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German Pages 186 [368] Year 1881
DIE
PHILOSOPHIE UNSERER DICHTERHEROEN. Ein Beitrag zur
Geschichte des deutschen Idealismus von
Dr. Joh. H. Witte.
I. Band: Lessing und Herder.
B onn, Eduard Weber's Verlag (Julius Flittner).
1880.
Vo r w o r t . In Lessing's und Herder's, in Schiller's und Goethe's Schriften erblickte eine geistig reich angeregte Vergangenheit nicht nurWerke von seltener Kunstvollendung und Schönheit sondern auch einen treuen Spiegel des gesammten herrlichen und tief bewegten Gemüthslebens unseres Volkes. Was den Deutschen in Wissen und Glauben, in Sitte und'Recht, in Literatur und Kunst innerlich anging, dort war es seinem tiefen Gehalte nach mit Ernst gewürdigt und überdies in vollendeter Sprache zu lebendiger Anschauung gebracht. Alles was den Gebildeten unseres Volkes am Herzen lag, über alle Fragen, auf welche sie eine Antwort zu finden suchten, glaubten sie bei jenen Dichtern die wichtigsten und befriedigendsten Aufschlüsse zu erhalten. Sie hegten solche Ueberzeugung um so zuversichtlicher, als diese Dichter zugleich hervorragende Denker warenDieser Umstand verbürgte ja ein Doppeltes: erstlich, dass dieselben ihren Beruf mit vollem Bewusstsein und klarem Verständniss ausübten — ; sodann, dass sie ihn in engste Beziehung zu setzen wussten zu dem Gesammtieben ihrer Nation und zugleich ihren Schöpfungen einen so mannigfaltigen und reichen Stoff zu geben vermochten, wie er dem vielseitigen und tiefen Geiste desselben entsprach. Die Dichtung jener Heroen stellte auf solche Weise die Vorzüge dieser Kunst vor anderen Künsten deutlichst vor Augen. Wie das Wort und die Sprache allein der vielseitigste und innigste Ausdruck für die Seelenregungen des einzelnen Menschen und zumal die klarste Bezeichnung für das Geistesleben in der Gemeinschaft vernünftiger Wesen zu werden vermag: so wohnt auch einzig der Poesie unter den Künsten die Fähigkeit bei, in der vollendeten Gestalt eines als s c h ö n zu bezeichnenden Werkes ein treffendes Bild uns hinzustellen von der Fülle und der Gediegenheit eines dem Geistigen in erster Linie zugewandten Wirkens und Schaffens. — Nicht ohne ein gewisses Recht bezeichnet daher Herder einmal die
IV
Vorwort.
Poesie als die einzig s c h ö n e Wissenschaft. Schon hieraus geht hervor, dass gerade diese Kunst und ihre Werke auch nur w i s s e n s c h a f t l i c h voll und ganz gewürdigt werden können. Welcher Wissenschaft soll aber diese Aufgabe zufallen? Etwa irgend einer besonderen Fachwissenschaft? Würde eine solche die Mittel besitzen, um die das gesammte geistige Leben in seinem reinsten Idealgehalte umfassenden Werke der Dichtkunst zu verstehen? Schwerlich dürften wir diese Frage bejahen, und von diesem unserem Urtheile ist selbst die A e s t h e t i k nicht ausgeschlossen, da sie ihrem besonderen Zwecke gemäss nur den K u ' n s t w e r t h in allem geistigen Sein und seinen Schöpfungen zu ergründen hat. So erscheint denn allein die Philosophie dieser Aufgabe gewachsen. Was die Dichtung als Kunst leistet, vermag die Weltweisheit als Wissenschaft zu sein (worüber das Nähere in dem Buche selbst an verschiedenen Stellen gesagt ist, besonders in der „Einleitung" und bei Gelegenheit Herder's im Abschnitt „Die Schranken in Herder's Universalismus"). Einen Brennpunkt des gesammten geistigen Lebens vom Standpunkte des Wissens, wie ihn in der Dichtung die K u n s t uns liefert, stellt in der That als F o r s c h u n g nur die Philosophie dar. Schon durch diese seltene Vereinigung des Mannigfaltigsten zur Einheit und durch die dazu erforderliche Erhebung über das Sinnliche und Einzelne zum Vernünftigen und Allgemeinen nimmt diese Wissenschaft selber einen ästhetischen Charakter an. Man könnte die Weltweisheit von dieser Seite her d i e e i n z i g e w i s s e n s c h a f t l i c h e K u n s t nennen, und es würde alsdann dieser Name bereits andeuten, wie gerade sie vor allem im Stande sein muss, das Wesen derjenigen Werke allseitig zu begreifen, die Erzeugnisse der nach Herder als einzig Schöne Wissenschaft anzusehenden Kunst sind. Was aber vor allem durch solche Schätzung der Poesie unserer Dichterheroen herbeigeführt werden soll, ist ein Verständniss derselben in ihrem v o l l e n u n d g a n z e n Wesen. Möchten doch diese Blätter dazu beitragen, in einer Zeit, in welcher durch eine übertriebene, oft lächerlich minutiöse, Detailforschung unsere grossen Dichter ganz zerstückelt werden, uns auf's Neue die Bedeutsamkeit ihres Wirkens als eines Ganzen, ihr Dichten und Denken aus einem Gusse, vor Augen zu stellen! Nicht, dass hiermit die Einzelforschung in ihrem berechtigten Werthe verkannt werden soll; allein es wird nur allzuoft vergessen, dass aller Nachweis der besonderen,
Vorwort.
V
im Leben des Dichters liegenden Anlässe, aus denen dies oder jenes Gedicht entstanden ist, doch nur die W a h r h e i t , nicht die S c h ö n h e i t und den allgemein gültigen, idealen Werth seiner Kunstschöpfungen bezeugen und begreiflich machen kann. — Soviel über die Absicht dieses Buches, über welche alles Weitere und im Besonderen sie Bestätigende in der „Einleitung" gesagt ist. — — Jetzt nur noch ein Wort über die Darstellung und ihre Begrenzung. Ich habe das Buch betitelt „Die P h i l o s o p h i e unserer Dichterheroen". Trotzdem dürfte mancher in demselben mehr, mancher weniger finden, als die Philosophie jener Zierden unserer Literatur umfasst. W e n i g e r enthält in der eben erwähnten Rücksicht diese Schrift, weil es ihr e r s t l i c h nur um Angabe von demjenigen zu thun ist, was als bleibend wichtig in der philosophischen Anschauung dieser Dichter erscheint oder mit solchem zusammenhängt, was überdies entweder bereits als ein geistiges Gemeingut in das Leben unseres Volkes Eingang gefunden hat oder zuversichtlich noch finden wird. W e n i g e r als dieser oder jener sonst noch erwarten möchte, bietet dies Buch sodann auch insofern dar, als dem Gegenstande hier nicht zugleich eine historische sondern meist nur eine philosophische Behandlung zu Theil geworden ist. Es ist also davon abgesehen worden, a l l e Staffeln, des Wachsthums der philosophischen Anschauung unserer Dichterphilosophen nachzuweisen, während andererseits das, was sachlich von derselben dargestellt ist, auch historisch begründet erscheinen wird, indem ich entweder auf die anerkannten Forschungen mich bezogen oder zumal da, wo ich Abweichendes und Neues geben musste, selber die geschichtlich wichtigen Thatsachen beigebracht habe. Könnte ich aus diesen Gründen für den ersten Blick unvollständig zu sein und mit willkürlicher Begrenzung zu verfahren scheinen, so gehe ich andererseits vielleicht über das zu Erwartende hinaus. Denn ich habe nicht nur die philosophische Grundansicht der hier behandelten Dichter, jedoch eben mit Einschränkung auf das b l e i b e n d Werthvolle derselben, sondern auch die wichtigen Ergebnisse davon für ihre übrige literarische Wirksamkeit dargestellt und dabei noch dazu interessante und entsprechende Ansichten Anderer aufgenommen oder dem Rahmen meiner Darstellung eingefügt, sofern sie dazu geeignet sind, die ausführlich
VI
Vorwort.
von mir dargelegte und mir eigenthümliche Auffassung scharf zu beleuchten und zu bestätigen.
Indess auch diese, wenn auch nur
zuweilen ausgedehnteren, Entlehnungen
fremder Ansichten
sind
doch in d e r Weise geschehen, dass die letzteren durch den Zweck, zu dem ich sie verwerthete, und durch den Ort, an dem ich sie meinen Betrachtungen
einreihte,
fast immer eine
steigerte und überdies oft noch eine haben.
wesentlich ge-
neue Bedeutung
empfangen
Zugleich sollten derartige, nur anerkannten Meistern literar-
historischer Darstellung entnommene, Citate recht deutlich und unmittelbar zeigen, wie die seitens derselben gewonnene g e h a l t v o l l e Auffassung unserer Dichter
wenigstens in dunkelem
Bewusstsein
auf eben demjenigen beruht, was ich als eine bedeutsame Einsicht in das philosophische Moment ansehe, das den literarischen Grossthaten unserer Heroen zu Grunde liegt. — Jedenfalls hoffe ich, auf solche Weise ein abgeschlossenes und von einem und
demselben Gesichtspunkte
aus
der Gesammtleistung unserer ersten Dichter,
aufgefasstes Bild
zuvörderst Lessing's
und Herder's darzubieten, ein solches überdies, das zugleich weiteren Kreisen der Gebildeten
eine
vollständige Anschauung
von
der Tiefe und dem Umfange der für alle Zeit werthvollen Ideen und geistigen Errungenschaften derselben zu geben vermag.
—
Nach diesen Andeutungen ist der vorliegende Band nur der Anfang eines grösseren Ganzen, das ich alsbald abzuschliessen gedenke und das vor allem noch Schiller und Goethe umfassen soll. Darf man ihrer Grösse gegenüber doch gestehen: Goethe und Schiller kennen, heisst durch das vollendetste Stereoskop den Reichthum und die Schönheit deutschen Geisteslebens mit perspectivischer Deutlichkeit und in plastischer Gestalt erblicken! Ohne Einsicht in Lessing's und Herder's Verdienste würde uns jedoch das Mittel fehlen, dieses Stereoskop in richtiger Weise zu gebrauchen und es so zu stellen, dass der ersteren Werke in die dem Auge eines gebildeten Deutschen allein angemessene klare Beleuchtung treten. B o n n , im Juli 1880,
Joh. H. Witte.
I n h a l t .
I. Einleitung.
Seite
Ueber Philosophie und Poesie und das allgemeine Verhältniss unserer ersten Dichter zu den grossen Denkern
3
II. Lessing.
i. Abschnitt: Vorbemerkungen. 1. Allgemeine literarische Stellung des Dichters
25
2. Skizzirung seines Lebens
27
2. Abschnitt: Lessing's philosophische Anschauung. I. Literarische Notiz
36
II. Lessing's Philosophie, in ihren Grundzügen und nach den Hauptpunkten ihrer Anwendung Cap. I.
1
Die Grundzüge
39 39
1. Allgemeiner Charakter und Hauptmerkmale der Lessing'schen Philosophie 2. Besonderes a. Lessing's Theologie und Religionslehre im engeren Sinne
39 45 45
b. Lessing's anthropologische Ansicht
48
c. Kosmologische Ideen
49
Kritische Anmerkung: Lessing und die moderne Entwicklungslehre
52
d. Moralisches. (Lessing's Willensfreiheit und Individualismus)
53
e. Lessing's politische Ansicht
58
f. Lessing's gescliichtsphilosophische Ansicht im Allgemeinen und ihr Verhältniss zum* Christenthum
64
Vili
Inhalt. Seite
g. Kritische Würdigung von Lessing's geschichtsphilosoriHischer Theorie
66
3. Würdigung der Lessing'schen rein philosophischen Anschauungen in ihrer Gesammtheit a. Lessing's Verhältniss
70
zu Spinoza's
Gottesbegriff im Be-
sonderen
71
b. Erläuterung des bleibend Werthvollen in Lessing's Gottesbegriff vom Standpunkt moderner
erkenntnisstheoretischer
Forschung
74
c. Lessing's Berührung mit Kant's
theoretischer Lehre
sein Gegensatz zu absolut idealistischen Theorien
und
. . .
77
d. Definitive Bestimmung von Lessing's Verhältniss zu Spinoza und Leibniz Cap. II.
79
Hauptpunkte der Anwendung von Lessing's philosophischer
Grundansicht
81
Gemeinsamer Charakter von diesen Hauptpunkten
81
A . Lessing's ästhetische Kritik
83
I. Allgemeines
83
a. Verhältniss zur philosophischen Grundanschauung
. . .
83
b. Lessing's Grenzbestimmung der Künste und ihrer Arten im Allgemeinen
84
II. Besonderes
91
a. Die Grundgedanken von Lessing's Laokoon nach Hettner's Resumé
91
Anmerkung
103
b. Lessing's Kritik des Drama's
104
aa. Allgemeine Ansichten über das Drama
104
«. Einfluss seiner philosophischen Grundansicht auf dieselbe in besonderen Punkten ß. Allmählige
104
Entwicklung von Lessing's Auffassung
des Drama's
110
bb. Lessing's Bestimmungen über das Wesen der Tragödie, deren Aufgabe und Composition im Besonderen (O. Weddigen)
116
«. Definition der Tragödie
116
ß. Das tragische Mitleid. Die Qualität desselben
.
.
117
y. Das tragische Mitleid, quantitativ betrachtet .
.
.
118
rf. Ueber die Reinigung der Leidenschaften .
.
.
119
.
Inhalt.
IX Seite
f. D i e R e i n i g u n g
der Leidenschaften
und
der
hedo-
nische Z w e c k der T r a g ö d i e
125
f. B e z e i c h n u n g der Schranken in L e s s i n g ' s T h e o r i e der Tragödie
und H i n w e i s
auf H . Hettner's
treffende
A n s i c h t darüber
128
r). N o c h einige weitere v o n W e d d i g e n betonte Bestimmungen L e s s i n g ' s ü b e r die T r a g ö d i e cc. Spuren
von
reiferen
Ansichten
131
Lessing's
über
das
Drama
139
dd. Hettner's
abschliessende
Würdigung
von
Lessing's
W i r k s a m k e i t für das Drama B.
140
U e b e r L e s s i n g ' s religiös-kritische T h ä t i g k e i t 1.
142
Allgemeines a.
142
Stetigkeit des Interesses an religiösen P r o b l e m e n
b . Frühreife
seiner
religiösen
Anschauung.
.
.
Vergleich
.
142
des
Fragmentes „ d a s Christenthum der V e r n u n f t " und der „ E r ziehung des M e n s c h e n g e s c h l e c h t e s " im A l l g e m e i n e n .
Hett-
ner's Irrthum
143
c. A b w e i s u n g weiterer Irrthümer Hettner's in B e z u g auf L e s sing's Verhältniss zum Rationalismus und Spinozismus
.
d. L e s s i n g ' s geschichtsphilosophische T e n d e n z 2. B e s o n d e r e s a.
Angabe
149 der e i g e n t ü m l i c h e n Gesichtspunkte,
welche Les-
sing's religiöse A n s c h a u u n g bezeichnen
149
b. B e w e i s derselben im E i n z e l n e n
151
«. L e s s i n g ' s tief gegründete und positive R e l i g i o s i t ä t .
ß.
.
Lessing's Theismus ««. A l l g e m e i n e
Anerkennung
151 154
desselben
nach
seinen
Schriften
ß ß . Besondere B e l ä g e aus den Schriften yy.
145 148
154 155
L e s s i n g ' s Theismus in seinem L e b e n und allgemeine B e u r t h e i l u n g seines Gespräches mit F r . H . Jacobi im Verhältniss zu den S c h r i f t e n
159
H e r d e r ü b e r die v e r s c h i e d e n e n D i c h t a r t e n .
y.
339
Herder Uber die verschiedenen Dichtarten und besondern Hauptvertreter derselben.
Natur- und Kunstdichtung.
Homer und Virgil.
Ossian. Volkslieder.
Allein nicht nur über das Wesen der Poesie ihrem Inhalte nach und als Gattung vermochte Herder vermöge seines auf den Ursprung gerichteten Sinnes derartige bedeutsame und, wenn auch nur unter gewissen Einschränkungen, als Ergänzung der formalen Bestimmungen Lessing's anzusehende Aufschlüsse zu geben, sondern auch auf den Umfang der Dichtung und auf das Wesen einiger Hauptarten derselben richtete er seinen Blick und brachte gerade hier manche Einsichten, die unbedingte Anerkennung finden mussten. So waren es gleichfalls die „Kritischen Wälder", in denen er früher als irgend ein Anderer die Eigenart Homer's aufdeckte und unserem Volke lehrte, was ein E p o s sei. Zum Theil führte er aber hier nur im Besonderen aus, oder bestimmmte des Näheren und wiederholte zugleich nachdrücklicher, was bereits die „Fragmente" betont hatten, dass Naturpoesie und Kunstpoesie scharf zu unterscheiden wären, dass Homer der vollkommenste Sänger der Natur wäre und als Ergüsse eines solchen seine Dichtungen ungleich höher ständen als das Kunstepos des Virgil. In der That wurde durch diese Gegenüberstellung von Natur- und Kunstpoesie erst ein wahrhaft geschichtliches Verständniss der Dichtung und ihrer Entwicklung begründet und ermöglicht. Es war das Zeichen eines damals noch nicht anerkannten feinen historischen Sinnes, den Herder besass, wenn er vor der Methode warnte, über den Werth und die A r t der alten Dichter nach den Sitten der Neuzeit zu urtheilen, sie nach der letzteren Maassstabe zu messen, nach den modernen Normen zu würdigen. — Herder's diesem Verfahren entgegengesetzte Auffassung befähigte ihn auch zum besseren Verständniss Ossians, auf den er in den „Blättern von deutscher A r t und Kunst"
34ö
Össian und die Volkslieder.
den Blick der Zeitgenossen richtete, sowie an selbiger Stelle zur richtigen Würdigung und Darlegung der ältesten und ursprünglichsten Volksgesänge, der Volkslieder, überhaupt der Volkslyrik, vollends aber, wozu ihm sein Beruf als Theologe Anlass g a b , zur Darlegung des poetischen Gehaltes der Bibel. Dahin gehören seine beiden Abhandlungen „die älteste Urkunde des Menschengeschlechts" und „ V o m Geiste der hebräischen Poesie." Indem Herder in der ersteren den Eingang des i. Buches Mosis in ästhetischerWeise betrachtete, die hier niedergelegte Offenbarung als ein dichterisch Ursprüngliches, Lebendiges, als eine grossartige, erhabene Schöpfung, hier zwar unmittelbar nur als eine solche des m e n s c h l i c h e n Geistes verstehen lehrte und zugleich die Eigenthümlichkeit der sinnlichen Bildersprache des Orients hervorhob, entzog er jener rohen Auffassung ein und für alle Mal den Boden, die im alten Testamente nur eine Masse geschmacklos erzählter Fabeln und uncultivirte Producte eines barbarischen Volksstammes erblickte. — In der zweiten Abhandlung wurde nicht nur die poetische Sprache der Bibel gekennzeichnet, sondern überdies Anlass genommen, die mannigfachen in ihr hervortretenden Dichtarten und ihre Formen zu besprechen, von jenen: die Epik der historischen Schriften, die Lyrik in Schlacht- und Siegesliedern, zumal die Hymnen-Dichtung der Psalmen, die erotische Poesie des Hohenliedes, die Elegie des Jeremias, von diesen aber: den Rhythmus im Satzbau, den Parallelismus der Glieder u. s. w.
ä. Bezeichnung der Hauptriebtungen von Herder's wissenschaftlicher Kritik.
Denselben Charakter wie diese ästhetische Kritik, die er nicht auf die Dichtung beschränkte, sondern auch weiter als Lessing auf die bildende Kunst ausdehnte, indem er sogar in seiner Schrift „Plastik" vom Jahre 1778 Epoche machende Gedanken aussprach, zeigt auch Herder's übrige
Herder's wissenschaftliche Kritik.
341
wissenschaftliche Forschung. Auch sie geht überall aus auf die Quellen, auf das geschichtliche Werden und, um diesen Gesichtspunkt sowohl vollständiger als auch tiefer zu beleuchten, noch dazu auf eine Vergleichung gleichartiger geschichtlicher Erscheinungen. Indess Herder's zu einseitig und übertrieben phantasievolle Behandlung macht in diesen Gebieten den Mangel klarer und bestimmter Begriffs-Bestimmung so fühlbar, dass seine Verdienste im Besonderen hier nicht von so bleibender Bedeutung sind oder seine Ergebnisse doch durch den Fortgang der Wissenschaften mindestens in ihrer genaueren Fassung weit übertroffen sind. Es ist gerade dies dasjenige Feld von Herder's Thätigkeit, von dem es am meisten gilt, dass er mehr belebend und anregend, als selbst das Neue gestaltend und abschliessend gewirkt hat. Hierher sind besonders zu zählen seine bereits erwähnte' Abhandlung „über den Ursprung der Sprache", ferner diejenige über die „Ursachen des gesunkenen Geschmacks bei den verschiedenen Völkern, da er geblühet" aus dem Jahre 1773, sodann seine lange gehegten Pläne eingehender Literaturgeschichtswerke, zumal sein erster jugendlicher „Versuch einer Geschichte der Dichtkunst". Bereits die „Abhandlung über die Ode" aus dem Jahre 1766 oder 67 bezeugt, wie früh Herder die geschichtliche Seite klar in's Bewusstsein getreten war. Hettner bemerkt Q3d. III. 3 S. 33): „Erst jetzt war die Einsicht möglich geworden, dass die Geschichte der Dichtung nicht blos eine äusserliche Erzählung und Aufzählung der Dichter und ihrer Lebensumstände und Werke sei, sondern die wissenschaftliche Darlegung des engen Zusammenhanges der Dichtung mit den durch Volksglauben und Volksthum bedingten allgemeinen Bildungsverhältnissen, die Ableitung der Literatur aus ihren bindenden weltgeschichtlichen Grundlagen, aus dem Geist und der Empfindung ihres Volkes, der Zeit und des Landes."
342
Herder als Historiker und Theologe.
Endlich sind auch hier zu nennen seine Verdienste um Geschichte und Religion in verschiedenen Schriften; dieselben fallen jedoch zum besten Theil zusammen mit seinen uns schon bekannten philosophischen Schriften, wie es denn Herder hier vor allem mehr auf die allgemeinen Gesichtspunkte ankam als auf die Fülle der Thatsachen. Für seine Theologie sind besonders bezeichnend die Aeusserungen, welche die Briefe über das Studium der Theologie vom Jahr 1780 enthalten. Hier betont unser Dichter wiederum nachdrücklichst den rein menschlichen Geist der Bibel. Die Bibel, urtheilt er, sei nicht System des Wissens sondern des Seins, die Theologie nicht Worte, nicht Sylben- und Buchstabenstudium, sondern Erkenntniss der Wahrheit zur Gottseligkeit, als Sache, Geschäft, Uebung. Ihre Aufgabe besteht in einem thätigen Werk des Lebens. — Wir beschliessen diese Betrachtungen über Herder's gesammte kritische Thätigkeit mit der Anführung eines Wortes von Vilmar, das eine im Vorstehenden genügend begründete Anerkennung über die eigentlichen Verdienste unseres Dichters enthält. Derselbe bemerkt (S. 452) über letzteren: „Durch ihn ist ein allgemeines historisches und vergleichendes Sprachstudium, welches die verborgensten Schätze der Geister der Völker und die wahre Gestalt ihrer geheimsten Gedanken an das Licht zieht, durch ihn ist eine lebendige Cultur- und Sittengeschichte, durch ihn eine W e l t g e s c h i c h t e , eine wahrhafte Universalgeschichte uns, aber auch a l l e i n uns, möglich geworden".
IV. BESCHLUSS.
Vergleich zwischen Lessing's und Herder's Weltanschauung und Bezeichnung ihrer gemeinsamen Stellung zur zeitgenössischen Philosophie. Nachdem wir Lessing's und Herder's philosophische Ansichten und ihre Anwendungen in den Hauptpunkten eingehend kennen gelernt haben, kommt es nunmehr auf einen Vergleich derselben mit einander an und mit dem, was sie in ihrer Zeit vorfanden, um demgemäss ihre historischphilosophische Bedeutung in abschliessender Weise festzustellen. — Sowohl in seiner Theorie der sich entwickelnden Vernunft in der Sprache, als auch in seinen Lehren über den Zusammenhang der Entwicklung in der Gesammtheit der Naturerscheinungen vom Unorganischen bis zum Menschen ist Herder Lessing verwandt; und doch unterscheidet er sich wieder von ihm. Er gibt nicht blos dem Prinzipe der Entwicklung eine weitere Ausdehnung und einen grösseren Umfang, dasselbe hat auch eine andere Beschaffenheit und einen anderen Gehalt. Bei Herder ist es Grund einer blos individuellen und zeitlich beschränkten, bei Lessing einer schöpferischen und ewigen Entwicklung. Jene ist mehr genetisch und naturalistisch, diese creatürlich und theologisch. Herder ist in Bezug auf das Einzelne mehr dem Gedanken des Werdens und der Entstehung zugewandt; Lessing macht überall den der Schöpfung geltend. Das Wesen der letzteren hebt er selbst in Beziehung zum Einzelsten und Unbedeutendsten hervor; auch bei Herder gilt für dieses die Schöpfung, und sie ist stets für das Einzelne
346
Lessing's u. Herder's unterschiedene Stellung zur Schöpfung.
vorhanden. Indess bei der Betrachtung desselben steht sie mehr im Hintergrunde und tritt nur hervor, wo diese den Anfängen des Einzelnen, nicht dem F o r t g a n g e von dessen Entwicklung sich zuwendet. Lessing betont deutlich das ewige Walten der Schöpfung und sieht auch das Einzelne gerade auf das in ihm enthaltene Ewige hin an, das es irgendwie in sich darstellt; bei Herder geht für das Einzelne als solches und für dessen Entwicklung die Schöpfung in der Betrachtung fast gänzlich in Entstehung über. Genauere Ergründung der thatsächlichen Veränderung ist ihm oftmals das ausreichende Ziel, während es Lessing stets zugleich um Erklärung der Vernunftgründe zu thun ist. W e n n dieser überwiegend speculativ und metaphysisch verfährt, erscheint Herder — eben nur im Verhältniss zu ihm — vorwiegend einer empirischen und physikalischen Methode sich zu bedienen. Ist dies für sorgfältige Erfassung des Einzelnen und Vertiefung in die kleinsten Staffeln des W e r d e n s und seiner Mannigfaltigkeit ein Vorzug, so läuft es Gefahr für das philosophische Verständniss und Ergründung der Vernunftursachen der Dinge ein Mangel zu werden und das Allgemeine im Besondern untergehen zu lassen. Scheinbar und an einzelnen Punkten auch wirklich ist dies bei Herder in der T h a t der Fall; aber ein genauerer Einblick in Herder's Auffassung, wie wir ihn gewonnen haben müssen, zeigt, dass er in der Hauptsache so weit nicht geht; indem er vielmehr an dem Gedanken ewigen W e r d e n s überhaupt und mit klarem Bewusstsein festhält und einen offenen Sinn für das Unendliche im Endlichen sich bewahrt, übertrifft er mit Lessing die Aufklärungsphilosophie eines Garve, J. Engel, M. Mendelssohn, Fr. Nicolai; er steht in dieser Beziehung zugleich Leibniz nahe. Indem er indessen darauf verzichtet, das Walten der Schöpfung als solcher auch im Einzelnen näher zu bestimmen und sogar ganz sich der Ergründung des Ursprungs aller Dinge enthält und die Spuren dieser im Ewigen liegenden Ursachen derselben,
Fortschritt Lessing's über Leibniz und Herder hinaus. auch
soweit
sie
in
der Erscheinungswelt
bemerkbar
347
sein
möchten, nur als T h a t s a c h e n des Glaubens darzustellen b e müht, bleibt er hinter Lessing - 's logischer S c h ä r f e und metaphysischer T i e f e zurück. D e r hiermit
—
anerkannte V o r z u g L e s s i n g ' s v o r Herder
bezeichnet aber zugleich einen Fortschritt des ersteren über des Leibniz Standpunkt hinaus. Denn um Lessing's ge. sammter speculativer Grundanschauung völlig gerecht zu werden, müssen wir bedenken, dass dieselbe ein absolutidealistisches Gepräge trägt. Sein Ausgangspunkt ist weder Spinoza's unendlich ausgedehnte Substanz, noch auch des Cartesius absolut reines Denken des Menschen, das von diesem Philosophen zugleich zum absoluten Sein in willkürlicher Weise erhoben wurde: es ist vielmehr, wie wir bereits früher gesehen haben (S. 72fgg.), eine eigenthümliche, dem menschlichen Gedanken unvergleichbare, höchste Vernunfteinheit, eine göttliche Urkraft und Einheit; und die einzelnen Vernunftwesen sind gleichsam nur eingeschränkte Götter, wie es im § 22 des „Christenthums der Vernunft" heisst. Die Harmonie eines Wesens mit sich und anderen Geschöpfen besteht daher auch nicht nach Leibnizischer Weise in der Uebereinstimmung zweier absoluter Potenzen von grundverschiedener Beschaffenheit, deren Dualismus durch eine prästabilirte Harmonie doch nicht überwunden werden kann, sondern sie liegt darin, dass jedes Einzelwesen in wahrem und vollem Sinne Mikrokosmus — ob zwar in verschiedenem Grade — ist. Jedes Einzelwesen repräsentirt unmittelbar und auf Grund göttlicher Schöpfung das Ganze nur in mehr oder minder vollkommener Weise. Freilich hat Lessing die Idee der Stufenfolge und Evolution von Leibniz. entlehnt, aber die Art der Ausführung ist daher bei Lessing eine ganz neue gemäss seinen eigenen Grundgedanken der Weltschöpfung. Mit Recht hat man bemerkt, Leibniz habe im Begriff der Monade die Einheit von
34»
Der Mangel in des Leibniz' Monadenbegriff.
Kraft und Materie zu vermitteln gesucht, aber er habe mit demselben doch nicht vollständig den Dualismus zwischen beiden letzteren überwunden. Wenngleich seine unendlichen Differenziale d. h. unendlich kleinen Unterschiede desBewusstseins in Bezug auf dessen Klarheit und Bestimmtheit anerkannt würden und von ihnen eine Anwendung auf die Entwicklung der Welt geschehe, sodass eine Stufenordnung von Wesen mit kleinsten Klarheitsgraden des Individual-Bewusstseins bis zu solchen Wesen, die den höchsten Grad des menschlichen selbstbewussten Geistes besitzen, bestände, so würde das freilich ein Versuch sein, in tiefsinniger Weise die metaphysische Lösung des schwierigsten Problems zu geben. Leibniz hatte diesen W e g eingeschlagen in seinen mehr esoterischen und speculativen Betrachtungen im Gegensatz zu den exoterisch-populären und theologischen, durch die er an Stelle jenes Begriffes die Lehre von der Präformation und prästabilirten Harmonie setzte. Aber selbst jene tiefere Auffassung in der Monadenlehre unterliegt ihren gerechten Bedenken. Des Leibniz göttliche monas war die höchste Seele in dem höchsten Körper; sie gilt ihm für die Weltseele in dem Weltkörper; wenn in den andern Seelen und Monaden nur ein Theil der Welt d e u t l i c h dargestellt werde, das Uebrige zwar auch, aber nur dunkel, so spiegelt sich dagegen in Gott das ganze Universum auf das Klarste und Deutlichste ab. Als centre partout ist Gott die WeltCentralmonade, der allgegenwärtige Mittelpunkt. Grade diese Vorstellung aber, so grossartig und befriedigend sie von einer Seite erscheint, bekundet auf der andern den Mangel und erregt Widerspruch. So wenig irgend eine Monade ihren Körper wählt und schafft, sondern sich in ihm eingeboren vorfindet, so wenig kann die Weltseele den Weltkörper wählen und - schaffen. Dieser Begriff ist Ergebniss einer Analogie, durch welche die Idee der Schöpfung in Gott aufgehoben wird. Der Körper, auf den hiermit auch die Weltseele eingeschränkt wird, ist
Lessing's Berichtigung v. Herder's Ansicht.
349
das Weltall selbst, die Weltseele in dem Weltkörper ist mithin nicht die höchste, da eine schrankenlose denkbar ist; wäre sie aber letzteres und müsste sie also eine schrankenlose Substanz sein, so fehlte wiederum der Unterschied von der Summe der Dinge; anstatt der Schöpfung hätten wir alsdann eine willenlose Emanation. Es ist ein schlechter Ausweg, Gott zur schöpferischen Monade zu machen, d. h. zu einer solchen, die so handelt, als wäre sie keine Monade. In jedem Falle gelangt man mit ihr zu einem Pantheismus, mit welchem die Idee einer ewigen Schöpfung unvereinbar ist. Erst Lessing, von überwiegend theologischen Rücksichten gedrängt, begann den Weg zu betreten, auf welchem der Widerspruch sich allmählig überwinden liess: der Mensch wurde selbst ein eingeschränkter Gott; ja für Lessing sind es sogar auch alle übrigen Weltwesen. An Stelle der Idee einer höchsten Monade und der Monaden überhaupt, die nach dem Angedeuteten immer noch ein unvollkommener Versuch sind, in esoterischer und streng wissenschaftlicher Weise den Gegensatz von Substanz und Kraft zu überwinden, welchen die Präformation und prästabilirte Harmonie mehr äusserlich aufhob, tritt die Idee der schöpferischen Einheit in Gott und des wahrhaften Mikrokosmus. Wolff und seine Schule hielten sich jedoch im Gegensatz zu Lessing sogar nur an die exoterischen Seiten von Leibniz' Lehren; sie suchten verstandesmässig und rein logisch zu begreifen, was sich doch nicht in abstrakte Begriffe einzwängen lässt, weil sie das Prinzip der Identität, noch dazu rein formal gefasst, zum obersten von allem Denken machten. Wolff begründet so die Verstandesaufklärung; die Philosophie wird encyklopädisch abgerundet, systematisch eingetheilt und logisch disciplinirt. Indess Erfahrung und Speculation treten bei ihm in unvermittelten Gegensatz; durch eine Empirie ohne Tiefe und eine
350
Verflachung der Lehre des Leibniz durch "Wolff.
Speculation ohne Leben wird eine trockene Schulweisheit erzeugt. In der Psychologie in Sonderheit traten Seele und Leib wieder absolut auseinander. Der immerhin so bedeutsame Monadenbegriff des Leibniz verschwindet gänzlich, oder er ist doch nur ein rein äusserliches Band, zusammengehalten allein durch die prästabilirte Harmonie, nicht mehr durch die Idee eines Mikrokosmus, welchen das Individuum für sich und als Glied der ewig währenden Schöpfung darstellt. — Wenn die Seele dem Körper demnach nicht immanent sein kann, so hat letzterer auch keine innere selbstthätige Kraft; mit der Monade wird auch der Zweck als Ursache solcher Kraftäusserung aufgenommen, oder nur ganz äusserlich gefasst; an Stelle des Endzweckes wird der Nutzen gesetzt, an Stelle des innern Zweckes die äussere Zweckmässigkeit oder das Mittel zum Zweck. Wie Descartes trotz seines zum Absoluten hypostasirten reinen Denkens keine Zwecke kannte, weil ihm die Individualität nichts für sich galt, sondern nur Modification des Allgemeinen war, wie er daher lediglich nur MittelUrs ach.en kannte, so gab es bei Wolff nur Mittel-Zwecke. Wenn Spinoza überdies die Dinge nur aus der Summe ihres Ganzen, letzteres nur aus sich selbst und jene im Besondern nur aus dem Naturgesetze erklärt, dem sie ohne Rücksicht auf den Menschen gehorchen, so beziehen die Wolffianer alles grade auf diesen. Nur nach dem menschlichen Gebrauche bestimme sich ja der Nutzen der Dinge; nach Spinoza jedoch war es das gröbste Vorurtheil, die Dinge nach Zwecken und gar nach den menschlichen zu erklären. Grade hierin besteht der absolute Gegensatz zwischen der Ethik Spinoza's und der der Aufklärungsepoche. Mit Recht bemerkt K. Fischer: „weil" so für Wolff der Zweck ein äusserer sei, so fehle der Gedanke der Entwicklung. Nach seiner Lehre bestehe nur eines für das andere, nichts aber wird etwas durch sich, und noch weniger entwickelt sich die
Weitere Mängel der Aufklärungsphilosophie.
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Gattung anders, als in ein- und für allemal fertig bestimmten Grenzen. Es gibt nur einerseits physiko- und andrerseits psychomechanische Veränderung; ein geschichtliches Werden und Fortschreiten sowie eine göttliche Offenbarung ist dabei unmöglich. Der Wolff'sche Rationalismus, meint K . Fischer, begreift wegen seiner abstracten Kurzsichtigkeit, der Dogmatismus des Descartes und Spinoza wegen Ueberspannung des Substanzbegriffes, nicht das geschichtliche Werden. Der blos logische Verstand, uniähig das Leibnizische Identitätsprinzip zu erfassen, zersetzte den Begriff der Monade. Wie er die Seele vom Körper schied und beide als verschiedene Substanzen ansah, so war er des Weiteren genöthigt, die deutliche Erkenntniss von der dunkeln, die Moral von der Natur, Gott vom Universum zu trennen. So löste sich jenes geistige Band auf, welches bei Leibniz im Begriffe der Monade und der die Schöpfung beherrschenden Entwicklung die Ordnung aller Wesen zusammenhielt. Weil dieser Begriff der Entwicklung in der Welt, sodann der der Selbstentwicklung des vernünftigen Individuums und ausserdem der des vollkommenen Stufenreichs der Kräfte und damit die wahre Harmonie im Zusammenhange der Erscheinungen fehlt, darum ist diese Denkungsart der Aufklärung blind gegen jede fremde Vorstellungsart und misst alles nach ihrem Maasse. Unwahr ist was nicht ihren fertigen Begriffen entspricht und sich nicht verstehen lässt nach dem Satze des formalen Widerspruchs. Weil einem Subjekte von zwei verschiedenen Prädikaten nur eines beigelegt werden könne, soll auch die menschliche Religion nicht zugleich Monotheismus und Polytheismus, nicht zugleich Deismus und Christenthum sein können. Die Aufklärung begreift die Entwicklung nicht und leugnet darum den Fortschritt zu dem Ideale der auch in ihr stets relativ enthaltenen und ewig schaffenden absoluten Vernunft, wofür besonders die oben (S. 301) angeführte Aeusserung M. Mendelssohn's bezeichnend war. Treffend be-
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Fortbildungen Leibnizischer Gedanken durch Lessing.
merkt grade in Bezug auf diesen Punkt Kuno Fischer: „Es gibt nur einen Weg, auf dem die Aufklärung sich erweitern und fortschreiten kann: dass sie mit dem vorurtheilsfreien, folgerichtigen, klaren Denken den Sinn für die fremde Eigenthümlichkeit vereinigt, dass sie den logischen Verstand in den c o n g e n i a l e n verwandelt, der sich die fremde Vorstellungsweise erst aneignet, bevor er sie erklärt und beurtheilt. Dieser Verstand begreift, dass jede Erscheinung ihre eigenthümliche Natur, Kraft und Aeusserung hat: . . . . so jedes Zeitalter, jede Religion, jedes Kunstwerk." So sei es bei Lessing „er vereinigt die völlig vorurtheilsfreie, folgerichtige Denkart mit der erweiterten, den logischen Verstand mit dem congenialen . . ..; er wusste mit logischem Verstand sein Object zu zergliedern und es mit congenialem in seiner eigentümlichen Lebendigkeit wieder entstehen zu lassen. Er hatte die Theile in seiner Hand und zugleich das geistige Band, das sie zusammenhielt." Wenn Wolff und die deutsche Aufklärung Leibniz entstellte und verflachte, so begnügte sich Lessing nicht blos damit, ihn in seiner wahren Grösse an's Licht zu stellen, sondern er wollte ihn in derselben ergänzen und den Kern seiner Lehre fortbilden. So beschränkte er sich nicht mit Leibniz darauf, die blosse Denkbarkeit der christlichen Dogmen auf formal-logische und ontologische Weise zu beweisen oder sie gar als gläubiger Sohn der Kirche mit Descartes vorauszusetzen und auf sich beruhen zu lassen. Lessing weiss sehr wohl, dass er sie nicht logisch beweisen kann, sucht diese Dogmen aber, ungeachtet dessen, von dem Standpunkte des Glaubens aus und für diesen festzuhalten und sie sogar mit seiner ausser dem abstracten Begriffe und dem Verstände liegenden Begriffe von Gott in Zusammenhang zu bringen und so durch eine den logischen Verstandesgebrauch überschreitende Auffassung und Methode zu rechtfertigen und die Thatsache des Glaubens an einen übersinnlichen Inhalt überhaupt als begründet indirect zu beweisen,
Lessing's Auffassung des Organismus.
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wenn auch' nicht diesen letzteren Inhalt selber zu demonstriren. Ueber das blos formal-logische und ontologische Verfahren erhebt er sich somit zu einem speculativen und metaphysischen, und es liegt ihm im Gegensatz zu Leibniz an der Denkbarkeit des Inhaltes, nicht blos der Form der Dogmen, aber er sucht dieselben nicht als etwas mit dem Verstände zu Rechtfertigendes und in Begriffen zu Erschöpfendes, sondern als etwas relativ Vernünftiges zu erklären; seine Speculation ist nicht ontologisch, sondern geschichtsphilosophisch. Und es ist derselbe Gesichtspunkt, weswegen ihm nicht der Begriff der Monade mit seinem psychologischen Ursprung genügen konnte, sondern er Ernst machen musste mit der Idee des Mikrokosmus. Der Organismus beruht nach Lessing auf einem Prinzip, das als wahren Grund auch für jedes irgendwie selbständige Einzelwesen etwas setzt, das ein rein Innerliches ist und etwas noch Ursprünglicheres bedeutet, als wofür selbst die letzten psychologischen Thatsachen der Erfahrung gelten können; derselbe ist etwas rein Innerliches und Idealisches und aus dem Urbegriffe, dem ewigen Urgrund und der Idee eines Wesens, z. B. eines Thieres, Erklärbares; nicht etwas Aeusserliches und Mechanisches ist mithin der Organismus, ja seinem tiefsten Grunde nach ist er gar nicht mehr etwas, was durch etwas überhaupt innerhalb des Daseins Liegendes wesentlich bestimmt sein kann. Der Organismus ist auch nicht etwa blos auf teleologische Weise von einer Entwicklung anderer Wesen abhängig, sondern seine eigenthümliche Natur ist unmittelbar eine Folge der göttlichen Schöpfung. Lessing fasst theologisch, nicht psychisch oder physisch, am wenigsten mechanisch, aber auch nicht einmal teleologisch und organisch sein Problem der Entwicklung auf. Die Welt ist für ihn kein Organismus, sondern sie und die organische Entwicklung zweckmässig in sich abgeschlossener Individuen in ihr sind Folgen göttlicher Schöpfung. Leibniz war von den einzelnen Dingen ausgegangen, und da hatte er die unbedingte Einheit von Materiellem 23
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Kant's kritische Philosophie u. d. P e r s ö n l i c h k e i t der Menschen.
und Immateriellem, von Materie und K r a f t wohl anerkennen müssen und zu erklären sich bemüht; er hatte sie erklärt, als Individuum, das nicht materielles Atom ist, sondern Kraft, welche als nothwendige Bedingung des für sich Bestehens und für seine Selbständigkeit einer Schranke und darum der Materie oder doch eines Analogon derselben bedürfe; auch Gott als höchste Monade, als monas monadum sollte selbständig und abhängig zugleich sein. Allein Gott kann nicht etwas Beschränktes sein, das würde ja seinen Begriff aufheben, und also kann er auch nicht für eine Monade gelten, er muss P e r s o n sein, wie dies der Mensch nur in sittlicher Beziehung und als frei wollendes Wesen ist. Lessing's Idee des Mikrokosmus, durch welche er das Individuum in unmittelbaren Bezug zum Schöpfer brachte, vermittelte eine solche Ueberzeugung und war eine Vorstufe für den reinen Begriff der Persönlichkeit. Es bedurfte jedoch noch der kritischen Philosophie eines K a n t , um den Menschen erst völlig sich selbst zu offenbaren und seinem ursprünglichen Vernunftwesen nahe zu bringen; sie erst stellte ihn in der Fülle seines ganzen Vernunftwesens dar, demzufolge er selbst als nach unbedingt geltenden Normen des Guten handelndes oder doch zu solchem Thun befähigtes Geschöpf auch schon selbst Person ist. Grade als solche erscheint er mit dem ewigen Grunde alles Seins so verwachsen, dass er im Stande ist, das W e s e n desjenigen Seins unmittelbar zu erfassen, welches rein Person ist, ohne jegliche Individualität. Es hat dasselbe, soweit es unsere Worte und Begriffe überhaupt nur allgemein bezeichnen können, ein selbständiges Sein von unvergleichlicher Art. Seine Selbständigkeit kommt ihm absolut zu, nicht nur gegenüber gleichartigen endlichen Wesen, noch auch nur als Inbegriff der Summe aller in dieser beschlossenen W i r k lichkeit. — W e n n wir bedenken, dass auch Herder einen wesentlichen Antheil daran hat, neben Lessing die Leibnizische
Lessing's u. Herder's Fortschritt über die Aufklärungsphilosophie hinaus. 3 5 5
Anschauung zu erneuern, obzwar nicht in dem Maasse wie jener zugleich zu entwickeln, und sie gemeinsam mit letzterem der Aufklärungsphilosophie gegenüber zu stellen, so erscheinen beide in der That neben Kant als Neubegründer der deutschen Speculation in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Legten sie aber nur die Grundlage, so hat Kant zugleich das neue Gebäude selbst in den Haupttheilen schon aufgeführt, und der Dichter, zu welchem wir uns zunächst wenden, Schiller, ist an diesem Aufbau nicht unbetheiligt, während er sogar das Meiste dazu beigetragen hat, die Grossartigkeit desselben anderen begreiflich zu machen, sowie es innerlich reich und schön auszustatten.
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