achilles präsentiert er »nicht als ein fertiges, vollendetes, sondern als ein werdendes Schild« (L 271), als Geschichte seiner Herstellung. Die Syntax der griechischen Sprache erweise sich hierbei als besonders »poetisches« Medium, indem sie dem Dichter eine große Freiheit in der Häufung »mahlerischer« Beiwörter gestatte, und darüberhinaus ihre Syntax eine »der natürlichen Ordnung des Denkens gemäßfe]« Entfaltung der Handlungsmomente ermögliche, die den Leser »erst mit dem Dinge, und dann mit seinen Zufälligkeiten bekannt« mache (L 270). Es ist diese immanente Dynamik der griechischen Syntax, die die Poetizität des Homerischen Ausdrucks »runde Räder, eherne, achtspeichigte« konstituiert und folglich einer Ubersetzung unweigerlich zum Opfer fällt. »Wir sagen zwar >die runden ehernen, achtspeichigten,< - - aber >Räder< schleppt hinten nach. Wer empfindet nicht, daß drey verschiedne Prädicate, ehe wir das Subject erfahren, nur ein sehr schwankes verwirrtes Bild machen können?« (L 270). Dieser von Lessing in größter Ausführlichkeit analysierte »Kunstgriff« der Zerstreuung koexistenter Objekte in Hand109

lungen ist ein rein formales Prinzip. Es bewirkt eine Art struktureller Isomorphic zwischen Medium und Darstellung, die dadurch in der Lage sei, »mit dem Fluße der Rede gleichsam Schritt [zu] halten« (L 257) und die illusionsstörende Kollision zwischen Raum und Zeit auf ein Minimum zu reduzieren. Herders Einwand bezüglich der Diskrepanz zwischen Bewegungen und Handlungen haben wir bereits diskutiert. Er findet seine Ergänzung in einer unmittelbar daran anschließenden Frage, die auf eine ähnliche Diskrepanz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit hinweist: »Gesetzt, daß das Aufeinanderfolgen der Töne in der Dichtkunst das wäre, was das Nebeneinanderseyn der Farben in der Malerei« - will sagen: gesetzt die poetische Illusion sei, wie die malerische, ein Effekt der Natürlichkeit ihrer Zeichen - , »welche Proportion ist in dem Successiven der Töne, und in dem Successiven der Gegenstände, die sie schildert: Wie weit halten diese einen Schritt?« (SW 3:143). Damit rührt Herder an ein Problem, auf das er selbst erst durch Shakespeare eine erschöpfende Antwort findet, wie nämlich ein Gedicht, sagen wir von zwei Stunden Dauer, die Vorstellung einer sich über Tage oder gar Jahre hinziehenden Handlung erwekken könne; eine Frage, die tatsächlich von der Motivationsforderung her nicht begründbar ist. Lessing weiß das, hat er doch nirgends behauptet, die »Natürlichkeit« des Zeichens sei Ursache dieser Illusion - abgesehen davon, daß er sich diesem Problem durchaus gestellt hat, und zwar im Zusammenhang der Malerei, wo es Herder zum Trotz in der möglichen Diskrepanz im Größenverhältnis zwischen Bild und Gegenstand seine exakte Entsprechung findet. Lessings kritische Reflexion dieser Disproportionalität hatte hier jene Konventionalität im natürlichen Zeichen ans Licht gefördert, die in der automatisierten Dekodierung des Bildes nicht ins Bewußtsein dringt. In der Versenkung ins Bild »vergißt« das Auge, daß es liest, und dieses Vergessen gestattet dem natürlichen Zeichen einen gewissen Spielraum proportionaler Abweichung, ohne seinen semiotischen Status, oder besser, seinen Effekt aufs Spiel zu setzen. Lessing ist hier durchaus beim Wort zu nehmen, behauptet er doch lediglich, daß das Verhältnis zwischen Bild und Gegenstand, Gedicht und Handlung, »bequem« sein und die Handlung mit der Rede »gleichsam«· Schritt halten müsse. Die Forderung nach einer Identität der beiden Pole des Zeichens wäre absurd, oder sagen wir lieber, sie erscheint absurd, zumindest bezogen auf jene rhetorische Ebene in Lessings Diskurs, die der Epistemologie von Subjekt und Objekt gehorcht und die Frage nach der Möglichkeit der 110

Dichtung vom Standpunkt der Prosa aus stellt. Es gibt nun aber noch eine zweite Ebene in diesem Diskurs, einen esoterischen Untertext, wenn man so will, auf der die Natürlichkeit der semiotischen Relation kein normatives »Kunstgesetz,« sondern ein Axion bezeichnet, in dem die Ähnlichkeit zwischen Geschiedenem tatsächlich in Identität zusammenfällt. Es ist dies eine Ebene, auf der der Text etwas anderes sagt, als was er zu sagen scheint, auf der die kunsttechnischen Termini sich ihres tradierten Sinnes entledigen, um radikal neue Bedeutungen anzunehmen, und an der schließlich jeder einzelne von Herders Einwänden abprallt. Nirgends hat Lessing dieses Identitätsaxiom expresses verbis formuliert, und das Argument, das zu ihm hinführt bleibt skizzenhaft, auf suggestive Andeutungen in den Texten aus dem Umkreis des

Laokoon

und in den Nachlaßmaterialien beschränkt. Die folgende Rekonstruktion dieses Gedankengangs stützt sich auf ein Argument in den

Abhandlungen

über die Fabel (1759), das den Dichtungsbegriff des Laokoon nicht allein antizipiert, sondern dahingehend überschreitet, daß es auf unerwartete Weise jene Lücke zwischen »Bewegungen« und »Handlungen« schließt, die Herder in Lessings logischer »Kette« aufgefunden zu haben glaubte. Die Intention dieser Abhandlung ist eine kritische in zweifacher Hinsicht, geht es ihr doch nicht lediglich um eine Gattungsdefinition der Fabel, sondern um deren Rehabilitierung als einer im eigentlichen Sinne poetischen Kunstgattung. Dabei nähert sich Lessing seinem Gegenstand auf dem U m w e g eines methodischen Verfahrens, das die zeitgenössischen Theorieansätze an der Praxis überprüft, um so die gattungsspezifischen Konstituenten der Fabel in A b g r e n z u n g zu den verwandten Gattungen der Allegorie, des Exemplum oder der Parabel zu gewinnen. Das Ergebnis ist eine polemische Definition der Gattung, die deutlich die Spuren jenes Prozesses trägt, dessen Resultat sie ist: Sind es meine Leser nun bald müde, mich nichts als widerlegen z u hören? Ich wenigstens bin es. . . . Man ist in Gefahr sich auf dem W e g e z u r Wahrheit z u verirren, w e n n man sich um gar keine Vorgänger bekümmert; und man versäumet sich ohne N o t h , wenn man sich um alle bekümmern will. W i e weit bin ich? H u y , daß mir meine Leser alles, was ich mir so mühsam erstritten habe, von selbst geschenkt hätten ! - In der Fabel wird nicht eine jede Wahrheit,

sondern ein allgemeiner moralischer Satz, nicht unter die

einer Handlung,

Allegorie

sondern auf einen einzeln Fall, nicht versteckt oder

verkleidet,

sondern so zurückgeführet, daß ich, nicht bloß einige Aehnlichkeiten

mit dem

moralischen

Satze in ihm entdecke,

sondern diesen ganz anschauend darinn

erkenne. ( L M 7:440)

Lessing präsentiert dieses Ergebnis mit der triumphierenden Geste des

III

Siegers, aber reflektiert diese ironische Dramatisierung der »Wahrheit« tatsächlich in adäquater Weise den eigentlichen Erkenntnisprozeß? Lessings Kritik wendet ja keineswegs allein die poetische Praxis gegen die Irrtümer zeitgenössischer Erklärungsmodelle, sondern ist, indem sie selbst von der Grundlage eines selektiven Kanons mustergültiger Fabeln aus argumentiert, immer schon Kritik dieser Praxis vom Standpunkt eines vorgängigen Gattungsverständnisses aus. Und gerade darin setzt sie einen Begriff des Poetischen voraus, selbst dann, wenn dieser in den Abhandlungen nie an die Oberfläche gelangt. Worin nun besteht das »poetische Wesen« der Fabel im Unterschied zu den rhetorischen Vehikeln moralphilosophischer Sittenlehre? Die Fabel, behauptet Lessing, sei poetisch, weil sie in »kürzester Zeit« das Maximum intuitiver Erkenntnis eines »allgemeinen moralischen Satzes« ermögliche. Sie sei poetisch - in der Sprache des Laokoon gesprochen weil sie »Handlung« schildere, eine »Folge von Veränderungen, die zusammen Ein Ganzes ausmachen« (LM 7:429). Beide Kriterien sind indes wenig illuminierend, gehen sie doch über die zeitgenössische Wirkungsästhetik der »anschauenden Erkenntnis« nicht hinaus. »Und das ist das Wesen der Fabel? Das ist es, ganz erschöpft? - Ich wollte es gern meine Leser bereden, wenn ich es nur erst selbst glaubte« (LM 7:440). Im Eifer der Polemik, so scheint es, »versäumt sich« die »Wahrheit,« indem sie sich an die Sprache der »Vorgänger« verliert. Aber ist nicht eben dieses Versäumnis, dieses Verschweigen der Wahrheit das »Wesen der Fabel,« ein Indiz jener tiefsinnigen Unschuld, mit der die Sprache des Sklaven den Diskurs der Macht entwaffnet? Nie spricht die Fabel ganz da, wo sie spricht, offenbart sich doch ihr Doppelsinn nur demjenigen, der sie im Kontext einer anderen, selbst nicht ausgesprochenen Rede zu lesen versteht. Indem Lessing in den Abhandlungen den indirekten Kommunikationsmodus der Fabel imitiert, führt er jene selbstreflexive Dimension in die Theorie ein, die noch die Form des Laokoon auszeichnet. Reflektiert dessen Struktur den Handlungscharakter der Dichtung, so präsentiert Lessings Theorie der Fabel Theorie als Fabel: »Wahrheit« erscheint durch die Hintertür - in der Insistenz auf der individuellen Realität des besonderen Falles, in der das Allgemeine »allein wirklich« sei (LM 7:444), und in der en passant fallengelassenen Bemerkung, daß eine Fabel »den Namen der Fabel gar nicht« verdiene, »wenn ihre vermeinte Handlung sich ganz mahlen« lasse (LM 7:429). Als negative Bedingung des Poetischen ist uns das Kriterium der Malbarkeit vom Laokoon her bereits geläufig, wo Lessing es der »mahleri112

sehen,« d.h. quasi-sinnlichen Intensität der poetischen Illusion gegenüberstellt: »mahlerisch« sind gerade jene Stellen bei Homer, die sich nicht malen lassen. Was sich dagegen malen läßt, ist ein »blosses Bild« oder eine »Mannigfaltigkeit von Bildern« (LM 7:429), nicht indessen jene »Absicht,« die dieses nebeneinander insularer Zustände nur zwingenden Folge eines funktionalen »Ganzen« verknüpft. Gerade jene »Triebfedern« sind es aber, die die »ideale Handlung« der Fabel von der bloßen »Begebenheit« unterscheiden: »Ein Histörchen trägt sich zu; eine Fabel wird erdichtet« (LM 7:43ο).34 In der Diskrepanz zwischen »sich zutragen« und »erdichtet werden« affirmiert sich Kunst als Kunst gegenüber der Natur. Handlung trägt die Signatur des »Genies« und widerstrebt deshalb der »Ubersetzung« ins visuelle Medium des Bildes. Die Pointe des Arguments besteht nun darin, daß die »vermeinte Handlung,« die der Fabel als Vorwurf dient, mit der »idealen Handlung,« die sie qua Gedicht konstituiert, nicht oder nicht notwendig zusammenfällt. Lessing illustriert diesen Punkt anhand einer Fabel, in der einem Hirsch die Pracht seines Geweihs zum Verderben gereicht, indem er - in narzißtischer Selbstbetrachtung von seinen Verfolgern überrascht - sich tödlich in den Asten eines Gehölzes verstrickt. Keiner dieser Umstände, weder die »Unternehmung« der Jagd noch der Fluchtgedanke des Opfers, machen aus dieser Geschichte eine Fabel. »Und dennoch,« behauptet Lessing, »fehlt es ihr nicht an Handlung. Denn die Handlung liegt in dem falsch befundenen Urtheile des Hirsches. Der Hirsch urtheilet falsch; und lernet gleich darauf aus der Erfahrung, daß er falsch geurtheilet habe« (LM 7:434). Diese »Handlung« ist unsichtbar, weil identisch mit jenem interpretativen Akt, der den Sinn der Fabel im Prozeß des Verstehens generiert. Auf den ersten Blick scheint diese Internalisierung des Handlungskonzepts, indem sie eine erneute Kluft zwischen Zeichen und Bezeichnetem aufreißt, der Motivationsforderung eher zuwiderlaufen. Die in der Fabel verstrickten Agenten handeln blind, sind - wie es noch Herder im Shakespeare (1773) formuliert - »Maschinen« in einem Plan, den »nur der Dichter überschauet« (SW 5:219/20). Gerade diese Bewußtseinsdiskrepanz wird nun aber zum strukturellen Wirkungsmoment einer Handlung, die diese Kluft in einem Akt performativer Mimesis überwin34 »Handlungen sind um so viel vollkommner, je mehrere, je verschiednere und wider einander selbst arbeitende Triebfedern darinn wirksam sind« (A2.9, L 370). »Das Ideal der Handlungen besteht 1, in der Verkürzung der Zeit 2, in der Erhöhung der Triebfedern, und Ausschließung des Zufalls 3, in der Erregung der Leidenschaften« (A4.2 Abschn. 8, L 394).

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det.35 Die Fabel ist diese Überwindung, ihr Produkt ein »imaginatives Universalium« im Sinne Vicos, das außerhalb der verbalen Struktur, die es antizipiert, keinerlei Existenz hat. Diese performative Qualität der Rede ist nun jedoch weder, wie Wellbery behauptet, das Merkmal einer bestimmten Gattung (22$), noch dasjenige besonderer Sprechakte,36 sondern ein grundlegender Aspekt poetischer Sprachverwendung überhaupt und folglich für ein Verständnis des aus dem Homerischen Epos entwickelten Handlungsbegriffs des Laokoort unerläßlich. Wie in der Fabel ist nämlich im Epos die Handlung, auf die es als Gattung verweist, nicht identisch mit derjenigen, die es als Gedicht konstituiert. Als Effekt der epischen Vergangenheit ist das Universum, auf das die erzählerische Geste deutet, Teil der Fiktion der Gattung, während diese Geste als Handlung betrachtet zurück auf sich selbst verweist. In Lessings Bemerkungen zum Homer wird dieser Unterschied ganz deutlich. Das »Poetische« des Homerischen Stils liegt gerade nicht in der referentiellen Funktion seiner Worte, sondern im »Genius« seiner Sprache, wie Herder es ausdrücken würde; d.h. in der parataktischen Dynamik einer Syntax, deren performative Qualität sich weder »mahlen,« noch übersetzen läßt: »Diejenigen [Sprachen], als die französische, welche z.E. jenes καμπύλα κύκλα, χαλκεα, όκτάκνημα umschreiben müßen: >die runden Räder, welche von Erzt waren und acht Speichen hatten/ drücken den Sinn aus, aber vernichten das Gemähide. Gleichwohl ist der Sinn hier nichts, das Gemähide alles; und jener ohne dieses macht den lebhaftesten Dichter zum langweiligsten Schwäzer« (L 269/70;

35 Es ließe sich zeigen, daß Lessings Theorie des Epigramms auf dem gleichen Prinzip einer performativen Sprachauffassung basiert. Wellbery konstatiert zu recht die Unvereinbarkeit des performativen und semiotischen Dichtungsbegriffs bei Lessing (vgl. die Bemerkungen zu Lessings Interpretation von Anakreons »Lobgedicht auf die Kunst« und dem Brief an Nicolai vom îé.Mai 1769 [224-227], doch bleibt diese Feststellung für seine Interpretation des Laokoon folgenlos. Daß Lessing diesen Unterschied nicht gesehen habe, überzeugt kaum. Alle Evidenzen sprechen dagegen. 36 Die auf Austin zurückgehende Unterscheidung zwischen »performativen« und »konstativen« Sprachäußerungen ist lediglich als relative zu verstehen, insofern die Konstativa trotz ihrer referentiellen Funktion gleichzeitig immer auch Handlungen zum Ausdruck bringen (ζ. B. diejenigen des Feststellens, Urteilens und Zuschreibens), auch wenn dies nicht ihre primäre Funktion ist (siehe dazu Austin 1 3 3 - 1 4 7 , Wittgenstein 15-30). Das gleiche gilt ebenso für die Platonische Unterscheidung zwischen diegesis und mimesis, entlang derer Wellbery bei Lessing zwischen einem semiotischen Dichtungsbegriff (Epos/ Homer) und einem performativen (Lyrik/Anakreon) kategorisch unterscheiden will (22 3 f.).

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Hervorhebungen von mir). »Handlung« als performative Qualität der Rede verstanden koinzidiert mit Herders »Kraft«: das »Wesen« der Dichtung ist Sprache, nicht aber als Zeichen betrachtet, sondern als notwendige Modalität des Verstehens, der poetischen Imagination überhaupt. Diese Umdeutung des Handlungspostulats im Sinne eines performativen Mimesisprinzips findet seine exakte Entsprechung in jenem bereits erwähnten Brief an Nicolai vom 26. Mai 1769, in dem Lessing die systematische Deduktion der Gattungen zu ihren logischen Konsequenzen treibt und damit die geplante Fortsetzung des Laokoon in Umrissen skizziert. Gedanklich gehört dieser Brief in den Umkreis jener beiden Nachlaßfragmente, die die semiotische Kommensurabilität sämtlicher Künste reflektieren, um auf dieser Grundlage ein neues Kriterium zur Abgrenzung von Poesie und Prosa zu entwickeln. Der Brief an Nicolai resümiert diesen Gedankengang im Konzept einer »doppelten« Malerei und Poesie und kulminiert in einer Radikalisierung der Motivationsforderung, die in die Ausgrenzung des Dramas als der »höchsten« poetischen Gattung einmündet: »die höchste Gattung der Poesie ist die, welche die willkührlichen Zeichen gänzlich zu natürlichen Zeichen macht. Das ist aber die dramatische; denn in dieser hören die Worte auf, willkührliche Zeichen zu seyn, und werden natürliche Zeichen willkührlicher Dinge« (LM 17:291). Unter der Hand, so scheint es, hat Lessing damit eine neue Hierarchie innerhalb der Künste etabliert, die auf den ersten Blick kaum für sich einnehmen mag, zumal in einem Kontext, in dem Lessing den »natürlichen Zeichen willkührlicher Dinge« in der Malerei das »allgemeine Verständniß« und die »geschwinde und schnelle Wirkung« der »natürlichen Zeichen von natürlichen Dingen« ausdrücklich abspricht (LM 17:290), während er gleichzeitig die »natürlichen Zeichen natürlicher Dinge« in der Sprache (Ton, Wortstellung, Metapher, Metrum, Reim etc.) der im Drama gegebenen semiotischen Relation unterordnet.37 Aber

37 »Beyde [die Zeichen der Poesie und Malerei] können eben sowohl natürlich, als willkührlich seyn; folglich muß es nothwendig eine doppelte Malerey und eine doppelte Poesie geben: wenigstens von beyden eine höhere und eine niedrige Gattung. . . . Denn es ist eben so wenig wahr, daß die Malerey sich nur natürlicher Zeichen bediene, als es wahr ist, daß die Poesie nur willkührliche Zeichen brauche. Aber das ist gewiß, daß je mehr sich die Malerey von den natürlichen Zeichen entfernt, oder die natürlichen mit willkührlichen vermischt, desto mehr entfernt sie sich von ihrer Vollkommenheit: wie hingegen die Poesie sich um so mehr ihrer Vollkommenheit nähert, je mehr sie ihre willkührlichen Zeichen den natürlichen näher bringt. Folglich ist die höhere

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was genau bedeutet in diesem Zusammenhang der Ausdruck »natürliche Zeichen willkührlicher Dinge« ? Offensichtlich operiert Lessing hier mit einer Zeichentypologie, die die gängige Unterscheidung zwischen »natürlichen« und »willkürlichen« Zeichen durch eine zusätzliche Ausdifferenzierung in einer Weise verschiebt, die sie schließlich in einem anderen als dem bereits diskutierten Sinne verwischen wird: so wie jedes »Sehen« unter einem gewissen Aspekt sich als ein »Lesen« darstellt, so ist in jeder sprachlichen Dekodierung ein irreduzibles Moment sichtbarer bzw. akustischer Perzeption des Zeichens enthalten. Der Ausdruck »natürliches Zeichen willkürlicher Dinge« ist uns von Lessings Diskussion der Allegorie in der Malerei her schon bekannt. Das Kriterium der Ausschließung der Allegorie aus der Malerei bildete dort die Konventionalität ihrer semiotischen Relation, die einer unmittelbaren mimetischen Intuition des Objekts zuwiderlaufe. Die Wolke im Bild verweist nicht auf den Gegenstand der »Wolke,« sondern auf den Begriff der Unsichtbarkeit; der auf die Himmelskugel zeigende Stab in der Hand der Urania ist nicht um seiner selbst willen da, sondern dient lediglich der abstrakten Kennzeichnung dieser Figur als Muse der Sternkunst. Desungeachtet aber bleiben Stab und Wolke noch immer »natürliche Zeichen« von »natürlichen Dingen« (nämlich Stab und Wolke), insofern der konventionelle Status der sekundären semiotischen Relation den ontologischen Status des Signifikanten nicht tangiert. Entscheidend ist nun, daß unter diesem Aspekt betrachtet sämtliche Zeichen ohne Ausnahme die Qualität »natürlicher Zeichen« annehmen, und zwar in zweifacher Hinsicht: zum einen aufgrund der ontologischen Zugehörigkeit des Signifikanten zum Bereich der Natur, zum anderen aufgrund der »Natürlichkeit« der Zeichenbeziehung, welche die Signifikanten als Objekte der Natur zu ihren Referenten unterhalten. Was sind unter diesen Voraussetzungen die »eigentlichen Gegenstände« der einzelMalerey die, welche nichts als natürliche Zeichen im Räume brauchet, und die höhere Poesie die, welche nichts als natürliche Zeichen in der Zeit brauchet. Folglich kann auch weder die historische noch die allegorische Malerey zur höhern Malerey gehören, als welche nur durch die dazu kommenden willkührlichen Zeichen verständlich werden können. Ich nenne aber willkührliche Zeichen in der Malerey nicht allein alles, was zum Costume gehört, sondern auch einen großen Theil des körperlichen Ausdrucks selbst. Zwar sind diese Dinge eigentlich nicht in der Malerey willkührlich; ihre Zeichen sind in der Malerey auch natürliche Zeichen: aber es sind doch natürliche Zeichen von willkiibrlichen Dingen, welche unmöglich eben das allgemeine Verständniß, eben die geschwinde und schnelle Wirkung haben können, als natürliche Zeichen von natürlichen Dingen« (An Nicolai, 26. Mai 1769, [LM 17:290]). 116

nen Künste? Die Frage läßt nur eine Antwort zu, deren unerwartete Simplizität leicht über die Radikalität ihrer Implikationen hinwegtäuschen mag: Malerei stellt Körper, Musik Töne dar, d.h. beide referieren auf »natürliche Dinge« aus der visuellen bzw. akustischen Sphäre der Natur; der »natürliche« Referent der Poesie aber - sind Worte, ist das »willkürliche Ding« der Sprache selbst. Mit dieser Radikalisierung der Motivationsforderung hat Lessing das Poetische an jenem »Nullpunkt« der Nachahmung lokalisiert, wo im plötzlichen Umschlag von Kunst in Natur die Sprache, von Geschichte tangiert, sich in ihrer irreduziblen Historizität offenbart. Wie Herders poetisches Kraft-Wort markiert das sich selbst bedeutende Zeichen ein Ereignis, individuell und unwiederholbar. Teil der Natur verweist es auf Natur nur insofern, als es auf sich selbst verweist. Wie Herder endet Lessing in der Zuordnung der Künste zu den einzelnen Sinnesorganen, deren quasinatürliche Evidenz die prinzipielle Schwierigkeit, auf der Basis einer solchen Universalisierung des Poetischen sinnvolle Gattungsgrenzen zu ziehen, kaum verbirgt. Es bedarf anderer Kriterien, um unter derartigen Voraussetzungen die Poesie von der Prosa zu scheiden, oder gar eine Kunst über die andere zu stellen. Auf die gattungstheoretische Frage nach dem Verhältnis zwischen Poesie und Drama werde ich im letzten Kapitel eingehender zu sprechen kommen, führt sie doch zu zusätzlichen Komplikationen innerhalb des Lessingschen Dichtungsbegriffs, deren Signifikanz sich erst auf dem Hintergrund jener Theorie ästhetischer Illusion erschließt, die Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie entwickelt. Festzuhalten bleibt indes, daß mit der Reduktion der Kunst auf Natur das Telos der Kunst weder als Nachahmung noch als Illusion im strengen Sinne adäquat zu charakterisieren ist. Die Frage, ob das Rot im Gemälde wirkliches Rot nachahme oder eine Illusion von Röte erwecke, ist müßig, um nicht zu sagen absurd. Dieses Rot ist rot, punktum. Mit dieser unerwarteten Wende des Gedankens hat Lessing einen Perspektivenwechsel vollzogen, der ihn auf die Seite Herders wirft. Der Kreis schließt sich - oder sagen wir lieber, er schließt sich beinahe. Denn zwischen dem sich selbst bedeutenden Zeichen und Herders poetischem »Schöpfungswort« (SW 3:152) bleibt ein Abstand, minimal aber unaufhebbar. Identität ist immer eine solche zwischen Geschiedenem, etabliert über den Umweg einer Differenz, deren Spuren sie nicht auszulöschen vermag. Als Vision eines »post-semiotischen« Zeitalters (Wellbery 238) trägt sie die Narbe eines Verlusts. Ihre äußerste Grenze ist die Wahrheit des Scheins, die Intensität einer Präsenz, die auf immer dahin ist. Ist dies " 7

die Grenze einer bestimmten kritischen Terminologie, der Sprache überhaupt oder der »Sache selbst« ? Von Herder aus gesehen, der auf der Realität eines ungeteilten Ursprungs zu insistieren scheint, ist zweifellos das erstere der Fall. Lessings Problem ist ein Sprachproblem, selbst noch (oder gerade) dort, wo seine Absicht eine kritische ist. Denn die Angewiesenheit dieser Kritik auf jenes Vokabular, dessen Unzulänglichkeit sie zu erweisen sucht, erlaubt es ihr nicht, sich dessen Bedeutungseffekten vollständig zu entziehen. 38 Als kritische Einsicht deutet die Konzeption des »natürlichen Zeichens« auf ein Dilemma, dem Theorie nicht entkommt, solange sie vom Paradigma der Prosa als Modell sprachlichen Weltverhaltens nicht zu lassen bereit ist. Motivation ist die Form, die die Frage nach der Dichtung unter solchen Umständen zwangsläufig annimmt, das selbstreflexive Zeichen ihre äußerste Grenze. Dagegen klagt Lessing die paradoxe Einsicht ein, daß - obwohl die Imagination als zeichenproduzierende Aktivität gedacht werden muß - ihr Produkt, das weltkonstituierende Wort, als Zeichen nicht gedacht werden kann. Diese Einsicht bleibt jedoch rein negativ. Als Resultat einer reductio ad absurdum des Irrtums artikuliert sich »Wahrheit« in Form eines Schweigens.39 Herder bricht dieses Schweigen, indem er das konzeptuelle Vakuum, auf das es verweist, mit einem metaphysischen Kunstwort ausfüllt. Seine Antwort auf Lessing ist der Versuch, das Unterste nach oben zu kehren, um so das Poetische als primär denken zu können. Aber ist es damit auch schon erklärt, wirklich begriffen? Gerade der Kraftbegriff zeigt deutlich, wie der Rekurs aufs verbale Reservoir der metaphysischen Tradition das Herdersche Denken mit einem Erbe belastet, das nur schwer abzuschütteln ist.40 Im Ersten Wäldchen benannt »Kraft« den leeren Ort eines idealen Ursprungs, der dem theoretischen Zugriff bereits im Akt seiner Postulierung entgleitet. 38 Adams macht ein Sprachproblem der gleichen Art verantwortlich für die im Zusammenhang mit Goethes Symbolbegriff entstandenen Verwirrungen. Sein Kapitel zum romantischen Symbolbegriff bietet die längst fällige Klärung dieser MißVerständnisse (46-58). 39 Bakhtin zufolge findet sich diese »Methode« indirekter Kritik bereits in den frühesten Formen des Romans und des Essays der Renaissance: »But the truth that might oppose such falsity receives almost no direct intentional and verbal expression in Rabelais, it does not receive its own word - it reverberates only in the parodie and unmasking accents in which the lie is present. Truth is restored by reducing the lie to an absurdity, but truth itself does not seek words« (309). 40 Z u den philosophischen Quellen von Herders Kraftbegriff siehe Clark (»Herder's Concept of >Kraft 80-82, 84-86.

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