Cognitio symbolica: Lamberts semiotische Wissenschaft und ihre Diskussion bei Herder, Jean Paul und Novalis [Reprint 2014 ed.] 9783110239935, 9783484365223

In the historiography of the 18th century German philosophy and literature, the German tradition of language-based epist

170 68 28MB

German Pages 293 [296] Year 1996

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Table of contents :
Einleitung
1. Einführung in Ansatz und Gegenstand der Arbeit
2. Die allgemeine Struktur und Systematik von Erkenntnistheorien
3. Die historischen Bezüge zwischen Lambert, Herder, Jean Paul und Novalis
4. Herders erkenntnistheoretischer Ort in der Folge Lamberts
5. Die theoretische Basis der Poetik Jean Pauls
6. Die Fundierung der Enzyklopädistik des Novalis
ERSTER TEIL: Erkenntnis- und Sprachtheorie um 1800: Herders Metakritik und ihre Quellen
I. Erfahrung und Verstand
1. Die Erkenntniskräfte des Menschen und die Bedeutung der Entwicklung von Sprache für das Denken
1.1. Herders »Physiologie der Erkenntniskräfte«
1.2. Sprache und Denken: Das Wort als Merkmal des Verstandes in der Metakritik
1.2.1. Johann George Sulzers Untersuchungen zu Entwicklung und Funktion der Sprache
1.2.2. Johann Heinrich Lamberts Begründung der Notwendigkeit von Zeichen für das Denken
2. Begriffe des Verstandes und ihr sprachlicher Ausdruck
2.1. Die Kategorien als reine Verstandesbegriffe bei Kant in der kritischen Perspektive Herders
2.2. Die Kategorien als Ergebnis menschlicher Verstandeshandlungen in Herders Metakritik
2.2.1. Die Kategorie des Seins
2.2.2. Die Kategorie der Eigenschaften
2.2.3. Die Kategorie der Kraft
2.2.4. Die Kategorie des Maßes
2.3. Grammatische Kategorien der Sprache: Johann Werner Meiners Philosophische Sprachlehre
3. Das Zusammenwirken der Erkenntniskräfte
3.1. Herders Auseinandersetzung mit Kants Entwurf
3.2. Die »symbolische Erkenntnis« in ihrer Vermittlungsrolle zwischen Sinnlichkeit und Verstand: Lamberts Theorie der Metapher
II. Die Vernunft und ihr Werkzeug, die Sprache
1. Ausbildung und Wahrheit von Vernunftideen
1.1. Die allgemeinen Begriffe der Vernunft
1.1.1. Die Aufgabe der Vernunft: Herders Entwurf der Begriffskonstruktion
1.1.2. Das Allgemeine und Besondere: Lamberts Bestimmung wissenschaftlicher Begriffe
1.2. Synthese und Analyse als Methoden der Begriffsoperation
1.2.1. Herders Kritik an Kants synthetischen Urteilen a priori
1.2.2. Kant und Lambert: Zwei Antworten auf die Preisfrage des Jahres 1763
1.2.3. Grundbegriffe, Lehrbegriffe und Postulate: Johann Heinrich Lamberts Konzeption einer »mathesis universalis«
1.3. Das Problem der Erkenntnis a priori/a posteriori
1.3.1. Herders Kritik an Kants a priori-Begriff
1.3.2. Lamberts Interpretation der Begriffe des a priori und a posteriori
2. Die Sprache als Werkzeug der Vernunft
2.1. Probleme der Sprache: Herders Sprachkritik
2.2. Der Einfluß von Sprache auf wissenschaftliche Erkenntnis: Lamberts Semiotik
2.3. Verwendungsweisen der Sprache: Herders Forderung der Angemessenheit des Sprachniveaus
2.4. Umgangssprache und Wissenschaftsprache in der Tradition Leibniz’
ZWEITER TEIL: Die Umsetzung von Erkenntnis- und Sprachtheorie in Jean Pauls Ästhetik
Vorbemerkung
I. Der »Stoff« und die Sprache der Dichtung
1. Der Grundsatz der »poetischen Nachahmung« der Wirklichkeit
1.1. Die Bedeutung der Dichtung für die Verbindung von Wirklichkeitserfahrung und Geist
1.2. Die erkenntnistheoretische Grundannahme Jean Pauls
2. Der Stil als sinnlich-anschauliche Sprachform
2.1. Die Metapher bei Jean Paul
2.1.1. Die Metapher als konstitutives Element des Sprachsystems
2.1.2. Die Rolle der Metapher in der historischen Sprachentwicklung
2.2. Die Erkenntnis der Ähnlichkeit von Körper und Geist im Witz
2.3. Das Vergleichen als universelles Vermögen des Menschen
II. Die »Form« und Aufgabe der Dichtung
1. Der Roman als »poetische Enzyklopädie«
2. Die Bedeutung des Humors für die Form des Romans
Ausblick: Lamberts Erkenntnistheorie in ihrer Bedeutung für Das philosophische Werk Novalis’
1. Der Entwurf der Enzyklopädistik bei Novalis
2. Die theoretische Fundierung des Enzyklopädie-Projektes: Novalis’ Exzerpte aus der Dianoiologie
3. Die Umsetzung der Erkenntnistheorie und Logik Lamberts in Novalis’ Enzyklopädistik
4. Der Kritik-Begriff in der romantischen Kunsttheorie Novalis’
Abschließende Bemerkungen
Anhang
1. Der handschriftliche Nachlaß Herders: Auszüge aus Werken Lamberts sowie Aufzeichnungen und Bemerkungen von Herder
2. Das Herder-Inventar in dem handschriftlichen Nachlaß Lamberts
3. Jean Pauls Exzerpte aus Lamberts Werken
Literaturverzeichnis
1. Primärliteratur
2. Sekundärliteratur
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Cognitio symbolica: Lamberts semiotische Wissenschaft und ihre Diskussion bei Herder, Jean Paul und Novalis [Reprint 2014 ed.]
 9783110239935, 9783484365223

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FRÜHE NEUZEIT Band 22

Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Jörg Jochen Berns, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt

Gesine Lenore Schiewer

Cognitio symbolica Lamberts semiotische Wissenschaft und ihre Diskussion bei Herder, Jean-Paul und Novalis

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schiewer, Gesine Lenore: Cognitio symbolica : Lamberts semiotische Wissenschaft und ihre Diskussion bei Herder, Jean Paul und Novalis / Gesine Lenore Schiewer. - Tübingen : Niemeyer, 1996 (Frühe Neuzeit; Bd. 22) NE: GT ISBN 3-484-36522-6

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Satz: Johanna Boy, Regensburg Druck: Guide-Druck, Tübingen Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Vorwort

Das Thema dieser Arbeit wurde von Prof. Dr. Wolfgang Proß vorgeschlagen, der sie auch betreut hat. Ihm gilt mein ganz besonderer Dank für vielfältige Anregungen und wichtige Hinweise, ebenso wie ich auch Prof. Dr. Dr. Ernest W. B. Hess-Lüttich für seine Unterstützung und Förderung sehr zu danken habe. Für die Aufnahme des Titels in die Reihe »Frühe Neuzeit« des Niemeyer Verlages ist besonders Prof. Dr. Friedrich Vollhardt und den weiteren Herausgebern zu danken. Der Karl-Jaberg-Stiftung und ihrem Präsidenten, Prof. Dr. Willy Sanders, danke ich für die Gewährung eines großzügigen Zuschusses für die Kosten der Drucklegung dieser Arbeit. Zu Dank verpflichtet bin ich ferner der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Basel sowie der Bibliothek des Instituts für Germanistik der Universität Bern. Weiterhin gilt mein Dank Prof. Dr. Lutz Danneberg für sein Interesse und die Ermutigung sowie lic. phil. Simone De Angelis für seine ständige Diskussionsbereitschaft. Entscheidende Unterstützung wurde mir von meiner Mutter Waltraut Schiewer und meinem Bruder Mathias zuteil, wofür ich ihnen herzlich dankbar bin. Schließlich möchte ich auch Erika Schorno meine Anerkennung aussprechen.

Inhaltsverzeichnis Einleitung 1. Einführung in Ansatz und Gegenstand der Arbeit

1 1

2. Die allgemeine Struktur und Systematik von Erkenntnistheorien . . 4 3. Die historischen Bezüge zwischen Lambert, Herder, Jean Paul und Novalis

7

4. Herders erkenntnistheoretischer Ort in der Folge Lamberts

14

5. Die theoretische Basis der Poetik Jean Pauls

16

6. Die Fundierung der Enzyklopädistik des Novalis

18

ERSTER TEIL:

Erkenntnis- und Sprachtheorie um 1800: Herders Metakritik und ihre Quellen

21

I. Erfahrung und Verstand

23

1. Die Erkenntniskräfte des Menschen und die Bedeutung der Entwicklung von Sprache für das Denken 1.1. Herders »Physiologie der Erkenntniskräfte« 1.2. Sprache und Denken: Das Wort als Merkmal des Verstandes in der Metakritik 1.2.1. Johann George Sulzers Untersuchungen zu Entwicklung und Funktion der Sprache 1.2.2. Johann Heinrich Lamberts Begründung der Notwendigkeit von Zeichen für das Denken

41

2. Begriffe des Verstandes und ihr sprachlicher Ausdruck

46

2.1. Die Kategorien als reine Verstandesbegriffe bei Kant in der kritischen Perspektive Herders 2.2. Die Kategorien als Ergebnis menschlicher Verstandeshandlungen in Herders Metakritik 2.2.1. Die Kategorie des Seins 2.2.2. Die Kategorie der Eigenschaften 2.2.3. Die Kategorie der Kraft 2.2.4. Die Kategorie des Maßes

23 23 28 33

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VIII 2.3. Grammatische Kategorien der Sprache: Johann Werner Meiners Philosophische Sprachlehre 3. Das Zusammenwirken der Erkenntniskräfte 3.1. Herders Auseinandersetzung mit Kants Entwurf 3.2. Die »symbolische Erkenntnis« in ihrer Vermittlungsrolle zwischen Sinnlichkeit und Verstand: Lamberts Theorie der Metapher II. Die Vernunft und ihr Werkzeug, die Sprache 1. Ausbildung und Wahrheit von Vernunftideen 1.1. Die allgemeinen Begriffe der Vernunft 1.1.1. Die Aufgabe der Vernunft: Herders Entwurf der Begriffskonstruktion 1.1.2. Das Allgemeine und Besondere: Lamberts Bestimmung wissenschaftlicher Begriffe 1.2. Synthese und Analyse als Methoden der Begriffsoperation 1.2.1. Herders Kritik an Kants synthetischen Urteilen a priori 1.2.2. Kant und Lambert: Zwei Antworten auf die Preisfrage des Jahres 1763 1.2.3. Grundbegriffe, Lehrbegriffe und Postulate: Johann Heinrich Lamberts Konzeption einer »mathesis universalis« 1.3. Das Problem der Erkenntnis a priori/a posteriori 1.3.1. Herders Kritik an Kants a priori-Begriff 1.3.2. Lamberts Interpretation der Begriffe des a priori und a posteriori 1.3.2.1. Die Stufen der Erkenntnis 1.3.2.2. Wissenschaftliche Erkenntnis a priori 2. Die Sprache als Werkzeug der Vernunft 2.1. Probleme der Sprache: Herders Sprachkritik 2.2. Der Einfluß von Sprache auf wissenschaftliche Erkenntnis: Lamberts Semiotik 2.3. Verwendungsweisen der Sprache: Herders Forderung der Angemessenheit des Sprachniveaus 2.4. Umgangssprache und Wissenschaftsprache in der Tradition Leibniz'

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86 96 96 96 97 104 113 113 122

138 141 142 146 146 151 160 162 166 173 177

IX ZWEITER TEIL:

Die Umsetzung von Erkenntnis- und Sprachtheorie in Jean Pauls Ästhetik

183

Vorbemerkung

185

I. Der »Stoff« und die Sprache der Dichtung

186

1. Der Grundsatz der »poetischen Nachahmung« der Wirklichkeit

187

1.1. Die Bedeutung der Dichtung für die Verbindung von Wirklichkeitserfahrung und Geist 194 1.2. Die erkenntnistheoretische Grundannahme Jean Pauls . . . . 197 2. Der Stil als sinnlich-anschauliche Sprachform 2.1. Die Metapher bei Jean Paul 2.1.1. Die Metapher als konstitutives Element des Sprachsystems 2.1.2. Die Rolle der Metapher in der historischen Sprachentwicklung 2.2. Die Erkenntnis der Ähnlichkeit von Körper und Geist im Witz 2.3. Das Vergleichen als universelles Vermögen des Menschen... II. Die »Form« und Aufgabe der Dichtung

203 205 205 208 213 216 223

1. Der Roman als »poetische Enzyklopädie«

223

2. Die Bedeutung des Humors für die Form des Romans

228

Ausblick: Lamberts Erkenntnistheorie in ihrer Bedeutung für Das philosophische Werk Novalis'

239

1. Der Entwurf der Enzyklopädistik bei Novalis

241

2. Die theoretische Fundierung des Enzyklopädie-Projektes: Novalis' Exzerpte aus der Dianoiologie

245

3. Die Umsetzung der Erkenntnistheorie und Logik Lamberts in Novalis' Enzyklopädistik

254

4. Der Kritik-Begriff in der romantischen Kunsttheorie Novalis'. . . 257 Abschließende Bemerkungen

267

Anhang

271

1. Der handschriftliche Nachlaß Herders: Auszüge aus Werken Lamberts sowie Aufzeichnungen und Bemerkungen von Herder

271

X 2. Das Herder-Inventar in dem handschriftlichen Nachlaß Lamberts 3. Jean Pauls Exzerpte aus Lamberts Werken Literaturverzeichnis

271 273 275

1. Primärliteratur

275

2. Sekundärliteratur

278

Einleitung 1.

Einführung in Ansatz und Gegenstand der Arbeit

Die Geschichtsschreibung der deutschen Literatur um 1800 geht - unter kritischer Reflexion der generellen Berechtigung, Nützlichkeit und Problematik von Epochenbegriffen - in aller Regel von einer Grobeinteilung in Spätaufklärung, Empfindsamkeit, Weimarer Klassik und Romantik mit den entsprechenden Feingliederungen in Früh- Hoch- und Spätromantik aus. Hingewiesen wird weiterhin auf verschiedene sogenannte »Nebenströmungen« wie beispielsweise den literarischen Jakobinismus in Deutschland1 oder die Ritterromane sowie auf einzelne Autoren, die sich dem angelegten Raster nicht bruchlos einfügen lassen. Besonders Heinrich von Kleist, Friedrich Hölderlin und Jean Paul, aber auch Johann Peter Hebel und andere werden im allgemeinen entweder als Einzelphänomene betrachtet, denen abweichende, kritische Haltungen gegenüber den großen Strömungen bestätigt und damit »Zwischenpositionen« respektive »Außenseiterstellungen« zugeschrieben werden, oder aber sie werden als »Rand- und Grenzerscheinungen dem Gesamtbild der Epoche« 2 eingefügt. Die Feststellung, daß die Bezeichnung »Deutsche Klassik« für den Zeitabschnitt von 1790 bis 1805 nur eine Strömung neben anderen gewesen sei sowie die dementsprechende Forderung nach Revision literaturgeschichtlicher

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2

Vgl. Conrady, Karl Otto 1977: Anmerkungen zum Konzept der Klassik, in: Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik, hg. von Karl Otto Conrady, Stuttgart, 7-29, 25. Die deutsche Literatur. Ein Abriß in Text und Darstellung 1982, hg. von Otto F. Best und Hans-Jürgen Schmitt, Bd. 7: Klassik, hg. von Gabriele Wirsich-Irwin, Stuttgart, 20. Damit wird das Werk entsprechender Autoren entweder marginalisiert oder aber, wie in der Darstellung von Gabriele Wirsich-Irwin, dem Begriff des Klassischen unterworfen: »Um hier einer ins Vage gehenden Ausweitung des Begriffs entgegenzuwirken, wird zunächst von der zeitlichen Begrenzung der deutschen Klassik durch Goethes Italienreise und Schillers Tod ausgegangen, der Epoche zwischen 1786 und 1805. Klassik wäre damit eine geistige Orientierung, die keimhaft bei Winckelmann und Karl Philipp Moritz, deutlich ausgeprägt beim nachitalienischen Goethe, bei Schiller in den Jahren 1788 bis zu seinem Tode, beim späteren Herder (1784-1803), beim kritischen Kant (1781-1804), bei Wilhelm von Humboldt und - bereits mit Einschränkungen - bei Hölderlin, Hebel und Jean Paul zu verfolgen wäre.« Die deutsche Literatur 1982, 20. Infolgedessen wird in literaturgeschichtlichen Darstellungen vielfach eine Rubrik »Zwischen Klassik und Romantik« eingeführt, die dann als Gefäß für die entsprechenden Einzeldarstellungen dienen muß. Vgl. z. B.: Geschichte der deutschen Literatur. Kontinuität und Veränderung. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart 1988, Bd. 2: Von der Aufklärung bis zum Vormärz, hg. von Ehrhard Bahr, Tübingen, 266.

2 Vorstellungen3 bleibt vielfach insofern folgenlos, als zwar eine spezialisierte Werk- und Autorenforschung existiert, es jedoch nicht zu der gleichberechtigten Darstellung der verschiedenen theoretischen und praktischen Ansätze als eigenständige Traditionslinien kommt aufgrund der Voreingenommenheit der Positionen, die letztlich sämtliche literarischen Erscheinungen des genannten Zeitraums an der Kategorienmatrix der Neoklassik entsprechend der eigenen Vorgehensweise Goethes und Schillers 4 - mißt.5 Gleichzeitig führt die enge Orientierung an dem eingeschränkten Epochenbild zu einer Verengung des Blicks, so daß besonders die Verankerung der

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Vgl. Conrady 1977, 7f. Auch Gerhard Schulz hat nachdrücklich darauf hingewiesen, daß die Bezeichnung von »Außenseitern« ungerechtfertigt sei und auf diese Weise nur versucht werde, »die Verlegenheit gegenüber einem starren Begriffssystem zu kompensieren«. Schulz folgert, daß die Literaturgeschichte sich an die objektiven Faktoren der Geschichte und der Gattungsbegriffe zu halten habe, da diese für Autoren und Werke die größten Gemeinsamkeiten darstellten. Vgl. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 1983, 7. Bd.: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration, von Gerhard Schulz, 1. Teil: Das Zeitalter der Französischen Revolution 1789-1806, München, 49. Die von Schulz genannten Orientierungspunkte können jedoch allenfalls in der Literaturgeschichtsschreibung als hinreichend gelten; die Forschung muß - wie Schulz in der von ihm mitbearbeiteten historisch-kritschen Ausgabe der Schriften Novalis' gezeigt hat - in Abhängigkeit von dem jeweiligen Fall eine Vielzahl weiterer Aspekte berücksichtigen. Vgl. die ausführliche Darstellung des Verhältnisses von Goethe und Schiller zu Jean Pauls Romanen, die die »realhistorischen Berührungs- und Abstoßungspunkte zwischen den Beteiligten« einbezieht, von Jochen Golz 1989: Jean Pauls »Poesie in Prose« und das klassische Kunstkonzept - Aspekte kontroverser Literaturauffassungen in den Jahren 1796/97, in: Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts, hg. von Hans-Dietrich Dahnke und Bernd Leistner, Berlin/Weimar, 72-153. Auf diese Weise fließen vorgefaßte Wertungen in die Forschung ein, wodurch es zu Schwerpunktsetzungen kommt, die der Stellung und Bedeutung der Phänomene im literarhistorischen Kontext vielfach nicht gerecht werden. Beispielsweise ist die Stellung Jean Pauls in der Konstellation der klassischen und romantischen Literaturströmungen um 1800 Gegenstand einer Reihe literaturwissenschaftlicher Untersuchungen, wobei gerne die schon 1794 entstandene Geschichte meiner Vorrede zur zweiten Auflage des Quintus Fixlein herangezogen wird, in der Jean Paul mit dem Kunstrat Fraischdörfer eine Personifikation der neoklassizistischen Ästhetik darstellt. Derartige Ansätze sind jedoch nur in beschränktem Maße als erhellend zu bezeichnen, da sie über theoretische Voraussetzungen und Ziele sowie die historische Bedingtheit keine Aussagen machen können. Vgl. z. B. Wölfel, Kurt 1989: Antiklassizismus und Empfindsamkeit. Jean Paul und die Weimarer Kunstdoktrin, in: Kurt Wölfel. Jean Paul-Studien, hg. von Bernhard Buschendorf, Frankfurt am Main, 238-258, s. auch Golz 1989, 111-119. Aber auch eine Aufweichung der Oppositionen, wie sie von Sven-Aage J0rgensen vorgeschlagen wird und die möglicherweise in der Sache nicht ganz unzutreffend ist, bedeutet keineswegs eine Anerkennung der Gleichberechtigung verschiedener mehr oder weniger voneinander abweichender Positionen. Dies ist auch nicht J0rgensens Absicht, wie aus seinem Ziel, der »Konzeption einer umfassenden deutschen Klassik« eindeutig hervorgeht. Wenn J0rgensen sich auch dagegen verwahrt, Unterschiede verwischen zu wollen, bleibt die Klassik dennoch bestimmendes Paradigma, für das »Goethe als Gipfel und Bildung als der für alle verbindlichen Norm« angesetzt wird. Vgl. J0rgensen, Sven-Aage 1987: Im gemeinsamen Schmollwinkel? Herder und Wieland in Weimar, in: Johann Gottfried Herder: 1744-1803, hg. von Gerhard Sauder, Hamburg, 383-390, 389.

3 Frühromantik in der Philosophie und Wissenschaftstheorie der Aufklärung häufig ganz übersehen oder aber erheblich unterschätzt wird. Verschärft wird diese Situation durch das Hinzukommen eines weiteren, ähnlich gearteten Defizits der Forschung in methodischer Hinsicht: Geleitet von einer historisch einseitigen Sichtweise werden bestimmte theoretische Ansätze als obsolet angesehen und bleiben infolgedessen meist unberücksichtigt, was bis zur praktisch vollständigen Vergessenheit führen kann. Es wird dabei jedoch die historische Bedeutung dieser Konzepte übersehen, wodurch die Entstehung erheblicher Forschungslücken begünstigt wird. 6 Dementsprechend bleibt die Existenz einer Empirie und Ratio gleichzeitig

einbeziehenden

erkenntnistheoretischen Traditionslinie, in der wissenschaftsmethodische Ansätze der Aufklärungsphilosophie der fünfziger und frühen sechziger Jahre des 18. Jahrhunderts bis in die Zeit der Frühromantik ungebrochen rezipiert und wirksam werden und die somit neben der kritischen Periode Kants fortbesteht, heute weitgehend unberücksichtigt. Dennoch muß diesem Strang größte Bedeutung für die Klärung der ästhetischen Konzeptionen des manchenorts als »Antiklassiker« bezeichneten Jean Paul und des Frühromantikers Friedrich von Hardenberg zuerkannt werden, die der Einordnung sowohl in einen systematischen als auch den historischen Zusammenhang gleichermaßen Schwierigkeiten bereiten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. In ihrer Kohärenz sind diese Konzepte jedoch nicht zu durchschauen, solange ihre theoretischen Voraussetzungen nicht berücksichtigt werden, weswegen es zu der Marginalisierung des einen und der unzureichenden Differenzierung der geistes- und wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen des anderen kommt. Da sowohl Jean Paul als auch Novalis in ihren poetologischen Aussagen der Dichtung eine zentrale Bedeutung für das Wissen und die Selbstbestimmung des Menschen zuweisen, muß in beiden Fällen von der erkenntnistheoretischen Natur der philosophischen Vorannahmen ausgegangen werden. Nicht zu übersehen ist weiterhin in den Kunsttheorien der beiden Dichter das Kreisen um den Themenkomplex des sprachlichen Zeichens sowie die Frage nach der Mitteilungskraft und der angemessenen Verwendung von Sprache in der Literatur, womit sich die Perspektive auf eine erkenntnistheoretische Basis eröffnet, welche die Sprache als das »symbolische Erkenntnisorgan«7 des Menschen einbeVgl. die von Wolfgang Proß in Orientierung an Max Webers Aufsätzen zur Wissenschaftslehre gegebenen Hinweise auf die Notwendigkeit der Unterscheidung von Erfassung empirischer Vorgänge einerseits und Wertung andererseits im Hinblick auf die Nachzeichnung der Dynamik einer Entwicklung. Proß, Wolfgang 1975: Jean Pauls geschichtliche Stellung, Tübingen, 133f. Die Rede von der »cognitio symbolica« im 18. Jahrhundert ist auf die Schrift Leibniz' Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis zurückzuführen. Leibniz charakterisiert in dieser knappen Abhandlung die Erkenntnis mittels der natürlichen Sprache als zwar »blinde«, aber dennoch genaueste Erkenntnisform des Menschen. Auf diese Schrift wird unten im einzelnen einzugehen sein. Vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm 1978: Die philosophischen Schriften, hg. von C. J. Gerhardt, IV. Bd., Berlin (Nachdruck der Ausgabe Berlin 1880), 422^126.

4 zieht. Somit können die von Jean Paul und von Novalis getroffenen philosophischen Grundannahmen nicht an den für die Ästhetik der Weimarer Klassik maßgeblichen kritischen Schriften Kants orientiert sein, in denen dieser die beiden Formen der abstrakten und der anschaulichen Erkenntnis untersucht, jedoch die zeichenbezogene Form von Erkenntnis im wesentlichen unberücksichtigt läßt. Vielmehr wird sich die Bezugnahme auf die Gnoseologie und Sprachtheorie in Herders Spätwerk aufgrund des engen Kontaktes zwischen Jean Paul und Herder als entscheidendes Verbindungsglied erweisen zwischen der poetologischen Diskussion und dem zugrundeliegenden erkenntnistheoretischen Ansatz der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, für den die philosophischen Werke des Naturwissenschaftlers, Mathematikers, Logikers, Erkenntnistheoretikers und Philosophen Johann Heinrich Lambert von größter Bedeutung sind.

2.

Die allgemeine Struktur und Systematik von Erkenntnistheorien

In der Nachzeichnung dieser verdeckten erkenntnistheoretischen Strömung und deren Absetzung von der Konzeption Kants stehen sich zwei grundsätzlich verschiedene gnoseologische Konzeptionen gegenüber, die bereits 1922 von Karl Mannheim in seiner Strukturanalyse der Erkenntnistheorie im Hinblick auf deren notwendig zu treffende Vorannahmen systematisiert worden sind, ohne daß eine Wertung der unterschiedlichen Ansätze hätte vorgenommen werden können oder sollen, da es sich bei Mannheims Analyse um die Darlegung prinzipiell möglicher Entwürfe handelt, die in systematischer Hinsicht als gleichwertig zu betrachten sind.8 Herder hat dieser Analyse zufolge mit seinem schon in der Arbeit Vom Erkennen und Empfinden entwickelten Standpunkt als ein früher Vertreter der erst im 19. Jahrhundert unter Rückgriff auf den englischen Empirismus voll ausgebildeten »psychologischen Richtung« der Erkenntnistheorie zu gelten, die als eine empirische Psychologie angesehen wird. Carl Friedrich Gethmann bezeichnet diese Richtung als Psychologismus im eigentlichen Sinne, die sich neben einer Richtung der rationalen, d. h. nach Gethmann philosophischen Psychologie bzw. der Anthropologie - wenn man dem bis weit ins 19. Jahrhundert hinein üblichen Sprachgebrauch folgen will9 - in Nachfolge der Arbeiten von Jakob Friedrich Fries entwickelt. 10

8

9

10

Mannheim, Karl 2 1 9 7 0 : D i e Strukturanalyse der Erkenntnistheorie. In: Karl Mannheim: W i s s e n s s o z i o l o g i e . Auswahl aus dem Werk. Eingeleitet und herausgegeben von Kurt H. Wolff, N e u w i e d / R h e i n ; Berlin, 166-245. Vgl. Ritter, Joachim t/Gründer, Karlfried (Hgg.) 1989: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Basel, Artikel »Psychologie«, 1606. Vgl. Ritter, Joachim (Hg.) 1972: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel, Artikel »Erkenntnistheorie, Erkenntnislehre, Erkenntniskritik«. 685.

5 Unter dem Leitgedanken, eine strukturanalytische Untersuchung des Wesens von Erkenntnistheorien vorzunehmen, bestimmt Karl Mannheim" dieses in der erwähnten Arbeit von 1922 als die Suche nach der Beschaffenheit und dem Wert des Gegenstandes von Erkenntnistheorien, wobei der Gegenstand in der Erkenntnis selbst bestehen soll. Diese werde in jeder Erkenntnistheorie durch die Untersuchung der in einer Erkenntnis grundsätzlich vorausgesetzten, in den übrigen Wissenschaften aber nicht diskutierten Zusammenhänge bestimmt, indem in einer »freien Blickwendung« die Voraussetzungen des Erkenntniszusammenhangs zum Gegenstand des Erkennens gemacht würden. Nach Mannheim besteht daher die Gemeinsamkeit aller Erkenntnistheorien darin, daß in ihnen die Frage nach dem Wesen der Erkenntnis umformuliert wird in die Frage nach den Voraussetzungen von Erkenntnis. Diese, auf die in den Sätzen enthaltenen Voraussetzungen gerichtete Erkenntnis wird von Mannheim als die »transzendentale« Erkenntnis bezeichnet im Gegensatz zu der »immanenten«, die sich auf die Erkenntnisobjekte selbst richtet. Letztlich ist es nach Mannheim das methodische Prinzip von Erkenntnistheorien, in dieser »analysierenden« Aufgabe nach jenen letzten Voraussetzungen zu suchen, kraft welcher eine Erkenntnis überhaupt möglich wird. Mannheim fügt hinzu, daß in einem weiteren Schritt außerdem der Wert dieser letzten Voraussetzungen zu bestimmen sei. Eine solche Wertbestimmung der Erkenntnisleistung überhaupt auf Grund der Bewertung der jeweiligen letzten Voraussetzungen einer Erkenntnistheorie, die in der Prüfung dieser Voraussetzungen daraufhin besteht, »ob sie eine Bürgschaft dafür bieten können, daß das auf ihnen aufgebaute Wissen eine wahre Erkenntnis sei«,12 bezeichnet Karl Mannheim als die zweite, »bewertende« Aufgabe jeder Erkenntnistheorie. 13 Zur Lösung dieser beiden Aufgaben, die jedoch streng voneinander zu trennen seien, müsse eine sogenannte Hilfs- oder Grundwissenschaft herangezogen werden, da es keine selbständige erkenntnistheoretische Analyse gäbe. Entsprechend den grundsätzlich bestehenden Möglichkeiten, die letzten Voraussetzungen der Erkenntnis als logische, als psychologische oder als ontologische aufzufassen, werden die Analyseverfahren der Logik, der Psychologie oder der Ontologie angewendet, und in Abhängigkeit davon können Mannheim zufolge drei allgemeinste Typen der Erkenntnistheorie abgeleitet werden. Die einheitliche, auf die letzten Voraussetzungen bezogene erkenntnistheoretische Frage soll dementsprechend in dreifacher Weise gestellt werden können. Die logische Fragestellung bezieht sich auf die geltenden Prinzipien, auf welche sich jede Erkenntnis, d. h. die in den Wissenschaften enthaltenen Sätze, gründet. Die genetische Fragestellung hingegen, für die Mannheim die psychologistischen Ansätze als Beispiel anführt, richte sich darauf, wie jede

11 12 13

Vgl. Mannheim 2 1970, 205ff. Mannheim 2 1970, 235. Mannheim 2 1970, 210.

6 mögliche Erkenntnis entstehen könne. Eine dritte Fragestellung, die als indirekte bezeichnet wird, wird auf die in einer Lehre der Systematisierungen zu erarbeitende Ursystematisierung bezogen. Wesentliches Merkmal solcher Systematisierungen ist ihre Universalität in Bezug auf eine Homogenisierung alles dessen, was vorkommen kann.14 Mannheim führt als ein Beispiel für die logische Richtung unter den Erkenntnistheorien Kants Kritik der reinen Vernunft an, in der die transzendentale Frage nach den letzten Voraussetzungen von Erkenntnissen auf »transzendentalsubjektive«15 Weise gelöst werde durch die Einführung des Begriffs der Bewußtseinsspontaneität. Die Fragestellung lautet hier in Entsprechung zu der logischen Ausrichtung, bei der üblicherweise mit der Analyse des Erkannten, d. h. der Erkenntnis begonnen werde:16 »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?« Da die Erkenntnistheorien zur Erfüllung ihrer zweiten, wertenden Aufgabe die in der Erkenntnis selbst enthaltene letzte Voraussetzung zu ihrem Wertmaßstab erklären, steht die Wahl des jeweiligen Wahrheitskriteriums in Abhängigkeit von der herangezogenen Grundwissenschaft. Wird die Erkenntnis, wie im Falle von Kants Kritik, beispielweise als letztlich logische betrachtet, so entstammt infolgedessen auch das Wahrheitskriterium dem Bereich der Logik. Jedoch sieht Mannheim darin, daß die Erkenntnistheorie »das Problem der Erkenntnisartigkeit eines jeden Wissens von Tatsachen« und die Entscheidung über den Wert dieses Wissens auf die Frage nach der »Werthaftigkeit der letzten Voraussetzungen einer jeden Erkenntnis« [Hervorhebung von Mannheim] verlagert habe, die Entstehung einer allen derartigen Theorien anhaftenden Paradoxie begründet, die sich auf den Nachweis der »wahrhaften Werthaftigkeit der jeweils aufgezeigten letzten Voraussetzungen« bezieht. In Kants System führe dies dazu, daß einerseits die apriorische Notwendigkeit der synthetischen Urteile durch die Bewußtseinsspontaneität, diese andererseits wiederum durch die Annahme der Apriorität gerechtfertigt werde. 17 Es wird in der vorliegenden Arbeit zu zeigen sein, wie Herder von diesem problematischen Aspekt der Lösung Kants ausgehend seinen Gegenentwurf entwickelt. Mannheim nimmt eine Unterscheidung vor zwischen dem erkenntnistheoretischen Wert einerseits und dem als Maßstab für die Wertung herangezogenen Faktor andererseits. Er kann auf diese Weise den Wert der Wahrheit als ein stets gleichbleibendes Element von Erkenntnistheorien ausmachen, den Maßstab hingegen - in Abhängigkeit von der jeweiligen Grundwissenschaft als wechselnden Faktor unter verschiedenen Theorien. Da die Psychologie und die Ontologie keine Wertwissenschaften seien, könnten sie auch keinen irgend-

14 15 16 17

Mannheim 2 1970 vgl. 21 lf. Mannheim 2 1970, 209. Mannheim 2 1970, 226ff. Vgl. Mannheim 2 1970, 239f.

7 wie gearteten Wert vorschlagen. In der angewandten Logik gäbe es im Gegensatz zu der reinen Logik zwar einen Wert der »Richtigkeit«, der sich jedoch ausschließlich darauf beziehe, »daß es nur eine Weise des Ordnens der Denkinhalte geben kann, die für ein denkendes Subjekt erstrebenswert ist«.18 Der Geltungsbereich der reinen Logik schließe den Anspruch aus, sich auf ein »reales oder ideales Objekt« zu beziehen, so daß hierbei die Frage, »ob dadurch etwas erkannt wird« außer Betracht bleiben könne. In an der Logik orientierten Erkenntnistheorien komme es jedoch aufgrund der Gleichsetzung des logischen Wertes der Richtigkeit mit der erkenntnistheoretischen Wahrheit zu einer Überschneidung, was die Schwierigkeit, sie voneinander zu unterscheiden, mit sich bringe. Tatsächlich zielt, wie bereits angedeutet wurde und an entsprechender Stelle im einzelnen auszuführen sein wird, die von Herder in dem letzten Kapitel der Metakritik angebrachte grundsätzliche Kritik an Kants Philosophie darauf ab, daß dessen Logik als Form der Erkenntnis der materiellen Grundlage entbehre.

3.

Die historischen Bezüge zwischen Lambert, Herder, Jean Paul und Novalis

Die Aufdeckung der verdeckten Traditionslinie, die den Schlüssel für die genannten ästhetischen Entwürfe darstellt, und ihre Nachzeichnung, die Gegenstand und Ziel dieser Arbeit ist, sollen unmittelbar von empirisch belegbaren Quellen abgeleitet werden. Daher sind zunächst in einem Überblick die Verbindungen und Rezeptionslinien darzulegen, die unter den angeführten Autoren bestanden haben, worin ferner die Anknüpfung an die erkenntnistheoretische Diskussion in Deutschland um 1800 vorgenommen werden soll. Im November 1765 leitet Johann Heinrich Lambert seinen ersten Brief an Immanuel Kant mit dem Hinweis ein: »Däfern die Aehnlichkeit der Gedankensart einen Briefwechsel von den Umschweifen des Styli zu befreyen befugt ist, so kann ich glauben in gegenwärtigem Schreiben vorzüglich dazu berechtigt zu seyn, da ich sehe, daß wir in vielen neuen Untersuchungen auf einerley Gedanken und Wege gerathen.« 19 Kant antwortet wenige Wochen später am 31. Dezember 1765 mit den Worten: »Es hätte mir keine Zuschrift angenehmer und erwünschter seyn können, als diejenige, womit Sie mich beehrt haben, da ich, ohne etwas mehr als meine aufrichtige Meynung zu entdecken, Sie für das erste Genie in Deutschland halte, welches fähig ist in derjenigen Art von Untersuchungen, die mich auch vornehmlich beschäftigen, eine wichtige und dauer-

18 19

Mannheim 2 1970, 241. Lambert, Johann Heinrich 1781-1787: Deutscher gelehrter Briefwechsel, hg. von Johann Bernoulli, 5 Bde., Berlin (reprograf. Nachdruck von Bd. 1 = Schriften IX, 1968), 335.

8 hafte Verbesserang zu leisten.« 20 Dennoch erstreckt sich der Briefwechsel zwischen Lambert und Kant nur über insgesamt fünf Briefe, die innerhalb von fünf Jahren ausgetauscht wurden, bis 1770 der Kontakt von Seiten Kants abgebrochen wurde. Die Untersuchung dieser Briefe sowie der von Lambert und Kant im Zusammenhang der Preisaufgabe der Berliner Akademie der Wissenschaften im Jahre 1763 verfaßten Arbeiten wird zeigen, daß, obwohl die gegenseitige Schätzung nicht bezweifelt zu werden braucht, die angenommene Übereinstimmung der Ergebnisse der beiden Philosophen dennoch nicht gegeben war. Obwohl die gewählten Ansätze in ihrer Konzentration auf methodische Fragen der Philosophie vergleichbar sind, unterscheiden sie sich durchaus hinsichtlich ihrer Lösungen der von der Akademie aufgegebenen Frage. 21 Günter Schenk und Fritz Gehlhar22 bezeichnen mit Hans-Jürgen Engfer spätestens die Epoche nach 1763 als diejenige, in der die Philosophie in Deutschland als analytische Wissenschaft betrieben worden sei, deren bestimmende Vertreter Lambert und Kant gewesen seien. Gegen diese Charakterisierung ist abweichend von der Darstellung Engfers einzuwenden, daß Lambert von der Ansicht ausgeht, Analyse und Synthese seien als einander ergänzende Methoden zur Erschließung neuer Kenntnisse sowie als Beweisverfahren zu behandeln. Diese Ansicht vertritt Lambert bereits in seinen noch in den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts entstandenen Logischen und philosophischen Abhandlungen, dann 1761 in der Abhandlung vom Criterium veritatis und auch in seinen philosophischen Hauptwerken Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein, 1764 in Leipzig bei Johann Wendler herausgegeben, sowie Anlage zur Architektonik oder Theorie des Einfachen und Ersten in der philosophischen und mathematischen Erkenntniß, 1771 in Riga von Johann Friedrich Hartknoch veröffentlicht, jedoch bereits kurz nach dem Erscheinen

20 21

22

Lambert 1781-1787: Nachdruck Bd. IX, 340. Es handelt sich bei den erwähnten Arbeiten um die Schriften Über die Methode die Metaphysik, Theologie und Moral richtiger zu beweisen von Johann Heinrich Lambert, die erst 1918 in Berlin von K. Bopp aus dem Manuskript herausgegeben wurde, und die Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral von Immanuel Kant. Lambert versucht hier zu zeigen, daß in der Metaphysik, Theologie und Moral solche Ergebnisse erzielt werden können, deren Evidenz den Lösungen der Mathematik entspricht, sofern das Vorgehen methodisch abgesichert sei. Kant hingegen geht in seiner Arbeit davon aus, daß philosophische Gewißheit von grundsätzlich anderer Qualität sei als die mathematische. Schenk, Günter/Gehlhar, Fritz: Der Philosoph, Logiker, Mathematiker und Naturwissenschaftler Johann Heinrich Lambert, in: Aufklärung in Berlin, hg. von Wolfgang Förster, Berlin 1989, 130-164, vgl. 140ff. Schenk und Gehlhar merken zu dem Verhältnis von Lambert und Kant an, daß die manchmal geäußerte Ansicht, Lambert könne als ein Vorgänger Kants bezeichnet werden, unzutreffend ist und geben als Beleg einige Auszüge aus einem Brief Kants vom 16. November 1781 an J. Bemoulli. Vgl. in dem von Wolfgang Förster herausgegebenen Band, 142f.

9 des Neuen Organons verfaßt. Wenn Hans-Jürgen Engfer feststellt, daß sich nach 1763 der Begriff der Analysis von seinem traditionellen Gegenbegriff der Synthesis löst und in dieser verselbständigten Form als zureichende Bezeichnung für das methodische Vorgehen in der Philosophie überhaupt empfunden wird, so trifft dies für Lamberts Arbeiten nicht zu, in denen durchweg eine Verschränkung von analytischem und synthetischem Vorgehen in der Begriffstheorie und der Logik vorgenommen wird. 23 Damit ist jedoch der Stellenwert der in dieser Arbeit zu entwickelnden Argumentation Herders gegen das Verständnis Kants des Synthese-Begriffes anders zu bewerten, als es den genannten Darstellungen zufolge der Fall sein müßte. Herders Festhalten noch am Ende des 18. Jahrhunderts an der Auffassung, daß Synthese und Analyse einander ergänzende Methoden sowohl in der Mathematik als auch in der Philosophie seien, ist als Fortführung einer noch in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts vertretenen Tradition einzuschätzen, wenn davon auszugehen ist, daß die Ausweitung dieser Begriffe über ihre methodische Bedeutung hinaus und ihre Isolierung in den beiden Anwendungsbereichen der Mathematik und der Philosophie durchaus keine generelle Entwicklung seit den sechziger Jahren genommen hat. Es deutet sich in diesem Aspekt bereits an, daß die weitgehende Vergessenheit, in die der Mathematiker, Naturforscher und Philosoph Johann Heinrich Lambert schon bald nach seinem frühen Tod in dem Jahre 1777 geraten ist, keineswegs die Annahme rechtfertigt, daß der Grund dafür in der Bedeutungs- und Folgenlosigkeit seiner Leistungen zu finden sei. Vielmehr sind seine zahlreichen mathematisch-naturwissenschaftlichen Forschungen, auf die sich Lambert nach 1770 im Unterschied zu Kant, der weiterhin mit der philosophischen Problematik befaßt blieb, konzentriert hat, zum Teil noch heute von Bedeutung. 24 Der Nachweis der Wirkung seiner Arbeiten auf dem Gebiet der

23

24

Vgl. Engfer, Hans-Jürgen 1982: Philosophie als Analysis. Studien zur Entwicklung philosophischer Analysiskonzeptionen unter dem Einfluß mathematischer Methodenmodelle im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Stuttgart-Bad Cannstatt, 27. Klaus D. Dutz weist ebenfalls daraufhin, daß entgegen Engfers Interpretation auch in Bezug auf Leibniz' Methodenverständnis nicht allein von einem »analytischen Ansatz« gesprochen werden könne, sondern von einer gegenseitigen Abhängigkeit von Analyse und Synthese an jedem möglichen Punkt der wissenschaftlichen Erkenntnis auszugehen sei. Vgl. Dutz, Klaus D. 1985: Schlüsselbegriffe einer Zeichentheorie bei G.W. Leibniz: Analysis und Synthesis, Expressio und Repraesentatio. In: Rekonstruktion und Interpretation. Problemgeschichtliche Studien zur Sprachtheorie von Ockham bis Humboldt, hg. von Klaus D. Dutz und Ludger Kaczmarek, Tübingen, 274f. Im Widerspruch zu dieser Feststellung Engfers steht allerdings seine Bemerkung in der Einleitung zu dem genannten Band, daß Lamberts ars combinatoria als synthetisches Methodenmodell eher isoliert im breiten Strom einer sich analytisch interpretierenden Aufklärungsphilosophie gestanden habe, vgl. Engfer 1982, 23. Tatsächlich entscheidend ist jedoch, daß Lamberts komplexer Ansatz beide Methoden integriert. Vgl. die entsprechenden Kapitel zu Analyse und Synthese in dem ersten Teil dieser Arbeit. Felix Humm gibt einen Überblick über Lamberts Leistungen auf diesem Gebiet. Vgl. seine Arbeit aus dem Jahr 1972: J.H. Lambert in Chur, Chur.

10 Philosophie, Logik und Sprachtheorie bis zu d e m B e g i n n des 19. Jahrhunderts soll in dieser Arbeit erbracht werden. Vier Jahre nach Lamberts Tod erschien 1781 die erste A u f l a g e der der reinen Kritik

Vernunft,

Kritik

auf die Herder 1 7 9 9 mit seinem Werk Eine Metakritik

zur

der reinen Vernunft zu einem Zeitpunkt reagierte, als die a l l g e m e i n e An-

erkennung der Autorität Kants nicht mehr b e z w e i f e l t werden konnte. D i e s e Schrift Herders wird b i s in die Gegenwart hinein - sofern sie überhaupt B e rücksichtigung findet - von der Forschung vielfach als ein nicht nachvollziehbar unsystematisches, d i e Kritik der reinen Vernunft ausschließlich negierendes Alterswerk des v o n der philosophischen Entwicklung der Zeit überholten Herder beurteilt und e b e n s o w i e sein g e s a m t e s Spätwerk fast ausschließlich i m systematischen Vergleich mit Kants kritischen Schriften untersucht. 2 5 Ü b e r s e h e n wird aber bei dieser Einschätzung, daß Herder die in der Metakritik Positionen schon in seiner Schrift Vom Erkennen lichen

Seele,

und Empfinden

vertretenen der

mensch-

deren erste Fassung 1 7 7 4 veröffentlicht wurde, vorbereitet hat,

die erkenntnis- und sprachtheoretisch orientierte Thematik der Metakritik

25

ihn

Es seien an dieser Stelle nur wenige Beispiele angeführt: In der Einleitung von Friedrich Bassenge zu seiner Ausgabe der Metakritik im Aufbau-Verlag Berlin 1955, 8f., beurteilt Bassenge Herders Stellungnahme einer seit Erscheinen der Metakritik häufig wiederholten Ansicht entsprechend als durch persönliche Kränkung motiviert und spricht Herder sowohl das Verständnis der Kritik der reinen Vernunft als auch die Fähigkeit zu deren Verständnis ab. Ferner soll die Stellungnahme von Friedrich Wilhelm Kantzenbach angeführt werden, die er in der von ihm herausgegebenen Monographie: Johann Gottfried Herder in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1970, 123f., abgibt. Hier wird Herders Standpunkt als »viel zu naiver dogmatischer Empirismus« bezeichnet, der sich in »heftigen Ausbrüchen« manifestiere. Schließlich ist auf zwei Aufsätze von Josef Simon hinzuweisen, in denen Simon Herders Geschichtsbegriff »in Auseinandersetzung mit Kant« resp. das Sprach- und Zeitverständnis »in light of the particular Kantian thoughts regarding these themes« zu klären versucht. Simon, Josef 1987: Herder und Kant. Sprache und »historischer Sinn«, in: Johann Gottfried Herder 1744 - 1803, hg. von Gerhard Sauder, Hamburg, 3-13, 4 und Simon, Josef 1990: Herder and the Problematization of Metaphysics, in: Herder Today. Contributions from the International Herder Conference. Nov. 5-8, 1987. Stanford, California, ed by Kurt Mueller-Vollmer, Berlin/New York, 108-125, 111. Auch Karl Otto Conradys Schlußfolgerung aus seiner Darstellung der Entfremdung zwischen Goethe und Herder aufgrund der unterschiedlichen Kunstauffassungen ist hier anzuführen, die er in dem oben genannten Aufsatz vertritt, in welchem er selbst eine Relativierung der Rolle der Klassik fordert: »Wie ohnmächtiges Aufbegehren mutet dann Herders - bei aller Hochachtung vor dem Philosophen - gegen Kant und auch gegen Schiller gerichtete Kalligone von 1800 an, wo er umständlich und verquält ebenso gegen Kants Bestimmung der Schönheit als interesselosen Wohlgefallens zu Felde zieht wie gegen Schillers Spiel-Begriff in der Ästhetik.« Conrady 1977, 19. Demgegenüber ist jedoch als Beispiel einer knappen, aber wertneutralen Darstellung des Konflikts zwischen Herder und Kant sowie der gegen die Metakritik angeführten prinzipiellen Argumentationsweisen aus kantianischer Perspektive ein 1988 publizierter Aufsatz von Heinrich Clairmont zu nennen: >Metaphysik ist MetaphysikSeyns< für Herders Erkenntnislehre ist auch von Heinrich Clairmont herausgearbeitet worden, vgl. Clairmont 1988, 192ff. Eisler, Rudolph 1913: Handwörterbuch der Philosophie, Artikel »Kategorie«, Berlin, 331. Bernd Naumann weist in einem Überblick über die Probleme, die die Diskussion um die Kategorien in der Philosophie seit der Antike beherrscht haben, darauf hin, daß die Kategorien dem Bereich der Logik als dem des Denkens und gleichzeitig dem Bereich der Ontologie als demjenigen des Seins angehören. Eine exakte Abgrenzung dieser beiden Bereiche sei in der Kategorienlehre bis heute nicht gelungen, was auch nicht möglich sei, da diese Zuordnung von philosophischen Grundannahmen in der Weise abhänge, daß: »Wer vom erkennenden Bewußtsein ausgeht, wird Bewußtseinskategorien als entscheidenden Erkenntnisrahmen ansehen, wer meint, Wirklichkeit direkt zu erkennen, wird Kategorien als Grundformen der Wirklichkeit bestimmen.« Vgl. Naumann, Bernd: Grammatik der deutschen Sprache zwischen 1781 und 1856. Die Kategorien der deutschen Grammatik in der Tradition von Johann Werner Meiner und Johann Christoph Adelung, Berlin 1986, 20. Metakritik, 48.

52 Herder leitet aus seiner Erörterung zwei Bedeutungen des Wortes Raum ab. Zunächst sei der Raum, sofern er sinnlich wahrgenommen werde, als individueller Begriff zu verstehen, der zwar Bestimmungen und Bezeichnungen erfahren habe, aber dennoch nicht zu einem unsinnlichen Verstandesbegriff geworden sei, da nach Herder bei allgemeinen Begriffen vom Raum abstrahiert werde. In Abgrenzung zu Kant, der alle Anschauungen an die Sinnlichkeit bindet, versteht Herder unter wahren Anschauungen die aufgrund von Anschauung gewonnenen, aber durch die Vernunft geklärten allgemeinen Begriffe des Menschen. Raum wird als eine Zusammenfassung, d. h. als ein Oberbegriff für sinnlich erfahrbare Orte betrachtet, wobei ein solcher sinnlicher Ort durch den an ihm befindlichen konkreten Gegenstand geformt werden soll. Die zweite Bedeutung des Wortes liegt als ein »Schema des Wahrgenommenen« vor, das Herder als ein »Bild der Einbildungskraft« bezeichnet, welches dadurch entstehe, daß mittels der Einbildungskraft aus einzelnen Orten ein Zusammenhang hergestellt werde. Dieser Bedeutung nach ist Raum für Herder ein diskursiver und somit allgemeiner Begriff der zwischen den Dingen bestehenden Verhältnisse. 109 Als ein Schema der Einbildungskraft und ein Zeichen für den Verstand ist der Raum ein Ort, an dem sich Dinge mit ihren Eigenschaften befinden können, nicht jedoch stellt er selbst eine Eigenschaft von Dingen dar. Herder zieht aus seinen kritischen Betrachtungen des Verständnisses vom Raum in Kants Werk den Schluß, »wozu diese ganze Transscendental=Dichtung ersonnen worden«, 110 nämlich um zu zeigen, daß die Dinge Erscheinungen, und damit individuelle Vorstellungen seien, nicht jedoch, wie es seiner eigenen Ansicht entspricht, real Gegebenes. Explizit leitet Herder auch die Entstehung des in Analogie zu dem des Raumes bestimmten Begriffs der Zeit aus der menschlichen Natur und aus der Sprache ab. Das Bemerken von Veränderungen in der Natur und am Menschen wird als Grundlage der Empfindung von Zeit angeführt, womit auch die Zeit als ein Erfahrungsbegriff erklärt wird. Dabei sei jedoch auch die Zeit keine notwendige Vorstellung, sondern von allgemeinen Begriffen abstrahiert, jedoch ebenfalls ein diskursiver Begriff insofern, als der Zeitbegriff als Maß aller Veränderungen ein allgemeiner geworden sei, nachdem der Mensch es gelernt habe, die Zeit durch die diskrete Größe der Zahl zu bestimmen und zu messen. Diese Fähigkeit habe sich der Mensch jedoch nicht durch Anschauung erworben, sondern in einem mühsamen Lernprozeß anhand von Symbolen.111

109

110 111

Es sei auf einen nicht unerheblichen Druckfehler in dem in diesem Zusammenhang angeführten Zitat aus der Kritik der reinen Vernunft hingewiesen. In der Suphan-Ausgabe der Metakritik aus dem Jahr 1881 heißt es auf Seite 52 unter Punkt 3: »Raum ist ein discursiver, oder, wie man sagt, allgemeiner Begriff von Verhältnißen der Dinge.« Richtig muß das Zitat lauten: »Der Raum ist kein diskursiver [...] Begriff.« Vgl. KrV B 40/A 25. Metakritik, 54. Die Erfahrung der Zeit soll ebenso wie die des Raumes in der Sprache zur Ausprägung kommen, wobei Herder zutreffenderweise anmerkt, daß die meisten Bestimmungen der

53 An den Begriffen der Zeit und des Raumes, denen er abspricht, die Notwendigkeit von Verstandeswahrheiten beweisen zu können und reine Anschauungen a priori im Sinne Kants zu sein, demonstriert Herder somit seine Sicht des menschlichen Erkenntnisprozesses, der mit solchen Empfindungen beginnt, die durch organische Sensationen hervorgerufen werden, da es allen Lebewesen eigen sei, in diesem Sinne unmittelbar konkrete Erfahrungen zu machen. Herder zufolge bildet sich der Ordnungsbegriff im Menschen durch die Wahrnehmung der in der Wirklichkeit gegebenen Raum- und Zeitstrukturen aus und ist als Zusammenordnung mannigfaltiger Eindrücke zu einer Einheit sowohl auf der Ebene der Sinnlichkeit als auch auf der der Verstandestätigkeit zu verstehen. Das Ordnungsdenken bezieht sich somit gerade nicht auf synthetische Begriffe, denen von Kant a priorische Geltung zugesprochen wird. 112 Wenn Kant die Notwendigkeit von Vernunftwahrheiten an die seiner Ansicht nach keine Erfahrung voraussetzenden Begriffe von Raum und Zeit bindet, 113 dann löst Herder statt dessen diese Begriffe von allgemeinen Begriffen der Vernunft ab und fragt nach der Entstehung und der Erklärungsgrundlage wahrer Begriffe. 114 Daher geht Herder gemäß seines Ansatzes in der »Physiologie der Erkenntniskräfte« davon aus, daß die Aneignung eines Gegenstandes durch die Organe in der Weise erfolgt, daß diese dem Verstand die Objekte »präformieren«, indem sie die Mannigfaltigkeit des Wahrnehmbaren sowohl zusammenfassen als auch trennen, und daß der Sinn des Objekts anschließend wiederum mittels auflösender Analyse und verknüpfender Synthese durch den Verstand als Ganzes in einem Urteil erfaßt werde. Von der Voraussetzung für die Verstandestätigkeit des Menschen - dem Vorhandensein eines bedeutungstragenden Objekts, dessen Bedeutung erkannt werden soll - ausgehend, kommt deswegen der Unterscheidung in Subjekt und Objekt in dem Sinne eines »Verstehenden«

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Zeit von Ortsbestimmungen abgeleitet sind. Die Funktion sprachlicher Zeitbestimmungen sei es, die Folge der menschlichen Gedanken nacheinander zu ordnen, so wie diejenige räumlicher Partikel darin bestehe, die gleichzeitig nebeneinander gegebenen Gedanken zu ordnen. Vgl. Metakritik, 57. Wolfgang Proß zeigt in dem Nachwort zu dem zweiten Band seiner Herder-Ausgabe, daß diese Erklärung der bereits von Leibniz und Linné vorgenommenen Unterscheidung zwischen der Ordnungsperspektive Gottes und der des Menschen entspricht, bei der dem Menschen die Verfahren der Analyse zugewiesen werden. Diese Unterscheidung wird von Voltaire übernommen, der sie in seiner Lösung der von Locke aufgeworfenen Problematik der Unzuverlässigkeit der sinnlichen Erfahrung und der daraus abgeleiteten Skepsis gegenüber der Naturwissenschaft vorgeschlagen hat. Voltaire stellt auf diese Weise, so Wolfgang Proß, eine Vermittlung her zwischen den wissenschaftlichen Verfahren des Systematikers Descartes und des Empirikers Newton. Vgl. Herder 1987, 1136f. Adam Schaff erklärt die Einführung von Anschauungsformen a priori bei Kant als notwendige Konsequenz der Annahme synthetischer Urteile a priori, d. h. solcher Urteile, »die sachliche Behauptungen enthalten, welche durch die Erfahrung bestätigt oder widerlegt werden können«. Vgl. Schaff, Adam: Einführung in die Erkenntnistheorie, Wien/ München/Zürich 1984, 50. Vgl. Metakritik, 62.

54 und etwas »Verstandenen« als wesentliche Bedingung des Erkenntnisprozesses eine elementare Bedeutung für Herders Urteilsbegriff zu. Die determinierende Wirkung der »Präformationen« des Auges, des Ohrs und des Gefühls auf die Verstandestätigkeit formuliert Herder als »Gesetze einer dreifachen Verknüpfung«, die dem Verstand aufgrund der Struktur dieser Sinnesorgane gegeben sind. Es sind dies erstens die »Gesetze der Contiguität, vermittelst des Auges und Lichts im Nebeneinander, durch Einen lichten Punkt auf die bestimmteste Weise ihm durch sein Organ gegeben«, zweitens die »Gesetze der Zeitfolge, mittelst des Gehörs und der innern Empfindung im Nacheinander dreier Momente unzerreißbar, unverrückt geltend« sowie drittens das »Gesetz der Kraft und Wirkung, mittelst seiner selbst und des wirkenden Daseyns, zu dem er gehöret. Mit diesem ist der Verstand selbst ein lebendiges Bild des In=, Mit= und Durcheinander, d. i. einer Verknüpfung der Ursache und Wirkung; nur durch dies Gesetz ist er Verstand.«115 Den »Urbegriffen des Verstandes«116 Sein, Dasein, Dauer und Kraft fügt Herder infolgedessen eine erste »Reihe der Verständigungen« bei, die er als ihr »organisches Schema und mit diesem die Verknüpfung der Begriffe nach Gesetzen [...], die mit seinem Organ jedem Verstandesgebrauch zum Grunde liegen« den ersten Verstandesbegriffen der Kategorie des Seins zuordnet. Die Verknüpfung von Begriffen ist daher nach Herder aufgrund der durch die Sin-

115

116

Vgl. Metakritik, 99. Herders Verständnis der »Präformation« ist insofern in übertragenem Sinn zu verstehen, als er diesen Begriff aus der Entwicklungslehre organischer Wesen, die im 17. Jhd. als Theorie der Vorausbildung der Organismen im Keim verstanden wurde, im erkenntnistlieoreiischen Zusammenhang verwendet. Dieser Begriff dient Herder als Bild für seine Annahme, daß die Verknüpfung der Begriffe nicht willkürlich oder a priori sei, sondern durch die Sinneseindrücke bestimmt werde. Durch die Differenzierung, daß die Entstehung der ersten Form der Allmacht des Schöpfers vorbehalten bleibt, ist der vorher gebräuchliche Begriff der Präexistenz für die organischen Bildungen - z. B. in Leibniz' Monadologie, § 74 - aufgehoben worden und nur noch im Rahmen der rationalen Psychologie, so bei Charles Bonnet in seinem Werk La palingenesie philosophique, 1769 gebräuchlich. Abgelöst wurde diese Theorie dann durch die der Epigenese, die Caspar Friedrich Wolff 1764 mit der Schrift Theorie von der Generation aufgebracht hat und auch von Kant in der Kritik der Urteilskraft vertreten wird. Vgl. Ritter/Gründer 1989, Bd. 7, Artikel »Präformation«, 1233f. Wenn Herder auf den Begriff der »Präformation« in dem Verständnis einer Vorbildung der Verstandesinhalte durch die vorangehende Erkenntnisphase der sinnlichen Wahrnehmung zurückgreift, dann knüpft er an seine Arbeit Über den Ursprung der Sprache von 1770 an, in der die Entstehung der Sprache aufgrund von wahrgenommenen Merkmalen der Objekte erklärt wird: »Freilich gibt Gehör nur eigentlich Töne, und der Mensch kann nichts erfinden, sondern nur finden, nur nachahmen; allein auf der Einen Seite liegt das Gefühl neben an: auf der andern ist das Gesicht der nachbarliche Sinn: die Empfindungen vereinigen sich und kommen also alle der Gegend nahe, wo Merkmale zu Schällen werden. So wird, was man sieht, so wird, was man fühlt, auch tönbar. Der Sinn zur Sprache ist unser Mittel- und Vereinigungssinn geworden; wir sind Sprachgeschöpfe.« S. Herder 1987, 299f. Vgl. Metakritik, 100.

55 nesorgane vorbestimmten Form nicht, wie Kant annimmt, willkürlich oder a priori gegeben: 117 Diese Analogie unsrer selbst können wir nicht anders als auf Alles außer uns anwenden, weil wir nur durch und mit uns selbst sehen, hören, verstehen, handeln. Wir tragen sie aber nicht in die Objecte über: denn wenn in diesen nichts Verständliches, Hör= und Sichtbares wäre; so exsistirte an ihnen keine Kategorie, d. i. kein Sinn und kein Verstand. Sogar in die Conformation der Sinne trägt der Verstand solche nicht über: denn nicht Er, der diese Conformation nicht einmal verstehet, sondern nur gebraucht, einzig und allein der allumfaßende Verstand des Weltganzen hat ihm diese Conformation zubereitet."8

Das Prinzip dieser Kategorie führt aufgrund von Herders Auffassung der Kategorien als an wirklichen Gegenständen gewonnenen Begriffen sowie der Prämisse Herders, daß Denken und Sprechen untrennbar miteinander verbunden sind, auf eine Bestimmung der Ontologie als eine »Philosophie der allgemeinen Verstandessprache«, die Herder in dieser Weise als Grundlage aller übrigen Wissenschaften verstanden wissen möchte. 119 Diese Wissenschaft ist nach Herder nur dann problematisch, wenn man sie - wie Kant - aus Kategorien a priori zu erklären versucht, anstatt sie in einer Rückführung von der durch Wirklichkeitserkenntnis ausgebildeten Sprache auf die Wirklichkeit selbst zu erschließen. Dahingegen erklärt Kant aufgrund des Ergebnisses der transzendentalen Analytik, »daß der Verstand a priori niemals mehr leisten könne, als die Form einer möglichen Erfahrung überhaupt zu antizipieren«, so daß an die Stelle einer Ontologie eine Analytik des reinen Verstandes zu treten habe. 120

117 118 119

120

Vgl. Metakritik, 96-101. Metakritik, lOOf. Vgl. Metakritik, 1 lOf. Dieser letzte Aspekt entspricht der Auffassung, von der Christian Wolff ausgeht, wenn er »Ontologie« durch den Ausdruck »Grundwissenschaft« übersetzt: »Ich brauche das Wort Grund=Wissenschaft, weil man in diesem Theile der Welt=Weisheit die ersten Gründe der Erkäntnis erkläret.« Vgl. Wolff, Christian: Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, die er in deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Weltweisheit heraus gegeben, Frankfurt 1726. Neudruck, hg. von H.W. Arndt, Hildesheim/New York 1973, 32f. KrV, B 303f./A 245ff. Jürgen Mittelstrass hat den Aufgabenbereich der Ontologie Kants knapp umrissen: »In einer >Analytik der Begriffe< und einer >Analytik der Grundsätze< [...] sollen diejenigen Mittel bereitgestellt und darüber hinaus zu einer Theorie der Erfahrung zusammengestellt werden, die im besonderen Fall die rationale Grundlegung von Wissenschaften erlaubt. Um dem Verstand die Leistung der Synthesis gegenüber der bloßen Sinnlichkeit zu erlauben, bedarf es nach Kant zunächst einer >Analytik der Begriffes die wiederum nichts mit der üblichen (analytischen) >Zergliederung< gegebener Begriffe zu tun hat, sondern Z e r gliederung des Verstandesvermögens selbst< sein soll. Es geht dabei um alle u r s p r ü n g lich reinen Begriffe der SynthesisObjekt denken zu könnenempirische Erkenntnis*, die Gegenstandskonstitution in der Erfahrung, zu ermöglichen. Derartige Begriffe heißen bei Kant Kategorien.« Mittelstrass, Jürgen 1970: Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin/ New York, 564f.

56 2.2.2. Die Kategorie

der

Eigenschaften

In der zweiten Reihe wird, entsprechend Herders Voraussetzung für die menschliche Verstandestätigkeit, auf den real gegebenen Erkenntnisgegenstand Bezug genommen mit der Frage nach den Beschaffenheiten und Eigenschaften der Dinge, die durch das Erkennen von Unterschieden und Ähnlichkeiten einer Sache zu- oder abgesprochen werden, wodurch diese als dieselbe wiedererkannt und von anderen unterschieden werden könne. 121 Das dem Menschen eigene Unterscheidungsvermögen wird insofern zur Grundlage der Erkenntnistätigkeit des Urteilens als es Aussagen darüber erlaubt, ob ein Merkmal einer Sache zukommt oder nicht. Die feste - wenn auch ursprünglich anhand nur eines der vielen der Sache zukommenden Merkmale 122 vorgenommene - Zuordnung eines Wortes zu einer Sache setzt ebenfalls das Identifizieren und Wiedererkennen derselben anhand von Eigenschaften voraus: »Sogar kein Name eines Dinges findet statt, wo nicht ein Zwiefaches wahrgenommen, gesondert und verknüpft wird.« 123 In einer Benennung werden die zahlreichen einer Sache zukommenden Eigenschaften in einer ausgewählten zusammengefaßt, welches nicht das wichtigste, aber wiedererkennbar und für den Bezeichnenden signifikant zu sein habe. Die Orientierung an nebensächlichen Merkmalen bei den ersten Bezeichnungen sei durch den Ursprung der Erkenntnis in der Erfahrung begründet und könne dazu führen, daß die Erkenntnis der tatsächlich wesentlichen Merkmale verzögert werde. Dies ist nach Herder jedoch als eine typische Eigenschaft jeder »menschlichen Charakteristik« 124 zu betrachten und stellt da-

121

Entsprechend lautet der theoretische Grundsatz dieser Kategorie: »Was du anerkennest, (wahrnimmst, empfindest,) ist Dasselbe oder ein Anderes. Jenes und Dieses zeiget sich dir in Merkmalen, die einer Zusammenordnung fähig sind.« Vgl. Metakritik, 142. 122 Die Auswahl der jeweils bestimmenden Eigenschaft beschreibt Herder: »Bei tönenden Dingen, z. B. war Ton, dem Ausdruck der Sprache am nächsten; das Tönende sprach gleichsam sich selbst aus, und lehrte die Menschen seinen Namen ihm nachtönen. Bei andern war es eine vorrufende Eigenschaft der Farbe, der Gestalt, am meisten aber, weil dies auf den Menschen am lebhaftesten wirkte, Thätigkeit, Bewegung.« Metakritik, 102. 123 Vgl. Metakritik, 96. 124 Vgl. Metakritik, 103. Der Akzent auf die »menschlichen Charakteristiken« ist als Anschluß an die Unterscheidung zwischen »willkürlichen« und »natürlichen« Zeichen zu verstehen. Es ist Wolfgang Proß durch Vorlage der entsprechenden Materialien gelungen, die Diskussion über die Konventionalität des Sprachzeichens, die auf der Annahme beruht, daß die Verbindung von bezeichneter Sache und bezeichnendem Wort bedingt wird von der »emotiven Aufladung des Gegenstandes« und nicht von »einer logischen Operation« sowie die damit verknüpfte Frage der »allgemeinen« oder »akzessorischen« Bedeutung der Wörter zurückzuführen bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts. 1672 sind diese Überlegungen in Samuel Pufendorfs Schrift De iure naturae et gentium von Proß erstmals nachgewiesen worden sowie deren Übernahme bei Bernard Lamy 1676 in La Rhétorique où L'Art de Parler belegt. Vgl. Proß, Wolfgang 1978: Johann Gottfried Herder. Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Text, Materialien, Kommentar, München, 144 und 188-190 sowie 191-198. S. auch Proß 1975, 70.

57 her keine Einschränkung der Bedeutung der Sprache als »Verstandesausdruck« dar. 125 Aufgrund des Unterscheidungsvermögens von Ähnlichkeit und Verschiedenheit sind Herder zufolge ferner Arten und Gattungen unter den Begriffen herausgebildet worden, womit eine »Genealogie zwischen den anerkannten Dingen« 1 2 6 entstanden sei, was seinen Niederschlag in der Benennung zusammengehörender oder aufeinander wirkender Dinge mit einem Gattungsnamen bzw. einem Artikel gefunden habe. An anderer Stelle stimmt Herder dem von Kant angeführten Gesetz zu, daß die Mannigfaltigkeit der Dinge die Identität der Art nicht ausschlösse und daß die verschiedenen Arten als Bestimmungen weniger Gattungen anzusehen seien, jedoch bestätigt er es im Gegensatz zu Kants Grundannahme unter Berufung auf die Naturlehre, in der es in der Natur und damit a posteriori erkannt worden sei, und zieht diesen Ursprung des Gesetzes als weiteren Beleg dafür heran, daß Begriffe »durch Anerkennung in den Gegenständen« ausgebildet werden. Diese Beschreibung der Entstehung von Begriffen entspreche der Art, wie »jede Vernunftlehre***) ihn entwickelt und jede Sprachlehre ihn vorträgt«. 127 Die mit ***) gekennzeichnete Fußnote lautet: »Z. B. Reimarus, Lambert und welche nicht?« 128 Erst die Beobachtung der Arten von Gattungen und Geschlechtern führe zu exakteren Urteilen und genaueren Bezeichnungen, wofür die Differenzierung eines Substantivs durch die Hinzufügung von Adjektiven als Beispiel angeführt wird. 129 Auf diese Weise komme es in allen Sprachen zu einer Vielzahl von Adjektiven zur Kennzeichnung von Beschaffenheiten der Dinge, die sich durch weitere und genauere Beobachtungen ständig vermehrten. Die Frage nach den Eigenschaften der Dinge führe daher zu der zweiten Kategorie, in der Herder statt logischer Funktionen, wie Kant es tut, Verstandesbegriffe zu ordnen anstrebt, die auf der Grundlage des Prinzips: »Erkenne Eins in Vielem« 130 ge-

125

126 127 128 129

130

Es ist darauf hinzuweisen, daß in dieser Konzeption die Annahme der Willkürlichkeit des sprachlichen Zeichens aufgrund der nicht notwendigen Auswahl des zu benennenden Merkmals angelegt ist. Auch Lambert hat, wie oben ausgeführt, die Willkürlichkeit der sprachlichen Zeichen durch den Kontrast zu einer von ihm als »natürlich« bezeichneten Sprache, in der die artikulierten Töne der Mannigfaltigkeit der Sinneseindrücke eins zu eins entsprechen müßten, herausgestellt und es mit der Feststellung der Arbitrarität bewenden lassen. Vgl. Semiotik, §§ 18-19, 13f. Metakritik, 103. Metakritik, 248. Metakritik, 248. Vgl. Metakritik, 104. Dieses Prinzip formuliert Lambert in der Semiotik, § 309, 185 und bewertet es als »charakteristische« Eigenschaft der Sprachen, d. h. als solche, die sich durch die bedeuteten Dinge, ihre Natur und ihre Verhältnisse bestimmen und in Regeln fassen läßt: »Die Hauptwörter stellen dadurch die abstracten Begriffe der Gattungen vor, und die Beywörter geben die Bestimmungen der einzeln Arten, auf eine sehr abgekürzte Art, weil man sonst statt derselben ganze Redensarten und Umschreibungen gebrauchen müßte.« Vgl. Semiotik, § 176 2 , 103. Metakritik, 105.

58 wonnen würden. Das Prinzip basiert auf der Annahme, daß den Dingen Eigenschaften zukommen, von denen einige genau wahrgenommene genügen, um die Sache zuverlässig wiedererkennen zu können. Diese Kategorie wird im weiteren auch als Kern der wissenschaftlichen Naturerkenntnis bezeichnet, da in der Naturkunde die Dinge nach den an ihnen festgestellten Eigenschaften in Gattungen und Arten eingeteilt würden. Sie baut dabei auf die in der Ontologie gewonnenen Begriffe auf. 131 Wenn Herder auch in seinen Ausführungen zu der »Kategorie der Eigenschaften« in dem dritten Kapitel der Metakritik auf keinerlei Quellen verweist, so wird durch die oben zitierte Erwähnung der »Vernunftlehren« Hermann Samuel Reimarus' und Lamberts sowie durch seine Exzerpte aus der Architektonik, in denen er die Paragraphen 177 und 178 besonders vermerkt, 132 belegt, daß Herder auf die in diesen Schriften vertretenen Ansätze rekurriert. Dabei schließen sowohl Reimarus als auch Lambert an die von Christian Wolff vor allem in seinen lateinischen Schriften hervorgehobene Theorie der Arten und Gattungen an. 133 Reimarus gründet die Einteilung in Arten und Gattungen durch »Aufsteigen zu allgemeinen Begriffen, und Heruntersteigen zu besondern Bestimmungen« 1 3 4 auf die Ähnlichkeit konkreter Dinge in seinem Werk Die Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in dem Erkenntniß der Wahrheit, aus zwoen ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs hergeleitet von H.S.R., erschienen 1758. 135 In den oben genannten Paragraphen 177 und 178 der Architektonik entwickelt Lambert, der die Thematik der Einteilung von Arten und Gattungen wesentlich ausführlicher behandelt als Reimarus, die allgemeinen Sätze, denen eine Einteilung von Dingen und zusammengesetzten Begriffen in Arten und Gattungen aufgrund von Ähnlichkeitsverhältnissen zu genügen hat. Obwohl eine derartige Einteilung »ideal ist« und insofern dem Bereich der Logik zuzurechen sei, gründet sie sich nach Lambert »auf wirkliche Unterschiede der Din-

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Vgl. Metakritik, 111. Herder hat natürlich die Systematisierungsversuche beispielsweise der Pflanzen vor Augen, wie sie im 18. Jahrhundert vor allem Carl von Linné unternommen hat. Der handschriftliche Nachlass Johann Gottfried Herders. Katalog im Auftrag und mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, bearbeitet von Hans Dietrich Irmscher und Emil Adler, Wiesbaden 1979, Kapsel XV 412 20 r Vgl. den Hinweis von Hans Werner Arndt in seiner Einleitung zu Lambert, 1764: Nachdruck, Bd. I, XVIII. Reimarus, Hermann Samuel 1758: Die Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in dem Erkenntniß der Wahrheit, aus zwoen ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs, Zweyte verbesserte und mehr zu Vorlesungen eingerichtete Auflage, Hamburg, § 60, 4), 52 (reprograf. Nachdruck = Gesammelte Schriften). Die zweite, zu Vorlesungen eingerichtete Auflage der Schrift Hermann Samuel Reimarus' hat Herder besessen. S. Bibliotheca Herderiana 1980. Der Band wird unter 3400. in Sectio III. Libri philosophice. In Octavo. auf S. 171 aufgeführt.

59 g e « 1 3 6 und sei in ihrem Prinzip ursprünglich durch die Natur mit den in ihr feststellbaren Ähnlichkeiten veranlaßt worden: Man hat die Lehre von den einzeln Dingen, von den Arten und Gattungen (§. 132.) in diesen beyden Wissenschaften [der Vernunftlehre und der Ontologie] betrachtet, die Gattungen in stufenweise höhere, und die Arten in stufenweise niedrigere unterschieden, und einige allgemeinere Verhältnisse dabey angemerket. Die unmittelbarste Veranlassung dazu gab die Natur selbst, indem sie uns in den Thieren, Pflanzen, Steinen &c. Aehnlichkeiten und Verschiedenheiten vorlegt, die wir stufenweise größer finden, und da wir die Aehnlichkeiten mit besondern Namen benennen, so theilen wir dadurch unvermerkt diese Gattungen in Arten ein. Die Aehnlichkeiten in den Handlungen und Veränderungen gaben zugleich mit ihren Benennungen ähnliche Anlässe zu Eintheilungen, und auf diese Art wurde die Möglichkeit, Gattungen und Arten zu finden, auch auf das Gedankenreich und die Intellectualwelt ausgedehnt. 137 In d e m letzten Satz des Paragraphen 177 nimmt Lambert die Übertragung dieses Vorgehens auf abstrakte B e g r i f f e - die Lambert im Unterschied z u Wolff und Reimarus von a l l g e m e i n e n nicht differenziert 1 3 8 - vor, für deren B i l d u n g die Einteilungen in Arten und Gattungen als Voraussetzung a n g e s e h e n wird. Herder stellt dementsprechend den Z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n konkret in der Natur zu beobachtenden ähnlichen E i g e n s c h a f t e n und deren Bedeutung für die Ausbildung einer Merkmalslogik, die die Ausbildung v o n klassifizierenden Art- und Gattungsbegriffen darstellt, in d e m letzten Kapitel der Metakritik

her:

»Der Philosoph kann seine allgemeinsten B e g r i f f e nicht anders construiren, als im Besondern,

im Vestbestimmten,

w i e ihm dazu allenthalben die Natur selbst

den W e g zeiget. In ihren Gestalten, nach Individuen, Gattungen, G e s c h l e c h tern, nur im Besondern construirt sie das A l l g e m e i n e . « 1 3 9 Herders Rückführung der Einteilungen in Arten und Gattungen und damit s o w o h l der konkreten als auch abstrakten B e g r i f f e auf in der Natur g e g e b e n e Unterschiede entspricht damit Lamberts Prinzip der A l l g e m e i n g ü l t i g k e i t von Erkenntnis, das auf der

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139

Lambert, Johann Heinrich 1771: Anlage zur Architektonik, oder Theorie des Einfachen und des Ersten in der philosophischen und mathematischen Erkenntniß, Bd. 1, Riga (reprograf. Nachdruck von Bd. 1 = Schriften III, 1965), § 178 10°., 139. Architektonik, 1. Bd., § 177, 135f. Die Unterscheidung Lamberts von Körper- und Intellektualwelt ist zu verstehen als Differenzierung von körperlich-realer Welt und den geistigen Vermögen des Menschen im Sinne der intellektuellen Befähigung zur abstrakten Begriffsbildung. Diese Unterscheidung ist nicht gleichzusetzen mit derjenigen Reimarus' in »sinnliche« und »immaterielle« Begriffe, da hier den Begriffen ein unterschiedlicher Ursprung entweder aus der »äusseren« oder der »inneren Empfindung« zugeschrieben wird (vgl. Reimarus 1979, § 47, 37). Lambert gliedert die Begriffe dahingegen in einfache vs. zusammengesetzte resp. in besondere vs. allgemeine oder abstrakte Begriffe, ohne jedoch einen verschiedenartigen Ursprung der Begriffe anzunehmen, da diese ihre erste Veranlassung in jedem Fall in der sinnlichen Empfindung haben müssen. Vgl. die Ausführungen über das Allgemeine und Besondere sowie die Grundbegriffe, Lehrbegriffe und Postulate bei Lambert unten in dieser Arbeit. Metakritik, 313. Die Frage des Zusammenhangs zwischen Allgemeinem und Besonderen wird unten in einem eigenen Kapitel entwickelt.

60 »Zusammenfassung der Aehnlichkeiten« 140 basiert. Vergleichbar sind die Auffassungen Herders und Lamberts damit hinsichtlich der dem Merkmal zugesprochenen Bedeutung für das Denken insofern, als die bewußte und deutliche Begriffsbildung an Merkmale gebunden wird, die verstanden werden als solche Eigenschaften einer Sache, die es erlauben, sie wiederzuerkennen sowie sie von anderen zu unterscheiden.141 2.2.3. Die Kategorie der Kraft Gegenstand einer dritten »Reihe von Verständigungen« sind die Wirkungen sich selbst erhaltender Kräfte, auf welche die »innere Art« und das Fortbestehen der Dinge zurückgeführt werden. Solche Kräfte sind nach Herder überall in der Natur, entweder zusammen- oder gegeneinanderwirkend, vorhanden. Zur Erklärung der Frage, wie es möglich ist, daß der Mensch die Wirklichkeit erkennt, d. h. wie die Vorstellungen des Menschen zustande kommen und welcher erkenntnistheoretische Status diesen Vorstellungen in der Folge zuzusprechen ist, hebt Herder als Voraussetzung jeder Erkenntnis wiederum das Vorhandensein eines realen Gegenstandes hervor, der durch die Sinnesorgane wahrgenommen werden kann, wodurch in dem erkennenden Subjekt Empfindungen ausgelöst werden: Die Dinge der Wirklichkeit können an den Wirkungen der ihnen anhaftenden Kräfte erkannt werden, wie Herder bereits in dem Zusammenhang seiner ersten Kategorie hervorgehoben hat. Es stellt sich folglich die Frage, was hier für ein Begriff der Kraft zugrundegelegt wird, wenn er das Zustandekommen einer Bezugnahme der geistigen Erkenntniskräfte des Menschen auf die körperliche Welt und damit die Aufhebung des Dualismus ermöglichen soll. Dieses Thema wird jedoch nicht erst in der Metakritik entfaltet, sondern bestimmt Herders Interessen schon viel früher. 142 Dementsprechend hat Herder

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Architektonik, 1. Bd., § 165, 124. Vgl. den Abschnitt über die allgemeinen Begriffe der Vernunft und besonders zu Lamberts Bestimmung wissenschaftlicher Begriffe unten in dieser Arbeit. D e m liegt zugrunde, daß von Lambert entsprechend dem Hinweis von Ursula N e e m a n n keine eindeutige Unterscheidung der »Teile der Wahrnehmungsinhalte von Teilen der Begriffsinhalte« v o r g e n o m m e n wird, worin ihm auch Herder entgegen der Annahme Neemanns folgt. Herder versteht ebenfalls unter einem Merkmal nicht allein ein »Kennzeichen als Erinnerungszeichen«, sondern faßt dieses durchaus auch als Eigenschaft eines Gegenstandes und i n f o l g e der nicht durchgeführten Differenzierung gleichzeitig als Bestandteil eines Begriffs auf, wie aus den Ausführungen zu der »Physiologie der Erkenntniskräfte« und zu der Einteilung von Begriffen in Arten und Gattungen s o w i e seiner Argumentation g e g e n Kants Bestimmung des Noumenon - vgl. den Abschnitt »Das Zusammenwirken der Erkenntniskräfte« unten — in der Metakritik hervorgeht. Vgl. die Darstellung von Ursula N e e m a n n in dem Artikel »Merkmal« in: Ritter 1980, Bd. 5, 1154f. In dieser Darstellung f o l g e ich den ausführlichen und mit genauen Querverweisen versehenen Kommentaren v o n Wolfgang Proß zu den erwähnten Schriften Herders in: Herder 1984 und Herder 1987.

61 bereits in seinen Schriften Zum Sinn des Gefühls, 1769, und Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, in der ersten Auflage 1774 bis 1775 und in der zweiten Auflage 1778 erschienen, die Möglichkeit der Aufhebung der Trennung der verschiedenen Erkenntniskräfte, ohne jedoch deren Unterschied zu leugnen, umkreist. In der ersten Schrift werden allerdings die Abgrenzungsverhältnisse zwischen »Denken« und »Fühlen« noch nicht deutlich unterschieden und Kraft wird hier im Verhältnis zu den Begriffen von Raum und Zeit untersucht und somit ausschließlich im Sinne der ersten Kategorie der Metakritik als Nebenbegriff des Seins aufgefaßt. In der Erstfassung der Abhandlung Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele hält Herder hingegen noch an der an Leibniz orientierten Auffassung der gegenseitigen Bespiegelung von Leib und Seele fest; in der zweiten Fassung wird der Begriff der Aufmerksamkeit in den Vordergrund gerückt. In den Spinoza-Gesprächen, 1787 und in Varianten um 1800 verfaßt, gibt Herder mit der Interpretation des Macht-Begriffs Spinozas durch den Kraftbegriff Leibniz' - Kraft wird von Leibniz als Mittelbegriff zwischen Körper und Geist eingeführt - eine Neuinterpretation der Ethik Spinozas, die für Herders Weltbild grundlegend ist. Die Bezugnahme auf Spinoza kann wohl dadurch erklärt werden, daß Spinoza Gott als ausgedehnt angenommen hat, so daß er als ein Teil der Natur begriffen werden kann, womit eine Naturerklärung ohne externe Ursache möglich wird. Bei Leibniz bleibt jedoch aufgrund seines Identitätssatzes, demzufolge die Ursache gleich der Wirkung ist, dennoch die Trennung von Körper und Geist aufrecht erhalten und wird nur durch die Annahme der prästabilierten Harmonie abgemildert. Eine Überwindung der Trennung von Materie und Geist aufgrund des Begriffs von Kraft wird bei Lambert formuliert, der von einer naturwissenschaftlichen Perspektive aus Isaac Newtons Erklärung der Anziehungskraft nicht zur Grundlage eines rein materialistischen Systems macht, 143 wie es im Zuge der Newton-Rezeption manchenorts der Fall gewesen ist und wogegen Herder immer Stellung bezogen hat, sondern Kraft wird hier im Anschluß an Newton explizit als ein immaterielles Prinzip betrachtet, das auf Körper wirkt und somit eine Zusammenführung von rationaler Verstandesleistung und empi-

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Beispielsweise vertritt Leonhard Euler die Ansicht, daß es nicht plausibel sei zu behaupten, »daß die Bewegung, z.E. einer Kugel auf dem Billard, durch einen Geist aufgehalten und zum Stillstehen gebracht würde; oder daß die himmlischen Körper, in sofern sie Richtung und Geschwindigkeit in ihren Bewegungen verändern, dem Einflüsse gewisser Geister unterworfen wären.« Euler zufolge muß daher der Ursprung der Kräfte in der Undurchdringlichkeit der Körper liegen: »und das ist die wahre Auflösung des Geheimnisses, das die Philosophen so lange beunruhigt hat.« Euler, Leonhard 1769: Briefe an eine deutsche Prinzessin über verschiedene Gegenstände aus der Physik und Philosophie, in: Briefe an eine deutsche Prinzessin über verschiedene Gegenstände aus der Physik und Philosophie, aus dem Französischen übersetzt, eingeleitet und erläutert von Andreas Speiser, 1986, 259ff.

62 rischer Erfahrungserkenntnis ermöglicht. 144 Voraussetzung ist dabei die von Lambert vertretene Auffassung, daß Kraft nicht an Materie gebunden ist, so daß damit nicht mehr - wie von Leibniz angenommen — eine Ursache gleich der Wirkung sein muß. Lambert beruft sich in dem entsprechenden Kapitel der Architektonik, seinem 1771 erschienenen, zweiten philosophischen Hauptwerk, das von ihm selbst in der Vorrede als eine »Untersuchung der metaphysischen Grundlehren« bezeichnet wird, 145 explizit auf Newtons Annahmen über die Anziehungskraft: Die Modification der Kräfte kann man schlechthin auf eine ähnliche Art annehmen, wie sie, für einen an sich noch sehr specialen Fall, bey der Newtonschen Attraction angenommen wird. Das Solide ist zu der Erklärung eines Mechanismus nicht hinreichend, (§. 539. 545.). Es ist daher an sich möglich und sehr wahrscheinlich, daß außer den Kräften, die die kleinsten und nicht ferner getheilten Theilchen der Materie in ihrer Continuität erhalten, noch solche sind, die sich nicht nur auf die Verbindung dieser kleinsten Theilchen, sondern auf die Verbindung ganzer Systemen größerer Körper, und so auch des ganzen Weltbaues erstrecken, so unbegreiflich uns, nicht die Wirkung, sondern ihre Art zu wirken (§. 545.) seyn mag. 1 4 6

Das erste Hauptstück in dem zweiten Teil der Architektonik ist ausschließlich dem Begriff der Kraft gewidmet. Auf den Kräften beruhen Lambert zufolge die in den Dingen vorkommenden Verbindungen, die realen Verhältnisse, die Zusammensetzungen und ihre »positive«, d. h. konkrete Möglichkeit zu existieren, so daß das Wirken von Kräften als Begründung des realen Seins aufgefaßt wird. Die Dinge verdanken ihre Existenz der Wirkung von Kräften. Die Untersuchung des Begriffes der Kraft zusammen mit der Betrachtung des materiellen »Soliden« ergibt nach Lambert den Beleg dafür, daß die Vorstellungen der Menschen von den Dingen durch die Dinge selbst veranlaßt werden und daß die menschlichen Vorstellungen daher nicht »ein bloßer Traum« seien. 147 Lambert geht weiterhin davon aus, daß die Materie zwar bis in das Unendliche teilbar ist, daß aber bei dem »existirenden Soliden« letztlich eine Grenze der Teilung besteht, indem die kleinsten Teile: [...] in der That nicht ferner getheilet oder getrennet sind; so ferne können wir sie nur noch als einen Haufen von kleinem Theilchen ansehen, in welchem keine andere Verbin-

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Die wesentlichen Hinweise auf die Theorie und Rezeption der Philosophiae naturalis principia mathematica Isaac Newtons verdanke ich Simone De Angelis, der in seiner gegenwärtig entstehenden Doktorarbeit das Eindringen wissenschaftstheoretischer Begriffe in die Methodendiskussion des 18. Jahrhunderts, insbesondere bei Albrecht von Haller, untersucht. Das Werk soll einen doppelten Anspruch erfüllen: in dem ersten Teil über das sogenannte »Ideale der Grundlehre« soll eine Theorie der logischen Grundlegung von wissenschaftlicher Erkenntnis entwickelt werden, in dem zweiten Teil über das »Reale der Grundlehre« geht es darum, eine Theorie der in dem realen Sein geltenden Gesetze vorzulegen. Lambert, Johann Heinrich 1771: Anlage zur Architektonik, oder Theorie des Einfachen und des Ersten in der philosophischen und mathematischen Erkenntniß, Bd. 2, Riga (reprograf. Nachdruck von Bd. 2 = Schriften IV, 1965), § 550, 170f. Vgl. Architektonik, 2. Bd., § 372, lf.

63 dung ist, als daß sie dichte aneinander liegen, und folglich den Raum ganz ausfüllen, daferne wir nicht Kräfte mit annehmen, durch welche sie verbunden sind, und durch diese Verbindung ein ganzes ausmachen. Diese Kräfte sind nun Nicht [sie] das Solide selbst, sondern das Solide hat sie, oder sie sind in demselben. 148

Diese theoretisch weiter teilbaren, praktisch jedoch nicht mehr geteilten und daher kleinsten Materieeinheiten betrachtet Lambert als einfach, ebenso wie auch die Kraft, die »die Theile, die sich noch in denselben gedenken lassen, in solche Verbindung bringt, daß sie nicht bloß an einander liegen« und diese Kraft »machet diese Theile zu einem realen Ganzen, und erhält sie auch, mit einer wenigstens hypothetischen Nothwendigkeit (§. 287. No. 2. §. 284.), als ein Ganzes«. Lambert vergleicht diese minimalen Materiebestandteile mit den Atomen und bezeichnet sie als »die Elemente oder der Urstoff der Körperwelt«,149 denen er aber Ausdehnung und Größe zuspricht. Lambert wendet sich dagegen, in diesen einfachen Dingen das Geistige zu sehen, womit er indirekt auf die Monadenlehre von Leibniz anspielt, die er damit verwirft. 150 Statt dessen identifiziert er die Kräfte mit dem Geistigen, die er »als Substanzen ansieht, die von dem Soliden verschieden sind, und denken, wollen und wirken können«. 151 Die Kräfte beleben seiner Ansicht nach die an sich tote Materie. Lambert weist darauf hin, daß es sicher schwer falle, Substanzen anzunehmen, die nicht materiell seien, aber dennoch in der Materie Veränderungen bewirken. Wenn man diese Annahme jedoch nicht mache, könne man aber leicht zu dem falschen Schluß kommen, daß Materie, Dauer, Raum und Bewegung in Wahrheit ein »bloßer sinnlicher Schein und Bilder der Einbildungskraft« seien. 152 Genauere Untersuchungen hätten hingegen ergeben, daß z. B. die Farben und das Licht nicht dem Auge zugeschrieben werden könnten, da die zunächst vertretene Ansicht, »daß die Stralen aus dem Auge ausflössen, bis sie die Objecte berührten, ungefähr, wie man mit der Hand etwas betasten muß«, sich nicht als haltbar erwiesen habe angesichts der Erfahrung, daß das Auge im Dunkeln nichts erkennen könne. Die daraufhin angenommene Meinung, daß die Farben den Gegenständen angehörten, sei aufgrund von Versu-

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Architektonik, 2. Bd., § 539, 157. Vgl. Architektonik, 2. Bd., § 540, 158. In der Rezension der Architektonik in der Allgemeinen deutschen Bibliothek, 20. Bd., 1. Stück, 1773, 22f. lautet der aufschlußreiche Kommentar, der von Lambert selbst verfaßt worden ist: »Hr. L. glaubt, daß man die einfachen oder eigentlicher zu reden, die immateriellen Dinge (denn auf diese ist es doch eigentlich abgesehen) nicht in der Theilbarkeit oder Nichttheilbarkeit der Materie suchen müsse, sondern, daß sie sich eher bey Betrachtung der Kräfte finden lassen. Von Monaden kömmt, vermuthlich aus diesem Grunde, in dem ganzen Werke nichts vor. [...] In Ansehung mehrerer Leibnizischen Grundsätze scheint Hr. L. ebenfalls das anstößige so ziemlich vermieden zu haben. Er setzt z. E. erste Gründe des Könnens, des Wissens und des Wollens, und findet dabey dem fernem Fragen nach Gründen ein Ziel, ohne welches freylich kein Grund jemals zureichend seyn würde.« Architektonik, 2. Bd., § 541, 160. Architektonik, 2. Bd., § 545, 165.

64 chen verworfen worden, die ergeben hätten, daß das Licht für die unterschiedlichen Farben der Körper verantwortlich sei. Es wurde hieraus geschlossen, »daß die Begriffe der Farben eigentlich in der Seele, die Veranlassung dazu aber in den Lichtstralen, in den Körpern und in der Structur des Auges, der Gesichtsnerven und der Fibern des Gehirnes« 153 sei. Diese Erkenntnisse seien durch die Erfahrung zustande gekommen und eine sorgfältige Untersuchung der Natur Voraussetzung für jeden weiteren Erkenntnisgewinn. Da, wie Lamberts Ausführungen zu entnehmen ist, rein materialistische Erklärungen der Ausbildung von Farbbegriffen in dem Menschen als hinfällig betrachtet werden müssen, wäre die Einnahme einer idealistischen Position zwingend, sofern die Möglichkeit der Erfassung der konkreten Welt mittels der geistigen Vermögen nicht durch Bezugnahme auf den Kraftbegriff anerkannt werden könnte. Lambert weist damit bereits in der in den sechziger Jahren verfaßten Architektonik auf die von ihm nicht akzeptierte mögliche Konsequenz hin, die von Kant in der Kritik der reinen Vernunft tatsächlich gezogen wurde. Der von Lambert aufgrund seiner Newton-Rezeption gewonnene Kraftbegriff ermöglicht damit insofern ein kohärentes Weltbild, als die Wechselwirkung von Materie und Geist dann auch in Bezug auf die Erkenntniskräfte des Menschen angenommen werden kann, wenn sie in der Außenwelt mit der Wirkung immaterieller Kräfte auf die Körper angetroffen wird und die in den realen Dingen herrschenden Kräfte damit gleichzeitig als sinnlich erfahrbar erklärt werden können. 154 Eine dementsprechende Annahme hat Herder bereits 1769 in seiner Schrift Grundsätze der Philosophie formuliert, wo er einen Vergleich von bewegender Kraft in der Körperwelt mit der Kraft zu denken vornimmt. Anziehung und Abstoßung werden hier als Grundkräfte der physischen und moralischen Welt verstanden, aber bleiben für Herder noch »abstrakte Ausdrücke, nichts als Wörter, gesammelte Begriffe«, von denen er nicht weiß, welche Erklärungskraft sie haben.155 Herder, der während seines gesamten Schaffensprozesses nach der Begründung der Verbindung von Körper und Geist gesucht hat, hat im Zusammenhang seiner Arbeit an der Metakritik nochmals intensiv Lamberts Werk studiert und

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Architektonik, 2. Bd., § 545, 165. Die erfahrbaren Wirkungen von Kräften haben Herder zufolge auch einen großen und elementaren Teil der menschlichen Sprache, nämlich die Verben mit ihren Genera Aktiv und Passiv, geprägt: »Verba, thätig und leidend sind gleichsam die Triebräder der menschlichen Rede«. In diesen Elementen der Sprache spiegelt sich die menschliche Erkenntniskraft zu denken, deren Grundlage das sinnliche Wahrnehmungsvermögen ist, wider: »Allenthalben zeigt sich auch im Gebiet der Kraftäußerung derselbe menschliche Genius, der nie weiter gehen konnte, als daß er in Wirkungen die Ursache anerkannte, und ihr sein Merkmahl, einen Namen aufdrückte.« Damit wird die Kategorie der Kräfte, die sich auf das Vermögen des Menschen bezieht, verursachende Kräfte an ihren Wirkungen abzulesen, aus der Frage abgeleitet: »was vermag das Etwas?« Vgl. Metakritik, 106f. und die Ausführungen zu den grammatischen Kategorien der Sprache in dieser Arbeit. Herder 1987, 56.

65 zieht nun die naturwissenschaftlich abgestützte Erklärung der Kraft, wie sie von Newton begründet worden ist, als das gesuchte Erklärungsstück heran. 156 Wenn auch nicht eindeutig geklärt werden kann, ob Herder diesen Kraft-Begriff aufgrund von Lamberts Werk rezipiert hat oder aus anderen Quellen bzw. direkt aus Isaac Newtons Philosophiae naturalis principia mathematica,151 so ist jedoch auf jeden Fall Herders Kenntnis der entsprechenden zentralen Passagen in Lamberts Werk anhand der Exzerpte zu belegen. 158 2.2.4.

Die Kategorie

des

Maßes

In der vierten Reihe von Verständigungen wird mit der Kategorie des Maßes die genaueste, abstrakte Erkenntnisform thematisiert. Als Bestimmung der Größe könne das Maß des Ortes durch den Raum angegeben werden, das Maß der Dauer durch die Zeit sowie das Maß der Kraft in ihren Wirkungen, »wobei er [der Verstand] jene Maaße zu Sinnbildern gebraucht«, 159 so daß die Nebenbegriffe der ersten Kategorie des Seins auf diese Weise in allen Aspekten erfaßt werden könnten. Hinsichtlich ihrer Genauigkeit seien diese Größenbestimmungen jedoch nicht absolut aufzufassen, da Raum und Zeit als unendlich teilbar zu betrachten seien und sie aus diesem Grund »in höchster Genauigkeit nie ausgedruckt [sie] werden können«. 160 Dementsprechend lautet der von Herder in dem fünften Kapitel der Metakritik angegebene theoretische Grundsatz dieser letzten Kategorie: »Alle dein Maas im Endlosen ist Etwas, was du bestimmen mußt.« Je zweckhafter und feiner, desto beßer; nur nimm es nie für ein beendetes All. Ueber jedes Feine läßt sich ein Feineres denken. 161

In seinen weiteren Erläuterungen zu der Kategorie des Maßes bezieht sich Herder auf die von Leibniz und Newton entwickelte mathematische Methode der sogenannten Infinitesimalrechnung, d. h. der Differential- und Integralrech-

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Dementsprechend sind in dieser Kategorie nach Herder ferner die Prinzipien der Naturwissenschaft enthalten, worunter hier speziell die Physik verstanden wird. Gegenstand und Aufgabe dieser Wissenschaft sei es dementsprechend, Kräfte in ihren Wirkungen zu erkennen. Vgl. Metakritik, 111. Die in der Metakritik akzentuierte zentrale Bedeutung des Kraftbegriffs für »all physics, i.e., [...] all natural science« ist von Robert T. Clark hervorgehoben worden, vgl. seinen 1942 publizierten Aufsatz: Herder's Conception of »Kraft«, in: PMLA, Vol. LVII, No. 3, 737-752. Herder besaß diese Schrift in der Ausgabe von 1714. S. Bibliotheca Herderiana 1980. Der Band wird unter 2986 in Sectio III. Libri philosophice. In Octavo. auf S. 152 aufgeführt. Die Exzerpte befinden sich in Kapsel XV 412, 9 r ' v »Grundsätze aus Lamberts Architektonik«. Vgl.: Der handschriftliche Nachlass Johann Gottfried Herders 1979, 104. Metakritik, 108. Metakritik, 108. Metakritik, 144.

66 nung, w e n n er d a v o n ausgeht, daß: » D e s M a a s s e s Grenze mußte also ein Unerreichbares, aber d o c h Höchstbestimmendes, ein Moment,

der Punct

und weiter unten d i e Mathematik aus dieser Kategorie ableitet.

163

werden«162

Der auf diese

R e c h e n m e t h o d e zurückzuführende B e g r i f f des U n e n d l i c h e n ist, w i e Herder bemerkt, bereits v o n Leibniz auf philosophische Ü b e r l e g u n g e n übertragen worden: Eines der größesten Verdienste des unsterblichen Leibnitz ists, daß er dies Maas des Unendlichen auch ins Gebiet der Metaphysik, d. i. unsrer allgemeinsten Begriffe, mithin der Seelenkräfte selbst brachte. Alle unsre Sensationen sind ihm Fluxionen aus dem Unmerklichen ins Unmerkliche hinüber reichend; die Klarheit der Vorstellungen, die ihnen zur Seite gehet, ist eben desselben Maaßes fähig. Wahr und gewiß ist diese Theorie: denn sie beruhet auf der allgemeinen Idee alles Maaßes; auch an feinen und grossen Ideen ist sie fruchtbar. Diese Maasbestimmung weiß also von keinem All als einem geendeten Ganzen; sie schreitet ins Ungemeßene weiter. 164 Herder bezieht sich mit diesen Hinweisen auf Leibniz' Konzeption der Monade, in der ein beständiger Strom von Vorstellungen z w i s c h e n solchen schwankt, die als »petites perceptions« unterhalb der B e w u ß t s e i n s s c h w e l l e bleiben und anderen, die als »perceptions« mehr oder w e n i g e r klare B e g r i f f e darstellen. Es wird somit bereits v o n Leibniz ein stufenloser Übergang z w i s c h e n dunklen, klaren und deutlichen B e g r i f f e n angenommen, w o h i n g e g e n Alexander Gottlieb Baumgarten von einer festen Unterteilung der B e g r i f f e ausgeht. 1 6 5 In dem

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163 164 165

Metakritik, 108. Als Beleg sei die entsprechende Passage aus Newtons Principia - die Herder wie oben erwähnt besessen hat - angegeben, wobei nach folgender Ausgabe zitiert wird: Newton, Isaac: Mathematische Prinzipien der Naturlehre. Mit Bern, und Erl. hg. von J. Ph. Wolfers, Darmstadt 1963, 54: »Es existiert eine Grenze, welche die Geschwindigkeit am Ende der Bewegung erreichen, nicht aber überschreiten kann; dies ist die letzte Geschwindigkeit. Dasselbe gilt von der Grenze aller anfangenden und aufhörenden Grössen und Proportionen. Da diese Grenze fest und bestimmt ist, so ist es eine wahrhaft geometrische Aufgabe, sie aufzusuchen. [...] Es kann auch behauptet werden, wenn die letzten Verhältnisse verschwindender Grössen gegeben sind, werde auch ihre letzte Grösse gegeben und es bestehe so jede Grösse aus untheilbaren Stücken, wovon Euklid im 10. Buche seiner Elemente das Gegentheil erwiesen hat. Dieser Einwurf stützt sich jedoch auf eine falsche Voraussetzung. Jene letzten Verhältnisse, mit denen die Grössen verschwinden, sind in der Wirklichkeit nicht die Verhältnisse der letzten Grössen, sondern die Grenzen, denen die Verhältnisse fortwährend abnehmender Grössen sich beständig nähern, und denen sie näher kommen, als jeder angebbare Unterschied beträgt, welche sie jedoch niemals überschreiten und nicht früher erreichen können, als bis die Grössen ins Unendliche verkleinert sind.« Vgl. Metakritik, llOf. Metakritik, 108. Entsprechend der von ihm angenommenen Trennung von sensitiver und logischer Erkenntnis bezeichnet Baumgarten demgemäß allein die dunklen und klaren Vorstellungen als poetisch. Im Unterschied dazu heißt es von den deutlichen Vorstellungen: »Repraesentationes distinctae completae adaequatae profundae per omnes gradus non sunt sensitivae, ergo non poeticae, § 11.« Baumgarten, Alexander Gottlieb 1983: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus. Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes, übersetzt und mit einer Einl. hg. von Heinz Paetzold, Hamburg, 14. S. den entsprechenden Hinweis von Wolfgang Proß in den Anmerkungen zu Herders Journal meiner Reise im Jahre 1769 in Herder 1984, 814.

67 praktischen Grundsatz der Kategorie des Maßes, der zur Erfassung sämtlicher Erkenntnisgegenstände herangezogen werden soll, bezieht sich Herder auf Leibniz' Prinzip der Kontinuität, das dieser in seinen Schriften und Briefen verschiedentlich als das Fundament des Differenzials bezeichnet 166 und auf die Grade der Perzeptionen einer Monade anwendet: »Wende dies Maas auf Alles an, worauf du kannst,« auch auf Kräfte, Empfindungen, Handlungen, Gedanken. Das Schwächste und Stärkste, das Dunkelste und Helleste sind mit einander verbunden; unserm Verstände sind beide Tendenzen Endlos. 1 6 7

In dem Kommentar zu diesem Grundsatz erwähnt Herder nochmals explizit Leibniz und besonders auch Johann Heinrich Lamberts Ansatz: Bekannt ists, daß die Mathematik durch die Wißenschaft des Unendlichen die größesten Fortschritte gewonnen; der Philosophie, in welche diese Wißenschaft des Unendlichen Leibniz gebracht, in welcher Lambert sie fortgeführt hat, stehen ihre wahren Fortschritte noch bevor. Nur durch Maas schaffet die Vernunft sich Gewißheit und Regel. 1 6 8

Lambert unternimmt es, »die Dinge, oder überhaupt das Gedankbare in Absicht auf die Größe« zu betrachten in dem vierten Teil der Architektonik, welcher allein dem Thema der Größe gewidmet ist. Herders ausführliche Exzerpte zu fast jedem der Paragraphen belegen seine Kenntnis des gesamten vierten Teiles des Werks und damit sein Interesse an dieser Fragestellung sowie der Lösung Lamberts. 169 Dieser Teil der Architektonik unterscheidet sich von den vorangehenden dadurch, daß hier nicht mehr die Beschaffenheit der Dinge Gegenstand der Untersuchung ist. Lambert geht von seiner Einschätzung der Bedeutung der Anwendung der Mathematik aus, die seiner Ansicht nach darin besteht, daß man »durch die Kenntniß der Größe das zu viel und zu wenig, welches gemeiniglich alles verderbt, vermeiden, und das, was man hat, suchet, brauchet &c. nach geometrischer Schärfe genau bestimmen kann.« 170 Da hierbei jedoch die Schwierigkeit besteht, bei den unterschiedlichen Gegenständen jeweils zu bestimmen, wie ihre Größe gemessen werden kann, greift Lambert die - wie er erwähnt - bereits von Christian Wolff und Georg Bernhard Bilfinger eingeführte Abstufung der Erkenntnisformen auf. Die philosophische Erkenntnis und die mathematische faßt Lambert unter dem Oberbegriff der wissenschaftlichen Erkenntnisformen zusammen. 171 Explizit wendet er sich dagegen, die Erkennt-

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Vgl. die Ausführungen von Cohen, Hermann 1968, in: Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte. Ein Kapitel zur Grundlegung der Erkenntniskritik, Frankfurt a. M„ 104. Metakritik, 144. Metakritik, 144. S. Der handschriftliche Nachlass Johann Gottfried Herders 1979, Kapsel XV 412 »Grundsätze aus Lamberts Architektonik«, B1 13V—17V. Architektonik, 2. Bd., § 680, 302. Die vorwissenschaftlichen Erkenntnisstufen der »gemeinen« und der »historischen« Erkenntnis erwähnt Lambert an dieser Stelle ebenfalls und verweist auf seine ausführliche

68 nisse des Philosophen und des Mathematikers einander entgegenzusetzen, da in dem Fall »die Lücken, die der eine in der Erkenntniß des andern ausfüllen sollte, unausgefüllet bleiben, und damit ist weder der Philosophie noch der Mathematik, der Wahrheit aber durchaus nicht gedienet.« 172 Statt dessen sollten philosophische und mathematische Erkenntnisse miteinander verbunden und verglichen werden, wobei Lambert die Ansicht vertritt, »man wird der philosophischen Erkenntnis nicht den Namen einer völlig wissenschaftlichen Erkenntniß beylegen können, wenn sie nicht durchaus zugleich mathematisch ist.« 173 Es könne die mathematische dann problemlos auf philosophische Erkenntnisse angewendet werden, wenn es in der letzteren erreicht werde, zu klaren und deutlichen Begriffen aufgrund von genauen Bestimmungen der dunklen Begriffe und »vermischten Vorstellungen«174 zu gelangen. Daher müsse auch in der Philosophie, ebenso wie es in der Mathematik üblich sei, eine genaue Zergliederung der Begriffe bis auf ihre einfachen Bestandteile vorgenommen werden. Auf diese Weise seien in den Fällen, »wo es gelingt, viele Verwirrungen, Unv oll ständigkeiten und Weitläufigkeiten« zu vermeiden. 175 Wenn nach Herder Lambert somit die Idee des Unendlichen in der Philosophie fortgeführt hat, dann ist dies als eine Bezugnahme auf dessen Annahme zu verstehen, daß in der Philosophie sämtliche Begriffe in einer Zergliederung auf die sie konstituierenden Merkmale und deren Verbindung untereinander genau zu prüfen seien. Bei dem entsprechenden Verfahren der »Entwickelung eines Begriffes«116 müsse stufenweise vorgegangen werden, indem bereits erkannte Merkmale wiederum auf ihre Bestandteile untersucht werden. Dunkle und damit ungenügend geklärte Begriffe können diesem Ansatz zufolge in einem potentiell unendlichen Prozeß einer zunehmenden Aufklärung unterzogen werden dadurch, daß sie genau erfaßt, untergliedert, erklärt und in Begründungszusammenhänge gebracht werden. In der vierten Kategorie der Metakritik wird auf diese Weise von der Möglichkeit einer beständigen Annäherung an die genaueste Erkenntnis in einem fortschreitenden Erkenntnisprozeß durch eine immer feinere Analyse der zunächst undifferenziert und mit einer gewissen Zufälligkeit gewonnenen Begriffe in ihre konstituierenden Merkmalbestandteile ausgegangen. Die Annahme dieses Prozesses, der auf dem von Leibniz formulierten Kontinuitätsprinzip basiert, entspricht der Ablehnung Herders rein deskriptiver Beschreibungen, die zu geschichtslosen Klassifizierungen führen müssen. 177

Darstellung in dem 9. Hauptstück der Dianoiologie, auf die in dieser Arbeit unten in dem Kapitel über den a priori-Begriff im einzelnen eingegangen wird. 172 Architektonik, 2. Bd., § 682, 303. 173 Architektonik, 2. Bd., § 683, 304. 174 Vgl. Architektonik, 2. Bd., § 455, 76. 175 Vgl. Architektonik, 2. Bd., § 697, 322. 176 Dianoiologie, § 10, 8. 177 y g j Kondylis, Panajotis 1981: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart, 618f.

69 Die Einführung der Kategorie des Maßes in Herders Metakritik muß somit als Rückgriff auf die erkenntnistheoretische Konzeption in der Tradition Leibniz' und Wolfis verstanden werden, als deren letzter Vertreter Lambert insofern gelten muß, als er den Versuch unternimmt, die Begriffe des Verstandes einer genauen Bestimmung zugänglich zu machen. Damit schließt Herder an den Gedanken einer »mathesis universalis« nach Lamberts Verständnis an, demzufolge das für eine exakte Wissenschaft - als welche jene verstanden wird - notwendige Wahrheitskriterium auf die Stufe richtiger, d. h. exakt bestimmter Begriffe verlagert wird. Dementsprechend müssen nach diesem Ansatz die Verstandesbegriffe genau erfaßt, untergliedert, erklärt und in Begründungszusammenhänge gebracht werden. Die Rolle der Zeichen besteht dabei in der Mathematik ebenso wie in der Philosophie darin, die immer genauer zu erfassenden Einheiten zu benennen: »da zu Bestimmung diskreter Größen runde Zahlen nicht hinreichten, so verließ die Rechenkunst des Unendlichen gar alle Zahl, und erfand für ihr Unendliches Zeichen.« 178

2.3. Grammatische Kategorien der Sprache: Johann Werner Meiners Philosophische Sprachlehre Philosophische Kategorien der von Herder bezeichneten Art stehen grundsätzlich, wie Bernd Naumann in seiner Arbeit über die Kategorien der deutschen Grammatik ausführt, in einem engen Verhältnis zu denen der Grammatik, was sich bereits an der Kategorienlehre des Aristoteles gezeigt habe, die sprachanalytische und sprachkritische Grundzüge aufweist: »Die Besinnung auf die Bedingungen und Möglichkeiten des Sprechens soll dieses Sprechen eindeutig und unmißverständlich machen.« 179 Dementsprechend soll nun gezeigt werden, daß Herders Verständnis der Kategorien unter anderem auf die Überlegungen über die grammatische Kategorienbildung des Deutschen der achtziger Jahre verweist, die für das Ende des 18. Jahrhunderts und große Teile des 19. Jahrhunderts bestimmend gewesen sind.180 Tatsächlich beziehen sich Her178

Metakritik, 108. Daß diese Bedeutung der Zeichen für die Entwicklung der Differentialrechnung bereits von Johann George Sulzer in seiner Schrift Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß der Vernunft in die Sprache, und der Sprache in die Vernunft erkannt worden ist, ist oben in dem Kapitel über die Notwendigkeit der Sprache für das Denken gezeigt worden: »Es ist bekannt, daß man bis itzt verschiedene Aufgaben bloß deswegen nicht hat auflösen können, weil die analytische Sprache unvollkommen ist, und es noch Formeln oder verwickelte Größen giebt, die sich aus Mangel an Ausdrücken oder Zeichen, nicht entwickeln lassen. Verschiedene Entdeckungen der mathematischen Rechenkunst sind eigentlich nichts anders, als neue Arten allbereits vorher bekannt gewesene Dinge zu bezeichnen.« Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß, 187. 179 v g l . Naumann 1986, 21f. Auch Ulrich Gaier hat explizit darauf hingewiesen, daß die moderne Trennung von Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie für Herders Zeit noch keine Geltung gehabt habe, vgl. Gaier 1988, 34. 180 Das Problem sprachlicher Kategorisierung hat sich für die deutsche Grammatikschreibung ergeben, als die Fachwörter der lateinischen Grammatik durch deutsche er-

70 ders kritische Argumente gegen die Kategorienkonzeption Kants im wesentlichen auf diejenigen Aspekte, welche in dem Zusammenhang von sprachwissenschaftlichen Fragestellungen relevant sind und »für die deutsche Sprachwissenschaft um und nach 1800 von großer Bedeutung wurden und deren Nachwirken noch heute erkennbar ist.«181 Bernd Naumann führt diese Aspekte in sechs Punkten an,182 die als Zusammenfassung der Kritik Herders an Kants Konzeption aufgeführt seien. An erster Stelle wird auf den Anspruch des von Kant formulierten Kategorienbegriffes, a priori gegeben zu sein, hingewiesen; die Einwände Herders gegen Kants Annahme, daß »die Begriffe aus der reinen Verstandeshandlung des Urtheilens, ohne Rücksicht auf Gegenstände, entsprungen und geordnet« 183 sein sollen, wurden oben bereits dargestellt. Zweitens nennt Naumann die im Unterschied zu Aristoteles - dessen System Naumann im Hinblick auf die Entwicklung der Kategorienfrage in der Sprachwissenschaft demjenigen Kants gegenüberstellt und für dessen Begriff der Kategorie Herder ausdrücklich Partei nimmt 184 - von Kant postulierte Vollständigkeit seines Katalogs. Herder bestreitet, daß dieser Anspruch von Kants Aufzählung der Kategorien erfüllt werde, »da gedachte Tafel weder alle Elementarbegriffe vollständig, noch die Form jeder Wißenschaft im menschlichen Verstände enthält«. 185 Seinem eigenen Ansatz zufolge ist Vollständigkeit aufgrund einer ausschließlichen Berücksichtigung der Form des Denkens prinzipiell nicht erreichbar. Weiterhin nennt Naumann drittens die Begründung der von Kant in Anspruch genommenen Vollständigkeit aufgrund der Methode der rationalen Deduktion für das Postulat, daß diese Kategorien keine »rhapsodistische«186 Sammlung zufälliger Gegebenheiten sein könnten, sondern systematisch aus dem Urteilsvermögen entwickelt seien, da sie nicht an raum-zeitliche Erfahrungen gebunden seien. Herder führt dagegen an:

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setzt werden sollten, wodurch Überlegungen notwendig geworden sind, was die Kategorien der Grammatik einerseits in dem metasprachlichen und andererseits in dem objektsprachlichen Bereich sind. Vgl. Naumann 1986, 28-30. Naumann 1986, 26. Vgl. Naumann 1986, 26f. Metakritik, 78. Vgl. Metakritik, 80. Metakritik, 81. Als Gegenbegriff zu der »Rhapsodie« nennt Kant den Begriff der »Architektonik«, der auf Lamberts zweites philosophisches Hauptwerk Anlage zur Architektonik zurückzuführen ist, zur Bezeichnung seines Systembegriffes. Die Architektonik wird von Kant als das Vermögen der Vernunft bezeichnet, alle Erkenntnisse als zu einem System gehörend zu betrachten (KrV, B 502/A 474). Unter einem System versteht Kant »die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee. Diese ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, so fem durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen so wohl, als die Stelle der Teile untereinander, a priori bestimmt wird.« KrV B 860/A 832. S. auch Dierse, Ulrich 1977: Archiv für Begriffsgeschichte, begr. von Erich Rothacker, Supplementheft 2: Enzyklopädie. Zur Geschichte eines philosophischen und wissenschaftstheoretischen Begriffs, Bonn, 97f.

71 Die Modalität der Begriffe endlich, wie sie hier erscheinen, bewerkstelliget sich gar nicht in der Werkstätte des Verstandes. Ueber Möglichkeit und Unmöglichkeit, Nothwendigkeit und Zufälligkeit maasst sich blos die Vernunft einen Ausspruch an; Daseyn und Nichtseyn aber liegt allem Prädiciren zum Grunde. Das Schema der Kategorien geht also nicht aus Einem Princip, dem wirkenden Verstände hervor; es ist nicht systematisch.187

An vierter Stelle gibt Naumann an, daß die Kategorien Kants den grundsätzlichen Umfang möglicher Erfahrungen bestimmen sollen, da über sie hinaus nichts denkbar sei, so daß sie als Synthesis a priori eine Orientierung in der »Mannigfaltigkeit der Anschauungen« 1 8 8 erlaubten und gleichzeitig »einen Probierstein der Richtigkeit und Echtheit aller hineinpassenden Erkenntnisstücke abgeben« sollen. 189 Dies widerspricht der von Herder in seiner vierten Kategorie des Maßes vertretenen Annahme, daß die Materie des Denkens, d. h. die konkreten Erkenntnisgegenstände, in einem unendlichen Prozeß immer genauer erfaßt werden können, wobei die verschiedenen Erkenntniskräfte zusammenwirken, so daß auf diese Weise die Wahrheit des Erkenntnisgegenstandes garantiert wird. Unter Punkt fünf nimmt Naumann auf die Tatsache Bezug, daß von Kant Denken und Urteilen gleichgesetzt werden. Dieser spricht in der Kritik der reinen Vernunft von »dem Vermögen zu urteilen (welches eben so viel ist, als das Vermögen zu denken)«. 190 Wenn Herder hingegen in der »Physiologie der Erkenntniskräfte« Denken mit Sprechen gleichsetzt, worunter er das Aussprechen der in der Wirklichkeit erkannten Merkmale versteht, dann bezieht er das Denken auf sämtliche gegenstandsbezogenen Erkenntnisprozesse des Menschen und nicht nur auf das rein formale Schlußfolgern. 191 Als sechsten Punkt der im Hinblick auf die Sprachwissenschaft relevanten Aspekte der Kategorienkonzeption Kants führt Naumann an, daß die natürliche Sprache des Menschen in der Kritik im Gegensatz zu Aristotoles' Entwurf nur eine sekundäre Rolle spiele, da die Objektsprache nicht der Spiegel der reinen Vernunft sein könne, sondern nur Ausdruck der praktischen Vernunft. Die Widerlegung dieser Annahme gehört zu den Hauptanliegen Herders in der gesamten Metakritik, in der er die These vertritt, daß die symbolische Erkenntnis für jeden Wissenserwerb unverzichtbar sei. Herder hebt in Ablehnung der a priorischen und definitiven Kategorienkonzeption Kants, in der die allgemeinen Begriffe des Verstandes erfaßt werden sollen, die Entwicklung von Kategorien als eine Leistung des Zusammenwirkens von Sinnlichkeit und Verstand hervor. Mittels der Sprache sollen dabei

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Metakritik, 78f. Vgl. KrV, B 102-B 106/A 77-A 80. Vgl. KrV, B 90/A 65. Vgl. KrV, B 106/A 80f. Diese Textstelle wird von Herder in der Metakritik zitiert auf Seite 78. Vgl. die Ausführungen in dieser Arbeit in dem Kapitel 2.2.1. Naumann kommentiert die Annahme Kants mit dem Hinweis, daß deren Widerlegung ein Grundanliegen der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts, die vor allem an historischen Fragen von Sprachen interessiert war, gewesen sei. Vgl. Naumann 1986, 27.

72 die Begriffe nicht nur zum Ausdruck gebracht, sondern auch gebildet werden, und diese Funktion habe wiederum die Struktur der Sprache geprägt: die Substantive sind nach Herder mit ihren Fallendungen und den Präpositionen als selbständige Worte aus den Begriffen der ersten Kategorie hervorgegangen, die Adjektive, welche durch Hinzufügung von Suffixen und Artikeln zu neuen Substantiven werden können, gehen auf die zweite Kategorie von Begriffen zurück, die Verben als Aktiva und Passiva sowie in der substantivierten Form sollen Ausdruck der an den Dingen bemerkten Kraft und mithin aus der dritten Kategorie entstanden sein und schließlich die Zahlwörter, Grade und eine Reihe von Partikeln, die nach Herder aufgrund der Kategorie des Maßes gebildet wurden. Somit kann die Sprache aufgrund von Herders »offener« Kategorienkonzeption, die die Grundbedingungen der Ausbildung und Fortentwicklung von Erkenntnis zu erfassen sucht, »ein Ausdruck des anerkennenden Verstandes« 192 sein, der die menschlichen Erkenntnisfaktoren widerspiegelt. Die den Kategorien zugrundeliegenden begriffsbildenden Verstandeshandlungen führen somit, wie oben bereits angedeutet wurde, zu der Ausbildung von grammatischen Kategorien in der Sprache, die von Herder in einem »Grundriß der Sprache als Typus einer zusammenhangenden Verstandeshandlung« 193 zusammengefaßt werden. Der »Grundriß der Sprache« ist nach Herder die Grundlage für die Ausbildung syntaktischer Konstruktionen, wie sie in Johann Werner Meiners Versuch einer an der menschlichen Sprache abgebildeten Vernunftlehre oder Philosophische und Allgemeine Sprachlehre entwickelt werden, dessen Werk Herder unter Angabe des Titels sowie des Erscheinungsjahres 1781 in diesem Zusammenhang erwähnt: 194 Ein ziemlich unbekannt gebliebenes Buch: Versuch einer an der menschlichen Sprache abgebildeten Vernunftlehre von J.W. Meiner, Leipz. 1781. verdienet hier rühmliche Erwähnung. In manchen Theilen kam der Verfaßer weiter, als Harris und andre kamen; das Schätzbarste des Werks ist der Ueberblick des Ganzen. 195

Herbert E. Brekle räumt ein, daß Herders Feststellung, dieses Werk sei relativ unbekannt geblieben, für den philosophischen Bereich zutreffen könne, nicht

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Vgl. Metakritik, 126. Metakritik, 127. Meiner, Johann Werner 1781: Versuch einer an der menschlichen Sprache abgebildeten Vernunftlehre oder Philosophische und Allgemeine Sprachlehre, Leipzig (FaksimileNeudruck mit einer Einleitung von Herbert E. Brekle, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971). Herbert E. Brekle weist in seiner Einleitung zu dem Faksimile-Neudruck der Ausgabe von Meiners Schrift Leipzig 1781 auf diese Wertschätzung äußernde Erwähnung in Herders Metakritik hin. Vgl. unter 3. Einige kritische Stimmen zu Meiners Versuch, 16*. Metakritik, 128. Herder vergleicht Meiners Werk mit der 1751 von James Harris verfaßten Arbeit Hermes, or a philosophical inquiry concerning language and universal grammar, einer universellen Grammatik, in der eine Untersuchung der Wortklassen vorgenommen wird, die Harris auf vier einschränkt, nämlich die »Substantives«, d. h. Nomen und Pronomen, die »Attributives«, also Verb, Partizip, Adjektiv und Adverb, die »Definitives« oder Artikel sowie die »Connectives«, worunter Präpositionen und Konjunktionen zusammengefaßt werden. Vgl. Ricken 1990, 39f.

73 jedoch für den der Philologie, 196 womit er die Einschätzung von Bernd Naumann teilt, der davon ausgeht, daß Meiner »vielleicht der bekannteste deutsche Allgemeine Grammatiker gegen Ende des 18. Jahrhunderts war«, weil er »mit seiner Allgemeinen Grammatik didaktische Ziele verband und weil er über Adelung großen Einfluß auf die Grammatikschreibung des Deutschen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausübte.« 197 Daneben wird die Bedeutung, die Meiner der Philosophischen Sprachlehre, »weil sie alles das, was sie an der menschlichen Sprache findet aus der Denkungsart des menschlichen Verstandes erkläret«, im Hinblick auf die Logik einräumt, 198 zu Herders positiver Schätzung dieses Universalgrammatikers beigetragen haben. Darüber hinaus gilt Meiners Grammatik als die einzige der zahlreichen Allgemeinen Grammatiken in Deutschland um 1800, die, wenn auch in der Tradition der rationalistischen Philosophie stehend, nicht als mehr oder weniger von Kant beeinflußt anzusehen ist.199 Meiner, der seinerseits keinerlei Quellen nennt, auf die er Bezug nimmt, hat sich Naumann zufolge während seiner Studienzeit in Leipzig mit der Philosophie Leibniz' und Christian Wolfis auseinandergesetzt. Herders Erwähnung dieses Philosophen und Sprachwissenschaftlers, der in dem Erscheinungsjahr der Kritik der reinen Vernunft Kategorien als solche der Grammatik bestimmt, ist somit naheliegend; gleichzeitig kann sie jedoch als Indiz dafür berücksichtigt werden, daß Herder durchaus auch mit den aktuellen Diskussionen der Sprachtheorie am Ende des 18. Jahrhunderts vertraut war. Meiner bestimmt die »philosophische Sprachlehre« in Abgrenzung zu den »harmonischen Sprachlehren«, die den Vergleich verschiedener Sprachen zu ihrem Gegenstand machen, als solche, bei der »ihre gemeinschaftliche Regeln aus der allgemeinen Beschaffenheit des menschlichen Denkens« a priori abzuleiten sind, was aus diesem Grund möglich sei: Denn alle Sprachen sind in der That nichts anders, als so viele von einem und eben demselben Originale, welches unser Denken ist, aufgenommene Kopien. Folglich müssen ihre Lehrsätze auf dem Wege der Meditation a priori und keineswegs a posteriori gefunden werden, und wenn sie erfunden worden sind, dann müssen sie erst gegen die Erfahrung verglichen und durch sie bestätiget werden. 200

Wenn also sowohl die »harmonische Sprachlehre« als auch die »philosophische« in Regeln und Lehrsätzen eine Beschreibung der Gemeinsamkeiten von Sprachen vornehmen, dann unterscheidet sich letztere von der »harmonischen« dadurch, daß sie die Gründe der in den Sprachen anzutreffenden universellen Eigenschaften und Regeln angibt. Meiner beschreibt die Vorgehensweise bei der Erstellung seiner »philosophischen Sprachlehre« unter nochmaliger Heranzie-

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Vgl. Meiner 1971, 16*. Naumann 1986, 62. Meiner 1971, Vorrede, LXII. Vgl. Naumann 1986, 61. Meiner 1971, Vorrede IV.

74 h u n g des Vergleichs z w i s c h e n Original, d e m D e n k e n , und Nachahmung, den Sprachen: Ich betrachte zuvörderst das Original nach allen seinen Eigenschaften, und nachdem ich alles das Mannichfaltige darinnen entdecket habe, es mögen >wesentliche< oder >zufällige< Stücke seyn, so sammle ich das Wesentliche und sondere es von dem Zufälligen ab; dann schließe ich also: wenn von diesem Originale Abdrücke vorhanden sind, so müssen sich an diesen Abdrücken alle diese Eigenschaften befinden, die ich an dem Originale gefunden habe, wenn anders die Abdrücke getreu verfertiget sind. Freylich können die Abdrücke in Ansehung der Vollkommenheit sehr von einander unterschieden seyn, und einige mehr, andere weniger dem Originale entsprechen. Ich untersuche also nunmehro die Kopien nach dem Originale und sehe, ob die Eigenschaften des Originals, die ich zuvor aufgesucht und aus einander gesetzet habe, sich auch alle in den Kopien ausgedrückt finden; >dieß ist das Verfahren der philosophischen Sprachlehrer.201 In seinen A n m e r k u n g e n zu dieser Textstelle weist N a u m a n n darauf hin, daß »die A u f g a b e des philosophischen Sprachwissenschaftlers im ständigen Verg l e i c h z w i s c h e n natürlicher und rationaler Idealsprache liegen m ü s s e « . 2 0 2 Entsprechend d e m K o n z e p t aller rationalistischen Sprachtheorien ist dieser Aspekt bereits v o n Leibniz eingebracht worden: [...] il est vray que celuy qui écrirait une Grammaire Universelle feroit bien de passer de l'essence des langues à leur existence et de comparer les Grammaires de plusieurs langues: de même qu'un Auteur, qui voudroit écrire une Jurisprudence universelle tirée de la raison, feroit bien d'y joindre des paralleles des loix et coustumes des peuples, ce qui serviroit non seulement dans la practique, mais encor dans la contemplation et donneroit occasion à l'Auteur même de s'aviser de plusieurs considérations, qui sans cela luy seraient echappées. 203 Der Z w e c k e i n e s solchen Vergleichs z w i s c h e n allgemeiner und natürlicher Sprache wird bei Lambert v o n dem Verfassen einer » A l l g e m e i n e n Grammatik« zu der Beschreibung der notwendigen, d. h. systematisch-regelhaften und der Wahrheitserkenntnis entsprechenden s o w i e derjenigen willkürlichen Z ü g e ei-

201

202 203

Meiner 1971, Vorrede VI. Bernd Naumann führt aus, inwiefern sich dieses Verfahren für die deutsche Sprachwissenschaft der folgenden Jahrzehnte als äußerst fruchtbar erwiesen habe: »In diesem rationalistischen Rahmen wurden alle Kategorien der traditionellen Grammatik neu definiert und expliziert, hatte man ein Kriterium, Ausnahmen und Regeln, Peripheres und Relevantes festzulegen, konnte man das Reflexionsvermögen von Schülern durch Sprechen über Sprache beeinflussen.« Naumann 1986, 63. Naumann 1986, 63. Nouveaux Essais sur l'Entendement, Livre III. Des Mots, Chap. V. in: Leibniz 1978, V. Bd., 280f. Die Übertragung dieser Passage von Ernst Cassirer lautet: »Wer eine allgemeine Grammatik schreiben wollte, würde allerdings gut tun, nicht bloß das Wesen der Sprache, sondern auch ihre tatsächliche Existenz ins Auge zu fassen und die Grammatiken mehrerer Sprachen zu vergleichen, ebenso wie ein Autor, der eine allgemeine, aus der Vernunft geschöpfte Jurisprudenz schreiben wollte, wohl daran tun würde, Parallelen der Gesetze und Gebräuche der Völker hinzuzufügen, was nicht allein in der Praxis, sondern auch in der rein theoretischen Betrachtung von Nutzen wäre und dem Autor selbst Gelegenheit geben würde, auf verschiedene Erwägungen zu kommen, die ihm ohne dies entgangen sein würden.« S. Leibniz, Gottfried Wilhelm 1971: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Übersetzt, eingeleitet und erläutert von Ernst Cassirer, Hamburg, 334.

75 ner natürlichen Sprache, die dem nicht gemäß sind, verschoben. Lambert hält die Erfindung einer allgemeinen, d. h. allgemein für alle Menschen verständlichen Sprache sowie einer allgemeinen Sprachlehre oder »gramatica uniuersalis« für sehr bedeutsam und seine Beschreibung der Erstellung einer solchen Grammatik liest sich wie das Konzept des von Meiner vorgelegten Entwurfs: »Die allgemeine Sprachlehre müßte nun vornehmlich das >Natürliche< und >Nothwendige< in der Sprache zum Gegenstande nehmen, und das >Willkührlicheeine Geschichte des menschlichen Verstandes«< aufzufassen sein soll, »weil die Sprache eine sinnliche Abbildung unserer Gedanken« und daher »aus der zunehmenden Vervollkommung der Sprache immer auf die vorausgegangene Vervollkommung der Denkungsart eines Volkes« 206 zu schließen sei, so daß mit der Sprache die Einsicht der Menschen jeweils steige und falle, 207 dann deutet sich hierin auch Herders Überzeugung an, daß »in Bildung der Begriffe selbst die gesammte Sprache ein Ausdruck des anerkennenden Verstandes seyn und als solcher ihre lebendige [d. h. veränderliche] Form bewähren« 208 muß. Die allgemeine philosophische Sprachlehre beweise dies, so Herder, aus und in jeder

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Semiotik, § 71, 44f. Semiotik, § 127, 75. Auch Herder geht es, wie den bisherigen Ausführungen in dieser Arbeit zu entnehmen ist, nicht um Meiners Entwurf einer Allgemeinen Grammatik, sondern vielmehr um das zugrundeliegende Prinzip, Sprache in ihrer Bestimmtheit durch das Denken und somit als »Kopie« oder »Spiegel« des Verstandes zu betrachten. 206 Ygj d e i n e r 1971, Vorrede VHIf. und XXXVIf. Meiners Formulierung, die Vollkommenheit einer Sprache sei »gleichsam der Maaßstab womach man die Verdienste der Völker, die sie sich um die Verfeinerung der menschlichen Denkungsart erworben haben, richtig abmessen und beurtheilen kann« ist vergleichbar mit derjenigen Sulzers: »Da die grammatikalische Vollkommenheit einer Sprache das Werk der Vernunft und des Genies ist, so kann sie zum Maßstabe dienen, um den Grad der Vernunft und des Genies eines Volkes darnach abzumessen.« Vgl. Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß, 196. 207 Vgl. Meiner 1971, Vorrede XXXVI. 208 Metakritik, 126. 205

76 menschlichen Sprache. 209 Meiner begründet seine Annahme der Parallelität von Sprachtheorie und der Entwicklung der menschlichen Verstandesfähigkeit durch einen Brückenschlag zwischen den unterschiedlichen Entwicklungsstadien der Sprachen und der philosophischen Sprachlehre unter Rückgriff auf sprachgenetische Überlegungen, wobei er ebenso wie Sulzer ontogenetische Beobachtungen als übertragbar auf phylogenetische Verhältnisse betrachtet: U m nun die Zunahme und das Wachsthum der menschlichen Sprache zugleich an dieser philosophischen Sprachlehre< mit abzubilden, bin ich eben den Weg in derselben gegangen, den die Natur mit der Sache selbst genommen hat. Ich fieng nämlich mit dem an, womit alle Sprachen anfangen mußten, und worinn sie also alle miteinander übereinstimmen, und stieg von da mit meiner Betrachtung zu den immer größern Vollkommenheiten hinan, die die menschliche Sprache nach und nach erlanget hat. 2 1 0

Entsprechend seines a priorischen Ansatzes in der philosophischen Sprachlehre, der - abweichend von Herder - von dem Postulat einer selbständigen »Kraft des Geistes« ausgeht, bestimmt Meiner die »theoretischen Begriffe, mit denen die Konstituenten eines Satzes in ihrer semantischen und syntaktischen Funktion definiert werden können« in Orientierung an denkpsychologischen Motivationen, die als Grundlage der Beschreibung sprachlicher Ausdrücke Geltung haben:211 Alle Nationen fanden durch das innere Gefühl, 1) daß, wenn sie denken, sie in ihren Gedanken allezeit etwas >unselbständigeres< mit etwas >selbständigern< entweder verbinden oder von ihm trennen, und, weil diese Verbindung oder Trennung beyder Dinge ein >Satz< genennet wird, sie also allezeit im Satze denken. Wollten sie nun einen gedachten Satz mit Worten ausdrücken, so sahen alle ein, daß dazu zweyerley Wörter erfordert würden: >1 )< solche, die etwas, es mag von Natur >selhständig< seyn oder nicht, dennoch als >selbständig< vorstellen, welche deswegen Substantiua genennet werden; >2)< solche, die etwas als >unselbständig< vorstellen. Es haben aber diese letztern zweyerley Gebrauch, a) entweder, daß wir die selbständig gedachten nur dadurch kenntbar machen, und von einander unterscheiden, welches Adiectiua oder Epitheta heißen, b) oder daß wir sie im Satze an die Stelle des unselbständig gedachten Dinges setzen, und also zum Prädikate gebrauchen, welche Verba genennet werden; wobey man zugleich mit anmerkt, daß ein Adjectiuum auch zum Prädikate gebraucht werden könne, und also den Verbis gleich wird, wenn mit ihm esse verbunden wird, und daß also Adjectiua und Verba nicht in Ansehung der Begriffe, sondern nur in Ansehung des Gebrauchs von einander also unterschieden sind, daß die Verba nur zu Prädikaten allein, und zu weiter nichts in der Welt; ein Adjectiuum aber zu zweyerley gebraucht werden kann, I) zu Epithetis, 2) zu Prädikaten, wenn esse damit verbunden wird. 2 1 2

Diese Orientierung Meiners in der philosophischen Sprachtheorie an den Strukturen des Denkens begründet ferner dessen Gleichsetzung von Sprachlehre und der »praktischen und sinnlichen« 213 Logik, auf die bereits hingewiesen wurde. Meiner führt aus, daß das logische Denken mit den beiden Begriffen eines als selbständig gedachten Subjekts und eines unselbständigen Prädikats 209 210 211 212 213

Metakritik, 126. Meiner 1971, Vorrede, XXXVII. Vgl. Meiner 1971, 30*. Meiner 1971, Vorrede, XXXVIIf. Vgl. Meiner 1971, LXII.

77 operiere. Er weist dabei explizit auf den Unterschied zwischen einem metaphysischen und einem logischen Subjekt hin: »ein >metaphysisches< ist an sich betrachtet >selbständige ein >logisches< wird nur in Absicht auf das Prädikat als selbständig gedacht, seiner Natur nach aber kann es eben sowohl was >unselbständigesselbständiges< seyn.« 214 Daher müsse die Logik nicht nur zu einem Denken über die Dinge der Welt führen, wie sie in der Ontologie entsprechend ihres realen Seins erfaßt werden, sondern auch die Erkenntnis der Dinge »nach der Stelle, die sie in dem abzufassenden Urtheil einnehmen« 215 lehren. Dementsprechend zeigt Bernd Naumann, daß die besondere Bedeutung dieses Ansatzes nicht darin besteht, daß Meiners Verständnis des Satzes zugleich eine Definition des Denkens sei, da dies auch für andere allgemeine Grammatiken gelte, sondern darin, daß die Wortarten explizit und ausschließlich vom Satz her definiert werden. Die Konsequenz sei, daß sich die grammatischen Kategorien »Substantiv« und »Adjektiv« nicht ontologisch unterscheiden ließen als Benennungen für Substanz und Qualität, sondern funktional in Bezug auf den Satz. Ein Substantiv sei dann das Selbständige in Relation zu allen übrigen Wortarten, nicht die Bezeichnung für Selbständiges in seiner Existenzform. Herder hat die Bedeutung dieses Ansatzes, die nach Naumann beispielsweise von Johann Christoph Adelung nicht erkannt wurde,216 vermutlich gesehen, da er den Substantiv, Adjektiv, Verb und Partikel umfassenden »Grundriß der Sprache« als sich selbst zurückführend kennzeichnet auf das »was jeder Satz (Proposition) enthält, auf ein Selbstständiges und minder Selbstständiges, durch eine Bezeichnung der Kraft (verbum) getrennet oder verbunden«.217 Herder bezieht somit die Wortarten als eine »zusammenhangende Verstandeshandlung«218 ebenfalls auf die Satzstruktur. Diese Auffassung ist für Herder mit der Erklärung, daß Sprache »an Gegenständen« entwickelt wird insofern vereinbar als sie aufgrund der dem Menschen gegebenen Erkenntniskräfte »a priori erfunden« wird und die Wortarten den in den Kategorien erfaßten Erkenntnisbedingungen entsprechen. Die »verknüpfende Vernunft« vermehre sie und verbinde sie anschließend enger miteinander.219 Diese Sicht wird wiederum ermöglicht durch Herders Konzept der »Physiologie der Erkenntniskräfte«, das die Gegenstandserkenntnis erklärt, sowie seine Annahme, daß dem Verstand eine »priorische Kraft« zukommt, die darin bestehe, »ein ihm gegebnes und mit ihm gegebnes posterius zu erfaßen und zu bezeichnen«.220

214 215 216 217 218 219 220

Meiner 1971.LXIII. Meiner 1971, LXIII. Naumann 1986, 63ff. Metakritik, 128. Metakritik, 127. Vgl. Metakritik, 128. Metakritik, 128.

78 3.

Das Zusammenwirken der Erkenntniskräfte

3.1. Herders Auseinandersetzung mit Kants Entwurf Wenn noch »in den Kanones von Zum Sinn des Gefühls die Abgrenzungsverhältnisse zwischen dem >Denken< und dem >Fühlen< nicht deutlich geschieden« sind, und in der Schrift Vom Erkennen und Empfinden »das Problem des Dualismus von Ausdehnung und Seele« vermieden wird, 221 dann ist Herders Darstellung der »Physiologie der Erkenntniskräfte« in der Metakritik eine kontinuierliche Weiterentwicklung der ersten Klärungsansätze der Frage, wie das Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand im Menschen zu Ideen führen kann in den früheren Schriften Herders. Es ist daran zu erinnern, daß diese Frage auch von Johann George Sulzer in der Abhandlung über den Begriff der Vernunft als höchst problematisch gekennzeichnet worden war. Herder geht von Anfang an in den Kapiteln zwei, drei und vier mit den Titeln Metakritik der sogenannten Transzendental=Aesthetik, Metakritik der sogenannten Transscendental=Analytik und Vom Schematismus reiner Verstandesbegriffe explizit von dem Zusammenwirken der verschiedenen, sowohl niederen als auch höheren Erkenntniskräfte des Menschen aus, da seiner Ansicht nach dem Menschen Anschauung nur dann möglich ist, wenn sich das Denken auf einen Gegenstand bezieht: »Ohne Denken und ohne Gegenstand giebts keine Anschauung;« 222 Er wählt damit einen grundsätzlich anderen Ansatz als Kant, der postuliert: »Unsre Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts« 223 und daraus folgert, daß es a priorische Anschauungen geben müsse. Die von Herder in dem siebten Kapitel Vom Ding an sich, neben und hinter der Erfahrung nochmals vertretene Auffassung, »Begriffe des Verstandes, d. i. wahre Gedanken entspringen nur an Gegenständen durch Anerkennung des Verstandes«224 begründet seine Annahme, daß Begriff und Vorstellung des Verstandes als dasselbe zu verstehen sind. Kant nimmt dahingegen einen Gegensatz an einerseits zwischen dem »Phänomenon«, einem Gegenstand in einer Beziehung, und andererseits der Vorstellung ohne Gegenstand, dem Ding an sich, das als »Noumenon« bezeichnet wird.225 Explizit grenzt Kant sich ab von der Verwendung »der Ausdrücke eines mundi sensibilis und intelligibilis« - eine Einteilung der Welt, zu der diejenige der Gegenstände in Phänomena und Noumena berechtige226 - »in den Schriften der Neueren«, in denen die »Sinnenwelt« als der »In-

221 222 223 224 225 226

Vgl. Herder 1987, 1005f. Vgl. Metakritik, 170. KrV, B 7 4 / A 5 0 , 51. Vgl. Metakritik, 170. KrV, B 306. Vgl. KrV, Anm.: A 249f.

79 begriff der Erscheinungen« dargestellt werde, sofern er Gegenstand der Anschauung sei, und die »Verstandeswelt« als der »Inbegriff der Erscheinungen« aufgefaßt werde, sofern der Zusammenhang nach allgemeinen Verstandesgesetzen gedacht werde. 227 Dieses Verständnis der Worte »Phänomenon« und »Noumenon« widerspricht demjenigen Herders, der unter Berufung auf die ursprüngliche Wortbedeutung in der griechischen Sprache »Phänomenon« als das Erscheinende versteht und »Noumenon« als das von dem Verstand Gedachte. 228 Von dieser Bedeutung der beiden Termini ausgehend, vertritt er die Auffassung: »den Begriff selbst außer dem Phänomenon als ein Noumenon zu suchen, ist kein VOT||j.a, kein Werk des Verstandes.« 229 In seiner Erklärung, wie dieses »abentheuerliche Misverständniß, sich an Noumenen Vorstellungen ohne Gegenstand, Dinge an sich selbst< zu denken«23,0 in der Kritik der reinen Vernunft entstehen konnte, verweist Herder nochmals darauf, daß der Verstand Begriffe aufgrund bestimmter Merkmale erfasse und in Worten festhalte. Aus einem solchen Begriff könnten wiederum einige Merkmale ausgesondert und dieser »abgezogene Begriff« mit einem eigenen Wort bezeichnet werden, womit jedoch nicht »Vorstellungen ohne Gegenstand, Dinge an sich selbst« gegeben seien, sondern Begriffe vorlägen, die zwar nicht als eigenständige Gegenstände, wohl aber an Gegenständen zu erkennen seien: »je höherer Art und Ordnung sie sind, an desto mehreren erscheinen sie; wahre Kategorieen endlich, als unsre allgemeinsten Verstandesbegriffe, haben zum Kriterium, daß sie allenthalben erscheinen«, denn sie seien »ihrer Natur nach allgeltend«.231 Keineswegs sei es der Fall, daß der Verstand »außer oder hinter den Worten einen Sinn zu dichten« 232 habe, womit Herder auf die von ihm angenommene Verbindung von Verstandestätigkeit und Sprache Bezug nimmt. Kants Ansatz verwirft Herder unter Hinweis auf die seiner Ansicht nach klareren Lösungen des Zusammenhangs von Körper- und Verstandeswelt bei Berkeley, Spinoza und Leibniz als eine Verwirrung der Bereiche des Sinnlichen und des Verstandes: »Das Ding an sich im Raum ertasten zu wollen, ist eben so unverständlich, als die ganze Sinnenwelt durch Raum und Zeit a priori zu formen«. 233 Als »das Bewußtsein des Verhältnisses gegebener Vorstellungen zu unseren verschiedenen Erkenntnisquellen« 234 bestimmt Kant weiterhin in dem Anhang. Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe durch die Verwechslung des empirischen Verstandesgebrauchs mit dem transzendentalen die Reflexion oder

227 228 229 230 231 232 233 234

KrV, B 312/A 257. Vgl. Metakritik, 171. Metakritik, 173. Metakritik, 171. Metakritik, 172. Metakritik, 173. Metakritik, 174. KrV, B 316/A 260.

80 Überlegung. 235 Einer solchen Überlegung oder »Unterscheidung der Erkenntniskraft, wozu die gegebenen Begriffe gehören« bedürfen nach Kant alle Urteile sowie alle Vergleiche, die der Mensch fällt und vornimmt, da die richtige Bestimmung des Verhältnisses, in welchem die Begriffe in einem Gemütszustand zueinander gehören, darauf beruhe, ob sie in der Erkenntniskraft der Sinnlichkeit oder der des Verstandes subjektiv einander entsprechen.236 Die Stelle eines Begriffes in der Sinnlichkeit oder im Verstand bezeichnet Kant in seiner Anmerkung zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe dann als ihren »transzendentalen Ort« und die Beurteilung dieser Zugehörigkeit zu den verschiedenen Erkenntniskräften wird in der sogenannten »transzendentalen Topik« vorgenommen, die ihrerseits das Auftreten »transzendentaler Amphibolien«, d. h. von Verwechslungen des reinen Verstandesobjektes mit der Erscheinung verhindern soll.237 Herder interpretiert dahingegen die »Topik der Begriffe« als ein Verzeichnis der »Erfordernisse (requisitorum) und Theiloperationen [...], durch welche jene Eine Verstandeskraft zu ihren Begriffen gelangte«.238 Wenn, wie er annimmt, für den Erwerb von ersten Begriffen des Menschen das Erkennen und Wiedererkennen von Dingen vorauszusetzen ist und sie durch das menschliche Vermögen, Vergleiche zu ziehen und Unterschiede zu erkennen, zustande kommen können, dann handelt es sich bei der Topik um Hilfsbegriffe der Verstandesoperation, die »Zustände und Lagen des Daseyenden, Daurenden«,239 d. h. konkrete Umstände des Existierenden bezeichnen. Dabei spiegeln sich seiner Ansicht nach die Verhältnisse der Dinge, in denen diese von dem Verstand erkannt werden und in deren Verknüpfung seine Aufgabe besteht, in der Struktur der Sprache wieder, was Herder unter Hinweis auf die etymologischen Unter-

235

236 237

238 239

Auf die zentrale Bedeutung des Anhang. Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe für die ganze Transzendentale Logik und - an der Schnittstelle zwischen Transzendentaler Logik und Transzendentaler Dialektik stehend - für die gesamte Transzendentalphilosophie ist von Heinz-Jürgen Hess hingewiesen worden, obwohl auf den Anhang, wie Hess vermerkt, in den Kommentaren selten ausführlich eingegangen werde. Vgl. Hess, HeinzJürgen 1981: Zu Kants Leibniz-Kritik in der »Amphibolie der Reflexionsbegriffe«, in: Beiträge zur Kritik der reinen Vernunft 1781-1981, hg. von Ingeborg Heidemann und Wolfgang Ritzel, Berlin/New York, 200-232, 205. Vgl. KrV, B 317/A 261. Vgl. KrV, B 324ff./A 268ff. Kants Einführung der »Transzendentalen Topik« ist gleichzeitig eine Voraussetzung seiner fundamentalen Kritik an Leibniz in dem Amphibolie-Kapitel, dem er vorwirft, geglaubt zu haben, »der Dinge innere Beschaffenheit zu erkennen, indem er alle Gegenstände nur mit dem Verstände und den abgesonderten formalen Begriffen seines Denkens verglich«. Vgl. KrV, B 326/A 270. Gegen diese Kritik bezieht Herder Position für Leibniz' »Lieblingsidee«, die »Topik der Begriffe« (Metakritik, 186), die dieser, wie Karl-Otto Apel anführt, bereits in seiner Dissertation von 1666 De arte combinatoria als »ars meditandi seu Logica inventionis« auf der Grundlage der Arithmetik systematisiert hat, indem er das Projekt der »Lullischen Kunst« wiederaufnahm. Vgl. Apel, 1980, 338. Metakritik, 178. Metakritik, 177.

81 suchungen des John Hörne T o o k e 2 4 0 zu den »Verhältniswörtern« oder Präpositionen im E n g l i s c h e n belegt. D i e s e H i l f s b e g r i f f e sind nach Herder somit auch in der Sprache anzutreffen und treten als Präpositionen, Adverbien, Pronomina, S u f f i x e und Adjektive zu den Substantiven hinzu, s o daß sie d e m Sinn e i n e s Satzes Eindeutigkeit verleihen. D i e Funktion dieser B e g r i f f e kann nach Herder daher nicht darin bestehen, die »Sinnen= und Verstandeswelt zu unterscheiden«, da sie » d e m Verstände zugehörend, ihm zu B e s t i m m u n g seiner B e g r i f f e helfen«.241

Konkret soll das

Sein durch Zustände, die Identität und d i e Differenz v o n D i n g e n durch ihre Eigenschaften, Kräfte durch das Z u s a m m e n - bzw. Gegeneinanderwirken s o w i e das Maß durch die Verhältnisse v o n Größen bestimmt w e r d e n . 2 4 2 Wenn Herder »mit dieser Sprach- und Sachähnlichen D e d u c t i o n (denn Materie hören nicht hieher) die g a n z e akritische

Amphibolie

und Form g e -

der Reflexionsbegriffe

und

ihre Topik« verschwinden sieht, dann betrachtet er die objektive Gültigkeit der B e g r i f f e durch ihre Herleitung aus der Erfahrung als erwiesen. D i e s e Herleitung soll anhand der Sprache in Entsprechung zur Sache v o l l z o g e n werden können. Wenn j e d o c h der B e z u g auf reale G e g e n s t ä n d e aus d e m Erkenntnisprozeß a u s g e s c h l o s s e n wird, so werde auch »dieser B a u menschlicher Sprache von ih-

240

John Hörne Tooke wendet sich in den beiden 1786 und 1804 erschienenen Teilen seines Werkes Diversions of Purley, dessen Grundideen er bereits 1778 in A Letter to John Dumming entwickelt hat, gegen die Ansichten von James Harris und James Burnet, Lord Monboddo, wobei er sich eng an dem Empirismus John Lockes orientiert. In seiner Sprachtheorie, in der das Verhältnis von Sprache und Denken von zentraler Bedeutung ist, greift Tooke explizit auf die Grammatik zurück, da er die Sprachtheorie nicht als Bestandteil der Philosophie, sondern als diese selbst ansieht. Wenn Tooke auch Lockes Essay Concerning Human Understanding als einen »pragmatischen Essay« auffaßt, so kritisiert er dennoch dessen Ansatz, Worte als Ausdruck bestehender Ideen zu begreifen, und nimmt im Zusammenhang mit dem Abstraktionsproblem eine Gegenposition ein. Dabei beschreitet er jedoch einen anderen Weg als George Berkeley - der diesen Aspekt ebenfalls zum Anlaß seiner fundamentalen Kritik an Locke nahm - , indem er im Sinne Thomas Hobbes Allgemeinheit als Eigenschaft allein der Bezeichnungen von den in jedem Fall individuellen Dingen ansieht. Tooke bedient sich dabei der Etymologie, die es durch die Rekonstruktion der ursprünglichen Wortbedeutungen aufgrund der Untersuchung ihrer Überlieferung ermöglichen soll zu zeigen, daß sämtliche Wörter in allen Sprachen einschließlich der abstrakten Bezeichnungen auf solche sinnlicher Wahrnehmungen der realen Welt zurückgeführt werden können. Aus diesem Grund kann Tooke auch für die abstrakten Präpositionen konkrete Ursprünge nachweisen. Vgl. zu diesen Ausführungen die Arbeit von Ricken 1990, 47-51.

Es sei jedoch angemerkt, daß der Begriff der Etymologie im 18. Jahrhundert nach heutigem Verständnis sehr weit gefaßt wurde und u. a. das Problem der in der Geschichte verlaufenden Veränderungen des Wortschatzes einbezieht. Vgl. Ungeheuer, Gerold 1980: Lamberts semantische Tektonik des Wortschatzes als universales Prinzip, in: Ungeheuer, Gerold 1990: Kommunikationstheoretische Schriften II, Symbolische Erkenntnis und Kommunikation, hg. von H. Walter Schmitz, Aachen, 175. 241 Metakritik, 179. 242 y g ] Metakritik, 179. Das Sein, die Eigenschaften, die Kräfte und das Maß machen dabei die von Herder in seinen Kategorien aufgeführten Begriffe aus, wie oben gezeigt wurde.

82 rem Grunde aus vernichtet«. 243 Zu jeder Erkenntnis gehört daher »ein Inneres und Aeußeres«, sowohl der Verstand als auch Sinne, womit Herder seine fundamentale Kritik an Kants Ansatz begründet: Eine Philosophie, die dieser Verhältniße nothwendige Verknüpfung trennet, hebt alle Philosophie, ja das Wesen unsres Verstandes selbst auf. [...] Räume ich dies Außer mir weg, also, daß das Universum nur ein Wiederschein meines Innern werde; so bin ich nicht weiter, als wenn ich mein Inneres für einen Wiederschein des Universum erklärte. 244

Als Folge seiner Feststellung, daß Sinnlichkeit und Verstand im Erkenntnisprozeß zusammenwirken müssen, stellt Herder die Frage, ob - wie Kant es in seiner »Topik der Begriffe« tut - zwischen Begriffen der Einbildungskraft und solchen des Verstandes überhaupt eine Grenze gezogen werden kann, wenn, wie er annimmt, zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstand die Einbildungskraft steht, die den geistigen Typus schafft als Abdruck der beiden anderen Vermögen. Dies ist seiner Meinung nach nicht möglich, da die Sprache sich sowohl auf Verstandes- als auch auf Einbildungs- und Sinnenbegriffe und damit auf die entsprechenden drei Vermögen bezieht, so daß »mit Worten« keine Grenze zwischen ihnen gezogen werden könne: »Durchaus bezeichnen in ihr sinnliche Worte die feinsten Begriffe des Verstandes; so daß nicht welches Wort, sondern in welchem Sinn das Wort dort und hier gebraucht werde, den Ort des Begriffs entscheidet.« 245 Damit bindet Herder die Verwendungsmöglichkeiten der Sprache in einerseits konkreter und andererseits übertragener oder metaphorischer Weise an das Bestehen einer Beziehung zwischen Körper- und Geisteswelt, die gleichzeitig als Voraussetzung für die Bezeichnung abstrakter Begriffe durch metaphorische Ausdrucksweisen anzusehen ist, insofern als Worte für sinnlich-konkrete Gegenstände zur Benennung von abgeleiteten Verstandesbegriffen verwendet werden. Eine Unterscheidung der genannten Erkenntniskräfte des Menschen einschließlich der Vernunft könne nur aufgrund der ihnen jeweils eigenen Erkenntnisweise vorgenommen werden, die Herder in einer »Topik der Regionen der Sinne, der Einbildungskraft und des Verstandes« darstellt. 246 Daß es Herder dabei nicht darum geht, den Unterschied zwischen Körper und Geist zu bezweifeln, sondern die Möglichkeit einer Bezugnahme zwischen beiden Bereichen zu begründen, zeigt sich an seinen Ausführungen zu Leibniz' Entwurf der Monaden und der prästabilierten Harmonie am Schluß des hier herangezogenen Kapitels der Metakritik. Wenn in Leibniz' Konzeption die Aufhebung der Voraussetzung von prästabilierter Harmonie zwischen Körper und Geist Ernst Cassirer zufolge dazu führen würde, daß »wir dem flüchtigen und willkürlichen Spiel subjektiver Vorstellungen überlassen [blieben], das

243 244 245 246

Metakritik, 181. Metakritik, 182. Metakritik, 183f. Vgl. Metakritik, 184f.

83 sich niemals in dauernden Regeln der Erkenntnis festhalten und mitteilen ließe«, 247 dann verteidigt auch Herder in diesem Zusammenhang Leibniz' Sicht des Verhältnisses von Körper- und Intellektualwelt gegenüber Kants Kritik: Er, der die Körper= und Geisterwelt sogar trennte, weil er die Wirkung Jener auf diese sich nicht verständlich machen konnte, zwischen beiden aber mittelst der bescheidensten Hypothese allenthalben Harmonie nicht nur zum Grunde setzte, sondern wo er konnte, erwies. 248

So habe Leibniz in den Nouveaux Essais sur V entendement humain »jeden dieser Begriffe nicht nur topisirt, d. i. durch Unterscheidung des Sinnlichen und Unsinnlichen an ihm genau bestimmt und ordnet«. 249 Allerdings ist diese Verteidigung der Monadenlehre Leibniz', in der mit der Annahme der prästabilierten Harmonie eine Parallelität zwischen Körper und Geist hergestellt wird, gegenüber Kants Setzung einer strikten Trennung zwischen diesen Bereichen insofern als rhetorisch zu verstehen, als Leibniz' Lehre durchaus nicht Herders volle Zustimmung findet. 250 Vielmehr will Herder darauf verweisen, daß selbst Leibniz, der »vom Bewußtsein aus, von der >Perzeption< als dem Allbekannten und Allgewissen zur Begriffsbestimmung des >wahrhaft Wirklichem erst vorzudringen« sucht, davon ausgeht, daß sich innerhalb der »Perzeptionen« der Monade diejenige Ordnung herstellt, die »als das Universum der Dinge, als die Phänomene des Raumes, der Zeit, der Materie« zu bezeichnen ist.251 In dem letzten Kapitel der Metakritik kommt Herder im Zusammenhang seiner abschließenden Bemerkungen zu der Frage, in welcher Weise eine Verbindung zwischen Sinnlichkeit und Verstand durch Sprache angenommen werden könne, nochmals auf Leibniz zu sprechen: So sorgsam Leibniz [...] Körper und Geister schied: so wahr und vest band er beide durch die sogenannten dunklen Begriffe (notiones confusas) an einander und unsre Seele ans gesammte Universum. Wie Nebelsterne durchs Fernrohr sich in Milchstrassen auflösen: so entwickelt sich uns aus dunkeln Empfindungen eine Welt von Gegenständen, Farben,

247

248 249 250

251

Einleitung zur Monadenlehre von Emst Cassirer, Bd. 2, 87 in: Leibniz, Gottfried Wilhelm 3 1966: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Übersetzt von A. Buchenau, durchgesehen und mit Einleitungen und Erläuterungen herausgegeben von Ernst Cassirer, 2 Bde., Hamburg 1966. Metakritik, 186. Metakritik, 186. Wie Wolfgang Proß ausführt, kritisiert Herder bereits in dem vierten seiner Fragmente über Wolff, Baumgarten und Leibniz, das 1769 mit dem Titel Uber Leibnitzens Grundsätze von der Natur und Gnade entstand, »das Spiel, das Leibniz treibt, Körper und Geist nicht aufeinander bezogen sein zu lassen, obwohl sie so erscheinen.« Proß weist darauf hin, daß Herder mit seiner Kritik die Grundlage von Leibniz' Monadenidee, nämlich ihre Herkunft aus der stoischen Lehre, bloßgelegt habe. Da Herder bereits zu dem Zeitpunkt der Entstehung dieses Fragments von der wechselseitigen Bezugnahme der Körper- und der Geisteswelt ausgeht, wenn er auch noch nicht die Erklärung durch den Kraft-Begriff Newtons in Lamberts Interpretation vorlegen kann, lehnt er das Grundkonzept der Monadenlehre Leibniz' ab. S. Herder 1987, 851f. Leibniz 1971, XXVIII.

84 Tönen, sobald der Verstand sich zu ihrer Erkennung ein Werkzeug zu verschaffen weiß. 252 Herder hat bei diesen Ausführungen zu der Funktion des Werkzeugs Sprache, dunkle E m p f i n d u n g e n zu bewußten und somit z u klaren und deutlichen B e g r i f f e n zu machen, sicher die Schrift Meditationes

de Cognitione,

Veritate

et

Ideis

v o n Leibniz aus d e m Jahre 1 6 8 4 vor A u g e n gehabt, w e n n er d i e s e Abhandlung hier auch nicht explizit erwähnt. 2 5 3 Dort heißt es: Plerumque autem, praesertim in Analysi longiore, non totam simul naturam rei intuemur, sed rerum loco signis utimur, quorum explicationem in praesenti aliqua cogitatione compendii causa solemus praetermittere, scientes aut credentes nos eam habere in potestate: ita cum Chiliogonum seu Polygonum mille aequalium laterum cogito, non Semper naturam lateris et aequalitatis et millenarii (seu cubi a denario) considero, sed vocabulis istis (quorum sensus obscure saltem atque imperfecte menti obversatur) in animo utor loco idearum quas de iis habeo, quoniam memini me significationem istorum vocabulorum habere, explicationem autem nunc judico necessariam non esse; qualem cogitationem caecam vel etiam symbolicam appellare soleo, qua et in Algebra et in Arithmetica utimur, imo fere ubique. Et certe cum notio valde composita est, non possumus omnes ingredientes eam notiones simul cogitare: ubi tarnen hoc licet, vel saltem in quantum licet, cognitionem voco intuitivam. Notionis distinctae primitivae non alia datur cognitio, quam intuitiva, ut compositarum plerumque cogitatio non nisi symbolica est. 254 Ernst Cassirer führt in seiner Einleitung zu der deutschen Übersetzung der Nouveaux

Essais

sur l'entendement

humain

aus, daß entsprechend der mona-

d o l o g i s c h e n Grundanschauung keine R e d e von einer Einwirkung des Äußeren auf das Innere sein kann, sondern daß d i e »dunklen E m p f i n d u n g e n « e b e n s o w i e die »klaren B e g r i f f e « in der Monade rein metaphysischen Ursprungs sind. Cassirer zitiert aus der Theodicee:

252 253

254

»eine tiefere Besinnung lehrt uns j e d o c h ,

Metakritik, 316. Es kann nicht bezweifelt werdem, daß Herder diese Abhandlung bekannt gewesen ist: er studierte diesen Text ebenso wie die Nouveaux Essais sur /' entendement humain bereits während seiner Studienzeit in Königsberg. Vgl. die Anmerkungen von Wolfgang Proß zu: Fragmente über Wolff, Baumgarten und Leibniz, in: Herder 1987, 847. Leibniz 1978, IV. Bd., 423. In der Übersetzung von A. Buchenau lautet diese Passage: »In den meisten Fällen aber, besonders bei einer längeren Analyse, überschauen wir nicht auf einmal die ganze Natur des Objekts, sondern wenden statt der Gegenstände selbst bestimmte Zeichen an, deren Erklärung wir im einzelnen Falle der Kürze halber zu unterlassen pflegen, wobei wir indeß wissen oder doch annehmen, daß wir sie, wenn notwendig, geben könnten. Denke ich etwa ein Tausendeck oder ein Vieleck von 1000 gleichen Seiten, so betrachte ich nicht stets die Natur der Seite, der Gleichheit und der Zahl Tausend - d. h. der dritten Potenz von 10 - sondern ich brauche jene Worte, deren Sinn mir zum mindesten dunkel und ungenau gegenwärtig ist, für die Ideen selbst, da ich mich entsinne, daß ich ihre Bedeutung kenne, ihre Erklärung aber jetzt nicht für nötig halte. Eine solche Erkenntnis pflege ich als blinde oder auch als symbolische zu bezeichnen; man bedient sich derselben in der Algebra wie in der Arithmetik, ja fast überall. In der Tat können wir, wenn eine Vorstellung sehr zusammengesetzt ist, nicht alle in sie eingehenden Merkmale zugleich denken; wo dies dennoch möglich ist, und in dem Maße wie es möglich ist, nenne ich die Erkenntnis intuitiv. Von den distinkten, primitiven Vorstellungen ist keine andere als intuitive Erkenntnis möglich, während das Denken der zusammengesetzten Vorstellungen für gewöhnlich nur symbolisch ist.« Leibniz 3 1966, Bd. 1., Hamburg, 24f.

85 daß alles, selbst die Wahrnehmungen und Affekte, uns aus unserem eigenen Grunde mit einer vollkommenen Selbsttätigkeit entstehen«. 255 Dennoch hebt die Individualität der Monade das allgemeine Grundgesetz nicht auf. Vielmehr erscheint diese allgemeine »Weltformel« in der einzelnen Monade »als identisch und als abgewandelt« in Abhängigkeit von der Deutlichkeit der Vorstellungen der Monade. Die, wie dem oben angeführten Zitat aus der Metakritik zu entnehmen ist, durch das Werkzeug der Sprache entwickelten deutlichen Vorstellungen der Monade spiegeln somit das allgemeine Gesetz des »einen Universums von Phänomenen« ungebrochen wider, wohingegen ihre dunklen Begriffe die Allgemeinheit der »Weltformel« in mehr oder weniger abgewandelter Form reflektieren. 256 Die Bedeutung, die in Leibniz' Konzept der symbolischen Erkenntnis bereits in der erwähnten frühen Schrift Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis zugesprochen wird - wenn auch unter Hinweis auf die »Blindheit« dieser Erkenntnisform, wie bereits in der Einleitung zu dieser Arbeit erwähnt wurde, da »mittels der zur Erkenntnisgewinnung verwendeten Zeichen die komplexen Erkenntnisgegenstände nicht in vollkommener Deutlichkeit erfaßbar sind« -, 2 5 7 wird in Johann Heinrich Lamberts Neuem Organon noch vor der Erstveröffentlichung der erwähnten Schriften von Leibniz im Jahre 1765 zu seinem Ansatzpunkt in dem dritten Teil seines ersten philosophischen Hauptwerkes, der Semiotik. Hier erfährt die »cognitio symbolica« gegenüber der Einschätzung Leibniz' jedoch eine deutliche Aufwertung aufgrund der oben dargestellten Einsicht Lamberts in die Unentbehrlichkeit von Zeichen für das Denken. 258 In seiner Semiotik oder Lehre von der Bezeichnung der Gedanken und Dinge, deren erstes Hauptstück der Symbolischen Erkennntnis im allgemeinen gewidmet ist, hat Lambert diese vor dem Hintergrund der Beziehung von Sinnlichkeit und Verstand erklärt, die er jedoch nicht mehr durch Rückgriff auf die von Leibniz angenommene prästabilierte Harmonie begründet, und ihre Bedeutung über Leibniz' Ansatz hinausgehend weiterentwickelt und konkretisiert.

255 256 257

258

Emst Cassirer zitiert aus der Theodicee, Teil III (§ 296). Vgl. Leibniz 1971, XXIV-XXVI. Vgl. Juchem, Johann G. 1989: Cognitio symbolica. Die Last der Kreativität, In: Innovationen in Zeichentheorien. Kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Studien zur Kreativität, hg. von Peter Schmitter und H. Walter Schmitz, Münster, 178. Vgl. den Überblick über die Theorie der symbolischen Erkenntnis im 17. und 18. Jahrhundert bei: Juchem 1989, 175-198.

86 3.2. D i e » s y m b o l i s c h e Erkenntnis« in ihrer V e r m i t t l u n g s r o l l e z w i s c h e n S i n n l i c h k e i t u n d Verstand: L a m b e r t s T h e o r i e der M e t a p h e r B e v o r Lamberts A n s a t z in ausführlicher Form zur Darstellung k o m m e n soll, sei j e d o c h auf die Z u s a m m e n f a s s u n g Lamberts seiner Sicht des Problems der B e z i e h u n g von Körper und Geist h i n g e w i e s e n , die er in d e m letzten Brief seiner Korrespondenz mit Kant 2 5 9 darlegt. D i e s e r schriftliche Austausch wurde 1781 in d e m ersten B a n d der Sammlung Johann gelehrter

Briefwechsel,

Heinrich

Lamberts

deutscher

die Johann Bernoulli in z w e i Bänden herausgegeben

hat, veröffentlicht. Herder besaß diese beiden Bände, s o daß von seiner Kenntnis des B r i e f w e c h s e l s z w i s c h e n Lambert und Kant ausgegangen werden darf. 2 6 0 In dem fünften Brief der Korrespondenz z w i s c h e n Lambert und Kant aus d e m Jahre 1 7 7 0 bezieht sich Lambert auf Kants Abhandlung De mundi lis atque intelligibilis

forma

et principiis,

sensibi-

die i h m dieser mit s e i n e m Schreiben

v o m 2. September 1 7 7 0 hatte z u k o m m e n lassen. Es handelt sich bei dieser Arbeit u m Kants Dissertationsschrift, d i e anläßlich seiner B e w e r b u n g u m d i e Professur für Logik und Metaphysik entstanden ist. 2 6 1 In s e i n e m Begleitbrief vertritt Kant diese Ansicht: Die allgemeinsten Sätze der Sinnlichkeit spielen fälschlich in der Metaphysik, wo es doch blos auf Begriffe und Grundsätze der reinen Vernunft ankömmt, eine grosse Rolle. [...] Denn Raum und Zeit und die Axiomen alle [sie] Dinge unter den Verhältnissen derselben zu betrachten, sind in Betracht der empirischen Erkenntnisse und aller Gegenstände der Sinne sehr real und enthalten wirklich die Conditionen aller Erscheinungen und empirischer Urtheile. Wenn aber etwas gar nicht als ein Gegenstand der Sinne, sondern durch einen allgemeinen und reinen Vernunftbegrif [sie], als ein Ding oder eine Substanz überhaupt &c. gedacht wird, so kommen sehr falsche Positionen heraus, wenn man sie den gedachten Grundbegriffen der Sinnlichkeit unterwerfen will. 262

259

260

261

262

Lambert initierte den Briefwechsel mit Kant, wie seinem in der Einleitung zu dieser Arbeit herangezogenen ersten Brief im November 1765 zu entnehmen ist, da er aufgrund seiner Kenntnis der Schriften Kants Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels von 1755 und Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, erstmals veröffentlicht 1763, eine weitgehende Übereinstimmung zwischen Kants Ansichten und seinen eigenen annahm. Der mit großen Unterbrechungen, welche Kant entstehen ließ, verlaufene Briefwechsel wurde von Seiten Lamberts mit der Motivation geführt, sich über »die Verbesserung der Metaphysik, und noch vorher um die Vollständigkeit der dazu dienlichen Methode« (1. Brief) zu verständigen. Allerdings könnte es auch Lamberts Anliegen gewesen sein, einem eventuellen zukünftigen Prioritätenstreit zuvorzukommen. Lamberts ausführliche Erklärung, daß er Kants Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels aus dem Jahr 1755 zu dem Zeitpunkt der Abfassung der 1761 erschienenen Cosmologischen Briefe nicht gekannt habe, legen diese Vermutung nahe. Vgl. Lambert 1968, Briefwechsel, Bd. IX, 336f. Vgl. Bibliotheca Herderiana 1980. Die beiden Bände des Briefwechsels sind unter 3338 und 3339 in Sectio III. Libri philosophice. In Octavo. S. 167 aufgeführt. Vgl. Nachwort des Herausgebers der Ausgabe Kant, Immanuel 1971: Schriften zur Metaphysik und Logik, mit einer Übersetzung von Norbert Hinske, Darmstadt, 681. Lambert 1781-1787: Nachdruck, Bd. IX, 354f.

87 Lambert referiert den Inhalt des fünften Paragraphen des zweiten Abschnitts, der überschrieben ist De sensibilium atque intelligibilium discrimine generatim und bezeichnet als den ersten Hauptsatz der Abhandlung Kants: [...] daß die menschliche Erkenntniß [...] sich in der alten Phoenomenon und Noumenon Zerfälle, und nach dieser Eintheilung aus zwo ganz verschiedenen und so zu sagen heterogenen Quellen entspringe, so daß was aus der einen Quelle kömmt niemals aus der andern hergleitet werden kann. Die von den Sinnen herrührende Erkenntniß ist und bleibt also sinnlich, so wie die vom Verstände herrührende demselben eigen bleibt. 263

Lambert merkt zu der postulierten Allgemeingültigkeit dieses Satzes in dem Sinne, daß die beiden Erkenntnisarten »nirgends« zusammentreffen könnten, an, daß sie aus der Natur der Sinne und des Verstandes bewiesen werden müßte, sofern man a priorisch vorgehen wolle. Da diese jedoch a posteriori erfahren werden müsse, sei bei dem Beweis der Rückgriff auf eine Klassifikation und Aufzählung der Erkenntnisobjekte unerläßlich. Bei diesem Vorgehen komme man tatsächlich auf verschiedene Arten von Wahrheiten, nämlich solchen, die an Ort und Zeit gebunden seien und anderen, die »als ewig und unveränderlich angesehen werden müssen«. 264 In der Alethiologie, dem zweiten, auch als Lehre von der Wahrheit bezeichneten Teil des Neuen Organons, auf das Lambert an dieser Stelle seines Briefes verweist, wird erklärt, daß Ort und Zeit individuelle Bestimmungen der Dinge seien. 265 Lambert gesteht ferner zu, daß an Ort und Zeit gebundene Wahrheiten sinnlicher Art seien. Bezugnehmend auf den fünften Satz in dem § 14 De tempore in der Arbeit Kants unterscheidet sich Lamberts Auffassung des Begriffs der Zeit jedoch wesentlich darin, daß er nicht wie Kant nur die Möglichkeit von Veränderungen auf die Zeit, deren Vorstellung als eine reine Anschauung »vor aller Empfindung, als Bedingung der am Sensiblen vorkommenden Beziehungen« 266 bestimmt wird, zurückführt, sondern aus der Realität von Veränderungen, die er als gegeben, da sie nicht widerlegt sei, ansieht, auf das reale Gegebensein der Zeit schließt. 267 Er nimmt ferner den Umkehrschluß vor, indem aus der Realität der Zeit diejenige von Veränderungen gefolgert wird, denen ein Anfangen und Aufhören eigen sei, was selbst ein »Idealiste« zumindest in Bezug auf seine eigenen Vorstellungen zugeben müsse. Zeit ist Lambert zufolge eine endliche Bestimmung der Dauer, der als solche Realität zukomme, ebenso wie der Ort eine real gegebene Bestimmung des Raumes sei, und die mit der Existenz notwendig verbunden sei. Explizit lehnt Lambert die Annahme ab, daß Raum und Zeit »nur ein Hülfsmit-

263 264 265 266

267

Lambert 1781-1787: Nachdruck, Bd. IX, 358. Lambert 1781-1787: Nachdruck, Bd. IX, 359. Vgl. Alethiologie, § 87, 503. Kant, Immanuel: De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, in: Kant, Immanuel: Schriften zur Metaphysik und Logik, mit einer Übersetzung von Norbert Hinske, Darmstadt 1971, 49. Vgl. Lambert 1781-1787: Nachdruck, Bd. IX, 361.

88 tel zum Behuf der menschlichen Vorstellungen sey«, weil den Veränderungen ihre Realität nicht abgesprochen werden könne. 268 Bezugnehmend auf die Paragraphen 25 und 26 der Schrift Kants, in denen dieser all denen Verstandesbegriffen die Allgemeingültigkeit abspricht, die Beziehungen zu Zeit und Ort aufweisen, da diese nur die Bedingungen der menschlichen Erkenntnis darstellten, nicht jedoch »einer jeden Erkenntnis desselben Gegenstandes notwendig« seien und daher gedachte »Blendwerke sinnlicher Erkenntnis«, hebt Lambert nochmals den realen Charakter von Ort und Zeit hervor. Ferner kritisiert Lambert Kants Einteilung möglicher falscher Erkenntnisse, die auf den in den genannten Paragraphen entwickelten Vorannahmen fußt. Aus der ersten Einteilungsklasse folgt nach Kant der unzutreffenderweise angenommene Grundsatz, daß: »Alles, was ist, ist irgendwo und irgendwann«, durch den alles, auch das intellektuell erkannte Seiende an die Bedingungen des Raumes und der Zeit im Dasein gebunden würde, was sich nicht mit seiner Grundannahme deckt. Gegen Kants strikte Trennung von Sinnenwelt und Gedankenwelt, auf der diese Aufzählung möglicher Erkenntnisfehler basiert, stellt Lambert seine Annahme einer möglichen Beziehung von Körper- und Intellektualwelt, die seine Konzeption der symbolischen Erkenntnis begründet. Die aufgrund ihrer Ähnlichkeit durch Zeichen herstellbare Verbindung zwischen Körperwelt und Intellektualwelt ermöglicht seiner Ansicht nach eine Nachbildung der wirklichen Zeit und des wirklichen Raumes in der Gedankenwelt. Diese »Simulacra« können Lamberts Ansicht nach bei Beweisen absoluter, nicht an Ort und Zeit gebundener Wahrheiten vorkommen und finden in der Körperwelt reale Entsprechungen. Lambert bezeichnet die symbolische Erkenntnis als ein »Mittelding«, d. h. das vermittelnde Element zwischen Empfinden und reinem Denken und skizziert die »ars characteristica« und »ars combinatoria« in ganz ähnlicher Weise, wie Leibniz es in seinen Entwürfen zu einer »scientia generalis« getan hat, als Form des Hinausgehens über die »Grenzen des wirklichen Denkens«, da auf diese Weise Regeln dafür zu erhalten seien, [...] Zeichen von so sehr zusammengesetzten Dingen herauszubringen, daß wir sie nicht mehr überdenken können, und doch versichert sind, daß die Bezeichnung Wahrheit vorstellt. Noch hat sich niemand alle Glieder einer unendlichen Reihe zugleich deutlich vorgestellt und niemand wird es künftig thun. Daß wir aber mit solchen Reihen rechnen, die Summe davon angeben können &c. das geschieht vermöge der Gesetze der symbolischen Erkenntniß. [...] Was man gewöhnlich als Proben des reinen Verstandes ansieht, wird meistens nur als Proben der symbolischen Erkenntniß anzusehen seyn. 2 6 9

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269

Vgl. Lambert 1781-1787: Nachdruck, Bd. IX, 361f. Dieser Differenzierung entsprechen ganz die oben in dem Kapitel über die Kategorien in der »Metakritik« erwähnten zwei Bedeutungen, die Herder für die Begriffe von Raum und Zeit jeweils einführt. Auch die Ablehnung der Konsequenz aus Kants Sicht dieser Begriffe, daß die Dinge individuelle Vorstellungen und nicht reale Gegebenheiten seien, ist bei Herder in diesem Zusammenhang zu finden. Lambert 1781-1787: Nachdruck, Bd. IX, 365.

89 Die von Kant postulierte strikte Trennung der Erkenntnisvermögen der Sinnlichkeit und des Verstandes, von der auf eine letztliche Begrenzung der verstandesmäßigen Erkenntnismöglichkeiten des Menschen geschlossen wird, da das Prinzip der Anschauung - das darin besteht, die Art und Weise des Erscheinens von Dingen, nicht ihr reales Sein zu erkennen - das Kennzeichen der dem Menschen eigentümlichen Erkenntnislage ist, wird somit bei Lambert, wie bereits in dieser kurzen Skizze angedeutet und dann in den philosophischen Hauptwerken ausgearbeitet wird, durch das Konzept der symbolischen Erkenntnis aufgehoben, die eine Verbindung zwischen den Vermögen der Sinnlichkeit und des Verstandes herstellt. Auf die detaillierte Begründung und Erläuterung der Voraussetzungen für die symbolische Erkenntnis, die Lambert bereits 1764 in dem Neuen Organon vorgelegt hat, verweist Herders Erklärung, wie es zu Kants Annahme eines »Dinges an sich« gekommen sei, in der Herder auf eine Merkmalkonzeption der Begriffe zurückgreift, die letztlich die Anbindung abstrakter Begriffe an konkrete Erfahrungsbegriffe ermöglicht, sowie seine Ausführungen über die Sprache in ihrer Verwendung sowohl für Sinnes- als auch für Verstandesbegriffe im Zusammenhang der Diskussion einer Beziehung zwischen Körper und Geist. Die Grundvoraussetzung für jede symbolische Erkenntnis besteht dabei in der Annahme Lamberts, daß der Eindruck, den die Empfindungen äußerer Dinge bei der sinnlichen Wahrnehmung hervorrufen, demjenigen ähnlich ist, den die Vorstellungen der abstrakten und unsichtbaren Gegenstände der menschlichen Verstandestätigkeit hinterlassen: So z. E. stellt man sich eine Sache vor Augen, wenn man sie in der That vor sich stellt, und sie anschaut. Dies heißt von Wort zu Wort, oder im eigentlichen Verstände. Stellt man sie sich aber in Gedanken so lebhaft vor, als wenn sie vor Augen wäre, so ist dieses im figürlichen Verstände.21®

Die Annahme dieser Ähnlichkeit führt zu derjenigen einer Vergleichbarkeit der »Körperwelt« mit der »Intellektualwelt«, wobei die Ähnlichkeit erkennbar sein soll durch das Bewußtsein der Gedanken, die sich bei jeder körperlichen Verrichtung des Menschen einstellen.271 Diese Ähnlichkeit bedingt nach Lambert die Möglichkeit von symbolischer Erkennntnis überhaupt, d. h. von Erkenntnis anhand sprachlicher oder anderer Zeichen. Lambert geht explizit davon aus, 270 271

Alethiologie, § 46, 483. Die Quelle dieses Gedankens, daß die Befindlichkeit des Körpers auf die Sicht geistiger Gegenstände von Einfluß ist, und auf den das Sein als Herders erste Kategorie zurückzuführen ist, ist bei Alexander Gottlieb Baumgarten zu finden, der von der Annahme ausgeht:«Meine Vorstellungen richten sich nach der Stelle meines Leibes.« Der entsprechende Paragraph in der Metaphysik lautet vollständig: Ex positu corporis mei in hoc vniuerso cognosci potest, cur haec obscurius, illa clarius, illa distinctius percipiam, §. 506, 509. i. e. REPRAESENTO PRO POSITV CORPORIS mei in hoc vniuerso.« Baumgarten, Alexander Gottlieb 1779: Metaphysica, Halle, § 512, 176. Den Hinweis auf diese Quelle verdanke ich Wolfgang Proß.

90 [...], daß diese Möglichkeit, abstracte Begriffe mit Empfindungen, und dadurch auch mit ihren Objecten zu vergleichen, uns auf eine nähere Art anzeigt, daß es möglich ist, unsre Erkenntniß, und besonders die abstracte, figürlich zu machen, und sie durch Zeichen vorzustellen, die wenigstens in dieser Absicht wesentlich und wissentschaftlich [sie] sind. 2 7 2

Für Begriffe, die in dieser Weise ähnliche Eindrücke erzeugen, werden dann dieselben Wörter und Ausdrücke verwendet. Infolgedessen erhalten die Wörter doppelte und mehrfache Bedeutungen: »So gedenken wir hohe Gebäude, hohe Töne, hohe rothe Farbe, hohe Gedanken, hohe Würden &c. wegen gewisser Aehnlichkeiten des Eindruckes, den diese Dinge in uns machen, die von ganz verschiedenen Sinnen herrühren.«273 Diesem Beispiel entsprechende Vergleiche können nach Lambert in allen Bereichen der Sprache vorgenommen werden, da hierin ein konstitutives Grundprinzip von Sprachen zu sehen ist. Die meisten Wörter, die abstrakte Begriffe und Gegenstände der Intellektualwelt repräsentieren, beziehen sich in ihrer ursprünglichen Bedeutung auf äußerliche und körperliche Dinge: 274 Da man die Dinge der Intellectualwelt nicht vorzeigen kann, so ist die Vergleichung derselben mit den Dingen der Körperwelt das einzige Mittel, das Bewußtseyn und Vorstellung derselben bey andern zu erwecken, und diese Vergleichung ist desto ungezwungener, je größer die Aehnlichkeit des Eindruckes ist, und je mehr sich diese auf die menschliche Natur überhaupt gründet. 2 7 5

Damit ist der Vergleich mit Gegenständen der Körperwelt Voraussetzung dafür, um über die konkret nicht vorweisbaren Dinge der Intellektualwelt kommuni272

Alethiologie, § 52, 487. Semiotik, § 18, 13. 274 Y g j Alethiologie, § 47, 484. Diese Annahme wurde bereits von John Locke in seinem Essay Concerning Human Understanding formuliert: »It may also lead us a little towards the original of all our notions and knowledge, if we remark how great a dependence our words have on common sensible ideas; and how those, which are made use of to stand for actions and notions quite removed from sense, have their rise from thence, and from obvious sensible ideas are transferred to more abstruse significations, and made to stand for ideas that come not under the cognizance of our senses [...].« Locke, John 1823: An Essay Concerning Human Understanding, in: The Works of John Locke, a new edition, corrected in ten vol., vol. I—III, London (Reprogr. Nachdruck Aalen 1963), Book III, Chap. 1, § 5, Bd. 2, 159. »Vielleicht führt es uns dem Ursprung aller unserer Begriffe und Erkenntnisse ein wenig näher, wenn wir beachten, wie groß die Abhängigkeit unserer Wörter von bekannten sinnlich wahrnehmbaren Ideen ist und wie diejenigen Wörter, die Handlungen und Begriffe bezeichnen, welche von der Sinneswahmehmung weit entfernt sind, doch ihren Ausgangspunkt darin haben. Sie werden von sinnlich deutlich wahrnehmbaren Ideen auf abstrusere Bedeutungen übertragen und müssen nun Ideen vertreten, die unserer Sinneswahrnehmung unzugänglich sind.« S. Locke, John 4 1981: Versuch über den menschlichen Verstand, Drittes Buch, Kap. I, § 5, Hamburg, 2f. Es sei angemerkt, daß auch Johann George Sulzer in seiner bereits ausführlich erwähnten Abhandlung Anmerkungen über den gegenseitigen Einfluß der Vernunft in die Sprache, und der Sprache in die Vernunft, 175ff., davon ausgeht, daß nicht vorzeigbare, d. h. nicht materielle Dinge aufgrund von Ähnlichkeiten mit Bezeichnungen für Konkreta benannt werden. 275 Semiotik, § 338, 206. 273

91 zieren zu können, indem dieselben Wörter in ihrer konkreten Bedeutung für D i n g e der Körperweit und in metaphorischer Bedeutung für Dinge der Intellektualwelt verwendet werden, da die Metaphern das Mittel der Sprachen sind, »unbekanntere oder auch gar nicht in die Sinne fallende D i n g e durch bekanntere vorstellig zu machen«. 2 7 6 D i e in ihrer konkreten Bedeutung verwendeten Wörter machen dabei in Lamberts Einteilung des gesamten Wortschatzes in Klassen die erste dieser Wortklassen aus. 2 7 7 D i e s e Wörter stellen einen sinnlich wahrnehmbaren G e genstand als Ganzes dar und bezeichnen ferner die sogenannten »einfachen Begriffe«, 2 7 8 die nur ein einziges Bedeutungsmerkmal aufweisen. In die erste Wortklasse gehören somit auch allgemeine Gattungs- und Artbegriffe, die durch synthetische Zusammensetzung v o n ähnlichen Merkmalen zweier oder mehrerer Begriffe gebildet werden, wie beispielsweise der durch die B e z e i c h nung »Pflanze« dargestellte Begriff. B e i solchen als Ganzes wahrnehmbaren Dingen, die im allgemeinen zusammengesetzte Dinge sind und somit auch zusammengesetzte Begriffe hervorrufen, 2 7 9 entsteht der Begriff, worunter Lambert - wie dann auch Herder in der Metakritik

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in Bezug auf sein Vorgehen betont hat - die Vorstellung versteht, 2 8 0

Semiotik, § 192, 112. Gegenüber der Hervorhebung der Bedeutung symbolischer Erkenntnis für das Nachdenken über komplexe Inhalte im Briefwechsel mit Kant, die eine Orientierung an Leibniz' zeichentheoretischen Überlegungen erkennen läßt, sowie seinen Ausführungen zu den in konkreter Bedeutung verwendeten Wörtern konzentriert sich Lambert in Bezug auf die Sprachverwendung in übertragener Bedeutung auf die Kommunikationsaspekte des Zeichens. Hierin kann eine stärkere Bezugnahme auf die Bestimmung der Semiotik bei John Locke in seinem Essay Concerning Human Understanding gesehen werden, der die Lehre von den Zeichen als die Wissenschaft bestimmt, deren Aufgabe darin besteht, »[...] to consider the nature of signs the mind makes use of for the understanding of things, or conveying its knowledge to others.« Vgl. Locke 1823, Book IV, Chap. XXI, § 4, Bd. 3, 175. Wenn Lambert auch von »Wortklassen« spricht, handelt es sich genau besehen um Klassen der Ein- bzw. Mehrdeutigkeit von Bedeutungen auf der Grundlage von Verwendungsweisen der Wörter. Lambert bestimmt die Rolle der einfachen Begriffe in der Alethiologie, § 53, 487f. folgendermaßen: »Die einfachen Begriffe, die wir durch die Sinnen und das Bewußtsein erlangen, machen die Grundlage unsrer Erkenntniß aus.« Lambert gibt in der Alethiologie, § 68, 498 eine Aufzählung von einfachen Begriffen, die er jedoch nicht als vollständig betrachtet, und nennt hier: »Bewußtseyn, Existenz, Einheit, Dauer, Succeßion, Wollen, Solidität, Ausdehnung, Bewegung, Kraft.« In der Architektonik führt Lambert nochmals eine erweiterte Reihe von einfachen Begriffen an. Vgl. Architektonik, 1. Bd., § 46, 41. »Die zusammengesetzten Begriffe sind von verschiednen Arten. Einmal sind unstreitig die von zusammengesetzten Dingen ebenfalls zusammengesetzt. So fem sich daher Dinge zusammensetzen lassen, sofern können auch die Begriffe zusammengesetzt werden. Und die meisten Begriffe, so wir aus der Erfahrung haben, sind es, wie z. E. die Begriffe jeder Körper, und unsrer Handlungen.« Alethiologie, § 136, 524. »Die Vorstellung selbst nennen wir einen Begriff, und dieser hat mit der Vorstellung gleiche Stuffen der Ausführlichkeit. Keinen Begriff von einer Sache haben, heißt sich dieselbe nicht vorstellen können. Ein Blinder hat keine Begriffe von Farben, weil er niemals eine Vorstellung davon gehabt hat.« Dianoiologie, § 6, 5.

92 durch die E m p f i n d u n g der sinnlichen Wahrnehmung des entsprechenden G e genstandes. D i e Vorstellung allein ergibt j e d o c h n o c h nicht z w a n g s l ä u f i g einen »deutlichen B e g r i f f « , 2 8 1 der erst vorliegt, w e n n alle ihn konstituierenden Merkmale, die in e i n e m analytisch vorgehenden Verfahren herausgefunden werden m ü s s e n , aufgezählt werden können. D a s Wort ist Lambert z u f o l g e bei solchen z u s a m m e n g e s e t z t e n Begriffen im Grunde g e n o m m e n eine Abkürzung für die in dem Begriff zusammengefaßten Merkmale.282 D i e e i n f a c h e n B e g r i f f e entstehen und unterscheiden sich voneinander ebenfalls durch die unmittelbare Empfindung, w e s h a l b auch ein Wort, das einen solchen e i n f a c h e n Begriff bezeichnet, nach Lambert seine Bedeutung nicht ändert, s o l a n g e kein Sprachwandel eintritt. 2 8 3 D i e ursprünglich willkürlich g e wählte, dann aber f i x e und nicht mehr spontan veränderbare Bedeutung wahrnehmbarer G e g e n s t ä n d e läßt sich unmittelbar mit der betreffenden S a c h e verbinden, s o daß die Bedeutung der E l e m e n t e dieser Wortklasse größtmögliche Eindeutigkeit a u f w e i s t . 2 8 4 D i e Wörter der ersten Klasse stellen nach Lambert in sprachgeschichtlicher Hinsicht die ältesten Wörter dar, da: [...] die ersten Urheber der Sprachen nothwendig bey der Benennung solcher Dinge und Handlungen anfangen mußten, die sie vorzeigen konnten. Denn um in der Bedeutung der ersten Wörter einig zu werden, mußten sie Wort und Sache zusammen nehmen, und den Vorsatz, daß das Wort die Sache bedeuten solle, durch Geberden und Deutungen anzeigen, die ohne allen Zweifel ihren Grund in der menschlichen Natur haben, und von dem andern dadurch verstanden werden, weil er sie, um sich zu verstehen zu geben, ebenfalls würde gebraucht haben. 285 281 282

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Vgl. Dianoiologie, § 9, 7. »Die Wörter, wodurch man zusammengesetzte Begriffe vorstellt, sind bey solchen, die von willkührlichem Umfange sind, eigentlich nur Abkürzungen, und in sofern um desto nützlicher, je häufiger der Begriff vorkömmt, weil man dadurch überhoben wird, ganze Redensarten oder jede Namen der einzelnen Merkmaale zu gebrauchen. Da dieses besonders in den Wissenschaften sehr bequem ist, so mag es angehen, daß man solche Abkürzungen gebrauche, und eigentlich sollen die Namen zusammengesetzter Begriffe auch nicht anders als Abkürzungen darinn vorkommen. Demnach müssen die einzelnen Merkmaale voraus angezeigt, zusammengesetzt und erwiesen werden, damit daraus erhelle, daß die Wörter, so man dafür gebraucht, reale Dinge und Begriffe vorstellen.« Alethiologie, § 151, 532. Es heißt an der entsprechenden Stelle in der Alethiologie, § 30, 473: »So z.E. wenn in dem deutschen die Wörter roth, gelb, weiß, hart, weich, eins, zwey &c. in Abgang kommen, so ist es, weil man andre dafür einführt, und dadurch die Sprache abändert.« Dennoch auftretende Uneinigkeiten über die Bedeutung der Wörter können durch das Vorzeigen der bezeichneten Sache bzw. durch Hinweisen auf die entsprechende Eigenschaft der Sache aufgeklärt werden. Infolgedessen sind bei den Wörtern dieser Klasse Nominaldefinitionen, die sich »auf die Structur der Sprache gründen« (Architektonik, 1. Bd., § 26, 22), nicht nötig. Da die Wörter, die die einfachen Begriffe ausdrücken, ferner am wenigsten vieldeutig und in ihrer Bedeutung unveränderlich sind, müßte in einer Definition auf Wörter zurückgegriffen werden, deren Bedeutung weniger bestimmt und stärker veränderlich ist (vgl. Alethiologie, § 119, 517). Ferner sind Realerklärungen schwierig bzw. bei einfachen Begriffen gar nicht zu leisten, da diese aufzeigen sollen, wie ein Begriff aus einfachen Begriffen zusammengesetzt ist (vgl. Alethiologie, § 31, 474). Semiotik, § 336, 204f.

93 Die Funktion der Sprache besteht auf dieser Stufe darin, einen einmal geprägten sinnlichen Eindruck erneut in das Bewußtsein zu rufen, der andernfalls nur durch die Wiederholung der konkreten Wahrnehmung erneuert werden kann. Die Sprache erlaubt nach Lambert somit, wie oben bereits im einzelnen ausgeführt wurde, eine willentlich gesteuerte Konzentration auf bestimmte Bewußtseinsinhalte. Diese Wörter werden als die Grundlage der Sprachen angesehen und für die Bestimmung der weiteren Klassen herangezogen. Abstrakte Begriffe werden gebildet durch die Übertragung eines oder mehrerer ähnlicher Merkmale von einem Begriff auf einen anderen. Die »abstraktesten aller abstrakten Begriffe« sind die von Lambert als transzendent bezeichneten, bei denen sich die Bedeutungen eines Wortes einerseits auf die »Körperweit« und andererseits auf die »Intellektualwelt« beziehen und in denen die gemeinsamen Merkmale der verschiedenen Bedeutungen zusammengefaßt werden. 286 Lambert bezieht die metaphorische Sprachverwendung von Wörtern der ersten Klasse, die dann als Metaphern die zweite Wortklasse ausmachen, besonders auf transzendente Begriffe und grenzt sie auf diese Weise gegen Formulierungen ab wie z. B. »kalte Farbe«, da die »Gegenstände der äußern Sinnen, eben deswegen, weil sie können empfunden und vorgezeigt werden, jedes für sich mit einem eigenen Namen belegt werden können«, 287 so daß es in diesem Fall nicht unbedingt notwendig sei, mehrere Bedeutungen mit einem einzigen Wort auszudrücken. Die Verwendung der Wörter zur Bezeichnung verschiedener Bedeutungen ist im Hinblick auf die für Sprache zumindest in wissenschaftlicher Verwendung zu fordernde Eindeutigkeit als Nachteil zu betrachten, es sei denn, »daß die Allegorie so vollkommen gemacht werde, daß sie eben sowohl im natürlichen als im verblümten Verstände genommen werden könne«, 288 da in diesem Fall die Ähnlichkeit des Eindrucks der Dinge der Körper- und der Intellektualwelt so groß ist, daß der Vergleich sich von selbst versteht. Die Klärung der Begriffe der zweiten Klasse kann durch die Darlegung der verglichenen Merkmale des zugrundeliegenden sinnlichen Eindrucks und des abstrakten Begriffes erfolgen. In einer Worterklärung wird dieses »tertium comparationis« - der Grund des Vergleichs der entsprechenden Merkmale - aufgeführt. In solchen Nominalerklärungen der Elemente der zweiten Klasse müssen somit wiederum die Wortbedeutungen der ersten Klasse zugrundegelegt werden. 289

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S. Alethiologie, §48, 484 und § 155, 533f.: »Wir gelangen auf eben die Art zu abstracten Begriffen, wie wir zu den transcendenten gelangen. (§. 46. seqq.) Denn die transcenden sind unter allen abstracten Begriffen die abstractesten, weil sie das Allgemeine der Körp e r und Geisterwelt zusammen nehmen. Sofern nämlich ganz verschiedene Dinge einerley Eindruck bey uns machen, sofern nehmen wir sie in eine Klasse zusammen.« Semiotik, § 340, 207. Semiotik, § 338, 206. Vgl. Architektonik, 1. Bd.. § 26. 22.

94 Der Schritt von der konkreten zur metaphorischen Verwendungsweise der Sprache stellt einen historischen Entwicklungsprozeß dar, in dessen Verlauf durch die allmähliche Metaphorisierung der Wörter abstrakte Vorstellungen erst in einer bereits fortentwickelten Phase gebildet und benannt werden können. 290 Auf der Stufe der zweiten Klasse, die die Wörter umfaßt, deren Bedeutungsspektrum in dieser Weise eine metaphorische Erweiterung um den Bereich des Abstrakten erfahren hat, kann erst von einem selbständigen Denken des erkennenden Menschen gesprochen werden. 291 Die dritte Wortklasse wird dadurch bestimmt, daß aufgrund von Vergleich, Zusammensetzung oder Verbindung abstrakter Begriffe der zweiten Klasse neue, wiederum abstrakte Begriffe entstehen, die ebenfalls mit einer metaphorischen Bezeichnung versehen werden müssen. Diese Wörter sind nach Lambert in höherem Maße künstlich als diejenigen der zweiten Klasse und stellen vor allem die Grundlage der abstrakten Wissenschaften als »termini technici« oder »Kunstwörter« 292 dar. Bei den Wörtern der dritten Klasse kann kein unmittelbarer Vergleich mit sinnlichen Eindrücken vorgenommen werden, so daß ihre Bedeutung durch eine Definition festgelegt werden muß, die dazu dienen soll, den Begriff deutlich zu machen und seinen Umfang zu bestimmen. 293 Lambert warnt jedoch ausdrücklich vor reinen Nominaldefinitionen, sofern sie »bloße Bestimmungen der Bedeutung des Wortes«294 sind, ohne daß die Sache als Ganzes zugrunde gelegt wird. Da in derartigen Definitionen auf ebenfalls abstrakte Wörter zurückgegriffen werden muß, so daß Wörter und Begriffe einander gegenübergestellt werden, weil abstrakte Gegenstände wie beispielsweise die allgemeinen Verhältnisbegriffe thematisiert werden, entstehen über die Bedeutung der »termini technici« am häufigsten Unklarheiten. Daher rät Lambert an - und damit stellt er sich in die Tradition der Schrift De optima philosophi dictione von Leibniz aus dem Jahre 1670,295 auf die unten noch ausführlich Bezug genommen werden soll - , solche Fachausdrücke weitgehend zu vermeiden: »Sie dienen auch meistens nur zur Abkürzung der Ausdrücke, und verwandeln diese Kürze mehrentheils in eine Dunkelheit und wenigstens schein-

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Auf die Geschichtlichkeit dieser von Lambert vorgenommenen Klassifikation und ihre Bedeutung für Herders Roman von den Lebensaltern einer Sprache in dem Fragment Über die Bildung einer Sprache weist Wolfgang Proß in seinen Anmerkungen zu Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente hin. S. Herder 1984, 736. Diesen Hinweis gibt Heike Hülzer 1987: Die Metapher. Kommunikationssemantische Überlegungen zu einer rhetorischen Kategorie, Münster, 45f. Die deutsche Bezeichnung »Kunstwort« anstelle von »terminus technicus« ist bereits bei Stieler, Schottelius, Leibniz und Wolff zu finden. Lambert bezieht sich vermutlich auf Christian Wolff, da dieser als wichtige Quelle für die Dianoiologie von Lambert selbst in der Vorrede des Neuen Organons bezeichnet wird. Vgl. Alethiologie, § 124, 518. Semiotik, § 351, 214. Die Bedeutung dieser Schrift für Herders Überlegungen zu dem Deutschen als Wissenschaftssprache wird in dem Kapitel II.2.4. ausführlich dargestellt.

95 baren Wortkram, weil nicht jeder sich die Mühe nimmt, sich alle die Wörter und ihre Definitionen so genau bekannt zu machen.« 296 Lambert betrachtet es infolgedessen als eines der grundlegenden Probleme der Philosophie, daß bereits die Wörter, die zur Definition anderer herangezogen werden, in ihrem Bedeutungsumfang nicht genau bestimmt sind. Es werden somit, wenn auch über mehrere Stufen, die zur Unbestimmtheit des Begriffsumfanges führen, die »termini technici« der abstrakten Wissenschaften durch die vorausgesetzte zweite Wortklasse aufgrund des dort angenommenen Prinzips der Ähnlichkeit von sinnlichen und intellektuellen Eindrücken mit den Begriffen, die durch einen konkreten ganzen Gegenstand hervorgerufen werden, und den »durch die Erfahrung veranlaßten« Grundbegriffen in Verbindung gebracht, die auf diese Weise die a priorischen Wissensbereiche begründen und ihnen so ein empirisches Fundament verleihen. In seiner Einteilung in Wortklassen setzt Lambert die Operation des Vergleichens als ein universelles menschliches Vermögen voraus, das die Erkenntnis des Bestehens von Identität, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit ermöglicht. Das Aufdecken von Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten der Dinge bezeichnet Lambert als »Gaben der Natur«, die durch Übung verfeinert werden können und dies »sind Bedingungen, ohne welche man in der Erfindungskunst nicht weit kömmt.« 297 Die Erkenntnis des Bestehens von Ähnlichkeiten ist die unabdingbare Voraussetzung für die »Erfindungskunst«, d. h. den menschlichen Erkenntniszuwachs, weil sie über den unmittelbaren konkreten Erfahrungsbereich hinausweist. Lambert geht somit bei seiner Konzeption metaphorischer Sprachverwendung von der Annahme aus, daß vor allem neu gebildete Metaphern sowohl für den individuellen Erkenntnisprozeß als auch für die Vermittlung und den Austausch der Ideen von Bedeutung sind, womit der tropischen Sprache trotz ihrer Mehrdeutigkeit, die auch von Lambert als problematisch angesehen wird, eine entscheidende Rolle für das menschliche Erkenntnisvermögen zugesprochen wird, die darin besteht, daß die metaphorische Sprechweise eine Übertragung oder »Reduktion«, wie Lambert sagt, des Abstrakten auf das Figürlich-Symbolische ermöglicht. Insofern stellt die Metapher das Mittel dar, abstrakte Ideen durch die konkret-körperliche Sprache zum Ausdruck zu bringen.

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Semiotik, § 348, 212. Dianoiologie, § 549, 347.

II. Die Vernunft und ihr Werkzeug, die Sprache 1.

Ausbildung und Wahrheit von Vernunftideen

1.1. Die allgemeinen Begriffe der Vernunft Herders wiederholte Hinweise 1 auf die Unzulänglichkeiten der Sprache hinsichtlich ihrer Genauigkeit, die seiner Ansicht nach fälschlicherweise der Vernunft zugeschrieben werden, sind zu verstehen als Erwiderung auf die von Kant angenommenen, aufgrund der Natur der Vernunft dessen Meinung nach zwangsläufig auftretenden Paralogismen und Antinomien. Dessen Ansicht, daß »Widersprüche, Amphibolieen, Antinomieen der Vernunft« unvermeidlich seien, sowie das Verwerfen der Metaphysik als »Wortkram dunkler Schemate« seien Folgen eines falschen Gebrauchs der Sprache.2 Herder konzentriert die Problematik falscher Schlußfolgerungen auf die Frage, wie die Vernunft, »als unser letztes, in sich selbst beschloßenstes Vermögen«3 zu allgemeinen Begriffen kommt und wozu diese dienen.4 Seine Untersuchung der Vernunft knüpft an die Ausführungen Kants über den »transzendentalen Schein« 5 an, der in der Transzendentalen Dialektik der

2 3 4 5

Vgl. das Kapitel II.2.2.1. über die Probleme der Sprache und Herders Sprachkritik unten in dieser Arbeit. Vgl. Metakritik, 122. Metakritik, 258. Vgl. Metakritik, 207. Herder gibt in einer Fußnote den Hinweis, daß das Wort wahrscheinlich aus Lamberts Organum übernommen worden sei, wobei Herders Ansicht nach dieser mathematische Denker davon aber einen würdigeren Gebrauch gemacht habe. Vgl. Metakritik, 197. Es ist bereits von Robert Sommer in seiner 1892 erschienenen Untersuchung daraufhingewiesen worden, daß der von Lambert in seiner Phänomenologie, dem vierten Teil des Neuen Organons, aus der Optik übernommene und in systematischer Form auf sämtliche Gebiete der Geistestätigkeit übertragene Begriff des »Scheins« in die klassische Ästhetik übergegangen ist. Ausschlaggebend hierfür sei die Bedeutung gewesen, die Lambert diesem Begriff zugeschrieben hat: »Wir haben nämlich nicht schlechthin das Wahre dem Falschen entgegen zu setzen, sondern es findet sich in unserer Erkennmiß zwischen diesen beyden noch ein Mittelding, welches wir den Schein nennen, und dieser macht, daß wir uns die Dinge sehr oft unter einer andern Gestalt vorstellen, und leichte das, was sie zu seyn scheinen, für das nehmen, was sie wirklich sind, oder hinwiederum dieses mit jenem verwechseln.« Phänomenologie, § 1, 217f. In dem Sinne von »Wahrscheinlichkeit« ist der Begriff des Scheines nach Sommer zunächst von Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie verwendet worden und wurde dann für Schiller bedeutsam vor allem in den Briefen Über die ästhetische Erziehung des

97 Kritik aufgedeckt werden soll. Herder weist verschiedentlich - so beispielsweise in dem neunten Kapitel der Metakritik mit dem Titel Von Paralogismen der reinen Vernunft als Folgerung aus seiner Betrachtung des von Kant angeführten Urteils der Vernunft über das Selbstbewußtsein zu denken 6 - darauf hin, daß eine inhärente Tendenz zu unvermeidlichen Fehlern kein konstituierendes Prinzip der Vernunft sein könne und daß es keineswegs in ihrer Natur angelegt sei, zu falschen Schlüssen zu kommen. Ziel der Untersuchung Herders ist die Widerlegung des von Kant angenommenen Phänomens des »transzendentalen Scheins«, das darin bestehen soll, aufgrund bestimmter Grundsätze des Gebrauchs der Vernunft nur subjektive Notwendigkeit für objektive halten zu müssen. 1.1.1. Die Aufgabe der Vernunft: Herders der Begriffskonstruktion

Entwurf

Herder beginnt seine mit der Frage »Was ist Vernunft?«7 überschriebene Untersuchung mit einigen Bemerkungen zu der Etymologie des deutschen Wortes »Vernunft« sowie einem Vergleich mit den entsprechenden Bezeichnungen des Lateinischen und des Griechischen und kennzeichnet die angeführten Benennungen als Ausdruck des angemessenen beziehungsweise des falschen Gebrauchs der Vernunft, der in jedem Fall darauf abzielen müsse, gegebene Daten zusammenzufassen. Der Zweck von Vernunftoperationen sei es daher, unter Bezugnahme auf tatsächliche Erfahrungen exakte Schlüsse vorzunehmen, deren Ergebnisse wiederum auf die konkrete Wirklichkeit anzuwenden seien. Das erfahrbare Faktum als Gegenstand eines Vernunfturteils werde dabei von allgemeinen und unbedingten Gesetzen potentiell eingeschlossen, wenn auch aufgrund seiner Bedingtheit in diesen nicht konkret erfaßt und benannt. Da jedoch mit unbedingten Sätzen gegebene Bedingungen erkannt werden könnten, d. h. das Besondere im Allgemeinen oder, wie Herder auch sagt, das Eine im Vielen, könne die Aufgabe der Vernunft darin gesehen werden, Fakten unter einen allgemeinen Satz zu fassen, womit dieser auf besondere Fälle angewendet werde. Desto genauer der konkrete Fall auf diese Weise erfaßt und erkannt werde, um so besser sei die Aufgabe erfüllt:

6

7

Menschen in dem dort klar vertretenen Phänomenalismus. Vgl. Sommer, Robert 1892: Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Aesthetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller, Würzburg, (fotoreprograph. Nachdruck Hildesheim 1975) 158ff., 180ff., 428ff. Kant bestimmt den »Begriff, oder, wenn man lieber will, das Urteil« folgendermaßen: »Man sieht aber leicht, daß er das Vehikel aller Begriffe überhaupt, und mithin auch der transzendentalen sei, und also unter diesen jederzeit mit begriffen werden, und daher eben sowohl transzendental sei, aber keinen besondem Titel haben könne, weil er nur dazu dient, alles Denken, als zum Bewußtsein gehörig, aufzuführen.« KrV, B 399f./ A341. Metakritik, 199.

98 Nicht auf des Gesetzes weit umfaßende Formel kommts an; sondern auf das Dringende derselben zu diesem Fall. Nicht die ganze Welt darf es umgreifen; aber ergreifen muß es den vorliegenden Gegenstand; sonst stehet es in seiner müßigen Allgemeinheit todt da. 8

Der Unterschied zwischen Vernunft- und Verstandeserkenntnis besteht dabei nach Herder allein darin, daß bei letzterer auf die explizite Nennung des allgemeinen Satzes und damit auf eine Begründung des Erkannten durch die Angabe der Ursachen verzichtet wird.9 Entgegen Kants Interpretation von Vernunftbegriffen als solche, die etwas betreffen, unter das alle Erfahrungen gehören, welche selbst jedoch kein Gegenstand der Erfahrung sind,10 geht Herder davon aus, daß Verstandesbegriffe, die aufgrund wiederholt gemachter Erfahrungen ausgebildet werden, in allgemeinen Sätzen zusammengenommen werden mit dem Ziel, das sogenannte Eins im Vielen, d. h. den besonderen Einzelfall als Anwendung des Unbedingten auf das Bedingte in einer begründeten Schlußfolgerung zu erklären." Die Vernunfttätigkeit, die an die aus der Erfahrung gewonnenen Verstandesbegriffe anknüpft, sei dabei zu verstehen als ein Prozeß der Sonderung klarer und deutlicher Begriffe aus der dunklen Empfindung des Allgemeinen, die der einzelne erkennende Mensch erfahre. Somit gehe in jeder Erkenntnis das Allgemeine dem Besonderen voran, obwohl das in seiner Ganzheit unüberschaubare Allgemeine nur im Besonderen erkennbar sei. Da die Wirklichkeit in ihrer Totalität vom Menschen nicht erfahren und nicht überblickt werden könne, müsse jede sinnliche Erfahrung eine Erfahrung des Besonderen sein und die Wirklichkeit auf diese Weise anhand des Besonderen erkannt werden. In einem im zeitlichen Verlauf voranschreitenden Prozeß könnten auf diese Weise Teile des Universums »entwölkt«, d. h. vernommen, unterschieden und in allgemeinen Sätzen geordnet werden.12 Aus der richtigen Verknüpfung des Allgemeinen und Besonderen entstehen Herder zufolge dann »wahre Vernunft=Ideen«.13 Die sowohl notwendigen als auch hinreichenden allgemeinen Begriffe der Kategorientafel: »Sein, Dasein, Fortdauer und Kraft« werden durch den Verstand bemerkt; die Aufgabe der Vernunft ist es Herder zufolge, sie abzuwägen und zu messen, d. h. ihre Bestandteile genau zu erfassen, um auf diese Weise über sie zu entscheiden. 14 Durch »erkennende Entscheidung«,15 bei der das Ganze in seinen Teilen erwogen werde, vereinige die Vernunft die Begriffe des Verstandes, die dieser durch Anerkennung der Gegenstände gewonnen habe, in Ideen, d. h. Begriffe höherer

8 9 10 11 12 13 14 15

Metakritik, 201. Vgl. Metakritik, 201 f. Vgl. KrV, B 368. Vgl. Metakritik, 204. Vgl. Metakritik, 209f. Vgl. Metakritik, 241. Vgl. Metakritik, 211. Metakritik, 242.

99 Ordnung gegenüber denen des Verstandes, zu unbezweifelbar wahren und damit für die Vernunfterkenntnis konstitutiven Begriffen. 16 Die allgemeinen Begriffe werden durch Verallgemeinerungen von einer mehr oder weniger großen Menge gut oder schlecht beobachteter Merkmale einer Sache gewonnen und von Herder als »Analogiebildungen der Erfahrung« bezeichnet. 17 Derartige Schlüsse können nicht als Urteile über die absolute Menge aller Beispiele einer Sache verstanden werden, sondern sind auf eine jeweils überschaubare oder spezifizierbare Teilmenge dieser Beispiele zu beziehen. Daher geht Herder von der Annahme aus: »wir generalisiren immer nur in Absicht zu particularisiren, so wie wir nicht particularisiren können, ohne ein All im Sinne zu haben; beide Begriffe sind wie das prius und posterius innig verknüpfet.« 18 Ebendiese Relativierung des Verständnisses absoluter Mengen gelte auch in Bezug auf mit dem All-Quantor ausgezeichnete Obersätze in Vernunftschlüssen, die notwendigerweise nur das umfassen müßten, »was zur Particularisation des Allgemeinen auf diesen Fall gehöret«. 19 Der Grund der Vernunft bestehe daher nicht darin, absolute Vollständigkeit, d. h. das Umfassen aller Beispiele, anzustreben, sondern Notwendigkeit und innere Gewißheit, so daß kein Maximum ohne Verhältnis zu kleineren Elementen zu bestimmen sei und keine absolute Vollständigkeit ohne genaue Kenntnis aller Elemente. 20 Somit sei die Vernunft auf Notwendigkeit beziehungsweise das genau bestimmte und konkret mit seinen Ursachen und Wirkungen Gegebene gegründet. 21 Dieses Konzept der Vernunfttätigkeit hat nach Herders Ansicht grundsätzliche Geltung, so daß es in den Bereichen der Mathematik und der Philosophie in prinzipiell gleicher Weise zur Anwendung kommen müsse. Aus diesem Grund wendet Herder gegen Kants in dem Kapitel Transzendentale Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft vertretene Annahme, daß in der Philosophie Vernunfterkenntnis aus Begriffen entstehe, während sie in der Mathematik durch die Konstruktion von Begriffen zustande komme, ein, daß auch in der Philosophie Begriffe konstruiert würden. Herder stellt damit Kants Konzept

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Vgl. Metakritik, 242. Demgegenüber heißt es bei Kant, KrV, B 672/A 644: »Ich behaupte demnach: die transzendentalen Ideen sind niemals von konstitutivem Gebrauche, so, daß dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden, und in dem Falle, daß man sie so versteht, sind es bloß vernünftelnde (dialektische) Begriffe. Dagegen aber haben sie einen vortrefflichen und unentbehrlichnotwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imaginarius), d. i. ein Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen.« Vgl. Metakritik, 252. Metakritik, 252. Metakritik, 253. Vgl. Metakritik, 249. Vgl. Metakritik, 255.

100 von philosophischer Erkenntnis anhand a priorischer Begriffskategorien den Entwurf entgegen, daß allgemeine Begriffe einerseits durch besondere Erfahrungen gewonnen werden und andererseits auf diese auch angewendet werden können, um sie auf diese Weise zu erfassen und in einen größeren Zusammenhang einzubinden. Die Konstruktion, d. h. die Ausbildung allgemeiner Begriffe erfolgt nach Herder in der Philosophie auf der Grundlage von Wörtern anstelle von anderen Zeichen oder Linien, wie es in der Mathematik der Fall ist. Dies sei unter der Voraussetzung möglich, daß die Wörter »bestimmt und verständlich« seien.22 Dabei folge jedoch weder die mathematische noch die philosophische Erkenntnis aus der Konstruktion von Begriffen, wie Kant in Bezug auf den erstgenannten Bereich annimmt, sondern aus den konstruierten bzw. grundsätzlich konstruierbaren Begriffen selbst. In geringfügig verändertem Wortlaut wiederholt Herder das Argument des oben aufgeführten Zitats in dem letzten Kapitel der Metakritik, erweitert es hier jedoch um den Aspekt der Allgemeingültigkeit von Begriffen, der in Herders Programm zur Verbesserung der Metaphysik mit der Frage nach der Berechtigung, bestimmte Begriffe als allgemein und notwendig anzusehen, aufgenommen ist: Der Mathematiker construirt seinen Triangel bescheiden für sich selbst und für jeden, der mit ihm gleiche Vernunft hat. Was er an ihm erweiset, ist nicht nur für diesen Triangel, sondern für jedes ihm ähnliche Verhältniß erwiesen; im Besondersten erweiset er allgemeingültig das Allgemeine. Der Philosoph kann seine allgemeinsten Begriffe nicht anders construiren, als im Besondern, im Vestbestimmten, wie ihm dazu allenthalben die Natur selbst den Weg zeiget. In ihren Gestalten, nach Individuen, Gattungen, Geschlechtern, nur im Besondern construirt sie das Allgemeine. 2 3

Dieser Vergleich stellt einen Gegenentwurf dar zu Kants Zuweisung der Betrachtung des Besonderen im Allgemeinen an den Bereich der Philosophie einerseits und die des Allgemeinen im Besonderen an die Mathematik andererseits.24 Herder zufolge basiert in Entsprechung zu der Mathematik auch die philosophische Erkenntnis des Allgemeinen, wie oben ausgeführt, auf dem Besonderen. Jedoch werde in der Mathematik, ebenso wie in der Philosophie, in einer »Specialanwendung« die allgemeine Erkenntnis auf einzelne Fälle bezogen: Daß unser Urtheil über Ursache und Wirkung sich durch mehrere Erfahrung bildet, ist kein Einwand; mit allen Verstandesurtheilen, ja mit der Uebung jeder Kraft hat dies Urtheil diese Uebung gemein; und daß es sich als ein allgemeiner Begriff jedem einzelnen Fall, wie wenn es der erste und einzige wäre, anfügen müße, erfodert ebenfalls seine Natur als einer Verstandeserfahrung. Daß die Vernunft einer solchen Aenderung, d. i. An-

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Vgl. Metakritik, 263. Dieser Aspekt soll unten im einzelnen ausgeführt werden. Metakritik, 313. Vgl. KrV, B 743/A 715 und Metakritik, 263: »Die philosophische Erkenntnis betrachtet also das Besondere nur im Allgemeinen, die mathematische das Allgemeine im Besonderen, ja gar im Einzelnen, gleichwohl doch a priori«.

101 wendung unfähig sei,**) [Herder verweist in der mit **) angezeigten Fußnote auf Humes Essay V, 75] ist ihrem ersten Begriff zuwider: denn kein Gesetz der Mathematik [...] ist ohne diese Specialanwendung (Variation). Auch wird durch lange Syllogismen die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung nicht gefunden; ***) [wiederum bezieht sich Herder auf Humes Schrift, hier Kapitel VII. Anmerkung Seite 103] beide werden weder zusammengekoppelt noch zusammengenäht [...]; sondern sind Ein relativer Begriff. Vom erfahrenden Verstände werden sie anerkannt und distribuiret.25

Herder greift hier die von David Hume in seinem Essay Concerning Human Understanding aus dem Jahr 1748 in Bezug auf den Verstand eingeführte Unterscheidung zwischen einmaligen und vielfachen Erfahrungen auf. Humes Argument bezieht sich auf die Annahme, daß Übung und Gewohnheit die Ableitung eines Verstandesurteils aus einer Vielzahl gleicher Erfahrungen möglich macht, wozu eine einzige derartige Erfahrung nicht hinreichen soll. 26 Herder verwendet den Ausdruck »Variation« insofern in abgewandelter Weise gegenüber Hume, als er davon ausgeht, daß sowohl Verstandes- als auch Vernunfturteile aufgrund von mehreren Beispielen gebildet werden, aber ihrerseits auf einzelne Fälle angewendet werden können und müssen. Das methodische Vorgehen der Vernunft wird in der zitierten Textpassage im Hinblick auf die Anwendung allgemeiner Begriffe auf konkrete Einzelfälle wiederum an dem Beispiel der Mathematik gemessen. Herders Ansatz, demzufolge die philosophische Erkenntnis bezüglich der Frage von Allgemeinem und Besonderem mit der Mathematik vergleichbar ist, befindet sich - wie unten gezeigt werden soll - in Ubereinstimmung mit Johann Heinrich Lamberts Interpretation, die sich von den Konzepten Christian Wolfis und der englischen Philosophen David Hume und George Berkeley absetzt. Die angenommenen unterschiedlichen Erkenntnisweisen in Mathematik und Philosophie betrachtet Kant als einen Ausdruck des Gegebenseins von zwei verschiedenen Arten der Vernunfterkenntnis. Diese beiden Arten sind seiner Ansicht nach jedoch nicht in den Gegenständen der beiden Bereiche be-

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Metakritik, 306. Die mit ***) gekennzeichnete Fußnote lautet vollständig: »Mr. Locke, in his chapter of power says, that, finding from experience, that there are several new productions in matter, and concluding that there must somewhere be a power capable of producing them, we arrive at last by this reasoning at the idea of power. But no reasoning can ever give us a new, original, simple idea; as this philospher himself confesses. This, therefore, can never be the origin of that idea.« Vgl. Hume, David 1882: The Philosophical Works, ed by Thomas Hill Gree & Thomas Hodge Grose, Vol. 4 (reprint of the new edition London, Aalen 1964), 53. Die Textstelle, auf die Herder Bezug nimmt lautet in Humes Enquiry Concerning Human Understanding: »And it is certain we here advance a very intelligible proposition at least, if not a true one, when we assert, that, after the constant conjunction of two objects, heat and flame, for instance, weight and solidity, we are determined by custom alone to expect the one from the appearance of the other. This hypothesis seems even the only one, which explains the difficulty, why we draw, from a thousand instances, an inference, which we are not able to draw from one instance, that is, in no respect, different from them. Reason is incapable of any such variation. The conclusions, which it draws from considering one circle, are the same which it would form upon surveying all the circles in the universe.« Vgl. Hume 1882: Nachdruck, 37f.

102 gründet, so daß auch nicht davon auszugehen sei, daß die Bezugnahme der Philosophie auf Qualitäten bzw. die der Mathematik auf Quantitäten Ursache der verschiedenen Erkenntnisarten sei. Vielmehr seien die Gegenstandsbereiche eine Folge der jeweiligen Erkenntnisart, so daß die Form der mathematischen Erkenntnis als ursächlicher Grund dafür zu betrachten sei, daß die Mathematik sich mit Quantitäten beschäftige. 27 Gegen einen derartigen Schluß von der Form der Erkenntnis auf den zu erkennenden Gegenstand führt Herder das Argument an, daß die Konstruktionsform von Begriffen an sich beliebig und willkürlich gewählt sei, sobald mit Symbolen operiert werde. Somit entspringe die Form (der Begriffe) an der (konkret gegebenen) Materie, wenn die Vernunft auch die Form bestimme: »Wahre Verstandes= und Vernunftbegriffe werden der Seele ursprünglich an den Gegenständen selbst, abgeleitet und erhöht in richtigen Worten, anerkennbar, welches mehr ist als anschaubar oder angaffbar.«2S Zu wahren Erkenntnissen reicht Herder zufolge anschauliche Darstellbarkeit jedoch nicht aus, da weder alle Qualitäten noch sämtliche quantitativen Begriffe sinnlich zu veranschaulichen seien.29 Es gäbe durchaus Eigenschaften und Verhältnisse, d. h. Begriffe höherer Art wie Abstrakta in philosophischen Betrachtungen sowie in dem Bereich der Mathematik z. B. Größen der Analysis, die nicht in anschaulicher Form zur Darstellung kommen könnten. In jedem Fall fände Vernunfterkenntnis jedoch durch Begriffe vermittelt statt, weil Verhältnisse nur in Begriffen zu erfassen seien. Herder zufolge liegt Kants Unterscheidung zwischen dem Begriff in der Mathematik und demjenigen in der Philosophie die seiner Ansicht nach falsche Annahme zugrunde, daß ein Problem mit einer sichtbaren Konstruktion erschöpft sei. Auf diese Weise sei jedoch Vernunfterkenntnis aus Begriffen höherer Art, die Herder zufolge mit Zeichen sprachlicher oder mathematischer Art erfaßt werden müssen, nicht möglich. Hinsichtlich der Bestimmung des Gegenstandsbereiches der Mathematik stimmt Herder mit Kant überein: sie »mißt, zählt, berechnet« 30 und bezieht sich also auf Quantitäten; eine Einschränkung der Philosophie auf Qualitäten, wie Kant sie vornimmt, hält er jedoch für unangemessen, da sich das Gebiet der Philosophie grundsätzlich auf alle Verstandesbegriffe beziehe.31 In Erforschung

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Vgl. KrV, B 743 und das Zitat in der Metakritik, 263f. Metakritik, 265. Vgl. zu der Entwicklung der Bedeutung von geometrischer Anschaulichkeit und der Verwendung symbolischer Zeichen für die wissenschaftliche Erkenntnis die Skizze von Krüger, Dagobert: Anmerkungen zur Ideenverbindung von Geometrie und Sprachphilosophie im 17. und 18. Jahrhundert, in: Speculum historiographiae linguisticae, hg. von Klaus D. Dutz. Kurzbeiträge der IV. Internationalen Konferenz zur Geschichte der Sprachwissenschaften (ICHoLS IV) Trier, 24.-27. August 1987, Münster 1989, 255-262. Metakritik, 266. Vgl. Metakritik, 264.

103 des Daseins der Dinge, ihrer Eigenschaften, Ähnlichkeiten und Unterschiede, ihrer Ursachen und Wirkungen und der Berechnung ihres Maßes müsse sie »alle Gegenstände der Welt« konstruieren und mit ihrem unendlichen Gegenstandsbereich alle Wissenschaften und Künste umfassen. 32 Aus diesem Grund, nicht jedoch wegen eines bestehenden Unterschiedes hinsichtlich des Vernunftgebrauchs sei die Philosophie nicht in der Weise wie die Mathematik vorangeschritten. In dem ersten Kapitel der Metakritik wird bereits auf die Konsequenz dieser Annahme einer vernunftmäßigen Begriffsausbildung, der Konstruktion von Begriffen anhand von Zeichen resp. Sprachzeichen, hingewiesen, die darin besteht, daß die Sprache für die Philosophie in der Weise gegenstandskonstituierende Funktion hat, wie die entsprechenden Zeichen für die Mathematik, so daß in beiden Bereichen die konventionale Verwendung von Zeichen die Erkenntniserweiterung ermöglicht: Construirt der Mathematiker seine Begriffe durch Linien, Zahlen, Buchstaben und andre Zeichen, ob er gleich weiß, daß er keinen mathematischen Punkt machen, keine mathematische Linie ziehen könne, und eine Reihe andrer Charaktere von ihm gar willkührlich angenommen sind; wie sollte der Vernunftrichter das Mittel übersehen, durch welches die Vernunft eben ihr Werk hervorbringt, vesthält, vollendet? 33

Dieser Vergleich ist vor dem Hintergrund der Annahme möglich, daß natürliche Sprachen Systeme darstellen, die den Regeln folgen, welche allgemein für Zeichensysteme, unter denen die Sprache nur ein besonderes ist, gelten. Die in der Mathematik gewählten Zeichen weisen in den meisten Fällen keine oder nur geringe Ähnlichkeit mit der dargestellten Sache auf und sind in dieser Hinsicht mit den ebenfalls ursprünglich willkürlich festgelegten Sprachzeichen vergleichbar, die denselben allgemeingültigen zeichentheoretischen Gegebenheiten unterworfen sind. Trotz der ihnen eigenen Vagheit und der Willkürlichkeit in ihrer Festlegung sind Zeichen, so Herder, in der Mathematik unerläßlich, da durch sie der Gegenstand konstituiert werde. 34 In gleicher Weise könnten auch philosophische Inhalte ausschließlich anhand von - in diesem Fall sprachlichen - Zeichen gebildet, erinnert und fortentwickelt werden.

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Vgl. Metakritik, 267. Metakritik, 19. Es wird auch von Johann Heinrich Lambert in der Semiotik mehrfach betont (vgl. §§ 36f., 24 und § 54, 33ff.), daß die Algebra zwar als wissenschaftliches Zeichensystem vollkommen sei, jedoch ebenso wie die Zeichen der natürlichen Sprachen auch die mathematischen willkürlich gewählt seien: »Ein Zeichen bedeutet schlechthin die dadurch vorgestellte Sache, so fern es willkührlich ist, das will sagen, so fern es mit der Sache keine solche Aehnlichkeit hat, daß es ein sinnliches Bild derselben wäre. So z. E. sind in der Algeber die Buchstaben, wodurch man die Größen vorstellet, imgleichen die Zeichen + - • : &c. willkürlich, hingegen haben die Zeichen > < = schon mehr Aehnlichkeit mit der dadurch vorgestellten Sache, ungeachtet sie noch nicht so weit geht, daß sie zu den vorhin (§. 58.) erwähnten vollkommenen Zeichen gerechnet werden konnten, welche nicht eine bloße Bedeutung haben, sondern gewissermaßen eine systematische Abbildung der Sache sind.« Semiotik, § 61, 39.

104 Die Sprache ist auf diese Weise in Herders Lösung der Frage des Allgemeinen und Besonderen unabdingbar für die Ausbildung allgemeiner Begriffe. Daneben müssen die sprachlichen Bezeichnungen der so geschaffenen allgemeinen Begriffe jedoch gleichzeitig auch die Anwendung auf die besonderen Begriffe der konkreten Erfahrung ermöglichen, wenn die von Herder angenommene wechselseitige Bezugnahme der Begriffe aufeinander konkret umsetzbar sein soll. Die Begründung dafür sowie die Erklärung, in welcher Weise die Sprache dieser doppelten Funktion in der Erkenntnistätigkeit des Menschen gerecht werden kann, ist von Johann Heinrich Lambert in der Architektonik und dem Neuen Organon im einzelnen entwickelt worden. 1.1.2. Das Allgemeine und Besondere: Lamberts wissenschaftlicher Begriffe

Bestimmung

David Hume knüpft, wie Herder in der Metakritik anmerkt, 35 in der Untersuchung des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung mit seinem Begriff von Allgemeinheit an George Berkeleys Werk A Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge an, welches 1710 erstmals veröffentlicht wurde, in dem Berkeley sich, seinerseits John Locke kritisierend, gegen dessen Abstraktionslehre wendet, deren Ursprung Berkeley in der Angewiesenheit des Menschen auf die Sprache sieht.36 Locke, der die Sprache vor allem unter ihrem Kommunikationsaspekt betrachtet, erachtet die Erfüllung dieser Funktion für möglich aufgrund der Annahme, daß Wörter allgemeine, d. h. von örtlichen und zeitlichen sowie allen auf eine Einzelexistenz bezogenen Ideen abstrahierte Ideen, 37 nicht jedoch Dinge bezeichnen. Berkeley schränkt den Ideenbegriff auf Sinnesempfindungen und Vorstellungen ein und folgert, daß solche Wörter nicht mit einer Idee verbunden werden können, welche allgemeine und abstrakte Ideen im Sinne Lockes repräsentieren sollen. Somit sind alle Abstrakta und Universalia durch Berkeleys Kritik an Lockes Annahme einer notwendigen Verbindung von Wort und Idee betroffen. Berkeley schließt, daß es keine abstrakten Ideen geben könne. Seine Kritik an der Sprache als Erkenntnismittel geht so weit, daß er sie als grundsätzliches Hindernis betrachtet, da nicht der Vergleich von Wörtern, sondern nur der von Ideen zu irrtumsfreier Erkenntnis führen könne. Die Orientierung müsse dabei an den individuellen Ideen erfolgen. Die kommunikative Vermittlung von Ideen sei zwar möglich, jedoch nur im Sinne einer okkasionalistischen Auffassung, der zufolge Wörter als Anre-

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Vgl. Metakritik, 302. Vgl. die §§ 12-22 in der Einführung Berkeleys, 1901, in: The Works of George Berkeley D.D.; Formerly Bishop of Cloyne, Including his Posthumous Works, with Prefaces, Annotations, Appendices, and an Account of his Live, by Alexander Campbell Fraser, in 4 Volumes, Vol. I: Philosophical Works, 1705-21, Oxford, 245-254. Vgl. Locke 1823, Buch III, Chap. III., § 6., Bd. 2, 168.

105 gung zur Selbsttätigkeit verstanden werden. Die Beziehung von Zeichen und Bezeichnetem ist dabei nicht als ein Kausalitätsverhältnis im Sinne von Ursache und Wirkung zu sehen.38 Mit Berkeley nimmt Hume an, daß Allgemeinheit nicht in dem absoluten positiven Wesen von etwas bestehe, das durch Abstraktionsprozesse entstehen könne, sondern geht statt dessen davon aus, daß Allgemeinheit ausschließlich in der Beziehung eines Dinges zu anderen Einzeldingen bestehe. 39 Christian Wolff und Johann Heinrich Lambert vertreten demgegenüber die Ansicht, »daß die allgemeinen Dinge schlechthin nur in den ihnen untergeordneten einzeln Dingen existiren«.40 Allgemeinheit von Erkenntnissen wird bei Wolff und Lambert auf das Bestehen von Ähnlichkeitsverhältnissen, die Grundlage der Einteilung in Gattungen und Arten sind, zurückgeführt, was auch für Herders Ansatz zutrifft, der Allgemeingültigkeit als darin bestehend betrachtet, daß die an einem besonderen Beispiel festgestellten Regularitäten für alle Beispiele gelten, welche ähnliche Verhältnisse aufweisen. Damit ist Allgemeingültigkeit als ein Wissen über alle ähnlichen Beispiele zu betrachten, das nicht in jedem Einzelfall geprüft zu werden braucht und somit nach Herders in Anlehnung an Lambert differenziertem Verständnis des Begriffs als Erkenntnis a priori anzusehen ist.41 Lambert bezeichnet Allgemeinheit als nicht mehr ontologisch begründet, sondern vor allem logisch, so daß er erklärt, »die Lehre vom Allgemeinen und Besondern, von den Arten und Gattungen in Absicht auf die daher rührende Form unserer gesammten Erkenntniß betrachten« 42 zu wollen. Die Bedeutung seiner Untersuchung sieht er in der Beantwortung der Frage begründet, inwiefern die Einteilung der Begriffe und Dinge, wenn sie nach Ähnlichkeitsverhältnissen eingerichtet werde, dazu diene, ein »vollständiges Ganzes«, d. h. ein System der Erkenntnis zu errichten, und so zu einer »wissenschaftlichen Anordnung der Erkenntnis« zu gelangen. 43 Allgemeine Kenntnisse basieren demnach auf der Zusammenfassung von Ähnlichkeiten, die wissenschaftlich sei, sofern hierbei ebenso wie in der Benennung der gefundenen Ähnlichkeits-

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Ich folge in diesen Ausführungen der Darstellung von Rauter, Herbert 1970: Die Sprachauffassung der englischen Vorromantik in ihrer Bedeutung für die Literaturkritik und Dichtungstheorie der Zeit, Bad Homburg v.d.H./Berlin/Zürich, 15ff. und 42ff. Vgl. Herders Ausführungen über Berkeley und Hume im 15. Kapitel der Metakritik sowie Ritter, Joachim (Hg.) 1971: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel, Artikel »Allgemeines/Besonderes«, III. - 1., verf. von Heinrich Schepers, 180. Heinrich Schepers verweist auf folgende Belegstellen: Christian Wolffs Ontologia, §§ 230-235 und Logica, §§ 49-56 sowie Lamberts Architektonik, 1. Bd., § 161, 121. Die Auffassung des a priori-Begriffes bei Lambert und Herder ist Gegenstand des Kapitels II. 1.3. über die Frage apriorischer und aposteriorischer Erkenntnis unten in dieser Arbeit. Architektonik, 1. Bd., § 161, 121. Vgl. Architektonik, 1. Bd., § 161, 121f.

106 Verhältnisse Willkürlichkeit vermieden werde. 4 4 Lamberts Einteilung in Arten und Gattungen aufgrund v o n Ähnlichkeitsverhältnissen gründet nach seinen Bestimmungen in d e m fünften Hauptstück der Architektonik

auf folgenden Sät-

zen: 1°. So viel man zusammengesetzte Begriffe und Dinge gedenken will, lassen sich noch mehrere gedenken, und sie sind den Graden und der Art nach stuffenweise von 0 bis so viel man will von einander verschieden, (§. 122.). 2°. Es giebt nicht zwey durchaus und in allen Absichten verschiedene Dinge oder Begriffe, (§. 146.). 3°. Jede zwey Dinge, oder deren Begriffe, lassen sich in Absicht auf die Identität und Aehnlichkeit mit einander vergleichen, (§. 142. Postul. 4. §. 124.) 4 5 Wenn die ähnlichen Merkmale mehrerer D i n g e zusammengefaßt werden, können sie einen eigenen Begriff ausmachen, der wiederum mit einer Bezeichnung versehen werden kann, womit der Sprache die Funktion eines Ordnungsprinzips zukommt. Das Ähnliche wird dabei behandelt, »als wenn es für sich und ohne die jedesmal damit verbundene Verschiedenheiten existirte.« 4 6 4°. Das Aehnliche zweyer oder mehrerer Dinge oder Begriffe kann für sich gedacht, und mit einem Namen benennet werden.47 Dieses zuletzt genannte Postulat kann, w i e Lambert ausführt, erfüllt werden aufgrund des Vorhandenseins einer speziellen Wortklasse in der natürlichen Sprache, deren Elemente die »Substantiua

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abstracta,

z. E. Vollkommenheit, Tu-

Vgl. Architektonik, 1. Bd., § 165, 124. Architektonik, 1. Bd., § 162, 122. Architektonik, 1. Bd., § 164, 123. Diese Definition allgemeiner Begriffe entspricht derjenigen, die Christian Wolff in seiner Lateinischen Logik Philosophia rationalis sive logica, Part. I Sect. II. Cap. II, § 110 (Nachdruck der Ausgabe Frankfurt und Leipzig 1740, hg. und bearb. von Jean Ecole, Hildesheim 1983, II. Abteilung, Lateinische Schriften, Bd. 1.2) für abstrakte Begriffe vorlegt: »Notio abstracto est, quae aliquid, quod rei cuidam inest, vel adest, repraesentat absque ea re, cui inest vel adest. Concreta autem est notio, quae aliquid, quod alteri inest, vel adest, repraesentat ut eidem inexistens.« Wolfis Definition allgemeiner Begriffe lautet dahingegen in der Philosophia rationalis sive logica, Part. I Sect. I. Cap. II., §113: »Notio communis est, quae pluribus communia exhibet: notio singularis, quea rem singularem seu individuum repraesentat.« (Vgl. Lenders, Winfried 1971: Die analytische Begriffs- und Urteilstheorie von G.W. Leibniz und Chr. Wolff, Hildesheim, 96f.) Lambert übernimmt diese Unterscheidung in seiner Dianoiologie nicht, obwohl er sich in diesem Teil des Neuen Organons explizit an Christian Wolfis Schriften orientiert (vgl. Vorrede, Seite 5f. unpaginiert). Er bestimmt dort § 17, 11: »Endlich lassen sich die Sachen, wovon wir Begriffe suchen, noch in einer andern Absicht betrachten. Da der Begriff der Arten und Gattungen nur die Merkmaale in sich faßt, die die Sache mit andern gemein hat, so läßt man in diesem Begriff alle eigene Merkmaale weg, und stellt sich die gemeinsamen besonders vor. Die Verrichtung des Verstandes, wodurch dies geschieht, nennt man abstrahiren, absondern, abziehen. Man abstrahirt die gemeinsamen Merkmaale von den eigenen, damit man jene besonders habe, welche sodann einen abgezogenen, allgemeinen, oder abstracten Begriff ausmachen. Nimmt man die weggelassenen Merkmaale wiederum dazu, so heißt die Verrichtung, wodurch es geschieht, zusammensetzen oder verbinden.« Architektonik, 1. Bd., § 162, 122.

107 gend, Verstand« sind, die nicht Substanzen, sondern die »auf eine bloß ideale Art« zu betrachtenden Ähnlichkeiten der Dinge bezeichnen, welche Lambert als »etwas den Substanzen ähnliches« 48 betrachtet. 49 Herder exzerpiert diese Bemerkung aus dem entsprechenden § 164 der Architektonik: »D[a]s Ähnl. in den Substantivis abstractis sehen wir blos erdichtungsweise u. ideal als etwas für s[ich] bestehendes an § 164.« 50 Diese abstrakten Wörter werden unter Berücksichtigung des Grundsatzes der sprachlichen Analogiebildung durch bestimmte Endungen, wie -heit, -keit, -niß, -sal, -schaft, -ung u.s.w. gebildet, so daß »der Begriff des abgeleiteten Hauptwortes durch den Begriff desjenigen Wortes bestimmt wird, von welchem es abstammt«. 51 Die mit »abstrakten Substantiven« bezeichneten Begriffe bilden die Voraussetzung für die allgemeine und die wissenschaftliche Erkenntnis über zusammengesetzte Dinge. 52 In der Semiotik erklärt Lambert die »abstrakten Substantive« zu denjenigen Elementen der Sprache, die sie vom »Sinnlichen zum Abstrakten« erhöhe 53 und sie zur »gelehrten Sprache« 54 mache, da die Erkenntnis des Allgemeinen und des Abstrakten in jedem Fall symbolisch, d. h. unter Verwendung von Zeichen, erfolgen müsse. Von dem Vorhandensein »abstrakter Substantive« in einer Sprache hänge ferner ab, ob ihre Ausbildung zu einer »wissenschaftlichen und durchaus regelmäßigen Sprache«, 55 die Benennungen für alle in der realen Körperwelt anzutreffenden Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten bereitstellen kann, zumindest prinzipiell denkbar ist. Die Ähnlichkeit des Eindrucks, den Lambert bei sinnlichen und geistig-intellektuellen Gegenständen annimmt, soll dann eine Ausweitung der Sprache auf sämtliche abstrakte und nicht sinnlich wahrnehmbare Begriffe möglich machen, indem entweder metaphorische Wendungen herangezogen werden oder aber konkrete Substantive oder Adjektive, die durch die Anfügung von bestimmten Suffixen abgeleitet werden und auf diese Weise die Eignung zur Bezeichnung abstrakter Begriffe erhalten. 56 Weiterhin belegen Herders Exzerpte aus diesem fünften Hauptstück Das Allgemeine und Besondere sein gezieltes Interesse an den Paragraphen 194 und 196 bis 198, in denen sich Lambert im Anschluß an seine detaillierten Ausfüh-

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Architektonik, 1. Bd., § 164, 123. Lambert beschreibt die grammatischen Wortbildungsregeln der abstrakten Substantive in der Semiotik, § 138, 83: »Im Deutschen unterscheiden sie sich durch die Endungen: heit, keit, niß, sal, schaft, thum, ung, &c. wodurch sie häufig abgeleitet werden, z. E. Schönheit, Möglichkeit, Hinderniß, Trübsal, Eigenschaft, Eigenthum, Aenderung, &c. und zu diesen kommen noch unzählige, die von Zeitwörtern hergenommen werden, z. E. das Schreiben, die Schrift, die Lehre, das Vermögen, &c.« Aus dem Manuskript zitiert, befindlich in Kapsel XV 412 Grundsätze aus Lamberts Architektonik, B1 2. Der handschriftliche Nachlass Johann Gottfried Herders 1979, 104. Vgl. Semiotik, § 201, 117f. Vgl. Architektonik, 1. Bd., § 165, 124. Semiotik, § 202, 118. Semiotik, § 138, 83. Semiotik, § 137, 82f. Semiotik, § 137-142, 8 2 - 8 4 und § 202, 118f.

108 rangen zu der Einteilung von Arten und Gattungen methodischen Fragen der Systematik zuwendet. Er nimmt hier einen Vergleich zwischen der Mathematik und der Philosophie vor im Hinblick auf die in dem jeweiligen Bereich zur Gewinnung allgemeiner Begriffe und Sätze angewendeten Methoden, der für Herder von besonderem Interesse gewesen sein muß, da er hier eine auf der Logik basierende Erklärung seiner Annahme, daß allgemeine Begriffe grundsätzlich auf besondere rückführbar sein müssen, finden konnte: Zu diesem Ende merken wir an, daß die Mathematiker, wie in allem, was Methode heißt, so auch hierinn den Philosophen mit einem guten Beyspiele vorgegangen. [...] Die Mathematiker suchen nämlich allerdings auch ihre Begriffe, Sätze und Aufgaben allgemeiner zu machen, allein dieß geschieht nicht so, daß sie im abstrahiren bald alles wegließen, sondern sie nehmen ehender noch mehr Umstände dazu, und dadurch sehen ihre allgemeinen Formeln viel zusammengesetzter aus, als die specialen, weil sie in jenen alle Varietäten beybehalten, die in besondern Fällen vorkommen, und in vielen von diesen zum Theil wegbleiben. 57 Hingegen wird bey dem philosophischen Abstrahiren von den specialen Begriffen desto mehr ganz weggelassen, je abstracter oder je allgemeiner man sie machet. Und dieser Weg ist dem erstbeschriebenen so entgegengesetzt, daß da die Mathematiker ihre Begriffe und Formeln mit vieler Mühe und Sorgfalt allgemeiner machen, um die specialern nicht nur alle zu haben, sondern sie leicht daraus herleiten zu können; den Philosophen hingegen das Abstrahiren sehr leicht, dagegen aber die Bestimmung des Specialen aus dem Allgemeinen desto schwerer wird. Denn bey dem Abstrahiren lassen sie alles Speciale dergestalt weg, daß sie es nachher bald nicht mehr wieder finden, und noch weniger die Abwechselungen, die es leidet, genau abzählen können. 58 57 58

Architektonik, 1. Bd., § 193, 154. Architektonik, 1. Bd., § 194, 154f. Emst Cassirer beschreibt den aus dieser Bestimmung sich ergebenden Unterschied hinsichtlich der wissenschaftlichen Exaktheit der verwendeten Zeichen zwischen den mathematischen und den philosophischen Wissenschaften: »Diese schlichte Bemerkung enthält in der Tat den Keim zu einer tiefen und folgenreichen Unterscheidung. Das Ideal des wissenschaftlichen Begriffs tritt hier der schematischen Gattungsvorstellung, die ihren Ausdruck im bloßen sprachlichen Wortzeichen findet, gegenüber. Der echte Begriff läßt die Eigentümlichkeiten und Besonderheiten der Inhalte, die er unter sich faßt, nicht achtlos beiseite, sondern er sucht das Auftreten und den Zusammenhang eben dieser Besonderheiten als notwendig zu erweisen. Was er gibt, ist eine universelle Regel für die Verknüpfung des Besonderen selbst. So können wir von einer allgemeinen mathematischen Formel - etwa von der Formel der Kurven zweiter Ordnung - zu den speziellen geometrischen Gebilden des Kreises, der Ellipse usw. gelangen, indem wir einen bestimmten Parameter, der in ihr auftritt, als veränderlich betrachten und ihn eine stetige Reihe von Größen werden durchlaufen lassen. Der allgemeine Begriff erweist sich hier zugleich als der inhaltsreichere; wer ihn besitzt, der vermag aus ihm alle mathematischen Verhältnisse, die an dem besonderen Problem auftreten, abzuleiten, während er anderseits dieses Problem nicht isoliert, sondern in kontinuierlicher Verknüpfung mit anderen, also in seiner tieferen systematischen Bedeutung erfaßt. Die Einzelfälle sind nicht von der Betrachtung ausgeschieden, sondern als völlig bestimmte Stufen im allgemeinen Prozeß der Veränderung fixiert und festgehalten. Wiederum zeigt es sich hier von einer neuen Seite, daß nicht die »Allgemeinheit« eines Vorstellungsbildes, sondern die Allgemeingültigkeit eines Reihenprinzips das charakteristische Moment des Begriffs bildet. Wir heben aus der Mannigfaltigkeit, die uns vorliegt, nicht irgendwelche abstrakten Teile heraus, sondern wir schaffen für ihre Glieder eine eindeutige Beziehung, indem wir sie durch ein durchgreifendes Gesetz verbunden denken. Und je weiter wir hierin fortschreiten, je fester dieser Zusammenhang nach Gesetzen sich knüpft, um so deutlicher tritt auch die eindeutige Bestimmtheit des Besonderen selbst

109 Beispielhaft werde somit in der Mathematik verfahren, weil hier eine Bestimmung des Besonderen aus dem Allgemeinen in jedem Fall möglich sei. 59 Indem allgemeine Begriffe nicht durch einen Abstraktionsprozeß unter Reduktion der enthaltenen Informationen beziehungsweise der besonderen Merkmale gebildet würden, könne der Einzelfall jederzeit aus dem Allgemeinbegriff deduziert werden. Den Grund dafür, daß in der Philosophie bisher nicht in dieser Weise verfahren werde, sieht Lambert darin, daß in der Mathematik solche Bestimmungen und Verhältnisse allgemein ausgedrückt würden, die bei philosophischen Abstraktionen weggelassen würden, weil häufig davon ausgegangen werde, daß die Bestimmungen der einzelnen Arten zu unterschiedlich seien, um diese selbst oder eine Verallgemeinerung dieser Bestimmungen beibehalten zu können. 60 Lambert wendet gegen diese üblicherweise herangezogene Rechtfertigung ein, daß zu große Unterschiede der Bestimmungen nur dann vorlägen, wenn entweder die Arten, aus denen der Begriff der Gattung abstrahiert werde, schlecht gewählt seien, oder wenn diese nicht benannt werden könnten, weil die Sprache keine Wörter zur Verfügung stelle, mit denen das Allgemeine besonderer Bestimmungen und Verhältnisse treffend ausgedrückt werden könne, da die besonderen Bestimmungen Modifikationen, d. h. konkrete Anwendungen61 des Allgemeinen sein sollten. 62

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zutage. So gelangt - um nur ein einzelnes bezeichnendes Beispiel zu gebrauchen - die Anschauung unseres Euklideischen dreidimensionalen Raumes nur zu um so schärferer Auffassung, indem wir in der modernen Geometrie zu »höheren« Raumformen emporsteigen, da auf diese Weise erst das gesamte axiomatische Gefüge dieses unseres Raumes sich in voller Deutlichkeit heraushebt.« Cassirer, Ernst 1923: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin, 25f. John Neubauer geht davon aus, daß Novalis diese von Ernst Cassirer festgestellte »epochale Einsicht der Wolffschen Schule gegenüber«, nämlich daß nur die mathematischen Allgemeinbegriffe die konkreten Begriffe umfassen, erkannt haben muß. Vgl. Neubauer, John: Symbolismus und symbolische Logik, München 1978, 62f. Ernst Cassirer beschreibt 3 1973 dieses Prinzip anschaulich in: Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen, 386: »Die Funktionsformel in ihrer allgemeinen Form enthält freilich nur die universelle Regel, nach der sich die Abhängigkeit der Variablen voneinander bestimmt; aber es ist jederzeit möglich, von ihr auf irgendeine besondere Gestalt zurückzugreifen, die, als besondere, durch bestimmte Einzelgrößen, durch ihre individuellen Konstanten bezeichnet wird. Jede Bestimmung dieser Größen - z. B. je eine bestimmte Länge, die wir der großen und der kleinen Achse der Ellipse geben - führt zu einem neuen Einzelfall; aber alle diese Einzelfälle >sind< insofern dasselbe, als sie für den Geometer ein und dasselbe bedeuten. Es ist der gleiche geometrische Sinn, es ist das identische Sein und die identische Wahrheit der Ellipse, die sich uns in der bunten Fülle der Sondergestalten verbirgt und die durch die analytische Formel in ihrer eigentlichen Wesenheit bezeichnet und gewissermaßen enthüllt wird.« Vgl. Architektonik, 1. Bd., § 196, 156f. Lambert klärt sein Verständnis von Modifikationen durch ein Beispiel ab: die besonderen Bestimmungen von Ort und Zeit seien die Modifikationen der allgemeinen Begriffe von Ort und Zeit und ihrer Verhältnisse. Modifikationen sind also Einschränkungen der Allgemeinheit durch Einführung und Variation näherer Bestimmungen. Vgl. die Definition im 1. Hauptstück der Dianoiologie, § 23, 14: »Die veränderlichen Bestimmungen einer einzelnen Sache werden Zufälligkeiten, Modiftcationen genennt, weil sie an dem Hauptbegriffe der Sache nichts ändern. Die beständigen Merkmaale aber lassen sich in ver-

110 Lambert z e i g t weiterhin, daß auf der Grundlage v o n ersten Grundbegriffen, die sich auf die Erfahrungen der körperlich g e g e b e n e n Welt beziehen, ein S y stem von Arten und Gattungen vorstellbar ist, das der in der Mathematik angewandten M e t h o d e , die B e s t i m m u n g e n und Verhältnisse der Arten bei der Verallgemeinerung zu berücksichtigen, w o m i t d e m Anspruch der Herleitbarkeit aus d e m A l l g e m e i n e n G e n ü g e geleistet werden kann, entspricht. 6 3 Erste Anfänge einer derartigen Theorie erkennt Lambert in der Mechanik und in ähnlicher Weise wird seiner Ansicht nach auch in der Vernunftlehre oder Logik hinsichtlich bestimmter

abstrakter Gegenstände

des Geistes verfahren.

Aus-

gegangen w e r d e in d i e s e m Fall nicht v o n e i n e m singulären Gegenstand oder e i n e m Individuum, sondern von e i n e m Begriff und d e s s e n B e s t i m m u n g e n , der einer A n a l y s e hinsichtlich seiner Bestandteile unterworfen werden m ü s s e und der schrittweise mit mehreren anderen B e g r i f f e n in B e z u g auf diese Merkmale verglichen werde. D i e s e m Verfahren habe die Logik ihre »Unveränderlichkeit«, d. h. die G e w i ß h e i t ihrer Schlußfolgerungen zu verdanken, »weil auf diese Art Verwirrungen, Lücken und Widersprüche ein für allemal g e h o b e n werden, und g a n z w e g f a l l e n . « 6 4 Lambert äußert in d i e s e m Kapitel abschließend die Ü b e r z e u g u n g , 6 5 daß auch die m e t a p h y s i s c h e Erkenntnis nur dann unveränderlich, d. h. w i s s e n s c h a f t l i c h werden könne, sofern in ebendieser W e i s e Verallgemeinerungen v o r g e n o m m e n würden. 6 6

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schiedene Klassen bringen, in so fern eines das andre nothwendig an sich zieht. Diejenigen, welche für sich zureichen, den Begriff der Sache zu bestimmen, werden die wesentlichen Merkmaale, oder das Wesen der Sache genennt. Die übrigen, die aus diesen folgen, oder durch diese zugleich mit bestimmt werden, heißen Eigenschaften.«. Vgl. Architektonik, 1. Bd., § 196, 156f. Vgl. Architektonik, 1. Bd., § 197, 157f. Zu diesem Zweck müssen die gemeinsamen Bestimmungen wie »Figur, Lage, Größe, Dauer des Ortes und der Zeit, der Bewegung, Direction, Geschwindigkeit und Kraft« einer möglichst großen Anzahl von Gegenständen im Hinblick auf ihre Verhältnisse miteinander verglichen werden. So kann man »aus denselben ganze Systemen machen, und von diesen Systemen wiederum eine jede beliebige Anzahl zusammen nehmen und mit einander in Verbindung bringen.« Es wurde bereits angemerkt, daß Herder diesen Paragraphen ebenso wie den vorangehenden und den nachfolgenden in seinen Exzerpten erwähnt. Architektonik, 1. Bd., § 198, 160. Die konditionale Formulierung bringt Lamberts Ansicht zum Ausdruck, daß die Philosophie aufgrund des beschriebenen methodischen Unterschieds nicht in der Weise wie die Mathematik wissenschaftlich ist, obwohl sie es sein könnte. S. in der Einleitung Seite Xf. zu Band I des Neuen Organons von Hans-Werner Arndt dessen Beurteilung der zentralen Bedeutung des Begriffs der Allgemeinheit von Begriffen und Sätzen in Lamberts Werk. Nach Arndt »wird der Allgemeinbegriff betrachtet als ein solcher, der alle besonderen Spezifikationen, die er durch fortschreitende Bestimmung erhalten kann, der Möglichkeit nach bereits in sich enthält. [...] Die mathematischen Sätze schienen die Herleitung aller unter ihnen enthaltenen einzelnen Fälle durch vollständige Aufzählung, z. B. die sog. Fallunterscheidungen zu gewährleisten. Die Grundwissenschaft sollte sich so in Form eines Axiomensystems darstellen lassen, dessen erste Begriffe und Sätze nicht nur Herleitungsprinzipien aller aus ihnen apriorisch deduzierbaren Aussagen, sondern zugleich auch Grundprinzipien der von der menschlichen Erkenntnis erfaßten Wirklichkeit sind.«

111 In dem § 193 der Architektonik, in dem Lambert die Erörterung der Methodenfrage aufnimmt und aus dem oben bereits zitiert wurde, verweist Lambert wiederum auf den §110 der Dianoiologie, in dem er bereits auf den Unterschied, der zwischen den allgemeinen Begriffen der Mathematik und der Philosophie besteht, hingewiesen hat: Wir können hiebey gelegentlich anmerken, daß man in der Mathematik ganz anders verfahrt, weil darinn die allgemeinsten Begriffe und Sätze am allerzusammengesetztesten sind. Man läßt alle Umstände und Größen unbestimmt, aber man abstrahirt nicht davon, sondern zieht sie mit in die Rechnung, und dadurch werden die allgemeinen Formeln so weitläuftig. Hingegen dient dieses Verfahren dazu, daß man nicht nur jede besondere Fälle und Arten leichter bestimmen, sondern sich auch versichern kann, daß man alle habe. [...] Diesen Vortheil würde man bey den Qualitäten gleichfalls erhalten, wenn man ein Mittel hätte, in den allgemeinen Begriffen der Gattungen die Begriffe der Absichten, in welche sie sich eintheilen lassen, und gleichsam einen Schattenriß der Glieder jeder Eintheilung beyzubehalten. Allein bisher lassen wir das unbestimmte in den Begriffen ganz weg, dahingegen die Mathematiker es als unbestimmt anzeigen, um es so zu reden nicht aus dem Gesichte zu verlieren, sondern es jedesmal nach Erforderniß oder auch nach Belieben bestimmen zu können. 67

In den folgenden Paragraphen 111 bis 114 führt Lambert an, inwiefern dieser Mangel der Philosophie jedoch zumindest teilweise aufgefangen werden kann. Zunächst stellt Lambert fest, daß nicht alle allgemeinen Begriffe jeden Hinweis auf die besonderen Bestimmungen der Arten und Individuen entbehren, wenn diese auch nur »auf eine confuse Art bewußt sind.« Beispielsweise »ist das Bild, so wir uns machen, wenn wir uns den allgemeinen Begriff eines Menschen, eines Baumes, eines Hauses, einer geometrischen Figur &c. vorstellen, so beschaffen, daß wir uns auf eine confuse Art, wenigstens der bekanntesten Theile bewußt sind.«68 Auch bei abstrakten Begriffen kann nach Lambert von einer derartigen konfusen Vorstellung und inneren Empfindung der Merkmale der gegebenen Einzelfälle ausgegangen werden, die nicht deutlich unterschieden und mit Worten benannt werden können. Lambert schließt, daß, »wenn wir einen allgemeinen Begriff durch viele und richtige Erfahrungen erlangt haben, in demselben vielmehr sich befinde, als wir mit Worten ausdrükken, wenn wir ihn erklären. Und vielleicht ist es eben dieses, was die Beyspiele bey vielen von unsern Erklärungen nothwendig macht.«69 Beispiele sind somit dazu geeignet, das zum Ausdruck zu bringen, was von einem allgemeinen Begriff durch das entsprechende abstrakte Substantiv allein nicht gesagt werden kann. Weiterhin folgert Lambert, daß es grundsätzlich möglich sein müsse, »in dem Begriff einer Gattung alles beyzubehalten, was die Unterschiede der Arten bis in ihre kleinsten Theile und Bestimmungen noch Allgemeines haben, und darinn zugleich auch die Anzahl und Beschaffenheit der Arten noch mit anzu-

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Dianoiologie, § 110, 69f. Dianoiologie, § 111, 70. Dianoiologie, § 112, 71 f.

112 zeigen.« 70 Lambert nennt nun als Mittel, derartige allgemeine Begriffe sprachlich zum Ausdruck zu bringen, solche Metaphern, welche in einer bildlich-figürlichen Darstellung einen Begriff veranschaulichen. Es werden von Lambert zwei Beispiele angegeben: Am vollständigsten aber geben uns die Stammtafeln [genealogische Stammbäume] oder vielmehr die allgemeinen Formeln derselben ein Beyspiel von vollständig entwickelten Begriffen. Die Grade der Verwandschaft haben mit den Figuren, wodurch sie vorgestellt werden, eine solche Aehnlichkeit, daß die Namen von diesen selbst in den Civilgesetzen statt jener gebraucht werden. Und unter allen Metaphern, die man in der Sprache hat, werden diese die genauesten seyn. So hat auch in der Tonkunst der einige Einfall, daß sich die verschiedenen Töne mit dem Begriffe der Höhe und Tiefe vergleichen lassen, dazu Anlaß gegeben, die Töne und ihre Unterschiede zu malen, und sie auf den Notenlinien kenntlich vorzustellen. Daß ein Ton höher sey, als ein andrer, ist eine bloße Metapher. Indessen macht sie die musikalische Erkenntniß figürlich, und dadurch beurtheilt gleichsam das Auge, was schlechthin ein Gegenstand des Gehörs war. 71

Diesen »genauesten« metaphorischen Verwendungen der Wörter der ersten Wortklasse sowie den erwähnten abstrakten Substantiven, bei denen das konkrete Wort, von dem sie abgeleitet werden, noch erkennbar ist, kommt somit die Funktion zu, allgemeine Begriffe - die nach Lamberts Ansicht mit figürlich-konkreten Vorstellungen verbunden werden können 72 - in der Weise zu benennen, daß auch in der Philosophie dem an der Mathematik gewonnenen wissenschaftlichen Maßstab von Allgemeinheit Genüge geleistet werden kann. Ein auf derart genauen Metaphern und abstrakten Ausdrücken basierender Sprachgebrauch muß somit als das tragende Element einer streng methodisch vorgehenden Philosophie betrachtet werden, die damit von Lambert als direkt realisierbar angesehen wird. Da der Gebrauch von Metaphern in der »genauesten« Form sowie der abstrakten Substantive als ein universeller Aspekt von Sprache jedoch nicht auf die Formulierung philosophischer Überlegungen beschränkt ist, ermöglichen dieser metaphorische und abstrakte Sprachgebrauch bei sämtlichen Gegenständen, die durch Sprache dargestellt werden, die Aufbewahrung der besonderen Beispiele in dem allgemeinen Ausdruck. Herders Ausführungen zu der Konstruktion solcher allgemeinen Begriffe, die eine Rückführung auf die konstituierenden besonderen Begriffe zulassen, sowie zu der unabdingbaren Bedeutung des Zeichens sowohl für die Bildung allgemeiner Begriffe als auch für ihre Anwendung auf konkrete Fälle finden somit hinsichtlich des anzustrebenden Allgemeinheitsbegriffes in der Philosophie ebenso wie der Bedeutung des sprachlichen Zeichens ihre Erklärung in den hier aufgezeigten Erläuterungen Lamberts. 70 71 72

Dianoiologie, § 112, 72. Dianoiologie, § 113, 72f. Vgl. Dianoiologie, § 114, 73: »So ist man schon längst gewohnt die Arten und Gattungen unter die hohem Gattungen zu ordnen, wenn sie Tabellenmäßig vorgestellt werden, daß man mit einem Anblicke übersehen kann, wie sie von einander abstammen, und solche Tabellen sind den vorhin angeführten Formeln von Stammtafeln vollkommen ähnlich.«

113 In der Herstellung der gegenseitigen Bezugnahme von allgemeinen und besonderen Begriffen sind Herder zufolge die Methoden der Synthese und der Analyse als notwendige Teiloperationen der menschlichen Erkenntnistätigkeit zu betrachten, die im folgenden zur Darstellung kommen sollen. 1.2.

Synthese und Analyse als Methoden der Begriffsoperation

1.2.1. Herders Kritik an Kants synthetischen

Urteilen a priori

Herder vertritt grundsätzlich die Ansicht, daß es das von Kant angenommene reine Vernunftwissen, welches allein auf synthetische Urteile a priori abzielt, nicht geben könne. Bereits in dem ersten Kapitel der Metakritik bezieht sich Herders zweite Frage im Anschluß an die von ihm zitierte Passage über den Entwurf einer Kritik der Vernunft - nachdem der Begriff des a priori in der ersten Frage thematisiert wurde - auf die Bedeutung des Begriffs »Synthese« oder »synthetisch«. Herder orientiert sich in seiner Antwort zunächst unmittelbar an der Mathematik, indem er darauf hinweist, daß mit dem Terminus »Synthese« hier eine Beweismethode bezeichnet werde, bei der von ersten Begriffen und Grundsätzen schrittweise auf den zu beweisenden Satz geschlossen werde. Bei dem analytischen Beweisverfahren, das ausgehend von dem zu beweisenden Satz entweder zu den Grundsätzen der Vernunft oder der Erfahrung zurückführe, werde umgekehrt vorgegangen. Ein nach der einen Methode aufgefundenes Ergebnis könne auf dem Wege der jeweils anderen Methode überprüft werden und beide sich auf diese Weise einander ergänzen. In der Anwendung als philosophischer Methode werde bei der Synthese von gegebenen Erfahrungen ausgegangen, bei dem analytischen Vorgehen hingegen von allgemeinen Begriffen. Somit basiert die von Herder in der Metakritik beschriebene Wechselbeziehung zwischen besonderen Erfahrungen als Grundlage jeder Erkenntnis und allgemeinen Vernunftbegriffen, die wiederum auf besondere Beispiele angewendet werden sollen, auf der Annahme einer gegenseitigen Bedingtheit der analytischen und der synthetischen Methode. Herders Akzentuierung des analytischen und des synthetischen Verfahrens als Methoden, die sich einander ergänzen, stellt eine explizite Abgrenzung gegen die von Kant eingeführte Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen dar, womit Herder sich an der im 17. und 18. Jahrhundert üblichen Interpretation von Analyse und Synthese orientiert. 73 Die Relevanz, die Herder dieser Differenz zwischen seiner Auffassung und derjenigen Kants beimißt, bringt er bereits in der Begründung seiner Wiedergabe einer Textpas73

Vgl. Arndt, Hans Werner 1971: Methodo scientifica pertractatum. Mos geometricus und Kalkülbegriff in der philosophischen Theorienbildung des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin/New York, 15 und Engfer 1982, 27, der Analyse und Synthese als die Schlüsselbegriffe der Methodendiskussion des 17. und 18. Jahrhunderts bezeichnet.

114 sage aus dem vierten Einleitungsabschnitt der Kritik der reinen Vernunft zum Ausdruck: Da auf diesen Unterschied [zwischen analytischen und synthetischen Urteilen], als auf den Schlüßel zum großen Geheimniß der transszendentalen Philosophie, alles ankommt,**) so laßet uns die Kritik darüber ausführlich hören. **) »Diese Eintheilung ist in Ansehung der Critik des menschlichen Verstandes unentbehrlich und verdient daher classisch zu seyn.« Prolegom. S. 30. 31. [IV, 17]. 74

Die Interpretation der Begriffe von Synthese und Analyse ist insofern tatsächlich von zentraler Bedeutung für das erkenntnistheoretische Gesamtkonzept der Kritik der reinen Vernunft, als sich Kants Formulierung der Frage nach den letzten Voraussetzungen der Erkenntnis75 darauf bezieht, wie synthetische Urteile a priori möglich sind.76 Jedoch lehnt Herder die von Kant vorgenommene Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen als grundsätzlich nicht zu der Form von Urteilen gehörend ab.77 Ein Urteil bestimmt er als eine Zusammensetzung, welche durchaus als eine Synthese bezeichnet werden könne, von Subjekt und Prädikat,78 wobei unter erkenntniserweiternden Urteilen solche verstanden 74 75 76

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Metakritik, 26. Vgl. Mannheim 2 1970, 166-245, vgl. 205ff. Arno Ros weist auf das Bestehen einer Diskrepanz hin, die zwischen der Mittelpunktstellung des Begriffes der synthetischen Urteile a priori in der Kritik der reinen Vernunft, deren eigentliche Aufgabe in der Beantwortung dieser Frage bestehen soll, wie solche Urteile möglich sind, und dem Stellenwert, den dieser Begriff in der neueren Kant-Literatur einnimmt. Die Frage, ob Kants Begriff der synthetischen Urteile a priori sich in einer methodisch überzeugenden, mit den Grundabsichten Kants in Einklang stehenden Weise explizieren lasse, werde stark vernachlässigt. Vgl. Ros, Arno: Kants Begriff der synthetischen Urteile a priori, in: Kant-Studien. Philosophische Zeitung der Kant-Gesellschaft, 82. Jg., Heft 2, 1991, 146. Es sei ferner darauf hingewiesen, daß Ros als einen Grund für die Probleme des Verständnisses von Kants Ausführungen angibt, »daß Kant bei der Formulierung seiner Exempel recht lax verfahren ist.« Für den methodisch verwertbaren Gebrauch von Beispielsätzen innerhalb urteilstheoretischer Überlegungen sei es nahezu unabdingbar, sich an einem bestimmten Prinzip zu orientieren. Dieses müsse das Prinzip sein, daß alles, was der jeweils vertretenen Auffassung nach zum Begriff, zur generellen Struktur einer bestimmten Klasse von Urteilen gehöre, auch in der allgemeinen Form der sprachlichen Erscheinungsweise der jeweils herangezogenen Beispielsätze zum Ausdruck kommen sollte. Dieses Prinzip habe Kant »aufs gröbste verletzt«. Eine dementsprechende Kritik ist bereits von Herder angebracht worden: »Ueberhaupt sind die Beispiele synthetischer Sätze in der Kritik durchaus übel gewählet.« Metakritik, 38. Hans-Jürgen Engfer weist in seiner Untersuchung der Analysiskonzeptionen im 17. und 18. Jahrhundert darauf hin, daß sich das Verständnis der Begriffe Analyse und Synthese besonders durch die »Kritik der reinen Vernunft« verschoben hat: »die heute im Umkreis der Begriffe Analyse und Synthese sich zuerst nahelegende Frage nach der Berechtigung der Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen beispielsweise wird erst nach der Kritik der reinen Vernunft möglich und ist von der nach der Unterscheidung analytischer und synthetischer Methodenkonzepte, die vor der Kritik der reinen Vernunft die Diskussion beherrschte, pünktlich zu unterscheiden.« Engfer 1982, 21. Diese Verknüpfung der Subjekt-Prädikat-Gliederung des Satzes mit logischen Urteilen wurde auch bei allen Allgemeinen Grammatikern wie dem oben erwähnten Johann Werner Meiner vorgenommen, denen zufolge die Kategorien der Grammatik auf dem Satz als der Form des logischen Urteils basieren. Vgl. Naumann 1986, 63.

115 werden, in denen das Prädikat etwas aussagt, was dem Subjekt selbst nicht unmittelbar zu entnehmen ist. Da die Nennung eines Subjekts nicht explizit Aufschluß über seine Merkmale, Verhältnisse und Beschaffenheit gäbe, sei eine Erweiterung von Kenntnissen nur durch solche Urteile zu erlangen, in denen das Prädikat Informationen enthalte, über die allein durch die Nennung des Subjekts noch keine Aussagen gemacht werden. Herder konzediert, daß Urteile dieser Art synthetisch genannt werden könnten. Er verwahrt sich jedoch dagegen, hierin eine wichtige Einteilung der Urteile zu sehen mit dem Argument, daß der Informationswert eines Prädikats über ein Subjekt in Abhängigkeit von dem Kenntnisstand des jeweils Urteilenden einzuschätzen und damit relativ sei. Herder weist ferner darauf hin, daß es eine allgemein bekannte Tatsache sei, daß Erfahrungssätze die Kenntnis erweiterten und daß daher diejenige Methode, die das Gegebene, d. h. nach Herder die konkrete Erfahrung, zugrunde legt, als synthetisch bezeichnet werde, »ohne daß man deßhalb auch in ihrem Gebrauch die Analysis ausschloß.« 79 Damit vertritt Herder im Unterschied zu Kant die Ansicht, daß eine Erweiterung der Kenntnis gleichermaßen durch Synthese wie durch Analyse möglich sei, wenn bei dem analytischen Vorgehen nicht nur durch eine Worterklärung das Prädikat aus dem Subjekt abgeleitet, sondern das Prädikat durch einen höheren Begriff, der Subjekt und Prädikat umfasse, mit dem Subjekt in Verbindung gebracht werde. Herder definiert die »wahre innere Synthesis des Urtheils« als Verknüpfung eines Subjekts mit einem Prädikat durch ein drittes Element, das sowohl ein höherer Vernunftbegriff als auch ein Erfahrungsmerkmal der Sinnlichkeit sein könne. Er schließt, daß eine Unterscheidung von Synthese und Analyse bei einzelnen Urteilen als eine Verknüpfung von zwei Begriffen irrelevant sei: Jedes behauptende Urtheil, als eine Verknüpfung zweier Begriffe, die nicht Ein und Dasselbe sind, muß einen Grund dieser Verknüpfung haben, folglich synthetisch, und sofern dieser Begriff mit andern zusammenhängt, aus denen er entwickelt wird, analytisch seyn: denn in der menschlichen Seele sind alle Begriffe verbunden. 80

Entgegen der von Kant unter dem fünften Einleitungspunkt der Kritik der reinen Vernunft postulierten Annahme, daß in allen theoretischen Wissenschaften der Vernunft synthetische Urteile a priori, die alleine einen Erkenntniszuwachs ermöglichen sollen, als Prinzipien enthalten seien, führt Herder die Möglichkeit von wissenschaftlichen Aussagen auf den erwähnten Typus von Sätzen zurück, in denen das Prädikat mehr umfasse als das Subjekt, da auf ihnen die Erweiterung von Kenntnissen basiere. 81 Daher schließt er, daß die Analyse aus höheren Begriffen und die Synthese aus neuen Erfahrungen sich gegenseitig bedingen müssen, da solche Aussagen nur dann zuverlässig und somit beweis-

79 80 81

Metakritik, 35. Metakritik, 35. Vgl. Metakritik, 36.

116 bar sein könnten, wenn dem analytischen bzw. dem synthetischen Schritt der jeweils entgegengesetzte in der Bildung der allgemeinen Begriffe resp. in der Rückführung der Erfahrungen auf Gründe vorangegangen sei. Dies entspricht Herders Ansicht zufolge auch dem in der Mathematik üblichen Verfahren. Herder weist weiterhin darauf hin, daß es entgegen der Ansicht Kants durchaus Beispiele analytischer Urteile in der Mathematik gäbe und daß man dem »Wesen der Mathematik« gemäß bei der synthetischen Methode auf die analytische angewiesen sei, um in wahren Aussagen zunächst zu identischen Begriffen zu gelangen. Herder greift zur Demonstration seiner Ausführungen das von Kant gewählte Beispiel eines mathematischen synthetischen Urteils a priori auf: Der Satz z. E. 7 + 5 = 12, der durchaus synthetisch seyn soll, [Kritik d. r. Vern. S. 14. [42]. Anm. in Herders Fußnote] ist weder synthetisch, noch analytisch, sondern identisch 1 = 1. Denn es ist Ein und Dieselbe Anerkennung der Vernunft, die die Einheit in 7, in 5, in 12 wahrnimmt; es ist derselbe Begriff in andern Zahlzeichen. 82

Nach Herder bedarf die »Analyse aus höheren Begriffen« der Synthese insofern als diese höheren Begriffe zunächst synthetisch gebildet werden müssen. Er führt folgendes Beispiel an, das wiederum auf Kant zurückgeht: »Daß die gerade Linie zwischen zwei Puncten die kürzeste sei,« ist kein Satz, der etwas Neues synthetisch hinzuthut, sondern der, sobald ich die Begriffe Gerade, Kurz, Linie, Punct inne habe, aus der Construction der mathematischen Linie, in der sich Ein Punct zum Andern bewegt, unwidersprechlich folgt, mithin ist er analytisch. Die Begriffe Gerade, Kurz, Linie, Punct aber sind gegebene Begriffe, über welche die Mathematik nicht hinausschreitet. 83

Die auf analytischem Weg gewonnene Feststellung, »daß die gerade Linie zwischen zwei Punkten die kürzeste ist«,84 setze die synthetische Konstruktion des Begriffes der mathematischen Linie, die aus aneinandergereihten Punkten bestehe, voraus. Die »Synthese aus neuen Erfahrungen« 85 verlange ihrerseits die Analyse, da die Gründe für die Erfahrungen nach dieser Methode gefunden werden müßten und diese erst anschließend in einem synthetischen Verfahren zu allgemeinen Begriffen weiterentwickelt werden könnten. Den Annahmen Kants, daß mathematische Urteile insgesamt synthetisch seien und daß dieser Satz den »Bemerkungen der Zergliederer der menschlichen Vernunft bisher entgangen«S6 zu sein scheine, widerspricht Herder unter Hinweis auf die Schriften Johann Heinrich Lamberts. Der entsprechende Fußnotentext in der Metakritik lautet: Kein mathematisches Lehrbuch hat den Unterschied beider Methoden unbemerkt gelaßen, so auch fast keine Logik. Lambert in seinem Organon und in seinen logischen Ab-

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Metakritik, 36. Metakritik, 36. Metakritik, 36. Metakritik, 36. Vgl. KrV, B 14/A 10.

117 Handlungen hat von beiden Methoden scharfsinnig gehandelt; aber freilich nur als von Methoden, wohin beide Begriffe auch nur gehören. 8 '

Diesen methodischen Stellenwert sollen die Begriffe Synthese und Analyse auch in den Naturwissenschaften haben, in denen alle nicht-identischen Sätze mittels der einen oder der anderen dieser beiden Methoden bewiesen werden müßten: In der Naturwissenschaft giebts allerdings Urtheile, in denen das Prädicat mehr als das Subject saget; übel wenn dieses nicht wäre. Auch sie aber, was sind sie? Entweder Erfahrungssätze oder aus höheren Urtheilen abgeleitete Begriffe, deren Richtigkeit erwiesen werden muß, oder sie verschwinden. 88

Kant bezeichnet ferner die »synthetischen Grundsätze a priori, sofern sie unmittelbar gewiß sind«,89 als Axiome, wobei aus seiner als systematisch bezeichneten Ordnung die mathematischen Grundsätze, weil sie allein in der Anschauung und nicht in reinen Verstandesbegriffen begründet seien, explizit ausgeschlossen werden.90 Da nach Herder weder Anschauungen ohne Verstandesbegriffe noch umgekehrt diese ohne jene möglich sind, kann er eine solche Ablösung der philosophischen Grundsätze von den mathematischen nicht akzeptieren. Explizit bezugnehmend auf die Schriften Descartes', Leibniz' und Lamberts weist Herder darauf hin, daß diese die Grundsätze der Mathematik durchaus beachtet hätten, da sie die Gewißheit der mathematischen Grundsätze als maßgeblich für alle Verstandesprinzipien angesehen und sie keineswegs ausgeschlossen hätten, weil sie »nur aus der Anschauung, nicht aber aus Verstandesbegriffen gezogen seyn.« Kants Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen ist in seinem Entwurf darüber hinaus mit der Annahme unterschiedlicher oberster Grundsätze 91 für beide Urteilsarten verbunden. Entsprechend der Ansicht Herders, daß Synthese und Analyse einander ergänzende Methoden seien und daß ein Zusammenhang zwischen Sinnlichkeit und Verstand bestehen müsse, hält dieser die Annahme zweier oberster Grundsätze anstelle eines einzigen ebenfalls für unangemessen. Herder beruft sich dabei auf seine Definition von Urteilen als Verbindung eines Subjekts mit einem Prädikat in einem Satz, die auf-

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91

Metakritik, 37. Metakritik, 37. KrV, B 760/A 732. Ludger Oeing-Hanhoff weist darauf hin, daß die »Dissoziierung von Mathematik und Philosophie hinsichtlich des methodischen Gebrauchs von Definitionen und Axiomen« auch das Ergebnis von Kants Kritik sei, da die Philosophie nach Kant keine Axiome habe, sondern ihre Grundsätze a priori durch gründliche Deduktion rechtfertigen müsse, weil ein synthetischer Grundsatz aus Begriffen nicht unmittelbar gewiß sein könne. Vgl. Ritter 1971, Bd. 1, Artikel »Axiom«, 746. Der Ausdruck »Grundsatz« ist durch Christian Wolffs Übersetzung von »Axiom« in seinem Mathematischen Lexikon von 1716 in die Philosophie- und Wissenschaftssprache eingegangen. S. Ritter, Joachim (Hg.) 1974: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel, Artikel »Grundsatz«, 924.

118 grund einer möglichen Übereinstimmung von Merkmalen der Begriffe des Subjekts und des Prädikats bejaht oder verneint werde. Herder bestimmt entgegen der Setzung Kants Grundsätze in expliziter Anlehnung an die Mathematik als solche Sätze, die nicht bewiesen werden müssen. Folglich können seiner Ansicht nach auch oberste Grundsätze oder Prinzipien keinen Beweis verlangen, da sie unmittelbar durch die Erfahrung einsichtig seien. Zweck der allgemeinen Grundsätze des Verstandes sei es, sie in gegebenen Objekten anzuerkennen, worin das zentrale Anliegen und »innigste Vergnügen« des menschlichen Verstandes bestehen soll.92 Kant gliedert statt dessen in seiner Aufzählung aller synthetischen Grundsätze diese in die sogenannten »mathematischen«, denen intuitive Gewißheit zukomme, und die »dynamischen«, die von diskursiver Gewißheit seien. Die »mathematischen Grundsätze« werden als »Principien aller Urtheile über Quantität und Qualität« 93 bezeichnet, wogegen Herder zunächst als formalen Einwand vorbringt, daß diese Sätze, wenn sie als Prinzipien anerkannt werden müßten, keinen Beweis nötig hätten. Da Kants »mathematische Grundsätze« ferner weder unmittelbare noch aus ihnen geschlossene Urteile über Quantität und Qualität zuließen, könnten sie nicht die Prinzipien der Quantitäts- und Qualitätsurteile darstellen. Weiterhin kritisiert Herder an Kants Aufzählung der »dynamischen Grundsätze«, daß ungeklärt bleibe, woher diese Grundsätze entständen, wie der Verstand dazu komme, sie als allgemein und notwendig anzunehmen, wie sie sich zueinander verhielten, wodurch sie zu obersten Prinzipien würden und welches wiederum ihr eigenes Prinzip bzw. ihr Grundsatz sei. 94 Von den als »dynamische Grundsätze« angeführten Analogien heißt es bei Kant, sie könnten [...] nicht als Grundsätze des transzendentalen, sondern bloß des empirischen Verstandesgebrauchs, ihre alleinige Bedeutung und Gültigkeit haben, mithin auch nur als solche bewiesen werden können, daß folglich die Erscheinungen nicht unter die Kategorien schlechthin, sondern nur unter ihre Schemate subsumieret werden müssen. [...] Nun sind es [die Gegenstände, auf welche die Grundsätze bezogen werden sollen] nichts als Erscheinungen, deren vollständige Erkenntnis, auf die alle Grundsätze a priori zuletzt doch immer auslaufen müssen, lediglich die mögliche Erfahrung ist, folglich können jene nichts, als bloß die Bedingungen der Einheit des empirischen Erkenntnisses in der Synthesis der Erscheinungen, zum Ziele haben; diese aber wird nur allein in dem Schema des reinen Verstandesbegriffs gedacht, von deren Einheit, als einer Synthesis überhaupt, die Kategorie die durch keine sinnliche Bedingung restringierte Funktion erhält. 95

Unter Analogie sind weiterhin in der Mathematik und der Philosophie nach Kant insofern verschiedene Dinge zu verstehen, als sie in der Mathematik die Gleichheit zweier verschiedener quantitativer Verhältnisse darstellen soll, in

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Vgl. Metakritik, 146. Zitiert nach Metakritik, 131. Vgl. Metakritik, 135. KrV B 223f./A 180f.

119 der Philosophie hingegen die Gleichheit verschiedener qualitativer Verhältnisse. 96 Herder gibt Kants Bestimmung seiner Auffassung von Analogie im Zitat wieder und schließt seine eigene Stellungnahme an: In der Mathematik ist Analogie, was sie in der Philosophie ist, Aehnlichkeit der Verhältniße. Daß in jener die Aehnlichkeit bis zum Einerlei genau seyn kann, entspringt aus der Art der Dinge, die ins Verhältniß gesetzt werden; es sind rein ausgedruckte Größen, in deren erstem Gliede der Exponent so bestimmt als im letzten, in den datis wie im quaesito erscheinet. Da in der Philosophie die Glieder der Verhältniße nicht Qualitäten allein, sondern Gegenstände mit allen ihren Qualitäten, Facta mit vielerlei Umständen, endlich Worte von mancherlei oft versteckter Bedeutung sind: so sind freilich die Data so wohl als das Quaesitum in der Philosophie selten, wie jene Größen der Mathematik, rein bestimmt', der Begriff der Analogie aber, d. i. die Handlung des Verstandes, die Verhältniße setzt, ist dort und hier dieselbe. Dort wie hier muß das zufindende Glied die Natur und Art der gegebnen Glieder haben; dort wie hier soll der Verstand das Einerlei in mehreren gegebnen Fällen erkennen, und um dies thun zu können, ist: »die Glieder des Verhältnißes möglich rein zu setzen,« seine erste Regel. Daß übrigens auch in der Mathematik der obere Begriff, unter welchem die Analogie steht, oft versteckt sei, und durch die Analogie nur annähernd gefunden werde, ist bekannt. Eigentlich also giebts nicht Analogieen, sondern Analogie, d. i. Aehnlichkeit der Verhältniße, die der Form nach auch bei veränderter Materie und Sache in allen Wißenschaften dieselbe bleibet. 9 7

In dieser Darstellung der Analogie als einer Handlung des Verstandes, die darauf abzielt, ähnliche Verhältnisse zu erkennen, wird ausdrücklich betont, daß es sich um ein in allen Wissenschaften gleichermaßen zur Anwendung kommendes Prinzip handelt, wobei Herder in Abgrenzung zu Kant das formale Vorgehen unterscheidet von der Materie des Erkenntnisgegenstandes. Das Prinzip des analogischen Verfahrens besteht Herder zufolge darin, einen »Exponenten gleicher oder ähnlicher Verhältniße «9i zu suchen, um auf diese Weise die Regelhaftigkeit von Ursachen und Wirkungen zu erfassen, die Antwort darüber gibt, nach welchen Gesetzmäßigkeiten die Veränderungen in der realen Welt ablaufen. Die Voraussetzung dieses Vorgehens ist die Annahme, daß über Unbekanntes aufgrund von dessen Ähnlichkeit mit Bekanntem Aussagen gemacht werden können. 99

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97 98 99

Vgl. KrV B 222/A 179. Es ist hier daran zu erinnern, daß Anlaß der Kritik Kants in seiner 1785 veröffentlichten Rezension der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit das auf Analogieschlüssen basierende Vorgehen Herders gewesen ist. Vgl. Kant, Immanuel 1970: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, Darmstadt (2., überprüfter reprograf. Nachdruck der Ausgabe Darmstadt 1964), A 17. Metakritik, 136. Metakritik, 140. Vgl. die ausführliche Untersuchung von Hans Dietrich Irmscher 1981: Beobachtungen zur Funktion der Analogie im Denken Herders, in: DVLG, 55. Jg. 1981, LV. Bd., 6 4 - 9 7 sowie die systematische Rekonstruktion von Georg Meggle 1970: Analogie und progressive Erkenntnis. J. G. Herders Erkenntnistheorie als Sprachtheorie, in: Vergleichen und verändern. Festschrift für Helmut Motekat, hg. von Albrecht Götze und Günther Pflaum, München, 5 2 - 7 3 .

120 Ausgehend von dem von Herder angenommenen Erkenntnisgegenstand der den Menschen umgebenden konkreten Welt - der methodisch geleiteteten Vernunfttätigkeit bezeichnet Herder den von Kant genannten obersten Grundsatz der synthetischen Urteile: »ein jeder Gegenstand steht unter den notwendigen Bedingungen der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung«100 als eine »Regel des Verstandes«, die besage: »was ich erkennen soll, muß mir erkennbar gegeben seyn; ich erkenne nur, was und wie es mir erkennbar ist«. 101 Der Konzeption der Grundsätze in der kritischen Philosophie Kants stellt Herder die Systeme der Philosophen Bacon, Descartes, Leibniz und Lambert gegenüber, die sämtlich »etwas Vesteres« 102 in ihren »allgemeinen Grundsätzen des Verstandes«103 entwickelt hätten. Erwähnt werden Francis Bacons Sammlung von allgemeinen Grundsätzen aus allen Wissenschaften in einer Grundphilosophie, der Entwurf eingeborener Ideen als reines Verstandesprinzip und Maß jeder Erkenntnis von Descartes, ferner Leibniz' Ergänzung des Grundsatzes der Identität durch das Prinzip der Kausalität, das besagt, daß nichts ohne zureichenden Grund sei, um den Identitätssatz »aus dem Reich des Daseyns ins Reich des Werdens«104 übertragen zu können. Da für Leibniz der Satz vom zureichenden Grund das gemeinsame Prinzip der Existenz eines Dinges, des Eintretens eines Ereignisses, des Vorliegens einer Wahrheit ist, umfaßt dieser Satz bei Leibniz »aus systematischer Absicht eine Vielzahl von Bedeutungen oder Anwendungen, die in einem wechselseitigen Abhängigkeitsver-

100 101

102 103 104

KrV, B 197/A 158. Metakritik, 130. »Müde vom Durchwandern öder Wüsten voll leerer Hirngeburten im anmaaßendsten Wortnebel [...]« (S. Metakritik, 141) entwickelt Herder anschließend an Hand seiner »Tafel der Begriffe eines anerkennenden Verstandes« (S. Metakritik, 141) jeweils einen theoretischen und einen praktischen Grundsatz für die angeführten Begriffsfelder. Eine derartige Untergliederung in theoretische und praktische Sätze ist auch bei Lambert zu finden: »Einmal mag es angehen, daß man die Sätze in theoretische und practische eintheile. Erstere zeigen z.E. nur, was die Sache ist, welche Eigenschaften und Verhältnisse sie habe &c. Letztere zeigen, daß eine Sache möglich sey, wie sie entstehe, welche Veränderungen sie leide &c. und zwar immer in Verhältniß auf uns, weil dieses sie eigentlich practisch macht. Dieses macht aber die practischen Sätze noch nicht zu Aufgaben, weil auf diese Art alle Aufgaben practisch seyn müßten. Man kann sie aber so gut als die Sätze in theoretische und practische eintheilen.« Dianoiologie, § 157, lOlf. Hans Werner Arndt weist auf die von Lambert vorgenommene Einteilung ebenfalls hin: »Ein theoretischer Grundsatz< ist ein Urteil der Form >A ist BA muß B seinanalysis notionum< und machen Aussagen darüber, daß ein Begriff ohne einen andern nicht zusammengesetzt bzw. >gedacht< werden kann.« S. Arndt 1971, 153f. Metakritik, 145. Metakritik, 145. Metakritik, 145.

121 hältnis zueinander stehen«. 105 Wenn man weiterhin »die Aufstellung des principium rationis sufficientis durch Leibniz also als den groß angelegten Versuch betrachten kann, die Vielfalt der tradierten Begründungsansätze als unterschiedliche Anwendungsfälle eines großen Prinzips aufzufassen [...], dann scheinen in der weiteren Geschichte die einzelnen Aspekte des Prinzips auseinanderzufallen«. 106 Damit wird Herders Einschätzung der Bedeutung von Grundsätzen in Lamberts Werken einsichtig: Lambert endlich hat in seinen großen Gebäuden des Organon und der Architektonik Grundsätze aller Art gesammlet, denen nur die Zusammenordnung unter einander, und die Zurückführung auf ihre einfachsten Principien fehlet. 1 0 7

Die Erklärung dafür, daß Lambert nicht mehr auf »einfachste Prinzipien« von Grundsätzen zurückgreift und sie nicht in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit darstellt, geht aus seiner erkenntnistheoretischen Grundannahme hervor, daß wahre Aussagen in allen Wissenschaften letztlich auf Begriffe und nicht auf Sätze zurückgeführt werden müssen. Diese Annahme führt auf den Basisgedanken der Konzeption Lamberts einer Grundwissenschaft, die »sich so in Form eines Axiomensystems darstellen lassen [sollte], dessen erste Begriffe und Sätze nicht nur Herleitungsprinzipien aller aus ihnen apriorisch deduzierbaren Aussagen, sondern zugleich auch Grundprinzipien der von der menschlichen Erkenntnis erfaßten Wirklichkeit sind.« 108 Diese Grundwissenschaft soll im Sinne einer »Mathesis universalis« allgemeine Prinzipien aller Wissenschaften umfassen, aus denen die speziellen Sätze der einzelnen Wissenschaften deduzierbar sind. 109 Dem von Lambert mit der Konzeption einer Grundwissenschaft verfolgten Ziel entsprechen Herders Hinweise auf das methodische Vorgehen in der Mathematik und den Naturwissenschaften, das als beispielhaft für die Philosophie dargestellt wird, in der dieselbe Evidenz erzielt werden soll. Herder sieht diese und sämtliche übrigen Wissenschaften insofern als Voraussetzung und Basis der Metaphysik an, als diese die Ursachen und Grundsätze aller Wissenschaften erforschen muß, um die »ersten Gründe und Principien der Dinge, d. i. unsres Erkenntnißes«110 herauszufinden. Die Aufgabe der Metaphysik besteht dabei Herders Ansicht nach in der Erforschung der ersten Gründe und Ursachen der Erkenntnis des Menschen von den Dingen und nicht, wie Kant annimmt, in der Beantwortung solcher Fragen, »die durch keinen Erfahrungsge-

105

Ritter/Gründer 1989, Bd. 7, Artikel »Principium rationis sufficientis«, 1326. Ritter/Gründer 1989, Bd. 7, Artikel »Principium rationis sufficientis«, 1327. 107 Metakritik, 145. 108 Hans Werner Arndt in seiner Einleitung zu: Lambert 1965, Neues Organon 1. Bd., XI. 109 vgl. die Darstellung von Arndt der von Lambert verfolgten Idee der »Mathesis universalis« in seiner Einleitung zu: Lambert 1965, Neues Organon 1. Bd., Xff. Arndt kennzeichnet hier Lamberts Lehre als die umfassendste theoretische Ausgestaltung des Gedankens einer »Mathesis universalis«, die in der Geschichte der Philsophie vorliegt. 110 Metakritik, 38. 106

122 brauch der Vernunft und daher entlehnte Prinzipien beantwortet werden können«111 sowie folglich dem Hinausgehen »über den Kreis aller Erfahrung«. 112 Leitender Gedanke ist für Herder die auch Lamberts Ansatz zugrundeliegende Annahme, daß der Erkenntnisprozeß des Menschen unabhängig von der Art des jeweiligen Gegenstandes nach einem methodischen Grundprinzip verläuft. Dieser Entwurf Lamberts soll nun in den folgenden beiden Unterkapiteln dargestellt werden. 7.2.2. Kant und Lambert: Zwei Antworten auf die Preisfrage des Jahres 1763 Zunächst sind hier die Beiträge Kants und Lamberts zu der 1761 für das Jahr 1763 gestellten Preisfrage der Berliner Akademie in ihren grundsätzlichen Aspekten zu referieren, da ein Vergleich der Argumentation Kants mit derjenigen Lamberts die kontroversen Standpunkte deutlich werden läßt. Die Frage zielte darauf ab, ob die metaphysischen Wissenschaften allgemein und speziell die natürliche Theologie und die Moral zu einer solchen Evidenz zu führen seien wie die mathematischen, welcher Art die Gewißheit sein könne und ob sie zur Überzeugung hinreichend sei. Das Ergebnis der Gegenüberstellung steht dabei, wie in der Einleitung zu dieser Arbeit bereits angedeutet wurde, der Annahme einer weitgehenden Übereinstimmung dieser Philosophen als Vertreter der analytischen Philosophie in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts entgegen. 113 Die bereits zu diesem Zeitpunkt divergierenden Lösungen der Frage nach der Evidenz philosophischer Aussagen werden von Herder am Ende des 18. Jahrhunderts in der Metakritik zu einer direkten Argumentation gegen die von Kant 1781 in der Kritik der reinen Vernunft eingenommene Position zugespitzt. Es handelt sich bei Kants Arbeit um die Abhandlung Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral, die von der Akademie mit einem »Accessit« ausgezeichnet wurde. In dieser Untersuchung nimmt Kant eine Unterscheidung des mathematischen Erkenntnisverfahrens von dem philosophischen vor, indem er der Mathematik ausschließlich synthetisch entwickelte Definitionen zuspricht, hingegen der Philosophie allein solche, die auf analytischem Weg erstellt werden. 114 Es ist das Geschäfte der Weltweisheit, Begriffe, die als verworren gegeben sind, zu zergliedern, ausführlich und bestimmt zu machen, der Mathematik aber, gegebene Begriffe von Größen, die klar und sicher sind, zu verknüpfen und zu vergleichen, um zu sehen, was hieraus gefolgert werden könne. 115

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KrV, B 21. Metakritik, 38. Vgl. Engfer 1982, 27. Diese Frage wird in dem ersten Paragraphen der Abhandlung thematisiert. Kant, Immanuel: Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral, in: Vorkritische Schriften bis 1768. Mit Übers, von Monika

123 Dieser Unterschied wird von Kant mit einem Hinweis auf den jeweiligen Gegenstandsbereich der genannten Wissenschaften begründet. Die Mathematik soll die Objekte durch die willkürliche Verbindung von Begriffen erklären und sie dadurch erst denkbar machen. Die Begriffe seien dabei unauflöslich, da deren Zergliederung - sofern sie überhaupt durchführbar sei - nicht Aufgabe der Mathematik sein könne. 116 In der Metaphysik dagegen sei es notwendig, Begriffszergliederungen vorzunehmen, da hiervon die Deutlichkeit der Erkenntnis und auch die Möglichkeit sicherer Schlußfolgerungen abhingen. Das Problem bestehe jedoch darin, daß man auf diese Weise zu einer Vielzahl unauflösbarer Begriffe kommen müsse, da »es unmöglich ist, daß allgemeine Erkenntnisse von so großer Mannigfaltigkeit nur aus wenigen Grundbegriffen zusammengesetzt sein sollten.«117 Die genaue Kenntnis und Auflösung von Begriffen wie z. B. der einer Vorstellung, des Neben- und des Nacheinander, des Raumes und der Zeit sei nicht möglich, obwohl dies nötig wäre, um die Ursachen und Zusammenhänge der menschlichen Natur erkennen zu können. Somit lägen der Metaphysik im Gegensatz zur Mathematik, in der nur offensichtlich zutreffende Sätze aufgestellt und als unmittelbar gewiß angenommen werden, eine Reihe von unbeweisbaren Sätzen zugrunde, die aus dem gegebenen Begriff der zu erklärenden Sache und den an diesem Begriff unmittelbar wahrgenommenen ersten Merkmalen abgeleitet werden müssen. Daher bestehe die wichtigste Aufgabe der höheren Philosophie darin, unbeweisbare Grundwahrheiten zu sammeln, wobei jedoch keine Vollständigkeit erreicht werden könne, solange eine Erweiterung der philosophischen Kenntnisse möglich sei.118 Der festgestellte Unterschied zwischen der Erkenntnisgewißheit in der Mathematik und der Metaphysik geht nach Kant letztlich darauf zurück, daß in der Mathematik das Allgemeine anhand solcher Zeichen, deren Bedeutung sicher sei, in concreto betrachtet werden könne, indem beispielsweise in der Arithmetik die Zeichen anstatt der Sachen gesetzt würden und mit diesen operiert werden könne und in der Geometrie allgemeine Verhältnisse am besonderen Beispiel zu betrachten seien. In der Metaphysik hingegen seien die zu verwendenden Zeichen Wörter, »die weder in ihrer Zusammensetzung die Teilbegriffe, woraus die ganze Idee,

116 117 118

Bock und Norbert Hinske. Darmstadt 1971, 739-773, A 73. Die Abhandlung ist 1764 erschienen in: Dissertation qui a remporté le prix proposé par l'Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres de Prusse, sur la nature, les espèces, et les degrés de 1' evidence. Avec les pieces qui ont concouru, à Berlin, chez Haude et Spener, libraires du Roi & de 1' Académie. MDCCLXIV; Abhandlung über die Evidenz in Metaphysischen Wissenschaften, welche den von der Königlichen Academie der Wissenschaften in Berlin auf das Jahr 1763. ausgesetzten Preis erhalten hat, von Moses Mendelsohn aus Berlin. Nebst noch einer Abhandlung über dieselbe Materie, welche die Academie nächst der ersten für die beste gehalten hat. Berlin, bey Haude und Spener, Königl. und der Academie der Wissenschaften Buchhändlern. Vgl. Deutlichkeit der Grundsätze, Erste Betrachtung, § 3, A 75. Deutlichkeit der Grundsätze, Erste Betrachtung, § 3, A 75. Vgl. Deutlichkeit der Grundsätze, Erste Betrachtung, § 3, A 77.

124 welche das Wort andeutet, besteht, anzeigen, noch in ihren Verknüpfungen die Verhältnisse der philosophischen Gedanken zu bezeichnen vermögen.« 119 Aus diesem Grund müsse man sich die Sache selbst vor Augen halten und das Allgemeine in abstracto vorstellen, ohne daß man Zeichen statt der allgemeinen Begriffe der Dinge verwenden könne. 120 Dieser von Kant angenommene fundamentale Unterschied zwischen mathematischen Erkenntnissen einerseits, bei denen der Begriff eines Gegenstandes durch die Definition geschaffen werde, und metaphysischen Erkenntnissen andererseits, die die Zergliederung eines gegebenen verworrenen Begriffes zur Aufgabe habe, führt unter Bezugnahme auf den Theologen William Warburton zu einer entschiedenen Ablehnung der Übertragung der mathematischen Methode auf die Philosophie.121 Man habe in der Metaphysik statt dessen davon auszugehen, daß verschiedene Prädikate einer Sache unmittelbar gewiß seien, aus denen Folgerungen gezogen werden könnten, selbst wenn noch nicht sämtliche Prädikate bekannt seien, die notwendigerweise gegeben sein müßten, um eine Definition der Sache vorzunehmen. 122 Am Ende der zweiten Betrachtung mit dem Titel Die einzige Methode, zur höchstmöglichen Gewissheit in der Metaphysik zu gelangen relativiert Kant allerdings die ausschließliche Zuweisung der analytischen Methode an den Bereich der Philosophie im Hinblick auf einen zukünftig auf analytischem Wege zu erreichenden Status der Entwicklung deutlicher und ausführlicher Begriffe, der es erlauben würde, die synthetische Bildung zusammengesetzter Erkenntnisse hinzuzuziehen. Weiterhin unterscheidet Kant zwischen mathematischer und metaphysischer Gewißheit hinsichtlich der grundsätzlichen Struktur, womit er sich ebenfalls im Widerspruch zu der von Lambert zu dieser Frage geäußerten Ansicht befindet, wie unten aufgezeigt werden soll. Gewißheit sei grundsätzlich dann gegeben, wenn die Erkenntnis vorliege, daß das Falschsein einer Erkenntnis unmöglich sei. Die Gründe für das Unmöglichsein des Nichtzutreffens einer metaphysischen Erkenntnis sollen jedoch mit denen, die in der Mathematik vorliegen, nicht übereinstimmen, da die gegebenen Begriffe keinen sicheren

119

Deutlichkeit der Grundsätze, Erste Betrachtung, § 2, A 74. Dieses Argument befindet sich in klarem Gegensatz zu Lamberts Ansatz, der das Problem ebenfalls benennt, aber mit einer wissenschaftlichen Sprache ein Zeichensystem für denkbar hält, das wie in der Mathematik sichere Erkenntnis durch die Verwendung von Zeichen anstelle der Sachen ermöglicht. 121 Vgl. Deutlichkeit der Grundbegriffe, Zweite Betrachtung, A 79. In der von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften 1905 herausgegebenen Ausgabe von: Kant's gesammelte Schriften, Erste Abteilung: Werke, 2. Bd. Vorkritische Schriften II 1757-1777, 494 wird die Erwähnung William Warburtons (1698-1779) aufgeschlüsselt als Bezugnahme auf dessen Schrift: Critische Abhandlung von dem Erdbeben und Feuerflammen etc. Aus dem Englischen übersetzt. Gotha 1755 S. 18ff. 122 y g ] Deutlichkeit der Grundbegriffe. Zweite Betrachtung, A 80. 120

125 Schluß auf sämtliche konstituierenden Merkmale zuließen und ferner die Betrachtungen anhand der Zeichen in abstracto zu leisten seien. Somit sei die zu erreichende Evidenz in der Metaphysik im Vergleich zu derjenigen der Mathematik grundsätzlich geringer. 123 Gewisse und deutliche Erkenntnisse seien in der Metaphysik nur auf der Grundlage allgemeiner Vernunftgründe möglich, d. h., daß Urteile nur von denjenigen Eigenschaften oder Prädikaten ausgehen dürfen, die einem Gegenstand mit Sicherheit zukommen, ohne vollständige Definitionen anstreben zu können. 124 Prinzipiell sei in der Metaphysik ein zur Überzeugung hinlänglicher Grad von Gewißheit ebenso wie in der Mathematik aufgrund formal gleicher Urteile nach den Sätzen der Identität und des Widerspruchs möglich, der jedoch von geringerer Anschaulichkeit sei, da in der Metaphysik von verschiedenen unbeweisbaren Sätzen auszugehen sei. Diese Sätze würden jedoch nicht nur für formale Urteile herangezogen, sondern stellten gleichzeitig die ersten materialen Grundsätze der menschlichen Vernunft dar, welche Kant auch als die Basis der Vernunft ansieht und mit Christian August Crusius für metaphysische Betrachtungen als unerläßlich erklärt. 125 Crusius gibt in seinem 1747 erschienenen Werk Weg zur Gewißheit und Zuverlässigkeit der menschlichen Erkenntnis die von Christian Wolff postulierte Forderung nach der Einheit wissenschaftlicher Methodik auf und führt verschiedene, an dem jeweiligen Zweck orientierte Verfahrensweisen ein, wobei er vor allem eine Unterscheidung zwischen der mathematischen und der philosophischen Methodik vornimmt. Dennoch behält Crusius die Grundeinteilung der Verfahrensweisen nach den Prinzipien der Analyse und Synthese bei und weist das analytische Vorgehen dem Bereich der Philosophie zu, das synthetische der Mathematik, Physik und Moraltheorie. 126 Moses Mendelssohn steht mit seiner Unterscheidung zwischen mathematischer und philosophischer Methodik, die er in seiner preisgekrönten Antwortschrift auf die Preisfrage des Jahres 1763 127 vertritt, Christian August Crusius nahe. Mendelssohn vertritt in dieser Abhandlung die Ansicht, daß »die metaphysischen Wahrheiten zwar derselben Gewißheit, aber nicht derselben

123 124 125 126

127

Vgl. Deutlichkeit der Grundsätze, Dritte Betrachtung, § 1, A 87 - A 89. Vgl. Deutlichkeit der Grundsätze, Dritte Betrachtung, § 2, A 89f. Vgl. Deutlichkeit der Grundsätze, Dritte Betrachtung, § 3, A 90 - A 93. Ich folge hier der Darstellung von Hans Werner Arndt in: Ritter/Gründer 1980, Bd. 5, Artikel »Methode«, 1321. Die 1763 preisgekrönte Arbeit von Moses Mendelssohn trägt den Titel Abhandlung über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften, veröffentlicht in: Dissertation qui a remporté le prix proposé par l'Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres de Prusse sur la nature, les espèces et les degrés de l'évidence aves les pieces qui ont concouru, à Berlin 1764, 1-66. Der oben bereits erwähnte Briefwechsel zwischen Lambert und Johann George Sulzer aus dem Jahr 1763 belegt Lamberts großes Interesse zu erfahren, wer als Preisträger dieses Wettbewerbs ausgezeichnet worden war und wie die von diesem vorgeschlagene Lösung der Frage lautete.

126 Faßlichkeit fähig sind, als die geometrischen Warheiten.« 1 2 8 D i e »Faßlichkeit« wird dabei von M e n d e l s s o h n in folgender W e i s e bestimmt: »Zur E v i d e n z einer Warheit gehöret, ausser der Gewißheit, auch n o c h die Faßlichkeit oder die Eigenschaft, daß ein jeder, der den B e w e i ß nur einmal begriffen, s o g l e i c h von der Warheit v ö l l i g überzeugt, und so beruhiget s e y n muß, daß er nicht die geringste Widersetzlichkeit bey sich spüret, dieselbe a n z u n e h m e n . « 1 2 9 D e n n o c h schreibt M e n d e l s s o h n am 12. Juli 1 7 6 4 in e i n e m Brief an T h o m a s Abbt, der ebenfalls eine Antwort auf die Preisfrage vorbereitet hatte: Hätte ich des Herrn Lambert neues Organon vor einigen Jahren gelesen; so wäre meine Preisschrift sicherlich im Pulte liegen geblieben, oder hätte vielleicht den Zorn des Vulkans empfunden. Nur ein Lambert weis die verborgenste Wege der Vernunft, die geheimsten Zugänge zum Tempel der Wahrheit auszusuchen. Sein Werk ist das vortreflichste von dieser Art. Seine Dianoiologie enthält die Grundsätze der Erfindungskunst, seine Phänomenologie fruchtbare Begriffe zur Logik des Wahrscheinlichen, seine Lehre von der Bezeichnung der Wahrheit ist von gleichem Werthe. Nur seine Alethologie [sie] hat mir etwas weniger gefallen. Lesen Sie das Werk, um des Himmels willen, so bald als möglich, damit wir ein mehreres davon sprechen können. 130 Im Hinblick auf die Entwicklung der Ü b e r l e g u n g e n zur M e t h o d e n f r a g e in der Erkenntnistheorie Johann Heinrich Lamberts, die sich v o n derjenigen Kants und M e n d e l s s o h n s in wichtigen Punkten unterscheidet, sollen zunächst z w e i frühe Abhandlungen berücksichtigt werden, in denen Lamberts Forschungsarbeit der Jahre z w i s c h e n 1 7 5 0 und 1 7 6 0 einen ersten A b s c h l u ß findet. N a c h d e m Lambert s i c h anfanglich um die praktische U m s e t z u n g der Idee e i n e s B e g r i f f s kalküls in den Sechs müht

hat,

entstand

Versuchen sein

einer Zeichenkunst

theoretisches

Interesse

in der Vernunftlehre an

den

be-

Bedingungen

wissenschaftlicher Erkenntnis, 1 3 1 das zu verschiedenen Entwürfen über die Lo-

128

129 130

131

Mendelssohn, Moses 1972: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 2, Schriften zur Philosophie und Ästhetik II, bearbeitet von Fritz Bamberger und Leo Strauss, Stuttgart-Bad Cannstadtt, 272. Mendelssohn 1972, 271. Mendelssohn, Moses 1976: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 12,1 Briefwechsel 11,1, bearbeitet von Alexander Altmann, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976, 49f. Thomas Abbt nimmt in seinem Brief vom 11. August 1764 mit einigen Sätzen auf Mendelssohns Hinweis auf das Neue Organon Bezug: »Lamberts Werk habe ich erst gestern angefangen zu lesen. Seine Vorrede allein ist schon die Vorrede eines Menschen, der mit einer Wissenschaft, wie mit seinem Eigenthum schaltet. - Ich habe eine unreife Idee, die aber nur einem Professor in den Kopf kommen kann. Wir Professoren wissen, wie wenig es für die Studenten Nutzen hat, die Wissenschaften gar zu genau abzusondern; denn so hören sie ofte von einer ganzen Wissenschaft gar nichts. Z. E. Aesthetik fällt keinem ein, zu hören. Wenn man in ein Compendium Logik und Aesthetik zusammenschmelzen könnte; so wäre dis so übel nicht. Lamberts Werk könnte vortreflich zur Logik helfen, und aus Baumgartens Aesthetik ein blosser Auszug gemacht, alles Lateinisch geschrieben, hier und da ein Bischen selbst gedacht. Wäre das so uneben von mir gehandelt? Mir thuts leyd, der Ausländer wegen, daß Lamberts Werk deutsch geschrieben ist.« Mendelssohn 1976, 56f. Vgl. Hans Werner Arndt in seiner Einleitung zu Lambert 1965, Neues Organon 1. Bd., IX.

127

gik führte, die von Johann Bernoulli 1782 und 1787 in zwei Bänden mit dem Titel Logische und philosophische Abhandlungen herausgegeben wurden. 132 Lambert bemüht sich in diesen Untersuchungen bereits um Möglichkeiten, der Metaphysik durch Verbesserung ihres methodischen Vorgehens zu gleicher Zuverlässigkeit wie der Mathematik zu verhelfen, wobei Lambert unter einer methodisch vorgehenden Philosophie eine nach logischen Prinzipien argumentierende versteht. Christoph Heinrich Müller, der Biograph Lamberts nimmt dementsprechend folgende Unterscheidung vor: »Es giebt zwey Arten philosophische Materien zu behandeln, die methodische und die freye. Die methodische ist die Lambertische, die logische, die bey jedem Schritt sich durch Regeln leiten läßt.« 133 Es ist nachweisbar, daß Herder die Logischen und philosophischen Abhandlungen in seiner eigenen Bibliothek besessen hat. 134 Mit seinem Hinweis auf die Logischen Abhandlungen Lamberts, in denen dieser »von beiden Methoden [der analytischen und der synthetischen] scharfsinnig gehandelt« 135 habe, wird er sich vermutlich jedoch nicht auf die in dieser Sammlung enthaltenen Schriften beziehen, sondern auf die Abhandlung vom Criterium veritatis und die in engem Zusammenhang stehende Schrift Über die Methode die Metaphysik, Theologie und Moral richtiger zu beweisen, da hier die Verbindung der Methodenfragen mit der allgemeinen Begriffslehre, die in allen Wissensbereichen Gültigkeit haben soll, hergestellt wird. 136 Das Hauptanliegen Lam-

132

In dieser Sammlung sind überwiegend Arbeiten enthalten, die vor der Abfassung der philosophischen Hauptwerke entstanden sind. Arndt datiert die in diesen Bänden veröffentlichten Sechs Versuche zur logischen Zeichenkunst auf die Jahre 1753-1756 und die Fragmente zur Logik überwiegend auf die zweite Hälfte des Jahrzehnts zwischen 1750 und 1760. Vgl. die Einleitung, 3, von Hans Werner Arndt zu: Lambert, Johann Heinrich 1782: Logische und philosophische Abhandlungen, zum Druck befördert von J. Bernoulli, Bd. 1, Berlin (reprograf. Nachdruck = Schriften VI, 1967). 133 Vorrede von Christoph Heinrich Müller, XIII, zu: Lambert 1782: Nachdruck VI. '34 Yg| Bibliotheca Herderiana 1980. Die beiden Bände der Logischen und philosophischen Abhandlungen sind unter 3336 und 3337 in Sectio III. Libri philosophice. In Octavo. S. 167 aufgeführt. 135 Metakritik, 37. 136 Es sollen hier dennoch im Rahmen einer ausführlichen Anmerkung Lamberts wichtigste Thesen zu der Methodenfrage, wie sie aus den Logischen und philosophischen Abhandlungen hervorgehen, skizziert werden: Für den genannten Zusammenhang der beiden Methoden ist der dritte Lehrsatz in dem dritten der Sechs Versuche einer Zeichenkunst in der Vernunftlehre heranzuziehen. Dieser Versuch thematisiert »die Einrichtung der Wissenschaften zu deren Gebrauch«. Unter einer Aufgabe versteht hier Lambert allgemein einen Satz, in dem angegeben wird, wie eine Frage zu lösen ist. Eine Aufgabe besteht aus vier Teilen, nämlich einer Frage, der Auflösung dieser Frage sowie einem Beweis der Auflösung und einer Probe (vgl. III. Versuch §§ 47-49, 57). Lambert führt aus, daß Aufgaben prinzipiell entweder nach dem synthetischen oder dem analytischen Verfahren gelöst werden können. Die synthetische Auflösung einer Aufgabe entspricht einer Vorgehens weise, bei der gegebene Daten bei der Auflösung zugrunde gelegt werden und das gesuchte Ergebnis mittels einer synthetischen Ordnung der Schlüsse aus den vorausgesetzten Daten hergeleitet wird. In dieser Weise wird zum Beispiel bei bestimmten Aufgaben der Arithmetik und der Geometrie vorgegangen. Ein analytisches Lösungsverfah-

128 berts, das auch die Untersuchung in dem Criterium

veritatis

leitet, besteht dar-

in, eine Methodenlehre zu schaffen, »welche die Bedingungen der Möglichkeit einer Anwendung der Methode der mathematischen Wissenschaften auf die theoretische Philosophie untersucht und der Herausarbeitung einer für alle

ren liegt vor, wenn dasjenige, wonach gefragt wird, als bekannt vorausgesetzt wird, aus diesem die Daten hergeleitet werden und durch einen Vergleich der auf diese Weise gefundenen Daten mit dem Gegebenen die Eigenschaft des Gefragten bestimmt wird. Diese Vorgehensweise soll z. B. in der Algebra zur Anwendung kommen. (Vgl. III. Versuch, §51, 58f.) Weiterhin sind von den Fragmenten über die Vernunftlehre, die ebenfalls in der Ausgabe der Logischen und philosophischen Abhandlungen enthalten sind, das achte Fragment Von der synthetischen Methode und das dreizehnte Von der analytischen Methode und den Voraussetzungen sowie die Anmerkungen zur analytischen Methode zu berücksichtigen. In dem achten Fragment führt Lambert aus, worin der Gewinn der Anwendung der synthetischen Methode liegen kann. Von der Grundregel dieser Methode ausgehend, die besagt, daß sie »die Entwicklung der Eigenschaften einer Sache« (Von der synthetischen Methode, 240) leistet, klärt Lambert die Frage der Anwendungsmöglichkeiten der synthetischen Methode. Gegenstände können die Dinge sein, die leicht zu erklären sind, da sie als gegeben vorausgesetzt werden. Die synthetische Methode als die »leichteste« und »natürlichste«, die »sich nach dem Gesetze der Einbildungskraft richtet« (Von der synthetischen Methode, 238) müsse jedoch notwendigerweise mit der analytischen Methode verbunden werden: »Will man sie aber dessen ungeachtet gebrauchen, so ist es rathsam, den Hauptbegrif so weit zu analysieren, bis man jede Theile der Abhandlung herausgebracht hat.« (Von der synthetischen Methode, 244.) Den Weg, der bei Anwendung der analytischen Methode verfolgt wird, benennt Lambert in dem dreizehnten Fragment: »Alle unsere Erkenntnis fangt bey den Sinnen an, und steigt von Individualbegriffen durch verschiedene Wege zu allgemeinen. Diese Wege gehören zusammengenommen zur analytischen Methode.« (Von der analytischen Methode und den Voraussetzungen, 285f.) Lambert leitet den Vorteil der analytischen Methode aus einem Nachteil der synthetischen ab, der darin bestehe, daß aus einigen hypothetisch angenommenen Eigenschaften einer Sache die übrigen erklärt und hergeleitet werden sollen. Dieses ist nach Lambert in einigen Fällen wohl möglich, jedoch können unter Umständen nicht alle weiteren gesuchten Eigenschaften oder den angenommenen widersprechende Eigenschaften gefunden werden. Daher stellt Lambert fest, daß es besser sei, wenn die Eigenschaften, die Grundlage anderer sind, aus diesen mit Notwendigkeit hergeleitet werden können. Somit könne man aus den Eigenschaften einer Sache ihre bestimmten Gründe und ihre spezifische Natur folgern. Dieses Vorgehen entspreche der analytischen Methode: »Denn dieses ist der Schluß, den man durch die analytische Methode finden, bestimmen und erweisen solle. Es folget hieraus, daß Voraussetzungen desto entbehrlicher werden, je mehr die analytische Methode vervollkommnet wird.« (Von der analytischen Methode und den Voraussetzungen, 287) Um die allgemeinen und die besonderen Eigenschaften zu finden, die gemeinsam eine Sache ausmachen, ist nach Lambert zu untersuchen, welche der gefundenen Eigenschaften auch anderen Dingen zukommen, d. h. die Klasse oder Gattung des Untersuchungsgegenstandes muß bestimmt werden. Ist diese gefunden, so gelten die Sätze, die über diese bekannt sind, auch für den speziellen Gegenstand (vgl. Von der analytischen Methode und den Voraussetzungen, 286-288 und 298). Wenn mittels der analytischen Methode die Eigenschaften der Dinge ermittelt sind, können »synthetische Lehrgebäude« (Von der analytischen Methode und den Voraussetzungen, 293) entstehen und aufgrund der Theorie neue Erkenntnisse gefunden werden, unabhängig von konkreten Erfahrungen und Versuchen entsprechend dem bereits dargestellten a priori-Begriff Lamberts. In den Anmerkungen zur analytischen Methode formuliert Lambert nochmals die Vorgehensweise der beiden Methoden. Der zweite Band der Logischen und philosophischen Abhandlungen umfaßt im ersten Teil Zusätze zu dem ersten Bande. Drei Zusätze beziehen

129 Wissenschaften verbindlichen Methode des Erkennens und Beweisens dient«. 137 Die seit 1758 unternommenen Entwürfe zur Logik werden in ä&r Abhandlung vom Criterium veritatis aus dem Jahr 1761 mit den dort vorgetragenen Gedanken über die Methode der Wissenschaft unter Einbeziehung einer Begriffslogik erstmals zusammenhängend dargestellt. Die Ausweitung der in dem Criterium veritatis entwickelten Überlegungen auf den Gesamtbereich der Philosophie wird in der Schrift Über die Methode die Metaphysik, Theologie und Moral richtiger zu beweisen vorgenommen, die 1762 entstand als Bearbeitung der Preisfrage der Berliner Akademie aus dem Jahr 1761. Beide Schriften befinden sich in dem sogenannten Herder-Inventarium des handschriftlichen Lambert-Nachlasses, das diejenigen Schriften Lamberts umfaßt, die Herder ein Jahr lang in seinen Händen gehalten hat. Ferner liegen unveröffentlichte ausführliche Exzerpte aus diesen Arbeiten von Herders Hand in dessen Nachlaß. 138 Im Verzeichnis des Herder-Inventariums ist die Schrift von 1761, die Abhandlung über das Criterium veritatis, mit dem Titel Uber die ersten Grundbegriffe der Logik und Metaphysik gekennzeichnet, mit dem Herder auch seine Exzerpte überschrieben hat. Diese liegen in der Kapsel XXVI 6 seines Nachlasses auf den Blättern 116 v -120 r vor. Der Text von 1762 trägt in dem Herder-Inventarium den Titel Meditata von dem Beweise theologischer und moralischer Wahrheit. Die Auszüge aus den Meditata von dem Beweise theologischer und moralischer Wahrheit befinden sich in der Kapsel XXVI 6 auf den vorangehenden Blättern 11 l r - l 16r mit der Überschrift: »Üb. d. Grunds, metaph. Wahrh. Lamb.« Hans Dietrich Irmscher und Emil Adler kennzeichnen in dem Katalog des handschriftlichen Nachlasses Herders die Exzerpte unzutreffenderweise als Auszüge aus dem Neuen Organon.139

137 138

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sich auf das dreizehnte Fragment des ersten Bandes. Lambert bespricht eine Reihe von Erkenntnissen der Naturwissenschaft, bei denen die analytische Methode zur Anwendung gekommen sei und zeigt dabei diese Methode nochmals in konkreten Anwendungen auf. (Vgl. I. Zusatz zu dem Xlllten Fragmente, von Voraussetzungen, 32-39. II. Zusatz zu dem Xlllten Fragmente. Allgemeine Gesetze der Natur und der Analytik, und ihre Verbindung, 40 - 49. III. Zusatz zu dem Xlllten Fragmente. Von der analytischen Methode, Versuche in ein System zu verwandeln, 50-72.) Hans Werner Arndt in seiner Einleitung zu Lambert 1965: Nachdruck, Bd. I, XIV. In der Darstellung der Überlegungen Lamberts zur Logik und zur Metaphysik werden diejenigen Textteile herangezogen, von denen Herder Exzerpte angefertigt hat. Der handschriftliche Nachlass Johann Gottfried Herders 1979. Der Inhalt von Kapsel XXVI6 11 l r -120 r , 193 v -198 v wird auf S. 232 angegeben als: »Auszüge aus: J.H. Lambert, Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung von Irrtum und Schein, 2 Bde, Leipzig 1764; Weimar [...]«. Die Sichtung hat ergeben, daß die Blätter nach folgendem Überblick neu einzuordnen sind: IIIr—116r Auszüge aus: Uber die Methode die Methaphysik, Theologie und Moral richtiger zu beweisen. Aus dem Manuskript herausgegeben von K. Bopp, Berlin 1918. Nachdr. der Ausg. Berlin 1918 in: Kant-Studien Erg.-H. 42, Vaduz/Liechtenstein 1978. Die Auszüge sind überschrieben: »Üb. d. Grundsätze metaph. Wahrh. Lamb.« Die Handschrift Lamberts ist Teil des Herder-

130 Lamberts Ergebnis in der Beantwortung der Berliner Preisfrage ist ein anderes als dasjenige Kants: die metaphysischen B e w e i s e und Sätze haben seiner Meinung nach d i e s e l b e Notwendigkeit w i e d i e der Mathematik und sind daher auch derselben E v i d e n z fähig. 1 4 0 D e r Ansatzpunkt Lamberts in seinem Beitrag Uber die Methode

die Metaphysik,

Theologie

und Moral

richtiger

zu

beweisen

ist die Feststellung e i n e s für ihn erstaunlichen Kontrastes in der menschlichen Erkenntnis hinsichtlich der Allgemeingültigkeit der G e w i ß h e i t in der Meßkunst und der Veränderlichkeit der Erkenntnisse der Weltweisheit. Zwar könnten

116 v -120 r

193 v -196 v

197 r ' o b e n

jgyr, unten

197v

140

Inventariums, eingeordnet unter V. Logica et Philosophica unter dem Titel Meditata von dem Beweise theologischer und moralischer Wahrheit, datiert lt. Monatsbuch April 1762. Sie entstand aus Anlaß der Preisfrage der Berliner Akademie von 1763. In der Universitätsbibliothek Basel ist sie nach der neuen Ordnung von Max Steck mit L. I. a. 744 A, Nr. 6, pag. 237-268 gekennzeichnet. Auszüge aus: Abhandlung über das Criterium veritatis. Mit einem erläuternden Vorwort aus dem Manuskript herausgegeben von K. Bopp, Berlin 1915. Die Auszüge sind überschrieben: »Üb. d. lten Grundbegr. d. Log. u. Metaph. Lambt.«. Die Handschrift Lamberts ist Teil des Herder-Inventars, eingeordnet unter V. Logica et Philosophica unter dem Titel Über die ersten Grundbegriffe der Logik und Metaphysik, datiert lt. Monatsbuch November 1761. In Basel ist sie mit L. I. a. 744 A, Nr. 3. pag. 99-174 gekennzeichnet. Abschrift von: 9 Tabellen der ontologischen Kategorien und der Charaktere der Logistik, wobei die Reihenfolge der Tabellen nicht strikt eingehalten ist. Die Handschrift Lamberts ist Teil des Herder-Inventars laut Max Stecks Standortkatalog: Der handschriftliche Nachlass von Johann Heinrich Lambert (1728-1777), Basel 1977, in dem die Manuskripte des Herder-Inventars unter L. I. a. 740 - L. I. a. 745 gesammelt werden, vgl. hierzu S. 55. Die 9 Tabellen sind mit der Kennung L. I. a. 744 A, Nr. 8. pag. 325-338 versehen. Auszüge aus: Vergleichung und Unterschied der gemeinen und wissenschaftlichen Erkenntnis (§l-§7). Die Auszüge sind überschrieben: »Vgleichg u. Untsch. d gern u. wißtl. Erk. Lambt«. Die Handschrift Lamberts ist Teil des Herder-Inventars laut Max Stecks Standortkatalog, eingeordnet unter L. I. a. 744 B, Nr. 12 pag. 267-270. Auszüge aus: Anmerkungen über die Metaphysik und Ontologie überhaupt C§ 1—§416). Die Auszüge tragen keine Überschrift. Exzerpiert wurde aus den §§ 41, 46, 62, 65, 77, 84, die auf der halben Längsseite p. 155 in der Form von Zusätzen extra notiert sind. Die Handschrift Lamberts ist Teil des Herder-Inventars laut Max Stecks Standortkatalog, eingeordnet unter L. I. a. 744 B, Nr. 7. pag. 145-230. Abschrift von: Metamathematische Proportionen, die unter Punkt d), pag.

244 Teil sind von: Logistische Studien über Identität, die logischen Schlußfiguren und die logischen Modi, L. I. a. 744 B, Nr. 9 pag. 241-254, ebenfalls enthalten im Herder-Inventar. 197 v -198 v Auszüge aus: Materialien zu einer Abhandlung des Titels: Betrachtungen über die Mittel, die menschliche Erkenntnis richtiger und vollständiger zu machen (1.—43.) und Notizen und Gedanken über verschiedene philosophische Fragen, u.a. Criterium veritatis. Die Handschriften Lamberts sind Teil des Herder-Inventars laut Max Stecks Standortkatalog. Diese Titel liegen in Basel unter L. I. a. 744 B, Nr. 10. a) pag. 255-257 und L. I. a. 744 B, Nr. 10 b) pag. 258. Lambert, Johann Heinrich 1918: Über die Methode die Metaphysik, Theologie und Moral richtiger zu beweisen, hg. von K. Bopp, Kantstudien, Ergänzungshefte Nr, 42, Berlin, 5., 8.

131 auch in der Mathematik Fehler vorkommen, jedoch seien hier Fehlschlüsse leicht aufzudecken, da man in dieser Wissenschaft über ein verbindliches Wahrheitskriterium verfüge. 141 An einem solchen allgemeinen Wahrheitskriterium scheine es jedoch in der Philosophie zu fehlen und daher sei die Frage berechtigt, »ob die metaphysischen Grundsätze und Beweiße nicht etwann von ganz anderer Art seyen als die Geometrischen und wenn dieses ist ob ihre Gewißheit dessen uneracht soweit könne getrieben werden, daß sie den Geometrischen an die Seite zu setzen?« 142 Dennoch hält Lambert an seinem Standpunkt fest: Die Liebe zur Menschlichkeit macht einen his meliora hoffen, und dieses thut den Effect, daß man mir strickte beweißen müßte, daß die Metaphysic an sich keine geomtr. Euidenz u. Gewißheit fähig seye, ehe ich diese so angenehmen u. erwünschten Sätze ganz fahren lassen sollte. Aus dem, daß es bisher noch nicht gelungen, folgt nicht, daß das Gelingen an sich unmöglich seye, und so lange dieses nicht bewießen werden kann, wird immmer jede neue Probe zulässig seyn. 1 4 3

Lambert kommt in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, daß die Metaphysik auf in gleicher Weise notwendige Grundbegriffe wie die Logik aufgebaut werden könne. 144 Damit entspreche die Evidenz metaphysischer Sätze derjenigen der Mathematik, da in der Logik eine dem Maßstab der geometrischen und damit derjenigen der Mathematik entsprechende Gewißheit gegeben sei, und zwar sowohl was die Grundbegriffe angehe als besonders auch die Lehre von den Sätzen, von ihrer Umkehrung und die von den Schlußfolgerungen, so daß die Beweise der Logik von geometrisch-mathematischer Evidenz seien. 145 Es komme somit in der Metaphysik ebenfalls auf ein streng methodisches Vorgehen an, wie aus in diesem von Herder exzerpierten Abschnitt 146 aus dem § 45 der Abhandlung Über die Methode hervorgeht: Ich habe angemerkt, daß die Logic uns auch Anleitung giebt, aus solchen Grundbegriffen andere zusammenzusetzen, und ihre Entstehensart in unseren eigenen Gedanken zu sehen und zu empfinden. Ich habe angemerkt daß diese Proben noch unmittelbarer als die Geometrischen sind, und folgl. die Euidenz dadurch ehender größer als kleiner wird. Endl. habe ich noch beygefügt, daß diese schärfere Methode dem Egoisten die Welt als einen bloßen Schein gelten lasse, bis Gründe genug da sind, aus diesem hypothetisch angenom-

141

Vgl. Über die Methode, §§ 2 sowie 6 und 7, l l f . Über die Methode, § 9, 12. Über die Methode, § 13, 12f. 144 Über die Methode, § 45, 20. 145 Y g j ü b e r die Methode, §§ 18-20, 14. Auf die Vergleichbarkeit von Mathematik und Logik hinsichtlich der Gewißheit der Begriffe wird bereits in der Abhandlung vom Criterium veritatis hingewiesen, da in beiden Fällen einfache und unmittelbare Empfindungen zugrunde lägen, im ersten Fall, da die Begriffe einfach seien und die Figuren vor Augen lägen, im zweiten, weil die Seele nur auf die eigenen Vorgänge beim Denken und Schließen zu reflektieren habe, um sich von der Richtigkeit der Erklärungen und Grundsätze der Logik Gewißheit zu verschaffen. Vgl. Lambert, Johann Heinrich: Abhandlung vom Criterium veritatis, hg. von K. Bopp, Kantstudien, Ergänzungshefte Nr. 36, Berlin, § 18, 15f. 146 Das Exzerpt befindet sich auf Blatt 112r, unten in Kapsel XXVI 6 des handschriftlichen Nachlasses Herders. 142

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132 menen Schein, eben so wie es die Astronomen machen, auf das Wahre zu kommen. Die Astronomen gebrauchen die Geometrie, Optic u. Mechanic zu ihrer Absicht. Es scheint demnach daß die Metaphysic eine Opticam transcendentalem für Egoisten u. Idealisten erfordere, wovon aber in dieser Wissenschaft noch wenig zu finden. Es ist aber immer gut, anzuzeigen was noch mangelt. Ebenso lasse ich dahin gestellt, ob man diese Leute bis in die Theologie führen müsse, um den Schluß vom Schein auf das Wahre zu machen, oder ob dieser Schein an sich schon genug Phaenomena äußere, die ihn als Schein verbannen, und das Wahre nothwendig erfordern. 147

Im Gegensatz zu der oben referierten vorkritischen Schrift Kants ist Lambert folglich nicht der Ansicht, daß die Metaphysik darauf zu beschränken sei, aus zusammengesetzten Begriffen allgemeingültige Grundbegriffe zu entwickeln, sondern, daß auch die Zusammensetzung von Begriffen aus Grundbegriffen zu ihren Aufgaben gehört. So wie Lambert in der Schrift Über die Methode davon ausgeht, daß Grundsätze aus Grundbegriffen bestehen,148 die von der Art sein müssen, »daß man sie im läugnen zugiebt«, d. h. von unbezweifelbarer Gewißheit, 149 führt er auch in der Abhandlung vom Criterium veritatis die Wahrheit von Sätzen auf diejenige von Begriffen zurück. Die Gewißheit der Erkenntnis wird auf diese Weise »in die Frage der Richtigkeit der Begriffe« 150 aufgelöst, womit, wie Hans Werner Arndt anmerkt, die Begriffstheorie gegenüber der Urteilstheorie und der Schlußlehre in den Vordergrund gerückt wird. Lambert begründet dies damit, daß die mathematische Methode sich nicht nur darauf beziehe, »wie man solle Schlüsse zusammenhängen, sondern auch wie man um richtig anfangen zu können, das einfache und erste in den Begriffen und Verhältnissen und verschiedenen Seiten der Sache aufsuchen müsse.« 151 Die Veränderlichkeit der metaphysischen Erkenntnis könne aufgehoben werden, wenn es gelänge, die Grundbegriffe allgemeingültig festzustellen und ferner unter ihnen eine zusammenhängende Ordnung zu schaffen, die der Kohärenz der Geometrie entspricht, so daß die Möglichkeit eines Begriffes bewiesen werden könne, indem er a priori aus einfachen Begriffen abgeleitet werde. 152 Dieser Aspekt kommt in der Abhandlung vom Criterium veritatis, in der 147

Über die Methode, § 45, 20. In dieser Passage kommen über den in diesem Kapitel relevanten Aspekt hinaus weitere Gesichtspunkte des erkenntnistheoretischen Systems Lamberts zum Ausdruck, die im weiteren im Zusammenhang mit Herders Rezeption dieser Gedanken zu entwickeln sein werden. 148 Vgl. Über die Methode, 19 b), g), 9. 149 Ygj ü b e r ¿je Methode, 4., 7: »Der actus reflexus, da der Verstand auf sich selbst und seine Vorstellungen zurücke denkt, giebt unmittelbare Erfahrung, deren Wirklichkeit man auch im Läugnen zugeben muß.« 150 Criterium veritatis, § 46, 28. 151 Vgl. den Hinweis von Hans Werner Arndt (vgl. Lambert 1764: Nachdruck, Bd. I., XVIII) auf Lamberts Brief an G.J. Holland vom 18.3.1765 in Lamberts Briefwechsel, Bd. IX dieser Ausgabe, 7f. 152 Vgl. Über die Methode, § 15, 13. Hierin ist das Leibnizsche Konzept der Verbindung einer ars characteristica mit einer ars combinatoria im Hinblick auf die Konstituierung einer zuverlässigen ars inveniendi wiederzuerkennen. Vgl. auch Lambert 1764: Nachdruck, Bd. I., XIX.

133 die Möglichkeit verbindlicher Gewißheit allgemein für alle Wissenschaften diskutiert wird, ausführlicher zur Darstellung als in der Methoden-Schrift, und soll daher anhand dieser früheren Arbeit aus dem Jahre 1762 detailliert dargestellt werden. 153 In der Arbeit Über die Methode wird dagegen eine Ausweitung der im Criterium veritatis vorgetragenen Gedanken auf den Gesamtbereich der theoretischen und praktischen Philsophie vorgenommen. 154 In dem ersten Paragraphen der Abhandlung vom Criterium veritatis setzt Lambert fest, daß ein wahrer Satz durch Wörter konstituiert werde, die eine richtige Bedeutung haben und die für richtige Begriffe stehen, deren Umfang keinerlei einander widersprechende oder falsche Merkmale enthält und die sich untereinander in dem Verwendungszusammenhang des betreffenden Satzes bejahen oder verneinen lassen. Im Hinblick auf diese grundsätzliche Voraussetzung wird im zweiten Paragraphen eine Differenzierung hinsichtlich der verschiedenen Satztypen eingeführt, wobei diese Bedingung für die Typen der Erklärungen, Grundsätze und Heischsätze, die gewünschte Gewißheit garantieren soll. Es handelt sich insgesamt um Grundsätze, »deren Richtigkeit man zugiebt und zugeben muss, sobald man die Wörter versteht, wodurch sie ausgedrückt werden«. 155 Lehrsätze werden aus den drei erstgenannten Satztypen durch Anwendung logischer Schlußfolgerungen abgeleitet und erhalten verbindliche Gewißheit auf »mittelbare Weise«, sofern sie aus richtigen Begriffen und Grundsätzen durch richtige Schlüsse hergeleitet werden, was durch einen Beweis belegt werden kann. 156 Diese Unterscheidung der Satztypen ist Lambert zufolge in der »Meßkunst« längst beachtet worden und seiner Ansicht nach auch die unerläßliche Voraussetzung für das Auffinden eines verbindlichen Wahrheitskriteriums in der Metaphysik. 157 153

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155 156 157

Es sei darauf hingewiesen, daß Herder aus den ersten 55 Paragraphen der Abhandlung vom Criterium veritatis durchgehend Exzerpte angefertigt hat, was v.a. deswegen Erwähnung verdient, weil in diesen Paragraphen die Einteilung von Begriffen in Klassen analog zu der Einteilung von Sätzen unter Anwendung der »Mathematischen Methode«, d. h. von Analyse und Synthese vorgenommen wird. Somit wird in diesem Teil der Abhandlung der theoretische Ansatz entwickelt, der im folgenden zu »allgemeineren Anmerkungen« (s. § 56, 34) über die Weltweisheit herangezogen werden soll. Obwohl im weiteren der Abhandlung eine Reihe von Bemerkungen über die Sprache zu finden sind - dem Thema, das für Herder von größter Bedeutung war - deuten seine Exzerpte aus dieser Schrift auf ein vorrangiges Interesse an den hier entwickelten methodisch-theoretischen Überlegungen hin. Lambert 1764: Nachdruck, Bd. I, IX. Arndt weist ferner darauf hin, daß der Untersuchungsgegenstand der Methoden-Scbnfl, soweit er sich auf Fragen der Ontologie, natürlichen Theologie und Moral bezog, erst in der Anlage zur Architektonik ausgearbeitet worden sei, während das Criterium veritatis die unmittelbare Vorarbeit zu dem Neuen Organon darstelle. Vgl. Lambert 1764: Nachdruck, Bd. I, X. Criterium veritatis, § 3, 10. Vgl. Criterium veritatis, § 4, 10. Vgl. Criterium veritatis, §3, 9. Lamberts Entwicklung eines Kriteriums der Wahrheit, das allgemeine Gültigkeit beanspruchen können soll, schließt eine explizite Differenzierung und Kritik an den Entwürfen von Descartes und Christian Wolff ein. Descartes' Kriterium der klaren und deutlichen Vorstellung einer Sache und die von Wolff in die Metaphy-

134 Hierbei stellt sich für Lambert zunächst die Frage, woran erkannt werden könne, daß ein Begriff richtig sei und damit weder sich selbst noch anderen widerspreche. Die Widerspruchsfreiheit der Merkmale eines Begriffs sowie die Unmöglichkeit des Auftretens widersprüchlicher Merkmale müsse durch einen Beweis sichergestellt werden.158 Ein vollständiges Unterscheidungszeichen der Wahrheit läge jedoch erst vor, wenn die in sich widerspruchsfreien und somit richtigen Begriffe nach einer allgemeinen Regel von solchen zu unterscheiden seien, deren Widerspruchsfreiheit noch nicht bewiesen sei, da eine Begriffsanalyse nur solche Widersprüche aufdecke, die in dem Bereich der jeweils erreichten Analysestufe liegen. Auf diese Weise könne daher nicht ausgeschlossen werden, daß eine weitergehende Zergliederung noch weitere Widersprüche aufdecken könnte. 159 Die Kenntnis dieser allgemeinen Regel sei, obwohl man sie noch nicht gefunden habe, unabdingbarer Bestandteil eines verbindlichen Wahrheitskriteriums, da die Richtigkeit von Sätzen letztlich immer auf derjenigen der in einem Satz enthaltenen Begriffe beruhe. 160

sik eingeführte »Mathematische Methode« seien unter Beachtung der Unterscheidung der Satztypen miteinander in Verbindung zu bringen, vgl. § 3 der Abhandlung. In dieser Arbeit werden die kritischen Argumente in Bezug auf Descartes und Wolff nur insofern berücksichtigt, als es für die Darstellung der Prinzipien von Lamberts Methode im Hinblick auf Herders Rezeption der Schrift notwendig ist, obwohl eine detaillierte vergleichende Untersuchung des Wahrheitsbegriffs bei Descartes, Leibniz und Wolff für eine Klärung des wissenschaftsgeschichtlichen Ortes in methodischer Hinsicht der Werke Lamberts von Bedeutung sein könnte. 158 Vgl. Criterium veritatis, § 7, 11. 159 Vgl. Criterium veritatis, §§ 8-10, l l f . In der Architektonik, 1. Bd., § 7, 5 führt Lambert dieses Verfahren explizit auf Leibniz zurück und kritisiert diese Methode mit demselben Argument: »Und in dieser Absicht kann man sagen, daß Locke die menschlichen Begriffe anatomirt, Leibniz aber dieselben analysirt habe. Leibniz nämlich betrachtete sie nach den verschiedenen Stufen der Klarheit, Deutlichkeit und Vollständigkeit, und zeigte, daß sich diese nach der immer mehrern Entwickelung der innern Merkmaale richte, ungefähr, wie man eine Sache um desto deutlicher sieht, je kleinere Theile man an der selben unterscheiden kann. Bey dieser Vorstellungsart wird der Begriff mit der Sache, die Merkmaale des Begriffes mit den Theilen der Sache verglichen. Soll diese Vergleichung durchaus angehen, so folget, daß ein Begriff in immer feinere Merkmaale aufgelöset werden könne, und da bleibt die Frage, wie weit man darinn gehen soll, unentschieden, dafem man nicht annimmt, daß die Sprache aus Mangel der Wörter, nothwendig Gränzen setze. Bey dieser Analyse nimmt man die Begriffe, wie man sie findet. Enthält demnach ein Begriff einen oder mehrere versteckte Widersprüche, so können diese dadurch gefunden werden, wenn man im Stande ist, die Analyse so weit fortzusetzen. Sollte diese aber ins Unendliche fortgehen, so wird der Anstand, ob nicht noch Widersprüche zurücke bleiben, dadurch nie ganz gehoben.« 160 Ygj criterium veritatis, § 10, 12. Das methodisch entwickelte Wahrheitskriterium hält Lambert zwar für ersetzbar durch eine bis zur Vollkommenheit ausgebildete »Empfindung der Harmonie der Gedanken« (vgl. § 13, 13) - was der Umsetzung des Cartesischen Kriteriums der Klarheit und Deutlichkeit von Begriffen nach Lambert entsprechen würde - , jedoch lastet er es diesem denkbaren Wahrheitskriterium negativ an, daß es nicht kommunizierbar und somit nicht überprüfbar sei. Femer zieht Lambert eine Orientierung an dem von Descartes vorgeschlagenen Kriterium der klaren und deutlichen Vorstellung einer Sache ausschließlich in Bezug auf Grundsätze in Erwägung, wobei er gleichzeitig darauf hinweist, daß zuverlässige Erkenntnisse nur aufgrund von methodisch abge-

135 Die von Christian Wolff eingeführte sogenannte »Mathematische Methode« - dessen Interesse vor allem der Rückführung solcher Sätze, die einen Beweis erfordern, auf diejenigen, welche ohne Beweis einsichtig sind, galt - betrachtet Lambert über die Anwendung in der Mathematik und Logik hinaus als natürliche Methode, »weil es die ächte Gedenkensart der Seele ist, und in jeder Wissenschaft angebracht werden kann.« 161 Der Vorteil dieser Methode besteht Lambert zufolge darin, daß in diesem Fall nur »die Richtigkeit der Grundsätze und Erklärungen« zu prüfen sei, was in der Mathematik keine Probleme bereite, da die Begriffe einfach und die Figuren anschaulich seien, ebenso wie in der Vernunftlehre, da auch hier einfache Empfindungen zugrunde lägen, die durch einen »actus reflectus« zu erkennen seien. 162 In der Metaphysik ist es nach Lambert jedoch notwendig, die mathematische Methode der Analyse sogar weitergehend als in der Mathematik und der Logik anzuwenden, nämlich nicht nur auf Sätze, sondern auch in bezug auf Begriffe. Diese werden wiederum einer Differenzierung unterworfen, derzufolge in Entsprechung zu derjenigen von Sätzen Grundbegriffe von Lehrbegriffen unterschieden werden. Analog zu der Bestimmung der beiden grundsätzlich verschiedenen Satztypen werden Grundbegriffe in Abgrenzung von Lehrbegriffen definiert als solche, [...] die man für sich zugiebt und annimmt, zu den letzteren aber noch etwas hinzukommen muss, welches sie mit den ersteren zusammenhängt, dass man sie nunmehr auch zugiebt und annimmt. Es ist klar, dass das, so noch hinzukommen muss, ebenfalls eine Art von Beweis ist, und dass Schlüsse auch etwas dazu beytragen können, insbesondere aber wird es das seyn, was man die Entstehungsart eines Begriffes heissen kann. 1 6 3

Lambert unterscheidet weiterhin zwischen Lehr- und willkürlichen Begriffen, was Christian Wolff versäumt habe, da er sich mit seiner Forderung nach Begriffsdefinitionen allein auf die von Lambert als willkürlich bezeichneten Begriffe bezogen habe. 164

161

162 163 164

stütztem Vorgehen zu erlangen seien, wozu das Cartesianische Evidenzkriterium nicht hinreiche. Vgl. § 15, 14. Criterium veritatis, § 22, 17. Damit ist ein weiterer Unterschied gegenüber der von Kant in seiner Preisschrift vertretenen Meinung gegeben, da dieser die Synthese allein als die Methode der Mathematik ansieht und deren Anwendung im Bereich der Metaphysik für verfehlt hält. Wenn aber Lambert auch von Christian Wolff den Gedanken übernimmt, die »Mathematische Methode« in die »Weltweisheit« einzuführen und damit dessen Forderung nach einem deduktiven Zusammenhang von Theorien, so bemerkt er dennoch bereits in dem dritten Paragraphen der Abhandlung, daß wohl Lehrsätze durch richtiges Folgern aus richtigen Sätzen bewiesen werden könnten, nicht jedoch Grundsätze. Vgl. Wolters, Gereon 1980: Basis und Deduktion, Berlin/New York, 51f. Criterium veritatis, § 18, 15f. Criterium veritatis, § 25, 18. Gereon Wolters kann in seinem Buch Basis und Deduktion, 53f. jedoch belegen, daß Lamberts Kritik an Wolffs Definitionen an anderer Stelle ausführlicher begründet wird: Dieser habe das Problem des Beweises von Grundsätzen umgangen, indem er es aufgrund eines falschen Verständnisses der mathematischen Praxis auf deren Definitionen verlagert habe, ohne zu berücksichtigen, daß Nominaldefinitionen einen Existenzbeweis für die Gegenstände, denen der definierte Prädikator zugesprochen wird, erforderten.

136 Im Anschluß an diese Unterscheidung zwischen Grund- und Lehrbegriffen greift Lambert die von Christian Wolff vorgenommene Differenzierung von Sach- und Worterklärungen auf, wobei Lamberts Ausführungen zufolge der erste Typus für die Gewißheit von Erkenntnissen insofern von Bedeutung ist, als die Entwicklung der Entstehung eines Begriffes »eine Art von dem Beweise seiner Richtigkeit« 165 darstelle, da ein auf richtige Art und Weise aus richtigen Grundbegriffen gebildeter Lehrbegriff durch die Auseinandersetzung seiner Entstehungsart bewiesen werden könne. 166 Bei der Untersuchung von Lehrbegriffen auf die Richtigkeit der in ihnen enthaltenen Merkmale - der Zerlegung bis auf die Stufe der unzergliederbaren Merkmale und deren Zusammensetzung zu einem Begriff - kommen nun die Methoden von Analyse und Synthese zur Anwendung analog zu den Beweisverfahren auf der Satzebene, »die bereits in fast allen Vernunftlehren erklärt sind.« 167 Dabei bestehe jedoch trotz der Ähnlichkeit des Verfahrens ein fundamentaler Unterschied zwischen Sätzen und Begriffen hinsichtlich der Bedeutung der Methoden. Wenn bei Sätzen Beweise nach der analytischen Methode selten seien, weil man aus der Nichtbeweisbarkeit eines Satzes nach dieser Methode nicht auf sein Falschsein schließen könne, so würden analytische Begriffszergliederungen häufig vorgenommen, da Lehrbegriffe auf diese Art erklärt und bewiesen werden könnten sowie mögliche Widersprüche in dem Begriff aufgedeckt werden können, obwohl dies nicht - wie oben bereits ausgeführt wurde - in jedem Fall erreicht werde. Lambert führt dieses Vorgehen explizit auf Leibniz zurück. 168 Dabei würden die Merkmale, aus denen der Begriff zusammengesetzt sei, bis auf solche zergliedert, die »keiner weiteren Auflösung mehr bedürfen«, 169 worunter Lambert die Grundbegriffe versteht.170 Lambert folgert daher, daß bloße Nominaldefinitionen nicht ausreichen, wenn Definitionen als konstitutiver Bestandteil von Theorien herangezogen werden. Wolters gibt als Belegstelle an: Theorie der Parallellinien, § 8, S. 159, in: Leipziger Magazin für die reine und angewandte Mathematik hg. von J. Bernoulli/C.F. Hindenburg, 1786, 2. Stück, S. 137-164 und 1786, 3. Stück, S. 325-358. Aus dem Manuskript neu herausgegeben in: Stäckel, Paul/Engel, Friedrich (Hgg.) 1895: Die Theorie der Parallellinien von Euklid bis Gauss. Eine Urkundensammlung zur Vorgeschichte der Nichteuklidischen Geometrie. Leipzig, S. 137-207. Reprogr. Nachdr. New York 1968. 165 Criterium veritatis, § 27, 19. 166 In der Architektonik, 1. Bd., § 24, 21 unterscheidet Lambert zwischen Sacherklärungen a priori, die einen Gegenstand unter Heranziehung der entsprechenden Grundbegriffe und der für sie geltenden Postulate definieren, und Sacherklärungen a posteriori, die auf Erfahrungssätze gegründet werden. Christian Wolff habe beide Arten als Sacherklärungen bezeichnet, die die »Entstehungsart der Sache« zeigen sollen, sofern dem Begriff ein realer Gegenstand zugrunde liege. 167 Criterium veritatis, § 28, 20. 168 Criterium veritatis, § 31, 21. 169 Criterium veritatis, § 32, 21. 170 Vgl. Criterium veritatis, § 36, 23: »Zergliedern will hier ungefehr sagen erklären, definieren, den Umfang und die Hauptmerkmale eines Begriffes aufsuchen und bestimmen und diese Wörter sind in der Vernunftlehre fast soviel als gleichbedeutend. Ein Lehrbegriff ist, welcher einer Zergliederung oder Erklärung bedarf. Ein Grundbegriff, der keiner

137 Die Anwendung der synthetischen Methode diene hingegen dazu, die »ordentliche und natürliche«171 Art zu zeigen, nach der ein Begriff entstanden ist, indem die einzelnen Merkmale des Begriffes nach derselben Ordnung wieder miteinander verbunden werden. 172 Die Anwendung der Methoden der Analyse und Synthese nicht nur auf der Satz-, sondern auch auf der Begriffsebene erlaubt nun nach Lambert eine Übertragung des Wahrheitskriteriums auf die Grundbegriffe, von deren Richtigkeit und Gewißheit dann die gesamte Gewißheit der menschlichen Erkenntnis abhängen soll. Dabei sind Grundbegriffe durch eine einfache Empfindung gewonnene Begriffe der Erfahrung; Erfahrungsbegriffe im übrigen solche, die durchaus aufgelöst werden könnten, aber als ganzes angenommen werden; Lehrbegriffe sind unter Darlegung ihrer Entstehung abgeleitete Begriffe. 173 Der Zusammenhang zwischen diesen Typen läßt sich so beschreiben: Ein Erfahrungsbegriff kann zum Lehrbegriffe werden, wenn man aus Grundbegriffen oder einfachen Erfahrungsbegriffen seine Entstehungsart zeigt. Hinwiederum kann ein Lehrbegriff entweder als ein Erfahrungsbegriff betrachtet, oder in einfachere Erfahrungsbegriffe aufgelöst werden. Und thut man dieses, so sind die Erfahrungen, die man darüber anstellt, gleichsam die Probe von der Richtigkeit des fürgegebenen Lehrbegriffes. 1 7 4

Aus diesem Grund müsse die Methode entwickelt werden, die die Rückführung aller Lehrbegriffe auf Grundbegriffe, deren Kenntlichmachung sowie die Zusammensetzung von Lehrbegriffen aus Grundbegriffen ermöglicht, 175 denn »wer die Vortreflichkeit und Wichtigkeit der Mathematischen Lehrart einsieht und fühlt, wird wünschen, dass sie auch bey den Begriffen vollkommen brauchbar gemacht werden möchte.« 176 Lamberts Argumentation unterscheidet sich dabei bereits in der Prämisse von derjenigen Kants, der, wie oben dargestellt, die vollständige Auflösung von Begriffen in Merkmale für unmöglich erklärt, sowie in seinem methodischen Konzept, in dem die analytische Untersuchung von Begriffen mit ihrer synthetischen Zusammensetzung zu einem System verbunden wird. Herder konnte somit der Argumentation in diesen beiden Schriften Lamberts Belege für seine Annahme entnehmen, daß die Anwendung derselben allgemeinverbindlichen Methode in der Mathematik und der Philosophie möglich und sinnvoll ist. Ferner wird hier die Konzeption entworfen, die Lambert auch

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fernem Erklärung bedarf, oder dessen Möglichkeit und Richtigkeit unmittelbar einleuchtet, sobald man sich ihn vorstellt.« Criterium veritatis, § 37, 23. Vgl. Ritter/Gründer 1980, Bd. 5, Artikel »Methode«, 1321. Lambert bestimmt ferner »Lehnbegriffe«, »Heischbegriffe« und »erbettelte Begriffe« in Entsprechung zu der Gliederung der Satztypen, die jedoch für den hier verfolgten Leitgedanken der Anwendung der analytischen und synthetischen Methode nicht von Bedeutung sind. Criterium veritatis, § 46, 27. Vgl. auch Alethiologie, § 144, 528. Vgl. Criterium veritatis, § 38, 23f. Criterium veritatis, § 55, 33.

138 in seinen philosophischen Hauptwerken vertritt, daß analytische und synthetische Verfahren sich bei dem Aufbau von wissenschaftlicher Erkenntnis auf der Basis einfacher Grundbegriffe durchdringen. Die materielle Grundlage der Begriffe wird dabei auf die Erfahrung zurückgeführt, die sowohl durch die äußeren Sinnesorgane als auch durch den »actus reflexus« 177 des Verstandes zustande kommen können. Die Form der wissenschaftlichen Erkenntnis wird hingegen »auf die apriorischen Verhältnisse der Begriffe bezogen, deren Gewißheit auf der Richtigkeit der Grundbegriffe und deren möglichen Zusammensetzungen beruht.« 178 Auf diese Weise findet schließlich Herders Auffassung der Metaphysik mit ihrer Gebundenheit »an die Ergebnisse der Erfahrungswissenschaften von der Natur« 179 ihre Fundierung. 1.2.3. Grundbegriffe, Lehrbegriffe und Postulate: Johann Lamberts Konzeption einer »mathesis universalis«

Heinrich

Die Abhandlung über das Criterium veritatis stellt die unmittelbare Vorarbeit für das Neue Organon dar, das in dem oben angeführten Zitat aus Herders Metakritik neben den »Logischen Abhandlungen« als eine derjenigen Schriften genannt wird, in denen der Unterschied der synthetischen und der analytischen Methode thematisiert wird. 180 Hans Werner Arndt weist darauf hin, daß die in dem Criterium veritatis angeschnittenen Fragen, die sich darauf beziehen, in welchem Maße und in welchem Sinn Begriffe, die aus der Erfahrung stammen, in der Grundwissenschaft Verwendung finden können, nach welchen Gesichtspunkten die Auswahl und ihre Vollständigkeit bestimmt werden kann sowie, woran die Möglichkeit einer synthetischen Verknüpfung zweier Begriffe zu einem dritten erkannt werden kann, erst in dem Neuen Organon beantwortet werden bzw. daß dort deren Beantwortung versucht wird.181 Lambert bezieht sich mit diesem Entwurf explizit sowohl auf John Locke als auch auf Christian Wolff als seine wichtigsten Quellen: »In dem zweyten Hauptstücke der Alethiologie verbinde ich Lockens einfache Begriffe mit Wolfens Methode, und bringe dadurch die Grundlage zu verschiedenen Wissenschaften heraus, die im strengsten Verstände a priori sind.«182 In dem ersten Hauptstück der Alethiologie wird ein einfacher Begriff dadurch bestimmt, daß er nur ein einziges Merkmal umfaßt, 183 wobei ein Merkmal eine Eigenschaft einer Sache ist, an der sie erkannt und von anderen unter-

177 178 179 180 181 182 183

Vgl. Über die Methode, 4., 7. Vgl. Ritter/Gründer 1980, Bd. 5, Artikel »Methode«, 1321. Scholtz 1993, 16. Vgl. Hans Wemer Arndt in seiner Einleitung zu Lambert 1764: Nachdruck, Bd. I, X. Hans Werner Arndt in seiner Einleitung zu Lambert, 1764: Nachdruck, Bd. I, XIXf. Vorrede des Neuen Organons, 6 (unpaginiert). Alethiologie, § 13, 459.

139 schieden werden kann. 184 Aus diesem Grund können keine einander widersprechenden Merkmale in einem einfachen Begriff auftreten, 185 so »daß es an sich unmöglich ist, etwas verschiedenes darinn zu finden.« 186 Die Vorstellbarkeit eines einfachen Begriffes genügt daher zum Beleg seiner Möglichkeit 187 und aufgrund dessen sind solche Begriffe »schlechterdings klar«. 188 Der durch einen einfachen Begriff erfaßte Gegenstand zeichnet sich ebenfalls durch keinerlei Mannigfaltigkeit aus, obwohl er Modifikationen der Größe und des Grades hinsichtlich des Merkmals des Begriffes aufweisen kann. 189 Da die ersten Begriffe des Menschen durch seine Empfindungen und die Aufmerksamkeit, die die Vorstellung und das Bewußtsein der durch seine sinnlichen Wahrnehmungen hervorgerufenen Empfindungen ermöglicht, entstehen, 190 können einfache Begriffe nur auf einer Vorstellung basieren: »Auf diese Art haben Blinde gar keinen Begriff von den Farben, Taube keinen Begriff von dem Schall &c.« 191 Ziel dieser Bestimmungen ist für Lambert die Untersuchung dessen, [...], woher wir die erste Grundlage zu unsern Begriffen haben, und wiefern etwas einfaches darinn ist, welches sich sodann als a priori ansehen lasse. Dieses macht, daß wir bey den schlechthin klaren Begriffen, die wir durch unmittelbare Empfindungen erlangen, stehen bleiben, und sie theils durch ihre Namen, theils durch ihre nächsten Verhältnisse und verwandte Begriffe suchen, kenntlich und im folgenden brauchbar zu machen. Denn da unsre Begriffe oder wenigstens das Bewußtsein derselben, durch Empfindungen veranlaßt werden, so müssen wir, wenn wir unsre Erkenntniß wissenschaftlich machen wollen, anfangs immer wenigstens so weit a posteriori gehen, bis wir die Begriffe ausgelesen haben, die einfach sind, und die sich folglich, nachdem wir sie einmal haben, sodann als für sich subsistirend ansehen lassen. (Dianoiol. § 656.) Hiezu aber sind unstreitig die Begriffe, so uns die unmittelbare Empfindung giebt, die dienlichsten, weil wir sie am wenigsten weit herzuholen haben. 192

Dennoch strebt Lambert keine vollständige Aufzählung der einfachen Begriffe an, 193 da es nicht seiner Absicht entspreche, sich - wie John Locke in seinem Essay concerning human understanding es getan habe - darauf zu beschränken, sein ganzes Werk auf Erfahrungssätze aufzubauen und daher allein a posteriori vorzugehen. Lambert bezeichnet daher Lockes System als »eine Anatomie unsrer Begriffe und Erkenntniß, weil er ungefehr eben so verfahrt, wie die Anatomici sich einen Begriff der innern und einfachem Theile des Leibes und

184 185 186 187 188 189 190

191 192 193

Vgl. Dianoiologie, § 9, 7. Alethiologie, § 4, 455f. Alethiologie, § 9, 457. Alethiologie, § 8, 457. Alethiologie, § 14, 459. Alethiologie, § 11,458. Vgl. Dianoiologie, § 8, 6. Vgl. zu dem von Gereon Wolters hervorgehobenen Bedeutungswandel des Begriffs der Einfachheit in Lamberts Schriften das Kapitel II. 1.3.2.2. in der vorliegenden Arbeit. Alethiologie, § 14, 460. Alethiologie, § 21, 466. Vgl. Alethiologie, § 27, 470.

140 ihrer Verbindung zu machen suchen.« 194 Statt dessen habe sich in der Dianoiologie gezeigt, in welcher Hinsicht die »wissenschaftliche Erkenntnis« als a priorisches Wissen gegenüber der »gemeinen« und der »historischen« Erkenntnisform Vorteile aufweise. Daher sei es nicht ausreichend, »einfache Begriffe ausgelesen zu haben, sondern wir müssen auch sehen, woher wir in Ansehung ihrer Zusammensetzung allgemeine Möglichkeiten (Dianoiol. §. 692. sepp.) aufbringen können.« 195 Die einfachen Begriffe führen insofern auf Grundsätze und Postulate, die die Möglichkeit ihrer Zusammensetzungen aufzeigen, als sie Bestimmungen und Modifikationen zulassen sowie untereinander Verbindungen und Verhältnisse aufweisen, die durch Vergleichungen unter den Begriffen herausgebracht werden können: »Da nun die Grundsätze gewisse Modificationen, die Postulata aber gewisse Möglichkeiten bey den einfachen Begriffen anzeigen, so ist offenbar, daß diese Modificationen und Möglichkeiten an sich auch einfach sind, und zugleich auch mit dem einfachen Begriffe klar und zugegeben werden.« 196 Lambert führt die Möglichkeit zusammengesetzter Begriffe auf die einfachen zurück und folgert, daß einander ausschließende einfache Begriffe auch aus ihnen zusammengesetzte unmöglich machen, woraus sich die Bedeutung der Postulate für die Möglichkeit zusammengesetzter Begriffe ergibt. 197 In dem dritten Hauptstück der Architektonik verweist Lambert auf seine Ausführungen in der Alethiologie, äußert sich nun jedoch ausführlicher über die Bedeutung der Grundsätze und Postulate, »weil ohne diese keine wissenschaftliche Form erhalten werden kann« und »sie die ersten Gründe unseres Wissens und Thuns sind.« 198 Hervorgehoben wird die Allgemeinheit der Grundsätze und Postulate, da erstere aufgrund dieser Eigenschaft sicher und zuverlässig anwendbar sein sollen und letztere die Angabe allgemeiner Möglichkeiten erlauben. Dieses Konzept der Postulate führt Lambert unter Bezugnahme auf Euklid in seine wissenschaftliche Grundlehre ein, in dessen System die Postulate ebenfalls die Aufgabe hatten, die allgemeinen Möglichkeiten, über die die anschauliche Figur an sich keine Aussagen machen kann, zu erfassen. 199 In der Metaphysik müsse die Aufklärung abstrakter Begriffe und Sätze durch das Beispiel des einzelnen Falles erfolgen, die Bestimmung der Allgemeinheit und des Umfangs dieser Begriffe und Sätze müsse durch Grundsätze und Postulate vorgenommen werden. 200 Besonders betont Lambert die Aufgabe der Postulate,

194 195

196 197 198 199 200

Alethiologie, § 29, 472. Alethiologie, § 29, 472. Die Einteilung Lamberts der Erkenntnisarten in »gemeine«, »historische« und »wissenschaftliche Erkenntnis« wird in dem Kapitel II. 1.3.2.1. im einzelnen dargelegt. Alethiologie, § 124, 519. Alethiologie, § 135, 523f. Architektonik, 1. Bd., § 76, 59. Architektonik, 1. Bd., § 12, 10. Architektonik, 1. Bd., § 13, 10.

141 die darin besteht, »die Möglichkeit der Zusammensetzung der Begriffe a priori, allgemein und genau« 201 zu bestimmen. Unter dieser Voraussetzung kann Lambert nun das Ziel der Konzeption seiner Grundlehre konkret entwerfen: Da die einfachen Begriffe die erste Grundlage unserer Erkenntniß sind, und bey den zusammen gesetzten Begriffen, so fern wir sie uns sollen vorstellen können (§. 9.), sich alles in solche auflösen läßt; so machen diese einfachen Begriffe einzeln und unter einander combinirt, zusammen genommen ein System aus, welches nothwendig jede ersten Gründe unserer Erkenntniß enthält. Von diesem Systeme läßt sich eine wissenschaftliche Erkenntniß gedenken (§. 71.), und die Sprache beut uns dem buchstäblichen Verstände nach die Wörter Grundlehre, Grundwissenschaft, Architectonic, Urlehre &c. als Namen dazu an. 2 0 2

Für die Ausführung dieser methodisch geleiteten Operationen werden von Lambert Zeichen oder Wörter als unverzichtbar angenommen: »Diese beyden Wissenschaften [die Dianoiologie und die Alethiologie] würden genug seyn; wenn der menschliche Verstand seine Erkenntniß nicht an Wörter und Zeichen binden müßte [.,.].«203 Inwieweit dabei streng wissenschaftlichen Maßstäben entsprechende Zeichen herangezogen werden können, die dem von Lambert formulierten zeichentheoretischen Grundsatz Genüge leisten, beziehungsweise auf die natürliche Sprache zurückgegriffen werden muß, geht aus der Bestimmung Lamberts von wissenschaftlicher und a priorischer Erkenntnis hervor.

1.3. Das Problem der Erkenntnis a priori/a posteriori Es soll nun die Auffassung Lamberts der a priorischen Begriffe gezeigt werden, deren Konstruktion durch die Anwendung von Grundsätzen und Postulaten angestrebt wird. Die Problematik der Frage, was allgemein unter einem Begriff a priori zu verstehen ist, muß dabei vorrangig geklärt werden, da sich hieran der wesentliche Aspekt wissenschaftlicher Erkenntnis, wie sie von Lambert dargestellt wird, festzumachen ist. Gleichzeitig stellt Lamberts Auffassung des a priori-Begriffs einen zentralen Anknüpfungspunkt für Herder dar in seiner Argumentation gegen Kants Lösung der erkenntnistheoretischen Grundfrage nach der Quelle der Erkenntnis, die von dem Erkenntnistheoretiker Adam Schaff als die Frage formuliert wird, ob der Erkenntnisakt unabhängig von der äußeren Erfahrung ist, ober ob er in irgendeinem Zusammenhang mit ihr steht. 204 Im Anschluß an die Klärung dieser Fragen ergibt sich Lamberts differenzierte Sicht der Anwendungsmöglichkeiten von Zeichen verschiedenen Exaktheitsgrades. Zunächst soll Herders Position in Gegenüberstellung zu derjenigen Kants umrissen werden.

201 202 203 204

Architektonik, 1. Bd., § 20, 16. Architektonik, 1. Bd., § 74, 57. Vorrede des Neuen Organons, 4. unpaginierte Seite. Schaff 1984, 47.

142 1.3.1. Herders Kritik an Kants a

priori-Begriff

Die Idee und Einteilung einer besonderen Wissenschaft, unter dem Namen einer Kritik der reinen Vernunft thematisiert Kant in dem siebten Einleitungspunkt der Kritik der reinen Vernunft, in dem die Schlußfolgerung aus den vorangehenden Ausführungen gezogen wird.205 Als Aufgabe und Ziel der Kritik wird ausdrücklich nicht eine konkrete Erweiterung von Erkenntnissen genannt, sondern »nur die Berichtigung derselben« sowie die Darstellung des Wahrheitskriteriums, das »den Probierstein des Werts oder Unwerts aller Erkenntnisse a priori abgeben soll«.206 Herder gibt in Paraphrase eine längere Textpassage aus Kants Schrift wieder, in der auf den ausschließlich propädeutischen Charakter der transzendentalen Kritik hingewiesen wird im Hinblick auf ein in Zukunft möglicherweise erstellbares »Organon der reinen Vernunft«, das ein Inbegriff der Prinzipien wäre, nach denen alle reinen Erkenntnisse a priori erworben werden könnten. Bereits an anderer Stelle in der Metakritik hat Herder sich jedoch gegen einen solchen Ansatz dahingehend geäußert, daß: [...] allgemeine Behauptungen hierüber [über die Frage der Erkenntnis a priori] wenig helfen, wenn nicht zugleich die Erkenntniße gesondert und geordnet, in Reihen auf ihren Ursprung zuruck= durch Stuffen [sie] und Arten durchgeführt, in Symbolen, welcherlei diese auch seyn mögen, gezeigt, und sodann aus der Natur des menschlichen Verstandes klar gemacht werde, was in ihnen ein prius oder posterius sei. 2 0 7

Besondere Beachtung findet die für die transzendentale Kritik von Kant postulierte Voraussetzung, keinerlei Begriffe, »die irgend etwas Empirisches in sich enthalten«, 208 in ihrem Entwurf zuzulassen. Herder schließt an dieses Zitat eine Reihe von Fragen an, wobei er zunächst Kants Begriff der Erkenntnis a priori problematisiert. In seiner Argumentation dafür, daß dieser Begriff, um »Mißverständniße zu vermeiden«, 209 ganz fallen gelassen werden sollte, konzentriert sich Herder auf die Frage, ob ein a priorischer Begriff als vor aller Erfahrung überhaupt gegeben zu verstehen sei, oder, ob ein solcher Begriff zwar vor einer konkreten Erfahrung, aber dennoch aus auf Erfahrung basierenden Begriffen hervorgehe. Schon in den Bemerkungen zu Kants erstem Einleitungspunkt Vom Unterschiede der reinen und empirischen Erkenntnis, in dem dieser Erkenntnis a priori als »schlechterdings von aller Erfahrung unabhängig« 210 seiend erklärt, hat Herder mit seiner Erwähnung der von Leibniz in dessen zuerst 1765 erschienenen Nouveaux Essais sur 1'Entendement Humain vertretenen Meinung auf eine von Kants Interpretation abweichende Sicht hingewiesen: Dort wurde angenommen, daß sinnliche Eindrücke Erkenntniße veranlaßen, daß, wie Leibnitz sagt, äußere Gegenstände Begriffe erwecken, mithin diese Erkenntniße und Be205 206 207 208 209

Vgl. KrV, B 24ff./A lOff. KrV, B 26/A 12. Metakritik, 25. KrV, B 28/A 14. Metakritik, 33.

143 griffe, auch wenn sie in der zehnten höheren Potenz erschienen, von allen Eindrücken der Sinne, von aller vorhergegangenen Erfahrung nicht ganz unabhängig wären; hier sollen sie es schlechterdings seyn und nur dann, wen [sie] sie es sind, a priori heißen. 2 "

Herder bezieht sich hiermit auf das erste Buch und die Vorrede der Nouveaux Essais, in der Leibniz im Anschluß an Piatons Lehre von der Wiedererinnerung die Ansicht vertritt: »l'ame contient originairement les principes de plusieurs notions et doctrines que les objets externes reveillent seulement dans les occasions«. 212 Ernst Cassirer verweist in der von ihm übersetzten und erläuterten Ausgabe der Nouveaux Essais auf den § 26, 170ff. des Discours de Métaphysique aus dem Jahr 1686, wo Leibniz sich bereits zustimmend über diese Lehre Piatons geäußert hat. Dort heißt es, daß die Ideen im Geist virtuell enthalten und beständig in ihm vorhanden seien, jedoch nicht distinkt gewußt und gedacht würden, bevor sie bei Gelegenheit einer Sinnesanschauung als Wahrheiten erkannt werden könnten. Herder, obwohl er diese Ansicht nicht teilt, erwähnt die Position Leibniz' vermutlich als Beispiel einer rationalistisch geprägten Sichtweise, bei der dennoch die Rolle der sinnlichen Wahrnehmung berücksichtigt wird. Herder schlägt daher vor, diesen »fremden untergeschobnen Begriff einer Priorität vor aller Erfahrung«213 zu umgehen und führt in der beigefügten Fußnote kommentarlos das wörtliche Zitat einer Passage aus Lamberts Dianoiologie an. Es handelt sich dabei um den zweiten Teil des § 636 und den vollständigen § 637 des neunten Hauptstückes der Dianoiologie, in dem die wissenschaftliche Erkenntnis in Abgrenzung von anderen Arten der Erkenntnis thematisiert wird: »Da wir diese Vordersätze haben müßen, ehe wir den Schlußsatz ziehen können, so gehen die Vordersätze dem Schlußsatz vor, und dies heißt allerdings a priori gehen. Hingegen wenn wir die Vordersätze nicht haben, oder uns derselben nicht zugleich bewußt sind, um den Schlußsatz ziehen zu können: so haben wir kein anderes Mittel als die Erfahrung. Dies hat man a posteriori genannt und dadurch aus diesem letzten Begriff einen terminant infinitum gemacht. Man siehet aber leicht, daß diese beiden Begriffe müßen verhältnismäßig genommen werden. Denn wollte man schließen, daß nicht nur die unmittelbaren Erfahrungen, sondern auch alles, was wir daraus finden können, a posteriori seyn: so würde sich der Begriff a priori bei wenigen von den Fällen gebrauchen laßen, wo wir etwas durch Schlüße voraus bestimmen können, weil wir in solchem Fall keine von den Vordersätzen der Erfahrung müßten zu danken haben. Und so wäre in unsrer ganzen Erkenntniß so viel als gar nichts a priori.« Lamberts Organon S. 636. 637. S. 413. 414. 2 1 4

210

211 212 213 214

KrV, B 3. Friedrich Kambartel weist auf diese deutlichere Parallelformulierung von A 2 hin, die besagt, daß »gewisse ursprüngliche Begriffe und aus ihnen erzeugte Urteile übrig [bleiben], die gänzlich apriori, unabhängig von der Erfahrung entstanden sein müssen« und interpretiert das Wort »ursprünglich« als korrespondierend mit »nicht aus der Erfahrung entspringen«, welches die Formulierung der entsprechenden Stelle in der 2. Auflage ist. Vgl. Kambartel 1976, 102. Metakritik, 23. Leibniz 1978, V. Bd., 42. Metakritik, 33. Metakritik, 33.

144 Lambert weist explizit auf die Besonderheit seiner Auffassung des a priori-Begriffs hin und rechtfertigt die vorgenommene Bedeutungsrelativierung dieses Begriffes unter Hinweis auf eine notwendige Unterscheidung von Ausdrucksund Inhaltsebene in unmittelbarem Anschluß an die oben zitierte Textstelle, nämlich in dem § 638 noch bevor er die dort erwähnte graduelle Abstufung des a priori-Begriffes im einzelnen ausführt: Denn da sie [die Begriffe a priori und a posteriori] nur Titel und Ueberschriften unsrer Erkenntniß sind, so ändern sie an der Sache nichts, weil diese an sich das ist, was sie ist. Die Hauptsache kömmt hiebey nur darauf an, daß Wort und Begriffe durchgehends mit einander übereinkommen, und daß man nicht in besondern Fällen a priori nenne, was nach der angenommenen Bedeutung des Worts a posteriori genennt werden müßte. 215

Herder begründet seinen Vorschlag, den Begriff der Erkenntnis a priori in der oben angegebenen Weise zu differenzieren, ebenfalls mit einem Hinweis auf das Verhältnis von »a priori«-Begriff und Erkenntnisinhalt, wobei er von der Unabhängigkeit einer Erkenntnis von dem ihr zugeschriebenen Status ausgeht: [...] denn dieser [der Begriff der Erkenntnis a priori] kann keinem Erkenntniß, falls es nicht seiner Natur nach allgemein und nothwendig ist, Allgemeinheit und Nothwendigkeit geben. 2 1 6

Das Bestreben Herders, den bei Kant vorgefundenen »fremden untergeschobnen Begriff einer Priorität vor aller Erfahrung« zu vermeiden, zeigt deutlich, daß er die Frage, wie der Begriff des a priori zu verstehen ist, in dem Sinne beantwortet sehen möchte, dem zufolge ein a priorischer Begriff letztendlich auf Erfahrungsbegriffe zurückzuführen ist. Da in Kants Schrift die Grundlage der Erfahrung aus dem Erkenntnisprozeß ausgeklammert werde und alles »auf der Fiction einer reinen Vernunft vor aller Erfahrung und einer Synthesis a priori«217 beruhe, bezeichnet Herder in seinen abschließenden Bemerkungen die Kritik der reinen Vernunft als ein »Gebäude von Fictionen«, das nicht als systematisch aufgebaut angesehen werden könne. Sie sei daher ausschließlich eine »kritische Logik«, die auf einige metaphysische Begriffe angewendet werde. Herders Standpunkt, daß es sich bei Kants Schrift um eine »kritische Logik, angewandt auf einige metaphysische Begriffe« handele, ist so zu verstehen, daß die Kritik als Form nur den Bereich der Logik abdecke, nicht jedoch den der Materie, der für die reine Vernunft und damit für die richtige Kritik Herder zufolge ebenfalls unerläßlich ist. »Kritische Logik« ist nach Herders Interpretation ein bewußt gewählter Pleonasmus für den Begriff der Form. Statt einer Transzendental-Ästhetik, in der die Sinneswahrnehmungen nicht berücksichtigt werden, einer Analytik, in der die Verstandesbegriffe isoliert betrachtet werden, und einer Dialektik, die die als unvermeidlich bezeichneten

215 216 217

Dianoiologie, § 638, 414. Metakritik, 33. Metakritik, 318.

145 Fehler der Vernunft darstellt, müsse eine Arbeit, die es sich zur Aufgabe mache, eine Untersuchung des menschlichen Erkenntnisvermögens zu unternehmen, folgende Teile umfassen: 1. O r g a n i k. Philosophie der Sinnen= und Zeichenwelt. 2.

N o e t i k. Philosophie der Verstandeswelt.

3. D i a n o e t i k. Philosophie der Vernunftwelt.

4. Noometrik. Maasbestimmung des Innewerdens jener drei Welten. 218

Dieser letzte Teil, die Noometrik, sei für die Kritik der reinen Vernunft am schwierigsten zu bewältigen, da sie »allenthalben nur Erscheinungen findet«,219 und somit keinen Anwendungsgegenstand der Vernunfttätigkeit habe. Gegenüber dem als unsystematisch bezeichneten Vorgehen Kants hebt Herder in seinen abschließenden, resümierenden Bemerkungen das von Lambert in seinen philosophischen Werken verfolgte als wissenschaftlich hervor, da dieser sowohl die materielle Grundlage der Erkenntnis als auch die logische Form berücksichtigt, sie aber dennoch getrennt behandelt: Lambert, als er Logik und Metaphysik, d. i. Form und Materie besonders abhandelte, verfuhr wißenschaftlich; er sonderte was unter einander nicht gehöret, da die sogenannte Kritik der reinen Vernunft eine Zwittergestalt von Logik und Metaphysik, und (rückt ihre Theile zusammen!) eine sich selbst setzende und selbstaufliebende Dichtung, ein Spiel mit sich selbst ist. 2 2 0

Die Äußerung, daß es sich bei der Kritik um ein Zwitterwesen von Logik und Metaphysik handele, geht über die kritische Bemerkung, daß Kants Werk nur eine Logik sei, noch hinaus, indem sie weder als Form noch als Materie anerkannt wird, da beide sich gegenseitig aufhöben. Mit dieser Abhebung von Kants Annahme, daß wissenschaftliche Erkenntnis von äußeren Erfahrungen unabhängig sein müsse, kritisiert Herder somit Kants Begriff der Erkenntnis a priori. Der Hinweis auf Lamberts Neues Organon und den dort vertretenen a priori-Begriff ist als eine theoretische Absicherung und Fundierung dieses Begriffsverständnisses zu verstehen.

218 219 220

Metakritik, 318. Metakritik, 318. Metakritik, 318f.

146 1.3.2.

Lamberts Interpretation a posteriori

13.2.1. Die Stufen der

der Begriffe des a priori

und

Erkenntnis

Das neunte Kapitel der Dianoiologie, dem die erwähnte, von Herder zitierte Textstelle entnommen ist, ist mit dem Titel Von der wissenschaftlichen Erkenntnis überschrieben. Hier führt Lambert zunächst eine Unterscheidung in »gemeine«, »historische« und »wissenschaftliche« Erkenntnis221 ein, die für seinen im weiteren dargelegten a priori-Begriff von grundlegender Bedeutung ist. Herders Interesse an Lamberts Unterscheidung der Erkenntnisformen wird neben seiner Übernahme von Lamberts a priori-Begriff, der sich auf die wissenschaftliche Erkenntnisform bezieht und die daher von anderen Formen explizit abzugrenzen ist, auch durch die von ihm angefertigten Exzerpte aus Lamberts Untersuchung Vergleichung und Unterschied der gemeinen und wissenschaftlichen Erkenntnis222 belegt.

221

222

Günter Schenk führt in den Anmerkungen zu seiner Ausgabe des Neuen Organons Lamberts Unterscheidung der Erkenntnisformen auf die von Piaton und Aristoteles in Historia und Mathemata zurück. Historia bedeutet hier nach Schenk eine Beschreibung auf der Basis von Erfahrung; Mathemata sind die Gegenstände, die durch Lehren oder Lernen als Wissen erworben werden können. Schenk stellt eine Parallele her zwischen Lamberts gemeiner Erkenntnis und der historischen Erkenntnis nach dem Verständnis Piatons und Aristoteles' sowie zwischen Lamberts wissenschaftlichem Erkenntnisbegriff und der den Mathemata gemäßen Erkenntnisform. Jedoch ist zu beachten, daß Lambert auch die historische Erkenntnis erwähnt und damit eine dreigliedrige Unterteilung im Unterschied zu der erwähnten zweigliedrigen vornimmt. Die historische Erkenntnis unterscheidet sich dabei von der gemeinen darin, daß sie nicht nur individuell erfahren, sondern mitgeteilt wird. Vgl. Lambert, Johann Heinrich 1990: Neues Organon. Hg., bearb. und mit einem Anh. vers. von Günter Schenk. Appendix, Berlin, 965. Auch Gereon Wolters weist darauf hin, daß Lambert hier an eine letztlich auf Aristoteles zurückgehende Tradition anknüpft, deutet aber in einer Fußnote mit einem Hinweis auf Friedrich Kambartels detaillierte Darstellung dieser Tradition bereits an, daß Lamberts Unterscheidung der gemeinen von der historischen Erkenntnisform im Anschluß zu sehen ist an Francis Bacons Bemerkung »daß systemlose, auf zufälliges Wahrnehmen angewiesene Historie dem menschlichen Wissen nur langsam oder gar nicht forthilft. Erst die Anordnung und Reihung des historischen Materials nach einem Plane läßt dessen Lücken und damit Ansätze für weitere sinnvolle Nachforschung und wissenschaftlichen Fortschritt hervortreten«, die die von Bacon neu in die Tradition eingeführte Gleichsetzung von »historia und experimentia« begründet (vgl. Kambartel 2 1976). Diese Forderung ist für Lamberts Begriff der historischen Erkenntnis konstitutiv. In dem Verzeichnis des handschriftlichen Nachlasses Johann Gottfried Herders wird der Inhalt von Kapsel XXVI 6 l l l r - 1 2 0 r , 193 v -198 v auf S. 232 angegeben als: »Auszüge aus: J.H. Lambert, Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung von Irrtum und Schein, 2 Bde, Leipzig 1764; Weimar [...]«. Die Sichtung hat ergeben, daß es sich auf Seite 197 r , oben um Auszüge handelt aus: Vergleichung und Unterschied der gemeinen und wissenschaftlichen Erkenntnis ( § l - § 7 ) . Die Auszüge sind überschrieben: »Vgleichg u. Untsch. d gern u. wißtl. Erk. Lambt«. Die Handschrift Lamberts ist Teil des Herder-Inventars laut Max Stecks Standortkatalog, eingeordnet unter L.I.a. 744 B, Nr. 12 pag. 267-270. Vgl. die Aufstellung des gesamten Inhalt der Kapitel XXVI 6 in dem Kapitel II. 1.2.2. in dem ersten Teil der vorliegenden Arbeit.

147 Der Stufe der gemeinen Erkenntnis entspricht nach Lambert die Form der auf sinnlichen Wahrnehmungen beruhenden, »gemeinen Erfahrungen«, die von jedem Individuum geleistet werden könne, sofern keine Einschränkung seiner sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten vorläge, so daß die gemeine Erfahrung mit Gereon Wolters als im »schlichten Konstatieren alltäglicher Phänomene« 223 bestehend betrachtet werden kann. Die Beschränkung auf gemeine Erfahrungen bedeutet nach Lambert, die Stufe der »historischen Erkenntnis«, die durch die drei Erfahrungstypen der gemeinen Erfahrungen, der gezielten Beobachtungen sowie der Versuche ausgemacht werde, nicht voll auszuschöpfen. Die historische Erkenntnis unterscheidet sich somit durch die Zugrundelegung eines »dreikomponentigen Erfahrungsbegriffs« 2 2 4 von der gemeinen Erkenntnis, welche ausschließlich auf dem Typus der individuellen gemeinen Erfahrungen basiert. Bei der historischen Erkenntnisart gelange man jedoch in der Beschreibung des Erkannten nicht über eine »Erzählung«, d. h. eine reine Aufzählung der Naturgegenstände hinaus. Gegenstand der drei genannten Typen von Erfahrungen, durch welche sowohl Begriffe als auch Sätze erworben werden könnten, seien die sichtbaren Dinge, vor allem die der Natur mit den ihren Abläufen zugrunde liegenden Regeln: »Wir lernen dadurch, daß etwas sey, daß es so und nicht anders sey, und etwann auch, was es sey.« 225 Dem gegenüber werden die Vorteile und der Zweck der wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten anhand von Beispielen aus der Mathematik erläutert, die für Lambert den Status eines für alle Wissenschaften maßgeblichen Modells einnimmt, da in diesem Bereich das Finden und die Bestimmung dessen, was nicht mittels der Sinnesorgane erfahrbar sei, den anderen Wissenschaften gegenüber am weitesten gehe und mit größter Zuverlässigkeit erfolge. Unter Berufung auf Cicero führt Lambert die Geometrie als eine Lehre an, in der durch Schlußfolgerungen zu gesicherten Erkenntnissen, die keiner sinnlichen Erfahrung zu ihrer Bestätigung bedürfen, zu gelangen sei. Es komme bei der »wissenschaftlichen Erkenntnis« darauf an, [...] daß man aus anderm finde, was an sich nicht kann gefunden werden, und daß man sich allenfalls, wenn letzteres zu mühsam, aber doch an sich möglich wäre, die Mühe sparen könne.226

Die wissenschaftliche Erkenntnis unterscheidet sich somit bei der die meisten Erkenntnisse als isolierte Phänomene darin, daß sie auf die Abhängigkeit neuer Erkenntnisse von gegründet ist und daß die Untersuchung und Entwicklung keiten zu ihren Untersuchungsgegenständen gehört. 227 Bei

223 224 225 226 227

von der gemeinen, betrachtet werden, bereits gefundenen solcher Abhängigder wissenschaftli-

Vgl. Wolters 1980, 74. Wolters 1980, 75. Dianoiologie, § 599, 387. Dianoiologie, § 604, 389. Mit dieser Bestimmung grenzt Lambert sich explizit von den »Empirici«, d. h. den reinen

148

chen Erkenntnisform soll jedoch nicht nur konkret gezeigt werden, daß sich neue Erkenntnisse aus bereits gefundenen ableiten lassen, sondern darüber hinaus, welche Voraussetzungen mit dem Vorliegen bereits bekannter Daten für ein bestimmtes Ergebnis notwendigerweise erfüllt sein müssen. In seiner Untersuchung der gegenseitigen Abhängigkeit von Gegenständen beziehungsweise der Begriffe von Gegenständen, die im Unterschied zu der gemeinen Erkenntnisform auf der Ebene wissenschaftlicher Erkenntnis gegeben sein soll, beschränkt Lambert sich zunächst auf den Fall, in dem Begriffe oder Sätze der Erfahrung im Hinblick auf die unter ihnen gegebenen Abhängigkeitsverhältnisse miteinander verglichen werden, da »die gemeine Erkenntniß ihre Begriffe und Sätze nur den Sinnen zu verdanken hat, und folglich beyde aus der gemeinen Erfahrung sind«. 228 Ein erster Unterschied gegenüber der gemeinen Erfahrung soll in der Umsetzung des Bewußtseins dieses Vorganges in gezielte Beobachtung und möglicherweise geplante Versuche bestehen. Ziel solcher Untersuchungen ist die Bestimmung dessen, worin die einzelnen Erfahrungen bestehen, in welcher Hinsicht sie vergleichbar sind und wie sie sich gegenseitig erklären lassen, um auf diese Weise die fragmentarischen Erfahrungen der gemeinen oder historischen Erkenntnis in einen systematischen Zusammenhang bringen zu können, womit jene in wissenschaftliche Erkenntnis verwandelt werde. Zu diesem Zweck ist es Lambert zufolge notwendig, zunächst eine Aufklärung des Begriffs jeder einzelnen Erfahrung vorzunehmen. 229 Lambert führt zur Verdeutlichung an, daß der »erste Erfinder der Geometrie« durch konkrete Versuche an einem Triangel zu weiteren Betrachtungen und der Suche nach Gründen veranlaßt worden sein müsse. 230 Um in einem weiteren Schritt aufgrund des Vergleichens einzelner Fragmente der vorwissenschaftlichen Erkenntnisformen zu solchen Erkenntnissen zu gelangen, die nicht auf konkreten Erfahrungen basieren, werden die gegebenen tatsächlichen Erfahrungen als logische Vordersätze betrachtet, aus denen neue Erkenntnisse in der Form von Schlußsätzen abgeleitet werden können. 231 Dabei ist zunächst wiederum eine genaue Untersuchung und Bestimmung der

Empiristen, die ausschließlich sinnlich Erfahrbares als der Erkenntnis zugänglich annehmen, ab. Vgl. Dianoiologie, § 605, 390. Dianoiologie, § 610, 392. 229 Vgl. Dianoiologie, § 611, 393. 230 Y g | Dianoiologie, § 610, 392f. Das Beispiel des Triangels zieht Lambert in dem Kapitel über die wissenschaftliche Erkenntnis mehrfach heran und dient auch Herder zur Demonstration des Vorgehens des Mathematikers in seiner Argumentation, daß das Allgemeine und Notwendige der Erkenntnis nicht aus dem Begriff einer von aller Erfahrung unabhängigen Erkenntnis a priori im Sinne Kants abzuleiten sei, sondern vielmehr aus konstruierten besonderen Begriffen. 231 Eine detaillierte Darstellung der Grundlagen logischer Schlußverfahren ist im wesentlichen der Gegenstand der Dianoiologie, auf die Lambert in dem letzten Hauptstück rekurriert. Auf diese Darstellung wird in dem dritten Teil dieser Arbeit, in dem einige Aspekte des Theoretischen Werks des Novalis diskutiert werden, nochmals zurückzukommen sein. 228

149 fragmentarischen Erfahrungssätze notwendig, um aus diesen partikularen Erfahrungssätzen allgemeingültige Sätze zu machen, die »sich folglich sodann in unzählig vielen Schlußreden als Vordersätze gebrauchen, und bey jedem vorkommenden Fall anwenden lassen«. 232 Die Notwendigkeit, eine Aufklärung der gemeinen Erfahrungen vorzunehmen, wird dadurch begründet, daß »die gemeine Erkenntniß eine trübe Quelle [ist], die vorerst muß klar gemacht werden, ehe sich der Grund sehen läßt«,233 [...] da die gemeine Erkenntniß die Dinge nimmt, wie sie in die Sinne fallen, (§. 600.) [...] dunkle, klare, confuse, verwirrte und deutliche Begriffe ohne weitem Unterschied annimmt, (§ 8. 9.) folglich die Theile der Sache, ihre verschiedene [sie] Arten und die Vieldeutigkeit der Wörter nicht weiter unterscheidet, [...]. 2 3 4

Für die Umsetzung des Ziels wissenschaftlicher Erkenntnis, das darin besteht, »zu sehen, wiefern die entwickelte oder auseinander gelesene Theile dieses Cahos [sie] uns bestimmte Begriffe und allgemeine Sätze angeben, und wiefern sie von einander abhängig sind, und diese Abhänglichkeit gefunden werden könne«, 235 sei es erforderlich, von gemeinen Erfahrungen immerhin insoweit klare Begriffe zu haben, daß man »bey behöriger Aufmerksamkeit«236 »das Verwirrte darinn zu entdecken und auseinander zu lesen« 237 vermöge. Die einzelnen »Theile, Arten, Klassen, Fälle«238 seien im Hinblick darauf zu unterscheiden, ob es sich um Begriffe oder Sätze handle und diese Falldifferenzierung sei bei Zusammenfassungen zu komplexen Begriffen oder Satzfolgen zu berücksichtigen. Im ersten Fall könnten neue Begriffe durch die Zusammensetzung von Merkmalen bereits bekannter Begriffe gefunden werden, wobei die Möglichkeit der jeweiligen Zusammensetzung bewiesen werden müsse. 239 Im anderen Fall würden Sätze als Vordersätze in Schlußfolgen betrachtet, 240 wobei die Frage entstehe, ob die gegebenen Voraussetzungen für einen allgemeingültigen Schluß ausreichten, was wiederum von der Allgemeinheit und Anwendbarkeit der entwickelten Begriffe und Sätze abhinge.241 Diesen letzten Aspekt hebt Lambert besonders hervor, indem er auf die Gefahr hinweist, notwendige Bestimmungen zu übersehen. Er bemerkt, daß sogar ganze Teile von Wissenschaften unbeachtet bleiben könnten und führt als Beispiel die von ihm entwickelte Vernunftlehre des Wahrscheinlichen an. Die Fest-

232 233

234 235 236 237 238 239 240 241

Dianoiologie, § 615, 396. Dianoiologie, § 617, 398. Zu diesem Zitat ist anzumerken, daß es zu den ganz wenigen Textstellen in dem Neuen Organon gehört, an denen Lambert einen metaphorischen Sprachduktus wählt. Dianoiologie, § 617, 397. Dianoiologie, § 622, 401. Dianoiologie, § 620, 399. Dianoiologie, § 619, 398. Dianoiologie, § 6 2 3 , 4 0 2 . Vgl. Dianoiologie, § 64ff., 42ff. Vgl. Dianoiologie, § 624, 405. Vgl. Dianoiologie, § 626, 405.

150 Stellung, daß bis zu dem Erscheinen seiner eigenen Arbeit ausschließlich die Gründe des »wahren und gewissen«242 Gegenstand der Vernunftlehre gewesen seien, habe zu der Entwicklung der Phänomenologie geführt. Ferner habe die Erkenntnis, daß die Wörter willkürliche Zeichen der Gedanken seien, zu dem Gedanken Anlaß gegeben, daß sie durch andere Zeichen im Hinblick auf die Prüfung der Allgemeingültigkeit von Sätzen zweckdienlicher repräsentiert werden könnten, womit Lambert auf die Tradition der »ars characteristica universalis«, an der Leibniz intensiv gearbeitet hatte, Bezug nimmt. Trotz des partikularen, fragmentarischen Charakters der gemeinen Erkenntnisart, sei die Voraussetzung für deren Umwandlung in wissenschaftliche Erkenntnis bereits auf der ersten Erkenntnisstufe die Annahme eines »Ganzen«, d. h. eines zu entwickelnden systematischen Zusammenhangs unter sämtlichen Erkenntnissen: Wenn wir nun ein solches Cahos genauer zu durchgehen, und es auseinander zu lesen vornehmen, so stellen wir es uns, so undeutlich wir es noch empfinden, an sich schon als ein Ganzes vor, das einer Entwicklung, Zerlegung, und nettem Anordnung seiner Theile fähig ist. 2 4 3

Allerdings sei auf dieser ersten Stufe der Erkenntnis noch nicht abzuschätzen, ob sie bereits alle zu dem Ganzen gehörenden Teile umfasse, da dies erst aufgrund einer detaillierten Untersuchung zu beurteilen sei. Die genaue Betrachtung und der Vergleich solcher gegebenen Materialien der konkreten gemeinen Erfahrungen, die untereinander eine gewisse Ähnlichkeit oder Verwandtschaft aufweisen, führen zur Einsicht in deren Kombinationsmöglichkeiten und die Ordnung, durch die ihre Ähnlichkeitsbeziehungen, ihre Unterschiede und ihre Verhältnisse sowie eventuell bestehende Lücken in den gegebenen Voraussetzungen bestimmt werden können. Erst wenn die Teile und Verhältnisse der Gegenstände historischer Erfahrungen im Detail bekannt sind, kann Lambert zufolge von wissenschaftlicher Erkenntnis gesprochen werden. 244

242 243

244

Dianoiologie, § 624, 404. Dianoiologie, § 629, 407. Geo Siegwart verbindet in dem von ihm herausgegebenen Band zur Systematologie Lamberts dessen Bestimmung der Wissenschaftlichkeit von Erkenntnissen - »Insofern es gerade der Ganzheitscharakter ist, der die Wissenschaftlichkeit des Wissens ausmacht, Systeme für L. jedoch Ganze sind [...], wird ein Erkenntnisstückwerk durch Emporbildung zu einem System zur wissenschaftlichen Erkenntnis« mit Lamberts Leistungen in der Systematologie, die Siegwart in der Geschichte des Systemdenkens als außerordentlich kennzeichnet: »Kein Theoretiker, sei er Philosoph oder Einzelwissenschaftler, hat vor (oder außerhalb) der Entwicklung der Allgemeinen Systemtheorie in diesem Jahrhundert das Systemthema auf einer so allgemeinen Ebene und in einer auch nur annähernd gleichermaßen ausführlichen Weise behandelt wie Johann Heinrich Lambert dies in seiner Systematologie getan hat.« Vgl. Lambert, Johann Heinrich 1988: Texte zur Systematologie und zur Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis, hg. von Geo Siegwart, Hamburg, Einleitung XXIX und LXVIII. Vgl. Dianoiologie, § 633, 411.

151 1.3.2.2. Wissenschaftliche

Erkenntnis

a priori

Das Ziel von wissenschaftlicher Erkenntnis, Erfahrungen überflüssig zu machen, soll dann erreicht sein, wenn sie a priori, oder »von fornen her« gefunden werden könne, das soll heißen, ohne daß es einer unmittelbaren Erfahrungsgrundlage bedürfe. Im Gegensatz dazu werden die Eigenschaften, die aus einer unmittelbaren Erfahrung hervorgehen müssen, von Lambert als a posteriori, oder »von hinten her«245 entdeckt bezeichnet. 246 Durch diese Festlegung nimmt Lambert der Beurteilung Gereon Wolters zufolge 2 4 7 eine Erweiterung des bis dahin üblichen beweistheoretischen Gebrauchs des a priori-Terminus vor, wodurch Lambert diesen Begriff in Zusammenhang bringen könne mit der Frage nach der Möglichkeit erfahrungsunabhängiger Geltung wissenschaftlicher Sätze über die Welt, welche von Lambert eben gerade als das entscheidende Kriterium wissenschaftlicher Erkenntnis betrachtet werde. Dieser »grundlagentheoretische« Aspekt des a priori-Begriffes ist, wie Wolters annimmt, von Lambert in die philosophische Tradition eingeführt worden. In den oben angeführten, von Herder zitierten Paragraphen der Dianoiologie bezieht Lambert die Termini »a priori« und »a posteriori« zunächst in traditioneller Weise 248 auf die Ordnung des Erkenntniszusammenhangs insofern als ein Satz entweder a priori bekannt ist, falls er aus bereits gegebenen Vordersätzen geschlossen wird, oder a posteriori, wenn er direkt aus Erfahrungen gefolgert wird. 249 Weiterhin bestimmt Lambert über diese Auffassung hinausgehend die Begriffe »a priori« und »a posteriori« in der von Herder wiedergegebenen Textpassage als Verhältnisbegriffe mit der Begründung, daß die Annahme, außer den unmittelbaren Erfahrungen seien auch alle resultierenden Schlußfolgerungen, die Voraussagen im Sinn von a priorischen Bestimmungen ermöglichen sollen, 250 a posteriori, zur Folge hätte, daß es überhaupt keine Erkenntnis a priori geben könne, da in diesem Fall diejenigen Erkenntnisse, die Folgerungen aus Vordersätzen der Erfahrung darstellen, nicht als a priori bezeichnet

245

246 247

248

249 250

G. Tonelli führt die Verwendung der Formulierungen »von vorne her« und »von hinten her« zurück auf Georg Friedrich Meiers Vernunftlehre aus dem Jahre 1752, 343f. Vgl. Ritter 1971, Bd. 1, Artikel »A priori/a posteriori«, 468. Dianoiologie, § 634, 41 lf. Gereon Wolters weist auf die ausschließliche Verwendung des Begriffes im beweistheoretischen Zusammenhang hin. Vgl. Wolters 1980, Iii. Ausführlich entwickelt Jürgen Mittelstrass die Begriffsgeschichte in dem Aufsatz: Changing Concepts of the A Priori. In: Historical and Philosophical Dimensions of Logic, Methodology and Philosophy of Science. Part Four of the Proceedings of the Fifth International Congress of Logic, Methodology and Philosophy of Science, London, Ontario, Canada-1975. Ed. by Robert E. Butts/Jaakko Hintikka. Dordrecht 1977. Vgl. Dianoiologie, § 636, 413 Gereon Wolters weist auf Lamberts besonderes Interesse an den »prognostischen Aspekten eines apriorischen Satzzusammenhangs« hin und bezieht sich auf den oben genannten von Herder in der Metakritik zitierten § 637, 414, in dem von solchen Fällen die Rede ist, »wo wir etwas durch Schlüsse voraus bestimmen können«. Vgl. Wolters 1980, 78.

152 werden könnten.251 Mit dem Einwand Lamberts gegen die Auffassung des a priori-Begriffs im strengen Sinn, daß diese Deutung überhaupt gar keine a priorische Erkenntnis zuließe, befindet sich Herders Begründung seiner Ablehnung von Kants Interpretation dieses Begriffs in Übereinstimmung, der die Meinung äußert: Es ist zu zweifeln, daß ein einziger solcher Begriff in unsrer Seele statt finde; wenigstens ist gewiß, daß das Wort a priori in keiner menschlichen Wißenschaft, selbst nicht in der Mathematik, diese Strenge mit sich führe. 2 5 2

In den weiteren Ausführungen wird von der Bedeutung des a priori-Begriffs im strengen Sinn, der in keiner Weise auf Erfahrungen zurückgehende Erkenntnisse kennzeichnet, die Bedeutung des a priori im weitläufigen Sinn abgegrenzt, worunter Lambert solche Erkenntnisse versteht, die vor dem Eintreten einer Erfahrung gewußt werden. Die Auffassung, daß es sich hierbei um Verhältnisbegriffe handelt, ermöglicht es, eine graduelle Abstufung des a priori vorzunehmen, je nachdem es aus entfernteren Erfahrungen hergeleitet werden kann. 253 Als »vollends nicht a priori« und damit »unmittelbar a posteriori«254 wird bezeichnet, was der unmittelbaren Erfahrung bedarf, um den Status gesicherten Wissens zu erlangen. 255 Eindeutig nimmt Lambert Stellung in der Bewertung der Erkenntnisformen a priori und a posteriori, indem er ersterer grundsätzlich den Vorrang einräumt. 256 Der Grund besteht in seiner Sicht darin, daß die Erkenntnis weiterreiche und sich durch größere Allgemeinheit auszeichne, je unabhängiger sie von konkreter Erfahrung sei, »weil das, woraus etwas anders hergeleitet wird, immer höher und allgemeiner ist, oder wenigstens nicht niedriger noch eingeschränkter seyn kann.« 257

251 252 253 254 255

256

257

Vgl. Dianoiologie, § 637, 413f. Metakritik, 23. Dianoiologie, § 640, 414f. Dianoiologie, § 640, 414f. Es ist hier auf eine Ungenauigkeit in dem bereits erwähnten Aufsatz von Jürgen Mittelstrass »Changing Concepts of the A Priori« hinzuweisen, in dem er in der Anmerkung 21 behauptet, daß Lambert im Neuen Organon bereits dieselbe Ansicht wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft vertreten habe und als Beleg anführt: »Lambert defines as a priori a proposition, »wobey wir der Erfahrung vollends nichts zu danken haben« (ibid., p. 414 [§639]), and as a posteriori »in sofern wir Erfahrungssätze dazu gebrauchen« (ibid., p. 415 [§642])«. Dieses, als verfälscht zu bezeichnende Bild, kommt dadurch zustande, daß Lamberts graduelle Abstufung des als Verhältnisbegriff bezeichneten a priori nicht berücksichtigt wird. Dennoch bleibt die Gewißheit der Erkenntnis der oberste Maßstab ihrer Bewertung: »Ueberhaupt sind auch solche einzelne Fragmente, aber wobey alles wohl auseinander gelesen, und auf Erfahrungen gesetzt ist, die man jedesmal vor sich erneuern kann, ungleich besser, als ganze Theorien, die endlich bey näherer Betrachtung nur im Zirkel herumführen, weil sie die Erfahrung mehr als noch thunlich ist, entbehrlich machen wollen, oder die statt richtig erwiesener und bestimmter Lehrbegriffe, nur willkührlich zusammengesetzte oder Hypothesen angeben.« Dianoiologie, § 687, 440. Dianoiologie, § 643, 415f.

153 Diese graduelle Abstufung des Lambertschen a priori-Begriffes interpretiert Wolters dahingehend, daß solche Sätze, denen das Attribut des a priori im strengen Sinn einer vollständigen Erfahrungsunabhängigkeit zugesprochen wird, generelle Sätze sein müssen, die keine »Ereignisse« unter Zuziehung von konkreten Indikatoren wie des Raumes und der Zeit thematisieren können. Sätze, die als a priori im weiteren Sinn zu bezeichnen sind, könnten sich dagegen als singulare und damit besondere Sätze auf Ereignisse beziehen. Die Vermittlung zwischen beiden Auffassungen des a priori, von denen die erste den bereits aufgezeigten Nachteil habe, letztlich überhaupt keine a priorischen Erkenntnisse zuzulassen, 258 und die zweite hingegen im Grunde alle »deduktiven Begründungszusammenhänge« umfasse, 2 5 9 findet bei Lambert durch die Differenzierung zwischen Begriffen und Sätzen in Bezug auf das a priori statt, was Gereon Wolters Einschätzung zufolge »für die weitere Geschichte des >a prioriBald fuhr der Amorskopf eines rotwangigen Jungen zu seinem kleinen Fenster heraus, bald begleiteten uns die Rabenaugen eines blühenden Mädchens über die Gasse [...].«< Vorschule, § 7 8 , 279. Vorschule, § 79, 283f.

204 Jean Paul weist ferner darauf hin, daß konkrete Vorstellungen nicht als solche mit einer Bezeichnung versehen und unmittelbar und exakt übermittelt werden können, da es nicht möglich sei, Ideen und Gefühle hinsichtlich ihrer Intensität und Dauer wie das Licht und die Zeit zu messen, d. h. sie mittels eines entsprechenden Maßes zu erfassen und mit einem irgendwie gearteten Zeichen zu benennen, um sie dann in eindeutigen Aussagen zu verwenden. 79 In seinen Übungen im Denken hat sich Jean Paul bereits 1780 mit diesem Problem auseinandergesetzt: Die Worte drükken nie das ganz aus, was man fült. Sie geben nur einen Umris. Wen heftiger Affekt drängt, findet nie die Worte, die seinen Selenzustand hinmaleten. Sie sagen nur, daß etwas da sei; aber nicht, was, und wie es da sei. Nur der, der gleich mit ihm gestirnt ist, fült das nämliche dabei - aber er fült dan nicht blos das, was dasteht, er fült noch, was der andre nicht ausdrükken konte. Er malt's Gemäld aus, das der andre nur durch schwache Umrisse gezeichnet hat. Ein par Worte sind oft genug, um seine Sei' in einen Zustand zu versezzen, den keine Worte malen können. - Aber ie besser der Umris ist, den du iezt von deiner affektvollen Sele machst, desto leichter wird's dem Leser, das Gemälde zu vollenden. Göthe ist ein solcher Zeichner. Er trift iede Saite des empfindenden Herzens - hat nicht ganz Deutschland ihm geweint? 8 0

Aus diesem Grund muß der epische Dichter in der Phantasie des Lesers Empfindungen und Vorstellungen durch die Verwendung solcher Worte und Formulierungen erzeugen, in denen der jeweilige Gegenstand anschaulich dargestellt wird und dem Leser mittels der Sprache gleichsam vor Augen geführt wird, wobei es darauf ankommt, durch Mittel wie »Aufhebung«, »Kontrast« und »Bewegung« in dem Leser durch Spannung Aufmerksamkeit zu erzeugen 81 »seine Sei' in einen Zustand zu versezzen, den keine Worte malen können« - , die für das Hervorrufen einer anschaulichen Vorstellung in ihm vorausgesetzt werden muß. 8 2 Diese Konzeption eines »sinnlichen Stils« ist durch die erkenntnistheoretische Vorannahme bedingt, daß der Eindruck der in dem Leser erweckten bildlichen Anschauungen konkreten Erfahrungen vergleichbar ist, die entsprechend der von einer sensualistischen Basis ausgehenden Erklärung Herders in seiner »Physiologie der Erkenntniskräfte« für die Ausbildung von Ideen unerläßlich sind. Daß dieser Entwurf für Jean Paul maßgeblich ist, wurde bereits

79

80 81 82

Vgl. Vorschule, § 79, 284. Jean Paul wendet sich hier gegen den von Kant in seiner Schrift Versuch den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen 1763 entwickelten Ansatz, »mathematische Zahlbegriffe auf die Philosophie und Moral zu übertragen und damit auch dort Quantitäten einzuführen«; vgl. zu der Bedeutung dieser Schrift für Jean Pauls Dichtungsbegriff Proß 1975, 208. XXVIIII. Malen Wort' unsern Selenzustand? Sämtliche Werke, II. Abt., 1. Bd., 73. Vgl. Vorschule, § 79, 285-288. In seiner Erläuterung der psychischen Bedingung für das Auftauchen lebhafter Vorstellungen referiert Jean Paul explizit auf Leibniz' Annahme, daß die Monade einem beständigen Strom von Perzeptionen ausgesetzt ist, die entweder unter der Bewußtseinsgrenze bleiben oder diese überschreiten und von der jeweils vorhergehenden bestimmt werden. Vgl. Vorschule, § 79, 284 und 285.

205 deutlich mit seiner Ableitung der Forderung nach einer anschaulichen Sprache aus der Beobachtung, daß das Vorstellungsvermögen visuelle Sinneseindrücke am lebhaftesten widergibt. Es kann auf diese Weise weiterhin erklärt werden, aus welchem Grund Jean Paul »ein Buch voll Beobachtungen einem neuen metaphysischen System vorziehen« 83 möchte: nur eigene Erfahrungen können neue und potentiell unendliche Erkenntnisse auslösen. 2.1. Die Metapher bei Jean Paul Das von Jean Paul formulierte Ziel der Poesie, die »höhere Weltsicht« des Genies in ihrer Allgemeinheit wiederzugeben, soll mit dem geforderten anschaulichen Stil, der konkrete und infolgedessen besondere Bilder hervorrufen soll, angestrebt werden. Auf den ersten Blick scheint hier ein unangemessenes Mittel zum Einsatz zu kommen. Jedoch läßt sich dieser vermeintliche Widerspruch durch eine Untersuchung der Definition und Verwendung von Metaphern, die Jean Paul als »Brotverwandlungen des Geistes« bezeichnet,84 auflösen, welche als wichtiges beziehungsweise - nach einem weiteren Metaphernbegriff, demzufolge die Metapher als Oberbegriff für alle Tropen verstanden wird - als das wichtigste Mittel für die Umsetzung des mit dem Stil angestrebte Zweckes bei Jean Paul eine bedeutende Rolle spielt. Zunächst soll daher die Interpretation der Metapher als das einzige Mittel der Sprache, abstrakte Ideen zu formulieren, in der Weise zur Darstellung kommen, wie sie von Jean Paul an verschiedenen Stellen seines Gesamtwerkes vorgenommen wird. 2.1.1. Die Metapher als konstitutives Element des

Sprachsystems

Die »inneren Zustände« des Menschen, d. h. seine Empfindungen und Gedanken, die in einem poetischen Werk zum Ausdruck gebracht werden sollen, können Jean Paul zufolge am genauesten benannt werden, wenn sie metaphorisch dargestellt werden. In dem zwischen 1792 und 1794 entstandenen Roman Hesperus wird die Funktion von Metaphern folgendermaßen bestimmt: Unsere innern Zustände können wir nicht philosophischer und klarer nachzeichnen als durch Metaphern, d. h. durch die Farben verwandter Zustände. Die engen Injurianten der Metaphern, die uns statt des Pinsels lieber die Reißkohle gäben, schreiben der Farbengebung die Unkenntlichkeit der Zeichnung zu; sie solltens aber bloß ihrer Unbekanntschaft mit dem Urbilde schuldgeben. Wahrlich der Unsinn spielt Versteckens leichter in den geräumigen abgezognen Kunstwörtern der Philosophen - da die Worte, wie die sinesischen Schatten, mit ihrem Umfange zugleich die Unsichtbarkeit und die Leerheit ihres Inhalts vermehren - als in den engen grünen Hülsen der Dichter. Von der Stoa und dem Portikus des Denkens muß man eine Aussicht haben in die epikurischen Gärten des Dichtens. 8 5

83 84 85

Vorschule, § 79, 284. Vorschule, § 49, 184. Jean Paul 1970: Werke, hg. von Norbert Miller, 1. Bd.: Die unsichtbare Loge, Hesperus, Darmstadt, 590.

206 Der Metapher wird hier ein größerer Wahrheitswert zugesprochen als den »philosophischen Kunstwörtern«, d. h. den abstrakten Fachausdrücken oder termini technici, deren Bedeutungsumfang häufig unbestimmt sei und die daher das »Urbild«, den bezeichneten Begriff, nicht ausreichend kenntlich machen könnten. 86 Aus diesem Grund bezieht Jean Paul die Forderung nach der Anschaulichkeit des Stils nicht nur auf poetische Sprachformen, sondern gleichermaßen auf die Ausdrucksformen philosophisch-abstrakter Inhalte. In dem § 81 über Bildliche Sinnlichkeit in dem Stil- und Darstellungskapitel der Vorschule der Ästhetik betont Jean Paul nachdrücklich, daß bildliches Denken, d. h. Denken in anschaulicher Sprache, sehr wohl mit tiefem Nachdenken und folglich auch mit Vernunftbegriffen vereinbar sei. Als Beispiele werden die Philosophen Piaton, Bacon, Leibniz und Jacobi angeführt. Jean Paul teilt somit die Ansicht, welche bereits von Leibniz in der - Jean Paul durch Herders Metakritik mit Sicherheit bekannten - frühen Schrift aus dem Jahre 1670 De optima philosophi dictione vertreten wurde und die besagt, daß in der Wissenschaft Fachausdrükke oder termini technici weitgehend zu vermeiden seien und durch umgangssprachliche Formulierungen ersetzt werden sollten, um sprachliche Ungenauigkeiten sowie die Entstehung von »leerem Wortkram« zu verhindern. 87 Jean Paul schließt sich somit der auch von Herder mit Nachdruck vertretenen Ansicht an, daß in den unmittelbar sinnlichen Ausdrucksweisen der Nationalsprachen abstrakte Überlegungen ebenso gut und sogar besser, weil zuverlässiger, formuliert werden können, als in abstrakten Sprachformen oder in der lateinischen Sprache, deren Verwendung noch während des gesamten 18. Jahrhunderts im wissenschaftlichen Bereich verbreitet gewesen ist. Die theoretische Voraussetzung für die Annahme, daß mit konkreter Sprache sämtliche Gegenstände menschlichen Wissens erfaßt werden können, besteht darin, daß abstrakte Sprache grundsätzlich als »ein bloßer Abdruck der sinnlichen« 88 betrachtet wird, d. h. daß jene auf dieser basieren muß. Jean Paul führt als weiteres Argument an, daß, wenn selbst in der allgemeine Umgangsprache die sinnlichen Wörter noch »bemalt« werden, auch in der höheren, 86

Auf die Gefahr, daß die Bedeutung oder der Begriff von »Kunstwörtern« unzureichend bestimmt sei, hat Jean Paul schon in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Vorschule hingewiesen. In seinen kritischen Bemerkungen zu den zahlreichen Ästhetiken, in denen seiner Ansicht nach »nichts gesagt« wird, bringt er zum Ausdruck, daß Wort und Bedeutung in ein richtiges Verhältnis zueinander gesetzt werden müßten: »Der zweite Weg zum ästhetischen Nichts ist die neueste Leichtigkeit, in die weitesten Kunstwörter - jetzo von solcher Weite, daß darin selber das Sein nur schwimmt - das Gediegenste konstruierend zu zerlassen; z. B. die Poesie als die Indifferenz des objektiven und subjektiven Pols zu setzen. Dies ist nicht nur so falsch, sondern auch so wahr, daß ich frage: was ist nicht zu polarisieren und zu indifferenzieren? - Aber der alte unheilbare Krebs der Philosophie kriecht hier rückwärts, daß sie nämlich auf dem entgegengesetzten Irrwege der gemeinen Leute, welche etwas zu begreifen glauben, bloß weil sie es anschauen, umgekehrt das anzuschauen meint, was sie nur denkt.« Vorschule, 23.

87

Diese Schrift wurde in dem Kapitel über Umgangssprache und Wissenschaftssprache in dieser Arbeit ausführlich vorgestellt. Vorschule, § 78, 280.

88

207 d. h. abstrakten Sprache wenigstens »gefärbt« und somit zumindest in gewisser Weise Anschaulichkeit erzeugt werden sollte.89 In diesen Ausführungen muß ein Hinweis darauf gesehen werden, daß Jean Paul seine Metaphemdefinition in ein Sprachmodell einbindet, dem er generelle Geltung für alle Bereiche und Formen der Sprache zuerkennt.90 Damit wird die metaphorische Ausdrucksweise nicht, wie es in der Rhetorik geläufig ist, als Auszeichnung bestimmter sprachlicher Erscheinungen angesehen, die wie die Dichtung als wesenhaft stilistisch bestimmt und von anderen grundsätzlich nicht stilistischen, d. h. sachlichen Darstellungen unterschieden werden.91 Auch wenn beispielsweise in der formalistisch-strukturalistischen Literaturtheorie, so z. B. von Tzvetan Todorov in der Folge von Roman Jakobson, die poetische Sprache durch ihre »Differenzqualität« gegenüber der Alltagssprache bestimmt wurde, 92 entspricht ein solcher Ansatz in keiner Weise den Annahmen Jean Pauls. Der poetischen Darstellung, in der die Verwendung von Metaphern eine zentrale Rolle spielt, wird auf diese Weise von Jean Paul nicht nur ein gleichberechtigter, sondern sogar ein ausgezeichneter Platz unter sämtlichen Ausdrucksformen der Sprache zugewiesen, so daß Jean Paul Dichtung ebenso wie die Philosophie als eine Wissenschaft begreifen kann, der er einen besonderen, eigenen Erkenntniswert zuspricht, wie er an einer gerne zitierten Textstelle in seinem Hesperus zum Ausdruck bringt: Viktor verdankte die Sieste seines Herzens den - Wissenschaften, besonders der Dichtkunst und der Philosophie, die beide sich wie Kometen und Planeten um dieselbe Sonne (der Wahrheit) bewegen und sich nur in der Figur ihres Umlaufs unterscheiden, da Kometen und Dichter bloß die größere Ellipse haben. 9 3

Mit dieser Festlegung befindet sich Jean Paul wiederum in eindeutiger Opposition zu der Konsequenz für die Bedeutung von Kunstschöpfungen im allgemeinen aus Kants Abgrenzung des Geschmacksurteils von dem Erkenntnisurteil, wie er sie in dem zweiten Paragraphen der Kritik der Urteilskraft vorgenommen hat, in dem er das Schöne als denjenigen Gegenstand bestimmt, der interesseloses Wohlgefallen hervorruft. 94

89 90

91

92

93 94

Vorschule, § 78, 282. Dem liegt die bei Herder und Lambert formulierte Sichtweise zugrunde, daß das zunächst an körperlichen Dingen entwickelte Sprachmaterial später in metaphorischer Übertragung zur Formulierung abstrakter Inhalte verwendet wird, so daß die sinnliche Sprache die Grundlage aller Sprachformen darstellt und diese auf jene zurückgeführt werden können. Dieser Aspekt der »prinzipiellen Metaphorizität von Sprache« in Jean Pauls Auffassung wird auch von Eckart Oehlenschläger hervorgehoben. Vgl. Oehlenschläger, Eckart 1980: Närrische Phantasie. Zum metaphorischen Prozeß bei Jean Paul, Tübingen, 13f. Vgl. Todorov, Tzvetan 1968: Poetik, in: Einführung in den Strukturalismus, hg. von François Wahl, Frankfurt, 105-179. Hesperus, Jean Paul I 588. Vgl. KU B 5ff./A 5ff.

208 2.1.2. Die Rolle der Metapher in der historischen

Sprachentwicklung

Jean Pauls Sichtweise der Metapher in sprachsystematischem oder synchronem Zusammenhang ist verbunden mit der Rolle des metaphorischen Sprechens in der diachronen Betrachtung der Sprachentwicklung: seine Ausführungen zu der metaphorischen Sprachform implizieren Jean Pauls Sicht der historischen Entwicklung und Ausbildung von Sprache sowie der geistigen Kräfte des Menschen. In der Vorschule der Ästhetik heißt es in dem Programm Uber den Witz: Ursprünglich, wo der Mensch noch mit der Welt auf einem Stamme geimpfet blühte, war dieser Doppel-Tropus noch keiner; jener verglich nicht Unähnlichkeiten, sondern verkündigte Gleichheit; die Metaphern waren, wie bei Kindern, nur abgedrungene Synonymen des Leibes und Geistes. Wie im Schreiben Bilderschrift früher war als Buchstabenschrift, so war im Sprechen die Metapher, insofern sie Verhältnisse und nicht Gegenstände bezeichnet, das frühere Wort, welches sich erst allmählich zum eigentlichen Ausdruck entfärben mußte. Das tropische Beseelen und Beleiben fiel noch in eins zusammen, weil noch Ich und Welt verschmolz. Daher ist jede Sprache in Rücksicht geistiger Beziehungen ein Wörterbuch erblasseter Metaphern. 95

Es sei ein weiteres Zitat - das in diesem Fall aus dem Hesperus entnommen ist - angefügt, in dem Jean Paul die Bedeutung metaphorischen Sprechens bereits in dem Zusammenhang der Sprachentwicklung angesprochen hat: ausgehend von einem Metaphernmodell der Übertragung sprachlicher Ausdrücke von einer Bedeutung auf eine andere, heißt es in der Clavis Fichtiana: Unsere Sprache ist ursprünglich bloß eine Zeichenmeisterin der äußern Wahrnehmungen; die spätem innern empfingen von ihr nur das Zeichen des frühern Zeichens; daher machen die Quantitäten - diese einzigen physiognomischen Fragmente der Sinnenwelt fast den ganzen Sprachschatz aus; die Qualitäten - mit andern Worten die Kräfte, die Monaden der Erscheinung, uns nur im Bewußtsein, nicht im Begriff gegeben - diese Seelen werden immer nur in jene Leiber der Quantitäten, d. h. in die Kleider der Kleider gehüllt. 96

Solange der menschliche Geist sich noch auf einer weniger entwickelten Stufe befunden hat und nicht über unmittelbare sinnliche Eindrücke hinausgehend tätig geworden ist, d. h. zu der Zeit, als Körper und Geist noch eine eng miteinander verknüpfte Einheit darstellten, war die Metapher dem erstangeführten Zitat zufolge eine Bezeichnung gleichartiger Verhältnisse. Die Sprachform der Metapher bezog sich in diesem Fall mit einer einzigen Bedeutung auf den körperlichen Eindruck und die geistige Verarbeitung dieser Empfindung gleichzeitig und wurde erst mit der Fortentwicklung der intellektuellen Fähigkeiten auf die körperliche Bedeutung eingeschränkt: Die Metapher war das frühere Wort, welches sich erst allmählich zum eigentlichen Ausdruck entfärben mußte. Daher ist jede Sprache ein Wörterbuch erblasseter Metaphern.97 Dieses Zitat wird in der Sekundärliteratur vielfach als Beleg für die Annahme einer Abhängigkeit der Metapherntheorie Jean Pauls von Giambattista 95 96 97

Vorschule, § 50, 184. Clavis Fichtiana, Jean Paul III 1024. Vgl. Vorschule, § 50, 184.

209 Vicos Werk La scienza nuova, in der ersten Auflage 1725 erschienen, herangezogen. 98 Vico, der als erster Vertreter einer Gegenbewegung zu der im 18. Jahrhundert verbreiteten Ablehnung des Gebrauchs von Metaphern im wissenschaftlichen Kontext zu gelten h a t , " bezieht Metaphorik nicht auf ein bereits vollständig konstituiertes Sprachsystem, das Äußerungsmöglichkeiten über alle Gegenstände - sowohl solche der realen Welt als auch der über sinnliche Eindrücke hinaus entwickelten Empfindungen und Ideen - zuläßt, sondern auf ein frühes Entwicklungsstadium des Menschen, in dem dieser nicht in Begriffen, sondern in Bildern gedacht habe, die dann in phantasiegeschaffenen Allgemeinbegriffen sprachlich formuliert wurden. 100 Es kann der Rückführung des Ansatzes Jean Pauls auf Giambattista Vico in Bezug auf die erste Entwicklungsstufe einer noch nicht voll ausgebildeten Sprache also durchaus zugestimmt werden, obwohl dessen Werk La scienza nuova Jean Paul nicht direkt bekannt gewesen sein dürfte, wie von Wolfgang Proß gezeigt worden ist. 101 Die grundsätzlich positive Bewertung des metaphorischen Sprechens als konstitutives Element der Sprache ist jedoch ebenso wie in Vicos und Jean Pauls Ansätzen auch, es wurde bereits darauf hingewiesen, bei Lambert zu finden. Auf einer fortgeschrittenen Bildungsstufe, auf der die Tätigkeit des menschlichen Geistes über die ausschließliche Verarbeitung unmittelbarer sinnlicher Wahrnehmungen hinausführt und die Sprache Ausdrucksmöglichkeiten sowohl für konkrete Eindrücke als auch für die nun entwickelten abstrakten Ideen bereitstellen muß, ist die Funktion des metaphorischen Sprechens jedoch anders zu bewerten als es Vico mit seinem Metaphernbegriff getan hat. Wörter mit einer Bedeutung aus dem Bereich des Körperlichen müssen jetzt in übertragener Weise eine zweite Verwendung finden, damit abstrakte Ideen benannt werden können: Die späteren inneren Wahrnehmungen empfingen von den äußeren nur das Zeichen des früheren Zeichens. 102 Weiterhin sind die aus diesem Entwicklungsprozeß, der mit der Ablösung des Geistes von der Körperwelt einhergeht, resultierenden Übertragungs-

98

Vgl. beispielsweise Weinrich, Harald: Artikel »Metapher« in: Ritter/Gründer 1980, Bd. 5, 1182. 99 Vor allem werden auch von Lambert - wie oben in dieser Arbeit aus der Darlegung seiner Einteilung des Wortschatzes in Klassen hervorgegangen ist - nicht die Gefahren der Ambiguität und der Vagheit bei der Verwendung von Metaphern für die fachsprachliche und die wissenschaftliche Kommunikation in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt, wie es Leibniz in seinen Nouveaux Essais sur l'entendement humain getan hat und im 18. Jahrhundert beispielsweise auch in der französischen Philosophie einer weit verbreiteten Ansicht entspricht. Vgl. auch in dem Artikel »Metapher« von Harald Weinrich, 1181f. 100 Yg] ¡ n jgj. v o n Andrea Battistini besorgten Ausgabe der Opere von Giambattista Vico, Bd. 1, Mailand 1990, 5 8 5 - 5 9 2 die ersten beiden Kapitel der zweiten Abteilung Deila logica poetica der Princïpi di scienza nuova, 2. Auflage 1744. S. auch die Ausführungen in Apel 3 1980, 351 und 362. 101 Vgl. Proß 1975, 86f. 102 Vgl. Clavis Fichtiana, Jean Paul III 1024.

210 richtungen der Wörter von der konkreten auf die abstrakte Bedeutung und umgekehrt von unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad und daher nicht zu demselben Zeitpunkt eingeführt worden. Das Füllen des Körperlichen mit Geist stellt die einfachere und damit historisch frühere Form dar, so daß nach Jean Pauls Ansicht die Personifikation die »erste poetische Figur, die der Wilde macht«,103 sein muß und die Metapher in diesem Fall als eine verkürzte Personifikation zu betrachten ist. Diese Beseelung des Körperlichen sei einfacher aufgrund der geringeren Schwierigkeit, das Geistige als das Allgemeine aus dem besonderen Körperlichen abzuleiten, gegenüber dem Wiederfinden des Besonderen in dem Allgemeinen, was bei dem Verkörpern des Geistigen zu erfolgen habe. Diesen beiden grundsätzlich möglichen Übertragungsrichtungen entsprechend kann Jean Paul zufolge auch in der Poesie das geforderte Leben der Darstellung, die »anschauende Begeisterung« in der Abbildung von Geist, d. h. Charakteren, Gefühlen und Gedanken, mittels des Stils durch anschauliche Körper bzw. Gestalten auf zwei Weisen erzeugt werden: entweder indem die Körperwelt mit Geist bereichert oder »beseelt« wird, oder indem der geistige Gegenstand mit einem Körper versehen wird. Die beiden Übertragungsrichtungen können durch das Stilmittel der Metapher realisiert werden, wie Jean Paul schon Mitte der neunziger Jahre in seinen Ausführungen Über die natürliche Magie der Einbildungskraft hervorgehoben hat: Indem er [der Dichter] durch die Metapher einen Körper zur Hülle von etwas Geistigen macht (z. B. Blüte einer Wissenschaft): so zwingt er uns, dieses Körperliche, also hier »Blüte«, heller zu sehen, als in einer Botanik geschähe. Und wieder umgekehrt gibt er, wie vermittelst der Metapher dem Körperlichen durch das Geistige, ebenso vermittelst der Personifikation dem Geistigen durch das Körperliche höhere Farben. 104

Jean Pauls Annahme, daß eine Übertragung zunächst für konkrete Gegenstände verwendeter Wörter auf abstrakte Bedeutungen vorgenommen wurde, entspricht der von Lambert in dem Rahmen seiner Einteilung des Wortschatzes in Klassen konzipierten Metapherntheorie. Wenn Lambert die Metapher somit als den Tropus schlechthin erklärt und ihr als dem wesentlichen sprachlichen Ausdruck des Abstrakten eine konstitutive Funktion im Sprachsystem zuweist, wird mit dieser Erklärung die Bedeutung erfaßt und begründet, die die Metapher für die Umsetzung der poetologischen Grundforderung Jean Pauls spielt, die, wie gezeigt werden konnte, darin besteht, die zwischen dem Körperlichen und dem Geistigen bestehenden Ähnlichkeiten für die anschauliche Darstellung abstrakter Inhalte nutzbar zu machen. Die Beobachtung Jean Pauls, daß die »Verkörperung des Geistigen« schwieriger sei als die »Beseelung des Körperlichen«, entspricht zunächst der Überzeugung Herders, daß die besondere Erfahrung und der allgemeine Begriff in einem wechselseitigen Verhältnis stehen, da nur auf diese Weise dem

103 104

Vorschule, § 50, 185. Quintus Fixlein, Jean Paul IV, 199.

211 Menschen ein Erkenntnisgewinn möglich ist. Weiterhin stimmt auch die Bewertung Jean Pauls der Unterschiedlichkeit der Schwierigkeitsgrade der Ableitung des Allgemeinen und der Rückführung auf das Besondere überein mit der von Herder in der Folge von Lambert ausgesprochenen Kritik an dem methodischen Vorgehen in der Philosophie, bei dem das Problem der Rekonstruktion der Art aus der Gattung, d. h. die Wiedergewinnung von Merkmalen nicht ausreichend berücksichtig werde, und der Verwendung von abstrakten Bezeichungen und termini technici. In Jean Pauls Annahme fließt somit die Voraussetzung einer Merkmalslogik ein mit der Abteilung in niedrigere, besondere Arten und höhere, allgemeinere Gattungen, die in der Philosophie aufgrund der Abstraktion von Merkmalen der besonderen Art gewonnen werden, wie sie in Lamberts Schriften und vor allem in der Dianoiologie in umfassender Weise dargestellt worden ist. In der von Lambert skizzierten Lösung des Problems, durch die Verwendung äußerst genauer Metaphern auch in der Philosophie solche allgemeinen Ausdrücke einzuführen, die die besonderen Merkmale aufbewahren, so daß der aufgrund von Abstraktion gewonnene allgemeine Begriff zurückgeführt werden kann, ist der Metapher wiederum eine ausgezeichnete Stellung unter den sprachlichen Ausdrucksformen zugewiesen worden. Diese bisher aufgezeigten systematischen Parallelen zwischen dem Metaphernbegriff Jean Pauls und Lamberts Überlegungen, denen gerade in diesem Bereich Originalität zugesprochen werden muß, lassen sich ferner empirisch belegen durch die Exzerpte, die Jean Paul gerade aus denjenigen Paragraphen der Architektonik und des Neuen Organons angefertigt hat, die die Kernstellen dieser Konzeption enthalten. Es ist dies in dem ersten Band der Architektonik der § 183, in dem die Einteilung in Arten und Gattungen und ihre Abhängigkeit von der Sprache diskutiert werden. 105 Aus dem zweiten Band ACT Architektonik

105

In seiner Arbeit Observations sur quelques dimensions du monde intellectuel, erschienen in: Mémoires de 1' Academie Royale des Sciences et Belles-Lettres, Classe de BellesLettres, Année 1773, Berlin, 421^138 illustriert Lambert sein Verständnis metaphorischer Übertragung von Worten aus dem Bereich der Körperwelt in den der Dichtung, bzw. aus der ersten Wortklasse in die zweite, an dem Beispiel des Wortes »sublime«, dem Erhabenen. Hier erwähnt er auch die beiden Aspekte der Poesie, auf die Jean Paul hinweist, des Verkörpems abstrakter Ideen und des Belebens der gefühllosen Dinge, die mit der Metapher geleistet werden können: »II [le poète] donne du corps aux idées abstaites & transcendantes, pour les rapprocher de la surface; & réciproquement il anime les choses destituées de sentimens, toutes les fois que 1' exigent les passions qu' il doit exprimer.« Observations, 433. Wenn Jean Pauls Kenntnis dieser Arbeit auch nicht belegt werden kann und daher nicht davon ausgegangen werden darf, daß sie ihm bekannt gewesen ist, so ist die Übereinstimmung der Annahmen dennoch als ein zusätzlicher Nachweis der Bedeutung Lamberts für Jean Pauls Metaphernkonzeption - neben den weiter unten angeführten Belegen - zu bewerten. Die Sichtung der Handschriften Jean Pauls, welche in der Staatsbibliothek zu Berlin Preussischer Kulturbesitz aufbewahrt werden, hat ergeben, daß Jean Paul eine Abschrift des folgenden Abschnittes aus dem genannten § 183 der Architektonik, 144f. angefertigt

212 hat Jean Paul aus dem § 516 über das Abstrahieren exzerpiert106 und den § 525, in dem nochmals auf den Unterschied zwischen Abstraktion und Auflösung hingewiesen wird, ganz exzerpiert107 sowie aus dem ersten Teil des Neuen Organons Auszüge aus dem § 113 angefertigt. 108 Dieser Paragraph leitet die oben

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hat: »Denn so z.E. um die untersten Arten, oder auch aus diesen ihre nächst höhere Gattung zu finden, wird dabey gefordert, daß man auf die größte Aehnlichkeiten sehen müsse, damit man nämlich die Indiuidua, oder die Arten nach solchen größten Aehnlichkeiten in besondere Classen bringen könne. Hiezu aber haben wir allerdings noch den Maaßstab nicht, daß wir damit die Größe des Unterschiedes bestimmen, und den kleinsten Unterschied finden sollten. Und es muß nothwendig dabey etwas willkührliches bleiben, so bald diese Unterschiede den Stuffen nach von 0 bis 1 gehen, weil man bey den Graden Abtheilungen machen kann so viel man will. Auf diese Art aber müssen wir uns nach der Sprache und denen Wörtern richten, die sie uns zur Benennung solcher Aehnlichkeiten und Unterschiede darbeut. Und je nachdem diese Wörter in ihrer Bedeutung mehr oder minder Merkmale zusammenfassen, erhalten wir auch Arten und Gattungen, die nicht so fast stuffenweise, als vielmehr sprungsweise einander subordinirt werden. Auf diese Art z.E. sehen wir das Prädicat eines jeden allgemein bejahenden Satzes, wenn er nicht identisch ist, als eine Gattung, und das Subject desselben, als eine Art dieser Gattung an, ohne dabey bestimmen zu können, um wie viele Stuffen diese Gattung höher ist, als die nächst höhere Gattung des Subjectes. Auf eine ähnliche Art sehen wir Subject und Prädicat eines allgemein verneinenden Satzes als Arten an, die unter verschiedene Gattungen gehören, weil wir nicht dabey so gleich bestimmen können, ob sie nicht unter eine nächst höhere Gattung gehören.« Für seine hilfreiche Unterstützung bei der Prüfung der Handschriften habe ich Thomas Borgard zu danken. Diese Abschrift hat sich aus der Sichtung des Materials ergeben; sie ist in Götz Müllers Zusammenstellung nicht vermerkt: »[...] bey dem Abstrahiren aber das allgemeinere besonders nimmt, und den Begriff eben dadurch mit andern vergleicht, (§. 178.). Man sieht leicht, daß wenn ein allgemeiner Begriff auf diese Art in seine einfachen Merkmale aufgelöset wird, das Abstrahiren bereits schon vorgegangen sey, und daß man folglich nimmer alle Merkmale darinn so bestimmt finde, wie sie in den unter denselben, als unter ihre Art und Gattung gehörenden Indiuiduis waren.« Architektonik, § 516, 134. Diesen Paragraphen hat Jean Paul vollständig exzerpiert. Er soll der Übersichtlichkeit und Vollständigkeit halber hier ebenfalls zitiert werden: »Es ist ferner das Abstrahiren von dem Auflösen (§. 516. 523.) darinn verschieden, daß man bey dem Abstrahiren die Merkmale herausnimmt, die in mehrern Dingen gemeinsam sind, und in so fern sieht man auf die Gleichartigkeit mehrerer Dinge, und setzet sich dabey auf eine sehr mißliche Art (§. 183 [s.o.!]) vor, stufenweise zu gehen, und bey der größten Gleichartigkeit oder kleinsten Unterschiede anzufangen. Hingegen bey dem Auflösen eines Begriffes in seine Merkmale bleibt man bey dem Begriffe selbst, und sucht darinn, nicht das Gleichartige oder Aehnliche mit andern Begriffen, sondern das Ungleichartige in dem Begriffe selbst und die Möglichkeit auf, wie dasselbe beysammen seyn kann, und damit geht man schlechthin nur so weit, bis man auf einfache Ungleichartigkeiten kömmt. Dieses sind sodann die eigentlich einfachen Bestimmungen und Begriffe (§. 134.), die wir oben, weil sie die Grundlage zu jeden Aehnlichkeiten und Verschiedenheiten sind, in Tabellen vorgestellet und auf eine abgezählte Art gegen einander gehalten haben, (§. 155 = 158.). Alle andere Aehnlichkeiten und Verschiedenheiten, auch bey den zusammengesetztesten Dingen sind, wie wir (§. 118 = 123. 197. 198.) gesehen haben, nur Modificationen von diesen einfachen Ungleichartigkeiten, und solche Modificationen waren eigentlich aufzusuchen, wenn man zu recht brauchbaren und bestimmten allgemeinen Sätzen gelangen will, (§. 524.).« Architektonik, § 525, 144f. Jean Paul hat folgenden Satz dieses Paragraphen abgeschrieben: »So hat auch in der Tonkunst der einige Einfall, daß sich die verschiedenen Töne mit dem Begriffe der Höhe und Tiefe vergleichen lassen, dazu Anlaß gegeben, die Töne und ihre Unterschiede zu malen, und sie auf den Notenlinien kenntlich vorzustellen.« Dianoiologie, § 113, 72f.

213 in dem Kapitel über Lamberts Bestimmung wissenschaftlicher Begriffe dargestellte Diskussion der »genauesten« Metaphern ein. Wenn in der neueren Sekundärliteratur zu der Bildlichkeit bei Jean Paul ausgehend von einer formalen Definition der modernen Linguistik, die eine Bedeutungsfestlegung für Metaphern durch einen doppelten Kontext festsetzt, nämlich den ursprünglichen und den sekundären, die »Verknüpfung von Natur und Geist«, die die Metapher leistet, als etwas bezeichnet wird, daß für Jean Paul »ein metaphysischer und fast religiöser Vorgang der Überbrückung der Polaritäten der Welt« gewesen sei,109 so muß diese Annahme, nachdem hier die Voraussetzungen der mit Jean Pauls Sprach- und Metaphernkonzeption verbundenen erkenntnistheoretischen Grundlagen geklärt und die historischen Bedingungen dieser Theorie beleuchtet wurden, als widerlegt betrachtet werden. 2.2. Die Erkenntnis der Ähnlichkeit von Körper und Geist im Witz Als Voraussetzung für das Erkennen oder wenigstens das »Erahnen«, wie Jean Paul sagt,110 der den Dingen eigenen Bedeutungen sowie der unter diesen Dingen bestehenden Ähnlichkeiten111 durch den Menschen muß das Bestehen einer Beziehung zwischen Körper und Geist angenommen werden. Auf dieser Verbindung basiert die Möglichkeit, von sinnlichen Wahrnehmungen ausgehend, Begriffe und Gedanken zu entwickeln, den sinnlich-materiellen Laut der gesprochenen Sprache mit Bedeutung zu füllen oder eine menschliche Physiognomie im Hinblick auf charakterliche Eigenschaften zu interpretieren. Die Beziehung zwischen Körper und Geist, die vermittels des dem Menschen angeborenen Vermögens, Vergleiche vorzunehmen und Ähnlichkeiten zu erkennen, hergestellt wird, ist die Voraussetzung für die poetische Sprachfigur der Metapher. Jean Paul zeichnet sich durch diese Annahme eindeutig als ein Vertreter des nach Ähnlichkeits- oder Similaritätskriterien bestimmten Metaphernbegriffs aus.112 Das Vermögen des Menschen, Ähnlichkeiten zu erkennen, bezeichnet Jean Paul als den Witz, der »eine vergleichende Kraft«113 sein soll, als welche der Witz »erfindet, und zwar unvermittelt«.114 109 Yg| Esselborn, Hans 1989: Das Universum der Bilder. Die Naturwissenschaft in den Schriften Jean Pauls, Tübingen, 137. 110 Vgl. Vorschule, § 49, 183. 111 Vgl. im Hesperus: »denn das alles ist nicht Ähnlichkeit des Witzes, sondern der Natur.« Jean Paul I, 1100. Esselborn 1989, 134 dazu: »Die alle Erscheinungen der Welt durchwaltende Analogie ist nicht nur die Voraussetzung der poetischen Vergleiche, sondern auch der Erkennbarkeit der Welt.« 112 Dem nach Similaritätskriterien definierten Metaphembegriff zufolge besteht zwischen den Referenzobjekten der beiden substituierten Sprachzeichen eine Relation der Analogie, der Ähnlichkeit oder des Vergleichs. S. Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik, Stuttgart 1985, 5Ö7. 113 Vorschule, § 42, 170. Jean Paul führt neben dem Witz den menschlichen Scharfsinn als ein weiteres Vermögen an, aufgrund von Vergleichen Ähnlichkeit und Unähnlichkeit unter mehreren Gegenständen festzustellen, was den Kursiv-Druck des Wortes »eine« erklärt. 114 Vorschule, § 43, 171.

214 Die besondere Form des Witzes im engeren Sinn »findet das Verhältnis der Ähnlichkeit, d. h. teilweise Gleichheit, unter größere [sie] Ungleichheit versteckt«.115 Dieser ist das einem Instinkt vergleichbare, d. h. dem Menschen von Natur aus gegebene Vermögen, »ähnliche Verhältnisse inkommensurabler (unanmeßbarer) Größen, d. h. die Ähnlichkeiten zwischen Körper- und Geisterwelt (z. B. Sonne und Wahrheit), mit andern Worten, die Gleichung zwischen sich und außen, mithin zwischen zwei Anschauungen« 116 zu entdecken. Daher kann bei dieser Form des Witzes das Verhältnis angeschaut, d. h. mit einem Blick übersehen werden und muß nicht, wie in dem Fall des Scharfsinnes, in einer Schlußfolgerung ermittelt werden. An dritter Stelle nennt Jean Paul den Witz im engsten Sinn, den sogenannten »ästhetischen Witz« und untergliedert diesen nochmals in die Formen des »unbildlichen« und des »bildlichen« Witzes. Ersterer wird dadurch ausgezeichnet, daß in ihm der Verstand angeschaut wird117 und die »Vergleichwurzel«,118 also das Vergleichskriterium oder Tertium comparationis, eine eigentliche, in der Sache begründete Ähnlichkeit sein muß im Gegensatz zu der bildlichen in dem zweiten Fall. Der »ästhetische Schein« entsteht bei dieser Form des Witzes durch die Sprache - deren Bedeutung für die Anschauung des Verstandes auf diese Weise hervorgehoben wird -, 1 1 9 indem für zwei Dinge, die Ähnlichkeit aufweisen, ein Prädikat gewählt wird, wodurch den beiden Dingen Identität unterstellt werde. 120 Der »bildliche« Witz schließlich steht anstelle des Verstandes mit der Phantasie in enger Verbindung, die an ihm den überwiegenden Anteil haben soll.121 Da die Phantasie als »Mittler zwischen Innern und Äußern« 122 von Jean Paul als dasjenige Vermögen angeführt wird, das in seinem höchsten Ausbildungsgrad das Genie kennzeichnet, welches sämtliche Kräfte in sich in gleicher Ausprägung vereinigt, muß davon ausgegangen werden, das auch das Vermögen des Witzes bei dem Genie eine maximale Stufe erreicht. 115 116 117

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Vorschule, § 4 3 , 171. Vorschule, § 43, 172. Vorschule, § 44, 175. Daher spricht Jean Paul bei dieser Form auch von dem »ReflexionWitze«, vgl. Vorschule, § 47, 179. Vorschule, § 44, 173. In dem § 45 wird die Rolle der Sprache mit einem Einschub zu der »Sprachkürze« ebenfalls betont, deren Funktion darin besteht, die Aufmerksamkeit des Lesers zu erregen die Bedeutung der Aufmerksamkeit für die Entstehung anschaulicher Vorstellungsbilder in dem Leser wurde bereits erwähnt - , und die als »Körper und Seele des Witzes« hervorgehoben wird. Vgl. Vorschule, § 45, 175-178. Vorschule, § 44, 174. Jean Paul führt eine Reihe von Beispielen an, von denen eines zur Verdeutlichung zitiert werden soll: »>Ich spitzte Ohr und FederExponent< als mathematischer Fachausdruck verwendet wird. Im weiteren wird der Ausdruck jedoch auch in Bemerkungen zu der Analogie als formalem Prinzip aller Wissenschaften eingesetzt: »Bei jeder Analogie suche ich einen Exponenten gleicher oder ähnlicher Verhältniße« (Metakritik, 140, vgl. auch 137). Die Übertragung des ursprünglich mathematischen Fachbegriffs kann als Ausdruck der Gleichstellung der Bedeutung des analogischen Verfahrens in allen Wissenschaften betrachtet werden. Eben diese Übertragung ist auch bei Jean Paul zu finden, wenn er die dritte Vorstellung als den Exponenten des Verhältnisses zweier Vorstellungen bezeichnet (vgl. Vorschule, 171) und sogar eine Verdeutschung vornimmt, indem er von der »Vergleichwurzel« spricht (vgl. Vorschule, 173). Der Begriff >Exponent< ist als mathematischer Terminus 1544 bei M. Stifel nachweisbar, die übertragene Bedeutung (im Anschluß an exponiert im Sinne von >herausgehoben, (Gefahren) ausgesetzt). Vgl. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, A - G , Berlin 1989, Stichwort »exponieren«, 394. In dem Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm wird das Stichwort »Vergleichswurzel« erklärt als »das, worin die vergleichung wurzelt, ihre Ursache hat« und mit der oben genannten Ausführung Jean Pauls belegt: »wenn Buttler die morgenröthe nach der nacht mit einem rothgekochten krebse vergleicht ... so ist die Vergleichwurzel keine bildliche ähnlichkeit, sonder eine eigentliche. J. Paul 42, 9.« S. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 12. Bd. I. Abt., Leipzig 1956, 458. Vgl. in dieser Arbeit die Kapitel über Synthese und Analyse sowie über das Problem der Erkenntnis a priori/a posteriori. Der handschriftliche Nachlass Johann Gottfried Herders, Kapsel XV 412 20r>v-

218 Kapitel v o r g e n o m m e n , s o daß seine Kenntnis dieser »ars inventio« vorausgesetzt w e r d e n kann und von e i n e m g e z i e l t e n Interesse an der v o n Lambert entwickelten T h e o r i e des Erkennens aufgrund von Vergleichen und A n a l o g i e schlüssen a u s z u g e h e n ist. 1 3 9 D i e Operation d e s Vergleichens stellt in Lamberts K o n z e p t i o n einer » m a thesis universalis« auf der Ebene der einfachen Erfahrungsbegriffe d e n ersten Schritt dar, u m aufgrund der sich auf diese W e i s e ergebenden Ä h n l i c h k e i t e n solche Grundsätze und Postulate z u erhalten, die A n g a b e n über die m ö g l i c h e n Verbindungen einfacher Begriffe z u z u s a m m e n g e s e t z t e n machen. D a b e i besteht die Bedeutung der Herstellung v o n A n a l o g i e n darin, v o n Erfahrungsbegriffen ausgehend z u n e u e m Wissen fortzuschreiten, indem die einfachen B e griffe untereinander in Beziehung gesetzt werden. Bereits in seiner 1761 entstandenen Schrift Cosmologische Einrichtung

des Weltbaues

Briefe

über

die

- aus w e l c h e r Jean Paul 1799 verschiedene kürzere

Exzerpte angefertigt hat 1 4 0 - hat Lambert neben der t e l e o l o g i s c h e n B e w e i s f ü h -

139

140

Es handelt sich zunächst um den § 127 der Architektonik, 91: »Die Identität ist eine Einheit von derjenigen Art, daß sie Brücke admittirt, die von 0 bis auf 1 gehen, aber nicht weiter. Zwey Dinge können mehr oder minder verschieden, aber nicht mehr als einerley seyn, und wird dieses nach aller Schärfe genommen, so sind es nicht mehr zwey Dinge, sondern ein und eben dasselbe Ding (Numero idem). Diese Identität ist absolut, oder die völlige Einheit, die der Intensität nach nicht größer werden kann.« Weiterhin hat Jean Paul den § 134 der Architektonik, 95 übernommen: »Die einfachen Begriffe und die Sachen, so sie vorstellen, sind an sich verschieden, und zwar weil sie einfach, und weil sie nicht ein und eben derselbe Begriff sind. Denn da sie einfach sind, so haben sie nicht mehrere und von einander verschiedene innere Merkmale, daher kann man auch nicht sagen, sie möchten einige gemeinsame innere Merkmale haben, wodurch sie nicht durchaus verschieden wären. Da sie demnach sich selbst ihr einiges inneres Merkmal sind, so müßten sie, dafem sie nicht darinn ganz verschieden wären, ein und eben derselbe Begriff seyn. Und dieses geht nicht an. Denn die Existenz ist nicht der Raum, dieser ist nicht die Dauer, [...].« Ferner hat Jean Paul den § 146, 105f. exzerpiert: »Die Verschiedenheit der Dinge hat mit der Aehnlichkeit derselben einerley Stufen, doch so, daß sich die Stufen der Verschiedenheit vermindern, wenn die Stufen der Aehnlichkeit zunehmen, und hinwiederum nehmen jene zu, wenn diese geringer werden, und die Summe ist immer = 1. Die äußersten Grade der Vergleichung sind, wo die Verschiedenheit = 0, und wo sie = 1 ist, und beyde Fälle sind schlechthin ideal. Denn ist die Verschiedenheit durchaus = 0, so vergleicht man nicht zwey Dinge, sondern eine und eben dieselbe Sache mit sich selbst, und so stellet man sie sich in Gedanken doppelt vor. Ist aber die Verschiedenheit durchaus = 1, so vergleicht man wiederum nicht zwey Dinge, sondern etwas mit nichts. Dieses ist dadurch offenbar, daß wenn es zwey in allen Stücken und in allen Absichten durchaus verschiedene Dinge geben solte, von dem einen alles positive des andern verneint werden müßte, und so wäre es z.E. nicht möglich, nicht gedenkbar &c. das will sagen, es wäre nichts. Da es demnach nicht zwey durchaus und in allen Absichten verschiedene Dinge giebt, so ist der Fall, wo die Verschiedenheit = 1 gesetzet wird, schlechthin nur ideal, weil sich etwas mit nichts nur auf eine ideale und bloß symbolische Art vergleichen läßt.« Götz Müller kennzeichnet ausschließlich das Exzerpt Nr. 33 in den Exzerpten. 31. Band. 1799. Mai als Auszug aus Lamberts Cosmologischen Briefen. Vgl. Müller 1988, 223. Die Sichtung der Handschriften läßt jedoch den Schluß zu, daß auch Nr. 34—37 auf die Cosmologischen Briefe Bezug nehmen.

219 rung, bei der von der Vollkommenheit der Welt und von bestimmten in ihr herrschenden abstrakten Idealen ausgegangen wird, die Form des Analogieschlusses herangezogen. Gerhard Jackisch faßt dieses Vorgehen zusammen: »Für Lambert ist deshalb die Welt durch das Gesetz der Schwere ein zusammenhängendes System, das ihn berechtigt, mittels Analogieschlüssen von unserem Planetensystem auf das Sternsystem und darüber hinaus auf Zusammenhänge zu schließen, die unserer Erfahrung noch nicht zugänglich sind.« 141 Lambert weist in der Vorrede zu seiner Schrift darauf hin, daß diejenigen Schlüsse, die auf das Gesetz der Schwere gegründet sind, von wesentlich größerer Notwendigkeit seien als die teleologischen und daß er »das Ausweichen der Planeten und Cometen in dem 3ten Briefe« sowie seine Annahmen über den »Abstand der Fixsterne von einander in dem 12ten Briefe« auf diese Weise erschlossen habe. 142 Die Bedeutung der Analogie in der Naturwissenschaft beruht Lamberts Ansicht zufolge darauf, daß in der Natur alles nach allgemeinen Gesetzen eingerichtet sei.143 Die Erkenntnis des Bestehens der Ähnlichkeiten ist somit unerläßliche Voraussetzung für die »Erfindungskunst«, die den menschlichen Erkenntniszuwachs ermöglicht, indem sie über den unmittelbaren konkreten Erfahrungsbereich hinausführt. Diesem methodischen Vorgehen, Unbekanntes aus Bekanntem zu schließen, liegt die Erkenntnis analogischer Verhältnisse zugrunde, das bei der Übertragung in den Bereich der Poesie mittels des witzigen Stils umgesetzt wird. 144 Dementsprechend wird auch in Lamberts Einteilung der Wortklassen das Vergleichen als ein universelles menschliches Vermögen zugrunde gelegt, durch welches Identität, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit erkannt werden können soll. Es ist in dem Kapitel über Lamberts Theorie der Metapher bereits darauf hingewiesen worden, daß er diese auf der »Empfindlichkeit der Sinnen, wodurch man jede Eindrücke leicht bemerkt und in das Gemüth fasset«}*5

141

142 143 144

Jackisch, Gerhard 1979: Johann Heinrich Lamberts »Cosmologische Briefe« mit Beiträgen zur Frühgeschichte der Kosmologie, mit einem Vorwort von Hans-Jürgen Treder, Berlin, 30. S. auch die kurzgefaßten Anmerkungen von Walter Schatzberg zu den Cosmologischen Briefen Lamberts in seiner 1973 veröffentlichten Arbeit: Scientific Themes in the Populär Literature and the Poetry of the German Enlightenment, 1720-1760, Berne, 123f. Für den Hinweis auf dieses Werk habe ich Friedrich Vollhardt zu danken. Vgl. in der Ausgabe von Jackisch 1979, 93. Vgl. Jackisch 1979, 136. Dieser Vergleich ist sogar von Lambert selbst formuliert worden in seiner Abhandlung Des Secours mutuels que peuvent se prêter Les Sciences solides et les belles Lettres, die sich in dem Herder-Inventarium des handschriftlichen Nachlasses von Lambert unter L.I.a. 743 10b) befindet. Dort heißt es auf Blatt 437 zusammenfassend: »II suffit d'avoir fait voir que la méthode est chez le philosophe ce que le style est chez les beaux-esprits.« Diese Abhandlung ist von Martin Fontius herausgegeben worden und erschienen in: L'encyclopédie, Diderot, l'esthétique. Mélanges en hommage à Jacques Chouillet, Paris 1991,305-324.

220 basierende Fähigkeit als »Gaben der Natur«, d. h. als dem Menschen angeborenes Vermögen ansieht und daß diese Fähigkeit die Voraussetzung für die Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnis darstellt.146 Obwohl eine Kenntnis Jean Pauls des neunten Hauptstückes der Dianoiologie nicht belegt werden kann und vermutet werden muß, daß es ihm tatsächlich nicht bekannt gewesen ist,147 soll daran erinnert werden, daß Lambert die Erschließung wissenschaftlicher Kenntnisse auf den Vergleich des durch Beobachtungen und Experimente gewonnenen Wissens basiert. Grundsätzlich gilt für Lamberts Erkenntnistheorie, daß erste empirische Erfahrungen durch Vergleiche zu der Entdeckung von Ähnlichkeiten oder Analogien führen, die zu allgemeinen Aussagen ermächtigen: »Auf diese Art sind die meisten abstracten Begriffe Anfangs Analogien gewesen,«148 Die von Jean Paul verlangte Freiheit, im Witz ebenso wie allgemein in der Dichtung auf sämtliche erreichbaren Wissensdaten zurückzugreifen und diese durch einen anschaulichen Stil dem Leser lebhaft vor Augen zu führen, deren Eindruck konkreten Erfahrungen vergleichbar sein soll, ist auf den Anspruch zurückzuführen, daß Dichtung einen Wirklichkeitsbezug aufweisen soll.149 Der Dichter muß der poetologischen Konzeption Jean Pauls zufolge seine sinnlichen oder sprachlich vermittelten Erfahrungen, zu denen auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Menschen gehören, in die poetische Darstellung einbringen. Vor allem aber ist der Rückgriff auf Erkenntnisse sämtlicher Wissenschaften durch das Bestreben zu erklären, dem Leser die Voraussetzung einer ersten Wissensbasis zu schaffen für dessen eigene geistige Erkenntnistätigkeit. Entsprechend dem von Lambert dargestellten universellen Prozeß der Wissenserweiterung und -fundierung können diese Wissenselemente, die den Status der

145 146 147

148 149

Dianoiologie, § 549, 347. Vgl. Dianoiologie, § 549, 347. Aufgrund der Bemerkungen Jean Pauls zu dem ersten Kapitel der Metakritik ist davon auszugehen daß er Herders Verständnis des a priori-Begriffes nicht nachvollziehen konnte: »Der Überschuß in einer Erkenntnis, die die Sinne nur veranlaßten, nicht gaben, muß doch etwas anders und früher als die Veranlassung, und mithin ein a priori da sein« (Stapf 1959, 33). Diese Einschätzung wird durch das Antwortschreiben Herders bestätigt mit seiner Äußerung: »Ein Mißverstand, sehe ich, schleicht sich durch viele [der Anmerkungen Jean Pauls], als ob ich die Priorität (im rechten Sinne des Worts) bezweifle. Dieser Mißverstand muß radikal gehoben werden.« (Stapf 1959, 38) Da Herder sich in seinem Verständnis unmittelbar an Lamberts Ausführungen in dem erwähnten neunten Hauptstück der Dianoiologie orientiert, kann das Mißverständnis auf Jean Pauls Seite erklärt werden, wenn man davon ausgeht, daß er dieses Kapitel des Neuen Organons nicht rezipiert hat. Architektonik, § 144, 103. Götz Müller verweist auf die Bedeutung der umfangreichen Exzerpten-Hefte Jean Pauls für die Entstehung seiner Romane: »Um sich in Dichterlaune zu bringen, las Jean Paul gleichsam absichtslos in seinen gesammelten Wissensschätzen, um sich zur Erfindung von Allusionen, witzigen Analogien, satirischen und ernsten Allegorien, vor allem aber auch zur Erfindung von Motiven und Geschichten zu rüsten.« Müller 1988, 327.

221 Erfahrungsbegriffe in Lamberts System einnehmen, sowohl untereinander kombiniert als auch mit den eigenen Erfahrungen des Lesers in Verbindung gebracht werden und so zu neuen zusammengesetzten Begriffen und komplexen Erkenntnissen verarbeitet werden. Da die Elemente der Lektüre mit den jeweiligen Kenntnissen und den individuellen Vorstellungen des Lesers aufgrund von Ähnlichkeitsstrukturen, die ebenfalls vielfältige Verknüpfungsmöglichkeiten eröffnen, in Verbindung gebracht werden, ergibt sich für jeden Leser ein anderes Ergebnis aus den Bestandteilen des witzigen Stils. Dem entspricht die »Definition« der Poesie durchaus, die Jean Paul in dem ersten Paragraphen der Vorschule gibt: Wenigstens würde in Bildern sich das verwandte Leben besser spiegeln als in toten Begriffen - nur aber für jeden anders; denn nichts bringt die Eigentümlichkeit der Menschen mehr zur Sprache als die Wirkung, welche die Dichtkunst auf sie macht; und daher werden ihrer Definitionen ebenso viele sein als ihrer Leser und Zuhörer. 150

Die Bedeutung, die Jean Paul in seiner Ästhetik der Berücksichtigung des Lesers beimißt und welche sich auch in den häufig anzutreffenden direkten Anreden des Lesers in seinen Romanen widerspiegelt, formuliert er sogleich in dem ersten Paragraphen der Vorrede zur zweiten Auflage: Wer keine Achtung für das Publikum zu haben vorgibt oder wagt, muß unter demselben das ganze lesende verstehen; aber wer für seines, von welchem er ja selber bald einen lesenden, bald einen schreibenden Teil ausmacht, nicht die größte durch die jedesmalige höchste Anstrengung, deren er fähig ist, beweiset, begeht Sünde gegen den heiligen Geist der Kunst und Wissenschaft, vielleicht aus Trägheit oder Selbstgefälligkeit oder aus sündiger fruchtloser Rache an siegreichen Tadlern. Dem eignen Publikum trotzen, heißt dann einem schlechtem schmeicheln; und der Autor tritt von seiner Geistes-Brüdergemeine über zu einer Stiefbrüdergemeine. Und hat er nicht auch in der Nachwelt ein Publikum zu achten, dessen Beleidigung durch keinen Groll über ein gegenwärtiges zu rechtfertigen ist? 151

Die Funktion von Dichtung ist dieser Bestimmung zufolge erst dann erfüllt, wenn der Autor und sein Leser zu »geistigen Brüdern« geworden sind, indem sie die fragmentarischen »Denkanstöße« des poetischen Kunstwerkes fortführen. Sofern ein Dichter mit seinem Werk dieses Ziel verfehlt, verstößt er gegen den »Geist der Kunst und Wissenschaft« und erfüllt den Jean Paul zufolge an ein Kunstwerk zu richtenden Anspruch nicht. Dichtung wird hier somit nicht im Sinne einer »l'art pour l'art« verstanden, die ihren Zweck in sich selbst findet, 152 sondern, wenn man so will, in dem Sinne einer »Rezeptionsästhetik«, die den Leser einbezieht. Dieses Prinzip ist ferner die Grundlage der von Jean

150

Vorschule, § 1, 30. Vorschule, § 1, 13. 152 Vgl. in der Geschichte meiner Vorrede zur zweiten Auflage des Quintus Fixlein Jean Pauls ironische Darstellung der »L'Art-pour-l'art-Devise« in der Äußerung des Kunstrates Fraischdörfer, daß Gebäude als architektonische Kunstwerke zu betrachten seien, die man nicht durch das Bewohnen entweihen solle. Vgl. Quintus Fixlein, Jean Paul IV, 22 und den Hinweis von Kurt Wölfel in: Wölfel 1989, 242f. 151

222 Paul angestrebten »Poetik des Wiederlesens«,153 die besagt: »bei der zweiten Lesung versteht man, als Schüler der ersten, so viel wie der Autor.«154

153 154

Proß 1975, 172f. Vorschule, § 55, 205.

II. Die »Form« und Aufgabe der Dichtung 1.

Der Roman als »poetische Enzyklopädie«

In dem oben angegebenen Zitat aus dem Paragraphen über die Notwendigkeit deutscher witziger Kultur wird von Jean Paul abschließend darauf hingewiesen, daß die Ausübung der Erfindungskunst den »Weg zur dichterischen und zur philosophischen Freiheit und Erfindung« eröffnet, wodurch dem Geist »ein schöneres Ziel« für seine Erkenntnistätigkeit gesteckt werde.1 Dieser Entwurf wird in dem Programm Über den Roman auf dessen Form angewendet, welche als eine »poetische Enzyklopädie, eine poetische Freiheit aller poetischen Freiheiten« 2 aufgefaßt werden soll. Das poetologische Konzept von Dichtung als eine »poetische Enzyklopädie« muß dabei als ein Modell der Bedingungen und Abläufe menschlichen Erkennens verstanden werden, bei denen die Phantasie - diejenige Eigenschaft, die das Genie durch den ihm gegebenen höchsten Grad auszeichnet - eine zentrale Rolle spielt.3 Wolfgang Proß hat gezeigt, daß unter der »poetischen Enyzklopädie« das Gesamtwerk Jean Pauls zu verstehen ist, in welchem alle Texte aufeinander verweisen durch die wiederholte Verwendung der heterogenen Elemente und die Herstellung verweisender Bezüge unter den Bestandteilen. Die Freiheit und damit die Vielfältigkeit des Romans bezieht sich dabei sowohl auf den dargestellten Stoff als auch auf die gewählte Form der Darstellung, was sich zwangsläufig aus dem oben bereits erwähnten Grundprinzip Jean Pauls ergibt, daß der Stoff die Form bedingen müsse: »Sobald ein Geist da ist, soll er auf der Welt, gleich dem Weltgeiste, jede Form annehmen, die er allein gebrauchen und tragen kann.« 4

1 2 3

4

Vgl. Vorschule, § 54, 202. Vgl. Vorschule, § 69, 249. Das Konzept der poetischen Enzyklopädie und seine historischen Voraussetzungen sind von Wolfgang Proß ausführlich dargestellt worden. Vgl. Proß 1975, 170-260. Vorschule, § 69, 250. Auch diesen Aspekt hat Jean Paul bereits in der Vorrede zur zweiten Auflage der Vorschule angesprochen, hier in polemischer Wendung gegen die Regelpoetik der Klassik: »Wenn man einer Vielseitigkeit des Geschmacks in diesen absprechenden insularischen Zeiten, worin jeder als ein vulkanisches Eiland leuchten will, gedenkt: so werden Erinnerungen an jene schönere erfreulich und labend, wo man noch wie festes grünes Land zusammenhing, wo ein Lessing Augen, wie später Herder, Goethe, Wieland Augen und Ohren für Schönheiten jeder Art offen hatten. Ästhetische Eklektiker sind in dem Grade gut, in welchem philosophische schlecht.« Vorschule, § 4, 14.

224 Dennoch schafft, wie Wolfgang Proß mit einem Zitat aus dem Brief Jean Pauls vom 7. Juni 1792 an Karl Philipp Moritz belegt, »erst die Kombinationsfunktion des Romans einen Zusammenhang der heterogenen Elemente«, 5 die keine isolierte Darbietung der einzelnen Teile des Werkes erlaubt. Wenn Jean Paul Poesie als die Vermittlung einer »geistig wiedergeborenen Welt« versteht, dann wird Dichtung insgesamt in Entsprechung zu der den Menschen umgebenden Welt einschließlich ihrer historischen Dimension gedeutet. Die Erfahrungsbestandteile und Wissenselemente des Kenntnisbereiches des Dichters werden von diesem entsprechend dem Genie-Begriff Jean Pauls sowie der Bestimmung des Wesens von Dichtung zu einer höheren Weltsicht verbunden, indem er nach dem oben dargestellten universellen Erkenntnisprinzip die Kombination einzelner und besonderer Erfahrungen durch Vergleiche und die Ermittlung von Ähnlichkeiten vornimmt. Die allgemeinen Schlußfolgerungen dieser individuellen Erkenntnisleistung des schöpferischen Genies sollen in der Dichtung nicht als Ergebnis in abstrakten Begriffen dargelegt werden, sondern in ihrem Entstehungsprozeß nachvollziehbar bleiben. Daher bedeutet dies für Jean Paul nicht, daß in dem poetischen Kunstwerk eine verbindliche Interpretation oder Erklärung der realen Phänomene vorgelegt werden soll, sondern wiederum, daß die Phänomene und ihre geistige Anschauung dichterisch dargestellt werden: »Darum ist eben die Poesie so unentbehrlich, weil sie [...] keinen zufälligen Schluß aufdringt.« 6 Diese Feststellungen verweisen auf die Ausführungen von Wolfgang Proß in seiner Arbeit über den historischen Ort Jean Pauls, in der er den von Jean Paul angenommenen Vorrang der Dichtung gegenüber der Philosophie durch dessen Auffassung begründet, daß die Vernunft die Kontrollfunktion über die Bezugnahmen erhält, die die Einbildungskraft zwischen den Gegenständen der sinnlichen Welt herstellt. 7 Mit dieser Annahme nimmt Jean Paul eine Oppositionshaltung gegenüber der strikten Trennung zwischen Sinnlichkeit und Vernunfttätigkeit ein, wie sie von Kant in seinen kritischen Schriften vorgenommen wurde. Jean Pauls Übergang zu der dichterischen Darstellungsweise und speziell zu der Form des Romans ist somit eine Folge der philosophischen »Aporie des Sensualismus« am Ende des 18. Jahrhunderts. 8 Infolgedessen geht es Jean Paul bei seiner Auffassung des Romans als »poetische Enzyklopädie« im wesentlichen um die Berücksichtigung sowohl der Sinnlichkeit einschließlich der Einbildungskraft als auch der Verstandesund Vernunfttätigkeit des Menschen, deren Zusammenwirken in jedem Erkenntnisprozeß vorausgesetzt wird. Diese erkenntnistheoretische Grundannah-

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Proß 1975, 73. Vorschule, § 69, 251. Proß 1975, 84. Proß 1975, 96.

225 me entspricht somit dem von Herder in seiner Metakritik vertretenen elementaren Prinzip menschlichen Erkennens, das dieser in der Kalligone explizit auf Dichtung anwendet, wobei er ebenfalls den Ausdruck »Enzyklopädie« für die Dichtung verwendet: Dichtungen und Fabeln, Allegorieen und Symbole sind Sprachformen des Dichters, in denen er Gedanken abbildet, mit denen er Empfindungen weckt oder bezeichnet. Homers, Dante's, Milton's Epopeen sind Encyklopädieen und Universa aus dem Herzen und Geist ihrer Dichter; sie entwerfen die Charte ihrer innern und äußern Welt. 9 [...] Mit keiner Dichtungsart spielet man mehr als mit dem Roman; indessen zeigt und bewährt selbst die Entstehung unsrer Romane aus der erloschenen Helden= und Ritterzeit nicht nur den tiefen Grund der Poesie in der menschlichen Seele, sondern auch auf dieselbe ihre umfassend=innige Wirkung. Welche geheimste Kammer des Herzens und Geistes blieb Richardsons, Fieldings, Sternes, Friedrich Richters Romanen verschlossen? welche derselben haben sie nicht als ihr Eigenthum bewohnet! Betrügt man durch die Einbildungskraft den Verstand, wenn man, vereinigend beider Geschäft, das menschliche Herz und Leben von innen und aussen so darstellt, daß der Leser in und mit dem Dargestellten lebet? Leset Diderots Ehrengedächtniß auf Richardson, leset Rousseaus Vorrede zur Heloise, und was Fenelon über die Dichtkunst saget; ja wem sagte dies sein eignes Herz nicht, wer lebt, wer formt sich nicht selbst in einer wahren Dichtung? 1 0

Jean Pauls Kommentar in seinem Brief vom 25. Februar 1800 an Herder zu der zweiten zitierten Textstelle lautet: Diese Stelle bedarf gar keiner Verbesserung; ich fand sie vortrefflich. - Aber ernsthaft! Ich erschrak freudig über diesen Lorbeer, der nicht auf dem Grabe, sondern auf dem Parnaß eines Virgils mir in die Hände wuchs. Ob ich gleich in diesem Quartett oder vier poetischen Jahrszeiten nur den Winter vorstelle; so dank' ich doch herzlich dem gütigen Freunde, der mich so unerwartet und so liebend=freigebig in diesen Zyklus eingereihet. 11

Es ergibt sich aus diesen erkenntnistheoretischen Grundannahmen konkret für die Form des Romans, daß die besonderen Erfahrungs- und Wissenselemente sowohl in ihrem fragmentarischen als auch ihrem repetitiven Charakter - entsprechend der an Ort und Zeit gebundenen Tatsachenerfahrung des Menschen zur Darstellung gebracht werden müssen. Aufgrund der Anschaulichkeit des Stils können diese Elemente, worauf bereits hingewiesen wurde, den Status eigener Erfahrungen für den Leser einnehmen. Die Bestimmung der Aufgabe der Poesie führt jedoch über die reine Vermittlung von ersten Erkenntnisdaten hinaus. In dem XII. Programm Über den Roman wird folgende Festlegung der Rolle von Dichtung vorgenommen: Die Poesie soll belehren, wobei Jean Paul Lehren allgemein als einen Prozeß versteht, in dem Zeichen gegeben werden, deren Bedeutung von dem Lernenden erkannt werden müssen. Da jedoch die ganze Welt voller unverstandener Zeichen sei, müsse »das Lesen dieser Buchstaben« der Natur zunächst erlernt wer-

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Kalligone, 148. Kalligone, 150f. Stapf 1959, 59f.

226 den, w o b e i die eigentliche Aufgabe der P o e s i e darin besteht, d i e s e s L e s e n und Verstehen e i n z u ü b e n . 1 2 Zu diesem Z w e c k werden »ein Wörterbuch und eine Sprachlehre der Z e i c h e n « gefordert. 1 3 B e g r e i f t man das erwähnte Wörterbuch vor d e m Hintergrund der »ars characteristica« und die verlangte Sprachlehre als d i e dazugehörende »ars combinatoria« in der Tradition der Zeichentheorie von Leibniz und Lambert, 1 4 dann m u ß der R o m a n auch die B e z ü g e und die Verknüpfungsregeln der eingebrachten Bestandteile angeben. D i e s e Forderung kann in der literarischen Form d e s R o m a n s durch das Prinzip der Herstellung v o n B e z ü g e n und die Wiederaufnahme b e i s p i e l s w e i s e v o n Bildern, P e r s o n e n und Gegenständen in der poetischen Enzyklopädie erfüllt werden. Entsprechend des von Herder dargestellten Grundsatzes des Erkennens, daß das A l l g e m e i n e einerseits aus der besonderen Erfahrung folgerichtig

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Vgl. Vorschule, § 69, 250. In der Kantate-Vorlesung der Vorschule, 447, wird die Aufgabe der Poesie nochmals in der Metaphorik des Lesens und des Erkennens von Bedeutung bestimmt: »Sie soll die Wirklichkeit, die einen göttlichen Sinn haben muß, weder vernichten, noch wiederholen, sondern entziffern.« Vorschule, § 69, 250. Es sei daran erinnert, daß Leibniz bereits Wörterbuch und Grammatik als wesentliche Bestandteile seiner characteristica universalis genannt hat. In einem Text ohne Überschrift, die Characteristica Universalis betreffend, abgedruckt in Bd. VII der Gerhardt-Ausgabe von Leibniz' philosophischen Schriften, 184—189 heißt es auf S. 187: »Itaque nunc nihil aliud opus est, ut Characteristica, quam molior, quantum ad Grammaticam linguae tarn mirabilis dictionariumque plerisque frequentioribus suffecturum satis est, constituatur, vel quod idem est, ut Numeri idearum omnium characteristici habeantur. Nihil, inquam, aliud opus est, quam ut condatur cursus philosophicus et Mathematicus, quem vocant, nova quadam methodo, quam praescribere possum et quae nihil in se continet aut difficilius quam alii cursus aut ab usu et captu remotius, aut a consuetudine scribendi alienius. Nec multo plus laboris exigeret, quam in nonnullos cursus aut nonnullas Encyclopaedias ut loquuntur jam impensum videmus.« Der Wortlaut in Emst Cassirers Übersetzung dieser Passage ist: »Um die Charakteristik, die ich erstrebe, zustande zu bringen - wenigstens was die Grammatik dieser wunderbaren allgemeinen Sprache und ein Wörterbuch betrifft, das für die meisten und häufigsten Fälle ausreicht, - um mit anderen Worten für alle Ideen die charakteristischen Zahlen festzustellen, ist nichts anderes erforderlich, als die Begründung eines mathematisch-philosophischen Lehrgangs gemäß einer neuen Methode, die ich angeben kann, und die keine größeren Schwierigkeiten als jedes andere Verfahren enthält, da sie von den gewohnten Begriffen und der üblichen Schreibweise nicht allzusehr abweicht. Auch würde sie nicht mehr Arbeit erfordern, als jetzt schon auf Kurse oder Encyklopädien verwandt wird.« Leibniz 1966, Bd. I, 35. Auch Lamberts explizite Formulierung soll hier angegeben werden, wobei Lambert allerdings annimmt, daß die »Verbindungskunst der Zeichen« erst von Christian Wolff gefordert worden sei: »Wir merken dieses [das die Algebra eine Zeichenkunst der Verwandlungen und Verhältnisse von Größen ist, nicht jedoch der Größen selbst] an, weil daraus erhellet, daß Wolf allerdings Ursache hatte, zu der Leibnizischen allgemeinen Zeichenkunst noch eine Verbindungskunst der Zeichen zu fordern. Denn sollen wir die Vergleichung weiter ausdehnen, so wird die Zeichenkunst jeder einzelner Begriffe nur dem Zahlengebäude, die Verbindungskunst der Zeichen aber der Algeber gleichen. Dieses erhellet daraus, weil jeder Begriff, eben so wie jede Zahl, etwas eigenes hat, dagegen aber die Verbindungskunst der Zeichen auf die allgemeinen Verhältnisse der Begriffe, schlechthin als Begriffe betrachtet, geht, wie die Algeber die Größen nur als Größen betrachtet, und ihre Verhältnisse bestimmet.« Semiotik, § 39, 25.

227 abgeleitet werden muß und andererseits auch auf das Besondere anwendbar sein soll, dessen Anwendung bereits in Jean Pauls Metaphernbegriff nachgewiesen werden konnte, muß auch auf der Ebene des gesamten Kunstwerkes sowohl das einzelne Faktum als auch der abgeleitete allgemeine Begriff der Sicht des Dichters zum Ausdruck gebracht werden. 15 Diese allgemeine Weltanschauung bestimmt somit die Kombinationsstruktur der einzelnen Romane Jean Pauls als Systeme erster Stufe und diejenige des Gesamtwerkes in den unter den einzelnen Schriften bestehenden Zusammenhängen. Das Gesamtwerk kann in dieser Hinsicht als ein den Einzelwerken übergeordnetes System betrachtet werden, das jedoch denselben Gesetzmäßigkeiten folgt. In der Terminologie der »ars inventio« Lamberts entsprechen die einzelnen Wissensdaten den einfachen Erfahrungsbegriffen, die sowohl Modifikationen und Bestimmungen als auch Verbindungen und Verhältnisse untereinander aufweisen können. Vergleiche dieser einfachen Begriffe führen auf Grundsätze und Postulate, die dann die Möglichkeit von Verbindungen solcher Begriffe zu komplexen allgemeinen Begriffen angeben. Die häufigen Bezugnahmen und Wiederaufnahmen derjenigen Themen, die für Jean Paul von besonderer Bedeutung waren, sind somit als Voraussetzung für die Erschließung möglicher Modifikationen und Kombinationsmöglichkeiten dieser Gegenstände zu begreifen. Das von Jean Paul formulierte Verständnis der Aufgabe von Dichtung, die Einübung eigenständiger Denkprozesse - eine Forderung, die auch der Levana oder Erziehlehre Jean Pauls zugrunde liegt - bedingt folglich seinen Begriff der Form des Romans, der für ihn wichtigsten literarischen Gattung. Es wird also der synthetische Teil der Heuristik des regelgeleiteten und damit überindividuellen, aber dennoch subjektiven Erschließens neuer Erkenntnisse, wie sie von Lambert formuliert worden war, in der Vorschule der Ästhetik sowohl auf der sprachlichen Mikroebene der Metapher und des Witzes als auch auf der Werkebene und der das Einzelwerk übergreifenden Ebene des Gesamtwerkes umgesetzt. Neben den bisher dargelegten Charakteristika des dichterischen Werks Jean Pauls zeichnen sich seine Romane durch ein weiteres Merkmal von besonderer

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Dieses Prinzip überträgt Jean Paul weiterhin auch auf die Gestaltung von Charakteren in der Poesie: »Die Darstellung eines sittlichen Ideals wird so schwer als dessen Erschaffung, weil mit der Idealität die Allgemeinheit und folglich die Schwierigkeit zunimmt, dieses Allgemeinere durch individuelle Formen auszusprechen, den Gott Mensch, ja einen Juden werden und ihn doch glänzen zu lassen. Aber geschehen muß es, auch der Engel hat sein bestimmtes Ich.« Vorschule, § 58, 217. Die Form des poetischen Charakters wird als »allegorische oder symbolische Individualität« bezeichnet, die das Allgemeine im Besonderen verkörpert. Dabei soll die Dichtung, »welche ins geistige Reich Notwendigkeit und nur ins körperliche Freiheit einführt, [...] die geistigen Zufälligkeiten eines Porträts, d. h. jedes Individuums, verschmähen und dieses zu einer Gattung erheben, in welcher sich die Menschheit widerspiegelt.« Vorschule, § 59, 221.

228 Bedeutung aus, dem auch in der theoretischen Auseinandersetzung in der Vorschule breiter Raum gewidmet wird. Jean Pauls Ausführungen über den Humor gelten als Ausgangspunkt jeder Erörterung des Humors, zumindest jedoch in Deutschland. 16

2. Die Bedeutung des Humors für die Form des Romans Abweichend von Otto Rommels Abgrenzung gegen das Komische ist das Humoristische bei Jean Paul jedoch nicht alleine als »eine Lebenshaltung« zu begreifen, 17 sondern durchaus auf den Charakter eines Werkes zu beziehen, das dadurch gekennzeichnet ist, daß es »die Zwiespältigkeit, Widersprüchlichkeit, Ungereimtheit aller Zeitverhältnisse realisiert«, sowie auf den Stil eines Autors, der »das Miteinander und Durcheinander von Spaßhaftem und Kummervollem, Schmutzigem und Heiligem, Grandiosem und Winzigem zur Geltung bringt.«18 Der humoristische Stil bedeutet dieser Darstellung von Wolfgang Preisendanz zufolge zunächst, daß in einem Werk eine subjektiv gefärbte Mischung von Hohem und Niedrigem und damit eine extreme Verzerrung geläufiger Ansichten über die Ordnung der Welt vorgenommen wird. Um diesen von dem heutigen Verständnis abweichenden Begriff des Humors zu erhellen, skizziert Preisendanz vor dem Hintergrund der aufkommenden frühliberalistischen Haltung in England die Entwicklung der Umwertung des Humors nach 1700 von der Auffassung, daß es sich um »eine lächerliche Abirrung von den Normen und Konventionen des menschlichen Verhaltens und des gesellschaftlichen Zusammenlebens« handelt zu der Sicht des Humors als »Garanten der inneren und äußeren Freiheit Englands«. Dieser neue HumorBegriff als eine undogmatische und eigenwillige Haltung ist dann im Zusammenhang mit den literarischen Vorbildern des englischen humoristischen Romans im 18. Jahrhundert von Jean Paul und den deutschen Frühromantikern übernommen worden. 19 Jean Paul führt in dem sechsten Programm der Vorschule den Begriff des Lächerlichen mit einer »Definition« ein, wobei er zunächst darauf hinweist, daß es philosophisch gerade nicht zu erfassen sei, da die Empfindung des Lächerlichen oder einer Unvollkommenheit die einzige Empfindung des Menschen sei, deren Stoff, d. h. deren konkrete Realisationen, in Entsprechung zu der Anzahl ihrer Formen unerschöpflich sei: die Empfindung des Lächerlichen

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Vgl. Rommel, Otto 1943: Die wissenschaftlichen Bemühungen um die Analyse des Komischen, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, hg. von Paul Kluckhohn und Erich Rothacker, 21. Jg., XXI. Bd., 193. Rommel 1943, 193. Preisendanz, Wolfgang 1977: Wege des Realismus. Zur Poetik und Erzählkunst im 19. Jahrhundert, München, 52. Preisendanz 1977, 53ff.

229 nimmt Jean Paul zufolge so viele Gestalten - die »krummen Linien« - an, als es »Ungestalten« gibt. 20 Im Anschluß an seine Abgrenzung gegen den Begriff des Erhabenen bestimmt Jean Paul das Lächerliche als zusammengesetzt aus drei Bestandteilen: einer falschen Annahme auf Seiten der dargestellten Person, die in ihrer Handlungsweise sichtbar wird und der Einsicht des Lesers in den Irrtum der handelnden Person. Den Widerspruch zwischen der tatsächlichen Lage der Person zu ihrer Handlung bezeichnet Jean Paul als »objektiven Kontrast«, das Verhältnis zwischen der Annahme der agierenden Person und seiner Handlungsweise ist der »sinnliche Kontrast« und der dem Leser erkennbare Widerspruch der sinnlich anschaubaren Handlung und der irrtümlichen Annahme über die Lage zu der tatsächlich gegebenen wird schließlich als der »subjektive Kontrast« eingeführt. 21 Um die Empfindung des Lächerlichen genauer fassen zu können, verweist Jean Paul auf dessen Gegenbegriff, den er in dem des Erhabenen findet. 22 In seiner Theorie des Erhabenen wendet sich Jean Paul wiederum, wie es auch Herder in dem dritten Teil der Kalligone getan hat, gegen Kants Bestimmung dieses Begriffes in der Kritik der Urteilskraft. Wenn Kant nach Jean Pauls Zusammenfassung dieses als »in einem Unendlichen, das Sinne und Phantasie zu geben und zu fassen verzagen, indes die Vernunft es erschafft und festhält« 23 bestehend annimmt, dann besteht Jean Paul auch hier auf der Annahme des Zusammenwirkens von Sinnlichkeit und Verstand, »weil sie das umspannen, worin jenes Erhabene erst wohnt«.24 Jean Paul zufolge besteht weiterhin der Kern des Problemes nicht in der Unendlichkeit des sinnlich wahrnehmbaren

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Vorschule, § 26, 102. Die »krumme Linie« oder das Unendliche dient als Bild der romantischen Dichtung in dem von Jean Paul beschriebenen Sinne einer subjektiven und infolgedessen immer wieder anderen, neuen Darstellung der individuell gewonnenen Anschauungen des Genies. Auch Herder verwendet in der Kalligone die Termini der »geraden« und »krummen« Linie in seiner Widerlegung der Definition des Geschmacksurteils in Kants Kritik der Urteilskraft. Vgl. Kalligone, 41 ff. Vgl. Vorschule, § 28, 114. Vorschule, § 26, 104f. Jean Paul stellt den Bezug zu einer Textstelle in seinem Hesperus her, in der er den Gegensatz des Lächerlichen zu dem Erhabenen bereits angedeutet habe. Die entsprechende Passage lautet: »Wenn ich in Coventgarden über das Trauerspiel geweint hätte: so würd' ich doch im Epilog bleiben, den sie nachher halten, ob ich gleich über ihn lachen müßte. Allein nur aus dem Trauerspiele führt ein Quergäßchen in das Lustspiel, aber nicht aus dem Heldengedicht; kurz der Mensch kann nach dem Erweichen, aber nicht nach dem Erheben lachen.« Hesperus, Jean Paul I 895. Vorschule, § 27, 105. Vgl. KU, B 74/A 73-B 97/A 96. Vorschule, § 27, 105. Herders Kommentar zu Kants Bestimmung bezieht sich selbstverständlich ebenfalls auf diese Voraussetzung: »Enthalten kann das Erhabne eben so wenig in einer Form seyn, als das Schöne; beide werden an Gegenständen empfunden. Trift das Erhabne blos Ideen der Vernunft, so kann es (nach den Grundsätzen der Kritik selbst) kein Gefühl regen. Und, wenn sich Ideen der Vernunft (nach eben dieser Kritik) nicht darstellen lassen, wie läßt sich ihre Unangemessenheit darstellen! so darstellen, daß Ideen der Vernunft dadurch ins Gemüth gerufen werden?« Kalligone, 243.

230 Zeichens des Erhabenen, das seiner Ansicht nach sogar äußerst unscheinbar sein kann. An die Stelle der Einteilung Kants in ein mathematisches und ein dynamisches Erhabenes setzt Jean Paul das quantitative und qualitative bzw. »das äußere und das innere«, womit wiederum auf die menschlichen Erkenntniskräfte der Sinnlichkeit und des Verstandes verwiesen wird: das quantitativ Erhabene ist Gegenstand sinnlicher Anschauung, das qualitativ Erhabene Ergebnis eines Schlusses aus dieser Erfahrung. 25 Das Erhabene bestimmt Jean Paul dann als das »angewandte Unendliche«, wobei das Unendliche immer an die Vermittlung durch ein sinnliches Zeichen gebunden ist. Die Verbindung zwischen dem Zeichen und dem Unendlichen ist naturgegeben und muß unmittelbar sein. Das bedeutet jedoch nicht, daß allein natürliche Zeichen Ausdruck des Erhabenen sein könnten, sondern auch das Wort als ein willkürliches Zeichen wird von Jean Paul als möglicher Träger einer erhabenen Bedeutung angeführt. 26 Um das Erhabene eines Zeichen deutlich werden zu lassen, müssen jedoch die Bedingungen ausfindig gemacht werden können, »unter welchen ein sinnlicher Gegenstand zum geistigen Zeichen wird vorzugsweise vor einem andern«,27 d. h. daß die Bedeutung des einzelnen Zeichens und gegebenenfalls seines systematischen Zusammenhanges mit anderen Zeichen erkannt werden muß. 28 Der Humor, der in Jean Pauls Dichtungskonzeption eine zentrale Rolle einnimmt, da durch ihn das allein auf den Verstand bezogene Komische romantisch werden könne, 29 wird in Umkehrung der Bestimmung des Erhabenen als ein »angewandtes Unendliches«, auf das ein sinnliches Zeichen verweist, definiert: Jean Paul bezeichnet den Humor als das »auf das Unendliche angewandte Endliche«. 30 In diesem Fall wird die unendliche Idee also auf die endliche Objekt-Welt bezogen und der zwischen beiden objektiv bestehende unendliche Kontrast in einer subjektiven Sichtweise dargelegt. Die Schwächen des Menschen sollen dabei in ihrer allgemeinen Erscheinung angegriffen werden: »der 25 26 27 28

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Vgl. Vorschule, § 27, 106. Vgl. Vorschule, § 27, 107. Vorschule, § 27, 107. Es sei nochmals auf die Kalligone Herders hingewiesen, in der die Empfindung des Erhabenen an das menschliche Erkennen und Verstehen gebunden wird: »Der hohe Himmel! Was träumten wir nicht von dieser erhabnen Burg, von dieser blaugoldnen Wölbung, und von ihren Lichtern, dem Monde, der Sonne, den Sternen! [...] Wie war uns, Freunde, als uns zuerst die Nachricht zukam, daß diese Veste, Luft, die Sterne Sonnen und Erden seyn? wie erhabner ward unsre Aussicht zum Himmel da, und wie schöner! Schöner, weil sie die Heere des Himmels zu ordnen anfing; und immer erhabner und immer schöner, je mehr sie solche nach einfachen, innem, ewigen Kräften der wandelnden Weltkörper ordnen lernte.« Kalligone, 232. Vgl. Vorschule, § 31, 124 und § 32, 127: »Wenn Schlegel mit Recht behauptet, daß das Romantische nicht eine Gattung der Poesie, sondern diese selber immer jenes sein müsse: so gilt dasselbe noch mehr vom Komischen; nämlich alles muß romantisch, d. h. humoristisch werden.« Vorschule, § 31, 125.

231 Humorist nimmt fast lieber die einzelne Torheit in Schutz, den Schergen des Prangers aber samt allen Zuschauern in Haft, weil nicht die bürgerliche Torheit, sondern die menschliche, d. h. das Allgemeine sein Inneres bewegt.« 31 Dieser erste von insgesamt vier Aspekten des Humors wird von Jean Paul als die »humoristische Totalität« bezeichnet. Der zweite Aspekt, der durch die »vernichtende oder unendliche Idee des Humors« ausgemacht wird, stellt denjenigen Bestandteil dar, der den Gegensatz zwischen der Wirklichkeit und der Idee in eine »humoristische Lebensverachtung« umsetzt, bei der die Vernunftidee dem Verstand übergeordnet wird, so daß der Humor eine überlegene Nachsicht gegenüber der Unzulänglichkeit der menschlichen Realität erlaubt.32 Auf diese Weise ermöglicht der Humor »als eines umgekehrt Erhabenen« sowohl die Berücksichtigung und Akzeptation der konkreten »irdischen« Wirklichkeit als auch deren Relativierung durch die allgemeine Idee. Ebenso wie der romantischen Dichtung allgemein von Jean Paul das Charakteristikum der Subjektivität zugesprochen wird, geht er auch davon aus, daß eine humoristische Sicht immer eine subjektiv-individuelle sein muß, da hier der objektive Kontrast zwischen der Idee und der Objekt-Welt ein unendlicher sein soll, dem der subjektive unterlegt werden muß. Das bedeutet, daß allein der humoristische Dichter die Unendlichkeit des Widerspruchs zwischen der menschlichen Wirklichkeit in ihrer Unzulänglichkeit einerseits und der »allgemeinen Weltsicht« andererseits erkennen und aufgrund der Einnahme der Haltung einer »humoristischen Weltverachtung« den Zwiespalt hinnehmen kann, ohne weder den besonderen Begriff noch die allgemeine Idee aus dem Blick zu verlieren. In dieser Subjektivität des Humors findet Jean Paul auch die Begründung für die Schwierigkeit der Rezeption humoristischer Dichtung: Da die zuvorkommende Liebe für den Komiker nur durch eine gewisse Vertraulichkeit mit ihm erworben wird, welche bei ihm, als dem immer neuen Darsteller der immer neuen Abweichungen, zur Versöhnung ganz anders nötig ist als bei dem ernsten Dichter jahrtausendjähriger Empfindungen und Schönheiten: so löset sich die Frage des Rätsels leicht, warum über die höhern komischen Werke, über welche später Jahrhunderte fortlachten, anfangs das erste Jahr ihrer Geburt nicht recht lachen wollte, sondern dummernst entgegensaß, obgleich ein gewöhnliches Scherzblatt der Zeit von Hand zu Hand, von Mund zu Ohr umflattert. 33

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Vorschule, § 32, 125. Dementsprechend heißt es in der Fußnote auf Seite 139: »Alle Lächerlichkeiten im Tristam, obwohl meist mikrologische, sind Lächerlichkeiten der Menschen-Natur, nicht zufalliger Individualität. Fehlt aber das Allgemeine, z. B. wie bei Peter Pindar, so rettet kein Witz ein Buch vom Tode. Daß Walter Shandy mehre Jahre, jedesmal so oft die Türe knarrte, sich entschließet, sie einölen zu lassen u.s.w., ist unsere Natur, nicht seine allein.« Vorschule, § 33, 129. Vgl. hierzu die Ausführungen von Ulrich Rose, der diesen Aspekt in das Zentrum seiner Darstellung des Humor-Begriffs bei Jean Paul rückt. Rose, Ulrich 1990: Poesie als Praxis. Jean Paul, Herder und Jacobi im Diskurs der Aufklärung, Wiesbaden, 56ff. Vorschule, § 34, 133.

232 Die Variationen des objektiven Kontrastes und die subjektive Sicht dieses Widerspruches müssen von dem Dichter durch immer wieder neue Beispiele illustriert werden, was jedoch auf Seiten des Lesers eine gewisse Vertrautheit mit dem individuellen Stil und der Sichtweise des Dichters voraussetzt sowie die Bereitschaft, sich auf beide einzustellen. Im Unterschied zu dem »ernsten Dichter«, der von vorbestimmten Stoffen ausgehen kann, darf der humoristische Autor nicht auf bewährte Gegenstände der poetischen Darstellung zurückgreifen, sondern muß seine eigene Anschauung der unmittelbar gegebenen Realität dichterisch umsetzen. 34 Der humoristische Stil kann Jean Paul zufolge im Gegensatz zu dem ernsten der Klassik daher immer nur die Schätzung eines Teils der Leser finden, »weil dieser einen poetischen Geist und dann einen frei und philosophisch gebildeten begehrt, der statt des leeren Geschmackes die höhere Weltanschauung mitbringt.«35 Dennoch entsteht die humoristische Darstellung trotz ihres subjektiven Aspektes keinesweg zufällig, sondern sie soll bewußt gestaltet werden: »Sieht man nicht an Sternens frühern jugendlichen Aufsätzen und aus seinen spätesten, [...], daß seine wunderbaren Gestalten nicht durch den zufälligen BleiGuß in die Dinte entstanden und darin zerfuhren, sondern daß er in Gieß-Gruben und Formen sie mit Absicht gespitzt und geründet habe?« 36 Denn, führt Jean Paul weiter aus, sofern der Humor »nicht von freier Absicht erzeugt [wurde]: so könnt' er nicht den Vater unter dem Schaffen so gut ästhetisch erfreuen als den Leser«. 37 Daher gibt es in der »echtkomischen Darstellung« Jean Paul zufolge »so wenig wie in der Zergliederungskunst (und ist nicht jene auch eine, nur eine geistigere und schärfere?) eine verführende Unanständigkeit«, d. h. eine, die nicht der bewußten Absicht des Dichters entspringt.38 Dieser Vergleich zwischen einer »echtkomischen«, d. h. humoristischen Darstellung und der »Zergliederungskunst« wird nur verständlich, wenn man davon ausgeht, daß der allgemeine Begriff ein in höchstem Grad zusammengesetzter ist, so daß die Darstellung der von dem Dichter erworbenen geistigen »höheren Weltanschauung« eine Zergliederung seiner allgemeinen Begriffe in einfachere bedingt, um sie als besondere Erfahrungsbegriffe, die jedoch wie34

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Bei der ernsten Poesie herrscht nach Jean Paul das Ideal in dem Objekt, bei der komischen in dem Subjekt, womit er sich gegen die Suche Schillers nach einem objektiven Kriterium des Schönen ausspricht. Vgl. Vorschule, § 16, 67. Vorschule, § 36, 145f. Jean Paul fährt im Anschluß an die zitierte Textstelle fort: »Daher glaubt das >goutierende< Volk, es >goutiere< Sternes Tristram, wenn ihm dessen weniger geniale Yoricks-Reisen gefallen. Daher kommen die elenden Definitionen des Humors, als sei er Manier oder Sonderbarkeit; daher eigentlich die geheime Kälte gegen wahrhaftkomische Gebilde.« Hier deutet sich jedoch ein Problem in der Argumentation Jean Pauls an, da er nun auch auf seiten des Lesers eine »höhere Weltsicht« als Vorbedingung für das Verständnis des humoristischen Stiles annimmt und somit eben das voraussetzt, was die Poesie lehren soll, nämlich das selbständige Kombinationsdenken. Vorschule, § 34, 137. Vorschule, § 34, 137. Vorschule, § 34, 138.

233 derum die Rückführung auf einen allgemeinen Begriff zulassen, dem Leser vermitteln zu können. Die Zergliederung des allgemeinen Begriffes erlaubt den Vergleich seiner einzelnen Bestandteile mit Begriffen der Erfahrung, so daß auf diese Weise sowohl Übereinstimmungen als besonders auch Abweichungen in ihrem Verhältnis zu der allgemeinen Idee erfaßt werden können. Eine humoristische Darstellung besteht dann, wie es von Jean Paul bestimmt wird, in dem Offenlegen des Kontrastes, d. h. des Mangels an Übereinstimmung, zwischen dem allgemein menschlichen Erfahrungsmerkmal und der in ihre Elemente zergliederten Vernunftidee des Dichters. Jean Pauls Rede von einer »echtkomischen Darstellung« als einer »geistigeren und schärferen Zergliederungskunst« sowie die Verwendung des Gegenbegriffes der »Erfindungskunst« in dem Zusammenhang des Witzes muß folglich verstanden werden als eine Umsetzung des von Herder vertretenen Standpunkts, daß die Analyse und Synthese von Begriffen einander ergänzende und unabdingbare Methoden sind, denen in der Wahrheitsfindung gleichberechtigte Bedeutung zukommt. 39 Der Dichter muß demzufolge bei dem Erwerb seiner eigenen Weltanschauung zunächst den synthetischen Weg von der Erfahrung zu der Ausbildung allgemeiner Ideen vollziehen. Diese komplexen Begriffe unterwirft er anschließend einer Analyse, um deren Ergebnis in einer poetischen Darstellung umsetzen zu können sowie die endliche Welt des Konkreten zu der Idee ins Verhältnis zu setzen, so daß zwischen beiden eine Vermittlung hergestellt werden kann. Dem Leser obliegt es dann, in einem synthetischen Schritt die in dem Roman dargebotenen besonderen Teilaspekte wiederum in eigene allgemeine Begriffe umzusetzen: »Der Dichter muß selber seine Handschrift verkehrt schreiben können, damit sie sich im Spiegel der Kunst durch die zweite Umkehrung leserlich zeige.« 40 Die von Jean Paul für den humoristischen Stil geforderte Vereinbarung der Subjektivität der Sicht mit der Gesetzmäßigkeit des Vorgehens muß im Anschluß an Lamberts Betonung der »subjektiven Notwendigkeit bei der Verknüpfung der Grundvorstellungen« 41 gesehen werden, die dort mit dem Gegenbegriff der Analyse unmittelbar verbunden wird. Es soll durch ein weiteres Exzerpt Jean Pauls belegt werden, daß ihm die von Lambert benannte Voraussetzung - und auf die Herder in der Metakritik Bezug genommen hat - für dieses Zusammenspiel der beiden Methoden auch aus der unmittelbaren Kenntnis der entsprechenden Textstelle in Lamberts Werk geläufig gewesen ist. Diese Bedingung besteht, wie oben ausführlich gezeigt wurde, in der Annahme, daß einfache Erfahrungsbegriffe zu komplexen allgemeinen Begriffen verbunden werden können, deren - als a priorisch bezeichnete - Gültigkeit

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Vgl. das entsprechende Kapitel über Synthese und Analyse in dem ersten Teil dieser Arbeit. Vorschule, § 39, 158. Sommer 1892, 166f.

234 durch eine Rückführung auf die konstituierenden Elemente b e w i e s e n werden kann. Es handelt sich bei d e m erwähnten Exzerpt um eine Abschrift aus der Rezension in der Allgemeinen

deutschen

Bibliothek

der Architektonik,

die, w i e

oben schon angemerkt wurde, von Lambert selbst erstellt worden ist. D a s Exzerpt soll der Vollständigkeit halber in seinem ganzen U m f a n g entsprechend der Überprüfung des handschriftlichen Nachlasses wiedergegeben werden: Wer etwann bey dem Streite, ob der Satz des Widerspruches, oder das Principium positionis, oder irgend ein anderes der bisherigen metaphysischen Principien, der oberste Grundsatz der menschlichen Erkenntnis sey, nachsehen will, ob Herr L. sich zu dieser oder jener Parthey schlage, findet, daß er mit keinem von diesen Principien recht zufrieden ist. Sie betreffen nur die Form der Erkenntnis, und geben von der Materie so viel als gar nichts an. Der Satz des Widerspruches ist verneinend, und zeigt nur, wo das mögliche und wahre nicht ist. (§. 19.) Die Positionen, Möglichkeiten lassen sich daraus nicht gerade hin erkennen, der Satz des Widerspruches bezeichnet gleichsam nur die Grenzlinie zwischen dem wahren und dem bloß symbolischen, und ist daher nicht ein Principium der Erkenntniß selbst, sondern nur des theoretischen Theiles der Probierkunst der menschlichen Erkenntniß (§. 502.) sofern es ein Mittel ist, das Unmögliche vom Möglichen zu unterscheiden. Herr L. gebraucht es in dieser Absicht, um auf den materiellen Anfang unserer Erkenntniß zu kommen. Diesen sucht er nicht in den abstraktesten, oder sogenannten höchsten ontologischen Begriffen, die man durch den Weg der Abstraction findet, und zwar deßwegen nicht, weil er behauptet, daß diese Begriffe unter allen die allerzusammengesetzteste sind. Er nimmt aber die abstracten Begriffe nicht so von allen Bestimmungen entblöst, wie die Worterklärungen sie angeben, sondern sieht sie als Sceleta von den darunter gehörenden einzeln Objecten an, (§. 526.) und zeigt besonders (§. 519.) wie sehr z. E. der so abstracte und von allem entblöst scheinende Begriff Ding, zusammengesetzt ist, wenn man alle Fundamenta divisionum & subdivisionum, die nothwendig darinn vorkommen müssen, in Betrachtung zieht. Nun will Herr L. überhaupt gar keine zusammengesetzte Begriffe zur ersten Grundlage unserer Erkenntniß gerechnet wissen, weil, sagt er, die Möglichkeit ihrer Zusammensetzung vorerst bewiesen werden muß. Dieses leitet ihn zu den einfachen Begriffen, die eben dadurch, daß sie einfach sind, von innern Widersprüchen nothwendig frey sind, weil zum Widersprechen wenigstens zwey erfordert werden (§. 7.) Es müssen demnach in dem System der Erkenntniß die einfachen Begriffe zum Grunde liegen [...]. 42 Von besonderer Bedeutung sind in dieser exzerpierten Textpassage die Ausführungen in der zweiten Hälfte. Die Bestimmung der abstrakten Begriffe als zusammengesetzte Begriffe und als »Sceleta von den darunter gehörenden einzeln Objecten«, in denen »Fundamenta divisionum & subdivisionum« vorkommen, verweist wiederum auf Lamberts Ideal der allgemeinen Begriffe des Menschen, d e m z u f o l g e diese alle konstituierenden besonderen Beispiele umfassen und eine Rückführung auf die einzelnen Elemente zulassen sollen. Als Basis jeder Erkenntnis werden Lamberts Überzeugung entsprechend, daß Wissen mit der Erfahrung des Menschen beginnt, die einfachen Begriffe ausgezeichnet, s o daß in diesem kurzen Textabschnitt wesentliche Gesichtspunkte der e b e n s o wie von Herder auch von Jean Paul vertretenen

erkenntnis-

theoretischen Grundannahmen zur Sprache kommen.

42

Allgemeine deutsche Bibliothek, 20. Bd., 1. Stück, Berlin und Stettin 1773, 12ff. S. auch: Logische und philosophische Abhandlungen, Bd. 2 (reprograf. Nachdruck VII), 414f.

235 Das in den Romanen Jean Pauls und in den von ihm genannten Beispielen humoristischer Dichtung, w i e Laurence Sternes Roman The life and of Tristam Shandy,

opinions

gehäuft anzutreffende Extreme, Groteske und Bizarre läßt

sich somit in diesen Begriffen als die Wahl abweichender besonderer Erfahrungsbeispiele im Verhältnis zu den konstitutiven Elementen der allgemeinen Idee des Dichters begreifen, die zudem durch sinnliche Darstellung, dem vierten Aspekt des Humors, bildlich zur Anschauung gebracht wird. D e m Leser werden somit auf diese Weise der objektive und der subjektive Kontrast mittels des humoristischen Stils nahegebracht. D i e »humoristische Sinnlichkeit« erklärt Jean Paul als Voraussetzung alles Komischen und folgert, daß sie bei dem Humor als d e m Inbegriff der »angewandten Endlichkeit« niemals zu anschaulich werden kann: Die überfließende Darstellung, sowohl durch die Bilder und Kontraste des Witzes als der Phantasie, d. h. durch Gruppen und durch Farben, soll mit der Sinnlichkeit die Seele füllen und mit jenem Dithyrambus sie entflammen, welcher die im Hohlspiegel eckig und lang auseinandergehende Sinnenwelt gegen die Idee aufrichtet und sie ihr entgegenhält. 43 Die Mischung und Kontrastierung von witzigen Einfällen und phantastischen Bildern, die mit der Verarbeitung der verschiedensten Wissensstoffe und einer Mischung der unterschiedlichen literarischen Stile einhergehen, haben ebenso wie die von Jean Paul allgemein angestrebte Stil- und Darstellungsform des Romans zum Ziel, anschauliche und konkrete Vorstellungen in dem Leser hervorzurufen, deren Gegensatz zu einer vorgefertigten allgemeinen Idee deutlich werden soll. Es wird somit eine Irritation übernommener Ideen angestrebt, um den Leser für das eigene Denken vorzubereiten. 4 4

43 44

Vorschule, § 35, 139. Die Notwendigkeit der Befreiung von ungeprüft übernommenem, d. h. nicht selbst erfahrenem Wissen ist von Jean Paul bereits in der 17. Rhapsodie Allerlei formuliert worden, die Wolfgang Proß herangezogen hat als Beleg für Jean Pauls Forderung nach einer Philosophie, »deren Begrifflichkeit nur durch die Erweiterung der Erfahrung zustande kommt: [...].« (Proß 1975, 194f.) Es heißt in dieser Rhapsodie: »Warum giebt's noch so wenig Philosophie? - deswegen, weil ieder nur die seinige geltend machen, nur der seinigen Ausbreitung verschaffen wil. Wer denkt und wer nicht denkt, beide hindern den andern, selbst zu denken; der eine wirft uns das Joch seiner Gedanken, der andre seiner Worte um den Hals; der eine wil uns mit seiner Weisheit, der andre mit seiner Dumheit beherschen - beide pflastern in unserm Gedächtnisse nur Einen Weg zur Warheit, damit unser Verstand nie einen andern als den ihrigen gehe. - In unserer Kindheit macht uns ieder zu den Behältnissen seiner Dumheit oder Weisheit; dadurch werden wir im reifern Alter genötigt, vorher die Gedanken andrer herauszuwerfen, ehe wir die unsrigen einsamlen und aufbewaren können. Warum versezt man uns aber in die grausame Notwendigkeit, an allem zweifeln zu müssen, da wir derselben überhoben sein könten, wenn man uns weniger Gedanken, aber mer denken leite, wenn man uns weniger mit Antworten befriedigte, und mer zu Fragen reizte, und überhaupt uns alzeit nur die Rechnung aufgäbe, ohne das Fazit zu sagen? - Wir solten nicht die Kinder unterrichten, sondern sie gewönen, sich selbst zu unterrichten; wir solten nicht Philosophie, sondern philosophiren leren; wir solten überhaupt die Kunst lernen, den andern erfinden zu leren. - Freilich ist's leichter, einen Blinden an der Hand füren, als ihn fähig machen, seinen Weg selbst zu fin-

236 Mit dem »metamorphotischen sinnlichen Stil des Humors« muß alles Dargestellte in höchstmöglichem Maß individualisiert werden, wie Jean Paul anhand des Beispiels der konkreten Umsetzung der allgemeinen Aussage, »der Mensch denkt neuerer Zeit nicht dumm, sondern ganz aufgeklärt, liebt aber schlecht«, in einer sinnlich-anschaulichen Darstellung deutlich macht. Beabsichtig wird mit diesem Vorgehen in Absetzung von der poetologischen Konzeption der Klassik, die »überall das Allgemeine vorhebt und [...] uns z. B. das Herz so vergeistert, daß wir bei einem anatomischen mehr ans poetische denken als bei diesem an jenes«, die allgemeine Erkenntnis in einen sinnlich-humoristischen Stil zu übertragen.45 Das Ziel dieser Darstellungsform bringt Jean Paul explizit zum Ausdruck: »Es erquickt den Geist ungemein, wenn man ihn zwingt, im Besondern, ja Individuellen [...] nichts als das Allgemeine anzuschauen, in der schwarzen Farbe das Licht.« 46 Diese Aussage bestätigt mit der Bezugnahme auf das dialektische Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem, das eine Ableitung des Allgemeinen aus dem poetisch dargestellten einzelnen Fall zuläßt, unmittelbar die oben hergestellte Verbindung des Humor-Begriffes mit den universellen Erkenntnismethoden der Analyse und Synthese. Die rationale Theorie der Sinnlichkeit, wie sie in der Tradition von Locke, Leibniz, Lambert und Herder ausgebildet wurde, findet somit hier ihre Umsetzung in das poetologische Konzept der Vorschule.

45 46

den, und es macht weniger Beschwerde, dem andern etwas Gutes zu sagen, als zu verursachen, daß er es uns sage. Warum haben wir so wenig Originale? deswegen, weil ieder den andern zur Kopie von sich macht - warum denken so wenige? nicht deswegen, weil der Mensch nicht denken mag, sondern weil es ihm schwer fält, anders zu denken, als man ihn denken gelert hat - und warum erfinden so wenige? deswegen, weil man die alten Irwege so tief im Gehirne banet, daß dem Verstände, welchen man in denselben zu gehen zwingt, von allen Seiten iede freie Aussicht auf einen andern Weg unmöglich gemacht wird. So wie man uns in der Kindheit zu Christen macht, damit wir als Männer Heuchler sein können; so lert man uns eine Weisheit in der Jugend, die nicht als unsre Dumheit im Alter befördert. - Nur der Skeptiker ist der beste Lerer der Philosophie, allein nur für die, welche Philosophen werden können, nicht für die, welche sich blos so nennen wollen. Der philosophische Geist wird sich alsdan mer ausbreiten, wenn es weniger Pedanten, Demonstratoren und Gelerte geben wird. - Sämtliche Werke, II. Abt., 1. Bd., 285f. Es muß insofern der Interpretation des Humor-Begriffes »als künstlicher Wahnsinn« widersprochen werden, wie sie von Götz Müller 1983: Jean Pauls Ästhetik und Naturphilosophie, Tübingen, 229-239, unter Bezugnahme auf die Textstelle, es »ließe sich eine scheinbare Angrenzung des Humors an den Wahnsinn denken«, vorgenommen worden ist. Müller führt den Humor-Begriff Jean Pauls in seinem Zusammenhang von Poesie und Wahnsinn auf die »platonische Mania« (Müller 1983, 234) zurück und bringt ihn des weiteren in Verbindung mit der im 18. Jahrhundert weit verbreiteten Melancholie: »Die Grenze zwischen dieser platonisch gedachten Entwertung der Sinnlichkeit und des Verstandes und dem Wahnsinn als Krankheit ist fließend.« (Müller 1983, 236) Explizit weist Jean Paul ferner den Wahnsinn als eine Übertreibung des subjektiven Kontrastes aus bei dem Versuch, den objektiven und den subjektiven Kontrast in dem komischen Drama in der Figur des Toren zu verbinden. Vgl. Vorschule, § 39, 158. Vgl. Vorschule, § 35, 140. Vorschule, § 35, 143.

237 Dieses Verfahren des humoristischen Stils soll abschließend an dem Textbeispiel des in dem achten Hundposttag erwähnten Kutschers exemplifiziert werden: Der wegfahrende Apotheker ließ in Viktor einen verdrießlichen säuern Bodensatz zurück; sogar über den Blasbalgtreter, der jeden Sonntag den Kaffee auftrug, könnt' er nicht wie sonst lachen. Ich will sagen, warum er sonst lachte. Der Kutscher war dann rasiert, und zwar aus der ersten Hand, von seiner eignen. Nun hatte das Kinn dieses trägen Bock-Insassen mehr Maulwurfhügel - so nenn' ich zierlich die Warzen - vorgestoßen, als nötig sind zum Rasieren und Mähen. Inzwischen hobelte der alte Mann an den Sonntag-Morgen - denn da ziehen die gemeinen Leute zugleich den alten Adam und das alte Hemd aus und lassen Sünden und Bart bloß die Werkeltage wachsen - mit seinem Messer kühn zwischen dem Warzen-Chagrin auf und nieder und schnitt ab. Nun würde der Mensch erbärmlich mit seinem zerpflügten Gesichtvorgrund ausgesehen haben - so daß man hätte Blut weinen müssen über dasjenige, so über das Kinn dieses steinernen Flußgottes in roten Linien ging - , wenn der Prosektor wie ein Römer seine Wunden aus Dummheit vorgezeigt hätte; aber er zeigte nichts; er zausete, verständiger, Tabakschwamm in kleine Kappen aus und setzte die Mützen den wunden Warzen auf und stellte sich so dar. »Ein Spener, ein Kato der Jüngere«, sagte Viktor, »komm' einmal in meine Stube und lache nicht, wenn ein Balgtreter nachkommt mit Kaffeetassen und mit sechzehn skalpierten Warzen und mit einem im Schwamm gebundnen Kinn, das aussieht wie ein Gartenfelsen mit schön verteiltem Moos bewachsen - ein Spener lache nicht, sage ich, wenn er kann.« 47

Wenn man diese bildliche Darstellung zunächst in eine konkrete Formulierung der Erfahrung einer menschlichen Schwäche überträgt, läßt sich diese als ein »Hang des Menschen zur Bigotterie« auffassen. Jean Paul gibt den Hinweis auf diese Interpretation mit seinem Vergleich zwischen »Sünden und Bart«. Als allgemeinen idealen Gegenbegriff müßte man in diesem Fall den einer »wahren Religiosität« ansetzen, den man beispielsweise durch solche Merkmale wie ein kontinuierliches Frömmigkeitsgefühl und das Vorhandensein eines Schuldbewußtseins für die eigene Sündhaftigkeit auch nach der Beichte kennzeichnen müßte. Den durch diesen Begriff geforderten idealen Verhaltensweisen wird in der bildlichen Darstellung jedoch das Verdrängen der Unannehmlichkeit der Beichte und die Unbeständigkeit des religiösen Verhaltens gegenübergestellt, dem wiederum mit der Nachsicht der »humoristischen Lebensverachtung« begegnet wird. Der humoristische Stil erweist sich aufgrund der Verbindung der Erfahrung des besonderen Beispiels mit der allgemeinen Idee somit als die angemessene Entsprechung zu dem Entwurf des Romans als »poetische Enzyklopädie« bei Jean Paul.

47

Hesperus, Jean Paul I, 600f.

Ausblick: Lamberts Erkenntnistheorie in ihrer Bedeutung für Das philosophische Werk Novalis' In gedrängter Form soll abschließend die Bedeutung Johann Heinrich Lamberts als eines hervorragenden Vertreters der Aufklärungsphilosophie für die frühromantische Wissenschaftstheorie und Ästhetik des Novalis nachgezeichnet werden. Novalis ist aufgrund selbständiger Studien mit dem Werk Johann Heinrich Lamberts ebenso vertraut, wie Jean Paul es aufgrund seiner Exzerpte sowie der Vermittlung durch Herder gewesen ist, und er knüpft an dessen philosophische Position sowohl in seinen wissenschaftstheoretischen Überlegungen als auch mit seinem ästhetischen Standpunkt unmittelbar an. Die Auseinandersetzung mit Lamberts Logik erhält grundlegende Bedeutung für das Enzyklopädie-Projekt Novalis', dessen theoretisches Konzept in dem Allgemeinen Brouillon (Materialien zur Enzyklopädistik 1798/99) zur vollen Entwicklung gelangt. Die erste Anregung für das von Novalis geplante Enzyklopädie-Projekt ist Hans-Joachim Mähl zufolge aus dem Studium der Überlegungen Carl August Eschenmayers zur Anwendung der Wissenschaftslehre Fichtes auf die Naturwissenschaften 1 hervorgegangen und auf die Beschäftigung mit François Hemsterhuis zurückzuführen. 2 Dessen Werk hat Novalis 1797 von Anfang September bis Ende November in dem Zusammenhang seiner kritischen Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre intensive Studien gewidmet. 3 Im Anschluß an die Forderung Hemsterhuis' nach einer Verbindung aller Wissenschaften zu einer Universalwissenschaft in seiner Schrift Lettre sur l'homme et ses rapports sowie Hemsterhuis' Auffassung des Primats der Poesie gegenüber allen anderen Künsten und Wissenschaften 4 spricht Novalis von einer not1

2 3 4

Novalis hat sich 1797 mit dem Werk Säze aus der Natur-Metaphysik auf chemische und medicinische Gegenstände angewandt, erschienen 1797, des Naturphilosophen und Arztes Carl August Eschenmayer beschäftigt, in dem dieser die »Begründung einer >NaturMetaphysik< als Mittelglied zwischen der Philosophie und den angewandten Wissenschaften« vornimmt. Vgl. Novalis Schriften II, 332f. Vgl. Novalis Schriften III, 238. Vgl. Novalis Schriften II, 31 lf. Hemsterhuis vertritt in seinem Werk Alexis ou de l'âge d'or die von Mähl folgendermaßen zusammengefaßte Ansicht: »[...] in der Poesie, in der dichterischen Einbildungskraft ist jenes höhere Erkenntnisorgan wirksam, das uns die verborgene, unsichtbare Seite des Universums erschließt; es vermag den unendlichen Beziehungsreichtum der Ideen zu erfassen und diese zu einer vollkommenen >Coexistenz< zusammenzubringen, woraus die

240 w e n d i g e n »>poetischen< Behandlung der W i s s e n s c h a f t e n « . 5 D a b e i ist es für N o v a l i s e b e n s o w i e für Hemsterhuis das Ziel, der beginnenden Zersplitterung der Erkenntnisse

und der Atomisierung

der Wissensbereiche

in

Einzel-

w i s s e n s c h a f t e n entgegenzuwirken. D a N o v a l i s z u f o l g e die P o e s i e v o n unterstützender B e d e u t u n g für die Verstandestätigkeit ist, indem die Einbildungskraft als das Organ der Dichtung die Kombination v o n Ideen ermöglicht, ist eine »Poetisierung« der Wissenschaften n o t w e n d i g , w e n n sie in e i n e m Gesamtsystem vereinigt werden sollen. 6 Hans-Joachim Mähl kennzeichnet diesen A n satz einer »poetischen Behandlung der W i s s e n s c h a f t e n « als die Wurzel der Idee einer Enzyklopädie der Wissenschaften bei N o v a l i s und verweist besonders auf das Allgemeine

Brouillon.1

D i e seit B e g i n n der sechziger Jahre v o n Richard Samuel z u s a m m e n mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard S c h u l z h e r a u s g e g e b e n e historisch-kritische A u s g a b e der Schriften N o v a l i s ' ermöglicht dabei eine historisch-philologische V o r g e h e n s w e i s e , s o daß e i n e systematische Erhellung der für die Enzyklopädistik und Dichtungstheorie strukturbildenden B a s i s a n n a h m e n N o v a l i s ' angestrebt werden kann, wodurch fundierte A u s s a g e n über das in d e m

Theoreti-

schen Werk konsequent zugrundegelegte erkenntnistheoretische Substrat m ö g -

5

6

7

>großen WahrheitenFrage< auf ihre einfachste Form gebracht, hat nur zween Begriffe, und von diesen ist der eine nothwendig ein Verbum oder Zeitwort. [...] Wir sind diese einfache Form wiederum den Mathematikern schuldig. Diese haben solche Fragen >Aufgaben< genannt, und die Antwort darauf, die >AuflösungBeweis< kömmt, daß durch die Auflösung der Frage ein Genügen geschehen sey. Es giebt hier, eben so wie bey den Sätzen, solche Fälle, wo so wohl die Auflösung als der Beweis von selbst einleuchtend ist, und wo man daher durch die bloße Vorstellung der Frage die Möglichkeit derselben einsieht. Solche Aufgaben heißen die Mathematiker Postulata oder >Forderungenden größten Kritiker unter den deutschen Romantikernin gewissem Sinne den größten Kritiker DeutschlandsLehrlingen< bezogen auf den >Sinn für die NaturOfterdingen< als Universalutopie. Das Ziel, das vollendete >IäeenparadiesTrennung< und Verbindung^. Vgl. Schanze 1976, 116-118.

Anhang 1. Der handschriftliche Nachlaß Herders: Auszüge aus Werken Lamberts sowie Aufzeichnungen und Bemerkungen von Herder Der Katalog der Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz zum handschriftlichen Nachlaß Johann Gottfried Herders, bearbeitet von Hans Dietrich Innscher und Emil Adler, 1 verzeichnet fünf Schriften, in denen Herder sich mit Lamberts Werken befaßt hat, wobei die Prüfung ergeben hat, daß die unter 3. angegebenen Auszüge nicht aus dem Neuen Organon vorgenommen worden sind, sondern aus den oben in dieser Arbeit in dem Kapitel II. 1.2.2. Kant und Lambert: Zwei Antworten auf die Preisfrage des Jahres 1763 im einzelnen aufgeführten Arbeiten. 1. In der Kapsel XV befindet sich ein Auszug aus Lamberts Anlage zur Architektonik, bezeichnet als »Grundsätze aus Lamberts Architektonik«. 2. In der Kapsel XXV liegen Auszüge und Aufzeichnungen der Schrift Abhandlung großen Weltmeer, die Johann Heinrich Lambert zugeschrieben wird.

vom

3. In der Kapsel XXVI sind Auszüge aus verschiedenen Schriften Lamberts aufbewahrt. Vgl. die detaillierte Auflistung oben. 4. In derselben Kapsel sind außerdem Bemerkungen zu dem 1. Hauptstück Von der symbolischen Erkenntnis überhaupt der Semiotik in Neues Organon enthalten. 5. In der Kapsel XXIX befinden sich Auszüge aus der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, Berlin/Stettin 1766ff„ Bd. 3, 2. St., Bd. 1, 1.-2. St., Bd 2, 1.-2. St. über Lambert.

2. Das Herder-Inventar in dem handschriftlichen Nachlaß Lamberts Das sogenannte Herder-Inventar ist ein Auszug aus dem von Johann Bernoulli III. angefertigten Verzeichnis, wie der Überschrift von Lamberts Hand zu entnehmen ist. 2 Es handelt sich dabei um ein Verzeichnis der Manuskripte von Lambert, die Herder etwa ein Jahr lang in seinen Händen hatte: »Les 5. Ms. suivans se trouvent depuis près d'un an chez Ms. le Vice President Herder à Weimar, qui m'a fait espérer d'en publier quelque chose. On pourra les retirer.« 3 Es ist überschrieben: »Nota über die an Herrn Vice Presid. Herder überschickten Handschriften aus Lamberts Nachlaß.«

Irmscher, Hans Dietrich: Der handschriftliche Nachlaß Johann Gottfried Herders. Katalog. Bearb. von Hans Dietrich Irmscher und Emil Adler. Wiesbaden 1979. Die hier aufgrund des Manuskripts angegebene Übersicht ist auch abgedruckt in: Lambert, Johann Heinrich: Schriften zur Perspektive, hg. und eingel. von Max Steck, Berlin 1943, 144f. Das Herder-Inventar ist unter der Kennung L.I.a. 740 1. pag. 1 - 6 in den Lambertiana abgelegt. Es umfaßt die Manuskripte L.I.a. 740 - L. I. a. 745 nach Stecks Bezeichnung.

272 Es werden folgende Manuskripte genannt. Die eindeutig spezifizierten, im Nachlaß befindlichen Manuskripte werden durch den entsprechenden Code gekennzeichnet. I. Lamberts Diarium oder Monatsbuch, L.I.a. 740 2. II. Curiosa größtenteils Gedichte, L. I. a. 741 1. III. Theologica IV. Rhetorica V. Logica et Philosophica circa De plus M. Herder a entre ses mains des Lettres de Lambert, Le Sage, Sulzer et Trembley (99 feuillets) que j'ai déjà indiquées dans le Catalogue des Lettres. Die Punkte III. bis VI. werden in den Nota einzeln aufgegliedert: III. Theologica 1. Abhandlung Uber die Vorzüge des Christen 2. Die Notwendigkeit der Religion in einem Staate 3. gleichen Inhalts 4. Predigt über Jac. 11.10. 8° 5. Sätze über die Dreyeinigkeit 6. Predigt über Psalm VIII. 12 7. Zwey Gebete 8. Schemata zu Predigten 9. Andächtige Empfindungen 10. Desgl. 3 Bl. französ. 4° u. vom Glauben 4 Bl. 8°

L.I.a. 742 2. L.I. a. 742 3. L.I.a. 742 5.a) L.I.a. 742 7. L.I.a. 742 8., 9. L.I.a. 742 11. und/oder 12. L.I.a. 742 13. a) und/oder b) und L.I.a. 742 14

11. Theologica varia Rhetorica, Aesthetica 1. De Pulcritudine, gebunden L.I.a. 743 2. Abhandlung von Gleichnissen L.I.a. 743 L.I.a. 743 3. ... von BeyWörtern 4. ... von den Wiederholungen einerley Wörter L.I.a. 743 5. Gespräche über die Eingänge 6. (Erste) Abhandl. von den Eingängen L.I.a. 743 L.I.a. 743 7. (Zweite) ... 8. Du Secours mutuel des Sciences et des Belles Lettres L.I.a. 743 Remarques sur cette pièce L.I.a. 743 9. a. Sur la théorie Du Goût L.I.a. 743 b. De même, ausführlicher L.I.a. 743 10. Exercises oratoriques (vide zum Spaß das 24. u. 25. Blatt) L.I.a. 743 11. Gedankenspäne 12. Rede über die Vortrefflichkeit der Vernunft [vermutlich] L.I.a. 743 13. Quelles sont les espèces différentes du style? (Pour M. Thiébault, membre alors de l'académie, qui publia en 1775 un Essai sur le style) L.I.a. 743 Logica et Philosphica 1. Von den Erfindungsarten 2. Tacheographie 3. Ueber die ersten Grundbegriffe der Logik und Metaphysik 4. Philosophische Gespräche Uber die Allgemeinheit der Grundregeln 5. a. Anmerkungen üb. das Erdbeben 1755 b. 2te Abhandlung über dasselbe 6. Meditata von dem Beweise theolog. und moralischer Wahrheiten 7. Briefe über den Optimismus

1. 2. 3. 4. 7. 8. lO.b) 10. c) 11. 12. 13. 15.

16.

L.I.a. 744 A 1. L.I.a. 744 A 2.

L.I.a. 744 A 4. L.I.a.744 A 6. L.I.a. 744 A 7.

273 8. 9. 10. 11.

Varia, in Goldpapier geheftet Varia logica et metaphys. in blau Papier Meletemata de analysi logica bl. Pap. Schematismus capitum Systematologiae vide 1771. April

L.I.a. 744 C 2.

VI. Morceau de la Correspondance Française 1. Treize lettres de Le Sage à Lambert avec des pieces annexes vermutlich L.I.a. 745 1. bis 17.4 2. Dix lettres de Lambert à Le Sage vermutlich L.I.a. 745 18 bis 27. 3. Trois de Lambert à Sulzer et deux de Sulzer à Lambert vermutlich L.I.a. 745 28. bis 32. 4. Lettre de Trembley à Lambert avex la Réponse et un papier annexe [vermutlich] L.I.a. 745 33.-35.

3. Jean Pauls Exzerpte aus Lamberts Werken Diese Übersicht ist zusammengestellt anhand des von Götz Müller angefertigten Verzeichnisses der Exzerpte Jean Pauls. Fasz. la EXZERPTEN. Z W E I T E R B A N D .

1778

15 lf.

Von den einfachen Begriffen. Aus der Rezension von J. H. Lambert: Neues Organon, in: AdB, 3. Bd., 1. St., 1766, 16f. 231 f. Von der symbolischen Erkenntnis. Aus der Rezension von J. H. Lambert: Neues Organon, in: AdB, 4. Bd., 2. St., 1767, 1-5. 234ff. Von der Sprache als Zeichen betrachtet. Aus der Rezension von J. H. Lambert: Neues Organon, in: AdB, 4. Bd., 2. St., 1767, 5-9. 237 Von den Bindewörtern. Aus der Rezension von J. H. Lambert: Neues Organon, in: AdB, 4. Bd., 2. St., 1767, 13. 237ff. (-238) Von der Wahrscheinlichkeit. Aus der Rezension von J. H. Lambert: Neues Organon, in: AdB, 4. Bd., 2. St., 1767, 25-28. EXZERPTEN. D R I T T E R B A N D .

4f. 5f. 6f. 7ff. 9f. lOf. 11 11 f. 12-14 41-43 43f. 44f.

1779

Mittel, jede Sache leicht von andern zu unterscheiden. J. H. Lambert: Neues Organon, 1. Bd., 9f. Wie der Begriff einer Sache, wenn sie sich ändert, bestimmt wird. J. H. Lambert: Neues Organon, 1. Bd., 13f. Anmerkungen. J. H. Lambert: Neues Organon, 1. Bd., 44; 72f. Von den einfachen Begriffen. J. H. Lambert: Neues Organon, 1. Bd., 457ff. Verschiedene einfache Begriffe. J. H. Lambert: Neues Organon, 1. Bd., 470472. Von mehrern Sinnen. J. H. Lambert: Neues Organon, 1. Bd., 494—496. Von der Dauer. J. H. Lambert: Neues Organon, 1. Bd., 501. Vom Irrigen. J. H. Lambert: Neues Organon, 1. Bd., 552f. Der Ursprung des Wahren. J. H. Lambert: Neues Organon, 1. Bd., 554f.; 558f.; 585. Von den Vokalen. J. H. Lambert: Neues Organon, 2. Bd., 46f. Von einfachen Begriffen, wie sie ausgedrükt werden müssen, J. H. Lambert: Neues Organon, 2. Bd., 67. Von den Koniunktionen. J. H. Lambert: Neues Organon, 2. Bd., 139.

Die von Lambert jeweils genannte Anzahl der Briefe stimmt mit derjenigen im Nachlaß überein. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, daß es sich um die vorübergehend bei Herder befindlichen handelt. Die im Nachlaß befindlichen Briefe stammen laut Datierung aus dem Jahr 1763.

274 EXZERPTEN. FÜNFTER BAND. 1779 171-173 Neun Grundprinzipien der Menschlichen Kenntnis - Beitrag zur Verbesserung der Metaphysik. Aus der Rezension von J. H. Lambert: Architektonik, 2 Bde., 13f. 173f. (-174) Vom Begriffe Einheit. Aus der Rezension von J. H. Lambert: Architektonik, 2 Bde., 21. Fasz. l b EXZERPTEN. A C H T E R B A N D .

73f. 127 128 128 128-130 13lf. 132-134

1780

Lambert und Segner [Gedicht o.Vf. auf den Tod des Philosophen J. H. Lambert]. In: Deutsches Museum, 2. Bd. Julius bis Dezember, 1778, 251. Von der Wolfischen Definition des Raumes und der Zeit. J. H. Lambert: Architektonik, 1. Bd., l l f . Von der Dichtigkeit und Dünnigkeit. J. H. Lambert: Architektonik, 1. Bd., 69. Vom Wahren und Guten. J. H. Lambert: Architektonik, 1. Bd., 82. Von der Identität. J. H. Lambert: Architektonik, 1. Bd., 95, 105, 106. Von Gattung und Art. J. H. Lambert: Architektonik, 1. Bd., 145. Von der Verschiedenheit zwischen dem Abstrahiren und Auflösen der Begriffe. J. H. Lambert: Architektonik, 2. Bd., 144f., 160.

Fasz. 2c EXZERPTEN. 3 1 . B A N D . 1 7 9 9 . M A I

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J. H. Lambert: Kosmologische Briefe über den Weltbau.

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278 Michaelis, Johann David 1762: De l'influence des opinions sur le langage, et du langage sur les opinions. Dissertation qui a remporté le prix de l'Acadeémie Royale des Science & belles lettres de Prusse, en 1759, Bremen (reprograf. Nachdruck = Nouvelle impression en facsimilé de l'édition de 1762 avec un commentaire par Helga Manke et un préface par Herbert E. Brekle, Stuttgart - Bad Cannstatt 1974). Newton, Isaac 1963: Mathematische Prinzipien der Naturlehre, mit Bemerkungen und Erläuterungen hg. von J.Ph. Wolfers, Darmstadt. Novalis 1968-1988: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. von Paul Kluckhohn ( t ) und Richard Samuel, 2., nach den Handschriften erg., erw. und verb. Aufl. in vier Bänden und einem Begleitband, Stuttgart. Novalis 1987: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, Bd. 3: Kommentar von Hans Jürgen Balmes, München. Platner, Ernst 1977: Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte, in: J. G. Fichte - Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky, Supplement zu Nachgelassene Schriften Bd. 4, Stuttgart-Bad Cannstatt. Reimarus, Hermann Samuel 1758: Die Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in dem Erkenntniß der Wahrheit, aus zwoen ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs, Zweyte verbesserte und mehr zu Vorlesungen eingerichtete Auflage, Hamburg, § 60, 4), 52 (reprograf. Nachdruck = Gesammelte Schriften). Reimarus, Hermann Samuel 1979: Gesammelte Schriften, Bd. 2: Vernunftlehre, Nachdruck der dritten Auflage von 1766 mit fortlaufenden Hinweisen auf die Parallelen der zweiten und vierten Auflage, hg. von Frieder Lötzsch, München. Sulzer, Johann George 1773: Vermischte philosophische Schriften. Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt, Leipzig (reprograf. Nachdruck = Vermischte philosophische Schriften). Sulzer, Johann George 1781: Vermischte Schriften. Eine Fortsetzung der vermischten philosophischen Schriften desselben. Nebst einigen Nachrichten von seinem Leben, und seinen sämtlichen Werken, Zweyter Theil, Leipzig (reprograf. Nachdruck = Vermischte philosophische Schriften). Sulzer, Johann George 1974: Vermischte philosophische Schriften, 2 Teile in einem Bd., Hildesheim. Vico, Giambattista 1990: Opere, hg. von Andrea Battistini, Bd. 1, Mailand 1990. Wolff, Christian 1733: Ausführliche Nachricht von seinen eigenen Schrifften, die er in deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Weltweißheit heraus gegeben / auf Verlangen ans Licht gestellt, Frankfurt a. M. (reprograf. Nachdruck = Gesammelte Werke I. Abteilung, Deutsche Schriften, Bd. 9). Wolff, Christian 1740: Philosophia rationalis sive logica, Pars II, Frankfurt und Leipzig (reprograf. Nachdruck = Gesammelte Werke II. Abteilung, Lateinische Schriften, Bd. 1.2). Wolff, Christian 1973ff: Gesammelte Werke, hg. u. bearb. von J. Ecole, J.E. Hofmann, M. Thomann, H.W. Arndt, Hildesheim/New York.

2. Sekundärliteratur Allgemeine deutsche Bibliothek 1766, des dritten Bandes erstes Stück, Berlin und Stettin. Allgemeine deutsche Bibliothek 1767, des vierten Bandes zweytes Stück, Berlin und Stettin. Allgemeine deutsche Bibliothek 1773, des zwanzigsten Bandes erstes Stück, Berlin und Stettin. Apel, Karl-Otto 3 1980: Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, Bonn. Arndt, Hans Wemer 1971: Methodo scientifica pertractatum. Mos geometricus und Kalkülbegriff in der philosophischen Theorienbildung des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin/New York. Barner, Wilfried (Hg.) 1990: Literaturkritik - Anspruch und Wirklichkeit. DFG-Symposion 1989, Stuttgart.

279 Behler, Ernst 1957: Eine unbekannte Studie Friedrich Schlegels über Jean Pauls >Vorschule der ÄsthetikMetaphysik ist Metaphysik