Berkeleys System: Ein Beitrag zur Geschichte und Systematik des Idealismus [Reprint 2020 ed.] 9783111554679, 9783111184982


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German Pages 173 [180] Year 1914

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Berkeleys System: Ein Beitrag zur Geschichte und Systematik des Idealismus [Reprint 2020 ed.]
 9783111554679, 9783111184982

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Philosophische Arbeiten herausgegeben

von

Hermann C o h e n

und

Paul Natorp

Iii licrlln

in Marburg

Achter Band 1913—1914

V

y

Gießen Verlag von Alfred Töpelmann (vormals J. Ricker)

Inhalt des achten Bandes

Rotten, Elisabeth: nische Idee.

Goethes Urphänomen und die plato-

C a s s i r e r , E r i c h : Berkeleys System. Ein Beitrag zur Geschichte und Systematik des Idealismus.

Berkeleys System Ein Beitrag1 zur Geschichte und Systematik des Idealismus

von

Erich ßassirer Dr. phil.

T

v.

J

Gießen 1914 Verlag von Alfred Töpelmann (vormals J. Ricker)

Philosophische

Arbeiten

herausgegeben von

Hermann Cohen In Berlin

und Paul Natorp in M a r b u r g

VIII. Band 2. Heft

Vorrede. D e r Gedanke, das System Berkeleys aus den Schriften darzustellen und zu entwickeln, entstand in der geschichtlichen Rückbesinnung auf die Bedingungen der Entstehung der kritischen Philosophie Kants. War doch durch den Vergleich mit dem Berkeleyschen System und seine Kenntnisnahme zum mindesten ein Gesichtspunkt mehr zum Durchsichtigmachen jener idealen Linien gegeben, auf denen das Werk des Genius ruht und die es dem Verständnis näher bringen. Insbesondere konnte die gleich nach Erscheinen der Kritik auftauchende Frage, die von da ab ihre Geschichte hat, welche Bedeutung nämlich der Lehrbegriff des Idealismus in der K r i t i k d e r r e i n e n V e r n u n f t besitze, einer sachlichen Klärung und Auflösung bedürftig erscheinen. Die Identität der Philosophie oder Metaphysik Kants mit dem B e g r i f f e d e r r e i n e n P h i l o s o p h i e ist mir durch die Schriften und den persönlichen Vortrag meines Lehrers, Professors Hermann Cohen, zu überzeugender Klarheit geworden. Indes blieb die Aufgabe, das System Berkeleys zu bestimmen, der Denkergröße des Philosophen gemäß nichtsdestoweniger philosophischer Selbstzweck. In erster Linie galt es hierbei, den Beitrag zu ermitteln, den die Philosophie Berkeleys für die Begründung der Prinzipien der reinen Erkenntnis leistet. Hier boten sich vornehmlich zwei Schriften des Verfassers dar, welche die Kritik der exakten Wissenschaft enthalten: die eine Untersuchung über die Grundlagen der Mechanik enthaltende Schrift: De motu und die spätere mathematische: Der Analyst. In der Befolgung dieses sachlichen Planes ergab sich von selbst und

IV

Vorrede.

ungezwungen der Zusammenhang dieser vorkantischen Philosophie mit der kritischen Philosophie Kants. Meinen Lehrern Hermann Cohen und Paul Natorp bezeuge ich hiermit meinen dauernden Dank. Aus ihrem das philosophische Interesse weckenden und belebenden Unterricht und ihren Werken erhielten meine Studien ihre genaue Richtung; Professor Natorp bin ich zudem für die sorgfältige Durchsicht und Korrektur gegenwärtiger Schrift verpflichtet. Aus demselben Grunde bin ich auch Ernst Cassirer verbunden. Von ihm empfing ich zudem die erste Anregung und Anleitung und stete Förderung im Studium der Philosophie; ich bekenne ihm hierfür meinen dauernden Dank. B e r l i n , am 3. Februar 1914.

Inhalt. Seite

E r s t e r Teil: Die allgemeinen Voraussetzungen Berkeleyschen Systems

des 1—85

Einleitung

1

I. Die Bestimmung des Begriffs der P h i l o s o p h i e . . . . II. Theorie des Begriffs III. Die Begründung des Idealismus 1. Begriff der Materie 2. Die Gottesidee IV. Wahrnehmung und Erkenntnis V. Raum und Zeit Zweiter Teil: Schriften I. II. III. IV.

Die

Systematik

der

späteren 86—161

De motu Zeichentheorie Der Analyst Siris 1. Die nicht-sinnliche Erkenntnis 2. Das reine Denken

86 103 .119 137 137 154

N a c h t r a g : B e r k e l e y und C o l l i e r

C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VIII, 2

2 10 24 24 41 60 72

162—169

II

Erster

Teil.

Die allgemeinen Voraussetzungen des Berkeleyschen Systems. Einleitung. Die systematische Einheit und Geschlossenheit ist ein Maßstab, welcher an jedes philosophische Lehrgebäude gehalten werden kann, ohne daß die kritische Darstellung und Beurteilung Gefahr läuft, fremde Voraussetzungen in diese L e h r e hineinzutragen. Eine Untersuchung über die geschichtlichen und sachlichen Bedingungen der Entstehung der Philosophie Berkeleys ist in der günstigen L a g e , diese in expliziten Aufzeichnungen des T a g e b u c h e s des jungen Berkeley zu besitzen, aus ihnen entnehmen und rekonstruieren zu können. W a s mithin die im historischen Sinne wahrheitsgetreue W i e d e r g a b e dieser Philosophie betrifft, so sind die Mittel für die Entwicklung der ersten und fundamentalsten Voraussetzungen in diesem T a g e b u c h und durch dieses Hilfsmittel in den Schriften der ersten E p o c h e gegeben. Neben dem systematischen Hauptwerk dieser E p o c h e „ eine Abhandlung über die Prinzipien des menschlichen Verstandes" (1710) und der Behandlung des gleichen Themas in Dialogform: „drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous" (1713) ist in dieser A b s i c h t die „Theorie des Sehens" (1709) wichtig und lehrreich. — S o wenig die Philosophie eines Autors der bloße A u s d r u c k seiner Persönlichkeit ist und sein will, so wenig kann die g e schichtliche Betrachtung darauf verzichten, einen kritischen Maßstab der Beurteilung an sie zu legen. Die Einheit des S y s t e m s ist eine solche Forderung. W e n n diese jedoch vermißt werden sollte, so ist zwar das gegenwärtige System widerlegt, aber keine Richtschnur für die W ü r d i g u n g der einzelnen Motive im Gange der Geschichte der Philosophie und ihrer Entwicklung übriggeblieben. S o setzt denn unvermeidlich die geschichtliche Betrachtung eine bestimmte kritische Stellungnahme voraus. „Nur C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VIII,2.

I

2

Erich Cassirer,

allein, wenn diese (sc. die Kritik des reinen Vernunftvermögens), so heißt es hierüber in den orientierenden Worten der „Kritik der reinen Vernunft", zum Grunde liegt, hat man einen sicheren Probierstein, den philosophischen Gehalt alter und neuer W e r k e in diesem Fache zu schätzen; widrigenfalls beurteilt der unbefugte Geschichtsschreiber und Richter grundlose Behauptungen anderer durch seine eigenen, die ebenso grundlos sind." *) Der Wert dieser Kritik besteht nicht in konkreten und greifbaren Einzelergebnissen, sondern in ihrer Methode 2 ), in dem „sicheren Gang einer Wissenschaft", welchen sie der Metaphysik zu verbürgen bestimmt ist. Die Anwendung dieser Methode im Hinblick auf Berkeley rechtfertigt sich aus der geschichtlichen Perspektive, welche das Kantische System im Sinne hat. Der „kritische Idealismus" begründet sich im Hinweis und in der Unterscheidung vom allgemeinen Idealismus. — So bestimmt sich die historische Linie, innerhalb deren der Begriff des kritischen Idealismus sich entwickelt. Es gilt, aus dem Gesichtspunkt dieser Methode der „Kritik", deren Handhabung uns der beständige Leitgedanke ist, die Geschichte der Philosophie zu beleuchten. Mit diesem gleichermaßen geschichtlichen und philosophischen Interesse schreiten wir zur Betrachtung der Philosophie Berkeleys.

I. Die Bestimmung des Begriffs der Philosophie. Wenn wir nunmehr Berkeley selbst befragen, so bezeichnet er seine kritische Grundabsicht als die gleiche wie die seines Vorgängers Locke. „So groß war die Redlichkeit dieses großen Mannes, daß ich mich selbst überrede, er würde, wenn er am Leben wäre, nicht beleidigt sein, daß ich mich von ihm unterscheide; da er sieht, daß ich, indem ich es tue, seinem Rate folge, nämlich mein eigenes Urteil zu brauchen, mit meinen eigenen Augen zu sehen und nicht mit denen eines andern." 3 ) Hiermit ist der allgemeine Gesichtspunkt der Kritik aufgestellt, es gilt nunmehr, das Objekt der Untersuchung zu bestimmen. Das System beginnt damit, sich vor der Auf*) Immanuel Kants W e r k e , herausgegeben von Cassirer, Bd. 3. Kritik der reinen Vernunft, herausgegeben von Görland. Berlin 1913. S. 50. J) Zum Begriff der transzendentalen Methode Kants siehe Cohen, Kants Theorie der Erfahrung. 2. A u f l . Berlin 1885. S. 66 ff. *) T h e W o r k s of George Berkeley, herausg. von Alexander Campbell Krascr. Four Volumes, O x f o r d 1901, Bd. I S. 39, Commonplacc-Book.

B e r k e l e y s System.

3

fassting seines Idealismus als eines leeren Psychologismus des jeweiligen Denkens zu schützen. „Nach meiner Lehre sind nicht alles entia rationis. Die Unterscheidung zwischen ens rationis und ens reale wird von ihr ebenso beibehalten wie von jeder anderen Lehre." (Tagebuch S. 15.) Wenn die Beziehung auf den Gegenstand als verbürgt gelten darf, so kann nunmehr der Idealismus nach seiner Eigenart zur freien Bestimmung gelangen. Die Methodik der Erkenntnis wird gemeinhin vom äußeren Objekt abhängig gemacht und hierdurch von ihrer Quelle im erkennenden Bewußtsein abgelenkt. „Die Menschen belieben nach Wahrheit und Erkenntnis überall eher zu jagen als in ihrem eigenen Verstand, wo sie zu finden ist." (Tagebuch S. 21.) Dieser Gedanke wird von Berkeley durch ein Zitat aus Locke bekräftigt: „Alle Erkenntnis erstreckt sich nur auf Ideen." (Locke, Bd. IV, c. I. Tagebuch S. 21.) Der Terminus der Idee ist für die Philosophie Lockes und Berkeleys grundlegend. E r bezeichnet zunächst den gemeinsamen Punkt beider philosophischer Systeme, insofern Berkeley den psychologischen Begriff der Idee von Locke übernimmt; alsbald jedoch stellt sich gerade in der verschiedenen Auffassung der Idee durch beide Autoren eine spezifische Differenz heraus. Das Motiv der Umbildung der Idee ist für Berkeley durch den allgemeinen Gesichtspunkt der Kritik gegeben. Der genaue terminologische Sinn der Idee wird sich freilich erst in der Entwicklung der Probleme bestimmen lassen. Der Terminus bezeichnet zunächst nach der Unterscheidung der Kritik der reinen Vernunft die Gattung der Vorstellungsarten: die Vorstellung überhaupt (repraesentatio). Der eigentümliche präzise Sinn der Idee, welchen die Kritik begründet und erneuert, ist dem System Lockes wie auch zunächst der Philosophie Berkeleys fremd. Berkeley freilich vermag nicht dauernd bei der ursprünglichen Auffassung stehen zu bleiben: die Konsequenz des Gedankens führt über die ersten Unbestimmtheiten des terminologischen Ausdrucks und der Sache hinweg; die Selbstkritik, welche Berkeley in seinen späten Schriften an seiner Philosophie übt, führt zu einer Strenge des Idealismus im rezipierten Sinne der Universalgeschichte, die keinen Ausgleich und keine Vereinigung mit dem ersten Ausgang von der Idee als Vorstellung und sinnlicher Perzeption zu verstatten scheint. — Die Frage nach Sinn und Bedeutung der Idee und des Verhältnisses von Idee und Begriff durchzieht die verschiedenen Entwicklungsphasen dieser Philosophie. Seine erste Beleuchtung 1*

4

Erich Cassirer,

empfängt der Begriff durch die Bestimmung des Begriffs der Philosophie: „Die Menschen sind sehr begierig gewesen, weiter zu schreiten. Sie sind einen großen Weg gegangen. Doch niemand ist hinter die Prinzipien zurückgegangen. Auf dieser Seite liegt viele terra incognita, die von mir bereist und entdeckt werden soll. Ein unermeßliches Feld der Entdeckung." (Tagebuch S. 25.) Welches ist nun der Weg, zu jenen universellen und ersten Prinzipien zu gelangen, in deren Bestimmung die Aufgabe der Philosophie besteht? Durch welche logischen und erkenntnistheoretischen Merkmale werden sie bestimmt? „Die weitverbreitete und universelle Ursache unserer Mißverständnisse besteht darin, daß wir nicht unsere eigenen Begriffe betrachten. Ich meine, sie an sich selbst betrachten — sie fixieren, festsetzen und bestimmen —, während wir sie nur in ihren wechselseitigen Beziehungen betrachten. Kurz, wir gehen sehr fehl, wenn wir die Relationen der Dinge erforschen, bevor wir sie absolut und an sich selbst erforschen. So bemühen wir uns, die Relationen der Gestalten untereinander zu finden, ebenso die Relationen der Zahl, ohne recht die Natur der Ausdehnung und Zahl „an sich" zu verstehen." (Tagebuch S. 23.) In diesen Sätzen spricht sich das Thema der Berkeleyschen Philosophie aus. Die Ausdehnung lind die Zahl „an sich", sind das zugestandene Problem dieser Philosophie. Die Opposition gegen die konkrete Auflösung dieser Probleme durch die Philosophie und Wissenschaft der Zeit führt alsbald zu einer Korrektur dieser Aufstellung des Problemgebietes und zu einem scheinbaren Widerspruch. „Ich weiß nicht, was man mit Dingen, welche an sich selbst betrachtet werden, meint. Das ist Unsinn, Jargon." (A.a.O. S.53-) In diesem Satze ist die Stellungnahme vorgezeichnet, welche Berkeley späterhin zur Frage der absoluten Zeit, des absoluten Raumes und der absoluten Bewegung einnehmen wird. Die Gegensätze von absolut und relativ werden schon hier entschieden bestritten. Die Relation „auf uns" ist eine unerläßliche Bedingung, der die Dinge unterworfen sind. Wenn hier nun ein Widerstreit zwischen dem „an sich" der Betrachtung, wie es zuvor gefordert war, und der Bestreitung des absoluten Seins zurückzubleiben scheint, so ist hiermit ein Symptom des Ringens mit der Bestimmung von Wesen und Bedeutung des „allgemeinen abstrakten Begriffs" gegeben. Hier liegen die Keime der Aufgabe, in deren Lösungsversuche die Philosophie Berkeleys sich betätigt. —

Berkeleys System.

S

Der Begriff ist in doppelter Weise zu bestimmen und zu charakterisieren. E s handelt sich einerseits um das Verhältnis des Begriffs zur Empfindung und andrerseits des Begriffs zu den Operationen des Geistes. — Der Begriff wird in den Anfängen in naiver Weise der Sinnlichkeit gleichgesetzt. „Ich bin mehr für die Realität, als irgendwelche andere Philosophen. Sie erheben tausend Zweifel und wissen nur sicher, daß wir uns täuschen können. Ich behaupte das gerade Gegenteil." ( A . a . O . S . 2 1 . ) Begriff und Empfindung werden identisch gesetzt. Wie läßt sich diese Identität für die Fragen der Geometrie behaupten? Berkeley stellt sich diese Frage, die für ihn durch den Systemgedanken aufgegeben ist. „Unsere Lehre ist der Geometrie nicht nachteilig, sondern günstig." ( A . a . O . S. 10.) In der Kongruenz zweier Dreiecke scheint die Forderung erhoben zu werden, sie zur sinnlichen Deckung zu bringen. Dieser Anspruch führt indes ins Absurde. „Das untere Dreieck ist kein Dreieck; — überhaupt nichts; denn es wird nicht perzipiert." (A.a.O. S.22.) Die Kongruenz der Dreiecke besagt mithin keinen Sachverhalt, welcher sich durch die Perzeption bestimmen ließe. Hier erhebt sich notwendig die Frage nach einem adäquaten, dem Probleme homogenen Erkenntnismittel. „Soll die Einbildungskraft in den vorhererwähnten Fällen urteilen ? Doch die Einbildungskraft kann sich nicht weiter erstrecken als Getast und Gesicht! Sagt Ihr, d e r r e i n e V e r s t a n d solle urteilen, so antworte ich, daß Linien und Dreiecke n i c h t O p e r a t i o n e n d e s G e i s t e s s i n d . " ( A . a . O . S.22.) Das Verhältnis zur Empfindung wird auf den Terminus der Idee beschränkt. Die Sinnlichkeit ist psychologisch Rezeptivität. Daher wird auch die Geometrie als Raumlehre nicht auf die Aktivität des Geistes gegründet, sondern fällt in die Sphäre der passiven Aufnahme der Objekte. Der Anspruch der geometrischen Anschauung, auch dort noch auf Bestimmtheiten des Inhalts zu führen, wo die sinnliche Anschauung versagt, wird zwar hervorgehoben und beschrieben; vom Standpunkte der Gleichsetzung von Idee und Erkenntnis muß er indes als nichtig und gehaltlos verworfen werden. V o n den passiven „Ideen" werden die aktiven Operationen des Geistes unterschieden. „ E s scheint ungenau und mit Schwierigkeiten verbunden, das Wort Person für eine Idee stehen zu lassen, oder uns selbst oder denkende Wesen zu Ideen zu machen." ( A . a . O . S. 21.)

6

Erich Cassirer,

Der Unterschied zwischen der Idee und den Operationen des Geistes wird in aller Strenge behauptet. „ D e r große Irrtum besteht darin, daß wir denken, wir haben I d e e n von den O p e rationen unserer Geister . . ." ( A . a . O . S. 71.) E s handelt sich hierbei um eine sachliche Unterscheidung von Inhalten, von welchen die einen in sinnlichen Ideen, die andern in gedanklichen Operationen bestehen. Über die T e r minologie soll indes nicht gestritten werden. „ G e d a n k e n b e z e i c h n e n am g e n a u e s t e n oder s t e h e n w e n i g s t e n s für die i n n e r e n O p e r a t i o n e n d e s G e i s t e s , in w e l c h e n d e r G e i s t t ä t i g i s t . Diejenigen, welche nicht den Willensakten gehorchen und in denen der Geist passiv ist, werden genauer Sinnesempfindungen oder Perzeptionen genannt. D o c h das ist alles eine Sache der W o r t e . " ( A . a . O . S . 8 1 . ) Der Ausdruck der Perzeption ist von L o c k e übernommen. Hierdurch ist seine Bedeutung bedingt. „Keine Perzeption ist nach L o c k e tätig. Deshalb kann keine Perzeption (d. h. keine Idee) das Bild des . . . Willens sein." (A. a. O. S. 41.) A n dieser Terminologie will Berkeley nicht in Strenge festhalten. Diese Unterscheidung und Abtrennung der Rezeptivität und Aktivität voneinander läßt sich bei genauer A n a l y s e auch sachlich nicht strikt und unbedingt durchführen. Innerhalb der sinnlichen Erkenntnis ergibt sich bereits ein Faktor der A k t i vität. „ U m einer Sache gewiß oder sicher zu sein, welche wir nicht aktuell perzipieren (ich sage perzipieren, nicht vorstellen), dürfen wir nicht ganz passiv sein; es muß hier auch eine Disposition zur Tätigkeit geben. E s muß hier auch eine Zustimmung geben, welche aktiv ist; es muß hier sogar einen aktiven Willen geben." (A. a. O. S. 47.) W i e sich in der Annahme, daß im Gebiete der geometrischen Anschauung keine Aktivität des Geistes stattfinde, bekundet, wird die Tätigkeit des Geistes und seine Schöpferkraft im eigentlichen Sinne nur als Willensakt verstanden. Die Lehre ist, wie sich hier besonders deutlich zeigt, zunächst bloß psychologisch orientiert; sie bemüht sich, die Distinktionen der Bewußtseinsarten herauszuarbeiten und kenntlich zu machen. Die Methodik der Forschung, die Besinnung auf das F a k t u m und die Geschichte der objektiven Erkenntnis und die Orientierung an ihren Voraussetzungen und ihrem Gegenstande ist ein späteres Problem, welches für diesen Standpunkt zuvörderst eines festen Ausgangspunktes der philosophischen Überzeugung als Leitlinie bedarf. — Die Moral ist mithin das Gebiet, in welchem der

Berkeleys System.

;

Terminus der Operationen des Geistes seinen Ort hat. „ D e r Wille ist purus actus, oder vielmehr reiner Geist, nicht vorstellbar, nicht fühlbar, nicht intelligibel, in keiner Weise das Objekt des Verstandes, in keiner Weise perzipierbar." (A. a. O. S. 5 2 f . ) Es bleibt aber nicht bei der bloßen psychologischen Unterscheidung von Vorstellen oder Denken und Wollen. Diese Unterscheidung erhält eine metaphysische Bedeutung. „Die Torheit der Mathematiker, nicht mit Hilfe ihrer Sinne von den Sinnesempfindungen zu urteilen. Die Vernunft wurde uns f ü r e d l e r e Z w e c k e gegeben." (A.a. O. S. 88.) Das mathematische Erkennen gehört, insofern es sich von dem Problem des Willens unterscheidet, einer niederen Sphäre des Wissens an. Umgekehrt bestimmt die Wertschätzung der eigentlichen Metaphysik nunmehr die Charakteristik des geometrischen Denkens. Die Mathematik ist nunmehr auf die sinnliche Wahrnehmung als Erkenntnismittel eingeschränkt. Die neue Mathematik indes geht von einem Kalkül aus, der die sinnliche Anschauung prinzipiell als Beweisgrund ablehnt. S o sieht sich Berkeley zur Polemik gegen ihre Voraussetzungen gedrängt. „Barrow gesteht den Niedergang der Mathematik ein. Ich will mich bemühen, sie zu retten — s o w e i t s i e n ü t z l i c h o d e r r e a l , v o r s t e l l b a r o d e r v e r s t ä n d l i c h ist. Doch, was ihre Nichtse anbelangt, so überlasse ich sie ihren Bewunderern." (A. a. O. S. 90.) Dieses Problem der Negierung und Annullierung der Wahrnehmung in der neuen Analysis bildet den Vorwurf der späteren Schrift „der Analyst". Berkeleys Stellungnahme ist in ihren allgemeinen Zügen durch den bezeichneten Ausgang bestimmt. — Immer wieder wird die reine Mathematik an den Maßen der Anwendbarkeit und der sinnlichen Perzeption gemessen. 1 ) Schon die Einteilung der Erkenntnis offenbart das zunächst vorwaltende psychologische Interesse. E s werden drei Arten der Wahrheit unterschieden — „natürliche, mathematische und moralische". (A. a. O. S. 37.) Das philosophische Interesse scheint in die Sphäre der aus der Beobachtung geschöpften natürlichen Wahrheit zu fallen. ') Der Nachweis, „daß Berkeley keine reine, sondern nur angewandte Mathematik anerkennt und behandelt", findet sich bei Friedrich Claussen, Kritische Darstellung der Lehren Berkeleys über Mathematik und Naturwissenschaft. Inaug.-Diss. Halle 1889. S. 10 f.

8

Erich Cassirer,

E s kann als bekannt vorausgesetzt werden, wie sich die kritische Betrachtung in der Unterscheidung von dem Ausgang von irgendeinem metaphysischen Substrate als Natur bestimmt. — Der Gedanke präzisiert sich alsbald genauer, ohne indes die Begrenzung des Problemgebietes der reinen Philosophie klar hervortreten zu lassen. E s gibt drei Erkenntnisse: „die der Koexistenz, welche in unseren Prinzipien der Naturphilosophie behandelt werden soll; die der Relation in der Mathematik; die der Definition . . ., welche sich vielleicht nicht von der der Relation unterscheidet, in der Moral." ( A . a . O . S. 55.) Der enge Anschluß des philosophischen Denkens an die konkrete Wissenschaft, welcher in der Auszeichnung der Prinzipien der Naturphilosophie zum Ausdruck kommt, bildet indes ein wichtiges und fruchtbares Motiv dieser Lehre. Die Berkeleysche Philosophie könnte — angenommen das psychologische Problem hätte die beanspruchte systematische Selbständigkeit — als das mustergültige p s y c h o l o g i s c h e System in der Geschichte der Philosophie gelten. Denn hier werden die psychologischen Bedingungen des Erkennens nicht in inhaltsleerer und unfruchtbarer Analyse des empirischen Einzelbewußtseins gewonnen, sondern dem Zuge des Gedankens nach im echten idealistischen Sinne nach ihrem Beitrag für die Objektivierungen des Gegenstandes abgeschätzt und beurteilt. Diese Psychologie steht in strenger und gleichsam selbstverständlicher Korrelation nicht minder zur Arbeit und Forschung der exakten Wissenschaft als zu dem besonderen Interesse der Sinnesphysiologie, zu Mathematik und mathematischer Physik ebensosehr wie zur Theorie des Sehens. Hier erhebt sich die Frage, ob die Mathematik für Berkeley den Schwerpunkt des Systems bildet, ob sie mithin, wie in den Systemen der wissenschaftlichen Idealisten zur Methode der Naturerkenntnis wird. Diese Frage muß freilich verneint werden. Die Motive der Philosophie erwachsen indes hier dennoch einzig aus dem Zusammenhang von Erkenntnis und Mathematik. — Wie sich Berkeley nun durch die strenge Durchführung des idealistischen Gedankens geschichtlich mit Leibniz vergleichen läßt, so steht er mit seinen Fragen somit gleichzeitig in derjenigen genauen historischen Linie der philosophischen Probleme, welche am Ende des achtzehnten Jahrhunderts zu dem Höhepunkt der kritischen Philosophie führte. Der Inhalt des Systems Berkeleys vermag durch keinen Zug so deutlich bezeichnet zu werden als durch die beständige

Berkeleys System.

y

Diskussion, welche diese Erkenntniskritik bis in die konkreten Fragen der Physiologie hinein mit der Physik Newtons, ihren mathematischen und philosophischen Grundlagen unterhält. Die Beziehungen der Kritik der reinen Vernunft vollends zum Newtonschen Grundwerke sind in der modernen Philosophie betont und gewürdigt worden. — Die psychologische Denkart ist für die Philosophie Berkeleys in doppelter Richtung bestimmt. Sie ist es durch die Anknüpfung an Locke und seinen Begriff der Idee, sie ist es ferner durch das konkrete Wissenschaftsgebiet „die Theorie des Sehens", in deren Begründung sich die Lehre selbst begründet. — Gleichwohl ist der Untersuchung von allem Anfang klar, daß der Begriff, um seine volle Funktion zu erfüllen und seinen Inhalt zu erlangen, zu Mathematik und mathematischer Naturbetrachtung in Beziehung gesetzt werden muß. Bei aller metaphysischen Herabsetzung des Gegenstandes der Mathematik kommt dieser Gedanke zum Ausdruck, wie er sich andrerseits in den Problemen durch die T a t bezeugt. „Die Mathematiker haben nichtige Objekte, s i e s t e l l e n j e d o c h w u n d e r b a r e Ü b e r l e g u n g e n ü b e r s i e an. S i c h e r l i c h s i n d i h r e M e t h o d e u n d ihr B e w e i s v e r f a h r e n h e r v o r r a g e n d . " (A. a. O. S. 8.) Der Ursprung und das greifbare Feld der Anwendung des Begriffs liegt freilich für Berkeley seinem speziellen wissenschaftlichen Interesse nach in der Theorie des Sehens und demgemäß in der Charakteristik des Begriffs als Zeichen. So scheint es denn, daß die Idee gerade aus dem Gesichtspunkt des philosophischen Interesses heraus die Empfindung und einen Wahrnehmungsinhalt bezeichnen darf. Die letzte Instanz der Untersuchung bildet hier ein psychologisches Unterscheidungsmittel. „Alles dieses scheint aus Mangel einer rechten Anwendung unseres Unterscheidungsvermögens zu entstehen," so heißt es in der Theorie des Sehens von der Verwechslung des Gegenstandes der Tastwahrnehmung mit dem der Gesichtswahrnehmung, „welches dazu dient, zwischen den Ideen zu unterscheiden, welche in unserem Verstände sind, und sie losgelöst voneinander zu betrachten; dies würde uns davor schützen, jene zu verwirren, welche verschieden sind und uns sehen lassen, welche Ideen diese oder jene Idee einschließen und welche nicht." 1 ) W e n n es gilt, sich die geschichtlichen Bedingungen dieses Idealismus zu vergegenwärtigen und die Begriffstheorie zu ent*) A. a. O. Bd. i § 66, Essay towards a new theory of vision; 1709.

IO

Erich Cassirer,

wickeln, so ist es erforderlich, sich ein Bild von den abstrakten Ideen zu machen, welche in der konkreten Gestalt der Philosophie L o c k e s der Untersuchung vorschweben, um Berkeleys Gegnerschaft zu verstehen und ihr einen fruchtbaren und positiven K e i m für die Entwicklungsgeschichte der Bestimmung des Begriffs abzugewinnen.

II. Theorie des Begriffs. Die allgemeinen und fundamentalen Voraussetzungen der Berkeleyschen L e h r e lassen sich am klarsten an der Theorie des Sehens betrachten, aus welcher sie als dem ersten Vorwurf der Untersuchung gewonnen sind. Die Schrift über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis vom Jahre 1 7 1 0 , welche g e m ä ß der im Titel sich aussprechenden Absicht die philosophischen Prinzipien in extenso darstellt und entwickelt, sowie die Gespräche zwischen Hylas und Philonous vom Jahre 1713, welche die Gedanken der Prinzipien in der F o r m des Dialogs eingehend diskutieren und zur Klarheit bringen, stellen die S u m m e dieser frühen E p o c h e dar. Schon der Untertitel der drei Gespräche enthüllt das Programm dieser Philosophie: „Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous, deren Absicht ist, klar die W i r k l i c h k e i t u n d V o l l k o m m e n h e i t d e r m e n s c h l i c h e n E r k e n n t n i s , die unkörperliche Natur der Seele und die unmittelbare Vorsehung einer Gottheit im Gegensatz zu Skeptikern und Atheisten zu beweisen." E s scheint, daß der Begriff und das rationale Wissen in diesem Zusammenhang zu positiver Auszeichnung gelangen muß. Die geschichtliche Problemlage erschwert jedoch zunächst die Anerkennung der abstrakten allgemeinen Begriffe. „ S i e " (die allgemeine oder abstrakte Idee des Dreiecks) „sagt er" (Locke) „ m u ß weder schiefwinklig noch rechtwinklig, weder gleichseitig, gleichschenklig, noch ungleichseitig sein, sondern alles dieses und nichts von diesem auf einmal. In Wirklichkeit ist dies etwas Unvollk o m m e n e s , das nicht existieren kann; eine Idee, in der einige Teile verschiedener unterschiedener und sich widersprechender Ideen vereinigt sind." (Essay on human understanding B. IV. K a p . 7 S. 9 Theorie d. Sehens § 125). In dieser Bestimmung der Idee durch eine Existenz und gleichzeitig durch Merkmale, welche sich in der Existenz ausschließen, vermag Berkeley keine Realität und keinen Erkenntnisgehalt der allgemeinen Idee zu erblicken. Daher fügt er dem

Berkeleys System.

Zitat aus Locke skeptisch hinzu: „Das ist die Idee, welche er für die Ausbreitung der Erkenntnis für nötig hält, welche der Gegenstand des mathematischen Beweises ist und ohne die wir niemals einen allgemeinen Satz über Dreiecke kennen lernen könnten." (A. a. O.) Nunmehr erheben sich unzählige Einwände gegen eine so gefaßte Idee. Schon im Tagebuch besitzt Berkeley darüber Klarheit, daß die so verstandene Idee den Inhalt der Erkenntnis nicht beschreibt und erklärt. „In der Einleitung muß ich mich entschuldigen, daß ich das Wort Idee gebrauche; nämlich deshalb, weil es überliefert ist. Doch muß eine Kautele hinzugefügt werden." (A. a. O. S. 38.) Was wird in dieser Ansicht der Idee, — so wird am typischen Beispiel geprüft — , die Ausdehnung in abstracto, welche einmütig behauptet, und auch von Locke als primäre Qualität bestehen gelassen wird? „ W i r haben also unter Ausdehnung in abstracto eine Idee der Ausdehnung zu verstehen — z. B. eine Linie oder Fläche, welche gänzlich von allen anderen sinnlichen Eigenschaften und Umständen befreit ist, die sie zu einer besonderen Existenz determinieren könnten; sie ist weder schwarz noch weiß noch rot, noch hat sie überhaupt irgend eine Farbe oder irgend eine tastbare Qualität und besitzt folglich keine bestimmte endliche Größe." (Th. d. Sehens § 122). Der Fehler der Lockeschen Theorie wird darin erkannt, daß es nach ihr, wie es besondere Ideen gibt, ein psychologisches Korrelat der Vorstellung für die abstrakten Ideen geben soll. Locke widerspricht sich hier selbst. „Alle unsere E r kenntnis bezieht sich auf besondere Ideen, nach Locke. Alle unsere Sinnesempfindungen sind besondere Ideen, wie evident. Welchen Gebrauch können wir dann von abstrakten allgemeinen Ideen machen, da wir sie weder erkennen noch wahrnehmen?" (Tagebuch S. 36.) E s ist ein fundamentaler philosophischer Gesichtspunkt, der hier bestimmend ist. E s gibt keine Deduktion aus dem schlechthin Einfachen. Die Arten der Einheit sind stets Bestimmungen an Mannigfaltigkeiten. „Einfache Ideen, z. B. Farben sind nicht aller Arten der Zusammensetzung bar, obwohl eingeräumt werden muß, daß sie nicht aus unterscheidbaren I d e e n g e b i l d e t w e r d e n . " (A. a. O. S. 36). E s ist ersichtlich, daß diese Aporie durch den Gedanken der Einheit der Vielheit zu lösen wäre, welche als „Einheit der Apperzeption" nicht aus aggregativen Teilen zusammengefügt ist, sondern den Teilen logisch vorausliegt. Das Problem der

12

Erich Cassirer,

Einheit, welches die Vorstellung enthält, auf welches selbst die sinnliche Vorstellung in der philosophischen Betrachtung führt, läßt sich nicht nach A r t der Zahleinheit denken und auffassen. Die Idee hat bei L o c k e immer nur den psychologischen Sinn des Wahrnehmungscharakters. Sie kann daher ein geschichtliches Beispiel für den von Kant gerügten Gebrauch des A u s d r u c k s der Idee für die Vorstellung z. B. der roten Farbe bezeichnen. Selbst die abstrakte Idee des reinen Raumes wird rein psychologisch als Wahrnehmung des Einzelsubjektes gesucht. Insbesondere am Beispiel der Farbe vermag Berkeley die Abstraktion als gehaltlos nachzuweisen. „ W i e kann es irgendwelche abstrakte Ideen von Farben geben . . . . ich kann auf keinen Fall eine abstrakte allgemeine Idee verstehen." ( A . a . O . S . IS).*)

Dieser F r a g e der abstrakten allgemeinen Idee sind die Prinzipien und die Gespräche im wesentlichen gewidmet. Die Prinzipien entwickeln in der Einleitung die Theorie des Begriffs. Indes bleibt diese L e h r e in den Ausführungen der Prinzipien nicht unbenutzt, sondern bis in die konkreten Einzelfragen, welche in den Prinzipien behandelt werden, erweist sich die Ansicht wirksam, welche sich aus der neuen Analyse des Begriffs bestimmt. S o läßt sich die Erörterung des Substanzbegriffes verstehen, nach dessen Bedeutung gefragt wird; so die Befehdung der Grundbegriffe der neueren mathematischen Physik, des absoluten Raumes und der absoluten Zeit, und ebenso die eingeschränkte Bedeutung, welche der unendlichen Teilbarkeit des Raumes beigelegt wird. Indes der Begriff im Berkeleyschen Sinne ist kaum aufgestellt und in seine Verzweigungen innerhalb der menschlichen Erkenntnis verfolgt, als er sich schon mit einer eigentümlichen Schranke behaftet erweist. E r vermag nicht als Repräsentant und Bürge alles Wissens und jedes Objekts der Erkenntnis zu dienen. S o werden neue Denkmittel erforderlich — die Begriffe in rezipierter Bedeutung der Geschichte der Philosophie: Notionen und Relationen. Zur Einführung wird vom W e s e n und falschen Gebrauch der Sprache gehandelt. A u c h dieser Gedanke gehört bereits dem T a g e b u c h e an. Hier in den Prinzipien dient er zur V o r ') Die Terminologie der Idee in der „Kritik der reinen Vernunft" a. a. O. S. 254 ff. D e s ersten Buchs der transzendentalen Dialektik erster Abschnitt „von den Ideen überhaupt" bes. S. 260. Zum Problem vgl. S. 62.

Hcrkclcys System. bereit ung «ler zentralen F r a g e ; ob der Geist ein Vermögen besitze, „abstrakte Ideen („abstract ideas") oder Begriffe („notions") von Dingen zu bilden". 1 ) Um in Sinn und Geist dieser Frage einzuführen, ist es dicnlich, Berkeleys Antwort vorwegzunehmen. Wie das Wort Idee hier gebraucht wird, bezeichnet es den Inhalt einer Perzeption; nun läßt sich niemals die Perzeption eines allgemeinen, sondern immer nur die Vorstellung eines besonderen vorstellbaren Inhalts denken. Ein solcher kann sehr wohl, wie die Geometrie erkennen läßt, zum Zeichen eines nur gedachten, auf Grund des mathematischen Begriffs gewonnenen und konstruierten Objektes dienen: die notwendige Beziehung indes, in der ein auf dem Papier entworfenes Dreieck zur Allheit sämtlicher übrigen möglichen Dreiecke derselben Gattung steht, läßt sich nicht ihrerseits zur Anschauung bringen und in ein sinnliches Bild fassen. In der Tat scheint sich Berkeley gegen einen solchen Versuch zu wenden, den Akt und. die eigentümliche Funktion des Urteils zur psychologischen Existenz einer allgemeinen Idee zu stempeln. „Allseitig wird anerkannt, daß Eigenschaften (Qualitäten) oder Beschaffenheiten (Modi, Daseinsweisen) der Dinge nicht einzeln für sich und gesondert von allen anderen in Wirklichkeit existieren, sondern daß jedesmal mehrere derselben in dem nämlichen Objekt gleichsam miteinander vermischt und verbunden seien. Man sagt uns aber, daß der Geist, da er fähig sei, jede Eigenschaft einzeln zu betrachten, oder sie von den anderen Eigenschaften, mit welchen sie vereint ist, abzusondern, hierdurch sich selbst abstrakte Ideen bilde." (A. a. O. S. 4). L o c k e sieht in dem allgemeinen Begriff einen Notbehelf des Geistes, welcher sich in seiner Unvollkommenheit dieses Mittels zur Mitteilung und Erweiterung der Erkenntnisse bedient (v^l. hierzu das Zitat aus L o c k e a. a. O. S. 10). Die Existenz eines solchen sinnlichen und mit inneren Widersprüchen behafteten Hilfsmittels ist in der Tat nicht ersichtlich. Berkeley bekämpft in der abstrakten Idee nicht so sehr den allgemeinen Begriff, wie ein Allgemeines, welches als Residuum der Wahrnehmung übrig bliebe, wenn man von ihren Merkmalen der besonderen Farbe, Bewegung oder Ausdehnung abstrahiert. Seine Einwände richten sich gegen eine Abstraktionstheorie, welche, anstatt den Gegenstand im Schema der ') G. Berkeleys Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, ins Deutsche übersetzt von F . U e b e r w e g , Leipzig 1879 S . 3.

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Zeit und des Raumes entstehen zu lassen, anstatt ihn mithin — in den Unterscheidungen der Kritik gesprochen — durch „Konstruktion des Begriffs" mathematisch und mithin mathematisch-mechanisch-dynamisch hervorgehen zu lassen, an einer fertigen gegebenen Gestalt durch analytische Zergliederung das Allgemeine zu gewinnen trachtet. (Vgl. hierzu Kritik d. r. V., a. a. O. S. 484f.) Wir stehen hier, wie man bereits sieht, an einem geschichtlichen Ursprung oder wenigstens bei einer geschichtlichen Prägung des Gedankens des Schematismus, wie er durch die Kritik der reinen Vernunft seine reife Gestalt erhält. Die einzelne figürliche Gestalt ist nur das Zeichen und Symbol einer allgemeinen Regel, welche die Erzeugung des Gegenstandes bestimmend gedacht wird. „ E s wird, wie ich wohl weiß, entschieden behauptet, daß alle Erkenntnis und Beweisführung allgemeine Begriffe betreffe, und ich stimme meinerseits dieser Behauptung völlig bei; doch scheint mir, daß diese Begriffe nicht durch Abstraktion in der vorhin bezeichneten Weise gebildet seien; d e n n A l l g e m e i n h e i t b e s t e h t , s o v i e l i c h beg r e i f e n k a n n , n i c h t in d e m a b s o l u t e n p o s i t i v e n W e s e n o d e r B e g r i f f e v o n i r g e n d e t w a s , s o n d e r n in d e r B e z i e h u n g , i n w e l c h e r e t w a s zu a n d e r e m E i n z e l n e n s t e h t , w a s d a d u r c h b e z e i c h n e t o d e r v e r t r e t e n w i r d " . . . (a. a. O. S. 12). E s ist mithin berechtigt, dem Einzelnen den Geltungscharakter des Allgemeinen zu verleihen, aber es wäre falsch, darum eine allgemeine Idee als psychologische Wirklichkeit zu fordern. Das Einzelne ist ein Terminus in einer Relation; so wird es selbst zum Ausdruck dieser Relation. Alle Termini, welche in die Relation eingehen können, ihre Bedingungen erfüllen und somit ihren besonderen Gesetzen unterworfen sind, werden mithin mittelbar durch jeden einzelnen Terminus zum Ausdruck gebracht und vertreten. Berkeleys Ansicht wird sich noch im Verfolg bestimmen. — Die Begriffsbildung des Dreiecks, so ergibt sich des Näheren für Berkeley, ist in dem genauen Maße zulässig, als sie ein E r fordernis des geometrischen Beweisverfahrens ist. Sie kann nicht von der Tatsache abhängig gemacht werden, ob ich eine solche allgemeine Idee eines Dreiecks, welches sowohl spitzwinklig als auch stumpfwinklig, gleichseitig als auch ungleichseitig wäre, in der Vorstellung besitze. „ E s muß hier zugegeben werden, daß es möglich ist, eine Figur bloß als Dreieck zu betrachten, ohne daß man auf die besonderen Eigenschaften der Seiten und Winkel achtet. Insoweit kann man abstrahieren, aber dies beweist keines-

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wegs, daß man eine abstrakte, allgemeine, mit innerem Widerspruch behaftete Idee eines Dreiecks bilden könne." (A a O

s.i 3 f.) So kann auch nach Berkeley „das Schema niemals anderswo als in Gedanken existieren." 1 ) Diese Konsequenz knüpft in charakteristischer Weise in der „Kritik" an das geometrische Beispiel des Triangels an. „Dem Begriffe von einem Triangel überhaupt würde gar kein Bild desselben jemals adäquat sein. D e n n es w ü r d e die A l l g e m e i n h e i t d e s B e g r i f f s n i c h t e r r e i c h e n , w e l c h e macht, daß dieser für alle r e c h t - o d e r s c h i e f w i n k e l i c h t e etc. g i l t , sondern immer nur auf einen Teil dieser Sphäre eingeschränkt sein." (Kritik d.r. V . a. a. O. S. 143.) Das Schema im Unterschiede vom Bild bezeichnet in dieser Terminologie auch den Vorwurf der Berkeleyschen Untersuchung. Die Allgemeinheit, welche hier aus rein sachlichen Gründen gefordert ist, widerspricht naturgemäß den Bedingungen der Wahrnehmung und anschaulichen Besonderheit. Die Abstraktionstheorie will das gemeinschaftliche Merkmal verschiedener Vorstellungen herausheben und zu einem besonderen Gegenstand machen. „Da der Geist beobachtet hat, daß in den einzelnen durch die Sinne wahrgenommenen Ausdehnungen etwas Gleiches . . . ist; so betrachtet er das Gemeinsame besonders oder scheidet es als ein Objekt für sich ab, und bildet demgemäß eine sehr abstrakte Idee einer Ausdehnung. . ." (Prinz, a. a. O. S. 4.) Das psychologische Verfahren, welches sich in dieser Ansicht bekundet, welches Berkeley zu bestreiten sich gedrungen sieht, führt hier zu einem Widerspruch innerhalb der Psychologie selbst. Es ist nicht zu verstehen, wie dieses abstraktive Verfahren auf einen positiven Inhalt des Bewußtseins führen sollte, der selbst keinen Wahrnehmungscharakter besäße. 2 ) Die Strenge des psychologischen Standpunktes ist in der Tat der Vorzug dieser Ausführungen über den Begriff. Es scheint sich darum zu handeln, die Wahrnehmung rein zu isolieren, um so die Zutat des Begriffs und des Denkens zu bezeichnen und zu charakterisieren. „Ebenso wie die einzelne Linie dadurch, daß sie als Zeichen gilt, allgemein wird, so ist *) E s ist daher nicht zutreffend, zu formulieren: „Das Dreieck im Geiste und das wirkliche Dreieck sind ihm (Berkeley) ein und dasselbe" (W. Wundt, Logik Bd. II. Stuttgart 1907. S. 121.) 2) Vgl. Kritik d. r. V. a. a. O. S. 113. „ . . . wo der Verstand vorher nichts verbunden hat, da kann er auch nichts auflösen. . ." Dieser Satz ergibt die logische Widerlegung des bloß analytischen Verfahrens.

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der N a m e Linie, der an sich partikular ist, dadurch, daß er als Zeichen dient, allgemein geworden. Und wie die Allgemeinheit jener Idee nicht darauf beruht, daß sie ein Zeichen für eine abstrakte oder allgemeine Linie wäre, sondern darauf, daß sie ein Zeichen für alle einzelnen geraden Linien ist, die existieren können, so muß auch angenommen werden, daß das Wort Linie seine Allgemeinheit derselben Ursache verdanke, nämlich dem Umstände, daß es verschiedene einzelne Linien unterschiedslos bezeichnet." (Prinz. S. 1 0 oben.) A n diesem Punkt der Betrachtung scheint ein eigentümlicher Fortschritt in der Charakteristik des Denkens angebahnt. Der wirkliche konkrete Inhalt enthält als Zeichen eine Relation zu m ö g l i c h e n Erfahrungsinhalten, die mithin in keiner psychologischen Anschaubarkeit und Besonderheit sich darstellen können. Die „ K a t e g o r i e der Möglichkeit" gelangt indes bei Berkeley nicht zu dieser autonomen und synthetischen Funktion und Bedeutung. Die Schranke des Gedankens wird sich alsbald aus den speziellen Voraussetzungen der Zeichentheorie ergeben. E s gilt die Anwendungen dieser Zeichentheorie, welche in der T a t die Entwicklung der Theorie des Begriffs innerhalb des Berkeleyschen Systems beständig begleitet und mithin die geschichtliche Funktion der Klärung des zum Schematismus führenden G e dankens vollzieht, im einzelnen aufzuweisen. — W i e zunächst hier die geometrische Figur zum Zeichen wird, und dadurch, daß sie zum Zeichen wird, Allgemeinheit erlangt, wie fernerhin ihre Besonderheit unter dem neuen Gesichtspunkt nur als Beispiel erscheint, so gilt ein Gleiches f ü r die Sondergebiete der Mechanik und Physik. Die Begriffstheorie wird an A x i o m e n der Geometrie und Physik beleuchtet. „ W i r d z. B. gesagt, die Bewegungsänderung ist proportional der aufgewandten K r a f t oder: Alles Ausgedehnte ist teilbar, so sind diese Regeln von Bewegung und Ausdehnung im Allgemeinen zu verstehen; dennoch folgt nicht, daß sie in meinem Geist eine Vorstellung von B e wegung ohne einen bewegten K ö r p e r oder ohne eine bestimmte Richtung und Geschwindigkeit anregen . . ." (S. 8 f. a. a. O.) Das Beispiel sowohl der Ausdehnung als auch der Bewegung fordert die Anwendung in concreto und die Darstellung im Einzelfalle. — Diese Vorbegriffe sind für das Verständnis der Stellung Berkeleys zur neuen Mathematik wichtig, wie sie sich von den ersten Anfängen dieser Philosophie an ausspricht (vgl. oben S . 1 2 ) , wie sie in den „Prinzipien" entwickelt wird und sich endgültig in der Schrift „der A n a l y s t " systematisch formu-

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liert. — Es ist interessant und lehrreich, daß auch die Kritik der reinen Vernunft den Gedanken des Schematismus nicht nur am mathematischen, sondern auch am physikalischen Objekt beleuchtet und ihn sogar für das empirische Objekt besonders hervorhebt. „ . . . noch viel weniger (sc. als das Bild des Triangels den Begriff des Triangels erreicht) erreicht ein Gegenstand der Erfahrung oder Bild desselben jemals den empirischen Begriff, sondern dieser bezieht sich jederzeit unmittelbar auf das Schema der Einbildungskraft als eine Regel .der Bestimmung unserer Anschauung gemäß einem gewissen allgemeinen Begriffe." (A. a. O. S. 143.) Auch dem Gedanken der Stellvertretung und dem Begriff der vermittelnden Vorstellung, welcher für die Zeichentheorie Berkeleys bestimmend und charakteristisch ist, begegnen wir in der Kritik: „ . . . Bilder . . die mit dem Begriffe nur immer vermittelst des Schema, w e l c h e s s i e b e z e i c h n e n , verknüpft werden müssen und an sich demselben nicht völlig kongruieren." (A. a. O. S. 144.) E s handelt sich um die Frage, ob es eine allgemeine Idee geben könne. Für diese Terminologie ist die Idee eine anschauliche Vorstellung. Es kann indes kein abstraktes Bild und Abbild von einem Gegenstand geben, das in einem allgemeinen Begriff festgehalten wird. Die abstrakten Begriffe stehen vielmehr für eine Mehrheit von Einzelbildern, die sie kraft der natürlichen Einrichtung unseres Bewußtseins zusammenfassen und bei Vergegenwärtigung der Zeichen dem Geiste einzugeben geeignet sind. Die wahren Allgemeinbegriffe reduzieren sich unter diesem Gesichtspunkt auf Beziehungsbegriffe zwischen Einzelbildern derselben Spezies. — Hierbei ist es nicht erforderlich, sich die konkrete Bedeutung der Einzelidee jedesmal ins Bewußtsein zu rufen, so oft wir uns ihrer bedienen. Die Buchstabenrechnung, innerhalb welcher von den durch die Buchstaben bezeichneten Größe abgesehen wird, ist ein Beispiel für diesen Sachverhalt. So scheint an diesem Punkte von der Zufälligkeit des Zeichens und der Besonderheit des Falles der allgemeinen Regel die Wahrheit und Notwendigkeit des als Beziehung charakterisierten Begriffs und seine Bedeutung unterschieden zu werden. W e n n sich jedoch zeigt, daß die Abstraktion von der Besonderheit der einzelnen Idee und des Wahrnehmungsobjektes hier in der Mathematik gefordert und geleistet wird, so gilt es, nicht so sehr die Charakteristik des reinen Denkens der Mathematik zu geben und zu liefern, sondern durch diesen Sachverhalt C o h e n und N a t o r p , P h i l o s o p h i s c h e Arbeiten VIII,2.

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dem Verdachte vorzubeugen, daß der B e g r i f f , der nicht unbedingt für eine einzelne Idee bewußtermaßen steht, etwa die psychologische Existenz einer abstrakten Idee im Sinne L o c k e s bedeuten könne. E s existieren eben nur besondere Ideen, und nur die Methodik des Beweisverfahrens, welche selbst ein natürliches und psychologisches Fundament bedingt, verstattet, daß es nicht erforderlich ist, die Besonderheit der betrachteten Ideen bei jedem Schritte dieses Verfahrens ins Bewußtsein treten zu lassen. „Einen Namen beständig im Sinne einer bestimmten Definition gebrauchen, heißt nicht das nämliche, wie durch ihn jedesmal die nämliche Idee bezeichnen: Das erstere ist durchaus erforderlich, das andere nutzlos und unausführbar." (Prinzipien S. 16 oben.) Nur das psychologische Korrelat der Einzelidee ist für das Abstrakte gefordert. Die besonderen Merkmale, welche sie zur einzelnen bestimmen, sind für die Bedeutung des Begriffs unwesentlich. Der Begriff ist nur ein Moment an der Vorstellung; er ist so zwar eine psychologische Existenz, aber dennoch keine konkrete Vorstellung. Die L e h r e von den abstrakten Ideen führt zu Wortstreitigkeiten. Ihre subtilen Gebilde verwirren den menschlichen Geist. Das T a g e b u c h beruft sich als Beispiel hierfür auf L o c k e . Seine Ansicht scheint auf einen Nominalismus zu führen. „Locke kann nicht erklären, was allgemeine Wahrheit oder Erkenntnis ist, ohne von Worten und Sätzen zu handeln; das bestimmt mich gegen die abstrakten allgemeinen Ideen." (A. a. O. S. 25.) In diesem Sinne heißt es in den Prinzipien in einem Satze, der das Ergebnis der Erörterungen in diesen einleitenden Betrachtungen über den Begriff zieht: „ W e r weiß, daß er keine anderen Ideen als Einzelideen besitzt, wird sich nicht vergeblich bemühen, die an irgendeinen Namen geknüpfte abstrakte Idee herauszufinden und zu denken." (A. a. O. S. 20.) E s zeigte sich am Beispiel der A l g e b r a , wie die W o r t b e d e u t u n g vom W o r t e unterschieden wurde, wie neben den rein psychologischen Gesichtspunkten die logischen zur Geltung kamen. A u c h in diesen Gedanken sind die Aufzeichnungen des Tagebuchs wiederzuerkennen. In einem Beispiel wird das W o r t in strenger Durchführung als bloßes Zeichen von seiner Bedeutung unterschieden. „ E s ist evident" — so heißt es hier — , „daß, wenn ein einsamer Mensch sprechen gelehrt würde, die W o r t e ihm keine anderen neuen Ideen geben würden, außer denen, die er vorher hatte (außer Tönen und den zusammengesetzten Ideen, welche,

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obwohl sie vorher unbekannt waren, durch die Sprache eine B e d e u t u n g erlangen mögen). Wenn er zuvor keine abstrakten Ideen hatte und haben konnte, so kann er sie auch nicht haben, nachdem er sprechen gelernt hat." (Tagebuch a. a. O. S . 4 3 . ) E s muß hier eingeräumt werden, daß dieser Satz, der nach der positiven Seite hin die Unterscheidung von Empfindung und Bedeutung leistet, zugleich Gefahren und Zweideutigkeiten in sich birgt. Wenn nämlich die allgemeine Idee bestritten wird, für welche L o c k e als Korrelat den sprachlichen Ausdruck fordert, welcher jedoch für Berkeley nur das Korrelat einer Bedeutung ist, so ist dennoch der Standpunkt des Gegners nicht in jedem Sinne verlassen. Das Wort vermag freilich nicht ein Allgemeines in irgendeiner Art der Existenz zu bedeuten und zu verbürgen. Hierin wird der Fehler Lockes erkannt. Dennoch bleibt auch für Berkeley die Perzeption das Maß der Erkenntnis und das Kriterium für Sinn und Bestand der Erkenntnismittel, wenngleich die Möglichkeit der Perzeption des Gattungsbegriffs oder des Oberbegriffs einer Klasse der diesem Begriff subsumierbaren niederen Begriffe bestritten werden muß. Die psychologische Existenzfrage wird von der Frage nach der logischen Existenz des Begriffs nicht klar und eindeutig unterschieden. Der klare Hinweis auf diesen Mangel fehlt in den meisten geschichtlichen Darstellungen seiner L e h r e , wie sehr man ihn auch zu umschreiben sucht. 1 ) E s zeigt sich ferner besonders deutlich wiederum im T a g e buche, welches sich über die Motive der Entstehung der philosophischen Ansicht ausspricht, und in der Theorie des Sehens, welche die Motive sachlich entwickelt, daß, wo die Erkenntnis wahrhaft exakt sein soll, sie für jeden der Schritte, in welchen sie besteht, einer vermittelnden Idee oder Perzeption bedarf. Innerhalb dieser Enge des Gedankens zeigt sich ein Schwanken, welches dem Gedanken eine freiere Bestimmung verstattet. Hier scheint dem Denken innerhalb der anschaulichen E r kenntnis eine selbständige und eigentümliche Funktion zuge') Vgl. insb. die Anm. über W u n d t (oben S. 15); ferner Windelband, Geschichte der neueren Philosophie (Leipzig 1911), Bd. 1, S. 3 2 1 , w o es heißt: Berkeley sucht nachzuweisen, „daß es i n W i r k l i c h k e i t abstrakte Begriffe gar nicht gibt, sondern daß . . . die abstrakten Begriffe vielmehr nur A u f g a b e n u n d I d e a l e sind. . .". D e r Begriff der Existenz des „Ideals" fehlt bei Berkeley. Andernfalls hätte er in dem ideellen Inhalte ein Kriterium der „Eigentümlichkeiten", v e r m ö g e deren „sinnliche Einzelvorstellungen . . . eine Reihe von anderen Einzelvorstellungen zu repräsentieren imstande sind" (vgl. S. 322); ferner Sigwart, L o g i k . 3. Aufl. Bd. I. S. 390 Anm. 2*

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messen zu werden: „ E s ist ein großer Unterschied z w i s c h e n d e m B e t r a c h t e n d e r L ä n g e o h n e B r e i t e und eine Idee davon haben oder sich eine Länge ohne Breite vorstellen." (Tagebuch a. a. O. S. 78.) Das Charakteristische dieser Ansicht besteht jedoch in dem Gedanken der vermittelnden Vorstellung. Immer ist in diesem Sinne der Begriff von den Vermittlungen abhängig, welche zu ihm hinführen. „Man kann nicht über Dinge vernünfteln, von denen man keine Vorstellung hat; deshalb nicht über Infinitesimales." (Tageb. S. 9.) E s war bereits beachtet worden, daß die Geometrie mit ihren Objekten von Berkeley in die Schranken der sinnlichen Wahrnehmung gebannt wurde. (Vgl. oben S. 7.) S o wird es verständlich, daß sich für die Bestimmung des Begriffs ein merkwürdiger Widerspruch ergibt. Die Mathematiker, welche den Anspruch des exakten Denkens erheben und vertreten, können durch ihre Begriffe weder ihre Größen noch ihre Gestalten wahrnehmbar machen. Hierdurch begeben sie sich der Exaktheit des geforderten Begriffs. „Wozu also die äußerste Genauigkeit, wenn die Mathematiker gestehen, daß sie in der Natur der Dinge nichts Korrespondierendes zu ihren subtilen Ideen finden können." (Tagebuch S. 85.) Die letzte Aufhellung des Perzeptionsbegriffs müssen wir naturgemäß aus der Theorie des Sehens erwarten, in deren Bereich er sein eigentümliches Recht hat. Die Physiologie bedarf zu ihrer vollständigen Erklärung neben der mathematischen Betrachtung gewisser Merkmale, die ihrem eigentlichen Problemgebiet eigentümlich sind und hier, wo Perzeptionen das Objekt der Untersuchung sind, nur Perzeptionen sein können. Hier ist die Vollständigkeit des konkreten Bildes und des letzten Unmittelbaren und in diesem Sinne die psychologische Exaktheit nicht erreicht, solange man bei der mathematischen Betrachtung und mithin innerhalb der mathematischen Optik verbleibt. 1 ) „Doch dies mag, wie ich glaube, im allgemeinen hinsichtlich der mathematischen Rechnung in der Optik bemerkt werden, daß sie niemals sehr präzis und exakt sein kann, da die Urteile, welche wir über die Größe äußerer Dinge fällen, oft von verschiedenen Umständen abhängen, welche nicht proportional zu Linien und Winkeln oder fähig sind, durch sie definiert zu werden." (Theorie d. Sehens a. a. O. § 78.) 2 ) ') Zum Problem der „Methode der Psychologie" vgl.Natorp, Allgemeine Psychologie in Leitsätzen z. akad. Vöries., Marburg 1904, bes. S. 8. ') Die Geschichte der Physiologie hat die Berechtigung der Frage-

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V o n hier aus wird sich die Zeichentheorie näher bestimmen. A u c h sie knüpft in ihren Elementen an L o c k e an. „ W o h l beachtenswert, so heißt es im T a g e b u c h , was L o c k e von der A l g e b r a sagt, daß sie vermittelnde Ideen verschafft." Die T r a g weite dieses Gedankens für das eigene S y s t e m ist dem jungen Berkeley offenbar. „Ferner eine Methode erwägen, welche denselben Nutzen in der Moral usf. gewährt, wie diese in der Mathematik." (Tagebuch a. a. O. S. 40.) Eine solche vermittelnde Vorstellung ist allgemein gefordert, wo es sich nicht um unmittelbare Wahrnehmung handelt. „ E s ist evident, daß wenn der Geist irgendeine Vorstellung nicht unmittelbar und von selbst wahrnimmt, es vermittelst einer anderen Idee sein muß. S o sind z. B. die Leidenschaften" — wie es im populären Beispiel heißt — „welche im Geiste eines anderen sind, mir von selbst unsichtbar. Ich kann sie dennoch durch das Gesicht wahrnehmen, o b g l e i c h n i c h t u n m i t t e l b a r , so doch v e r m i t t e l s t der F a r b e , welche sie im Gesichtsausdruck hervorbringen." (Theorie d. Sehens § 9.) Diese vermittelnde Vorstellung wird in der Erklärung der mathematischen Optik vermißt. „ D o c h so verhält es sich, die T r ü b u n g " (sc. des Bildes) (mithin das eigentlich physiologisch Empfindbare und das Verhältnis des Naturvorganges zum Nervenapparat) „wird gänzlich von den Mathematikern vernachlässigt, als etwas, was keine notwendige Beziehung zur Distanz hat, wie sie die größeren und kleineren Winkel der Divergenz erwiesenermaßen haben. Und diese (besonders weil sie unter mathematische Berechnung fallen) werden allein betrachtet, indem sie die scheinbaren Orte der O b j e k t e bestimmen, o b w o h l sie nicht die e i n z i g e und u n m i t t e l b a r e U r s a c h e der U r t e i l e waren, w e l c h e der G e i s t über die E n t f e r n u n g f ä l l t . " ( A . a . O . §38.) Hier gilt es, sich kritisch zu besinnen, daß Linien und Winkel nur geometrische Hilfsmittel der Erklärung der Phänomene sind. In diesem Sinne fährt Berkeley fort: „ W ä h r e n d sie (Linien und Winkel) in Wahrheit nicht an sich betrachtet werden sollten oder in irgendeiner anderen Weise, Stellung Berkeleys erwiesen. E s ist insbesondere das Problem der scheinbaren Mondgröße bei verschieden hohem Stande des Himmelskörpers, zu dessen L ö s u n g Berkeley den W e g gewiesen hat. „ D e r (erstere) vielfach zu wenig beachtete E i n f l u ß , welcher überdies schon von Berkeley und Euler gewürdigt worden war, . . . macht sich namentlich bei niedrigem Stande der Gestirne vielfach geltend und ist offenbar auf die Luftperspektive zurückzuführen." (Nagel, Handbuch der Physiologie des Menschen. Braunschweig 1905. III. Bd. 2. Hälfte, S. 391.)

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als insofern sie als Ursache des getrübten Bildes angesehen werden." (A. a. O.) Hier erhebt sich freilich die Frage, ob die wissenschaftliche Optik ohne die Zuhilfenahme der mathematischen Begriffe und Konstruktionen auch nur zur methodischen Formulierung ihrer Probleme gelangen kann. Indes in der rigorosen Negierung der mathematischen Optik als zureichenden Werkzeuges zur Bewältigung des neuen Problemgebietes, entsteht dieses erst in seiner Eigenart. 1 ) Hier entsteht das Problem der Physiologie der Sinne, welche insbesondere die Entstehung der subjektiven Raumvorstellung betrachtet. Wie ist sie aus dem Zusammenwirken von Gesicht und Getast zu erklären? Hier tritt die Lösung ein, die Gesichtswahrnehmung als Zeichen und vermittelnde Vorstellung der Tastwahrnehmung zu deuten. 2 ) „ E s ist gezeigt worden, daß es zwei Arten von durch das Gesicht aufgefaßten Objekten gibt, von denen jedes seine bestimmte Größe oder Ausdehnung hat — die eine, eigentlich tastbar, d. h. durch das Getast perzipierbar und meßbar, welche nicht unmittelbar unter den Gesichtssinn fällt; die andere eigentlich und unmittelbar sichtbar, durch deren Vermittlung die erstere in Sicht gebracht wird." (Theorie d. S. § 54.) So verwandelt sich schon innerhalb der Theorie des Sehens die Perzeption des Gesichtssinnes in den Charakter eines Zeichens und in eine natürliche Zeichensprache. „Die eigentlichen Objekte des Gesichts konstituieren die universelle Sprache der Natur.« ( § 1 4 7 . ) Die Zeichentheorie bestimmt die Fortbildung des Systems. E s ist charakteristisch, daß bereits hier in der Theorie des Sehens das Zeichen als eine Art des vorausbestimmenden Urteils gedacht wird. „Der Blinde kann nicht begreifen, wie es für Sterbliche möglich ist, solche Vorhersagen zu machen", wie es z. B. in der Prophezeiung geschieht, daß man nach einer bestimmten Anzahl von Schritten zu einem Abgrund gelangen werde (§ 148). Daß die Vorstellungen als Zeichen ein von *) V g l . hierzu Helmholtz, Handb. d. physiol. Optik. 2. Aufl. 1896. „Berkeley hob das trübe Aussehen und die L i c h t s c h w ä c h e des Mondes am Horizonte hervor, Umstände, die jedenfalls einen sehr deutlichen Einfluß (auf die scheinbare G r ö ß e des Mondes) haben." (A.a. O. S.839.) 2 ) A u c h in diesem Punkte hat Berkeley die sachliche Förderung des Problems angebahnt und entscheidend beeinflußt. Vgl. hierzu Donalda Mac F e e , Berkeleys neue Theorie des Sehens und ihre W e i t e r e n t w i c k lung, Diss., Zürich 1895, bes. Kap. 5.

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ihrer Natur verschiedenes Objekt dem Geiste repräsentieren, wird in der natürlichen Zeichensprache verständlich. „Diese Zeichen sind konstant und universell; ihre Verknüpfung mit tastbaren Vorstellungen wurde von uns bei unserem ersten Eintritt in die Welt gelernt. . . Wenn wir beobachten, daß Zeichen variabel und von menschlicher Einrichtung sind; wenn wir uns erinnern, daß es eine Zeit gab, wo sie nicht in unserem Geiste mit jenen Dingen verknüpft waren, welche sie jetzt so bereitwillig darstellen, sondern daß sie durch die langsamen Schritte der Erfahrung gelernt wurden, so schützt uns dies davor, sie zu verwirren. Doch, wenn wir finden, daß dieselben Zeichen dieselben Dinge aller Welt darstellen, wenn wir wissen, daß sie nicht von menschlicher Einrichtung herrühren und uns nicht erinnern, jemals ihre Bedeutung gelernt zu haben . . ., so überzeugt uns dies alles, d a ß s i e d e r s e l b e n G a t t u n g w i e d i e b e z ü g l i c h v o n i h n e n d a r g e s t e l l t e n D i n g e ang e h ö r e n u n d d a ß es d u r c h e i n e n a t ü r l i c h e E n t s p r e c h u n g g e s c h i e h t , daß s i e d i e s e u n s e r e m G e i s t e s u g g e r i e r e n . " (A. a. O. § 144.) S o läßt sich mit Sicherheit innerhalb der Theorie des Sehens die positive Entwicklung und die negative Schranke in der Bestimmung des Begriffs aufzeigen. Die bloße isolierte Wahrnehmung bleibt von nun an nicht der letzte Zielpunkt der Betrachtung; die Einzelvorstellung selbst enthält in der Bedeutung, auf welche sie hinweist, ein Moment, welches über die bloße Wahrnehmung und sinnliche Repräsentation des Gegenstandes der Erfahrung hinausweist. Wenn durch diese Bestimmung Raum für die Funktion und Eigenart des Begriffes geschaffen ist, so wird andererseits der Mangel in dieser Bestimmung deutlich (vgl. oben S. 16). Die Zeichen, welche hier in der psychologischen Betrachtung den Begriff vertreten und verbürgen, gehören derselben Klasse und derselben Dimension des Seins an wie die bezüglichen Dinge. E s ist interessant und wichtig, daß auch für die Berkeleysche Auffassung hier ein Widerstreit entsteht. Wie ist, so erhebt sich hier die Frage, eine Entsprechung zu verstehen, welche in einer isolierten Vorstellung als Zeichen, wie z. B. dieser bestimmten Graden von gegebenen sinnlichen Eigenschaften, mit einem Inbegriff von Vorstellungen — j e d e r möglichen Graden — gedacht wird? „Man muß dieses seltsame Geheimnis sorgfältig prüfen, wie es kommt, daß ich meine Betrachtung auf diesen oder jenen Mann, Ort oder Handlung richten kann, wenn nichts erscheint, sie mir in

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Gedanken zu bringen, wenn sie keine w a h r n e h m b a r e (!) Verknüpfung mit den Ideen haben, welche durch meine Sinne gegenwärtig eingeflößt sind." (Tagebuch a.a.O. S . 2 9 u . f.) Dieser Einwand steht freilich selbst auf psychologischem Boden; er kommt auf eine Frage nach der „Bewußtheit" hinaus, in welche die psychologische Fragestellung nur zu leicht sich verliert. Die philosophische Analyse begnügt sich hier nicht, die Urteilsfunktionen der Einheit zu bestimmen und zu begründen; sie sucht darüber hinaus eine Erklärung, die sich gleichsam aus dem Bereich der Urteilsfunktion hinausgehoben denkt. Der Schematismus freilich scheint zu dieser Betrachtung von sich aus hinzuleiten. So läßt sich das Wort der Kritik der reinen Vernunft verstehen: „Dieser Schematismus unseres Verstandes, in Ansehung der Erscheinungen und ihrer bloßen Form, ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt vor Augen legen werden." (A. a. O. S. 143 f.) Indes selbst jenes berechtigte und rationale Problem, zu dessen Lösung die Lehre vom Schematismus in der Kritik begründet wird, muß den Voraussetzungen der Berkeleyschen Lehre noch fremd bleiben. Dieses entsteht erst dort, wo, wie in der Kantischen Philosophie, Anschauung und Denken als Elemente der gegenständlichen Erkenntnis getrennt werden und für ihr Zusammenwirken im synthetischen Urteil ihre Verbindung fraglich und gefordert wird. Der Unterschied des auf ein Bild bezogenen Denkens, welches seinen charakteristischen Ausdruck in dem Terminus des „Zeichens" findet, von dem leeren „analytischen" Denken stellt immerhin ein Moment dar, welches die Kritik des abstrakten Begriffs angeregt und gefördert hat.

III. Die Begründung des Idealismus. I. B e g r i f f d e r M a t e r i e . In der Theorie des Begriffs besitzen wir bereits den Grundriß für die Bestimmung des Begriffs der Materie; umgekehrt bestimmt die Betrachtung des Begriffs der Materie aufs neue die Theorie des Begriffs. Wir sahen, wie Begriff und sinnliche Anschauung für Berkeley eine unteilbare Einheit bilden. Was sich nicht in sinnlicher Anschauung darstellen läßt, ist kein vollwertiger Begriff. Der Begriff fordert zu seiner Voll-

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ständigkeit und Exaktheit diese Beziehung auf wenigstens mögliche Darstellung in der sinnlichen Anschauung. S o geht auch der Begriff der Materie zunächst auf den allgemeinen Gesichtspunkt, der sich durch die Forderung der Perzipierbarkeit bestimmt, zurück. Sein, so heißt es hier in der prägnanten Formel der Prinzipien, ist — perzipiert werden (S. 22 a . a . O . ) Diese Formel findet sich bereits im Tagebuche; hier im ersten Entwurf des Gedankens wird in die Perzeption neben dem passiven Moment ein Moment der Aktivität verlegt: Existenz ist percipi oder percipere (oder velle i. e. agere)" (Tagebuch a. a. O. S. 10). Das aktive Moment kommt freilich nicht dem erkennenden und vorstellenden Bewußtsein, sondern lediglich dem wollenden Subjekte zu. Das Tagebuch erörtert zunächst den Existenzbegriff in allgemeiner Bedeutung. „Ich muß mein Augenmerk darauf richten, zu erklären, was mit existierenden Dingen — bei Häusern, Zimmern, Feldern, Höhlen usf. gemeint ist, ebenso, wenn sie nicht perzipiert, wie wenn sie perzipiert werden." (Tagebuch a. a. O. S. 8.) Insbesondere bezieht sich das Existenzproblem auf den Willen. „Unterschieden von oder ohne Perzeption gibt es keinen Willen, deshalb gibt es auch keine Existenz ohne Perzeption." (A. a. O. S. 37.) In den Prinzipien soll in der idealistischen Grundformel esse = percipi nur die Existenz der Materie definiert werden. E s ist indes beachtenswert, daß der Perzeptionsbegriff prinzipiell den Willen mit in sich begreift. — Ist das Sein in die Perzeption aufgehoben, so wird eine neue L ö sung des Problems der Realität erforderlich. Die Frage nach der Wirklichkeit der Körperwelt erhebt sich gerade dann, wenn, wie hier, das Sein in Perzeptionen aufgelöst und zerfällt wird. Der Zweifel an der Existenz der Dinge wird nun hier in bezeichnender Weise beständig zu entkräften gesucht: „Wir sehen das Haus an s i c h . . .; denn es ist eine Vorstellung und nichts weiter. Das Haus an sich . . . ist eine Vorstellung — d. h. ein unmittelbares Objekt des Gedankens." (A. a. O. S. 9.) Dieser Gedanke bestimmt sich noch genauer. Wenn überhaupt an der Existenz gezweifelt wird, so bezieht sich dieser Zweifel nicht auf ihr Sein in äußerer Wirklichkeit, sondern auf die Feststellung der Bedeutung des Terminus der Wirklichkeit. „Man soll nicht sagen können, daß ich die Existenz fortnehme; ich e r k l ä r e n u r d i e B e d e u t u n g d e s W o r t e s , soweit ich sie begreifen kann." (A. a. O. S. 29.) In diesem Zusammenhang spricht Berkeley die Lösung des Problems der Existenz in derjenigen Richtung in freilich dogmatischer Weise aus, welche Kant in der

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„Widerlegung des psychologischen Idealismus" in seinem Beweise vom Dasein der Körperwelt einschlug. „Ich bin am weitesten von allen vom Skeptizismus entfernt; ich kenne mit intuitiver Erkenntnis die Existenz der anderen Dinge so gut wie meine eigene Seele." (S. 26 a. a. O . ) D e r s e l b e Gedanke tritt noch in einer anderen für das Berkeley'sehe System charakteristischen Form auf, in welcher er die speziellen Voraussetzungen der dogmatischen Ansicht noch enger berührt und noch mehr enthüllt. „Wir haben eine intuitive Erkenntnis der Existenz anderer Dinge außer uns und ihrer Ordnung; diese ist prästabiliert." (A. a. O. S. 24.) Wir sind uns in unserer Erkenntnis intuitiv und durch providentielle Einrichtung des empirischen Inhaltes bewußt. — E s ist interessant, die ursprüngliche Konzeption der Materie bei Berkeley genauer zu betrachten, um dann die besondere Gestalt, welche sie in den Hauptschriften einnimmt, kennen zu lernen. So heißt es im Tagebuch in einer gleichsam die Summe des philosophischen Ergebnisses ziehenden Betrachtung: „Körper usf. existieren, ob wir an sie denken oder nicht, indem sie nämlich in zweierlei Bedeutung genommen werden: „ 1 . Sammlungen von Gedanken, 2. Sammlungen von Kräften, welche jene Gedanken hervorbringen." (A. a. O. S. 80.) Der Gedanke wird hier mit der späteren Perzeption gleichgesetzt; die zweite Bestimmung der eigentlichen Kräfte, die in den Prinzipien zunächst zurücktritt, bildet ein eigentümliches Problem der entwickelten Philosophie. Wahre Ursachen sind einzig Intelligenzen, welche von den sekundären und im übertragenen Sinne gebrauchten Ursachen der theoretischen Erklärung zu unterscheiden sind. — Die erste der beiden Aufstellungen droht indes die zweite aufzuheben. „Der Geist ist ein Haufen Perzeptionen. Nimm die Perzeptionen weg und du nimmst den Geist weg. Setze die Perzeptionen und du setzst den Geist." (A. a. O. S. 27 u. f.) Neben dieser Gleichsetzung von Perzeption und Gegenstand, die sich in diesen Sätzen ausspricht, finden sich Ansätze, die über diese der unmittelbaren Sinnlichkeit entnommene Bestimmung hinausweisen. „Wir sind nicht mit der Bedeutung unserer Worte bekannt. Real, Ausdehnung, Existenz, K r a f t , Materie, Linie, unendlich, Punkt und viele mehr sind häufig in unserm Munde, während wenig Klares und Bestimmtes ihnen in unserem Verstände ') ,,. . . ich bin mir ebenso sicher bewußt, daß es Dinge außer mir gebe, die sich auf meinen Sinn beziehen, als ich mir bewußt bin, daß ich selbst in der Zeit bestimmt existiere." (Kritik d. r. V., a . a . O . S. 31 Anm.)

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entspricht." (A. a. O. S. 23.) So ist denn neben den anderen genannten Terminis auch die Existenz ein Problem, dessen Bedeutung nicht unmittelbar zu T a g e liegt, sondern durch die philosophische Betrachtung erst gewonnen werden soll. (Vgl. oben S. 25 u.) Die abstrakte Idee in einer bestimmten Auffassung bildet das Hemmnis dafür, daß das rationale Moment der Erkenntnis nicht zu gesonderter Darstellung gelangt. „Die abstrakte Idee des Seins oder der Existenz wird niemals von dem großen Haufen in Erwägung gezogen. Sie brauchen niemals diese Worte für abstrakte Ideen." (A. a. O. S. 25.) Die Polemik gegen Locke, welche sich in diesen Sätzen ausspricht, bestimmt Berkeley, von der Frage der Bedeutung zur Frage nach der Existenz im erkennenden Bewußtsein abzulenken. Der Wortgebrauch sollte die Existenz der allgemeinen Idee beweisen. Diese Existenz läßt sich jedoch, wie Berkeley zeigt, nicht beweisen. Die allgemeine Idee hat entweder keinen Sinn und keinen Bestand oder sie bedarf einer Korrektur für die philosophische Auffassung. — Die Perzeption ist nicht auf den Akt der Wahrnehmung eingeschränkt. In diesem Sinne sind selbst die willkürlichen Geschöpfe der Phantasie Perzeptionen. „Existiert also eine Chimäre ? fragt ihr. Ich antworte: Sie tut es in einem Sinn, nämlich sie wird vorgestellt. E s muß indes wohl beachtet werden, daß Existenz gewöhnlich für eine aktuelle Perzeption genommen wird und ich das Wort Existenz in einem weiteren Sinne als dem gewöhnlichen nehme." (A. a. O. S. 15). Die A u f lösung des Seins in die Perzeption wird durch die neue Auffassung des Substanzbegriffs bestimmt. Die Polemik richtet sich gegen die Bestimmung der Substanz durch Locke. „Es gibt einen Philosophen, welcher sagt, wir können durch keinen W e g der Sensation und Reflexion eine Idee der Substanz erlangen, und er scheint sich vorzustellen, daß wir einen spezifischen Sinn für sie brauchen. Wenn wir einen neuen Sinn hätten, so würde er uns nur eine neue Vorstellung geben. Nun vermute ich, er werde nicht zugeben, daß Substanz für ihn eine Idee i s t . . . Nimm sie aber im gewöhnlichen Sinne und wir sehen und fühlen die Substanz . . ." (A. a. O. S. 43). — Den Schlüssel zu allen Fragen bietet der idealistische Leitgedanke dar. „Nach meiner Lehre sind alle Dinge entia rationis i. e. solum habent esse in intellectu(m)." (S. 15 a. a. O.) Dieses Prinzip führt in der Anwendung wiederum zur Unterscheidung von der Philosophie Lockes. „ L o c k e s wesentliche Voraussetzung, daß Materie und Bewegung

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vor dem Gedanken existieren sollen, ist widersinnig, sie schließt einen offenbaren Widerspruch in sich." (A. a. O. S. 27.) Hier also bezeichnet Berkeley selbst den Punkt, in welchem er in der Idealisierung der Materie über seinen Vorgänger hinausgeht. Eine völlige Auflösung des Dinges in Bewegung und Denken ist indes auch für Berkeley nicht statthaft. Die Forderung der Schematisierung des Begriffes in concreto bedingt diese Schranke der Ableitung. „Bewegungen als verschieden von dem bewegten Ding sind nicht zu verstehen." (Tagebuch S. 12.) (Cf. oben S. 16.) Das Vorurteil der Materie scheint sich bis in die Voraussetzungen der Mathematik hinein zu erstrecken. „Setzen nicht die Lehrsätze und selbst die Axiome der Geometrie als verschieden von sich die Existenz von Linien usf. außerhalb des Geistes voraus?" (Tagebuch S. 66.) Die Prinzipien lassen den Sachverhalt erhellen, daß das Vorurteil der abstrakten Begriffe die Annahme der absoluten Materie bestimmt. E s ist ein Beispiel falscher Abstraktion, ein Ding als unabhängig von seiner Perzeption bestehend zu denken. „Meine Fähigkeit zu denken oder vorzustellen erstreckt sich nicht weiter als die Möglichkeit einer realen Existenz oder Perzeption" (Prinzipien a. a. O. S. 23). Unter diesem Gesichtspunkt wird nunmehr insbesondere die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Qualitäten hinfällig. Ausdehnung, Figur, Bewegung, Ruhe, Solidität oder Undurchdringlichkeit und Zahl sind ebenso wie Farben, Töne usf. nur im perzipierenden Geiste vorhanden. Wenn behauptet wird, daß die primären Qualitäten Abbilder von Dingen sind, so wird hierin die absolute Substanz außerhalb des Geistes vorausgesetzt. Diese Substanz ist die befehdete und bestrittene Abstraktion; ihr entspricht kein Inhalt und keine Realität des perzipierenden Bewußtseins. Will man, wie Berkeley hier dartut, mit den Mitteln psychologischer Analyse eine Substanz bestimmen, so erweist sich dieser Versuch als vergeblich. — Ausdehnung, Figur und Bewegung sind Ideen. Das System des Idealismus ist nunmehr ein einheitliches Erklärungsprinzip. „Wenn wir auch noch so wenig auf unsere Gedanken achten, so werden wir es unmöglich finden, eine andere Ähnlichkeit als zwischen unseren Ideen zu begreifen" (Prinz, a. a. O. S. 25). Weder die primären Qualitäten, noch ihre Urbilder können in einer nicht perzipierenden Substanz bestehen. E s ergibt sich somit, daß die Dinge nach ihren subjektiven und objektiven Kennzeichen und Eigenschaften innerhalb des Bewußtseins und durch die Mittel des Bewußtseins bestimmt und bestimmbar

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sind. Eine Bestärkung dieses Gedankens besteht darin, daß die ursprünglichen Qualitäten im empirischen Bewußtsein mit den anderen sinnlichen Qualitäten untrennbar vereinigt sind: Farbe und Härte und dergleichen mit Bewegung, Ausdehnung und Gestalt (a. a. O. S. 26). Hier gerade offenbart sich der Fehler der Abstraktion. E s ist unstatthaft, die Realität in etwas — die primären Qualitäten zu verlegen, das nicht gesondert von der Perzeption der als Modifikationen des Bewußtseins zugestandenen sekundären Qualitäten existieren kann. — Das Kriterium der Perzeption scheint ein Mittel darzubieten, die „Ausdehnung an sich" zu widerlegen. Welche Größe sollte diese Ausdehnung besitzen? Die Aufnahme des Größenbegriffs führt zu einer vertieften Auffassung der Idee. Wenn irgendetwas, so scheint Größe und Kleinheit, Raschheit und L a n g samkeit nur in Relationen des Geistes zu bestehen. Diese Relativität enthüllt sich am klarsten und einfachsten am Beispiel der Zahl. „Daß die Zahl durchaus ein Produkt des Geistes sei, auch wenn zugegeben würde, daß die anderen Qualitäten außerhalb des Geistes existieren, wird einem jeden einleuchten, der bedenkt, daß das nämliche Ding eine verschiedene Zahlbezeichnung erhält, wenn der Geist es in verschiedenen Beziehungen betrachtet." (Prinz. S. 27 a. a. O.) Aus dem Tagebuch erhellt, daß der Gedanke der Relativität der Zahl Berkeley zur Einsicht in den ideellen Charakter der Materie führte. — Die Zahl, in welcher die Bestimmtheit des Körpers sich am exaktesten darstellt, erweist sich als ein „Produkt des Geistes"; von hier aus vollzieht sich die Umbildung des Dingbegriffes. „Die Zahl ist nicht in dem Körper, da sie das Geschöpf des Geistes ist, indem sie gänzlich von der Betrachtung abhängt, und mehr oder weniger ist, je nachdem es dem Geist gefällt" (Tagebuch a. a. O. S. 66). Die Erörterungen des Begriffs der Materie führten bereits vorher zur Beleuchtung des Begriffs der Substanz (vgl. oben S. 27 u.). Dieser Begriff wird im folgenden analysiert: „Obschon ihr nicht wißt, was sie ist (die Materie), so muß doch vorausgesetzt werden dürfen, daß ihr wißt, in welcher Beziehung sie zu ihren Akzidenzien stehe und was unter ihrem Tragen derselben zu verstehen sei. Offenbar kann das Wort „tragen" hier nicht in seinem gewöhnlichen oder buchstäblichen Sinne genommen werden, wie wenn wir sagen, daß Säulen ein Gebäude tragen. In welchem Sinne ist es denn nun zu verstehen?" (Prinz, a. a. O. S. 29.) Der Begriff der Substanz ist nicht ohne



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weiteres erübrigt, sondern er erfordert eine neue Bestimmung. Eine logische Bedeutung, welche diesem Begriffe zugrunde läge, braucht Berkeley von seinen Voraussetzungen aus nicht zu leugnen; die Polemik richtet sich ausschließlich gegen den abstrakten Begriff und die Hypostasierungen analytischer Begriffe zu äußerer Wirklichkeit. Eine Frage, welche gleich sehr die Prinzipien wie die Gespräche zwischen Hylas und Philonous beschäftigt, ist die Entstehungsweise unserer Vorstellungen. Die gewöhnliche mechanische Theorie begeht hier eine petitio principii, indem sie die äußere Existenz der Körper und der Kräfte, die philosophisch gerade in Frage steht, voraussetzt. Der Glaube an das Außending ist zu bestechend, um nicht immer von neuem in erneuten Gestalten behauptet zu werden. Diese Frage wird daher in den Gesprächen eingehend geprüft. Die besondere Frage, welche Bedeutung dem äußeren Körper als Ursache der Vorstellungen zukomme, hatten bereits die Prinzipien behandelt und geklärt. Diese Annahme erklärt auch nach dem Eingeständnis der Materialisten nichts, da sie einräumen, daß die Einwirkung eines Körpers auf einen Geist unbegreiflich ist. (Prinzipien a. a. O. S. 30, S. 46 f.) Diese Ansicht wird in den Gesprächen des weiteren ausgeführt. Im zweiten Dialog bringt Hylas die Erklärungsart vor, „welche über unsere Empfindungen und Vorstellungen Rechenschaft gibt". 1 ) E s ist dies die materialistische Ansicht, wie sie in der englischen Philosophie durch Hobbes vertreten wird. Nerven leiten die Eindrücke zum Gehirn, welche äußere Gegenstände auf die Sinneswerkzeuge machen. Die Spuren im Gehirn bestimmen die Vorstellungen. Indes, was ist jenes Gehirn — so erhebt sich die Frage —, welches die Ursache der Vorstellungen sein soll? Ist es ein außerhalb des Geistes bestehender Körper, wie hat man sich eine solche Einwirkung der materiellen Substanz auf die Seelensubstanz zu denken ? Ist das Gehirn jedoch selbst eine sinnliche Vorstellung, so kann es keine Ursache von einer Vorstellung sein. „Und ist das deine Ansicht, wie gibst du wohl über den Ursprung dieser ersten Vorstellung oder des Gehirns selbst Rechenschaft?" (A. a. O. S. 61.) Selbst wenn ferner das Gehirn keine sinnliche Vorstellung ist, so besteht es doch, insofern es gedacht wird, im Geiste; es werden also Vorstellungen „durch Veränderungen in einer Vorstellung" erklärt, „wobei es nichts ausmacht, ob diese sinnlich oder ') Berkeleys drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous, übers, von R. Richter, Leipz. 1901 S. 60.

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erdacht ist". (A. a. O. S. 6 1 . ) — Die Polemik richtet sich in allen diesen Ausführungen, wie ersichtlich, gegen den Dualismus von Geist und Körper und bestimmt von hier aus die Negierung des äußeren Körpers. Mit A u f h e b u n g des Dualismus schwindet die Beweiskraft dieser Erklärung. K a n t hat dieses Verfahren in den Paralogismen beschrieben. „ E i n e solche vorgegebene Gemeinschaft (sc. wie sie im „physischen Einfluß" behauptet wird) zwischen zween Arten von Substanzen, der denkenden und ausgedehnten, legt einen groben Dualismus zugrunde und macht die letztere, die doch nichts als bloße Vorstellungen des denkenden Subjekts sind, zu Dingen, die für sich bestehen." Der Beweisgrund wird als „nichtig und erschlichen" bezeichnet (Kritik d. r. V . a. a. O. S. 330). — Die angestellten Betrachtungen leiten unmittelbar auf die neue A u f f a s s u n g hin, welche Berkeley dem Begriffe der Ursache zu geben sucht. Das Argument, welches sich gegen die Ursache richtet, kann von hier aus gesehen nur ihre gewöhnliche A u f f a s s u n g als Ursache des Psychischen betreffen. Die Ursache wurde zunächst in den Prinzipien im Anschluß an die Theorie des Sehens rational als Zeichen zu deuten gesucht. „Die Verbindung der Ideen" schließt „nicht das Verhältnis von Ursache und Wirkung in sich", „sondern nur das Verhältnis eines Merkmals oder Zeichens zu dem bezeichneten O b j e k t . 1 ) . . . Der Grund, warum Maschinen zu Ideen gestaltet sind, d. i. zu künstlichen und regelmäßigen Verbindungen, ist der nämliche, wie der Grund der Verbindung von Buchstaben zu Worten. Damit einige wenige Ideen dazu verwendet werden können, eine große Anzahl von Wirkungen und Handlungen zu bezeichnen, ist erforderlich, daß sie mannigfach miteinander kombiniert seien, und damit ihr Nutzen ein beständiger und allgemeiner sei, müssen diese Kombinationen nach Gesetzen und planmäßig gemacht werden." (Prinz, a. a. O. S. 55 f.) E s gilt diese Ansicht über die A r t und das Wesen des Zeichens, der Verbindung und gesetzmäßigen Gliederung und Kombination der Vorstellungen in ihrem logischen A u f b a u zu verstehen. — Der Beziehungscharakter des Denkens stellte sich am reinsten am Problem der Zahl dar (oben S. 29). — Die Zeichentheorie löste allgemein in dem Gedanken der Repräsentation der Klasse von Vorstellungen durch eine Einzelvorstellung derselben Klasse den Begriff in eine Beziehung zwischen V o r ') Ferner: Das Feuer, welches ich sehe, ist nicht die Ursache des Schmerzes, den ich empfinde, wenn ich mich ihm nähere, sondern das Merkmal, welches mich davor warnt.

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Stellungen auf. Die A r t der konstanten Verknüpfung von E m p findungen verschiedener Spezies mußte zuerst in der Theorie des Sehens problematisch werden. „Zuerst also — so heißt es in der Theorie des Sehens — wird man fragen, wie es kommt, daß sichtbare Ausdehnung und Gestalten mit demselben Namen benannt werden wie tastbare Ausdehnung und Gestalten, wenn sie nicht von derselben A r t mit ihnen sind. Es muß etwas mehr als Zufall und L a u n e sein, das eine so beständige und universelle Gewohnheit wie diese hervorbringen konnte. . . ." (Theorie d. Sehens § 139.) Ebenso ist es ein allgemeiner Gedanke, daß wir die Perzeption an sich gar nicht betrachten, sondern immer nur das Verhältnis zu anderen Perzeptionen das Objekt der Untersuchung bildet. „ E s ist bereits gezeigt worden, daß in j e d e m A k t der Gesichtswahrnehmung das sichtbare Objekt absolut oder an sich wenig beachtet wird." (A. a. O. § 74.) Das Problem der V e r k n ü p f u n g , zu dem wir uns hier geführt sehen, enthält ein Moment des Urteils. „Die an sich durch das Gesicht perzipierbare G r ö ß e ist nur die Proportion, welche irgendeine sichtbare Erscheinung zu anderen gleichzeitig gesehenen hat . . . D o c h ist zu beachten, daß wir ebensowenig perzipieren, daß etwas ein Kreis ist, als daß es eine E b e n e ist, a n d e r s a l s d u r c h D e n k e n . " (Tagebuch a. a. O. S. 73.) „Ein Punkt kann unter demselben W i n k e l liegen wie eine Meile, und so ein ebenso großes Bild wie diese auf der Retina hervorbringen . . . ." S o ergibt sich, daß „reines Sehen überhaupt nicht über die Ausdehnung irgendeines Objektes urteilen kann." ( A . a. O.) V o n hier aus ergeben sich nun neue logische Formulierungen der Grundbegriffe des Raumes. V o r allem ist es der Begriff der Distanz, der eine neue Beleuchtung seines logischen Sinnes erfährt. W a s ist die Distanz? Sie ist kein absolutes Sein und keine selbständige Wirklichkeit; sie bedeutet vielmehr eine Beziehung, welche das Denken unter beliebigen Elementen stiftet, welche den Gegenstand der Betrachtung bilden. S o wird die Distanz als Strecke aus dem funktionellen Charakter des Zählens hergeleitet. „Eine Linie in abstracto oder Distanz ist die Zahl der Punkte zwischen zwei Punkten." W i e wenig es sich bei diesem Begriff um eine ruhende Anschauung handelt, die dem Bewußtsein gegeben ist, tritt in der allgemeinen Bedeutung hervor, die ihm außerhalb der Größenlehre zuerkannt wird. „ E s gibt auch eine Entfernung zwischen einem Sklaven und einem Kaiser, zwischen einem Ungelehrten und einem Gelehrten, zwischen einer Drachme und einem Pfund, zwischen einem

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Pfennig und einem Taler usf. In all diesen Fällen bezeichnet die Entfernung die Anzahl der zwischenliegenden Vorstellungen." (Tagebuch a. a. O. S. n . ) Der hier zugrundeliegende Gedanke ist in seiner allgemeinen Bedeutung wichtig. Die unmittelbare Gegebenheit besteht in Licht und Farben in verschiedenen Gestalten und Lagen. Entfernung und Größe bestehen einzig in einer solchen Verknüpfung mit diesen sinnlichen Korrelaten, wie sie zwischen der bezeichneten Sache und dem Namen, der Bedeutung eines Wortes und dem Worte selbst besteht. Das in diesem Sinne charakteristische Beispiel vom Blindgeborenen, der, nachdem er durch Operation das Gesicht erlangt hat, die neue Reihe der Sinneswahrnehmungen nicht auf die bezüglichen Tastwahrnehmungen zu deuten vermag, ist wiederum nach Berkeleys Zeugnis von L o c k e übernommen. Nur die Folgerung, welche Berkeley für die idealistische A u f fassung der primären Qualitäten zieht, unterscheidet ihn von diesem. „Wir müssen also gestehen, daß entweder sichtbare Ausdehnungen und Gestalten von tastbaren Ausdehnungen und Gestalten spezifisch verschieden sind, oder daß die Lösung dieses Problems, welches durch die beiden gedankenvollen und tiefsinnigen Männer (Molyneux und Locke) gegeben wurde, falsch ist." (Th. d. Sehens § 133.) Die Empfindungen des Gesichts und Getasts sind nicht nur in der Zahl verschieden und mithin gleichsam zweimal die Vorstellung ein und desselben an sich bestehenden Inhalts, sondern der vermeintliche Gegenstand löst sich in ein Verhältnis von Gesichtswahrnehmungen zu Tastwahrnehmungen auf. — Die Einheit freilich, welche sich in dieser Verknüpfung darstellt, scheint zufällig zu sein und wenigstens nur auf dem bloßen Gesetz der Assoziation der Vorstellungen zu beruhen. „ E s ist nur die konstante und lange Assoziation von gänzlich verschiedenen Vorstellungen, welche sie mich als dieselben beurteilen läßt." 1 ) (Tagebuch a.a.O. S. 7 5 ) ' ) A n diesem Punkte hat die Kritik eingesetzt. Ulrici weist darauf hin, daß keine „Suggestion von Perzeptionen des Tastsinnes" stattfinde. Nach Ulrici muß man erst lernen, die Perzeptionen voneinander zu unterscheiden und die Perzeptionen des Gesichtssinns mit den geläufigen Perzeptionen des Tastsinnes zu vergleichen. Hier ist die Einheit, welche Berkeley assoziativ entstanden denkt, scheinbar unabgeleitet geblieben; denn die Erklärung durch das Gesetz der Assoziation war abgelehnt worden. Ulrici will jedoch die Raumvorstellung als „apriorischen" F a k t o r unseres Erkenntnisvermögens aufgefaßt wissen. (Zeitschrift für Philosophie Bd. 54. 1869. S. 166 ff. über Sight and T o u c h by Abbot.) C o h e n und N a t o r p , P h i l o s o p h i s c h e Arbeiten VIII, 2.

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Das Tagebuch bringt das Problem zur prägnanten Formulierung. „ W a s ich sehe, ist nur eine Mannigfaltigkeit von Farben und Licht, was ich fühle, hart oder weich, heiß oder kalt, rauh oder glatt usf. Was für eine Ähnlichkeit haben diese Gefühle mit jenen?" (S. 75 a. a. O.) Ähnlich heißt es in der Theorie des Sehens in einem Satze, der die Ergebnisse über die Urteilsfunktion im Raumdenken und -vorstellen zusammenfaßt: „ A u s all dem können wir schließen, daß Flächen ebensowenig wie Körper das unmittelbare Objekt des Gesichtssinnes sind. Was wir im strengen Sinne sehen, sind nicht Körper, ja auch nicht mannigfach gefärbte Flächen — es ist nur eine Verschiedenheit von Farben." (§ 158 a. a.O.) Immer handelt es sich hierbei darum, neben dem psychologischen Interesse an der Spezies der Empfindung das Problem der Verknüpfung zu beleuchten und hervorzuheben. Diese Verknüpfungen werden als strenger bezeichnet, als diejenigen sind, welche Vorstellungen mit Worten haben. „Daher kommt es, daß wir es so schwierig finden, zwischen den unmittelbaren und mittelbaren Objekten des Gesichts zu unterscheiden und geneigt sind, den ersteren zuzuteilen, was nur den letzteren zukommt." (§51 Theorie d. Sehens.) Wo es hingegen darauf ankommt, den rationalen Sinn dieser Verknüpfungen zu bezeichnen, wird der Vergleich mit der logischen Bildung der Sprache streng behauptet und durchgeführt. (Vgl. oben S. 31.) „Undeutlichkeit sowohl als die anderen Ideen oder Perzeptionen, welche Größe oder Distanz eingeben, tun es in gleicher Weise wie die Worte, die Begriffe eingeben, mit denen sie verknüpft sind. Nun ist es bekannt, daß ein Wort, wenn es unter bestimmten Umständen, oder in einem bestimmten Kontext mit anderen Worten ausgesprochen wird, nicht immer denselben Sinn und dieselbe Bedeutung hat, wie wenn es unter bestimmten anderen Umständen oder in einem hiervon verschiedenen Kontext der Worte ausgesprochen wird " ( § 7 3 Theorie d. Sehens.) So genau wird mithin der Vergleich des „Kontextes der Erfahrung" mit dem Kontext der Worte in der Sprache, welche ihre Bedeutung bestimmt, durchgeführt. Aus einem anderen Gesichtspunkt jedoch scheint die notwendige Verknüpfung bestritten werden zu müssen. Wir begegnen hier einem ersten Keime des Humeschen Problems. 1 ) E s scheint aussichtslos, in Deduktionen der Mathematik die Auf die Entdeckung der Kausalitätslehre im modernen Sinne durch Berkeley weist Penjon hin. (Étude sur la vie et sur les oeuvres philosophiques de George Berkeley. Paris 1878. S. 203.)

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Verknüpfungen der Erscheinungen vorbilden und ableiten zu wollen. Die Induktion — als Kontradiktion der Deduktion — scheint in der Tat die Methode der Berkeleyschen Philosophie, wie sie sich bis hierher entwickelt hat. Die Entsprechung des rationalen Begriffs der Ursache und des Gegenstandes der E r kenntnis kann für Berkeley nicht stattfinden. Denn der Begriff der Ursache erhält für diese Ansicht erst in der Metaphysik einen strengen Sinn. — Das Problem der Verbindung soll an die Stelle des Problems der Substanz treten. E s scheint, daß durch die Aufgabe der Verbindung die denkende Substanz gefordert ist. „Sagt ihr — so heißt es im Tagebuch — es muß eine denkende Substanz geben, — etwas Unbekanntes, welches die Vorstellungen wahrnimmt und trägt und zusammenbindet, so sage ich, macht es glaubhaft, daß eine Notwendigkeit für sie besteht und ihr sollt sie meinethalben haben. Ich will nicht irgendetwas wegnehmen, wovon ich nur den geringsten Grund, es zu denken, sehen kann." (Tagebuch S. 33 a. a. O.) Die denkende Substanz wird in der T a t im L a u f e der Entwicklung als der letzte echte Kern des Substanzgedankens sich erweisen. Bevor indes die Frage der ersten Ursache überhaupt in Angriff genommen werden kann, gilt es, die absolute Substanz außerhalb des Gedankens und seiner Verbindungen in jeder Form der Behauptung und jedem scheinbaren Anrecht zu widerlegen. Was ist uns nun gegeben? Nur die geordnete Reihe der Sinneswahrnehmungen und die Ideen bilden den Inhalt und das Objekt der Erkenntnis. „Macht die Voraussetzung, deren Möglichkeit niemand leugnen kann, eine Intelligenz habe ohne Mitwirkung äußerer Körper die nämliche Reihe von Sinneswahrnehmungen oder Ideen, die ihr habt, und zwar sei dieselbe in derselben Ordnung und mit gleicher Lebhaftigkeit dem Geiste eingeprägt. Ich frage, ob diese Intelligenz nicht ganz eben den Grund habe, die Existenz körperlicher Substanzen, die durch seine Ideen repräsentiert würden und dieselben in ihr anregten, anzunehmen, den ihr möglicherweise haben könnt, das Nämliche anzunehmen?" (Prinz. S. 31 a. a. O.) Die Annahme der körperlichen Substanz ist eine willkürliche Zutat zu der erkenntnistheoretischen Analyse des Bewußtseins. Der naheliegende Einwand, daß Bäume in einem Parke, oder Bücher in einem Kabinett auch existieren, wenn sie niemand wahrnimmt, bringt uns dem eigentlichen Problem der Materie näher. Wenn sie auch niemand unmittelbar wahrnimmt, 3*

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„perzipiert oder denkt ihr selbst denn nicht unterdes eben diese Objekte?" (A. a. O. S. 32.) E s bedarf mithin schon eines Unterschieds unter den Perzeptionen, je nachdem sie unmittelbare und aktuelle Wahrnehmungen sind oder nicht. Hiermit ist ein Ansatz zur Unterscheidung des Denkens von der sinnlichen Wahrnehmung gegeben. Die genaueren Bestimmungen des Begriffs als Substanz, Kausalität usf. werden hier nicht untersucht und gegeben. E s gilt eben, nicht so sehr die Mittel und Wege der Erkenntnis zu bestimmen, als vielmehr das Objekt der Erkenntnis zu ergründen. Gibt es ein Objekt unabhängig von den Mitteln und Werkzeugen des Bewußtseins und hat die etwaige Annahme eines solchen absoluten Gegenstandes einen angebbaren Sinn? „Wenn wir das Äußerste versuchen, um die Existenz äußerer Körper zu denken, so betrachten wir doch immer nur unsere eigenen Ideen." (S. 33 a. a. O.) Die Beziehung auf das Bewußtsein ist das gleichbleibende Moment in aller Erkenntnis. E s fragt sich nunmehr, welche rationale Momente den Begriff der Materie konstituieren. Der Begriff des Naturgesetzes bedingt hier eine neue Auffassung des Problems der Wirklichkeit. Immer ist zudem der Gesichtspunkt der Idealität der Erscheinung maßgebend. „Die sinnlichen Ideen . . . haben eine gewisse Beständigkeit, Ordnung und Zusammenhang und werden nicht aufs Geratewohl hervorgerufen . . . Nun werden die festen R e g e l n oder b e s t i m m t e n W e i s e n , w o n a c h der G e i s t , von dem wir a b h ä n g i g sind, in uns d i e s i n n l i c h e n I d e e n e r z e u g t , die N a t u r g e s e t z e g e n a n n t und diese lernen wir durch Erfahrung kennen . . ." (S. 36 a. a. O.) E s begründet sich also der Naturgegenstand in den Regeln oder Weisen des Bewußtseins, in welchen er als begrifflich konstituiert gedacht wird. Der Verstand wird auch hier zum „Urheber der Natur"; allerdings in einem andern Sinn, als demjenigen, welchen der wissenschaftliche Rationalismus fordert. Um hierfür die Möglichkeit einzusehen, bedarf es freilich noch anderer Voraussetzungen als die wir bisher unter dem Namen von Perzeptionen kennen gelernt haben. — Die psychologische Analyse führt auf den Begriff der Ordnung der Erscheinungen. 1 ) *) U e b e r w e g bemerkt zu diesem Gedanken der „Ordnung" in seiner an Collyns Simon gerichteten Schrift, in welcher er dessen Verteidigung der L e h r e Berkeleys zu widerlegen sucht: „Die Ordnung, welche bloß in den Ideen als solchen liegt, ist bloß subjektive Ordnung der „Ideenassoziation", mit welcher nur die Psychologie es zu tun hat." (Zeitschrift für Philosophie Bd. 59. Halle 1 8 7 1 . S. 146 f.). In der T a t werden wir die Schwierigkeiten des Berkeleyschen Idealismus in der Richtung

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Sind wir uns ihrer einmal gewiß, so kann kein Zweifel an der Realität der Dinge zurückbleiben. V o n hier aus erledigt sich der Einwand, daß durch die vorstehenden Prinzipien „alles, was reell und substantiell in der Natur sei, aus der Welt verbannt werde, und daß an die Stelle davon ein phantastisches Ideensystem trete". . . . (S. 38 Prinz, a. a. O.) Die „natura rerum" ist auch im System Berkeleys vorgesehen. „ E s gibt eine Natur (rerum natura) und die Unterscheidung zwischen Realitäten und Chimären behält ihre volle K r a f t . " (S. 38 a . a . O . ) Der Einwand, daß man Dinge zu Ideen mache, beruhe darauf, daß man in der Idee nicht das Ding zu erkennen vermag. Hier findet sich der Ausdruck für die Bestimmung des Dinges, welcher das Resultat dieser Assoziationspsychologie zusammenfaßt. Das Wort wird gleichbedeutend mit Ding, wenn es entgegen dem gewöhnlichen Sprachgebrauch als „Kombination sinnlicher Eigenschaften" verstanden wird. (S. 40.) Die Bindung der Realität an den A k t der Wahrnehmung schien den Bestand der Dinge aufzuheben. Deshalb erfährt die bereits von der sinnlichen Wahrnehmung unterschiedene Perzeption eine neue Bestimmung. Aus der bloßen Perzeption wird der Begriff der Perzipierbarkeit. „Wird gesagt, Körper existieren nicht außerhalb des Geistes, so darf dies nicht so verstanden werden, als wäre dieser oder jener einzelne Geist gemeint, sondern alle Geister, welche es auch seien." (S. 46 a. a. O.) Der Begriff ist nunmehr von der Wahrnehmung unterschieden. Die Wahrnehmung hat ersichtlich in sich keinen Hinweis auf einen Inhalt, der für alle möglichen Subjekte gilt. Hier scheint sich die Grenzscheide von Logik und Psychologie zu bestimmen. Innerhalb der Berkeleyschen Prämissen wird in dem Begriff der möglichen Wahrnehmung eine bedeutungsvolle Abstraktion von der unmittelbaren Sinneswahrnehmung vollzogen. Freilich bedarf diese Voraussetzung eines letzten Haltes in einem universellen Geiste, (cf. S. 34 Prinz. a . a . O . unten S . 4 1 . ) Zunächst dieses von U e b e r w e g angedeuteten Problemes finden. Mit der A u f f a s s u n g der Idee als eines passiven Erlebnisses und psychischen V o r g a n g e s ist die Gefahr verbunden, in den Schranken des Subjektes und seiner B e dingtheit zu verbleiben. W e n n jedoch das psychologische Problem zwar mit Recht vom erkenntniskritischen abgegrenzt w i r d , so ist dennoch mit dem Unterschiede des Gesichtspunktes — des psychologischen und erkenntniskritischen — nicht zugleich eine Verschiedenheit von Sachen — von Subjekten und realen Dingen — gesetzt. Die „Ordnung und die R e g e l mäßigkeit" in den Erscheinungen ist auch für die kritische Betrachtung der Ausdruck für das Problem des Gegenstandes und der vollständige Sinn seiner Realität (vgl. unten S. 47 f.).



Erich Cassirer,

indes gilt es, durch begriffliche Unterscheidungen die neue Art des Bewußtseins zu bestimmen. Die Charakteristik bewegt sich zunächst in psychologischen Beschreibungen. „Demgemäß folgt nicht aus den vorstehenden Prinzipien, daß die Körper in jedem Augenblick vernichtet und geschaffen werden, oder überhaupt in den Intervallen zwischen unseren Perzeptionen gar nicht existieren." ( A . a . O . S.46.) Die Dinge bestehen auch in den Intervallen der aktuellen Wahrnehmung. Die Bedingungen der Wahrnehmung der Gegenstände sind mithin nicht die einzigen Erkenntnisbedingungen. An dieser Stelle, wo — kritisch gesprochen — das Desiderat der allgemeingültigen und notwendigen Bewußtseinsinhalte hervortritt, berührt sich Berkeleys Philosophie mit der Philosophie von Leibniz. Der Terminus des „phaenomenon bene fundatum" bringt diesen Gedanken zum Ausdruck: Der Gegenstand erfordert unbeschadet seiner Idealität noch andere Erkenntnisbedingungen, als welche die Wahrnehmung darreicht. Im Begriff der Substanz scheint sich das Vorurteil der absoluten Materie zu wiederholen (vgl. oben S. 28). Hier erhebt sich die Frage, ob die Substanz, abgesehen von ihren Attributen, Sinn und Bestand haben könne. „Sagt man: ein Würfel ist hart, ausgedehnt und eckig, so heißt das nicht, daß man diese Eigenschaften einem von ihnen verschiedenen Subjekte, das sie trage, zuschreibe, sondern es ist nur eine Erklärung dessen, was man unter dem Wort Würfel versteht." (Prinz, a. a. O. S. 46.) Die Substanz ist nur der Inbegriff der Wahrnehmungen und Erfahrungen, in denen sie sich dem forschenden Geiste darstellt. — Die Geschichte der Philosophie zeigt insbesondere an den großen Beispielen von Pythagoras und Descartes die Wechselbeziehung des Raum- und Substanzproblems. Wie Pythagoras die Zahlgröße, welche er geometrisch denkt, zur Substanz machte, so wurde auch bei Descartes das geometrisch rein Gedachte zur „ausgedehnten Substanz". Die Idealität der Materie gilt somit als in der Idealität des Raumes verbürgt. Hier bei Berkeley muß das aus der Theorie des Sehens übernommene Raumproblem den W e g weisen. Das Außen des Raumes bietet, wie hier hervorgehoben wird, der idealistischen Ansicht eine eigentümliche Schwierigkeit dar (vgl. unten S. 68 f.). Die Annahme erscheint ungereimt, daß die Dinge, welche in der Entfernung von einigen Meilen gesehen werden, uns so nahe erscheinen, wie unsere eigenen

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Gedanken. Das räumliche Objekt ist indes, wie wir aus der Theorie des Sehens wissen, so wenig gegeben, daß ein Blindgeborener, der durch Operation sehend geworden ist, die neue Reihe der Empfindungen zunächst nicht auf entsprechende Tastempfindungen zu beziehen vermöchte. „Die unmittelbaren durch das Gesicht hereingeschickten Objekte würden ihm als nichts anderes, als was sie in Wahrheit sind, erscheinen; als eine neue Reihe von Gedanken oder Sensationen, von denen jede ihm so nahe ist wie die Perzeptionen von Lust und UnUnlust . ." (Theorie des Sehens § 4 1 . ) Könnte es bei dem Hinweis der Gesichtswahrnehmung auf die Tastwahrnehmung, welche mit ihr im Prozeß der Erfahrung verbunden ist, wie er in der Theorie des Sehens beschrieben ist, so scheinen, als ob hiermit ein äußeres Objekt gesetzt sei, so suchen die Prinzipien diesen Einwand zu entkräften. In der Theorie des Sehens wurden in Anlehnung an die populäre Auffassung und in Anbetracht ihres Problemgebietes, welches die Beleuchtung der Gesichtswahrnehmungen bildete, die tastbaren Objekte bestehen gelassen. „Streng genommen ist demnach von den Gesichtswahrnehmungen, wenn wir durch sie Entfernung und entfernte Dinge auffassen, zu sagen, daß sie in uns nicht Dinge, die gegenwärtig in einer Entfernung existieren, bekunden oder eingeben, sondern uns nur darauf aufmerksam machen, welche Tastideen in unserem Geiste nach bestimmten Zeitabschnitten und infolge bestimmter Handlungen entstehen werden." (Prinz. S. 43.) S o beruht mithin die Eigentümlichkeit der Gesichtswahrnehmung auf ihrem Verhältnis zur Tastwahrnehmung, kraft dessen sie deren Vorausbestimmung ermöglicht. Die Idealität des Raumes scheint hiermit verbürgt und erwiesen. Die Tatsache der räumlichen Vorstellungen im Traume beweist zudem, daß Entfernungen nur innerhalb des Geistes und kein außerhalb desselben befindliches Objekt sind. — Das Zeichen wird der Ausdruck eines vorausbestimmenden Urteils und somit eines Zusammenhanges der Vorstellungen, welcher gemeinhin als das Verhältnis von Ursache und Wirkung aufgefaßt wird. Mit der Idealisierung des Raumes zugleich vollzieht sich mithin eine neue Bestimmung des Begriffs der Ursache (vgl. hierzu oben S. 31 ff., bes. S. 35). Das Prinzip der Ursache wird in den Gesprächen weiter entwickelt. Der zwar nur empirischpsychologische Begriff des Zeichens zeitigt hier in der systematischen Fortbildung eine vertiefte Auffassung des Begriffes und seiner Eigenart. Der Begriff der Substanz reduziert sich hier auf

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den Begriff der Ursache. Schon die Prinzipien legten dar, d a ß die Dinge als Ideen eine höchste Intelligenz als Ursache ihrer selbst voraussetzen, (cf. Prinz. S. 34.) Die Ursache kann nicht als durch die Korpuskulartheorie bestimmt gelten. Die Dinge sind Ideen. In der Idee läßt sich die Ursache durch Selbstwahrnehmung nicht aufzeigen. „ W e n n man sagt, daß diese (die Sinnesempfindungen) die Wirkungen von Kräften seien, die aus der Gestalt, Zahl, Bewegung und G r ö ß e von kleinsten Körperteilen hervorgehen, so muß dies hiernach gewiß falsch sein." (Prinz. S. 34.) Die Ursache ist, wie sich hier ergibt, ein nicht wahrnehmbarer Begriff. Die primären Qualitäten, welche Berkeley als Wahrnehmungen denkt, sind unter diesem Gesichtspunkt nicht essentiell von den sekundären verschieden (vgl. oben S. 28, ferner Prinz. S. 60). Die Unterscheidung, welche Berkeley in der Philosophie seiner Zeit vorfindet, daß die primären Qualitäten in an sich bestehenden Dingen wirklich existieren, während nur die sekundären Qualitäten Modifikationen des Subjektes seien, erweist sich als hinfällig. Sofern es sich um den psychologischen Wahrnehmungsakt handelt, sind in der T a t beide A r t e n , Ausdehnung, G e stalt usf. und F a r b e , Härte usf., unzertrennlich vermischt. W e n n nun die sekundären Qualitäten zugestandenermaßen nur im perzipierenden Geiste bestehen, so gilt dasselbe von den primären. In der Wahrnehmung ist nur jene sinnliche Idee, welche F a r b e und Gestalt und Ausdehnung usf., kurz, einen K o m p l e x sinnlicher Eigenschaften in sich vereinigt. Das Beweisverfahren des Mathematikers gehört einer anderen Gattung der Betrachtung an. Diese F r a g e n führen in ihrem V e r f o l g auf das Raumproblem zurück. „ W e n n sie (die Mathematiker) von den W o r t e n absehen und die bloßen V o r s t e l l u n g e n betrachten, so wirst Du, glaube ich, finden, daß es nicht die r e i n e n a b g e s o n d e r t e n V o r s t e l l u n g e n der Ausdehnung sind." (Gespräche S. 41.) S o ergibt sich denn allgemein, daß neben der sinnlichen Perzeption nicht etwa ein an sich bestehendes O b j e k t wie etwa die Ausdehnung „an sich" gegeben ist. D a die Idee passiv ist, so kann die wahre Ursache keine Idee sein. Hier ergibt sich mit Notwendigkeit das Postulat des Begriffes (notion). Die A u f l ö s u n g des Dingbegriffes führt zu einer Unterscheidung von Gedanken und Ursachen der Gedanken (vgl. oben S. 26). Das T a g e b u c h hatte neben diesem positiven Ansätze eine geistige Substanz als Urheber und Prinzip der Verbindung und

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Verknüpfung der Bewußtseinsphänomene wenigstens ais hypothetisch erwogen, (cf. S. 47.) Ein Substrat der Ordnung und Gesetzmäßigkeit der E r scheinungen ist nunmehr in den Prinzipien gefordert. Wofern jedoch ein solches als eine Wirklichkeit gefordert wird, kann es naturgemäß nicht als endliches und den Bedingungen der Wahrnehmung und der jeweiligen Repräsentation des Gegenstandes unterworfenes Bewußtsein gesucht werden. S o ergibt sich für die Begründung der Erscheinung das Postulat des göttlichen Geistes. 2. D i e G o t t e s i d e e . Freilich braucht der rationale Grundgedanke durch diese metaphysische Annahme nicht getrübt zu werden. Wenn nun die Dinge auch als Ideen von der höchsten Intelligenz abhängig sind, so handelt sie dennoch nicht willkürlich, sondern unter Beobachtung der mechanischen Gesetze. (Prinz. S. 54.) Als letzte äußerste Möglichkeit der Existenz der Materie wird der Gedanke erwogen, die Materie könne die „unbekannte Veranlassung" sein, „bei deren Gegenwart Ideen in uns durch den Willen Gottes hervorgerufen werden." ( A . a . O . S. 57.) Das Endresultat wäre, daß es „gewisse unbekannte Ideen im Geiste Gottes gäbe". (A.a.O. S . 6 1 . ) Diese Bestimmung, welche offenbar im Hinblick auf Malebranche erörtert wird, käme auf einen bloßen Wortstreit hinaus. Die Materie besteht auch in dieser Auffassung nur in der perzipierenden Substanz. — Wie nun die Untersuchung in den Prinzipien in der Definition der beiden Arten des Seins, der Erkenntnis durch Ideen, und der Erkenntnis von Geistern durch Begriffe gipfelt (Prinz. S. 68), so ist hier bei der Einführung der Gottesidee naturgemäß der Ort, an welchem die Fortführung der Gedanken in den Gesprächen einsetzt. Allgemein läßt sich ein wichtiger Fortschritt in der Bestimmung des Begriffs bereits innerhalb der Prinzipien aufzeigen, der besonders deutlich in Zusätzen zur zweiten Ausgabe hervortritt. Der Begriff war zunächst dafür vorbehalten, uns der Existenz der Geister, sei es nun des eigenen oder anderer, bewußt zu werden. Zu dieser Bestimmung tritt eine wichtige Ergänzung für die Erkenntnis der Beziehungen unter den Dingen hinzu. „Man darf sagen, daß wir in einem gewissen Sinn eine Kenntnis oder Vorstellung von unserem eigenen Gemüte, von Geistern und aktiven Dingen haben, wovon wir nicht Ideen im strengen Sinne besitzen. In gleicher Art kennen wir Beziehungen zwischen

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Dingen oder Ideen und haben eine Vorstellung von diesen Beziehungen, welche von den aufeinander bezogenen Dingen oder Ideen verschieden sind, sofern die letzteren von uns perzipiert werden können, ohne daß wir die ersteren perzipieren. Mir scheint, daß Ideen, Geister und Beziehungen in allen ihren A r t e n den Gegenstand der menschlichen Erkenntnis . . ausmachen und daß der Ausdruck Idee nur uneigentlich in einem so weiten Sinne gebraucht werden könne, daß er zur Bezeichnung von allem diene, was wir erkennen, oder wovon wir irgendeinen Begriff (notion) haben." (Prinz. S. 69.) Das Verhältnis von Idee und Relation wird in einem Zusatz zu einer späteren Stelle noch genauer beleuchtet. Hier scheint es fast, daß Berkeley seinen eigenen Idealismus durch Unterbestimmungen zu korrigieren sucht. „ E b e n s o ist zu bem e r k e n — so heißt es hier — d a ß , d a a l l e B e z i e h u n g e n e i n e T ä t i g k e i t d e s G e i s t e s i n s i c h s c h l i e ß e n , n i c h t in s t r e n g e m Sinne g e s a g t w e r d e n kann, daß wir eine Idee, s o n d e r n v i e l m e h r zu s a g e n ist, d a ß wir e i n e n B e g r i f f von den Beziehungen oder Verhältnissen zwischen den D i n g e n h a b e n . Indes wenn, wie es heute üblich ist, das W o r t Idee auf Geister, Beziehungen und Tätigkeiten mitbezogen wird, so handelt es sich dabei schließlich doch um den W o r t g e b r a u c h " (Prinz. S. 99). E s gilt nunmehr, die neue Gestaltung des Realitätsproblems in den Gesprächen zu beachten und zu entwickeln. „ D u behauptest, — so führt hier der Verfechter des Idealismus, Philonous, aus — daß die Wirklichkeit sinnlicher Dinge in einem absoluten Dasein außerhalb des Geistes von Seelenwesen bestünde, oder in etwas anderem, als daß sie wahrgenommen werden. Und im V e r f o l g dieses Begriffes von Wirklichkeit bist D u gezwungen, sinnlichen Dingen jedes wirkliche Dasein abzusprechen . . . " (Gespräche a. a. O. S. 64.) Die Wirklichkeit wahrgenommener Dinge wird also nicht bestritten, sondern nur die philosophische Forderung einer absoluten Substanz. — A n die Stelle der Wahrnehmung war bereits in den Prinzipien der Begriff der Perzipierbarkeit getreten (oben S. 37). Da die Dinge „nicht von meinen Gedanken abhängen und ein von meinem Wahrnehmen verschiedenes D a sein führen", so schließe ich, „daß es irgendeinen anderen Geist geben muß, in dem sie bestehen". (Gespräche S. 64.) Somit ist die eigentliche Kernfrage des Systems bestimmt. Das D a sein Gottes wird hier in syllogistischem Verfahren gefolgert und bewiesen. „Sinnliche Dinge bestehen wirklich" — so lautet das

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Resultat, das sich aus der A n a l y s e der W a h r n e h m u n g und des unmittelbaren Bewußtseins ergeben hat. W e n n Dinge wirklich b e s t e h e n , werden sie n o t w e n d i g von einem unendlichen G e i s t e w a h r g e n o m m e n ; denn sie sind unabhängig von der W a h r n e h m u n g des Einzelnen und dennoch nicht außerhalb d e s G e i s t e s für sich gegeben. „Sinnliche D i n g e bestehen wirklich . . .; also gibt es einen unendlichen G e i s t oder G o t t . " ( A . a . O . S . 6 5 . ) Im G o t t e s begriff vereinigen sich ebensosehr alle positiven Ergebnisse der B e r k e l e y s c h e n Kritik, wie sie andrerseits in ihm einen dogmatischen A b s c h l u ß und eine S c h r a n k e finden. A n dieser Stelle in der B e t r a c h t u n g des positiven A u f b a u s des B e r k e l e y s c h e n S y s t e m s gilt es sich zu v e r g e g e n w ä r t i g e n , w e l c h e A u f g a b e und w e l c h e eigentümliche F u n k t i o n der G o t t e s b e g r i f f innerhalb der Prinzipien der menschlichen Erkenntnis hat. — S c h o n der T i t e l der G e s p r ä c h e zeigte die A b s i c h t an, „ d i e unmittelbare V o r s e h u n g einer G o t t h e i t zur B e k ä m p f u n g von S k e p t i k e r n und A t h e i s t e n klar darzutun." O b w o h l somit in der F o r m u l i e r u n g d e s G o t t e s b e g r i f f s ein religiöses Motiv leitend ist, so soll dennoch der B e w e i s g a n g , welcher zum Gottesbegrifif hinführt, aus erkenntnistheoretischen G e s i c h t s p u n k t e n angestellt und geführt werden. W a s stellt nun die Idee G o t t e s — kritisch gesprochen — dar? S i e scheint, so sehr dies einer fieraßaais eis äkko yevog gleicht, zur L ö s u n g des erkenntnistheoretischen P r o b l e m e s des G e g e n s t a n d e s , des allgemeingültigen und notwendigen Inhaltes, welchen das N a t u r o b j e k t darstellt, zu dienen; aber dieses P r o b l e m der Kritik in einen metaphysischen G e d a n k e n zu verwandeln. E i n pantheistischer Z u g macht diese A n s i c h t verständlich, welcher in der G e s c h i c h t e öfter seit ihren A n f ä n g e n das metaphysische G e w a n d des Idealismus bildete. D i e Idee G o t t e s bezeichnet die rationale Natur sowohl des Menschen als auch des G e g e n s t a n d e s der Erkenntnis. Die R e g e l und das G e s e t z , welche sich in der A u ß e n w e l t finden, die b l o ß e T a t s a c h e des G e g e n s t a n d e s in einer Materie, die sich für die bloße A n a lyse des logischen D e n k e n s „in ein blindes Spiel der V o r stellungen" aufzulösen scheint, ist j e n e s durch die G o t t e s i d e e bezeichnete und v e r b ü r g t e W u n d e r . S o steht die Idee G o t t e s für das erkenntniskritische Erfordernis des G e s e t z e s der E r scheinung (vgl. S. 41 oben). D i e empirische A n a l y s e der E r s c h e i n u n g , in welcher sich die Methodik des B e r k e l e y s c h e n D e n k e n s prinzipiell erschöpft, führte auf einen in b e z u g auf das Einzelbewußtsein transzendenten Inhalt. Die reine Erfahrung k a n n mithin nicht der ein-

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zige Ursprung unserer Erkenntnis sein. S o erhebt sich denn insbesondere die F r a g e , wie sich die konstante und universelle Geltung der Verknüpfungen von Vorstellungen verschiedener Spezies, wie insbesondere des Gesichts und Getasts, verstehen lasse. Daß die Gesichtswahrnehmung zum Prognostikum der Tastwahrnehmung werden kann, daß ihr somit für alle Individuen aller V ö l k e r und aller Zeiten eine eindeutige und bestimmte Bedeutung zukommt, die nicht aus ihrer Natur erklärbar ist und keine logische Identität und rein begriffliche und aus freien oder bloß formal logischen Setzungen des Gedankens resultierende Deduktion bezeichnet, beruht, wie sich hier ergibt, nicht so sehr auf einer Bedingung unseres Wissens, als vielmehr auf einer metaphysischen Annahme und Grundlage. Die Erfahrung wird nicht als Erkenntnis und als Einheit, sondern als Natur und äußere Wirklichkeit zum Problem. S o ist die Schöpfung und der Vernunftwille der göttlichen Intelligenz erforderlich. Hier läßt sich somit die Schranke dieser religiös-mystischen A u f f a s s u n g erkennen. Die erkenntnistheoretische A n a l y s e , die wir gerade im Sinne Berkeleys im A u g e behalten müssen, führt zu dem empirischen Gesetz der Assoziation der Vorstellungen. W a s der Gegenstand an Realität besitzt, ist für diese kritische Ansicht in den besonderen Weisen der Verknüpfung der V o r stellungen untereinander erschöpfend beschrieben. Welches Rätsel bleibt alsdann noch zurück? E s ist ersichtlich, daß B e r keley an diesem Punkt den Rigorismus der Erfahrung als autonomer und selbstgewisser Erkenntnisquelle verläßt. Wird somit zuzugeben sein, daß das Problem des Gegenstandes, wie es die moderne Philosophie seit K a n t versteht, wie es von Hume scharf formuliert war, von Berkeley mehr vorbereitet und angebahnt, als einheitlich beantwortet worden ist, so enthält das Problem der Realität in den Ausführungen der Gespräche nichtsdestoweniger fruchtbare Motive für seine Hinausführung zu kritischer Schärfe. Zunächst bestätigt sich auch hier in den Gesprächen die Ansicht, nach welcher sich der Begriff der Materie in eine Ordnung und einen geregelten Zusammenhang von Vorstellungen auflöst und in ihnen erschöpfend darstellt (vgl. oben S. 36). E s erscheint von hier aus schwierig, die absolute Substanz in irgendeiner Bedeutung zu rechtfertigen und aufrecht zu halten. E s erhebt sich die Frage, inwiefern es überhaupt einen vom perzipierenden Subjekte unabhängigen Bestand geben kann. K a n n man es verstehen, „wie auch nur ein Fels, eine Wüste, ein.

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Chaos oder wirres Atomgewimmel, wie überhaupt irgendetwas, Sinnliches oder Erdenkbares, unabhängig von einem Geist bestehen kann?" (A. a. O. S. 66.) Hier ist der Punkt, wo sich Berkeley von Malebranche bewußt unterscheidet. Seine Lehre, „daß wir alle Dinge in Gott sehen", sucht die an sich bestehende Körperwelt und die an sich bestehende Seelensubstanz in einer höheren metaphysischen Einheit zusammenzuschließen. Eine solche Gemeinschaft und Verbindung des Psychischen und Physischen vermittelst der göttlichen Substanz wird indes für die Lehre Berkeleys nicht erst fraglich, da nach ihr die Dinge kein Sein außerhalb des Geistes besitzen. Diese Hypothese läßt „die ganze Welt umsonst geschaffen sein". (S. 67 a. a. O.) Entweder, so wird hier ausgeführt, würde die Gottheit in der Erzeugung der Vorstellungen in uns an die Existenz absoluter Dinge gebunden sein und diese Abhängigkeit der Gottheit als einem reinen, tätigen Wesen widersprechen, oder die Vorstellungen sind ohne diese Voraussetzung genau die gleichen, und werden also durch sie nicht erklärt. Die Hypothese des Malebranche ist „denselben Sinnlosigkeiten wie die gewöhnliche unterworfen", „nämlich eine geschaffene Welt anders als in dem Geist eines Seelenwesens bestehen zu lassen". (S. 67 a. a. O.) Es bestehen nicht absolute Dinge im Geist Gottes, sondern „die von mir wahrgenommenen Dinge werden von dem Verstand eines unendlichen Seelenwesens gewußt und durch dessen Willen hervorgebracht". (S. 69 a. a. O.) Der charakteristische Unterschied zur Lehre Malebranches enthüllt die eigenen Voraussetzungen der Berkeleyschen Lehre. Berkeleys Ansicht bestimmt sich dahin, daß er im Gegensatz zu Malebranche die „abstrakten allgemeinen Vorstellungen" und die absolute Außenwelt leugnet, während dieser im Gegensatz zu ihm behauptet, „daß wir von unseren Sinnen getäuscht werden und nicht die wirkliche Natur oder die wahren Formen und Gestalten ausgedehnter Wesen kennen." (S. 67 a. a. O.) Es gilt, die in der Philosophie gleichsam konkret gewordene. Bedeutung der Materie zur Anschauung zu bringen, um diesem Begriffe gerecht zu werden. Eine wichtige Bedeutung der Materie besteht darin, die Ursache unserer Vorstellungen zu sein. Diese Ansicht konnte indes bereits früher .der kritischen Prüfung nicht standhalten (vgl. oben S. 30, ferner oben S. 40). Die Vorstellungen, von denen ich erregt werde, — so wird hier im einzelnen ausgeführt — sind fließend und

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abhängig. Ich bin mir b e w u ß t , nicht ihre Ursache zu sein, und, da sie selbst passiv sind, können sie nicht „die Ursache ihrer s e l b s t " oder eine die Ursache der andern sein. Sie können auch nicht „ f ü r sich b e s t e h e n " ; denn sie sind als W a h r n e h m u n g e n „untätige, fließende, abhängige W e s e n " . (A. a. O . S. 69.) D i e V o r s t e l l u n g e n müssen also eine „ v o n mir und sich verschiedene U r s a c h e " haben. E s scheint somit die A n n a h m e einer „Ursache der V o r s t e l l u n g e n " berechtigt zu sein. Indes auch dieser Begriff der Materie führt auf dieselben K o n f l i k t e und W i d e r sprüche wie j e d e Setzung der absoluten Substanz. Die A n a lyse des Begriffs der Materie, wie sie sich durch eine bloße „ m e t a p h i s c h e E r ö r t e r u n g " ergibt, führt in j e d e m Falle g e m ä ß der eigentümlichen W o r t b e d e u t u n g auf einen Inbegriff solcher E i g e n s c h a f t e n , welche sich als A t t r i b u t e des G e i s t e s bereits erwiesen haben. Die philosophische Zergliederung des Begriffes der Materie führt mithin zur W i d e r l e g u n g der A n s i c h t von der E x i s t e n z der unbedingten Materie. „Bezeichnet nicht Materie in der gewöhnlichen, landläufigen B e d e u t u n g des W o r t e s eine ausgedehnte, feste, bewegliche, ungeistige, untätige S u b s t a n z ? " ( A . a . O . S. 70.) D i e F r a g w ü r d i g k e i t eines so b e s t i m m t e n Begriffs der Materie ist erwiesen. Sie ist untätig, also keine Ursache. S i e ist ungeistig, also nicht „ U r s a c h e des D e n k e n s " . Sie besteht nur in A t t r i b u t e n des G e i s t e s ; sie darf mithin nicht als unabhängig v o m denkenden Geiste bestehend behauptet werden. — Hier nun tritt die E r w ä g u n g hinzu, die Ursache, welche durch den Begriff der Materie bezeichnet wird, als geistiges Prinzip zu bestimmen. D i e s e A u f f a s s u n g der Substanz als des rationalen Urhebers der Erscheinung ließe sich von B e r k e l e y s c h e n Prämissen aus rechtfertigen. Indes wäre es „ein Spiel mit W o r t e n " , unter Materie ein unausgedehntes, geistiges, tätiges W e s e n zu verstehen. „Ich habe durchaus nichts an deinem S c h l u ß auszusetzen, wenn du aus den Erscheinungen eine Ursache folgerst, aber ich bestreite, d a ß die Ursache, welche man vernünftigerweise ableiten kann, sinngemäß Materie benannt werden darf." (S. 70f. a. a. O.) K l a r e r als an diesem P u n k t e kann sich das philosophische Motiv der Kritik, welches den G o t t e s b e g r i f f legitimiert, nicht aussprechen, sofern überhaupt noch das theologisch d o g m a t i s c h e Interesse am G o t t e s b e g r i f f festgehalten w e r d e n soll. D i e G o t t e s idee erweist sich hier als ein Postulat, welches sich für die A b leitung der Erscheinungen aus rationalen Gründen ergibt. — Nunmehr ist in der T a t — w e n n auch in metaphysischer E i n kleidung — die Notion und somit der b e f e h d e t e „ a b s t r a k t e

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allgemeine Begriff" zugelassen und begründet (vgl. oben S. 41). Ist der Begriff in Strenge nach seiner systematischen Leistung für den synthetischen Aufbau des Gegenstandes der Erfahrung bestimmt, so scheint der schematische Ausdruck „der abstrakten allgemeinen Begriffe" zum polemischen Schlagwort herabzusinken. In der Negation des „Abstrakten" tritt durch limitative Bestimmung die Charakteristik des rationalen Dehkens und der echten Deduktion erst recht hervor. Die Wahrnehmung ist nicht ausreichend, wo es eine Ursache zu bestimmen gilt. Diese beruht auf dem Schlußverfahren. „Nehme ich Gott auch nicht durch die Sinne wahr, so h a b e ich d o c h e i n e n B e g r i f f von ihm oder erkenne ihn durch Selbstwahrnehmung und vernünftiges Denken." (A. a. O. S. 90.) Alle Arten jener die Sinneswahrnehmung ergänzenden Schlüsse werden in dem einen Gottesbegriff zusammengefaßt. Hierin enthüllt sich die Schranke, die dem Begriff der Erkenntnis bei Berkeley durch sein transzendentes und absolutes Fundament gesetzt ist, — Es bleiben noch einige Einwände zu betrachten, welche sich aus dem Gesichtspunkt der materiellen Substanz ergeben. Will man in dieser Hinsicht die Ursache als Bewegung aufgefaßt wissen, so hat man sie damit zur ausgedehnten Substanz gemacht. Die Materie als Wirkung und endlich als Gelegenheit aufgefaßt, bieten die gleiche Schwierigkeit. Entweder man denkt sich unter diesen Bestimmungen der Materie bestimmte sinnliche Eigenschaften wie Teil und Ganzes, Ausdehnung, Gestalt und Bewegung — so wäre die Thesis bewiesen — oder man verbindet überhaupt keinen angebbaren Sinn mit diesen Bezeichnungen oder vermag keinen Grund für die Existenz der so beschaffenen Materie anzuführen. Die Berkeleysche Philosophie vermag allen materialistischen Einwänden gegenüber einen zureichenden Grund der rationalen und verstandesgemäßen Ordnung der Erscheinung anzugeben. Wenn man hypothetisch das Desiderat feststehender und regelmäßiger Ursachen zugibt, bei deren Gegenwart die Vorstellungen in jener beständigen Ordnung erweckt werden, in der wir sie in unserem Geist hervorgebracht sehen, so läßt sich auch dieser Einwand aus den bisherigen Bestimmungen des Idealismus beheben. „Ich frage nur, ob über die Ordnung und Regelmäßigkeit, die sich in den Reihen unserer Vorstellungen oder dem Laufe der Natur betrachten läßt, nicht genügend Rechenschaft gegeben wird durch die Weisheit und Macht Gottes. . ." (A. a. O. S. 75-)

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Die „Ordnung und Regelmäßigkeit", welche wir in den Reihen der Vorstellungen vorfinden, bildet das eigentümliche Problem. Diese Grundfrage wird durch die Annahme einer absoluten Substanz nicht gefördert. „Bemerkst du nicht endlich, daß bei all diesen verschiedenen Bedeutungen der Materie du gar nicht weißt, was du angenommen, noch irgendwelchen Grund und Nutzen davon gehabt hast?" ( A . a . O . S.76.) — Der Schwerpunkt des Systems kann nunmehr als bestimmt gelten. E s kann von hier aus fraglich sein, ob wir die „Ordnung und R e g e l m ä ß i g k e i t " , wie in der transzendentalen Deduktion der Kategorien in der Kritik der reinen Vernunft zu beweisen unternommen wird, „selbst" in die „Erscheinungen" „hineinbringen". (Kritik d. r. V . a. a. O. S. 626.) Nach Berkeley muß es scheinen, daß „die sinnlichen Eindrücke, welche ich wahrnehme" und welche ein Geist „in mir in jedem A u g e n b l i c k " „erregt", in einer gegebenen Mannigfaltigkeit und Ordnung der Erkenntnis vorliegen. — Indes die Idealisierung des Gegenstandes kann auch für Berkeley nicht fraglich sein. Die Transzendenz der Begründung der Erfahrung in der göttlichen Vernunft ist gleichsam nur das Symbol und der metaphysische Ausdruck für die A u f l ö s u n g des Gegenstandes der Erfahrung in Bewußtseinsinhalte. Der Gegenstand ist durch den Bezug auf das göttliche Bewußtsein zwar in einem transzendenten Sein begründet; ebendiese Begründung des Seins im Bewußtsein indes soll die Immanenz des Gegenstandes für das erkennende Bewußtsein sichern. Freilich könnte sich gerade an diesem Punkte der Einwand erheben, welchen Berkeley in ähnlicher W e i s e gegen Malebranche richtet. W e n n überhaupt — so könnte man diesen Einwand ergänzen — ein Sein und eine Natur erforderlich ist, um die substantielle W e l t auf ein ideelles Sein zu beziehen, wenn eine äußere Naturmacht insofern als Ursache der Naturvorgänge erforderlich ist, so sind zwei heterogene Seinsarten gesetzt, die an sich ohne jene metaphysische Vermittlung als disparate Existenz gedacht oder auch als möglich vorgestellt werden. E s ist dies ein Einwand, der sich ganz auf Berkeleysche Prämissen berufen kann. E s ist im letzten Grunde nicht zu verstehen, warum die von mir wahrgenommenen Dinge dadurch an Wahrheit und Realität gewinnen sollen, daß sie sich in einem ü b e r e m p i r i s c h e n unendlichen Bewußtsein von demselben Gattungscharakter erzeugen. 1 ) Die Schwierigkeiten, in welche der metaphysische Gedanke einer göttlichen Einwirkung auf das empirische Subjekt verwickelt, bilden in

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So werden sich, wie hier bereits ersichtlich, die Gefahren der transzendenten Begründung besonders in der Fortentwicklung des Systems fühlbar machen. Die Bedingungen objektiver Wahrheit sind kein lediglich rationales Problem; die Mittel zu ihrer Bestimmung sind somit nicht bis zu den letzten Elementen analysiert worden. — Mit der so bezeichneten einschränkenden Bedingung begründet sich bei Berkeley der Idealismus. — Es handelt sich ferner um die Bestimmung des Verhältnisses von Wahrnehmung und Gegenstand der Wahrnehmung. Ist der Gegenstand nach seinen konstitutiven Bedingungen in bloßer Wahrnehmung enthalten? Zunächst scheint die Identität von Wahrnehmung und Erkenntnis behauptet zu werden. „Frage den Gärtner, warum er glaubt, daß jener Kirschbaum dort im Garten ist, und er wird dir sagen, weil er ihn sieht und fühlt; mit einem Wort, weil er ihn durch die Sinne wahrnimmt." (A. a. O. S. 93.) Geht man zu der Forderung der Perzipierbarkeit hinaus, welche, wie gezeigt (oben S. 37), an die Stelle des bloßen Wahrnehmungsaktes trat, so verbleibt man immerhin im Bereich des vorstellenden Bewußtseins. „Was ist wahrnehmbar außer einer Vorstellung? Kann aber eine Vorstellung bestehen, ohne tatsächlich wahrgenommen zu werden?" ( A . a . O . S. 94-) Die Theorie des Begriffs erhält auch hier von der vertieften und entwickelten Auffassung des Begriffs der Materie neue Beleuchtung. Neben der bloßen Vorstellung und innerhalb derselben hatten bereits die Prinzipien die Beziehung unter Vorstellungen und in dieser Beziehung eine Tätigkeit und eine Eigentümlichkeit begrifflichen Denkens anerkannt und hervorgehoben. (Vgl. oben S. 42.) Die Befehdung des abstrakten Denkens, wie sie sich in der Polemik gegen die abstrakte allgemeine Vorstellung Lockes bekundet, brauchte mithin nicht unbedingt zur Verkennung der schöpferischen Tätigkeit des Gedankens im konstruktiven Aufbau des Objektes der gegenständlichen Erkenntnis zu führen. Freilich nimmt die Bestimmung des Begriffs trotz des empirischen Beweisganges unvermittelt eine metaphysische Wendung. E s gilt, von dem Begriff der einzelnen gegenwärtigen Perzeption zu dem der Perzipierbarkeit fortzuschreiten. Die erste A u f d e r T a t die S t r e i t f r a g e in der DisRussion der B e r k e l e y s c h e n L e h r e . (Cf. Zeitschrift f ü r Philosophie Bd. 58 S . 166 ff. Halle 1 8 7 1 . H o p p e , W a s hat B e r k e l e y s L e h r e v o r der gemeinen A n s i c h t voraus?) C o h e n und N a t a r p , Philosophische Arbeiten VIII, 2.

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Erich Cassirer,

Stellung, welche diesem Zwecke dient, ist in den Prinzipien gemacht worden. Eine entsprechende Bestimmung geschieht nunmehr in den Gesprächen: „Wenn ich sinnlichen Dingen ein Dasein außerhalb des Geistes abspreche, so meine ich nicht m e i n e n b e s o n d e r e n G e i s t , s o n d e r n a l l e G e i s t e r . " (Vgl. a. a. O. S. 88.) Indes bereits die Frage, auf welche dieser Satz die Antwort bildet, enthält die metaphysische Richtung des Denkens. Wenn es sich wie hier darum handelt, was aus den Dingen im hypothetischen Fall der Vernichtung der eigenen Existenz würde, so ist ersichtlich das Dasein in äußerer Wirklichkeit zum Problem geworden; die Frage der Ursache mithin von dem Gebiet ihrer Geltung für das Verhältnis von Vorstellungen untereinander auf das Ganze der Erfahrung übertragen; hier indes verliert der Begriff seine Schärfe und Eindeutigkeit und seine wahre Bedeutung (vgl. hierzu Kant, Proleg. § 29). Indes auch innerhalb der metaphysischen Erwägungen scheint das Interesse der Erfahrung gewahrt zu sein. „Nun ist es klar, daß die Dinge ein Dasein außerhalb meines Geistes führen; f i n d e i c h d o c h durch E r f a h r u n g , daß sie unabhängig von ihm sind. E s g i b t d e m n a c h e i n e n a n d e r e n G e i s t , in dem sie in den Zeiten bestehen, welche zwischen meinen Wahrnehmungen von ihnen liegen. . . . Und da dasselbe für alle endlichen geschaffenen Seelenwesen zutrifft, so folgt daraus notwendig das Dasein eines allgegenwärtigen ewigen Geistes, welcher alle Dinge kennt und begreift. . . ." (A. a. O. S. 88.) Die Existenz und Wirklichkeit der göttlichen Erkenntnis wird zur Bedingung des rationalen Begriffs der menschlichen Erkenntnis. Ich habe, wie es heißt, „in mir selbst eine Art von tätigem geistigen Abbild der Gottheit". ( A . a . O . S.90.) Hier erhebt sich nun ein Einwand gegen die Einschränkung des rationalen Schlußverfahrens auf den Gottesbegriff und seine Ermittlung. Es scheint zunächst von den bisherigen Prämissen aus inkonsequent, irgendwelche Existenz im Nicht-Vorstellbaren zu begründen. Nachdem in diesem Einwand die auf den rationalen Begriff bezogene Realität angedeutet ist, fährt die Argumentation fort: „Oder wenn du den Geist Gottes begreifen kannst, o h n e e i n e V o r s t e l l u n g v o n ihm zu h a b e n , w a r u m s o l l mir n i c h t g e s t a t t e t s e i n , d a s D a s e i n d e r M a t e r i e zu b e g r e i f e n , o b g l e i c h ich k e i n e V o r s t e l l u n g v o n ihr h a b e ? " (A. a. O. S. 89.) Hier ist nun in Strenge der Punkt bezeichnet, von dem aus sich Sinn und Geltung des Begriffs im Unterschiede von der

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sinnlichen Vorstellung für Berkeley bestimmt. Es ist bereits ersichtlich, daß in dieser Ansicht der Begriff einem anderen Bereiche und einer anderen Dimension als der Gegenstand der Erfahrung angehören wird. Selbst das exakte Denken der Mathematik konnte, wie wir sahen, kein Beispiel für die Funktion des Begriffs innerhalb der theoretischen Erkenntnis abgeben. Die mathematische Erkenntnis wurde ausschließlich auf die Sinnlichkeit angewiesen und bezogen. Ich bin mir hingegen, wie nunmehr ausgeführt wird, der eigenen Existenz meines Ichs, welche selbst nicht vorstellbar ist, so sicher wie des Daseins meiner Vorstellungen bewußt; der Analogieschluß von der Erkenntnis des Ich führt zum Begriffe der Gottheit. „Weiter weiß ich, was ich unter den Ausdrücken Ich und Selbst verstehe, ich weiß dies unmittelbar oder durch Eingebung; obg l e i c h ich sie n i c h t w a h r n e h m e w i e ein D r e i e c k , eine Farbe oder einen Ton." (A. a. O. S. 89.) Weshalb also kann es keinen Begriff vom materiellen Sein geben? Die Notionen betreffen die Geister; den eignen Geist, andere Geister und im letzten metaphysischen Sinne den Geist Gottes. Die mathematischen Begriffe jedoch symbolisieren sich in der Anschauung; sie gehören deshalb der Sinnlichkeit und mit ihr der niederen Sphäre des Wissens an. — Wir werden sehen, wie trotz dieser Einschränkungen Begriff und Urteil auch in der Analyse der Erfahrung allmählich eine steigende Bedeutung gewinnen werden. In einem fundamentalen und gleichsam universellen Punkte erblicken wir den Idealismus zur völligen Konsequenz entwickelt. Es darf vom Berkeleyschen Standpunkte aus, soweit er sich bisher präzisiert hat, kein Zweifel an der Selbständigkeit und Vollgültigkeit der Erkenntnis bestehen. In diesem Sinn ist Einwand und Widerlegung des materialistischen Gegners zu verstehen. „Unternimmst du es", so sagt Hylas, „die Gattungen wirklicher Dinge nach den Erscheinungen in deinem Geiste zu unterscheiden, so handelst du vielleicht so klug wie einer, der schließen würde, zwei Menschen wären von verschiedener Gattung, weil ihre Kleider nicht von gleicher Farbe wären. (S. 85 a. a. O.) Hylas, der diesen Einwand erhebt, sucht sich durch ihn im völligen Skeptizismus zu bestärken. Die Materie kann er sich nur als „Ding an sich" denken; ein solches jedoch muß ihm als widerlegt gelten. Der Skeptizismus wird jedoch durch die idealistische Ansicht beseitigt. „Um deutlich zu sein, es ist meine Meinung, daß die wirklichen Dinge eben jene sind, 4*

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welche ich sehe und fühle und durch meine Sinne wahrnehme." 1 ) (S. 87 a. a. O.) Könnte in diesen Sätzen die Sinneswahrnehmung der Erkenntnis gleichgesetzt scheinen, so erklärt sich diese Gleichsetzung aus der Tendenz, den Bestand des Objektes auf das erkennende Bewußtsein zu beziehen und den Gesichtspunkt der Erfahrung zu bestimmen. Wenn es hingegen gilt, den Unterschied von Wahrheit und Schein zu begründen, so kann es nicht bei den Kriterien der Perzeption und Sinnlichkeit sein Bewenden haben. Wir haben Wahrnehmungen im Traume wie im Wachen, von Einbildungen und Chimären wie von wirklichen Dingen. Diesem Problem sind die Mittel der Berkeleyschen Philosophie gewachsen. Im Unterschied von Wachen und Traum handelt es sich nicht um zwei Arten von Realitäten, durch die wir uns in gleicher Weise bestimmt fänden. Die Auflösung dieses Problems wird durch Formbestimmungen zu leisten gesucht. E s ist der einheitliche Zusammenhang und die Verknüpfung der Vorstellungen untereinander, welcher das Wachen vom Traum, Wahrheit von Einbildung unterscheiden läßt. „Sollten sie (sc. die Vorstellungen der Einbildungskraft und die Gesichte des Traumes) auch zufällig noch so lebhaft und natürlich sein, so sind s i e d o c h d a d u r c h , daß sie nicht e i n h e i t l i c h mit d e n vorh e r g e h e n d e n und f o l g e n d e n E r e i g n i s s e n u n s e r e s L e b e n s v e r b u n d e n sind, vom W i r k l i c h e n leicht zu u n t e r s c h e i den." (A. a. O. S. 95.) Die Kriterien der Wahrheit — so wird hier allgemein ausgeführt — bleiben für die idealistische Philosophie bestehen. Diese Kriterien betreffen „wahrgenommene Unterschiede"; „ich möchte dich", so fügt Philonous den Ausführungen hinzu, „auch nicht einer Sache, die du wahrnimmst, berauben". (S. 95 a.a.O.) Wiederum ist der Begriff der Wahrnehmung in bedeutungsvoller Weise variiert und vertieft. Die Wahrnehmung wurde durch die Forderung der Vorstellung oder der Perzipierbarkeit *) F e r n e r : Ein Stück sinnliches Brot z. B. würde meinen H u n g e r besser stillen als zehntausendmal soviel von jenem unsinnlichen, unverständlichen , wirklichen B r o t , von dem D u redest (a. a. O. S. 87). E i n ähnliches Beispiel gibt Collyns Symon in seiner Auseinandersetzung mit U e b e r w e g über die L e h r e Berkeleys: D e r Apfel ist ein süßes, rundes, s c h w e r e s , gediegenes Bild. Das Bild ersetzt nach C. S. den echten Gegenstand, sofern wir unter ihm alle Prädikate der Erkenntnis denken und zusammenfassen. (Cf. Zeitschrift f. Philosophie u. philos. Kritik Bd. 57 S. 139. Halle 1870.)

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korrigiert (vgl. oben S. 37, S. 49f-). Neben der Vorstellung hob sich das bloß logische, keiner Perzeption bedürftige, Moment der Relation heraus (vgl. oben S. 42). Die Wahrnehmung bezeichnet nunmehr auch die logischen und sachlichen Unterscheidungen und Wahrzeichen des erkennenden Bewußtseins. — Der Objektbegriff freilich wird einer hartnäckigen Polemik unterworfen. E r ist der Berkeleyschen Doktrin in doppeltem Sinne verdächtig. Aus ihm scheint sowohl das Vorurteil der absoluten Substanz als auch der abstrakten Ideen zu entspringen. E r behauptet ein Sein außerhalb des Bewußtseins; er droht den strengen Bezug auf Vorstellbarkeit zu verlieren. Indes es gilt zunächst, die positive Leistung des Objekts- und Wahrheitsbegrififs zu beachten und zu entwickeln. Das Verhältnis von Wahrnehmung und Urteil hatte sich bereits aus dem Interesse der Theorie des Sehens am Problem der Verknüpfung der Empfindungen verschiedener Spezies bestimmt. (Vgl. oben S. 31 ff.) Dieser Gedanke der Theorie des Sehens, welcher die Wahrnehmung zum Zeichen der künftigen Wahrnehmung umdeutet und somit in sie selbst die Funktion des vorausbestimmenden Urteils verlegt, wird in diesem Zusammenhange der Gespräche aufgenommen. — E s muß hier, wo es gilt, die Momente der Erkenntnis, Sinnlichkeit und Denken, zu isolieren, der Leitgedanke sein, daß in den Sinnen kein Irrtum ist. E s ist interessant, zu beachten, daß diese Bestimmung auch von der kritischen Ansicht stehen gelassen wird. Hier bei Kant handelt es sich um den Begriff der Erscheinung, welche nicht mit Schein verwechselt werden dürfe. „Denn Wahrheit oder Schein sind nicht im Gegenstande, s o f e r n er a n g e s c h a u t w i r d , s o n d e r n im U r t e i l ü b e r d e n s e l b e n , s o f e r n er g e d a c h t w i r d . . ." (Kritik d. r. V . a. a. O. S. 244.) Wenn ein Ruder, so heißt es im Berkeleyschen Beispiele, welches mit einem Ende im Wasser steckt, als gebrochen erscheint, so besteht der Irrtum nicht in der Wahrnehmung. Der Irrtum entsteht erst in den Folgerungen, welche man aus der gegenwärtigen Wahrnehmung zieht. „Der Irrtum liegt nicht in dem, was er unmittelbar und gegenwärtig wahrnimmt , sondern in d e m f a l s c h e n U r t e i l , d a s er ü b e r d i e V o r s t e l l u n g e n f ä l l t , welche nach seiner Auffassung mit jenen unmittelbar wahrgenommenen verbunden sind; oder über die Vorstellungen, von denen er sich nach dem gegenwärtig wahrgenommenen einbildet, sie würden unter anderen Umständen wahrgenommen werden." (Gespräche a. a. O. S. 99.)

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Wiederum bekundet sich an diesem Beispiel und seiner Beleuchtung der Theoretiker der Gesichtswahrnehmung. Wenn ein Stab im Wasser gebrochen erscheint, der außerhalb des Wassers gerade erscheinen würde, so sind beide Phänomene unter Berücksichtigung der Bedingungen der Wahrnehmung — sei es nun der Beobachtung im Medium der Luft oder der gleichzeitigen im Medium des Wassers — gleich wahr. Die Gesichtswahrnehmung freilich enthält als Prognostikum des Getasts einen Hinweis auf die künftige Tastwahrnehmung. Wenn man aus der Gesichtswahrnehmung -des mit dem einen Ende in Wasser getauchten Stabes auf Tastwahrnehmungen schließt, wie sie den im homogenen Medium der Luft gebrochen erscheinenden Dingen zu entsprechen pflegen, so ist man darin im Irrtum. — So eng nun die Anlehnung an den Akt der unmittelbaren Wahrnehmung bleibt, und, sofern der Begriff zunächst an der Physiologie der Sinne entwickelt wird, bleiben muß, so ist doch andrerseits das Urteil als kritischer Maßstab der Wahrheit und Objektivität anerkannt. Der Sinn des Argumentes läßt sich dahin bestimmen, daß wir, wie wir an sich bestehende Dinge nicht erkennen, so uns auch nicht über sie täuschen, sondern Irrtum und Wahrheit nur in den Urteilen über Vorstellungen stattfindet. — Die Kopernikanische Weltauffassung bietet ein analoges Beispiel dar. Unter anderen Bedingungen — wenn wir uns in einer ebenso großen Entfernung von der Erde befänden, wie jetzt von den übrigen Planeten, würden wir die Bewegung der Erde, die jetzt für uns ruht, wahrnehmen können. Es wäre ein falscher Schluß, aus unserer unmittelbaren Wahrnehmung heraus diesen Sachverhalt zu bestreiten. Wie wir allgemein in der gegenwärtigen Wahrnehmung durch die Verknüpfung, in welcher sie zu späteren bloß möglichen Wahrnehmungen steht, ein Moment der Bedingung und somit für das Objekt der Wahrnehmung die Gültigkeit des hypothetischen Urteils, welches in dieser Anwendung auf Erscheinungen den Begriff der Ursache darstellt, anerkannt fanden, so zeigt es sich auch hier (vgl. oben S. 16, S. 37). Diese Bedingungen und Umstände gehören einer anderen Kategorie als die Wirklichkeit an. Mit der expliziten Anerkennung dieser „Kategorie der Möglichkeit" wäre eine zentrale Frage der kritischen Philosophie erreicht worden. Zu dieser Heraushebung der Kategorien kann indes unsere Betrachtung schon ihrer Aufgabe nach nicht gelangen. Ein Einwand gegen die idealistische Bestimmung der R e a -

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lität erhebt sich von seiten der Physik. Innerhalb der Physik wird die Masse definiert. Die Größe der Bewegung steht nach der physikalischen Definition im direkten Verhältnis zu Geschwindigkeit und Masse. Es ist ein offenbarer Zirkelschluß, der in diesem Nachweis der absoluten Substanz begangen wird. Der volle Inhalt des Satzes bleibt bestehen, wenn sich die Urteile, welche sich auf diese Definition beziehen, nur auf sinnliche Eigenschaften und empirische Phänomene beziehen. „Daß es von den Sinnen wahrgenommene Größe und Dichtigkeit oder Widerstand gibt, gestehe ich bereitwillig zu; wie ich auch gleicherweise nicht bestreiten will, daß Schwere zu diesen Eigenschaften im Verhältnis stehen mag." (Gespräche a. a. O. S. 104.) Es bleibt mithin der volle Gehalt, den die wissenschaftliche „Beobachtung und Zergliederung" der Erscheinungen ergibt, für die idealistische Philosophie bestehen. Berkeley glaubt, den ideellen Gehalt der Theorie aus seinen Prinzipien vollständig erklären, umfassen und begründen zu können. Hierin liegt implizit die Anerkennung, daß die theoretische Vernunft ein „materielles Substrat" der „Kräfte" und „Eigenschaften" in der Tat nicht voraussetzt. Gerade der moderne Massenbegriff, der die Bedeutung eines konstanten Faktors der Gleichungen in dem Maßausdruck der Kräfte, die an einem bestimmten Naturkörper angreifen, erhält, könnte diesen Sachverhalt beleuchten und bestätigen. Die Masse bezeichnet hier das beharrliche Größenverhältnis irgendwelcher beliebiger auf den durch sie definierten Körper wirkender Kräfte, zu den bewirkten bezüglichen Beschleunigungen: m = = = . . . Der Naturkörper reduziert sich mithin auf den genauen Sinn, welchen der Massenbegriff im System der Prinzipien der Mechanik gewinnt und bezeichnet. Nach Hylas ist die Sinnlichkeit die leere Form der Dinge. Im Gegensatze zu ihm, der die sinnlichen Formen, welche man doch einzig wahrnimmt, zu leeren Erscheinungen machen will, macht Philonous sie zu wirklichen Wesen. (A. a. O. S. 107.) l ) Somit kann dem Objektbegriff durch die Beziehung zum Urteil, sei es nun der Physiologie oder der Physik oder schließ*) E i n e analoge Bemerkung findet sich in der Kritik d. r . V . hinsichtlich der Zeit. E s heißt hier: „Die Zeit ist allerdings etwas Wirkliches, nämlich die wirkliche F o r m der inneren Anschauung." (A. a. O. S . 67.)

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lieh des unerläßlichen B e z u g e s alles gegenständlichen D e n k e n s und E r k e n n e n s auf W a h r n e h m u n g , ein positiver Sinn und eine B e d e u t u n g a b g e w o n n e n werden. W i l l der G e g e n s t a n d über diese B e s t i m m u n g e n hinaus, welche sich aus der bisherigen A n a l y s e ergaben, einen an sich b e s t e h e n d e n Inhalt oder irgendeine A r t absoluter E x i s t e n z bedeuten, so ist er eine unberechtigte Annahme. D e r G e g e n s t a n d s b e g r i f f wird in dieser A b s i c h t in seine konstituierenden Bestandteile zerfällt. Diese Zerfällung birgt eine Gefahr in sich. Gilt es nicht, den G e g e n s t a n d ger a d e in seiner B e d e u t u n g als Einheit und als Einheit des P r o b l e m s zu begreifen? K a n n das Erfahrungswissen ü b e r h a u p t der Denkeinheiten und jedes begrifflichen A u s d r u c k s des Begriffes der Substanz entraten? D i e T e n d e n z des G e d a n k e n s erweist seine relative Berechtigung. — „In strengem Sinne, H y l a s " , so führt der Idealist Philonous aus, „ s e h e n wir nicht denselben G e g e n s t a n d , den wir fühlen." N u r der G e b r a u c h der S p r a c h e erfordert die N o m e n k l a t u r der D i n g e . In strenger Durchführung des sensualistischen Motives wird hier das Ding in so viele Einzelwesen zerfällt, als es W a h r n e h m u n g e n von ihm gibt. Dieser G e d a n k e von der V e r s c h i e d e n heit der Wahrnehmungsinhalte wird zur schroffsten K o n s e q u e n z geführt. Gleichheit und Identität sind Relationen, die eine gewisse W i l l k ü r der Bezeichnung, im modernen A u s d r u c k eine „ k o n v e n t i o n e l l e " B e s t i m m u n g in sich schließen. Sie sind auf v e r s c h i e d e n e Wahrnehmungsinhalte nicht in S t r e n g e anwendbar. W i e d e r u m ist hier das S t r e b e n ersichtlich, den A n t e i l des D e n k e n s und der A n s c h a u u n g in der B e s t i m m u n g des Begriffs der E r k e n n t n i s zu unterscheiden. Bleiben wir streng bei der W a h r n e h m u n g , so sind verschiedene W a h r n e h m u n g s i n h a l t e verschiedene O b j e k t e . D i e Relationen der Gleichheit und Identität verfallen, a m äußeren O b j e k t e gemessen, d e m Urteilsspruche der A b s t r a k t i o n . „ N e h m e n wir ein Haus, dessen Mauern oder A u ß e n s e i t e unverändert stehen bliebe, während die Zimmer alle niedergerissen und neue an ihrer Stelle erbaut würden, und d u nenntest es das gleiche, ich aber sagte, es sei nicht das gleiche H a u s ; würden wir nicht trotz alledem in unseren V o r s t e l l u n g e n d e s H a u s e s an sich betrachtet völlig übereinstimmen? Solltest du sagen, unsere Begriffe weichen voneinander ab, weil du deiner V o r s t e l l u n g des Hauses noch überdies die abstrakte V o r s t e l l u n g der Identität hinzufügtest, während ich es nicht tue, s o würde ich dir erwidern, d a ß ich nicht w e i ß , was du unter d e r abstrakten Idee der Identität verstehst." ( A . a . O . S. 112.)

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Hier ist ersichtlich der Begriff der Identität in der Annahme angewandt, daß an der Stelle des früheren Hauses, welches in gewisser Beziehung „unverändert" bleibt, ein in gewisser Beziehung verschiedenes Haus errichtet werde. Wenn jedoch die Identität nicht als abstrakte Vorstellung und abstraktes Denken oder als Bestimmung eines äußeren Urbildes verstanden wird, so vermag auch das idealistische System „den Ansprüchen der Identität zu genügen". Dasjenige Urbild, welches hier vorschwebt und welches außerhalb des wahrnehmenden Subjekts besteht, „muß in jenen Geist versetzt werden, welcher alle Dinge begreift". (A. a. O. S. 1 1 2 . ) Beachten wir die Natur der Wahrnehmungen, so können wir den Begriff der Gleichheit auf verschiedene Wahrnehmungen, welche eine Gleichförmigkeit aufweisen, zwar anwenden; wir dürfen jedoch nicht denken, ein dem Begriff adäquates Sein in der Natur zu finden. Die Betonung und Heraushebung des Gleichförmigen und Ungleichförmigen auf Seiten des Betrachters bestimmt, ob ein Ding als gleich oder ungleich bezeichnet werde. Wenn sich nun, wie hieraus ersichtlich, die Sinneseindrücke je nach Zeit und Raum und den besonderen Bedingungen ihres Daseins unterscheiden, so läßt sich dennoch „eine Verbindung" von ihnen „in der Natur entweder bezüglich ihres Zugleichseins oder ihrer Aufeinanderfolge" beobachten. (A. a. O. S. 108.) E s können mithin Inhalte, die psychologisch verschieden sind, als konstante Verknüpfungsweisen im Beisammen des Raumes und im Nacheinander der Zeit als ein Ding unter einem Namen zusammengefaßt werden. „Und, wenn ich durch ein Mikroskop sehe, so geschieht es nicht, um deutlicher wahrzunehmen, was ich schon mit bloßen Augen wahrgenommen hatte; ist doch der durch das Glas wahrgenommene Gegenstand ganz verschieden von dem früheren. Aber in beiden Fällen ist es bloß mein Ziel, zu erkennen, welche Vorstellungen untereinander zusammenhängen . . ." (A. a. O. S. 108.) Das Interesse an den kategorialen Bestimmungen, welche den Begriff der Erkenntnis konstituieren, ist mit dieser A u f hebung des Identitätsverhältnisses ersichtlich im Stich gelassen. Das ideelle Maß der Gleichheit, an welchem die Platonische Ideenlehre den Gedanken der Wiedererinnerung und die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Bedingungen des erkennenden Geistes demonstrierte, wird hier verworfen. Dieselben Argumente, welche hier gegen den Begriff der Gleichheit und seine Existenz angeführt werden, führten dort zur eigentlichen Begründung der

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Idee der Gleichheit. Gleichheit und Ungleichheit ist nicht in den Dingen; dieselben Steine und Hölzer können bisweilen dem einen gleich, dem andern ungleich scheinen. „Erscheint dir jedoch das Gleiche an sich selbst bisweilen ungleich, oder die Gleichheit als Ungleichheit?" (Piatons Phaedon 74 bes. B.) E s kann hier nicht als Einwand gelten, daß die Erfahrung für die Anwendung des Begriffs der Gleichheit kein adäquates Beispiel liefert. 1 ) Die Betrachtungen des Platonischen Idealismus gehören, wie man sieht, einer anderen Gattung und einer anderen Disziplin des Gedankens an. E s ist — kurz bezeichnet — der Gegensatz der auf Grundlegungen des „reinen Denkens" beruhenden „analytischen Methode" Piatons zur bloßen Analyse der Erscheinung bei Berkeley, welche erst nachträglich die Momente der Synthesis in der Anerkennung von Relationen und Notionen herausstellt. 2 ) Die Leugnung der Identität durch Berkeley ist aus der Befehdung der Vorstellungskorrelata allgemeiner Begriffe verständlich. W i e die Erfahrung im metaphysischen Gottesbegriff begründet wird, so wird analog die Identität aus der spiritualistischen Gesamtanschauung abgeleitet. Die Schwierigkeiten, auf welche die A u f hebung der Identität des empirischen Gegenstandes führt, betreffen insbesondere den mathematischen Größenbegriff. E s ist ersichtlich, wie in dieser Ansicht die G r ö ß e ihren Bestand und somit ihren mathematischen Sinn als Funktion und Relation verliert und in ein sinnlich Relatives verwandelt wird. — 3 ) Hier in unseren Erörterungen verfolgt die Polemik ein Ziel, welches in einer anderen Richtung als jene Fragen liegt. E s gilt, die Betrachtung von der sogenannten Materie abzulenken und auf die Beobachtung und Erforschung des Zusammenhangs der V o r stellungen zu restringieren. „Je m e h r j e m a n d v o n d e m Z u s a m m e n h a n g der V o r s t e l l u n g e n e r k e n n t , um so mehr E r k e n n t n i s v o n d e r N a t u r d e r D i n g e darf man ihm zusprechen." (A. a. O. S. 108.) Die Widerlegung der Materie entwurzelt den dogmatischen Begriff der Ursache. Die materielle Ursache enthält kein Prinzip der T ä t i g k e i t , wie sich bereits gezeigt hat. E s bestände für die materielle Betrachtung der Ursache die Schwierigkeit, „zu begreifen, wie ein Zustand von einem K ö r p e r auf einen anderen 1 ) Cf. Phaedon 75a. Wir „wurden inne, daß alles dieses danach strebt, wie das Gleiche zu sein, jedoch unvollkommner ist." 2) Zum Begriff der imodeoig vgl. Phaedon 101 D. ®) Vgl. zum Problem der RelationbeiLeibnizundBerkeleyunten S.75ff.

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übergehen sollte." (A. a. O. S. 124.) Hier ist es geschichtlich interessant zu bemerken, daß Kant das von Hume gestellte' Problem in ähnlicher Weise bezeichnete, „es ist . . gar nicht abzusehen, wie darum, weil etwas ist, etwas anderes notwendiger Weise auch sein müsse . . ." (Proleg. a. a. O. herausg. von Cassirer S. 5.) Eine solche Verbindung läßt sich im Bewußtsein sehr wohl denken; sie ist in demjenigen einheitlichen Erfahrungskontexte vorgezeichnet, welchen hier die Gottesidee als Prototyp der Idee verbürgt. Auch die Fragen der Mathematik scheinen von den Prinzipien der rationalen Erkenntnis neues Licht zu erhalten. Die Paradoxien, welche in der unendlichen Teilbarkeit der Ausdehnung liegen, schwinden für Berkeley mit dem Wegfall der an sich bestehenden ausgedehnten Substanz. — Berkeley konnte glauben, die Fragen der Mathematik von dem Bezug auf die Dinge befreit und auf den denkenden Geist bezogen zu haben. In dieser Bestimmung liegt in der T a t die K r a f t und Fruchtbarkeit seiner Kritik. Die Schwierigkeiten und Konflikte, in die sich Berkeley mit der mathematischen Forschung geführt sehen wird, beruhen in der Tat einzig in der Auffassung vom Wesen und der Geltung des Begriffs. — Der Glaube an die Außenwelt führt, wie nun zusammenfassend ausgesprochen wird, zum Skeptizismus. „In der Metaphysik nun: Welchen Schwierigkeiten inbetreff der abstrakten Wesenheit, der substantiellen Formen, der hylarchischen Grundsätze, der plastischen Naturen, von Substanz und Akzidenz, des Prinzips der Individuation, der Möglichkeit vom Bewußtsein in der Materie, des Ursprungs der Vorstellungen, der A r t , wie zwei unabhängige so himmelweit verschiedene Substanzen, wie seelische und materielle, wechselseitig aufeinander wirken sollten, welchen Schwierigkeiten, sage ich, . . entgehen wir nicht, wenn wir nur Seelenwesen und Vorstellungen annehmen? — Oder kannst du mir nur einen Beweisgrund gegen die Wirklichkeit körperlicher Dinge oder zugunsten jener verkündeten völligen Unwissenheit über die Naturen anführen, welcher ihre Wirklichkeit nicht in ein äußeres absolutes Dasein setzt?" (S. 125 a. a. O.) — Aus diesem Gesichtspunkt der Identität von Denken und Sein läßt sich erst die Verwechslung der Erscheinung mit dem Schein beheben. Der Wechsel der Farben am Hals der Tauben oder die Erscheinung des gebrochenen Ruders im Wasser lassen diese Phänomene nur dann als Schein gelten, wenn die äußere

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Wirklichkeit als starres und unkontrollierbares Sein gedacht wird. „Aber diese und ähnliche Einwände werden zunichte, wenn wir das Vorhandensein absoluter äußerer Vorbilder fallen lassen und die Wirklickeit der Dinge in Vorstellungen setzen, in fließende zwar und veränderliche; — verändert aber doch nicht aufs Geratewohl, sondern nach der festen Naturordnung." (S. 125 a. a. O.) — IV. Wahrnehmung und Erkenntnis. Die Aufgabe der Erkenntniskritik führt, wie die Entwicklung der Geschichte der Philosophie zeigt, auf die Frage, welchen Anteil das Denken und welchen Anteil die Empfindung in der theoretischen und empirischen Erkenntnis besitzt. So sieht sich das Problem der Erkenntnis seit seiner ersten Begründung durch Piaton auf die Ermittlung des Verhältnisses von Denken und Empfindung, Wahrnehmen und Erkennen hingeführt. Hier entsteht unvermeidlich die Frage, ob Wahrnehmung nicht selbst Erkenntnis ist; scheint doch jede Naturerkenntnis an ihre Bedingungen und ihre Ausübung unerläßlich geknüpft. So rückt denn im modernen Ausdruck der Terminus der Anschauung in den Vordergrund der Betrachtung. Die Kritik der reinen Vernunft scheint den bezeichneten Standpunkt zu vertreten: „Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel." Indes beginnt die kritische Betrachtung erst eigentlich, indem sie ihr Problemgebiet von dem der Psychologie abgrenzt. In diesem Sinne wird zwischen dem „Prinzipium der Möglichkeit der Begriffe" und den „Gelegenheitsursachen ihrer Erzeugung in der Erfahrung" unterschieden; die Kritik erneuert hier die platonische Bestimmung der Wahrnehmung als Paraklet des Denkens. — Das psychologische Interesse wird dabei voll gewürdigt; jedoch nach seinem Unterschied von der Aufgabe der Kritik bezeichnet: „Ein solches Nachspüren der ersten Bestrebungen unserer Erkenntniskraft, um von einzelnen Wahrnehmungen zu allgemeinen Begriffen zu steigen, hat ohne Zweifel seinen großen Nutzen, und man hat es dem berühmten Locke zu verdanken, daß er dazu zuerst den .Weg gewiesen hat. Allein eine Deduktion der reinen Begriffe a priori kommt dadurch niemals zustande . ." (A. a. O. S. 105.) Die eigentliche Frage der Kritik ist somit auch dem Systeme Berkeleys fremd; auch dieses ist im bezeichnenden Ausdruck der Kritik „physiologisch" orientiert; die Ver-

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hältnisbestimmung von Denken und Wahrnehmung reduziert sich auf die „physiologische Ableitung" des Denkens und Erkennens aus der Wahrnehmung. Nur das von der Kritik zugestandene psychologische Interesse, welches diese freilich den fundamentalen Fragen nach den Bedingungen der theoretischen Vernunft unterordnet, kann hier zunächst zu Worte gelangen. Die Abstraktion des allgemeinen Begriffs, von dessen Wirklichkeit die „Deduktionen" der Kritik ausgehen, muß hier im Sinne der psychologischen Erklärung bestritten werden. Das Denken muß vielmehr, um Objektivität zu besitzen, eine Besonderheit des Bewußtseins darstellen. Das Interesse der physiologischen Optik bestimmte hier in Verbindung mit den allgemeinen Voraussetzungen der Lockeschen Philosophie, wie wir sie durch Kant charakterisiert sahen, den Begriff der Erkenntnis selbst. — Es ist offenbar, wie das Problem der Erkenntnis hier verkürzt und nach seiner Tragweite und seinem Schwerpunkt verkannt wird. Diese Einseitigkeit könnte an dem Maßstab der Aufgabe der Begründung des exakten Wissens, von Mathematik und mathematischer Naturwissenschaft gemessen, unverständlich erscheinen. Die strenge Beziehung indes, in welche hier das Denken zu einem bestimmten Problemgebiet, der „Theorie des Sehens", gesetzt wird, gibt dem Begriffe der Erkenntnis Inhalt und Objektivität und der Untersuchung eine methodische Richtschnur. — Im ersten Dialog der Gespräche wird das Programm der reinen Perzeption ins Auge gefaßt. In dieser Restriktion auf die unmittelbare Sinneswahrnehmung beruht die eigentümliche Kraft und Eigenart dieser Ausführungen. Sie bezeichnet, wie wir sahen, die besondere individuelle Richtung des Berkeleyschen Denkens, insofern sie durch das Interesse der Physiologie der Sinne bestimmt ist. Der individuelle Zug des Denkens ergreift hier ein Objekt, an dem er sich versucht, und die objektive Forschung wirkt umgekehrt auf die Denkweise zurück. In diesem Sinne wird die Reinigung der Vorstellung von allem begrifflichen Beiwerk und philosophischer Deutung zum Problem. Daher richtet sich die Frage überhaupt nicht auf die körperlichen Substanzen, sondern vielmehr einzig auf die spezifische Leistung und Weise der Sinne und ihren Gegenstand. — So gilt es, in erster Linie von der Ursache zu abstrahieren. Die Ursache ist nicht ein sinnliches Ding, sondern wird durch Vernunft erschlossen. „Daher ist die Ableitung von Ursachen oder Veranlassungen aus Wirkungen oder Erscheinungen, welche allein durch Sinne wahrgenommen werden, ganz und gar Sache

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der Vernunft." (Gespräche S. 15.) Nach dieser Einstellung des Problems auf die unmittelbare Sinneswahrnehmung wird die Klassifikation der Sinne vollzogen: „Bitte mir noch weiter mitzuteilen", so führt Philonous aus, „ob wir durch das Gesicht irgendetwas außer Licht, Farben und Gestalten unmittelbar wahrnehmen, oder durch das Gehör irgendetwas außer Tönen; durch den Gaumen irgendetwas außer Geschmacksempfindungen, durch den Geruchssinn etwas anderes als Gerüche; oder durch das Getast mehr als tastbare Eigenschaften." (A. a. O. S. 16.) In diesen Sätzen ist bereits die Voraussetzung der Physiologie beschrieben, welche in der genauen Formulierung durch Johannes Müller als die Tatsache der spezifischen Sinnesenergien bezeichnet wird. Diese physiologische Erkenntnis ist in neuerer Zeit für die kritisch orientierte Psychologie fruchtbar gemacht worden. (Cohen, Kants Begründung der Ästhetik S. 155.) „Es folgt daraus zunächst", so heißt es über die Lehre bei Helmholtz, „daß der eigentümliche Modus, wodurch die Lichtempfindung sich von allen anderen Empfindungen unterscheidet, nicht etwa von ganz besonders eigentümlichen Eigenschaften des äußeren Lichtes abhängt und solchen entspricht, sondern daß jede Eigenschaft, welche eben fähig ist, den Sehnerven in Erregungszustand zu versetzen, Lichtempfindung hervorbringt . . ." (Helmholtz, Vorträge und Reden, Bd. 1 S. 300. 5. Aufl. 1903.) Die Beschaffenheit des objektiven Lichtes oder irgendeines Reizes kommt für die Empfindung nicht in Frage; diese ist vielmehr durch die Spezies des erregten Sinnesorgans bestimmt. Die Geschichte der Probleme bestätigt somit das Recht Berkeleys, in der Erörterung der unmittelbaren Sinneswahrnehmung von den Objektivierungen der Empfindungen zur Schwingungszahl usf. abzusehen. — Neben dem besonderen Interesse an der spezifischen Eigenart der Sinne ist hier ein allgemeiner philosophischer Gedanke maßgebend. Wiederum handelt es sich um die Nichtigkeit des Beweises für die Entstehung des Bewußtseins unter Voraussetzung des physischen Einflusses. „Phil. Es scheint also, daß das Licht nichts tut, als die Sehnerven erschüttern. Hyl. Nichts weiter. Phil. Infolge einer jeden besonderen Bewegung der Nerven wird also im Geist eine Empfindung hervorgerufen, welche irgendeine besondere Farbe ist. Hyl. Richtig. Phil. Und diese Empfindungen haben kein Dasein unabhängig vom Geist. Hyl. Nein. Phil. Wie kannst

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du denn behaupten, d a ß die F a r b e n im L i c h t e s i n d ; da du unter L i c h t eine körperliche Substanz außerhalb des G e i s t e s verstehst?" (S. 33.) — Ein analoger E i n w a n d erhebt sich an einer späteren Stelle: „ W e l c h e V e r b i n d u n g besteht denn zwischen einer B e w e g u n g in den N e r v e n und den T o n - oder F a r b e n e m p f i n d u n g e n im G e i s t ? " (S. 62.) V o n hier aus ergibt sich nun, d a ß der Begriff der äußeren Ursache oder d e s R e i z e s außer A c h t gelassen w e r d e n darf. Die T h e o r i e des S e h e n s stellt das erste Beispiel für dieses P r o b l e m dar (s. oben S. 20 ff.). Hier wurden die geometrischen L i n i e n , welche beanspruchen, als Ursache der G r ö ß e und des S t ä r k e g r a d e s des Lichtbildes zu gelten, als bloße Mittel der E r k l ä r u n g bezeichnet, welche fälschlich an die Stelle des G e g e n s t a n d e s der unmittelbaren G e sichtswahrnehmung zu rücken drohen. In entsprechender W e i s e gilt es allgemein, von der körperlichen Ursache zu abstrahieren, weil nur der G e g e n s t a n d der Sinne in F r a g e steht; es gibt ferner bis zu diesem P u n k t e der B e t r a c h t u n g nur G e g e n s t ä n d e der unmittelbaren Perzeption oder der sinnlichen E m p f i n d u n g . In den Prinzipien war bereits für die Mechanik die Ursachenerklärung geleugnet worden. D a s „ g r o ß e mechanische P r i n z i p " der A t t r a k t i o n ist hiernach keine ursächliche Erklärung. Es bezeichnet nur die wahrnehmbare T e n d e n z der K ö r p e r , sich in bestimmter W e i s e zu nähern; die eigentliche Ursache d e r S c h w e r e als Z u g oder S t o ß w e r d e hierdurch nicht bestimmt. In dieser A u f f a s s u n g berührt sich B e r k e l e y mit N e w t o n , welcher ausdrücklich betont, er wolle durch seine Prinzipien nicht etwa „ d i e A r t und W e i s e der W i r k u n g oder die physische U r s a c h e " ergründen oder erklären. (Sir Isaac N e w t o n s math. Prinz, der Naturlehre, herausg. von W o l f e r s 1872 S. 25.) D i e Einsicht in die Relativität der W a h r n e h m u n g , ihre U n beständigkeit als Inhalt und ihr F l i e ß e n , scheint den B e w e i s g e g e n die absolute S u b s t a n z zu liefern. In diesem Z u s a m m e n h a n g wird die Relativität der W a h r n e h m u n g entwickelt und beleuchtet. D i e Qualitäten des W a r m e n und K a l t e n , S ü ß e n und Bittern usf. sind in der S p r a c h e der Kritik bloße „Modifikationen des S i n n e s " ; des Gefühls, G e s c h m a c k s usf.* W a s der warmen H a n d kalt erscheint, erscheint der kalten H a n d w a r m . (S. 22.) W a s unter normalen B e d i n g u n g e n s ü ß erscheint, erscheint d e m kranken G a u m e n bitter. (S. 25.) Eine solche V e r ä n d e r u n g der W a h r n e h m u n g , ohne eine Ä n d e r u n g in den O b j e k t e n , wäre unverständlich, wenn die G e g e n s t ä n d e der W a h r n e h m u n g „an sich" bestünden. E b e n s o w e n i g sind die T ö n e

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außerhalb des Geistes an sich bestehende Bewegungen, wie sie die mathematische Physik beschreibt und behauptet. W o sollten jene Bewegungen bestehen? In einer körperlichen Substanz? Sie ist nicht Gegenstand der Untersuchung und außerdem als Erklärungsgrund für die Wirklichkeit und die Entstehungsweise der Empfindung bereits widerlegt. — „Du mußt, Philonous, zwischen dem T o n , wie er von uns wahrgenommen wird, und wie er an sich selbst ist, unterscheiden" — sagt Hylas. Indes selbst, wenn der Philosophie der Physik ein materielles Substrat der Tonschwingung zugestanden werden müßte, so ist doch hier nur die Tonempfindung als solche Problem. Die Bewegung und Schwingung mag nach Maß und Zahl und Gestalt ein Mittel der objektiven Bestimmung und Erkenntnis des Tones sein; sie ist nicht derjenige eigentümliche Modus des Bewußtseins, welchen wir Tonempfindung nennen. „ E s ist also vernünftig" — so heißt es ironisch — „von Bewegung als von einem Ding zu sprechen, das laut, süß, scharf oder tief ist" ? (S. 27 a. a. O.) — Die Relativität wird eingehend am Problem der Farben durchgeführt. Hylas, welcher die Farben in den Dingen sucht, sieht sich von Philonous auf einen bemerkenswerten Widerspruch geführt. Eine purpurne Wolke, welche die Unterredner wahrnehmen, würde sich bei der Annäherung in einen dunklen Dunst verwandeln. Welche Farbe ist nun in der wirklichen Wolke? Ein zweites Beispiel dieses Phänomens bildet die mikroskopische Betrachtung. Sie stellt, wie» die Optik lehrt, die Verhältnisse des Sichtbaren am exaktesten dar. In der mikroskopischen Betrachtung ändert sich nun die Farbe des Gegenstandes, welcher zuvor mit bloßem Auge gesehen wurde. Wiederum fragt es sich, welche d i e w a h r e F a r b e d e s O b j e k t s sei, wenn doch die unmittelbar wahrgenommene sich als scheinbar oder wenigstens nach den Umständen der Beobachtung wechselnd gezeigt hat. — In jedem Fall ist die Gesichtswahrnehmung durch die Beschaffenheit und den Organismus des Auges bestimmt. E s gibt Tiere, „deren Augen von Natur so gebaut sind, daß sie Dinge wahrnehmen, welche wegen ihrer Winzigkeit sich unserm Blick entziehen." Ein solches Lebewesen, welches selbst wir nur mit Vergrößerungsgläsern wahrnehmen, dessen Sehorgan wir dem Zwecke der Erhaltung angepaßt denken müssen, empfängt von den Gegenständen eine von der unsrigen sehr verschiedene Anschauung. — E s ist ferner der Fall der Krankheit zu beachten wie z. B. der Gelbsucht, in welcher alle Dinge gelb erscheinen.

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Ein prinzipieller Gedanke, welcher die Argumentation in Piatons Theätet beherrscht, leitet auch unsere Erörterungen im Problem der Wahrnehmung. Hier ging die Diskussion des Relativitätsproblems von drei Axiomen aus. Erstens werden wir sagen, „daß niemals irgend etwas mehr noch weniger werde, weder der Ausdehnung noch der Zahl nach, solange, als es sich selbst gleich ist". „Zweitens auch wohl, daß, wem nichts zugesetzt noch auch abgenommen wird, dieses niemals weder wachse noch schwinde, sondern immer gleichbleibe." „Nicht auch das Dritte, nämlich, was vorher nicht war, daß dieses doch auch nachher unmöglich sein könne, ohne geworden zu sein und zu werden ?" Der erste Grundsatz definiert die Identität durch den Gesichtspunkt der Identität von Ausdehnung und Zahl. Der zweite Grundsatz stellt die Umkehrung des ersten dar. Er definiert die Identität als eine Nicht-Änderung der Ausdehnung und Zahl. . Der dritte Grundsatz endlich stellt als Bedingung für das Verschiedensein zu verschiedenen Zeitpunkten das Werden auf. Im Problem der Relativität zeigt sich nun, wie wir es in allen unseren Fällen sahen, eine Änderung der Größe ohne zugehöriges Werden. Die aufgestellten Grundsätze scheinen mithin verletzt. Hier kann nur die Relativität der Bestimmungen der Grund der Änderung sein und die Einsicht in diese das Problem klären. Die Größe ändert sich hier durch die Änderung des Maßstabes der Vergleichung. So ergibt sich, daß sie in keiner dinglichen Existenz gegeben ist. — Entsprechend vollzieht sich die Lösung der Frage bei Berkeley. Wäre die Farbe eine „äußeren Körpern innewohnende Eigenschaft", so könnte sie „keinen Wechsel zulassen" „ohne eine in den Körpern bewirkte Veränderung". Die Analyse der Wahrnehmung führt von sich aus auf die Hinfälligkeit der Annahme einer absoluten Substanz. Die Farben sind „gleichermaßen scheinbar"; sie bestehen nicht an sich und haben im absoluten Sinne keine Seinsbedeutung abseits von den Bedingungen und der Bezüglichkeit zum perzipierenden Geiste. Die Farben eines Gegenstandes wechseln, wie sich zeigte, gemäß den Bedingungen des Versuchs, gemäß der Entfernung des Objekts, dem physikalischen Apparate, sei es das natürliche Auge verschiedener Lebewesen oder das Mikroskop, und gemäß der jeweiligen Beschaffenheit der Säfte des Auges des Beobachters. ') Piatons Werke übers, von F. Schleiermacher. C o h e n u n d N a t o r p , Philosophische Arbeiten VIir,2

Theätet 155. 5

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Die bloße Lageänderung, die verschiedene Beleuchtung der Gegenstände genügt, um ihre Farbe verschieden erscheinen zu lassen. Ein merkwürdiges Beispiel für die Bedingtheit der Farbe bietet die Trennung der ungleichartigen Strahlen bei dem Versuch mit dem Prisma dar. E s ist eben diese von Newton gefundene Tatsache der Zusammengesetztheit des weißen Lichts, welche nach Helmholtz der erste Keim der neuen Lehre von den Sinnesenergien war. 1 ) Hier erhebt sich notwendig die Frage, welche von allen geflannten Bedingungen die Farbe des Körpers erscheinen läßt, sofern diese als Eigenschaft der Dinge gedacht wird. „Und nun sage mir, ob du noch der Meinung bist, daß jedem Körper seine wahre, wirkliche Farbe innewohnt, und glaubst du es dennoch, so wüßte ich gern weiter von dir, welche bestimmte Entfernung und Stellung des Gegenstandes, was für besonderes Gewebe und Bau des Auges, welcher Grad und welche Art von Licht zur Feststellung dieser wahren Farbe und zur Unterscheidung von der scheinbaren notwendig ist." (Gespräche a. a. O. S. 32.) S o sehen wir, wie der Gedanke von der Abhängigkeit und Relativität der Farbe von Berkeley aufgenommen, in Klarheit entwickelt und in seine Konsequenzen verfolgt wird. — Die Wahrnehmung ist mit dem Gefühlsmoment der Lust und Unlust verbunden. Diese Verbindung wird für die Farbe nicht besonders erwähnt; sie besteht jedoch allgemein selbst für Ausdehnung, Gestalt und Bewegung. (S. 39.) 2 ) E s zeigte sich bereits früher, daß die primären Sinnesqualitäten sich in der fraglichen Beziehung nicht wesentlich anders wie die sekundären verhalten. (Oben S. 28. 40.) Daher läßt sich leicht auf sie die Anwendung machen. Entfernungen, Gestalten, Größen beruhen auf der Beschaffenheit des Sehorgans und den Bedingungen, unter denen die Wahrnehmung stattfindet. „Phil. V o n einer Milbe muß man . . . voraussetzen, daß sie ihren eigenen Fuß und gleich kleine, oder selbst kleinere Dinge als Körper von ganz beträchtlichen Größenverhältnissen sieht, . . . . Phil. Und kleineren Geschöpfen als der Milbe werden sie noch größer erscheinen? Hyl. Jawohl." (S. 35.) Demnach besteht „groß und klein" „einzig in der Beziehung anderer ausgedehnter ') Vorträge und Reden a. a. O. Bd. 1 S. 320. ) Für die Psychologie der kritischen Philosophie vgl. hierzu den Terminus des „Gefühls", Cohen, Kants Begründung der Ästhetik S. 167 oben. 2

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Wesen zu den Teilen unseres eigenen Körpers" (S. 39). E s ist nun nicht begreiflich, wie ein und dasselbe Ding zu gleicher Zeit verschiedene Größen besitzen sollte, insofern vorausgesetzt wird, daß jede Größe wahr und absolut ist. Wiederum begegnen wir dem von Platon-Sokrates bezeichneten Widerspruch. Die Änderung der Eigenschaften eines Dinges ohne Änderung in dem Dinge selbst ist absurd; die Setzung des Dinges und dinghaften Bestandes ist mithin hier unzulässig. — Mit der Entfernung ändert sich Ausdehnung und Gestalt eines Dinges, ohne eine im Dinge bewirkte Veränderung. Die mikroskopische Betrachtung verglichen mit der unmittelbaren dient zur Beleuchtung des gleichen Sachverhalts. — Der materialistische Gegner Hylas sucht indes die Ausdehnung an sich zu verteidigen. Ihre Annahme stützt sich auf die Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten, welche sich in der Philosophie Lockes aus der Analyse des Erkenntnisvermögens ergab. Ein Zusatz zur dritten Auflage entgegnet auf diesen Einwand wiederum mit dem Hinweis auf die Konsequenzen der Annahme einer materiellen Substanz als „Substrates der Ausdehnung". „ S e i die sinnliche Eigenschaft, welche sie wolle — Gestalt, Ton oder Farbe, es scheint unmöglich, daß sie in einem Etwas, welches diese Qualitäten nicht wahrnimmt, Bestand habe." (A. a. O. S. 37 oben.) Auch der Zeitbegriff und mit ihm der Begriff der Bewegung empfängt von hier aus eine neue und eigentümliche Beleuchtung. Wiederum gibt die Konsequenz des idealistischen Grundgedankens dem Problem die Schärfe der Bestimmung. Die Geschwindigkeit steht, wie hier ausgeführt wird, nach ihrer physikalischen Definition im umgekehrten Verhältnis zur Zeit, welche ein Körper braucht, um einen gegebenen Raum zu durchmessen. „Und mißt man nicht die Zeit nach der Folge der Vorstellungen in unserm Geist?" (S. 37.) Wie wir für die Bewegung einen Bezugskörper brauchen, in bezug auf welchen ihr Vorgang stattfindet und definiert ist, so bedarf die Zeitmessung eines Ablaufs von Vorstellungen, einer empirischen Zeitreihe als Koordinate der Größenbestimmung. Die „wahre Zeit" der Astronomie führt uns nicht aus dieser Relativität des Bezugspunktes hinaus; sie bezeichnet mithin kein transzendentes Sein, welches sich der bezeichneten Bedingtheit entzöge. Die Größen sind ihrer Natur nach nicht von den wahrnehmbaren Maßen unterschieden. Da wir in jeder empirischen Zeitmessung eine Folge von Vorstellungen zugrunde legen, uns mithin der relativen Maße bedienen, so hat eine darüber hinaus behauptete 5*

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Existenz der Größe außerhalb des Geistes keinen angebbaren Sinn. — Die Vorstellungen können sich in einem Geist doppelt so rasch als in einem andern folgen;, ein und dieselbe Bewegung würde sich mithin für verschiedene Beobachter im ersten Falle doppelt so rasch als im zweiten zu vollziehen scheinen. Indes die Zeit bedeutet eben nichts weiter als diese Relation von Vorstellungsreihen untereinander; sie bezeichnet keinen unabhängigen und vom perzipierenden Geiste losgelösten Bestand. — Die Relativität der Dichte ergibt sich aus der R e lativität des Maßes des Widerstandes. Die Konsequenz des Gedankens würde die Relativität aller physikalischen Maßbestimmungen ergeben. Diese Konsequenzen werden in unserem Zusammenhang nicht gezogen. (Für den Begriff der Masse vgl. oben S. 55.) Indes ergibt sich auch hier eine allgemeine Betrachtungsweise. In ihr wird die Ausdehnung als Grundbegriff charakterisiert. Ist nämlich einmal die Relativität der Ausdehnung erwiesen, so ist hiermit zugleich die Relativität aller Bestimmungen verbürgt, welche in ihrem Begriff die A u s dehnung voraussetzen. „ W e n n einmal angenommen worden ist, daß Ausdehnung kein Dasein unabhängig vom Geist führe, so muß notwendig dasselbe von Bewegung, Dichte und Schwere zugegeben werden, — denn sie alle setzen ersichtlich Ausdehnung voraus." (S. 38.) E s kann ferner ebensowenig die allgemeine Ausdehnung und die allgemeine Bewegung an sich bestehen. Dieser Einwand erledigt sich aus dem „Grundsatz, daß jedes Ding, was besteht, ein Einzelding i s t " ; in der absoluten Bewegung und Ausdehnung wird jedoch von allen „ s p e z i f i s c h e n u n d n u m e r i s c h e n U n t e r s c h i e d e n , wie es in der Schulsprache heißt", abgesehen. (S. 40 a. a. O.) Die Prinzipien erhoben bereits einen Einwand gegen die idealistische Bestimmung der Materie aus der Erwägung des Problems der Entfernung. Die Entfernung, in der die Gegenstände erscheinen, scheint auf ihre Existenz außerhalb des Bewußtseins hinzuweisen (oben S. 38 f.). Die Idealität des Raumes indes scheint nur der naiven Auffassung eine Schwierigkeit zu bereiten. „Ist es nicht gewiß", so fragt der Verfechter der Materie Hylas, „daß ich Dinge in einem gewissen A b s t a n d sehe? Nehmen wir nicht z. B. die Sterne und den Mond als weit von uns entfernt wahr?" (S. 50.) Die Entfernung ist jedoch, wie wiederum das Beispiel des Traumes zeigt, nur die „Erscheinung" oder „ A r t , wie sinnliche Gegenstände wahrgenommen werden"; sie gehört mithin der Beschaffenheit des Subjekts an und

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wird nicht von außen in das Bewußtsein hineingetragen und projiziert. Der Gegenstand, welchem man sich nähert, ändert bei der Annäherung beständig Größe und Gestalt. Die Gesichtswahrnehmung weist also gar nicht auf einen bestehenden Gegenstand hin; die bloße Wahrnehmung bietet keinen Anhalt für seine Annahme. E s besteht mithin gar kein Gegenstand in einer bestimmten Entfernung; diese Worte stehen vielmehr für den aus der Theorie des Sehens resultierenden Sachverhalt, welchen Philonous in dem Satze formuliert: „ A u s den tatsächlich durch das Gesicht wahrgenommenen Vorstellungen hast d u a u s E r f a h r u n g s c h l i e ß e n g e l e r n t , welche anderen Vorstellungen (nach der feststehenden Ordnung der Natur) in dir erregt werden nach einer bestimmten Folge von Zeit und Bewegung." (Gespräche S. 51.) Alles, was im Bewußtsein gegeben ist, ist „eine ununterbrochene Reihe sichtbarer Gegenstände, die einander während der ganzen Zeit deiner Annäherung folgen." Die Entfernung selbst ist keine sinnliche Vorstellung, mithin keine Eigenschaft eines Dinges, sondern ein für Vorstellungen und ihren Ablauf gültiges Verfahren, welches durch Übung und Gewohnheit im Prozeß der Erfahrung gebildet wird und sich bewährt. In dem eigentlichen Problemgebiete der unmittelbaren Sinneswahrnehmung ergibt sich mithin bei der Erörterung des Raumbegriffes neben der Perzeption die mittelbare Erkenntnis, welche zwar „mit der Erfahrung anhebt", nicht jedoch „aus der Erfahrung entspringt" und mit ihr zugleich gegeben wäre. — Das neu hinzutretende Erkenntnismittel wird nun hier zwar als logischer Schluß aus den gegebenen Vorstellungen charakterisiert; dieses Schlußverfahren jedoch nur nach seiner empirischen Bezogenheit auf die Erfahrung psychologisch bestimmt. Innerhalb der Wahrnehmung ist nunmehr ein Faktor der Synthesis des Urteils anerkannt. Der Gegenstand war bisher eine isolierte Wahrnehmung; er wird nunmehr in synthetischen Verknüpfungen des Denkens und Schließens innerhalb der Erfahrung entstehend gedacht. Die Entfernung wird von dem Charakter der Materie und starren Gegebenheit befreit; sie hat ihr Sein wie T o n , Farbe, Zeit nur in Relation zum perzipierenden und denkenden und erkennenden Geiste. Ein Gegenstand oder ein Erkenntnisinhalt, welcher wie die Entfernung kein Wahrnehmungsinhalt ist, kann nur ein Produkt mittelbarer Erfahrung und Schlußfolgerung sein. Die Linie, welche geometrisch die Entfernung

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darstellt, wird nicht durch das Gesicht w a h r g e n o m m e n . „Ist nicht die E n t f e r n u n g eine L i n i e , die gerade zum A u g e führt? H y l . Jawohl. Phil. U n d k a n n eine so gestellte L i n i e durchs Gesicht w a h r g e n o m m e n werden? Hyl. Nein. Phil. F o l g t also nicht daraus, d a ß wir die E n t f e r n u n g nicht eigentlich und unmittelbar durch das Gesicht w a h r n e h m e n ? " (S. 52 a. a. O . ) N u r irrtümlich würde mithin die Distanz für eijie Perzeption und für eine W i r k l i c h k e i t gehalten werden. A l s Perzeption wäre sie z u d e m innerhalb des G e i s t e s ; sie bezeichnet in j e d e m Fall ein Gebiet, welches innerhalb des G e i s t e s liegt; denn A u s d e h n u n g und G e s t a l t erscheinen an derselben Stelle wie die F a r b e n , welche, wie bereits bewiesen, k e i n e n absoluten Bestand besitzen. D e r B e r k e l e y s c h e Idealismus dient, wie wir sahen, ebensosehr der Charakteristik der W a h r n e h m u n g wie der Idealisierung d e s O b j e k t s der Erfahrung. D a s V o r u r t e i l der absoluten S u b stanz scheint bis in die e x a k t e Physik hineingedrungen zu sein. D i e F r a g e mündet nunmehr in das G e n o s der B e t r a c h t u n g ein. D i e E n t f e r n u n g m a g ein D e n k m i t t e l in der V e r k n ü p f u n g der E r s c h e i n u n g e n , ein Plus sein, welches d e m Material der E m p f i n d u n g e n hinzugefügt wird und sich hierin von ihm unters c h e i d e t ; sie hat dennoch keinen anderen G a t t u n g s c h a r a k t e r als die unmittelbaren Empfindungen. D e r Blindgeborene, welcher durch Operation sehend wurde, würde „keinen Begriff von E n t fernung mit den gesehenen D i n g e n verknüpfen, sondern w ü r d e sie für eine neue Reihe von E m p f i n d u n g e n halten, die nur in seinem Geist bestünden." (A. a. O . S. 52.) D i e O b j e k t e der unmittelbaren Sinneswahrnehmung — so wird hier die S u m m e g e z o g e n — sind Vorstellungen. „Ich frage nun, ob die unmittelbar w a h r g e n o m m e n e n D i n g e etwas anderes sind als deine eigenen E m p f i n d u n g e n oder V o r s t e l l u n g e n ? " (S.53.) Irgendeine Unterscheidung und j e d e s Unterscheidungsmittel, welches über den bezeichneten S t a n d p u n k t hinauszugehen trachtet, verbleibt nicht in dem fixierten P r o b l e m g e b i e t der reinen Perzeption, der unmittelbaren Erfahrung. W i r d zwischen G e g e n s t a n d und A b b i l d unterschieden, so ist neben der Perzeption „ V e r n u n f t " und „ G e d ä c h t n i s " erforderlich, welche uns befähigen, im A b b i l d das Urbild zu erkennen. Diese Unterscheidung geht mithin prinzipiell über die Erfahrung und ihre D a t a hinaus. E i n e eingeschränkte B e d e u t u n g kann indes auch hier der mittelbaren W a h r n e h m u n g eingeräumt werden. E s sind dies Fälle, „ w o infolge einer häufig w a h r g e n o m m e n e n V e r k n ü p f u n g die unmittelbare W a h r n e h m u n g von V o r s t e l l u n g e n durch den einen Sinn

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dem Geist andere, vielleicht einem anderen Sinne zugehörige eingibt, die gewöhnlich mit ihnen verknüpft sind." (A. a. O. S. 54 f.) Bei der entsprechenden Schallempfindung gibt uns die Erfahrung den Gegenstand der Kutsche ein, die wir durch die Straße fahren hören. Wenn es in diesem Beispiel zulässig ist, die Stützen der unmittelbaren Sinnesempfindung zu verlassen, so geschieht es doch nur insoweit, als ein aus der E r fahrung bekannter assoziativer Zusammenhang betrachtet wird. Allgemein wird zum Beschluß dieser Ausführungen des ersten Dialogs der Gespräche aus der gefundenen Charakteristik der Wahrnehmung die Frage beleuchtet, wie die Entsprechung von Abbild und Urbild einen verständlichen Sinn erhalten könnte. E s scheint undenkbar, der Wahrnehmung einen Anteil an einem absoluten Gegenstand zuzusprechen. „ W i e ist es denn möglich, daß etwas so Wechselndes und in dauerndem Fluß Befindliches wie unsere Vorstellungen Abbild und Abdruck von etwas Festem und Beständigem sein sollte?" Die Annahme des absoluten Gegenstandes hebt hier, wo die Erkenntnis oder Anschauung sich „nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten" müßte, die Kriterien der Erkenntnis auf. „Oder, wenn du sagst, er (der bestimmte materielle Gegenstand) gleiche nur der einen unserer Vorstellungen, wie wollen wir imstande sein, den wahren Abdruck von all den falschen zu unterscheiden?" (A. a. O. S. 57.) E s ergibt sich also, daß schon die konsequente Durchführung der Identität von Wahrnehmung und Erkenntnis, wie sie hier im ersten Dialog zum Problem wird, die Widerlegung des äußeren Objekts ergibt. Die Abgrenzung des E r kenntnisproblems auf den Ursprung aus der Wahrnehmung ist hierbei eine willkürliche und nur aus der Teilung der Aufgabe gerechtfertigt: „ W a s das vernunftgemäße Ableiten von Ursachen aus Wirkungen betrifft, so liegt das seitab von unserer Untersuchung." (A. a. O. S. 53.) Der erkenntnistheoretische Ertrag dieser Ausführungen läßt sich dahin bestimmen, daß das empirische Sein in Bedingungen des erkennenden Geistes begründet wird. Die Schranken, welche dieser Begründung gezogen sind, sind mit der Fixierung des Problems auf die Wahrnehmung gesetzt. E s ist im letzten Grunde das einzelne Subjekt in seiner organischen Bedingtheit, auf welches hier Bezug genommen wird. Dieses selbst steht in dem Zusammenhange der Erscheinungen und unterliegt demgemäß dem Gesetze der Ursache und Wirkung. W o mithin hier die Perzeption überhaupt überwunden scheint, wo neben

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ihrer Unmittelbarkeit die Erfahrung als Erkenntnisfaktor geltend gemacht wird, scheint die Objektivität gleichsam von außen und nach empirischen Gesetzen der kausalen Verknüpfung durch Übung und zufällige Koordination in das Subjekt hineingetragen. Das Subjekt und das Gesetz der Assoziation der Vorstellungen in ihm, dem es naturnotwendig unterworfen ist, spricht das letzte Wort in dieser Analyse des Gegenstandes der Erfahrung. — V. Raum und Zeit. Die mannigfaltigsten Fäden der erkenntnistheoretischen Ansätze, Voraussetzungen und Überzeugungen verbinden sich in dem Problem des Raumes und der Zeit und bestimmen hier die Auffassung. 1 ) Hier ist auch der Punkt erreicht, wo das zunächst nur psychologische Interesse an der Entstehung der Raumvorstellung in der Erfahrung des erkennenden Individuums am entschiedensten zurücktritt und einer reinen Analyse der Bedingungen der gegenständlichen Erkenntnis weichen muß. Der allgemeine Idealismus des Bewußtseins und seines tatsächlichen Ablaufs reift an den Problemen der mathematischen Physik Newtons und der Prüfung ihrer zentralen Grundbegriffe zur Begründung und Bestimmung des Begriffs der Erkenntnis und ihrer Prinzipien heran. Das besondere Ergebnis, zu dem die Untersuchung führen wird, stellt einen gemeinsamen Lehrsatz der Philosophie Berkeleys und Leibniz' dar: beide Lehren führen zur Behauptung der Relativität der Bewegung. — Eine Vergleichung beider idealistischen Systeme ist nicht nur durch die Gemeinsamkeit ihrer sachlichen Voraussetzungen, sondern auch durch die besondere geschichtliche Problemlage aufgegeben. Ebenso wie Berkeley die Newtonschen Begriffe von Raum und Zeit kritisch behandelt und zu klären sucht, hatte sich in den Streitschriften zwischen Leibniz und Clarke der Unterschied der Standpunkte von Leibniz und Newton, der hier von seinem Anhänger Clarke vertreten wird, im wesentlichen an der Diskussion dieser Grundbegriffe bestimmt. Wenn ein Vergleich mit Leibniz durch die Verwandtschaft der Gattung der Systeme interessant und lehrreich ist, so ist die von Berkeley selbst angestellte Parallele zu Newton durch die spezifische Differenz der Standpunkte von Bedeutung. Je ') Zum Raumproblem vgl. oben III S . 31 ff., 38 f.

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genauer das Berkeleysche Denken sich bestimmt, desto deutlicher heben sich die Voraussetzungen der Newtonschen Anschauung heraus, desto deutlicher treten Recht und Unrecht beider Denkweisen und Denkrichtungen zutage. Diese B e ziehungen von Berkeley zu Leibniz' Philosophie einerseits, zu Newtons Physik und Metaphysik andererseits gilt es, an den Problemen von Raum und Zeit zu verfolgen. Die Newtonsche Physik schien die Voraussetzung einzuschließen, daß in der Entwicklung und Bestimmung der mathematischen Bewegung und des mathematisch formulierten Gesetzes der Kraft der absolute Gegenstand der Erkenntnis ergriffen sei. Indem ein Mittel gegeben war, das Objekt im Unterschied von seiner populären und sinnlichen Auffassung zu bezeichnen und- zu erkennen, schien man sich berechtigt zu glauben, in diesem die absolute Substanz anzusprechen. Die Physik berief sich zudem in den Begriffen der absoluten Zeit und des absoluten Raumes auf eine Art des Seins, das sich der Perzipierbarkeit prinzipiell entzieht. Der empiristischen Theorie der Wahrnehmung und der Analyse der Vorgänge des Bewußtseins und der sinnlichen Erfahrung boten sich hierdurch scheinbar unüberwindliche Schwierigkeiten dar. Diese echten und fruchtbaren Motive der Kritik, welche hier liegen, teilt Berkeley mit Leibniz. W o es sich wie hier in den Aussagen über Vorgänge im physikalischen Raum um die Bestimmung des Wirklichen handelt, muß im Urteil eine Beziehung auf die subjektive Anzeige und das Zeichen der Empfindung festgehalten werden, ohne welche keine Kontrolle und Bestätigung dieses Urteils möglich ist. Der Widerstreit, der hier zum Ausdruck kommt, läßt sich am besten von der Bestimmung dieser Art des Urteils aus durch die Kategorie der Modalität verstehen; ein Widerstreit, der mithin erst in der kritischen Philosophie geschlichtet werden wird. Hier ist eine geschichtliche Stelle der Entstehung des Problems dieser Kategorie und dieser Grundsätze gegeben. F ü r Berkeley freilich ist mit der Strenge des Erfahrungsstandpunktes zugleich die Schranke für die Bestimmung des Begriffs gesetzt (vgl. oben bes. S. 5, ferner S. 71 f.). Diese Schranke läßt sich am Substanzbegriff bezeichnen. E s war die an sich unabhängig vom denkenden Geiste gegebene materielle Substanz, welche ein Dogma der Philosophie darzustellen schien. Die Aufgabe der Bestimmung der Substanz bleibt bestehen, nachdem die materielle Substanz bereits widerlegt ist. Der Idealismus

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würde zum Psychologismus des subjektiven Denkens werden, wenn er die Beziehung auf den Gegenstand verlöre. Unsere Erkenntnis bezieht sich immer auf Einzelvorstellungen; das Allgemeine hat kein selbständiges und selbstgenügsames Sein, sondern ist lediglich der Ausdruck eines Verfahrens, welches auf Einzelvorstellungen A n w e n d u n g findet, sich im sinnlichen Bild der empirischen Anschauung schematisiert. Die Begriffe des reinen Raumes und der reinen Bewegung mußten daher abgelehnt werden; denn sie widersprechen dem Grundsatze, daß jedes Ding, was besteht, ein Einzelding ist (vgl. S. 68). Durch diese Bindung des Begriffs an das Einzelding werden die Denkmittel einerseits zwar verkürzt und unzureichend bestimmt; sie ist andrerseits dennoch für die K r a f t und Strenge des Systems bezeichnend, in dessen Konzeption die Denkmittel durch die Beziehung und Restriktion auf den Gegenstand der Erfahrung ihr methodisches Ziel und ihre A u f g a b e erhalten. A n diesem Punkte freilich entsteht eine Antithese des mathematischen Erkennens und der. erkenntnistheoretischen Besinnung, welche innerhalb des Berkeleyschen Systems keine endgültige und einheitliche Schlichtung findet. Berkeley wird sich im weiteren V e r f o l g zum Widerspruch gegen den Versuch einer erkenntniskritischen Begründung der neuen Analysis und modernen Naturlehre geführt sehen, weil den Grundbegriffen dieser Disziplinen keine psychologischen Bewußtseinskorrelate und gegenständlichen Inhalte entsprechen. In unserem Zusammenhang gilt es, die allgemeine Richtlinie an den Problemen von R a u m und Zeit zu verfolgen, wie sie sich am präzisesten durch das sachliche Verhältnis Berkeleys zu Leibniz und Newton bestimmt. Newton beginnt seine Mechanik mit den grundlegenden Definitionen von Zeit, Raum und Bewegung. Die Newtonsche Physik ist, wie dies in ihrem Titel „mathematische Prinzipien der Naturlehre" zum Ausdruck kommt, durch die mathematische Methode orientiert und charakterisiert. Die explizite Philosophie Newtons geht hier einen anderen W e g als derjenige ist, den Newton implizit in der theoretischen Begründung seiner Wissenschaft einschlägt: „an Ursachen zur Erklärung natürliche Dinge nicht mehr zuzulassen als wahr sind und zur Erklärung jener Erscheinungen ausreichen." (Newton, übers, v . W o l f e r s a . a . O . S. 380.) In dieser ersten Regel, welche den Regeln zur Erforschung der Natur vorangeschickt wird, spricht sich das philosophische Glaubensbekenntnis Newtons aus. Indes auch hier

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ist es nicht so sehr die Formel der Erkenntnis, der eine methodische Bedeutung beiwohnt, sondern ähnlich wie bei Berkeley ist bei Newton eine Tendenz und eine polemische Pointe wirksam. Wenn die Erfahrung das genaue Feld der Untersuchung bildet, so braucht sie dennoch, wie wir sahen, selbst für Newton nicht absolute Wahrheit zu bedeuten. S o dürfen ihr denn Bedingungen vorausgehen, die selbst in ihrer Gültigkeit von der Erfahrung unabhängig sind: die absolute, wahre und mathematische Zeit; der absolute Raum der reinen Mathematik und der reinen Physik. In dieser mathematischen Begründung der Naturerkenntnis begegnen sich Newton und Leibniz. Die Einwände, wrelche Leibniz gegen Newton erhebt, betreffen niemals diese Postulate der „ L o g i k der reinen Erkenntnis", sondern etwaige metaphysische Deutungen und Folgerungen über ihr Sein und ihre Wirklichkeit in äußerer Natur, welche an diese Grundbegriffe geknüpft werden. 1 ) Berkeley hingegen findet zu diesen erkenntnistheoretischen Problemen den Zugang lediglich aus Gesichtspunkten, welche seiner idealistischen Gesamtauffassung entlehnt sind. E r vermag nicht, wie Leibniz, den metaphysischen Ausstattungen des absoluten Raumes und seiner Bestimmungen zu göttlichen Attributen ein Korrelat dieser Grundbegriffe in der Logik der mathematischen Naturerkenntnis und mithin in dem System der Prinzipien der Wissenschaft entgegenzuhalten. Die Relation erhält hier bei Berkeley den eingeschränkten Sinn der Beziehung auf äußere Wahrnehmung; sie wird nicht wie bei Leibniz zum Buchstaben im „Alphabet der Gedanken", zu einem Element für die rationale Erzeugung des Gegenstandes der Erfahrung. Die Gesetze, durch welche die Beziehungen zwischen Wahrnehmungen beherrscht werden, stehen gleichsam in metaphysischer A b sonderung von den Gliedern der Relation; sie beruhen auf Induktion und Beobachtung und können nur dogmatisch vorausgesetzt und transzendent begründet werden. 2 ) (Vgl. oben S. 3Öf.) ') Philosophische Bibliothek: Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, herausg. von Cassirer u. Buchenau. Leipzig 1904. S. 182 ff. 2 ) E s gibt gewisse allgemeine Gesetze, die durch die ganze Kette von Naturerfolgen hindurchgehen; diese lernt man durch Beobachtung und Studium der Natur kennen (S. 53 Prinz. a.a.O.); ferner: Durch, eine sorgsame Beobachtung der in unsern Gesichtskreis fallenden Erscheinungen können wir die allgemeinen Gesetze der Natur erkennen und aus ihnen die andern Erscheinungen herleiten; ich sage nicht, als notwendig erweisen (deduzieren, nicht demonstrieren); denn alle Herleitungen dieser Art sind abhängig von der Voraussetzung, daß der Urheber der Natur

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Von hier aus nun gilt es, Recht und Unrecht der Kritik Berkeleys an Newton zu prüfen und zu bestimmen. E s war bereits früher gezeigt worden, daß der Gedanke, welcher dem „Schematismus" der Kritik der reinen Vernunft zugrunde liegt, die Berkeleysche Theorie des Begriffs bestimmte. (Vgl. oben II.) Während für die Kritik die Frage darin besteht, wie „reine Verstandesbegriffe auf Erscheinungen angewandt" werden können, ist diese Beziehung, welche der Schematismus herstellt und vermittelt, von Berkeley von Anfang an im Begriff des Denkens vorgesehen und einbegriffen. Für Berkeley wird das reine Denken nicht zum Problem; so bildet seine psychologische Charakteristik als Schema die einzige Bestimmung des Begriffs. Die Ableitung geht hier, wo das Denken gleichsam konkret als Funktion an der Vorstellung aufgefaßt wird, deshalb auch nicht, wie im Schematismus der Kritik, auf die Zeit als Voraussetzung der Vermittlung von Denken und Sinnlichkeit zurück (vgl. oben S. 24, ferner unten S. 80f.). — Die Erwägung der Argumente, welche für die Annahme der absoluten Substanz sprachen, führte in den Prinzipien zu dem Begriff der „wahren Bewegung". Nach Berkeley läßt sich das Sein nicht von der Perzeption losgelöst denken; diese Korrelation des Seins zu den Unterscheidungen und Erkenntnismitteln des Bewußtseins ist unerläßlich. Welches Mittel des Bewußtseins bleibt übrig und welche Unterscheidungen sind dann noch möglich, wenn eine absolute Bewegung von der sichtbaren und wahrnehmbaren unterschieden wird? Indes Berkeley braucht diese Ergebnisse der theoretischen Betrachtung nicht völlig zu verwerfen; er vermag ihnen eine Stelle im System der Erkenntnisprinzipien anzuweisen. Berkeley erhebt in diesem Sinne zunächst einen scheinbaren Einwand gegen seine eigene Lehre: „ . . da Bewegung nur eine Idee sei, so folge, daß dieselbe, wenn sie nicht wahrgenommen werde, nicht existiere, die Erdbewegung aber werde nicht sinnlich wahrgenommen." (Prinz, a.a. O. S. 51.) Berkeley sieht sich zu keinem Widerstreit mit den Voraussetzungen seines Idealismus geführt. Die Frage betrifft einzig die theoretische Begründung und Erklärung der Erscheinung; das vermeintliche Objekt ist im Leibnizschen Ausdruck ein phaenomenon bene fundatum. „Man wird finden, daß jene Annahme (der Erdbewegung), wenn sie recht verstanden wird, den oben dargelegten stets gleichmäßig handle unter beständiger Beobachtung jener Regeln, die wir für Prinzipien ansehen, und das können wir doch nicht mit Sicherheit wissen. S. 75 f.

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Prinzipien nicht widerstreitet. Denn die Frage, ob die Erde in Bewegung sei oder nicht, läuft in Wahrheit nur darauf hinaus, ob w i r G r u n d h a b e n , aus d e n a s t r o n o m i s c h e n B e o b a c h t u n g e n zu s c h l i e ß e n , daß, wenn wir unter gewissen Verhältnissen auf einem gewissen Standpunkte in einer bebestimmten Entfernung von der Erde und der Sonne ständen, wir die E r d e inmitten des Chors der Planeten sich bewegen und in jedem Betracht als einen derselben erscheinen sehen würden . . . (A. a. O.) E s ist offenbar, daß in dieser Erklärung der wahren Bewegung in dem Bedingungssatze neben der bloßen Perzeption das hypothetische Urteil und seine Geltung für den Gegenstand der Erfahrung vorausgesetzt wird. Der Perzeptionsbegriff freilich ist hier in Konsequenz durchgeführt und geltend gemacht. E r bezeichnet in dieser Fassung, wie bereits bemerkt, ein gemeinsames Moment der Berkeleyschen und Leibnizschen Philosophie. 1 ) — Der Systemgedanke führte zur Betrachtung des Problems der wahren Bewegung. Das Tagebuch hatte unsere F r a g e bereits allgemein gestellt. E s hieß hier: „das Scholium der achten Definition von Mr. Newtons Prinzipien sorgfältig prüfen und erörtern." (S. 84.) Das wesentliche Bedenken gegen die Begriffsbildung des absoluten Raumes schien hier im Tagebuch seine metaphysischen Voraussetzungen zu betreffen: „ L o c k e , More, Raphson und andere scheinen Gott ausgedehnt zu machen." (S. 82.) In der T a t zeigt die spätere Metaphysik Newtons eine Verwandtschaft mit dem mystischen Spiritualismus Henry Mores. 2 ) — Das Tagebuch konnte dem Raumbegriff Newtons einen positiven Gehalt abgewinnen. Im Zitat aus Newton heißt es hier zunächst: „Ut ordo partium temporis est immutabilis, sie etiam ordo partium spatii. Moveantur hae de locis suis, et movebuntur (ut ita dicam) de se ipsis." Ihre Zahl — so fügt Berkeley hinzu — ist in der T a t unendlich. (Tagebuch a . a . O . S. 12.) Die Unendlichkeit des Raumes scheint seine feste Stellenordnung nach sich zu ziehen. Insofern er als „eine unendliche gegebene Größe vorgestellt" wird, erhellt der Sinn dieses Grundbegriffes als vom sogenannten Begriff unterschiedene Anschauung apriori. E s zeigte sich, welchen Sinn Berkeley der wahren Bewegung abgewinnen konnte. Hier nun muß sich ein Einwand aus dem Gesichtspunkt der Newtonschen Physik erheben. Eine objektive Bestimmung der Bewegung auf Grund der Prinzipien s. Leibniz, Hauptschriften . . . a.a.O. S. 188 und die bezügl. Anm. 132. *) Vgl. hierzu Leibniz, Hauptschriften ... a . a . O . S. H4f. (Einleitung).

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der Mechanik ist auch nach N e w t o n die vollständige Bedeutung und der adäquate Inhalt der wahren Bewegung. E s fragt sich daher, worin die unterscheidenden Merkmale in diesem Begriffe und seiner Bestimmuug liegen m ö g e n , wenn Berkeley dieses Prinzip als „unbegreiflich" bezeichnet. Der Schlüssel zu dieser F r a g e wird wiederum in dem Gedanken des Schematismus der Begriffe zu suchen sein. Der Begriff Newtons entzieht sich in rigoroser Schroffheit der sinnlichen Anschauung und Empfindung. „In der Naturlehre muß man von den Sinnen abstrahieren." Die Annahme eines Bezuges auf die Empfindung scheint für diesen Standpunkt die Gefahr nach sich zu ziehen, die Selbständigkeit und Selbstgewißheit des physikalischen Erkennens und seines Gegenstandes zu bedrohen. „Die wahren Bewegungen der einzelnen Körper zu erkennen und von den scheinbaren scharf zu unterscheiden, ist übrigens sehr schwer, weil die Teile jenes unbeweglichen Raumes, in denen die Körper sich wahrhaft bewegen, n i c h t s i n n l i c h e r k a n n t w e r d e n können. Die Sache ist jedoch nicht gänzlich hoffnungslos." (A. a. O. S. 30.) — Berkeley indes richtet sein Interesse nicht so sehr auf den Wahrheitsgehalt und die von zufälligen Bedingungen der Erfahrung und Wahrnehmung unabhängige Geltung des Begriffs, sondern der Begriff wird hier stets in der Anwendung gedacht. Die Anwendung und Entwicklung des begrifflichen Denkens bildet hier das Problem. Daher handelt es sich nicht so sehr darum, unter Voraussetzung des Begriffs einen bestimmten Inhalt zu definieren, welcher als Grundbegriff eines Systems von Prinzipien und auf ihnen beruhenden Grundsätzen dienen soll, wie um die Frage nach der psychologischen Natur und dem W e s e n und der A r t des Bestandes des Begriffes. E s ist mithin geboten, die Fragen, welche hier an den mechanischen Grundbegriffen des absoluten Raumes und der absoluten Zeit entstehen, unter doppeltem Gesichtspunkt zu betrachten. E s kann nicht die Absicht der Berkeleyschen Kritik sein, den logischen Geltungswert jener Begriffe anzuzweifeln. Die F r a g e ist vielmehr darauf gerichtet, ob diesen Begriffen ein reales Sein in der Natur entspricht und ob sie einen vom perzipierenden Geiste unabhängigen Bestand darstellen. Erst mittelbar und in zweiter Linie werden die Begriffe nach ihrem logischen Geltungswert und ihrer Bedeutung als Erkenntnismittel im System der Prinzipien geprüft. E s fragt sich hierbei, inwiefern diese zweite F r a g e durch die erste mitbestimmt ist. — Für Berkeley werden, wie bereits ersichtlich, Raum und Zeit nicht so sehr als

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Bedingungen der Mechanik und ihres deduktiven Aufbaues, als vielmehr als empirische Vorstellungen zum Problem. Die reinen Begriffe bedürfen, wie sich hier ergibt, in ihrer konkreten Anwendung psychologischer Korrelata und schematischer Darstellungen im erkennenden Bewußtsein. Unter diesem Gesichtspunkt, der ihnen offenbar fremd ist, werden nun die Newtonschen Definitionen betrachtet und beleuchtet. Sie werden Beispiele zur Explikation der eigenen Lehre vom Schematismus. Ist die Zeit, so muß hier gefragt werden, unabhängig von den Inhalten und unabhängig vom empirischen Objekt selbst als eine Art des Objekts für sich gegeben? Diese Frage stand freilich auch in einem noch zu erklärenden Sinne (u. S. 85) im Mittelpunkt der Leibniz-Clarkeschen Streitfragen. Schon ein prinzipieller mathematischer Gedanke ergibt für Leibniz die Idealität der Zeit. „ V o n der Zeit sind immer nur Momente vorhanden, und der Moment ist nicht einmal ein Teil der Zeit." Die Zeit ist stets nur als Augenblick d. h. mathematischer Nullwert wirklich; wie wollte sie also Existenz besitzen? „Ich habe mehrfach betont, so führt Leibniz auf Clarkes Einwände im dritten Schreiben aus, daß ich den Raum ebenso wie die Zeit für etwas rein Relatives halte; für eine Ordnung der Existenzen im Beisammensein, wie die Zeit eine Ordnung des Nacheinander ist." 2 ) Raum und Zeit sind fundamentale Voraussetzungen der gegenständlichen Erkenntnis; sie werden durch den logischen Geltungswert der „ewigen Wahrheiten" ausgezeichnet. Gerade an diesem Punkte der Gemeinsamkeit ergibt sich mithin der Unterschied des Berkeleyschen und Leibnizschen Idealismus. Die Idee bedeutet für Berkeley eine sinnliche Perzeption, sie bedeutet für Leibniz die Grundlegung und vno&eaig im platonischen Sinne (vgl. oben S. S8). 3 ) Dieser Sachverhalt der Gleichsetzung von Idee und Perzeption bei Berkeley bestimmt sich näher in den Ausführungen. Wir gehen aus, wie in den Prinzipien gezeigt wurde, von unseren Ideen . . . „Solange ich meine Betrachtung auf meine eigenen . . . Ideen einschränke, sehe ich nicht, wie ich leicht irren kann." (Prinz. S. 18.) V o n den Ideen aus steigen wir zu Relationen und Notionen auf; die Idee jedoch bleibt das unerläßliche Korrelat 2 >) Leibniz a. a. O. S. 187. ) A . a. O. S. 1 3 4 . ) Vgl. für das Verhältnis von B. zu Leibniz: E r n s t Cassirer, D a s Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit (2. A u f l a g e , Berlin 1911), Bd. 2 S. 2 9 1 ; für das Verhältnis beider zu N e w t o n : ebenda S. 468 ff. 3

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oder Gegenstück dieser Bestimmungen. E s gilt, sich dieses Ausgangs bewußt zu bleiben, damit sich keine irgendwie beschaffene Existenz einschleiche — abgesehen von den Ideen, den Relationen der Ideen und den von ihnen unterschiedenen reinen Begriffen. „Zeit, Raum und Bewegung sind, wenn sie einzeln und konkret genommen werden, einem jeden bekannt; sind sie aber durch den Kopf eines Metaphysikers gegangen, so werden sie zu abstrakt und fein, um von Menschen mit gewöhnlicher Auffassungskraft verstanden zu werden." (A. a. O. S. 72.) Zeit und Raum sind mithin undefinierbare Begriffe. Die Eigentümlichkeit dieser Begriffe scheint durch die logische Zergliederung aufgehoben zu werden. Die mathematische Definition ferner schreibt dem Raum und der Zeit Attribute zu, welche sich in keiner Erfahrung verwirklichen lassen. „Jedesmal, wenn ich versucht habe, eine einfache, von der Ideenfolge in meinem Geist abstrahierte Idee d e r Z e i t zu bilden, d i e g l e i c h m ä ß i g v e r f l i e ß e , und an der alle Dinge teilhaben, habe ich mich in unauflösliche Schwierigkeiten verwickelt und verloren. Ich habe überhaupt keinen Begriff von ihr, und höre nur andere sagen, sie sei ins Unendliche teilbar . . . . (Prinz. S. 73.) 1 ) — Hier ergibt sich das Desiderat der Beziehung der Zeit auf den äußeren Gegenstand und im genauen Sinne Berkeleys auf einen empirisch gegebenen Zusammenhang von Vorstellungen. „Die absolute, wahre und mathematische Zeit, — so hieß es bei Newton — verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig, und o h n e B e z i e h u n g auf irg e n d e i n e n ä u ß e r e n G e g e n s t a n d " . 2 ) Hier war aus Berkeleyschen Prämissen eine dreifache Korrektur erforderlich. Die an sich bestehende Zeit wurde zu einem Inhalt des denkenden und erkennenden Geistes, welcher durch unsere Erkenntnisart bestimmt und bedingt ist. Das Prädikat des gleichmäßigen Fließens wurde unter dem Gesichtspunkt der Relativität und Vieldeutigkeit und sinnlichen Bedingtheit der Zeitmessung hinfällig. Die Zeitmessung ist drittens wie beispielsweise in der Be*) Diese Ansicht teilt in neuerer Zeit Mach in seiner Mechanik: „ W i r dürfen . . . nicht vergessen, daß alle Dinge miteinander zusammenhängen u n d d a ß w i r s e l b s t m i t u n s e r e n G e d a n k e n e i n S t ü c k N a t u r s i n d ( ! ) . . . (cf. hierzu oben I S. 7f.). E i n e B e w e g u n g kann gleichförmig sein in bezug auf eine andere. Die Frage, ob eine Bewegung an sich gleichförmig sei, hat gar keinen Sinn. E b e n s o w e n i g können wir von einer „absoluten Zeit" (unabhängig von jeder Veränderung) sprechen . . . . sie ist ein müßiger „metaphysischer" Begriff." (Die Mechanik in ihrer Entwicklung, 4. Auflage. S . 234). 2

) A u s g a b e von Wolfers S. 25.

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ziehung auf die Erdbewegung an die Bedingung sowohl des Raumes als auch der Zeit geknüpft. l ) Diese Bestimmungen werden nunmehr ausgeführt. „Da aber die Zeit nichts ist, wenn wir absehen von der Ideenfolge in unserem Geist, so folgt, daß die Dauer eines endlichen Geistes nach der Zahl der Ideen oder der Handlungen abgeschätzt werden muß, die einander in eben dem Geiste oder Gemüte folgen." (Prinz, a. a. O. S. 73.) Der analoge Aufbau der Begriffe der reinen Zeit, des reinen Raumes und der reinen Bewegung bedingt es, daß die gleichen Argumente, welche die Zeit betreffen, für den Raum und die Bewegung in Geltung bleiben. „Ebenso verlieren wir, wenn wir versuchen, Ausdehnung und Bewegung von allen andern Eigenschaften abzulösen und für sich zu betrachten, dieselben aus dem Gesicht und verfallen in sehr ausschweifende Meinungen, was die Folge einer zweifachen Abstraktion ist, indem erstens vorausgesetzt wird, daß z. B. die Ausdehnung sich von allen anderen sinnlichen Eigenschaften abtrennen lasse, und zweitens, daß das Sein (die Entität) der Ausdehnung sich von ihrem Perzipiertwerden durch Abstraktion sondern lasse." (A. a. O. S. 73.) So ist es immer der abstrakte Begriff und die absolute Substanz, deren Annahme auf falscher Abstraktion beruht, welche bestritten werden und die Polemik gegen die Newtonschen Grundbegriffe bestimmen. Dieser Sachverhalt spricht sich noch genauer aus: „In der Einleitung dieses mit Recht bewunderten Traktates (sc. Newtons „Prinzipien") werden Zeit, Raum und Bewegung eingeteilt in die absolute und relative, wahre und anscheinende, mathematische und vulgäre; diese Unterscheidung setzt, wie ihr Verfasser dies ausdrücklich erklärt, voraus, daß j e n e G r ö ß e n eine E x i s t e n z a u ß e r h a l b des G e i s t e s h a b e n , und daß sie g e w ö h n l i c h in B e z i e h u n g zu den s i n n l i c h e n D i n g e n bet r a c h t e t w e r d e n , zu w e l c h e n s i e j e d o c h i h r e r e i g e n e n N a t u r nach ü b e r h a u p t k e i n e B e z i e h u n g haben." (Prinz, a. a. O. S. 79 f.) Eine solche Ansicht gilt es, bis auf die Elemente zurück zuverfolgen, um das Wesen der Streitfrage aufzudecken. Hierzu *) Vgl. hz. Kritik d. r. V.: E s „wird eine Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen möglich sein vermittels der t r a n s z e n d e n t a l e n Z e i t b e s t i m m u n g , welche a l s d a s S c h e m a d e r V e r s t a n d e s b e g r i f f e , die Subsumtion der letzteren unter die erste vermittelt." A. a. O. S. 142. Ferner: „ E s fällt aber doch auch in die Augen: daß, obgleich die Schemata der Sinnlichkeit die Kategorien allererst realisieren, sie doch selbige gleichwohl auch restringieren, d. i. auf Bedingungen einschränken, die außer dem Verstände liegen, (nämlich in der Sinnlichkeit)." S. 146. C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VIII, 2

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dient ein Auszug aus den „Prinzipien" Newtons selbst. Berkeleys Kritik betrifft hierbei den Begriff einer „absoluten" Bewegung. „Absolute Bewegung ist der Übergang aus einem absoluten Ort an einen anderen absoluten Ort, relative Bewegung der Übergang aus einem relativen Ort an einen anderen. Da die Teile des absoluten Raumes nicht in die Sinneswahrnehmung fallen, so sind wir genötigt, statt ihrer ihre sinnfälligen Maße zu gebrauchen, und somit Ort und Bewegung mit Rücksicht auf Körper zu bestimmen, welche wir als unbeweglich betrachten. Aber es wird gesagt, wir müssen in philosophischen Betrachtungen von unseren Sinnen abstrahieren, weil es sein kann, daß keiner von den Körpern, die zu ruhen scheinen, wirklich ruht, und daß das nämliche Ding, welches relativ in Bewegung ist, in Wirklichkeit ruht." (Prinz. S. 80.) Es wird ferner im Newtonschen Sinne der Gedanke entwickelt, daß der Vorzug und die Charakteristik der wahren Bewegung darin besteht, daß sie von der Vieldeutigkeit der Relation, den „Schatten der Beziehung" befreit, welche „aller wahren Wirkungen bar" sind. 1 ) Der Unterschied, welchen hier Newton im Hinblick auf die Cartesische Definition der Bewegung als Stellenänderung zur unmittelbaren Nachbarschaft macht, ist für Berkeley nicht hinreichend und genugtuend bestimmt. Die Korrektur, welche die kritische Betrachtung an Newtons Aufstellungen vollzieht, braucht hier ebensowenig wie die Würdigung der rationalen Motive, welche ihnen zugrunde liegen, im einzelnen betrachtet zu werden. 2 ) Berkeley sucht das Problem der wahren Bewegung von eigenen Voraussetzungen aus aufzulösen, ohne, wie hier geschehen, den Bezug auf Wahrnehmbarkeit zu verlieren. — Eine Bewegung kann nur „relativ" sein. Die Bewegung erfordert zum mindesten zwei Körper, deren gegenseitige Lage sich ändert. Es könnte nun scheinen, als ob Berkeley hiermit den rein phoronomischen Begriff der Bewegung bezeichne und aufstelle. Diese relative Bewegung ist indes noch nicht als wirkliche Bewegung zu verstehen. „Aber, obschon es bei jeglicher Bewegung notwendig ist, mehr als einen Körper zu denken, so kann es doch geschehen, daß nur einer bewegt ist, nämlich der, auf welchen die Kraft wirkt, die den Wechsel des Abstandes verursacht." (Prinz. S. 81.) Obwohl der Begriff der Bewegung, wie es heißt, „eine Beziehung in sich schließt", mithin der logische Ausdruck für die relative ') Ausg. von Wolfers S. 30. 2) Vgl. hierzu Stadler, Kants Theorie der Materie S. 28 f.

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Lageänderung zweier Punkte zueinander ist, so sind dennoch die Glieder, welche hier in die Relation eintreten, nicht in jedem Sinne gleichwertig und vertauschbar. Selbst die relative Bewegung, welche der populären Auffassung allein gegeben ist, enthält in sich die Voraussetzung eines Subjektes der Bewegung, welches nach empirischen Kriterien erkannt werden kann. Der Standort der Erfahrung wird im Urteil über die reale Bewegung nirgends verlassen. Ähnlich wie bei Leibniz ergibt sich auch bei Berkeley, daß das dynamische Urteil neben dem phoronomischen Urteil eine Vertiefung und Ergänzung des Urteils und einen neuen Gesichtspunkt, nicht jedoch einen neuen Gegenstand bezeichnet.1) „Mir scheint", so heißt es im Sinne dieser Unterscheidung, „daß, obwohl Bewegung eine Beziehung eines Dinges auf ein anderes in sich schließt, doch nicht notwendig sei, daß jede veränderte Beziehung Bewegung genannt werde." (A. a. O. S. 81 f.) Von diesen Vorbegriffen aus läßt sich nun das Problem des absoluten Raumes auflösen. Er bezeichnet nicht die Aufhebung der Relation, sondern die Bestimmtheit der Relation. 2 ) Die Beziehung der Bewegung auf die Erde, welche uns fälschlich im gemeinen Leben als absolut gilt, wird durch die Beziehung auf ein letztes und einheitliches Koordinatensystem ersetzt. „In der Absicht also, ihre Gedanken zu fixieren, scheinen sie (die Forscher) die körperliche Welt als begrenzt zu denken und deren äußerste unbewegte Grenze oder ihre Hülse als den Ort sich vorzustellen, wonach sie wahre Bewegungen abschätzen. Prüfen wir unsere eigenen Begriffe, so werden wir, denke ich, finden, daß a l l e die a b s o l u t e B e w e g u n g , von der w i r uns eine I d e e b i l d e n k ö n n e n , im G r u n d e n i c h t s a n d e r e s ist als in d i e s e r A r t bes t i m m t e r e l a t i v e B e w e g u n g . " (Prinz, a. a. O. S. 82.) Newton hatte ein Verfahren angegeben, die wahre und absolute Bewegung im Unterschiede von der relativen und scheinbaren zu messen und zu ermitteln. Ein Beispiel soll hier den Weg weisen. Wenn indes, wie hier gezeigt wird, in dem in einem zylindrischen Gefäß befindlichen Wasser durch Drehung des Behälters um die vertikale Achse Fliehkräfte auftreten und als Ursache der Bewegung des Wasserspiegels und seiner hohlen Form erkannt und bestimmt werden, so beweist nach Berkeley dieser Sachverhalt nichts für den Charakter der Absolutheit der ') Vgl. Leibniz a. a. O. S. 158 nebst bezüglicher Anm. ) Vgl. Stadler a. a. O.

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Bewegung. Die Bewegung ist nicht bloß dort eine Relation, wo im Anfange einer solchen Bewegung die Gefäßwände nur relativ zu dem ruhenden Wasser und benachbarten Teilen ihre Lage ändern. Eine wahre Bewegung findet auch nach Berkeley nur dort statt, wo eine Kraft als Ursache der Bewegung wirksam gedacht wird. Indes auch die wahre Bewegung ist nicht losgelöst von den Bedingungen der Koordination im räumlichen Beisammen zu denken; auch sie besteht nur in der Relation. So ergibt denn die genaue Analyse des Begriffs der wahren Bewegung und die Bestimmung seines erkenntnistheoretischen Gehaltes, daß die wahre Bewegung nicht eine Existenz und Wirklichkeit außerhalb des erkennenden Geistes, sondern im Gegensatz zur Relativität der sinnlichen Vorstellung eine besondere Art der Relation bezeichnet. Die Sätze und Regeln, welche für die absolute Bewegung in der Mechanik abgeleitet werden, behalten für die so definierte relative Bewegung Sinn und Bedeutung. Es läßt sich mithin das Resultat dahin bestimmen, „daß die philosophische Betrachtung der Bewegung nicht das Dasein eines absoluten Raumes involviert, der verschieden wäre von dem durch die Sinne perzipierten und auf Körper bezüglichen Räume . . ." (Prinz, a. a. O. S. 83.) Wollen indes, so erhebt sich hier die Frage, die Newtonschen Begriffe ein Sein außerhalb des Bewußtseins bezeichnen und widerspiegeln? Die Newtonschen Definitionen wollen ersichtlich in dem Begriffe des gleichmäßigen Fließens, des stets gleichen und unbeweglichen Raumes und der auf diesen Begriffen von Raum und Zeit beruhenden und begründeten absoluten Bewegung sachlogische Voraussetzungen der mathematischen Physik beschreiben. Es scheint absurd, diese in äußerer und greifbarer Realität suchen zu wollen. — Das eigentümliche Recht der Berkeleyschen Kritik ergibt sich aus ihren eigenen Voraussetzungen: aus der Restriktion des Begriffs auf die Sinnlichkeit, ohne welche Beziehung dem Begriffe keine reale und gegenständliche Bedeutung zukomme. Dennoch stellt die Abtrennung der ersten und fundamentalen Erkenntnisbedingungen von den Schranken und den Bedingungen der Wahrnehmung, wie sich in der Geschichte der Begründung der Mechanik zeigt, ein positives und fruchtbares Moment für den erkenntniskritischen Aufbau der Disziplin dar. So unterscheidet Galilei in der Begründung der Prinzipien der Mechanik einen von der aktuellen Wahrnehmung unabhängigen Bestand neben „zufälligen und äußerlichen" Bedingungen des Experi-

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mentes. ) Die Einkleidung, besonders der Raumlehre, in die Metaphysik Henry Mores, in welcher der Raum als Attribut in das absolute Wesen der Gottheit eingeht, mußte die Eigenart und das Recht dieser Entwicklungen verdunkeln. Als Existenz läßt sich in der Tat der reine Raum und die reine Zeit ebensowenig vorstellen, als sich andererseits ganz analog der allgemeine abstrakte Begriff, welchen Locke postuliert, nachweisen und bestimmen läßt.2) So glaubte nun Berkeley, die Begriffe des reinen Raumes und der reinen Zeit gänzlich widerlegt zu haben. „Und vielleicht werden wir bei genauerer Betrachtung finden, daß wir nicht einmal eine I d e e e i n e s r e i n e n R a u m e s mit Ausschluß aller Körper bilden können." (A. a. O. S. 83.) Die Korrektur dieses Gedankens liegt in der konsequenten Fortbildung der Einwände Berkeleys; in dem Nutzbarmachen des Schematismus für die Logik der exakten Wissenschaft, wie es die Kritik vollzieht. Die Bekämpfung der Hypostasierungen des reinen Begriffes zu äußerer Wirklichkeit ist das wichtige Motiv der Diskussion. Indes wird sich dieser Gedanke noch genauer bestimmen und in seiner ganzen prinzipiellen Schärfe erscheinen, wenn wir des weiteren die Kritik der Wissenschaft — zunächst der Bewegungslehre, sodann der Mathematik, insbesondere der neuen Analysis in den späteren Schriften betrachten und erörtern. ') Vgl. hierzu Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff S. 232fr. Zum Problem des absoluten Raumes Newtons: Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem . . . a. a. O. S. 463 ff. 2 ) Hier erblickte; offenbar Kant das Recht Berkeleys zur Kritik der Newtonschen Voraussetzungen: „Denn wenn man den Raum und die Zeit als Beschaffenheiten ansieht, die ihrer Möglichkeit n a c h i n S a c h e n a n s i c h angetroffen werden müßten, und überdenkt die Ungereimtheiten, in die man sich alsdenn verwickelt, i n d e m z w e i u n e n d l i c h e D i n g e , d i e nicht Substanzen, auch nicht etwas wirklich den Substanzen Inhärierendes, dennoch aber E x i s t i e r e n d e s , j a d i e n o t w e n d i g e B e d i n g u n g d e r E x i s t e n z a l l e r D i n g e sein m ü s s e n , a u c h ü b r i g b l e i b e n , w e n n g l e i c h a l l e e x i s t i e r e n d e n D i n g e a u f g e h o b e n w e r d e n , so kann man es dem guten Berkeley wohl nicht verdenken, wenn er die Körper zu bloßem Schein herabsetzte. . ." (Kritik der reinen Vernunft a. a. O. S. 77.) Diese letzte Konsequenz der Verwandlung der empirischen Welt in Schein ist von B. in unserm Zusammenhange noch nicht gezogen worden.

Z w e i t e r Teil.

Die Systematik der späteren Schriften. I. De motu. 1 ) Die mechanischen Prinzipien sind bereits, wie wir sahen, in der Schrift über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis gewürdigt worden. Diese Bezugnahme auf Newton und die durch ihn neubegründete mathematische Naturwissenschaft und hierdurch mittelbar auf die moderne Mathematik ist für das System Berkeleys charakteristisch und gibt ihm sowohl sein eigentümliches Gepräge als auch die systematische Einheit. Diese Bezugnahme schützt die Lehre Berkeleys vor einer Mystik, die etwa überhaupt keinen kritischen Maßstab der Wahrheit und Realität anerkennen und an die Erscheinungen legen würde. Diese Bezugnahme gibt endlich der Lehre eine genaue Richtung, indem sie den Gegenstand der Erkenntnis zum Gegenstande der theoretischen Vernunft präzisiert. Die Lehre prüft die Voraussetzungen, welche die rationale Erkenntnis der Bestimmung des Gegenstandes zugrunde legt; sie sucht die Prinzipien der Wissenschaft zu vereinfachen und zu läutern durch Rückführung ihrer Mittel und W e g e auf den Ursprung in den Mitteln und Wegen des erkennenden Bewußtseins, welche doch als ein erstes Datum für jedermann zugänglich und einer gesonderten Betrachtung fähig erachtet werden müssen. In dieser Diskussion wird die Formulierung der Prinzipien der Wissenschaft teils positiv gefördert und geleistet, teils indirekt durch die konsequente Vergleichung mit einem fixierten Erkenntnisbegriff gerade aus den Schranken, die ihm in der Berkeleyschen Hypothese zugemessen werden, erst in ihrer *) D e motu (sive de motus principio et natura, et de causa communicationis motuum) 1721, a. a. O. Bd. I S. 487.

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Eigenart nach den eigentümlichen Voraussetzungen, auf welchen sie beruhen, deutlich. Die Erkenntnis, als Perzeption genommen, führt in strenger Durchführung auf eine natürliche Schranke. Diese Schranke der sinnlichen Wahrnehmung bildet das eigentümliche Problem der Untersuchung und wird hier genau beschrieben. Diese limitative Begrenzung der Wahrnehmung führt dazu, den Begriff der Erkenntnis und des reinen Denkens zunächst nur negativ als nicht perzipierbar zu bezeichnen. Schon in der Theorie des Sehens tritt diese Begrenzung der Wahrnehmung, in welcher trotz ihrer Negierung als Erkenntnismittel der Zusammenhang mit der Wahrnehmung festgehalten wird, hervor. „Distanz ist ihrer eigenen Natur nach unperzipierbar, dennoch wird sie durch den Gesichtssinn perzipiert" (a. a. O. § n ) . Das reine Denken unterscheidet sich von der Wahrnehmung; es ist nichtsdestoweniger erforderlich für die Probleme der Wahrnehmung. So ist es in seiner Doppelnatur bezeichnet: psychologisch als nicht erkennbar — denn erkennen ist wahrnehmen — erkenntnistheoretisch als BeziehungsbegrifF unter Wahrnehmungen. In der Unterscheidung von der Psychologie entsteht auch hier das Problem des Begriffs. — Es handelt sich in unserer Schrift um den Begriff der Bewegung. Die neue Wissenschaft ist die Bewegungslehre. Dieser neue Begriff der Bewegung ist mit den Prinzipien der Infinitesimal- und Fluxions-Rechnung aufs innigste verquickt; denn die Mathematik des unendlich Kleinen bietet allererst dje Mittel dar, sowohl den Aporien, welche die griechische Spekulation in dem Begriff der Bewegung sah, wie den Schwierigkeiten, die Irrationalzahl exakt darzustellen, einen fruchtbaren Keim abzugewinnen und ihre Auflösung in Angriff zu nehmen. 1 ) Indes in dem Begriff des unendlich Kleinen, des Differentials oder der Fluxion, vollzieht sich eine Begrenzung der immer auf endliche Größen bezogenen Wahrnehmungen, welche eine Absage an die Forderung der Wahrnehmbarkeit der Erkenntnismittel zu bedeuten scheint und sich an keinem Beispiel des reinen Denkens deutlicher als hier enthüllt.2) Zwar hatten die „Prinzipien" schon die Relativität der endlichen Zahl als ein Beispiel für den Beziehungscharakter des Denkens erkannt; diese jedoch läßt sich immerhin in konkreter Wirklichkeit und in der Anschauung J) Vgl. H. Hankel, Zur Gesch. d. Mathem. in Altertum u. Mittelalter, bes. S. ii3f., S. 222. 2) Vgl. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, Berlin 1902 S. 104 f.

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darstellen. Das Infinitesimale indes erhebt gar nicht den Anspruch, eine Realität der Außenwelt zu bezeichnen, sondern beschreibt sein einziges und vollständiges Sein als Denkmittel und Begriff, der wohl eines Symbols als psychologischen Ausdrucksmittels bedarf, aber weder der Anschaulichkeit zugänglich noch durch sie erreichbar ist. Der Ausdruck des unendlich Kleinen würde ein bloßes Bild sein und nichts bezeichnen, wenn er nicht in einem genauen definitorischen Zusammenhang Sinn und Bestand hätte. Wenn ich den Unterschied zweier Größen sich verringern und schließlich für den Grenzfall der Gleichheit der Größen Null werden lasse, so ist hierdurch nicht im Begriff des Differentials oder der Grenze eine neue Art von Existenz neben der Sinnlichkeit und ihren Unterscheidungen gesetzt, sondern nur zum Zwecke der theoretischen Aufgabe eine Beziehung, welche für endliche Intervalle zugestanden war, für den unteilbaren Punkt gedanklich festgehalten und für diesen Grenzfall des Größenunterschiedes definiert. Der unteilbare Punkt wird einer bestimmten Beziehung — geometrisch der Tangente an die Kurve — zugeordnet und durch diese Zuordnung nach seiner Individualität charakterisiert. Die Bestimmungen, welche in dem Begriff des sei es nun geometrisch oder mechanisch gedeuteten Differentials zusammengehen, Raum oder Bewegungselement und algebraische Beziehung, lassen sich weder jedes für sich noch in der Vereinigung anschaulich darstellen. Der Grenzbegriff des Differentials oder der Fluxión entsteht aus dem Gedanken, daß die funktionale Beziehung zweier Größen X und Y für jeden noch so kleinen Unterschied des Argumentes X einen entsprechenden Unterschied der abhängigen Veränderlichen Y bedingt; die Funktion würde sich für verschiedene, noch so wenig voneinander unterschiedene Differenzen des Argumentes X ändern; es gilt daher, eine Beziehung zu finden, welche für den Unterschied gleich Null, d. i. für den unteilbaren Punkt gilt. So werden also die Beziehungen unter endlichen Größen nicht in jedem Sinne verlassen, sondern ein Punkt, die Abszisse des einen Schnittpunktes einer Sekante mit einer Kurve, welcher in einem veränderlichen Verhältnis zu einer Reihe anderer Punkte, den Abszissen der zweiten Schnittpunkte stand, wird in der eindeutigen Beziehung betrachtet, welche er zu diesen anderen Punkten im Grenzfalle der Tangente besitzt. So tritt eine Hilfskonstruktion hinzu, um das komplizierte Raumgebilde der Kurve in seine einfachen Elemente, die sie umgrenzenden geradlinigen Tangenten, aufzulösen. Die Tangente geht geo-

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metrisch der Kurve voraus, wie in mechanischer Deutung die Geschwindigkeit der Bewegung. Wie nun der Differentialquotient auch noch für seine zweite Ableitung eine geometrische Deutung als das Gesetz der Änderung der Tangentenrichtung zuläßt, so findet auch eine mechanische Anwendung der zweiten Ableitung statt. Der zweite Differentialquotient stellt im Unterschiede von dem ersten, durch welchen die Geschwindigkeit gemessen wird, die beschleunigende Kraft dar. Nachdem wir so die erforderlichen Vorbegriffe festgestellt haben, wenden wir uns zu den Ausführungen Berkeleys. Die Begriffe der Beschleunigung, des Strebens oder des Antriebs (sollicitatio, nisus, conatus) sind leere Metaphern, die dem organischen Leben entlehnt sind. „Der Philosoph muß sich jedoch der Metaphern enthalten." Schon in diesen einführenden Sätzen wird der reine Begriff gefordert. Der rationale Gedanke unterscheidet sich von jedem konkreten Sein. E s fragt sich, in welcher Richtung und in welchem genauen Sinne der Begriff zu verstehen ist. Es ist nun wichtig und lehrreich, daß Berkeley seinen Begriff in der Orientierung an den mathematischen Prinzipien Newtons und der literarischen Auseinandersetzung mit den Prinzipien Newtons gewinnt. Für Newton ist das reine Denken mit dem mathematischen Denken identisch. Bei aller Befehdung der konkreten Formulierungen des Begriffs der Bewegung in Mathematik und Naturwissenschaft bleibt diese Gleichsetzung auch für Berkeley der Richtung gebende Leitgedanke. „In der Naturwissenschaft jedoch gilt es, die Ursachen und Auflösungen der Phänomene aus mechanischen Prinzipien herzuleiten." (§ 69 S. 526.) In diesem Satze wird am Schluß der Abhandlung das Ergebnis der Erwägungen gezogen. Er bildet den stillschweigenden Leitgedanken. Die Gespräche hatten den Gedanken ausgesprochen und begründet, daß die unmittelbare Wahrnehmung uns nur mit den sinnlichen Eigenschaften der Dinge bekannt macht, daß hingegen der Begriff der Ursache auf einem rationalen Schluß aus den Objekten der sinnlichen Wahrnehmung beruht. Gemäß der Einstellung auf die Wissenschaft Newtons bildet die Schwerkraft den Gegenstand der Untersuchung. Was ist nun an dieser Kraft sinnlich perzipiert, was rationaler Zusatz und Deutung? Und ganz gemäß den Newtonschen Bestimmungen wird die sinnliche, also im Experimente sich darstellende Eigenschaft dieser Kraft als eine Spannung oder Ermüdung bestimmt, die wir beim Emporhalten schwerer Körper empfinden. Im Newton-



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sehen Experiment ist die Spannung des Fadens, an dessen Enden zwei Kugeln befestigt sind, welche um den gemeinsamen Schwerpunkt gedreht werden, das Kennzeichen für das Auftreten der Kraft — nämlich „des Strebens der Kugeln, sich von der Achse der Bewegung zu entfernen". (Wolfers S. 31.) — Berkeley fügt als zweites Kennzeichen hinzu: „Wir bemerken in schweren Körpern auch eine beschleunigte Bewegung nach dem Mittelpunkt der Erde hin, mit Hilfe der Sinne sonst nichts." (§ 4 S. 502.) Da also von Newton diese beiden Bestimmungen der Spannung als der Kraftäußerung und der mit ihr verbundenen Änderung der Lage mit Bezug auf den Mittelpunkt der Kraft gemeinsam betrachtet werden, konnte Berkeley glauben, sie als alleinige Ergebnisse der Analyse der Bestandteile des Objektes der theoretischen Untersuchung und Forschung nachgewiesen zu haben. Der Unterschied der wahren Kreisbewegung, die für Newton gemäß seines Ausganges von der Gravitation das Musterbeispiel der wahren oder mathematischen Bewegung bildet, von der bloß relativen und scheinbaren Kreisbewegung, welche nur durch eine willkürlich gedachte Koordinate als kreisförmig aufgefaßt wird, wird von diesem scheinbar ganz in dieser Richtung begründet. Diejenige Kraft ist die wahre, welche aus dem Streben der Körper, sich von der Drehungsachse zu entfernen, erklärt und abgeleitet wird: „Eine einzige ist die wirkliche kreisförmige Bewegung eines jeden sich umdrehenden Körpers, einem einzigen Streben gleichsam als eigentümliche und angemessene Wirkung entsprechend." (A. a. O. S. 30.) — Die Cartesische Definition der Bewegung durch die Lageänderung zur unmittelbaren Nachbarschaft ist nicht ausreichend, um das Phänomen der Kraft, das Streben der Körper, sich in gesetzmäßiger Weise von einer bestimmten Drehungsachse zu entfernen, in sich zu begreifen und seiner Eigenart gerecht zu werden. Diese durch ihre Eindeutigkeit bestimmte Beziehung eines Punktes zu anderen, sei es nun benachbarten oder entfernten, führt auch in Newtons Ansicht nicht auf eine neue Ursache außerhalb der Erscheinungen, sondern ist nichts anderes, als eine bestimmte Beziehung, die sich in den Phänomenen durch das Experiment kundgibt und neuer mathematischer Denkmittel außer den rein geometrischen zu ihrer Formulierung und rationalen Bewältigung bedarf. Wir heben zunächst die Übereinstimmung Berkeleys mit Newton heraus, um ein Verständnis der positiven Leistungen der Berkeleyschen Kritik zu gewinnen. Die Kritik scheint sich

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hier nicht so sehr gegen einen Gegner zu richten, als vielmehr die sachliche Klarstellung der Prinzipien der Erkenntnis anzustreben. — Was immer von Berkeley gegen den Versuch vorgebracht wird, die Ursache der Schwere zu bestimmen und an die Stelle ihrer sinnlichen Qualität eine verborgene Eigenschaft zu setzen, richtet sich gegen den Versuch, an die Stelle der mathematischen Hypothese eine wie immer geartete physische Realität zu setzen. Real sind die sinnlichen Wirkungen, die konkreten und partikularen Dinge. Das Recht der Anwendung der Begriffe Kraft und Schwere auf die Phänomene der Bewegung wird nicht bestritten. „Wenn sie jedoch von den Philosophen gebraucht werden, um von allen diesen (ihren konkreten Anwendungen) gesonderte und abstrakte Naturen zu bezeichnen, welche weder den Sinnen unterworfen sind noch durch irgendeine Kraft des Geistes eingesehen noch durch die Einbildung vorgestellt werden können, dann erst bereiten sie Irrtümer und Verwirrung." (§ 6 S. 503.) Der Nachdruck liegt darauf, daß hier der Begriff der Kraft, welcher ein Verhältnis an sinnlich wahrnehmbaren Bewegungen ausdrückt und in jedem Falle eine Metapher bleibt, als Natur, also als konkretes Dasein verstanden wird. Wie nun die abstrakten Begriffe nur in Substanzialisierungen zur Einzelidee und zur Einzelexistenz bestritten werden, in ihrer funktionalen Bedeutung innerhalb der wissenschaftlichen Theoreme jedoch vollgültig anerkannt werden, so geschieht es auch in dieser Anwendung des Abstrakten : in der Diskussion des Begriffes der Kraft. Allgemeine und abstrakte Worte sind von den Philosophen erdacht, „nicht, weil sie der Natur der Dinge angepaßt sind, welche vielmehr einzeln und konkret sind, sondern weil sie sich dazu eignen, die Lehren zu überliefern, weil sie die Begriffe oder wenigstens die Lehrsätze allgemein machen". (§ 7.) Diese Ansicht von der Idealität des Kraftbegriffs will Berkeley nicht einer entgegengesetzten der Mathematiker und Philosophen entgegenhalten, sondern er bemerkt, daß sowohl Newton wie Leibniz dieselbe anerkannt haben. „Was die Attraktionskraft anlangt, so ist es gewißlich klar, daß sie von Newton angewandt wird, nicht als wahre und physische Qualität, sondern nur als mathematische Hypothese. J a s o g a r L e i b n i z g e s t e h t , i n d e m er das e l e m e n t a r e S t r e b e n o d e r die B e s c h l e u n i g u n g v o n dem A n t r i e b u n t e r s c h e i d e t , daß j e n e S e i n s a r t e n nicht t a t s ä c h l i c h in der N a t u r der D i n g e v o r g e f u n d e n werden, sondern durch Abstraktion gebildet werden

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m ü s s e n . " (§ 17 S. 506.) Indes könnte es hier gerade so scheinen, als ob sich für Berkeley mit der Charakteristik als Hypothese und ideelles Sein das „Zugeständnis" des Mangels an echter und vollgiltiger Realität verbände. In diesem Sinne ist der Zusatz zu verstehen. „Es ist aber ein anderes, der Rechnung und mathematischen Beweisen zu dienen, ein anderes, die Natur der Dinge zu sein." 1 ) (§ 18 S. 506.) Das Differential bildet gleichsam das Musterbeispiel des reinen Begriffs. So gilt es, an den verschiedenen Beispielen dieses mathematischen Grundbegriffs und insbesondere an seiner mechanischen Bedeutung zu zeigen, daß sie kein physisches Sein bezeichnen und von der Natur der Dinge als hypothetische Gedanken zu unterscheiden sind. Hier bietet sich ein scheinbares Recht der Kritik; denn der Differentialbegriff fand in seiner mechanischen Anwendung unter einer zum Teil aus der konkreten Erscheinung, zu deren Bestimmung er erfunden war, geschöpften Sprache Eingang in die Wissenschaft. Schon der Begriff des unendlich Kleinen enthält die Schwierigkeit der Metapher. Die unendlich kleinen Größen scheinen doch immer Existenzen von wenn auch verschwindender Kleinheit zu bezeichnen. — Dieser Ausdruck des unendlich Kleinen bezeichnet nun allerdings nicht ein Sein, sondern ein Urteil. Die Beziehung zur endlichen Ausdehnung sollte in diesem Begriff festgehalten werden, um in der Begrenzung des Endlichen das Element der Ableitung der endlichen Größe rational zu erzeugen. Gemäß der mathematischen Methodik der Physik ergibt sich derselbe Sachverhalt des mechanisch unendlich Kleinen zum mechanisch Endlichen; Berkeley befindet sich nur scheinbar im Gegensatz zu Leibniz, wenn er dessen Beschreibung der Kraft als tätige Kraft oder Entelechie verwerfen zu müssen glaubt. (§ 8 S. 503 f.) In diesen Worten bezeugt sich nicht die Scholastik von Leibniz, sondern umgekehrt erhält die Entelechie des Aristoteles eine exakte Deutung durch den mathematischen Kraft begriff. 2 ) Berkeley sieht eine Schwierigkeit darin, den Stoß als unendliche Summation momentaner Antriebe aufzufassen, wie es in der Unterscheidung von toter und lebendiger Kraft geschieht. „Soll eine Linie unendlich sein, so muß ein endlicher homogener Teil in ihr unendliche Male enthalten sein. Aber die tote Kraft verhält sich zur Stoßkraft ') Vgl. Ernst Cassirer, Leibniz' System S. 261 f. s ) Vgl. Leibniz, Hauptschriften a. a. O. S. 257 f.

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nicht wie ein Teil zum Ganzen, sondern wie ein Punkt zur Linie, und zwar nach den Vertretern der Ansicht vom unendlichen Stoße selbst." (§ 14 S. 505.) Daß der Stoß im Verhältnis zur beschleunigenden Kraft von Galilei als unendlich bezeichnet wird, hat schon Leibniz einen ziemlich rätselhaften Ausdruck genannt (Leibniz a.a.O. S. 263.) Die tote Kraft verhält sich nach Leibniz zu der tatsächlich geleisteten und daher sogenannten lebendigen Kraft nicht wie ein Teil zum Ganzen, sondern wie das Element der Ableitung zur Synthese der Elemente, für welche die Abstraktion des Elementes der Kraft einzig Geltung besitzt. Die Tangentialbeschleunigung, die der Stein in der Schleuder erhält, tritt in der Tat nicht in Wirksamkeit; dennoch muß sie in jedem unteilbaren Momente als wirksam und die Bewegung innerhalb endlicher Intervalle bestimmend gedacht werden. Dieses Verhältnis habe wohl Galilei beschreiben wollen, so bemerkt Leibniz an der angeführten Stelle, wenn er die Kraft des Stoßes verglichen mit der einfachen Tendenz der Schwere unendlich groß nennt. So befindet sich Berkeley auch in diesem Punkte in Übereinstimmung mit den Begründern der Bewegungslehre, wenn er den Gedanken abwehrt, daß unendlich kleine Teile der Kraft und der Bewegung in aktueller Wirklichkeit existieren (vgl. unten S. 96). — Die Sinnlichkeit führt eben nach Berkeley niemals auf homogene Teile, aus deren Aneinanderfügung der endliche Gegenstand sich aufbaute. Da es nach Berkeley nur die Kraftw i r k u n g , also nur lebendige Kraft gibt, die tote Kraft hingegen, genau gesprochen, ein Nichts darstellt, so kann er in diesem Sinne glauben, die Leerheit des Streites über das wahre Kraftmaß, wie er zwischen Leibniz und den Cartesianern geführt wird, bewiesen zu haben. ( § 1 5 S. 505.) Der Fall der Infinitesimalen ist nicht das einzige Beispiel des Gebrauchs abstrakter Begriffe in der Mechanik; die Bewegung bietet überall, wo sie Gegenstand der Erkenntnis wird, vom Standpunkte der Perzeption, unüberwindliche Schwierigkeiten. So gilt der mechanische Grundsatz, daß die Quantität der Bewegung immer dieselbe bleibt, augenscheinlich nicht von der sinnlichen Bewegung. „ D a ß die s i n n l i c h e B e w e g u n g v e r l o r e n g e h t , ist den S i n n e n o f f e n b a r . " (§ 19 S. 507.) E s ist ersichtlich, daß wiederum in diesem Begriffe der Erhaltung der Bewegung kein physisches Sein beschrieben wird. Wenn Leibniz bemerkt, daß das Streben überall und immer in der Materie sei und, wo es nicht den Sinnen bekannt wird,

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durch Vernunft erschlossen werde, so scheint auch in dieser Bestimmung eine metaphysische Existenz gesetzt und hiermit eine Erneuerung der substantiellen Formen und Entelechien stattzufinden. So bemüht sich Berkeley überall, den Punkt zu zeigen, an welchem die sinnliche Wahrnehmung verlassen wird. Behauptungen, welche über die Perzeption hinausgehen, scheinen allerdings von diesem Standpunkte aus ohne weiteres auf eine neue Art von Existenz metaphysischer Beschaffenheit zu führen (vgl. unten S. 108, S. 142). Das dritte Bewegungsgesetz, welches die Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung ausdrückt, wird einer Prüfung unterzogen. Hier bietet sich Gelegenheit, die systematischen Bedenken hinsichtlich des Kraftbegriffs klar zum Ausdruck zu bringen. „Man sagt: Wirkung und Gegenwirkung besteht in den Körpern, und d i e s e V o r a u s s e t z u n g t r i f f t f ü r d i e m e c h a n i s c h e n B e w e i s e zu." Die Kraft indes ist hier nicht anders zu verstehen, als bei der Attraktion. Wie diese nur eine mathematische Hypothese und keine physische Qualität ist, so gilt auch das gleiche von ihnen und aus demselben Grunde. Deshalb braucht man jedoch nicht — so geht das Zitat weiter — ein reales Vermögen, welches die Ursache der Bewegung oder ihr Prinzip ist, in den Körpern anzunehmen." (§ 28 S. 510.) Die Natur der Ursache, mag sie in einem Körper oder in einem unkörperlichen Urheber bestehen, ändert nichts an der Wahrheit der Theoreme: der wechselseitigen Anziehung der Körper und überhaupt aller Gesetze der mathematischen Physik. Den Blickpunkt der Betrachtung bilden einzig „die sinnlichen Wirkungen und die sich auf diese stützenden Schlüsse". Alle Wahrheit muß sich hier im theoretischen Gebiet letzten Endes auf Verhältnisse unter sinnlichen Perzeptionen beziehen und sich in solchen darstellen. — Der begriffliche Charakter der Gesetze der Bewegung enthüllt sich am ersten Bewegungsgesetze. Denn sollte unter Bewegung eine Realität und somit ein tätiges Prinzip verstanden werden, so würde sie das Streben bezeichnen, sich selbst zu bewegen und seinen Zustand zu ändern. Die Bewegung wird jedoch für die Mechanik gerade in der A b s t r a k t i o n von der Selbsttätigkeit definiert. „Jeder Körper beharrt in seinem Zustande der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung, solange er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, seinen Zustand zu ändern." (§ 33 S. 513.) Es wäre freilich ein falscher Maßstab, den man an die Mechanik legte, wollte man verlangen, daß sie die wirkenden Ursachen aufzeigte; ihre Aufgabe bestimmt sich als die Lehre von den Ge-

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setzen der Bewegung (§35 S. 513). Es gilt, aus den Gesetzen der Bewegung „die Auflösung der besonderen Phänomene, nicht hingegen die wirkende Ursache aufzuzeigen". (§ 35.) Eine eigene Frage bildet es, welchen Sinn das Prinzip innerhalb der Theorie besitzen kann. Die Experimentalphysik beruht auf Prinzipien, aus denen zwar nicht die Existenz, wohl aber d i e E r k e n n t n i s der Gegenstände sich ableitet. „Ähnlich wird in der Mechanik ein Prinzip genannt, worauf sich die gesamte Lehre stützt und worin sie enthalten ist, jene ersten Bewegungsgesetze, welche durch Experimente erprobt und durch Schlüsse ausgebaut und allgemein gemacht worden sind." (§ 36 S. 514.) In diesem Zusammenhang der Bestimmung des philosophischen Terminus Prinzip wird mit der Unterscheidung von metaphysischem und theoretischem Prinzip zugleich die Grenzscheide zwischen Naturwissenschaft und Metaphysik, der sogenannten philosophia prima, vollzogen. (§.34 S. 513.) Wiederum ist ein Standpunkt gewonnen, um die in eingeschränktem Sinne befehdeten abstrakten Begriffe, als theoretische Grund- und Lehrsätze, genau auszuzeichnen und anzuerkennen. Die Wissenschaft bedarf der Begriffe und allgemeinen Sätze, „in welchen auf eine gewisse Weise partikulare Sätze und Erkenntnisse enthalten sind, welche man dann erst eingesehen zu haben glaubt, wenn sie aus jenen ersten durch kontinuierliche Verknüpfung hergeleitet werden". In solchen Deduktionen aus Definitionen und ersten und allgemeinen Festsetzungen über die Bewegung im mathematischen Beweisgange erschöpft sich die Aufgabe der Physik. (§ 38 S. 514 f.) Die Abstraktionen waren befehdet worden, insofern sie eine Hypostasierung der Idee zur Einzelexistenz einzuschließen scheinen. Sie werden unter dem Gesichtspunkt des theoretischen Prinzips zugestanden. „Auf ähnliche Weise wie die Geometer um ihrer Disziplin willen vieles gedanklich festsetzen, was sie sich weder veranschaulichen noch in der Natur vorfinden können, wendet der Mechaniker abstrakte und allgemeine Worte an und fingiert in den Körpern eine Kraft, Tätigkeit, Anziehung, Beschleunigung usw., welche für die Theorie nützlich sind, o b g l e i c h man sie in d e r W i r k l i c h k e i t der D i n g e und in d e n a k t u e l l e x i s t i e r e n d e n K ö r p e r n v e r g e b l i c h s u c h e n w ü r d e ; ebensowenig wie dasjenige, was von den Geometern durch mathematische Abstraktion fingiert wird." (§ 39 S. 515.) Es gilt, sich zu vergegenwärtigen, daß die mechanischen Grundgesetze nicht eine sinnlich wahrnehmbare Existenz aussagen, sondern derselben Klasse

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und Gattung angehören, wie die mathematischen Hypothesen. Von dieser Erkenntnis muß man sich tief durchdringen, um einen Rückfall in die Subtilitäten der Scholastik zu vermeiden. (§ 40 S. 515.) So ist denn ersichtlich, daß, wenn von Berkeleys Standpunkte aus gegen eine mathematische oder mechanische Definition der Bewegung und Kraft ein Einwand erhoben wird, er sich nicht auf das interne Recht des Mathematikers oder Mechanikers in der Feststellung von Sinn, Leistung und Geltung des Begriffs beziehen wird, sondern die Polemik ihr einziges Objekt in einer metaphysischen Voraussetzung finden könnte, welche etwa aus der Formulierung der Definition spräche. Die Bewegung bezeichnet nach Berkeley den sinnlichen Effekt: — die zeitlich räumlich vollzogene Bewegung (vgl. oben S. 93). Die Natur der Bewegung kann also nicht in ihrer mathematischen Bestimmung durch das Differential der Geschwindigkeit oder Beschleunigung gelegen sein; eine Definition wie: „in der Bewegung ist nur jenes A u g e n b l i c k l i c h e r e a l , was in die die Bewegungsänderung erstrebende Kraft gesetzt werden muß", hat eine abstrakte Natur der Bewegung im Sinne, welche getrennt ist von der Betrachtung des Raumes und der Zeit. (§ 43.) Wenn man nun glaubt, daß Geschwindigkeit, Streben, Kraft usf., die verschiedenen Ausdrücke für das mechanische Element, ebensoviele verschiedene Dinge sind, die durch gesonderte und abstrakte Ideen dem Geist repräsentiert werden, so ist die Hinfälligkeit dieser Unterscheidungen bereits früher bemerkt worden (§ 44 S. 517, vgl. oben bes. S. 89). Wohin das Abstraktionsverfahren am Begriff der Bewegung und ähnlichen Begriffen führt, insofern nicht beispielweise die reale Bewegung als einzige Wirklichkeit gedacht wird, zeigen die Schwierigkeiten, die Aristoteles in diesem Begriffe fand, wie schließlich besonders die völlige Leugnung der Bewegung im Altertum. ( § 4 5 S. 517.) So scheint die Quelle zur Lösung der Aporien, die der Begriff der Bewegung und die verwandten Begriffe der unendlichen Teilbarkeit des Raumes und der Zeit der philosophischen Spekulation verursachten, aufgezeigt. Eine Abstraktion, welche der Theorie im Systeme ihrer Aufgaben erlaubt sein mag, wird als ein reales Dasein ausgegeben, das auch besonders für sich besteht. Es ist nicht die Frage, ob der fliegende Pfeil in jedem Momente seiner Bahn tatsächlich ruht, sondern, ob sich der Rückgang auf das Raumelement als eine konstitutive Bedingung des Denkens der Raumgröße nachweisen läßt; nicht, ob die Änderung des Ortes sich infinitesimal, d. i.

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im unteilbaren Zeitpunkt tatsächlich vollzieht, sondern, ob die Bestimmung des Endlichen die Ableitung aus dem unendlich kleinen Zeitelement mathematisch voraussetzt. — In den Ausführungen Berkeleys freilich, welche den fiktiven Charakter der mathematischen Hypothesen geltend machen, soll nicht so sehr der reine Begriff charakterisiert, als vielmehr gezeigt werden, daß den mathematischen Hypothesen jedenfalls keine äußere Realität entspricht. So drohen die mathematischen und mechanischen Grundbegriffe ihres Wahrheitsgehaltes und des Geltungswertes für den synthetischen Aufbau des Gegenstandes der Wissenschaft verlustig zu gehen, weil sie der Forderung nicht genügen, den vollendeten Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung zu bezeichnen. Wenn also die idealistischen Versuche, den Gegenstand zu begründen, die Realität in der mathematischen Bestimmung der infinitesimalen Beschleunigung ansprachen, so erhebt Berkeley hier mit Unrecht den Vorwurf einer falschen Abstraktion. (Vgl. oben S. 96.) Die infinitesimale Beschleunigung oder Kraft kann deshalb im eminenten Sinne als real gelten, weil in ihr ein mathematischer Oberbegriff gefunden ist, aus welchem durch fortschreitende einschränkende Bedingungen (durch die Bedingungen der Integration) der Gegenstand der mathematischen Physik im deduktiven Verfahren gewonnen wird. Der Begriff des absoluten Raumes war bereits in den Prinzipien polemisch erörtert worden. Es handelt sich hier um die Schwierigkeiten, auf welche man sich geführt sieht, wenn man den reinen Raum zu einer absoluten Existenz macht. „Nehmen wir an, daß alle Körper zerstört und in Nichts verwandelt werden; was übrigbleibt, nennt man den absoluten Raum; nachdem man jegliche Relation, welche aus der Lage und den Entfernungen der Körper entstand, zugleich mit den Körpern selbst aufgehoben hat." (§ 53 S. 520.) Wenn die wirklichen Dinge aufgehoben sind, so bleibt keine physische Existenz und keine Relation übrig, die immer nur zwischen Teilen des materiellen Universums stattfinden könnte. Unter dieser Voraussetzung, daß der absolute Raum eine physische Existenz bezeichne, ist es verständlich, daß seine Attribute: unendlich, unbeweglich, unteilbar, nicht perzipierbar, ohne Relation und ohne Unterscheidung für negativ und gehaltlos erklärt werden. Es ist ersichtlich, daß der Begriff des absoluten Raumes, wie er hier behauptet wird, sich den Bedingungen der Wahrnehmbarkeit widersetzt, da er weder eine bestimmte Größe noch Gestalt, noch Bewegung, n o c h C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VIIT,2

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überhaupt irgendeine sinnliche Beschaffenheit zuläßt. Es würde hiermit ein abstrakter Begriff nicht im Sinne eines theoretischen Prinzips und als Beziehungsbegriff zwischen möglichen Einzelvorstellungen, sondern im befehdeten hypostasierenden Sinne behauptet. Selbst an den Resultaten der Kritik der reinen Vernunft gemessen gewinnt diese Befehdung des so verstandenen absoluten Raumes Bedeutung. Die Bestimmung des Verhältnisses, welches hier unter den Unterscheidungen empirische Realität und transzendentale Idealität der Formen der Anschauung beschrieben wird, bildet den Schlüssel dieser Frage. „Transzendentale Idealität" des Raumes bedeutet „daß er Nichts sei, sobald wir die Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung weglassen und ihn als etwas, was den Dingen an sich selbst zum Grunde liegt, annehmen." (Kritik a. a. O. S. 62.) In diesem Sinne befindet sich mithin Berkeley im Recht, wenn er einen außerweltlichen Raum, wie er hier beschrieben wurde, leugnet. — Freilich schon in der Isolierung der Erkenntnisbedingungen scheint Berkeley eine Hypostasierung zu sehen. (Vgl. oben S. 84.) Die Begriffe, welche den reinen Raum auszeichnen, Unteilbarkeit, Unendlichkeit, Unbeweglichkeit, ohne Beziehung auf äußere Gegenstände, nicht perzipierbar und gleichförmig, sind einer rationalistischen Deutung auf den Raum der Geometrie angepaßt. Die polemische Tendenz Berkeleys richtet sich hier außerdem freilich gegen die Metaphysik Newtons, die den Raum im Anschluß an die religiöse Mystik Henry Mores zum Attribut Gottes und als solches zum realen Wesen macht. Diese philosophische Richtung sucht die Realität des Raumes metaphysisch zu erweisen; so behauptet sie, daß der Raum „ewig und unerschaffen und daher der göttlichen Attribute teilhaftig ist". (§ 54 S. 520.) Die Schwierigkeit, den reinen Raum anzuerkennen, ergibt sich psychologisch; er wird weder sinnlich perzipiert, noch kann er in der Einbildung erfaßt werden; denn diese Fähigkeit bezieht sich auf die Vorstellung des Sinnlichen. (Vgl. oben S. 7.) „Er entzieht sich zudem dem reinen Verstand" ( § 5 3 S. 520). Wir stehen somit hier an einem geschichtlichen Beispiel für die Schwierigkeiten, zu deren Auflösung Kant die Unterscheidung von reinem Denken und reiner Anschauung vollzog. Die Auflösung des Raumproblems liegt also schon der historischen Entwicklung gemäß außerhalb der Grenzen des Berkeleyschen Systems; indes die Schwierigkeiten und Aporien, auf welche die Annahme des realen, absoluten Raumes führt, werden erkannt und bestimmt und dienen hierdurch dazu, die Diskussion und Fortbildung

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des Raumproblems zu fördern. „ D a es j e d o c h a l l e r d i n g s ganz sicher ist, daß a l l e D i n g e , w e l c h e wir mit W o r t e n bezeichnen, durch E i g e n s c h a f t e n oder Relationen w e n i g s t e n s zum Teil e r k a n n t werden, denn es w ä r e zweckw i d r i g , daß dem W o r t e nichts B e k a n n t e s , kein B e g r i f f , k e i n e V o r s t e l l u n g o d e r B e d e u t u n g u n t e r g e l e g t würde, so müssen wir uns sorgfältig fragen, ob es freisteht, irgendeine Idee jenes reinen, realen, absoluten Raumes zu bilden, welcher nach der Vernichtung der Körper zu bestehen fortführe." (§ 54 S. 521.) Der reine Raum kann kein Bestand in der äußeren Natur sein; soll er eine berechtigte Annahme sein, so muß das Recht dieses Begriffs in seiner Bedeutung liegen, die sich auch nach Berkeley nicht in Darstellungen in concreto zu erschöpfen brauchte. Die Bewegung ist ihrer Natur nach relativ; in der äußersten Abstraktion vom äußeren Körper denken wir in Wahrheit immer noch keine absolute Bewegung, sondern verlegen den Bezugspunkt der Bewegung in unseren eigenen Körper. (§55 S. 521.) Was ist nun gegeben? Der zu den Teilen unseres Körpers relative Raum und das fehlende Merkmal des Widerstandes durch die Anwesenheit von Körpern in demselben. Außer diesen beiden nichts. Denn wie sollte auch durch die negative Bestimmung der Abwesenheit von Körpern ein unendlicher realer Raum gesetzt sein? Denkt man sich beispielsweise eine einzige Kugel nach Vernichtung aller übrigen Körper bestehend, so würde an ihr gar keine Bewegung wahrgenommen werden können. (§ 58 S. 522.) Man kann also nicht den wahren Ort eines Körpers als den Teil des absoluten Raumes definieren, welchen der Körper einnimmt, und die wahre oder absolute Bewegung als die Veränderung des wahren und absoluten Ortes. Alle Bestimmungen der Gegenstände sind Relationen des Geistes, die er unter den Perzeptionen der Gegenstände stiftet. Welchen Sinn kann danach die Existenz eines einzigen bestehenden Dinges bedeuten, da diese Voraussetzung mit dem Verhältnis zu anderen Körpern seine Bestimmbarkeit aufhebt? Aus den Prinzipien Newtons wird das Beispiel der Kugeln angeführt, welche, durch einen Faden verbunden, um ihren gemeinsamen Schwerpunkt gedreht werden. Newton dient dieses Beispiel dazu, das empirische Kriterium für die Bestimmung der wahren Kraft zu zeigen und zu beweisen, daß diese auch ohne ein äußeres Vergleichsobjekt erkennbar ist. Die Spannung des Fadens sollte hier das Auftreten der Kraft, die Anbringung von Kräften an den entgegen7*

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gesetzten Seiten der Kugeln durch die Änderung der Spannung die Größe der Bewegung und je nach der Wirksamkeit der Beschleunigung oder Verzögerung durch die angebrachten Kräfte die Richtung der Bewegung erkennen lassen. „ W a s auch durch die Anbringung von Kräften eingesehen werden mag, so kann doch die Kreisbewegung der beiden Kugeln um den gemeinsamen Schwerpunkt nicht in der Einbildungskraft erfaßt werden. Nehmen wir jetzt an, daß der Fixsternhimmel geschaffen werde. Sofort wird aus dem erkannten Impulse der Kugeln nach den verschiedenen Teilen dieses Himmels hin die Bewegung erkannt werden. Denn da die Natur der Bewegung relativ ist, so konnte sie freilich nicht erkannt werden, bevor die Bezugskörper gegeben waren. In derselben Weise kann auch keine andere Relation ohne Bezugskörper erkannt werden." 1 ) (§ 59 S. 522.) Die Kriterien der Mechanik mögen dahingestellt bleiben; die angewandte Physik hat es mit sinnlichen Relationen zu tun, die empirische Bezugskörper voraussetzen oder doch für die Anwendung fordern. — In der Natur wird man vergeblich eine wahre Kreisbewegung suchen. Man definiert die Teile des absoluten Raumes als die wahren Stellen der Körper. „Es darf nicht übersehen werden, daß die Bewegung des Steines in der Schleuder oder des in dem in Umdrehung versetzten Gefäße befindlichen Wassers nicht eine wahre Kreisbewegung im Sinne derer genannt werden darf, w e l c h e die w a h r e n S t e l l e n d e r K ö r p e r d u r c h die T e i l e d e s a b s o l u t e n R a u m e s d e f i n i e r e n . Denn diese ist auf wunderbare Weise zusammengesetzt nicht nur aus den Bewegungen des Gefäßes oder der Schleuder, sondern auch der täglichen Bewegung der Erde um ihre eigene Achse, der monatlichen Bewegung um den gemeinsamen Schwerpunkt der Erde und des Mondes und der jährlichen Bewegung um die Sonne: und deshalb beschreibt jedes Teilchen des Steines oder des Wassers eine von der kreisförmigen weit abweichende Linie. Es gibt also tatsächlich keine solche Fliehkraft, wie sie angenomnen wird, da sie s i c h n i c h t auf e i n e A c h s e n a c h A r t d e s a b s o l u t e n R a u m e s b e z i e h t , die A n n a h m e z u g e g e b e n , d a ß ein s o l c h e r R a u m g e g e b e n sei. Deshalb sehe ich nicht, wie ein Streben einzig genannt werden kann, so daß die wahre kreisförmige Bewegung ihm als ange') Die konsequente Fortbildung dieser Ansicht in empiristischer Richtung findet sich bei Mach; vgl. hierzu Ernst Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff S. 230.

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messene und adäquate Wirkung entspricht." (§ 62 S. 523.) In diesen Ausführungen, so sehr sie sich gegen Newton richten, gibt Berkeley dennoch die Mittel an die Hand, die Ansicht zu widerlegen, als ob der absolute Raum losgelöst von den Prinzipien und Gesetzen der Bewegung an sich „gegeben" sei. Die wahren Stellen sind nur deshalb Teile des absoluten Raumes, weil sie als Stellen der in den mechanischen Bewegungsgesetzen konstituierten Bewegungsvorgänge gedacht werden. Die Kreisbewegung ist auch nach Newton, zu dem sich Berkeley hier nur scheinbar im Widerspruch befindet, nur deshalb das Musterbeispiel der wahren, mathematischen, absoluten Bewegung, weil sie dasjenige Mittel ist, welches die einheitliche mechanisch-dynamische Auffassung des kopernikanischen Weltsystems ergibt. Um nun die Eindeutigkeit des Bezugssystems zu wahren, hält es Berkeley für hinreichend, den Fixsternhimmel als Bezugskörper zu denken, indem dieser als ruhend betrachtet und an Stelle des absoluten Raumes gebraucht wird. „Bewegung und Ruhe, die durch einen solchen relativen Raum definiert sind, können a n g e m e s s e n an S t e l l e a b s o l u t e r a n g e w a n d t w e r d e n , welche sich von jenen durch kein Kennzeichen unterscheiden lassen." (§ 64 S. 524.) Wie ersichtlich auch Berkeley im Begriff des absoluten Raumes den Zusammenhang von Begriff und Perzeption vor Augen hat und das Problem der Anwendung des reinen Begriffs auf die sinnliche Erscheinung denkt, so bleiben dennoch in dieser Ansicht vom Beziehungsbegriffe unter Vorstellungen vom Standpunkte des systematischen Aufbaues der mathematischen Naturwissenschaft Schwierigkeiten zurück. — Mögen wir auch relative Orte unter dem Gesichtspunkt und in Vertretung des absoluten und mathematischen Raumes in concreto anwenden, so ist darum nicht erwiesen, daß wir den Gedanken einer einzigen Ordnung des Raumes, wie sie in der wahren Stelle postuliert wird, entbehren können. „Die Gesetze der Bewegungen, die Wirkungen und die Theoreme, welche ihre Proportionen und Berechnungen enthalten, gemäß den verschiedenen Gestalten der Bahnen, in gleicher Weise den verschiedenen Beschleunigungen und Richtungen, den mehr oder weniger widerstehenden Mitteln, dies alles besteht ohne Anrechnung der absoluten Bewegung." (§ 65 S. 524.) Hier indes erhebt sich ein Einwand. Wenn die reine Mechanik in Gesetzen, Theoremen und im mathematischen Kalkül gesichert ist, so ist hiermit das Postultat des reinen Raumes gesetzt und verbürgt; die Mechanik braucht sich der Grund-

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legung des wahren Raumes, der wahren Zeit, der wahren Bewegung nicht in jedem ihrer Schritte bewußt zu sein; sie entsteht als Disziplin erst mit diesen Grundbegriffen. Auch Berkeley kann den Begriff des absoluten Raumes nicht völlig entbehren, nur daß er zu seiner Stellvertretung relative Räume als erforderlich nachweist; in der Anwendung auf den konkreten Einzelfall freilich unterscheiden sich absolute und relative Räume und Bewegungen durch kein spezifisches Kennzeichen; die Theoreme und begrifflichen Unterscheidungen der Physik haben einzig auf sinnliche Phaenomene Bezug; so müssen sie sich letzten Endes mit den Bedingungen der Einbildungskraft und sinnlichen Anschauung in Einklang bringen lassen. Das zweite Bewegungsgesetz, welches von der Änderung der Bewegung handelt, setzt in dem Begriff der einwirkenden Kraft, dem die Bewegungsänderung proportional ist, den Begriff der Ursache voraus. Indes die Mitteilung der Kraft von einem Körper an den anderen, ein Problem, das die Abhandlung mit in den Titel aufgenommen hatte, wird hier ebensowenig erklärt, als sonst in der Mechanik die wirkende Ursache bestimmt wird. . . „Alle Kräfte, welche Körpern zugeschrieben werden, sind ebenso mathematische Hypothesen, wie die Anziehungskräfte in den Planeten und der Sonne. N u n h a b e n m a t h e m a t i s c h e W e s e n h e i t e n i n der N a t u r d e r D i n g e k e i n b e h a r r l i c h e s S e i n , sondern hängen von d e m B e g r i f f d e s D e f i n i e r e n d e n ab; so kommt es, daß dieselbe Sache auf verschiedene Weise erklärt werden kann." (§ 67 S. 525.) Wiederum ist der rationale Gedanke von dem konkreten Sein unterschieden. In dieser Freiheit der Definition von dem äußeren Objekte bezeugt sich die Autonomie des Denkens. Eine Definition ist nicht an die Natur der Dinge gewiesen, sondern ihr Bestand beruht auf der Forderung, „eine Sache hinreichend zu erklären". Wenn nun darauf hingewiesen wird, daß die Definitionen der Kraft bei verschiedenen Autoren, bei Torricelli und Newton, verschieden und dennoch dem Objekte gemäß sind, so enthüllt diese Bestimmung der Definition den Mangel, welchem wir bereits früher begegnet sind. (Vgl. oben S. 92.) Wir sehen uns auf einen Gegenstand verwiesen, der unabhängig von Sinn und Bedeutung der Definition besteht, die von außen an ihn herantritt und ihn empirisch beschreibt. Die Frage droht vom Begriff auf den Gegenstand abzulenken.

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II. Zeichentheorie. Das Auge, das Ohr! Zu welchen Feinheiten ist der Mensch schon durch sie gelangt und wird in einem h&hern Zustande gewiß weiter gelangen, da, wie Berkeley sagt, das Licht eine Sprache Gottes ist, die unser feinster Sinn in tausend Gestalten und Farben unablässig nur buchstabieret. (Herder, Ideen zur Philosophie der Oeschichte der Menschheit, 4. Buch 3. Kap.)

Die Theorie des Sehens hatte den Satz aufgestellt, von dem sie ihren Ausgang nahm, daß die räumliche Distanz, ohne selbst perzipierbar zu sein, dennoch durch das Gesicht perzipiert wird. (Theorie des Sehens a. a. O. § I i . ) Der Sinneseindruck der Schwäche, Verworrenheit, Klarheit, Lebhaftigkeit der Erscheinung, die Anstrengung der Akkomodation oder sonst irgendwelche Vorstellungen, welche an sich gar keine Ähnlichkeit mit der Entfernung haben und mit der Entfernung in keiner notwendigen Verknüpfung stehen, enthalten unmittelbar und an s i c h auch keinen Hinweis auf verschiedene Grade der Entfernung und Entfernung überhaupt; die Entfernung ist mithin nicht etwa selbst eine Perzeption. Nur in der Erfahrung zeigt sich eine Verknüpfung von Gesicht und Tastwahrnehmung, welche nunmehr gestattet, die Gesichtswahrnehmung mittelbar als Zeichen eines Objekts der Tastwahrnehmung zu gebrauchen. Die Verknüpfung zwischen Zeichen und bezeichnetem Objekt wird ganz analog der Wortbedeutung der Sprache, welche wir auch erst erlernen müssen, um die Wortzeichen zu verstehen, hier durch die in der Erfahrung in beständiger Wiederholung angetroffene Verknüpfung kennen und deuten gelernt. Der Gesichtseindruck ist an und für sich isoliert. Erst im Prozeß der Erfahrung gewinnt er eine bestimmte Bedeutung, indem er zum Zeichen für einen Zusammenhang von Wahrnehmungen desselben Sinnes oder verschiedener Sinne und in diesem Sinne für ein durch ihn bezeichnetes Objekt wird. — Das Zeichen trat bereits in den Prinzipien im Anschluß an die Theorie des Sehens an die Stelle des Begriffs der Ursache. Der Wert und der Bestand dieses Begriffs beruht nicht darauf, ein methaphysisches Erklärungsprinzip der körperlichen Substanzen zu sein, sondern die Vorausbestimmung künftiger Wahrnehmungen durch Beobachtung der Verbindung, in der sie auftauchen, zu ermöglichen. Wenn wir den Zusammenstoß von Körpern nicht unmittelbar wahrnehmen, so wird er doch durch die mit dem Vorgang verbundene Schallempfindung bekannt. Der Gegenstand wird somit mit einem konstanten Zusammenhang von Vor-

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Stellungen identisch. Der Begriff der Ursache wird zum Zeichen, insofern die einzelne Wahrnehmung oder Sinnesempfindung befähigt wird, eine mit ihr im Erfahrungsprozeße jederzeit verbundene der Erkenntnis zu repräsentieren. Die Wahrnehmung, welche etwas rein Passives ist, wird dadurch, daß sie zum Zeichen wird, zum Korrelat des Begriffs. Berkeley erkannte, wie wir sahen, den Begriff nur in dem psychologischen Terminus des Zeichens an. In der Sprache und in der Arithmetik ist die Willkür der Zeichengebung ersichtlich. Der Wert des Zeichens liegt hier in der Definition, welche dem Zeichen seine Bedeutung gibt. Diese jedoch enthüllt klar und unzweideutig die Aktivität und Originalität des Denkens. Ein Zeichen in der Arithmetik ist passend gewählt, wenn es die gesetzmäßige Bildung der Zahlreihe auf die einfachste und zweckmäßigste Weise zum Ausdruck bringt. Die Zeichen müssen den Operationen des Denkens angepaßt sein. So gelingt es, in Zeichen zu rechnen, ohne daß die Beziehung auf den Gegenstand, welchen das Zeichen vertritt, den man sich nicht bei dem Gebrauch des Zeichens selbst vorzustellen braucht, fallen gelassen wird. Die Rechnung in Zeichen, welche keine Ähnlichkeit mit den Dingen haben, führt zu Resultaten, welche auf die Dinge Anwendung finden. Wie nun Worte und Zahlziffern zu Zeichen werden, so werden es auch die Wahrnehmungen oder Empfindungen; so haben also auch diese keine Ähnlichkeit mit dem bezeichneten Objekt. Es scheint, gerade vom sensualistischen Standpunkt aus, ein Widerspruch in dieser Behauptung zu liegen. Das sinnliche Objekt unterscheidet sich nicht von dem Gegenstand der unmittelbaren Sinneswahrnehmung. A m Problem der Entfernung wurde dieser Widerspruch zuerst aufgedeckt (vgl. oben S. 103). Das äußere Objekt soll freilich beständig abgewehrt werden; am Begriff des Zeichens vollzieht sich diese Idealisierung der Materie. Die Theorie des Sehens hatte, nach Berkeleys eigenem Zeugnis, den Gegenstand der Tastempfindung nur problematisch als äußeres Objekt bestehen lassen, weil nur die Kritik der Gesichtsempfindung ihre Aufgabe bildete. Es ist nun charakteristisch, daß, so sehr auch die Berkeleysche Lehre strebt, den Gegenstand aus Perzeptionen aufzubauen und in ihnen und in den durch Erfahrung gegebenen Zusammenhängen der Perzeptionen erschöpfend bestehen zu lassen, gerade in der Leugnung des Objektes das Objekt beständig gesetzt wird. Dieses Auffinden der echten Grundprobleme der Philosophie ist gerade eine Frucht der kritischen Analyse,

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welche sich Berkeley zur Aufgabe stellt. Die Befehdung des reinen Denkens und des reinen Begriffs führte mit einer gewissen Notwendigkeit auf das Desiderat dieser Erkenntnismittel. Die Begriffe des reinen Raums, der reinen Zeit und die Beispiele für die punktuelle Begründung der Erscheinung wie des Differentials und der Fluxion sind die unentbehrlichen Stützen der Berkeleyschen Kritik, welche er beständig zu entwickeln strebt und anwendet, für welche ihm jedoch die Mittel der Bestimmung gemäß seinem Ausgangspunkt von dem Perzeptions- Begriffe fehlen, und die er daher als inhaltsleer verwerfen zu dürfen glaubt. V o n diesen Begriffen wird freilich nur gesagt, was sie jedenfalls nicht sein sollen, Perzeptionen und Dinge. Es bedürfte nur der prinzipiellen Anerkennung dieser Art des Seins im Bewußtsein und der terminologischen Bestimmung; über den theoretischen Gebrauch dieser Grundbegriffe und ihren Nutzen konnte auch für Berkeley, wie sich besonders noch im Analyst zeigen wird, kein Zweifel bestehen. Berkeley freilich geht von einem festen Erkenntnisbegriff aus, wenn er das Sein in die Perzeption setzt, und prüft an ihm die Voraussetzungen der Wissenschaft. Die kritische Betrachtung versucht umgekehrt, an der Wissenschaft und ihrer formalen Einheit die Bedingungen der Erkenntnis und in ihneg den Begriff der Erkenntnis zu bestimmen. So wird auch das Objekt im echten theoretischen Sinne implicit anerkannt. Denn es handelt sich nicht darum, ob das Objekt der Tastwahrnehmung unabhängig vom Bewußtsein gegeben ist, sondern ob mit der unmittelbaren Sinneswahrnehmung das Objekt bekannt und gegeben wird. Die erste Beleuchtung der unmittelbaren Sinneswahrnehmung erstreckte sich darauf, das Objekt der Sinneswahrnehmung als Eigentümlichkeit derselben in der Eigenart des Sinnes zu begründen und von aller Zutat des begrifflichen Denkens rein zu isolieren. V o n den Objektivierungen des Lichtes zur Schwingungszahl usf. wurde hier bewußt abgesehen. Die Ätherschwingung, welche je nach der Beschaffenheit des erregten Sinnesorgans als Licht oder Wärme usf. sich kundgibt, sollte nicht an sich, sondern in dieser Darstellung in der unmittelbaren Sinneswahrnehmung betrachtet werden. So ist der Gedanke bereits vorbereitet, daß die Empfindung zum Zeichen für ein Objekt wird, mit welchem es keine Ähnlichkeit besitzt, das es jedoch zu vertreten und ins Bewußtsein zu rufen bestimmt ist. — Die Theorie des Zeichens hat ihr besonderes Feld der Anwendung in der Theorie des Sehens. Helmholtz weist darauf hin, daß die empiristische

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Theorie des Sehens den Begriff des Zeichens aufgestellt hat. „Diese Theorie nimmt an, daß unsere Sinnesempfindungen uns überhaupt nichts weiter geben, als Zeichen für die äußeren Dinge und Vorgänge, welche zu deuten wir durch Erfahrung und Übung erst lernen müssen." 1 ) Berkeley sieht des Rätsels Lösung, wie die Gesichtswahrnehmung zum giltigen Zeichen für eine Empfindung einer von ihr wesentlich verschiedenen Art, die Tastwahrnehmung, werden kann, in der Allgemeinheit und Beständigkeit dieser Zeichen. „Diese Zeichen sind konstant und universell. Ihre Verknüpfung mit tastbaren Vorstellungen wurde von uns bei unserem ersten Eintritt in die Welt gelernt." Die Konstanz und Allgemeingiltigkeit beruht hier, wie ersichtlich, nicht auf einem Urteil, sondern auf der natürlichen Einrichtung dieser Zeichen. 2 ) Das Zeichen gehört, wie wir sahen, derselben Art und derselben Dimension des Seins an, wie die durch es bezeichneten sinnlichen Dinge. Ihre Konstanz und Allgemeingiltigkeit finden die letzte Erklärung in der in einer Natureinrichtung begründeten Korrespondenz mit dem bezeichneten Objekt. Um nun die Vergleichung dieser ungleichartigen Elemente, des Zeichens und des bezeichneten Objekts, begreiflich zu machen, wird eine „Präformation" angenommen. — Indes die Verbindungen der Vorstellungen sind von der subjektiven Empfindung unterschieden. „Ich finde es also bestätigt, daß die Schätzung, welche wir von der Entfernung beträchtlich entfernter Objekte machen, eher ein auf Erfahrung begründeter Akt des Urteils, als ein Akt der Sinneswahrnehmung ist." (A. a. O. § 3 . ) In diesem Zusammenhang kommt mithin das Urteil neben der Sinneswahrnehmung zur Auszeichnung. Das Urteil ist insbesondere erforderlich, weil die Gesichtswahrnehmung nicht in ihrer Isoliertheit, sondern in ihrem Bezug zur Tastwahrnehmung betrachtet wird. . . . „die Urteile, welche wir über die Größe der Objekte der Gesichtswahrnehmung fällen, beziehen sich immer auf ihre tastbare Ausdehnung." (A. a. O. § 61.) Die Urteile haben freilich ihren Grund einzig in dem empirisch gegebenen Zusammenhang der Vorstellungen. Es ist interessant, zu bemerken, wie Kant diesen Gedanken der Assoziation der Vorstellungen in der „Kritik der reinen Vernunft" aufnimmt, beleuchtet und für seine Aufgaben fruchtbar macht. Er sieht in ihm eine Voraussetzung des Gesetzes der Reproduktion. ') Vorträge und Reden a. a. O. Bd. I, S. 332. ») Vgl. hierzu Erster Teil S. 23.

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Diese Voraussetzung besteht darin, „daß die Erscheinungen selbst wirklich einer solchen Regel unterworfen sind, und daß in dem Mannigfaltigen ihrer Vorstellungen eine gewissen Regeln gemäße Begleitung oder Folge stattfinde; denn ohne das würde unsere empirische Einbildungskraft niemals etwas ihrem Vermögen Gemäßes zu tun bekommen. . . ." (A. a. O. S. 613). Im Sinne der transzendentalen Fragestellung muß der Grund dieser „Reproduzibilität" im erkennenden Subjekt und den Bedingungen des Erkennens gesucht werden. 1 ) Wir würden, wie es in der zweiten Bearbeitung heißt, nicht zu der Analysis der Vorstellung gelangen, wenn nicht die Synthesis des Denkens vorherginge. . . . „Wo der Verstand vorher nichts verbunden hat, da kann er auch nichts auflösen, weil es nur durch ihn als verbunden der Vorstellungskraft hat gegeben werden können." (A. a. O. S. 113.) Die Verbindung der Vorstellungen, auf welche die Repräsentation einer Vorstellung durch eine andere und somit der Begriff des Zeichens beruht, ist für die empiristische Ansicht Berkeleys eine Tatsache der Erfahrung, welche nicht weiter reduzierbar ist. Sofern das Gesetz der Vorstellungen noch einer Erklärung, abgesehen von der Erfahrung, bedarf, findet es seinen letzten Halt in einer metaphysischen Voraussetzung. Diese neue Wendung, welche über unsere bisherigen Betrachtungen hinausführt, nimmt die Zeichentheorie im Dialog Alciphron, welcher sie im Zusammenhang religiöser Probleme erörtert und sie hierdurch in ein neues Licht zu setzen bestrebt ist. Dieses Problem der Verbindung der Vorstellungen bildet in der Tat die eigentliche Schwierigkeit des Berkeleyschen Systems. Die Einheit, welche Gesichts- und Tastempfindung verbindet, ist in der Tat keiner weiteren empirischen Ableitung fähig. 2 ) Wenn sie dennoch als Problem empfunden wird, so bezeugt sich hierin wiederum das Desiderat des reinen Begriffs wie hier des Rau') „Reproduzibilität" bedeutet hierbei nicht, wie instruktiv zu bemerken, die Bedingung, unter welcher empirisch die Reproduktion zustande kommt, sondern ist im Sinne der transzendentalen Methode Kants als „Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung" zu verstehen. Die bestrittene Ansicht scheint F. Maywald zu vertreten. „Kants Beweis der transzendentalen Synthesis der Einbildungskraft", Archiv für Gesch. der Philosophie Bd. 29 bes. S. 214. 2 ) Vgl. für das Problem des Raumes als Beziehungsweise unten S. 119. Die Begründung der Einheit des Raumes bildet auch in der modernsten Ausgestaltung der empiristischen Raumtheorie durch Wundt die eigentliche Schwierigkeit. — Über die Unbestimmtheit in dieser Frage berichtet Donalda Mac F e e a. a. O. S. 108 f., vgl. oben S. 33 nebst Anra.

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mes als der Ordnung für die Möglichkeiten des Beisammen. Wenn, wie Berkeley darlegt, mit der am Tastsinn entwickelten Raumvorstellung noch nicht die Raumvorstellung in bezug auf Gesichtswahrnehmungen gegeben ist, so beweist dies nicht, daß es sich in beiden Fällen nicht um denselben Begriff handelt. Der Mangel der Unterscheidung von Vorstellung und Begriff tritt hier besonders deutlich zutage. Im Berkeleyschen Sinne führt dieses Problem der Einheit verschiedener Vorstellungen zur metaphysischen Auflösung durch den Begriff Gottes. Wo immer das Desiderat des reinen Begriffs und des reinen Denkens empfunden wird, wo eine Unterscheidung von der sinnlichen Perzeption als erforderlich erkannt wird, kann sie im Berkeleyschen Sinne gemäß der Festsetzung der Prinzipien nur in der zweiten Art des Seins von Geistern gesucht werden. (Vgl. oben S. 94.) Denn die Prinzipien unterschieden zwischen der Erkenntnis durch Ideen und der Erkenntnis von Geistern durch Begriffe (notions). — Das Problem der Verbindung der Vorstellungen, wie es bei Berkeley gemäß seiner allgemeinen idealistischen Ansicht zum Ausdruck kommt und wie es sich kritisch neu bestimmt, ist wichtig genug, um es ins Einzelne zu verfolgen. Berkeley glaubte, in seiner Bestimmung des Begriffs von dem Sachverhalt nicht absehen zu dürfen, daß in jedem sinnlichen Objekte die verschiedenen sinnlichen Qualitäten, Farbe und Ausdehnung und Gestalt usf., gemischt und verbunden erscheinen und erklärte demgemäß die abstrakten allgemeinen Begriffe für wertlos. Wir sehen, wie die kritische Ansicht diesen Gedanken der Perzeption als einer Verbindung von Vorstellungen aufnimmt. Sie braucht zwar den von Berkeley bekämpften abstrakten oder, wie er hier heißt, „analytischen" Begriff nicht zu verwerfen, aber sie läßt ihn erst aus der Synthesis nachträglich hervorgehen. Die Synthesis freilich, welche empirisch Assoziation und zufälliges Beieinander der Vorstellungen ist, wird im prägnanten Sinne als Einheit zum Problem. In dieser kritischen Korrektur ist „ d i e s y n t h e t i s c h e E i n h e i t der A p p e r z e p t i o n der h ö c h s t e P u n k t , an dem man a l l e n V e r s t a n d e s g e b r a u c h , s e l b s t die g a n z e L o g i k und n a c h ihr die T r a n s z e n d e n t a l p h i l o s o p h i e h e f t e n muß, j a d i e s e s V e r m ö g e n ist der V e r s t a n d s e l b s t " . 1 ) Auch für Berkeley bleibt gemäß seinem Ausgang von der unmittelbaren Perzeption ein Problem in dem Sachverhalt zurück, wie eine Sinneswahr') Kritik der reinen Vernunft a. a. O. S. 115 Anm.

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nehmung zum Zeichen von anderen Sinneswahrnehmungen, die doch keine notwendige Beziehung zu ihr besitzen, dienen kann. So heißt es in der Verteidigung der Theorie des Sehens gegen die Einwände eines anonymen Gegners: „Licht, Schatten und Farben würden ihm (dem Blindgeborenen, der eben sehend geworden ist), nichts hinsichtlich harter oder weicher, rauher oder glatter Körper eingeben: noch würden ihre Größen, Grenzen oder ihre Ordnung ihm geometrische Gestalten oder Ausdehnungen oder Lagen ins Bewußtsein rufen, wie sie es unter der gewöhnlichen Annahme tun müßten, daß diese Objekte dem Gesicht und Getast gemeinsam sind." 1 ) Wie kann die Sinneswahrnehmung als Zeichen etwas bedeuten, was sie nicht ist? W a s ist ferner dasjenige, was sie bedeutet? Sind es Tastwahrnehmungen, so würde diese Frage von diesen auf die Gesichtswahrnehmung zurückgehen. Es kann indes auch kein Objekt sein, denn das äußere Objekt muß uns auf dieser Stufe der Betrachtung als widerlegt gelten. Welche andere Art von Objekt ist es, welche in der Bedeutung des Zeichens gemeint ist f Die Antwort auf diese Frage bringt der Alciphron. „Im ganzen scheint es, daß die eigentlichen Objekte des Gesichtes Licht und Farben sind, in ihren verschiedenen A b stufungen und Graden. Alles dies, unendlich differenziert und zusammengesetzt, bildet eine Sprache, welche wunderbar geeignet ist, uns die Gestalten, Entfernungen, Lagen, Dimensionen und verschiedenen Qualitäten tastbarer Objekte zu suggerieren und darzustellen, nicht durch eine Ähnlichkeit und n o c h w e n i g e r durch einen S c h l u ß von n o t w e n d i g e r Verk n ü p f u n g , sondern durch eine willkürliche Einrichtung der Vorsehung, geradeso wie Worte die durch sie bezeichneten Dinge ins Bewußtsein rufen." 2 ) Die Schlüsse also, welche beispielsweise aus der Gesichtswahrnehmung hinsichtlich der Entfernung gezogen werden, beruhen nicht auf notwendigen Urteilen, sondern beruhen einzig auf einer Einrichtung der Vorsehung, von der wir abhängig und auf die wir als letztes Auskunftsmittel über die Wahrheit unserer Urteile über Entfernung, Größe, L a g e , Gestalt usf. hingewiesen sind. Auf diese Auffassung der Erfahrungsurteile läßt sich die Beurteilung anwenden, welche Kant in der zweiten Bearbeitung der Deduktion *) Fräser, a . a . O . Bd. II § 4 4 T h e theory of vision, vindicated and explained; 1733. 2) Alciphron or the Minute Philosopher in seven dialogues 1732. F r ä s e r Bd. II, S. 168 (4. Dialog).

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der Verstandesbegriffe gegen ein „Präformationssystem der reinen Vernunft" geltend machte. Es wäre nicht abzusehen, „wie weit man die Voraussetzung vorbestimmter Anlagen zu künftigen Urteilen treiben möchte". In der Tat, könnte nicht jeder logische Schluß als ein Wunder unserer Institution erscheinen ; würde nicht ferner das System der exakten Wissenschaften, welches auf den Gegenstand abzielt, ebenfalls in die Sphäre subjektiver Anlage und Notwendigkeit fallen? Ein «weiter Gegenbeweis besteht nach Kant darin, daß in einem solchen System „den Kategorien die Notwendigkeit mangeln würde, die ihrem Begriffe wesentlich angehört". (Kr. d.r.V.a.a.O. S. 136.) „Alle unsere Einsicht durch vermeinte objektive Gültigkeit unserer Urteile" wäre „nichts als lauter Schein". Der Gegenstand erhält keinen Zuwachs an Objektivität, wenn das Gesetz der Assoziation der Vorstellungen, durch welches er allein besteht, einen göttlichen Urheber erhält. Die metaphysische Ursache ändert nichts an dem Geltungswert des Urteils, welches unabhängig von ihrer Bestimmung auf empirischem W e g e festgesetzt und bestimmt war. Die Bedeutung des Zeichens beruht auf einer Natureinrichtung; so kann es kein Kriterium der wahren Bedeutung des Zeichens geben. Wenn die Erfahrung nicht die letzte Gewähr für die Verbindung der Vorstellungen bleibt, so geschieht es, weil die Wahrheit und Wirklichkeit der Dinge ihren Ursprung dem göttlichen Urheber verdankt, in welchem sie als Urbilder existieren, welcher diesen Zusammenhang der Vorstellungen erschafft und erhält und die Empfindungen in eine Zeichensprache der Natur verwandelt, welche dem perzipierenden Geiste ihre Gesetze erschließt und kundgibt. Das oberste Prinzip muß eine Vernunft ähnlich dem vovs des Anaxagoras sein, welche den Ausdruck der vollendeten Erkenntnis bildet. Das Sein der Geister indes läßt sich nicht in der Vorstellung erfassen, sondern wird durch Begriffe (notions) erkannt. So ist eine übergeordnete Art der Erkenntnis geschaffen, welche sich von der sinnlichen Wahrnehmung streng unterscheidet. Da nun alles Sein in dem unendlichen Geist seinen Bestand hat, so folgt daraus, daß die Erkenntnis dessen, was es im letzten Grunde ist, durch den Begriff der Notion vermittelt sein muß. So zeigt sich bereits, daß das echte Sein die Erkenntnis der Geister und im Hinblick auf diese das Wissen von den reinen Begriffen, den notions, sein wird. In diesem Zusammenhang kommt der nicht-sinnliche, also rationale Begriff zur genauen Anerkennung. In der 2. Auflage

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erhebt Alciphron einen Einwand, welcher sich auf die Inkongruenz von Idee und Erfahrung stützt: „ . . ich kann nicht sehen, daß es weise oder gut sein soll, solche Gesetze einzuführen, die niemals befolgt werden." Auf dieses Argument erwidert Criton mit der Unterscheidung des Sinnes des Begriffs von seiner empirischen Anwendung. „Erblickt jemand einen Mangel der Exaktheit geometrischer Regeln darin, daß sie praktisch nicht erreichbar ist?" (II, S. 189.) Dieser Satz bildet die Überleitung zur späteren Schrift „Der Analyst". Wenn nun in dieser Schrift gerade dieser Mangel den reinen Begriffen vorgehalten wird, so läßt sich von hier aus ein Verständnis der Tendenz dieses Vorwurfes erkennen. Der Analyst will aus der Kritik der mathematischen Begriffe zur Kritik und Würdigung der ethisch-religiösen Begriffe gelangen. Die Einwände, welche sich vom sensualistischen Standpunkt des gesunden Menschenverstandes, auf welche eben der Alciphron Bezug nimmt, gegen die Existenz der religiösen Postulate richten, treffen in gleicher Weise die Existenz des Mathematischen. Nachdem die Definition des Differentials in seiner Bedeutung als Element der Kraft im Anschluß an die Erörterung der Schrift „De motu" betrachtet ist, heißt es im 7. Dialog: „Können wir nun nicht im ganzen sagen, daß — abgesehen von Körper, Zeit, Raum, Bewegung und allen ihren sinnlichen Maßen und Wirkungen — wir es ebenso schwierig finden werden, eine Idee der Kraft wie der Gnade zu bilden?" (II, S. 331.) Man sieht, wie nahe Berkeley hier der logischen Bedeutung der Begriffsfunktion kommt, für die er in der Ethik ein Beispiel findet und die er aus dieser Erwägung heraus mittelbar für das mathematische Denken anerkennt. Sofern nun die Mathematik und nicht die Ethik das Muster begrifflichen Denkens darstellt, ist es begreiflich, daß die Methodik der reinen Erkenntnis und mit ihr diese Eigenkraft des Denkens trotz dieser Ansätze zu keiner genauen und sicheren Bestimmung gelangt. — Das Zeichen will die Verhältnisbestimmung von Begriff und Vorstellung ausdrücken. Es gilt, sich zu vergegenwärtigen, wie ein Wort zum Zeichen werden kann. Dies geschieht am Beispiel eines anderen Zeichens: der Rechenpfennige. „Rechenpfennige z. B. werden auf einem Spieltisch nicht um ihrer selbst willen gebraucht, sondern nur als Zeichen, welche für einen bestimmten Geldwert stehen, wie Worte für Ideen. Sage nun Alciphron, ob es jedesmal notwendig ist, daß diese Rechen-

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pfennige im Fortgange eines Spiels gebraucht werden, um eine Idee von der bestimmten Summe oder dem Wert zu bilden, welchen jeder repräsentiert." 1 ) (II, S. 326.) Die Wortbedeutung formuliert sich abseits von dem Inhalt der Perzeption. — Auch vom tätigen Prinzip, für welches doch das Erkenntnismittel der Notion eintritt, gibt es wohl eine Wortbezeichnung ; die Worte „stehen jedoch hier nicht für „Ideen" und dennoch sind sie nicht bedeutungslos". Denn ich verstehe, was mit dem Terminus „Ich" oder „Ich selbst" bezeichnet ist, oder weiß, was es bedeutet " „Sicherlich muß zugestanden werden", so heißt es in der späteren Auflage, „daß wir einen Begriff davon haben und daß wir verstehen oder wissen, was unter den Worten Ich selbst, Wille, Gedächtnis, Liebe, Haß usf. gemeint ist, und doch flößen diese Worte, genau gesprochen, nicht ebensoviele deutliche Ideen ein." (II, S. 328.) Die Betrachtung wird ausdrücklich über die Anwendung auf die Erkenntnis der Geister hinaus, für die doch die Notionen ursprünglich allein eintreten sollten, verallgemeinert. Der Schluß hieraus ist der schon früher gezogene, „ d a ß W o r t e e t w a s bedeuten k ö n n e n , o b w o h l sie s e l b s t nicht f ü r I d e e n stehen. Die gegenteilige Ansicht scheint die Lehre von den abstrakten Ideen hervorgebracht zu haben". (II, S. 328.) So schließt sich an diesem Punkte, wo die Hinausführung des Systems zu seinen metaphysischen Vermittlungen und Zielen bereits vollzogen ist, der Kreis durch Rückbesinnung auf den Ausgangspunkt der Theorie des Begriffs. 2 ) Wie eng jedoch die Beziehungen zwischen den beiden Erkenntnisarten: der Erkenntnis durch Ideen und der Erkenntnis der Geister durch Begriffe in diesen Ausführungen über das Zeichen zu werden scheinen, so ist dennoch die Notion für ihr ursprüngliches Problem aufgespart und vorbehalten worden. Das Zeichen fordert in dem Wunder, daß es eine Bedeutung hat, welche es vertritt, die Subsistenz in einem absoluten Geiste. So ist das Zeichen zwar immer auf die Notion bezogen, es ist jedoch ersichtlich, daß der reine Begriff auf diese Weise seinen letzten Geltungswert von der metaphysischen ') A u c h die idealistische Ableitung des „ W e r t e s " des Geldes bestimmt sich letztlich von hier aus. S o heißt es in dem Querist: 23. F r a g e . Ist Geld als etwas zu betrachten, das einen wahren W e r t hat, oder als eine W a r e , eine Norm, ein Maß oder ein Pfand ? . . Und ist die wahre Idee des Geldes als solche nicht durchaus die eines Gutscheins oder eines Rechenpfennigs? IV, S. 424. *) F r ä s e r weist auf die Beziehung auf die „Prinzipien" hin, welche in diesem Satze liegt (Bd. I, Principles Sect. 135).

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Voraussetzung einer absoluten Existenz empfängt. So ist es verständlich, daß auch die reinsten mathematischen Begriffe nicht um ihrer selbst willen betrachtet werden, sondern als eine natürliche Einrichtung durch den praktischen Gebrauch charakterisiert werden, den in ihnen das Zeichen erlangt. . . „obgleich weder du noch ich" — so heißt es in diesem Sinne — „klare, einfache Ideen von Zahlen bilden können, so können wir nichtsdestoweniger eine sehr genaue und bestimmte Anwendung von den Zahl'namen machen. Sie leiten uns in der Anordnung und Handhabung unserer Geschäfte und sind in der Anwendung so notwendig, daß wir ohne sie nicht auskommen könnten. Und doch ist es ebenso schwierig, eine präzise einfache abstrakte Idee der Zahl zu bilden, wie irgendein Mysterium in der Religion zu begreifen." (II, S. 329, Ale. 7. Dialog.) Distinkte Perzeptionen werden also in der Mathematik, so könnte man schließen, ebensowenig verlangt, als sie in der Religion verlangt werden dürfen. Gesetzt jedoch, daß uns in der Religion eine begriffliche Erkenntnis verstattet ist, so fragt es sich, ob und warum sie in Fragen der Mathematik kein Objekt und keine Funktion hat. Die Religion beruht jedoch für Berkeley nicht auf dem ethischen Begriffe, sondern dem Glauben. So konnte er umgekehrt die Ansicht geltend machen, daß auch die Mathematik in ihren Voraussetzungen auf das Gefühlsmoment des Glaubens Bezug nehme. Diese Frage wird später der Anlaß zu den mathematischen Betrachtungen des Analyst. — Es ist eine merkwürdige Durchdringung von rationalen, psychologischen und im letzten Grunde metaphysischen Motiven, welche in dem Begriff des Zeichens vereinigt sind. Die genaueste Bestimmung und die wertvollste Charakteristik erhält der Begriff naturgemäß in der Mathematik. Wenn der Zeichencharakter der Wahrnehmung dem, was psychologisch eine Gegebenheit, ein Einzelnes, Empfindung ist, eine Bedeutung gibt, die das Zeichen in gewöhnlicher Auffassung nicht besitzt, so wird dieser rationale Ansatz nicht als Problem empfunden, sondern durch Hinweis auf die Ursache in der göttlichen Vernunft in ein metaphysisches Sein verwandelt. Wenn das Zeichen in der Mathematik eine Reihe von Objekten derselben Art vertrat, bei denen in Anbetracht des Beweisverfahrens von unwesentlichen Unterschieden abgesehen werden konnte, so war hier der psychologische Gesichtspunkt leitend, daß die Einzelvorstellung das einzige unmittelbare Element des Bewußtseins bildet und somit alle Erkenntnis letzten Endes an ihr C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VIII,2.

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aufgewiesen und auf ihr Dasein bezogen werden muß. Indes schon psychologisch ließ sich diese materielle Auffassung, die den Gegenstand der Vorstellung in concreto an der Wahrnehmung zu erfassen sucht, nicht halten. Die Ideen schließen Relationen und in den Relationen Tätigkeiten des Geistes in sich. Daß ein Einzelexemplar, ein bestimmtes Dreieck, als Zeichen dient, welches den Inbegriff der Einzelexemplare derselben Gattung repräsentiert, ist ein auf einer natürlichen Ähnlichkeit der Einzelvorstellungen untereinander beruhendes Faktum. W o die synthetische Verbindung verschiedener Perzeptionen fraglich wird, wie in der geometrischen Entstehung der Raumvorstellüng aus zwei gesonderten Reihen von Gesichtsund Tastempfindungen, wird sie immer als zufällige natürliche Entsprechung durch den Prozeß der Erfahrung, den wir durch Übung deuten lernen, zu erklären gesucht. Die Einheit der Erfahrung wiederum fordert zu ihrem Bestand das Dasein Gottes. In diesem Zusammenhange wird, indem die Mathematik auf die Zeichenlehre bezogen wird, in der Mathematik das Vorbild des exakten Denkens anerkannt. „Da Arithmetik und Algrebra Wissenschaften von großer Klarheit, Gewißheit und Umfang sind, welche sich unmittelbar auf Zeichen beziehen, von deren geschicktem Gebrauch und Handhabung diese Wissenschaften gänzlich abhängen, so kann uns eine geringe Aufmerksamkeit auf sie vielleicht dazu dienen, das Verfahren des Geistes in anderen Wissenschaften zu beurteilen, welche, zwar verschieden nach Natur, Bestimmung und Gegenstand, dennoch in der allgemeinen Methode des Beweises und der Untersuchung mit ihnen übereinstimmen mögen." (II, S. 342.) — Es gilt nunmehr, das Denken der Mathematik zu prüfen, um einen methodischen Gesichtspunkt für das Denken der Religion und Ethik zu gewinnen. Es scheint, daß das Objekt der Mathemathik gänzlich durch den Begriff des Zeichens beschrieben ist. Schon die Theorie des Sehens führte in der Erörterung des Problems des Raumes und der Größe zu dem Ergebnis, daß die Geometrie es nicht mit den sichtbaren Gestalten und der sichtbaren Ausdehnung zu tun habe. (I, S. 202 § 151.) Denn die räumliche Extension und die Gestalten im Räume entstehen erst in der Deutung der Gesichtswahrnehmung auf die Tastwahrnehmung; mithin in der einheitlichen Verknüpfung, welche in der unmittelbaren Wahrnehmung gar nicht gegeben ist. Wie nun hier die Gesichtswahrnehmung zum Zeichen und Prognostikum der Tastwahrnehmung wird, so wird allgemein in der

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Mathematik die partikulare Vorstellung, die doch naturgemäß den Ausgang bildet, zum bloßen Material der Betrachtung, an welches der Gedanke anknüpft. „Wenn wir die Dinge von ihrem Ursprung ableiten wollen, so scheint es, daß der menschliche Geist n i c h t zum n a c k t e n A n s c h a u e n der V o r s t e l l u n g e n b e s t i m m t , s o n d e r n zur B e t ä t i g u n g und O p e r a t i o n an ihnen und hierin seine Glückseligkeit suchend gewisser allgemeiner Regeln oder Theoreme bedarf, um seine Operationen durch ihre Befolgung zu leiten Da nun diese Regeln allgemein sind, so können sie füglich nicht durch die bloße Betrachtung der originalen Ideen oder besonderen Dinge erlangt sein, sondern vermittelst Marken und Zeichen, welche, soweit sie allgemein sind, die unmittelbaren Werkzeuge und Materialien der Wissenschaft werden." (Ale. 7. Dialog II, S. 340.) Die Zeichen sind mithin ein Produkt der Betätigung des Geistes an dem Vorstellungsinhalt. Die Zeichen können zu allgemeinen Regeln und Theoremen führen, sofern sie allgemein gültig sind. Die Zeichen können ferner allgemein sein, weil sie keine partikularen Einzeldinge oder Vorstellungen sind, sondern ihr Sein in der Bedeutung sich erschöpft, welche sie der Einzelvorstellung geben. So könnte es scheinen, daß die Zeichen in logischen Definitionen entstehen und als ihr psychologisches Korrelat fungieren, würde nicht aus der Nutzanwendung in der Theorie des Sehens erhellen, daß die Stellvertretung einer Klasse partikularer Vorstellungen durch eine besondere Vorstellung derselben Klasse als ihr Zeichen auf dem Gesetz der Assoziation und der psychischen Eingebung beruht, kraft welcher durch diese. einzige die ganze Reihe der anderen sich unmittelbar dem Bewußtsein darstellt. Die Zeichentheorie bezog sich, wie wir sahen, auf die Mathematik. Dieser Sachverhalt stellt sich folgendermaßen dar: . . „Der Gebrauch der Namen, durch deren Wiederholung in einer bestimmten Ordnung sie endlose Grade der Zahl ausdrücken können, würde der erste Schritt zu jener Wissenschaft (der Arithmetik) sein. Der zweite Schritt würde darin bestehen, geeignete Kennzeichen von bleibender Beschaffenheit zu wählen, welche den Augen sichtbar sind und deren Art und Ordnung mit U r t e i l gewählt werden und den Namen angepaßt sein muß." (II, S. 3 4 1 ) So wird die Namen- und Zeichengebung der Arithmetik auf das im Urteil begründete logische Charakteristikum des Stellenwertes bezogen. Die Psychologie der Arithmetik ist hiermit beschrieben. Es ist nun ersichtlich, daß in dieser Be8*

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Schreibung des Zahlzeichens in der Anerkennung von Urteilen über Art und Ordnung der Zeichen die Zahl in ihrer eigentümlichen Gesetzmäßigkeit vorausgesetzt wird. „Diese Bezeichnung würde in dem Maße, als sie zweckmäßig und regelmäßig ist, das Auffinden und Anwenden allgemeiner Regeln erleichtern, die dem Geist im S c h l i e ß e n und U r t e i l e n , in Ausbreitung, Erinnerung und Mitteilung seiner Kenntnis von den Zahlen Hilfe leisten." (A. a. O.) Indes nicht die Verbindung von Zeichen und Urteil ist das eigentümliche Problem, sondern die Mathematik handelt geradezu von den Zeichen: „In dieser Theorie und in diesen Operationen ist der Geist unmittelbar mit den Zeichen oder Marken beschäftigt, durch deren Vermittlung er geleitet wird, in bezug auf die Dinge oder die Zahl in concreto, wie die Logiker es nennen, zu handeln, ohne jemals die einfache, abstrakte, intellektuelle, allgemeine Idee der Zahl zu betrachten." (II, S. 341.) So hat die Zahl kein begriffliches Sein, weil es von ihr zwar Zeichen, aber keine Vorstellungen gibt. Die Zahlzeichen, welche das Gesetz der Zahlbildung in den Stellenziffern zum Ausdruck bringen, sind nicht sowohl symbolische Darstellungen rein ideeller Beziehungsweisen, als vielmehr Verfahrungsweisen, die sich in der Anwendung an den Dingen bewähren. So kommt ihnen im letzten Sinne nicht sowohl eine erkenntnistheoretische, als vielmehr eine praktische Bedeutung zu. In diesem Sinne werden sie als der erste Ursprung und Beweggrund bezeichnet, welcher vernünftige handelnde Wesen zur Tätigkeit bestimmt. (II, S. 344.) In einem Zusatz zur späteren, der dritten Auflage wird eine Vertiefung des Problems angebahnt: „ D i e Z e i c h e n s c h l i e ß e n in d e r T a t in i h r e m G e b r a u c h R e l a t i o n e n o d e r P r o p o r t i o n e n der Dinge in sich; aber diese Relationen sind nicht abstrakte allgemeine Ideen, denn sie sind in partikularen Dingen begründet und gewähren dem Geiste von sich selbst keine klaren Vorstellungen, abgesehen von den besonderen Vorstellungen und Zeichen." (II, S. 341.) Innerhalb der Schranken der empirischen Ableitung wird der Begriff des Zeichens zu den subtilsten rationalen Bestimmungen und zu einer genauen Charakteristik seiner Funktion in der Erkenntnistheorie hinausgeführt. Wir setzen Zeichen „für Dinge, die zu dunkel sind, um in die Sinne zu fallen, und zu variabel und fließend, um gedanklich festgehalten zu werden". (II, S. 343.) Das Zeichen bildet somit das Mittel der rationalen Auffassung des sinnlichen Phänomens. Diese Bestimmung wird noch deut-

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licher. „Wir setzen vorstellbare Dinge für begriffliche, . . . kleinere Dinge für solche, welche zu groß sind, um leicht aufgefaßt zu werden, und größere Dinge für solche, die zu klein sind, um genau unterschieden zu werden, gegenwärtige für abwesende, bleibende für veränderliche und sichtbare für unsichtbare. Daher der Gebrauch der Modelle und Diagramme. Daher werden gerade Linien für Zeit, Geschwindigkeit und andere Dinge von sehr verschiedenen Beschaffenheiten eingesetzt." x) (II, S. 343). Wiederum ist der Gedanke des Schematismus bezeichnet, der bereits in der ersten Theorie des Begriffs in den Prinzipien hervortrat (oben S. i ö f f ) . Der Begriff fordert, wenn er Erkenntnis geben soll, seine Anwendbarkeit und Darstellung in der empirischen Anschauung. Die Gerade als Zeichen ist nicht, was sie sinnlich ist, sondern erhält ihre Bedeutung durch die Regel, welche sie darstellt. So wird sie zur Zeitreihe, zum Verhältnis von Weg und Zeit = Geschwindigkeit, zum Modell des Naturkörpers oder zur Kraftlinie im Diagramm. Die Symbolik dient somit allgemein der Übertragung der Geometrie auf die Mechanik. In diesem Sinne wird das Zeichen der Forderung gerecht, welche die Kritik der reinen Vernunft an das Schema stellt: „Diese vermittelnde Vorstellung muß rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein" (a. a. O. S. 142). Das Zeichen vertritt nicht nur etwas, was dem Bewußtsein nicht gegenwärtig ist, sondern auch dasjenige, wovon es überhaupt gar keine Darstellung gibt: das reine Denken der Algebra, für welches hier als typisches Beispiel die Wurzel einer negativen Quadratzahl, die imaginäre Zahl, angeführt wird. „Beispielsweise hat das algebraische Zeichen, welches die Wurzel einer Quadratzahl bezeichnet, s e i n e n G e b r a u c h in l o g i s c h e n O p e r a t i o n e n , obwohl es unmöglich ist, eine Vorstellung von einer solchen Größe zu bilden." (II, S. 344 ) Das Zeichen wird hier zum Ausdruck einer logischen Operation. So wird der Boden der Perzeption an der Hand des Hilfsmittels des Zeichens verlassen und scheinbar entbehrlich. *) Ferner: Daher sprechen wir von Geistern in einem bildlichen Stil, indem wir die Operationen des Geistes durch Anspielungen und Termini, welche von sinnlichen Dingen erborgt sind wie: begreifen, erfassen, erwägen, erörtern und dergleichen ausdrücken. (A.a.O.) Vgl. hierzu Leibniz, Unvorgreifliche Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache (Hauptschriften . . a. a. O. Bd. 108 S. S37).

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Das Sein scheint in den A k t der Definition aufgehoben, die der Anschauung zwar bedarf, jedoch weder von ihren Schranken noch ihrer Variabilität und Unbeständigkeit abhängig ist. Mit der Anerkennung der imaginären Zahl scheint gleichsam das Musterbeispiel des reinen Begriffs gesetzt zu sein. Der Mangel an Perzipierbarkeit scheint von nun an keine Instanz gegen die Existenz eines Begriffs abgeben zu können. Wenn dennoch der Analyst, wie wir hier vorwegnehmen können, die Grundbegriffe der Mathematik aus dem Gesichtspunkt der Perzeption kritisiert, so wird hier nicht so sehr die Existenz und der Gebrauch dieser Begriffe, als vielmehr ihre logische Geltung und ihr Wahrheitsgehalt bestritten werden (vgl. unten S. 134). — Ein weiteres Beispiel für den reinen Begriff unter dem Gesichtspunkt der Stellvertretung des Zeichens findet sich in der Verteidigungsschrift über die Theorie des Sehens. Die sichtbaren Objekte sind nur auf Grund einer Analogie mit den Prädikaten des Räumlichen — oben, unten, Lage, Gestalt usf. — zu bezeichnen und zu bestimmen. Auch den tastbaren Objekten würden folgerecht an sich keine räumlichen Attribute beizulegen sein. Wenn sie den tastbaren Objekten hier noch im eigentlichen Sinne beigelegt werden, insofern die Kopf- und Muskelbewegungen, welche zur Auffassung der Objekte und der Bestimmung des Oben und Unten usf. dienen, dem Tastsinn angehören, so ist diese Erklärung als eine problematische aus der Tendenz der Abhandlung zu verstehen. Die Beziehungen der Tastempfindungen sind nicht in Frage und werden nicht diskutiert, sondern einzig die „erfahrene Verknüpfung" von Gesichts- und Tastempfindung bildet Inhalt und Auflösung des Problems der Raumvorstellung (II, S. 401 § 47). Wir können die Beziehungen der Gesichtswahrnehmung auf den tastbaren Ort und die auf ihn bezüglichen Termini deuten, „wie man gewohnt ist, beim Hören oder Lesen eines Diskurses die Töne oder Buchstaben zu überschauen und sogleich auf die Bedeutung zu kommen". (II, S. 401 § 48.) Es ist klar, daß die Analogie, die uns von der Gesichtswahrnehmung zur Tastwahrnehmung führt, sich ebensowenig in den Perzeptionen der Tastwahrnehmung wie in denen der Gesichtswahrnehmung erschöpfen läßt. Die Gesichtswahrnehmung wird vielmehr zum Zeichen, welches analoge Verhältnisse der Tastwahrnehmung ausdrückt. Die Möglichkeit der Übertragung der Verhältnisse der Empfindungen des einen Sinnes auf Verhältnisse der Empfindungen eines anderen wird allgemein gefordert. „Es muß von diesen

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umgekehrten Bildern auf der Netzhaut bemerkt werden, daß sie, obwohl der Art nach von den eigentlichen Objekten des Gesichts oder Bildern ganz verschieden, ihnen nichtsdestoweniger proportional sein mögen, wie in der T a t die v e r s c h i e d e n s t e n u n d h e t e r o g e n s t e n D i n g e in der N a t u r n i c h t s d e s t o w e n i g e r e i n e A n a l o g i e h a b e n und e i n a n d e r prop o r t i o n a l sein m ö g e n . " (II, S. 403 § 53.) Was bedeutet die Analogie in diesem Falle anders, als daß wir die geometrischen Verhältnisse auf das physikalische Sein der Erscheinung übertragen dürfen? Wir sehen hier die konsequenteste Fortbildung des Berkeleyschen Systems vollzogen. Zunächst erhebt sich freilich der Einwand, wie wir die Gewißheit erlangen können, daß sich die Proportionen, die wir unabhängig für das Gebiet der Geometrie abgeleitet haben, auf die Empfindungen äußerer Erscheinungen übertragen lassen. Was bleibt ferner von der unmittelbaren Wahrnehmung übrig, wenn doch die -unperzipierten Relationen erst in der synthetischen Verknüpfung verschiedenartiger Perzeptionen in der Erfahrung entstehen, wenn Lage, Größe, Figur usf. erst in diesen nachträglich erzeugten und vermittelten Relationen entstehen? Nur scheinbar nehmen wir die Entfernung, kurz, den Raum, das geometrische und daher auch das physikalische Objekt unmittelbar wahr; in Wahrheit entstehen sie erst aus den Verknüpfungen, die in Relationen der Mathematik an den Empfindungen vollzogen werden.

III. Der Analyst. Der Maßstab der Realität wird von Berkeley in den Anfängen seiner Philosophie nicht so sehr aus den Prinzipien der rationalen Erkenntnis gewonnen, sondern der Sinn der Wirklichkeit entsteht in der Spekulation des Gedankens vor aller philosophischer Einzeluntersuchung und Deutung. Dies spricht sich in der Grundformel der Prinzipien Esse = Percipi aus. Der Versuch der rationalen Begründung der Prinzipien der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaft, wie er durch den Begriff der Fluxion von Newton und durch den Begriff des Differentials von Leibniz zu leisten unternommen wird, darf sich von diesem natürlichen Ausgangspunkt des Nachweises der Existenz der Erkenntnismittel im Bewußtsein nicht entfernen, ohne in Verwirrung und Dunkelheit zu enden. Daher ist zunächst allgemein die Existenz der abstrakten allgemeinen Ideen.

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zu verwerfen. Eine Vorstellung, welche nicht ein partikulares Sein ausdrückt, welche, wie die abstrakten Begriffe Lockes, die in der Existenz in der Einzelvorstellung sich ausschließenden Merkmale wie z. B. des spitzen, stumpfen und rechtwinkligen Dreiecks vereint, ist im Bewußtsein der Perzeptionen nicht vorhanden und an diesem Maße gemessen eine falsche und leere Abstraktion. Wenn dieser psychologische Standpunkt seinen Voraussetzungen nach den Forderungen und Aufgaben einer exakten Erkenntnis nicht gewachsen ist, wenn er an diesen Problemen vorübergeht und höchstens durch die Schärfe der Einseitigkeit das unterscheidende Charakteristikum streng begrifflicher Erkenntnis mittelbar hervorhebt, so stellt er dennoch einen zweifachen kritischen Gewinn dar. Zunächst ist das äußere Objekt als Maßstab der Wirklichkeit und Wahrheit der Erkenntnis verschwunden; das äußere Sein ist in das Sein des Bewußtseins aufgehoben. Die Zergliederung der Vorstellung ferner, welche den Begriff der auf der Perzeption beruhenden Wirklichkeit ermitteln will, führt ihrerseits auf einfache Elemente, welche erst in ihrer Verbindung den Gegenstand der Erfahrung hervorbringen. Die Erkenntnis sieht sich nunmehr von ihrer Unmittelbarkeit in einen vermittelten Prozeß verwandelt (vgl. oben S. 119). So kann der Gegenstand nicht mehr als gegeben gelten, wie andererseits das unmittelbare Bewußtsein nicht auch selbst unmittelbar zutage liegt, sondern erst in der philosophischen Untersuchung deduziert wird. Der Gegenstand, soll er dennoch an die Spitze der Betrachtung gestellt werden, kann nunmehr nur noch das genaue Ziel und die beharrliche .Aufgabe der Erkenntnis bilden. Innerhalb der Theorie des Sehens hatte sich mit dem Räume zugleich die Größe aus ihrer scheinbaren Unmittelbarkeit und Gegebenheit in eine Beziehung zwischen Reihen heterogener Empfindungen, von Gesichts- und Tastempfindungen, aufgelöst. Das Zeichen, zu welchem die Gesichtswahrnehmung wurde, schließt bereits Relationen in sich. „Der wahre Zweck der Sprache, Vernunft, Wissenschaft, des Glaubens, der Zustimmung in allen ihren verschiedenen Graden ist nicht nur oder prinzipiell oder beständig die Mitteilung oder Erwerbung von Vorstellungen, sondern eher eine gewisse selbsttätige Weise, welche ein vorgestelltes Gut erstrebt." (II, S. 344.) So war in der letzten Fassung der Zeichentheorie im Alciphron in dem Zeichen mit der Relation die Tätigkeit des Geistes neben den rein passiven Perzeptionen bestimmt anerkannt.

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Der Analyst prüft die mathematischen Grundbegriffe des Differentials und der Fluxion, ohne zunächst auf die Analyse des Größenbegriffs zurückgreifend Bezug zu nehmen. Erst die an dem Schluß der Abhandlung gestellten Fragen behandeln dieses Problem der Theorie des Sehens. Diese Verknüpfung, welche in der Erörterung vermißt werden könnte, findet somit nachträglich statt. Es ist interessant, zunächst die Gemeinsamkeiten zu beachten, welche der Größenbegriff der Theorie des Sehens mit dem mathematischen Fluxionsbegriff der neuen Mathematik teilt. Während die eigentliche Abhandlung den Begriff des Fließens verwirft, weil die endliche Ausdehnung, welche hier dogmatisch aus dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung eingeführt wird, in der Teilung auf ein sinnliches Minimum führt, durch welches eine Schranke der Teilbarkeit gesetzt ist, besinnen sich die Fragen auf den Beziehungscharakter der Größe. Schon die Einleitung dieser speziellen Fragen ist bezeichnend und könnte gegen Berkeleys eigene Argumentationsweise hinsichtlich des mathematischen Verfahrens zurückgewandt werden. 1 1 . Frage 1 ): „Sind nicht viele Dinge, welche nicht leicht eingeräumt werden, nichtsdestoweniger wahr?" Unter diesem Gesichtspunkt der Mittelbarkeit des Denkens, mithin des Begriffs, werden zwei Fragen betrachtet. 12. Frage: „Ist es möglich, daß wir einen Begriff oder eine Vorstellung von Ausdehnung gehabt hätten, der der Bewegung vorausläge, oder würde jemand, der niemals eine Bewegung wahrgenommen hat, jemals ein Ding als von einem anderen entfernt erkannt haben?" 13. Frage: „Hat die geometrische Ausdehnung koexistierende Teile und ist nicht alle Größe ebenso fließend wie Zeit und Bewegung?" Es scheint, als könne man gegen Berkeley von seinen eigenen Voraussetzungen aus nicht treffender argumentieren, wenn er die Größe aus Aggregaten des Endlichen aufbaut, als es in diesen Fragen geschieht, welche der Wahrnehmung den Begriff entgegenhalten und überordnen. Wir kennen indes die Perzeptionen als letzte Bürgschaft oder wenigstens als das letzte unauflösbare Element und Atom des Realen. Der Idealismus, welcher überall die atomistische Ansicht befehdet, entsteht in radikaler Vertiefung erst in dem Absehen von der sinnlichen Reizschwelle. Die Koexistenz der räumlichen Ausbreitung löst sich für Berkeley in das Nacheinander des Flusses der Perzeptionen auf; das sinnliche Minimum, welches ') „The Analyst or a discourse addressed to an infidel mathematic i a n . . . " 1734 a. a. O. Bd. III S. 53.

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hier das letzte Element bildet, muß als eine bestehende Existenz hingenommen werden, welche nicht mehr aus dem zeitlichen Kontinuum ableitbar ist. Der Terminus des Fließens ist geeignet, den Unterschied zwischen Berkeleys Auffassung und der mathematischen Formulierung der Fluxion hervortreten zu lassen. Es ist in der T a t die rationale Bewältigung dieses Grundbegriffs der Bewegungslehre, von der Wesen und Leistung des Begriffs innerhalb der Naturerkenntnis abhängt. Die Welt der Phänomene besteht nach Berkeley in fließenden Perzeptionen; die Dauer und der Bestand, welche wir dennoch in ihnen wahrnehmen, werden uns durch Eingebung bekannt, durch welche wir Perzeptionen als Zeichen bezeichneter Objekte deuten lernen. Alle unsere Erkenntnis beschränkt sich auf diese Deutung der natürlichen Zeichensprache. Die Zeichen befähigen uns, einen Inhalt, der an sich fließend ist, symbolisch festzuhalten. Alle Theorie, wie besonders die Mathematik, beruht auf der Betrachtung von Zeichen, die letzten Endes auf die Dinge Anwendung finden. Wenn also das Zeichen den erkenntnistheoretischen Ausdruck des mathematischen Begriffs bedeutet und in diesem Sinne der fließenden Erscheinung entgegengesetzt wird, so sieht man, daß das Fließen hier eine Art natürlichen Seins darstellt, welches uns gegeben ist und an welches die Arbeit der Erkenntnis nachträglich anknüpft. — Die Fluxion hingegen, so sehr sie die Natur der Dinge begrifflich darzustellen bestimmt ist, ist schon in ihrer ersten Voraussetzung von der Sinnlichkeit und mithin dem Fließen der Erscheinung, in dem wir uns abhängig finden, unterschieden. Die Unbestimmtheit wird hier in mathematischer Fixierung zur Variabilität der Größe und gewinnt hiermit einen genauen Sinn. Während für Berkeley die absolute Größe oder wenigstens das Element der Größe eine Voraussetzung der Relation bildet, ist sie für die mathematische Betrachtung nicht gegeben, sondern Vorwurf der Aufgabe. Diesen Gedanken drückt das Verhältnis der Fluxion zur Fluente wie des Differentials zum Integral aus. Die Fluxion oder der Differentialquotient ist eine Relation, welche durch das Verhältnis der Momente oder der Differentialien bezeichnet wird. Der Terminus des Fließens oder des Differentials besagt die momentane Bestimmung und kontinuierliche Erzeugung der Größe. Diesem Begriffe des Momentes, des Punktes, der Kontinuität vermag die Berkeleysche Kritik nicht gerecht zu werden. In dem Punkt scheint alle Bestimmt-

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heit aufgehoben zu sein, weil er sich der sinnlichen Perzeption und den Unterscheidungen der Wahrnehmung entzieht (vgl. oben S. 7). Die unendliche Teilbarkeit selbst würde niemals auf den unteilbaren Punkt führen. „Es wird vielleicht jemand sagen, daß die Größe, wenn sie unendlich verringert wird, nichts wird, und daß so nichts vernachlässigt wird. Es ist jedoch nach den überlieferten Prinzipien ersichtlich, d a ß k e i n e geom e t r i s c h e Größe durch irgendeine T e i l u n g oder Untert e i l u n g e r s c h ö p f t o d e r auf n i c h t s r e d u z i e r t w e r d e n k a n n . " (A. a. O. § 17.) In dem x der Fluxion ist die Zeit vorausgesetzt: die absolute, wahre und mathematische Zeit. Sie verfließt an sich und ihrer Natur nach gleichförmig und ohne Beziehung auf einen äußeren Gegenstand. Indem die Größe aus der Zeit abgeleitet wird, wird sie als „durch kontinuierliche Bewegung oder Fließen fortwährend wachsend oder abnehmend" 1 ) betrachtet. Die reine Zeit stellt sich in der Fluxionsrechnung als unabhängige Variable dar, auf welche als Maß des gleichförmigen Fließens die übrigen Größen bezogen werden. Wie nun die reine Zeit erst in der Korrelation der Bewegungsgesetze einen präzisen Sinn erhält, so ergibt sich, daß auch die Fluxion und der Gedanke der Proportionen der „Momente", der „eben entstehenden Anfänge endlicher Größen" erst in der Verknüpfung mit den Gesetzen der Bewegung sich bestimmt. So führt die Fluxion eine doppelte Art der Bestimmtheit bei sich: durch die Beziehung des räumlichen Kontinuums auf das Kontinuum der Zeit, aus welchem es durch kontinuierliche Bewegung entstehend gedacht wird, wird mit der Stetigkeit des Inkrementes zugleich die exakte Meßbarkeit des Raumes begründet 2 ); durch die Beziehung der Fluxion auf die Bewegungsgesetze wird die Funktionalbeziehung der Größen bestimmt. Ein Gesichtspunkt für die Beurteilung der Berkeleyschen Kritik ergibt sich aus der Betrachtung der Geschichte der Fluxion. Wenn die Gesetze der Bewegung auf das zeitliche Kontinuum bezogen sind, so ist durch diese Beziehung auch der Raum, der in der Bewegung sich aus den Geschwindigkeiten integriert, als stetige Größe gedacht. Die Betrachtung hebt jedoch weder vom Räume noch von der Zeit, noch überhaupt von der Bewegung an. Sie bezieht sich auf „die Er*) Newtons mathematische Prinzipien der Naturlehre a. a. O. S. 243. Cohen, Das Prinzip der Infinitesimalmethode S. 8i, zum Ganzen

2)

S.

78 fr.

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zeugung der Größen aller Arten". 1 ) Die Stetigkeit ist also zunächst nur für die Größe behauptet. Dieser mathematische Gedanke, der von der Zahl und ihren Gesetzen und insbesondere dem Reihenproblem seinen Ausgang nimmt und das Gesetz der Zahl erst mittelbar aller Größenbestimmung vorschreibt, ist der Berkeleyschen Kritik fremd geblieben. — Wir sahen bereits, daß alle Versuche, die Fluxion vorstellig zu machen, an der ersten Voraussetzung der Fluxion, der reinen Zeit, scheitern mußten. Strenge Gleichförmigkeit der Folge, wie sie hier in diesem Begriffe postuliert ist, ist in der Natur weder gegeben noch nachweisbar: die Beziehung auf den äußeren Gegenstand war zudem in der Definition ausdrücklich abgewehrt. Es ist der Begriff des Maßes, der hier in Frage steht. Die Fluxion bedingt, wie andererseits das Differential, eine von dem auf die extensive Einheit gegründeten Maße verschiedene Auffassung des Begriffs des Maßes. Was in der Newtonschen Physik in der Unterscheidung der wahren Maße von den relativen und sinnlichen, das findet schon in den ersten prinzipiellen Ansätzen der neuen Mathematik statt: Das Maß, das zuvor an der sinnlichen Erscheinung gewonnen wurde, wird aus rein begrifflichen Setzungen herzuleiten gesucht. 2 ) Indem Berkeley das Recht der Darstellung der reinen Grundbegriffe in ihrer konkreten Wirksamkeit am Gegenstand der sinnlichen Erfahrung vertritt,, verlegt er das Maß aus dem reinen Begriff in die Perzeption, aus dem Beziehungsbegriff in die Termini der Beziehung, die endlichen relativen Größen. Ein berechtigtes Motiv der Berkeleyschen Kritik liegt in dem Hinweis auf Recht und Unrecht der Vernachlässigung der operativen Hilfsgrößen, sei es nun der Fluxion oder des Differentials. In der Tat zeigt die Geschichte der Begründung der Infinitesimalrechnung, daß hier ein Schwanken über den Sinn und das Recht solcher Vernachlässigung von Größen bestand, welche die vorhergehende Ableitung der Resultate bedingten, als Glieder des Resultates jedoch der Null gleichgesetzt wurden. 3 ) — Berkeley glaubt nachweisen zu können, daß die Vernachlässigung einer unendlich kleinen Größe neben einer endlichen Größe nur deshalb zu richtigen Resultaten führe, weil ein Fehler, den wir hierdurch tatsächlich begehen, durch einen anderen *) Vgl. hierzu Cohen a . a . O . S . 8 1 . 2 ) Zum Maßbegriff bei Newton vgl. Cohen a. a. O. S. 80. ) Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik. Bd. 3, S. 745, ferner S. 254. 3

2. Aufl.,

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aufgehoben wird. Es tritt ferner der Fall ein, daß sich zwei gleiche Größen mit entgegengesetztem Vorzeichen auf derselben Seite einer Gleichung oder zwei gleiche Größen auf den verschiedenen Seiten einer Gleichung aufheben. (A. a. O. § 30.) — Der Sinn der Berkeleyschen Argumentation läßt sich dahin bestimmen, daß an Verhältnissen des Endlichen gemessen, keine Größen vernachlässigt werden und nur hier die Rechnung Sinn und Bestand hat. 1 ) Das unendlich Kleine bietet bereits der bloßen Auffassung unüberwindliche Schwierigkeiten dar. „Wie nun unsere Sinnesempfindung durch die Perzeption äußerst kleiner Objekte angestrengt und verwirrt wird, so wird ebenso die Einbildungskraft, eine Fähigkeit, welche aus der Sinnesempfindung entspringt, sehr angestrengt und verwirrt, wenn sie klare Vorstellungen der kleinsten Teile der Zeit oder der kleinsten in ihnen erzeugten Zuwüchse bilden will..." ( A . a . O . §4.) Schon hier scheint uns unsere sinnliche Fähigkeit im Stich zu lassen. In der Fluxionstheorie wird indes noch eine größere Unterscheidung gefordert. „Viel mehr gilt dies für das Auffassen der Momente oder jener Zuwüchse fließender Größen in statu nascendi, in ihrem ersten Ursprung oder Beginn der Existenz, bevor sie endliche Größen werden. Und noch schwieriger scheint es zu sein, die abstrakten Geschwindigkeiten solcher entstehender, unvollkommener Wesenheiten zu begreifen; indes die Geschwindigkeiten der Geschwindigkeiten — die zweiten, dritten, vierten und fünften Geschwindigkeiten usf. — übersteigen, wenn ich recht verstehe, jedes menschliche Verständnis. Je weiter der Geist diese flüchtigen Ideen analysiert und verfolgt, desto mehr verliert er und verwirrt er sich, indem die Objekte, die zuerst fließend und klein sind, bald ganz aus dem Gesichtskreis entschwinden " (A. a. O.) Wieder begegnen wir hier einem Einwand, der schon gegen den reinen Raum erhoben wurde. Es wird ein Erkenntnisvermögen gefordert, welches jenen Begriffen angemessen ist. Die Imagination vermag kraft ihres sinnlichen Ursprungs nicht den Ansprüchen einer Unterscheidung ins Unendliche gerecht zu werden. Die Unterscheidungen der Empfindung führen im Objekte von endlicher Größe immer auf eine endliche Anzahl sinnlicher Punkte. Dieser Einwand läßt sich in dem Satze *) „ D e r Nutzen, den ich daraus ziehe, besteht in dem Nachweis, daß die Analysis nicht nur bei Zuwüchsen oder Differenzen bestehen kann, sondern auch bei endlichen Größen bestehen muß, mögen sie noch so groß sein . ." § 29.

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erkennen, in welchem Berkeley die Differentialrechnung, die denselben Zwecken diene, wie die Methode der Fluxionen, zu beschreiben unternimmt. Es handelt sich um die Differentialien und ihre höheren Ordnungen. „Kurz, sie (unsere modernen Analysten) betrachten G r ö ß e n , die u n e n d l i c h k l e i n e r sind, a l s d i e g e r i n g s t e u n t e r s c h e i d b a r e G r ö ß e , und andere, die noch unendlich kleiner sind als jene unendlich kleinen, und andere, die noch unendlich kleiner sind als die vorhergehenden infinitesimalen usf. ohne Ende." (§ 6.) Wiederum, wie dies bereits in der Schrift „De motu" sich ergab, führt die Untersuchung zu dem Resultat, daß an allen sinnlichen und traditionellen Maßstäben gemessen, die Grundbegriffe der neuen Mathematik und Physik sich in Nichts auflösen (vgl. oben S. 5; ferner S. 97). Hier im Analyst wird das Recht der Kritik durch die Bezugnahme auf die Exaktheit der geometrischen Anschauung zu stützen gesucht. Selbst die geometrische Anschauung, die doch in den Begriffen einer Tangente und einer Sekante auf Definitionen beruht, ist nicht ausreichend, um die neuen Fragen, die der unteilbare Punkt aufgibt, verständlich und auflösbar zu machen. Selbst die geometrische Anschauung, welche doch die Beweisinstanz des Geometers sein will, wird aufgegeben, wenn am unteilbaren Punkt eine Bestimmtheit im Differential oder Moment und schließlich eine Ordnung der Bestimmtheit in den höheren Ordnungen des unendlich Kleinen und der Unterscheidung der ersten, zweiten, dritten usf. Fluxion festgehalten wird. Dieser Gedanke beherrscht die Beweisführung, welche sich gegen die Vernachlässigung unendlich kleiner Größen richtet. Die Gleichsetzung von Subsekante und Subtangente für infinitesimale Unterschiede der Abszissen und der Schnittpunkte der Sekante mit der Kurve sei ein Fehler; „denn es ist evident, daß, wie eine Sekante nicht eine Tangente sein kann, so eine Subsekante keine Subtangente sein kann. Mag die Differenz noch so klein sein, so ist doch immer eine Differenz da". (§ 24.) In der Tat läßt sich selbst von der geometrischen Anschauung aus kein Zugang zu den Problemen der neuen Analysis gewinnen. Vielmehr führten die Schwierigkeiten, welche im Begriff des Irrationalen innerhalb der Geometrie entstanden, zur Entdeckung der neuen Analysis (vgl. oben S. 87). Eine eigentümliche Schwierigkeit bietet der Berkeleyschen Auffassung das Verhältnis von Teil und Ganzem dar, wie es sich in der neuen Mathematik bestimmt. Da er den Teil nur als extensives Maß und sinnliche Einzelheit zu denken vermag

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(vgl. oben S. 1 2 1 ) , so sind solche Teile wie die Differentialien und die Teile der Differentialien, als welche die Differentialien höherer Ordnung erscheinen, unverständlich und mit einem Widerspruch behaftet. „Und was am sonderbarsten ist, wenn du auch eine Million von Millionen solcher infinitesimalen Größen, von denen jede der Voraussetzung nach unendlich größer ist als irgendeine andere Größe, nimmst, und du fügst sie der geringsten gegebenen Größe hinzu, so wird sie darum nicht größer." (§6.) Wenn nun hierin eine Schwierigkeit zugegeben werden kann, insofern Größen, die in die Relation der Rechnung eingingen, im Resultat neben endlichen Größen als Nullen vernachlässigt werden, so bezeugt sich andererseits in der Bestreitung des Differentials und seiner höheren Ableitung die Verkennung der Voraussetzungen, die hierin zum Ausdruck kommen. Es ist in der Tat nicht zu verstehen, daß „die endliche Größe aus unendlich kleinen Teilen besteht, daß die Kurven Vielecke sind, deren Seiten unendlich klein sind, und welche durch die Winkel, welche sie miteinander bilden, die Krümmung der Kurve bestimmen." (§ 5.) Sollen diese Urteile ein bestehendes Sein beschreiben, so ist ersichtlich, daß weder durch unausgedehnte Punkte eine Linie, noch durch geradlinige Seiten eine Kurve zusammengesetzt werden kann. Indes bezeichnet weder der Punkt als Differential oder Fluxion einen Teil der Geraden noch die Seiten des Polygons den Bestandteil der Kurve, wenn die Seiten im Grenzfall zur Tangente an die Kurve und somit begrifflich mit der Kurve identisch werden. Wie der Punkt nicht zur dinglichen Einheit wird, sondern das Element ist, aus dem die Linie als erzeugt gedacht wird, so wird die erzeugende Tangente das prinzipielle Mittel, das Wachstum und Gesetz der Kurve zum rationalen Ausdruck zu bringen. 1 ) Ebensowenig trifft ein entsprechender Einwand gegen die Fluxion zu. „ E s wird gesagt, die Größe der Momente werde nicht in Betracht gezogen, und doch wird von denselben Momenten behauptet, sie seien in Teile geteilt." (§ 1 1 . ) Die höheren Differentialien verschwinden eben nur insofern neben Größen niederer Ordnung, als sie nicht als Elemente der Erzeugung der Größen niederer Ordnung in der Rechnung auftreten, sondern ihrem absoluten *) Vgl. Kritik der reinen Vernunft: „Aus diesen Momenten besteht nicht die Veränderung, sondern wird dadurch erzeugt als ihre Wirkung." A. a. O. S. 188.

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Betrage nach beurteilt werden. Die Ordnung, welche im unendlich Kleinen behauptet wird, begründet im Vergleich mit der aggregativen Zahleinheit eine neue „Art von Größe", für die das aus der sinnlichen Anschauung entlehnte Maßverhältnis von Teilen zu dem aus ihnen zusammengesetzten Ganzen nicht mehr Geltung und Bedeutung hat. Elemente, die quantitativ gleich Null sind, bilden in ihren Beziehungen die Verhältnisse des Endlichen vor. So löst sich der Widerspruch, welchen Berkeley in dem Satze aufzudecken glaubt: „Soweit ich sehe, kann man keine Größe als ein mittleres zwischen einer endlichen Größe und Nichts zulassen, ohne infinitesimale Größen zuzulassen." (§ Ii.) Die infinitesimale Größe bezeichnet eine Bestimmtheit, welche nicht sowohl zwischen Null und einer endlichen Größe liegt, als vielmehr, welche selbst für die Grenze Null behauptet und gefordert wird. Wenn Berkeley geltend macht, daß in dem Begriff der Grenze nur eine Beziehung behauptet wird, welche für endliche Größen nicht näherungsweise, sondern genau gilt und besteht, daß somit keine Größen vernachlässigt werden, so hat er hiermit nur scheinbar einen Einwand erhoben und gerade den prinzipiellen Gesichtspunkt anerkannt (vgl. oben S. 125). Die gesonderte Heraushebung dieser Beziehung für den Grenzfall der Größengleichheit der unabhängigen Variabein muß er bestreiten, weil hier die Mittel der Anschauung versagen. Die räumliche Anschauung bietet in der Aufgabe der Quadratur der Kurve (§ 26) für noch seine kleine Differenzen der Abszissenachsen immer nur krummlinig begrenzte Flächen dar; eine rechteckige Fläche, wie sie für den Grenzfall vorausgesetzt wird, ist also niemals gegeben. In der rein gedanklichen Grundlegung der einfachsten Größenbeziehung eines Rechtecks für den ideellen Fall der Gleichheit, um von ihr aus stufenweise die Zusammenhänge der Kurvenfläche begrifflich zu fixieren und quantitativ meßbar zu machen, glaubt Berkeley eine Hypostasierung eines Begriffs zur äußeren Existenz zu sehen. Weil sich diese Relationen in der Anschauung nicht darstellen, so scheint in ihnen eine metaphysische Wesenheit behauptet (vgl. oben S. 108). Daher werden die infinitesimalen Zuwüchse an einer späteren Stelle als Geister abgeschiedener Größen verlacht. (§ 35.) So verschließt sich Berkeley das Verständnis für das Desiderat der rationalen Begründung der Größen, weil es sich hier um eine Bestimmung handelt, die über die Grenzen seines in der Sinneswahrnehmung beschlossenen Erkenntnisbegriffs

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hinausweist. Die Proportionalität ähnlicher Dreiecke besteht nur für Dreiecke von endlicher Seitenlänge (§25). Mit dem Zusammenfallen des „charakteristischen" Dreiecks mit dem unausgedehnten Punkt im Grenzfall der Tangente an die Kurve schwindet auch jene Proportion. „ . . . Die allgemeine Methode, welche für die Auffindung und Bezeichnung der Sekanten aufgestellt ist, kann sich im gewöhnlichen Sinne (!) nicht weiter erstrecken als auf alle Sekanten überhaupt, und da sie notwendigerweise ähnliche Dreiecke voraussetzt, so kann sie nicht dort stattfinden, wo keine ähnlichen Dreiecke v o r h a n d e n sind." (§25.) So wird die rationale Ergänzung des Grenzfalls der Verhältnisse bestritten, weil sich die Kontinuität, die hier begrifflich in der Einheit der Regel von der Sekante zur Tangente hinüberleitet, •nicht s i n n l i c h aufzeigen läßt, weil im Grenzfalle, dem Zusammenfallen beider Schnittpunkte, die Elemente der Relation nicht durch ihre Größe, sondern durch das Gesetz ihrer Konvergenz nach Null bestimmt sind. 1 ) Wenn es mithin statthaft ist, die Beziehungen, welche für die Sekante galten, für die Tangente festzuhalten, so wird die durch diese Beziehung gefundene Subsekante für den Grenzfall in genauem Sinne zur Subtangente. Wenn die Beziehung, welche nur für rechtwinklige Zuwüchse gelten würde, für den Grenzfall der Distanz der Ordinaten der krummlinigen Kurvenfläche gleich Null behauptet wird, so ist wiederum diese Beziehung in strenger Gültigkeit zu verstehen. Der Nullwert der Grenze, zu dem eine Reihe endlicher Differenzen konvergiert, erhält in der Beziehung, die für ihn festgehalten wird, eine positive Bedeutung. Die Termini der Relation dy/dx sind Null und dennoch nicht in jedem Sinne Nichts. Indem dy/dx lediglich eine bestimmte Art der Zuordnung von Elementen bezeichnet, wird es gerade dadurch zur Voraussetzung der endlichen Größe, daß es nicht mit ihr als mit einem gegebenen und endlich bestimmten Objekte verfährt. 2 ) Die unendlich kleinen Größen ver*) Vgl. hierzu Newtons Bestimmung der letzten Verhältnisse: „Jene letzten Verhältnisse, mit denen die Größen verschwinden, sind in Wahrheit nicht die Verhältnisse der letzten Größen, sondern die Grenzen, denen die Verhältnisse fortwährend abnehmender Größen sich beständig nähern und denen sie näher kommen als jeder angebbare Unterschied beträgt, welche sie jedoch niemals überschreiten und nicht früher erreichen können, als bis die Größen ins Unendliche verkleinert sind." (Prinzipien a. a. O. S. 54.) 2) Vgl. Newton, Prinzipien a . a . O . S. 243: „Die Momente hören auf, Momente zu sein, sobald sie eine endliche Größe erhalten." C o h e n und N a t o r p , Philosophische Arbeiten VT11,2.

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schwinden nur dann, wenn sie nicht als Elemente der Beziehung und Grundlagen einer quantitativen Vergleichung abgeschätzt und beurteilt werden, wenn sie nicht in diesem Sinne zur Maßeinheit werden, sondern neben endlichen Größen in algebraischen Ausdrücken auftreten und als extensive Maße zu bestimmen sind. A n die Stelle des Zuwachses um endliche Größen tritt die reine Relation, welche in der funktionalen Beziehung von Zeit und Raum den Grad des Wachstums der Größe bestimmt. Es werden somit nicht Zuwüchse vernachlässigt, welche zuvor angenommen waren. Der Widerspruch, den Berkeley hier sieht, ist in dieser erkenntnistheoretischen Deutung der Fluxion nicht vorhanden, o (die Veränderung) wird nicht vernachlässigt, sondern bezeichnet den genauen Grenzwert Null. Selbst die geometrische Anschauung bedarf der prinzipiellen Besinnung, welche sie über ihr eigenes Gebiet der Anschauung hinausweist. Der Übergang zur Grenze, auf welchem in der Fluxionsrechnung die Vernachlässigung des + o beruht, ist in dem Reihenproblem begründet. Es handelt sich hierbei um ein Verfahren, welches davon ausgeht, den Unterschied zwischen der betrachteten Stelle x und der veränderlichen Abszisse x' unter jede noch so kleine Größe sinken zu lassen. Wie nun jeder Differenz der Abszissen eine bestimmte Differenz der Ordinaten entspricht, so variiert dieses Verhältnis der Differenzen bei abnehmender Differenz der Abszissen beständig und nähert sich hierbei einem bestimmten Grenzwert. Dieser Grenzwert A besteht nach der Definition der neuen Analysis für den Grenzfall der Gleichheit der Abszissen und mithin der Ordinaten, wenn der Unterschied zwischen dem Verhältnisse der Differenzen der Ordinaten zu hinreichend kleinen Differenzen der Abszissen und dem betreffenden Werte A kleiner wird, als jede angebbare Zahl. Ist der Grenzwert erwiesen, so kann er nunmehr im logischen Sinne als das ursprüngliche Verhältnis gelten, aus welchem die Verhältnisse des Endlichen erst resultieren. — So wenig also der Grenzwert jemals erreicht wird, so wenig läßt er sich geometrisch als eine bestimmte Strecke oder Raumgröße darstellen. Dies gilt von jedem Fall, wo Berkeley entweder einen realen Zuwachs der Abszisse und dementsprechend einen endlichen Unterschied der Werte der abhängigen Ordinate annimmt, oder in der Reduktion der krummlinigen Kurvenfläche auf den Grenzwert der rechtwinkligen Fläche zwischen der Kurvenfläche und dem bezüglichen Rechteck eine reale Differenz annimmt. 1 ) ') Oben S. i28f.

Analyst § 21 ff., § 2 6ff.

Berkeleys System.

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Der Grenzwert stellt in seiner Eindeutigkeit und Bestimmtheit das Gesetz der Reihe dar; er ist in einem beweisbaren Verfahren gewonnen, welches auch nicht die kleinsten Größen vernachlässigt. Somit kann er nunmehr als das eigentliche Prius der Verhältnisse des Endlichen gelten, insofern er zu diesen im streng deduktiven Verfahren der inversen Methode der Integration hinführt. Diese positive Bedeutung der Grenze bleibt Berkeley verschlossen. „Ein Punkt mag die Grenze einer Linie sein, eine Linie mag die Grenze einer Ebene sein, ein Moment mag die Zeit begrenzen, aber wie können wir eine Geschwindigkeit mit Hilfe solcher Grenzen begreifen ?" Die Grenze hebt für diese Betrachtung mit der extensiven Größe zugleich die Bestimmtheit auf. „Sie (die Geschwindigkeit) schließt notwendig sowohl Raum als Zeit ein und kann nicht ohne sie begriffen werden." (§ 3i.) Maclaurin ist in seinem „Treatise of fluxions" auf diesen Vorwurf Berkeleys eingegangen. „Setzen wir voraus, daß ein Körper in irgendeinem Augenblick der Zeit, während welcher er sich bewegt, eine Geschwindigkeit besitze, so ist damit keineswegs vorausgesetzt, Bewegung könne in einem Endpunkte, in einer Grenze, einem Augenblicke der Zeit oder einem unteilbaren Punkte des Raumes stattfinden. Wir werden vielmehr diese Geschwindigkeit stets durch den Raum messen, welcher durchlaufen werden würde, wenn die Geschwindigkeit gleichförmig während einer gegebenen endlichen Zeit anhielte. Und so wird sicherlich nicht gesagt werden, wir erhöben den Anspruch, eine Bewegung oder Geschwindigkeit ohne Betrachtung von Zeit oder Raum denken zu müssen." (Cantor a. a.O. Bd. III, S. 747.) Der Körper besitzt eine Geschwindigkeit in jedem Augenblicke der Zeit, während welcher er sich bewegt, insofern die Existenz des Grenzwertes der Geschwindigkeit für jeden unteilbaren Zeitpunkt mathematisch gefordert und erwiesen ist. Soll diese Geschwindigkeit indes physikalisch gemessen werden, so gilt es, den Körper so zu betrachten, als ob er diese Geschwindigkeit während eines endlichen Intervalls der Zeit und des in ihr durchmessenen Raumes gleichförmig beibehielte. Daß der endliche Ablauf der Bewegung das psychologisch Frühere ist, wird dabei in der mathematischen Betrachtung anerkannt. Dies spricht sich in den Prinzipien aus, die Maclaurin in seiner Abhandlung vorausschickt. „Zwei Prinzipien sind grundlegend. Das erste besteht darin, daß, wenn erzeugte Größen einander 9*

132

Erich Cassirer,

fortwährend gleich sind, auch die erzeugenden Bewegungen fortwährend gleich sein müssen. Das zweite Prinzip ist die Umkehrung des ersten. Sind erzeugende Bewegungen einander fortwährend gleich, so müssen auch die in gleicher Zeit erzeugten Bewegungen einander fortwährend gleich sein." (A. a. O. Bd. III S. 747.) Das zweite Prinzip der Integration ist somit als die Umkehrung des ersten Prinzips der Differentiation bezeichnet und wie das Differential zur Begründung der Entstehungsweise der Größe angenommen wird, so erlangt es auch erst seine volle Bedeutung in dieser Beziehung auf die Integralgröße. Dieses Verhältnis der reinen Beziehung zur endlichen Größe, die aus ihr abgeleitet wird, ist der eigentliche Vorwurf der Berkeleyschen Untersuchung. Er weist darauf hin, daß auch Newton dieses Verhältnis klar bestimmt habe. „Es muß in der Tat eingeräumt werden, daß er (Newton) die Fluxionen wie das Gerüst eines Gebäudes anwandte, als Dinge, die beiseite gelegt werden und von denen man befreit ist, sobald endliche Größen gefunden sind, welche ihnen proportional sind." (§ 35.) Indes erhebt sich auch hier der Einwand, daß die endlichen Verhältnisse aus den Fluxionen hergeleitet werden. Die Fluxionen sind als Proportionen zwischen Geschwindigkeiten verschwindender Zuwüchse und Abnahmen definiert. Der Begriff der verschwindenden Größe scheint wiederum auf die gehaltlose Abstraktion der Grenze zu führen. So ist es überall die Verkennung der positiven Bedeutung des Grenzbegriffs und des Prinzips der Kontinuität, durch welches die Bestimmung des infinitesimalen Zeitpunkts der Bewegung gefordert ist, welche den vollen rationalen und erkenntnistheoretischen Gehalt der neuen Analysis zu begreifen und zu würdigen verwehrt. Einen besonderen Anstoß nimmt die Kritik an den höheren Ableitungen. Hier wird „eine genaue Vorstellung" vermißt, welche der Bedeutung der höheren Differentialien entspricht. Auch diesen Punkt beantwortete Maclaurin in seiner Gegenschrift, indem er zeigte, daß noch der zweite Differentialquotient in der Mechanik eine Deutung als Beschleunigung im Verhältnis zu seinem Integrale, dem ersten Differentialquotienten, der die Geschwindigkeit darstellt, besitzt. (A. a. O. S. 747.) In der Tat mußte Berkeley in diesen Begriffen der höheren Ableitung eine besondere Schwierigkeit sehen. Das Prinzip der Kontinuität fordert in ihnen Grenzen, für deren Existenz die sinnliche Wahrnehmung keine Gewähr bietet. „Derjenige, welcher den Beginn eines Beginns oder das Ende eines Endes begreifen kann, etwas vor dem ersten oder

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nach dem letzten Verhältnis, mag vielleicht scharfsichtig genug sein, diese Dinge zu begreifen." (§ 44.) Die Schranken der Zeichentheorie werden in diesem Zusammenhang deutlich. Die Zeichentheorie ist ihrer Konzeption nach bestimmt, den gesamten Gehalt der Wissenschaft und insbesondere die Mathematik erkenntnistheoretisch zu umfassen und zu erklären. Die Zeichen schließen, wie der Alciphron lehrte, Relationen ein (vgl. oben S. 116). Wir sahen schließlich, wie das Zeichen am Beispiel der imaginären Größe zum Ausdruck des Begriffs wurde (oben S. 117). Die Unmöglichkeit, eine Vorstellung von ihr zu besitzen, ist keine Instanz, die ihren theoretischen Gebrauch in den gedanklichen Operationen des Geistes beeinträchtigt. (II, S. 344.) Man könnte nun glauben, daß die Fluxionen und Differentialien und ihre höheren Ableitungen in demselben Sinne gewürdigt, gerechtfertigt und in die Erkenntnistheorie eingeführt würden. Indes erhebt Berkeley einen Einwand, welcher von hier aus unverständlich scheinen müßte, wenn er nicht aus einem prinzipiellen Gegensatz begreiflich würde. „Nichts ist leichter, als diese Fluxionen mit Namen, Zeichen oder Ausdrücken zu bezeichnen; und es ist nicht schwierig, mit Hilfe solcher Zeichen zu rechnen und zu operieren. Doch weit schwieriger wird es gefunden werden, die Zeichen außer Acht zu lassen und doch in unserem Geiste die Dinge zurückzubehalten, von denen wir annehmen, daß sie hierdurch bezeichnet sind." (§ 37.) Wenn jedoch der Mathematiker die Bedeutung der Zeichen bestimmt, nimmt er hierbei auf eine dingliche Existenz Bezug, welche sich in der Wahrnehmung darstellen läßt? Wenn nun hier nicht nur die bloße Vorstellbarkeit, sondern auch die Begreiflichkeit bestritten wird, so ist diese doch immer an dem anschaulichen Begriff gemessen. „Man nimmt an, daß die Geschwindigkeiten entstehender oder verschwindender Größen sowohl durch endliche Linien von einer bestimmten Größe, als auch durch algebraische Zeichen und Symbole ausgedrückt werden. Doch ich vermute, daß viele es bei näherer Prüfung unmöglich finden würden, eine Idee oder einen Begriff von jenen Geschwindigkeiten, abgesehen von solchen endlichen Größen und Zeichen, zu bilden." (§ 36.) Wie sicher in diesen Ausführungen der aus der Theorie des Begriffs bekannte Gedanke des Schematismus zum Ausdruck kommt, der die Darstellung der Begriffe in concreto fordert, so ergibt sich doch andererseits, daß Berkeley ein Objekt vermißt, welches

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dem mathematischen Begriff in der Vorstellung korrespondiert. Ein solches kann in der Tat nur als Zeichen oder endliche Größe bestehen. Was sich schon früher zeigte (oben S. 125), bestätigt sich auch hier. „Die Momente oder Zuwüchse fließender Größen in ihrem Ursprung" scheinen Wahrnehmungsobjekte zu sein und sind in diesem Sinne verdächtig. Stets ist es der Gedanke des Grenzwertes, den Berkeley als das vermeintliche Objekt bestreitet, weil er in ihm nicht den Ausdruck für die Ableitung der endlichen Größe erkannte und somit in ihm keinen logischen Geltungswert und keinen objektiven Wahrheitsgehalt erblicken konnte. 1 ) So wird die Frage nach der infinitesimalen Bestimmung der Bewegung als eine Frage der Existenz des Differentials oder der Fluxion in der Vorstellung aufgefaßt und somit dem, was ein logisches Postulat ist, der Kontinuität, der Denkbestimmung ein metaphysischer Sinn untergelegt. Wenn Berkeley den Mathematikern ihre Schlüsse zugibt, ihre Prämissen aber bestreitet 2 ), so ist dieses Ergebnis bereits durch seine Zeichentheorie bestimmt. Die Objekte, welche der Mathematik als Prinzipien dienen, sind keine Perzeptionen; die aus ihnen gezogenen Schlüsse hingegen betreffen endliche und anschauliche Größen der Wahrnehmung. Die Fluxionen werden aus dem Gesichtspunkt des Daseins betrachtet und erscheinen nunmehr als „höchst unbegreifliche metaphysische Wesenheiten" (Analyst § 48). Nur vom Standpunkt der Logik lassen sich hier Einwände erheben, während die Zeichentheorie sich begnügt, richtige Schlüsse über die Dinge zu ermöglichen.3) „Es scheint mir evident zu sein, daß Maße und Zeichen absolut notwendig sind, um Geschwindigkeiten aufzufassen oder zu beurteilen; und daß wir füglich, wenn wir glauben, die Geschwindigkeiten einfach und an sich selbst aufzufassen, durch leere Abstraktionen *) Vgl. hierzu: „Ich streite nicht mit euch über eure Schlüsse, sondern nur über eure Logik und Methode. Wie beweist ihr? Mit welchen Objekten befaßt ihr euch und versteht ihr sie klar? E s muß ausgesprochen werden, daß ich mich nicht mit der Wahrheit eurer Theoreme befasse, sondern nur mit dem Wege, auf dem ihr zu ihnen gelangt; ob er legitim oder unlegitim, klar oder dunkel, wissenschaftlich oder experimentell ist." (Analyst § 20.) 2 ) A Defence of Freethinking in Mathematics 1735. „ E s folgt demungeachtet daraus nicht, daß jene Methoden nutzlos sind, sondern nur, daß sie nicht als Prämissen in einem strengen Beweisverfahren zugelassen werden dürfen." (A. a. O. Bd. III, § 14 S. 70.) •) Vgl. oben Zweiter Teil II S. 112 ff.

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getäuscht werden." (A. a. O. § 37.) Neben der psychologischen Forderung der Darstellbarkeit in concreto ist kein Maßstab des logischen Geltungswertes eines Begriffs ausgezeichnet; die Fluxion vird unter diesem Gesichtspunkt zur leeren Abstraktion — zum befehdeten abstrakten allgemeinen Begriff. So erhebt sich der Einwand, daß man, um vermittels der Fluxion zur endlichen Größe zu gelangen, „gewisse Schritte macht, welche dunkel und unverständlich sind". (§ 34.) Dunkel und unverständlich scheint mit Recht der Versuch, den Übergang zur Grenze sinnlich wahrzunehmen.1) Es genügt nicht, gegen Berkeley einzuwenden, was Leibniz unter anderem gegen Nieuwentijt hervorhob: „daß solchen Figuren, welche aus Linienelementen bestehen, immer andere endliche Figuren ähnlich seien, so daß man Verhältnisse von nicht Angebbarem durch Verhältnisse angebbarer Größen zu ersetzen imstande sei". 2 ) Nicht die Konklusionen werden von Berkeley bestritten, sondern die Prämissen, von welchen man keine deutlichen Ideen zu besitzen vermag (oben S. 134 Anm.). Die Begriffe der Fluxion und des Differentials scheinen völlig entbehrlich: „Wenn du gewillt bist, die Berechtigung und den Nutzen der Annäherungen oder der Methode der Indivisiblen zu verteidigen, so habe ich nichts hiergegen einzuwenden." 3 ) Zu der ganzen Betrachtung fügt Berkeley eine allgemeine Bemerkung hinzu: „Im ganzen scheint es, daß die Geschwindigkeiten außer Betracht gelassen und an ihrer Stelle Flächen und Ordinaten eingeführt werden. Wie nützlich jedoch solche Analogien und Ausdrücke sein mögen, die modernen Quadraturen zu erleichtern, so werden wir doch nicht finden, daß dadurch irgendwelches Licht in die u r s p r ü n g l i c h e r e a l e N a t u r d e r F l u x i o n e n gebracht werde." (Analyst a. a. O. § 47.) So erhebt Berkeley gegen die neue Analysis Einwände von einem Standpunkt aus, der ihr fremd ist. E r bestreitet, daß die „reale Natur der Fluxionen" erkannt werde; jedoch erst ') Vgl. die Beleuchtung dieses Verfahrens durch Newton, Prinzipien a. a. O. S. 54: „Deutlicher ist die Sache (sc. was ein „letztes Verhältnis", mithin ein Grenzwert, ist) bei unendlich großen Größen einzusehen. Werden zwei Größen, deren Unterschied gegeben ist, ins Unendliche vermehrt, so ist ihr letztes Verhältnis gegeben, nämlich das der Gleichheit; j e d o c h w e r d e n d a m i t n i c h t d i e l e t z t e n o d e r a l l e r g r ö ß ten G r ö ß e n , d e r e n V e r h ä l t n i s j e n e s i s t , g e g e b e n . " (Vgl. auch Cohen, Prinzip der Infinitesimalmethode S. 85.) 2 ) Cantor, Vorl. über Gesch. d.-Mathematik, a. a. O. Bd. III, S. 255. ') A defence of Freethinking in Mathematics § 25 Bd. III, S. 75.

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Erich Cassirer,

von der Berkeleyschen Auffassung aus entsteht die Forderung, daß den „klaren und deutlichen Ausdrücken" x x x . . . dx, ddx, dddx usf. „Dinge" entsprechen, welche dadurch „ausgedrückt oder bezeichnet werden". (A. a. O. § 8.) Die Bedeutung der Fluxionen und Differentialien muß vom Standpunkte der Perzeption eine reale wirkliche Natur in der Vorstellung sein. Indem die mathematische Analyse die Reizschwelle durch begriffliche Unterscheidungen überwindet, indem sie in gedanklichen Synthesen ihre Objekte selbständig erschafft, entzieht sie sich in ihren Grundbegriffen des Differentials und der Fluxion, der Anschaubarkeit oder Perzeption und dem auf dieser beruhenden Begriffe. Der Raum ist für die Fluxionsrechnung sowenig gegeben, wie für die Sinnesphysiologie. Während nun diese gemäß ihrem Standpunkte sich begnügt, ihn auf die Empfindung als letztes Element des Bewußtseins zurückgeführt zu haben, so führt ihn das geometrische Denken auf das mathematische Raumelement, den unausgedehnten Punkt, zurück. Dieser an sich einfache Gesichtspunkt, die Bewegung in jedem unteilbaren Zeitpunkt entstehend und gleichförmig zu denken, mußte Berkeley verschlossen bleiben, solange er die Grundbegriffe der Geometrie, solange er den geometrisch diskreten Punkt mit den Unterscheidungen der Empfindungen verglich. Die Zeichentheorie war an diese Beschränkung, ein Vorstellbares auszudrücken, nicht gebunden. Sie hat jedoch nur einen beschreibenden und technischen, nicht jedoch einen logischen Charakter. Sie steht dem reinen Begriff nahe, insofern sie seinen psychologischen Ausdruck bildet. Von hier aus hätte es nur eines Schrittes bedurft, um zum reinen Begriff zu gelangen. Anstatt das Zeichen als psychologisches Sein aufzufassen, hätte es als Ausdruck einer gedanklichen Bedeutung, als „charakteristische Konstruktion" eines theoretischen Prinzips betrachtet werden müssen. Bei Berkeley ergibt sich der merkwürdige Schein, als sei das Zeichen ein psychologisches Mittel, ohne jedoch der Ausdruck eines Begriffs zu sein. Nur in dieser Ansicht indes würde das Desiderat strenger Deduktionen befriedigt werden können; das Zeichen entspricht einem Sein innerhalb des Bewußtseins und außerhalb der Perzeption. So wird es zum psychologischen Korrelat des reinen Denkens: zum „Schema". Indes die Mathematik enthüllt für Berkeley noch nicht die Fragen, die das reine Denken aufgibt. Diese entstehen erst in

Berkeleys System.

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der Metaphysik. Die Bestimmung des reinen Denkens vollzieht die Schrift: die „Siris". IV. Siris. Die nichtsinnliche

Erkenntnis.

Die Bestimmung des Begriffs vollzog sich zuerst in den Prinzipien. E r wurde hier zum Verhältnis unter zwar nicht gegebenen, aber in concreto möglichen Einzelinhalten, den Ideen oder Perzeptionen. Diese Funktion besaß der Begriff in der Charakteristik des Zeichens, dem eine bestimmte Bedeutung beiwohnt. Diese Zeichentheorie, die aus der Identität von Sein und Perzipiertwerden abgeleitet ist, bewährt sich in der Theorie des Sehens und endigt in der metaphysischen Deutung des Alciphron in die natürliche Zeichensprache, das durch den göttlichen Urheber providentiell vorgesehene Gesetz der Assoziationen und regelmäßigen Verknüpfungen der Vorstellungen. A n diesen metaphysischen Endpunkt knüpft die „Siris" an, um einen neuen Gesichtspunkt für die Bestimmung des reinen Begriffs zu gewinnen. S o ist von Anfang an die Richtung, in welcher der reine Begriff zur Auszeichnung und expliziten Entwicklung gelangt, durch das metaphysische Interesse vorgezeichnet. Der Begriff wurde schon in seiner anfänglichen Bestimmung in den Prinzipien an dem geometrischen Beweisverfahren dargelegt und beleuchtet. Der Einzelinhalt konnte kraft seiner Charakteristik als Zeichen dem Bewußtsein die Summe der Einzelinhalte derselben Spezies repräsentieren, bei denen von den besonderen Merkmalen, die nicht als Beweisgrund in den Beweis eingingen, abstrahiert wurde. Diese Stellvertretung des Eiazelinhalts für eine Summe von anderen Einzelinhalten, welche durch ihn im Bewußtsein erweckt werden, beruht auf einer natürlichen Ähnlichkeit, welche dem Geiste durch Eingebung kundwird. E s entstand nun die Forderung, an den Grundbegriffen der Mathematik und mathematischen Naturwissenschaft von der neuen Bestimmung des Begriffs aus Kritik zu üben. Diese Aufgabe versucht die Schrift „De motu" von 1 7 2 1 für die Mechanik und der „Analyst" vom Jahre 1 7 3 4 für die Mathematik. Gemäß dieser Ansicht vom Begriff mündet die Schrift „ D e motu" in das Ergebnis ein, die Bewegungsgesetze und die Mittel ihrer begrifflichen Präzisierung auf Beziehungsbegriffe unter sinnlichen Erscheinungen einzuschränken, während

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Erich Cassirer,

der Analyst den nicht anschaulichen Methodenbegriff der Fluxion oder des Differentials durch Beziehungen unter endlichen Größen zu ersetzen strebt. Es ist jedoch ersichtlich, daß in dieser Auffassung der Begriff lediglich durch sein methodisches Endziel der Erzeugung des Gegenstandes der Erfahrung, nicht jedoch nach seiner originalen Beschaffenheit und der Beschaffenheit der Stufen des Begriffs, welche zu diesem Endziele hinführen, charakterisiert und bestimmt wird. In diesem Sinne ließen beide Schriften, sowohl „De motu" als auch der „Analyst", das Desiderat des Begriffs mehr implizit erkennen, als daß sie es explizit aussprächen und formulierten. — Die im Jahre 1744 erschienene Schrift: die „Siris", welche die späteste und reifste Entwicklung des Systems darstellt, nimmt sowohl die metaphysischen Motive des Alciphron, wie diese erkenntnistheoretischen Ergebnisse auf und versucht, aus ihnen die letzten systematischen Konsequenzen zu ziehen. A. B e w e g u n g s l e h r e . Die Schrift „De motu" hat ihren eigentümlichen Wert in der strengen Abgrenzung von Theorie und Metaphysik, von rationaler Wissenschaft und transzendentaler Spekulation, die sie in Anlehnung an Newton vollzieht. Erst die transzendentale Methode Kants hat diese Grenzbestimmungen der Vernunft zu einem Besitz und Ferment der philosophischen Disziplin gemacht. Wenn nun die letzte Schrift diese Beschränkung der Bewegungslehre auf das theoretische Interesse aufhebt, so droht nunmehr die Gefahr, daß die Klarheit in der strikten Unterscheidung der Problemgebiete, wie besonders des Wissens und des Glaubens, beeinträchtigt werde. Die Polemik, welche sich in der Abhandlung „De motu" gegen den reinen Raum und die reine Zeit richtete, wandte sich gegen eine bestimmte hypostasierende Auffassung dieser Grundbegriffe der neubegründeten Naturwissenschaft. Sie suchte ihm dennoch von eigenen Voraussetzungen aus einen genauen und fruchtbaren Sinn abzugewinnen und ließ die unter ihrer Voraussetzung hergeleiteten Resultate unversehrt bestehen. Innerhalb der Philosophie der Naturwissenschaft galt es, die Ursachen und Auflösungen der Phänomene aus mechanischen Prinzipien herzuleiten. (De motu § 69.) Neben der philosophia naturalis wird die philosophia prima genannt und eingeführt. (A. a. O. § 34.) Die wahre wirkende Ursache der Bewegung der körperlichen Masse besteht indes in einem Geist. (A. a. O. § 69.) So tritt dem sinnlichen Phänomen der Bewegung der

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Geist oder das spirituelle Agens gegenüber, welches die echte wirkende Ursache innerhalb der mechanischen Betrachtung andeutet. So ist schon in der Schrift „De motu" der erste Anstoß zu einer verhängnisvollen Unterscheidung gegeben, welche den Begriff der reinen Erkenntnis spaltet und zerfällt. Es wird zwischen dem sinnlichen Phänomen und seiner theoretischen Erklärung einerseits und der Sphäre des reinen Begriffs andererseits als zwischen zwei verschiedenen Seinsarten unterschieden. — Die Unterscheidung läßt sich in ihren Keimen bis auf die Prinzipien zurückverfolgen, welche neben der Erkenntnis durch Ideen die Erkenntnis der Geister durch Begriffe postulierten. Die „Siris" würdigt die Ursachen der Bewegungslehre zu zweiten Ursachen herab. „Wenn also gesagt wird, daß Kraft, Gewalt, Vermögen oder Handlung in einem ausgedehnten und körperlichen oder mechanischen Sein besteht, so ist dies nicht im wahren, echten und realen Sinne, sondern nur im groben und populären Sinne zu verstehen, der bei den Erscheinungen stehen bleibt und die Dinge nicht bis zu ihren letzten Prinzipien analysiert." (Siris, § 155 S. 200.)') An die Stelle des theoretischen Prinzips ist somit das metaphysische Prinzip getreten. 2 ) Wenn wir hier nun an einem Punkte stehen, welcher die Berkeleysche Philosophie von dem wissenschaftlichen Idealismus trennt, so liegt hier dennoch für die Entwicklung des Systems der Ausgang zu einer Vertiefung in der Bestimmung des rationalen Begriffs (vgl. unten S. 141). — Diesen Sachverhalt lassen die folgenden Entwicklungen erkennen, welche freilich durch das metaphysische Interesse bestimmt sind. Das Ideal theoretischer Begreiflichkeit, wie es die Mechanik mit ihren Mitteln entwirft, ist unzulänglich zur Erkenntnis der wahren Ursachen. „Die Gesetze der Attraktion und Repulsion müssen als Gesetze der Bewegung betrachtet werden und diese nur als Regeln oder Methoden, welche in den Produkten der natürlichen Wirkungen wahrgenommen werden, deren Wirkungsweisen und Zweck-Ursachen nicht der mechanischen Betrachtung angehören. Es ist sicher, daß, wenn die Erklärung eines Phänomens darin besteht, seine eigentliche Zweck- und Endursache aufzuzeigen, es scheinen möchte, daß die mechanischen Naturphilosophen niemals ein Ding erklärt haben; denn ihre Provinz besteht einzig darin, die Gesetze der *) Siris, a chain of philosophical

a. a.

O. Bd. III.

reflexions and inquiries . .

1744,

J ) V g l . hierzu die terminologische Bestimmung des Prinzips in der Schrift „ D e motu" oben S. 95.

I40

Erich Cassirer,

Natur zu entdecken, d. h. die allgemeinen Regeln und Methode» der Bewegung, und die besonderen Phänomene zu erklären, indem man sie auf allgemeine Regeln zurückführt oder ihre Übereinstimmung mit ihnen zeigt." (A. a. O. § 231.) Die wahren Ursachen sind transzendent. Der Begriff der Ursache ist in der Mechanik eine bloße Metapher, er bezeichnet keine Realität, sondern lediglich eine mathematische Hypothese. Der Begriff der Kraft entsteht erst in der begrifflichen Deutung der Erscheinung, während die sinnliche Perzeption immer nur Bewegungsvorgänge und ihr extensives Maß erkennen läßt. „Körper werden aufeinander zu- oder voneinander fortbewegt, und dies vollzieht sich nach verschiedenen Gesetzen. Der Naturwissenschaftler oder Mechaniker bestrebt sich, die Gesetze durch Experiment und Schlüsse zu entdecken. Was jedoch von Kräften gesagt wird, welche den Körpern innewohnen, sowohl anziehenden als abstoßenden, muß man lediglich als eine mathematische Hypothese ansehen und nicht als irgendein wirklich in der Natur existierendes Sein." (A. a. O. § 234.) — Schon die Schrift „De motu" ließ den Mangel erkennen, welcher bei aller Anerkennung der Idealität des Gegenstandes der theoretischen Physik in dieser Bestimmung zurückblieb und sich aussprach (oben S. 102). Die Dinge, welche nur im erkennenden Bewußtsein gegeben sind, denen unabhängig von den Mitteln des Bewußtseins und der Erkenntnis kein für sich bestehendes Sein zukommt, werden dennoch von den Gegenständen unterschieden, welche in den mathematischen Hypothesen begründet und formuliert sind. So wird selbst für den Idealismus Berkeleys die Existenz der Dinge zum Problem, obwohl bereits die Dinge als Vorstellungen und Zusammenhänge von Vorstellungen rekognosziert wurden. Weil der Zusammenhang der Vorstellungen im Verhältnis der Ursache und Wirkung nur für die theoretische Erkenntnis besteht, weil er nur den Charakter einer mathematischen Hypothese hat, so kann er nicht den wahren Gegenstand bilden, so muß eine transzendente Ursache der Vorstellungen und ihres Zusammenhanges, ihrer Ordnung und gesetzmäßigen Gliederung vermißt und gefordert werden. Die Verknüpfungen, welche die Theorie unter den Vorstellungen ermittelt, beruhen auf Perzeptionen und Suggestionen und haben nur den empirischen Geltungswert einer „gewohnheitsmäßigen Verknüpfung". Hier nun entsteht die Frage nach der wahren Ursache, aus welcher nach dem Vorbild des deduktiven Beweisverfahrens der Mathematik das Sein der einzelnen Geister und

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•des göttlichen Geistes im rationalen Sinne ableitbar werden. An dieser Stelle also, wo die theoretische Naturerklärung als unzureichend empfunden wird, wird gerade deshalb das Ideal einer rein begrifflichen Erkenntnis postuliert. 1 ) Die Notwendigkeit der transzendenten Ursache ergibt sich bereits innerhalb der Naturerkenntnis: in der beschreibenden Naturwissenschaft. Das Problem der Entwicklung (der Mineralien, der Pflanzen und der Lebewesen) läßt sich nicht aus mechanischen Prinzipien erklären. (§ 232.) Am Problem der Biologie sieht sich die mechanische Erklärungsweise auf ein nicht weiter auflösbares Faktum geführt. Zunächst allerdings wird die Natur als mechanischer Naturbegriff verstanden. „Wo der Intellekt herrscht, da findet sich Ordnung und Methode und deshalb Regeln, welche aufhören würden, Regeln zu sein, wenn sie nicht bestimmt und konstant wären. Es gibt also eine Konstanz in den Dingen, welche der Lauf der Natur genannt wird." (§ 234-) Die mechanische Gesetzmäßigkeit ist hier jedoch nicht selbst Problem, sondern der vermeintlich sich in ihr darstellende Gegenstand wird ein Beispiel für die transzendenten Ursachen. Diese treten um so deutlicher hervor, je mehr sich die Unzulänglichkeit der mechanischen Naturerklärung offenbart. So erhebt sich ein Einwand aus dem Gesichtspunkte der besonderen Gesetze. „Die Gesetze der Schwere, des Magnetismus und der Elektrizität sind verschieden, und man weiß nicht, welche anderen verschiedenen Regeln und Gesetze der Bewegung von dem Urheber der Natur eingerichtet sein mögen." (§ 235.) Die Einheit der verschiedenen Energieformen wird stillschweigend gefordert; weil sie in der sinnlichen Perzeption nicht aufzeigbar ist, so bedarf es hierzu einer neuen Voraussetzung. Diese muß ein neues Prinzip darstellen; die Prinzipien werden indes als Ursachen gedacht. So erweist sich auch hier, daß Berkeley den reinen Begriff nur unter metaphysischen Prädikaten als reale Wesenheit zu denken vermag (vgl. oben S. 108). Um die Erforderlichkeit transzendenter Ursachen zu erweisen, wird die Ursache, welche in der theoretischen Erkenntnis behauptet wird, auf die sinnliche Wahrnehmung zurückgeführt und eben damit als ergänzungsbedürftig hingestellt. „Und wenn gesagt wird, daß alle Bewegungen und Veränderungen in der großen Welt von der Anziehung her') Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem a. a. O. Bd. II S. 313, zum Ganzen S. 275 ff. Viertes Kapitel. 6. Buch 2. Kapitel: Berkeley.

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E r i c h Cassirer,

rühren, indem nämlich die Elastizität der Luft, die Bewegung des Wassers, das Fallen schwerer und das Steigen leichter Körper alle dem nämlichen Prinzip zugeschrieben werden; wenn von unsichtbaren Anziehungen kleinster Teilchen in geringster Entfernung die Kohäsion, Auflösung, Gerinnung, animalische Ausscheidung, Gährung und alle chemischen Operationen abgeleitet werden; und wenn gesagt wird, daß ohne solche Prinzipien niemals irgendeine Bewegung in der Welt gewesen wäre und ohne ihre Fortsetzung alle Bewegung aufhören würde, so v e r s t e h e n wir bei all d i e s e m n i c h t m e h r , a l s d a ß K ö r p e r in einer b e s t i m m t e n O r d n u n g b e w e g t w e r d e n und sich nicht s e l b s t b e w e g e n . " (A. a. O. § 236.) Auch in diesen Ausführungen wird ersichtlich neben der theoretischen Bestimmung ein reales Sein des Gegenstandes und eine reale Ursache der Bewegung vermißt und somit mittelbar gesetzt. Ein eigentümliches Problem stellt sich in der Übertragung der Zahl und ihres Gesetzes auf die äußere Erscheinung dar. „ E s ist nicht unwahrscheinlich und scheint durch Experimente sehr bestätigt zu werden, daß, wie in der Algebra, wo positive Größen aufhören, negative beginnen, ebenso in der Mechanik, wo anziehende Kräfte aufhören, abstoßende beginnen, oder, um es genauer auszudrücken, wo Körper aufhören, aufeinander zu bewegt zu werden, sie voneinander fort bewegt zu werden beginnen." (A. a. O. § 236.) Die Bewegung ist eben ein unabhängig vom denkenden Bewußtsein sich vollziehender realer Vorgang, dessen wie immer beschaffene Gesetzmäßigkeit für den erkennenden Geist als zufällig erscheinen muß. So erhebt sich die Frage, aus welchem Grunde die abstoßenden Kräfte beginnen sollten, wo die Anziehungskraft aufhört. (§ 237.) Eine solche Identifizierung der Abstoßungskraft mit der Anziehungskraft, indem sie als Unterart unter diesen Gattungsbegriff fällt, ist sinnlich nicht gegeben, wie sie ja auch erst eine späte Stufe der Abstraktion in der Entwicklung der Newtonschen Theorie darstellt. Eine solche Einheit, welche über den Perzeptionsbegriff hinausweist, stellt, von Berkeleyschen Prämissen aus, ein eigentümliches metaphysisches Problem dar. 1 ) Die stofflichen Eigenschaften der Dinge bieten der sinnlichen Betrachtung und Beobachtung keinen Stützpunkt für eine systematische Beurteilung. Daher erhebt sich gegen den Stand*) Zum sachlichen Problem vgl. man Rosenberger, Isaac und seine physikalischen Prinzipien. Leipzig 1895. S . 323.

Newton

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punkt der Perzeption, welchen doch die Erfahrungswissenschaften einnehmen, ein Einwand aus der kritischen Betrachtung der Chemie. Die chemischen Eigenschaften lassen sich sowenig wie die biologischen Formen aus mechanischen Prinzipien erklären; wenn zwischen einigen Salzen und Wasserdämpfen eine Anziehung stattfindet, so daß sie diese aus der Luft aufnehmen, während dies bei anderen nicht stattfindet, wenn ferner einige feste Körper sich in Wasser lösen, so wird hier das Recht der Erklärungsweise aus dem einheitlichen Prinzip der Bewegung f r a g l i c h . W i e soll man schließlich eine einheitliche Auffassung des Kosmos gewinnen? „Ähnlicherweise" (wie die Mechanik die Bewegung nicht nach ihrer Realität erklärt) „scheint es unfaßbar, wie man alle jene verschiedenen Bewegungen und Wirkungen (sc. der organischen Prozesse und chemischen Operationen) durch die Dichtigkeit und Elastizität des Äthers erklären sollte." (§ 237.) Es kann vom Standpunkte der Perzeption und rezeptiven Aufnahme der Objekte nicht gelingen, die verschiedenartigen Problemkreise, die Probleme der Mechanik, der Chemie und Biologie in systematischer Einheit zu verstehen und zu begreifen. Ein einheitliches Erklärungsprinzip ist jedoch auch durch die Philosophie Berkeleys gefordert. Da sich dieses nicht aus den anschaulichen Gegebenheiten ableiten läßt, so kann es nur ein nicht anschaulicher Begriff sein. Damit ist nach der Voraussetzung der dogmatischen Ansicht ein unkörperliches Wesen gesetzt. „Wir können nicht einen Schritt in der Erklärung der Phänomene tun, ohne die unmittelbare Gegenwart und das unmittelbare Eingreifen eines unkörperlichen Urhebers, welcher alle Dinge v e r k n ü p f t , b e w e g t und ano r d n e t gemäß solchen Regeln und solchen Absichten, welche ihm gut scheinen." (A. a. O. § 237.) Wiederum ist im Unterschiede von der Perzeption das Desiderat des Begriffs anerkannt. Es kann jedoch nicht gelingen, die logischen Prädikate der Erscheinung, welche hier durch die Bestimmungen der Verknüpfung und Bewegung und Ordnung bezeichnet sind, als solche begreiflich zu machen und *) In einem Briefe Newtons an Boyle aus dem Jahre 1679, der eben noch der Konzeption der neuen dynamischen Ansicht vorausliegt, finden sich die Beispiele Berkeleys für die Abstoßungskräfte. Hier wird allerdings ein „soziables Prinzip" gefordert, „gemäß welchem Flüssigkeiten geneigt sind, sich mit einigen Stoffen zu mischen, mit anderen nicht". (VgL Rosenberger a. a. O. S. 126.)

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Erich Cassirer,

rational aufzulösen. Sie bezeichnen vielmehr das Erfordernis eines geistigen Urhebers der Erscheinung. Es ist charakteristisch, daß Berkeley in scheinbarem Gegensatz zu Newton der Hypothesenbildung nicht abgeneigt ist und «ich in ihr versucht. Im Newtonschen Sinne stellt er jedoch die Forderung an die wahre physikalische Ursache, sich in der Erklärung der Phänomene zu bewähren. Aus diesem Grunde will er den elastischen Äther nicht gelten lassen. Für seine Annahme biete die Erfahrung kein. Beispiel. Hingegen glaubt er, ihn durch das Licht ersetzen zu können. Diese Hypothese erhält einen Vorzug vor der Ätherhypothese, weil sie sich in Experimenten bewährt. Freilich auch das Licht ist eine untergeordnete und sekundäre Ursache. (§ 238.) Die besonderen Gesetze bieten einen beständigen Einwand gegen die mechanische Naturerklärung. Es scheinen Sympathien und Antipathien zu ihrer Erklärung erforderlich. „Denn obgleich die allgemeinen Gesetze der Bewegung als mechanisch betrachtet werden müssen, so sind doch die besonderen Bewegungen der unsichtbaren Teile und die besonderen davon abhängenden Eigenschaften dunkel und spezifisch." (§ 239.) Wenn das mechanische Prinzip bestritten wird, so richtet sich das Interesse nicht so sehr auf die Frage der theoretischen Begründung, als der metaphysischen Erklärung der Erscheinung. „Die Anziehungskraft kann die Phänomene nicht hervorbringen und in diesem Sinne erklären, denn sie ist selbst eins der hervorgebrachten Phänomene, welches der Erklärung bedarf." (§ 243-) Schon die Schrift „De motu" wies darauf hin, daß bereits das Altertum das Gesetz, das die Bewegung des Kosmos beherrscht, als Intelligenz darstellt. Diese Ansicht wird in moderner Zeit von Newton erneuert. „Obwohl sich dieser (Newton), so heißt es nunmehr, vielleicht bisweilen zu vergessen scheinen könnte, in seiner Art von physischen Agentien zu reden, welche im strengen Sinne überhaupt nicht sind, und "wenn er reale Kräfte als in den Körpern existierend voraussetzt, in welchen, genau gesprochen, Anziehung und Abstoßung nur als Tendenzen oder Bewegungen betrachtet werden sollten,