Jean Paul: Dichter und Philosoph. Eine Biografie 9783412212339, 9783412210915


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Jean Paul: Dichter und Philosoph. Eine Biografie
 9783412212339, 9783412210915

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Michael Zaremba

Jean Paul

Dichter und Philosoph Eine Biografie



2. Auflage

2012 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Porträt Jean Paul Friedrich Richters, gemalt von Heinrich Pfenninger, 1798. Gleimhaus in Halberstadt.

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Wilco, NL-Amersfoort Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-412-21091-5

Inhalt

Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Kapitel

Jugendjahre im Fichtelgebirge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2. Kapitel

Studienzeit in Leipzig. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3. Kapitel

Hauslehrer im Vogtland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4. Kapitel

Leipzig und Weimar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 5. Kapitel

In Berlin und Potsdam. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 6. Kapitel

Meiningen und Coburg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 7. Kapitel

In Bayreuth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 8. Kapitel

Lebensdämmerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Reflexionen über Jean Paul. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290

Inhalt  5

Auswahlbibliografie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Zeittafel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Namenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

6  Inhalt

Warum will ich schon wieder ein neues Buch schreiben und in diesem die Ruhe erwarten, die ich im alten nicht fand? – – (Jean Paul, Ausläuten oder Sieben letzte Worte)

Vorwort

Vorliegende Biografie über Jean Paul gehört in die Reihe meiner Lebensbeschreibungen über Johann Gottfried Herder und Christoph Martin Wieland. Jean Paul, der sich als dichtender Philosoph und philosophischer Dichter verstand, war mit keinem anderen Weisheitslehrer persönlich und geistig so eng verbunden wie mit Herder. Gemeinsam mit dem Theologen der Humanität befand er sich in Opposition zum ästhetisierenden Klassizismus Goethes und Schillers und teilte mit Wieland die Skepsis gegenüber einer verstiegenen Romantik. Die drei Pfarrerssöhne Herder, Wieland und Jean Paul verstanden sich als Aufklärer der anti-kantianischen Fraktion, welche sich auf der Grundlage eines empirischen Sensualismus dem Jargon und den Abstraktionen der Transzendentalphilosophie widersetzte. Insbesondere Jean Paul, der schreibwütige Wortkünstler aus armen Verhältnissen, hatte einen tiefen Sinn für die Psychologie des „kleinen Mannes“. Freilich richtete sich sein Blick auch auf die Abgründe des schieren Ästhetizismus und Individualismus, wie er sie in Weimar kennen gelernt hatte. Der Roman „Titan“ und die Geschichte über den „Luftschiffer Giannozzo“ sind beredte Zeugnisse dieser Erfahrung. Erzählungen wie „Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht“ und „Dr. Katzenbergers Badereise“ analysieren hingegen die fragwürdige Moralität eines wertneutralen Rationalismus. Von den zahlreichen autobiografischen Bezügen in den Schriften Jean Pauls – etwa der idyllischen Kleinmalerei in der „Selberlebensbeschreibung“ – darf sich der Biograf freilich nicht täuschen lassen. So warnt Jean Paul in einem Brief vom 10. März 1819 an Heinrich Voß: „Im Jubelsenior ist gar nichts aus meinem Leben, kein Charakter, alles nur Gedicht; so alle Begebenheiten im Hesperus und Titan und die meisten Charaktere. –“ Deshalb steht im Zentrum dieser Lebensbeschreibung – neben der biografischen Auswertung des Werkes – die Korrespondenz des Dichters. Während Jean Pauls Briefe seit längerer Zeit in der Historisch-kritischen Ausgabe vorliegen, berücksichtigt Vorwort  9

vorliegende Biografie insbesondere die in jüngster Zeit erschlossenen und kommentierten Briefe an den Dichter. Der vom Germanisten Friedrich Sengle geäußerte Vorwurf, Jean Paul sei der „Inbegriff eines deutschen Eigenbrötlers“ gewesen, wird durch den umfangreichen Briefwechsel widerlegt, der ihn als Teilnehmer an einem weitverzweigten intellektuellen Austausch erweist. Für heutige Leser besonders schwierig zu beschreiben ist die komplexe sozialpsychologische Wirkung der Französischen Revolution, welche den „Hesperus“ zu einem der erfolgreichsten Romane seiner Zeit werden ließ. Vor dem epochalen Panorama der radikalen gesellschaftlichen Umbrüche in Frankreich entwickelte insbesondere das deutsche Publikum eine spezielle Seelenlage und psychologische Bedürfnisse, welche in den Schriften Jean Pauls ihren Ausdruck fanden. Eine nicht nur literaturwissenschaftlich orientierte Jean-Paul-Biografie darf auf die behutsame Erörterung von Krankheitsbildern wie Diabetes, Migräne und Alkoholmissbrauch nicht verzichten. Aber auch der mittlerweile wissenschaftlich häufig diskutierte enge biografische und geistige Bezug Jean Pauls zur „heiligen Musik“ wird thematisiert. Vor allem jedoch gilt der Blick seinem politischen Selbstverständnis, und zwar nicht nur in literarischer Hinsicht. So war die Coburger Regierungskrise ein Fallbeispiel für die Reformbedürftigkeit eines deutschen Staates beim Eintritt in das bürgerliche Zeitalter. Vor diesem gesellschaftlichen Umbruch zeichnet sich Jean Pauls politische Haltung deutlicher ab als in einigen seiner Schriften, von denen man weiß, dass sie unter dem Druck der Zensur entstanden. Die Grundlage vorliegender Lebensbeschreibung ist die Vierte Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe „Briefe an Jean Paul“, welche seit dem Jahr 2003 in Text- und Kommentarbänden von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Norbert Miller herausgegeben wird. Diese Edition führt die seit 1928 wesentlich mit dem Namen Eduard Berend verbundene Historisch-kritische Ausgabe „Jean Pauls Sämtliche Werke“ fort. Die Arbeitsstelle Jean-Paul-Edition am Institut für deutsche Philologie an der Universität Würzburg erforscht indes anhand von Modelleditionen die gene10  Vorwort

tische Textstruktur und den Werkstattcharakter der Schriften Jean Pauls. In der Einleitung wird davon ausführlich die Rede sein. Wir wollen hier jedoch nicht der Neigung Jean Pauls zu langen Vorreden folgen. Gedankt für den Anstoß zur Erarbeitung einer modernen JeanPaul-Biografie sei Harald Liehr, M. A. vom Böhlau Verlag. Mein besonderer Dank gilt Dr. Günter Arnold (Klassik Stiftung Weimar/ Mitarbeiter der Abteilung Editionswesen) für fachliche Ratschläge sowie Prof. Dr. Markus Bernauer (Projektleiter der Jean-Paul-Edition bei der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften) für die Führung durch die Arbeitsgruppe. Das Buch ist Prof. Dr. Norbert Miller (Berlin) gewidmet, dem ich für die fachliche Betreuung danke. Dr. Michael Zaremba

Berlin, im Februar 2012

Vorwort  11

Einleitung

Bei Gesprächen über Jean Paul beschränkt sich die Werkkenntnis häufig auf Erzählungen wie „Schulmeisterlein Wutz“, „Quintus Fixlein“ und „Katzenbergers Badereise“, ohne dass weitere Schriften von seiner Hand bekannt wären. Erinnert werden Episoden mit skurrilen Sonderlingen und Bildungsphilistern, die in der Art des Biedermeier anmutenden Wohnstuben leben oder idyllische Landschaften durchqueren, welche Gemälden von Carl Spitzweg entstammen könnten. Ein Grund für die häufig anachronistische Verbindung von Jean Pauls Werk mit dem Biedermeier liegt in dem teilweise erheblichen Umfang und der Komplexität seiner Romane, welche deren Thematisierung an den Schulen und Universitäten erschwert. Die Medien begünstigen die einseitige Wahrnehmung, wenn sie mit gut gemeinten Jean-PaulVerfilmungen das öffentliche Bild des gebürtigen Oberfranken auf ein Kaspertheater für Erwachsene verengen. Zudem verweigert sich Jean Pauls Werk jeglicher schablonenhaften Zuordnung und literarischen Kanonisierung. Denn im Vergleich etwa mit den so genannten Weimarer Klassikern bieten seine Schriften weder Dramen noch Lyrik – wenn man einmal von den Streckversen oder Polymetern im Roman „Flegeljahre“ absieht. Aus dem öffentlichen Bewusstsein ausgeblendet blieben weitgehend die politischen, philosophischen und pädagogischen Schriften, welche nur schlecht zu dem (vermeintlich) betulichen Bild dieses Autors passen. An diesem Befund vermochten auch diverse wissenschaftliche Publikationen nur wenig zu ändern. Der Höhepunkt von Jean Pauls Schaffenskraft und Publikumserfolg war jedoch nicht das Biedermeier, sondern die neunte Dekade des 18. Jahrhunderts, als ihm der Verkaufserfolg des „Hesperus“ den Rang eines Bestsellerautors eintrug. Tatsächlich avancierte der bis dahin weitgehend unbekannte Schriftsteller in den 1790er Jahren zu einem Erfolgsautor, der den – neben Goethes „Werther“ – meistverkauften deutschsprachigen Roman seiner Zeit publizierte. Innerhalb weniger Jahre erklomm Jean Paul den Parnass der deutschen Literatur, erEinleitung  13

schrieb sich eine Fangemeinde, die mit hoher emotionaler Beteiligung seine Schriften las. Der Autor aus dem Fichtelgebirge wurde zu einer Kultfigur: Es entstand eine Mode à la Jean Paul, man wünschte sich einen Haushund der Rasse Spitz und fieberte jeder Veröffentlichung des verehrten Autors entgegen. Gleichwohl erfolgte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Abwertung Jean Pauls, die nicht zuletzt in dem teilweise erheblichen Umfang seiner Romane und dem abschweifenden Erzählstil begründet war. Eine weitere Schwierigkeit der Rezeption liegt in seiner geistesgeschichtlichen Position im Übergang von der Aufklärung zur Klassik und Romantik. Die beliebte germanistische Übung, Jean Pauls Rolle in den intellektuellen Strömungen seiner Zeit zu bestimmen, darf jedoch keinesfalls seine Wurzeln in der Aufklärung übersehen, deren Anhänger er zeitlebens blieb. Zweifellos hat Wolfgang Harich mit der Politisierung von Jean Pauls „heroischen Romanen“ – „Die Unsichtbare Loge“, „Hesperus“, „Titan“ – grundsätzlich den richtigen Weg gewiesen, aber deren Deutung als Utopien, denen die revolutionäre Verwirklichung mangelt, gilt in dieser Pointierung nur für die mittlere werkgeschichtliche Phase, wie Harich selbst einräumt. Jean Pauls von der Aufklärung bestimmtes politisches Selbstverständnis kann nicht pauschal als revolutionär bezeichnet werden, dafür hatte er in der Adelsschicht zu viele Kunden und gute Freunde. Die Marseillaise haben die meisten seiner Leser nicht einmal gepfiffen, geschweige denn gesungen. Gleichwohl spiegeln Jean Pauls Erzählungen einen melancholischen Optimismus, der Ende des 18. Jahrhunderts die Seelenlage der Deutschen bestimmte. Dieser zwischen politisch-ökonomischen Reformerwartungen und weinerlichem Pathos schwankenden, in bürgerlichen und adeligen (vor allem weiblichen) Milieus unterschwellig vorhandenen überspannten Empfindsamkeit einen künstlerischen Ausdruck verschafft zu haben, war ein wesentlicher Grund seines Erfolges. Das durch die Ereignisse der Französischen Revolution verunsicherte deutsche Lesepublikum tanzte – wenigstens in Gedanken – um Freiheitsbäume, aber bei den glühenden zelotischen Flammen auf den Angesichtern handelte es sich nicht selten um Akne-Pickel. 14  Einleitung

Über zweihundert Jahre nach der Französischen Revolution sind die komplexen psychosozialen und emotionalen Verwerfungen jener Epoche nur schwer nachzuvollziehen. Jean Pauls larmoyanter Subjektivismus, seine Spießerpersiflagen und apokalyptischen Bilderstürze verliehen augenscheinlich den Bilder- und Gefühlsstürmen der Leserschaft eine künstlerische Gestalt, in der sie ihre Verunsicherungen wie in einem Spiegel erkennen konnte. Aber er hatte nicht nur Anhänger, und auch heute noch scheiden sich die Geister an dem Schriftsteller Jean Paul, trifft kalte Ablehnung auf tiefe Verehrung. Tatsächlich wird die ästhetische Urteilskraft von keinem Autor der Zeit um 1800 so herausgefordert wie von dem Mann aus Wunsiedel. Bereits im 18. Jahrhundert waren sich die Klügsten in ihrem Urteil über ihn uneinig. So lobt Georg Christoph Lichtenberg im „Sudelbuch“ von 1796 den fränkischen Autor als „außerordentlichen Kopf“, aber weiter heißt es: „Jean Paul ist doch zuweilen unerträglich, und wird noch unerträglicher werden, wenn er nicht bald dahin gelangt, wo er ruhen muß … Wenn er wieder von vorn anfängt, wird er groß werden.“ Einige Hommes de lettres, die ihn persönlich kannten und schätzten, mochten ebenfalls seine Schriften: So empfiehlt Wieland ausdrücklich das „Campanertal“ zur Lektüre und würdigt den umstrittenen Autor in der Schrift „Gespräche unter vier Augen“ durch Anspielungen auf den Roman „Siebenkäs“. Und Herder reiht ihn sogar in der Zeitschrift „Adrastea“ – neben Cervantes, Swift, Voltaire und Sterne – in die Genealogie der bedeutendsten europäischen Prosa-Autoren ein. Arg getroffen fühlte sich Jean Paul durch die Kritik Friedrich Schlegels in der 1798 publizierten Zeitschrift „Athenäum“. Vermittels einer öffentlichen Gegendarstellung hoffte er jedoch, den „ästhetischen Kopfabschneider“ Schlegel erfolgreich „auf die Schnauze geschlagen“ zu haben. Die „Athenäum“-Textpassage lohnt wegen ihres hellsichtigen, bei aller Schärfe durchaus abwägenden Urteils zitiert zu werden: „Der große Haufen liebt Friedrich Richters Romane vielleicht nur wegen der anscheinenden Abentheuerlichkeit. Überhaupt interessiert er wohl auf die verschiedenste Art und aus ganz entgegengesetzten Ursachen. Während der gebildete Oekonom edle Thränen in Menge bei Einleitung  15

ihm weint, und der strenge Künstler ihn als das blutrothe Himmelszeichen der vollendeten Unpoesie der Nazion und des Zeitalters haßt, kann sich der Mensch von universeller Tendenz an den grotesken Porzellanfiguren seines wie Reichstruppen zusammengetrommelten Bilderwitzes ergötzen, oder die Willkührlichkeit in ihm vergöttern. Ein eigenes Phänomen ist es, einen Autor, der die Anfangsgründe der Kunst nicht in der Gewalt hat, nicht ein Bonmot recht ausdrücken, nicht eine Geschichte gut erzählen kann, nur so was man gewöhnlich gut erzählen nennt, und dem man doch schon um eines solchen himmlischen Dithyrambus willen, wie der Adamsbrief des trotzigen, kernigen, prallen, herrlichen Leibgeber, den Namen eines großen Dichters nicht ohne Ungerechtigkeit absprechen dürfte. Wenn seine Werke auch nicht übermäßig viel Bildung enthalten, so sind sie doch gebildet … Sein Schmuck besteht in bleyernen Arabesken im Nürnberger Styl. Hier ist die an Armuth gränzende Monotonie seiner Fantasie und seines Geistes am auffallendsten: aber hier ist auch seine anziehende Schwerfälligkeit zu Hause, und seine pikante Geschmacklosigkeit, an der nur zu tadeln ist, daß er nicht um sie zu wissen scheint. Seine Madonna ist eine Küstersfrau, und Christus scheint wie ein aufgeklärter Candidat. Je moralischer seine poetischen Rem­ brandts sind, desto mittelmäßiger und gemeiner; je komischer, je näher dem Bessern; je dithyrambischer und je kleinstädtischer, desto göttlicher: denn seine Ansicht des Kleinstädtischen ist vorzüglich gottesstädtisch. Seine humoristische Poesie sondert sich immer mehr von seiner sentimentalen Prosa; oft erscheint sie gleich eingestreuten Liedern als Episode, oder vernichtet als Appendix das Buch. Doch zerfließen ihm immer noch zu Zeiten gute Massen in das allgemeine Chaos.“ Johann Wolfgang Goethes Urteil über Jean Paul fällt ebenfalls schwankend aus. Nach einer anfänglich negativen Einschätzung, welche durch die persönliche Begegnung eher verstärkt wurde, sah er anlässlich der morgenländischen Spurensuche in den „Noten und Abhandlungen zum Divan“ in Jean Paul einen „fruchtbaren Schriftsteller“ mit „Talent von Wert, als Mensch von Würde … ein Mann, der des Orients Breite, Höhen und Tiefen durchdrungen“, dessen 16  Einleitung

„orientalische Weise“ die seltsamsten Bezüge hervorruft. Als Nachweis preist Goethe den Basar kurioser, dem „Hesperus“ entnommener Wortbildungen. Auch Eckermanns „Gespräche mit Goethe“ konzedieren dem verhinderten Orientalen Jean Paul, dass er aus „Geist des Widerspruchs, Wahrheit aus seinem Leben geschrieben“, – jedoch als „ein Philister“. Durchaus abschätzig äußert sich hingegen Jahrzehnte später Friedrich Nietzsche, der in „Menschliches, Allzumenschliches II“ Jean Pauls „widerliche Thränenbrühe“ und „Witzlosigkeit“ schilt und ihn als das „bunte starkriechende Unkraut“ auf den Fruchtfeldern Schillers und Goethes, ja als „ein Verhängnis im Schlafrock“ abkanzelt. Unter den ausländischen Philosophen des 19. Jahrhunderts verdankt vor allem der dänische Philosoph Søren Kierkegaard Jean Paul wesentliche Anregungen für sein eigenes Schaffen; so ähnelt der Lebensekel, Unglauben und Widerspruchsgeist des „Titan“-Protagonisten Roquairol auffallend der moralisch indifferenten Haltung des „Ästheten“ Johannes in der Schrift „Entweder-Oder“. Ludwig Börne hingegen verhieß dem umstrittenen Autor für das nächste Jahrhundert eine gute Zukunft, erhoffte er doch in Jean Pauls visionärer politisch-pädagogischen Ausrichtung, die sich auch vor zeitgeschichtlichen Reflexionen nicht scheute, ein Gegengewicht zu Goethe, dessen Zurückhaltung in patriotischer Hinsicht von vielen Intellektuellen als Hemmschuh der nationalen Entwicklung betrachtet wurde. In der Denkrede von 1825 heißt es: „Wir hatten Jean Paul, und wir haben ihn nicht mehr, und in ihm verloren wir, was wir nur in ihm besaßen: Kraft und Milde, und Glauben und heiteren Scherz, und entfesselte Rede. Das ist der Stern, der untergegangen: der himmlische Glaube, der in dem Erloschenen uns geleuchtet. Das ist die Krone, die herabgefallen: die Krone der Liebe, die den beherrschte, der sie getragen, wie alle, die ihm untertan gewesen. Das ist das Schwert, das gebrochen: der Spott in scharfer Hand, vor dem Könige zittern, und der blutleere Höflinge erröten macht. Und das ist der Hohepriester, der für uns gebetet im Tempel der Natur – er ist dahingeschieden, und unsere Andacht hat keinen Dolmetscher mehr. Wir wollen trauern um ihn, den wir verloren, und um die anderen, die ihn nicht verloren. Einleitung  17

Nicht allen hat er gelebt! Aber eine Zeit wird kommen, da wird er allen geboren, und alle werden ihn beweinen. Er aber steht geduldig an der Pforte des 20. Jahrhunderts und wartet lächelnd, bis sein schleichend Volk ihm nachkomme. Dann führt er die Müden und Hungrigen ein, in die Stadt seiner Liebe; er führt sie unter ein wirtliches Dach: die Vornehmen, verzärtelten Geschmacks, in den Palast des hohen Albano; die Unverwöhnten aber in seines Siebenkäs enge Stube, wo die geschäftige Lenette am Herde waltet und der heiße, beißende Wirt mit Pfefferkörnern deutsche Schüsseln würzt.“ Jean Pauls Pförtner an der Tür zum 20. Jahrhundert war Stefan George, der ihm gemeinsam mit dem Schriftsteller und Übersetzer Karl Wolfskehl im Jahre 1900 den aufwändig gestalteten ersten Band der Reihe „Deutsche Dichtung“ widmete. Bereits vier Jahre zuvor hatte George in einer Lobrede Jean Paul – neben Mallarmé, Verlaine und Hölderlin – in den Parnass der europäischen Geisteskultur aufgenommen. In dem für George typisch hymnischen Ton heißt es mit eigenwilliger Interpunktionsarmut: „Von einem dichter will ich euch reden einem der grössten und am meisten vergessenen und aus seinem reichen vor hundert jahren ersonnenen lebenswerk einige seiten lösen von überraschender neuheit unveränderlicher pracht und auffallender verwandtschaft mit euch von heute damit ihr wieder den reinen quell der heimat schätzen lernet und euch nicht zu sehr verlieret in euren mennigroten wiesen euren fosfornen gesichtern und euren lila-träumen … Wenn Du höchster Goethe mit Deiner marmornen hand und Deinem sicheren schritt unsrer sprache die edelste bauart hinterlassen hast so hat Jean Paul der suchende der sehnende ihr gewiss die glühendsten farben gegeben und die tiefsten klänge.“ Ein George-Gedicht auf Jean Paul in dem graphisch anspruchsvollen Folio-Band „Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod“ ergänzte das Bestreben, den Dichter dem Vergessen zu entreißen. Jean Paul war nun zwar endgültig im Parnass der Deutschen aufgenommen, aber eine nennenswerte Wirkung blieb ihm versagt. Für seine Popularisierung sorgten hingegen Hermann Hesses Werkausgaben, Rezensionen und Aufsätze sowie eine Anspielung im Roman „Steppenwolf“. Von Hesse, der besonders den „Siebenkäs“, die 18  Einleitung

„Flegeljahre“ und den „Titan“ schätzte, stammt das Diktum von dem „wahren Urwald von Poesie“ in Jean Pauls Werken. Sowohl die Beiträge des George-Kreises wie auch diejenigen Hermann Hesses hatten Jean Paul auf dessen Funktion als Erzähler reduziert, ein differenziertes, gleichsam polyphones Bild des Autors gab es nicht. Der erste Literaturwissenschaftler, dem wir eine differenzierte, die Modernität Jean Pauls betonende Gesamtschau verdanken, ist Max Kommerell, der sich bereits in seiner Dissertation mit dem Verhältnis Richters zu Rousseau auseinandergesetzt hatte und im Jahre 1933 ein Schlüsselwerk zum Verständnis des fränkischen Autors vorlegte. Wie niemand zuvor betonte Kommerell, dass der literarische Horizont Jean Pauls dessen bloße Funktion als Erzähler übersteigt, die Berücksichtigung der politischen, philosophischen und pädagogischen Schriften zu einem genaueren Verständnis seines Lebens und Schaffens notwendig ist. Erforderlich war eine systematische Aufarbeitung des Gesamtwerkes. Die Jean-Paul-Forschung ist mit dem Namen Eduard Berend verbunden. Das Schicksal des 1883 in Hannover geborenen Literaturhistorikers jüdischer Herkunft ist ein Spiegel der Irrungen und Wirrungen deutscher Germanistik – und sicher nicht ihr Ruhmesblatt. Denn nicht wenige Vertreter der gelehrten Fachwelt legten seine jüdische Herkunft als Makel aus. Berend hatte zunächst Naturwissenschaften studiert und sich schließlich in München, ab 1903 in Berlin für das Fach Deutsche Philologie eingeschrieben. In einer Zeit, in der die Germanistik den strengen Positivismus zu überwinden suchte, wurde Berend im Jahre 1907 mit einer Dissertation zum Thema „Die Ästhetik Jean Pauls“ promoviert, welche ein Jahr später unter dem Titel „Jean Pauls Verhältnis zu den literarischen Parteien seiner Zeit“ erschien und die Unparteilichkeit des Dichters im literarischen Beziehungsgeflecht seiner Zeit betonte. Die Arbeit, hervorgegangen aus intensivem Quellenstudium, folgt weitgehend der dem naturgesetzlichen Denken nahestehenden Methode des Philologen Franz Muncker, der bereits 1889 für die Allgemeine Deutsche Biographie den Jean-Paul-Beitrag verfasst hatte.

Einleitung  19

Nach einer ausgedehnten Italienreise begann Berend seine Karriere als Jean-Paul-Herausgeber mit der Edition der „Vorschule der Ästhetik“ sowie mehreren Beiträgen und Rezensionen. Im Jahre 1913 erschien beim Verlag Georg Müller eine Anthologie zeitgenössischer Berichte: „Jean Pauls Persönlichkeit“. Berends eigentliches Ziel war die Erarbeitung einer wissenschaftlichen Jean-Paul-Ausgabe, denn bisher lag lediglich die 65-bändige, teilweise von Jean Paul selbst sowie seinem Neffen, dem Schriftsteller Richard Otto Spazier, und dessen Schwiegersohn, dem Maler und Kunsthistoriker Ernst Förster, veranstaltete erste Gesamtausgabe vor, welche von 1826 bis 1838 beim Verlag Georg Reimer in Berlin erschienen war. Außerdem gab es die 1868 bis 1874 in der Reihe „Bibliothek sämmtlicher deutschen Classiker“ publizierte Edition des Verlages Gustav Hempel. Für das 19. Jahrhundert sind als biografische Beiträge Richard Otto Spaziers im Zusammenhang mit der Werkausgabe publizierte „biographische Commentare zu dessen Werken“ (1833) sowie die Lebensbeschreibung von Paul Nerrlich (1889) zu nennen. Die Vorgeschichte der Historisch-kritischen Edition reicht in das Jahr 1899 zurück, als der bayerische Theologe und Literaturwissenschaftler Josef Müller den verehrten Autor zu einem süddeutschen Nationaldichter küren wollte. Die Zeitschrift „Süddeutsche Monatshefte“, in welcher die Diskussion ausgetragen wurde, gehörte zum Verlag Georg Müller, der sich für die Veranstaltung einer Edition anbot. Auch die Forderung nach Gründung einer Jean-Paul-Gesellschaft und eines Archivs ist auf Josef Müller zurückzuführen, der den fränkischen Dichter als „universalen Geist“ und „religiösen wie politischen Erwecker“ – gleichrangig neben Goethe, Herder, Schiller und Wieland – kanonisieren wollte. Eduard Berend, von Müllers verklärenden Motiven abgestoßen, erstrebte hingegen eine möglichst wertneutrale wissenschaftliche Auswahl unter Verwendung teilweise noch unveröffentlichten Materials. Im Jahre 1910 legte er dem seinerzeit frisch habilitierten Privatdozenten für Deutsche Philologie an der Universität München, Julius Petersen, seinen Entwurf vor. Das Projekt blieb jedoch unverwirklicht. Die Abfassung einer Biografie lehnte Berend mit dem (freilich umstritte20  Einleitung

nen) Hinweis ab, dass ein angemessenes Bild des Dichters nur durch die Eigenleistung des Lesers entstehen könne, denn die wertende Tendenz einer Lebensbeschreibung widerspräche der wissenschaftlichen Objektivität. Der Dramatiker und Schriftsteller Herbert Eulenberg verspottete öffentlich die „Persönlichkeits“-Anthologie von Berend, attackierte aber auch den Eklektizismus Georges und Wolfskehls und publizierte schließlich selbst eine Text-Auswahl. Berend, der sein Streben nach Objektivität und historischer Genauigkeit nun erst recht unter Beweis stellen wollte, erarbeitete gemeinsam mit Julius Petersen den Plan einer Historisch-kritischen Gesamtausgabe, welcher mit der Bitte um finanzielle Unterstützung an die Preußische Akademie der Wissenschaften weitergeleitet wurde. Das offizielle Gesuch von April 1914 wurde von Petersen unterzeichnet. Führende Hochschulgermanisten wie Franz Muncker unterstützten das Vorhaben, so dass die Gelder schließlich bewilligt wurden. Berend leistete die philologische Kärr­ nerarbeit mit hoher Leistungsverpflichtung und prekärer Bezahlung (er musste die Apparatbände ohne eigene Entlohnung erstellen), während Petersen als etablierter Hochschulgermanist die Aufsicht führte. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges sagten die Deutsche Akademie in München sowie die in Bayreuth gegründete Jean-Paul-Gesellschaft dem Vorhaben ihre Unterstützung zu. Als geeigneter Verlag fand sich Hermann Böhlaus Nachfolger in Weimar. Nachdem Eduard Berend zum 100. Todesjahr Jean Pauls eine Bibliographie des Autors publiziert hatte, veröffentlichte er zwei Jahre später in den Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften „Prolegomena zur Historisch-kritischen Gesamtausgabe von Jean Pauls Werken“. Vorgesehen war die Gliederung der Edition in drei Segmente: Die erste Abteilung sollte vom Dichter veröffentlichte Werke, die zweite die nachgelassenen Schriften, die dritte seine Briefe enthalten. Im Jahre 1927 lag der erste Band „Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe“ vor, herausgegeben von der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Deutschen Akademie und der Jean-Paul-Gesellschaft. Dem Band, der die satirischen

Einleitung  21

Jugendwerke enthält, ist ein Vorwort von Petersen vorangestellt, gefolgt von einer Einführung durch Berend. Es ist hier nicht der Ort, die komplexe Entstehungsgeschichte der 33-bändigen Historisch-kritischen Edition zu schildern. Erwähnt sei jedoch, dass bis zum Jahre 1939 21 Bände erschienen, also in der Regel die stattliche Anzahl von zwei Bänden pro Jahr, obwohl sich Berend als Jude in seiner Arbeit zunehmend behindert fühlte und im Herbst 1938 sein Vertrag mit der Akademie gekündigt wurde. In den 1934 bis 1938 publizierten Bänden fehlt sein Name als Herausgeber. Berend wurde im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert, das er jedoch – bei Androhung lebenslänglicher Inhaftierung – im Dezember 1938 verlassen durfte, weil gültige Ausreisepapiere vorlagen. Die Emigration überstand er mit geringem Einkommen in Genf. Nach dem Kriegsende begann Berend im Auftrage der Deutschen Akademie der Wissenschaften mit der Edition der auf acht Bände geplanten Briefausgabe und übernahm 1957 die Leitung des Marbacher Jean-Paul-Archivs. Im Jahre 1964 erschien der abschließende neunte Band der dritten Abteilung mit Nachträgen, Berichtigungen, Ergänzungen und einem Register. Nach Berends Tod im September 1973 übernahm das Deutsche Literaturarchiv in Marbach seinen Nachlass. Zum 100. Todestag des Dichters war in Bayreuth die Jean-PaulGesellschaft gegründet worden. Hervorgegangen aus dem so genannten „Rollwenzel-Kreis“, bot der Verein lokalpatriotisch gesinnten Oberfranken, aber auch professionellen Germanisten eine Institution der Verehrung und Forschung. Eduard Berend blieb nur einfaches Beitragsmitglied, er publizierte jedoch bis 1932 mehrfach Beiträge in der Vereinsschrift „Jean-Paul-Blätter“. Dem Beirat der Gesellschaft gehörte unter anderem der Literaturhistoriker Walther Harich an, der zum Jubiläumsjahr 1925 eine Jean-Paul-Biografie und einen „Idyllen“Band publiziert hatte. Die Jean-Paul-Gesellschaft war indes nicht frei von internen Spannungen, welche die sozialen und politischen Widersprüche am Ende der Weimarer Republik widerspiegelten. Viele Mitglieder waren geneigt, ihr Jean-Paul-Bild der NS-Propaganda anzudienen, die den Verehrten als einen „urdeutschen“ Dichter verstand. Berend, ein dekorierter Weltkriegsveteran jüdischer Herkunft, distan22  Einleitung

zierte sich von Bayreuth und gründete eine Berliner Ortsgruppe. Heute trägt die Jean-Paul-Gesellschaft durch ihr Jahrbuch, alljährliche Treffen zum Geburtstag des Dichters sowie vielfältige kulturelle Aktivitäten zur öffentlichen Verbreitung der Kenntnis über Jean Paul bei. Eine zentrale Einrichtung zur wissenschaftlichen Aufarbeitung des Werkes ist die „Arbeitsstelle Jean-Paul-Edition“ am Institut für deutsche Philologie an der Universität Würzburg, wo ein digitales Textarchiv zur Erschließung aller Erstdrucke des Autors erarbeitet wird (die Berend-Edition enthält hingegen die Ausgaben „letzter Hand“). In Zusammenarbeit mit der Staatsbibliothek zu Berlin wird auch die digitale Dokumentation des Nachlasses vorbereitet. Das aus Exzerptbänden, Sammelbüchern, Studienheften, Entwürfen, Textfragmenten, Rezensionen, persönlichen Notizen und Briefkonzepten bestehende Konvolut wird in einem Verzeichnis katalogisiert, dessen erster Band im Jahre 2002 publiziert wurde. Zu beachten ist, dass Jean Paul mit zirka 40.000 (sic!) Schriftseiten zu den quantitativ produktivsten Autoren der klassisch-romantischen Literaturepoche gehört. Die Exzerptsammlung enthält Studienhefte und Skizzen zu sämtlichen zu Lebzeiten des Dichters publizierten Romanen. Allein zum „Titan“ liegt eine Sammlung von mehr als 1.000 bisher weitgehend unveröffentlichten Manuskriptseiten vor. Eduard Berends editorische Leistungen blieben in der Fachwelt nicht ohne Kritik. So beklagte man die fehlende Detailbeschreibung des Materials sowie die ausschließliche Fokussierung auf die Fassungen letzter Hand, wodurch die genetische Werkstruktur nur unzulänglich erschlossen wird. Deshalb beschloss man die Erarbeitung einer neuen Werkausgabe, die zugleich in Teilen als Nachlassedition konzipiert war. So werden an der Universität Würzburg durch Mitarbeiter des Projekts „Exzerpthefte“ die insgesamt zirka 12.000 Manuskriptseiten transkribiert und digitalisiert, und in Zusammenarbeit mit der Staatsbibliothek zu Berlin entsteht eine Buch-Edition zentraler Texte „mit autortypischen, editorischen Schlüsselphänomenen“. Modell-Edition ist der „Hesperus“, dessen Entstehungsgeschichte anhand eines Vergleiches der vorliegenden drei Fassungen dargestellt wird, gefolgt von „Siebenkäs“, „Titan“, „Komet“ und der „Vorschule Einleitung  23

der Ästhetik“. Das Projekt zielt auf die digitale Bereitstellung aller relevanten Primärtexte mit sämtlichen unveröffentlichten Werk-Vorarbeiten, wofür am germanistischen Institut im Bereich EDV-Philologie ein spezifisches Satzmodell entwickelt wurde. Eine andere Würzburger Arbeitsstelle widmet sich der wissenschaftlichen Aufarbeitung des – nach seiner Entstehungsgeschichte – besonders komplexen Romans „Leben Fibels“ sowie der Textgenese der beiden Fassungen der „Vorschule der Ästhetik“. Die Arbeitsstelle Jean-Paul-Edition der Universität Bayreuth bereitet eine ebenfalls textgenetisch angelegte Ausgabe des Romans „Leben des Quintus Fixlein“ vor. Virtuelle Anlaufstelle der Forschung ist die Website www.jean-paul-portal.de. Jean Paul hätte derartige Forschungen zur Textgenese sicher gutgeheißen, hat er doch (freilich mit satirischem Unterton) in den „Palingenesien“ im „Offenen Brief an Leibgeber“ einen „guten Kritiker“ erhofft, der zwischen seinen Texten „jede Abweichung und Variante treu aufsummierte“. Die „Jean Paul Edition“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erschließt in Abteilung IV der Historischkritischen Ausgabe sämtliche überlieferten Briefe an Jean Paul, um die bisher vorliegenden Briefe von Jean Paul komplementär zu ergänzen. Die zirka 2.200 teilweise bisher unbekannten Schreiben stammen von annähernd 400 Korrespondenten, zu denen so bekannte Personen wie Friedrich Heinrich Jacobi, Caroline und Johann Gottfried Herder, Charlotte von Kalb, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, die preußische Königin Luise, Rahel Levin Varnhagen, Achim von Arnim und E. T. A. Hoffmann gehören. Der Briefwechsel mit Jugendfreunden, Verlegern und den Lesern seiner Bücher wird ebenfalls berücksichtigt. Die Briefe werden in chronologischer Abfolge in acht Bänden mit Text, Kommentar und Register veröffentlicht. Die gesamte Korrespondenz wird parallel zum Erscheinen der Briefedition im „Potsdamer JeanPaul-Register“ kumulativ erschlossen und ist online abrufbar. An der Universität Magdeburg wird eine Edition kulturgeschichtlich relevanter Briefwechsel aus Jean Pauls Freundes- und Familienkreis erarbeitet. Dazu gehört die Korrespondenz seiner Frau Caroline, ihres Vaters (des preußischen Geheimen Obertribunalrat Johann 24  Einleitung

Mayer), des Bayreuther Freundes Emanuel Osmund und des Violinisten und Autors Paul Emil Thieriot. Die Publikation der bisher kaum bekannten zirka 600 Briefe weist Jean Paul als Teil eines umfassenden Kommunikationsnetzes aus und dürfte das von dem Germanisten Friedrich Sengle in seiner Wielandbiografie geäußerte Urteil über den oberfränkischen Dichter als „Inbegriff eines deutschen Eigenbrötlers“ infrage stellen. Der Popularisierung Jean Pauls dienen in seiner Heimat zahlreiche Gedenkorte und Museen, dazu gehört das durch den Arzt und Sammler Philipp Hausser im Wohn- und Sterbehaus des Dichters eingerichtete Jean-Paul-Museum. Ein Jean-Paul-Verein Bayreuth e. V. sowie zahlreiche kulturelle Einrichtungen, die den Namen des Dichters tragen, bezeugen die Verbundenheit der Bayreuther zu ihrem poetischen Landsmann. Weitere Gedenkorte bieten das Wunsiedeler Fichtelgebirgsmuseum sowie das mit zahlreichen Erstausgaben und einer umfangreichen Handbibliothek bestückte, liebevoll geführte private Jean-Paul-Museum in Joditz. Ein Jean-Paul-Wanderweg führt vom Hofer Schlossplatz entlang der Saale nach dem Dorfplatz von Joditz – diese Tour sollte in Jean-Paul-Manier „mit einem passenden Quersack auf dem Rücken“ zurückgelegt werden. Ein Wanderweg von Hof nach Schwarzenbach mit „literarischen Stationen“ sowie ein „Jean-Paul-Rundweg“ befriedigen touristische Bedürfnisse. Interessierten, die sich außer einem bio- und topografischen Überblick vor Ort auch ein umfassendes Bild von Jean Pauls Werken verschaffen möchten, sei die 1975 beim Verlag Carl Hanser publizierte 12-bändige Werkausgabe oder das Internet-Projekt „Gutenberg.de“ empfohlen. Alle zwei Jahre würdigt der Freistaat Bayern das künstlerische Gesamtwerk eines Schriftstellers durch die Verleihung des Jean-Paul-Preises. Wissenschaftliche Editionen und Berge von Sekundärliteratur vermögen indes kaum das breite Publikum für einen Autor zu begeistern. Zur Popularisierung Jean Pauls diente nach 1945 jedoch dessen Funktion als Vorbild für so namhafte Autoren wie Helmut Heißenbüttel, Walter Höllerer, Günter de Bruyn, Rolf Vollmann und Hanns-Josef Ortheil, deren Schriften, freilich jeweils auf eigentümliche Weise, dem Einleitung  25

Erbe des fränkischen Dichters verpflichtet sind. Die Tatsache, dass Jean Pauls Werk in dem Zeitraum von 1960 bis 1980 häufiger verlegt wurde als in der gesamten Zeitspanne seit seinem Tode, belegt dessen intensive Aufnahme in der Nachkriegszeit. Die Wirkung blieb indes nicht auf Intellektuelle, zeitgenössische Autoren und Germanisten beschränkt, sondern umfasste ein interessiertes Publikum, welches das eigenwillige Lese-Vergnügen eines unverstaubten Autors für sich entdeckte. Es dürfte nicht übertrieben sein, die literarische Wirkung Jean Pauls als einen Bestandteil der europäischen Rezeptionsgeschichte zu verstehen. Zu einem modernen Jean-Paul-Bild gehört die bisher von der biografischen Zunft weitgehend vernachlässigte Bedeutung der Musik für das Leben und Schaffen des Dichters, des „unermeßlichen Äthers der Tonkunst“, wie es im vierten Band der „Flegeljahre“ heißt. Denn Jean Paul war nicht nur ein Freund der Muse Aoide und beherrschte das Pianoforte so gut, dass er vor dem Hildburghauser Hof frei fantasieren durfte, sondern die vielfältigen musikalischen Motive und Anspielungen in seinen Schriften und Briefen bekunden eine intime Leidenschaft. Jean Paul kannte die Musiktheorien Bachs ebenso wie die spektakulären physikalischen Versuche Ernst Chladnis, Musik sichtbar zu machen. Herders musiktheoretische Beiträge, wie der Text „Ob Malerei oder Tonkunst eine größere Wirkung gewähre?“ in der Sammlung „Zerstreute Blätter“, waren ebenso maßgeblich für sein Schaffen wie die Gespräche mit dem Komponisten Reichardt und dem genialischen Geigen-Virtuosen Thieriot. Neue wissenschaftliche Beiträge – wie die Diskussion über das Aufsatz-Fragment „Über Musik“ – bezeugen die Bedeutung interdisziplinärer Forschung für die Erschließung eines Gesamtbildes von Jean Paul. In einer Rezension der „Allgemeinen Musikalischen Zeitung“ von 1825 wird Ludwig van Beethoven als „unser musikalischer Jean Paul“ bezeichnet. Diese Würdigung verdankt sich nicht zuletzt den umfassenden musiktheoretischen Erörterungen, welche die 1804 publizierte Erstausgabe der „Vorschule der Ästhetik“ enthält. Robert Schumann verglich die „Flegeljahre“ sogar mit der Heiligen Schrift. Die Brüder Walt und Vult gelten als Vorlage für dessen musikkritische Fantasiefi26  Einleitung

guren Florestan und Eusebius, und das Diktum des Komponisten: „Man müsste Musik von innen heraus hören“, könnte von Jean Paul stammen. Schumanns Exemplar der „Flegeljahre“ ist mit reichlichen Anmerkungen versehen, er exzerpierte eifrig und wurde durch den Roman zur Komposition von Opus 2, „Papillons“, inspiriert. Gustav Mahlers Vorliebe für den „Titan“ ließ ihn seine erste Sinfonie nach dem Roman benennen, deren Trauermarsch vermutlich eine Anspielung auf das Paradebegräbnis des Fürsten und den „wilden Humor“ des Grafen Schoppe ist. Dass Jean Paul auch auf zeitgenössische Komponisten wirkt, zeigt die 1999 uraufgeführte, auf dem Roman „Leben Fibels“ basierende musikalische Szenenfolge „Idyllen“. Ein renommiertes Musiktrio trägt den Namen des Dichters. Der interdisziplinäre Blick ist durch die Philosophie zu ergänzen. Denn trotz aller Neigung zur Dichtkunst blieb Jean Paul lebenslang der Weisheitslehre verbunden, ja die „Philosophie [war für ihn] früher als Dichtkunst“, wie er in einem Brief vom 3. Dezember 1799 an Friedrich Heinrich Jacobi bemerkte, dessen Schriften er neben denjenigen von Leibniz, Wolff, Baumgarten, Hamann und Kant eingehend studierte. Tatsächlich sind Jean Pauls Werke von dem spannungsreichen Wechselverhältnis zwischen Poesie und Weisheitslehre bestimmt. Die philosophische Zunft nahm Jean Paul jedoch in erster Linie lediglich als Autor der „Vorschule der Ästhetik“ wahr, die als einziges seiner Werke in der Reihe „Philosophische Bibliothek“ erschien. Seine Beschäftigung mit der philosophischen Theorie blieb indes keineswegs auf die Bücherstube beschränkt. So pflegte Jean Paul persönlichen Umgang mit dem Leipziger Philosophen Platner, mit Herder, Fichte, den Schlegels, schließlich auch mit Jacobi. Der ketzerische Luftschiffer Giannozzo hat für Philosophen und Ästhetiker allerdings nur Spott übrig, aber diese Polemik war weniger gegen die Weisheitslehre als gegen den Jargon der Systemphilosophie gerichtet, der sich ab den 1790er Jahren zunehmend etablierte. Jean Paul wollte der Poesie neben dem seinerzeit vorherrschenden philosophischen Diskurs einen eigenständigen Stellenwert sichern. So enthält § 22 der „Vorschule der Ästhetik“ die spöttische Frage: „Soll denn nur die rückende Philosophie weiterkommen, und die fliegende Dichtkunst lahm rosten?“ Einleitung  27

Der rasante Wechsel zwischen Dichtung und Philosophie, Scharfsinn und Wortmagie, Humor und Rührseligkeit, politischem Bekenntnis und pädagogischer Lehre macht sein Werk für Generationen von Deutschlehrern und notorischen Literatur-Kanonikern nahezu unbrauchbar. Tatsächlich war Jean Paul ein Autor sui generis, der sich schablonenhafter Einordnung widersetzt. Denn er war zu sehr ein Kenner der griechischen Mythologie, um nicht zu wissen, dass Calliope zugleich die Muse der Poesie, Wissenschaft und Philosophie ist – der ihre Schwester Euterpe nicht selten die Flöte leiht. Jean Paul war, wie er selbst einräumt, durch ein merkwürdiges Schicksal „an ein deutsches Schreibpult getrieben“. In der „Ankündigung der Herausgabe meiner sämtlichen Werke“ resümiert er mit heiterem Stolz, für jedes seiner 59 Lebensjahre ein publiziertes Buch vorweisen zu können. Tatsächlich war er von einer Graphomanie getrieben, die an Umfang des hinterlassenen Schrifttums ihresgleichen sucht. Dem Freund Emanuel erklärte er in einem Brief vom 9. Februar 1795 seine Neigung zum Schreiben als einen „Zwang, unsere Seele vor einer fremden abzubilden und unsere innere Quellen gerade durch einen Abflus zu – vermehren“. Diese Manie beschränkt sich indes keineswegs auf das Verfassen von Büchern, sondern ebenso auf „Briefe in dickerem Format“, nämlich die „Hauptbücher“ des Lebens, Tagebucheintragungen und Exzerpte. Wie nur selten bei anderen Autoren deutscher Sprache war für Jean Paul das geschriebene Wort ein Medium zur Konstruktion von Lebenswirklichkeit. Scribo ergo sum könnte sein Lebensmotto gewesen sein. Das Verfassen von Briefen liebte er ebenso wie die gelbe Farbe – weshalb er in einem Brief vom 13. März 1797 davon träumte, sein Leben in einem Post-Ambiente zu verbringen. Als Student hatte er in einem Brief vom 17. Januar 1783 seine Leidenschaft bekundet: „Freiheit im Denken … zeugt nicht nur gute Bücher, sondern auch gute Briefe“. Er fühlte sich derart getrieben von dem Drang zur freien Assoziation, zum ungehinderten Spiel der Gedanken, dass er sogar Voltaires Briefe dessen Schriften vorzog. Der Prosa-Hochleistungsfabrikant wollte sich jedoch durch das Schreiben nicht vom Dasein ablenken, sondern es auf neuer Ebene frei gestalten. Die riesige Menge an Manuskriptseiten, angefüllt mit Erzählungen, 28  Einleitung

Artikeln, Briefen und Exzerpten, ist kein abgesonderter Bestandteil seines Lebens, sondern macht es wesentlich aus. Jean Paul hinterließ keine Gedichte, keine Schauspiele, aber in seinem Werk verschlingen sich Drama, Prosa und Lyrik zu einem Knoten. Es waren ja nicht nur die Exzerpte, die sich, Stein auf Stein, „zu Einer Peterskirche“ wölbten, wie er in einem Brief vom 1. Oktober 1796 schrieb. Zielstrebig baute er sich eine Kathedrale aus Worten, betrieb gleichsam seine eigene sprachliche Dombauhütte. Wir sind zur Besichtigung dieser Text-Kathedrale eingeladen, dürfen seiner Gemeinde beitreten und die luziden Fensterrosen, Martyrien, grotesken Teufelsköpfe, Fratzen und Gerippe bewundern, welche Jean Pauls Werk ebenso enthält wie die Dome aus Stein. Im „Hesperus“ heißt es: „wie ein Gotteshaus den Leib Christi“ darstellt, so ist „der Gedanke die Seele, das Wort der Leib“. Er war ein gelehrter Autor mit entleerter Flasche. Zur kreativen Stimulierung dienten ihm Alkoholika, so dass er sich schließlich, wie es im „Hesperus“ heißt, nur noch von alkoholisierten Rezensenten gerecht beurteilt fühlte. Füglich könnte man seine Schriften also auch als eine Flaschenpost betrachten. Eine Bouteille Burgunder als Begleiter zum vertieften Lese-Genuss seiner Texte empfiehlt er nämlich nicht nur dem Leser, sondern auch dem gerechten Kritiker. Diese Empfehlung war durchaus ernst gemeint, denn in einer Zeit niedriger Buchauflagen mit erheblichem Verlegerrisiko dienten Rezensionen als wichtige Werbeträger. Jean Paul, der seinen Lebensunterhalt von den Erträgen aus schriftstellerischer Arbeit bestritt, hat sich denn auch wie kaum ein anderer Autor mit dem Thema „Rezensionen“ befasst. Das „Dintenfass“ wurde zu seiner „Glücksurne“, wie es in einem Brief vom 9. Februar 1802 heißt. Tatsächlich sind seine Texte von einem Rezensenten-Trauma bestimmt, das seinesgleichen sucht. So enthält der Roman „Siebenkäs“ harsche Worte über die seinerzeit übliche Anonymität der Kritiker, die in den „Flegeljahren“ als „Sünder“ und „arme, echte Gurkenmaler“ apostrophiert werden. So bekennt Siebenkäs verärgert, dass er Rezensionen, „wie andre Gebete, nur in der Not“ anfertige. Eine giftige Anspielung gilt denn auch den bösen „Schmeckherren“, welche daEinleitung  29

nach trachten, den Autor auszufilzen und ihm einen schlechten Leumund zu verschaffen. Tatsächlich war Jean Paul zeitlebens mit einer Rezensenten-Phobie behaftet, welche den Nachstellungen von notorischen Querulanten im Stile eines Garlieb Merkel und Adolf Müllner zuzuschreiben war. Als Rezensent wollte er seinerseits vermeiden, Autoren mit Häme und Spott durch die Dornenhecke zu schleifen, vielmehr half er, die Dornen zu entfernen. Der Vorbehalt hinderte ihn jedoch nicht, in den späten Lebensjahren ausgiebig für die „Heidelberger Jahrbücher“ zu rezensieren. Im Grunde war ihm das Kritikerwesen jedoch wesensfremd. Sein Ideal war vielmehr die Vereinigung von Autor und Leser auf dem Eiland seiner Fantasie, wie er in einem Brief vom 18. November 1795 notiert. Sein Herz war offen, auch für die Gefahr des gelegentlichen ästhetischen oder stilistischen Fauxpas. Hingegen bevorzugte er eine der weisesten Zutaten des Lebens: den Humor. Wäre der vakante Posten des Humor-Gottes im Olymp zu vergeben, käme Jean Paul zweifellos als aussichtsreicher Kandidat in Frage. Denn seine liebsten Gedanken-Fetische – Gott, Seele, Unsterblichkeit – bilden gleichsam Inseln in einem breiten, mäandernden Strom heiterer Gelassenheit, in dem Autor und Leser nicht nur schwimmen, sondern lustvoll eintauchen dürfen. Die Bandbreite seines Humors reicht von sentimentaler Augenwinkelfeuchte bis zu homerischem Gelächter, wie etwa in dem hinreißend komischen (weil nur mit wenig Pathos aufgeladenen) Roman „Der Komet“. Die Facetten der JeanPaulschen Heiterkeit auszuleuchten, wird ein unterhaltsames Element vorliegender Biografie sein. Die deutsche Literaturgeschichte war indes nicht nur im 19. Jahrhundert allzu geneigt, den Humor als Sündenfall vor der gebotenen Ernsthaftigkeit zu werten. Im 23. Kapitel des „Siebenkäs“ äußert sich Jean Paul denn auch kritisch über die deutsche Humorlosigkeit, welche vor allem die „Leibgeberische“, also die satirische Polemik betrifft. Das „Komische“ ist denn auch ein ausführlich erörtertes Thema der „Vorschule der Ästhetik“, wo der Autor die Qualität des Komischen mit der literarischen Güte des Autors steigen oder fallen sieht.

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Jean Paul, der sich im Alltag zumeist liebenswürdig-heiter, ja humorvoll gab, überschritt niemals gewisse Grenzen, die sein Publikum hätten erröten lassen. Im Gegensatz etwa zu Laurence Sternes pikantem Kultbuch „Tristram Shandy“ gehören Jean Pauls Erzählungen keinesfalls zu den jugendgefährdenden Schriften – wenn man von gelegentlichen Verstößen gegen den „laufenden Geschmack“ wie etwa in den „Flegeljahren“ einmal absieht, wie der Autor im 4. Band einräumt. Diese Rücksicht passte nicht nur zu seinem Charakter, sondern war eine ungeschriebene Klausel des im „Hesperus“ formulierten „Grenz- und Hausvertrages“ zwischen Leser und Autor. Das Publikum wusste den Cocktail von witzigen und gelehrten „Schalttagen“ – zumeist philosophische Digressionen ohne unmittelbaren Zusammenhang mit der Romanhandlung – zu schätzen. Jean Pauls Kaspertheater für Gebildete fand gleichwohl Zuspruch bei einem Volk, das – wie er im Vergleich mit Italienern und Franzosen beklagte – mehr an das Geldverdienen, als an das Konsumieren und Genießen des Gewinns dachte. Die in vorliegender Biografie zu verfolgende Lebensund Werkgeschichte Jean Pauls spiegelt mithin die Entfaltung eines der wenigen erfolgreichen Humoristen deutscher Sprache in der Zeit um 1800. Sigmund Freud kürte Jean Paul zu einem Ahnherrn der Psychoanalyse. So verdankt die Freudsche Theorie des Witzes der „Vorschule der Ästhetik“ viele Denkanstöße: Die intellektuelle Fähigkeit, versteckte Ähnlichkeiten zwischen fremden Objekten zur Stiftung von Humor zu nutzen, ist hier ebenso zu nennen, wie die Einsicht, dass die formale und inhaltliche Ausgestaltung des Witzes mit seelischen Vorgängen in Beziehung steht. Der „Witz“ Jean Pauls ist jedoch nicht nur für die Theorie fruchtbar, sondern für den Leser, den jede einzelne Buchseite zu einem Dialog mit dem Autor auffordert. Bekanntlich ist nicht jede Lüge unmoralisch, schon gar nicht bei einem Belletristen, der offen einräumt, dass ein gescheiter Autor seine Leser „nicht genug betrügen kann“, wie im 10. Hundposttag des „Hesperus“ und im 21. Kapitel des „Komet“ verlautet. Der erfahrene Autor war sich der suggestiven Wirkung von Gaukelei und Wortmagie zu sehr bewusst, um als aufgeklärter Autor das Betrugsmanöver Einleitung  31

nicht als solches zu benennen. Im vierten Band der „Flegeljahre“ lautet die Erklärung hierfür, dass er „weder erzähle, noch erdichte, sondern dichte.“ Seine Wortwelt war die Bühne, auf der er vor einem begeisterten Publikum einen Sprach-, Handlungs- und Figurenkosmos schuf – und die Fangemeinde nahm die Fiktion gerne an. Er wusste sein Publikum zu klassifizieren: Im „Siebenkäs“ teilt Jean Paul – ebenso klug wie berechnend – sein Publikum in drei Gruppen ein: Erstens das Kaufpublikum, welches seine Bücherschränke mit den schmucken Einbänden ziert. Zweitens das Lesepublikum, das sich aus Müßiggängern und Pubertären mit einem chronischen Bedürfnis nach Abenteuer und Kolportage rekrutiert. Drittens das Kunstpublikum, nämlich die höheren „kosmopolitische[n] Schönheiten“ wie Herder, Goethe, Lessing, Wieland – sämtlich künstlerisch arrivierte Herren, welche die Güte eines Textes zu schätzen wissen (oder auch nicht). Diese Unterscheidung der Leserklassen soll indes nicht bedeuten, dass Jean Paul nur für die letztgenannte Gruppe schrieb. So beklagt er sich in einem Brief vom 4. Februar 1800 über Weimar, wo zwar Bücher gemacht, aber nicht gekauft werden. Zu dem Dialog mit dem Publikum gehört bei Jean Paul auch dessen Beschimpfung. So beklagt er am Anfang des 26. Hundposttages mit harschen Worten den fahrigen, durch Belange des Alltags befangenen Leser, dessen Aufmerksamkeit vom Text abgelenkt ist. Tatsächlich sind für die Lektüre seiner Werke nur Lebenskünstler geeignet, nämlich der auf dem Sofa liegende Marathon-Leser mit bequemer Kissengarnitur in Rücken- und Nackenbereich. Für den wahren Textgenuss ist mithin eine gleichsam paradiesische Szenerie erforderlich, nämlich eine ablenkungsarme Umgebung mit dem ausschließlichen Begleitgeräusch des eigenen Atems und der Imaginationskraft als einziger Bewegung. Jean-Paul-Lektüre wirkt so suggestiv, weil der Dichter durch seine Darstellung jedem noch so kläglichen Detail des Lebens Würde zu verleihen und die alltägliche Spießigkeit mit dem humanen Charme des Humors zu beschreiben verstand. Erforderlich für eine adäquate Aufnahme seiner Werke ist mithin eine besonders gestimmte Empfänglichkeit – ähnlich wie das störungsfreie Hören eines Radiosenders 32  Einleitung

die Justierung der optimalen Sendefrequenz voraussetzt. Vor dem Konsum Jean Paulscher Texte sind freilich Personen zu warnen, die klar strukturierte Handlungsstränge schätzen, Skurrilitäten und Wunderlichkeiten ablehnen oder etwa die Reimfreude eines Wieland mögen. Mithin dürfte sich Jean Pauls Publikum stets auf eine Minderheit beschränken, die zu schätzen weiß, dass er sich häufiger in Gleichnissen ausdrückte als selbst der Heiland. Zudem könnte sich der Leser durch die ständigen wechselseitigen Querbezüge der Romane und Erzählungen gestört fühlen, denn im Grunde setzt ein Text Jean Pauls die Kenntnis eines anderen voraus. So liest der Protagonist des „Hesperus“, Viktor, den Vorgänger-Roman „Die unsichtbare Loge“, und in „Wutz“, „Fibel“, „Komet“ sowie anderen Prosastücken tritt der Dichter sogar persönlich in der Geschichte auf. Durch permanente Selbstreferenz fädelt der Autor gleichsam eine Bücherkette. Jean-Paul-Lektüre ist vergleichbar mit dem Lesen der Psalmen, die auf dem schmalen Grat zwischen Prosa und Lyrik wandeln. Anders als im Psalter gilt Jean Pauls Ansprache jedoch nicht einer Transzendenz. Vielmehr gleicht er einer Muschel, die in sich Geschichtsperlen anreichert durch das quälende Korn namens Wirklichkeit. Tatsächlich enthalten seine Erzählungen ein in der deutschen Literatur bis dahin nicht gekanntes Ausmaß an Selbstreflexion, können die Texte gleichsam als ein Mittel zur Selbstkonstruktion auf einer fiktiven Ebene gelesen werden. Unverwirklicht blieb jedoch der Plan zu einer Autobiografie. Allerdings hatte er um die Jahrhundertwende für die geplante Edition seiner Opera omnia begonnen, Notizen und Tagebuchaufzeichnungen zu sammeln. Als biografisches Fragment liegt allerdings (neben einem frühen Versuch aus dem Jahre 1781) allein die als Anhang zum „Komet“ konzipierte „Selberlebensbeschreibung“ vor, welche aber nur seine frühesten Lebensjahre thematisiert. Dieses Vorhaben wurde allerdings im Jahre 1819 zugunsten der Umarbeitung der dritten „Hesperus“-Auflage aufgegeben. Gegenüber seinem Intimus Emanuel gestand Jean Paul in einem Brief vom 4. Juli 1818, dass ihn die beim Romanschreiben angewöhnte Neigung zum Lügen an der Weiterführung der Autobiografie gehindert habe. Da es Einleitung  33

mithin nur wenige autobiografische Texte gibt, die als Quellen für eine Jean-Paul-Biografie heranzuziehen wären, gilt es außer dem Gesamtwerk die Korrespondenz zu sichten – zumal bei Jean Paul, der „kein größeres Vergnügen“ kannte als das Verfassen von Briefen, wie er im April 1796 notiert. Bücher waren für ihn umfangreiche Briefe an das Publikum, dünnere Bücher für die Welt und „Nachhalle der Gespräche“, die er mit Freunden geführt hat, wie im 4. Band der „Flegeljahre“ verlautet. Der Korrespondenz maß er eine ähnliche Bedeutung zu, wie der Anfertigung seiner Werke, so dass sich die Niederschrift einer persönlichen Nachricht über Wochen hinziehen konnte. In der Vorrede zum „Jubelsenior“ heißt es: „Eine Biographie oder ein Roman ist bloß eine psychologische Geschichte, die am lackierten Blumenstab einer äußern emporwachsen“. Und im „Ersten Hirtenund Zirkelbrief“ der Erzählung verrät Jean Paul tiefblickend: „Um den Autor zu fassen, muß man den Menschen begreifen“. Freilich wird eingeräumt, dass Biografien nur relative Annäherungen an den Charakter der beschriebenen Person erlauben, denn: „Um einen Menschen vollkommen zu verstehen, müßte man seine Doublette sein und noch dazu sein Leben gelebt haben“. Diese Schwierigkeiten machen das Verfassen einer Biografie zu einer Suche nach der Quadratur des Kreises. Wir wollen dennoch eine Besichtigung von Jean Pauls Charakter auf dem Stand der modernen Forschung wagen, wollen ein Leben schildern, das von der Erfahrung sozialer Armut und Minderwertigkeit ebenso geprägt war wie von außerordentlichen literarischen Erfolgen, die ihm schließlich Anerkennung einbrachten. Wir wollen den jeanpaulschen Dom betreten, uns bezaubern lassen von dessen kolossaler Wortarchitektur und einer satirischen Kraft, welche an die geschnitzten Fratzen und grotesken Gestalten eines gotischen Chorgestühls erinnert. Wir begleiten Johann Paul Friedrich Richter bei seiner Mission der Selbstkonstruktion durch das geschriebene Wort an den Rand des Fichtelgebirges. Sein Lebensradius war begrenzt und von spektakulären Brüchen unbelastet. Das Territorium des Deutschen Reiches hat er niemals verlassen, und er wusste, dass im Traum erlebtes Glück allemal besser ist, als gar keines erfahren zu haben. Sein Charakter ist wesentlich einfacher zu beschreiben, als 34  Einleitung

seine Werke, denn im Herzen blieb er stets ein Hinterwäldler aus Passion. Mit seinem Roman-Personal und seinen skurrilen Imaginationen vermochte er jedoch einen eigenständigen Kosmos zu schaffen, der bei aller vordergründigen Spiegelung der Verhältnisse des späten 18. Jahrhunderts die Neurosen und seelischen Gefährdungen auch des heutigen Menschen beschreibt. Auf den folgenden Seiten blättern wir in dem Lebensbuch eines Vollblutautors, der wie kein deutschsprachiger Schriftsteller zuvor die eigene Lebenswirklichkeit mit dem Werk verflocht und von dem Drang zur Selbstdefinition als Dichter geleitet war. Kein Zweifel, mit Jean Paul nahm die Moderne Einzug in die deutsche Literatur. Sein Ziel verfolgte er unbeirrt: Die Sprache als eine inspirierende Quelle der Weisheit zu erschließen, als einen Brunnen unerschöpflicher Köstlichkeiten, der auch heutige Lebensbäume feuchtet.

Einleitung  35

1. Kapitel

Jugendjahre im Fichtelgebirge Im Anfang waren das Wort und die Armut. Johann Paul Friedrich Richter kam am 21. März 1763, morgens 1½ Uhr in einer für heutige mitteleuropäische Verhältnisse kaum vorstellbaren Dürftigkeit zur Welt. Der Geburtsort Wunsiedel lag in der Markgrafschaft AnsbachBayreuth, die – umgeben vom Königreich Böhmen, dem Kurfürstentum Sachsen und Bistum Bamberg, der Freien Reichsstadt Nürnberg sowie Exklaven der Grafschaft Reuß – ein mittelgroßes Teilstück in dem territorialen Großmosaik bildete, das die Bezeichnung Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation trug. Das Haus der Hohenzollern – seit dem Mittelalter um die Erweiterung ihrer Ostgebiete bemüht – hatte Wunsiedel im Jahre 1285 durch eine bedachte Heirats- und Erbschaftspolitik erworben. Nach Abschluss der Verwaltungsreform des Fürstentums Brandenburg-Kulmbach durch Markgraf Friedrich I. von Brandenburg hieß das Land „Hauptmannschaft vor dem Wald“ und wurde im 17. Jahrhundert unter der Amtsbezeichnung „Stadt und Sechsämter Wunsiedel“ zusammengefasst. Noch heute wird das Gebiet umgangssprachlich als „Sechsämterland“ bezeichnet. Es war die Phase der späten Hochaufklärung und einer verhältnismäßigen politischen Ruhe: Preußen, Sachsen und Österreich beendeten mit dem Frieden von Hubertusburg den Siebenjährigen Krieg, zeitlich parallel senkten mit dem Pariser Frieden die kolonialen Kontrahenten ihre Waffen. Ein Jahr zuvor war in Genf und Paris gegen Rousseau wegen seiner Schrift „Der Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des Staatsrechts“ ein Haftbefehl erlassen worden, zwei Jahre später wurde erstmals das Erscheinen einer ringförmigen Sonnenfinsternis vorausberechnet und in Leipzig die erste deutsche Hochschule für Grafik und Buchkunst gegründet. Der Glaube an den linearen Fortschritt war ebenso brüchig geworden, wie das leichtgläubige Vertrauen auf die Macht der Vernunft. Das Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 hatte in der Gelehrtenwelt 36  1. Kapitel

einen Katastrophendiskurs ausgelöst, der für die naiv-optimistische Rechtfertigung Gottes einen erheblichen Erklärungsnotstand zeitigte und das Ende der Hochaufklärung einleitete. Erste Vorstufen einer Volksaufklärung wurden staatlich verordnet, wie das 1763 erlassene „Königlich-General-Landschulreglement“, welches in Preußen die allgemeine Schulpflicht regelte. Immanuel Kant verfasste die vorkritischen Schriften, und sein Schüler Johann Gottfried Herder bereitete sich auf die Ausbildung zum Geistlichen in Riga vor, wo er seine ersten sprachphilosophischen Abhandlungen schrieb. Wieland arbeitete an den Shakespeare-Übersetzungen, und Goethe lauschte als Kind in Frankfurt dem siebenjährigen Mozart beim Klavierspiel. Johann Paul – im Monat März zur Tag-und-Nachtgleiche geboren – hat einige Erinnerungen an seine frühe Zeit hinterlassen, aber das „immergrüne Palmenlaub der Jugenderinnerung“ wird allzu gern mit Zierrat geschmückt, wie Emanuel im 38. Hundposttag richtig bemerkt. Der Taufname Johann Paul Friedrich Richter setzte sich aus den Vornamen der beiden Paten zusammen, von denen der eine den Beruf des Buchbinders ausübte. Zur Vereinfachung und als Zeichen der Sympathie mit Rousseau (der seine Bücher mit „Jean-Jacques“ zu zeichnen pflegte) und dem gallischen Volk nannte er sich später Jean Paul. Seine Mutter, Sophie Rosine Richter, war die älteste Tochter des Tuchmachermeisters Johann Paul Kuhn und dessen Gattin Eva Barbara. Bei der Geburt ihres Sohnes stand sie im 26. Lebensjahr und war mithin etwa zehn Jahre jünger als der Vater. Die „Selberlebensbeschreibung“ widmet der Mutter allerdings nur wenige Zeilen; sie dürfte jedoch die Vorlage für die putzwütige, unter der Pedanterie ihres Mannes leidende Figur Lenette im Roman „Siebenkäs“ gewesen sein. Die knappe Erwähnung der Mutter ist mithin nicht in mangelnder Zuneigung begründet, sondern in den üblen Familienszenen des cholerischen Vaters, welche zu beschreiben sich die Feder des Sohnes sträubte. Ausführlicher als den mütterlichen Vorfahren widmen sich die Memoiren der väterlichen Linie. Der Großvater Johann Richter, in Neustadt am Kulm wohnend, galt als ein ebenso frommer wie armer Mann, der angeblich als spirituelle Zufluchtsstätte häufig eine selbst Jugendjahre im Fichtelgebirge  37

errichtete Gebetshöhle aufsuchte. Die Rektor-, Kantor- und Organistenstelle in Kulm (das Gefängnis diente, wie damals durchaus üblich, auch als Schulhaus) war indes nicht mehr als eine „baireuthische Hungerquelle“, so dass der Großvater genötigt war, sein gedrücktes Lebensgefühl durch Gebet, Musik und Biergenuss zu stimulieren. Johann Richter starb im Geburtsjahr Jean Pauls, die sanguinische Veranlagung scheint sich im Enkel fortgepflanzt zu haben. Am 13. Oktober 1761 heiratete Jean Pauls Mutter den Wunsiedeler Lehrer und Organisten Johann Christian Christoph Richter, einen Vollblutmusiker, der das Gymnasium „Poeticum“ in Regensburg besucht und als Mitglied der Musikkapelle des Hauses Thurn und Taxis fungiert hatte. Nach einem Theologiestudium in Jena und Erlangen arbeitete er einige Jahre nahe Bayreuth als Hauslehrer, bis er sich 1759 erfolgreich um die Stelle in Wunsiedel bewarb. Jean Paul war das erste Kind des Ehepaars, eineinhalb Jahre später kam der Bruder Johann Adam Christian zur Welt. Als „Ton-Genie“ und begnadeter Kanzelredner hinterließ der Vater einen bleibenden Eindruck auf das Gemüt des kindlichen Jean Paul, zu dessen frühesten Erfahrungen biblische Eloquenz und Musikbegeisterung gehörten. Mit einem gewissen Stolz erinnert er sich einer selbst durchgeführten pastoralen Handlung, als er in Vertretung des Fami­ lienhaupts einer gichtbrüchigen Frau Trost spenden durfte. Der „Allherrscher Vater“ kompensierte die Unzufriedenheit mit seinem diesseitigen Los durch ein strenges Regiment auch im Unterricht. Lateinische und griechische Grammatik, Geschichte, Geographie, Arithmetik, Astronomie und Rechtsschreibung sog der lernbegierige Schüler wie ein Schwamm auf. Insbesondere das bebilderte Lehrbuch „Orbis pictus“ entriss ihn der „geistigen Saharawüste“ seines Wohnortes. Schon frühzeitig war sein Interesse für Kuriosa geweckt, so beschäftigte er sich mit der Anfertigung von Uhren und erinnert sich eines inspirierenden Farbenkästchens, das er geschenkt erhielt. Das Erlernen neuer Buchstaben begeisterte ihn mehr als körperliche Übungen, vor allem die „Tonkunst“ zog ihn magisch an. Insofern handelt es sich bei der Romanfigur Vult in den „Flegeljahren“ zweifellos um eine autobiografische Spiegelung des Autors, denn der Protagonist ersehnt 38  1. Kapitel

nichts mehr als den Anfang des Unterrichts, ja der Sonntag wird als Vorfreude auf den kommenden Schultag erlebt: „Mir war alles erwünscht, was gelehrt und geboten wurde“. Den im Wunsiedeler Abschnitt der „Selberlebensbeschreibung“ geschilderten väterlichen Unterricht hat Jean Paul zum größten Teil im Dorf Joditz erhalten. Die Grundherrin und Freifrau Louise Eleonore von Plotho hatte dem Vater im April 1765 ein Angebot zur Übernahme der Pfarre in dem kleinen Ort nahe bei Hof gemacht, das dieser aus finanziellen Gründen annahm. Es handelte sich um eine vom Grundherrn besetzte und besoldete „Patronatspfarre“, wodurch das familiäre Wohlergehen und die berufliche Zukunft des Vaters vom Willen des Eigentümers abhängig waren. Anfang August zog die Familie mit dem zweijährigen Sohn nach Joditz. Zu den prägenden Eindrücken gehörten die häufigen Besuche auf dem Schloss der Patronatsherrin, das zum Modell für seine Vorstellung vom Hofleben wurde. Jean Pauls frühes „Versailles“ trug den Namen der Residenzherrschaft nahe der Stadt Hof. In Schloss Zedtwitz lernte er die Entsprechung von Rang- und Raumordnung kennen, ähnlich wie sein Romanheld Quintus Fixlein, der im ersten „Zettelkasten“ vor den leeren Schlossfenstern den Hut abnimmt, denn „vornehme Häuser waren ihm so viel wie vornehme Leute“. Das „Domestiken“-Zimmer erkundete der kleine Jean Paul ebenso wie die Empfangsräume der Herrschaft. Bestaunt wurden das zuweilen grotesk anmutende Hofzeremoniell, die filigrane Hofkutsche und der „Thronsaal“. Seit den Jugendjahren „furchtsam gegen das andere Geschlecht, gerade nach Verhältnis seines Rangs“, wie in einem Brief vom 4. April 1796 verlautet, konnte er sich nicht enthalten, dem gerafften Kleid der Herrin einen Zeremonienkuss aufzudrücken. Das Erlebnis bürgerlicher Minderwertigkeit hat den Knaben nachhaltig geprägt. Nicht minder eindrücklich schildert die „Selberlebensbeschreibung“ die Furcht vor Gespenstern, welche ihn nicht nur zur Schlafenszeit, sondern auch beim Passieren der dunklen Kirchräume, ja sogar am hellen Tag überkam. Erst zwei Jahrzehnte zuvor hatte man den Vampirismus in Österreich gesetzlich verboten, aber das gefürchJugendjahre im Fichtelgebirge  39

tete Schmatzen der Toten schien überall zu lauern. Er „bebte vor der unsichtbaren Welt“, behielt das Grauen jedoch still für sich. Im Werk sollte diese Neigung immer wieder zur Geltung kommen, wie etwa in den Kindheitserinnerungen des 6. Hundposttages, als Horion sich durchaus wehmütig seiner „von Geistern, Gräbern und Stürmen beklemmte[n] Brust“ erinnert – und selbst der kraftstrotzende „Titan“-Held Albano leidet an Geisterfurcht. In der „Vorschule der Ästhetik“ erinnert sich Jean Paul an die Joditzer Schauernächte als Grundlage für seine „romantischen Gefühle“. Auch die detailreiche Schilderung der Erlebnisse des „Hesperus“Helden Flamin im Pfarrgarten von St. Lüne enthält Erinnerungen an die Jahre in Wunsiedel und Joditz. Besonders gern dachte er zurück an den „Frühgottesdienst der Natur, der in Stille besteht“, wie es im 33. Hundposttag heißt. Am Sonntag nahm die Pastorenfamilie Richter regelmäßig das Heilige Abendmahl vor dem Mittagessen zu sich. Der Hunger war indes oft so groß, dass man vermutlich nur allzu gerne nicht nur das Brot in den Leib Gottes, sondern den Leib Gottes in Brot verwandelt hätte. Kindheitserinnerungen neigen bekanntlich zur Verklärung, und auch Jean Pauls Beschreibung seiner frühen Jahre als „Idyllenreich und Schäferweltchen“ ist beschönigend, denn die Eltern konnten nur mit Not die Familie ernähren, die sich bis 1774 um drei Brüder und zwei Schwestern (die allerdings nur wenige Monate überlebten) vermehrt hatte. Man erlebte jedoch auch Freudentage und Lustbarkeiten: Die beliebten Butterwecken sowie gelegentliche „Frucht- und Fleisch- und Warenkörbe“ vermochten, wenigstens zeitweise, vor den Kindern die Armut und Bedürftigkeit zu kaschieren. Frühzeitig fühlte sich Jean Paul von der Tierwelt fasziniert, den kleinen Geschöpfen auf den Wiesen und in den Teichen, dem Nutzvieh im Stall oder dem Spitzhund, dessen Rasse in seinem späteren Leben eine Rolle spielen sollte. Liebevoll wird von ihm später das Erlebnis der wechselnden Jahreszeiten mit ihren eigentümlichen Vergnügungen geschildert, wie im „Wutz“ der Karneval in der „schwarzen Kantors-Stube in Joditz“. Die prekären Wohnverhältnisse des Gesindes glichen indes zu sehr den eigenen, um sozialen Dünkel aufkommen zu lassen. Aus dem niederen Personenkreis stammt auch seine 40  1. Kapitel

erste Liebe: Die „Zauberhirtin“ Augusta, ein schlankes, leicht blatternarbiges, blauäugiges Bauernmädchen gleichen Alters, das er beim alltäglichen Abtrieb der Weidekühe aus einem Versteck heraus beobachtete. Es blieb indes bei einer Kinderliebe auf Distanz, nie hat er ihr auch nur die Hand gegeben, an einen Kuss war nicht zu denken. Eine weitere Tändelei blieb ebenfalls unerfüllt, aber der junge Jean Paul hatte in der (wenn auch einseitigen) Liebe erstmals ein Glück erlebt, das aus einer anderen Quelle kam als der Bildung und Tierwelt. Zwei Stunden erforderte der Fußmarsch nach Hof, um die Familie mit Fleisch und Kaffee zu versorgen und die Großeltern zu besuchen. Es lockte der Hofer Jahrmarkt, wo der verhinderte Liebhaber Mandeln und Rosinen für seine Angebetete kaufte, die sie freilich aus Schamhaftigkeit niemals erhielt. Zufriedener als in der Stadt war man indes wieder daheim im ländlichen Milieu. Das Leben im Joditzer „Erziehdörfchen“ taucht in Jean Pauls Briefen immer wieder als schöne Erinnerung auf. Dieser Zeit schreibt er seinen ausgeprägten Sinn für Häuslichkeit und Natur sowie den Bildungshunger zu. Als Quelle rauschartiger Gefühle hatte er die Zuneigung zum anderen Geschlecht entdeckt sowie die „poetische Musik“, vorgetragen von so unterschiedlichen Interpreten wie der „Janitscharen“-Kapelle auf den Hofer Markttagen und dem Vater in der Joditzer Kirche. Er erlebte die Musik als „leichte, dünne, unsichtbare Klänge“ der Seele. Nachdem der Vater durch die Freifrau von Plotho eine besser dotierte Pfarre zugesprochen erhalten hatte, zog die Familie Anfang 1779 nach dem an der Saale gelegenen Ort Schwarzenbach. Dort war der Geistliche dem Kaplan Johann Samuel Völkel zugeordnet, einem aufgeklärten Pfarrer, der den kurz zuvor konfirmierten Jean Paul in den Fächern Philosophie und Geographie unterrichtete. Das Hauptziel aller pädagogischen Bemühungen war zunächst die Übersetzung der Heiligen Schrift. Gern erinnert sich Jean Paul an die Schwarzenbacher Schulstube mit den Schülern unterschiedlichen Alters, Standes und Geschlechts, an deren Spitze die Lateiner und die Schüler der griechischen und hebräischen Grammatik mit ihren ständig wiederholten Deklinationen und Zeitwortübungen thronten.

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Die Mittagsstunden verbrachte der Fünfzehnjährige meist mit dem Diakon und Freund seines Vaters, Völkel, der ihn mit Gottscheds Weisheitslehre und der modernen Theologie bekannt machte. Völkel stand den Denkansätzen des Hallenser Theologieprofessors Nösselt und des sozial aktiven Abts Jerusalem nahe. Nösselt und Jerusalem interpretierten die Bibel aus historisch-kritischer Sicht, um den Zwiespalt von Glauben und Wissen durch eine Erfahrungstheologie zu überwinden. Ein weiterer Kollege von Jean Pauls Vater war der pädagogisch ambitionierte Carl August Werner, Rektor einer privaten Winkelschule in Wunsiedel, die einen so guten Zuspruch hatte, dass die konkurrierende städtische Lateinschule (an der Jean Pauls Vater tätig war) gerichtlich gegen sie vorging. Während der gesamten Schulzeit nahm Jean Paul an Werners Unterricht in Schwarzenbach teil, der spätere Rektor der Lateinschule unterrichtete in alten Sprachen. Auffallend ist das hohe Maß an Aufklärung im abgelegenen Vogtland. So empfand der Schüler eine besondere Zuneigung zu dem in Schwarzenbach amtierenden Regierungsadvokat, Hauswirt und Berater von Familie Richter, Johann Wilhelm Vogel, der ebenso wie Völkel und der Amtsverwalter Johann Gottfried Cloeter zu jenem „Zirkel … aufgeklärter Männer“ gehörte, mit denen Jean Paul bis in die 1790er Jahre in Verbindung stand. Zu den Schwarzenbacher Gelehrten mit besonderem Einfluss auf Jean Paul gehörte auch der praktische Arzt und Freimaurer Johann Georg Gottfried Doppelmaier, dessen „chemische und alchemistische Kenntnisse und Interessen“ die Hofer Gymnasiasten faszinierten. Jean Paul fühlte sich von den magischnaturwissenschaftlichen Praktiken des Rosenkreuzers angezogen. Neben Vogel war Doppelmaier zweifellos der wichtigste Bekannte aus Jean Pauls Hofer und Schwarzenbacher Zeit – was ihn jedoch nicht abhielt, einige Jahre später gegen den „alchymistische[n] Unsinn“ etwa der umstrittenen „schwarzen Spiesglastinktur“ (welche als Universalheilmittel unter anderem gegen Sprachamnesie wirksam sein sollte) zu polemisieren. Ein Briefkontakt mit Doppelmaier ist bis zum Sommer 1783 nachweisbar, als dieser nach Russland auswanderte, um in Sankt Petersburg die Stellung eines geadelten Hofarztes, später des Stadtphysikus von Moskau einzunehmen. 42  1. Kapitel

Die Bedeutung der Sozialisation des jugendlichen Jean Paul in diesem Kreis aufgeklärter Vorbilder ist nicht hoch genug zu veranschlagen. Einige Briefe, wie jener vom 28. Juni 1784, bekunden allerdings eine innere Distanz gegenüber bestimmten Schwarzenbacher Zeitgenossen, welche, ungeachtet ihrer Aufgeklärtheit, seine nachlässige Kleidung bemängelten. Aber trotz aller persönlichen Reserve Jean Pauls gegenüber Schwarzenbach gilt anzumerken, dass sich in dieser Phase sein „Trieb zum Philosophieren“ ebenso entwickelte, wie die Neigung zu seinem Lieblingsspiel Schach. Jenseits des Bildungsmarathons blieb ihm auch in Schwarzenbach das Gefühl der Liebe nicht versagt. Beim Schulkarneval verguckte er sich in ein Mädchen, deren „niedliches rundes rotes blatternarbiges Gesichtchen mit blitzenden Augen“ es ihm angetan hatte. Es kam sogar zu einer „Einzigperle von Minute“, nämlich dem ersten Kuss, die Erinnerung daran sollte er zeitlebens als Kleinod in seinem Herzen tragen. Im Roman „Siebenkäs“ ist dieser Moment literarisch verewigt. Mit dem Ende der Schwarzenbacher Zeit, also mit etwa fünfzehn Jahren, begann Jean Paul sein Lebenswerk zu konzipieren. Diese kühn anmutende Behauptung ist indes so gewagt nicht, wie sie scheinen mag. Denn der Knabe las nicht nur Bücher und Zeitschriften aus der Bibliothek Vogels, sondern er begann das Netz seines Werkes durch die Anfertigung von ausführlichen Abschriften zu weben. Die erste, bis 1782 laufende Exzerpte-Sammlung umfasst nicht weniger als zwanzig Bände, in denen er längere gedanklich oder stilistisch interessante Textpassagen der gelesenen Bücher nahezu wörtlich abschrieb und mit vereinzelten Randbemerkungen oder Fußnoten versah. Aus der illustren Fülle der ältesten Abschriften seien einige Beispiele genannt: Jean Paul befasst sich mit der Wirkung des Teufels in der Welt, empfiehlt die Lektüre der Schriften Moses Mendelssohns, analysiert Teile von Klopstocks Versepos „Der Messias“ sowie Herders „Älteste Urkunde des Menschengeschlechts“ und interpretiert die Sterbeszenen der Dramen Shakespeares. Der Band „Extraits I“ von 1781 setzt sich unter anderem mit Voltaire auseinander, dessen Bemerkungen in gutem Französisch kommentiert werden. Im Vordergrund stehen Diskurse über philosophische Grundfragen, wie über das Verhältnis von Jugendjahre im Fichtelgebirge  43

Leib und Seele, Gut und Böse. Vor allem die philosophische Gedankenwelt von Leibniz sprach ihn an, während physikalische Themen eine untergeordnete Rolle spielten. Besonders fühlte er sich von dem humoristisch-sentimentalen Autor Theodor Gottlieb Hippel angezogen, dessen Roman „Lebensläufe in aufsteigender Linie“ von ihm mit Interesse gelesen wurde. Das Werk Hippels sollte für die Entwicklung seines Prosastils besondere Bedeutung erlangen. Die Exzerptbände erheben keineswegs den Anspruch auf inhaltliche Bündigkeit, vielmehr handelt es sich um eine freie Auseinandersetzung mit den Themen der zeitgenössischen Philosophie und Theologie aus heterodoxem Blickwinkel. Längere eigenständige Randbemerkungen sind ab dem vierten Band von 1779 vorhanden, verstärkt jedoch zur späten Gymnasialzeit in Hof ab Sommer 1780. Vermutlich ist es kein Zufall, dass die „Selberlebensbeschreibung“ mit der Schwarzenbacher Zeit endet, denn zu sehr belastete ihn die Erinnerung an den schweren Schicksalsschlag, den die Familie zu jener Zeit traf: Am 25. April 1779 starb Jean Pauls Vater im 52. Lebensjahr, was die ohnehin dürftige finanzielle Situation der Familie zusätzlich erschwerte. Denn die väterliche Erbschaft war materiell unergiebig: Außer Dokumenten der Amtstätigkeit hinterließ das Familienoberhaupt lediglich einige regional bekannte kirchenmusikalische Kompositionen sowie eine Bibliothek, die drei Jahre später verkauft wurde. Zusätzlich verschärft wurde die prekäre finanzielle Misere durch den Tod von Sophie Richters in Hof lebenden Vater Johann Paul Kuhn im Oktober 1780. Obwohl Kuhn seiner Frau ein Haus in der Hofer Klostergasse hinterlassen hatte, folgten langwierige rechtliche Streitigkeiten mit einem Schwager (dem Mann ihrer jüngeren Schwester). Frau Richter litt seelisch an diesen Auseinandersetzungen, die zudem das bescheidene Vermögen schmälerten. Ende 1781 zog Sophie mit der Familie zu ihrer Mutter nach Hof, wo die Söhne Gottlieb und Heinrich das Gymnasium besuchten, welches der älteste Bruder bereits verlassen hatte. Die finanzielle Situation war so heikel, dass Sophie Richter wenige Jahre darauf das eigene Haus verkaufen und sich durch Gelegenheitsarbeiten wie Flachsspinnen durchbringen musste, ab 1786 empfing sie ein bescheidenes Gna44  1. Kapitel

dengehalt. Angesichts dieser Dürftigkeit ist es um so beachtlicher, dass den drei Söhnen der Besuch des Gymnasiums ermöglicht wurde. Jean Pauls Berufswunsch, ein Schriftsteller zu werden, stieß allerdings auf wenig Verständnis, denn die Aussichten auf geregelte Einkünfte galten bei dieser Profession als unsicher. Seit Januar 1779, also nur wenige Monate vor dem Tod des Vaters, besuchte Jean Paul das Gymnasium in Hof. Die Aufnahmeprüfung absolvierte er so erfolgreich, dass er sogleich als „Quasist“ in die Prima aufgenommen wurde, wodurch sich das Studium von drei auf zwei Jahre verkürzte. Der anstrengende zweistündige Fußmarsch von Schwarzenbach nach Hof wurde durch einen hervorragenden Unterricht reichlich entgolten: Der Rektor Georg Wilhelm Kirsch war Orientalist, der Konrektor lehrte Latein mit besonderer Wertschätzung Ciceros, Französisch unterrichtete ein ehemaliger Tapetenwirker mit gallischen Vorfahren. Das Lehrfach Philosophie hatte im 18. Jahrhundert noch nicht die heutige Kontur, sondern bezeichnete allgemein die „schönen Künste“. Schulreden zum Lob der Weisheitskunde als praktische Denk- und Lebensschule waren mithin nicht unüblich. Obwohl im Schulprogramm die erste Ansprache auf Latein angekündigt wurde, durfte sie – entgegen der Regel – in deutscher Sprache gehalten werden. So beantwortete im Oktober 1779 der sechzehnjährige Primaner Jean Paul die Frage nach dem „Nutzen des frühen Studiums der Philosophie“ eindeutig bejahend. Mit teilweise herkömmlichen rhetorischen Floskeln, aber im Duktus eigenständig wird die unterstützende Funktion des Philosophiestudiums für das Erlernen anderer Fächer betont und die besondere Eignung der Weltweisheit zur Verfeinerung der Seelenkräfte betont. Neben dem Neuplatoniker Longin gelten für ihn der schottische Skeptiker David Hume, der Schweizer Philosoph und Ästhetiker Johann Georg Sulzer und Moses Mendelssohn als philosophische Vorbilder. Die zweite, zur Schulentlassung gehaltene Rede widmet sich ebenfalls einem philosophischen Thema auf hohem gedanklichen und sprachlichen Niveau: „Über den Nutzen und Schaden der Erfindung neuer Wahrheiten“. Diese Ansprache bekundet einen – im Vergleich Jugendjahre im Fichtelgebirge  45

mit der ersten Rede – freieren Umgang nicht nur mit dem schulischen, sondern auch mit dem selbständig angeeigneten Exzerptwissen, dessen Kenntnis ihn über den Stand eines durchschnittlichen Schulabgängers weit hinaushob. Erstmals macht sich seine Neigung zur antithetischen Behandlung des Stoffes geltend. Freilich ist die feinsinnige Unterscheidung von Religion und Theologie (ein Thema, das ganze Gelehrtengenerationen in Anspruch nahm) fast wörtlich der Zeitschrift „Der Teutsche Merkur“ entnommen. Insgesamt betrachtet ist die zweite Schulrede jedoch als ein früher eigenständiger Beitrag Jean Pauls zu werten – auch wenn der Autor sich später von dieser Ansprache distanzierte. Das Manuskript weist an vielen Stellen redigierende Bemerkungen vom Rektor auf, der allzu häufige Interjektionen und rhetorische Fragen, aber auch Anzüglichkeiten sowie allzu freimütige Äußerungen zum Thema „Pedanterie der Lehrerschaft“ einzudämmen bemüht war. Auch jene Textpassage, welche die strikte Trennung von Religion und Theologie betont, fand vor der schulischen Zensur keine Gnade. Während der Hofer Gymnasialzeit entwickelten sich Jean Pauls erste feste Freundschaften zu Gleichaltrigen mit ähnlichen geistigen Neigungen. Zu diesem Kreis gehörte der Sohn eines in Hof lebenden Töpener Rittergutsbesitzers, Adam Lorenz von Oerthel, der bereits vor dem Gymnasialbesuch Privatunterricht erhalten hatte. Weil seine Familie nach ihrem Töpener Landgut gezogen war, bewohnte der Sohn aus wohlhabendem Hause ein idyllisch gelegenes Gartenhaus an der Saale. In diesem landschaftlich anmutigen Refugium traf sich ein Freundeskreis empfindsamer Primaner. Hier wurde gedichtet, diskutiert und erstmals geschlechtliche Zuneigung erfahren. So wurde der in Liebesdingen unerfahrene Jean Paul Zeuge einer Affäre seines Vertrauten Oerthel zu Beata von Spangenberg, deren Vorname und weibliches Idealbild in dem Roman „Unsichtbare Loge“ eine zentrale Rolle spielten sollte. Der sensible Oerthel litt ebenso an dem strengen, rein ökonomisch orientierten Vater wie an seinen immer häufiger auftretenden Unpässlichkeiten. Den leidenschaftlich Verliebten umgab die Aura eines poetischen Idealisten. Jean Pauls erster erhaltener Brief an Adam von Oerthel vom 11. Oktober 1780 ent46  1. Kapitel

stand nach der gemeinsamen Lektüre der Übersetzung von Laurence Sternes gefühlvoller Reiseerzählung „Yoricks empfindsame Reisen durch Frankreich und Italien“. In dem Schreiben werden denn auch hinlänglich pathetische Sterbe- und Schauergedanken beschworen. Der Zeitgeschmack war sentimental und inspirierte insbesondere das jugendliche Publikum, welches sich von den rationalen Denk- und Verhaltensstrukturen der Eltern zu distanzieren versuchte. Einen gleichaltrigen Freund mit einem ausgeprägten Sinn für die Naturwissenschaften fand Jean Paul in dem Sohn eines Hofer Zeugmachers, Johann Bernhard Hermann. In einem Brief vom 6. September 1798 erinnert sich der Dichter an den eigentümlich melancholischen Blick seines Vertrauten, der „mit gesenktem Kopfe, sinnend und verdekt aufblikt“. Hermann war wie Oerthel äußerst empfindsam veranlagt, aber er kränkelte weniger. Anders als der begüterte Oerthel, war Hermann zeitlebens zur Arbeit gezwungen und hatte sich durch Selbststudium vielseitige, vor allem naturwissenschaftliche Kenntnisse erworben. Mitte der 1780er Jahre veröffentlichte er unter anderem Schriften „Über die Anzahl der Elemente“ sowie „Ueber Feuer, Licht und Wärme“. Die finanziellen Sorgen linderte er durch die Erteilung von Privatunterricht, später sorgten spärliche Buchhonorare und Beschäftigung als Gelegenheitsarbeiter für ein karges Auskommen. Hermann war ein Freigeist, der seine Unabhängigkeit gegenüber Moden, Dogmen und Institutionen zu bewahren wusste. Getrieben von einer Mischung aus Menschenwärme und Zynismus, Melancholie und Verbitterung, Unglauben und Weltzweifel, vermochte der Freidenker seine Außenseiterrolle nie zu überwinden – was er vermutlich auch nicht beabsichtigte. Hermann, der noch in der ersten Hälfte der 1780er Jahre für Jean Paul Schreibarbeiten übernahm, gilt als reale Vorlage für die Satiriker und gelehrten Humoristen vom Schlage des Doktor Fenk im „Hesperus“, Leibgeber im „Siebenkäs“ oder Schoppe im „Titan“ sowie (freilich in überzeichneter Weise) auch für Dr. Katzenberger. Bei Georg Christian Otto handelte es sich ebenfalls um einen Hofer Freund Jean Pauls, dessen Einfluss sich jedoch erst später geltend machte. Der politisch radikale Jurist wurde für viele Jahrzehnte sein Jugendjahre im Fichtelgebirge  47

Intimus und erster Gutachter der Manuskripte. Der etwa ein halbes Jahr jüngere Kamerad, Sohn des Hofer Diakons und Vesperpredigers, besuchte ebenfalls das Gymnasium, welches er ein Jahr nach Jean Paul und Hermann verließ, um in Leipzig und Erlangen Jura zu studieren und schließlich in Hof eine Anwaltskanzlei zu eröffnen. In einem Brief an Otto vom 28. November 1797 erinnert sich Jean Paul an die inspirierenden Gespräche in Schwarzenbach. Viele Jahre später weiß er, dass seine Freundschaft zu Otto „jene Zartheit [hatte], die keine Fehler duldet und zeigt“ (Brief vom 19. März 1796). Otto legte denn auch bei der Beurteilung von Jean Pauls Schriften eine Sensibilität und Behutsamkeit an den Tag, aus welcher der Autor großen Nutzen zog. Im Gegenzug las Jean Paul seit etwa 1790 Ottos historische und rechtswissenschaftliche Schriften vor deren Publikation, wodurch er ein nicht zu unterschätzendes Reservoir an fachspezifischem Wissen erwarb, welches auf sein Schreiben und seine politische Haltung nicht ohne Wirkung blieb. Otto war ein begeisterter Anhänger der Französischen Revolution, was sich ebenso in seinen alltäglichen Äußerungen wie in den Schriften widerspiegelte. Es ist nicht übertrieben, Christian Otto als Vorbild für den republikanisch gesinnten Flamin im „Hesperus“ anzusehen. Der Bezug auf Otto geht in dem Roman so weit, dass der Autor im 45. Kapitel dem Hofer Intimus sogar „vier Heftlein“ zueignet. Obwohl briefliche Freundschaftsbeteuerungen stets mit Vorsicht zu nehmen sind, dürften Jean Pauls enthusiastische Äußerungen glaubwürdig sein, denn gegenüber Christian Otto hat er sein Herz wie gegenüber nur wenigen anderen Personen geöffnet. Zudem stand der versierte Jurist dem in praktischen Lebensfragen zuweilen recht unbeholfenen Freund als Berater zur Seite. Insbesondere bei den Erbstreitigkeiten der Mutter erhielt Otto einen schonungslosen Einblick in die finanzielle Misere von Familie Richter. Ein wenig Neid dürfte freilich in der Begeisterung Jean Pauls mitgeschwungen haben, denn Otto privatisierte später und lebte nur für seine Familie, die Musen und die Wissenschaften. Die beste Ausbildung gewinnt an Tiefe, wenn sich zur rechten Zeit ein geeigneter Mentor einstellt. Für Jean Paul trug dieser väterliche 48  1. Kapitel

Freund und „älteste literarische Wohltäter“ den Namen Erhard Friedrich Vogel, ein aufgeklärter Geistlicher aus der oberfränkischen Markgrafschaft Bayreuth. Vogel hatte die Universitäten Erlangen und Leipzig als Student der Theologie absolviert und begann seine berufliche Laufbahn als Hofdiakonat-Vikar an der Schlosskirche seiner Geburtstadt Bayreuth. Im Jahre 1775 erfolgte die Berufung auf die südöstlich von Hof gelegene Pfarre Rehau. Vogel, ein reformwilliger Intellektueller, förderte die Volksbildung durch Gründung von Lesegesellschaften und Modernisierung des Schulwesens, das der Kirchenaufsicht unterstand. Er publizierte theologische und kirchenpolitische, ja sogar landwirtschaftliche Zeitschriftenartikel und stellte ambitionierten Neulingen seine umfangreiche Bibliothek zur Verfügung. Bereits die ersten Exzerpthefte belegen Jean Pauls intensive Nutzung von Vogels Bücherei. Im Jahre 1785 veröffentlichte der Geistliche anonym (was damals durchaus üblich war) seine bekannteste Schrift: „Raffinerien für raffinirende Theologen“, deren scharfsinnige Kommentare zu theologischen und kirchenpolitischen Themen sowie zu den Josephinischen Reformen in Österreich überregionale Beachtung fanden. Die „Raffinerien“ enthalten Zitate Jean Pauls, allerdings ohne Quellenangabe. Politisch und religiös der Konzeption eines aufgeklärten Absolutismus folgend, galt Vogels Interesse besonders der Geschichte und Reformierung der evangelisch-lutherischen Kirche im Fürstentum Bayreuth. Nach dem frühen Tod des Vaters hatte Jean Paul in Vogel einen Mentor gefunden, der ihn auf behutsame Weise an die moderne Literatur heranführte und die ersten Schreibversuche verständnisvoll begleitete. Als Familie Richter Anfang 1776 von Joditz nach Schwarzenbach zog, benötigte Jean Paul für den Fußweg nach Rehau nur eine Stunde, was die persönliche Begegnung mit Vogel erleichterte; mit der Gymnasialzeit in Hof verdoppelte sich die Wegstrecke. Im April 1781, ein halbes Jahr nach der Schulentlassung, begann der Briefwechsel zwischen Vogel und Jean Paul, der die als „Muluszeit“ bezeichnete Phase vor dem Beginn des Studiums im Haus seiner Mutter in Schwarzenbach verbrachte, also nahe Rehau. Zwischen Vogel und dem Zögling entwickelte sich eine enge literarische Beziehung, welche bis in die späten 1790er Jahre währte. Jean Pauls erste Jugendjahre im Fichtelgebirge  49

Briefe an Vogel vom Frühjahr 1781 geben ein beredtes Zeugnis seiner Vorlieben und Neigungen. So lobt er Hippels „Buch von der Ehe“ (aus dem längere Textpassagen exzerpiert werden) und fragt nach weiteren Schriften des scharfsinnigen Humoristen. In besonderem Maße interessieren ihn die Werke des protestantischen Theologen und Hauptvertreters des bibelkritischen Rationalismus, Johann Salomo Semler, dessen „Abhandlung von der freyen Untersuchung des Kanons“ aus dem Jahre 1771 eine intensive Diskussion nicht nur unter Theologen entfacht hatte. Zudem fühlte er sich von den Schriften Goethes, Lavaters, Lessings, Montaignes sowie Laurence Sternes „Tristram Shandy“ und Rousseaus „Émile“ angezogen. Die frühesten literarischen Schreibversuche Jean Pauls trugen den Titel „Übungen im Denken“, von denen der Autor in einer vorangestellten Anzeige allerdings beteuert: „Diese Versuche sind blos für mich.“ Gleichwohl sorgte er dafür, dass Pfarrer Vogel am 3. April 1781 das erste Heft mit der Bitte zugestellt erhielt, die Arbeiten „für Schul­ exerzitien anzusehen, die man korrigiert“. Von Vogels Namensvetter, dem Aktuar, erfuhr er schließlich, dass der Seelsorger von den Texten angetan sei. Tatsächlich erwies sich der Geistliche als ein guter Erzieher und Lektor, der durch sanfte, weiterführende Hinweise dem Talent des Zöglings eine verständige Anleitung gab. Bereits der erste Brief vom 6. Mai 1781 bezeugt, dass sich der Mentor jeder brüsken Zurechtweisung enthielt. Die Antworten Vogels vermitteln einen Eindruck von der intensiven Auseinandersetzung mit den Schreibversuchen des jungen Autors. Aber Kritik blieb nicht aus. So wird die Untersuchung „Über die Religionen der Welt“ bemängelt, weil sie für den Geschmack des Geistlichen bedenkliche Irrlehren enthielt. Vogel hinterfragt – um nur zwei Beispiele seiner Bedenken zu nennen – in einem Brief vom 23. September 1781 die These, dass jede Religion, an dem Ort wo sie verehrt wird, die beste sei. Auch wird der Gedanke, dass Gott außer dem Guten auch das Böse hervorbringe, entschieden abgelehnt. Jean Pauls heterodoxes Denklabor betrat der Pfarrer jedoch stets mit regem Interesse, ohne sich abgestoßen zu fühlen. Vielmehr regte er den literarischen Famulus zur Erläuterung seiner Gedanken über den Materialismus an. 50  1. Kapitel

Die ersten beiden Hefte der philosophischen Essay-Sammlung „Übungen im Denken“ entstanden zwischen August 1779 und Mai 1781, also teilweise in der frühen Universitätszeit. Als Muster diente Wielands erfolgreiche Zeitschrift „Der Teutsche Merkur“, welche er in Vogels Bibliothek fleißig exzerpierte. Das Titelblatt des ersten Heftes, von eigener Hand mit kalligraphischem Anspruch geschrieben, ist sogar dem berühmten Vorbild nachempfunden. Aber das Projekt geriet bereits nach drei Bänden ins Stocken und schlief schließlich völlig ein. Außer dem Autor war Pfarrer Vogel vermutlich der einzige Leser, der sämtliche Bände zur Kenntnis genommen hat. Die Texte bieten einen guten Eindruck von den Interessen und Neigungen des jungen Autors: Im Vordergrund stehen theologische Erörterungen, die sich mit der aktuellen rationalistischen Bibelexegese sowie der Vermittlung von Offenbarung und Vernunft befassen. Außerdem beschäftigte sich Jean Paul als Beiträger, Redakteur und Herausgeber mit so unterschiedlichen Themen wie Theologie, Logik, Physiognomie- und Geisterlehre. Obwohl die Aufsätze ein gewisses Maß an Eigenständigkeit bekunden, sind sie durchweg der damals aufkommenden so genannten Popularphilosophie verpflichtet, welche die komplexen Gedankengebäude etwa von Leibniz und Wolff einem breiten Publikum verständlich machen wollte, ohne deren Inhalte unredlich zu verkürzen. Diese Weisheitslehre für das Bürgertum war ein Kind der Aufklärung, aber sie litt an dem schlechten Ruf der Seichtigkeit und Oberflächlichkeit. Die aufgeklärte Volksphilosophie des 18. Jahrhunderts setzte sich für Toleranz, Bildung und Humanität ein mit dem Ziel, den „Menschen zu vervollkommnen, seinen Verstand aufzuklären und sein Herz zu bessern.“ Bekannte popularphilosophische Autoren jener Zeit waren Lessing, Thomas Abbt, Christian Garve und Johann Georg Zimmermann, dessen bekannteste Schrift „Vom Nationalstolz“ große Verbreitung fand. Die „Fragmente aus der Muluszeit“, entstanden von November 1780 bis zum Schluss des folgenden Jahres, behandeln ebenfalls vorrangig theologische Themen, aber die Erörterungen über „Schlaf und Traum“ und „Gedanken eines alten Einsiedlers vor seinem Tode“ sind frühe Hinweise, dass sich Jean Paul gegenüber den dämonischen AsJugendjahre im Fichtelgebirge  51

pekten des Lebens nicht verschloss. Denn neben der rationalistischen, von der Popularphilosophie vertretenen Haltung spielte der Geniekult, der Sinn für das Schauderhafte und Abgründige, ebenfalls eine erhebliche Rolle in der damaligen Literatur. Die Neigung zu mystischen Entrückungs- und Jenseitsgedanken war die Kehrseite des rationalen Vernunftdenkens jener Zeit. Mit dem Gefühls- und Schattenkult identifizierte sich insbesondere die Jugend. Die beiden bekanntesten deutschsprachigen Romane des Sturm und Drang waren Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ von 1774 und der zwei Jahre später publizierte „Siegwart“ aus der Feder des schwäbischen Autors Johann Martin Miller. Den „Werther“ hatte Jean Paul vermutlich in der zweiten Auflage von 1775 gelesen und exzerpiert, wobei er sich vor allem auf die Naturschilderungen konzentrierte. Von „Siegwart“, einem Roman, dessen kitschiges Pathos für Jean Pauls Prosa langfristig eine besondere Wirkung entfalten sollte, sind Exzerpte nicht bekannt. Beide Romane beschreiben einen zuvor in der deutschen Literatur nie gekannten Gefühlsreichtum, ein rauschhaftes Natur- und Liebeserlebnis, das in vergleichbarer Ausdruckskraft bisher nur in der Lyrik Klopstocks auftrat. Nicht nur die Romanfigur Vult aus den „Flegeljahren“ wollte in der „59. Notenschnecke“, ähnlich wie „Siegwart“, „den Mond zu seinem Bettwärmer machen“. Man kleidete und benahm sich wie Werther (nicht selten mit Todeskonsequenz), entäußerte Sturzbäche von Zähren und buhlte um die Gunst von Frauen, von denen der Freier freilich wusste, dass sie nur unter dem Bruch moralischer Konventionen zu erlangen waren. Jean Paul war ein Kind der Sturm und Drang-Zeit, deren Lebensgefühl ihn so maßgeblich prägte wie keine andere geistige Epoche. Die Mischung aus Sentimentalität mit suizidaler Neigung, Geniekult, rauschhaftem Natur- und Gefühlserlebnis und pathetischem Aufbegehren gegen soziale Schranken war der Nährboden seiner literarischen Pflanzen. Als Autor fühlte er sich jedoch mehr von der erzählenden Prosa inspiriert, als von den Gattungen Lyrik und Drama. In Schwarzenbach, also nach dem Abgang vom Gymnasium im Hause der Mutter, entstand denn auch das erste „Romängen“. Nachdem er 52  1. Kapitel

sich zunächst als philosophischer Essayist versucht hatte, griff er nun zur Feder, um die Erzählung „Abelard und Heloise“ zu Papier zu bringen, deren Titel an die unglückliche Liebe zwischen dem mittelalterlichen Theologen und dessen Freundin erinnert. Abelard ist das Pseudonym für den Intimus Oerthel, dessen Hofer Liebeshändel dem Roman als Vorlage dienten. Jean Paul gehörte zu jenen Autoren, denen ein gemaltes Wasserglas genügt, um den eigenen Durst zu stillen. So diente ihm eine fremde Liebe als Vorlage für den ersten Romanversuch. Gleichwohl sind bereits in dieser frühen Probe seiner Erzählkunst charakteristische Techniken der späteren Romane vorhanden. So greift der Autor als Pfarrerssohn Karl selbst in die Handlung ein, und bei der geschilderten Bestattung könnte es sich um eine Beschreibung der kurz zuvor erlebten Grablegung seines Großvaters handeln. Auch besucht Abelard das „Gymnasium einer nahen Stadt“. Mehr noch als zu „Siegwart“ fallen jedoch die Ähnlichkeiten mit „Werther“ auf: So liegt die Handlungszeit ebenfalls in den Monaten Mai bis Dezember, und der Name des Adressaten lautet Wilhelm. Im Vergleich mit der Vorlage Goethes ist die Schlussszene jedoch dramaturgisch zugespitzt: Zunächst beschwört der Titelheld auf dem Grab der Geliebten vergeblich den eigenen Tod, worauf er sich schließlich – seinem literarischen Vorbild folgend – erschießt. Der junge Dichter zeigte sich freilich vom ersten eigenen Roman enttäuscht. Eine abwägende Selbstkritik vom 9. August 1781 bemängelt ebenso die unglaubwürdige Handlungsführung wie die begrenzte Ausdruckskraft der Protagonisten, aber dem Text wird immerhin eine „Sprache des Herzens“ zugestanden. Die übermäßigen Gefühlsausbrüche der Beteiligten (und ihrer jugendlichen Nachahmer) stießen indes bei großen Teilen des Publikums auf Widerspruch: „Man schimpft hier auf die neuen Empfindler“, heißt es in dem Roman unter dem Datum des „16. Junius“. Die „Göthesianer – Empfindler“ trafen auf wenig Verständnis bei den Erwachsenen, zumal die zivilen Umgangsformen unter den Gefühlsausbrüchen litten. Die Jugend gründete Tugendbünde, man „blikte mit tränenvollem Auge“ in andere Wasserge-

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sichter und lamentierte, dass „ein gescheuter Kerl … tausendmal mehr geschätzt [wird], als ein empfindsamer Jüngling“. Hinter dem Phänomen des Sturm und Drang stand ein Generationskonflikt. Die demonstrativ ausgelebte Theatralik des emotional enthemmten Nachwuchses wirkte auf viele Erwachsene verstörend, nicht nur in der Literatur, sondern auch im Alltag. Abfällige Bemerkungen von Bekannten bereits in der Schwarzenbacher Zeit über Jean Pauls ungepflegte, neumodische Kleidung belegen, dass er nicht nur geistig, sondern auch in der äußerlichen Selbstdarstellung dem Zeitgeist folgte. In der Erzählung „Palingenesien“ erinnert er sich an die Periode zwischen 1770 und 1780, also jener Jahre, die mit der Bezeichnung „Sturm und Drang“ in die Annalen der deutschen Literaturgeschichte eingegangen sind. Zu jener Zeit gab sich die Jugend betont individualistisch, widersetzte sich überkommenen Konventionen und Regelwerken, verstand die Sprache vorrangig als Ausdruck von Empfindungen: „Wir waren alle originell und ahmten nicht mehr ausländische Skribenten, sondern uns untereinander selber nach, und noch dazu solche Autoren, die große Briten nachgeahmt hatten. Echter Stolz war damals häufig und gemein“, heißt es in den „Palingenesien“. Ungezügeltes Pathos, ausgelebte Emotionalität und eine derbe Naturverbundenheit fanden ihren Ausdruck in schonungslosen Selbstdarstellungen gesellschaftlicher Widersprüche und des eigenen Seelenlebens: „Verse und Prose waren hart, aber die Herzen weich … Genies mit Tränen in den Augen teilten auf den Straßen Prügel aus und Scheltworte aufs Papier“. Man trieb Allotria, Zechprellerei, ritt Pferde zuschanden, schlief im Stroh, griff derben Bauernmädchen unter den Rock. Das Bürgertum entblößte sein Seelenleben, woran sich allerdings zuweilen auch Fürstenkinder nicht ungern beteiligten. Ein bisher unbekannter Empfindungsreichtum suchte Ausdruck, der sich freilich in höchster Reife mehr in der Ton-, als in der in der Sprachkunst entfalten konnte. Trotz der erlebten Armut blieben für unseren Autor die Jugendjahre stets ein Abglanz des Paradieses, aber im Rückblick wird die Zeit erfahrener Not ja nicht selten verklärt. So heißt es in einem Brief vom 17. März 1800: „Die Schmerzen der Armuth hab’ ich gerade wie Sie54  1. Kapitel

benkaes und mit derselben Laune getragen“. Die subtile Bitterkeit solcher Zitate mag der Leser selbst herausfühlen. Der sozialen Frage durch eigenes Erleben wohl bewusst, folgert Jean Paul in einem Brief vom 29. November 1796, dass „alle Sünden [des Volkes] aus der Armuth“ entstünden. Seine niedere Herkunft wollte er nicht kaschieren: „Ja ich bin oft eitel, aber frank und frei spielend, weil ich immer etwas in mir habe, was sich um keinen Beifall schiert“, heißt es in einem Brief vom 2. Juli 1799, der auf das Bekenntnis des 18-jährigen als Republikaner mit „Muth und einer Denkungsart gegen Fürsten“ anspielt. Bereits in der frühen Schwarzenbacher und Hofer Zeit war er „ohne Muster und Nachahmer schon über Stand und Kleider“, wie er seine Außenseiterrolle beschreibt. Mit (freilich etwas gezwungener) Überheblichkeit fügt er hinzu, „die Nester der höhern Stände nur der Weiber wegen“ erklommen zu haben. „Jugendfreundschaft ist der Frühgottesdienst des Lebens“, heißt es im 32. Hundposttag, aber es ist fraglich, ob seine Kindheit wirklich so unschuldig war, wie im „Titan“ am Anfang der „10. Jobelperiode“ behauptet wird. Tatsächlich erfuhr er von den Freunden nicht nur Anerkennung für seine geistigen Fähigkeiten, sondern fühlte auch den Spott für sein sonderbares Habit. So resümiert Christian Otto über den Eindruck, den Jean Paul auf seine Freunde machte: „Seine dem Stoff und der Form nach dorfmäßige, ganz neue und doch vernachlässigte Kleidung, sein treuherzig unbefangener Anstand, sein gleichsam alte Bekanntschaft voraussetzendes Entgegenkommen, das fast für Zudringlichkeit galt, – den städtischen Mitschülern diente dies alles, besonders aber sein in sich gekehrter, auf die äußere Erscheinung unaufmerksamer Sinn, ja sogar sein begeisterter Blick, der ihnen schielend vorkam, zum Spott.“ (Zitat nach Eduard Berend: Jean Pauls Persönlichkeit, Leipzig, 1913, S. 1). Resümierend können wir über die Jugendjahre Jean Pauls feststellen, dass die seit dem 13. Lebensjahr vorhandene Neigung zum Philosophieren und zum geistigen Austausch seinen sozialen Verkehr auf Freunde beschränkte, die seinen Ansprüchen genügen konnten. Der Apparat an Gelehrsamkeit, den er vor sich hertrug, musste (und sollte wohl auch) viele Gleichaltrige verschrecken, nicht zuletzt auch das Jugendjahre im Fichtelgebirge  55

weibliche Geschlecht, bei dem er in jener Zeit wenig Erfolg hatte. Einsam war er nicht, aber er wählte die Vertrauten klug auf ihre Ansprechbarkeit für sein literarisches Anliegen aus, und die Freunde machten sich als Sekretäre dienstbar für jemanden, dem man die enthusiastisch empfundene Berufung zum Poeten an den (vermeintlich vor Begeisterung) schielenden Augen ablesen konnte. Sein erstes Stimulans war der Kaffee, zum Ausgleich spielte er gerne Schach, aber seine Gedanken zielten auf Pläne, die es ihm ermöglichen würden, sein zukünftiges Dasein der Dichtung und Philosophie zu widmen. Neben Joditz blieb vor allem Wunsiedel („der edle Sitz im Waldwiesenland“, wie der Name des Geburtsortes neudeutsch übersetzt wird), als Hort einer glücklichen Kindheit in seiner Erinnerung: „Froher kan der Mensch nicht sein als in Wonsiedel, wenn auch klüger“, heißt es in einem Brief vom 12. Februar 1802. In Joditz erlebte er seinen Vater auf dem Höhepunkt des Berufslebens, begabt in den Künsten der Rhetorik und Musik, der die Familie zwar arg kujonierte, dem der Sohn aber – auf freilich eigenständige Weise – nachzustreben gesonnen war. Der frühe Tod des Familienhaupts hatte Jean Paul eines Vorbildes beraubt, zu dem er allerdings (anders als zur Mutter, die er ebenso liebte wie bemitleidete) ein zwiespältiges Verhältnis entwickelte. Zu sehr fühlte er sich von dem oftmals unbeherrschten Zorn und der familiären Dominanz des Patriarchen abgestoßen, als dass zwischen ihnen eine wenigstens einigermaßen befriedigende Beziehung hätte gedeihen können. Gleichwohl ist die kulturelle Erbschaft des Vaters nicht hoch genug zu veranschlagen, dessen gehobene Beredsamkeit und anspruchsvolle Musikalität im Sohn fortlebten. Obwohl der wahre Charakter des Familienhaupts hinter der nebulösen Kontur von Jean Pauls „Selberlebensbeschreibung“ letztlich verborgen bleibt, war der gleichsam gottähnlich-allgegenwärtige, auf der Kanzel, an der Orgel und dem Familientisch vorherrschende Vater (neben den Mentoren Vogel und Doppelmaier) die weitaus prägendste Persönlichkeit seiner frühen Kindheit. Mit Wunsiedel verband Jean Paul denn auch die glücklichste Zeit seines Lebens, der kleine Ort im Fichtelgebirge blieb die „Baustelle [seiner] schönen Luftschlösser, auf dem Resonanz56  1. Kapitel

boden der Kindheit“, wie es im 34. Hundposttag des „Hesperus“ heißt. Die Gegend um „Hof im Voigtlande“ mit der „fließenden Saale, deren nahen Tannenwälder und fernen Berge“, beschwor er noch im späten Roman „Komet“. Der milde Abglanz keiner anderen Lebensstation wird so oft in seinen Texten aufleuchten, wie die Erinnerungen an die goldene Zeit in der Pfarrei von Wunsiedel.

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2. Kapitel

Studienzeit in Leipzig Leipzig, damals in Gelehrtenkreisen nach dem orttypischen Lindenbestand auch Philura genannt, war in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die größte Stadt des Kurfürstentums Sachsen, zugleich Handels- und Universitätsstadt, ein Zentrum der Buchproduktion und der deutschen Aufklärung. Regelmäßige Messeveranstaltungen, zahlreiche Lesegesellschaften und eine Alma Mater mit großer Anziehungskraft für Studenten und ambitionierte Lehrkräfte boten die Grundlage für ein freisinniges kulturelles Klima. Viele deutsche Gelehrte, die zu Beginn des 15. Jahrhunderts aufgrund böhmischer Nationalisierungstendenzen die Prager Karls-Universität verlassen hatten, fanden in der Markgrafschaft Meißen eine neue geistige Heimat. In den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich in Leipzig die zeitweilig größte Universität Deutschlands mit neu gegründeten Fakultäten. So lehrte hier seit 1725 der als Rektor und Professor für Poesie überregional bekannte Johann Christoph Gottsched. Weitere prominente Namen der Leipziger Universität waren der Moralphilosoph und vielgelesene Autor Christian Fürchtegott Gellert sowie der Schriftsteller und Pädagoge Christian Weiße. In der Folgezeit zog es Lessing, Klopstock und Goethe nach Leipzig. Die soziale Trennungslinie an der „Alma Mater lipsiensis“ trennte adlige und bürgerliche Studenten, welche sich jeweils in eigenen Lebenskreisen bewegten. Der Adel war mit einem Anteil von zirka 15 Prozent an den Studenten verhältnismäßig stark vertreten. Unterschiedliche Einkommensverhältnisse, ständische Privilegien, feudale Rituale – wie die Mensurpflicht – sowie eigentümliche Lebens- und Kleidungsformen sorgten für deutliche soziale Abgrenzungen. So kritisiert ein Brief Jean Pauls an Pfarrer Vogel vom 17. September 1781 die „Stuzzer“, welche an schönen Tagen die Straßen Leipzigs bevölkern. Denn „alle reichen Studenten sind Petitmaitres. Die Sitten sind

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frei; man könnte die Leipziger vielleicht mit Recht die deutschen Franzosen nennen“. Seit den späten 1780er Jahren wurden diese Schranken an der Universität wenigstens teilweise durch die Gründung von Freundschaftsbünden oder landsmannschaftlichen Verbindungen überbrückt. Das gefestigte korporative Selbstverständnis der Studenten begünstigte allerdings eine gewisse Distanz zur alltäglichen Umwelt. Es entwickelte sich eine Neigung zur Widerständigkeit, die sich in „akademischen Freiheiten“ wie Duellen, Saufgelagen, Schlägereien, Schulschwänzen, nächtlichem Allotria und einer eigenen studentischen Gerichtsbarkeit ein soziales Ventil suchte. In einem Brief vom 4. Februar 1811 bemerkt Jean Paul: „Eine Universität ist eine große sittenlose Stadt … Der Student muß herrschen, und die Stadt von ihm abhängen und er nichts größeres um sich kennen als den Prorektor.“ Im vierten Band der „Flegeljahre“ heißt es freilich mit traurigem Unterton: „Leipzig und seine Lustbarkeiten kennen Sie selber … Diese kennt freilich ein darbender Musen- und Schulzensohn wenig“. Einzelne Vertreter des Lehrkörpers entwickelten ein neues Selbstverständnis. So galt nunmehr in Leipzig der karg lebende, weltfremde, pedantische Stubengelehrte mit niedrigem Einkommen als eine antiquierte Erscheinung. Barockes Gelehrtendasein wurde ersetzt durch die Aufwertung des Professors als moralisch gewichtige Stimme im gesellschaftlichen Leben. Das heutige Bild des Hochschullehrers als (mehr oder weniger) sozial relevanter Beruf hat seinen Ursprung in der damaligen Zeit. Wurden bis dahin allenfalls Juristen als Verfasser von Gutachten und Traktaten politisch wahrgenommen, so galten nunmehr professorale Einlassungen aus moralischer Sicht als zitatwürdige Quellen. Die bis dahin weitgehend unbekannte Funktion des Privatdozenten wurde durch verschärfte Qualifikationsmaßstäbe, wie die Habilitation, aufgewertet – eine Maßnahme, der unter anderem Gottsched seinen Aufstieg verdankte. Angesichts der prekären finanziellen Situation von Familie Richter war die Aufnahme eines Studiums für Jean Paul keineswegs selbstverständlich. Voraussetzung war die Gewährung eines Stipendiums, aber eine Bittschrift an den Stadtsyndikus und Superintendenten von Studienzeit in Leipzig  59

Wunsiedel wurde abschlägig beschieden. Schließlich verfasste der Hofer Schulrektor Kirsch am 15. Mai ein „Testimonium Paupertatis“ – ein amtliches Zeugnis der Bedürftigkeit – mit besonderem Hinweis auf die Fortschritte Richters im Fach Philosophie, um seinem vormaligen Schüler den freien Kollegienzugang zu ermöglichen. Die Supplik hatte Erfolg. Nach einem recht kaltherzigen Abschied von den Freunden in Schwarzenbach reiste der angehende Student gemeinsam mit Rektor Kirsch und Freund Oerthel nach Kursachsen. Am 19. Mai 1781 wurde Johann Paul Friedrich Richter an der Universität Leipzig immatrikuliert. Sein Quartier bezog er im Gasthof „Zu den drei Rosen in der Petersstraße, zwei Treppen, No. 2, gerade in dem Hause, wo der Örtel wohnt, unsere Zimmer stoßen zusammen“, wie es in einem Brief von Ende Mai 1781 heißt. Er wohnte in einem der ältesten Straßenzüge Leipzigs im südwestlichen Teil der Altstadt, dem Gründungsort der Universität. Das „Testimonium“ wurde von den meisten Professoren anerkannt, für 18 Pfennige gab es ein solides Mittagsmahl. Allerdings war der landschaftliche Eindruck für den Fichtelgebirgler eher ernüchternd, denn die gewohnten Täler und Hügel suchte er vergebens. Allein der „Studenten-Badeörter“ an der Pleiße wird in den „Flegeljahren“ mit Wehmut gedacht, freilich nicht ohne neidische Anspielung auf den mondänen Badeort Lauchstädt, wo die noblen Leute ihre Kur verlebten. Der arme Vogtländer fand sich nur schwer in die neue Situation, denn „die Mode ist hier der Tyran, unter dem sich alles beugt“. Schon Goethe hatte 16 Jahre zuvor als Student auf Anraten seiner Freundinnen die veraltete Garderobe gegen eine neumodische ausgetauscht. Seit den Shakespeare-Übersetzungen Wielands und Eschenburgs galten die Protagonisten der Dramen des englischen Autors vor allem bei der Jugend als rhetorisches, emotionales und habituelles Vorbild. Insbesondere der melancholisch veranlagte Prinz Hamlet galt bei den Heranwachsenden als Idol, dessen legere Kleidung nachzuahmen als Ausdruck von Eigenständigkeit galt. Es war die Zeit, als in Schillers Erstlingsdrama die Helden Karl Moor und Moritz Spiegelberg vor begeistertem Publikum im wahren Wortsinn „Räuberzivil“ trugen. Dahinter stand das Bekenntnis zu einer äußeren und inneren Freiheit, 60  2. Kapitel

die seinerzeit nur Studenten, Schauspieler und Briganten für sich beanspruchten. Nicht das Habit der reichen, meist adligen Stutzer in den Assembleen, sondern die weitaus sparsamere, wir würden heute sagen „existenzialistische“ Kleidung des Sinn suchenden dänischen Fürstensohnes diente als modisches Vorbild. So verzichtete Jean Paul in einem Brief an die Mutter vom 27. August 1781 auf die Zusendung von Leinwandstoff zur Reparatur seiner zerschundenen Weste und erbat stattdessen „feine Oberhemde … à la Hamlet“. Eingedenk der spießigen Bürger in Schwarzenbach wird erläuternd hinzugefügt: „Bei Ihnen wird dies niemand verstehen, das heist nämlich, forn bei der Brust müssen sie [die Hemden] offen sein, daß man den blossen Hals und die Brust sehen kann; das ist hier Mode.“ Zudem trug er das Haar lang und offen, den üblichen Zopf lehnte er ab. Die betuliche Mutter wird über die modischen Vorlieben des Sohnes einigermaßen frappiert gewesen sein. Hingegen dürfte sie die Ankündigung begrüßt haben, dass die Familie demnächst von ihm Geld erhalten würde, sobald er als Autor welches verdiene. Aber nicht die Einnahmen, sondern die Schulden wuchsen. Anstelle der versprochenen Geldzuwendungen erhielt die Mutter lediglich Klagen über ungeflickte Strümpfe und „grobe Hemden“ minderer Qualität, die er aus Armut zu tragen genötigt sei. Es zog ihn vor die Tore von Leipzig, wo er einen kleinen Garten für seine dichterischen Übungen nutzen durfte. Aber seine als nachlässig empfundene Kleidung und das offen getragene Haar provozierten einen Eklat, denn man fühlte sich von der „Entblössung des Busens“ abgestoßen. Zwar lenkte der als Prinz Hamlet kostümierte Student beschwichtigend ein, aber eine vergleichbare Szene wiederholte sich anlässlich seines Besuches bei Pfarrer Vogel in Rehau an den Pfingstfeiertagen 1783. Auch die Schwarzenbacher Gäste – Völkel, Johann Wilhelm Vogel und Cloeter – mokierten sich über sein Äußeres. Diese Herren galten für den Gescholtenen jedoch als „quackende, aufgeblasene Frösche“, welche selbst den philosophischen Tonnenbewohner Diogenes verachten würden. Der ausführliche Briefwechsel mit Pfarrer Vogel dokumentiert den Ernst, mit welchem der Streit um seine (nach-)lässige Garderobe und Studienzeit in Leipzig  61

Frisur von beiden Seiten behandelt wurde – zumal der Geistliche hinter der „heterodoxen Kleidung“ (wohl nicht zu unrecht) eine ketzerische Gesinnung vermutete. Man lese nur den ausführlichen Brief Jean Pauls vom 22. Juli 1783 und die Antworten Vogels, um eine Ahnung von dem seelischen Konflikt zu bekommen, den das „Kleidermartyrium“ für ihn beschwor, zumal er seinen „unbedeckten Hals“ nicht nur in der Heimat, sondern auch in Leipzig mehrfach verteidigen musste. In der Kleidungsfrage legte Jean Paul über viele Jahre hinweg eine entschiedene Widerspenstigkeit gegen Spießertum und Konvention an den Tag, welche bei ihm in dieser scharfen Ausprägung nicht wieder vorkommen sollte. Anlässlich eines Besuchs in Hof ausgerechnet im Jahre des Ausbruchs der Französischen Revolution kündigte er schließlich in einem an Hermann und Vogel gerichteten „Avertissement“ die „Rückverwandlung seines Äußern vom Englischen ins Vogtländische“ an, wozu auch das erneute Tragen des Zopfes gehörte. Der in Fragen modischen Schicks zeitlebens unbeholfene Jean Paul räumte in den „Palingenesien“ freilich ein, dass er „durch allen Kleider- und Schneider-Wechsel nie dahin [kam], daß ihm sein Habit so glatt und nett gesessen hätte wie einer Statue das nasse Gewand.“ Aus kulturgeschichtlicher Sicht galt das Bekenntnis zur „britischen Mode“ als Widerstand zu der als antiquiert empfundenen Vorherrschaft der französischen Hofkultur. Auch die Fokussierung auf die englische und nordische Literatur war keine bloße literarische Marotte, vielmehr hatte die Hinterfragung der französischen Leitkultur eine eminent politische Bedeutung. Das Tragen „britischer Mode“ galt als antifeudales Bekenntnis, mit dem man sich zugleich vom gelehrten Establishment wie von den Stutzern abgrenzen konnte. Zudem verband sich die Attitüde rebellischer Selbstdarstellung mit dem Vorteil der Sparsamkeit: „Ja diese Mode ist eine von den seltnen, auf deren Seite die Vernunft getreten. Denn die Verschneidung der Haare erspart Geld, Zeit, Verdrus und befreiet vom Friseur … Und die Offenheit des Busens hindert das Schwitzen, das gefährliche Unterbinden gewisser Adern des Halses und vergnügt durch das Gefül der bequemen Entjochung“, wie in dem erwähnten Brief vom 22. Juli 1783 62  2. Kapitel

verlautet. Auf die polemische Frage Vogels, warum Jean Paul denn nicht nackt durch Leipzig laufe, antwortet der Hamlet-Rebell denn auch trotzig, das liege allein daran, dass das Gesetz es verbiete. In „Hesperus“ hinterließ dieser emphatisch ausgetragene Konflikt bleibende Spuren, etwa wenn Protagonist Viktor im 9. Hundposttag ebenfalls Haar und Brust unbedeckt lässt, um das Gefühl der Freiheit auszuleben. So verbissen der Streit um die Kleiderordnung auch geführt wurde, blieb der langmütige Pfarrer Vogel dennoch weiterhin Jean Pauls Mentor. Seit dem Abgang von der Schule schwelte zwischen den beiden jedoch ein weiterer Konflikt, der die Eigenwilligkeit des Studenten mindestens ebenso deutlich unter Beweis stellte wie der Zwist um den modischen Geschmack: Seit Herbst 1780 benutzte Jean Paul in sämtlichen Texten nicht mehr das Dehnungs-h, außerdem schrieb er t statt th und r statt rh, also beispielsweise „Tor“ statt „Thor“. Pfarrer Vogel konnte freilich nicht ahnen, dass diese Abweichungen späteren Germanisten die chronologische Zuordnung der Werk- und Brieftexte erleichtern würden. In einem ausführlichen Briefwechsel mit Vogel begründete Jean Paul seine Neuerungen ebenso eindringlich wie logisch mit der inkonsequenten Umsetzung von Lauten in Schriftzeichen im Deutschen. Trotzig heißt es, dass er auf die einmal angenommene Gewohnheit in Briefen keineswegs verzichten wolle. Abgesehen von einer kurzfristigen Abweichung ein Jahr darauf (als er sich gelegentlich zur Schreibung von th in Fremdwörtern durchrang) nahm er ab Frühjahr 1784 den üblichen Schriftgebrauch wieder an und verwendete an den entsprechenden Stellen Dehnungs-h und th. Solche Schriftabweichungen blieben indes nicht auf die Leipziger Zeit beschränkt, vielmehr experimentierte er auch später immer wieder mit alternativen orthografischen Formen. Weiterhin profitierte Jean Paul von der umfangreichen Bibliothek Vogels, der von ihm – zur Anregung von neuen Ankäufen – im Mai 1783 einen „Katalogus von einer schätzbaren Büchersammlung“ erhielt. Wie intensiv er den Buchbestand des Pfarrers nutzte, zeigt der erste Exzerptband von 1781, dessen fast zweihundert Manuskriptseiten Auszüge aus Werken von Shakespeare, Wieland, Hippel, Lessing, Studienzeit in Leipzig  63

Young, Pope, Swift und dem englischen Satiriker Samuel Butler enthalten. Der Streit um Kleidung und Frisur bezeugt ebenso wie seine Eigenwilligkeit in der Rechtschreibung einen widerständigen Zug seines jugendlichen Charakters, der auf konventionell denkende und handelnde Personen durchaus abstoßend wirken konnte. Sein Trotz gegen Überkommenes war geradlinig und konsequent, und nur von Vertrauten nahm er nach heftigen Diskussionen Belehrung an. Seine Verbohrtheit war getragen von Logik in der Sache und einer fundamental oppositionellen Haltung, die Regeln und Konventionen hinterfragte, wenn sie seinen Auffassungen widersprachen. Mit dieser Mischung aus genialischer Selbstdarstellung und Widersetzlichkeit erwies sich Jean Paul als Jugendlicher einer Zeit, in der viele Heranwachsende die (vermeintlichen oder wahren) Vorzüge ihrer literarischen Idole von Hamlet bis Karl Moor durch Diktion, Verhalten und Kleidung imitierten. Über diese modischen Vorgaben hinaus wollte sich Jean Paul jedoch als eigenständiger Charakter erweisen, welcher der Wirklichkeit ein gehöriges Maß an Kritik und Skepsis entgegenbringt. Es war ja nicht nur die Zeit des späten Sturm und Drang, sondern auch die frühe Phase der Vernunftkritik, deren Hauptwerk aus der Feder Kants im Jahr von Jean Pauls Studienbeginn erschien. Kritik mündet jedoch nicht selten in Skepsis, und Heterodoxie ist häufig die Vorstufe des Unglaubens. Adam Lorenz von Oerthel war sein bester Freund in Leipzig, wie er in einem Brief von Mai 1783 bemerkte; die beiden wohnten in der Petersstraße Zimmer an Zimmer. Oerthel unterstützte den Intimus finanziell durch Geldzuwendungen und fertigte Abschriften für die Verleger an. Diese Hilfe war eine ehrenamtliche Dienstleistung für einen guten Freund. Der Briefwechsel zwischen den beiden aus den folgenden Jahren bezeugt eine Vertrautheit, welche Jean Paul in dieser Eindringlichkeit nur noch selten zuteil wurde. Insbesondere die in den meisten Fällen allerdings nur als Konzept überlieferten Gegenbriefe Oerthels belegen die nachhaltige Unterstützung des Freundes in finanziellen, juristischen und literarischen Fragen.

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Im Juli 1782 erschien ein weiterer Hofer Freund in Leipzig: Der passionierte Skeptiker und Naturwissenschaftler Johann Bernhard Hermann sollte ausgerechnet Theologie studieren, denn sein Vater erhoffte wohl in dieser Wissenschaft ein Sedativum für den überaus kritischen Sohn. Ausgestattet mit einem kleinen Stipendium, besuchte Hermann zunächst tatsächlich Vorlesungen zur Gotteslehre, um sich schließlich jedoch gänzlich dem Studium der Medizin und Naturwissenschaften zu widmen. Hermann brach das Studium allerdings bereits nach wenigen Monaten ab, um in Hof eine Apothekerlehre zu beginnen. Trotz nachdrücklicher Bemühungen gelang es ihm nicht, bei Jean Paul jene Stufe der Vertrautheit zu erlangen, die allein Oerthel vergönnt blieb. Immerhin diente ihm Hermann häufig als Kopist seiner Texte. Im Dezember 1781 war auch Christian Otto gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder zum Jurastudium in Leipzig eingetroffen, aber zu jener Zeit hatte das Verhältnis zu seinem dichtenden Freund noch nicht die spätere Nähe. Jean Pauls kommunikatives Netzwerk beschränkte sich in der Leipziger Zeit jedoch keineswegs auf den persönlichen und schriftlichen Austausch mit den Freunden und Bekannten aus Hof, Schwarzenbach und Rehau. Es entstanden enge Beziehungen zu Teilen des universitären Lehrkörpers und deren Familien. Zuweilen entwickelte sich zwischen Studenten und Professoren eine Vertrautheit, wie sie an den heutigen Massenuniversitäten nur noch selten vorkommt. In einem Brief von September 1781 heißt es dazu lakonisch: „Das Professorenvolk ist überhaupt das burleske Volk: sie haben Originaltorheiten“. Ähnlich wie bei Kant und Herder beschränkte sich Jean Pauls Studium nicht auf das Hauptfach Theologie, sondern umfasste zudem natur- und sprachwissenschaftliche Fächer wie Geometrie und Trigonometrie sowie die englische Sprache. Bei Magister Michael Weber hörte er Kollegien über Johannes, bei dem Altphilologen Samuel Friedrich Morus stand die Apostelgeschichte auf dem Lehrplan. Den weitaus größten Teil seiner Studien räumte er jedoch den Fächern Logik, Metaphysik und Ästhetik ein, die von dem seinerzeit bekannten Philosophen und Mediziner Ernst Platner unterrichtet wurden. In einem Brief an Pfarrer Vogel äußerte sich Jean Paul geradezu begeistert Studienzeit in Leipzig  65

über diesen Professor, den er für einen der besten seiner Zunft in Deutschland hielt. Platner, Sohn eines Leipziger Chirurgen, wurde nach dessen frühen Tod das Mündel des protestantischen Theologieprofessors und Altphilologen Johann August Ernesti. Wenige Monate nach Jean Pauls Immatrikulation war Ernesti verstorben, dessen Forderung nach philologischer Exaktheit in der Bibelexegese bei der Fachwelt viel Aufmerksamkeit erweckt hatte. Jean Pauls Urteil über Ernesti war gleichwohl eher zurückhaltend, wie aus einem Brief an Pfarrer Vogel von November 1781 hervorgeht, bemängelt wurde dessen schlechte rhetorische Begabung und geringe Originalität: „Er war der größte Philolog, aber kein grosser Philosoph.“ Gewiss spielte auch der erhebliche Altersunterschied eine Rolle, denn Ernesti war fast vier Dekaden älter als sein Schüler. Platner, ein gebürtiger Leipziger, seit 1780 Professor der Physiologie, lehrte neben unterschiedlichen medizinischen Disziplinen auch Ästhetik, Logik, Psychologie, Metaphysik und Moralphilosophie. Platners wissenschaftshistorisch bedeutendste Leistung war die Mitbegründung der neuzeitlichen Anthropologie als ganzheitliche Menschenkunde, die als Vorläufer der psychosomatischen Medizin gilt. Seine Hauptgedanken resümierte er in dem von Jean Paul geschätzten zweibändigen Werk, welches zu einem populären Lehrbuch der Weltweisheit avancierte: „Philosophische Aphorismen nebst einigen Anleitungen zur philosophischen Geschichte“, worin er sich als entschiedener Gegner von Kants kritischer Transzendentalphilosophie bekennt. In Jean Pauls erstem Studienjahr erschien von Platner eine Schrift, welche in seinem Denken tiefe Spuren hinterließ: „Gespräche über natürliche Religion von David Hume“ nebst einem beigefügten „Gespräch über Atheismus“. Dieses Buch enthält scharfe Angriffe gegen orthodoxe Auffassungen innerhalb der protestantischen Theologie. Aber auch die ästhetischen Reflexionen Platners sowie dessen Form der Kunstkritik zeitigten eine starke Wirkung auf Jean Paul, zumal sich der Professor auch über so aktuelle Themen, wie Kritik an der höfischen Kultur, die „unnatürliche Mode“ und vielfältige weitere Fragen äußerte. Jean Paul zeigte sich schier begeistert von seinem philosophischen Lehrmeister: „Um Ihnen Platnern zu malen, müst‚ ich er 66  2. Kapitel

selbst, oder noch mer sein. Man mus ihn hören; man mus ihn lesen, um ihn bewundern zu können“, heißt es emphatisch in einem Brief an Vogel von November 1781. Die Philosophie und Persönlichkeit Platners erwies sich als das Schlüsselerlebnis der Studienjahre Jean Pauls, dessen Sympathie für Leibniz und entschiedene Gegnerschaft zur Kritiklehre Kants war gleichsam die philosophische Muttermilch, die ihn geistig nährte. Platners Wirkung beschränkte sich jedoch keineswegs auf philosophische oder medizinische Themen, sondern umfasste auch die Literatur. So zeigten sich die Studenten besonders durch dessen Interpretation von Shakespeares Märchendrama „Der Sturm“ beeindruckt. In Jean Pauls über vierzig Jahre später verfasstem „Vita-Buch“, einer Vorstudie zur Autobiografie, heißt es: „Die Stelle in Shakespeare ,mit Schlaf umgeben‘ erschuf ganz neue Bücher in mir“. Besonders faszinierten ihn die Verse aus der Übersetzung Ludwig Tiecks von 1796: „Wir sind solcher Stoff, Woraus die Träume gemacht sind, – und die Spanne unseres Lebens ist rund mit einem Schlaf umgeben.“

Die Bekundung des studentischen Beifalls für Vorlesungen durch frenetisches Pochen mit den Schuhabsätzen war zu jener Zeit eine neuartige Erscheinung. Den akademischen Vorlesungen Platners beizuwohnen galt als eine akademische Sensation, aber ein derartig kompetenter und beliebter Universalgelehrter rief Neider auf den Plan. Ein Brief Jean Pauls an Pfarrer Vogel von November 1781 schildert ausführlich die Widerstände und Verleumdungen, denen Platner in der Gelehrtenwelt ausgesetzt war. Bereits im Jahre 1777 hatte sich der Professor vor dem Dresdner Konsistorium gegen den Verdacht, er sei ein Materialist, rechtfertigen müssen. Immerhin galt der Verstoß gegen den noch heute in Deutschland, Österreich und der Schweiz geltenden (allerdings inhaltlich modifizierten) Blasphemie-Paragraphen im 18. Jahrhundert als schwerwiegendes Vergehen und probates Mittel zu willkürlicher Verunglimpfung und Disziplinierung. Die Schriften Studienzeit in Leipzig  67

„Aphorismen“ und „Gespräch über den Atheismus“ paraphrasieren jedoch lediglich Kerngedanken von Leibniz’ System der prästabilen Weltharmonie mit allerdings originellem Gedanken- und Bilderreichtum. Platners metaphysische Zweifel richteten sich zwar gegen die orthodoxe Theologie, Leibniz’ „Theodizee“ verteidigte er hingegen entschieden, unter anderem gegen die Angriffe des Schriftstellers Johann Carl Wezel. Die wissenschaftsgeschichtlich durchaus interessante Platner-Wezel-Kontroverse war durch eine anthropologische Abhandlung Wezels ausgelöst worden, welche die metaphysische Seelenlehre des Professors scharf kritisierte und zugunsten eines ausschließlich empirisch-psychologischen Verständnisses der Seele argumentierte. Bei diesem heftigen, mit persönlichen Angriffen verbundenem Disput stand die Studentenschaft mehrheitlich auf der Seite Platners. An der Leipziger Universität konnte man eher vom Paulus zum Saulus werden, als umgekehrt: „Fast alle Studenten neigen sich auf die Seite der Heterodoxie.“ Offenbarungsskeptiker, Bibelphilologen, Naturalisten und Atheisten waren allseits auf dem Vormarsch, nur die Professoren verhielten sich aus strafrechtlichen Gründen zurückhaltend, zumal in Sachsen „die Grossen, die A[dligen] nocht nicht aufgeklärt sind“, wie Jean Paul in einem Brief an Pfarrer Vogel von November 1781 schrieb. Nicht nur Platner, sondern auch Professor Morus und andere Gelehrte hatten den Druck der Konsistorien zu spüren bekommen, wenn sie orthodoxem Gedankengut, wie der Idee der Erbsünde, nicht genügend Bedeutung beimaßen. Die Universität Leipzig, deren vorherrschende Freigeistigkeit allgemein bekannt war, befand sich deshalb unter der speziellen Kuratel der Aufsichtsbehörden. Diese Erfahrungen blieben nicht ohne Wirkung auf Jean Paul, der in einem Brief von Ende Februar 1783 das bloße Studium der Theologie ebenso ablehnte wie eine spezielle berufliche Ausbildung. Studieren wollte er die Wissenschaften nur „insofern als sie mich ergözen oder in meine Schriftstellerei einschlagen; und selbst die Philosophie ist mir gleichgültig, seitdem ich an allem zweifle“. Er war zum Skeptiker geworden, der sogar die Skepsis in Zweifel zog. Nicht einmal mehr die Philosophie schien für ihn der geeignete Ort für die 68  2. Kapitel

Hyper-Kritik zu sein, ja es ekelte ihn vor „der tollen Maskerade und Harlekinade, die man Leben nennt.“ Mutter Richter scheint sich über die Leipziger Verhältnisse nicht im Klaren gewesen zu sein, denn ihre Bitte von Frühjahr 1783, der Sohn möge in der Hofer Spitalkirche eine erbauliche Predigt halten, stieß zu ihrer Enttäuschung auf entschiedene Ablehnung. Die Weigerung Jean Pauls, den Beruf des Geistlichen anzustreben, war jedoch das geringste Übel, das die Mutter beugte. Denn mit dem Studienbeginn des ältesten Sohnes hatte sich die finanzielle Not der Familie verschärft, zusätzlich schwächten die Erbstreitigkeiten nach dem Tode des Großvaters Kuhn die einkommensschwache Familie. Immer dringlicher wurde die Geldnot, und Jean Pauls Empfehlung, die Mutter möge am Lotteriespiel teilnehmen, bekundet die Aussichtslosigkeit der Lage. Zwar konnte mit Hilfe von Oerthel mancher finanzielle Engpass überbrückt werden, aber ein Überleben auf Pump verschlimmerte letztlich die ohnehin prekäre Situation. Kaum vorstellbar ist der seelische Druck, dem Jean Paul als einkunftsloser Student ausgesetzt war, denn daheim darbten die Mama und die beiden Brüder, während er einem Studium ohne Aussicht auf Broterwerb nachging. Schließlich folgte die Familie seinem Rat zur Aufgabe des baufälligen Hauses in Schwarzenbach und zum Umzug nach Hof. Seit Ende 1781 lebte Sophie Richter mit den Söhnen in der Saalestadt, wo die Brüder das Gymnasium besuchten. Der finanzielle Niedergang war jedoch unvermeidbar, schließlich musste auch das Hofer Haus verkauft werden und Sophie sich als Gelegenheitsarbeiterin verdingen. Vom ältesten Sohn war keine Entlastung zu erwarten, vielmehr erfuhr die bestürzte Mutter von dessen steigenden Schulden bei den Speise- und Hauswirten. Wenig trostreich bemerkte Jean Paul im Sommer 1783: „Ich habe wol zerrissene Kleidung aber keine abgelegte.“ Der erste „Zettelkasten“ der Erzählung „Quintus Fixlein“ schildert drastisch das Leipziger „Alpdrücken der Dürftigkeit“ mit nur einem Übermaß: dem Hunger. In diesem Elend bat er die Mutter um Geld, allerdings mit dunklen Andeutungen auf baldige Einkünfte, welche die Not lindern würden: „Von diesem Mittel mehr zu schreiben verbietet mir der enge Raum Studienzeit in Leipzig  69

meines Briefes“, heißt es kryptisch in einem Brief vom 21. August 1782. Jean Paul verfolgte einen gewagten Plan zur Beendigung der Misere, den gewiss kein seriöser Finanzberater empfohlen hätte: Als freier Schriftsteller erhoffte er ein hinreichendes Einkommen zur Abwendung der familiären Pleite zu erlangen. Zu allem Ungemach musste die gläubige Frau Richter von ihrem Sohn erfahren, dass dieser sich als Autor der zumeist gottesfernen Satire betätigen wollte. In einem Schreiben an Oerthel von Anfang 1784 betonte Jean Paul seine säch­ stilistische Nähe zu Christian Ludwig Liscow, dem „nieder­ sische[n] Spottvogel“, für den sich übrigens Jean Pauls satirisches alter ego, Heinrich Leibgeber, im „Siebenten Reise-Abenteuer“ der „Palingenesien“ ausgibt. Weitere Vorbilder unter den wenigen deutschen literarischen Spöttern waren der kursächsische Steuerbeamte und humoristische Autor Gottlieb Wilhelm Rabener sowie Theodor Gottlieb Hippel. Die Geburt der Satire aus dem Geist der Not – oder, wie Schiller es in der Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ ausdrückt: „Die Wirklichkeit ist also hier ein notwendiges Objekt der Abneigung“. Die Grundlage des bitteren Spottes ist mithin die als schlecht empfundene Wirklichkeit, welche der Entfaltung des Humanen entgegensteht. Der satirische Formenkanon zur Darstellung des moralischen Unwillens über die Welt umfasste so unterschiedliche Gattungen wie den Roman, das Epigramm, Briefe, Lobschriften und Trauerreden. In der „Selberlebensbeschreibung“ schildert Jean Paul seine frühe Vorliebe für die komische Literatur, las er doch – neben dem „Robinson“ – besonders gern Christian Sintenis’ Roman „Veit Rosenstock“ sowie Alexander Popes Epos „Dunciade“. In einem Brief vom 20. Februar 1783 an Pfarrer Vogel begründet er seinen Wunsch, Schriftsteller zu werden, mit der Absicht, jenseits aller theologischen Inhalte das Publikum durch Belehrung moralisch zu bessern und zu unterhalten. Für den jungen Jean Paul galten so unterschiedliche Autoren wie Seneca, Ovid, Pope, Young, Swift, Voltaire, Rousseau sowie der französische Klassiker Nicolas Boileau als „wizzige“ Vorbilder. Die Aufzählung übersieht freilich seinen „größte[n] komische[n] Lehrer“, wie er den gebürtigen Iren Laurence 70  2. Kapitel

Sterne in einem Brief vom 21. März 1816 bezeichnet. Im 15. Kapitel des „Komet“ räumt Jean Paul indes ein, keinen anderen Autor so nachgeahmt zu haben wie den anderen prominenten irischstämmigen Autor, Jonathan Swift. Es war mithin eine Mischung aus sozialer Verbitterung, Leipziger Freigeistigkeit, einem ausgeprägten Sinn für das Komische sowie – nicht zuletzt – der Hoffnung auf pekuniären Erfolg, die ihn zur Abfassung der satirischen Schrift „Lob der Dummheit“ anregte. Im ersten Semester hatte er weitere Textentwürfe in seinen Arbeitsbüchern notiert und seit Oktober 1781 – die „Übungen im Denken“ fortführend – unter dem Titel „Rhapsodien“ den satirischen Stil verfeinert. Zu seiner Enttäuschung wurde jedoch der erste Versuch einer öffentlichen Publikation – die Abhandlung „Etwas über den Menschen“ – von dem renommierten Herausgeber der Zeitschrift „Deutsches Museum“, Heinrich Christian Boie, abgelehnt. Nun sollte die prominente Schrift „Das Lob der Torheit“ aus der Feder des niederländischen Humanisten Erasmus von Rotterdam als Vorbild für den ersten bezahlten Abdruck eines seiner Texte dienen. Jean Paul, der inzwischen ein neues Logis in der Klostergasse bezogen hatte, setzte im Frühjahr 1782 alles für die Veröffentlichung der Schrift „Vom Lob der Dummheit“ in Bewegung. Ein befreundeter Philosophieprofessor bemühte sich, einen Verleger zu finden, der Autor selbst schrieb einen kurzgefassten Brief an den Leipziger Buchhändler Johann Friedrich Weygand, den Publizisten der Sturm- und Drang-Generation. Weygand, begabt mit einem ausgeprägten Geschäftsinn, setzte neue Strategien ein, um geeignete Autoren für seinen Verlag zu finden. Er beobachtete den Markt der Neuerscheinungen, suchte nach Erfolg versprechenden Trends in der Literatur und prüfte ständig die Absatzchancen. Zudem vermied er den üblichen Weg des Verlegers, abzuwarten, bis ihm ein Autor ein Manuskript vorlegt. Vielmehr wandte sich Weygand direkt an die Autoren, unter anderem verlegte er Goethes „Werther“ sowie die Texte des Göttinger Hainbundes. Den hoffnungsvollen Brief an den renommierten Verleger schrieb Jean Paul während eines Besuches in Hof Anfang April 1782. Der abschlägige Bescheid durch Weygand muss ihn – nach Boies Ablehnung zuStudienzeit in Leipzig  71

vor – heftig getroffen haben. Gedruckt wurde die frühe Satire erst aus dem Nachlass. Das „Lob der Dummheit“ war in Monaten intensiver Arbeit zwischen November 1781 und März 1782 entstanden. Die Niederschrift nahm den jungen Autor derart in Anspruch, dass sogar die Korrespondenz mit Vogel pausierte. Am 20. März äußerte sich der Mentor wohlwollend über das neue Werk. Jean Paul, der zu Ostern Hof und Rehau besuchte, berücksichtigte Vogels Ratschläge durch die Milderung besonders scharfer Formulierungen. Er räumte jedoch die eigene Unzufriedenheit mit dem Text ein, der überladen sei mit Gleichnissen und Antithesen. Der junge Autor erbat vom Mentor weitere Kritik, sollte diese auch noch so bitter ausfallen, und Vogel äußerte sich ebenso behutsam wie deutlich. Eine Tagebuchaufzeichnung vom 30. Januar 1783 erhellt das ganze Ausmaß von Jean Pauls Zweifel an der eigenen schriftstellerischen Fähigkeit, begründet er doch sein Scheitern (freilich mit überzogener Selbstkritik) damit, dass er in Wahrheit „nie eine Anlage zur Satire gefühlt … vielmehr einen Grad von Empfindsamkeit, der sich mit einem gewissen Grad des Spottes nicht vertrage.“ Jedoch war das Werk so übel nicht, wie der verbitterte Autor meinte. Geschildert wird die menschliche „Dummheit“ als ein Proteus, der sich in unterschiedlichen Gestalten und Formen Geltung verschafft. Deutlich tritt ein widerständiger Impetus zutage, der die „Weiber, Stutzer, Mächtigen, Höflinge, Edelleute, Theologen, Philosophen, Poeten pp.“ zum Ziel des Spottes macht. Obwohl der sozialkritische Ton erst in späteren satirischen Texten an Schärfe zunahm, kann die Schrift als sein Erstlingstext dieses Genres durchaus bestehen. Die Bemerkung, dass „ein dikker Bauch … bei vielen“ eine Zunahme der Dummheit bewirke, entbehrt jedoch nicht der Ironie, zumal der Autor später selbst eine beträchtliche Leibesfülle besaß. Zeitlich parallel zu diesen herben Rückschlägen als Autor brach im Frühjahr 1782 in Leipzig das Fleck- oder Faulfieber aus, auch Jean Paul fühlte sich geschwächt. Zudem quälte ihn ein Leiden, das ihn zeitlebens nicht verließ: die Migräne. Ob der Hintergrund dieser Erkrankung bei ihm genetischer oder psychosomatischer Natur war, lässt sich nicht endgültig klären. Der seelische Druck, zur Entlastung 72  2. Kapitel

seiner Familie finanziell erfolgreiche Texte liefern zu müssen, dürfte jedoch den Ausbruch der Krankheit begünstigt haben. Der starke Kopfschmerz plagte ihn schließlich auf eine derart üble Weise, dass er verzweifelt nach Therapien zur Linderung forschte. Viele Jahre später empfahl er seinem ebenfalls von diesem Leiden betroffenen Freund Friedrich Jacobi als geeignetes Gegenmittel den Genuss von Bier und Bitterklee-Sud. Später folgten genaue Anweisungen zur Anwendung von Laudanum, einem Mittel aus in Alkohol gelöstem Opium mit Gewürzzutaten, welches heute unter das Betäubungsmittelgesetz fällt. Seine Hoffnung, durch freie Autorschaft die Familie zu ernähren, war gescheitert, die sich verschärfende Finanznot brachte den Studenten an den Rand des Ruins. Trotz des zunehmend schlechten Gewissens gegenüber der Mutter, der Aussichtslosigkeit und Verzweiflung setzte er jedoch unbeirrt den eingeschlagenen Weg fort. Tatsächlich kann ihm die charakterliche Tugend der Beharrlichkeit ebenso wenig abgesprochen werden wie die Fähigkeit, von Kritik und Rückschlägen zu lernen. Im Frühjahr 1782 widmete er in Leipzig seine Arbeitskraft einer „nagelneuen Satyre“, die später unter dem Titel „Grönländische Prozesse“ bekannt wurde. Die Intensität seiner Arbeit war so erheblich, dass der Briefwechsel mit Vogel abermals ins Stocken geriet. Das Eingangskapitel „Ueber die Schriftstellerei“ verteidigt bezeichnenderweise wirtschaftliche Not als einen legitimen Anlass für die Autorschaft, während das folgende, in Briefform verfasste Kapitel „Ueber die Theologen“ in jeder Zeile beißenden Spott auf die geistigen und habituellen Verkümmerungen speziell der orthodoxen protestantischen Geistlichkeit enthält. Abermals werden die „Weiber und Stutzer“ verspottet und das „Lob der Narrheit“ angestimmt. Zeitlich parallel zur Niederschrift der neuen Aufsatzsammlung absolvierte Jean Paul das Studium, las neue Bücher und exzerpierte fortwährend weitere Texte. Er fokussierte seine gesamten geistigen und physischen Fähigkeiten auf das neue Projekt, das unbedingt ein Erfolg werden musste. Während der Leipziger Zeit gehörten nächtliche Arbeit ebenso wie sonntägliche Schreibstunden zu seinem alltäglichen Pensum. Ähnlich wie der Protagonist Vult in den „Flegeljahren“ wollte Jean Paul endgültig den „Flaum einer Dichterschwinge“ am Studienzeit in Leipzig  73

eigenen Körper fühlen. Im vierten Band des Romans beschreibt Jean Paul freimütig seine damalige (im Rückblick freilich naive) psychologische Disposition: „Ein junger Autor glaubt, alles, was er auf die Post schickt, sei schon dadurch verlegt und gedruckt, und schreibe darum fleißiger.“ Die Montage war eine seiner wichtigsten schriftstellerischen Techniken, das Zusammenfügen von Aphorismen, Sentenzen und Exzerpten zu umfangreichen Essays beherrschte er zunehmend. Seine Sammlung von Textauszügen konzentrierte sich jedoch nicht mehr in erster Linie auf literarische Quellen, sondern auf besonders merkwürdige wissenschaftliche Neuigkeiten der Journale, deren Mitteilung das Publikum in Staunen versetzen und somit die Anziehungskraft des Textes erhöhen würde. Von Juni bis November 1782 schrieb Jean Paul an einer Sammlung unverbundener „satirischer Skizzen“, deren erster Teil im Dezember – freilich erst nach vorheriger Ablehnung durch Weygand – von dem renommierten Berliner Verleger Christian Friedrich Voß zum Druck angenommen wurde. Jean Paul konnte keine bessere Verlagsbuchhandlung für die Veröffentlichung seiner Satirensammlung finden als die Voßische, welche die Werke Lessings, Friedrichs II. von Preußen und die Preisschriften der Berliner Akademie herausgab. Unter anderem war dort auch das von Jean Paul besonders geschätzten Ehe-Buch von Hippel erschienen. Wie groß muss die Freude und Genugtuung des jungen Autors über die Zusage gewesen sein! Zwar feilschte er bei der Höhe des Honorars um einen Louisdor, erbat die zügige Überweisung der Vergütung noch vor dem Weihnachtsfest und teilte dem Verleger zögernd sein geringes Alter von nur 19 Jahren mit, aber Voß zeigte Verständnis. Um die Neugier des Lesepublikums zu wecken, schlug Jean Paul als Werktitel das hintergründige Kompositum „Grönländische Prozesse“ vor, denn aufgrund der Lektüre einer kurrenten Reisebeschreibung war allgemein bekannt, dass die Bewohner der Eismeer-Insel ihre Streitigkeiten durch Tänze und Satiren beilegen, anstatt die Advokaten zu bemühen. Wie damals üblich, blieb der Name des Autors ungenannt, der „Beschluss“ des ersten Bandes und das Vorwort zum zweiten sind le74  2. Kapitel

diglich mit der Initiale „R.“ unterzeichnet. Am 20. Februar 1783 erhielt Pfarrer Vogel das erste gebundene Exemplar zugesandt, von dessen kritischen Anmerkungen der sofort in Angriff genommene zweite Band profitierte. Voß erwies sich als generöser Verleger, der einen Honorarvorschuss bewilligte. Mit dem Stolz auf das erste selbst verdiente Geld reiste Jean Paul im Sommer nach Hof, wo das Fragment „Bittschrift der deutschen Satiriker“ entstand. Der Autor persifliert darin die (vermeintliche) Vernünftigkeit der Welt, welche ihn der Stoffe für weitere satirische Texte benimmt. Solche Bemerkungen vermag der gewitzte Leser freilich als blanke Ironie zu durchschauen. Zwar heißt es in den „Flegeljahren“ über die Disziplin von Autoren, dass „Kein Besuch, kein Fest, kein Mensch, kein Brief“ sie zu stören vermag, aber diese Beständigkeit wurde wenigstens vorübergehend durch eine Liebschaft auf die Probe gestellt: Ungefähr zeitgleich mit der Entstehung des zweiten Bandes der „Grönländischen Prozesse“ erlebte Jean Paul seine erste Romanze mit Sophie Ellrodt, der Tochter des Stadtvogts aus dem Ort Helmbrechts nahe Hof. Der Kontakt war entstanden, weil Jean Paul seinem Bruder Gottlieb in Helmbrechts eine Schreiberstelle hatte vermitteln wollen. Sophie, auf der Suche nach einer Arbeitsstelle, war im Sommer 1783 sogar bereit, dem armen Studenten als Wirtschafterin nach Leipzig zu folgen. Jean Paul hoffte, dass sie sich bei ihrem einflussreichen Vater erfolgreich für seine Mutter einsetzen würde, die zum 25. Juli eine Schuld von 200 Gulden zu tilgen hatte und verzweifelt nach einem Darlehen begehrte. Bei Sophies Schreiben vom 30. Juni an den „Candidat“ Jean Paul handelte es sich in Wahrheit um eine Antwort des Vaters, der die Auszahlung des Betrages von einer Grundschuld abhängig machte, also der Verpfändung von Landbesitz. Aber bei Familie Richter gab es nichts zu verpfänden, und somit war der Beziehung zwischen Johann und Sophie nur eine kurze Zeitspanne beschieden. Ende August erfolgte die letzte persönliche Begegnung, gefolgt von einem Briefwechsel mit kühlem Unterton. Zwar erhielt die Verehrte einen Schattenriss zugesandt, aber Jean Pauls „Argwohn gegen die Beständigkeit der Liebe Sophies für ihn“ war entfacht. Schließlich erbat sie den Freundschaftsring zurück. Mit abnehmendem finanziellen Interesse und der Studienzeit in Leipzig  75

physischen Trennung war diese Sommerliebe zum Verlöschen verurteilt. Und weiter flog die Feder über das Papier. Es galt, die durch Voß gewährte Chance zu nutzen und sich dem Publikum als versierter Satiriker zu empfehlen. Im Oktober 1783 erschien der zweite Band „Grönländische Prozesse“, wesentlich umfangreicher als sein Vorgänger. Mit den zahlreichen Aphorismen, den humoristischen, auf persönlichen Erfahrungen beruhenden Ausführungen über das Verhältnis von materieller Bedürftigkeit und Autorschaft sowie der herben Polemik gegen die zeitgenössische deutsche Literatur in der „Bittschrift“ bietet dieser Band eine neue Stufe seiner satirischen Wortkunst. Gleichwohl waren erneute Rückschläge zu verkraften. Jean Paul, der nach Geld und Anerkennung als Literat förmlich lechzte, musste erfahren, dass sein Essensgeld immer knapper, seine Kleidung verschlissener wurde, während sich die Bände „Grönländische Prozesse“ als Ladenhüter erwiesen. Ein Brief vom 15. Januar 1797 schildert die Bitterkeit jener Jahre, als seine Mutter zum Verkauf der väterlichen Bibliothek genötigt war und er die „kalte literarische Aufnahme der Satiren“ erleben musste. Zwar stellten ihm Freunde Geld zur Verfügung, aber auf diese Ressource konnte nicht ständig zurückgegriffen werden. Weiterhin bettelte er bei der verarmten Mutter mit der vagen Aussicht, demnächst die Familie durch den Ertrag seiner Schreibkünste unterstützen zu können. Einen weiteren zweifelhaften Ausweg sah er in der Empfehlung, dass seine Mutter an der Lotterie teilnehmen möge. Zwar konnte das Honorar für die Satirebände die akute Geldnot wenigstens etwas lindern, aber die Leipziger Verhältnisse verdunkelten sich immer mehr. Eine unerbittliche Schuldlast drückte Familie Richter. Seit Ende August 1783 entstand ein weiterer Satire-Band, dessen Manuskript zu Ostern des folgenden Jahres so weit gediehen war, dass die Suche nach einem Verleger beginnen konnte. Voß hatte den Druck eines dritten Bandes „Grönländische Prozesse“ verweigert, es sollten fast vierzig Jahre vergehen, bis der Berliner Verlag eine vom Autor bearbeitete Neuauflage herausgab. Auch die weiteren Antworten waren entmutigend: Philipp Erasmus Reich in Leipzig, Johann 76  2. Kapitel

Friedrich Hartknoch in Riga sowie Friedrich Nicolai in Berlin standen nicht zur Verfügung. Die Briefe an die Verleger glichen teilweise mehr Bittschriften als Geschäftsschreiben, auch witzige Formulierungen fruchteten nichts. Schreiben an Georg Christoph Lichtenberg sowie an den Dresdner Kanzleirat und erfolgreichen Literaten August Gottlieb Meißner blieben ebenfalls ergebnislos. Immerhin durfte sich Jean Paul bei seinen zahlreichen Verlagsanfragen auf die Empfehlung Meißners berufen, aber der zugesagte Abdruck eines Aufsatzes in einer von diesem Autor herausgegebenen Quartalsschrift fand nicht statt. Indes waren auch kleine Erfolge zu verzeichnen, so erschien im Jahre 1784 sein Essay „Zerstreute Betrachtungen über das dichterische Sinken“ in dem Journal „Litteratur und Völkerkunde“, dessen Herausgeber, der Dresdner Publizist und historische Schriftsteller Johann Wilhelm Archenholz, ihn später vielfältig unterstützte. Schließlich bewährte sich der Kontakt zu Meißner, der in seiner Zeitschrift „Für ältere Litteratur und Neuere Lectüre“ im Herbst 1784 „Kleine Satiren“ mit der anonymen Angabe „vom Verfasser der Grönländischen Prozesse“ publizierte. Weitere Arbeiten vermochte Jean Paul jedoch nicht zu platzieren, seine Leidenschaft zum Schreiben traf auf das Desinteresse der Verleger. So lehnte Philipp Erasmus Reich den Druck der – auf Christian Weißes Rat – umgearbeiteten Fassung der „Grönländischen Prozesse“ ab, ebenso abschlägig verhielten sich die Dessauer Gelehrtenbuchhandlung sowie zwei weitere, von Hermann empfohlene Verlagsbuchhändler. Der Roman „Siebenkäs“ befasst sich mit der eigenen psychischen Disposition jener Jahre, als Jean Pauls Erfolgswille in umgekehrtem Verhältnis zur Publikumswirksamkeit stand. So muss der Protagonist des Romans die Traumata eines Bettelstudenten durchleben: Nur exakt strukturierte Tagesabläufe mit einem Minimum an Ablenkung sowie selbst auferlegte Verkrümmungen und Verkümmerungen des Alltags ermöglichen dem ambitionierten Autor die völlige Konzentration auf den Schreibprozess. Nach dreijährigem Studium hatte die Verschuldung Jean Pauls ein solches Ausmaß erreicht, dass er am 13. November 1784 heimlich fluchtartig Leipzig (mit falscher Namensnennung an der LandesStudienzeit in Leipzig  77

grenze, wo er sich als Freund Hermann ausgab) – in Richtung Hof verließ, um bei der Mutter Zuflucht zu finden. Die Mitbewohner der Saalestadt waren ihm allerdings zutiefst verhasst: „Die Höfer sind dum“, heißt es lakonisch in einem Brief an Oerthel vom 20. Juni 1783. Pfarrer Vogel hatte dem Studenten ein Jahr zuvor empfohlen, er möge gegenüber den Hofern seinem „Geist Zaum und Gebiss“ anlegen, habe er doch „bei einer gewißen Gelegenheit dem Neid zu schnell Preiß gegeben“ (Brief vom 1. Mai 1782). Jean Paul kehrte also in die vertraute Ärmlichkeit der Familie zurück, welche er in der Hoffnung verlassen hatte, als angesehener Autor zu reüssieren. Dieser Triumph blieb ihm jedoch versagt, er vermochte weder die eigenen, noch die Erwartungen der Familie zu erfüllen. Die Gefühle zu kaschieren war seine Sache nicht, der Eindruck gesellschaftlicher Minderwertigkeit machte sich zuweilen gegenüber den sanierten Mitbürgern durch Wutanfälle geltend. Derartige Ausbrüche waren in der Ahnung eigenen Versagens begründet, wenn er erlebte, wie sich seine Mutter Tag für Tag mit niedrigen Handreichungen bei Hofer Familien verdingen musste. Zudem war bei der überstürzten Flucht im Postwagen seine rechte Hand „erfroren“, so dass die Umarbeitung der Satiresammlung stockte. Auch belastete das plötzliche Entweichen von den Leipziger Wirten und Freunden sein Gewissen. Am 5. Dezember bat er Oerthel um Nachrichten über „die Urtheile derer, die sich durch meine Flucht von mir bestohlen glauben.“ Jedenfalls ließ er im profanen Leipzig mehr Gläubiger als Gläubige zurück. Der junge Autor musste die Bitterkeit des Misserfolgs auskosten. Zwar hielt er in Leipzig erstmals einen eigenen gedruckten Text und das erste selbst verdiente Geld in den Händen, aber die Studienjahre waren für ihn eine ernüchternde Lektion. Allerdings entsprach die Selbstwahrnehmung als erfolgloser Autor keineswegs der wirklichen Rezeption seines ersten gedruckten Werkes, denn die „Grönländischen Prozesse“ wurden häufiger und wohlwollender rezensiert, als ihm noch in der Vorrede zu deren zweiter Auflage fast vier Dekaden später bekannt war. So hatte Voß eine ausführliche positive Besprechung des ersten Bandes veröffentlicht, die vermutlich aus der Feder des in Berlin lebenden Romanciers und Ästhetikers Karl Philipp Mo78  2. Kapitel

ritz stammte, und eine Königsberger Rezension verglich seine Schrift auf positive Weise mit Hippels Buch „Ueber die Ehe“. Ein Verriss durch den Dresdner Hofrat, Sprach- und Kulturhistoriker Johann Christoph Adelung wurde durch eine (vermutlich von Adolph von Knigge verfasste) freundliche Anzeige in der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek“ ausgeglichen. Nun sind Rezensionen kein Maßstab für den Verkaufserfolg eines Buches, aber tatsächlich blieben die Absatzzahlen weit unterhalb der Erwartung. Persönlich getroffen fühlte sich Jean Paul vor allem durch die Kritik seines Vertrauten Doppelmaier, dem gegenüber er in einem Antwortschreiben vom 14. April 1783 die zahlreichen Antithesen und Gleichnisse seiner Texte verteidigte. Der junge Autor lechzte förmlich nach literarischen Ratschlägen seiner Freunde, welche bei den Textrevisionen Berücksichtigung fanden. Oerthels Anmerkungen veranlassten ihn in den ersten Monaten des Jahres 1784 sogar zur Niederschrift einer „Satire über das Selbstrezensieren“, von der allerdings nur wenige Abschriftseiten erhalten sind. Als satirischer Schriftsteller mit aufgeklärter Grundhaltung war Jean Paul bestrebt, die Missstände seiner Zeit anzuprangern, um durch eine spritzig-witzige Formulierungskunst die Gunst des Publikums zu gewinnen. Seine Texte waren bestimmt von der Neigung zum Aphorismus, zur sinnreichen Sentenz. Er war ein literarischer Handwerker, dessen kreativer Impetus jedoch nicht nur in der genialischen Intuition des Schreibvorgangs, sondern ebenso in der guten Vorbereitung des Materials lag. Auch in philosophischer Hinsicht bedeutete der Aufenthalt in Leipzig einen Wendepunkt für Jean Paul, für den die Skepsis gegenüber der Gotteslehre letztlich zur Gottesleere führte. Vermittelt durch die Philosophie Platners war er zum Skeptiker geworden, der weder von der Theologie noch von der „Liebe zum Vaterland“ etwas hielt, wie in dem erwähnten Brief an Doppelmaier verlautet. Den von der Mutter gewünschten Beruf des Geistlichen lehnte er für sich als ungeeignet ab, wie überhaupt alle herkömmlichen Brotberufe. Vielmehr fühlte er sich zum philosophischen Dichter berufen, der mit satirischen Schriften ein breites Publikum an sich zu binden hoffte. Freilich stieß sein eigentümliches Äußere auf Unverständnis, aber die wohlStudienzeit in Leipzig  79

meinende Kritik der Freunde in Schwarzenbach, Rehau und Leipzig stärkte sein literarisches Sendungsbewusstsein. Oerthel und Hermann unterstützten ihn weiterhin durch Kopistendienste. Aus biografischer Sicht bestand die wichtigste Leipziger Entscheidung in der Absicht, den Beruf des freien Autors anzustreben. Seine Mutter muss von diesem Ziel nicht nur aus religiösen Gründen zutiefst enttäuscht gewesen sein, denn die berufliche Zukunft ihres ältesten Sohnes war nach dem absolvierten Studium nur wenig aussichtsreicher als zuvor. In dieser schwierigen Situation bewies Jean Paul ein beachtliches Beharrungsvermögen. Gleichwohl erinnert er sich, in Leipzig sehr „zerflattert“ gewesen zu sein, wie es in einem Brief vom 27. März 1804 heißt. Diese Erinnerung spiegelt die Unsicherheit und Nervosität Jean Pauls, der angesichts der familiären Misere einen Berufsweg mit nur vagen Aussichten auf ein geregeltes Einkommen einschlug. In Leipzig hatte er die Bitterkeiten des Autorendaseins ausgekostet, die oft absurd anmutenden Nöte und Leiden seiner Zunft, wie Absagen der Verleger, hinhaltende Teilzusagen und geringe Honorarzahlung. All diese Misslichkeiten sind im „Siebenkäs“ anschaulich geschildert. Im Rückblick stellten sich die schmerzlichen Leipziger Jahre als eine notwendige Phase der Reifung dar, aber diese Einsicht ist leichter notiert als erlebt.

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3. Kapitel

Hauslehrer im Vogtland Verschuldet und mit geringem literarischem Erfolg traf Jean Paul im November 1784 in Hof ein, wo sich die Familie mit Gelegenheitsarbeiten mehr schlecht als recht ernährte. Die Richters zählten zum Prekariat, der Hunger war ein beständiger Lebensgefährte. Jean Paul hasste die Saalestadt zutiefst, deren Bewohner ihn die soziale Minderwertigkeit spüren ließen. So beklagt er im Juni 1783 den „Aufenthalt im abscheulichen Hof“, „wo das Gehirn mit der Zunge in Plumpheit wetteifert“. Der Triumph, mit einem erfolgreichen Erstlingswerk aufwarten zu können, blieb ihm versagt, nur wenig Erfolg konnte er vorweisen, keinesfalls jedoch von dem geringen Honorar die Familie unterstützen. Auch hatte die Mutter in der Stadt das Gerücht verbreitet, dass ihr Sohn den Beruf des Geistlichen ergreifen würde, aber diese Hoffnung war aussichtslos. Vielmehr strebte Jean Paul die gesellschaftlich wenig anerkannte Profession eines Schriftstellers an, der sich zudem der Satire verschrieb, deren spöttischer Ton den Hofer Spießbürgern verdächtig erschien. Leicht vorstellbar sind die scheelen Blicke, denen der erfolglose Autor in der Stadt ausgesetzt war. Soziale Ausgrenzung war das Los der Richters, Freunde oder gute Bekannte gab es nur wenige in Hof. Wie bereits vor dem Studium, kommunizierte Jean Paul weiterhin vornehmlich mit Vertretern des geistlichen Standes, wie den Pfarrern Vogel in Rehau und Völkel in Schwarzenbach, mit denen er „eine Art von heterodoxer Dreieinigkeit“ bildete. Die Lektüre gewährte jenes Maß an seelischer Widerstandskraft, welche ihm die Wirklichkeit raubte. Er las das Werk „Vitae Philosophorum“ des griechischen Philosophiehistorikers Diogenes Laertios, Ciceros „De Natura Deorum“, Bacons „Essays“, die Werke des spätbarocken Romanciers und Dramatikers Lohenstein sowie die satirischen Schriften Swifts. Vor allem fühlte er sich von dem noch unbekannten Autor Immanuel Kant angezogen, dessen jüngst publizierte Schrift „Idee zu einer allgemeinen Hauslehrer im Vogtland  81

Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ er besonders schätzte, denn „da find ich edlen Geist des Altertums“, wie in einem Brief an Oerthel von Februar 1785 verlautet. Mit ähnlicher Begeisterung las er die moralphilosophischen Schriften „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ und die „Kritik der praktischen Vernunft“, denn „Kant ist kein Licht der Welt, sondern ein ganzes Sonnensystem auf einmal“, wie es in einem Brief von 1788 an Pfarrer Vogel heißt. Der Geistliche zollte dem Zögling Respekt durch dessen Beteiligung bei seiner Schrift „Raffinerien“. Er fragte Jean Paul um Rat wegen einer geeigneten Titelvignette sowie passenden Bildern, worauf dieser mit satirischer Schärfe den reformorientierten habsburgischen Monarchen Joseph II. mit einem Adler, dessen reaktionäre Widersacher jedoch mit Fröschen oder Nachteulen verglich. Außer Vogel diente vor allem der heterodox gesinnte Pfarrer Christian Adam Müller aus dem wenige Kilometer nördlich von Hof gelegenen Dorf Trogen als Dialogpartner. Bei Müller, dem früheren Hauslehrer Adam Lorenz von Oerthels, konnte er Bücher ausleihen und sich als Berater für dessen zeitgeschichtliche und geographische Veröffentlichungen betätigen. Ohne Amt und Beruf konzentrierte sich Jean Paul auf das Schreiben. Bereits seit Frühjahr 1784 lag die so genannte „Höfer“ Fassung der Satiresammlung vor, aber die Freunde Hermann und Otto konnten keinen Verleger finden, und ein Hofer Buchhändler verweigerte die Mitarbeit. Seit der Rückkehr in die Saalestadt war eine neue Fassung mit dem Titel „Scherze in Quart mit ernsthaften Noten“ entstanden. Der Titel rührte daher, dass der Autor den Text nicht im üblichen Oktav-, sondern im größeren Quartformat drucken lassen wollte. Anfang Juli 1785 sandte Jean Paul Teile der Sammlung mit einem Begleitschreiben an den prominenten Weimarer Geistlichen Johann Gottfried Herder mit der Bitte, ihm dessen langjährigen Freund, den Rigaer Verlagsbuchhändler Johann Friedrich Hartknoch, als Verleger zu vermitteln. In einem Schreiben von Mitte Oktober entschuldigte sich Herder für die verspätete Antwort, da er anlässlich eines Kuraufenthaltes in Karlsbad abwesend gewesen war. Ohne einen geeigneten Verleger zu nennen, sandte Herder „In Eil“ das Manuskript 82  3. Kapitel

mit der Empfehlung zur Textkürzung zurück. Herders Korrespondenz enthält keinen Hinweis darauf, dass er einem Verleger die Publikation der „Scherze“ empfohlen hätte. Es sollte indes nicht das letzte Mal sein, dass sich Jean Paul an Herder wandte, denn 1788 und 1790 sandte er weitere Aufsätze mit dem Wunsch nach Aufnahme in die Zeitschrift „Neues Deutsches Museum“ nach Weimar, aber der Adressat befand sich in Italien. Bei einem dieser Essays handelte es sich um den für einen Geistlichen freilich herausfordernden Text „Des todten Shakespear’s Klage unter todten Zuhörern in der Kirche, daß kein Gott sei“. Anstelle ihres abwesenden Gatten antwortete Caroline Herder auf die erste Sendung mit dem Hinweis, dass die Texte an Wieland mit der Bitte um Abdruck in der renommierten Zeitschrift „Der Teutsche Merkur“ weitergeleitet worden seien. Ein Abdruck erfolgte jedoch nicht. Immerhin erschien von Jean Paul der Aufsatz „Was der Tod ist“ in der Zeitschrift „Deutsches Museum“. Der Abdruck eines weiteren Artikels wurde durch den Herausgeber Heinrich Christian Boie jedoch abschlägig beschieden. Nach Rückerhalt des Textes reichte Jean Paul den Aufsatz an Archenholz weiter, der – ebenso wie drei weitere Verleger – für diesen und einen anderen Beitrag ebenfalls keine Verwendung fand. Bis zur Publikation der Schrift „Auswahl aus des Teufels Papieren“ (wie die „Scherze“ nach weiteren Umarbeitungen genannt wurden) sollten insgesamt sechs Jahre vergehen. Schließlich erschien zur Ostermesse 1789 die endgültige vierte Fassung „Auswahl aus des Teufels Papieren“ mit einer Auflage von 750 Stück bei dem Geraer Buchhändler Christoph Friedrich Bekmann, Verleger, Verlagsort und Autor blieben ungenannt. Die Vorrede war (wie seit Ende 1784 sämtliche zum Druck bestimmte Manuskripte Jean Pauls) mit dem Pseudonym „J. P. F. Hasus“ unterzeichnet. Dieser Deckname leitet sich von einem lateinischen Wortspiel ab, da „lepus“ Hase, „lepos“ jedoch in der antiken Sprache auch „elegante Witzigkeit“ bedeutet. Bereits im Frühjahr 1786 hatte Bekmann, freilich erst nach zähen Honorarverhandlungen, die Veröffentlichung der satirischen Schrift zugesagt, deren Publikation sich jedoch um drei Jahre verzögerte. Zur Beschleunigung der Angelegenheit hatte Jean Paul sogar eine Reise Hauslehrer im Vogtland  83

nach Gera erwogen, aber schließlich lag das Werk mit einer „Salve von Druckfehlern“ vor. Jean Pauls zweites Buch war indes kommerziell ebenso erfolglos wie die „Grönländischen Prozesse“, zahlreiche unverkaufte Exemplare wurden wenige Jahre nach der Drucklegung makuliert. Das ausgeprägte literarische Sendungsbewusstsein ließ Jean Paul die Serie von Ablehnungen durch Verleger und Misserfolge beim Publikum ertragen. Allerdings konnte er in den folgenden Jahre einige weitere Aufsätze platzieren, so in der von Meißner herausgegebenen Quartalsschrift „Für Aeltere Litteratur und Neuere Lectüre“, in Boies „Deutsches Museum“ sowie in dem von Archenholz herausgegebenen Journal „Neue Litteratur und Völkerkunde“. Artikel, wie „Was der Tod ist“ und das bizarre Selbstgespräch „Von der Verarbeitung der menschlichen Haut“ lassen die allmähliche Ergänzung des satirischen Stils durch groteske Elemente erkennen, welche sich zuweilen sogar zu apokalyptischen Visionen steigern. Meißner veröffentlichte 1784 in seiner Zeitschrift eine Sammlung „Kleine Satiren“ aus der Feder Jean Pauls, allerdings anonym. Vier Jahre später erschien von ihm im „Höfer Intelligenzblatt“ ein gegen die ärztliche Kurpfuscherei verfasster populärphilosophischer Aufsatz. Insgesamt gilt für die Texte jener Phase, dass der Autor die distanzierte Position des Spötters durch einen verstärkten Subjektivismus ergänzte. Nachdem Ende 1786 von seiner Hand bereits ein phantastischer Text über einen betrügerischen Schelm mit dem Titel „Ein unvollkommener Charakter, so für Romanschreiber im Zeitungskomptoir zu verkaufen steht“ entstanden war, brachte das Jahr 1789 für seine stilistische Entwicklung die endgültige Wendung von der reinen Satire zur Kleinform der Groteske: Mit den Texten „Extragedanken über Regentendaumen“ (über Fürsten, die sich lieber den Daumen abschneiden lassen, als ein schlechtes Gesetz zu unterschreiben) und „Extraseiten über die falsche Bauart der Kirchen“ (über leidige Gotteshäuser, die – im Gegensatz zur Theaterloge – zum Schlafen zu wenig Komfort bieten) hatte er seinen eigentümlichen stilistischen Ton gefunden, der hinfort die meisten seiner Schriften kennzeichnen sollte.

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Zwei Jahre nach absolviertem Studium saß der ambitionierte JungAutor daheim bei Mama, wo er lebenskluge Satiren, populärwissenschaftliche Artikel und Grotesken verfasste, aber kaum einen Taler verdiente. Er las Samuel Butlers komisches Heldengedicht in Knittelversen „Hudibras“, von Moses Mendelssohn die (stilistisch freilich recht trockene) Schrift „Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes“ sowie von Karl Philipp Moritz den Roman „Andreas Hartknopf“, der ihn besonders begeisterte. Vor allem jedoch Friedrich Heinrich Jacobis Schrift „Über die Lehre des Spinoza in Briefen an Moses Mendelssohn“ veränderte sein Denken. Jacobis Philosophie, von der Unmöglichkeit der Beweisbarkeit Gottes ausgehend, weist dem Glauben den Rang unmittelbaren Wissens zu. In diesem Denken glaubte der junge Jean Paul die Überwindung des Hyperkritizismus der Studentenzeit und einen philosophisch fundierten Weg zu Gott gefunden zu haben. Für den jungen Jean Paul war die Philosophie Jacobis – neben derjenigen Platners – das bedeutendste philosophische Ereignis. Glaube und Gefühl wurden nicht mehr als erkenntnistheoretische Hemmschuhe, sondern als eigenständige Instrumente menschlichen Erkennens und Handelns verstanden. Jacobi war ja beileibe kein Irrationalist, sondern ein Vernunftgläubiger im wahren Wortsinn, welcher den Empfindungen des Menschen den gleichen Stellenwert einräumte wie dem praktischen Verstand und der erkennenden Vernunft. Dieser Denkansatz fiel bei Jean Paul auf fruchtbaren Boden, denn sein vom protestantischen Elternhaus gepflanztes Urvertrauen in eine Schöpfermacht war lediglich unterdrückt, nicht beseitigt. Die Schätze seines Inneren waren durch Zynismus und Zweifel verschüttet worden, nun kamen sie durch eine neu definierte rationale Vernunftgläubigkeit erneut zur Geltung. Die intellektuellen Bereicherungen des ältesten Sohnes standen freilich im umgekehrten Verhältnis zur finanziellen Lage seiner Familie. Mit einer Mischung aus Selbstironie und Verzweiflung beklagte er Weihnachten 1785 in einer handgeschriebenen „Höfer Festtagszeitung“ seine „Amtslosigkeit“, welche ihm „den Tadel der vernünftigen Personen“ einbringt. Tatsächlich saß er arbeitslos im mütterlichen Hauslehrer im Vogtland  85

Haus, las Pufendorf und Platon, Voltaire und Ketzerhistorien sowie die „Physiologie“ Albrecht von Hallers. Er schrieb und revidierte eigene Texte, kommunizierte mit Freunden, aber ein geregeltes Einkommen blieb aus. Möglicherweise behagte ihm diese Position nicht übel, konnte er sich doch weidlich seinen Neigungen überlassen, ohne von Amtsgeschäften gestört zu werden. Auch Mutter Sophie Rosine dürfte dem Tun ihres Sohnes mit einem gewissen Maß an Verständnis begegnet sein, denn Jean Paul hatte einen weitaus angenehmeren Charakter als sein Bruder Adam, der inzwischen den Beruf als Barbier aufgegeben und in die Ansbach-Bayreuthische Armee eingetreten war. Anfang 1786 hatte Adam die Möglichkeit zur medizinischen Fortbildung in der nahe gelegenen Stadt Hirschberg genutzt, aber die Hoffnung der Familie, dass sich der unleidliche, häufig Probleme mit den Lehrherrn provozierende Bruder auf chirurgischem Gebiet profilieren würde, erfüllte sich nicht. Als die finanzielle Bedrängnis zu arg wurde, formulierte Jean Paul ein Gesuch um finanzielle Unterstützung in Form einer launigen Bitte an die „Heilige Anna“, welche gemäß der katholischen Zuständigkeitshierarchie den Reichtum der Welt verteilt. Die Bittschrift von April 1786 war an die Hofer Kaufmanns- und Bürgermeistertochter Helene Köhler gerichtet, die zu seinem engeren Freundeskreis gehörte. Die „Heilige Anna“ (beziehungsweise deren Vater) zeigte sich generös, der Betrag wurde überwiesen nebst einer Einladung von Familie Köhler an Jean Paul und seinen Freund Christian Otto. Solche und ähnliche Bittgesuche, welche die Dringlichkeit der Geldnot bei Familie Richter bezeugen, finden sich häufig in jener Zeit. Die Lösung des finanziellen Problems ergab sich schließlich durch den Kontakt zu Familie von Oerthel, welche den Tod ihres ältesten Sohnes, Jean Pauls sensiblen Freund Lorenz, zu verwinden hatte. Oerthel, der vom Studium aus Leipzig zurückgekehrt war, hatte seit Ostern 1785 kränkelnd auf dem Gut seines Vaters in Töpen gelebt, wo er am 13. Oktober des folgenden Jahres an „Auszehrung“ starb – in den Armen Jean Pauls, wie Christian Otto berichtet. Die Erfahrung des Todes eines seiner engsten Freunde war bestimmend für den ernsten Ton des Schlussteils der „Teufelspapiere“. 86  3. Kapitel

Bereits im September 1786, also einige Wochen zuvor, hatte sich Jean Paul für die Annahme einer Hauslehrerstelle in Töpen entschieden, einem „Gräflich Reußischen“ Dorf im Fürstentum Bayreuth, etwa zwei Stunden nördlich von Hof gelegen. Ab Jahresende begann die Anstellung. Sein alleiniger Schüler war Christian Adam von Oerthel, der damals elfjährige Bruder von Lorenz. Dokumente über die Inhalte des Unterrichts sind nicht überliefert; es ist lediglich bekannt, dass bis zu den Weihnachtsfeiertagen Französisch-Übungen auf dem Programm standen. Der Hauslehrer lebte recht komfortabel auf dem Gut, zumal Frau von Oerthel als generöse Gastgeberin bekannt war, deren Bewirtung nichts zu wünschen übrig ließ. Abgesehen von der guten Verpflegung dürfte die allgemeine Stimmung in Töpen nur wenige Wochen nach dem Tod des Sohnes und Bruders traurig gewesen sein, zumal auch Schüler Christian oft kränkelte und nur wenige Jahre später an den Blattern starb. Mit der Übernahme einer Hauslehrerstellung fügte sich Jean Paul in die Reihe prominenter Autoren, die ihr erstes geregeltes Einkommen durch pädagogische Tätigkeit erworben haben. Als Erzieher nur eines einzigen Schülers konnte er seinen Neigungen ausgiebig nachgehen. Eine Freundin von ihm berichtet, dass er nach gewissenhaft absolviertem Unterricht gern ins Freie eilte, um sich durch Denken, Schreiben und Lesen die Zeit zu vertreiben. Für weniger oberflächliche Beobachter mochte er mit seiner Neigung zum Alleinsein als Sonderling gelten, aber er benötigte Ruhe und Zeit, um seine Gedanken und seine Fantasie reifen zu lassen. Durch das Liebesverhältnis zwischen seinem Freund Adam Lorenz von Oerthel und Beata bestand für Jean Paul seit Anfang der 1780er Jahre eine enge Verbindung zu Familie von Spangenberg, welche auf dem etwa drei Kilometer von Töpen entfernten Gut Venzka wohnte, einem heutigen Ortsteil der Stadt Hirschberg. Er fühlte sich besonders von Beatas Schwester Wilhelmine angezogen, die ebenfalls literarische Interessen pflegte. Seit Ende 1788 sind Besuche auf Venzka ebenso belegt wie ein reger Austausch von Lektüre zwischen dem Gut und Töpen, so dass der alte Oerthel zuweilen höchst energisch die Rückgabe der Bücher zu befehlen genötigt war. Hauslehrer im Vogtland  87

Jean Paul gab sich in dieser Zeit ebenso umgänglich wie schüchtern, sein „Baireuther Dialekt“ und der liebenswerte Humor verliehen ihm einen originellen Charme. Weniger charmant mochten indes die häufigen Zustände von Hypochondrie wirken, welche ihn nach der Lektüre von Hallers „Geschichte der Anatomie und Physiologie“ immer häufiger heimsuchten, denn er hielt sich für lungenkrank und schwindsüchtig. Eine Fern-Anamnese des in Göttingen Medizin studierenden Freundes Hermann (der ein Jahr darauf selbst an Schwindsucht verstarb) diagnostizierte indes im März 1789 eine „ganz närrisch verrükte Einbildungskraft“ des Patienten. Tatsächlich dürfte ein unmäßiger Kaffeegenuss die Neigung zu Herz- und Kreislaufbeschwerden begünstigt haben, an denen der Mitte Zwanzigjährige zu leiden wähnte. Die nicht völlig geklärten Umstände des Todes von Jean Pauls Bruder Heinrich, der im April 1789 in der Saale ertrank, warfen – nach dem Ableben Oerthels – einen weiteren Schatten auf seine Seele. Wolfgang Harichs Vermutung eines Freitodes aus sozialer Not ist nicht nachweisbar, aber die Tatsache, dass Heinrichs Ableben weder im Hofer Kirchenbuch verzeichnet noch die Leiche auf einem Friedhof beigesetzt wurde, bestärkt diese Vermutung. Allerdings könnten auch Gerüchte zutreffen, die von einem Unfall, einem Sturz von der Saalebrücke berichten. Die Flussleiche entdeckte man im Dorf Unterkotzau, in dessen Nähe das Grab an einem Felsen liegt. Es wurde kolportiert, dass Jean Paul zu nächtlicher Stunde mehrfach die letzte Ruhestätte seines Bruders aufsuchte. Von diesen somnambulen Visiten dürften sich indes nicht nur die Abergläubischen der Umgebung irritiert gefühlt haben. Vermutlich versetzte er sich gern in eine sentimental-schaurige Stimmung, um seinen Texten eine ähnliche Gefühlslage zu verleihen. Während die Tode von Oerthel und Bruder Heinrich seinen Sinn für die Endlichkeit des Daseins vertieften, schärfte die unmittelbare Begegnung mit der verarmten Bauernschaft auf dem Frongut Töpen das Gespür für soziale Nöte. Zu deutlich war der Eindruck der gepressten, pauperisierten Landbevölkerung, als dass ein sensibler Geist wie Jean Paul diese bittere Erfahrung hätte verdrängen können oder 88  3. Kapitel

wollen. Frau von Oerthel betätigte sich als „guter Geist des Hauses“, aber der Patriarch war als Geizkragen und Wüterich verschrien, von dem seine Untergebenen wenig zu erwarten, aber viel zu befürchten hatten. Johann Georg von Oerthels Hartherzigkeit vergällte nicht nur seinem empfindsamen, literarisch interessierten Sohn Lorenz das Leben, sondern sein gebieterisches Wesen stieß auch die Fronbauern und das Gesinde ab. Der Hausherr, als Kaufmann in Hof zu Wohlstand gelangt, hatte in der Umgebung Ländereien erworben und sich zum Kammerrat erheben lassen. Nun verwaltete er seine Güter mit despotischer Hand, übte die Patrimonialgerichtsbarkeit in einer Weise aus, welche ihm den Hass der Abhängigen eintrug. Es ist überliefert, dass sogar der Dorfpfarrer unter seiner brutalen Herrschaft litt. Jean Pauls früheres Leben im ländlichen Milieu von Joditz unter der Kuratel seines strengen Vaters dürfte im Vergleich mit Töpen eine Idylle gewesen sein. In dem erwähnten „Hautverarbeitung“-Aufsatz von 1786 werden denn auch „benutzbare“ Bauern als Opfer eines schießwütigen Herrn geschildert, und der zwei Jahre später von Archenholz publizierte Aufsatz „Launigte Phantasie“ liest sich (eingedenk der stets lauernden Zensur, die ihn Kreide essen ließ) wie ein Rundumschlag des Autors gegen Willkür und Intoleranz: „Unsere in die Zukunft fliegende Blicke stoßen sich überall an Mauern, woran sie herunterfallen.“ Der Beitrag optiert denn auch mit antikirchlicher Manier für ein „corpus humanum“ als Ergänzung des bereits vorhandenen „corpus evangelicum“ und polemisiert mit scharfer Rhetorik gegen den Soldatenhandel und für die Pressefreiheit. Die Andeutungen über ein zu schreibendes „Traktat über die Regierungskunst“ sowie satirische Gedanken über die „herrlichen Seelenkräfte, welche in den Gehirnfibern eines Unterthans angebracht sind“, bezeugen einen erheblichen Reifungsgrad seiner politischen Reflexionsfähigkeit. Zweifellos zeitigten die bis zu den Frühlingsstürmen der Französischen Revolution währenden Töpener Jahre eine massive Vertiefung seines gesellschaftlichen Denkens: Der „Blick von unten“ wurde zu seiner Perspektive, der gedrückte, abhängige Mensch, konfrontiert mit den oft absurden Widerwärtigkeiten des Alltags zum Mittelpunkt seiner

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Erzählungen, welche die Idyllenwelt des Kleinbürgers zugleich als Zufluchtsort und als Käfig schildern. Es ist nicht zuverlässig überliefert, aus welchem Grund sich Jean Paul im Frühjahr 1789 von der Töpener Hauslehrerstelle löste. Die Vermutung, dass der Zwist mit dem despotischen Oerthel ihn zum Verlassen des Gutes drängte, ist jedenfalls nicht belegt. Immerhin erschien im Mai die Schrift „Auswahl aus des Teufels Papieren“, mit deren Honorar er seine Angehörigen wenigstens für kurze Zeit unterstützen konnte. Die Situation in Hof war nach wie vor trist: Man trauerte um den verstorbenen Bruder, das Geld war knapp, und dem ältesten Sohn fiel nichts Besseres ein, als die kommerziell erfolglosen Schreibversuche mit dem Verfassen einer weiteren Satirensammlung fortzusetzen. Deren merkwürdiger Titel „Abrakadabra oder Baierische Kreuzerkomödie“ ist einem in Landshut aufgeführten Drama entlehnt, das in einer Folge nur lose zusammenhängender einzelner Akte bestand. Tatsächlich ist der Prosatext, ähnlich einem Schauspiel, in mehrere Haupt- und Zwischenakte sowie jeweils mehrere Szenen unterteilt, von denen die sprach- und bildgewaltige Vision „Des todten Shakespear’s Klage unter todten Zuhörern in der Kirche, daß kein Gott sei“ zu den besonders beeindruckenden gehört. Es fand sich jedoch kein Verleger für die „Kreuzerkomödie“, auch Archenholz sandte im Dezember das Manuskript zurück, weil sich kein Buchhändler des Textes annehmen wollte. Dem Manuskript wurde indes keineswegs mangelnder Witz oder Einfallsreichtum vorgeworfen, vielmehr schienen die allzu bissigen Satiren die Toleranz der Verleger wie des Publikums übermäßig zu strapazieren. Während in Frankreich die Bastille erstürmt wurde, sann der junge Autor in Hof über seine literarische Zukunft nach, denn seine drei Satirensammlungen dienten bestenfalls als Ladenhüter. In dieser schwierigen Situation war es keine geringe Leistung, allmählich neue Schreibstile und Techniken, Gefühls- und Bildwelten zu entwickeln, die seine Texte zu einem Resonanzboden der neuen Zeit werden ließen. Eine Etappe dieses Weges war die Bekanntschaft mit Familie Wirth in Hof, bei der Jean Paul regelmäßig verkehrte. Ähnlich wie durch Wilhelmine von Spangenberg auf Gut Venzka, wurde sein Ge90  3. Kapitel

fühlsleben nun von der Mittvierzigerin Dorothea Friederike Wirth stimuliert, welche durch die Ehe mit dem Hofer Reichspostmeister Stiefmutter und Mutter mehrerer Kinder geworden war. Deren älteste Tochter, die fünfzehnjährige Sophia Renata Euphrosyna fand ebenfalls Jean Pauls besondere Zuneigung. Allzu gern hielt er sich in dem personenreichen, von jungen und jüngsten Musen bevölkerten Haushalt auf, wo gemeinsames Musizieren mit den Töchtern zu seiner liebsten Lustbarkeit zählte. Darüber hinaus lockte ihn die Gastfreiheit von Familie Wirth, wo er seinen Hunger stillen konnte, denn „am [Donnerstag] komm ich schon wieder gelaufen, um da zu essen“, wie es in einem Dankbrief an die Hausherrin heißt. In dem wohlhabenden Hausstand konnte er weidlich Bier genießen, Billard spielen, tanzen, singen, mithin in einer ihm bis dahin unvergönnten Weise die Vielfalt seiner musischen und kulinarischen Vorlieben ausleben. Das Jahr in Hof mit den zahlreichen Besuchen im Hause Wirth zählt zu den glücklichsten in Jean Pauls bisherigem Leben. Zwar waren der Tod der Freunde Oerthel und Hermann, des Bruders sowie die Erfolglosigkeit als Autor zu verkraften, aber zunehmend ging eine bis dahin unbekannte literarische Wirkung von ihm aus, die ihn immer mehr beseelte und schließlich die Gattung wechseln ließ. Freilich war diese Entwicklung schweren psychischen Belastungen ausgesetzt, wie von der Todesvision vom 15. November 1790, als ihn die Einsicht in die Eitelkeit alles irdischen Daseins und Handelns wie ein Blitzschlag traf. Grässliche Bilder vom Verfall des eigenen Körpers erschütterten seine Fantasie in einem bedrohlichen Tagtraum, der einer inneren Geisterbahnfahrt gleichkam. Verschattete Stimmungen kannte er bereits seit der Kinderzeit: Ob die Gespensterfurcht oder die Schauer-, Todes- und Grabgedanken des Kindes und Jugendlichen – zuweilen scheint die Jenseitsfurcht Jean Pauls ausgeprägter gewesen zu sein als die Angst vor den Fährnissen des Diesseits. In der finsteren Erscheinung von Herbst 1790 verdichteten sich nach einjährigem Totentanz die Höllenbilder seiner Fantasie, denn er beklagte nicht nur den Tod seiner Freunde und des Bruders, sondern ebenso eines politischen Hoffnungsträgers, Friedrich II. von Preußen, der im August 1786 Hauslehrer im Vogtland  91

starb. Im 20. Kapitel des nur wenige Jahre später entstandenen Romans „Siebenkäs“ wird der „Tod, diese erhabene Abendröte … dieses herübergesprochene große Amen unserer Hoffnung“ anhand des Ablebens des Titelhelden eindringlich beschworen. Der Todesmonat von Firmian Siebenkäs ist identisch mit demjenigen des preußischen Monarchen. Familie Wirth wollte Jean Paul als Privatlehrer des kinderreichen Haushalts anstellen, aber es lag bereits ein neues Engagement in Schwarzenbach vor. In dieser Zeit begann er das Ideal des „hohe[n] oder Festtagsmenschen“ auszubilden, die Vorstellung von ethisch und künstlerisch besonders begabten Personen, welche das irdische Ungemach durch einen moralischen Vorzug zu überhöhen vermögen. Um dem sinnfernen Dasein eine höhere Weihe zu verleihen, musste Jean Paul selbst zum „Festtagsmenschen“ werden, der durch Beschreibung von komplexen Seelen-Panoramen die Abgründe des Daseins überwinden hilft. Für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts war dieses Selbstverständnis eines Autors als kathartischer Seelenreiniger nicht ungewöhnlich, ähnlich äußerten sich unter anderem auch Klopstock und Wieland. Durch die Lektüre gediegener Werke sowie moralisch gutem Handeln sollten die Innen- und Außenwelt auf eine gleichsam religiöse Weise versöhnt werden. Die literarische Satire war zu diesem hehren Zweck indes gänzlich ungeeignet; ihr Anteil wurde von Jean Paul zunehmend durch neue Formen und Inhalte ergänzt, aber nicht völlig ersetzt. Von solch hohen Idealen der moralischen Selbstverbesserung beseelt, trat Jean Paul im Frühjahr 1790 das neue Amt als Hauslehrer in Schwarzenbach an. Er schied ungern aus Hof, wo ihn Familie Wirth als Lehrer behalten wollte, aber der Amtsverwalter, Rittergutspächter, Justiziar und Fabrikant Johann Gottfried Cloeter war dem Angebot zuvorgekommen. Cloeter gehörte wie Vogel und Völkel zu jenem Kreis „aufgeklärter Männer“, mit denen Jean Paul bereits in den frühen 1780er Jahren verkehrt hatte. Die betreute Schülerzahl der Winkelschule wird in Tagebüchern, Briefen und der Erziehungsschrift „Levana“ mit acht bis zehn Kindern angegeben; dazu gehörten neben dem Nachwuchs aus den Familien Vogel und Völkel vonseiten Cloe92  3. Kapitel

ters drei Söhne und zwei Töchter. Der Kutschen-Umzug von Hof nach dem etwa zehn Kilometer entfernten Schwarzenbach erforderte geringen Aufwand, da Jean Paul außer Notizheften und einigen Büchern nur wenig besaß. Um als Lehrer einigermaßen würdig auftreten zu können, hatte er bei Christian Otto und seinen Brüdern Stiefel, Strümpfe, Schnupftücher und Geld geliehen. In der Stellung als Schwarzenbacher Privatlehrer sammelte er mehr pädagogische Erfahrungen als in Töpen, denn nun galt es Schüler unterschiedlichen Alters und Geschlechts zu unterrichten. Gleichwohl ließ ihm die Tätigkeit hinreichend Zeit, um seinen literarischen Plänen nachzukommen. In Hof hatte er in Friedrich Wernlein einen neuen Freund gefunden, der als Hauslehrer bei Familie Herold amtierte und viele Jahre später die jüngere Schwester der Brüder Otto heiratete. Wernlein, der selbst Abhandlungen veröffentlichte, wurde für einige Zeit ein wichtiger Ratgeber Jean Pauls, ihr Briefwechsel enthält vor allem philosophische Diskurse. Besonders das Thema der reinen, moralisch veredelnden Liebe stand im Mittelpunkt der Unterhaltungen. So wurde der Text: „Es gibt weder eine eigennüzige Liebe noch eine Selbstliebe, sondern nur eigennüzige Handlungen“ später in den Roman „Quintus Fixlein“ aufgenommen. Wernlein kommentierte in ausführlichen Briefen das Manuskript sowie Pfarrer Völkels kritische Entgegnungen. Während Jean Paul sich vergeblich bemühte, einen Verleger für die „Kreuzerkomödie“ zu finden, entstanden die Vorarbeiten zu seinem ersten großen Roman „Die unsichtbare Loge“, mit dem er ein Publikum zu erreichen hoffte, das seine Satiren und Grotesken nicht gefunden hatten. Den sonderbaren Nebentitel „Mumien“ begründet er in einem Brief vom 30. Oktober 1794 mit den einbalsamierten Leichen, welche an das „ägyptische Predigen der Sterblichkeit“ mahnen. Die formale und inhaltliche Gestaltung des Romans entstand durch mündlichen und schriftlichen Austausch mit Wernlein, Völkel und Christian Otto, ohne deren Ratschläge er befürchtete, sich in eine „fehlerhafte Originalität“ zu verlieren. Insbesondere Wernleins Gedanken zur „Selbstbildung des bessern Menschen“ zeigten Wirkung. Vor dem historischen Panorama der Französischen Revolution erHauslehrer im Vogtland  93

schien die Möglichkeit der Reifung des moralisch gediegenen Individuums am Horizont, welches „der Selbstbildung fähig sein soll“, wie Wernlein in einem Brief von April 1790 schreibt. Herders in der Schrift „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ geäußerte Vorstellung vom „edlen Freien“ als Ziel aller humanitären Bildung dürfte ebenfalls von Einfluss gewesen sein. Diese Hoffnung verdichtete Jean Paul in dem Aufsatz „Über die Fortdauer der Seele und ihres Bewußtseins“, der – in Anlehnung an Leibniz’ Monadenlehre – die nachirdische Existenz der als Anima bezeichneten Seele zu beweisen versucht. Das Ideal des „hohen Menschen“, dessen „Leidenschaften ins zweite Leben und Stoizismus in dieses gehören“, wird ausführlich im „Extrablatt“ des 25. Sektors der „Unsichtbaren Loge“ behandelt. Bei der verworrenen, zuweilen widersprüchlichen Familiengeschichte des Romans „Die unsichtbare Loge“ wäre der Titel „Die unsichtbare Logik“ sicher passender gewesen. Dem Leser wird schnell deutlich, dass es sich bei der in „Sektoren“ eingeteilten, von zahlreichen „Extrablättern“ zergliederten Lebensgeschichte Gustavs gattungsgeschichtlich um keine Biografie handelt. Der erste Sektor beschreibt, wie der herrnhutisch erzogene Sprössling in einer alten gemauerten Höhlung des Schlossgartens von Auenthal zugleich „gegen die Schönheiten der Natur und die Verzerrungen der Menschen“ abgeschirmt wird. Die Szene, in welcher der bislang eingesperrte Gustav erstmals das freie Firmament erblickt, zählt zu den eindrucksvollsten Schilderungen aus der Feder Jean Pauls. Die fulminante Sprach- und Bildkraft des Romans reißt den Leser mit. Angestimmt wird das Hohe Lied des (schwierigen) Pfades zur reinen Liebe, Tugend und Bildung. Bereits das Einleitungskapitel konfrontiert „poetische Maschinen“ mit dem „Erzieh-Heldentum“ der wahren Pädagogen. Der höfischen Erziehung wird jeder sittliche Wert abgesprochen, denn sie sei ein „abscheuliches Flickwerk allem unserem Wesen und Wollen“ entgegengesetzt. So gilt der fürstliche Hof des fiktiven Fürstentums Scheerau als Hort der Verführung, als Schloss Klingsor, dessen verführerischer Macht der „unter der Erde erzogne Sonderling“ nicht gewachsen ist. Aber der Jüngling scheitert 94  3. Kapitel

nur vorläufig, die Erfahrung der eigenen moralischen Anfälligkeit wirkt letztlich kathartisch, also Seelen reinigend. Die idealtypische Konfrontation des mit Gefühlskälte und Zynismus agierenden Höflings mit dem gütigen, allein der reinen Herzensbildung fähigen bürgerlichen Menschen spiegelt das Ressentiment des armen Pfarrerssohns und Hauslehrers gegenüber der Welt der Reichen und Mächtigen. Zu jener Zeit war Jean Paul das Hofleben freilich weitgehend fremd, aber bekanntlich ist die Tatsache, dass ein Autor einen beschriebenen Ort oder eine Situation nicht selbst erlebt hat, kein stichhaltiges Argument gegen die Plausibilität seiner Schilderung. Jean Paul kannte die höfische Welt so wenig, wie Schiller die Schweiz oder Wieland Italien und Griechenland – was sie jedoch nicht davon abhielt, glaubwürdige Porträts fremder Zeiten und Orte zu liefern. Das Lese-Publikum befriedigte durch die Lektüre der „Unsichtbaren Loge“ wie durch die Schlüsselloch-Perspektive seine Neugier auf die Innenansichten der Adelswelt. Dem Autor war die Fiktionalität seiner Darstellung bewusst, in der seine „Ware (d. i. meine Helden)“ jene Vorurteile des Publikums bestätigt, die es bestätigt bekommen wollte. Um die Glaubwürdigkeit zu erhöhen, fügte der Erzähler die eigene Person in die Handlung ein: Jean Paul tritt als Autor, Belletrist, Hofmeister Gustavs, Jurist, Rechtsberater, Biograf und Ich-Erzähler auf. Er duzt sich selbst und gibt der Geschichte unerwartete Wendungen, sobald sie ihm als zu unvernünftig erscheint. Im 21. Kapitel schließt Jean Paul sogar einen (freilich einseitigen) „Vertrag mit dem Leser“, worin er freimütig persönliche Eigenheiten, wie die Vorliebe für das Schreibstuben-Dasein sowie Ablehnung von Militärmusik, einräumt. Das Publikum wird somit nicht nur zum Voyeur bei den Hohen und Mächtigen, sondern auch zum Partner des Autors. Das noch unbetitelte Romanmanuskript hatte Jean Paul in nummerierte Hefte zu etwa 60 Bogen bzw. 480 Quartseiten zusammengelegt, von denen allerdings nur Bruchstücke erhalten sind. Christian Otto verfasste eine ausführliche Besprechung. Außer inhaltlichen Bemerkungen, die Jean Paul zur Revision längerer Textpassagen veranlassten, gab es stilistische Kritik am so genannten „Höfer Imperativ“, Hauslehrer im Vogtland  95

der Verwendung von „spreche“ statt „sprich“ oder „helfe“ statt „hilf“. Die Behauptung, dass (außer dem herrischen Vater Oerthels als Vorlage für den geldgierigen Kommerzienrat Röper) keine lebende Person als Muster für den Roman gedient hätte, ist nicht stichhaltig, denn Christian Otto gilt als Vorbild für Gustavs Liebeskonkurrent Amandus, der um die Gunst Beatas buhlt. Auch zahlreiche Kindheitserlebnisse sind verarbeitet, wie im „7. Sektor“ Gustavs Hingabe an die kleine Schafhirtin sowie im „17. Sektor“ die detail- und genussreiche Schilderung seines ersten Kusses. Als belletristische Vorlage diente Wilhelm Friedrich von Meyerns ab 1787 publizierter Roman „Dya-na-sore oder Die Wanderer“. Der aus Ansbach stammende Offizier und Schriftsteller von Meyern lieferte mit der bizarren Schilderung der Wanderung von vier Brüdern zum „Heiligtum der Urzeit“ ein kolossales Gemälde, angefüllt mit Wüsten und Gebirge, in denen einander physiognomisch ähnelnde Greise den Suchenden kryptische Hinweise zur Erreichung ihres hehren Zieles mitteilen. Von dem allgegenwärtigen Wander-Motiv, der Inszenierung bildgewaltiger Panoramen, dem ständig zwischen Symbolismus und Realismus schwankenden kolportageartigen Großbild fühlte sich Jean Paul überaus angezogen. Doch bereits im Jahre 1792 ging er auf Distanz gegenüber dem Roman „Die unsichtbare Loge“, welchen er nun als „corpus vile [wertloser Körper]“ bezeichnete, in späten Jahren gar als „eine geborne Ruine“. Tatsächlich lässt das Werk mehr Fragen offen, als es beantwortet. So bleibt die „Unsichtbare Loge“ in der Handlung so unsichtbar, wie der Titel es verspricht. Gleichwohl hoffte Jean Paul für das umfangreiche Manuskript einen prominenten Unterstützer zu gewinnen. Der in Berlin lebende Romancier, Ästhetiker, Philologe und Publizist Karl Philipp Moritz, Professor für Theorie der schönen Künste an der Königlichen Kunstakademie zu Berlin, zählte zu den prominentesten deutschsprachigen Autoren. Vor allem sein psychologischer Roman „Anton Reiser“ sowie seine Tätigkeit als Herausgeber des „Magazin für Erfahrungsseelenkunde“ bezeugten Moritz’ Renommee als einfühlsamer, fachkundiger Literat, dessen Urteil für den jungen Autor eine besondere Herausforderung war. Von Moritz’ Feder kannte Jean 96  3. Kapitel

Paul außer dem Roman „Anton Reiser“ verschiedene Magazinbeiträge, die Schrift „Reisen eines Deutschen in England im Jahr 1782“ sowie den anonym publizierten Roman „Andreas Hartknopf“, dem er viele ästhetische und philosophische Anregungen verdankte. So gilt „Hartknopf“ – eines von Jean Pauls „Schoos-Bücher(n)“ – als Quelle für das Ideal vom „hohen Menschen“. Von Moritz’ Sohn ist die Erinnerung überliefert, dass sein vielbeschäftigter Vater zunächst nur wenig Neigung verspürte, auch nur den Brief des ihm unbekannten Absenders zu lesen. Aber die Lektüre des Manuskriptes überzeugte ihn: „Das ist sonderbar … das ist kein unbekannter Gelehrter, das ist Göthe, Herder, Wieland, irgendein solcher, der mich durch fremde Hand in Versuchung führen will“. Nach weiterer Durchsicht hieß es: „Das begreif ’ ich nicht, der ist noch über Göthe, das ist ganz was Neues“. Es ist nicht übertrieben, von dieser Äußerung den Anfang von Jean Pauls Erfolgskarriere als Schriftsteller zu datieren. Vermutlich empfand Moritz in dem Text die eigene Gefühlswelt gespiegelt, denn er stammte ebenfalls aus einfachem Milieu und hatte sich nach einer Hutmacherlehre und dem Hauslehrerberuf zu einem führenden Vertreter der Berliner Spätaufklärung hochgearbeitet. Moritz vermittelte das Manuskript an seinen späteren Schwager, den Berliner Verleger und Buchhändler Carl August Matzdorff, der im Jahre 1793 mit „churfürstlich sächsisch Privilegio“ zwei Teilbände „Die unsichtbare Loge. Eine Biographie von Jean Paul“ publizierte, ausgestattet mit einem Titelkupfer von Daniel Chodowiecki sowie zwei Titelvignetten. Einige Verrisse konnten die allgemeine Anerkennung für das Werk voll erhabener Prosa nicht trüben, denn das Publikum, des moderaten Stils überdrüssig, fühlte sich von dem neuen Ton angesprochen. Jean Pauls moralisierende Empfindungsprosa spiegelte jene hoffnungsvoll-pathetische Seelenlage wider, welche große Teile der Leserschaft vor dem Panorama der tiefgreifenden historischen Umwälzung nachempfinden konnte. Von den Tantiemen konnte Jean Paul seine Familie unterstützen und die schäbig gewordene Alltagskleidung ersetzen. Goethe erhielt die Bände zugesandt, eine Antwort blieb aus. Hauslehrer im Vogtland  97

Das Glück findet man häufig dort, wo man Unglück vermutet, und umgekehrt. Auch ein Leben im Käfig kann erfreulich sein, selbst wenn er nicht golden ist. Diese Gedanken könnten Kernthesen für eine Erzählform sein, die Jean Paul in die deutsche Literatur einführte: die Idylle. Tatsächlich bekannte sich der Autor im „Quintus Fixlein“ als Humorist, der das irdische Jammertal durch sublime Heiterkeit überhöht. Aber die Geschichte vom „Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal“ – versehen mit dem Untertitel „Eine Art Idylle“ – wurde als Anhang der „Unsichtbaren Loge“ von den Rezensenten und dem Publikum kaum wahrgenommen. Die Erzählung, verfasst unmittelbar vor Beginn der Ausarbeitung der „Unsichtbaren Loge“ im Frühjahr 1791, wurde vom „ästhetischen Zensurdepartment“ Christian Otto gelesen und kommentiert. Die Zusammenarbeit zwischen dem Autor und seinem Privatkritiker verlief reibungslos, wie dem Briefwechsel zu entnehmen ist. Otto bemängelte jedoch gerade jenen Aspekt des Titelhelden, der zu den sublimen humoristischen Einfällen des Autors gezählt wird: Schulmeister Wutz war zeitlebens so arm, dass ihm der Erwerb eines Buches verwehrt blieb. Jedoch besorgte er sich den Leipziger „Meßkatalog“ und schrieb mit eigener Feder jene Bücher, deren Erwerb ihm aus Kostengründen verwehrt war. Auf diese Weise enthielt sein Bücherschrank schließlich so renommierte Werke wie Lavaters „Physiognomische Fragmente“, Schillers Drama „Die Räuber“ und Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Der „Wutz“, eine der bekanntesten humoristischen Prosaerzählungen Jean Pauls, empfiehlt sich als Lektüre im Unterricht, falls der Lehrer bereit ist, die verborgenen Nischen des eigenen Seelenlebens preiszugeben. Denn der regressiv veranlagte Schulmeister verfügt über ausgereifte Strategien und Techniken, um seine bedrängte Lebenssituation durch Einbildungskraft in eine kleine, aber heile Welt, frei und ohne Sorgen, zu verwandeln. So suggeriert der nach absolviertem Schultag glücklich im Bett liegende Pädagoge selbsthypnotisch: „Siehst du, Wutz, es ist doch vorbei.“ Zuweilen vernimmt er sogar „in seiner tanzenden taumelnden Phantasie nichts als Sphärenmusik“. Der kindliche Lehrer erlebt Geborgenheit im privaten Glück, begehrt 98  3. Kapitel

nichts mehr als Zufriedenheit in der Gegenwart, ist mit dem Wenigen zufrieden, das er hat. Wutz bewohnt ein bescheidenes Haus, das ihm als Schulmeister zusteht, und liebt die Freundin Justina, welche er heiratet. Schließlich trifft den Auentaler Schulmeister jedoch der „Schlag“. Der Biograf (also Jean Paul selbst) eilt zu dem Kranken, dessen linke Seite gelähmt ist. Zudem kann sich der Behinderte nicht mehr „vorausfreuen“, wohl aber in die umgekehrte zeitliche Richtung, denn „die Strahlen der auferstehenden Kindheit“ erhellten nun sein Gemüt. Wutz stirbt mit geschlossenen Augen, durch ein inneres Licht scheint die Sonne in sein Herz. Als Kind auf einem wallenden Lilienbett liegend, entschwebt der vormalige Schulmeister in goldene Morgenröten. Literarische Vorbilder für den „Wutz“ gab es nicht, die humoristische Idylle als detaillierte Schilderung kleinbürgerlichen Lebens war neu in der deutschen Dichtung. Das zauberhaft skurrile Werk um den infantilen Träumer Wutz blieb freilich – vermutlich infolge der unvorteilhaften Präsentation als Anhang der „Unsichtbaren Loge“ – beim zeitgenössischen Publikum kaum beachtet. Die Rezensenten erwähnten die beigefügte Idylle jedenfalls mit keinem Wort. Tatsächlich fand die groteske, scharf gezeichnete Psychologie des geknechteten Lebenskünstlers Maria Wutz, der entschlossen ist, auch jene Umstände, welche er nicht ändern kann, zu genießen, erst im folgenden Jahrhundert großen Zuspruch und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Anders als der „Wutz“ ist die „Unsichtbare Loge“ nicht gänzlich in Schwarzenbach entstanden, denn Anfang Mai 1794 war Jean Paul von seinem dortigen Lehramt nach Hof zurückgekehrt, weil die ältesten Schüler auf das Gymnasium versetzt worden waren. Nun unterrichtete er die jüngeren Kinder der Familien Wirth und Herold. Bei dem über dreißigjährigen Hauslehrer und Autor begann die Zuneigung zum anderen Geschlecht eine immer größere Rolle zu spielen. Zu rechter Stunde versuchten er durch gefühlvoll vorgetragene KlavierFantasien die Damenwelt für sich einzunehmen. Der charmante, originelle und witzige Causeur fühlte sich besonders von der 19-jährigen Renate Wirth angezogen, welche von ihm bereits aus Schwarzenbach Briefe mit starker Sprach- und Bildkraft erhalten hatte – wie jener von Hauslehrer im Vogtland  99

Juni 1791, der eine fantastische Reise zur Sonne schildert. Renate Wirth war eine der ersten Freundinnen Jean Pauls, der Kontakt zu ihr währte jahrzehntelang, ohne dass ihre Beziehung anders als eine platonische gewesen wäre. Noch viele Jahre später bestellte er bei ihr den geliebten Käsekuchen. Ihre Ausbildung als Putzmacherin bei einer verwandten Familie in Bayreuth eröffnete für Jean Paul wichtige Kontakte zu dieser Stadt. Für Jean Paul erlangte ab etwa 1790 die Familie des Hofer Kaufmanns und Manufakturbesitzers Johann Georg Herold eine erhebliche Bedeutung. Als Nachfolger Friedrich Wernleins unterrichtete er deren jüngere Töchter, gemeinsam mit dem republikanisch gesinnten Hausvater wurde heftig gegen die Fürstenpolitik polemisiert. Leidenschaftlich entflammte des Lehrers Herz zu den Herold-Schwestern Amöne und Caroline, im Herbst 1794 erwog er sogar ernsthaft eine Dreiecksbeziehung. Von einer „erotischen Akademie“ im sexuellen Wortsinn konnte freilich während der Hofer Jahre keine Rede sein, „Simultan- und Tuttiliebe“ blieb allein den Romanhelden vorbehalten. Die Honoratiorentöchter Renate Wirth, Amöne und Caroline Herold schätzten den Hauslehrer zwar als charmanten Entertainer mit Niveau, dessen Wissen und Originalität sie verblüffte, aber als ernstzunehmender Ehepartner kam der sozial untergeordnete Hauslehrer wohl kaum in Frage. Und in jener prüden Zeit dürfte ein Wangenkuss das Limit sexueller Freizügigkeit gewesen sein. In einem Brief vom 11. September 1800 erinnert sich Jean Paul daran, in Hof „physisch-kalt und moralisch-heis“ gewesen zu sein. Insbesondere im Falle Amönes war sein bester Freund, der Jurist Christian Otto, ein beachtlicher Nebenbuhler, der sie schließlich heiratete. Die Freundschaft der beteiligten Personen wurde durch die Liebeskabalen indes kaum getrübt. In einem Brief an Otto von April 1804 erinnerte sich Jean Paul nur allzu gern an das glückliche „Höfer-Beisammenleben“, welches allerdings durch den Unfalltod von Friederike Herold im Sommer 1794 eine tragische Note erhielt: „Ich stehe erweicht neben Ihnen“, heißt es in einem Brief an Amöne. Seine speziell an Frauen gerichteten Briefe enthielten zumeist einen pathetisch-lehrhaften Grundton. Nur zu

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gern gab er den Tugendmeister, der die Damen zu Sittsamkeit, Lektüre und Interesse für die Wissenschaften anstiften wollte. Letztlich blieb ihm die Stadt Hof ebenso fremd wie der fürstliche Hof. Noch viele Dekaden später erinnert er sich im 13. Kapitel des Romans „Komet“ an die „Jahre in Hof unter Kaufleuten und Juristen mit seinem aufgedeckten Hals und langem Flatterhaare“. In Briefen von April 1799 und Juli 1801 beklagt er die „Kanzlei- oder KomtoirVerbildung“ der Geschäftsleute ebenso wie deren „kalte Dumpfheit“. Das tief empfundene Gefühl gesellschaftlicher Minderwertigkeit war ein entscheidender Antrieb zur Entwicklung seiner Persönlichkeit, ein Brief vom 2. Dezember 1803 deutet die Hofer Jahre sogar als seine wichtigste Zeit der Reifung. Bei all den Tändeleien und platonischen Liebschaften im Hause von wohlhabenden Bürgerstöchtern darf nämlich nicht übersehen werden, dass Jean Paul als Lehrer weder über eine soziale Reputation verfügte noch als Autor eine finanziell aussichtsreiche Zukunft zu erwarten hatte. Seine Schreibstube bestand aus einer mit Buchregalen ausgestatteten Ecke des mütterlichen Zimmers, umgeben von herumflatternden Tauben. Die Ausgrenzung vonseiten der Kaufleute machte ihm einmal mehr bewusst, dass seine einzige Chance gesellschaftlicher Anerkennung in der erfolgreichen Autorschaft lag. Er war indes keineswegs so leichtgläubig, um nicht insgeheim zu ahnen, dass all die Tändeleien, Liebschaften, Enttäuschungen und sozialen Ressentiments nur als Vorlage dienten, um in einer Erzählung wie unter einem Vergrößerungsglas geschildert zu werden: Der September 1792 in Schwarzenbach begonnene Großroman ist inhaltlich und formal mindestens ebenso bizarr wie sein Titel: „Hesperus oder 45 Hundposttage“ – benannt nach einem Spitzhund namens „Spitzius Hofmann“, der als „biografischer Handlanger und Spediteur“ dem auf der Insel St. Johannis in ostindischen Gewässern lebenden Verfasser, dem Berg-Hauptmann Jean Paul, 45 Tage lang Papiere zustellt, aus denen besagter Autor in „Hundposttage“ genannten 45 Kapiteln die Lebensgeschichte des Arztes Viktor verfasst. Dass just diese Molukken-Insel vom Fürstentum Scheerau umgeben ist, gehört zu jenen Eigenwilligkeiten der Jean Paulschen Geografie, welche der aufgeklärte Leser augenzwinkernd hinnahm. Hauslehrer im Vogtland  101

Die durchweg kuriose Betitelung seiner Romane und Erzählungen begründet Jean Paul in einem Brief vom 2. August 1801 mit dem lakonischen Hinweis, dass sich ein Buch mit einem „närrischen Titel“ leichter verkaufen lässt als eines mit langweiliger Überschrift, ähnlich wie ein „Mensch mit einem Rathsstitel“ mehr gilt als ohne Namenszusatz – der durchschlagende Erfolg des neuen Werkes sollte ihm Recht geben. Die Konzeption schließt unmittelbar an die Fertigstellung der „Unsichtbaren Loge“ an, bereits im Februar 1792 erfuhr Christian Otto von dem neuen Projekt, am 15. Mai lag das erste Entwurf-Heft vor. Im Sommer des Folgejahres erhielt Otto die ersten 19 Hundposttage, ein Jahr später lag dem Berliner Verleger Matzdorff das Manuskript vor. Der Roman erschien im Frühsommer 1795 in „drei Heftlein“. Für die zweite und dritte Auflage in den Jahren 1798 und 1819 überarbeitete Jean Paul den Roman und schuf eine vierteilige Gliederung. Die Entstehungsgeschichte des „Hesperus“ dokumentiert wie keines der Manuskripte zuvor den Werkstattcharakter seines Schreibens, die textgenetische Analyse darf freilich nicht außer acht lassen, dass der Roman ein Ergebnis erheblicher seelischer Nöte war. Denn zu Beginn der Niederschrift hatte Jean Paul einen weiteren Tod zu verkraften: Am 3. September starb sein erster Zögling, Christian Adam von Oerthel, an den Folgen der Blattern. Bis zur Fertigstellung des Manuskripts im Juni 1794, also nur kurze Zeit nach Aufnahme der Hauslehrertätigkeit in Hof, waren weitere schwere Enttäuschungen und Verluste zu verkraften, welche sich in der Handlung und in der Motivwahl des Romans spiegeln: Nach der Zurückweisung durch Amöne hatte die Ablehnung durch deren Schwester Caroline zu „kochende[n] Gefühle[n]“ geführt, wie in einem Brief vom 1. Dezember 1794 verlautet. Mit leidenschaftlichem Ton verkündete der Gekränkte, dass die Hartherzige – gleichsam als Ersatzhandlung – im „Hesperus“ „meine Seele wiederfinden [wird], die du so kalt von deinem Herzen wegdrückst.“ Aus diesen „kochenden Gefühlen“ speist sich der Roman, dessen Hauptinhalt die Liebesgeschichte zwischen Viktor und Klotilde, einer idealisierten Amöne oder Caroline Herold, ist. Dass Jean Paul in einem Brief von Januar 1800 eine reale weibliche 102  3. Kapitel

Person als Vorlage für Klotilde in Abrede stellte, mag darin begründet sein, dass er keine der Hofer Damen kompromittieren wollte. Das Romanmotiv einer unglücklichen Liebe war bekanntlich nicht neu in der deutschen Literatur, seit Goethes „Werther“ und Millers „Siegwart“ häuften sich die emphatischen Gefühlsausbrüche. Aber eine derartig inflationäre Häufung von Larmoyanz, tränenfeuchtem Pathos und Entsagungsorgien wie in „Hesperus“ war bis dahin unbekannt. Es gibt kaum eine Variante zum Thema Liebe, keine Wirrung und Irrung der Geschlechtersuche, die in dem Roman „Hesperus“ nicht zur Sprache kommt. Man lese, um nur ein Beispiel zu nennen, im 34. Hundposttag Klotildes und Viktors gemeinsamen Blick in den Teich: Auf der „Insel der Seeligen“ suchen die Liebenden „mit den Blicken im malenden Wasser das tiefere Himmelblau“ bis ihre Seelen „zusammenzittern“. Wie für Liebesszenen bei Jean Paul typisch, wird das impressionistisch anmutende Dekor durch das Schlagen der Nachtigall akustisch aufgewertet. Aber Viktor (anspielungsreich mit denselben Zweitnamen ausgestattet wie der römische Märtyrer Sebastian) muss aufgrund eines Schwurs der Liebe entsagen, und schließlich wird die glückliche Situation von dem Schurken Matthieu zunichte gemacht. So verschachtelt die fatale Dreiecksgeschichte zwischen Klotilde, Viktor sowie dem Freund und Buhlen Flamin (der sich nach mehreren hundert Seiten als Klotildes Bruder erweist) anmutet – die Schnupftücher gerührter Leserinnen (zuweilen auch ihrer Kavaliere) dürften beim Lesen selten trocken geblieben sein. Virtuos wie kein Literat zuvor spielt Jean Paul auf der Gefühlsklaviatur. Gewagte Metaphern mit kühnem Deutsch werden bemüht, etwa im 36. Hundposttag, wo auf dem „Wege zur seligen Blütenhöhle“ innerhalb weniger Sätze gleich fünfmal der Ruf der Nachtigall ertönt. Die Landschaft, ja der Kosmos sind Spiegel eines Liebes- und Entsagungsmarathons, der seinesgleichen in der deutschen Literatur sucht. Held Viktor bemüht schließlich den Mond, ja das Weltall zur Beglaubigung seiner „hohen Liebe“ zu Klotilde. Fulminante kosmische Bilderstürze reißen den Leser mit, wie im 30. Hundposttag: „Eine schiefe Höhle, deren Mündung gegen die Ewigkeit aufklaffte, wühlte sich rückwärts durch die Hauslehrer im Vogtland  103

Erde gegen Abend bis nach Amerika hinab, wo unten die Sonne in die Öffnung schien.“ Solch sprachlichen Absonderlichkeiten kommen gehäuft vor, kein Kolossalgemälde ist gewaltig genug, um die hehre Tugend seiner Helden vor dem Panorama einer grandiosen Landschaftskulisse zu schildern. Der vorzugsweise Shakespeare-Trauerspiele lesende, astronomisch gebildete Emanuel oder Dahore genannte Lehrer von Klotilde und Viktor ist gleichsam ein Souffleur Gottes, welcher den depressiven Helden durch die Mitteilung „großer Gedanken“ seelisch aufzurichten vermag. Zur Beglaubigung der Kompetenz Dahores in metaphysischen Fragen werden im 25. Hundposttag sogar die Sterne und Fänge des Universums beschworen. Emanuel trägt deutliche Züge von Karl Philipp Moritz, der, ebenso wie sein literarisches Abbild, ein Astronom war. Der Tod von Moritz im Juni 1793 zeitigte erhebliche Folgen für die weitere Romankonzeption, denn Otto vermochte seinen Freund nur mit Not zum Weiterschreiben zu überreden. Vor diesem Hintergrund erklärt sich das langwierige, immer wieder von Krankheitsschüben und Erholungsphasen unterbrochene Sterben des Romanhelden Emanuel, dessen Exitus von apokalyptischen Visionen begleitet ist, die selbst für Jean Pauls Prosa neue Maßstäbe setzten. Der „hohe Ton“ der Erzählung wird ständig von Abschweifungen unterlaufen. Die zahlreichen „Extrablätter“, Digressionen sowie die Handlung verzögernde Einlassungen des Autors („in drei Minuten bin ich wieder bei der Geschichte“!) belegen einen ästhetischen Dekonstruktivismus, der die vorherrschende pathetische Stimmung ständig in Frage stellt. Denn der „Hesperus“ erschöpft sich keineswegs in der Schilderung einer tragischen Dreiecks-Liebesgeschichte, politische Belange spielen ebenfalls eine wesentliche Rolle. So wird das Pfarrhaus von St. Lüne im 43. und 45. Hundposttag der revolutionären Zusammenrottung verdächtigt, ohne dass der Roman freilich im Sinne Wolfgang Harichs pauschal als „Revolutionsdichtung“ zu werten wäre. Gleichwohl enthält die Erzählung flammende antifeudale Bekenntnisse, wie etwa die Rede Flamins nach dem Duell mit Viktor im 40. Hundposttag. Bei dem Roman schrieb Klios Griffel mit, denn ohne Berücksichtigung der französischen Ereignisse und die dadurch freige104  3. Kapitel

setzten Gefühlswelten bleibt die Erzählung letztlich unverständlich. Die erzählte Zeit des „Hesperus“ währt vom 30. April 1792 bis zur Hinrichtung Marie Antoinettes im Oktober des Folgejahres, umfasst also die fortgeschrittene Phase der Französischen Revolution. Allgegenwärtig ist die politische Satire: Ob im 18. Hundposttag in der Bittschrift von der Oberjägerei an den regierenden Fürsten von Flachsenfingen ironisch vom „republikanischen Vieh“ die Rede ist oder Viktor sich fragt, ob ein Höfling eine Jacke mit Orden trägt oder ob es sich eher um Orden mit einer daran angehefteten Jacke handelt – stets sind die fürstlichen Günstlinge das Ziel harscher Polemik. Nicht wenige Textpassagen des „Hesperus“ lesen sich wie eine bürgerliche Kampfschrift gegen die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, ja häufig glaubt man den Autor um einen Freiheitsbaum tanzen zu sehen. So werden im Pfarrhaus von St. Lüne politisch brisante Predigten gehalten, tagt ein aus Jakobinern, Republikanern und Thronstürmern rekrutierter, über das Verhältnis von Aufklärung und Freiheitsstreben diskutierender Oppositionsclub. Tugendheld und Moralist Viktor hat zwar einen ausgeprägten Sinn für Personen niederen Standes (wie im 42. Hundposttag für die Hausangestellte Marie), aber zu umstürzlerischen Tönen vermag sich der gemäßigt republikanische Augenarzt nicht aufzuschwingen. Topografische Zuweisungen mit moralischen Bezügen gibt es zuhauf, so werden im 16. Hundposttag das „Sklavenschiff des Hofs“ oder die „fürstliche Arsenikhütte“ mit der „pfarrherrliche[n] Milchhütte“, im 25. Hundposttag die „bunten spitzen Hofgletscher“ des Adels mit den „weichen Täler[n]“ des mittleren Standes verglichen. Während die Residenzstadt Flachsenfingen als Totenhaus der Tugend, das Pfarrhaus von St. Lüne hingegen als Oppositions- und Debattierclub geschildert wird, tummelt sich in Maienthal die Phalanx der Edelmenschen, welche ihr Denken, Fühlen und Trachten ausschließlich den hehren Idealen der Tugend und Frömmigkeit widmen. In diesem Locus amœnus verwirklicht sich das in der „Unsichtbaren Loge“ angesprochene Ideal vom „hohen Menschen“ und den „schönen Seelen“. Das anmutige Dorf, Vorschein einer heilen Welt, beherbergt in dem blinden, durch sein Flötenspiel Gott beschwörenden Hauslehrer im Vogtland  105

Naturfreund Julius und dem edlen Übervater Dahore zwei Charaktere von höchster sittlicher Reife. Die im wahren Wortsinn himmlische Liebe zwischen den „EdenKompetenzstücken“ Viktor und Klotilde findet in Maienthal ihren angemessenen landschaftlichen Rahmen, denn der „Garten des Endes“ erlaubt ein Verhalten wie im Paradies vor dem Sündenfall. Tatsächlich spricht das Paar im 35. Hundposttag sogar mit Jehova persönlich – freilich erst nach dem Ertönen der Nachtigall sowie erlauchter Flötenmusik. Der Leser vernimmt die frohe Kunde, dass wahre Religiosität weniger darin besteht, Gott in der Not anzurufen, als in der Freude. Aber auch das weitere Personal von Maienthal (wo Klotilde ihre Kindheit verbrachte) lässt an Edelsinn nichts zu wünschen übrig, wie die Äbtissin mit dem „hohen Air“. Dass im „Hesperus“ auch der grämlich wirkenden Stadt Hof im letzten Kapitel durch namentliche Nennung von dortigen Gasthöfen ein scherzhaftes Denkmal gesetzt wird, gehört zu den stilistischen Eigenheiten des Autors, dessen dekonstruktivistische Manier Symbolik mit Realität, Traumwelten mit gesellschaftlichen Wirklichkeiten vermengt. Auch die ebenso wort- wie bildgewaltige Inszenierung der Utopie Maienthal bleibt nicht von ironischen Seitenhieben verschont, wenn sich etwa der Autor im 35. Hundposttag das selbst verfasste literarische Großgemälde als Trostlektüre für die eigenen späten Lebensjahre empfiehlt. Wie zuvor in der „Unsichtbaren Loge“ hat der Autor auch im „Hesperus“ seine eigene Person thematisiert; die Selbstreflexivität sollte zu einem strukturellen Merkmal seiner erzählenden Prosa werden. Der mit Vorliebe Gemüse verzehrende friedliche Held Viktor (der Jakobiner Flamin bevorzugt Schinken!) bekennt sich nicht nur als gemäßigter Republikaner und Feind aller philosophischen Systeme, sondern entwickelt im 9. Schalttag eigenständige, physiologisch fundierte Gedanken über das Verhältnis des Ich zu den Körperorganen, wobei „das Gehirn und die Nerven“ als der „wahre Leib“ gelten. Viktor folgert, dass die Organe nicht selbst empfinden, sondern empfunden werden, die Innenwelt des Menschen zugleich eine „humoristische, empfindsame und philosophische Seele“ birgt. Zudem wird jegliches rein schematische oder schier logische Denken als unredlich verdächtigt. 106  3. Kapitel

Mit satirischer Kritik an den Nachfolgern Kants (den „jungen Käntchen“) wird denn auch nicht gespart, wie etwa im 5. Schalttag des „zweiten Heftleins“. Aber auch Heinrich Jacobi bleibt von Kritik nicht verschont, dessen „neue Anschauungen“ als „dunkel“ abqualifiziert werden. Bei Viktor handelt es sich zweifellos um ein alter ego Jean Pauls, denn die Ähnlichkeit ihres Verhaltens ist zu deutlich gezeichnet, als dass dieser Zusammenhang übersehen werden könnte: So neigen beide in Zeiten seelischer Not zum Verfassen von Briefen, beiden ist (wie allen klugen Köpfen) niemals langweilig, denn im Falle des Lektüremangels liest Viktor ersatzweise sogar den Feuersegen an der Haustür. Zudem mögen beide Personen niederen Standes. Vor allem jedoch fühlen sich Autor und Romanheld gleichermaßen von der Tonkunst angezogen. So lässt Jean Paul, der 1792 in Hof ein Konzert des Violinisten Carl Stamitz erlebt hatte, Viktor beim Anhören des von einer Viola d’amore begleiteten Liedes „Vergiss mein nicht“ seelisch erweichen. Und bereits einige hundert Leseseiten zuvor begleitet Viktor die Entstehung eines Briefes an Emanuel mit eigenem Klavierspiel und Gesang, nachdem er zuvor im Kirchgarten von St. Lüne einer von Klotilde vorgetragenen Arie aus Georg Anton Bendas Singspiel „Romeo und Julie“ gelauscht hat. Gepriesen wird die reinigende, kathartische Kraft der Musik, welche die reinsten Schwingungen der Seele hervorzurufen vermag. Die als ethisch wertvoll empfundene gefühlsbetonte Tonkunst wird mit der Hofmusik konfrontiert, welche (angeblich) die Entfaltung wahrhaft edler Empfindungen verhindert. So bemerkt Klotilde im 28. Hundposttag nach einem Konzert des Mundharmonikavirtuosen Franz Koch: Die „Musik [ersetzt] als künstlicher Schmerz den wahren“. Vor allem jedoch gelten die „Ventile des Windes“, das Naturrauschen der „großen Wesen-Orgel“ und das Plätschern der Bäche als Klänge von Gottes Harmonie, welche selbst die Instrumentalmusik an Schönheit übertrifft. Niemals zuvor in der deutschen Literatur wurde der Tonkunst mit ihrer Fähigkeit zur Freisetzung von Gefühlen ein so großer Stellenwert im Verhältnis zu den anderen Künsten eingeräumt wie im „Hesperus“. Einer der Ur-

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sprünge der romantischen Abgrenzung „begriffloser Musik“ von der Wortsprache ist der 19. Hundposttag. Durch die Beziehung zu Renate Wirth hatte Jean Paul anlässlich einer Reise nach Bayreuth Anfang September 1793 den drei Jahre jüngeren Emanuel kennen gelernt, aus dieser Verbindung entwickelte sich eine lebenslang währende Freundschaft. Emanuel, einer jüdischen Hausiererfamilie entstammend, galt in Bayreuth als einer der am meisten angesehenen und wohlhabenden Bürger, von dessen lebensklugen Ratschlägen und ästhetischem Empfindungsvermögen Jean Paul profitierte. Infolge von Misshandlungen durch zwei Offiziere litt Emanuel an einem unheilbaren Hörschaden. Jean Paul führte diesen Vorfall auf die verbreitete Judenfeindschaft zurück, aufmerksam verfolgte er den langwierigen juristischen Prozess. Emanuel, ein charakterlich vortrefflicher, „schwarzäugiger, langer … guter“ Freund, unterstützte Jean Paul hinfort durch die Zuwendung von Stoffen, Kleidung, Bier und Geld. Durch den Kontakt zu Emanuel gelangte Jean Paul zu tieferen Einsichten in das Wesen des Judentums, dessen Schrifttum ihm bisher nur aus zweiter Hand bekannt war. Aus dem Briefwechsel mit Emanuel geht hervor, dass er die religionsgesetzlichen Überlieferungen des rabbinischen Judentums, die „Mischna“ sowie den „Talmud“, las und vergleichende Religionsstudien betrieb. Der christliche Freund verhehlte indes nicht seine – freilich behutsam vorgetragene – Kritik an der übertriebenen Ritualisierung des jüdischen Glaubenslebens, dessen allzu strikte Befolgung nach seiner Befürchtung eine Entkräftung der Religiosität bewirken könnte. Nachdem bei Matzdorff der dritte, abschließende Band des „Hesperus“ erschienen war, sandte Jean Paul das liebevoll mit Vignetten ausgestattete Buch – wie zuvor bereits die „Unsichtbare Loge“ – mit einem Brief an Goethe, der die Sendung abermals unbeantwortet ließ. Dass Goethe indes das Buch mit der respektablen Bemerkung: „Hierbei ein Tragelaph [altgriechisches Fabeltier bzw. literarisches Werk, das keiner bestimmten Richtung zugeordnet werden kann] von der ersten Sorte“ an Schiller sandte, der das Buch in einem Brief vom 12. Juni 1795 mit dem Prädikat „prächtiger Patron“ bedachte, blieb Jean Paul 108  3. Kapitel

verborgen. Immerhin erfuhr er zwei Jahre später durch eine dritte Person, dass ihn Goethe in Leipzig „mild und unpartheiisch“ beurteilt haben soll. Auch im Hause Herder war man beeindruckt, ohne dass der Autor davon erfuhr. Am 26. November erschien in dem renommierten Rezensions-Organ „Allgemeine Literatur-Zeitung“ eine ausführliche, differenzierte Besprechung, welche allerdings die übertriebene Weinerlichkeit des Romans bemängelte. Jean Pauls Kreativität ließ sich indes weder durch Tadel noch durch Ignoranz aufhalten. Als der „Hesperus“ die Aufmerksamkeit der literarischen Welt auf sich zog, lagen längst Entwürfe zu weiteren Texten sowie Umarbeitungen von Manuskripten vor. Während „Hesperus“ für den Druck vorbereitet und mit Verleger Matzdorff über den endgültigen Titel beraten wurde, begann Jean Paul Anfang Juli 1794 mit der Erzählung „Des Quintus Fixlein Leben bis auf unsere Zeiten; in funfzehn Zettelkästen“. Die Handlung setzt mit der Datumsangabe anno 1791 nahe dem (bei der fiktiven Stadt Flachsenfingen gelegenen) ebenso fiktiven Dorf Hukelum ein, wo der vornehme Schulmann Quintus Zebedäus Egidius Fixlein seine Mutter Clara besucht und – zu seiner großen Freude – das 25-jährige, gänzlich verarmte Fräulein Thiennette kennen lernt. Fixlein, ein akademischer Lehrer aus Leipzig, ist schriftstellerisch bereits durch eine Errata-Sammlung hervorgetreten und plant nunmehr die Beschreibung des eigenen Lebens. Die Aufzeichnungen zu diesem Zweck werden dem geneigten Leser in besagten 15 Zettelkästen zur Kenntnisnahme vorgelegt. Auf Fixleins Familie liegt der Fluch, dass sich sämtliche männliche Nachkommen im 32. Lebensjahr zum Sterben niederlegen, und zwar am vierten Sonntag nach dem Osterfest. Der Titelheld, seines wahren Alters nicht sicher, glaubt sich somit dem baldigen Ableben nahe. Trotzdem (oder deshalb?) gewährt der Stadtrat von Hukelum Fixlein die lang ersehnte Anstellung als Konrektor, denn die Ratsherren wissen von dem bald bevorstehenden Tod des Aspiranten. Fixlein übernimmt zudem dank einer Namensverwechslung (der ursprüngliche Kandidat hieß „Füchslein“) die Pfarre und erbt von der Schlossherrin ein hochherrschaftliches Bett sowie einen Batzen Geld. Somit ist er wider erwarten schuldenfrei und kann Thiennette die Heirat verspreHauslehrer im Vogtland  109

chen. Die Schilderung der Hochzeitsfeier im „Neunten Zettelkasten“ zählt zu den lebensvollsten Darstellungen, die Jean Paul jemals geliefert hat, der Leser wird förmlich hineingezogen in die Lustbarkeiten bescheidener, fröhlicher Menschen. Genau ein Jahr nach diesem Fest bringt Thiennette ein Kind zur Welt. Das Unglück tritt jedoch ein, als Fixlein sein wahres Alter erfährt und sich zum Sterben niederlegt. An dieser Stelle mischt sich der Erzähler Jean Paul in die laufende Handlung ein. Bei alleiniger Anwesenheit der Mutter heilt er den Todkranken durch Entfernung sämtlicher Zeichen des Aberglaubens aus der Stube. Nach erfolgreicher Kur wird der Autor von Thiennette mit den besten Wünschen verabschiedet. Die Tatsache, dass Fixlein einer bedürftigen Hofer Familie entstammt, ist ein deutlicher autobiografischer Bezug zu Jean Paul. Eine psychologisch wichtige Schlüsselszene enthält der „Achte Zettelkasten“, wo Fixleins glückliche Mutter erlebt, wie ihr Sohn als Pfarrer bestallt wird und eine feste Braut bekommt – genau jene Konstellation, die Jean Paul seiner Mutter nicht bieten konnte oder wollte. Die literarische Inszenierung dieser Wunscherfüllung war zweifellos ein wichtiger Anlass zur Niederschrift der Erzählung, bei der es sich um die Verarbeitung der engen Mutter-Sohn-Beziehung handelt. „Quintus Fixlein“ enthält freilich – außer der drastischen Schilderung bitterer Armut – zahlreiche autobiografische Bezüge: Im „Fünften Zettelkasten“ erweist sich Fixlein als notorischer Trinker von „Fusel nämlich, oder Bier, oder etwas Wein“. Mittels des Genusses von Pontak, einem guten Bordeauxwein, wähnt er durch eine „erlaubte Betrunkenheit“ den Weg zu Gott geebnet und bekommt zudem hinreichend Mut „ein Fräulein zu fassen.“ Ähnliche bacchantische Neigungen sind an vielen Textstellen zu finden, wo Fixlein durch die „Hohlspiegel des Weinnebels … endlich die Bilder meiner Seele vergrößert und verkörpert als Geister-Gestalten mitten in die Luft“ sieht. Die Magie von Jean Pauls Wortkunst vermag romantische Stimmungen zu erwecken, welche gleichwohl zuweilen die Grenze zum Kitsch überschreiten, wie etwa im „Sechsten Zettelkasten“, wo der Mond als „lächelnder Christuskopf“ auf die Liebenden hernieder scheint.

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Die Erzählung entfacht erzählerische Glut auch in den vorangestellten, mit der Haupterzählung lediglich durch Symbole und Motive verknüpften Beiträgen „Mussteil für Mädchen“, „Der Tod eines Engels“ und „Der Mond“, wo der Autor als „Stadtpfarrer des Universums“ jeweils das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Kosmos beschreibt. Der Erzählung sind fünf „Jus de tablets“ beigfügt, von denen die philosophischen Essays „Über die natürliche Magie der Einbildungskraft“, „Es gibt weder eine eigennützige Liebe noch eine Selbstliebe, sondern nur eigennützige Handlungen“ sowie der launige Bericht über die Reise von Rektor Florian Fälbel nach dem Fichtelberg besonders hervorzuheben sind. Der „Magie“-Aufsatz reflektiert die Macht und Verführungskunst des „inneren Sinnes“, der Fantasie, welche eigene Welten zu erschaffen vermag. In Anlehnung an Herder und Gedanken der Romantik vorwegnehmend, wird der Traum als „Mutterland der Phantasie“ verstanden. Trunkenheit und Rausch gelten als akzeptable Fluchtwege aus der bürgerlichen Welt, denn „dem echten Dichter ist das ganze Leben dramatisch, alle Nachbarn sind ihm Charaktere, alle fremde Schmerzen sind ihm Süße der Illusion“. Die „Kräfte des Mondscheins und der Nacht“ gelten als Inspiration, vor allem jedoch die begrifflose Sprache, die Musik, wird als jene Kunstform betrachtet, in welcher „die Töne der Allmacht vor dem Sinne des Grenzenlosen überkommen.“ Dieser Philosophie der Musik in nuce folgt mit dem „Liebe“Aufsatz eine Auseinandersetzung mit der Philosophie Platners und Helvetius’, deren Thesen von der Eigennützigkeit der Empfindungen Jean Paul zu widerlegen versucht. Er feiert die Liebe als „menschlichen Magnetismus“, der jenseits bloßen Zweckdenkens den Einzelnen veredelt. Einen gänzlich anderen Ton und Inhalt bietet eine Erzählung mit dem umständlichen Titel „Des Rektors Florian Fälbels und seiner Primaner Reise nach dem Fichtelberg“, worin der Schulmann Florian Fälbel mit seinen Primanern und der tumben, „kunstlosen“ Tochter Kordula über Töpen, Zedwitz, Hof, Schwarzenbach, Kirchenlamitz und Marktleuthen nach Thiersheim reist, wo ihm schließlich ein Gelehrter mitteilt, dass er die Gegend, die Fälbel eigentlich beschreiben Hauslehrer im Vogtland  111

wollte, bereits dokumentiert habe. Also kehrt Fälbel mit seiner Entourage unmittelbar vor dem Ziel um. Allerdings erweist sich für die Lehrer-Karikatur Fälbel die Reise nicht als völlig vergeblich, denn die Fahrt diente auch der Ermittlung statistischer Ergebnisse. Wie einem Spitzweg-Bild entnommen, bewegt sich der seiner Kindheit nachträumende Rektor Fälbel (hierin Quintus Fixlein ähnlich!) mit dem studentischen Anhang durch das Vogtland. Er vermag sogar, bei Nennung freilich sonderbarer Gründe, eine Rebellion gegen den Landesfürsten zu verhindern – ein sarkastischer Seitenhieb Jean Pauls gegen jegliches Spießertum vom Schlage des hyperpedantischen Pädagogen. Die Erzählung entfaltet eine Philosophie des Reisens, die in der Einsicht mündet, dass der Weg das wahre Ziel einer Wanderung sei. Die satirische Erzählung „Fälbels Reise“, ursprünglich für die „Bairische Kreuzerkomödie“ verfasst, wurde sowohl in der frühen wie auch in der überarbeiteten Fassung von Christian Otto kritisch gelesen. Der Beitrag erschien schließlich als Begleittext zur Erzählung „Quintus Fixlein“, die so erfolgreich war, dass der Bayreuther Verleger Johann Christoph Gottlieb Lübeck noch im ersten Jahr nach der Publikation des Erstdrucks eine zweite Auflage plante. Für diesen Anlass verfasste Jean Paul im August 1796 eine ausführliche „Geschichte meiner Vorrede zur zweiten Auflage des Quintus Fixlein“, die Ende November als selbständiges Werk vorlag. Geschildert wird abermals eine Fußreise, diesmal von Hof nach Bayreuth, bei der Jean Paul (der diese Strecke oft zu Fuß zurückgelegt hat) gegenüber einem Beurteiler seiner Werke vorsichtshalber statt des eigenen Namens jenen von Quintus Fixlein nennt – ein Reflex auf das Rezensenten-Trauma, welches nun zum ständig wiederkehrenden Motiv seiner Werke wurde. Anfang Dezember sandte Jean Paul die „Vorrede“ an Herder, der die Schrift als handfeste Satire auf den inhumanen Ästhetizismus und Formenkult der Weimarer Klassik interpretierte. Caroline Herder wies den befreundeten Halberstädter Kanonikus, Lyriker und Dichtermäzen Ludwig Gleim auf die „höchst lesenswerte Geschichte“ hin. Im Mai 1796 sandte der begeisterte Autor unter dem Pseudonym „Septi-

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mus Fixlein“ einen Brief an Jean Paul, dem Doppel-Louisdors im Werte von etwa 60 Talern beigefügt waren. Ein weiteres Werk aus der späten Hofer Zeit trägt den merkwürdigen Titel „Biographische Belustigungen unter der Gehirnschale einer Riesin“. Die 1795 und im Folgejahr verfasste, mit sechs „Belustigungs“-Kapiteln sowie einem satirischen Appendix nebst Vorrede ausgestattete Erzählung blieb allerdings Fragment, weil Jean Paul „nicht in die Manier des Hesperus und Fixlein hineinkam“, wie er am 15. September 1796 gegenüber Christian Otto bemerkte. Anders als die barocke Überschrift vermuten lässt, ist der Text von einem pessimistischen Ton der Einsamkeit durchdrungen. Zwar werden wie in „Hesperus“ grandiose, von Waldhornklängen umtönte Sonnenuntergänge geschildert, aber auch „der bunte Sonnenschirm des Himmels voll Abendrot“ vermag die Trauer der jungen Adeline über den Tod ihrer Mutter nicht zu mindern. Hingegen gehört der von den gewalttätigen Entwicklungen in Frankreich enttäuscht nach dem heimatlichen Schottland fliehende Wunderheiler und Schriftsteller Graf Lismore zu jenen Edelmenschen, die (ebenso wie besonders schlechte Personen) nur schwer ein Einzelwesen lieben können, wie Jean Paul lebensklug bemerkt. Der düstere Grundton der „Belustigungen“ ist von der Enttäuschung über den Verlauf der Französischen Revolution gespeist, deren Demagogisierung und Brutalisierung den humanistischen Erwartungen Jean Pauls zutiefst widersprach. Das „Zwielicht zwischen heller Freude und dunkler Trauer“ ist dichterisch in kontrastreichen Szenen gestaltet, wie der Beschreibung einer Hochzeit unmittelbar vor der drastischen Darstellung der Schrecken eines Schlachtfeldes. Das mit dem begehbaren Kopfteil der New Yorker Freiheitsstatue vergleichbare Gehirn der im Titel erwähnten Riesen-Statue namens Europa dient dem Autor als fiktiver Arbeitsort. Von dieser ungewöhnlichen Schreibstube aus vermag der sich als Jean Paul ausgebende Erzähler das idyllisch gelegene Städtchen Waldkappel in dem fiktiven Fürstentum Flachsenfingen zu überschauen. Die Wahl und Darstellung der Schauplätze ist charakteristisch für Jean Pauls Neigung zur satirischen Entlarvung feudaler Verhältnisse, aber die Auswahl einer Hauslehrer im Vogtland  113

„Gehirnschale“ ist darüber hinaus ein Hinweis auf das Martyrium des „Gehirnbohrers“ Migräne, welche seine Lebensqualität beeinträchtigte. Die Vorgeschichte des kuriosen Denkmals ist schnell erzählt: Der sich als Großvater des Autors erweisende Fürst von Flachsenfingen hat sich – nach einer stattlichen Steuererhöhung – in Waldkappel ein gigantisches Monument in Gestalt einer Blei-Riesin errichten lassen, um die Herkules-Statue seines Rivalen, des Landgrafen von HessenKassel, zu übertrumpfen. Das Innere der Hirnschale ist derart ausgedehnt, dass dort außer einem Orchester sogar ein vollständiges Inquisitions-Gericht Platz findet. In diesem Wachturm macht es sich der Autor an seinem Schreibtisch bequem, der sich wie ein Nadelkissen unter die Hirnschale einschrauben lässt. Dort glaubt er sich unerreichbar vor dem Zorn der Fürsten. Durch die Augenhöhle von Miss Europa vermag Jean Paul die Welt ebenso erhaben zu überschauen wie die Inquisition, vor der er sich aufgrund der Autorität seines adligen Großvaters geschützt glaubt. Allerdings befürchtet der HirnschalenBewohner an dem zugigen Ort eine Verkühlung, aber die Rolle des geschützten Narren scheint ihm so zu behagen, dass er eine Erkrankung in Kauf nimmt. Nach dem Riesenpanorama der Hauptgeschichte bezeugt der „satirische Appendix“ ein besonderes Verständnis für Armut und Ausgegrenztheit. Das Mitgefühl gilt einem am Straßenrand verstorbenen vormaligen Bergmann und Landstreicher namens Saus, zu dessen Ehre der Verfasser eine gefühlvolle Totenrede hält. Insgesamt fühlt sich der Leser von den teilweise surreal anmutenden Motiven und Handlungssträngen der „Belustigungen“ mehr irritiert als erheitert, so dass sich der Autor in der „Vorrede zum satirischen Appendix“ anlässlich einer fiktiven Gerichtsverhandlung gegen eine diesbezügliche Klage des Publikums verteidigt. Der gegnerische Anwalt erteilt Jean Paul den Rat, „in seinen künftigen Historien geradeaus wie ein Kernschuß zu gehen … ohne Anspielungen, ohne Reflexionen und mit Ernst ohne Spaß.“ Beklagt wird, „daß der Büchermacher die beste Geschichte immer versalzt, verpfeffert und verwässert durch seine Manier, daß er sie oft erst nach zehn Prologen anfängt“ – worauf sich der 114  3. Kapitel

Gescholtene in seiner Gegenrede mit der Bemerkung verteidigt, dass ja niemand diese „Digressionen, Satiren etc. lesen müsse“. Eine Erklärung für Jean Pauls eigentümlichen, oft zusammenhanglos wirkenden Schreibstil bieten die Stammbäume seiner Lesefrüchte, welche er dem Publikum zur Verköstigung anbot, nämlich die zahlreichen Exzerptbände, auf die er ständig zurückgriff. Aus psychologischer Sicht kann dieses Verhalten als Fortsetzung des unzulänglichen, in reiner Wissensanhäufung bestehenden väterlichen Unterrichts gewertet werden. Die Exzerptbände sind für die Schreibtechnik Jean Pauls jedoch mehr als nur Quellen für witzige Einfälle oder Dokumente polyhistorischer Kompetenz; vielmehr dienten sie als ein ordnendes Prinzip der Erkenntnis, um den tief empfundenen Riss in der Welt zu heilen. Die Nutzung der selbst erarbeiteten Wissenssammlungen war für Jean Paul nicht nur gehobene Selbstunterhaltung oder schiere Manifestation seines Kenntnisreichtums, sondern besaß – als Ergänzung seiner religiösen Neigung – eine eigenständige metaphysische Dimension. So verdichtet sich in den „Belustigungen“ die Empfindung der irdischen Unvollkommenheit wie in keinem seiner Werke zuvor, auffallend ist die stilistische Nähe zum barocken Vanitas- oder Vergänglichkeitsprinzip. Als Beispiel sei die barocke Memento-moriSymbolik der „vierten Belustigung“ genannt, wo der dramatische Tod von Adelines Mutter und das nachfolgende „Glockenspiel von tausend Totenglocken“ eine antithetische Stimmung hervorruft, die in Jean Pauls Texten häufig zu finden ist. Seit Mitte der 1790er Jahre entfernte er sich von der reinen Satire, fühlte er sein „jämmerlich-weich[es]“ Seelenleben als einen „Selbstzünder“ für innere Flammen, wie es in einem Brief vom 19. August 1794 heißt. Ohne Lebensgefährtin oder gesicherte finanzielle Zukunft, angesichts der Enttäuschung über die Reformunwilligkeit der deutschen Fürsten und den Verlauf der Französischen Revolution reifte in ihm eine bitter-wehleidige Stimmung. Während er im März 1795 an dem romantischen „Phantasie“-Aufsatz arbeitete, setzte ihm der schmerzliche Verlust Amönes an Christian Otto zu, hatte er doch die beiden Zerstrittenen miteinander versöhnt – möglicherweise in der freilich trügerischen Hoffnung, dass der gezeigte Edelmut seine Hauslehrer im Vogtland  115

Attraktivität gegenüber der Angebeteten steigern würde. Das Gefühl des Entsagens förderte eine düstere Stimmung des Selbstmitleides, die seinen Texten jene eigentümliche Färbung gab, welche das Publikum schätzte. Diese dunklen Empfindungen wurden im August 1794 verstärkt durch das Ableben von Amönes Mutter, was für ihn nur eine weitere Aufführung des Totentanzes bedeutete, dem zuvor Oerthel, Hermann, Bruder Heinrich und Karl Philipp Moritz zum Opfer gefallen waren. Aus dieser bitteren Stimmung entstand der typisch jeanpaulsche Stil, jenes Schwanken zwischen übersteigerter Weinerlichkeit und forciertem Subjektivismus. Es war indes nicht nur die Wortkunst, in welcher seine aufgewühlte Seele ein angemessenes Ausdrucksmittel fand, sondern auch die Musik geriet spätestens seit der Niederschrift des „Hesperus“ zunehmend in den Fokus der Aufmerksamkeit. Seine Beziehung zur Tonkunst war keineswegs auf die Fähigkeit zum Klavierspiel beschränkt; die Übungen auf dem Pianoforte wurden ergänzt durch die persönliche Bekanntschaft mit dem als Jakobiner-Sympathisant verdächtigten Musiker Johann Friedrich Reichardt, den er anlässlich eines Konzerts im Hofer Rathaus kennen lernte. Reichardt – ein persönlicher Freund Hamanns und Herders – gab seit 1794 politische Journale sowie der Zensur verdächtige „Reisebriefe“ heraus. Der unter anderem durch die Vertonung von Herder- und Goethetexten bekannte Komponist und Revolutionsfreund wurde als königlicher Kapellmeister ohne Pension entlassen. Sein neuer Wohnort war Giebichenstein an der Saale. Während eines Gesprächs in einem Hofer Gasthaus und eines Gegenbesuches lenkte Reichardt die Aufmerksamkeit Jean Pauls auf Weimar. Weitere Denkanstöße empfing er weiterhin durch die Lektüre. Von der Hofer Gymnasialbibliothek sind 24 eigenhändige Empfangsbestätigungen Jean Pauls über entliehene Bücher aus den Jahren 1795-97 erhalten. Dazu gehören die übersetzten Werke von Shakespeare und Plutarch, französische Aufklärer wie Rousseau, Helvetius und Buffon, Gedichte von der Dichterin Karsch sowie Wielands Erzählungen „Don Sylvio“ und „Peregrinus Proteus“. Seine Kenntnis in juristischen und rechtsphilosophischen Fragen vertiefte er durch die Auseinandersetzung mit Christian Ottos Abhandlung über den Begriff des Eigen116  3. Kapitel

tums, der das Thema „Sittlichkeit“ behandelte. Die Lektüre von Kants Schrift „Metaphysik der Sitten“ und Jacobis „Eduard Alwill’s Briefsammlung“ verstärkten die Frage nach dem ethisch richtigen Handeln in der angestrebten Gesellschaft freier Individuen. Schillers „Briefe über ästhetische Erziehung“, Heinses „Ardinghello“ und Jacobis Briefroman „Woldemar“ (in dem „nur höhere oder gute Menschen regieren“, wie es in der „Vorschule der Ästhetik“ heißt) zählten ebenfalls zum Lesestoff jener Jahre; zu seinen Lieblingsautoren und „SchoosBüchern“ gehörten weiterhin Satiriker wie Sterne und Swift, unter den deutschen Autoren galten ihm Herder und Goethe am meisten. In der Töpener, Schwarzenbacher und Hofer Zeit versuchte Jean Paul als Autor so erfolgreich zu werden, um endlich die Hauslehrerstelle aufgeben und die verhasste Saalestadt verlassen zu können, wo man seine Familie zunehmend die soziale Isolation spüren ließ. Zwar vermochte er die Leipziger Schulden durch das „Hesperus“-Honorar zu tilgen, aber er blieb weiterhin von Almosen abhängig. Zum Geburtstag im März 1795 erhielt er von Otto Strümpfe, von Familie Herold eine Weste, von Emanuel Leder zur Anfertigung einer Hose geschenkt. Er kannte die Abhängigkeit vom Literaturmarkt, war sich bewusst, dass die „Studierstube nichts ist als ein Kaufladen vol Manuskripte und daß der Autor darin steht und mit seinem Ladenkunden, den Verlegern, handelt, zankt, schreiet und so fort – – “, wie es am 7. Mai 1795 in einem Brief an Otto heißt. Mit den Verwertungsgesetzen des Wortmarktes vertraut, setzte er sämtliche ihm zu Gebote stehenden Schreibtechniken ein, um auf dieser Börse Erfolg zu haben. Eingebettet in einer seelischen Schwebe zwischen Glücksgefühl und „unbezwingliche[r]“ Schwermut, befasste sich seine Fantasie mit der Ausgestaltung grandioser „Luft-Architektur“, der Grundlegung, dem Ausbau und der Verwaltung kolossaler Bauwerke der Imagination und Sprachmagie. Diese Luftschlösser seiner Erzählungen und Romane galt es so gefällig einzurichten, dass das Publikum sie gerne bewohnen würde. Zu diesem Zweck stimulierte er sich durch Alkoholgenuss, der während des Tagesverlaufs stetig zunahm. Zudem quälte ihn weiterhin die Migräne – vermutlich ein psychosomatischer Reflex auf den Leistungsdruck, dem sich der Autor ausgesetzt fühlte. Hauslehrer im Vogtland  117

Der Mittdreißiger „mit einer schönen lichten“ Glatze wähnte sich zudem als aussichtsreicher Anwärter für die Heirat einer der beiden Herold-Töchter, aber vermutlich war es um die in einem Brief von November 1796 gegenüber Emanuel beschworene „Orangerie von Liebe“ und „Konvente der Freundschaft“ in Wahrheit nicht so innig bestellt, wie er hoffte. In Wahrheit blieb er in Hof isoliert, ein Außenseiter, unverstanden, mehr bemitleidet als bewundert, ohne Aussicht auf sozialen Aufstieg oder familiären Anschluss an eine der Kaufmannsfamilien. Hingegen verdeutlichte ihm im Oktober 1796 eine Reise nach Bayreuth seine Popularität als Autor, denn „hier ists anders als in Hof, wo man jedem das Buch schenken mus, damit er lieset“, wie es in einem Brief an Otto heißt. Seit spätestens Ende 1795 reifte ihn ihm der Doppelwunsch, die Saalestadt zu verlassen und der Arbeit als Hauslehrer endgültig den Rücken zu kehren. Der Verkaufserfolg des „Hesperus“ schien dies zu ermöglichen. Er überlegte, nach Berlin zu gehen, aber sein Bedenken gegen „den moralischen Gassenkot“ in großen Städten hielt ihn zurück, wie in einem Brief vom 12. November verlautet. Hingegen lockte ihn Weimar, der (vermeintlich) idealische Ort, wo Herder, Goethe, Schiller und Wieland lebten. In den Hofer Jahren reifte eine weitere Erzählung mit dem kuriosen Titel „Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F.[irmian] St.[Sebastian] Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel“. Die Erzählung, deren drei „Bändchen“ im Frühjahr und Herbst 1796 von Matzdorff in Berlin veröffentlicht wurden, schildert die Lebensgeschichte des sensiblen, poetisch veranlagten Armenanwalts Firmian Siebenkäs, der seine unglückliche Ehe mit der kleinbürgerlichen Putzmacherin Lenette beendet, indem er den eigenen Tod vortäuscht und eine andere Identität annimmt. Bei diesem Vorhaben wird Siebenkäs (der vormals Leibgeber hieß) von seinem Freund Hoseas Heinrich Leibgeber unterstützt, mit dem ihn neben einer engen Vertrautheit auch eine erhebliche physiognomische Ähnlichkeit verbindet. Das typisch romantische, durch Jean Paul mit „Siebenkäs“ in die deutsche Literatur eingeführte Verdoppelungs- oder Spaltungsmotiv zeichnet sich dadurch aus, dass jeder „im andern nur das [sah], was er 118  3. Kapitel

außer sich liebte.“ Bei Leibgeber bewirkt der Identitätstausch schließlich eine Erschütterung des eigenen Ichgefühls, welche ihn an den Rand des Zusammenbruchs führt. Das reale Vorbild für den Advokaten und Satiriker Leibgeber, der augenzwinkernd als Autor der „Teufelspapiere“ vorgestellt wird, war Jean Pauls verstorbener Freund Hermann, der als Phänotyp eines deutschen Intellektuellen gewürdigt wird. Tatsächlich behandelt der Briefwechsel zwischen Jean Paul und Hermann eindringlich die gesellschaftlichen Zwänge, denen Gebildete aus den unteren Volksschichten ausgesetzt sind; nun wurde dieses Thema zu einem zentralen Motiv seines neuen Romans. Das Hauptthema der in der oberfränkischen Landschaft angesiedelten Erzählung ist der inszenierte Tod und die wundersame Auferstehung des in der sozialen Rangskala seiner Zeit in den niederen Ständen lebenden Armenadvokaten Siebenkäs, dessen französische Mutter ihn während eines Sturms heimatlos „auf der See“ zur Welt gebracht hatte. Siebenkäs, vormals Jura-Student in Leipzig, ringt vergeblich (wie sein Erfinder Jean Paul) durch die Publikation der „Teufelspapiere“ um öffentliche Anerkennung als Satiriker. Der Freigeist ist jedoch politisch hellsichtiger, als das ländliche Lesepublikum gutzuheißen gewillt ist. So sagt er in der „Beilage zum zweiten Kapitel“ dem „freien Marktflecken Kuhschnappel“ eine düstere Zukunft aufgrund zunehmender Landflucht voraus. Firmian Siebenkäs repräsentiert das Urbild des modernen Intellektuellen, der sich mit dem Eigendünkel des Besserwissers den profanen Tücken des Alltags stellt. Der Neurotiker ist zudem überaus lärmempfindlich, ein Umstand, den seine Anvertraute, die putzsüchtige Lenette, kaum zu meistern versteht, denn durch den von ihr verursachten Reinigungskrach fühlt sich der Autor ebenso gestört, wie von einer überspannten häuslichen Stille, sobald sich Lenette leise wie auf Spinnenbeinen laufend durch die Räume bewegt. Demjenigen, der auf Freiersfüßen geht, sei als Warnung die Lektüre des „Siebenkäs“ empfohlen, denn der Realismus des grotesken Ehedramas schildert eindringlich die Abgründe der Zweisamkeit, wie etwa im fünften Kapitel der „Besenkampf“ und der „Kerzenstreit“. Diese Erlebnisse sind zweifellos den Konflikten in Jean Pauls ElternHauslehrer im Vogtland  119

haus nachempfunden, wo die Tyrannei des Vaters die mütterliche Neigung zu einer neurotisch unterlegten Putzsucht verstärkte. Die Schilderung der grotesken Eskapaden und zwanghaften Verhaltensweisen von Siebenkäs gehören zu den heitersten Prosastücken deutscher Literatur, zumal sie dem Leser ständig einen Spiegel vorhalten. Geschildert werden allerdings weniger die erotischen, als die neurotischen Szenen einer Ehe, deren aus ständigen Missverständnissen und Leidenssucht gespeiste Spannung durch den chronischen Geldmangel des Paares verschärft wird. Zweifellos dienten die Joditzer und Schwarzenbacher Kindheitserlebnisse als Vorlagen für die Triumphe und Verkrümmungen, Machtund Ohnmachtspiele zwischen Siebenkäs und seiner unterwürfigen Gattin. Jean Paul, während der Niederschrift des Romans ein Junggeselle, schildert die Ehe als ein Projekt, das zum Scheitern verurteilt ist. Bei Familie Siebenkäs regiert Penia, die Göttin der Armut, und tatsächlich sind die autobiografischen Spiegelungen des Romans dort besonders eindringlich, wo die soziale Not thematisiert wird. So sieht sich Lenette, die gläubige Lutheranerin, schließlich gezwungen, eine Bibel für eine Gans zu versetzen, was den ungläubigen Gemahl freilich wenig schmerzt. Aufgrund dieser Belastungen steigert sich Lenette schließlich in einen Waschzwang, der ihrer Seele gänzlich die Freiheit raubt. Bei dem Roman „Siebenkäs“ handelt es sich auch um eine raffinierte Rentenbetrugs-Geschichte, die im „Kaiserlich privilegierten Reichs-Anzeiger“ vom 25. August 1797 in der Rubrik „Moralische Gegenstände“ unter dem Titel „Rüge eines Schriftsteller-Frevels“ wegen der unverblümten Darstellung von Gebührenhinterziehung für das Ehegericht sowie Betrugs der Witwenkasse gerügt wurde. Sämtliche drei Bände wurden denn auch von den österreichischen Zensurbehören verboten, der erste Band im Januar 1797 wegen „politischund religiös anstößige[r] Witzeleien“, die beiden weiteren Bände wegen „Unverständlichkeit des Vortrages und unanständige[r] Satyren wider manche Religionspersonen“. Tatsächlich ist der „Lug-Tod“ des atheistischen Titelhelden moralisch verfänglich, freut sich Siebenkäs doch darüber, nach der Auferstehung mit der neuen Identität als Leib120  3. Kapitel

geber „in einem fort lügen“ zu dürfen, indem er dessen Stellung als Ober-Amtmann in Vaduz einnimmt. Unter Ausnutzung des Aberglaubens erscheint Leibgeber schließlich dem bigotten Schuldner Blaise als Gespenst, worauf dieser verängstigt das vorenthaltene Erbe an Lenette auszahlt. Das Thema „Wiederauferstehung“ nimmt einen großen Stellenwert in dem Roman ein, so enthalten die beiden ersten „Blumenstücke“ die apokalyptisch anmutenden Texte „Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei“ sowie „Der Traum im Traum“. Die Ansprache des depressiven Gottessohns mutet freilich ebenso ketzerisch an wie die literarische Verklärung der träumenden Maria – beide Texte sind ein verzweifeltes Lauschen auf eine Botschaft aus dem Jenseits. Trotz aller beißenden Satire und diverser Himmel- und Höllenfahrten (wobei sich die spießige Stadt Kuhschnappel als das wahre Inferno erweist) enthält der Roman auch Töne der Zartheit, Larmoyanz und Empfindlichkeit mit stilistischer Nähe zur teilweise hymnischen Prosa der „Unsichtbaren Loge“ und zum „Hesperus“, etwa wenn Siebenkäs durch eine wandernde Harfenspielerin und deren Flöte spielenden Sohn betört wird oder beim Schlagen der Nachtigall die Seelen reinigende Wirkung der Musik in freier Natur empfindet. Jean Paul gewährt intimen Einblick in den Schreibprozess, denn der Leser darf dem als „böser Christ“ bezeichneten scharfen Beobachter mit weichem Gemüt, Advokat Siebenkäs, beim Verfassen der „Teufels­ papiere“ über die Schulter schauen. Genaue Beschreibungen der „sparende[n] Tisch-Ordnung“ des Autors werden dabei ebenso wenig ausgeblendet wie Siebenkäs’ fortgeschrittenes Rezensenten-Trauma, an dem auch sein Erfinder litt. Wie bei den Texten zuvor, erwies sich der Jurist Christian Otto abermals als ein versierter Lektor, der den „spitzbübischen Gang des Siebenkäschen Prozesses“ mit klugen Anmerkungen versah. Der Freund sparte nicht mit Kritik, monierte die teilweise manierierte Handlungsführung, riet zu Straffungen und mannigfachen Änderungen; Ratschläge, welche der Autor zumeist befolgte. Die Resonanz auf „Siebenkäs“ war ähnlich positiv wie auf „Hesperus“ oder „Fixlein“; Ludwig Gleim war sogar derart begeistert, dass er Jean Paul ein weiteHauslehrer im Vogtland  121

res Geldgeschenk sandte. Im November 1796 erschien in der „Allgemeinen Literatur-Zeitung“ eine differenzierte Rezension der ersten Bände von „Fixlein“ und der „Biographischen Belustigungen“, worin die Manier Jean Pauls mehr beschrieben als kritisiert, gleichwohl den Texten mangels „vollendeter Form“ der Rang eines Kunstwerks abgesprochen wurde. Im Jahre 1798 brachte die „Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek“ eine wohlmeinende Sammelbesprechung von „Fixlein“ und „Siebenkäs“ durch den Freiherrn von Knigge. Besonders erfreute ihn die Anerkennung durch Jacobi, über welche ihn eine Bekannte unterrichtete. Am Ende der Hofer Zeit konnte Jean Paul mit seiner öffentlichen Wahrnehmung als Autor zufrieden sein. Von der Gelehrtenwelt beachtet, vom Publikum geschätzt, stiegen die Erwartungen an seine zukünftigen Texte. Was in Leipzig noch aussichtslos erschien, war durch den Wechsel der literarischen Gattung von der reinen Satire zur Erzählung gelungen. Die erfolgreiche Betätigung als Schriftsteller erlaubte ihm, den Hauslehrerberuf aufzugeben und die verhasste Saalestadt zu verlassen, denn Hof erschien ihm „düster, eng … ein drückender umschliessender Schacht“, wie es in einem Brief vom 13. August 1798 heißt. Von dem Abschied aus Oberfranken hielt ihn nur seine geliebte, kränkelnde 60-jährige Mutter zurück, deren Gesundheit sich seit dem Sommer 1797 erheblich verschlechterte. Am 25. Juli verschied Sophie Rosine Richter infolge Wassersucht. Nachdem die Schriftstellerin Emilie von Berlepsch mit ihren zwei Kindern Hof besucht und seinen Freundeskreis kennen gelernt hatte, besuchte sie Jean Paul im böhmischen Franzensbad. Aufgrund der Nachricht des Todes seiner Mutter eilte er unverzüglich nach Hof zurück. In einem Brief vom 10. November 1810 schildert Jean Paul gegenüber einem Wunsiedeler Advokaten, der die Einlösung eines mütterlichen Schuldscheins einforderte, die damalige finanzielle Situation: Sophie Rosine Richter hinterließ keinerlei Erbmasse, vielmehr hat der älteste Sohn während der letzten zehn Jahre die Lebenshaltungskosten für die alte Dame sowie für den minderjährigen Bruder bestritten und die Bestattungskosten übernommen. 122  3. Kapitel

„Seit dem Tode meiner Mutter sehnet sich meine ganze Seele nach der Wiederkehr der häuslichen Freude“, heißt es in einem Brief vom 22. Dezember 1797 an die Schriftstellerin Charlotte von Kalb in Weimar. Als sich der baldige Tod Rosine Richters abzeichnete, hatte Jean Paul das Spiel cherchez la femme im großen Stile begonnen – freilich bewarb sich der naive Freier bei für seine häuslichen Bedürfnisse gänzlich ungeeigneten „poetische[n] Tugend-Virtuosinnen“, die ihm zwar hehre Moraldiskurse, aber keine traute Heimstatt bieten konnten, wie er rückblickend in einem Brief vom 6. Januar 1811 bemerkte. Er wollte nach Leipzig, um das Studium des Bruders zu betreuen, aber vor allem lockte dort Emilie von Berlepsch, „die erste weibliche Seele, die ich ohne Ecken und Widersprüche genos und die mich und die ich besserte“. Er verließ seine „literarische Farbenhütte“ in Hof jedoch nicht nur zum Zwecke moralischer Vervollkommnung, sondern weil er sich durch die spröde Amöne und deren Schwester Caroline zurückgesetzt fühlte. Statt der vormaligen „General-Wärme“ empfand er nur noch Ablehnung und „überal Has, zumal im Heroldschen Hause“, denn seine schriftstellerischen Erfolge galten wenig in der Kaufmannsfamilie. Der erloschenen „Simultan- und Tuttiliebe“ war jedoch mit dem „Hesperus“ ein Denkmal in Prosa gesetzt.

Hauslehrer im Vogtland  123

4. Kapitel

Leipzig und Weimar Während Jean Paul in Hof letzte Hand an den zweiten und dritten Band des „Siebenkäs“ legte, Wielands neueste Werke las und Pate stand für die Tochter von Renate Wirth und Christian Otto, hatte die Veröffentlichung des „Hesperus“ seinen Bekanntheitsgrad in der Literaten- und Gelehrtenwelt erheblich gesteigert. Nachdem einige Jahre zuvor der Musiker Reichardt seinen Blick auf die Residenzstadt des Herzogtums Sachsen-Weimar gelenkt hatte, kam Charlotte von Kalbs Einladung von Anfang März 1796 zu einem Besuch der Residenzstadt sehr gelegen. In Weimar erhoffte Jean Paul jene Anerkennung zu finden, die ihm in der Heimat versagt blieb. Dort wollte er sein Arkadien finden, eine „glückliche Insel“, bewohnt von den Halbgöttern der Literatur, wie es euphemistisch am 21. Oktober 1797 in einem Brief heißt. Charlotte von Kalb, Freundin und Bekannte von Hölderlin, Schiller und Goethe, war zu jener Zeit eine Mittdreißigerin, die sich von der Jean Paulschen Prosa voller Welt- und Liebesschmerz angezogen fühlte. Das Leben hatte es mit der adligen Dame nicht gut gemeint. Als geborene Freiin Marschalk von Ostheim hatte sie früh ihre Eltern sowie ihren jüngsten Bruder verloren und wurde von Verwandten erzogen. Eine Konventions-Ehe mit dem in französischen Diensten stehenden Major Heinrich von Kalb verlief unglücklich, von den fünf Kindern starben zwei als Säuglinge. Bereits unmittelbar nach der Eheschließung mit dem Offizier wollte sie Schiller heiraten, der ihr nach Weimar folgte. Wenige Jahre später wurde Hölderlin durch Schillers Vermittlung Hauslehrer ihres Sohnes. Neben der unglücklichen Ehe war es jedoch eine Erkrankung, die ihr Leben im wahren Wortsinn überschattete: Charlotte von Kalb, voller literarischer Ambitionen, litt an schwindender Sehkraft. Bald musste sie sich Bücher und Manuskripte vorlesen lassen. Auch ihr weiteres familiäres und finanzielles Schicksal war düster. 124  4. Kapitel

Seit einigen Jahren gehörte Ansbach-Bayreuth zum preußischen Staatsgebiet, das Herzogtum Sachsen-Weimar war mithin Ausland. Für die Anreise Jean Pauls musste ein Reisepass beantragt werden. Nach der Übersendung des dritten Bandes „Siebenkäs“ an Verleger Matzdorff führte die Reise über Jena nach Weimar, wo er am 10. Juni 1797 eintraf. Das Logis bezog Jean Paul bei dem körperlich verwachsenen Regierungsassessor Ludwig von Oertel, der am Hof in Ungnade stand und später wegen angeblicher Unfähigkeit aus dem Staatsdienst entlassen wurde. Jean Pauls Bemerkung gegenüber Christian Otto nach einwöchigem Aufenthalt in Weimar, dass dort seine „Menschenkentnis … wie ein Pilz Mannshoch in die Höhe“ schoss, war hintergründiger gemeint, als der erste Eindruck möglicherweise vermittelt. Denn der empfindsame Autor registrierte schnell die tiefe Kluft und Fraktionsbildung, welche seit den frühen 1790er Jahren die Weimarer Gesellschaft zunehmend spaltete. Spätestens seit der Hinrichtung des bourbonischen Monarchen im Januar 1793 hatten die Auswirkungen der Französischen Revolution zu Verwerfungen und Spannungen geführt, unter denen die persönlichen und beruflichen Beziehungen innerhalb der führenden politischen und kulturellen Schicht erheblich litten. Denunziationen und Verdächtigungen nährten ein Klima der Unduldsamkeit, das beim alltäglichen Umgang immer wieder offen oder unterschwellig zum Ausbruch kam und dem vielfach beschworenen Toleranz-Anspruch der Spätaufklärung zutiefst widersprach. Selbst ein so versöhnlicher Charakter wie derjenige Jean Pauls konnte sich dieser Spaltung nicht gänzlich entziehen. In Briefen an Vertraute klingt oft durch, dass er Weimar keineswegs als Olymp der Seligen empfand. Am 17. Juni stand ein Mittagessen bei Goethe im Haus am Frauenplan auf dem Programm, der arme Mann aus dem bayerischen Vogtland war beeindruckt: „Sein Haus frappiert, es ist das einzige in Weimar in italienischem Geschmak, mit solchen Treppen, ein Pantheon vol Bilder und Statuen, eine Kühle der Angst presset die Brust – endlich trit der Gott her, kalt, einsylbig, ohne Akzent … Aber endlich schürete ihn nicht blos der Champagner, sondern die Gespräche über die Kunst, Publikum etc. sofort an Leipzig und Weimar   125

… Auch frisset er entsetzlich. Er ist mit dem feinsten Geschmack gekleidet“, verlautet tags darauf in einem Brief an Christian Otto. Und am 22. Oktober heißt es lapidar gegenüber dem Leipziger Freund Friedrich von Oertel: „Göthens Karakter ist fürchterlich“. Goethe seinerseits, der in diesen Tagen den Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ abschloss und das Wachstum der Schmetterlingsflügel studierte, konnte eine skeptische Grundhaltung gegen Jean Paul nicht überwinden. Am Samstag, dem 25. Juni, traf Jean Paul in Jena mit Schiller zusammen, den er ebenfalls mit wenig schmeichelhaften Worten beschreibt: „Ich trat gestern vor den felsigten Schiller, an dem wie an einer Klippe alle Freunde zurückspringen … Seine Gestalt ist verworren, hartkräftig, vol Eksteine, vol scharfer schneidender Kräfte, aber ohne Liebe.“ Und Schiller schrieb drei Tage später an Goethe: „Ich habe ihn [Jean Paul] ziemlich gefunden, wie ich ihn erwartet hatte; fremd wie einer, der aus dem Mond gefallen ist.“ Tatsächlich hatte der Mann vom Mond einen schweren Stand bei den Dioskuren, die ihn nicht recht einzuschätzen wussten: War Jean Paul ein literarischer Konkurrent, eine poetische Zufallsblüte oder gar ein Ebenbürtiger? Immerhin war der „Hesperus“ der größte Bucherfolg seit „Werther“, jedoch spürte man wohl unterschwellig sein Einverständnis mit den Revolutionsfreunden. Noch in einem Brief vom Dezember 1810 wird er Goethe als Mitglied im „höllischen Frost-Klub“ Weimars bezeichnen. Gemeinsam mit Charlotte von Kalb besuchte er die HerzoginMutter Anna Amalia in deren elegisch von ihm als „Adagio“ bezeichneten Sommerresidenz Tiefurt. Wieland war wegen einer SchweizReise abwesend. Jean Pauls häufigster Umgang wurde Familie Herder, fast täglich besuchte er die Superintendentur hinter der Stadtkirche. Der geistliche Rebell, dessen Regierungskapitel in den „Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menschheit“ politisch so radikal war, dass Goethe zum Zensurstift griff, begehrte zu dieser Zeit mit den „Christlichen Schriften“ gegen den idealistischen Zeitgeist auf. Der Mann aus dem Vogtland schien ein geeigneter Partner im Kampf gegen den Kantianismus zu sein. Jean Paul hingegen fühlte sich von 126  4. Kapitel

dem Milieu, das Herder umgab, auch politisch angezogen, denn: „Sie sind alle die eifrigsten Republikaner.“ Nicht zuletzt Caroline Herder schätzte er sehr, es entspann sich ein reger Briefverkehr voller Spitzen gegen Goethe. So heißt es am 31. Juli 1797 mit ironisch-doppelsinnigem Blick auf dessen feinen Zwirnanzug und elitäres Kunstverständnis: „Nun liebt er [Goethe] den Stoff nirgends mehr als an seinem Leibe und quälet uns mit seinen ausgetrokneten Weisen à la grec.“ In der Superintendentur wurde auf Kosten der Fürsten gescherzt und gelacht, ein aus Burgunder Rotwein bestehendes Getränk namens „Bischofsbowle“ erheiterte die Gesellschaft. Zur republikanischen Gruppe gehörte auch der Jurist, Übersetzer und Kammerherr im Hofdienst Anna Amalias, Hildebrand Friedrich von Einsiedel, der ein Vertrauter Jean Pauls wurde. Der Weimarer Gymnasialdirektor Carl August Böttiger stellte ihm seine umfangreiche Buchsammlung als „geistigen Freitisch“ zur Verfügung. Vor allem zählte der rebellische Literaturkenner, Lyriker, Übersetzer der lateinischen Klassiker und Hofpensionär Carl Ludwig von Knebel zu Jean Pauls engsten Weimarer Freunden, dessen Übersetzung der ProperzElegien er besonders schätzte. Viele Jahre lang ein Intimfreund Goethes, widmete sich Knebel unter Herders Einfluss anthropologischen und geschichtsphilosophischen Studien. Man traf sich mehrfach zum Essen oder in Knebels Garten zum Gespräch. Der Pensionär kannte Jean Pauls Heimat, denn seit Anfang des Jahrzehnts weilte er oft in Ans­bach. Gemeinsam führte man in Weimar „ästhetische Unter­ haltungen“, noch Jahre später wurden Briefe gewechselt. In einem Schrei­ben vom 17. Mai 1814 erinnert sich Jean Paul, wie Knebel „gegen meine rauhe vogtländische Körper-, Lebens und Schreibborke so nachsichtig sich bewiesen“ hat. Insgesamt konnte der Mann aus Wunsiedel mit dem Aufenthalt in Weimar zufrieden sein. Er hatte führende Intellektuelle persönlich kennen gelernt und Kontakte knüpfen können. Respekt war ihm von Personen entgegengebracht worden, die ihm ästhetisch und politisch nahe standen. Diese Erfahrung war für ihn umso wichtiger, als das letztlich anonyme Lob des Lese-Publikums den persönlichen Umgang und das Tischgespräch mit Gleichgesinnten nicht ersetzen kann. Die Leipzig und Weimar   127

unmittelbar erlebte Spaltung der Weimarer Gesellschaft hatte seine Identität geschärft: Er fühlte sich jener Gruppe zugehörig, welche sich einem kulturellen Aristokratismus und Intellektualismus widersetzte, deren Vertreter sich in einer reinen Kunstprogrammatik oder in dem abstrakten Jargon der Systemphilosophie heimisch fühlten. So schätzte er Goethes Werk zeitlebens mehr als dessen Charakter, ähnliches gilt für Schiller. Herder war hingegen der einzige Weimarer Literat, dessen Werk er ebenso liebte wie die Person. Der Geistliche, der Jean Pauls bizarren Schreibstil allerdings nur bedingt akzeptierte, äußerte sich über den Gast in einem Brief vom 1. Juli 1797 mit ironischem Unterton: „Er ist ein eigner, genialischer und spiritualer [eine Anspielung auf Jean Pauls Trinkfestigkeit; d. Verf.] Mann – letzteres im doppelten Sinne des Worts. Er hat sich hier sehr gut und liebenswürdig betragen.“ Vor allem schloss Jean Paul Caroline Herder in sein Herz, deren charakterliche Mischung aus resoluter Bodenständigkeit, Moralität und Geistigkeit seinem eigenen Wesen entsprach und die sich in häuslichen Dingen um ihn kümmerte. Eine Dekade später bezeichnete Jean Paul in der „Friedens-Predigt“ Weimar als „ästhetische Wiedergeburtsstadt“ der Deutschen. Gleichwohl hatte er dort jene unterschwelligen Kniffe, Winkelzüge, Rankünen, persönlichen Feindschaften und Empfindlichkeiten kennen gelernt, die eine Hofgesellschaft mit ihren vielfältigen Abhängigkeiten prägten. Jean Pauls Position war eindeutig: Es zog ihn zu den Rebellen, den Unruhigen, jenen, die mehr oder weniger eindeutig in Opposition zum Fürstenstaat standen. Das bedeutete indes keinesfalls eine pauschale Ablehnung der höfischen Personen. So verehrte, ja liebte er die schöngeistige Herzogin-Mutter Anna Amalia. Pauschale Feindbilder waren ihm wesensfremd, kritische Töne verbargen sich stets (nicht nur wegen der Zensur) hinter dem Schleier der Ironie, welchen auch manche Fürsten nicht ohne stilles Vergnügen lüfteten. Der Adel las seine Werke gern, und er war dem Adel nicht grundsätzlich feind, dessen Vertreter ihm zuweilen mehr Liberalität entgegenbrachten als das kleinkarierte, lediglich auf Gelderwerb fixierte Bürgertum in der Hofer Heimat. Man lese dazu den politisch brisanten Brief Jean Pauls vom 8. November 1796 an Charlotte von Kalb, in dem er offen die 128  4. Kapitel

„Mishandlung“ seines Musiker-Freundes Reichardt beklagt, der wegen öffentlicher Revolutionssympathie vom preußischen Staat relegiert worden war. Die Freundin lud Jean Paul zu einem erneuten, diesmal längeren Aufenthalt in Weimar ein und lockte mit der Bereitstellung einer eigenen Wohnung sowie der Versorgung mit allem Notwendigen, nötigenfalls mit Geld, das seine Freunde aufbringen würden. Doch vorerst kehrte er nach Hof zurück. Caroline Herders in einem Brief vom 8. Februar 1797 gegenüber Gleim geäußerte Befürchtung, dass Jean Pauls „junges warmes Herz“ in Weimar „erstarren“ würde, hatte sich nicht bestätigt. Seine kreative Ader enthielt nach der Visite in Thüringen mehr Gold denn je, und er schürfte nach seiner Heimkehr eifrig daraus. In Hof stellten sich interessante Gäste ein, so besuchte ihn die etwa gleichaltrige, exzentrische Baronin Juliane von Krüdener. Die gebürtige Rigaerin, aus einer reichen und bedeutenden Adelsfamilie stammend, war im Alter von 18 Jahren mit einem Diplomaten verheiratet worden. Sieben Jahre später verließ sie ihre Familie, um ruhelos durch Europa zu ziehen. Der religiöse Eifer, mit dem sie später die Erweckungsbewegungen Süddeutschlands und der Schweiz prägte und der sie zur Beraterin Zar Alexanders werden ließ, machte sich damals noch nicht geltend. Die weltgewandte und gebildete, Deutsch, Französisch und Russisch sprechende baltische Baronin verstrickte sich in zahlreiche Liebschaften, die jedem Kolportageroman als Vorlage hätten dienen können. „Rauschende Bälle sind meine Welt“, war ihr Motto; die schöne, elegante lebens- und liebeslustige Dame nahm regen Anteil an den gehobenen Gesellschafsleben der europäischen Kulturstädte. Jean Paul war beeindruckt von der Erscheinung und Bildung der kosmopolitischen Frau, welche er (in Unkenntnis ihrer moralisch prekären Familienverhältnisse) als Vorbild seines in der „Unsichtbaren Loge“ entwickelten Ideals vom „hohen Menschen“ schätzte. Die intime Begegnung mit Frau von Krüdener beschränkte sich jedoch auf „die schwärmerische Verliebtheit einer Stunde“. Der Baronin war zum Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung mit dem Dichter dessen Werk noch unbekannt, sie wollte jedoch seine Schriften zur Lektüre in die Schweiz mitnehmen. In den

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folgenden Jahren entwickelte sich ein Briefwechsel, der bis zu ihrer religiösen Bekehrung im Jahre 1804 währte. Ein weiterer Gast in Hof war der aus politischen Gründen des Amtes enthobene Komponist und Musikschriftsteller Johann Friedrich Reichardt, der im Jahre 1796 begnadigt und zum Salinendirektor in Halle ernannt worden war. Der „Singekomponist“, einer der am meisten gebildeten Intellektuellen seiner Zeit, war auch in den unteren Volksschichten beliebt, seine Liedkompositionen erklangen an den Grundschulen, seine Kammermusik und Singspiele an den Höfen. Der wanderlustige Lautenspieler, bewährte Verwaltungsbeamte und freiheitlich-republikanisch gesinnte Journalist war – ähnlich wie Jean Paul – besonders empfänglich für das Kunstanliegen des Volkes. Zu seinem Werk gehörten Motetten, Kantaten, Oratorien, Singspiele, Instrumentalwerke sowie musiktheoretische Schriften. Zweifellos profitierte Jean Pauls musikalische Kenntnis in besonderer Weise von der Unterhaltung mit dem universell gebildeten, mehrsprachigen Schriftsteller, Gelegenheitsdichter und Maler. Reichardt berichtete am 5. September 1796 in einem Brief an seine Frau über Jean Paul, „daß wirklich eine sonderbar rastlos wirkende Seele in ihm sei … er schlurrte in zu weiten Schuhen die Stube auf und ab, mit langem, geradem, fast hintenübergebogenem Rücken und in die Höh geworfenem Kopfe, dessen kahle Glatze er mit der rechten flachen Hand oft bedeckte; sein ganzes Gesicht sah wie der personifizierte (englische) Humor aus … und nun enthüllte sich immer mehr eine schöne, gefühlvolle Seele und ein rein auffassender Geist in ihm.“ Sein Geist muss in der Tat rege gewesen sein, denn zu dieser Zeit entstand – nach „Wutz“ und „Quintus Fixlein“ – eine weitere Idylle, allerdings wurde diesmal nicht der Lehrer-, sondern der Pfarrerstand thematisiert. Die Erzählung „Der Jubelsenior“ vermittelt einen tiefen sozialpsychologischen Einblick in die Freuden und Nöte eines Pfarrhauses: Die Geschichte vom Dorfgeistlichen namens Schwers, dessen fünfzigjähriges Dienstjubiläum mit der eigenen Goldenen Hochzeit zusammenfällt, beginnt zeitnah zur realen Autorschaft im September 1796 und handelt in dem fiktiven flachsenfingischen Dorf Neulandpreis. Zur 130  4. Kapitel

Pensionierung wünscht sich der Geistliche, seinen Sohn Ingenuin als Nachfolger einsetzen zu können. Die Verwirklichung dieses Wunsches scheint indes angesichts des Widerstandes der flachsenfingischen Verwaltung aussichtslos zu sein, und so hofft Alithea, die Pflegetochter des Hauses, vergeblich auf die Heirat mit dem Sohn, der sich eine Ehe erst nach der amtlichen Bestallung leisten kann. In der Not wendet sich die Familie an eine ältliche Hofdame namens Gobertina, die sich ihrerseits Hilfe suchend an den von ihr verehrten Liebhaber, Herrn von Eisenbeck, wendet, von dem sie vermutet, dass er auf den Fürsten Einfluss nehmen könnte. Herr Eisenbeck indes kann sich der Avancen der zudringlichen Hofdame nur mit Not erwehren und verschafft dem unehelichen Sohn und Außenminister des Fürsten, Herrn Jean Paul [!], seine eigene Identität, wodurch der Angelegenheit schließlich der gewünschte Erfolg beschieden ist. Die Erzählung enthält typische Zutaten des Jean Paulschen Stils: Ein Identitätstausch und ein förmlicher Betrug ermöglichen die Lösung familiärer Probleme vor dem Hintergrund einer detailliert geschilderten sozialen Notlage. Die Komik der Erzählung leuchtet vor einem dunklen Grund, denn das Komische unterscheidet sich vom Heiteren durch die Beimischung des Schauderns. Vor allem die Jean Paulsche Manier, die eigene Person in der Handlung auftreten zu lassen, verleiht der Erzählung Tiefenspannung. Die Maskierung des Jean-Paul-Ich als Herr von Eisenbeck vermittelt eine komisch-gruselige Grundstimmung, die dem Leser bereits von „Siebenkäs“ bekannt ist. Mummenschanz und Camouflage als Beweis des Daseins von Persönlichkeit sind typische Ingredienzien von Jean Pauls Schreibstil, und die sonderbare Kapiteleinteilung in diverse „offizielle Berichte“ sowie „Hirten- oder Zirkelbriefe“ verstärkt den bizarren Eindruck. Man lese im dritten und vierten Brief die Exkurse „Über den Kirchenschlaf“, „Über den Egoismus“ oder die trefflich Kants Diktion nachahmende Schrift „Kritik der kirchlichen Logik“, um sich von der kuriosen Logik des Textes zu überzeugen. Beim „Jubelsenior“ handelt es sich wegen der vielfachen Anspielungen auf den Vorgänger-Roman und dessen fiktive Topografie gleichsam um eine Fortsetzung des „Hesperus“. Auch die zahlreichen AbLeipzig und Weimar   131

schweifungen, welche immer wieder den Fortgang der Handlung verzögern, gehören im „Jubelsenior“ ebenso zum festen stilistischen Repertoire wie die Stelldicheins der Verliebten vor einer Sonnenuntergangs-Szenerie mit hohem Tränendrüsenfaktor. Der „Fünfte offizielle Bericht“ erinnert gar an die solitären Gefühlsausbrüche des „Hespe­ rus“-Helden Viktor. „Die Skribenten ahmen mich jetzt nach“, heißt es in einem Brief vom 2. Juli 1798 an Christian Otto, und tatsächlich zeitigte die publikumswirksame Mischung aus Gefühl, Larmoyanz, mildem Horror und Humor zahlreiche Epigonen. Die schwere Erkrankung seiner Mutter, deren Ableben nahe bevorzustehen schien, lenkte Jean Pauls Gedanken abermals auf die Frage nach der Vergänglichkeit. Der Prosatext „Das Kampaner Tal, oder über die Unsterblichkeit der Seele“ ist bestimmt von theologischen Gedanken Herders aus der Aufsatzsammlung „Zerstreute Blätter“. Vor allem der Essay „Über die menschliche Unsterblichkeit“ wurde von Jean Paul förmlich „verschlungen“, wie er in einem Brief an den Autor vom 3. Juli 1797 betont. Gattungsmäßig handelt es sich beim „Kampaner Tal“ um einen Briefroman, denn der Autor präsentiert eine Auswahl von Schreiben einer Frankreichreise an seinen Freund Viktor, deren einzelne Kapitel „Stationen“ benannt sind. Die Briefe berichten von der gemeinsamen Fußreise des fiktiven Autors Jean Paul mit dem „Titular-Rittmeister“ Karlson durch eine mediterrane Landschaft im Juni 1796. Das idyllische, südfranzösische Tal von Kampan, am Fuße der Pyrenäen gelegen, hat Jean Paul freilich niemals persönlich betreten. Bald schon werden die beiden von einem illustren Personal männlichen und weiblichen Geschlechts begleitet, die Promenade führt an dem Fluss Adour entlang. Zur Wandergruppe gehören ein Kaplan, die Mädchen Gione und Nadine sowie der Baron Wilhelmi. Vor heiterer Kulisse entfaltet sich eine Dialogkunst, die an Platon erinnert. Jedoch vermögen selbst die einnehmenden „Blumen-Tändeleien“ und metaphysischen Analogiekonstruktionen zwischen der Schönheit der Natur und einem tugendhaften Leben den Zweifler Karlson nicht zu bekehren. Die komplexe Textpartitur evoziert eine Wortmagie ohnegleichen. Insbesondere die letzte „Station“ beschreibt ein gewittriges Naturpanorama, durch dessen Lebendigkeit sich der 132  4. Kapitel

Leser förmlich befeuchtet wähnt. Der Weltgeist wird beschworen, der kosmische Gleichklang mit der menschlichen Schönheit analogisiert, die sich in Tugend und Wahrhaftigkeit ausdrückt. Die Schranken zwischen der Außen- und Innenwelt scheinen überwunden zu sein, der Logos ist Spiegel der Natur und umgekehrt. Wie Schatten den Goldgrund hervorheben, anstatt ihn zu schwächen, so vermag Karlsons hymnisch-sentimentale „Klage ohne Trost“ das grandiose Sinnerlebnis zu konturieren, aber nicht zu widerlegen. Während die Haupterzählung mit Renaissance-Eleganz daherkommt, handelt es sich bei dem zweiten Teil des Werks mit dem barock klingenden Titel „Erklärung der Holzschnitte unter den 10 Geboten des Katechismus“ um einen stilistischen Kontrapunkt. Mittlerweile gewohnt, seine Erzählungen durch einen satirischen Appendix zu beschließen, kommentiert Jean Paul in Anlehnung an die witzig-kluge Interpretation von Hogarths’ Kupferstichen durch Lichtenberg nun „10 Bildwerke des kleinen lutherischen Katechismus der Fürstentümer Bayreuth und Ansbach“. Zu diesem Zweck unternimmt der Autor eine ebenso fiktive wie launige Bildungsreise über die Orte Wittenberg, Bleesen, Dresden und Weimar, um schließlich daheim den Kommentar zu verfassen. Die Holzplatten der zehn mosaischen Gebote werden in einer derart rhetorisch kunstvollen Manier voller Arabesken und anderweitiger polemischer Kunstgriffe besprochen, dass Jean Paul diesen stilistischen Gipfel aus sprachlicher Brillanz, Gedankenschärfe und Bizarrerie nur noch selten erreichen wird. Der „Jubelsenior“ und das „Kampaner Tal“ waren Auftragswerke von Verlegern. Die Anfertigung der Idylle um den pensionierten Geistlichen geht auf den Leipziger Buchhändler Beygang zurück, während der Streifzug durch das südliche Tal mit anschließender Bildkommentierung auf einer Anregung des Geraer Verlegers Wilhelm Hennings beruht, der dringend ein kommerziell erfolgreiches Buch für seinen neuen Verlag benötigte. Da Jean Paul auf ältere Skizzen und Entwürfe zurückgreifen konnte, entstand „Das Kampanertal“ in verhältnismäßig kurzer Zeit. Die Eloge voller mediterraner Leichtigkeit und Sommersüße wurde „in einer Koch- und Kaufstube“ verfasst, wie Jean Paul sich später erinnerte. Die vielen Jahre am Schreibtisch hatLeipzig und Weimar   133

ten ihn zu einem professionellen Autor geformt: „Meine persönliche Stimmung hat längst ihren Einflus auf mein Schreiben verloren“, heißt es in einem Brief an Christian Otto vom 31. März 1797. Widrige äußere Gegebenheiten vermochten seine Phantasie und Sprachkunst kaum mehr zu behelligen, seine Schreibkunst hatte jene Stufe der Professionalität erreicht, welche für eine kontinuierliche Textproduktion auf gleichbleibendem Niveau unerlässlich ist. Häufig gab es Probleme mit Verlegern wie Hennings, der das Autorenhonorar zögerlich oder in schlechter Währung zahlte. So erschien bereits im Erscheinungsjahr der Schrift „Kampaner Tal“ ein vermutlich von Hennings angeregter anonymer Nachdruck, der für den Autor keine Tantiemen einbrachte. Es handelte sich um den ersten unerlaubten Nachdruck eines Jean Paulschen Buches. Ein ähnlicher Vorgang wiederholte sich vier Jahre später bei einem Reutlinger Verleger. Positiver als zuvor reagierte hingegen diesmal die Presse. Am 21. August 1798 publizierte die „Bayreuther Zeitung“ eine Besprechung, die auf eine vermeintlich von Wieland stammende, positive Rezension im „Teutschen Merkur“ hinwies. Da die wahren Gründe, welche eine gute oder schlechte Rezension bewirken, dem besprochenen Autor ohnehin zumeist verborgen bleiben, durfte Jean Paul sich geschmeichelt fühlen. Bei dem besagten Kritiker handelte es sich indes nicht um Wieland, sondern um den Weimarer Freund Böttiger, der im Dezemberheft 1798 des „Neuen Teutschen Merkur“ die beiden jüngst erschienenen Bücher in einer Sammelrezension besprochen hatte. Drei Monate nach dem Tod der Mutter verließ Jean Paul die Stadt Hof, um seinen Bruder zum Studium nach Leipzig zu begleiten. Ein weiterer Grund für den Umzug nach Kursachsen waren Emilie von Berlepsch und Juliane von Krüdener, die einen baldigen Aufenthalt in der Messestadt angekündigt hatten. Die baltische Lebedame war allerdings nach der Schweiz abgereist, aber Emilie schien die Zusage einzuhalten. Es war ein „stummes Scheiden“ Ende Oktober 1797 aus Hof, Jean Paul hinterließ nur einen kurzen Brief an Renate Wirth. Die Reise verlief über Zedwitz und Gera. Am 1. November bezog er eine Wohnung bei einem Kaufmann in der Petersstraße 32. Seine Ansprüche an das Logis waren gering, nur wollte er sich keinesfalls Lärm 134  4. Kapitel

aussetzen. Um seine private Geräuschkulisse zu gestalten, mietete er gegen vierteljährige Zahlung von drei Reichstalern ein Pianoforte an, denn das musikalische Schwärmen auf dem Tasteninstrument stimulierte seine literarische Fantasie. Er las die Werke Hippels, des holländischen Neoplatonikers Hemsterhuis und den jüngst erschienen Traktat „Über den Einfluss der Leidenschaften“ von der Baronin de Staël-Holstein. Insgesamt betrachtet verlief sein Leben in Leipzig ärmlich, aber nicht unglücklich. Zwar störte ihn die hohe städtische Tranksteuer, aber immerhin verfügte er über hinreichend Geld, um dem in Hof zurückgebliebenen Freund Christian Otto finanziell aushelfen zu können. Jean Pauls zunehmender Ruhm hatte eine Verschlechterung des Verhältnisses zu Otto bewirkt, auch die abgekühlte (jedoch nie völlig erloschene) Beziehung zu den Herold-Töchtern belastete ihn. Das „stumme Scheiden“ von der Heimat lag wie ein böser Druck auf seiner Seele, wie er offenherzig am 4. November an Renate Wirth schrieb. In Leipzig beruhigte sich allmählich das schlechte Gewissen, machten sich die „Anstrengungen der Phantasie“ geltend. Er besuchte Bälle, fand neue Freunde, wie Friedrich von Oertel in Belgershain nahe Leipzig, wo er zwei Tage lang das harmonische Zusammenleben der jüngst verheirateten Eheleute als erstrebenswertes Modell für die eigene Zukunft erlebte. Vor allem stimulierte ihn die Bekanntschaft zu dem genialischen Musiker hugenottischer Herkunft, Paul Emile Thieriot. Der 16-jährige, hochbegabte gebürtige Leipziger mit Sturmund Drang-Attitüden hatte wenige Jahre zuvor das Studium der Philosophie und klassischen Philologie aufgenommen, trat als Violinist in öffentlichen Konzerten auf und plante die Publikation einer satirischen Streitschrift zur Homer-Übersetzung durch Johann Heinrich Voß. Das von den Eltern gewünschte Jurastudium hatte er abgebrochen, um sich gänzlich der Musik und Sprachwissenschaft zu widmen. Launenhaftigkeit, ein hoher Anspruch an sich selbst und eine unkonventionelle Lebensweise hatten ihn zu einem gesellschaftlichen Außenseiter geformt, der viele Zeitgenossen vor den Kopf stieß. Nach einem überraschenden Besuch bereits am zweiten Ankunftstag fand Jean Paul in Thieriot ein trotz „aller wachsenden Selbstbeschauung … Leipzig und Weimar   135

sich selber und der Ordnung bewusstes Chaos“, wie in einem Brief vom 12. März 1809 verlautet. Thieriot, der im selben Haus wie Jean Paul wohnte, fand in dem neuen Gast ein väterliches Vorbild, das ihn zur Anfertigung satirischer Werke und von Aphorismen-Sammlungen anregte. Eine persönliche Begegnung Jean Pauls mit dem damals in Fachkreisen bekannten Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling ließ seinen anti-kantianischen Affekt spontan aufkeimen: „Schelling sprach ich im Museum; er gefällt mir so wenig als die ganze verfluchte Philosophen-Horde“, schrieb er am 15. November an Otto. Gleichwohl las er ein Jahr darauf mit Interesse Schellings Schrift „Von der Weltseele.“ Hingegen schätzte er weiterhin seinen wichtigsten Lehrer der Studienzeit, den Philosophen Ernst Platner, dessen Familie ihn überaus freundlich aufnahm. Beim „Thee-Souper“ verliebte er sich (freilich folgenlos) in die beiden Töchter. Auch fühlte er sich von der gebildeten Schneidertochter und Buchhändlergattin Elisabeth Feind und deren naiv-fröhlichen Töchtern angezogen, in deren Gesellschaft er sich wie der Hahn im Korbe fühlte. Im Haus der wohlhabenden Familie wohnte er gemeinsam mit Thieriot einer Streichquintett-Fassung von Mozarts Oper „Don Giovanni“ bei. Noch viele Jahre später erbrachte Familie Feind für ihn zahlreiche Freundschaftsdienste. Eine zwanglose Geselligkeit fand er auch im Haus des Lyrikers, Dramatikers und Jugendschriftstellers Christian Felix Weiße, der ihm einst die Umarbeitung der „Grönländischen Prozesse“ empfohlen hatte. Weißes nur zwei Hausnummern entfernter Mittagstisch stand ihm ebenso offen wie dessen Bibliothek und der Sommerwohnsitz. Interessant waren auch die Gespräche mit Weißes Sohn Christian Ernst, der als Rechtsprofessor zahlreiche Artikel politischen und staatsrechtlichen Inhalts veröffentlichte. Die schöne und gebildete Tochter Weißes nahm sein Herz gefangen, aber der Kontakt verlor sich bald. Ein ausführlicher Brief an Otto vom 5. Dezember gibt intime Auskunft über die heiter-gesellige Stimmung dieser Zeit. Im Familienkreis von Platner, Feind und Weiße war der interessante und gesellige Autor ein gern gesehener Gast, mit dem es sich trefflich scherzen und diskutieren ließ. Jean Paul glänzte auf diesem bürgerli136  4. Kapitel

chen Parkett, zumal der unverheiratete Mittdreißiger als möglicher Schwiegersohn infrage kam. Im Frühjahr wollte der Maler Heinrich Pfenninger, der bereits in Hof ein Porträt Jean Pauls gezeichnet hatte, ein Titelkupfer anfertigen. Obwohl keineswegs von der künstlerischen Fähigkeit Pfenningers überzeugt, gab er dem Maler ein Empfehlungsschreiben für eine Bayreuther Freundin sowie für Emanuel mit. Wenig später traf die acht Jahre ältere, korpulente, kürzlich auf eigenen Wunsch geschiedene Emilie von Berlepsch in Leipzig ein, um ihre Liebesnetze auf Jean Paul zu werfen, der sie von Franzensbad und Hof persönlich kannte. Man verbrachte gemeinsame Tage in ihrer Sommerwohnung und absolvierte Spaziergänge durch das zwischen Leipzig und Gohlis gelegene anmutige Rosental. Gewiss mag es zu manch lauschigem Tête-à-Tête gekommen sein – ob mehr geschah, ist unbekannt. Immerhin hieß es in einem Brief vom 19. Dezember an Otto: „Ich wurde noch von keinem Weib so sehr und so rein geliebt wie von dieser“. Etwa einen Monat später saß die Fliege auf dem Leim. Die Anfertigung eines satirischen Textes stimulierte ihn spontan zu einem Eheversprechen, das er allerdings bereits einen Monat später widerrief. Die Liebeswirren raubten Kraft, er fühlte sich vom Schreiben abgelenkt. „Ach die Berlepsch hat mir viel genommen“, heißt es resignierend am 30. November des Folgejahres gegenüber Otto. Die Erwartungen Emilies und Jean Pauls an eine Ehe waren zu unterschiedlich, als dass sich Harmonie hätte einstellen können: Er suchte das häusliche Glück, um in Ruhe schreiben zu können, während die literarisch ambitionierte Dame mit dem berühmten Autor-Gatten eine Art reisendes Literaturkabinett zu etablieren gedachte. Auch eine gemeinsame, vierzehntägige Reise nach Dresden im Mai 1798 vermochte die gegenseitige Entfremdung nicht zu mindern. Das konfliktreiche Verhältnis entspannte sich erst, nachdem die enttäuschte Emilie Leipzig verlassen hatte, um in der Schweiz ein literarisches Pamphlet gegen die den Eidgenossen aufgezwungene Revolution zu verfassen. Später publizierte Emilie von Berlepsch mehrbändige Reisebeschreibungen über ihre Fahrt nach Schottland.

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Außer der enervierenden Beziehung zu Emilie von Berlepsch kosteten ihn die Probleme mit dem Jura studierenden Bruder Samuel viel Kraft. Wie Jean Paul Anfang Juni 1798 berichtet, hatte der durch hohe Spielschulden belastete Samuel die Geldkasse seines Bruders gestohlen und war entflohen. Während einer Reise nach Dresden hatte Jean Paul von dem Diebstahl erfahren, der Briefwechsel mit Bruder Gottlieb verdeutlicht die schwere Enttäuschung. In der kursächsischen Residenzstadt traf Jean Paul anlässlich der Buchmesse den Verleger Matzdorff. Die Antikensammlung sowie ein Besuch der Festung Königstein in der Sächsischen Schweiz standen ebenfalls auf dem Programm. Im Seifersdorfer Tal gab es erneut einen kurzen Kontakt mit Emilie von Berlepsch, aber die Beziehung war erloschen. Jean Paul reiste viel im Jahre 1798. Im April weilte er einige Tage in Hof, um Otto zu besuchen, Emanuel und dessen Bruder gesellten sich dazu. Auf dem Landgut Lindenau nahe Leipzig lernte er in Elisabeth Hänel eine weitere Anwärterin auf sein Herz kennen, aber die Affäre blieb ebenso folgenlos wie die Bekanntschaft mit einer Bayreuther Offiziersfamilie von Schuckmann, wo er mit Wilhelmine von Kropff flirtete. Im Juli folgten Visiten bei dem befreundeten Musiker Reichardt in Giebichenstein sowie bei dem Modeschriftsteller und reformierten Theologen Lafontaine, der als Prediger in Halle amtierte. Vor allem jedoch der Besuch bei Ludwig Gleim im kurbrandenburgischen Fürstentum Halberstadt am Fuße des Harzgebirges verlief in besonders guter Atmosphäre. Jean Paul wohnte im Hause des Dichters, der seinen Gast in Briefen an das Ehepaar Herder zum poetischen „Hexenmeister“ und „Gottmenschen“ gekürt hatte. Kurzzeitig wurde sogar eine endgültige Umsiedlung nach Halberstadt erwogen. Die Absicht Gleims, den Gast als Mitarbeiter an einer geplanten Zeitschrift zu gewinnen, schlug allerdings fehl, denn zu dieser Zeit wähnte sich Jean Paul für derartige Zwecke untauglich, da seine Texte unter der Hand vom Fötus zum Goliath mutierten. Am Tage der Abreise gab es heftigen Regen, so dass man ihn zum Bleiben bewegen wollte. Schließlich kam die Nachricht, dass er völlig durchnässt, aber wohlbehalten in Aschersleben eingetroffen sei. Tags darauf besuchte er Giebichenstein. 138  4. Kapitel

Die Reisestrecken wurden zumeist mit der „Postchaise“ absolviert, die Folge war ein „angesessener Wolf“ zwischen den Oberschenkeln. Denn Fußmärsche absolvierte er in dieser Zeit vorzugsweise in der Schreibstube, um durch physische Bewegung die Fantasie anzuregen. Seit dem Frühjahr wohnte Jean Paul im Hause eines Buchbinders neben der Nikolaikirche, Nikolai-Kirchhof Nr. 5. Zu dieser Zeit finden sich erste Aufzeichnungen zur „Metereomantie“, einer Vorstufe der wissenschaftlichen Wettervorhersage, die zu einem seiner Steckenpferde werden sollte. Zunehmend wurden die Nachteile seiner hohen Popularität deutlich. So hatte er im Frühjahr 1798 auf der Leipziger Buchmesse in dem damaligen Studenten und späteren politischen Schriftsteller Garlieb Merkel einen seiner größten Kritiker persönlich kennen gelernt, der ihm in den folgenden Jahren wie ein Alb auf dem literarischen Nacken saß. Auch erzürnte ihn eine Kritik in der romantischen Zeitschrift „Athenäum“, deren Verfasser Jean Pauls übertriebene Moral durch eine verstärkte Komik ersetzt wissen wollte – eine durchaus berechtigte Kritik, die freilich eher auf die „Unsichtbare Loge“ und den „Hesperus“ zutrifft als auf „Fixlein“ und „Siebenkäs“, die ausdrücklich gelobt werden. Jean Paul fühlte sich herausgefordert von der jungen Dichtergeneration, wobei seine Kritik irrtümlich auf August Wilhelm Schlegel (in Wahrheit stammte der Text von dessen Bruder Friedrich) zielte, dem er mit einem satirischen „Aufsatz über Dorfbibliotheken“ antwortete. In einem Brief an Otto vom 15. August vermerkt der verletzte Autor: „Das Humoristische achtet er blos an mir und heisset mich einen grossen Dichter, aber wegen alles übrigen bilt er mich an“. Friedrich von Oertel verfasste für den „Neuen Teutschen Merkur“ eine Schmähschrift gegen Schlegel, die Böttiger erst auf persönliche Weisung Wielands abdrucken ließ. Jean Paul verstand sich nicht nur als komischer Autor, sondern auch als philosophischer: War Herder sein theologischer Leitstern, so galt Jacobi als sein Weisheitslehrer, dessen „Spinoza“-Schrift ihm seit der Studienzeit als geistiger Leitfaden diente. Umso mehr empörte ihn, dass der Verehrte zunehmend vor das Fadenkreuz der neuen Generation geriet, wie durch Friedrich Schlegels absprechende Rezension Leipzig und Weimar   139

des Romans „Woldemar“. Eine Bekannte Emilie von Berlepschs und Jacobis informierte Jean Paul von dem Interesse des Rheinländers an seinen Werken. Die Berichte der adligen Damen von ihrer persönlichen Begegnung mit Jacobi auf dessen Landgut Pempelfort bei Düsseldorf weckten die Neugier Jean Pauls an dessen persönlichen Lebensumständen. Während der Dresden-Reise im Mai besuchte er die Gräfin in dem nahe Dresden gelegenen Ort Königsbrück, wo Jacobi abermals zum zentralen Gesprächsthema wurde. Der Schriftsteller fühlte sich durch eine Philosophie angezogen, die eingedenk der Unbeweisbarkeit Gottes den Glauben als ein unmittelbares Wissen versteht. Die späten 1790er Jahre zeitigten im öffentlichen Diskurs eine Frontstellung, die ansatzweise bereits während seines Aufenthaltes in Weimar zur Geltung gekommen war: Der Konflikt zwischen den Kunstprogrammatikern und den oft republikanisch gesinnten Spät­ aufklärern wurde durch die offene Opposition einer Gruppe junger Rebellen und postkantianischer Transzendentalphilosophen verschärft, die eine deutliche Front gegen die Vertreter der älteren Generation bildeten. Zu den Widerständlern gegen die neue Philosophie und Dichtung gehörten – freilich aus unterschiedlichen Motiven – Jacobi, Herder, Knebel, Klopstock, Gleim und Wieland, mithin Vertreter der in den 1730er bzw. 1740er Jahren geborenen Zeitgenossen. In diesem Konflikt zwischen den Anhängern eines empirischen, durch Ideen von Leibniz angereicherten Sensualismus auf der einen und den provozierend auftretenden, idealistischen Mittzwanzigern auf der anderen Seite nahm Jean Paul eine vermittelnde Position ein. Seine Sympathie galt den Spätaufklärern, aber seine Schriften atmen in Ton und Stil den Geist der romantischen Zeit. Der aufgrund neuer Bekanntschaften, Reisen und Lustbarkeiten turbulente Leipzig-Aufenthalt hinderte ihn nicht am Schreiben, erneut nahm er das „Siebenkäs“-Motiv auf. Allerdings wirkt der Titel „Palingenesien“ (Wiedergeburten) mit seinem Rückgriff auf einen zentralen Begriff Herders aus den „Zerstreuten Blättern“ irreführend auf einen Leser, der philosophische Erörterungen erwartet. Der anstelle einer Vorrede publizierte „Offene Brief an Leibgeber“ markiert 140  4. Kapitel

die Fertigstellung des Textes auf den 23. März 1798, also unmittelbar nach der Rücknahme des Eheversprechens gegenüber Emilie von Berlepsch, aber vor der Heimreise nach Hof. In der angeblich im August 1785 in der fiktiven Spießerstadt Kuhschnappel verfassten Einleitung gibt sich Firmian Siebenkäs als „wirklicher“ Autor der „Teufelspapiere“ aus, der Herder mit dem (freilich scherzhaft gemeinten) Vorwurf provoziert, ein Plagiator der „Ideen zur Geschichte der Menschheit“ und „Zerstreuten Blätter“ zu sein. Handlungsmotiv der bunt-bizarren, durch zahlreiche, zeitkritische satirische Dialoge und Digressionen angereicherten Geschichte ist eine Fußreise von Leipzig nach Nürnberg, welche Siebenkäs mit dem Ziele absolviert, in der fränkischen Reichsstadt eine Umarbeitung der „Teufelspapiere“ anzufertigen. Zudem sucht er aufgrund eines Streites mit seiner Partnerin Hermine den räumlichen Abstand von daheim. Während des Marsches gesellt sich der frühere Horndrechsler Florian Stuß als Träger hinzu, der ihn über die Stationen Berneck und Bayreuth begleitet, wo Siebenkäs im „Gasthof zur Sonne“ einkehrt, also genau dort, wo er sich einst mit Leibgeber traf. Die äußere Handlung dient lediglich als Stichwortgeber für launige Dialoge und Einschübe, wie die witzige Erzählung über die Annäherung des Autors an die schöne Betta unter dem Titel „Die Sponsalien im Muff“. Zur Lektüre empfohlen sei der „Frachtbrief des Juden Mendel“, der sich über den raffinierten Schuldner Siebenkäs beklagt. Als nicht minder originell erweisen sich im „Fünften Reise-Anzeiger“ die scharfsinnigen Reflexionen über die Bedeutung geopolitischer Demarkationslinien. Der Reisende passiert mit dem Park „Faintaisie“ einen weiteren „Siebenkäs“-Handlungsort, danach geht es über Streitberg, Bamberg, Erlangen und Bayersdorf nach Nürnberg, wo der Autor bei der Schilderung der dortigen Lustbarkeiten in seinem satirischen Element förmlich aufblüht. Schließlich unterhält sich Jean Paul unter dem Fantasienamen „Comte Sebaud de Baraillon“ sogar mit Siebenkäs persönlich. Das Verwirrspiel um die Autorschaft der „Teufelspapiere“ kulminiert in Habermanns (alias Leibgebers) bizarrem „Kursus … ganz summarisch dem Erbprinzen der Milchstraße vorgetragen.“ Leipzig und Weimar   141

Ähnlich wie in „Siebenkäs“ enthält die Textpartitur der „Palingenesien“ außer Satire und Komik auch viel Gefühl. Auf bewährte Weise glänzt das Mondlicht über tändelnden Verliebten, schlägt die Nachtigall in Busch und Hain. Auch das Motiv der Namensvertauschung wird weidlich bemüht, und selbst der Pfenninger-Kupferstich dient als Gegenstand eines launigen Diskurses über das wahre Alter des Abgebildeten. Die im „Achten Reichs-Anzeiger“ enthaltene Digression mit dem Titel „Personalien vom Bedienten- und Maschinenmann“ ist mit ihrem Gehalt an grotesker Komik nicht zu übertreffen und liest sich mit der Anspielung auf die Mechanisierungs-Manie der „Saturnanier“ wie eine vorzeitige Star-Trek-Groteske. Das Schlusstableau indes beruhigt den verstörten Leser durch ein herziges Happyend: Firmian Siebenkäs schließt erneut seine Natalie in die Arme, und auch der Hagestolz Jean Paul findet – einen Wunschtraum erfüllend – in Hermine endlich seine Gespielin. Zweifellos handelt es sich bei den „Palingenesien“ um ein Ergebnis der „verdamten Liebespein“, die Jean Paul während der Niederschrift gegenüber Emilie von Berlepsch empfand, denn das feurige Eheversprechen resultiert aus seiner Arbeit an der Leibgeber-Satire. Statt der ursprünglich geplanten Bearbeitung der „Auswahl aus des Teufels Papieren“ war indes ein völlig neues Werk entstanden, das im August 1798 im Verlag von Heinsius in Leipzig und Gera erschien und, gemeinsam mit der Neuauflage des „Hesperus“, im „Meßkatalog zur Ostermesse 1798“ angekündigt wurde. Ein zunächst vorgesehener dritter Teil kam nicht zustande. Am 21. August 1798 schied Jean Paul aus Leipzig in Richtung Thüringen. Die Reise führte über Lindenau, Weißenfels und Naumburg nach Jena, wo er Johann Gottlieb Fichte persönlich kennen lernte. Zwei Tage nach der Abreise traf Jean Paul in Weimar ein. Der Schlussteil der „Konjektural-Biographie“ schildert eindringlich seine zwiespältigen Eindrücke und Gefühle beim Abschied aus Leipzig, und der Briefwechsel verrät die Gründe für das Valet: „Ich aber und diese Stadt passen nicht zusammen; die bankerute [!] Gegend und die ebene Flachheit der Seelen treiben mich bald fort und Weimar liegt [immer] vor mir als das Jerusalem, in das ich einmal einziehen mus, nicht um zu leiden sondern das Osterlam zu essen“, heißt es in einem Brief an 142  4. Kapitel

Charlotte von Kalb am 22. Dezember 1797. Auch Otto hatte er von seinem neuen Lebensplan in der thüringischen Residenzstadt unterrichtet. Es dürfte indes keineswegs übertrieben sein, als wahres Motiv für die Übersiedlung nach Weimar die Sehnsucht nach der persönlichen Nähe zum „13. Apostel“ anzunehmen, wie er Herder in einem Brief von Januar 1811 titulierte. Er wollte die Person noch besser kennen lernen, welche so wort- und gedankenmächtige Texte wie die „Ideen zur Geschichte der Philosophie“, die „Humanitätsbriefe“, „Zerstreute Blätter“ und „Christliche Schriften“ verfasst und sich einen rebellischen Geist bewahrt hatte. Bereits beim Besuch zwei Jahre zuvor war ihm die moralische und politische Einsamkeit Herders nicht verborgen geblieben, dessen Wüste sich keiner Oase erfreute. Der Weimarer Geistliche war für ihn ein „vom Staate gebogne[r] und wundgeriebne[r]“ Mann, für den die so genannte „Weimarer Klassik“ spätestens seit den 1790er Jahren ein Synonym für menschliche Erstarrung darstellte. In Weimar galt Jean Pauls Zuneigung vor allem der Herzoginmutter Anna Amalia, Herder und Wieland, während das Verhältnis zu Goethe und Schiller distanziert blieb. So notierte Goethe am 16. April 1799 im Tagebuch eine Anmerkung über „Zudringlichkeiten Richters“, weil dieser ein näheres Urteil über sich als Dichter begehrt hatte. Jean Paul konstatierte seinerseits am 7. Mai gegenüber Christian Otto, dass Goethe und Schiller „ganz frostig gegen mich“ seien. Bei der Begeisterung für Herder handelte es sich indes um kein Strohfeuer, sondern um eine Flamme, deren Schein seine eigenen Schriften erleuchtete. Man lese die „III. Kantate-Vorlesung“ in der „Vorschule der Ästhetik“, um einen Eindruck des Seelenfeuers zu erhalten, das Herder bei ihm entfachte. Der „durchgötterte Mensch“, wie ihn Jean Paul im September 1798 nannte, war zweifellos ein Prototyp des „hohen Menschen“ oder des Ideals der Humanität. Der Umgang mit der Prediger-Familie wurde so vertraulich, dass er Johann Gottfried und Caroline mit der damals in Briefen üblichen Namens-Chiffrierung vertraulich als „Pegasus“ und „Nachtigal“ bezeichnen durfte. Die schöne, aber geistig wenig begabte achtzehnjährige Herder-Tochter Luise erschien ihm sogar im Traum, aber eine Beziehung entstand nicht. Leipzig und Weimar   143

Vor allem Herders Gattin Caroline lernte er schätzen, diese praktisch-zupackende, hochmoralische und gebildete Frau, welche ihn wie einen lieben Sohn umsorgte. Fast täglich besuchte er das Haus hinter der Stadtkirche, wo man sich auch privat näher kam. So beschaffte Jean Paul „Zypernwein“ für Caroline, welche die als Medizin geltende Spirituose zur Beruhigung benötigte, da der spielsüchtige Sohn August ihre Nerven zerrüttete. Emanuel hingegen konnte dem Sohn Adelbert eine Anstellung vermitteln. Das immer vertraulicher werdende Verhältnis zu Familie Herder zeigte sich auch darin, dass Caroline für den Gast ein Bücherbrett nach genauen Maßangaben anfertigen ließ und sogar einen Schreibrock für ihn nähte. Wie bereits beim Weimar-Aufenthalt zuvor, lud ihn die HerzoginMutter nach Tiefurt ein, besuchte er den etwas freundlicher auftretenden Goethe sowie den unmäßigen Schiller, der „säuft 6 Loth Kaffee auf 1 Tasse und braucht Malaga und alles“, wie er Otto am 2. September berichtet. Tatsächlich hat Jean Paul niemals zuvor so viel Alkoholika konsumiert wie in Weimar. Er trinkt mit Schiller bis Mitternacht, im Hause von Kalb langt Goethe nicht minder zu. Jean Paul lernt nahezu die gesamte Weimarer Prominenz kennen, wie den Schriftsteller Johannes Daniel Falk und Goethes Kunstfreund Meyer. Nur mit einem von ihm besonders bewunderten Mann war ihm eine Begegnung bisher versagt geblieben, mit Christoph Martin Wieland. Seit Frühjahr 1797 lebte der bedeutendste Epiker und Romancier der deutschen Aufklärung sowie Übersetzer und Publizist mit seiner Familie auf dem etwa zwölf Kilometer nordöstlich von Weimar an einer Ilm-Schleife gelegenen Landgut Oßmannstedt. Während seine Söhne und Schwiegersöhne die Agrarwirtschaft versorgten, konnte sich der pensionierte Dichter der Muße hingeben und Besucher empfangen. Ein Aufenthalt in Oßmannstedt gehörte damals wie heute zum guten Ton für kulturell interessierte Weimar-Besucher. Wieland, der Aufklärer, Poet und aktualisierende Vermittler der Antike, zeigte sich auch gegenüber „nichtklassizistischen“ Autoren wie Jean Paul durchaus aufgeschlossen. In der seit Januar 1798 entstehenden Dialogsammlung „Gespräche unter vier Augen“ würdigte er ausdrücklich die Ironie des „Siebenkäs“. Für Jean Paul war „Wieland … 144  4. Kapitel

ein Dichter, wenn er auch noch nichts gethan hätte als blos – gesprochen“, wie es emphatisch in einem Brief vom 2. November an Knebel heißt. Die „Vorschule der Ästhetik“ schätzt „Wielands langatmige, gehalten sich entwickelnde Prose [als] das rechte Sprachorgan der Sokratik“. Jean Paul, der passionierte Leser von Schriften wie „Musarion“, „Der neue Amadis“ und „Diogenes“ konnte einen Text seines Freundes Thieriot zum Abdruck in dem von Wieland herausgegebenen Kulturjournal „Teutscher Merkur“ vermitteln. Der Patriarch von Oßmannstedt fühlte sich dem vogtländischen Gast ähnlich freundschaftlich und geistig verbunden wie Herder, denn man erkannte in ihm einen möglichen Mitstreiter gegen den um sich greifenden Jargon und Denkstil der Systemphilosophen. Nach einer Kurzvisite in Leipzig verließ Jean Paul am 25. Oktober 1798 endgültig die Messestadt, um nach Weimar überzusiedeln, wo er eine Wohnung an der Westseite des Marktes bezog. Die folgenden Wochen nahmen ihn durch ein aufwändiges Kulturprogramm in Anspruch. Dazu gehörten eine Schloss-Redoute an der Seite der Herzogin-Mutter sowie Besuche von Mozarts Opern „Così fan tutte“ und „Die Zauberflöte“. Über die Uraufführung von Schillers „Wallensteins Lager“ äußerte er sich indes ebenso wenig schmeichelhaft wie Herder, der sich an den „sittlichen und ästhetischen Fehler[n] … einen Katarh geholet“, wie in einem Brief vom 22. Dezember an Otto verlautet. Jean Paul schätzte die Dramen des „poetischen Gott[es]“ Schiller mehr als dessen Gedichte, die er teilweise einer harschen, zuweilen kleinlichen Kritik unterzog. Leser, die an Beckmesserei aus Jean Pauls Feder interessiert sind, mögen das neunte Kapitel der ersten „Miserikordias-Vorlesung“ in der „Vorschule der Ästhetik“ zur Hand nehmen. Spätestens seit 1799 galt Jean Paul, der sich leicht in fremde Verhältnisse einfügen konnte, als etabliertes Mitglied des Weimarer Kulturpersonals. Aber ihn beschäftigten auch gänzlich profane Angelegenheiten. Je heimischer er in Weimar wurde, desto deutlicher fielen ihm die Missstände in der Residenzstadt auf, wie die Teuerung und häufige Diebstähle. Auch erwies sich der „an sich geräumige Nachttopf“ als entschieden zu klein für seine Zwecke, zumal sich das Gefäß Leipzig und Weimar   145

unter dem Tisch im gleichen Verhältnis füllte, wie sich Tintenfass und Weinflasche auf demselben leerten. Die verständige Hauswirtin stellte schließlich ein „neue[s] Bowlen-mässige[s]“ Geschirr zur Verfügung, welches die ungestörte Niederschrift von immerhin acht Seiten während einer Sitzung ermöglichte. Im Januar lernte er Schiller noch besser kennen, der für einige Wochen von Jena nach Weimar zog, um die „Piccolomini“ einzustudieren. Insbesondere bei Assembleen im Hause Goethes fiel dessen Gefühlskälte unangenehm auf. Als Gast Charlotte von Kalbs sorgte der immer kecker auftretende Jean Paul dafür, dass der über eine Bemerkung verärgerte Goethe „empfindlich ¼ Stunde den Teller drehte“, wie er Otto am 27. Januar mitteilte. Im Frühjahr folgten weitere Aufenthalte in Oßmannstedt sowie Besuche der Haupt- und Residenzstadt des Herzogtums Sachsen-Gotha, um dessen Herzog sowie den humoristischen Romancier Thümmel persönlich kennen zu lernen. Ende März 1799 traf Christian Otto mit der im väterlichen Hause zutiefst unglücklichen Ämone Herold in Jena ein. Charlotte von Kalb nahm die junge Frau, welche sich vergeblich um eine Anstellung als Hofdame bewarb und als Übersetzerin der Gesänge des sagenhaften keltischen Barden Ossian profilierte, als Gesellschafterin auf. Charlotte und Amöne verbrachten einige Wochen in Weimar sowie auf dem Landgut Kalbsrieth. Mitte Juni kehrte die junge Frau wieder zurück nach Hof. Auch nach der erneuten Begegnung vermochte Jean Paul seinen Vorbehalt gegen Amönes von „Eitelkeit, Egoismus und Stolz“ geprägten Charakter nicht zu überwinden. Die halb erblindete Charlotte von Kalb bezeugte mit Nachdruck ihre Absicht auf eine Heirat mit Jean Paul. Viele ihrer Billets enthielten diesbezüglich unmissverständliche Hinweise, aber auch die Übersendung eines Selbstporträts vermochte ihn nicht von den Vorzügen der Dame zu überzeugen. Und der häufig vage Hinweis auf ihren in Wahrheit prekären, durch unabgeschlossene Gerichtsprozesse gefährdeten Wohlstand verschärfte eher die peinliche Situation. Der Umworbene reagierte unwillig auf die Avancen, und die Zurückgesetzte geriet zunehmend in eine labile Gefühlslage. Er war ihr Dank schuldig, da sie ihm den Zugang nach Weimar geebnet hatte, aber über 146  4. Kapitel

Mitleid und Dankbarkeit gingen seine Gefühle nicht hinaus. Von allen Beteiligten schätzte Caroline Herder die Situation am klügsten ein. In einem Brief an Gleim vom 2. April bezeichnete sie Jean Paul als „einem jungen Greiß ähnlich“, der eine Frau braucht. „Sie muß aber reich seyn“, lautet das lebenskluge Fazit der Prediger-Gattin. Es stand traurig in Sachen Liebe für Jean Paul. Nicht minder betrüblich erwiesen sich seine Brüder, deren Verhalten ihn zutiefst beschämte. So erflehte der Diebesbruder Samuel nun ein Darlehen, um seine Spielschulden begleichen zu können, und der ebenfalls ständig mit Geldproblemen kämpfende Gottlieb in Ansbach benötigte zum Zwecke der Heirat ebenfalls eine größere finanzielle Zuwendung. Jean Pauls Bemühung, Samuel eine Anstellung in Berlin zu verschaffen, blieb erfolglos, auch konnte er ihn nicht als Sekretär Charlotte von Kalbs verpflichten, denn der in Sparneck lebende Bruder konnte kein abgeschlossenes Examen vorweisen. Es blieb Jean Paul nicht erspart, sich öffentlich im „Reichsanzeiger“ als Bürge für die Schulden seines Bruders zu erklären. Ab dem Winter 1799 verweigerte er jedoch jegliche weitere Unterstützung des leichtlebigen Verwandten, der schließlich in Schwarzenbach ein vorübergehendes Unterkommen fand. Jean Paul mahnte sämtliche infrage kommenden Personen, wie etwa Verleger Matzdorff, Samuel kein Geld zu leihen, da er nicht mehr für die Schulden seines Bruders aufkommen würde. Aber auch Bruder Adam machte Sorgen. Der Barbier hatte im November einen Bettelbrief an Caroline Herder gerichtet, die ihm ohne Wissen Jean Pauls einen Louisdor geschickt und weitere Hilfe in Aussicht gestellt hatte. Nachdem jedoch eine Supplik Adams aus dem Schuldgefängnis eintraf, setzte Caroline den bestürzten Jean Paul davon in Kenntnis, der aufgebracht reagierte. Gelegentliche Fahrten zu Freunden in die nähere Umgebung brachten Abwechslung in den Alltag. Gern besuchte Jean Paul den zurückgezogen lebenden Knebel in der Bergstadt Ilmenau am Nordostrand des Thüringer Waldes. Erfurt und Eisenach standen ebenso auf dem Reiseplan wie mehrere Aufenthalte in Gotha, wo er in dem Archäologen und fürstlichen Münzkonservator Friedrich Schlichte­ groll einen besonders guten Freund fand. Zu ihm und seiner Frau Leipzig und Weimar   147

entwickelte sich ein so herzliches Verhältnis, dass Jean Paul zum Paten ihres Sohnes bestellt wurde. Schlichtegrolls Bemühung, für den Freund beim Herzog von Gotha einen für das Hofleben bedeutsamen Titel zu erwirken, blieb indes erfolglos. Im Sommer 1799 erfolgte eine dreiwöchige Reise nach Hof. Als Zwischenstation verbrachte Jean Paul einige Tage bei einem fürstlichen Gönner Schillers auf Schloss Schwarzburg bei Rudolstadt. All diese Abwechslungen und Gespräche, Fahrten und neuen Eindrücke waren indes nur nebensächliche Zerstreuungen gegenüber seinem eigentlichen Anliegen in Weimar: das Streben nach Vertiefung seiner literarischen und philosophischen Reife. Herder übergab ihm das Manuskript zur überarbeiteten ersten Auflage seiner Schrift „Gott“ mit der Bitte, jene Textpassagen zu tilgen, durch die sich Jacobi verletzt fühlen könnte. Auf Jean Pauls Rat wurden zwei das spinozistische System betreffende Stellen gestrichen, ohne dass Herder indes von seiner pantheistischen Deutung abgewichen wäre. Jean Paul lektorierte auch das Manuskript von Herders Schrift „Metakritik“, welche gleichzeitig die Erkenntnistheorie Kants sowie den Kantianismus bekämpfte, der seit den 1780er Jahren sämtliche wissenschaftlichen Disziplinen beeinflusste. Nach der ersten Lektüre mahnte Jean Paul in weiser Voraussicht bei Jacobi ein mildes Urteil an. Seine Anmerkungen zum „Metakritik“-Manuskript blieben nicht ohne Einfluss auf die Textgestalt; nur bei der Fertigstellung der Vorrede wurden seine Bemerkungen aus Zeitnot nicht berücksichtigt. Jean Paul bezog eindeutig Stellung gegen die modernen Systemphilosophen und ihren Fachjargon, denn nach seiner (und Herders) Auffassung durfte keine noch so abstrakte Terminologie ihre Herkunft aus dem Sinnlichen verbergen. Herders Hoffnung, durch die „Metakritik“ den „Popanz der neuen teutonic Philosophy“ zu überwinden, verwirklichte sich indes nicht. Das im Frühjahr 1799 publizierte Werk fand zwar einen breiten Leserkreis, aber es erreichte nie seinen Zweck, im Gegenteil manövrierte sich Herder mit dem monumentalen Pasquill endgültig in das intellektuelle Abseits. Zwar bekannten sich Gleim, Jean Paul, Knebel, Klopstock und Wieland zu dem Werk, aber bei

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Goethe, Schiller und der jungen Generation stieß es auf verlegenes Kopfschütteln, herbe Ablehnung oder schiere Ignoranz. Ähnlich verhielt es sich mit Herders ästhetischer Kampfschrift „Kalligone“, einer Abrechnung mit Kants „Kritik der Urtheilskraft“. Die einzigen Mitarbeiter an dem Projekt waren Gattin Caroline und Jean Paul. Herder bezog sich mit der „Kalligone“ gedanklich auf seine Jugendzeit, denn es wurden viele Ideen aus den „Fragmenten“, den „Kritischen Wäldern“ und der „Plastik“ übernommen. Dabei ignorierte Herders Ästhetik gezielt die neuesten kunsttheoretischen Einsichten, denn „fast ist (dies haben mehrere gefühlt) mit Leßing die Kritik des Schönen aus Deutschland verschwunden“, heißt es in der Einleitung. Durch solche Aussagen mussten sich zeitgenössische Kunsttheoretiker wie Schiller, Goethe oder Friedrich Schlegel düpiert fühlen. Immerhin bekannten sich Knebel und Wieland zur „Kalligone“, aber überwiegend waren die Reaktionen negativ. Die enge Zusammenarbeit und teilweise nahe persönliche Bekanntschaft mit Herder, Fichte, Goethe und Schiller hatte bei Jean Paul allerdings den Eindruck genährt, dass man sich in Weimar allgemein zu wenig Zeit für die Lektüre nähme. Hinsichtlich Herders beruht dieser Eindruck jedoch auf einem Irrtum, denn die Tatsache, dass der Geistliche sich zur Ausarbeitung der „Metakritik“ Jacobis Schrift über David Hume von Jean Paul auslieh, war keineswegs ein Beweis von dessen Unkenntnis des Werkes. Vielmehr kannte Herder die Arbeit genau, hatte er doch ein Widmungsexemplar vom Autor erhalten und das Buch nach eigenem Bekunden mit Vergnügen gelesen. Gleichwohl ist es durchaus fraglich, ob der flüchtige Vielleser Herder den „Hesperus“, „Titan“ oder die anderen Erzählungen Jean Pauls wirklich in voller Länge gelesen hat. Seit dem Sommer 1799 verdichtete sich Herders Plan, unter Mit­ arbeit von Jean Paul und Knebel eine Zeitschrift namens „Aurora“ herauszugeben, welche übrigens ursprünglich den Titel „Hesperus“ führen sollte. Dieses Projekt gedieh allerdings nicht über die Ankündigung, einen dialogischen Prolog und eine Gedankenskizze hinaus. Herders Alterswerk und „Glaubensbekenntnis“ erschien schließlich unter dem in der griechischen Mythologie Gerechtigkeit und WahrLeipzig und Weimar   149

heit symbolisierenden Namen „Adrastea“. Diese Zeitschrift war ebenfalls inhaltlich und formal sehr umstritten, so verlauten darin vereinzelt bedenklich restriktive Forderungen, die sich nicht zu Herders ansonsten freisinnigen Grundton fügten. Die teilweise betont konservativen Ressentiments resultierten aus der Abwehr eines sich durch neue geistige Strömungen wie dem Kantianismus bedrängt fühlenden Geistlichen, der um die Zukunft seines Glaubens wie um die moralische Integrität seiner Schüler besorgt war. Bei der „Adrastea“ handelt es sich gleichsam um eine Summa saeculorum des 18. Jahrhunderts, allerdings – ähnlich wie bei der „Kalligone“ – mit gezieltem Ausschluss der neuesten geistigen Strömungen. In loser Folge berichtet das Kompendium von den „sogenannt-goldenen Zeiten des achtzehnten Jahrhunderts“, wobei die englischen und französischen Literaturen ausführlich gewürdigt werden, jedoch endet die Beurteilung der deutschen Kultur bei Lessing. Beiträge von friderizianischen Zeitgenossen wie Gottsched und Wolff werden ebenso ausgeklammert wie jene Kants, Goethes, Wielands oder Schillers. Jean Paul begegnete der Kritik an dem Werk durch den Hinweis auf die vielseitige Gelehrsamkeit des Herausgebers, die eine summarische Vorgehensweise begünstige. Jedoch verweigerte er seine Zustimmung zu Herders durch negative Erfahrungen mit der Universität Jena und der „Allgemeinen Literatur-Zeitung“ geäußerten Forderung nach Einführung einer Zensur. Es kam keineswegs zum Bruch zwischen Herder und Jean Paul, aber es zeigte sich, dass ihre Auffassungen nicht immer übereinstimmten. Die „Adrastea“ entstand denn auch ohne Mitarbeit Jean Pauls, dessen eigentümliche Schreib-„Manier“ Herder trotz einiger „herrliche[n] Sachen“ „nicht vertragen“ konnte, wie Caroline in einem Brief vom 26. März 1801 einräumte. Gleichwohl blieb das vertrauliche Einvernehmen zwischen ihm und Jean Paul (vorerst) ungetrübt, verbrachte man weiterhin gemeinsam gesellige Abende, feierte Geburtstage und bereiste die nähere Umgebung. Die Freundschaft zu Herder hinderte Jean Paul jedoch nicht daran, den Bekanntenkreis auf das gegnerische Lager zu erweitern. So lernte er Ludwig Tieck und Novalis persönlich kennen und schätzen. Vor allem die Begegnung mit Friedrich Schlegel verlief ku150  4. Kapitel

rios, denn Jean Paul fand in dem als verletzenden Kritikaster verschrienen, scharfzüngigen Polemiker und Gegner Herders einen fast kindlich wirkenden, scheu-bescheidenen jungen Mann, dem er nur zu gern seine Gunst schenkte. Bei Caroline Herder war der Mutterinstinkt erwacht, dringlich wollte sie den Junggesellen nun endlich unter die Haube bringen. Ende Mai 1799 führte eine gemeinsame Reise in die am Südrand des Thüringer Waldes gelegene sächsische Residenzstadt Hildburghausen, wo er vor der Hofgesellschaft auf dem Piano fantasierte. Der republikanisch gesinnte Jean Paul besuchte allerdings nach eigenem Bekunden die „höheren Stände“ nur zu dem Zweck, eine finanziell attraktive Partnerin zu finden. Gleichwohl genoss er die Bewunderung vor allem der weiblichen Leser adliger Herkunft, die sich von den Tändeleien und Weinerlichkeiten des „Hesperus“ angezogen fühlten. Eine abermalige Reise nach Hildburghausen im Herbst brachte ihn in engen Kontakt zur Hofdame Caroline von Feuchtersleben. Unter den zahlreichen Bewunderern seines Werkes und seiner Person gab es zweifellos weitere Anwärterinnen auf die Ehe, aber Carolines „strenge, unnachlassende Moralität“ faszinierte den Tugend-Apostel auf besondere Weise. Obwohl man zu dieser Zeit allgemein von einer Liaison Jean Pauls mit Emilie von Berlepsch ausging, schien sich die neue Affäre zuzuspitzen. In einem Brief an Otto vom 23. Juni deutete er bereits Rückzugspläne aus seinem Junggesellenleben an. Nach erfolgter Heirat wollte er sich in ein Loch verkriechen, aus dem nur noch sein Schreibefinger herauslugt. Liebesheiraten waren zu jener Zeit eine Ausnahme, eine Ehe diente wesentlich als Versorgungsinstitut für die Tochter. Familie Feuchtersleben kamen Bedenken. Während der Freier bereits von der nächstjährigen Heirat ausging, verlangte der Onkel und Vormund Carolines Einblick in die Vermögensverhältnisse des amtlosen Bestseller-Autors, der mit jedem schriftstellerischen Misserfolg zu verarmen drohte und überdies nicht standesgemäßer Herkunft war. Diesen Mangel konnte auch nicht die gut gemeinte, aber finanziell folgenlose Verleihung des Titels „Legationsrat“ durch den Herzog von Hildburghausen beseitigen. Der Eheplan war bereits gescheitert, als Jean Paul mit Caroline und Johann GottLeipzig und Weimar   151

fried Herder Anfang Mai 1800 nach Ilmenau reiste, wo man im Hause Knebels die Verlobung besiegeln wollte. Wider Erwarten kam es zu Streit und Zank zwischen den Beteiligten, und sogar Caroline räumte ein, dass die Braut keine passende Partnerin für ihren Schützling sei, der nun seinerseits in einem Brief an Jacobi vom 2. Januar 1801 den Charakter der Hofdame als egoistisch schalt und sogar einen unüberwindlichen „Antagonismus unserer Naturen“ konstatierte. Enttäuscht reiste man ab. Herder reagierte äußerst empfindlich auf die Szene; zu Carolines Bedauern trug das positive Verhältnis ihres Mannes zu Jean Paul einen Riss davon. Auch ein brieflicher Versöhnungsversuch ihrerseits vermochte die Gefühlswogen nicht zu glätten. Bei all dem Ungemach fand Jean Paul wie stets zuvor Trost in der Beschäftigung mit Literatur und Philosophie, insbesondere schätzte er Autoren, deren Werk beide Disziplinen vereint. Dazu gehörte der Königsberger Sprach- und Aufklärungsphilosoph Johann Georg Hamann, ein persönlicher Freund Herders und Reichardts. Jacobi hatte Jean Paul die Rücksprache mit Herder wegen einer geplanten Hamann-Ausgabe empfohlen, aber diese Edition kam nie zustande. Herder schenkte dem vogtländischen Freund Hamanns Werke, welche er wegen ihrer aphoristischen Kürze als Reiselektüre schätzte. Die „III. Kantate-Vorlesung“ in der „Vorschule der Ästhetik“ setzt dem bewunderten Philosophen ein Denkmal. Jacobi, nunmehr in Eutin lebend, öffnete sich dem Vertrauten in Weimar immer mehr und nutzte dessen Nähe zu Herder zum eigenen Vorteil. Man duzte sich brieflich, tauschte sich über Hamann aus und sehnte sich nach einer persönlichen Begegnung. Aber zuweilen, so sollte sich zeigen, begünstigt die räumliche Distanz eine wechselseitige Vertrautheit mehr als deren Überwindung. Auf poetische Weise kommentierte Jean Paul die größte politische Herausforderung seiner Zeit, die Französische Revolution. Im Februar 1799 hatte der Verleger Friedrich Vieweg einen Taschenbuch-Beitrag erbeten. Jean Paul schlug einen Aufsatz über Charlotte Corday vor, die Mörderin des Jakobiners Marat. Der Text erschien zunächst in dem „Taschenbuch für 1800“ sowie, neun Jahre später bearbeitet und erweitert, als „Werkchen“ in dem Band „D. Katzenbergers Badereise“. 152  4. Kapitel

Der erste Beitrag Jean Pauls zu einer spezifisch politischen Begebenheit war indes keineswegs dem Tagesjournalismus verpflichtet. Die Titelheldin Charlotte Corday, einer altadligen französischen Familie entstammend, galt als eine der umstrittensten Frauen ihrer Zeit. Im Juli 1793 war sie nach Paris gereist, um gegen die Schreckensherrschaft der Jakobiner ein Zeichen zu setzen. Nachdem der radikale Revolutionär und Publizist Jean Paul Marat in einer von Corday herausgegebenen Zeitschrift erklärte, dass zur Befestigung der Republik noch tausende von Köpfen unter der Guillotine fallen müssten, hatte sie seine Tötung beschlossen. Nach der Erdolchung Marats in der Badewanne wurde sie geköpft, um von interessierten Kreisen postum zur Märtyrerin und Schutzheiligen der Gegenrevolution stilisiert zu werden. Von Cordays patriotischer Tat zeigte sich außer großen Teilen des Bürgertums auch der gebildete Adel fasziniert. Die Herzogin von Weimar erbat für sich ein Belegexemplar des Autors. Jean Pauls erste politische Stellungnahme sieht ihn auf der Seite der Girondisten, jener gemäßigten Gruppe französischer Abgeordnete, die weitergehende politische Umwälzungen und die totalitäre Herrschaft der Jakobiner verhindern wollten. Die Tötungswelle, welche seit 1793 das Nachbarland heimsuchte, widersprach zutiefst Jean Pauls christlichem Menschenbild. Wie bei den meisten deutschen Autoren war seine Sympathie für die französischen Umwälzungen spätestens seit der Hinrichtung des französischen Monarchen geschwunden. Gegenüber Jacobi beklagte er am 18. August 1799 „das ekelhafte Nachschlagen in den durch Blutflecke unleserlichen Tag- oder Nachtbüchern der Revolution“. Seine Empörung wurde zudem durch die Besetzung der Schweizer Eidgenossenschaft und die Annexion Genfs durch die Franzosen genährt. Die im Februar 1799 verfasste Vorrede zu „Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf“ verurteilt die Okkupation als moralisch verwerflich. Ein Ausweg aus der Gewaltspirale erschien nur möglich durch gezielte Attentate gegen die Machthaber oder durch Übernahme der Regierungsgewalt durch eine Führungspersönlichkeit wie Napoleon Bonaparte. Wolfgang Harich, zu dessen Deutung Jean Pauls als „Revolutionsdichter“ sich der Corday-Aufsatz nur schwer fügt, wies darauf hin, dass der Essay die Jakobiner „einseiLeipzig und Weimar   153

tig und ungerecht“ verurteilt. Diese Einschätzung ist rückblickend gewiss richtig, aber der Essay brachte seinerzeit essentielle politischmoralische Bedenken großer Bevölkerungsgruppen zum Ausdruck. Jean Paul glaubte den Tyrannenmord durch ein hehres Ziel moralisch gerechtfertigt, geradezu enthusiastisch wird Charlotte Corday als „Hochmensch“ und Vollstreckerin der Vorsehung zelebriert. Der teilweise sehr rührselige Text inszeniert die Protagonistin weniger als reale historische Gestalt, vielmehr als Ideal des „hohen Menschen“, dessen Edelmut ein Sendungsbewusstsein zu stiften vermag. Das prekäre Credo lautet Tötung auf Verlangen der höheren Gerechtigkeit Nemesis. Bereits auf der Guillotine liegend, schweift Charlottes gebrochener Blick zu den Gefolgsleuten, welche sie durch das Martyrium zum eigenen Opfertod ermutigt. Tatsächlich hatte Jean Paul in Charlotte Corday eine Propagandaheldin nach dem Typus der Johanna von Orleans geschaffen, deren patriotisches Ableben auf unterschiedliche soziale Schichten nicht ohne Wirkung blieb. Noch viele Jahre später fand man bei Carl Ludwig Sand, dem Mörder August von Kotzebues, den Corday-Aufsatz in der Tasche. Jean Pauls literarischer Ausflug in politische Regionen beschränkte sich vorerst auf die Erzählung über die Mörderin aus Moral. Nachdem Verhandlungen mit dem Verleger Gottlieb Feind, dem Ehegatten seiner Leipziger Hauswirtin, wegen unterschiedlicher Honorarvorstellungen gescheitert waren, hatte Jean Paul als Ersatz für den ungeschriebenen dritten Teil der „Palingenesien“ dem Verleger Heinsius eine „Konjektural-Biographie“ angeboten. Die an „Siebenkäs“-Motive anknüpfende Erzählung gibt als fiktiven Verfasserort das für JeanPaul-Leser wohl bekannte Spießer-Städtchen Kuhschnappel an. Der überaus komische Text, im Herbst 1798 in Leipzig verfasst, bietet einen fiktiven Abriss von Jean Pauls zukünftiger Lebensgeschichte, deren Kleinbürgerlichkeit kaum zu überbieten ist. In sieben Briefen an Christian Otto berichtet Jean Paul unmittelbar vor der Abreise nach Weimar von dem fiktiven „Gütlein Mittelspitz“ nahe der Stadt Hof, das er anzukaufen gesonnen sei, um sich endlich allein dem Schreiben und dem Familienleben widmen zu können. Mit freilich doppeldeutigen Argumenten vermag der Autor die von ihm geliebte Hermine 154  4. Kapitel

(die er in Erinnerung an die eigene Mutter Rosinette nennt) von den Vorteilen des Ehestandes und der Anmietung des „Gütleins“ zu überzeugen. Während der gemeinsamen Mai-Reise durch eine Auen-Landschaft voller Grasmücken und Nachtigallen in das „Lustörtlein Hofeck“ mit „lieblicher Aussicht und Nachbarschaft“ lesen der Autor und Rosinette gemeinsam jene „Briefe Jean Pauls“, welche der geneigte Leser wenige Seiten zuvor im selben Buch zur Kenntnis nehmen durfte. Mit hinreißender Darstellungskraft wird eine Kuhschnappeler Lustbarkeit geschildert, in deren Tanzvergnügen mit anschließendem Picknick sich der Leser förmlich einbezogen fühlt. Auf stilistisch bewährte Weise werden die unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen kunstvoll miteinander verschränkt. Man glaubt dem Autor in dessen Leipziger Studierstube gleichsam über die Schulter zu schauen, verspürt dessen Unruhe unmittelbar vor der Abreise nach Weimar. Ausgedehnte Reflexionen über zukünftige Familienangehörige verzögern indes den Fortgang der Handlung. So wird der Sohn Hans als angehender Weisheitsschüler vorgestellt, dessen „Brief über die Philosophie“ Einzelheiten über die Achtung seines Vaters vor Kant, dem „heiligen Vater in Königsberg“, ebenso wie dessen Ablehnung von Fichtes (vermeintlichem) Atheismus preisgibt. Ein „privilegiertes Testament“ erteilt der Tochter Christine, einer angehenden Sopranistin, sowie deren weiblichen Nachkommen den (freilich satirisch gemeinten) Rat, als Mitglied des weiblichen Geschlechts sich politischer Stellungnahmen zu enthalten. Die einfach strukturierte Haupthandlung ist durch zahlreiche Einschübe durchbrochen, wie die hypermoralische, an das neutestamentarische Gleichnis vom verlorenen Sohn angelehnte Fabel über den „Doppelten Schwur der Besserung“. Tiefgründig-heiteren Gedanken über das Älterwerden sowie literarischen Bekenntnissen zum „Guten und Schönen“ folgen moralisierende Seitenhiebe auf zeitgenössische Idealisten aus der Schule von Kant oder Fichte. Die eingestreuten philosophischen Essays verleihen dem „Bevorstehenden Lebenslauf“ einen von der Rezeption häufig unterschätzten geistesgeschichtlichen Rang. So bezeichnet der Gedanken Sigmund Freuds vorwegnehLeipzig und Weimar   155

mende Text „Über das Träumen“ die Bildersprache des Schlafes als „unwillkürliche Dichtkunst“, und im fünften Brief liest sich die Apotheose der Tonkunst als höchste ästhetische Ausdrucksform wie eine Vorwegnahme der romantischen Musikphilosophie. Der Erzählungs-Protagonist Jean Paul fügt sich in die „Kon­jek­ tural“-Ehe wie der Masochist in das Prokustresbett. Eine schlichte Lebensführung in kleinbürgerlichem Ambiente ist aus biografischer Sicht eines der Hauptziele, welches der des Single-Daseins überdrüssige Dichter anstrebt. Wie durch eine magische Glaskugel blickend, beschreibt er sich drei Dekaden später als erfolgreichen Autor und Jubelsenior, der endlich zum „Wohlklang des Stils“ gefunden hat, wie selbstironisch in der „Siebenten Epistel“ verlautet. Biografisch besonders interessant ist das folgende Kapitel, welches die elegische Reise von Leipzig über Weißenfels entlang dem Saale-Ufer nach Weimar und Oßmannstedt schildert, wo er den geliebten Wieland trifft. Auch wenn der Leser nie genau erfährt, ob die Zukunftsvisionen satirisch gemeint sind, bleibt ihm der Überdruss des Autors an seiner aktu­­ellen Lebenssituation nicht verborgen. Der Humor und Anspielungsreichtum des köstlichen Werkes darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei der „Konjektural-Biographie“ um eine melancholisch gefärbte Auseinandersetzung des Mittdreißigers mit der eigenen Zukunft handelte, die ungewisser war als je zuvor. Das Erscheinen des Großromans „Titan“, seines Hauptstücks der 1790er Jahre, kündigte Jean Paul nach mehrjährigen Vorarbeiten am 5. Juni 1796 in der „Vorrede zum zweiten, dritten und vierten Bändchen“ des „Siebenkäs“ an. Die Vorarbeiten zu dem heute zumeist nur Fachleuten und interessierten Laien bekannten Roman begannen Ende Dezember 1792, als Keimzelle gilt das Studienheft „Das Genie“. Die zweite Arbeitsperiode währte von Frühjahr 1796 bis in die Weimarer Zeit. Während Jean Paul unter schweren Migräneschüben in Hof den „Siebenkäs“ redigierte, hatte das „Titan“-Manuskript ständig an Umfang zugenommen. Nach Fertigstellung der „Belustigungen“ wollte er sich nun endgültig jenem Text widmen, auf den „ich meine halbe Seele aufspare“, wie am 30. März gegenüber Christian Otto verlautet. Noch Jahre später schwärmte er in einem Brief vom 7. Oktober 156  4. Kapitel

1811 von diesem Projekt, „in welchem ich den ganzen Gesichtskreis meiner Erde und meines Himmels ausgebreitet schauen lassen wollte“. Der „Kardinal- und Kapitalroman“ erzählt die verschlungene, von Intrigen und höfischen Ränken bestimmte Lebens- und Bildungsgeschichte des Helden Albano de Cesara, der vom leidenschaftlichen Jüngling zum Mann reift, um schließlich den Thron des kleinen Fürstentums Pestitz zu besteigen. In einem Brief vom 13. August 1802 gibt Jean Paul Auskunft über den ersten Anstoß zu der Erzählung durch den 1792 von Jacobi herausgegebenen Roman „Eduard Allwill’s Briefsammlung“, der den kraftgenialischen Geniebegriff des „Sturm und Drang“ als „Auflösung in lauter unmoralische Agonie“ und „Gesetzesfeindschaft“ kritisiert. Auch Jean Pauls Verständnis vom moralisch integren „hohen Menschen“ kollidierte mit jener „Klasse der poetischen Genies“, die sich selbst zu „Götter[n] und Göttinnen“ stilisierten. Unter dem weiblichen Geschlecht hatte er in Amöne Herold, Juliane von Krüdener und Emilie von Berlepsch solche Charaktere genugsam kennen gelernt, und in Weimar sollte er im großen Stile die Erfahrung machen, dass hohe Berge auch große Schatten werfen. Trotz des für seinen Schreibstil ungewohnten Ausflugs in kraftgenialische Sphären ist es sicher nicht verfehlt, den „Titan“ als eines der persönlichsten Werke Jean Pauls zu verstehen, dessen Bescheidenheit und gleichsam paulinische Moralität ihn jegliche pathetische Selbstinszenierungen als Gräuel, ja als Sakrileg erscheinen ließen. Der „Titan“ enthält eine solche Fülle von Personal sowie miteinander verwobenen Haupt- und Nebenhandlungen, dass sich auch der einsamste Leser nicht gelangweilt fühlt. Im Mittelpunkt steht die Bildungsgeschichte des Grafen Albano, dessen nächste Freunde der seelisch ausgebrannte, glaubenslose Zyniker Roquariol, der humoristische Romantiker Schoppe sowie der genialische, Anschauungen Herders vertretende Baumeister Dian sind. Die Protagonistin und „Titanide“ Linda de Romeiro, Roquariols große Liebe, trägt mit ihrer Augenschwäche und Neigung zu Indiskretion unverkennbar Züge Charlotte von Kalbs, während Gaspards charakterliche Kälte und po-

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litische Klugheit ihn als Abbild Goethes kennzeichnen, dessen Physiognomie freilich derjenigen Schillers nachempfunden ist. Die Geschichte beginnt auf der landschaftlich schönen Isola Bella, welche gleich einem Schiffsrumpf die Wellen des Lago Maggiore durchpflügt. Der zwanzigjährige spanische Graf Albano von Cesara kehrt auf jene Insel zurück, wo er die ersten drei Lebensjahre verbracht hat. In Begleitung Schoppes und Dians erlebt der abenteuerlustige, auf seine verstorbene Mutter fixierte Halbwaise, Schönling und Kraftmensch an einem Frühlingsmorgen die Wunder der üppigen südländischen Natur. Allerdings enthält die Beschreibung etliche topografische Unstimmigkeiten, welche der Unkenntnis des Autors geschuldet sind, der das Eiland niemals selbst besucht hat. 35 „Jobelperioden“ und 146 durchlaufende „Zykel“ gliedern den Roman. Der als „Antrittsprogramm des Titan“ bezeichnete Eingangstext ist einer jener Einschübe, welche den Handlungsverlauf freilich mehr verwirren als klären. Von der Ankündigung des Autors, diesmal auf Abschweifungen wie im „Hesperus“ zu verzichten, ist kein Wort wahr. Vielmehr sind der Erzählung Aphorismen-Sammlungen ebenso beigemengt wie zahlreiche tiefsinnige philosophische Reflexionen. Der Leser erlebt einen neuen Ton in Jean Pauls Prosa, eine geradezu hymnische Ausdruckskraft vor grandioser Naturkulisse. Eine kolossale Szenerie wird vorgeführt, die Helden und Titanen zu bilden vermag, aber keinen Schulmeister vom Typ des Wutz. In der „Vorschule der Ästhetik“ wird Jean Paul diese Diktion als „italienischen Stil“ bezeichnen. Der geheimnisvolle Jüngling mit Hang zur Selbstverstümmelung unternimmt einsame Spaziergänge über die borromäische Insel, begegnet seinem Vater Don Gaspard, dem schwerkranken Machtmenschen mit Schiller-Antlitz, und wähnt gar seine verstorbene Mutter zu sehen. Derartige wundersame Begegnungen an exotischen Orten enthält die Handlung zuhauf. Immer wieder schweift die Erzählung jedoch nach Deutschland zu dem fiktiven Fürstentum Pestiz, dessen Hofschranzentum satirisch beschrieben wird. In eindringlichen Bilderfluten wird die Jugendgeschichte des höhensüchtigen Jurastudenten Albano erzählt, dessen Geliebte, die sehbehinderte Liane, ebenso an Migräne leidet wie der Autor. Wuchtiges 158  4. Kapitel

Pathos und antihöfische Polemik wechseln mit subtiler Sentimentalität, wie etwa in der „Achten Jobelperiode“ bei Albanos Wanderung nach dem Locus amœnus Lilar, wo ihn die betäubende Atmosphäre von „Flötental“ betört und er die Macht der Musik erfährt. Der junge Graf, voll ungebundener Freiheitsliebe und dem Mut des Unsterblichen, traktiert so leidenschaftlich das Klavier, dass sich das Instrument gegen die Behandlung zu sträuben scheint. Aber nicht nur das Piano widersetzt sich Albano, sondern auch das Lebensglück. Schon bald spürt der Leser das Leiden der Charaktere an ihren Passionen. Der literarische Eifer Jean Pauls scheut sich nicht vor kühnem Deutsch und schiefen Bildern. Die entflammte Ausdruckskraft steigert sich, ähnlich wie im „Hesperus“, bis zum Unsagbaren mit einem freilich zuweilen unfreiwillig komischen Unterton. So wandert man auf einem „gebognen Gebirge zum Donnerhäuschen“, es „glatteiset“, Töne „hüpfen“ oder „flattern“, vom „Gebirge beugt sich eine Milchstraße herüber“, „Abende bewegen“ sich, es kreist ein „Feuerrad der Entzückung“, und der von einer Vision begeisterte Albano „vertropfte wie eine weinende Entzückung.“ Die Ausdruckfähigkeit des Autors erklimmt neue Gipfel, freilich nicht selten auf Kosten der Grammatik. Der Leser braucht nirgendwo im Text allzu lange auf die nächsten Flötentöne zu warten, welche Jean Pauls Werk ebenso leitmotivisch bestimmen wie das Schlagen des mit Abstand am häufigsten strapazierten Tieres in seinem Werk, der Nachtigall. Der Autor kennt nun die Bedürfnisse nicht zuletzt seines weiblichen Lese-Publikums und lässt das Roman-Personal weidlich schluchzen und weinen. Eine ebenfalls leitmotivisch eingesetzte „Wasser-Harmonika“ ergänzt das feuchte Element der Augen durch das Spiel auf der Orgel mit tanzenden Fontänen. Ein Festival der Larmoyanz wird aufgeführt, optimiert für die Lektüre in Damenboudoirs. Gleichwohl ist die Erzählung wie der „Hesperus“ von bürgerlichen Ressentiments bestimmt. Hierzu gehört die Hof-Intrige gegen die Ehe Lianes mit Albano und dessen herzzerreißendes Entsagen. Misere und Verzicht konturieren die Geschichte. Nach Lianes Tod begleitet Albano den strengen Vater Gaspard auf einer Italienreise, um dessen Zuneigung zu gewinnen. Auf italienischem Boden erfährt er, dass es im Leipzig und Weimar   159

Westen viel Neues gibt, nämlich eine Revolution. Für die politischen Umwälzungen interessiert er sich ebenso wie für seine Geliebte, die in Spanien gebürtige Linda de Romeiro, deren Revolutionsheld der später hingerichtete Wortführer des dritten Standes, Mirabeau, ist. Bevorzugter Lesestoff der „Titanide“ sind denn auch französische Autoren wie Montaigne, Rousseau und Germaine de Staël. Gemeinsam mit der idealischen Linda erlebt Albano ein malerisch inszeniertes Erdbeben im Golf von Neapel, als wolle der Autor durch die Schilderung der topografischen Erschütterung die seelische Verbundenheit der beiden Reisenden betonen. Ein Brief Jean Pauls an Jacobi vom 8. September 1803 weist auf die Kernaussage des Romans hin: „Titan sollte heißen Anti-Titan; jeder Himmelsstürmer findet seine Hölle; wie jeder Berg zuletzt seine Ebene aus seinem Tale macht.“ Tatsächlich sind die Charaktere des Romans auf irdisches Scheitern angelegt. Die heilige Liane stirbt voller Todessehnsucht vor Albanos Augen; ihr Bruder, der Selbstmörder und Linda-Nebenbuhler Roquariol, findet erst im Tod seine Ruhe, und der verzweifelte Anhänger des Fichte-Schellingschen Idealismus sowie Swift-Verehrer Schoppe endet in den Fängen des Wahnsinns. Letztlich kommt niemand an das Ziel seiner Wünsche, und auch die Französische Revolution, an der zu beteiligen Albano anfangs gesonnen ist, bleibt lediglich ein interessanter Gegenstand für den Diskurs der Reisenden. Ein direktes Engagement bleibt aus. Außer dem Wasser als eines der Leitmotive spielen der kulturelle Nord-Süd-Gegensatz sowie die Macht der Musik eine wichtige Rolle in der Gesamtkomposition. Gleich einem Fanal des Scheiterns wird die Ouvertüre von Mozarts „Don Juan“ auf der „Schlummerinsel des Prinzengartens“ aufgeführt, ertönen Flötentöne als Klangteppich des Erhabenen und des Todes, verkündet die schwarze Dohle ihr theatralisches Memento mori. Letztlich wird Albano ein Hauch von Glück zuteil, wenn er, nach den trüben Erfahrungen mit Liane und Linda, in Idoine eine idealische Geliebte, in seiner Schwester Julienne eine würdige Verwandte findet. Das Schlusstableau mit Edelmenschen am Ende des vierten Bandes versöhnt den Leser mit all dem Ungemach und intriganten Widrigkeiten, die ihn bisher im Stile eines Schauerro160  4. Kapitel

mans mit aberwitzigen Verstrickungen unterhalten haben. Ein erster Kuss unter schimmerndem Monde beschließt den Roman – vermutlich eine Reminiszenz an das Erlebnis der ersten Liebesbezeugung mit dem Mund, das Jean Paul seit Schwarzenbach als Kleinod in seinem Erinnerungsschatz verwahrte. Der „Komische Anhang zum Titan“ enthält neben erläuternden Informationen, wie dem Hinweis auf die Identität Schoppes mit Leibgeber, bittere Reflexionen über Jean Pauls Migräne-Leiden, das ihn schier an den Rand der Verzweiflung brachte und dem er als wirksames Gegenmittel außer Alkohol nur duldsames Ertragen und eine selbstironische Beschreibung der Qualen entgegenzusetzen wusste. Zweifellos wurde das Kopfleiden psychisch durch den unbedingten Willen verstärkt, das Publikum abermals durch einen erfolgreichen Roman zu überzeugen. Tatsächlich verzichtete er auf keine der ihm zu Gebote stehenden literarischen Techniken, um den Leser über hunderte von Seiten in den Bann der Erzählung zu ziehen. Geistererscheinungen, einsame Mönche, Familien-Geheimnisse, enigmatische Anweisungen und Testamente, kryptische Prophetie, grandiose Visionen, tragische Verwechslungen, Liebes- und Todesdramatik bieten eine Szenerie voller Theatralik und Seelenpathos, die freilich nicht selten die Grenze zum Kitsch streift. Verleger Matzdorff verwendete als Druckschrift für den „Titan“ die moderne Fraktur des klassizistischen Typographen Johann Friedrich Unger, mehrfach ließ sich Jean Paul Druckproben vorlegen. Am 19. September 1799 erhielt Matzdorff das Manuskript des ersten Bandes, der mit einer schlicht gestalteten Titelseite im Frühjahr 1800 in Berlin erschien. Im Dezember folgte das Manuskript mit dem ersten „Bändchen“ zum „Komischen Anhang“, und am 20. Januar 1800 erschien die Widmung an das „Schwesternkleeblatt“, die „vier schönen und edeln Schwestern auf dem Thron“, nämlich die Herzogin von Hildburghausen und ihre drei Schwestern – eine Reverenz an die angenehmen Aufenthalte in der thüringischen Residenz. Die preußische Königin Luise, älteste Schwester der Hildburghauser Herzogin Charlotte, erhielt ebenfalls ein Widmungsexemplar.

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Der Publikumserfolg blieb jedoch aus, die Fachwelt reagierte zwiespältig. So äußerte sich ausgerechnet Jacobi ungünstig über den ersten Band. Oertel urteilte in einer Leipziger Fachzeitung positiv, aber insgesamt wurde der für Jean Paul ungewohnte, stellenweise gezwungentheatralisch wirkende Schreibstil als befremdlich empfunden. Hier erzählte (trotz zahlreicher Bezüge auf seine früheren Schriften) nicht jener Jean Paul, der die alltäglichen Irrwege der Spießbürger so trefflich zu persiflieren verstand. Das wichtige Rezensionsorgan „Allgemeine Deutsche Bibliothek“ brachte ebenfalls eine ungünstige Besprechung. In einem Brief an Thieriot vom 16. Januar 1802 lamentierte der Gescholtene mit harschen Worten über den „Rezensier-Dachsschliefer“ Friedrich Nicolai, der in seinen Bau hineinbellt. Allerdings stammte die Besprechung nicht aus der Feder des Herausgebers Nicolai, sondern aus jener eines Gothaer Historikers. Wenig überraschte hingegen die negative Kritik durch den notorischen Querulanten Garlieb Merkel. Als Vertreter der jungen Literaten verspottete Ludwig Tieck im „Poetischen Journal“ Jean Pauls Prüderie. Selbst Christian Otto bemängelte die Sprunghaftigkeit der Handlung, und Freund Knebel vermisste den humoristischen Anstrich des „Fixlein“. Eine typisch weibliche Verehrerin Jean Pauls, Herders Tochter Luise, bevorzugte ebenfalls den „Hesperus“, aber ihr Vater lobte den „klassischen Stil“ des ersten Bandes. Zunehmend fühlte sich Jean Paul in Weimar am unrechten Ort. An dieser Empfindung konnte auch die Beziehung zu Henriette von Schlabrendorff wenig ändern, eine „erotische Verbindung, aber ohne Konsequenzen“, wie er am 7. September 1800 in einem Brief notierte. Die 25-jährige, bildhübsche, unlängst geschiedene Mutter zweier Kinder öffnete ihren Busen vor Jean Paul – und zwar im wörtlichen Sinne. Gemeinsam „bewohnt“ man das Kanapee, aber die ungebetene Bloßlegung erotischer Hautpartien sowie der Wunsch „an mir zu schlafen“ beschränkte sich auf eine Trockenübung, wie der Umworbene in einem Brief an Christian Otto vom 11. September vermerkte. Eine gemeinsame Reise mit der Gräfin nach Gotha, ihre beeindruckenden botanischen Kenntnisse, literarische Kompetenz sowie ihre körperliche Schönheit vermochte den eisigen Panzer des eingefleisch162  4. Kapitel

ten Junggesellen nicht zu schmelzen. Jean Paul und Henriette von Schlabrendorff verband später immerhin eine lebenslange Freundschaft und ein regelmäßiger Briefwechsel. Obwohl an Bewerberinnen kein Mangel bestand, ließ sich in Thüringen für den „physischkalte[n] und moralisch-heis[s]en“ Hagestolz keine passende Partnerin finden. In Weimar hatte nicht nur seine Menschenkenntnis zugenommen, sondern auch sein Körpergewicht. Die Korrespondenz enthält vielfach Anspielungen auf die zunehmende Fettleibigkeit des Mittdreißigers. So heißt es in einem Brief vom 27. Januar 1799 an Christian Otto: „Ich werde immer dicker“. Er war behäbig geworden in der Residenzstadt, bewegte sich immer weniger, bevorzugte häusliche Zurückgezogenheit. Schreib- und Esstisch, Sofa und Bett waren seine bevorzugten Aufenthaltsorte. Der Konsum des Gerstensaftes nahm im alkoholfreudigen Weimar ständig zu, die Briefe an Otto enthalten bierphilosophische Meditationen von hohem Kenntnisstand. So wähnt er durch das am Ort erhältliche englische Gebräu seine Gesundheit bedroht und erbittet von Christian Otto die Anlieferung fränkischen Bieres: „Jeder Preis ist mir gleichgültig. Frage doch Emanuel“, heißt es am 26. Juli 1799. Umständlich werden die Modalitäten zur Bierlieferung aus Bayreuth verhandelt. Von Schlichtegroll in Gotha erhält er Weizenbier, endlich treffen auch aus Bayreuth Fässer ein. Allein der Alkohol vermag das „mörderische Nervenübel“ namens Migräne zu vertreiben. Zugleich ist das Bier ein geeigneter Treibstoff für die Höhenflüge seiner ausschweifenden literarischen Fantasie und somit Grundlage seines Broterwerbs. Jean Paul besuchte Wieland in Oßmannstedt und verkehrte weiterhin im Hause Herder. Die Affäre um Caroline von Feuchtersleben war seit Sommer 1800 endgültig beendet. Aber seine persönliche Situation war beklagenswert: Dem ersten Band des geplanten Hauptwerks „Titan“ blieb der Erfolg versagt, auch war ihm die Missgunst der Kollegen ebenso leid wie der ständige Klatsch. Zudem missfielen ihm die häufig peinlichen Einlassungen seiner Brüder. Man lese nur den Brief an Christian Otto vom 24. Oktober 1800, um einen authentischen Eindruck von den bitteren Gehässigkeiten zu erhalten, Leipzig und Weimar   163

welche die Stimmung in Weimar vergällten. So sprach der scharfzüngige Friedrich Schlegel Wieland das poetische, Jacobi jegliches philosophische Talent ab. Herder beschimpfte Schleiermacher und Tieck, während Wielands Meinung ständig schwankte. Seine Zuneigung zu Herder, Wieland, Anna Amalia, die geselligen Abende in der Superintendentur und im Hause von Kalb vermochten seine zunehmende Abneigung gegen das bornierte Kulturgehabe nicht zu mindern. Er kannte nun die Geistesheroen persönlich und war hinreichend desillusioniert. Es spricht für die Integrität von Jean Pauls Charakter, dass er das Meinungsbabylon Weimar verließ.

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5. Kapitel

In Berlin und Potsdam Seit 1793 hatte Jean Paul in Briefen den Wunsch zu einer Reise nach Berlin geäußert und war mehrfach von Verleger Matzdorff eingeladen worden. Doch erst sieben Jahre später, im Frühsommer 1800, kam es zu einem Besuch in der Residenzstadt. Die Straße „An der Stechbahn“, wo Familie Matzdorff eine Buchbinderei und einen Buchhandel betrieb, lag gegenüber dem Königlichen Schloss. August Carl Matzdorff, Sohn eines Buchhändlers, hatte in Halle Theologie, später in Jena Philosophie studiert. Nach einer Buchhändlerlehre in Gotha wurde er im Jahre 1790 durch den preußischen König zum Verlagsund Sortimentsbuchhändler privilegiert. Matzdorff verlegte belletristische, populärwissenschaftliche und lokalhistorische Werke, Kinderund Jugendliteratur sowie den „Berlinischen Musenalmanach“. Der Kommerzienrat war mithin ein führendes Mitglied der heute als „Berliner Klassik“ bezeichneten Kulturperiode, die sich seit dem frühen 18. Jahrhundert in der Haupt- und Residenzstadt herausgebildet hatte. Mit Gründung der „Kurfürstlich-Brandenburgischen Societät der Wissenschaften“ im Jahre 1700 sowie von Verwaltungs- und Kulturinstitutionen hatte sich Berlin zu einer führenden Metropole der europäischen Aufklärung entwickelt, die freilich im Verdacht eines „trockenen“, oberflächlichen Rationalismus stand. Insbesondere das Oberhaupt der Berliner Spätaufklärung, der Schriftsteller, Kritiker und Verlagsbuchhändler Friedrich Nicolai, galt als „seichter“ Vertreter seiner Zunft. Jean Paul, der am 23. Mai 1800 über Leipzig anreiste, traf Nicolai bereits fünf Tage nach seiner Ankunft anlässlich eines Diners bei Matzdorff. Das gängige Vorurteil, der fast siebzigjährige Nicolai sei so langweilig wie seine Werke, fand Jean Paul bestätigt, wie er am 1. Juli an Christian Otto schrieb. Die Sirene, welche ihn nach Berlin lockte, trug den Namen Josephine von Sydow. Die gebürtige Französin, eine glühende Verehrerin von Jean Pauls Werken, hatte in jungen Jahren gemeinsam mit ihrem In Berlin und Potsdam  165

Mann Frankreich in Richtung Berlin verlassen, wo sie zwei Kinder zur Welt brachte. Nach der Scheidung heiratete sie einen Offizier von Sydow und zog sich auf dessen Landgut in Hinterpommern zurück. Dort lebte sie für die Literatur, schrieb leidenschaftliche Briefe sowie schwärmerische, anonym veröffentlichte Berichte in französischer Sprache über ihre Reise von Südfrankreich nach Berlin. Ihr erster Brief an Jean Paul vom 5. April 1799 offenbart die Konfession einer zutiefst unglücklichen Frau. Von der „schönen Seelenschwester“ erhielt er schließlich ein Selbstporträt, der Umworbene konterte galant mit dem Hinweis auf ihre „französische Jugend-Schönheit“. Die erste persönliche Begegnung erfolgte Ende Mai 1800 in Berlin, Josephine brachte ihre Tochter mit. Das Treffen verlief jedoch enttäuschend. In einem Brief an Otto äußerte Jean Paul ein eher zweifelhaftes Lob über Josephines „Südliche Naivetät (bis zum Komischen)“. Allmählich versiegte die Korrespondenz. Ihr letzter Brief an den Dichter vom 18. September 1803 spricht abermals von Vereinsamung und Enttäuschung am Leben und den Menschen. Den Plan, Jean Pauls Werke ins Französische zu übersetzen, verwirklichte sie nicht. Josephine von Sydow war eine der typischen Bewerberinnen um die Gunst und Kunst Jean Pauls. Es handelte sich zumeist um gelangweilte adlige Damen, wie Juliane Krüdener, Emilie von Berlepsch und Charlotte von Kalb, die sich nach einem unterhaltsamen, intelligenten Konversationspartner sehnten und dabei den Inhalt und Stil seiner Werke mit dem Charakter des Autors verwechselten. Eine weitere typische Verehrerin der jüngeren Generation war die Berlinerin Wilhelmine Christiane von Klencke, eine Enkelin der bekannten Schriftstellerin Anna Luisa Karsch. Die Lektüre des „Hesperus“ hatte das Mädchen für Jean Paul entflammt. Eine Begegnung zwischen Verehrerin und Autor fand am 3. Juni statt, danach folgten nur noch gelegentliche Treffen. Wilhelmine war indes nur eine Nebenfigur in der stattlichen Frauenparade, die Jean Paul in Berlin abschritt. In einem Brief vom 29. Juni an Christian Otto heißt es: „Ich besuchte keinen Gelehrtenklub … aber Weiber die Menge. Ich wurde angebetet von Mädgen, die ich früher angebetet hätte“.

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Eine weibliche Person, welche seine offene Bewunderung fand, war Königin Luise von Preußen. Eine persönliche Begegnung mit der Monarchin, etwa anlässlich seines Besuches in Hildburghausen bei Luises Schwester, Herzogin Charlotte, war ihm bisher versagt geblieben, der Kontakt hatte sich auf die Zusendung eines Widmungsexemplars des „Titan“ beschränkt. Nun durfte er sich einer Einladung durch die Königin nach der etwa 25 Kilometer von Berlin entfernten Residenz und Garnisonsstadt Potsdam erfreuen, wohin seit einigen Jahren die erste befestigte Landstraße Preußens führte. Auf Schloss „Sanssouci“ nahm er an einem Gastmahl teil. Insgeheim lockte ihn jedoch nicht nur die Aussicht auf gepflegte Geselligkeit mit höfischem Rang, sondern auch die Hoffnung auf die Erteilung einer Präbende, eines dauerhaft gewährten fürstlichen Unterhalts aufgrund seiner dichterischen Leistungen. Durch Vermittlung der Königin, einer begeisterten Leserin seiner Werke, hoffte er deren Gatten, den als äußerst sparsam bekannten König Friedrich Wilhelm III., für eine dauerhafte finanzielle Zuwendung gewinnen zu können. Die Zusage durch den Hof hätte seine finanzielle Situation stabilisiert und die Heiratspläne befördert, jedoch ließ eine Entscheidung auf sich warten. Die Geselligkeit kam nicht zu kurz in Berlin. Theaterbesuche standen ebenso auf dem Programm wie literarische Kontakte, etwa zu der jüdischen Schriftstellerin Esther Bernard, die er drei Jahre zuvor anlässlich eines Besuches in Franzensbad persönlich kennen gelernt hatte. Man führte ihn in verschiedene Diskussionszirkel ein, wozu auch der Salon von Rahel Levin gehörte, die ihn zur Verlängerung seines Aufenthaltes in der preußischen Residenzstadt bewegen konnte. Es war allerdings nicht viel Überredungskunst aufzubringen, um ihn in Berlin zu halten, denn die 23-jährige Tochter des Obertribunalrats Mayer, eines Justiziars bei der höchsten Gerichtsbarkeit Preußens, hatte sein Herz gewonnen. Caroline Mayer erwiderte Jean Pauls Zuneigung, aber eine endgültige Zusage zu dieser Verbindung blieb dem Vater vorbehalten, denn das Mädchen hatte bereits einen Freund. Eine „Lust-, Land-, Wasser- und Frühlingspartie“ nach dem Ausflugsort Pichelswerder nahe Spandau an der Havel vertiefte die Bekanntschaft. In Berlin und Potsdam  167

Jean Pauls erster Aufenthalt in Berlin hatte die endgültige Absage an eine Ehe mit Caroline von Feuchtersleben zur Folge. Auch der Sturmangriff auf seine Tugend durch Henriette von Schlabrendorff, mit der er gemeinsam eine Reise nach Gotha absolvierte, vermochte ihn ebenso wenig von dem Plan einer Heirat mit Caroline Mayer abzubringen, wie die warnenden Töne aus Halberstadt, wo der Hagestolz Gleim dringend vor einem Ehebund abriet. Gleim beschwor seinen jungen Freund geradezu, auf die Verbindung zu verzichten, auch wenn die Braut noch so jung und hübsch sei. Er bot ihm Geld, ein eigenes Haus, ja sogar eine Professur in Halberstadt, aber alle Verführungskunst fruchtete nicht. In einem Brief vom 14. Juni 1800 informierte Jean Paul dem entschiedenen Ehe-Skeptiker über den Vorteil einer Heirat: Die „Ehe ist meinem Glück und meinem Gewissen unentbehrlich … denn ich kenne jetzt die Dornen an jenen Prachtsund Farbdisteln, die man genialische Weiber nennt.“ Er sehnte sich nach „häuslicher Stille“ und einem „liebende[n] sorgende[n] Mädgen“, dessen hauswirtschaftliches Engagement seinem Schreibmarathon den erforderlichen logistischen Rückhalt bieten würde. Jean Paul verließ Berlin am 24. Juni mit der festen Absicht, in der kulturell inspirierenden Stadt für längere Zeit zu wohnen und Caroline Mayer wiederzusehen. Auf der Rückreise nach Weimar lernte er seinen späteren Schwager, den Liederkomponisten und Musikschriftsteller Johann Gottlieb Karl Spazier kennen, der in Dessau das Gymnasium leitete und die „Zeitung für die elegante Welt“ herausgab. Zu den Weimarer Schreibfrüchten gehören zwei als Zeitschriftenbeiträge konzipierte Erzählungen, die Anfang 1801 beim Bremer Verlag Friedrich Wilmans als eigenständiger Band erschienen. Als besonders publikumswirksam erwies sich „Das heimliche Klagelied der jetzigen Männer“, in welchem der fiktive Verfasser aus der ebenso fiktiven Spießerstadt Krehwinkel die Ungewissheit der Väter über die wahre natürliche Abstammung ihrer Kinder betrauert. Diese Unsicherheit wird am Beispiel des liebestollen Konsistorialrats Perefix thematisiert, der mit Madame Traupel die Ehe bricht, aber auch die liebliche Ninette nicht verschmäht. Nach einem anrührend geschilderten Konzert, bei dem Wolfgang, der invalide Sohn von Perefix, mit der 168  5. Kapitel

Flöte den nachtigallgleichen Gesang einer Rousseau-Arie durch die Adoptivtochter Cara begleitet, enthüllt sich das „verpestende“ Familiengeheimnis: Die an Kindes statt angenommene Cara ist in Wahrheit die Tochter des Geistlichen. Diese für Jean Pauls Erzählstil charakteristische Durchflechtung von idyllischen und abgründigen Motiven birgt ebenso viel barocke Kontrastfreudigkeit wie die Geschichte „Die Wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht“, welche der Verfasser anlässlich eines nachmittäglichen akuten Migräneschubes auf seiner Schreibstube im „Schlößlein von Mittelspitz“ zu Papier bringt. Es ist indes nicht bekannt, ob sich hinter den obskuren Masken und Charakteren der Geschichte etwa Protagonisten der Weimarer Gesellschaft verbergen. Des rot geschminkten Teufelsadjunkts Peifenberger Philosophie des „vernünftigen Frostes“, einer Zukunft ohne Gott und Altar, stellt jedenfalls auch moderne Atheismen in den fröstelnden Schatten. Die „wunderbare Gesellschaft“, welche dem leidenden Autor erscheint, besteht, seltsam genug, aus einem kleinen Jüngling mit Bart, einem zweijährigen Knaben, einer mit einer Lancaster-Rose bestückten Jungfrau, einem Magerwesen im feuerroten Koller sowie dem Satansduplikat Pfeifenberger. Dieses groteske Fastnachtsensemble spricht zu dem Autor, wobei namentlich der Rotgeschminkte das Bild einer modernen Welt mit Visionen von gleichsam apokalyptischem Ausmaß entwirft. Die Metapher von der „schwindelnd ineinander laufende[n] Uhr“ scheint einem Gemälde von Salvador Dalí vorzugreifen, während vielfältige Anspielungen auf die Bibel die prophetische Bildhaftigkeit eines Jeremia, Daniel oder Johannes evozieren. Die Schrecken einer hochgradig arbeitsteiligen, globalisierten Gesellschaft werden ebenso ausgemalt wie die Kälte und das Hasard einer überaufgeklärten Kultur, in der tradierte Inhalte wie Spielbälle gehandhabt werden. Schließlich erkennt sich der Autor selbst im Spiegel vor dem Hintergrund einer Weltgemeinschaft, deren seelische Kälte im umgekehrten Verhältnis zur Verbesserung ihrer technischen Ausstattung und einem steigenden Lebenskomfort steht. Unter den prophetischen Visionen Jean Pauls nimmt „Die wunderbare Gesellschaft“ vielleicht den höchsten Rang ein. Den Text prägt eine Bildsprache, die Schaudern macht, voller In Berlin und Potsdam  169

gedanklicher und seelischer Selbstentblößung eines Autors, dessen düstere Suggestionskraft den Leser bannt. Die Erzählung wurde jedoch vom Publikum kaum gewürdigt, eine zweite Auflage erschien nicht. Ende September löste Jean Paul seine Wohnung in Weimar auf und reiste zunächst nach Dessau, um Minna Spazier, die Schwester Caroline Mayers, nach Berlin mitzunehmen, wo man am 3. Oktober 1800 eintraf. Diesmal wohnte er bei seinem Freund Georg von Ahlefeldt in der Neuen Friedrichstraße 22, nahe der Friedrichsbrücke. Den seit einigen Jahren recht leidenschaftslos als Justizassessor amtierenden, von ständiger Geldnot heimgesuchten Ahlefeldt hatte Jean Paul Anfang Januar 1796 in Hof kennen gelernt. Der Berliner besuchte dort den „genialischen Humoristen“, gemeinsam leerte man eine „Flasche des schönsten Champagners“, wie Ahlefeldt am 15. November 1796 an die von ihm verehrte Wilhelmine von Kropff schrieb. Die beiden Freunde korrespondierten häufig und begegneten sich mehrfach in Bayreuth und Hof. Zum Kreis von Ahlefeldt gehörte auch Jean Pauls späterer Schwager, der Schriftsteller und Verleger der „Leipziger Zeitung“, Siegfried Mahlmann. Der Junggeselle Jean Paul hat sich über wenige Themen so lustig gemacht, wie über die Ehe. Man lese nur das 24. Kapitel des „Siebenkäs“, wo es heißt: „die Ehe überbauet die poetische Welt mit der Rinde der wirklichen“. Ähnlich abschätzige Gedanken über die Heirat enthält das Werk Jean Pauls zuhauf, aber der Enddreißiger begann umzudenken. Eine Voraussetzung für die Ernsthaftigkeit der Partnersuche war indes, dass er sich hinfort jeglichen Tändeleien mit exaltierten Kulturliebhaberinnen enthielt, denn der hauswirtschaftlich-logistische und emotionale Rückhalt ist à la longue für den Autor wichtiger als ständige elaborierte Diskurse im eigenen Heim. Aus dieser Sicht war die Weitsichtigkeit seiner Wahl kaum zu überschätzen. Am 11. Mai 1801 schwärmte er gegenüber Christian Otto, dass seine Braut Caroline, diese „Heilige im eigentlichen Sin“, nicht nur das Überirdische und die Poesie anbete, sondern zudem zutiefst uneigennützig sei. „Fleis aus Pflichtliebe“ sei ebenso ihr Kennzeichen wie die Kosten sparende Fähigkeit, ihre eigenen Kleider selbst nähen zu können. Caroli170  5. Kapitel

nes „vollendete Resignazion“ bezauberte ihn zutiefst, vor dieser ebenso fleißigen wie devoten Frau glaubte er unangefochten seine Vorherrschaft als „eines Weibes Haupt“ beanspruchen zu können. Tatsächlich war die Braut keine jener „poetischen Tugend-Virtuosinnen“, welche bisher im Fokus seines Interesses gestanden hatten. In Caroline hatte er eine „prosaische Virtuosin“ des Alltags „erwischt“, wie es rückblickend am 6. Januar 1811 gegenüber Emanuel heißt. Caroline ihrerseits mangelte es an Selbstvertrauen für die Ehe. Sie fühlte sich seiner nicht würdig, befürchtete „seine Liebe nicht fesseln zu können“ und hielt sich auch nicht für „die allerklügste und allerschönste“, wie Jean Paul in einem Brief vom 11. Mai an Otto bemerkte. Diese Frau, so spürte er, war für ihn als Ehepartnerin geeignet wie keine andere, er zog alle Register, um Caroline zu gewinnen. In der Braut, „philosophisch-gebildet … durch des edeln Vaters lange Erziehung“, wie er nicht ohne Stolz am 2. Januar 1801 an Jacobi schrieb, fand er jene Mischung aus Häuslichkeit, Tugendliebe und Gelehrsamkeit, die seinen Rückzugsplänen in ein „Schreibeloch“ entgegenkamen. Einer seiner ersten Besuche nach der Rückkehr in die Residenzstadt galt denn auch der Familie von Geheimrat Mayer. Zur Lektüre empfahl er der Braut die „Palingenesien“ und umgarnte den „kantischen Schwiegervater“, der „als Mensch liberal und sanft, ja sogar temporisierend“ war, wie in einem Brief vom 21. Juli 1801 an Jacobi verlautet. Zweifellos bedeutete die neue Verwandtschaft nicht nur privat, sondern auch gesellschaftlich einen Glücksfall für Jean Paul, denn durch das Verhältnis zu Mayers ergaben sich weitreichende Kontakte, wie zur Familie Spazier. Freilich standen der Heiratsabsicht nicht unerhebliche Widrigkeiten entgegen. So musste sich Caroline von ihrem aktuellen Freund trennen, zudem mussten die Zweifel des argwöhnischen Schwiegervaters hinsichtlich der finanziellen Ausstattung des Bewerbers beseitigt werden. Der Tribunalrat wollte seine Tochter keinesfalls einem Habenichts anvertrauen. So offenbarte Jean Paul am 15. März 1801 schriftlich seine finanziellen Verhältnisse: Zu seinen Außenständen gehörte eine „königlich-preußische Schuldverschreibung“ Caroline Herders über 100 Konventionstaler (von der ihr Mann keine Kenntnis hatte, In Berlin und Potsdam  171

da sie den Kredit heimlich für ihre Söhne verwendete) sowie von Ahlefeldt über 100 Reichstaler. Als Fazit bemerkte Jean Paul über seine dürftige finanzielle Situation: „Ich wäre reicher, wenn ich früher den merkantilischen Werth meiner Mspte. [Manuskripte] angesezt hätte“. Auch der Einkauf in eine Witwenkasse war im Gespräch. Trotz der wenig überzeugenden finanziellen Lage des Bewerbers war der Würfel zu seinen Gunsten gefallen. Einen Tag, nachdem er offiziell um die Hand der Geheimratstochter anhielt, wurde die Ehe durch das Familienoberhaupt gutgeheißen. Am 23. November 1800 erschien die Verlobungsanzeige, worauf die zutiefst enttäuschte Henriette von Schlabrendorff psychosomatisch erkrankte. Gegenüber Caroline Herder (die vermutlich insgeheim weiterhin auf eine Verbindung Jean Pauls mit Caroline von Feuchtersleben hoffte) erklärte er am 12. Januar 1801 brieflich seine Entscheidung zugunsten der Berliner Caroline, denn die preußische Namensschwester vereinte sämtliche Vorzüge der ersteren, ohne deren charakterlichen Fehler zu teilen. Auch von einem beabsichtigten Rückzug aus Berlin war in dem Brief die Rede, um sich endlich ungestört dem Schreiben widmen zu können. Familie Herder, in frischer Erinnerung des Streites in Ilmenau, zeigte sich verständig. Der Weimarer Geistliche annoncierte die Heirat seines Freundes in einer „Proklamation“ genannten Abkündigung von der Kanzel, so dass seine Verehrerinnen offiziell über ihre verpassten Chancen informiert waren. Zum Pfingstfest am 27. Mai wurde die Hochzeit in Potsdam vollzogen. Von Königin Luise erhielt das junge Paar als Geschenk ein silbernes Teeservice. Aber nicht nur Jean Paul und Caroline schwebten im siebenten Himmel, sondern auch ein Held seiner Erzählungen. Anderthalb Dekaden nach dem ersten bemannten Freiflug bei Paris erkor der deutsche Dichter eine „aereostatische Maschine“ zum geeigneten Verkehrsmittel des „über ganz Deutschland (in der Montgolfiére) wegschiffenden Giannozzo, eine[s] wilden Menschenverächter[s]“, dessen Auffassungen freilich zumeist deckungsgleich sind mit der Meinung des Autors, wie er in einem Brief vom 23. Januar 1801 an Christian Otto freimütig bekannte. Tatsächlich handelt es sich bei dem „Schwarzkopf in grünem Mantel“ mit dem italienisch klingenden Na172  5. Kapitel

men um einen Misanthropen ungewöhnlichen Kalibers, welcher sich der Luftsphäre lieber anvertraut als den Menschen. In der ersten deutschsprachigen Flugschilderung, „Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch“, wird dem Leser in vierzehn Fahrten der exakte Luft-SchiffsFlugplan mitgeteilt: Das Startmanöver erfolgt am ersten Pfingsttag vor dem Leipziger Peterstor, danach verläuft die Reise über Lützen, das fiktive Fürstentum Vierreuter, das Satuniarerland, Wien, das Seifersdorfer Tal bei Dresden, Mülanz, die Republik Baden, Schwaben, Straßburg sowie über Orte aus dem „Titan“. „Luftschiffer Giannozzo“ ist ein Teil des „Komischen Anhang zum Titan“, der unter anderem tiefsinnige, auf die „Vorschule der Ästhetik“ vorausweisende Gedanken zu Herders und Hamanns Prosa enthält. Die Luftfahrt-Geschichte erschien mit dem zweiten „Titan“Band zu Ostern 1801. Vielfältig sind die wechselseitigen Bezüge zwischen dem Hauptroman und der Nebengeschichte. Der Luftschiffer gehört zweifellos zum erweiterten „Titan“-Personal, dessen bevorzugte Aufenthaltsorte er nicht zufällig überfliegt. Der häufig eingestreute Klamauk mit Slapstick-Einlagen, wie der „Frosch- und Mäusekrieg im Novitätentempel zu Vierreuter“ in der „Zweiten Fahrt“, darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Erzählung vom ersten bis zum letzten Satz von Todes- und Resignationsmotiven beherrscht ist. Am Himmel Mitteleuropas gleitet ein zutiefst Enttäuschter, ein Ergrimmter, der mit der Welt abgeschlossen hat. Nicht mehr im Diesseits, aber auch (noch) nicht dem Jenseits zugehörig, schwebt Giannozzo langsam und gleichmäßig über die Welt der geistigen und körperlichen Gemetzel hinweg. Unterhalb der Heiterkeitsebene spürt der Leser die Verletzung des Autors über giftige Rezensenten und die Resignation über die Eitelkeit des menschlichen Handelns. Sobald das niedrig fahrende Luftschiff mit Gebäuden kollidiert, wiederholt sich für Giannozzo das Trauma der Menschennähe. Der als „Frosch- und Frankenritter“ geehrte Aeronaut ist froh, wenn die seelischen Verletzungen nicht zu tief sind, welche ihm das irdische Personal bereitet. Hingegen behagt ihm die Strandung am Brocken, wo ihm der Teufel persönlich die klügste Rede hält, welche Giannozzo jemals vernommen hat. Einsam und daIn Berlin und Potsdam  173

seinsfremd schifft er weiter, hört unten im „Titan“-Ort „Flötental“ die Nachtigallen schlagen, aber weder das liebliche „Lilar“ noch die „Fantaisie“ bei Bayreuth vermögen Trost zu spenden. Die Meerbeschreibung der „Elften Fahrt“ erinnert an die suggestive Düsternis eines Gemäldes von Caspar David Friedrich, während die häufigen humoristischen Anspielungen auf das eigene Werk sowie der gleichsam kontrapunktisch eingefügte Sentenzen-Reigen der Erzählung stellenweise ein durchaus heiteres Flair verleihen. Aber der Grundton ist dunkel, die Fröhlichkeit erstickt unter Klagen. Schon bald ahnt der Leser, dass Giannozzo ein Todgeweihter ist, geistig und körperlich. Er erfährt die letzte Entfremdung – kreisend wie ein hungriger Adler über dem Gebirgsmassiv des Montblanc, dem die fiebernde Fantasie einen nährenden Diamant vorgaukelt, dessen Genuss ihn unvermeidlich tötet. Die Erzählung drückt Jean Pauls Gefühl der Vereinzelung aus, denn trotz aller gesellschaftlichen Einbindung vermochte er die Rolle des Außenseiters niemals wirklich zu überwinden. Die Ehe diente ihm als ein Mittel, um sich endgültig von den Weimarer und Berliner Eitelkeitszentren in einen ländlichen Zufluchtsort zurückziehen zu können. Mit dem Tod des Luftschiffers hat Jean Paul sein Einzelgängerdasein hinter sich gelassen, das er freilich bis zu einem gewissen Maß auch genossen hat. Giannozzo musste so unsanft und drastisch sterben wie Ikarus, damit sich Jean Paul häuten konnte. Die Hülle des „großherzigen Jünglings“ Giannozzo strandet denn auch im Hochgebirge, wo Jean Paul sie begraben wissen wollte. Herder lobte die Erzählung in einem Brief vom 15. Juli 1801 „als eine Geburt wahrer jugendlicher Lustigkeit“. Dieses grobe Fehlurteil ist wohl darin begründet, dass der oberflächliche Simultanleser Herder weder den „Giannozzo“ noch den „Titan“ wirklich gründlich studiert hatte. So blieb ihm verborgen, dass die Erzählung gleich einem barocken Gemälde die goldene Heiterkeit vor einem unheiligen Schwarzgrund zeichnet, dessen Schatten jegliche Hoffnung zu verfinstern drohen. Trotz dieser bei Jean Paul unterschwellig vorhandenen Neigung zur Einsamkeit stand er in Berlin im Zentrum der gesellschaftlichen Aktivitäten. Besuche von Salons und Theatervorstellungen gehörten zum 174  5. Kapitel

Tagesprogramm. Er lernte die politische und kulturelle Führungsschicht der preußischen Hauptstadt persönlich kennen, wie den Kriegsminister Graf von Alvensleben und den Schauspieler Iffland. Vor allem faszinierte ihn jedoch der Kreis der Romantiker. Dazu gehörten der gerade den Roman „Lucinde“ schreibende Dichterphilosoph Friedrich Schlegel, der Sprachforscher und Satiriker Bernhardi, der wohl vielseitigste Dichter der Frühromantik, Ludwig Tieck, sowie der von ihm besonders geschätzte Charité-Prediger und Theologe Friedrich Schleiermacher, dessen „Reden über die Religion“ gerade publiziert wurden. Mitte Januar 1801 begegnete Jean Paul einem Mann mit „Granitstirn und Nase, so knochig und felsern“, dessen Schriften von Herder in Briefen vom Dezember 1799 als „Wahnsinn“ gescholten wurden. Johann Gottlieb Fichte war spätestens seit der Schrift von 1792 „Versuch einer Kritik aller Offenbarung“ des Atheismus verdächtig und damit von strafrechtlichen Konsequenzen bedroht. Seitdem der Jenaer Philosophieprofessor auf Drängen Kursachsens aufgrund des Atheismusstreits der Jenaer Dozentur enthoben worden war, galt Fichte als prominentester Vertreter seiner Zunft. Der mit Jean Paul fast gleichaltrige, durch Heirat wohlhabend gewordene Philosoph privatisierte in Berlin. Man fand Gefallen aneinander, besuchte sich gegenseitig, lästerte über die neuesten Dramen Goethes und ließ die Korken knallen. Für Jean Paul war die Freundschaft freilich prekär, denn seit Dezember 1799 lag das Manuskript „Clavis Fichtiana“ in seiner Schublade, eine polemische Kritik an Fichtes Werk. Gemeinsam mit Herder, Jacobi, Gleim, Wieland und anderen Vertretern der älteren Generation lehnte sich Jean Paul gegen die abstrakten Sprach- und Denkformen des Kantianismus und seiner Nachfolger auf, deren abstraktes Idiom dem Empfinden und Stil der Spätaufklärer zutiefst widersprach. Vor allem Fichtes Philosophie, welche die Wirklichkeit als Selbsterkenntnisprozess des transzendentalen Ichs versteht, das sich durch Reflexion mit dem Nicht-Ich zur Anschauung bringt, galt den Empirikern und Sensualisten als suspekt. Jean Paul las die Schriften Fichtes mit schwankenden Gefühlen und wechselte seit Dezember 1799 Briefe mit Jacobi und Herder, um die In Berlin und Potsdam  175

Hintergründe des Atheismusstreits zu erkunden. Die Person Fichte war ebenso umstritten wie dessen Werk, an dem sich die Geister schieden. Der überaus hohe Abstraktionsgrad des von seinem Lehrstuhl vertriebenen Weisheitslehrers wirkte anmaßend und provozierend. Obwohl sich Jean Paul gegenüber Herder und Jacobi kritisch zu Fichte äußerte, waren die kühnen Spekulationen und Ausflüge in die Abgründe des Denkens seiner eigenen Haltung nicht ganz fremd. Immer wieder las er die Werke des Denkers aus der Lausitz, um schließlich „im babylonischen Thurm des Fichteanismus“ festzusitzen, wie er am 7. Dezember 1799 an Thieriot schrieb. Zweifellos faszinierte ihn der „idealistische Hokuspokus“ mehr als er sich zunächst selbst eingestand. Der Appetit kam beim Essen. Altersmäßig eher der jüngeren Generation als derjenigen Herders zugehörend, fand Jean Paul zunehmend Gefallen an genialisch-kreativen Leuten wie Friedrich Schlegel, Bernhardi und Tieck, die jeweils besondere Ausformungen des Fichteschen Ichs zu sein schienen. Gegenüber Thieriot bekundete er unverhohlen seine Sympathie für die Berliner Romantiker: „Ich und die Schlegelsche Parthei rücken einander immer näher“, heißt es am 17. Januar 1801. Zwar verhielt sich die neue „Titanen“-Generation unbändiger als sämtliche Vorgänger, aber Jean Paul zeigte Verständnis. Wie ihn das Studium der Werke Jakob Böhmes lehrte, wird die sprachliche Anschaulichkeit nicht selten auf dem Altar der Spekulation geopfert. Jedenfalls waren die neuen Denker und Dichter origineller als etwa der seichte Modephilosoph und Kant-Epigone Kiesewetter, der das philosophische Vorbild seiner Frau Caroline war, wie er in einem Brief an Jacobi vom 21. Juli 1801 bemerkte. „Mit Fichte kralte ich mich oft 6 Stunden lang herum“, heißt es dort im Tonfall einer angenehmen Erinnerung. Fichte seinerseits, der anlässlich einer Reise nach Erlangen Charlotte von Kalb besuchte, äußerte brieflich am 11. April über Jean Paul, „daß mit Ihnen zu disputieren eine gute Übung wäre zum Versuch, wie und ob man auf der scharfen Ideen-Zinne beharrte, weil Sie oft abwichen.“ Einen grundsätzlichen Vorbehalt gegen Fichtes Lehre vermochte er nie völlig zu überwinden. An dem Vorwurf des „rohen Idealismus“ der Transzen-

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dentalphilosophen hielt er noch in einem Schreiben an Jacobi vom 28. Dezember 1806 fest. Nachdem Jacobi das „Clavis“-Manuskript kritisch gelesen hatte, überarbeitete Jean Paul es gründlich und publizierte den Text im März 1800 als Sonderdruck beim Erfurter Verleger Hennings. Zu Beginn der Schrift bekennt sich ausgerechnet der vom Roman „Siebenkäs“ weidlich bekannte anarchische Humorist Leibgeber, gemeinsam mit Schelling, als Anhänger der neuen Philosophie. Im Kern geht es Jean Paul um fachliche Kritik. In dem Abschnitt „Exercitationes über das Philosophieren insgemein“ bekennt sich der Autor jedoch darüber hinaus zu einem von Herder und Jacobi geprägten Sprach- und Denkverständnis, das Sinnlichkeit und Anschaulichkeit einfordert, welche er bei den Kantianern vermisst. Systeme jeder Art werden abgelehnt, der subjektive Idealismus Fichtes letztlich als eigenständiges Kunstwerk ohne Absolutheitsanspruch gewertet. Der „Clavis“ kulminiert denn auch in einer Paragraphensammlung, welche die Wissenschaftslehre auf köstliche Weise parodiert. Die satirische Nachahmung versteigt sich in die gleichsam scholastischen Denkabgründe ihres Vorbildes, hantiert mit kühnen Wortkonstruktionen, deren logische Stringenz ebenso abwegig erscheint wie ihre Schlussfolgerungen. Sein „alter Haß gegen die Wortwelt-Weisheit“ der Scholastik bezieht sich auch auf „diese größere kantische Antinomistik“, wie er in einem Brief an Jacobi vom 25. Januar 1816 schrieb. Für Jean Paul ist die idealistische Philosophie ein Luftschloss, das nachts zu bewohnen so lange komfortabel erscheint, bis der morgendliche Weckruf erschallt. Der Dialektik von Ich und Nicht-Ich setzt er in § 13 originelle Gedanken über „Vielgötterei und Viel-Icherei“ entgegen. Richtete sich Herders Kritik vor allem gegen die zunehmende Dominanz der Theologie durch die Philosophie, so ging es Jean Paul um die Bewahrung einer Sittenlehre, welche das persönliche Ich in der konkreten Verantwortung vor der Welt sieht. Ähnlich entfremdet wie „Luftschiffer Giannozzo“, versteht sich der Autor als ein Auswurf der Unendlichkeit. Allein das ethisch wertvolle Handeln vermag, wenn überhaupt, die Existenz des Einzelnen zu läutern.

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Gewiss handelte es sich beim „Clavis“ um eine grandiose Verkennung der Philosophie Fichtes, denn der frühe deutsche Idealismus war alles andere als die gottlose Selbstinszenierung einer intellektuellen Hybris. Im Gegenteil versuchte Fichte, ein neues Kapitel in der Gottesfrage zu öffnen, indem er die Offenbarung einer Fundamentalkritik unterzog. Trotz der philosophischen Differenzen blieben beide enge Freunde, sie leerten noch manches Glas miteinander, und einige Jahre später gab Fichte in Bayreuth zu, dass er nur wenige Blätter des Pamphlets gelesen habe, wie Jean Paul am 15. April 1805 gegenüber Jacobi bemerkte. Fast wollte Jean Paul über diese Mitteilung ungehalten reagieren, aber zu guter Letzt reichte man sich versöhnlich die „Schreib-Hand“. Die Sticheleien gegen die kühnen Spekulationen der Fichteschen Philosophie beschränkten sich indes nicht auf den „Clavis“. Auch der Roman „Flegeljahre“ geizt nicht mit satirischen Ausfällen gegen die unbändige Reflexionslust, wie im 12. Kapitel des 2. Bandes über die „Unechte Wendeltreppe“, wo der Satiriker Vult den „Realismus [als] Sancho Pansa des Idealismus“ bezeichnet. Zwei Kapitel später wird Fichte als trauriger Ritter Don Quijote beschrieben, der in dem komischen Epos namens Transzendentalphilosophie gegen die Windmühlenflügel der Wirklichkeit ankämpft. Die Niederschrift des Romans „Flegeljahre“ begann im Sommer 1795, also zwei Jahre vor dem ersten „Titan“-Band. Die Arbeit an der ursprünglich als Fortsetzung von „Quintus Fixlein“ konzipierten Erzählung über die Zwillingsbrüder Walt und Vult wurde jedoch immer wieder durch Arbeiten am „Titan“ unterbrochen, so dass der fertige Roman erst im Mai 1805 für den Druck bei Verleger Cotta vorlag. Die für die Werkentstehung bedeutendste Phase fiel in die Zeit von Jean Pauls Aufenthalt in Berlin. Bezüge auf die Residenzstadt enthält vor allem der zweite Band zuhauf, etwa im 45. Kapitel „Surinamischer Äneas“, wo auf die notorische Armut der preußischen Offiziere angespielt wird, die in den Wirtshäusern der Friedrichstraße nicht zu bezahlen brauchen, weil sie sowieso kein Geld haben. Im 59. Kapitel namens „Notenschnecke“ sendet das schreiblustige Brüderpaar das Manuskript des abstrusen Romans „Hoppelpoppel oder das Herz“

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(freilich vergeblich) ausgerechnet an Jean Pauls Intimfeind Merkel in Berlin, der den Text Herrn Nicolai empfehlen möge. Zum Ende seines Aufenthaltes in Berlin kündigte Jean Paul am 11. Mai 1801 voller Begeisterung an, dass die neue Erzählung seine humoristischen Vorgänger „vereinen und übertreffen“ würde. Tatsächlich handelt es sich bei den „Flegeljahren“ um das vielleicht bunteste, skurrilste Kaleidoskop, welches der Autor seinen Lesern jemals vor die ungläubig staunenden Augen hielt. Mit geradezu verbissener Konsequenz werden weder die Haupt-, noch die Nebengeschichten des Romans zu Ende erzählt, so dass sich die letztlich Fragment gebliebene Komposition aus zahllosen Einzelteilen zusammensetzt. Der Leser wandert gleichsam durch einen Steinbruch mit faszinierenden Formationen, die er verwundert betrachtet, um seine Aufmerksamkeit alsbald dem nächsten Gebilde zu widmen. Die ebenso interessante wie komische Eingangsszene weckt Neugier: Zufolge der Testamentseröffnung eines vermögenden Herrn wird derjenige Erbe seines Hauses, der dem Verstorbenen unter richterlicher Aufsicht wenigstens eine Träne nachweinen kann – was einem der Anwärter in einer wahrhaft herzzerreißenden Szene tatsächlich gelingt. Aber auch der „Grünschnabel“ Peter Gottwalt Harnisch, kurz „Walt“ genannt, gehört unter der Voraussetzung zu den Erben, dass er den Mitkonkurrenten für eine jeweils bestimmte Zeitdauer dienstbar ist. Walt akzeptiert die Bedingung – für Jean Paul eine weidlich genutzte Gelegenheit, die Boshaftigkeit des menschlichen Geschlechts zu schildern, denn es folgt eine bittere Probezeit für den Erbe-Anwärter. Der Zwillingsbruder Vult mit dem religiösen Namen quod deus vult (was Gott will) verdient seinen Lebensunterhalt hingegen als Flötenvirtuose namens „van der Harnisch“, der freilich ebenso unablässig flötet, wie ihm beständig sein Geld flöten geht. Der bitterböse Satiriker verlegt sich auf Tricks und kleine Gaunereien, um seiner Kunst mehr Geld abzuringen, als ihr das Publikum üblicherweise zukommen lässt. Tatsächlich versuchten am Ende des 18. Jahrhunderts, in einer Zeit des aufkommenden Showbusiness, etliche Musikvirtuosen durch reale oder vorgeschobene Gebrechen die besondere Gunst des Publikums zu gewinnen. So gibt sich Vult erfolgreich als blinder FlöIn Berlin und Potsdam  179

tenvirtuose aus, dessen Konzerte aufgrund seiner Behinderung besser besucht werden, als wenn er ohne (vorgebliche) Sehschwäche aufträte. Zudem bekennt sich Vult als Verfasser der „Grönländischen Prozesse“, wodurch das Spiel der Masken und Identitäten um eine pikante Note bereichert wird. Die beiden Brüder, passionierte Autoren wie ihr Erfinder, beziehen gemeinsam eine Wohnung „wie ein Vögelpaar im Nest“, nur durch eine spanische Wand getrennt. Von der zuweilen homoerotisch anmutenden Flötenkunst Vults kann sich Walt erst distanzieren, als die aus Polen stammende „ruhige Jungfrau“ Wina sein Herz entflammt. Mit Hilfe der Polymeter genannten Streckverse sowie pornographischen Sekretärsdiensten für Winas Vater, den Grafen Klothar, vermag sich Walt die Liebe der Polin zu versichern. Dem Lebenskünstler Vult bleibt die Liebe freilich versagt – obwohl (oder weil) er stets seine Flöte in der Hand hält. Die Liebesgeschichte zwischen Walt und Wina endet indes weder glücklich noch unglücklich, sondern gar nicht. Nach der anschaulichen Darstellung eines berauschenden Maskenfestes bleiben dem Leser nur Vermutungen über den Fortgang der Liebelei, zumal Vult im letzten Moment der Geschichte der naiven Wina in der Maske seines Bruders gegenübertritt, um sich schließlich nach erhaltenem Jawort flötend aus der Gesellschaft zu entfernen. Die Einheit des Romans besteht in seiner Musikalität, und es ist kein Zufall, dass der Komponist und Schriftsteller Robert Schumann die „Flegeljahre“ mit der von ihm ebenso verehrten Bibel als gleichrangig setzte. Die Zwillingsbrüder typisieren die unterschiedlichen Verhaltensweisen gegenüber der Musik: Walt lauscht passiv den Tönen, die, gleichgültig ob von einer Nachtigall oder vom Flötenbruder stammend, seine Fantasie anregen. Beim Tanzen bleibt er jedoch gehemmt, während Vult als äußerst musikalischer, seine Außenwirkung kalkulierender Virtuose agiert, dessen rhythmische Körperbewegungen von einer gleichsam akrobatischen Ekstase bestimmt sind. Vult treibt ein zynisches Spiel mit der Welt, während Walt die Wirklichkeit in sich aufnimmt wie die Rose den Morgentau. Beide Figuren sind Existenzen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. In Wahrheit jedoch beschreibt Jean Paul in den ungleichen 180  5. Kapitel

Brüdern die Aufspaltung der eigenen Seele: Walt ist ein typischer Vertreter der Romantik, für den Gefühl und Tonkunst eine unendliche Symbiose eingehen, während Vults kühle Rationalität an den genialischen Komponisten Adrian Leverkühn in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ erinnert, dessen kompositorische Permutationen ebenso streng geordnet wie zersetzend sind. Es dürfte wohl nicht übertrieben sein, in Vult eine der modernsten Figuren innerhalb von Jean Pauls Kosmos zu sehen. Der Flötenbruder ist ein Virtuose der Wirkung, dem die gefühlte Weltharmonie Walts verschlossen bleibt. Von Kindheit an ein ausgestoßener Einzelgänger, sucht er das solitäre Lebensglück ungesichert wie ein Tänzer auf dem Drahtseil. Walt und Vult personifizieren zwei unterschiedliche ästhetische Sichtweisen, welche seit dem 19. Jahrhundert als poetische und absolute Rezeptionsformen der Musik bekannt sind. Die Kapitel 25 und 27 der „Flegeljahre“, „Musik der Musik“ bzw. „Gespräch“ betitelt, diskutieren diese dialektische Verflochtenheit. Zwei ästhetische Wahrnehmungen stehen sich gegenüber, die im Idealfall miteinander verbunden sind, sei es als Begrenzung des Unbegrenzbaren in der Poetisierung der Musik oder, als Entgrenzung des Begrenzten, in der Musikalisierung der Poesie. Viele Textpassagen lesen sich wie eine musiktheoretische Programmschrift des 19. Jahrhunderts, wobei die clowneske, orchestrale Prügelorgie des Kapitels „Das zertierende Konzert“ den Ernst der Diskussion durch Gelächter entspannt. Erörtert wird die ästhetische Bedeutung der Synästhesie, der Sinnesverschmelzung zweier physisch getrennter Bereiche der Wahrnehmung, die sich stilistisch in einer surrealen, die gewohnte Syntax überschreitenden Sprache der Traumsequenzen ausdrückt, wo sich die Worte in Musik aufzulösen scheinen. Doch jenseits aller stilistischen Manierismen und ästhetischen Erörterungen geht es Jean Paul um das Humane: „Die Musik ist unter allen Künsten die rein-menschlichste“, resümiert der Satiriker Vult, diesmal frei von jeglichem Zynismus. Es dürfte mithin nicht übertrieben sein, die „Flegeljahre“ als die romantischste Erzählung Jean Pauls zu bezeichnen, welche gleichwohl die Überwindung der Romantik bereits in sich trägt.

In Berlin und Potsdam  181

Der Humor und Tiefsinn der „Flegeljahre“ wie auch das unterschwellige revolutionäre Pathos des „Titan“ dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Werke in einem repressiven politischen Umfeld entstanden. Seitdem Karl von Hardenberg im Jahre 1793 eine Verordnung gegen die Verbreitung staatsgefährdender Grundsätze erließ, lag die „Staatsinquisition [wie] Bleiplatten auf Kopf und Brust“, schrieb Jean Paul am 23. Januar 1796 aus Bayreuth an Christian Otto. Der später als liberaler Reformer bekannt gewordene Hardenberg verlängerte – vermutlich auf Druck des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. – als leitender Minister der Markgrafschaften AnsbachBayreuth und preußischer Staats- und Kabinettsminister die seit dem Religionsedikt von 1788 eingeleitete obrigkeitsstaatliche Politik. Ein Opfer der Restauration, deren trüber Schleier das Berliner Kulturleben überschattete, war Jean Pauls Hofer Freund Johann Georg Herold, dessen Haus dem Dichter stets freizügig offen stand. Herold war wegen Majestätsbeleidigung zu einer vom preußischen König bestätigten Gefängnisstrafe verurteilt worden. Nach dem Vorwurf Christian Ottos, Jean Paul habe sich in Berlin nur ungenügend für Herolds Freilassung eingesetzt, bemühte dieser sich seit März 1801 mithilfe seiner Freunde am preußischen Hof erfolgreich um die Aufhebung der Haftstrafe. Diese Schutzlegion oder „prätorianische Kohorte“ bestand unter anderem aus so hochrangigen Personen wie Königin Luise, deren Bruder sowie dem preußischen Kabinettsminister Philipp Carl von Alvensleben. Am 4. Mai 1801 richtete Jean Paul ein Schreiben an den preußischen König Friedrich Wilhelm III. mit der Bitte um Gewährung eines ständigen Unterhalts. Dem Gesuch folgte noch im selben Jahr eine verheißungsvolle Kabinettunterschrift, die neun Jahre später bestätigt wurde, ohne dass freilich jemals ein Taler bei dem Bittsteller eingetroffen wäre. Ob die sprichwörtliche Sparsamkeit des Monarchen oder etwa dessen Verärgerung über die Freilassung Herolds der Grund für die Nichtgewährung der Präbende war, bleibt letztlich ein Geheimnis. Jedenfalls vermochten Jean Pauls Hinweise auf seine Menschenliebe „in einer egoistischen und revoluzionären Zeit“ den Monarchen ebenso wenig zu überzeugen, wie Bemerkungen über 182  5. Kapitel

seine prekäre finanzielle Lage, welche sich durch die bevorstehende Gründung einer Familie verschärfen würde. Alvensleben hatte das Gesuch an den König weitergeleitet, der in einer kühl gehaltenen Antwort vom 18. März 1805 erklärte, Richter könne mit der Verleihung einer Präbende rechnen, sobald sich eine Vakanz ergeben würde. Aber auch weitere Erinnerungen vom März 1805 an eine hochgestellte Berliner Freundin sowie vom Mai 1811 an den preußischen Staatsminister Friedrich von Schuckmann vermochten an der misslichen Situation nichts zu ändern, die Zahlungen blieben aus. Diese Missachtung durch den preußischen König erschien den Beteiligten insbesondere deshalb so beschämend, weil der „Gottlose … Schuft“, der finanziell wohl situierte, konservative Dramatiker und Schriftsteller August von Kotzebue vom Monarchen ein Kanonikat erhielt, wie Caroline Herder in einem Brief vom 4. Februar 1803 gegenüber Knebel zornig vermerkte. Nach 14 Jahren, Ende Dezember 1815, wurde ein abermaliges Bittgesuch durch den preußischen Monarchen endgütig abgelehnt. Mit der Nichtgewährung der Präbende verlor für Jean Paul der Aufenthalt in Berlin an Interesse. Zu tief war die Enttäuschung über das Versagen seiner höfischen Hilfstruppen, als dass er diese persönliche Zurücksetzung hätte hinnehmen können. Dabei war seine Situation in der Residenzstadt durchaus von sozialer Anerkennung gekennzeichnet, gab es doch keinen „gelehrten Zirkel“, in dem er nicht vorgestellt wurde, nur wenige Personen von Rang, mit denen er nicht vertraulich verkehrte. Aber das Dasein eines Salonlöwen war seine Sache nicht. Zudem geriet er durch die enge Vertrautheit mit dem bei vielen Zeitgenossen verpönten Kreis der Romantiker in den Verdacht, es mit der „Schlegelschen Rotte“ zu halten. Tatsächlich bot sein intimer Umgang mit dem „genialischen Pankrazium“ – der Clique um Schlegel, Tieck, Schleiermacher und Bernhardi – für seine Gegner eine Reibefläche. Vor allem der „zerlumpte Lumpen-Merkel“ machte ihm über seine neuen Freunde direkte oder indirekte Vorwürfe, aber auch Christian Otto schloss sich der Kritik an. In Wahrheit war das genialische Gehabe der Jungromantiker dem bescheidenen Jean Paul wesensfremd, die Zeiten rebellischen Gebarens hatte er als Student in In Berlin und Potsdam  183

Leipzig hinter sich gelassen. In einem Brief von Mai 1801 an die Braut Caroline wies er darauf hin, „wie eine gewisse Unähnlichkeit zwischen mir und anderen sich immer mehr ausspinnt.“ Die romantischen Zutaten seines literarischen Schaffens konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen den Romantikern und dem fast vierzigjährigen Jean Paul ein Altersunterschied von immerhin etwa zehn Jahren bestand, was in der Jugend von größerer Bedeutung ist als im Alter. Der etwa gleichaltrige Fichte, zu dem er ein besonders gutes Verhältnis entwickelt hatte, weilte zu dieser Zeit nicht mehr in Berlin. Zudem lockte den Vogtländer die Aussicht auf „Berge, Bücher und bitteres braunes Bier“ nahe der Heimat, wie er an Gleim am 11. Mai 1801 schrieb. Die „Flucht aus Berlin“ wurde ähnlich überraschend durchgeführt wie einst jene aus Hof. Solange noch Hoffnung auf die Präbende bestand, kam Bayreuth als neuer Wohnsitz infrage, da die Pfründe nur auf preußischem Staatsgebiet gewährt wurde. Als sich jedoch selbst Minister von Alvensleben über die Fruchtlosigkeit seiner Einlassung gegenüber dem König grämte, geriet Bayreuth als Wohnsitz aus dem Blickfeld. Nun lockte die Haupt- und Residenzstadt Meiningen, wohin ihn Fürst Georg I., vermutlich auf Wunsch seiner hoch gebildeten Frau Luise Eleonore, in das Herzogtum Sachsen-Meiningen einlud.

184  5. Kapitel

Abbildungen

1

Ernst Platner. Gemälde von Heinrich Pfenninger, 1798.

Abbildungen  185

2

Johann Gottfried Herder. Kupferstich von C. Westermayr nach einem Gemälde von Johann Friedrich August Tischbein, um 1800.

186  Abbildungen

3

Friedrich Heinrich Jacobi. Kreidezeichnung von einem unbekannten Künstler, 1775.

Abbildungen  187

4 Johann Friedrich Reichardt. Kupferstich von B. H. Bendix nach einem Gemälde von Susanne Henry, 1796.

5

„Siebenkäs“. Stahlstich von Carl Mayer nach einer Zeichnung von Alexander Simon, 1850.

188  Abbildungen

6 Charlotte von Kalb. Holzstich nach einem Gemälde von Friedrich Tischbein, 1785.

Abbildungen  189

7

Juliane von Krüdener. Gemälde von Angelica Kauffmann, 1790.

190  Abbildungen

8 Jean Paul. Punktierstich von Friedrich Wilhelm Nettling nach Schröder, 1804.

9 „Titan“. Titelblatt der Erstausgabe, 1. Band, Berlin (Matzdorff), 1800. Abbildungen  191

10 Emanuel Osmund und Christian Otto. Miniaturen.

11 Renate Otto, geb. Wirth.

192  Abbildungen

12 Paul Emil Thieriot.

13 Rollwenzels Haus. Kreidelithographie von Heinrich Stelzner, um 1860.

Abbildungen  193

14 Jean Paul schreibend im Garten. Zeichnung von Ernst Förster, 1820.

194  Abbildungen

15 Eigenhändiger Brief von Jean Paul, 1800.

Abbildungen  195

16 Heinrich E. G. Paulus. Kupferstich von einem unbekannten Künstler, um 1815.

196  Abbildungen

17 Johann Friedrich Cotta. Lithographie nach einem Gemälde von Karl Jakob Theodor Leybold, um 1825.

Abbildungen  197

18 Karl Theodor Freiherr von Dalberg. Punktierstich von Bichtel nach Robert Levefre, um 1817.

198  Abbildungen

19 Karoline Richter.

Abbildungen  199

20 Jean Paul. Zeichnung von Carl Christian Vogel von Vogelstein, 1822.

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6. Kapitel

Meiningen und Coburg Unterbrochen wurde die Anreise von der preußischen Hauptstadt in den südwestlichen Teil Thüringens durch ein Wiedersehen mit den Freunden in Weimar. Als Legationsrat war Jean Paul, nicht jedoch seine bürgerliche Frau, zu einem herzoglichen Diner eingeladen. Die nicht hoffähige Caroline durfte jedoch an einem Tee mit der Herzoginmutter Anna Amalia in deren Sommerresidenz Tiefurt teilnehmen. Herder und Wieland gesellten sich dazu und fanden Gefallen an der Gattin. Über Gotha, wo Jean Paul seine Frau der Familie Schlichtegroll vorstellte, ging die Fahrt an die Werra zur zwischen sanften Hügeln eingebetteten Haupt- und Residenzstadt des Herzogtums SachsenMeiningen. Ein größerer Kontrast als zwischen der vitalen Hauptstadt Preußens und dem idyllischen Fürstentum war kaum denkbar. Seit zwei Dekaden leitete Georg I. von Schloss Elisabethenburg aus die Geschicke des Herzogtums auf der Grundlage eines aufgeklärten Absolutismus. Das Staats- und Finanzwesen war effektiv und stabil, die Gründung der Forstakademie „Dreißigacker“ bewirkte einen Aufschwung der Waldwirtschaft. Herzogin Luise Eleonore stand ihrem Gatten treu zur Seite, nach dessen frühem Tod infolge „Brustfiebers“ setzte sie die nötigen Reformen zur Erhaltung solider Staatsfinanzen fort. Die verständige Frau war jedoch nicht nur mit staatspolitischem, sondern auch mit literarischem Weitblick begabt und gehörte zu den zahlreichen adligen Verehrerinnen des „Hesperus“-Autors. Außer mit dem Geheimrat, Konsistorialvizepräsidenten und Geologen Johann Ludwig Heim und der Gräfin Schlabrendorff (die für Familie Richter die Unterkunft besorgt hatte) gab es jedoch kaum Gelegenheit für einen geistigen Austausch. Schon bald bemerkte Jean Paul, dass sich die Anzahl der literarisch Interessierten auf eine handvoll Personen am Hof beschränkte. Ein kulturell interessiertes Bürgertum gab es kaum. Meiningen und Coburg  201

Für den Dichter war diese geistige Abgeschiedenheit gleichwohl eine Quelle der Inspiration. Wenige Tage nach der Einquartierung bei einer Geheimrätin und den Vorstellungsvisiten am Hof begann die Arbeit am dritten Band des „Titan“. „Ich habe mich so recht tief ins häusliche feste stille runde Leben hineingesetzt. Gearbeitet und gelesen sol jezt werden“, heißt es am 21. Juni 1801 gegenüber Christian Otto. In Meiningen hatten die „Argonautenzüge nach dem goldnen Vlies der Weiber“ ihr Ziel gefunden, wie er am 3. Januar 1802 schrieb. Die geordneten familiären und politischen Verhältnisse ermöglichten literarische Höhenflüge, welche im turbulenten Berlin nur schwer zu erreichen waren. Gleichwohl nutzte er die Kontakte nach der preußischen Hauptstadt und erbat beim Minister Hardenberg mit Erfolg eine Unterstützung für Christian Ottos Not leidende Schwester. In Meiningen verlief das Leben beschaulich. Am 4. Juli 1801 teilte Caroline ihrem Vater mit, dass ihr Mann, „der reinste, heiligste, gottähnlichste Mensch … ruhiger als in Berlin, sein Leben regelmäßiger“ sei. Der Tag begann um 6 Uhr, zur Mittagsstunde folgte das Hauptessen, um 10 Uhr abends lockte die Bettdecke. Einen besonderen Fortschritt glaubte Caroline darin zu erkennen, dass ihr Mann nunmehr anstatt des Weins den Biergenuss bevorzugte. Der Alltag brachte ein zwangloses Leben, nicht selten konnte man den Konsistorialvizepräsidenten Heim „ohne weitläufige Toilettenveränderung“ zu Familie Richter über die Straße eilen sehen, wo ihn Jean Paul im betagten Morgenmantel empfing. Auch der mit dem Dichter nahezu gleichaltrige Herzog zeigte sich freundlich und lud Jean Paul in seine Sommerresidenz Liebenstein ein, welcher im 14. Kapitel des Romans „Der Komet“ ein literarisches Denkmal gesetzt wurde. Aber der Austausch mit dem Fürsten ohne „Poesie und Philosophie“ (wie in einem Schreiben an Otto vom 28. Juli bedauernd verlautet) beschränkte sich auf Fragen des Alltags. Auch die Freude an seiner Ehe schien schon bald zu erlahmen, in Briefen an Emanuel tauchen immer häufiger Worte des Verdrusses auf. Gemeinsame Reisen nach Bayreuth, Kassel, Gotha, Weimar und Hildburghausen brachten gleichwohl Abwechslung in das tägliche Einerlei. Unterbrechungen brachten auch die Besuche durch den genia202  6. Kapitel

lischen Dichter, Sprach- und Mythosforscher Johann Arnold Kanne, der humoristische und satirische Schriften im Stile Jean Pauls verfasste. Dieser schrieb einige Jahre später die Vorrede zu dessen Schrift „Erste Urkunden der Geschichte“ und konnte ihn auf Veranlassung Friedrich Heinrich Jacobis vom preußischen Militärdienst freikaufen. In genialischen Männern wie Kanne, dem besserwisserischen Thieriot und dem satirischen Schriftsteller, Reisenden und Maultrommel-Virtuosen Michael Kosmeli fand Jean Paul jene eigenwilligen Züge seines Charakters gespiegelt, die er auch als Familienvater nie gänzlich hinter sich ließ. Aber auch weniger genialische Heißsporne wie der Dichter Thümmel, der Philosoph Bouterwek, der spätere Weimarer Kanzler Friedrich Müller sowie Emanuel fanden den Weg zu Familie Richter. Nach erfolgtem Bezug einer neuen Wohnung in der unteren Marktgasse und dem Ankauf eines Hundes der Rasse Spitz (welcher anders als sein literarisches „Hesperus“-Vorbild den Namen „Rak“ erhielt) fehlte zur Vollendung des familiären Glücks nur noch der Nachwuchs. Seit der Ankunft in Meiningen kränkelte Caroline, neigte zu „hysterischen Krämpfen“, häufigen Zahnschmerzen und Katarrhen. Möglicherweise waren die Erkrankungen psychosomatisch in der Trennung von der Berliner Heimat begründet. Der Arzt war ratlos, während Jean Paul als Anhänger der Medizinlehre des schottischen Arztes John Brown „eine stärkende Diät, Wein, Fleisch, Freude“ empfahl, wie er die Grundlage der Therapie in einem Brief vom 17. März 1800 zusammenfasste. Browns seit den 1780er Jahren kurrente Lehre erstrebte die Ausgewogenheit der menschlichen Lebenskraft und glaubte durch biologische Gegensteuerung und Korrektur der Körperreize eine Gesundung zu bewirken. Im dritten Band der „Flegeljahre“ setzte Jean Paul der Lehre Browns ein literarisches Denkmal. Der sich nur allzu gern als ärztlicher Ratgeber gebende Dichter traf jedoch mit seinen oft rigiden therapeutischen Maßnahmen nicht selten auf den Unwillen Carolines. Zudem verstand sich Jean Paul als kompetenter Meteorologe, der sogar vom Hof in klimatischen Belangen um Rat gefragt wurde, wie er Emanuel am 23. Januar 1804 nicht ohne Stolz mitteilt. Tatsächlich machte sich bei Jean Paul eine zunehmende Neigung zur SelbststilisieMeiningen und Coburg  203

rung als Heiler und Wetterprophet geltend. Jedoch teilten seine mehrmonatigen Klimaprognosen das Schicksal der heutigen. So zeigte (um nur ein Beispiel zu nennen) der Mai 1803 – entgegen der eigenen Vorhersage – ein kaltes Gesicht oder „Wonnemonds-Koth“, wie in einem Brief an den Bayreuther Freund vom 24. Mai freimütig eingeräumt wird. Den oft rasenden Kopfschmerz bekämpfte Jean Paul weiterhin mit Laudanum, aber als Hauptmittel zur Erhaltung der körperlichen Beständigkeit diente das Bier, welches ihm in Meiningen jedoch als zu schwach erschien. Vielmehr bevorzugte er Johanniter Starkbier sowie den Gerstensaft aus Bayreuth und Kulmbach. Die Anlieferung und Lagerung in Eimern war zu jener Zeit aufwändig. Der Meininger Briefwechsel enthält deshalb zahlreiche bierbezügliche Anfragen an Emanuel, um den Bedarf an „Herbst-Trost … Magen-Balsam … Palliativ gegen Meiningen zu stillen“, wie es in einem Brief vom 17. August 1802 heißt. Ein eigens gegründeter Bier-Verein finanzierte schließlich den Wagenverkehr zwischen Meiningen und Bayreuth, um einen möglichst gleichbleibenden Bierstrom zu gewährleisten. Alles seelische und körperliche Ungemach war jedoch (vorerst) behoben, als am 20. September 1802 Emma Emanuele Georgine Amalie Idoine geboren wurde, „ein großes Kind, herrlich gebildet und mir … ganz aus den Augen geschnitten“, wie der stolze Vater noch am Tag der Geburt Christian Otto mitteilt. Auch unmittelbar vor der Niederkunft brauchte Jean Paul auf den gewohnten häuslichen Komfort nicht zu verzichten. So servierte ihm Caroline den geliebten Pflaumenkuchen zum Frühstück, und zwar „Mitten in den Wehen [allerdings] musste diese Geduldige schreien vor Schmerz“. Durch den Zuwachs verschärfte sich die finanzielle Lage der Familie. Jean Paul war in einem erheblichen Maße zum Schuldner Emanuels geworden, denn die erhoffte Präbende aus Berlin blieb weiterhin aus. Zudem unterstützte er den verarmten, mit seiner Frau und fünf Kindern lebenden Bruder Gottlieb durch Bittgesuche an die Bayreuther Regierung. Gleichwohl war die Situation in Meiningen denkbar idyllisch, der Umgang mit dem Herzogspaar und mit Heim sorglos, die „Zimmer niedlich, licht und luftig“, wie er sich am 4. Juni 204  6. Kapitel

1804 erinnert. Es war eine schöpferische Zeit, nicht nur den Nachwuchs betreffend, sondern auch literarisch. Nach Fertigstellung des dritten „Titan“-Bandes im Juni 1802 wandte sich Jean Paul abermals den „Flegeljahren“ zu, um schließlich, im Dezember desselben Jahres, den vierten „Titan“-Band zu vollenden. Er arbeitete „mit Entzückungen“, wie in einem Brief an Thieriot vom 16. Januar 1802 verlautet. Tatsächlich steigert sich die Prosa der letzten beiden „Titan“-Bände häufig zu einem Sforzato, bei des­sen höchster Ausformung ganze Reihen betörender Substantive nur durch Gedankenstriche rhythmisch gebändigt sind. Am 21. September konnte der begeisterte Dichter Thieriot von den „Lorbeerkränzen“ berichten, welche ihm Jacobi wegen des dritten „Titan“-Bandes flocht. Tatsächlich hielt Jean Paul den Großroman für das beste seiner Werke. Zur Ausräumung der vielfältigen Bedenken und Einwände Jacobis gegen den dritten Band bedurfte es jedoch sogar eines ausführlichen Antwortbriefes vom 8. September 1803, der insbesondere Missverständnisse über den widersprüchlichen Charakter Lindas aufklärt. „Das Buch ist der Streit der Kraft mit der Harmonie“, heißt es dort erhellend. Tatsächlich fehlt dem Text der bewährte heitere Grundton, welcher selbst die hintergründige Düsternis etwa des „Luftschiffers Giannozzo“ aufzuhellen vermochte. Jean Pauls Unbehagen an Meiningen nahm ständig zu, zumal ein Besuch Coburgs im Herbst zuvor sein Interesse an dieser Stadt geweckt hatte. Ein Brief vom 3. November 1802 begründet die Entscheidung für den baldigen Umzug mit den zahlreichen Coburger Liebhabern von Philosophie und Kunst, an denen es in Meiningen ebenso mangelte wie an einer guten Bibliothek. Ein weiterer Grund für den geplanten Ortswechsel war sicher die Nähe zum geliebten Coburger Bier, dessen regelmäßige Anlieferung aus Bayreuth das Familienbudget belastete. In Meiningen war man bestürzt, als die Umzugspläne im Winter 1802 bekannt wurden. Auch eine vertrauensbildende gemeinsame Reise mit dem Herzog Ende Januar 1803 nach Weimar, ein Besuch bei Herder (der letzten Begegnung vor dessen Tod) sowie eine Schlittenpartie nach Belvedere mit anschließendem Diner und Ball verMeiningen und Coburg  205

mochten Jean Paul nicht umzustimmen. In Wahrheit störte ihn an Meiningen, „daß man hier fast dum ist“, wie es lakonisch in einem Brief an Emanuel vom 6. Dezember 1802 heißt. Die Situation wurde zunehmend unerträglicher. Allein der beginnende Frühling, die gedeihende Emma und die Niederschrift der „Flegeljahre“ sorgten für Ablenkung, ein intellektueller Austausch kam nicht zustande. Längst waren die Würfel zugunsten des Umzugs nach Coburg gefallen. Als offiziellen Anlass für den Plan nannte Jean Paul aus Gründen der Höflichkeit die Nähe zum Coburger Bier – womit der häufig kolportierten Legende, dass sein Lebensweg den Quellen des Gerstensafts gefolgt sei, beträchtlichen Vorschub geleistet wurde. Ein Brief an Emanuel vom 15. März 1803 versucht, das Gerücht über seinen übermäßigen „Trinkunfug“ zu korrigieren. Nach eigenen Angaben oblag er dem regelmäßigen Biergenuss erst ab dem dreißigsten Lebensjahr, und zwar als „Heilmittel, um nicht im Kaffee zu ersaufen; und 8 Jahre später Wein.“ Der Genuss von Alkoholika, so argumentierte Jean Paul, entfacht ein inneres Feuer zur Bewahrung einer ständigen schöpferischen Anspannung. Der Wechsel von dem betulichen, mit einer stabilen Regierung und soliden Staatsfinanzen gesegneten Meiningen nach dem von politischen Krisen erschütterten Herzogtum Sachsen-Coburg-Saalfeld hätte nicht kontrastreicher sein können. Weil die herzoglichen Vorgänger das Land an den Rand des Ruins gewirtschaftet hatten, war in Coburg seit dem Jahre 1773 eine kaiserliche Kommission zur Zwangsschuldenverwaltung eingesetzt. Der seit 1800 regierende Herzog Franz Friedrich Anton unterstützte die Maßnahmen durch Verwaltungsreformen. Vor allem jedoch durch das Wirken des seit 1801 leitenden Ministers Theodor Konrad von Kretschmann konnte die Fremdverwaltung schließlich beendet und die staatliche Souveränität wiederhergestellt werden. Außer durch Kretschmann fühlte sich Jean Paul von der Anwesenheit von so vielfältig kulturell interessierten Personen wie dem Philosophen, Philologen und Schulpolitiker Friedrich Carl Forberg, dem Philosophen, Juristen und Coburger Polizeidirektor Johann Andreas Ortloff sowie dem umfassend gebildeten Rats- und Justizamtmann 206  6. Kapitel

Johann Ernst Gruner angezogen. Aber auch durch den Kontakt zu dem gelehrten, jedoch kränklichen Herzog Franz und dessen betagter Gattin Sophia Antoinette („meine brünstigste Leserin“ wie er Christian Otto am 3. November 1802 mitteilt) erhoffte er eine Belebung des geistigen Austauschs, der in Meiningen gänzlich zu versiegen drohte. Nicht zuletzt lockten Coburgs umfangreiche herzogliche Bibliothek und die Kunstsammlungen. Am 2. Juni 1803 bezog Familie Richter eine angemietete Wohnung bei einer Kammersekretärs-Witwe. Jean Paul, durch den alltäglichen Lärm von Frau und Kind entkräftet, fand einen ruhigen Arbeitsort in einem Gartenhaus auf dem Adamiberg. Heute erinnern dort ein „Jean-Paul-Häuschen“ sowie eine Büste des Dichters an den Aufenthalt. Hier beendete er die „Flegeljahre“, deren Erstes Bändchen, Nr. 2, „Katzensilber“, den Umzug von Meiningen nach Coburg sowie die Fertigstellung des Romans thematisiert. „2 Wochenmärkte - herrliche [sic!] Polizei - wohlfeile Preise … höfliche Leute“, waren jene urbanen Vorzüge, deren eine anwachsende Familie bedarf, zumal Caroline erneut schwanger war. Der Spitz war ein halbes Jahr zuvor wegen Tollwut erschossen und durch ein großes Exemplar ersetzt worden, das sein Herrchen nun auf den Adamiberg begleiten durfte. Der einsame, nur durch den Hund begleitete Dichter auf seinem Weg hinauf zur Bergklause sowie das Gerücht von seiner Trinkfreudigkeit hinterließen in der Coburger Bevölkerung einen bleibenden Eindruck. In den folgenden Monaten wurde Jean Pauls Verhältnis zu dem kränkelnden Herzog Franz immer vertraulicher, zumal sich der Dichter nur allzu gern als medizinischer Berater gab, der Schlaflosigkeit durch den ganztägigen Genuss von Alkoholika therapierte. Wie zuvor in Meiningen belebten Reisen nach Bamberg, Bayreuth, Erlangen und Charlotte von Kalbs Landgut Trabelsdorf sowie Gegenbesuche durch Christian Otto, Emanuel und den oft für einen längeren Zeitraum in Coburg verweilenden Paul Thieriot den Alltag. Vor allem jedoch die Geburt des Sohnes Maximilian Emanuel Ernst am 9. November 1803 sorgte im wahren Wortsinn für neues Leben in der Familie. „Max“, wie der Filius liebevoll genannt wurde, erhielt ebenso wie Emma die evangelische Taufe sowie die Blattern-Impfung. Der Meiningen und Coburg  207

regelmäßige „Kinderwäsche-Waschtag“ am Montag gestaltete sich nun noch turbulenter. Carolines Kräfte waren gefordert, während ihr Gatte auf dem Adamiberg durch Schreiben die Familie ernährte. Auch die historischen Zeitläufte brachten Veränderung, aber nur wenige Zeitgenossen ahnten, dass die Krönung Napoleons zum Kaiser Frankreichs im Mai 1804 und die darauf folgenden Ereignisse die politische Urteilskraft der Zeitgenossen in besonderer Weise herausfordern sollten. Während der Aufenthalte in Weimar hatte Jean Paul festgestellt, dass der geistige „Kraftmensch“ Herder, wie er ihn im Roman „Der Komet“ nannte, über mehr spirituelle als physische Kräfte verfügte. Das geistliche Amt als Superintendent hatte den Pastor litteratus an die Grenze der Leistungsfähigkeit gebracht, sein Alltag wurde zudem durch eine Vielzahl von Krankheiten vergällt. Ein Leber- und Gichtleiden, Schlaflosigkeit und mehrere Schlaganfälle wurden übel ergänzt durch politische Querelen im Herzogtum, welche in der Ignoranz und Reformunwilligkeit der Behörden begründet waren. Desto mehr genoss Herder den Umgang mit vertrauten Personen, zu denen Jean Paul seit der ersten persönlichen Begegnung im Sommer 1796 gehörte. Der Streit in Ilmenau über die passende Ehefrau für Jean Paul hatte keine allzu tiefen Narben hinterlassen, zumal die wirkliche Gattin die Herzen von Familie Herder erobert hatte, wie Caroline am 4. Juni 1801 Knebel mitteilt. Herder und seine Frau bemühten sich um eine Pensionszahlung für die junge, auf Nachwuchs hoffende Familie. Freilich gab es auch literarische Unstimmigkeiten. So konnte Herder den Vorbehalt gegen Jean Pauls manierierten Schreibstil nicht überwinden, wie Caroline in einem Brief vom 9. Januar 1803 freimütig bekennt. Andererseits vermochte Jean Paul, ähnlich wie Jacobi, für Herders Zeitschrift „Adrastea“, nur wenig Zuneigung aufzubringen, zumal das Journal die neuesten geistigen Strömungen ausblendete. Gleichwohl sandte Caroline im Auftrag ihres Mannes die „Adrastea“Manuskripte regelmäßig zur Lektüre, und Jean Paul versah die Texte mit kritischen Anmerkungen, die auch meist beim Druck berücksichtigt wurden. Nur engen Vertrauten wie Christian Otto war der Vorbehalt ihres Freundes gegen die „Adrastea“ bekannt. Bei der Einschät208  6. Kapitel

zung des Verhältnisses Jean Pauls zu Familie Herder darf auch die finanzielle Abhängigkeit nicht unberücksichtigt bleiben, denn zur Schuldentilgung ihrer Söhne hatte Caroline Herder (vermutlich ohne Wissen ihres Mannes) vom „Hesperus“-Autor einen Kredit erhalten. „Herder ist sehr krank“, hieß es in einem Doppelschreiben Jean Pauls an Emanuel und Thieriot vom 5. November 1803: „Stirbt mir der: so verfluche ich das halbe Leben.“ Er sollte es verfluchen, denn einen Monat später verschied der Mann, dessen „Geist eine schöne Anthologie der Menschheit“ ist, wie Jean Paul am 9. Januar 1802 (und mit ähnlichen Worten in vielen weiteren Briefen) seine Verehrung ausdrückte. Zudem wurde die Stimmung im Hause Richter während der Weihnachtszeit durch den Tod des mit dem Dichter fast gleichaltrigen Herzogs Georg I. von Meiningen infolge einer Lungenentzündung bzw. eines Brustfiebers getrübt. Traurig gestimmte Briefe wechselten zwischen Emanuel, Thieriot, Christian Otto und Jean Paul. Vor allem dessen Beileidsbrief an Herders Witwe vom 8. Januar 1804 enthält entsagungsvolle Worte tiefen Schmerzes, welche das Ableben des Weimarer Geistlichen zum größten Verlust nach dem Tode der eigenen Mutter erklären. Johann Gottfried Herders Person und Werk gehörten zweifellos zu den großen Schätzen im Leben Jean Pauls. „Mit meinem Herder starb mir Weimar und fast die ganze idealische Zukunft“, heißt es in einem Brief an Emanuel vom 21. März 1804. Tatsächlich verabscheuten Jean Paul und Herder nichts so sehr wie gedankliche und sprachliche Abstraktion, welche sich dem Schlüsselbegriff Humanität verschließt. Mit Herder starb ein Aufklärer, der, wie Jean Paul, ein reflektiertes Verständnis der Verflochtenheit von Politik und Moral, Empfindungs- und Erkenntnisfähigkeit besaß. Sein Tod markiert das Hinscheiden einer Tradition der Aufklärung, deren ganzheitliche Weltsicht im 19. Jahrhundert nur von wenigen geteilt wurde. Um die Schulden abzutragen, bemühte sich Caroline Herder um die Herausgabe der gesammelten Werke ihres verstorbenen Mannes, an der möglichst viele prominente Mitarbeiter beteiligt sein sollten. Von Jean Paul wünschte sie die Revision der Frühschriften „Fragmente“ oder „Kritische Wälder“. Zudem erbat sie Briefe ihres Mannes Meiningen und Coburg  209

sowie ein gutes Wort gegenüber Jacobi, von dem sie die Aushändigung von Herders Briefen an Hamann erhoffte. Aus Zeitgründen konnte sich Jean Paul jedoch nicht an der Edition beteiligen, auch die Abfassung einer Biografie kam nicht zustande. Stattdessen gedachte er des Freundes durch ein eigenständiges Werk, das Herder vielfältige Anregungen verdankte: die „Vorschule der Ästhetik“. Jean Pauls Gewaltritte auf dem Dichterpferd Pegasus wurden von der Weisheitseule Minervas überwacht, denn Autoren wie Hippel, Moritz und Herder hatten ihn vor dem bloßen Schreiben ohne Reflexion gewarnt. Tatsächlich beschränkt sich seine Begabung keinesfalls auf das Talent als Erzähler, vielmehr gehörte das theoretische Rüstzeug ebenso zum schriftstellerischen Handwerk wie Fantasie, Feder und Tinte. Die Planung eines ästhetischen Hauptwerks beschäftigte Jean Paul deshalb bereits seit den 1780er Jahren. Von den ersten Vorarbeiten der 1786 veröffentlichten satirischen Schrift „Mixturen“, den unveröffentlichten Notizen „Untersuchungen“ von 1790, der „Vorschule“-Erstfassung im Jahre 1804 bis zur stark erweiterten zweiten Ausgabe von 1813 machte er sich intensive Gedanken über die Probleme einer poetischen Kunst- und Geschmackslehre. Noch in seinem Todesjahr erschien eine „Kleine Nachschule zur ästhetischen Vorschule“. Jean Pauls „Arbeits- und Lese-Reglement“ hatte in Meiningen und Coburg eine erstaunliche Schaffenskraft freigesetzt. Nach dem Abschluss des „Titan“ und der „Flegeljahre“ begann nun die Niederschrift der „Ästhetik“, worin er sich ausdrücklich der parteilichen Stellungnahme zugunsten oder gegen die Romantiker enthalten wollte. Gleichwohl fühlte sich der vierzigjährige, mit den Höhen und Tiefen eines Schriftstellerdaseins hinlänglich vertraute Familienvater zu Klarstellungen und Einsprüchen berufen, die sich aufgestaut hatten. „Das Werk wird stark, dringt sich auf einmal mit allen Gliedern ins Sein“, heißt es am 29. Dezember 1803 gegenüber Thieriot. Und das Werk wurde stark, nicht nur in Bezug auf seinen Umfang. Trotz ihrer Einteilung in Kapitel und Paragraphen erheben die „Vorlesungen über die Kunst“ keineswegs den Anspruch auf logische Pünktlichkeit und wissenschaftliche Deduktion. Vielmehr formuliert 210  6. Kapitel

der Dichter seine Überlegungen ohne allzu große Vorsicht gegen den Anwurf mangelnder Wissenschaftlichkeit. Tatsächlich ist das „zwanzigjährige Resultat meiner ästhetischen Bemerkungen während meiner Autorschaft“ angereichert mit viel Satire und Phantasie, wie er am 14. Januar 1804 in einem Brief einräumt. Die Eigenständigkeit der „Vorschule“ spiegelt auch ihr geografisch entlegener Entstehungsort in selbst gewählter Isolation auf dem Coburger Adamiberg, wo er eine ästhetische Summe seiner Zeit schuf. „Ich arbeite jetzt wie ein Vieh“, heißt es am 4. Juni 1804 an Emanuel, und tatsächlich hat Jean Paul selten zuvor mit so viel innerer Beteiligung ein Werk gestaltet. Die morgendlichen einsamen Gänge mit Hund auf die Bergklause befriedigen sämtliche archetypischen Vorstellungen vom solitären Dichterphilosophen. Dort oben, so weiß man in der Stadt, denkt jemand für die Nation, und zwar „mit höhern Begeisterungen zum Bier und Wein“, wie sich im Tal längst herumgesprochen hatte. Die „Vorschule der Ästhetik“ entstand, unterbrochen von der Arbeit an den „Flegeljahren“, in vier Schritten von April 1801 bis Oktober 1803, der ruhigsten und gleichförmigsten Schaffenszeit von Jean Pauls bisherigem Leben. Insbesondere die klösterliche Abgeschiedenheit des Adamiberges blieb in guter Erinnerung. Die „Vorschule“, ein Werk gedanklichen Überflusses, erhielt ihren spöttischen Titel (da es sich lediglich um die Vorstufe einer Kunst- und Geschmackslehre handelt) in Anlehnung an das Proscholium, welches an der Universität den Vorraum vom eigentlichen Hörsaal trennt. Mit dieser Vorgabe, keine wissenschaftliche Ästhetik etwa im Stile Baumgartens zu liefern, sichert sich Jean Paul den Anspruch auf einen hermeneutischen Subjektivismus, der sich gleichwohl wissenschaftlicher Begrifflichkeit nicht verschließt. Die Vorrede zur zweiten Auflage von 1812 begegnet eben jener Kritik der Fachwelt, welche dem Werk einen Mangel an Vollständigkeit und Systematik vorwirft. Es geht Jean Paul um die Sprache, deren Anschaulichkeit er, wie Herder und Wieland, durch den Intellektualismus gefährdet glaubt. Die Vorrede zur ersten Auflage von 1804 betont denn auch die Kritik an der sprachlichen Vernünftelei Kants und seiner Nachfolger. Über viele Manuskriptseiten werden die Vorzüge des „bildlichen Witzes, das Verkörpern des Geistigen“ in der Meiningen und Coburg  211

Sprache gerühmt. Bildhaftigkeit und Metaphernreichtum sollten nicht nur die Prosa des Dichters, sondern auch diejenige des Philosophen kennzeichnen. Tatsächlich enthält die „Vorschule“ so viele profunde stilistische Ratschläge, Regeln und Winke, dass sie zur Pflichtlektüre jedes ambitionierten Autors gehören sollte. Die Feststellung, dass Jean Paul hier erstmals seit Herders „Fragmenten“ den Reichtum der deutschen Sprache umfassend gewürdigt hat, ist sicher nicht übertrieben. Ein Beispiel von vielen ist seine Auseinandersetzung mit dem seinerzeit aufkommenden Sprachpurismus im „Fragment über die deutsche Sprache“, worin er sich einem nationalistischen Philologieverständnis widersetzt. Auch dass seinerzeit überhand nehmende Rezensionswesen bleibt nicht von Kritik verschont. So erwägt Jean Paul – selbst häufiges Opfer bissiger Verrisse – im Ton herber Ironie die Möglichkeit eines Rezensionswesens in extenso, nämlich die Rezension von Rezensionen. Die Autoren der jungen Dichtergeneration, wie Novalis, Schlegel und Tieck, forderten sein Urteil heraus. Die zweite in der „Vorschule“ enthaltene „Miserikordias-Vorlesung“ verkennt nicht deren Talent, aber die Jünglinge halten, so der Vorwurf, den Palmwedel in der Hand für einen Lorbeerkranz und das frisch ondulierte Haar für einen Heiligenschein. Abgelehnt wird eine Schwärmerei ohne Kenntnis und Lebenserfahrung. Vielmehr sollten sich die Jünglinge zur Entfaltung ihres literarischen Reifungsprozesses Herder, Goethe und Schiller zum Vorbild nehmen, um schließlich zur Originalität zu gelangen. Freilich verkennt Jean Paul, dass er in den eigenen „Sturm- und Drang“-Jahren ebenfalls sämtliche Vorbilder zu überflügeln versuchte. Auch bleibt unerwähnt, dass sein eigenwilliger, schwärmerischer Prosastil den Romantikern eine geeignete Grundlage für die eigenen Schreibversuche bot. Im Grunde handelte es sich bei Jean Pauls Romantik-Kritik, wie so oft in der Literatur, um einen Generationskonflikt. Der arrivierte Autor und über vierzig Jahre alte Familienvater verteilte Ratschläge aus dem Füllhorn seiner Weisheit, an die er sich selbst in jungen Jahren nicht gehalten hat. Wie meist im Leben macht Altersüberheblichkeit jedoch teilblind, und auch Jean Pauls Zurechtweisungen sind oft we212  6. Kapitel

niger verständig als man hätte erwarten können. Zwar würdigt er die einzigartigen Beiträge etwa Ludwig Tiecks und Friedrich Schlegels, aber eine Verkürzung des Romantik-Verständnisses nur auf die jungen zeitgenössischen Autoren empfand er als unzulässig, vielmehr zählte er auch Literaten wie Shakespeare, Schiller, Herder, Goethe und Voß dazu. Es ist hier nicht der Ort, auch nur ansatzweise den gedanklichen Reichtum, die satirische Schärfe und witzigen Subjektivismus der „Vorschule“ zu beschreiben, diese Erfahrung mag der eigenständigen Lektüre vorbehalten bleiben. Der Sprachreichtum des Textes überwältigt den Leser ebenso wie die Vielfalt der gedanklichen Ansätze und die innovative Begrifflichkeit. So heißt es in § 13: „Das Mächtigste im Dichter … ist gerade das Unbewußte“. Beeindruckend auch der Bezug auf die „Geschichte der Kunst des Altertums“ des Kunsthistorikers Johann Joachim Winckelmann, dessen demokratische Gedanken über die „Krampf-Verzerrungen der Knechtschaft“ Jean Pauls Denken prägten. Nicht zuletzt macht sich der Einfluss Herders geltend, dessen Diktion und intellektuelle Haltung häufig zu spüren sind. So heißt es: „Jedes einzelne Volk und seine Zeit ist ein klimatisches Organ der Poesie“, und in Anlehnung an Herders Gottesverständnis als einer Urkraft beschreibt der philosophierende Dichter, wie ein „Unendliches oder Unbestimmtes – durch die mechanische Bestimmtheit greift.“ Jean Paul strebt nach kultureller Globalisierung. In § 55 über das „Bedürfnis des gelehrten Witzes“ heißt es mit beschwörendem Pathos: „Nämlich zuletzt muß die Erde ein Land werden, die Menschheit ein Volk, die Zeiten ein Stück Ewigkeit; das Meer der Kunst muß die Weltteile verbinden; und so kann die Kunst ein gewisses Vielwissen zumuten.“ Eine Weltkultur setzt mithin Weltbildung voraus. An diesem Zusammenhang, so ahnt Jean Paul, könnte das Projekt der kulturellen Globalisierung allerdings scheitern. So verwundert nicht seine Lobrede auf die französische Hofkultur, wo sich zuweilen (wie in der Person Voltaires) die „poetische Geselligkeit des Weltmanns“ herausgebildet hat. Gleichwohl, meint Jean Paul, darf sich die deutsche Kunst nicht auf die bloße Nachahmung der französischen Kultur beschränken. Diese Fehlentwicklung hat er als Student leidvoll erfahren, Meiningen und Coburg  213

als man in Leipzig, dem „Pleißparis“, die französische Bildung fast blindlings zur Norm erhoben hatte. Jean Paul, der vormalige „Sturmund Drang“-Anhänger, verkannte nicht die unterschwellige Kälte der höfischen Gesittung, deren Gegensatz zu einer von Winckelmann beschworenen (freilich idealtypischen) griechischen Poliskultur kaum größer sein konnte. Seine Gedanken zur Ästhetik sind stets politisch unterlegt, etwa wenn er den Begriff des „Lächerlichen“ in die Diskussion einführt und den spaßhaft-witzigen Staats-Bürger vom ernsten, weil gedrückten Spießbürger abgrenzt, „da dem Deutschen folglich zum Witze nichts fehlet als die Freiheit“, wie es in § 54 über die „Notwendigkeit einer witzigen Kultur“ heißt. Diese und ähnliche Textpassagen der „Vorschule“ sind an politischen Untertönen kaum zu überbieten. Hier äußert sich ein Wolf, den die Kreide im Maul am Zuschnappen hindert. Nirgendwo in der „Vorschule“ gibt Jean Paul einen derart tiefen Einblick in sein Innerstes wie in dem Text „Über die humoristische Poesie“, wo es in § 32 heißt: „Alles muß romantisch, d. h. humoristisch werden“. Nur der Humor, das „umgekehrte Erhabene“ vermag jene sinnliche Subjektivität zu begründen, welche dem von den äußeren Verhältnissen gedrückten Menschen Flügel wachsen und ihn (vielleicht) zum Engel werden lässt. Im VIII. Programm der „Vorschule“ lässt der Autor endgültig die Zügel des Pegasus schießen, während Minervas weise Eule, im Geäst dösend, auf ihren nächtlichen Ausflug wartet. Der Humor erscheint gar als der „kosmische Weltgeist“ in Gestalt von Haus- und Waldgeistern. Auch braucht die Bühne, so meint der Autor, einen neuen Harlekin. Die Textpartien über „Witz, Scharfsinn, Tiefsinn“ in § 43 seien jedem Studenten des Faches Psychologie zur Lektüre empfohlen. In religiöser Hinsicht wurde Jean Paul von keinem Autor so geprägt wie durch Johann Gottfried Herder. Nicht zuletzt dessen Spätwerk, der Zeitschrift „Adrastea“, verdankte er zahlreiche Anregungen für eigene ästhetische Reflexionen, wie über das Verhältnis von Drama und Epos oder die Ähnlichkeit von Traum und Dichtung. Ob er nun Herders Gedanken ablehnte oder bejahte – stets war der literarische Prediger für ihn ein geistiger Wetzstein, an dem er seine Klinge schärfte. 214  6. Kapitel

Nicht zuletzt in dessen an Spinoza und Leibniz geschulter unorthodoxer Religiosität (welche in jedem Sandkorn das Göttliche erkennt) fand Jean Paul seine eigene Überzeugung gespiegelt. Nur selten wurde denn auch ein Autor öffentlich derart von einem anderen Schriftsteller geehrt wie Herder durch Jean Paul. Insbesondere die „Vorschule“ gleicht einer Eloge auf den Geistlichen, dessen Leben ein Monumentalgebet war. Auch Herders entschiedener Widerstand gegen den zeitgenössischen Intellektualjargon und die Schwärmerei fand in Jean Paul einen engagierten Partner. Herders Monismus oder „dynamischer Pantheismus“ prägte auch Jean Pauls Verständnis des „Klassischen“ als „organisch im Ganzen der Seele“, wie es im vierten Kapitel der I. Miserikordias-Vorlesung heißt. Was der Roman „Titan“ in erhabenen Bildern und Charakteren über viele hunderte von Buchseiten beschreibt, ist in dieser Formulierung zusammengefasst: Die Einheit von Außen- und Innenwelt ist das eigentliche Lebensziel, welches zu erreichen die alltäglichen Widerstände nicht behindern, sondern befördern. Jean Paul zählt Herder, diesen „fruchttreibende[n] Geist“, zu den großen deutschen Stilistikern, ohne freilich zu ahnen, dass dieser sich seines Schreibstils nie so sicher war, wie das Publikum annahm. Begriffliche Einflüsse Herders finden sich in der „Vorschule“ zuhauf. So gilt in dessen Abhandlung „Über den Ursprung der menschlichen Sprache“ die Besonnenheit als Grundlage der Sprachbildung, während für Jean Paul die Besonnenheit als erster Schritt in der „Stufenfolge poetischer Kräfte“ gilt. Nächst Herder ist Jacobi Jean Pauls wichtigster Vorschullehrer, dessen Beschreibung des Traumhaften und der inneren Anschauung als Ort der intuitiven Erkenntnis das romantische Denken vorwegnahm. Insbesondere die von Jean Paul beschriebene Stufenfolge des Genies erinnert an Jacobis Schrift über David Hume, in welcher das sich organisch entwickelnde Subjekt eine ähnliche intellegible Stufenleiter erklimmt wie der poetische Geist in der „Vorschule“. Tatsächlich sind die Begriffe des Unbewussten und Traumhaften in Jean Pauls Beschreibung des poetischen Geistes ohne Jacobis Theorie des Subjekts nicht denkbar. Wie Kant hat auch Jacobi den Schleier des verhüllten Inneren gelüftet und – ein Pandorengefäß entdeckt. Einige Texte Jean Meiningen und Coburg  215

Pauls, wie „Des todten Shakespear’s Klage“ und „Die Wunderbare Gesellschaft in einer Neujahrsnacht“, scheinen denn auch den Zustand nach Öffnung der bösen Büchse zu beschreiben. Bei der Herausgabe der „Vorschule“ machte Jean Paul die leidige Erfahrung, dass sich die akademische Zensur zuweilen strenger auswirkt als die Aufsicht des zuständigen Landesfürsten. So erteilte der Herzog von Sachsen-Gotha die Erlaubnis für eine durchaus harmlos formulierte Widmungsadresse. Eine Voraussetzung für die Veröffentlichung war jedoch die Zustimmung der Philosophischen Fakultät Jena, deren Professoren für jedes erstellte Gutachten von der Druckerei eine Gebühr erhielten – ein hinreichender Grund für eine Flut von mehr oder weniger sachgerechten Beurteilungen. Die Mehrheit des akademischen Zensur-Kollegiums verstand den Widmungstext als einen Angriff auf die Integrität des Fürsten. Die Druckerlaubnis wurde verweigert. Anfang September 1804 wehrte sich Jean Paul gegen diese willkürliche Entscheidung durch Vorlage der befürwortenden herzoglichen Briefe und drohte zudem mit der gesonderten Publikation der „Vorschule“ nebst Beifügung einer satirischen Vorrede – eine Maßnahme, welche die endgültige Versteifung der Zensurbehörde zur Folge hatte. Beendet wurde die leidige Universitäts-Groteske schließlich durch eine Publikation der „Vorschule“ ohne Widmung bei dem in Gotha ansässigen Verlagsbuchhändler Friedrich Christoph Perthes. Das Textvolumen hatte unter der Hand ständig an Umfang zugenommen, so dass zur Buchmesse im Herbst 1804 zunächst die ersten zwei Bände erschienen, der dritte folgte wenige Wochen darauf. Ein „FreiheitsBüchlein“ genannter Sonderdruck, der die Dedikation nebst dem Briefwechsel zwischen Autor und Herzog enthielt, sollte die Öffentlichkeit über die missliche Vorgeschichte des Werkes informieren. Perthes lehnte jedoch vermutlich aus politischen Gründen den Druck ab, das Buch erschien ein Jahr später bei dem württembergischen Verleger Johann Friedrich Cotta. Das Geplänkel um die Dedikation wirft ein Schlaglicht auf die vielschichtige Zensurproblematik jener Zeit, in der auf kommerziellen Erfolg angewiesene Autoren nicht nur den voraussichtlichen Publikumsgeschmack treffen, sondern zudem ihre Werke 216  6. Kapitel

durch die Irrwege der staatlichen und akademischen Prüfung lavieren mussten. Jean Pauls politische Urteilskraft wurde in Coburg auf eine dramatische Weise herausgefordert, wurde er doch Zeitzeuge einer Staatsund Regierungskrise, welche in der Umwandlung einer Feudalgesellschaft in die bürgerliche Staatsform begründet war. Einer seiner Coburger Freunde war der leitende Minister Theodor Kretschmann, der zur Steigerung der Staatseinnahmen und Freude seines fränkischen Freundes in Coburg eine ertragreiche Brauerei gründete. Neben Kretschmanns Persönlichkeit schätzte Jean Paul dessen Denkschrift „Die Organisation der Coburg-Saalfeldischen Lande“, welche die Hintergründe der finanziellen und politischen Notlage des Herzogtums schonungslos offenlegte. „Ich mus Kretschmann immer mehr achten. Der Herzog gab ihm die Erlaubnis – das freimütigste Buch … drucken zu lassen –, ohne es lesen zu wollen“, heißt es in einem Brief an Emanuel vom 7. August 1803. Seinerzeit gab es in Coburg keine umstrittenere Person als den in Bayreuth gebürtigen Minister von Kretschmann, der sich als publizistischer Autor und hoher preußischer Verwaltungsbeamter Verdienste erworben hatte und deshalb in den Adelsstand versetzt wurde. Im Jahre 1801 war Kretschmann in Sächsisch-Coburgische Dienste getreten, um gegen den Willen großer Teile der Regierungsbeamten und Vertrauten des Herzogs eine Finanz- und Verwaltungsreform durchzuführen, die ihren Namen verdiente. Der entschiedene Vertreter einer von Transparenz und Rationalität bestimmten Budgetpolitik wusste den regierenden Herzog Franz sowie dessen Gattin auf seiner Seite. Gleichwohl war der allgemeine Widerstand erheblicher als erwartet, denn viele Hofangestellte sahen durch die rigorose Sparpolitik tradierte Pfründe und Privilegien gefährdet. Bekanntlich machen sich Sanierer von finanziell morbiden Institutionen mehr Feinde als Freunde, und so wirkten sich auch Kretschmanns Sparmaßnahmen verheerend auf seine Sympathiewerte aus. Eine klug eingesetzte Propaganda brachte schließlich auch das einfache Bürgertum gegen den Minister auf. Als Herzog Franz im Jahre 1801 die Regierung übernahm, hatte sich trotz vieljähriger kaiserlicher Zwangsverwaltung die desolate FiMeiningen und Coburg  217

nanzlage des Hauses nicht gebessert. Der Herzog, von dem Wunsche nach Entfernung der kaiserlichen „Debitcommission“ beseelt, wandte sich persönlich an Kretschmann, der einen rigiden Finanz- und Operationsplan ausarbeitete, den der Herzog und seine Ratgeber billigten. Die allzu gemächlich verlaufenden Entscheidungsprozesse wurden beschleunigt, Entscheidungskompetenz in den Geschäftsbereich des Ministers verlegt. Diese Maßnahmen trafen indes auf erheblichen Widerstand, wurde doch mancher unbrauchbare Diener durch einen fähigeren ersetzt oder die Charge gänzlich abgeschafft. Der Widerstand ging jedoch auch von Agnaten des Hauses aus, wie dem Bruder des regierenden Fürsten, Ludwig Carl Prinz von Coburg. Es folgten schließlich so heftige Zerwürfnisse innerhalb der regierenden Familie, dass Herzog Franz durch Befehl vom 16. Juli 1804 seiner „sämmtlichen treuen Dienerschaft und den Pensionärs jede selbst die entfernteste Verbindung“ mit dem Prinzen untersagte. Mächtige Gegner waren auch Vizepräsident von Wangenheim und Landesdirektor von Könitz, die, ermuntert durch Blutsverwandtschaft mit dem Adel sowie reichem Grundbesitz, den Widerstand gegen die Reformpolitik organisierten. Selbst eine so harmlose Verfügung Kretschmanns wie die Neunummerierung der Häuser führte Ende Februar 1803 auf dem Coburger Stadthaus und in Bürgerversammlungen zu tumultartigen Auftritten. Zur Aufrechterhaltung der Regierungsgewalt wurde schließlich sogar Reichshilfe angefordert. Zwei Schwadronen kursächsischer Dragoner sorgten für Befriedung. Die Zeichen der Zeit standen auf Sturm, als Jean Paul auf seiner Bergklause die „Vorschule der Ästhetik“ schrieb. Zwar befasste er sich als Außenstehender nur ungern mit den Turbulenzen im Tal, aber seine Position war eindeutig: Als persönlicher Freund des Herzogspaares und Kretschmanns war er mit den politischen Kabalen und Intrigen durchaus vertraut, welche der von ihm unterstützten Reformpolitik entgegengesetzt wurden. Zwar mussten Wangenheim und Könitz schließlich ihre Positionen räumen, aber die Keime der Unruhe und des Streits hatten sämtliche Volksschichten kontaminiert. Am 19. April 1804 wurde Jean Paul im Auftrag des widerständigen Prinzen zum Hintergrund des Regierungsstreits vernommen, und erst 218  6. Kapitel

die versöhnliche Antwort des Herzogs auf einen Beschwerdebrief des Dichters vermochte die Wogen wenigstens teilweise zu glätten. Durch Kretschmann war auch die ordnungsamtliche Aufsicht verschärft worden. Unter dieser Maßnahme litten nicht wenige bierfreudige Männer, wie der in Coburg weilende Thieriot, der sich über die Unterbindung seines öffentlichen Urinierens beklagte, denn „er dürfe hier nirgends ohne Dach pissen, außer für 1 rtl. [Reichstaler] Strafe die Sekrezion ohne Sekret“, wie Jean Paul den Vorfall auf drastische Weise in einem Brief vom 20. August 1803 beschreibt. Am 17. Januar 1804 lamentierte der Dichter (der zuweilen selbst den Harn an einer Hauswand abschlug) heftig über die leidige „Pißsteuer“. Die Coburger Erfahrungen hinterließen bei Jean Paul bleibende Eindrücke, „denn in einem kurzen Schlachtfelds(Zeit)Raum hiesiger Kriege hab’ ich von Hof und Welt mehr gelernt als sonst in 10 Jahren“, schreibt er am 19. Februar 1804 an Emanuel. Insbesondere das Zeugenverhör im Palais des Prinzen von Coburg hatte einen üblen Eindruck hinterlassen. Allmählich reifte in Jean Paul der Wunsch, Coburg zu verlassen. Zunächst wurde ein Umzug nach Gotha erwogen, wo im April 1804 der befreundete Prinz Emil August an die Regierung gekommen war. Bald jedoch trat die Sehnsucht nach Bayreuth in den Vordergrund. Bei dieser Überlegung war indes keineswegs der oft kolportierte Gedanke vorherrschend, dem Lockruf des Bayreuther Bieres zu folgen, denn der gute Gerstensaft sprudelte seit Kretschmanns Initiative auch in Coburg. Vielmehr fühlte sich Jean Paul durch den fast ausschließlichen Kontakt zu adligen Personen seiner kleinbürgerlichen Wurzeln entfremdet, wie er am 24. August 1804 gegenüber Christian Otto anmerkt. Auch Erwägungen des Alltags, wie das mangelhafte Hebammenwesen, spielten eine Rolle. Zudem musste Familie Richter ihre Wohnung verlassen, weil die Hauswirtin gestorben war, und die leidige, mehrfach in Briefen an Emanuel beklagte „Pißsteuer“ tat ihr Übriges, um sich von Coburg zu entfremden. Am 17. Januar 1804 waren die Würfel endgültig zugunsten der Übersiedlung nach Bayreuth gefallen, ein Brief an Emanuel drückte diesen Wunsch unmissverständlich aus. Erste Überlegungen zugunsten der fränkischen Residenzstadt gehen wohl auf eine Reise Jean Meiningen und Coburg  219

Pauls mit der Familie nach Bayreuth im Juli 1803 zurück, wo er für einen Tag die mit Emanuel befreundete, bezaubernde Henriette „Jette“ Braun kennen und schätzen lernte, um anschließend seinen Bruder Gottlieb in Sparneck zu besuchen. Trotz der äußerlichen Unrast, an der sich Jean Paul als Außenstehender kaum beteiligte, verliefen die Tage in Coburg eher ruhig. Zum Thema familiäre Rollenverteilung bemerkte er in einem Brief an Emanuel vom 7. August 1803 lakonisch: „Es passiert hier nichts. Ich habe meine Bücher, C. ihre Kinder“. Vor dem endgültigen Abschied brachte zu Pfingsten 1804 eine Reise nach Bamberg und Erlangen Abwechslung in den Alltag. Abermals stand ein Besuch Charlotte von Kalbs auf deren Landgut Trabelsdorf auf dem Programm, in Erlangen lernte er einen „geistreichen Zirkel“ der „Verehrer und Schlegeliten“ kennen. Der Pfarrer der deutsch-reformierten Gemeinde in Erlangen, Le Pique, hinterließ eine beredte Beschreibung von Jean Pauls äußerer Erscheinung: „Er trug Stiefel, lange Hosen, jedoch nicht lang genug, um in die Stiefel hinabzureichen, eine nicht sehr weiße Weste, einen blauen, schon etwas verschlissenen Rock mit schwarzsamtenen Kragen. Er ist von mittlerer Größe und recht wohl gebaut. Sein Gesicht ist nicht schön, doch auch nicht unangenehm: en profil gefiel es mir viel besser als en face … Seine Augen sind blau; es herrscht in ihnen kein flammendes oder blitzendes, sondern ein düster und matt glänzendes Feuer … Seine Stirne ist ungewöhnlich hoch … Er hat eine starke Glatze … Er ist nicht gerade dick, doch auch gar nicht so mager … Aber sein Fleisch ist aufgedunsen und schwammicht, welches besonders an den Händen, die zittern, auffällt … Er verändert jeden Augenblick seine Stellung … Seine Mundart, die vogtländische, klingt nicht sonderlich angenehm.“ Nach der Rückkehr blieben in Coburg noch einige Monate, um die „Vorschule der Ästhetik“ zu beenden und mithilfe Emanuels die praktischen Fragen des Umzugs zu regeln. Immerhin musste der gesamte Hausstand mit Ehepaar, zwei Kindern und dem Spitz transportiert werden. Am 12. August 1804, nachmittags gegen vier Uhr, traf Familie Richter in Bayreuth ein. 220  6. Kapitel

7. Kapitel

In Bayreuth Die zentrale politische Erfahrung Jean Pauls in Bayreuth war das Ende der Hohenzollernherrschaft und die Besetzung des seit 1791 preußischen Fürstentums durch französische Truppen. Anfang Oktober 1806, noch vor der Kriegserklärung Preußens an Frankreich, okkupierte ein französisches Korps Bayreuth, das der preußische König infolge des Tilsiter Friedens an den Kaiser abtreten musste. Napoleon, nunmehr Regent des Gebietes, ernannte den Baron Camille de Tournon zum Intendanten und Zivilgouverneur der „Provinz Bayreuth“. Napoleons Wahl konnte glücklicher nicht sein, denn der gebildete Adlige war ein erklärter Freund der Deutschen, deren Sprache er trefflich beherrschte. Mit aller Energie widmete sich de Tournon den Verwaltungsaufgaben. Als kaiserlich-französischer Präfekt in Rom verfasste er im Jahre 1810 mit archivarischer Unterstützung eine Denkschrift mit dem Titel „Die Provinz Bayreuth unter französischer Herrschaft“, welche detaillierte Angaben zu Topographie, Bevölkerung, Geschichte, Verwaltung und der wirtschaftlichen Lage enthält. Wer an der Lektüre einer kritischen Darstellung der architektonischen, kulturellen und ökonomischen Situation der Landschaft um Bayreuth im beginnenden 19. Jahrhundert interessiert ist, dem sei die inzwischen auch als Übersetzung vorliegende Schrift zur Lektüre empfohlen. Vor allem der Stadt Bayreuth, gelegen „in einer herrlichen, weiten Mulde, welche vom Maine durchzogen wird“, gilt die Aufmerksamkeit de Tournons. Das Alte Schloss „Eremitage“ findet ebenso Erwähnung wie das Rokoko-Herrenhaus mit dem inspirierenden Namen „Fantaisie“, welches in Jean Pauls Erzählungen als Locus amœnus eine Rolle spielt. Neben den liebevoll geschilderten Vorzügen Bayreuths liefert die Schrift eine ungeschönte Beschreibung der sozialen und wirtschaftlichen Wirklichkeit. Die etwa 10.000 Seelen umfassende Bayreuther Bevölkerung setzte sich aus Bauern, Handwerkern, KaufIn Bayreuth  221

leuten und Beamten zusammen, wobei Kleingewerbler sowie Grundbesitzer ohne Adel statistisch den größten Anteil an der Bevölkerung stellten, gefolgt von Dienstboten, Bauernknechten und Mägden sowie Tagelöhnern. Zu jener Zeit wurde in den sauberen oberfränkischen Gewässern noch „Perlfischerei“ betrieben. Ein besonderes Augenmerk richtet de Tournon auf die jüdische Bevölkerungsgruppe, welche auch für Jean Paul eine Rolle spielte, denn einer seiner besten Freunde, Emanuel, gehörte dieser Religionsgemeinschaft an. Mit wenigen Ausnahmen genossen Juden dieselbe Gewissens- und Religionsfreiheit wie die anderen Bürger, die mosaische Gemeinde unterhielt eigene Synagogen, Friedhöfe und ein Zivilstandsregister. Infolge besonderer gesetzlicher Regelungen mussten Juden ihren Grundbesitz nach einer vorbestimmten Zeit veräußern. Diese Bestimmungen begünstigten einen Hang zur Maklerei, wovon Emanuel seinen Lebensunterhalt bestritt. Obwohl man gegenüber durchziehenden Juden nach altem Recht ein besonderes Wegegeld sowie ein pauschales „Judengeld“ als Steuerersatz erhob, war die semitische Gruppe insgesamt gut in die Gesamtbevölkerung integriert. Allerdings waren die Juden gehalten, einen bürgerlichen Nachnamen anzunehmen, Emanuel entschied sich auf Vorschlag seines dichtenden Freundes für den Familiennamen Osmund. Die vorherrschende Konfession in Bayreuth war die lutherische, mit Abstand gefolgt von Katholiken und Calvinisten, die ebenfalls Religionsfreiheit genossen. Öffentliche Wohlfahrtseinrichtungen wie ein Medizinalkollegium, moderne „Irren- und Gebärhäuser“, zahlreiche neu eingerichtete Landschulen und Kreisärzte, eine von der Regierung finanzierte obligatorische Pockenimpfung sowie eine allgemeine Brandversicherung sind Bestandteile einer gehobenen urbanen Infrastruktur. Das aufgeklärte Bürgertum traf sich in einem „Harmonie“ genannten Männerklub, wo gespielt, getrunken und Journale gelesen wurden. Jean Paul verkehrte dort häufig. Obwohl der Einmarsch der kaiserlichen Truppen nach Zahlung einer Kriegskontribution von 2,5 Millionen Francs unblutig verlief, wurde die Bevölkerung durch die Besetzung erheblich belastet, denn die Soldateska der Franzosen und ihrer Verbündeten – Bayern, Würt222  7. Kapitel

temberger, Badener und Darmstädter – nahm willkürliche Einquartierungen und Beschlagnahmungen vor. Andererseits brachten die Truppen zum Tausch für Fourage und Kleidung viel Geld in das von Kriegsverwüstungen verschonte Land. Die Unterbrechung der preußischen Verwaltung hatte freilich die Einstellung der Auszahlung von Besoldungen, Pensionen, Witwen- und Waisengeldern sowie der Staatsschuldzinsen zur Folge, erst ab 1809 nahm Frankreich den regelmäßigen Geldtransfer wieder auf. Mit großem Interesse verfolgte man den Verlauf des französischen Feldzugs in Spanien, nachdem sich die Engländer am Kampf gegen den Korsen beteiligten. Die Erfurter Begegnung Napoleons mit Zar Alexander im Oktober 1808 und die Siege Frankreichs gegen Österreich verliehen dem gallischen Kaiser den Nimbus der Unbesiegbarkeit. Eine ausgefeilte französische Propaganda versorgte die in Deutschland viel gelesene „Intelligenzzeitung“ ständig mit neuen Siegesbulletins des französischen Heeres. In dieser Situation regten sich erstmals Bestrebungen, die später zu den so genannten Befreiungskriegen führten. Mehrfach wurden militärische Anführer dieser Erhebungen als „Räuberhauptmänner“ öffentlich exekutiert, Reichsfreiherr vom Stein sogar als „Feind Frankreichs und seiner Verbündeten“ öffentlich ausgeschrieben, was einer steckbrieflichen Verfolgung gleichkam. Um die Bevölkerung im Zaum zu halten, musste am 7. Mai 1809 in der Kirche von Bayreuth zur Feier des Sieges Napoleons gegen die Österreicher bei Regensburg ein Tedeum gesungen werden. Bei der Fahrt des französischen Zivilgouverneurs zum Gotteshaus hatte die Bürgergarde Spalier zu stehen. Die politische Lage in Bayreuth war mithin überaus gereizt, eine unterschwellig keimende patriotische Stimmung vereinte sich mit antifranzösischen Ressentiments, ohne dass diese sich allerdings in Putschversuchen Geltung verschafft hätten. Die prekäre Situation blieb für einen früheren Anhänger der Französischen Revolution wie Jean Paul nicht ohne Wirkung. Nach Ankunft in Bayreuth bezog Familie Richter eine geräumige 6-Zimmer-Wohnung im Hause eines Justizrates am Marktplatz, heute Maximilianstraße 9. Die häufigen Ortswechsel der Familie entwickelten sich in den folgenden Jahren zu einer wahren innerstädtischen In Bayreuth  223

Odyssee, so bezog man fünf Jahre später ein Quartier in der Innenstadt, Friedrichstraße 10, um Emanuel nahe zu sein. Nach Ärger mit dem Vermieter, fand man zwei Jahre darauf ein neues Domizil in der Schlossapotheke, heute Maximilianstraße 16. Drei Jahre später, im Sommer 1813, folgte ein heftiger Eklat, denn Jean Paul bezichtigte die Magd der Hauswirtin des Bier- und Weindiebstahls. Am 10. August musste er der Beschuldigten ein handschriftliches Zeugnis ihrer Unschuld ausstellen, gleichwohl war die Atmosphäre vergiftet. Die letzte Wohnstätte Jean Pauls war das später so genannte „Schwabbachersche Haus“, heute Friedrichstraße 5. Wie in Coburg, suchte der Dichter eine Zufluchtsstätte, wo ihn kein Tageslärm beim Schreiben stören würde. Dieses Refugium fand er auf dem Weg zur „Eremitage“, wo sich ein von dem Ehepaar Rollwenzel bewohntes und bewirtschaftetes ehemaliges Zollhäuschen befand. Seit 1805 besuchte Jean Paul regelmäßig das Haus der resoluten Anfang 50-jährigen Anna Dorothea und ihres Gatten Friedrich, der in der Ehe freilich wenig zu sagen hatte. Die anfänglich „mit Weib und Kind“ „bei Bier und Eierkuchen“ besuchte „Rollwenzelei“ wurde schließlich von Jean Paul bei schönem Wetter als Klause genutzt, die ihm ein ungestörtes Arbeiten bei guter kulinarischer Versorgung ermöglichte. Wirtin Dorothea betrachtete die Betreuung des prominenten Gastes schließlich als ihre Lebensaufgabe, welche sie mit eigentümlicher Derbheit meisterte. Jean Paul fühlte sich an das urwüchsige Milieu seine Heimat erinnert, während Caroline die rustikale Manier und Originalität der Wirtin nur bedingt schätzte, jedoch zeigte sie Verständnis für das Rückzugsbedürfnis ihres Mannes. Seit einigen Jahren kümmert sich ein „Verein zur Erhaltung von Jean Pauls Einkehrund Dichterstube in der Rollwenzelei“ um die Stätte, in welcher der Poet bis an sein Lebensende arbeitete. Die häufige Trennung Jean Pauls von der Familie war indes nicht nur in dem Wunsch nach ungestörter Entfaltung der Schaffenskraft begründet, vielmehr machten sich im ehelichen Alltag zunehmend Spannungen bemerkbar, die Erziehungsfragen betrafen. Im November 1804 hatte Caroline das dritte Kind namens Amöne Odilie Minna zur Welt gebracht. Vor allem jedoch von dem drei- bis vierjährigen Nach224  7. Kapitel

wuchs Emma und Max fühlte sich Jean Paul als Erzieher gefordert, endlich konnte er seine „pädagogischen Marschreglements“ von Töpen und Schwarzenbach praktisch anwenden, wie er Otto in einem Brief vom 15. März 1803 mitteilte. Tatsächlich verfügte der frühere Lehrer durchaus über pädagogische Erfahrung, hatte er doch durch die Erziehung des elfjährigen Christian von Oerthel in Töpen, die Tätigkeit in der Schwarzenbacher „Winkelschule“ sowie bei den Hofer Kaufmannsfamilien hinreichend praktiziert. Zudem enthalten seine Romane und Erzählungen ausreichendes Material für eine eigenständige pädagogische Lehre, welche ebenso von den misslichen Erfahrungen der Kindheit wie von Ressentiments gegenüber den Erziehungsprinzipien einiger Hofer Gymnasialprofessoren bestimmt ist, deren Unterrichtsstil kleinstaatlicher Despotenwillkür glich. Als Beispiele für pädagogisch handelnde Figuren in Jean Pauls Schriften seien Rektor Fälbel als grotesker Oberschullehrer sowie dessen positive Gegenfigur aus dem „Hesperus“, Emanuel-Dahore, genannt, dem Viktor und Klotilde ihre Fähigkeit zur Liebe verdanken. Trotz aller Vorkenntnisse Jean Pauls erwies sich jedoch die Erziehung der eigenen Kinder schwieriger als erwartet. Spätestens seit dem Frühjahr 1803 kam es zwischen dem Vater als „Kindernarr“ und Caroline zu ernsten Spannungen über angemessene pädagogische Maßnahmen, etwa wenn Tochter Emma zum wiederholten Male auf das Getäfel „pisset“, wie Jean Paul in einem Brief an Emanuel vom 13. März 1804 lamentiert. Weiter heißt es: „Aber wie in Ehen über Erziehen gezankt wird, davon haben sie keinen Begrif, sondern ich.“ Gegenüber Emanuel hatte er in einem Hofer Schreiben vom 18. September 1795 seine revolutionären pädagogischen Gedanken erläutert: „Der Erziehung schreib’ ich viel weniger zu als Sie. Die besten Menschen kamen nicht aus den Händen der besten Hofmeister und Eltern, sondern gerade aus denen der Natur … Die besten Völker hatten die schlechtesten Schulen … und wir werden mit allen unsern bessern Schulen wol gelehrter aber nicht auch besser. Kurz damit der Mensch gut werde, braucht er ein lebenslanges Pädagogium, nämlich einen – Staat. So lange die Regierungsform sich nicht ändert … bleibt die Menschheit ein elender niedriger ängstlicher Schwarm“. Solange In Bayreuth  225

kein republikanisches Staatswesen verwirklicht sei, vertraute Jean Paul in Übereinstimmung mit der vorherrschenden Medizinlehre des Brownianismus auf die erzieherische Kraft der Natur durch Abhärtung. Die Erfahrung, dass eine allzu theoretisch fundierte Erziehungspraxis im Alltag zumeist schnell an ihre Grenzen stößt, mussten Emma und Max am eigenen Leib erfahren, denn die Auswirkung von Jean Pauls ebenso menschenfreundlicher wie revolutionärer pädagogischer Gesinnung sollte bei seinem Nachwuchs erhebliche Traumata zeitigen. So schrieb Ernestine Mahlmann, Carolines Schwester, im November 1803 von Coburg an ihren Mann: „Du glaubst nicht, mit welcher Strenge das Kind [Emma] schon jetzt behandelt wird. Bei dem geringsten Laut der Unart wird ihm nur die Rute gezeigt, und gleich ist es still. Wenn man es ins Bette legt, werden weiter keine Umstände mit ihm gemacht. Schreit es, so muß es so lange schreien, bis es schläft. Die Tür bleibt zu, und kein Mensch naht sich ihm weiter.“ Die Härte und Unnachgiebigkeit des eigenen Vaters beeinflussten zweifellos Jean Pauls Pädagogik. So blieb auch Max von herben disziplinarischen Maßnahmen nicht verschont, schon frühzeitig wird er dazu angeleitet, ein hohes Lernpensum zu absolvieren. Freilich spielte für Jean Pauls erzieherisches Selbstverständnis auch die Einfühlung in die Bedürfnisse des Kindes eine Rolle, aber pädagogische Härten bleiben in der Erinnerung bekanntlich besonders lange haften und formen den Charakter häufig auf missliche Weise. Carolines Zweifel an den pädagogischen Fähigkeiten ihres Mannes konnten sich jedoch nicht durchsetzen, ohne dass er seine pädagogische Kompetenz als gefährdet empfunden hätte. Jean Paul fühlte sich indes nicht nur zum familiären, sondern ebenso zum nationalen Erzieher berufen. Die Besetzung der Heimat durch Napoleons Truppen sowie die verhasste deutsche Kleinstaaterei zeitigten den Wunsch, durch eine abhärtende Erziehung eigenständige Charaktere zu formen, von deren moralischer und physischer Widerstandsfähigkeit eine grundlegende Veränderung der bestehenden politischen Verhältnisse zu erhoffen war. Diese Gedanken formulierte Jean 226  7. Kapitel

Paul in dem Werk „Levana oder Erziehlehre“, welche – nachdem die Verleger Cotta und Perthes wegen der unsicheren politischen Lage den Druck abgelehnt hatten – am Ende des Jahres 1806 bei dem Braunschweiger Buchhändler Friedrich Vieweg erschien. „Levana“, benannt nach der römischen Geburtsgöttin, wurde eine der kommerziell erfolgreichsten Veröffentlichungen aus der Feder Jean Pauls, oft nachgedruckt bis in unsere Zeit. In Anlehnung an Rousseaus „Émile“, Basedows „Elementarlehre“ und die Schriften Pestalozzis entstand ein Werk epischen Ausmaßes, das nicht etwa als Regelwerk oder Curriculum gedacht ist, sondern den „Geist der Erziehung“ zu beschreiben versucht. In der Vorrede zur ersten Auflage weist Jean Paul auf die Ernsthaftigkeit des Buches hin, das weniger polemisiert, als es das Publikum bislang von seiner Feder gewohnt war. Trotz aller Zeitgebundenheit handelt es sich bei der „Erziehlehre“ um eine sprudelnde Quelle, aus der die Pädagogik noch heute schöpfen kann. Freilich vermag sich der Autor der heiteren Zwischentöne nicht gänzlich zu enthalten, was dem erziehungsphilosophischen Opus mag­ num einen eigenwilligen Charme verleiht. Das Regelwerk, das keines sein will, ist nämlich in zahlreiche Kapitel und Paragraphen unterteilt, welche das Buch strukturieren, ohne freilich die prosaische Verve ihres Urhebers verhehlen zu können. Hier schreibt ein Engagierter, der das Thema als ureigenes Material nimmt, der eine Hymne auf die Kindheit anstimmt, die er geistig kaum hinter sich gelassen hat. Die Zeilen lassen den Atem eines Denkers und Beteiligten spüren, dem die durch den Vater und die Lehrer aufgedrängten Lernpensen (denen er freilich auch seinen Sohn Max aussetzte) als Gräuel in Erinnerung waren. Die aufgrund kriegsbedingter postalischer Verzögerungen von zahlreichen Druckfehlern entstellte Erstauflage von „Levana“ (Jean Paul gab schließlich ein eigenes Errata-Verzeichnis heraus) beschwört einen Kerngedanken: Es wird der Versuch unternommen, das Kind in seiner bestimmten Individualität und Situation zu verstehen, das „Verschlungenwerden der Einzelwesen ins Ganze“, wie es im § 21 heißt. „Levana“ enthält zudem ausführliche geschichtsphilosophische Erörterungen, deren leidenschaftliche Diktion an die besten Texte Herders In Bayreuth  227

erinnert, dessen Wort vom „Geist der Zeit“ Jean Paul durch den „Geist der Ewigkeit“ ergänzt. Bei aller Begeisterung macht sich ein konservativer Grundton bemerkbar. Der Autor weiß, dass die einstigen Revolutionstruppen nunmehr seine Heimat besetzen, dass mithin der Umsturz „nichts Großes hervorbrachte und nachließ als am gedachten Gewürm schöne Flügel“, wie in § 35 mit zensurverdächtiger Offenheit verlautet. Solche und ähnliche anti-napoleonische Textpassagen hatten renommierte Verleger wie Cotta und Perthes von der Veröffentlichung des Werkes abgehalten, aber eben solche Formulierungen begeisterten das deutsche Publikum. Die „Levana“ erweist sich als ein Lehrbuch zur umfassenden Ertüchtigung des Nachwuchses durch drakonische Erziehungsmethoden. So soll das Kind nicht nur vor „allem Heftigen und Starken [sondern auch] vor süßen Empfindungen“ beschirmt, ja das Schreien der Kinder durch „männliche Gegenmittel“ verhütet werden, wie es im § 43 heißt. Freude steht höher als der Genuss, gezielte Tätigkeit gilt mehr als das Spiel, das auf die ersten Lebensjahre beschränkt bleiben sollte. Um dem Kind seine Flausen auf milde Weise auszutreiben, plädiert Jean Paul für elterlichen sanften Druck durch Ermahnung und Vorbild, die züchtigende Rute sollte hingegen nur in letzter Konsequenz ihre Bestimmung finden. Insgesamt setzt „Levana“ auf eine ermahnende, transparente Erziehung in der Hoffnung, dass sich die elterliche Disziplin auch ohne Härte Geltung verschaffen könne. Ein Anhänger des Vegetarismus war Jean Paul nicht, seine ernährungsphysiologischen Ratschläge sprechen sich für den Genuss von Fleischspeisen aus, ja sogar Bier und Wein gehören – freilich in Maßen genossen – zur Kost der Kinder. Abhärtung heißt die Devise, so solle „man zu gewählten Zeiten die Regenkleider an den Kindern selber abtrocknen“ lassen, heißt es in dem mit barbarischen Ratschlägen reichlich versehenen Anhang zum „Dritten Bändchen“, der sich mit „physischer Erziehung“ befasst. Die Mütter werden ebenfalls einem Ertüchtigungstraining unterzogen, gegen die „Seßsucht“ hilft eine „Lebens- und Arbeitsgymnastik“, die selbst Turnvater Jahn begeistert hätte. Weise Ratschläge sind garniert mit sonderbaren Bemerkungen, 228  7. Kapitel

deren Sinn sich nur schwer erschließt. So heißt es am Anfang von § 50 kryptisch über weibliche Personen, denen es augenscheinlich an einem Spiegel mangelt: „Die Frau fühlt sich, aber sieht sich nicht; sie ist ganz Herz, und ihre Ohren sind Herz-Ohren.“ Diese und ähnliche für heutige „Herz-Ohren“ befremdliche Anmerkungen sind in der Kritik an der höfischen Erziehung begründet, welche zugunsten von staatlich angestellten Berufspädagogen die Rechte der Mütter an den Kinder einschränkte. Die bürgerliche Rollenverteilung weist hingegen der Mutter die entscheidende Rolle bei der emotionalen Erziehung zu. Während „die Männer regieren und ernten“, bestellen die Frauen die häusliche Logistik und sorgen – zur Freude und Entlastung des heimkehrenden Gatten – für eine angenehme Atmosphäre. Über viele Buchseiten hinweg entfaltet Jean Paul konventionelle Vorstellungen über die Geschlechterrollen, welche bis in unsere Tage nachwirken. An Bildung wird den Frauen außer dem Erwerb häuslicher Fähigkeiten das Erlernen der französischen Sprache empfohlen – nicht zuletzt, um die Einquartierung der napoleonischen Truppen zu meistern. Der weibliche Geschäftssinn wird gelobt, aber die Eitelkeit und Verführbarkeit durch den „Kleider-Teufel“ getadelt. Wie in seinen Romanen wechselt Jean Paul auch in der „Levana“ oft den Ton und Stil. So enthält § 101 eine traumhafte Szene mit der durchaus komischen „Geheime[n] Instruktion eines Fürsten an die Oberhofmeisterin seiner Tochter“. Es geht um die Erziehung der fiktiven Prinzessin Theoda, welcher zum Zwecke der seelischen Reinigung die Lektüre der Werke Herders, Klopstocks, Goethes, Schillers, Rousseaus, Fenélons und Madame de Staëls empfohlen wird. Dem jungen Fürsten obliegt hingegen (in dem unmittelbar vor der Schlacht von Austerlitz verfassten Text), neben einer umfassenden Ausbildung in den Künsten, das Erlernen des Kriegshandwerks. Tatsächlich liest sich die „Levana“ teilweise wie ein Wehrertüchtigungs-Handbuch mit ständigen Spitzen gegen den „entmannenden Lehrstand“. Im Sinne der Stoa, so heißt es, sei hingegen das Ertragen von Schmerzen die wahre „Stahl-Arznei der Männlichkeit“. Solche Textpassagen, die einer nationalsozialistischen PropagandaSchrift entnommen sein könnten, sind für heutige Leser, denen die In Bayreuth  229

Schädelstätten der deutschen Geschichte bekannt sind, nur schwer verdaulich. Bei der Beurteilung derart heikler Aussagen muss freilich die doppelte Frontstellung des bürgerlichen Autors gegen die napoleonische Besetzung und die Auswüchse der deutschen Kleinstaaterei berücksichtigt werden. Letztlich geht es Jean Paul um die Bewährung einer Haltung, welche wir heute Zivilcourage nennen, denn wahrhaft tapfer ist für ihn nur ein Fürst mit der Friedenskrone auf dem Haupt. Es ging Jean Paul um die „Bildung zur Liebe“, worunter eine umfassende Fähigkeit zu Empathie, zum Mitleid mit der Kreatur zu verstehen ist. Die in der „Levana“ enthaltene Ertüchtigungs- und Wehrphilosophie basiert in Wahrheit auf einem zutiefst humanen Menschenbild, das gespeist wird aus naturrechtlichen und christlichen Quellen. Der § 149 über „Klassische Bildung“ erkennt die Religion als „Poesie der Moral“ mit dem Ziel des „Hohen Menschen“, wie es von Jean Paul seit der „Unsichtbaren Loge“ als Ideal geschildert wurde. Zur Erlangung dieser Würde empfiehlt Jean Paul dem Nachwuchs eine „sittliche Ernährkunde“ oder literarische Diätetik. „Kinder sind kleine Orientalen“, heißt es im § 125, deshalb werden die Erzählungen aus „Tausendundeine Nacht“ ebenso zum Lesen empfohlen wie die „Palmblätter“, eine von Herder herausgegebene Sammlung morgenländischer Erzählungen. Nichts lag Jean Paul mithin ferner, als die Ausbildung des Typus militanter Chauvinisten oder gar Rassisten. Vielmehr galt sein pädagogisches Ziel der Heranbildung von Charakteren, welche dem seit seiner Jugendzeit erträumten, freilich utopisch anmutenden Ideal vom „Hohen Menschen“ nahe kommen, der eine seelische Gediegenheit erlangt, um den eigenen Leib und Geist als Tempel Gottes zu würdigen. Das bürgerlich-christliche Tugend- und Wertesystem der „Levana“ begeisterte ein Publikum, welches in Jean Pauls „Erziehlehre“ die eigenen Ideale gespiegelt sah und die pädagogischen Ratschläge eines väterlichen Dichterphilosophen schätzte. Ungeachtet einer unfreundlichen Rezension in den „Göttinger Gelehrten Nachrichten“ im Dezember 1806 war der Verkaufserfolg des Werkes so erheblich, dass fünf Jahre später eine erweiterte Auflage folgte, welche die neuesten Erkenntnisse der Pädagogik verarbeitete. Die große Nachfrage nach 230  7. Kapitel

dem Buch ist auch ein Hinweis auf die Rückständigkeit der Universitäten, denn die Pädagogik war zu jener Zeit als Lehrfach in Deutschland kaum anerkannt und wurde zumeist von den Philosophen nebenher betrieben. Am Jahresende 1811, in einer Zeit, als Jean Paul gegenüber Emanuel in einem Brief vom 27. Dezember 1810 sein Leben „im dumpfen Bayreuth“ beklagte, lag das revidierte „Levana“-Manuskript vor. Diesmal erklärte sich Cotta zum Druck bereit, der zeitlich parallel die Veröffentlichung der Zweitauflage der „Vorschule“ vorbereitete. Im Frühjahr 1814 konnte Jean Paul der Königin Caroline von Bayern (eine Mutter mit vier Töchtern) die ihr zugeeignete „Levana“-Ausgabe zusenden, welche in einer Auflage von 2000 Stück erschien. Das Publikum griff erneut zu, und selbst der ansonsten gegenüber Jean Pauls eigenwilligem Schreibstil skeptische Goethe fühlte sich diesmal von einem Auszug der „Erziehlehre“ angetan, wie er in einem Brief vom 16. März 1814 einräumte. Ab 1808 erschien sogar ein mehrteiliges, „nothwendiges Hülfsbuch“ zur „Levana“-Lektüre aus der Feder des Journalisten und Schauspielers Carl Reinhold, das 1811 in einer „neuen wohlfeilen Ausgabe“ wiederaufgelegt wurde. Allerdings widerstrebte Jean Paul die pedantische Methode des wohlmeinenden Autors. Im „zweiten Bändchen, 5. Kapitel“, der „Siebenkäs“-Neuauflage konnte sich der Dichter eine säuerliche Anspielung auf das „Wörterbuch“ nicht verkneifen, denn nichts lag seiner pädagogischen Philosophie ferner als philologische Beckmesserei. Mit dem Segen und Unsegen philologischer Akribie beschäftigt sich auch der ab 1806 entstandene Roman „Leben Fibels, des Verfassers der Bienrodischen Fibel“, welcher die wunderliche Vita des Gotthelf Fibel beschreibt, der immerhin mehr als 125 Lebensjahre erreichte - freilich erst nach seiner Wiedergeburt. Anlässlich einer Reise im Jahre 1811 nach Erlangen und Nürnberg konnte Jean Paul mit dem Buchhändler und Verleger Johann Leonhard Schrag über die Veröffentlichung des Buches handelseinig werden, das im Oktober 1811 mit einer Auflage von 1500 Exemplaren erschien. Die Publikation enthielt allerdings durch kriegsbedingte postalische Verwirrungen eine solche Menge an Druckfehlern, dass schließlich bei Cotta eine eigenIn Bayreuth  231

ständige Errata-Sammlung veröffentlicht wurde. Die wie keine andere Erzählung Jean Pauls in ihrem Entstehungsprozess vielfach unterbrochene Lebensbeschreibung Fibels ist ein Lese-Muss für alle Jünger des Plutarch, die an der Entwicklung eines Bücherfreaks und BildungsAthleten interessiert sind. Als Verfasser der Geschichte gibt sich der Ich-Erzähler Jean Paul zu erkennen, der zu diesem Zweck in „Hof, Leipzig, Weimar, Meiningen, Koburg und Baireuth“ nach Hand- und Druckschriften Fibels sucht, um schließlich im fiktiven Ort Markgrafenlust fündig zu werden. Jean Paul schrieb stets am besten aus der Perspektive der Mühseligen und Beladenen, von dieser Quelle speisen sich seine gelungensten Texte, wie „Fibel“, bei dem es sich um eine Steigerung der „Wutz“Thematik handelt. Wiederum spielen autobiografische Aspekte eine hervorragende Rolle, so ist Jean Pauls Jugendzeit ebenso wie diejenige Fibels von dem frühen Tod des Vaters und einer engen Mutterbindung bestimmt. Geschildert werden die Verhältnisse der ländlichen Unterschicht, wie sie der Autor persönlich erlebt hat. So stammt Fibels Mutter Engeltrut aus einem Dorf nahe Dresden, Vater Siegwart ist ein invalider Soldat und Vogelsteller, der vor den Menschen verstummt und nur noch pfeifend mit den Vögeln kommuniziert. Die beiden Fibels führen eine triste, ärmliche Ehe. Nach dem Tod des Vaters (der den Sohn gern als Offizier gesehen hätte) ermöglicht ein bescheidenes Vermögen dem 16-jährigen Gotthelf das Studium. Der junge Fibel liebt die Wildmeisterin Drotta, eine etwa gleichaltrige, hübsche Halbwaise. Der unvergessliche Kuss im Mondschein mit der „vollrosigen Drotta“ ist eine Spiegelung von Jean Pauls erster Liebesbezeugung in Joditz. Die detailverliebte Schilderung der Liebesgeschichte und Hochzeit ist ein Höhepunkt deutscher Prosa, hier strömen gleichsam „Paradiesesflüsse der Autorschaft“, wie es im 18. Kapitel heißt. Der Studiosus Gotthelf, ein Vielleser, der selbst die Lektüre von Hof- und Staatskalendern nicht verschmäht, verfertigt ein ABC-Buch, worin jedem Buchstaben kindgerechte Sinngedichte beigeordnet sind, die teilweise für heutige Leser einen üblen oder unfreiwillig komischen Beigeschmack haben. So verlautet zum Buchstaben „J“: „Der 232  7. Kapitel

Jude schindet arme Leut / Das Jägerhorn macht Lust und Freud“. Auch gibt es hygienische Ratschlage: „Der Raben Lied ist: Grab, Grab, Grab / Vom Rettig man den Koth schabt ab.“ Politisch anrüchig hingegen der „S“-Spruch: „Die Sau im Koth sich wälzet sehr / Das Scepter bringet Ruhm und Ehr.“ An die frühkindlichen Besuche Jean Pauls im Hofer Schloss Zedtwitz erinnern Fibels Begegnungen mit dem Landesherrn, welcher schließlich das Druckprivileg für das Buch erteilt, dessen überregionaler Erfolg dem Autor zu Kopfe steigt. Eitelkeit und Ruhmsucht ergreifen ihn wie ein Narkotikum, dessen Dosis stetig gesteigert werden muss, um zu wirken. Das Kapitel „13. Papierdrache“ enthält eine Philosophie des Schreibens, dessen Ratschläge sich kein Autor entgehen lassen sollte. Die Tipps reichen vom Thema Anfertigung von Tintenfarbe bis zur korrekten Anwendung der von Jean Paul mit Vorliebe benutzten Gedankenstriche, die als eine angebliche Erfindung Fibels vorgestellt werden. Diverse Vorbereitungs- und Stimulierungstechniken von Autoren werden enthüllt und die Reim-Manie vieler zeitgenössischer Poeten persifliert. Mit bitterem Rückblick auf die eigene frühe Autorenzeit schildert Jean Paul die Leiden eines Ungelesenen, denn die Ängste und Nöte Fibels vor der erfolgreichen Publikation des ABC-Buches sind autobiografische Spiegelungen seines Scheiterns als Schriftsteller in den Hofer und Leipziger Jahren. Freilich bleibt kein erfolgreicher Autor von Neidern und Nörglern verschont, im Gegenteil stellen sich nach jedem publizierten Buch mehr neue Feinde als alte Freunde ein. Die Rolle des notorischen Querulanten führt bei Fibel den bezeichnenden Namen Flegler, der als Schulmeister einem der von Jean Paul am häufigsten persiflierten Berufsstände angehört. Aus Rache für Fleglers Anwürfe wird Fibel zum Gründer einer „biographischen Akademie“ ernannt, welche sich ausschließlich der wissenschaftlichen Erstellung einer 40-bändigen Beschreibung seines Leben widmet. Das Projekt der Fibelschen Akademie-Mitglieder erinnert indes fatal an die detektivischen Ambitionen allzu detailverliebter Germanisten. Vor allem literarische Gesellschaften sind bekanntlich bestrebt, ihrem Schreib-Helden vielbändige literarische Denkmäler in Gestalt von Jahrbüchern zu setzen, welche In Bayreuth  233

möglichst jeden Hust- und Niesreiz, jede Pässlich- und Unpässlichkeit des Verehrten akribisch dokumentieren. Gotthelf Fibels persönlicher Triumph, dass sich ein eigens zu diesem Zweck gegründeter Gelehrtenverein der Erforschung seines Lebens widmet, verweist indes sämtliche literarischen Konkurrenten und Neider auf die hinteren Ränge. Für den Verehrten bedeutet eine biographische Akademie zu seinen Ehren gleichsam die Unsterblichkeit, denn der Verein wird auch nicht die geringfügigste Lebensäußerung des Forschungsobjektes undokumentiert lassen. Dass Fibel freilich auf diese Weise ein Opfer der biografischen Paparazzi wird, die selbst jeden Pickelwuchs protokollieren, gehört zu den Opfern, die bedeutende Männer zu erbringen haben. Die lesenswerte Satzung der Akademie enthält denn auch sinnreiche Ratschläge für Biographen. So entdeckt das „24. Patronen-Kapitel“ die Kindheit als eigentliche „Zwiebelwurzel“ und Exposition eines Charakters, während die Durchführung und Variante der Persönlichkeit den mittleren, die Reprise den späten Jahren vorbehalten sind. Der Schlussteil der Lebens- und Werkgeschichte des überaus eitlen Autors enthält indes eine unerwartete metaphysische Vertiefung: Viele Jahre nach dem literarischen Höhenflug besucht der Ich-Erzähler Jean Paul den Ort Bienenroda, wo ihm der inzwischen 125-jährige Gotthelf Fibel die unglaubliche Botschaft mitteilt, dass er in seinem etwa hundertsten Lebensjahr wiedergeboren und mit neuen Zähnen und Ideen dem Bett entstiegen sei. Der mithin 25-jährige Greis hat seinen Frieden gefunden und ein Leben in Eitelkeit gegen beschauliche Zurückgezogenheit eingetauscht. Fibel betreut nun liebevoll ein Obstwäldlein und wird von den Tieren geliebt, vor allem vom Spitzhund und den Bienen. Der gegenüber weltlicher Lektüre erkaltete Fibel liest nur noch die Bibel, spielt Drehorgel und singt besinnliche Lieder. Schließlich scheidet der Ich-Erzähler von dem „fremdartigen entfernten Wesen“, dessen „Seelen-Stille“ ihn beeindruckt. Der Roman „Fibel“ ist eines der persönlichsten Bücher Jean Pauls, es verdankt seine Entstehung tiefen seelischen Verletzungen und Enttäuschungen, welche den Text inhaltlich strukturieren. Denn es wäre eine unredliche Verkürzung, die Leiden eines Autors nur auf die Jahre 234  7. Kapitel

der Erfolglosigkeit zu beschränken, welche sich rückblickend oft als die glücklichsten herausstellen. So ist Fibel ein Opfer des von ihm forcierten Ruhmes, der die nahezu totale Beobachtung durch die Öffentlichkeit nach sich zieht. Die fatale Verflechtung von Erfolg, Verehrung und öffentlicher Verfolgung eines Autors ist im „Fibel“ auf groteske Weise beschrieben. Unterhalb der humoristischen Ebene artikuliert der Roman einen tief empfundenen Ekel vor einer überaufgeklärten Kultur: Der geläuterte, wiedergeborene Fibel hat sein früheres, ruhmsüchtiges Ich hinter sich gelassen, wodurch er dem Erzähler als fremdartig erscheint. Gotthelf Fibel gehört nun nicht mehr der von Hader, Neid und Missgunst bestimmten Welt an, deren Vermarktung seines Werkes und seiner Person die Seele verwüstete. Zuweilen verfasste Jean Paul Erzählungen, um durch deren Veröffentlichung drohenden Raubdrucken seiner früheren Werke zu begegnen. Dazu gehört die im Jahre 1808 bei Cotta veröffentlichte, stilistisch am meisten ausgefeilte Geschichte der frühen Bayreuther Phase: „Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz“. Die Titelfigur Attila Schmelzle, ein Hasenfuß, ist nie um eine Ausrede verlegen. Der ängstliche Geistliche weiß sich zudem nicht nur den Unbilden des Krieges durch vorzeitige Rückzüge zu entziehen, sondern er ist auch im Alltag überaus vorsichtig, trägt er doch unter freiem Himmel stets einen Blitzschirm aufgespannt, um sich einerseits vor elektrischen Entladungen, andererseits vor etwaig herabfallenden Kugeln aus des Jägers Büchse wirkungsvoll zu schützen. Des Feldpredigers Reißaus vor dem Schlachtgetümmel bei Pimpelstadt sollte für ihn allerdings zum Verhängnis werden, denn die Nachricht von der Flucht erzürnt seinen höchsten militärischen Vorgesetzten, den in der Stadt Flätz ansässigen Minister und General Schabacker. Attila Schmelzle steht zudem unter dem Pantoffel seiner Ehegattin Teutoberga, der Tochter eines reichen Pächters, welche ihre „niedrige Geburt“ vergessen machen, „etwas vorstellen und manche Honoratiorin ausstechen“ will. Nach einer überaus umständlichen Verabschiedung von der Gattin reist Schmelzle zu dem General, um ihm eine (freilich aussichtslose) Bittschrift vorzulegen, denn der Fahnenflüchtige begehrt von dem Minister die Berufung zum Professor der Katechetik. In Bayreuth  235

Die Reise nach Flätz führt den geistlichen Helden durch ein menschliches Kuriositätenkabinett, das seinesgleichen sucht. So begegnet er in der Postkutsche einem in einen roten Mantel gekleideten blinden Passagier und angeblichen Legationsrat namens Jean Paul, der in der weiteren Handlung allerdings kaum in Erscheinung tritt. Engagierter betätigen sich hingegen die übrigen Reisebegleiter, eine Hure mit einem Zwerg auf dem Schoße sowie ein wunderlicher Kammerjäger mit einer Schädelattrappe auf dem Haupt. Die unerwarteten Turbulenzen während des „Postkutschen-Gelag“ und „Pickenick“ mag der an grotesker Situationskomik interessierte Leser durch eigene Lektüre zur Kenntnis nehmen. Der dem Alkoholgenuss zugeneigte Schmelzle ist immerhin nicht ängstlich genug, um der Fantasie freien Lauf zu lassen, beim Empfang des Abendmahls einmal spöttisch zu lachen. Der überaus ängstliche Geistliche fürchtet sich ebenso vor Träumen wie vor dem eigenen Nachtwandeln, weshalb er sich vorsichtshalber am Bettgestell festbindet. Die (kaum überraschende) Antwort des Ministers auf die Supplik Schmelzles lautet, dass dieser sich zum Teufel scheren möge, wie er es einst bei Pimpelstadt getan. Dieser herbe Bescheid vermag den Überlebenskünstler indes keineswegs zu verdrießen, zumal er durch das Vermögen seiner Frau höher besoldet ist als durch zehn Professuren für Katechetik. Dem durch ausführliche Abschweifungen angereicherten „Zirkelbrief“ des neurotischen Feldpredigers ist eine „Beichte des Teufels bei einem großen Staatsbedienten“ beigefügt, deren Abdruck von der Zensur verweigert worden war. Tatsächlich handelt es sich bei der „Beichte des Teufels“ (der Satan verführt einen Staatsmann zur Habsucht und empfiehlt ihm, sich am Kriegsfeuer zu wärmen) um ein satirisches Pamphlet mit tiefgründigen politischen Einsichten. Eine Nachauflage von „Schmelzle“, einem Werk, das wie kaum ein anderes von den napoleonischen Kriegswirren geprägt ist, hat Jean Paul nicht erlebt. Der Ekel hat einen Namen, er lautet Dr. Katzenberger. Entstanden ist die satirische, ursprünglich als Haupterzählung für die Edition „Vermischte Schriften“ konzipierte Geschichte „Dr. Katzenbergers Ba236  7. Kapitel

dereise“ unmittelbar nach dem Abschluss des „Schmelzle“ in einer besonders produktiven Phase Jean Pauls. Der Charakter des fatalen Doktors hat Vorläufer in dem in Monstrositäten vernarrten Schulrektor aus den „Teufelspapieren“ sowie in dem ebenfalls für Abartigkeiten jeder Art begeisterten Dr. Sphex, der im „Titan“ freilich nur eine untergeordnete Rolle spielt. Die Vorlage für den Handlungsort Bad Maulbronn ist die Sommerresidenz der Meininger Fürsten, Liebenstein. Geschildert wird die Kutschfahrt des verwitweten ausübenden Arztes und anatomischen Professors Katzenberger von der Universität Pira im Fürstentume Zäckingen, der vermittels einer Zeitungsannonce Begleitung für eine Reise nach Bad Maulbronn sucht. Es meldet sich Herr Theudobach von Nieß. Katzenberger reist zudem in Gesellschaft seiner einzigen Tochter Theoda. Er beabsichtigt jedoch keine Badekur, sondern den Besuch des Maulbronner Brunnenarztes und Rezensenten der von Friedrich Nicolai herausgegebenen „Allgemeinen Deutschen Bibliothek“, Strykius, der Katzenbergers Hauptwerke giftig rezensiert hat. Zum Ausgleich für diese Schmähung beabsichtigt der Autor den Rezensenten zu verprügeln. Katzenbergers Tochter Theoda ist in den Bühnendichter Theudobach verliebt, den sie in Maulbronn anzutreffen hofft. Herr von Nieß gibt vor, den überaus prominenten Bühnendichter persönlich zu kennen, und nur der Leser erfährt, dass es sich bei Nieß und dem Dichter um ein und dieselbe Person handelt. Es ist hier nicht der Ort, all die fantastischen Verwechslungen, humoristischen Zuspitzungen und bösen Anspielungen wiederzugeben, welche den grotesken Humor der Geschichte kennzeichnen. Tatsächlich bereitet die Lektüre des dreibändigen Werkes den zweifelhaften Genuss einer Geisterbahnfahrt. So ist Dr. Katzenberger bezeichnenderweise nur willkommen in Gasthäusern, die er zuvor noch nie betreten hat. Der notorische Katzentöter namens Katzenberger verzehrt vorzugsweise von ihm persönlich in Kellergewölben gejagte achtbeinige Krabbeltiere. Eine Gastwirtin erinnert sich mit Grauen an die kulinarische Vorliebe des verschrobenen Gelehrten für Arachniden und verweigert die Aufnahme in ihrem Haus, weil sie den Kanker – zerquetschte Weberknechte – als BrotaufIn Bayreuth  237

strich sowie die Vertilgung frischer fetter runder Spinnen in allzu schlechter Erinnerung hat. Der ausgesprochene Dichterfeind Katzenberger verzehrt zudem mit Vorliebe im Mai die nach dem Wonnemonat benannten Käfer – freilich vor den Augen der mitfahrenden Passagiere. Von besonderem Interesse für den Anatomie-Professor ist das Studium von Missbildungen jeder Art, besonders von menschlichen. Seine Lieblingslektüre sind denn auch Samuel Soemmerrings „Abhandlungen und Beschreibungen einiger Mißgeburten“ aus dem Jahre 1791. Katzenberger schätzt jede Form der Fehlbildung so sehr, dass er sich über die körperliche Unversehrtheit seines Enkels Amandus enttäuscht zeigt. Aber auch tierische Abnormitäten werden nicht verschmäht. So erwirbt Katzenberger in einer Apotheke einen siamesischen „gut ausgestopften, achtbeinigen Doppelhasen“, den er hinfort ständig als Kuschelund Schmusetier bei sich trägt. Im Jahre 1815 widmete der Hallenser Arzt und Anatom Johann Friedrich Meckel seine Untersuchung über das Phänomen von Doppelmonstern dem „Dr. Katzenberger“, wofür sich Jean Paul im Namen des Spinnen-Gourmets bedankte. Der makabre Professor findet auch Vergnügen darin, fremde Leute des Nachts durch die Türritzen zu beobachten, auch weiß der überaus geizige Gelehrte geschickt zu betrügen, wenn er beispielsweise zur Erhöhung des Goldgehalts einer Münze dem Geldstück eine ordentliche Portion Ohrenschmalz beifügt. Dr. Katzenberger, ein Apostel der Rationalität, verschmäht auch die Vorteile der Gymnastik nicht und bewegt sich mit schlenkernden Armbewegungen und weit geöffnetem Mund, um die Durchdringung des Körpers mit Sauerstoff zu erhöhen. Die Ekelszene am Maulbronner Esstisch mit den „etwas klumpigen Pasteten“ mag der geneigte Leser in stiller Stunde persönlich goutieren. Ob er sich freilich von Katzenbergs Argumenten gegen den „Unsinn des Ekels“, die „Erektionen der Speicheldrüse“ betreffend, überzeugen lässt, ist fraglich. In 45 „Summula“, also „Sümmchen“ genannten Kapiteln entfaltet die „Katzenberger“-Satire eine solche imaginative Kraft, dass sie zu den bekanntesten Werken aus der Feder Jean Pauls zählt. Ergänzt wird die Haupterzählung der – nach zahlreichen Ablehnungen – 1808 bei 238  7. Kapitel

der Heidelberger Akademischen Buchhandlung Mohr & Zimmer publizierten „Verbesserten Werkchen“ durch ein Tutti frutti zumeist satirischer Texte, wie „Das Glück, auf dem linken Ohre taub zu sein“ und die überaus polemische Abhandlung zugunsten der Spendensammlung für ein Luther-Denkmal, welche eine Philosophie der Denkmalkunst enthält. Eine Rezension der „Alemannischen Gedichte“ Johann Peter Hebels sowie der Corday-Aufsatz gehören ebenfalls zu der Werkausgabe. Gleichwohl zeigten sich weder die Kritiker noch das Publikum von den „Verbesserten Werkchen“ sonderlich begeistert, obwohl die Verkaufszahlen des Buches immerhin diejenigen des „Schmelzle“ übertrafen, 1822 erschien sogar eine Neuauflage. Nur E. T. A. Hoffmann, der ebenfalls im vierten Band seiner „Serapionsbrüder“ das Widerliche zelebriert hatte, sprach sich zugunsten des „Katzenberger“ aus, während Ludwig Tieck, August von Platen und Jacob Grimm dem Werk ihre Zustimmung versagten. Vermutlich fühlten sich Kritiker, Schriftstellerkollegen und Publikum irritiert, denn zwischen den weinerlichen Textpassagen des überaus beliebten „Hesperus“ und der zynischen Reiseerzählung konnte der Unterschied größer nicht sein. Gleichwohl enthält auch die „Katzenberger“-Erzählung eine der von Jean Paul mit Vorliebe inszenierten rührseligen Liebesszenen vor flammendem Abendrot. Sogar das ornithologische Attribut jeanpaulscher Romantik, der Gesang der Nachtigall, bleibt dem geneigten Leser nicht versagt. Bei der literaturgeschichtlichen Einordnung ist zu beachten, dass es sich beim Thema Ekel keineswegs um ein Sujet handelt, mit dem sich die Erzählung pauschal der seit etwa 1793 aufkommenden Schwarzen Romantik zuordnen lässt, denn der Faktor des Unheimlichen spielt in dem durchaus komischen Werk eine eher untergeordnete Rolle. Vielmehr gilt Jean Pauls Kritik Katzenbergers durchaus rational begründetem Feldzug gegen den Ekel, der letztlich eine potenzielle Bedrohung gesellschaftlich anerkannter Hygiene-Regeln und habitueller Standards bedeutet, deren Enttabuisierung ein funktionierendes soziales System in ethischer und gesundheitlicher Hinsicht zu gefährden imstande ist. Als eine Dialektik der Aufklärung, mündet die übersteiIn Bayreuth  239

gerte Rationalität des Protagonisten in schierem Zynismus, mit dessen fataler Logik sich selbst die Experimente eines KZ-Arztes wie Josef Mengele begründen lassen. Eine Dekade nach der Exekution des bourbonischen Monarchen und im Jahre der Krönung Napoleons zum Kaiser von Frankreich war der Freiheitsrausch, welcher dem „Hesperus“ eine so eigentümliche, zwischen Weinerlichkeit und Pathos schwankende Färbung verliehen hatte, der Ernüchterung gewichen. Zahlreiche Gelehrte, die Morgenröte gewittert hatten, zeigten sich nun nachdenklicher. Die Gesinnung vieler sozialer Gruppen des untergegangenen Deutschen Reiches war von einer Mischung aus Reformgeist und einem aufkeimendem Patriotismus bestimmt, der sich zu einer nationalistischen Haltung steigern konnte. An der historischen Einordnung Napoleons schieden sich die Geister, nicht wenige begrüßten die Errungen­ schaften der neuen Zeit wie den Code Civil, aber die diktatorische Kulturpolitik Napoleons verscherzte die ungeteilte Sympathie vieler Intellektueller. Eine seit Mitte der 1790er Jahre aufkommende antifranzösische Haltung Jean Pauls wurde durch die Kaiserkrönung und die Besetzung Bayreuths verstärkt. So sprach er sich in einem Brief aus Coburg vom 21. März 1894 gegenüber seinem Freund Emanuel entschieden gegen die beabsichtigte Landung französischer Truppen in England aus. In dieser prekären politischen Situation schwang sich Jean Paul zum politischen Kanzelredner auf. Cotta hatte den Dichter um eine Stellungnahme für die geplanten „Vermischten Schriften“ gebeten, aber die „Friedens-Predigt an Deutschland, gehalten von Jean Paul“ erschien schließlich im Jahre 1808 als Sonderdruck bei der Akademischen Buchhandlung Mohr & Zimmer. Jean Paul äußert sich als Oberprediger der deutschen Nation, dessen Mund freilich mit Zensur-Kreide angefüllt war. Sein Appell zur Bildung einer Volksgemeinschaft richtet sich in gleichem Maße an die deutschen Fürsten wie an die Bevölkerung. Eingedenk der napoleonischen Zensur enthält sich die Schrift freilich jeglicher Ausfälle gegen die Besatzung: Elegischen Meditationen über die untergegangene Reichsverfassung folgen emotionale Aufrufe zur „Gerechtigkeits-Liebe“. Für Jean Paul ist politische 240  7. Kapitel

Freiheit ein Synonym für Rechtstaatlichkeit, deren verfassungsrechtliche Einführung von den Fürsten eingefordert wird. Freilich werden – ähnlich wie in „Levana“ – die Aufrufe zu Frieden und Versöhnung zwischen Deutschen und Franzosen durch Abhärtungsstrategien für junge Männer ergänzt, um gegen das „Gift des Luxus“ anzukämpfen. In einer selbst für die damalige Zeit fraglichen Rollenfestlegung würde „eine Welt voll Männer … wenig zu prunken suchen, desto mehr eine voll bloßer Weiber.“ Und wenige Zeilen später verlautet, die Weiber seien „die ewigen Tierwärterinnen des Raubtiers des Luxus.“ Derartige die „deutsche Männlichkeit“ preisende Textpassagen mit hohem Testosteron-Anteil dürfen jedoch nicht da­ rüber hinwegtäuschen, dass es sich bei der „Friedens-Predigt“ durchaus um eine beachtliche politische Stellungnahme handelt, deren pathetischer Kanzelton dem Geist der Zeit entsprach. An keiner anderen Stelle seines Werkes formulierte Jean Paul seine geschichtsphilosophischen Vorstellungen so deutlich wie in der Folgeschrift zur „Friedens-Predigt“, den zunächst auszugsweise im Jahre 1809 als Sonderdruck publizierten „Dämmerungen für Deutschland“. In der ebenfalls im Ton einer Kanzelrede gehaltenen Ansprache an die deutschen Bürger und Fürsten bekennt sich Jean Paul als Nachfolger von Herders historischen Einsichten, tatsächlich liest sich das Eingangskapitel „Über den Gott in der Geschichte und im Leben“ wie eine ausführliche Prosapassage aus der Feder des Weimarer Geistlichen. Man lese die Textstellen über die „Geschichts- und Heilsordnung der Völker“, den „Weltgang nach frei-geistigen Gesetzen“, über das „Aufblühen und Abwelken der Völker“, um in Zweifel zu geraten, ob hier die Stimme Herders oder des fränkischen Dichterphilosophen vernehmbar ist. Der Weltgeist waltet als historische Meta-Instanz nämlich nicht nur bei Herder, Hegel und anderen Vertretern der Romantik und des Deutschen Idealismus, sondern auch im Geschichtsbild Jean Pauls. Die jedem Einzelnen gegebene Macht der intellektuellen Kräfte, so der Autor, vermag sich in einzelnen „Geistes-Übermächtigen“, wie etwa Jesus von Nazareth, zu verkörpern. Gemeint sind Charaktere mit einem humanen Charisma, in denen der Weltgeist Gestalt anIn Bayreuth  241

nimmt; aus dieser Quelle speist sich Jean Pauls niemals gänzlich erstorbene Sympathie für Napoleon. In der „Kleine Zwielichter“ betitelten Sammlung politisch-philosophischer Reflexionen spielt ein vorurteilsfreier kulturgeschichtlicher Vergleich der deutschen und französischen Nationalkultur eine zu entscheidende Rolle, um als Konzession an die Zensurbehörden der Besatzungsmacht missverstanden zu werden. Der Prediger von Bayreuth verkündet die Emphase des Schöpferglaubens, des innigen Vertrauens auf eine gute Vorsehung. Ein patriotisch-geistliches Vorbild sind die „Uferpredigten auf der Insel Rügen“ von Pfarrer Ludwig Kosegarten, der auf den Uferklippen vor den Heringsfischern des Ortes Vitt flammende Kanzelreden zur Erneuerung des deutschen Volkes hielt. Ethische Tugenden wie Friedensliebe und Mitleid stehen auch für Jean Paul im Vordergrund, der sich mehr zur Sittlichkeit Athens als zur Militanz des römischen Reiches bekennt, dem aber auch der Schlachtruf „Aux armes, citoyens“ nicht fremd ist – diesmal allerdings nicht gegen die Fürsten gerichtet, sondern an ihrer Seite. Tatsächlich handelt es sich bei der Schrift „Dämmerungen“ um ein Evangelium der bevorstehenden Befreiungskriege, die als eine Form der „Staats-Notwehr“ gebilligt werden. Im „niedergebrochnen Deutschland“ erhoffte Jean Paul eine religiös begründete Allianz von Fürsten und Volk sowie die Gewährung politischer Reformen. Wir wissen, dass diese Erwartung trog. An diesem „Dämmerungs“-Honig konnte jedermann saugen, Fürsten ebenso wie Gelehrte, Geistliche, Soldaten und Bürger. Sogar die in der „Friedens-Predigt“ als prunksüchtig gescholtenen Frauen gelten nunmehr „als die wahren Stillen im Lande“, welche als geistliche Ersatzarmee dazu berufen sind, die religiöse Opferbereitschaft des Volkes zu erhöhen. Das nationale Erweckungserlebnis der bevorstehenden Befreiungskriege atmet auf jeder Textseite, stilsicher traf das literarisch geschickt eingesetzte religiös-patriotische Pathos den Ton der Zeit. Gleichwohl fand der teilweise salbungsvolle Predigerton nicht nur Zustimmung, einige Berufskollegen fühlten sich von dem feuilletonistischen Stil abgestoßen. Während der patriotisch gesinnte Buchhändler Perthes die „Dämmerungen“ lobte, zeigten sich Friedrich Schlegel 242  7. Kapitel

und Varnhagen von Ense auf der Seite der Skeptiker. Goethe hingegen war bestürzt über die Verschwommenheit des Textes und klebte in Knebels „Dämmerungs“-Exemplar ein „griechisches Kinderrätsel“, welches die übertriebene Antithetik in der Prosa Jean Pauls verballhornte. Und der politische Publizist und notorische Jean-Paul-Gegner Garlieb Merkel beargwöhnte die Friedensprosa sogar als frühe antinapoleonische Propaganda der „Heiligen Allianz“. Einen revolutionären Ton sucht man freilich vergeblich in den „Dämmerungen“, es rollen keine Köpfe, nicht einmal Barrikaden drohen. Ein gemütlicher, wohlbeleibter fränkischer Trinkbruder mit gekonnter Schreibhand gab den patriotischen Souffleur der Nation. Kein Deutscher fühlte sich angegriffen, selbst die Besatzer konnten vielen Gedanken Jean Pauls ihre Zustimmung nicht versagen. Der Pariser Vertrag mit Frankreich vom 28. Februar 1810 sprach dem Königreich Bayern die Markgrafschaft Bayreuth zu; Ende Juni 1810 wurde Jean Pauls Wohnort feierlich dem König übergeben. Die politischen Veränderungen führten indes zu keiner Entschärfung des Zensurwesens, so verweigerten die Stuttgarter Behörden die Druckerlaubnis eines Neujahrsaufsatzes für Cottas Zeitschrift „Morgenblatt für gebildete Stände“. Zudem belastete den Dichter der zunehmende Arbeitsdruck. Gegenüber Otto beklagte er in einem Brief von März 1810, die „Freude an meinem Schaffen und an dessen Leichtigkeit“ eingebüßt zu haben. Jean Paul, nunmehr im 47. Lebensjahr, fühlte sich ausgebrannt, im wahren Wortsinn zu einer Schreibmaschine verkümmert. Aber die finanzielle Notwendigkeit und der literarische Erfolg spitzen die stumpfe Feder. Das Bündnis Russlands, Preußens und Österreichs von September 1815 führte zum militärischen Erfolg, aber die erhofften politischen Reformen blieben der Bevölkerung versagt. Die zwei Jahre zuvor entstandene, nach dem griechischen Kriegs- und Sonnengott benannte Flugschrift „Mars’ und Phöbus’ Thronwechsel“ versucht der zwischen Hoffnung und Skepsis, Resignation und Aufruhr schwankenden Stimmung gerecht zu werden. Der ursprünglich für Cottas „Morgenblatt“ verfasste Neujahrsaufsatz wurde jedoch zensiert, so dass Jean Paul ihn „mit der Zensor-Dinte [hat] abgesondert drucken lassen“, In Bayreuth  243

wie er am 30. Dezember 1814 mitteilt. Eine erweiterte Fassung erschien im April des nächsten Jahres bei Cotta. Es handelt sich um eine „scherzhafte Flugschrift“, „da man bisher die Franzosen nur verklagte, aber nicht verlachte“, erläuterte er am 18. März 1814 gegenüber seinem Verleger. Denn die Verehrung für Napoleon war bei Jean Paul zu dieser Zeit keineswegs gänzlich erloschen, vielmehr bekundete er gegenüber Vertrauten wie Otto seine anhaltende Bewunderung für den Kaiser. Anlässlich der Absetzung des Papstes durch Bonaparte im Juni 1809 heißt es: „Welche Kühnheit mitten in einem Kriege durch und wider Katholiken!“ Jean Paul empfand Mitleid mit den „armen Franzosen“, welche sich auf dem Rückzug aus Russland befanden. Gleichwohl schmiegte er sich den vermutlichen Gedanken seiner Adressaten an, wenn er beispielsweise in einem Brief an Jacobi vom 25. April 1814 Napoleon als „Zentralsonne des Teufels“ bezeichnet. Bei „Mars und Phöbus“ handelt es sich – im Unterschied zu den „Dämmerungen“ – um eine literarische Groteske mit dem Ziel, die Franzosen nicht zu bekämpfen, sondern mild über sie zu scherzen. Die Flugschrift rät zu Güte und Verständnis gegenüber einem Volk, das offensichtlich seinen militärischen Zenit überschritten hatte. Aufgrund der vielfachen Kritik vorsichtig geworden, verstand sich der Dichter als ein politischer Schriftsteller „im weitesten Sinn“, der sich vehement gegen jegliche „Allmachthaber“ von der Art Napoleons aussprach. Jean Paul war freilich kein radikaler politischer Analyst, aber er verstand es, den Ton der Zeit zu treffen. Und er brachte konkrete politische Forderungen in die Diskussion ein, wie in der Vorrede zum Aufsatz von Februar 1814. So sollten der „Völkerauferstehung“ politische Reformen folgen, worunter er die Bildung eines Reichstages und die mediale Kontrolle der Herrschenden durch ein „Fürsten- und Großenblatt“ verstand. Bei „Mars und Phöbus“ handelt es sich um eine Paraphrase des Kriegsjahrs 1813 mithilfe der griechischen Mythologie. Ein erster Höhepunkt ist die launige Rede des martialischen Hofnarren an die Abgeordneten anlässlich des Regentschaftswechsels von dem Kriegs- an den Sonnengott. Im Zeichen von Helios antwortet ihm sein närri244  7. Kapitel

scher Kontrahent anlässlich einer Ballversammlung mit einer überaus spöttischen Rede zum Thema Buchhandel und Zensurwesen, in der Jean Paul weidlich aus dem Vollen seiner Erfahrung schöpft. Denn Phöbus ist nicht nur der Sonnen-, sondern ebenso der Dichtergott, und die Poeten sind für Jean Paul – wie die Krieger – „Teilhaber der Wunden“ im Gefecht. Solche für heutige Leser zuweilen schwer verdauliche Kost darf freilich nicht als eine schiere Empfehlung zur Wehrertüchtigung von Dichtern verstanden werden. Im Zentrum des Textes steht vielmehr die Freude über die Befreiung von der Fremdbesatzung sowie die (freilich betrogene) Hoffnung auf die Reformwilligkeit der deutschen Fürsten. Die eigentümliche Mischung aus Patriotismus, Religiosität und Satire in den politischen Schriften Jean Pauls kam beim Publikum so gut an, dass im Frühjahr 1817 bei Cotta – anstatt einer ursprünglich geplanten Neuauflage der „Dämmerungen“ – eine um Schlussbemerkungen und Noten erweiterte Sammlung seiner seit 1810 publizierten Aufsätze erschien: „Politische Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche“. In der Vorrede beschwört der Autor die Göttin Hoffnung, welche das deutsche Volk, wie er hofft, nach erduldeter Leidenszeit einer besseren Zukunft zuführen wird. Die dem Erbprinzen Carl Friedrich von Sachsen-Weimar-Eisenach und seiner Gemahlin, der Zarentochter Maria Pawlowna, in Form von Polymetern zugeeignete Schrift traf abermals den Ton der Zeit. Verfasst in der Sprache eines alle medialen Raffinessen beherrschenden Kolumnisten, sind Inhalt und Ton gleichwohl schärfer als in den Schriften zuvor. So konstatiert die „Erste Nachdämmerung“ in Deutschland ein kulturpolitisches Chaos sowie tiefe gesellschaftliche Spannungen, welche sich in so unterschiedlichen Bereichen wie dem Kampf zwischen Philosophie und Theologie, dem „Elementenkrieg in der Dichtkunst“ sowie in der sozialen Zerrissenheit der Gesellschaft bekunden. Probleme mit der Zensur wegen eines an Herders politische Vorstellungen anknüpfenden Freiheitsbegriffs, wie in dem Abschnitt „Über die Furcht künftiger Wissenschaftsbarbarei“, waren vorhersehbar. Der sozial- und kulturkritischen Diagnose folgt ein heiteres Stück Erzählkunst: Die „Belagerung der Reichsfestung Ziebingen“. Bei der In Bayreuth  245

Beschreibung der Fehde zwischen dem Reichstädtchen Diebsfehra und dem Reichs-Dorf Ziebingen aufgrund einiger durch Hagelschlag getöteten Gänse und Hirten lässt der Dichter den Zaum des Pegasus gänzlich schießen. Anlässlich der Erstürmung der Festung Diebsfehra werden in der Person des eingeriegelten „Vielwissers“ und Sortimentund Verlagsbuchhändlers Peter Stöcklein die aktuellen Probleme seiner Zunft satirisch abgehandelt. Welche Rolle ein Elefant namens Christophel bei der Bombardierung der Kirche spielt, mag der geneigte Leser durch eigene Lektüre ergründen. Wie in den besten seiner Texte, taucht Jean Paul persönlich in der Handlung auf, seine launige Unterhaltung mit Stöcklein (während des eher harmlosen Bombardements) über die Bedeutung und das Schicksal von schlechten Büchern findet allerdings ein jähes Ende durch ein zusammenstürzendes Zuckerfass. Ähnlich satirisch ist der Aufsatz über die „Doppelheerschau in Grosslausau und in Kauzen samt Feldzügen“, dessen groteske Komik kaum zu überbieten ist. So gehört zu Fürst Marias Schlachtordnung ein Tollhäusler, der sich für einen freien Soldaten hält, während sich die Generalität des Gegners aus Affen rekrutiert. Auch das weitere Personal des Schaukrieges ist nicht minder bemerkenswert, wie die fürstenhörigen Zeitungsschreiber Maus und Schnabel, die nach beendeter Fürstenrochade ihre Zuflucht in „patriotischen Archiven“ finden. Die beiden Kriegs-Grotesken trafen auf ein seit mehr als einer Dekade an ständige militärische Auseinandersetzungen gewöhntes Publikum, das sich durch die humorvolle Darstellung des Themas psychisch entlastet fühlte. Bei aller Heiterkeit darf jedoch nicht übersehen werden, dass sämtliche „Fastenpredigten“ einen ernsten politischen Appell an die Fürsten enthalten. Insbesondere der im letzten Abschnitt enthaltene Aufruf zur Gewährung von Verfassungen und Bildung von Landtagen zur Weckung eines öffentlichen Gemeinsinns lässt an Nachdrücklichkeit nichts zu wünschen übrig. Gleichwohl war Jean Paul kein Revolutionär, ein Umstand, der seine politischen Schriften kommerziell gut verwertbar machte. Niemand, der seine

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Bücher las, brauchte sie vor der Polizei zu verstecken oder befürchten, als Rebell verdächtigt zu werden. Außer dem politischen Geschehen verfolgte Jean Paul die neuen literarischen und philosophischen Entwicklungen. So las er Fouqués romantisches Heldenspiel „Sigurd, der Schlangentöter“ und empfing im Oktober 1809 den Jacobi-Schüler Friedrich Köppen, dem gegenüber er die Konversion Tiecks und Schlegels zum Katholizismus beklagte. Ihn interessierten die naturphilosophisch-spekulativen Schriften Lorenz Okens ebenso wie jene von Jacobi, dessen „David Hume“ er für die Ausgabe „Vermischte Schriften“ mit kritischen Anmerkungen versah. Mit Begeisterung las er Shakespeare und verfasste Rezensionen über Werke von Madame de Staël, Fichte, Fouqué, Hebel, E. T. A. Hoffmann und Köppen. Allerdings vermied er eine öffentliche Stellungnahme zu Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“, denn die unmoralische Tendenz der Erzählung strapazierte nicht nur die Toleranz seiner Frau, sondern auch die eigene, wie er in einem Brief an Otto vom 6. November 1809 schrieb. Den Schluss des 11. Kapitels im ersten Teil der Erzählung empfand er als „empörend und so fast unmöglich“, dass er von einer Besprechung absah. Hingegen schätzte er Goethes „Farbenlehre“ „als eines der reichsten Werke, sogar unter den seinigen“, wie er am 28. Oktober 1810 an Cotta schrieb. Schon bald spürte Jean Paul in Bayreuth dieselbe innere Öde wie zuvor in Meiningen und Coburg. Fast täglich besuchte er die „Rollwenzelei“, abends fand er Geselligkeit in der „Harmonie“. Unablässig entstanden Aufsätze und Erzählungen, aber der Geist drohte zu verkümmern. Mit Behagen betrieb er prophetische Meteorologie und unterstützte an seinem 45. Geburtstag die städtische Armenspeisung. Besonders lag ihm die „Magnetisierung“ von kranken Personen am Herzen. Der zeitgenössische Anthropologe Franz Anton Mesmer glaubte im Menschen eine dem Elektromagnetismus analoge Kraft entdeckt zu haben, deren Störung die Ausbildung von Krankheiten fördert. Der bereits zu Mesmers Lebzeiten umstrittene so genannte Heilmagnetismus faszinierte Jean Paul so sehr, dass er 1813 einen eigenständigen Aufsatz zu dem Thema veröffentlichte. Zudem exzer-

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pierte er regelmäßig die Zeitschrift „Archiv für den Thierischen Magnetismus“ und betätigte sich selbst als „Heiler“. Der übermäßige Genuss von Alkohol gefährdete jedoch zunehmend seine Gesundheit, immer deutlicher machte sich auch eine seelische Instabilität bemerkbar. Anlässlich abendlicher Geselligkeiten wurden die Freunde zu Zeugen exzessiver Delirien des Dichters, die auch daheim stattfanden. In einem Brief vom 13. November 1809 an Emanuel bedauert Jean Paul seinen „vulkanischen Ausbruch“, aber diese Entgleisung blieb kein Einzelfall. Am Ende seines vierten Lebensjahrzehnts verfasste er immer häufiger Entschuldigungsbriefe an seine Freunde. Die inneren Spannungen waren nicht zuletzt in der immensen Arbeitslast begründet, die er zu bewältigen hatte. Tatsächlich lebte Jean Paul seit der Wohnsitznahme in Bayreuth an den Grenzen seiner physischen und psychischen Kapazität. Es beanspruchte immer mehr Kraft, die Spannungen und Konflikte in der Ehe und mit den Freunden zu entschärfen. Kleine Fluchten steigerten sich zu großen: Der Alkohol war ein einfaches Mittel, um Druck abzubauen. Auch die nach wie vor sprudelnde Fantasie bot eine geeignete Zuflucht sowie die Verlockung einer heimlichen Liebe. Caroline litt unter dem schroffen Verhalten ihres Mannes. Gemeinsam mit Tochter Emma besuchte sie nur zu gern ihre erkrankte Schwester Minna Spazier in Altenburg, um wenigstens vorübergehend den heimischen Nöten zu entkommen. Jean Pauls Schwägerin Minna war literarisch ambitioniert, veröffentlichte Übersetzungen aus dem Französischen, schrieb biografische Aufsätze und betätigte sich als Herausgeberin. Ihr schwacher Körper forderte indes seinen Tribut, sie starb nach etlichen Erkrankungen im 48. Lebensjahr. Jean Pauls Leben wäre zweifellos unruhiger verlaufen, wenn er eine der beiden Berufungen angenommen hätte, die ihm zuteil wurden: Im Januar 1811 erhielt er das Angebot zur redaktionellen Betreuung einer Tageszeitung für die stattliche Geldsumme von jährlich 1000 Gulden, aber der Frankfurter Buchhändler ging in Konkurs. Ein Jahr darauf erfolgte durch die Universität von Aschaffenburg eine Vokation für eine Ästhetik-Professur mit einer Bestallung über denselben Betrag 248  7. Kapitel

zuzüglich Pensionsanspruch. Jean Paul, von der fachlichen Anerkennung seiner „Vorschule der Ästhetik“ zutiefst berührt, lehnte das Angebot jedoch mit Hinweis auf die Arbeitsüberlastung ab. Das regelmäßige Verfassen von Texten war ihm so sehr Eigen geworden, dass er nicht einmal für die Gegenleistung einer stattlichen Entlohnung davon ablassen wollte. Weiter flog die Feder über das Papier, unablässig entstand Text auf Text, um die Bedürfnisse der Redaktionen zu erfüllen. Mit rastlosem Arbeitseifer und unerschöpflicher Einbildungskraft entstanden Aufsätze, unter anderem für Cottas Publikationen „Morgenblatt“ und „Taschenkalender“ sowie diverse Rezensionen. Im Jahre 1810 erschien bei Cotta der erste Band der Edition „Vermischte Schriften“ unter dem Obertitel „Herbst-Blumine oder gesammelte Werkchen aus Zeitschriften“. Bei der Kompilation handelt es sich um eine Sammlung „Kunst-Flor“ aus Jean Pauls Feder, ein buntes Gemisch aus Zeitungsaufsätzen, Miszellen, Polymetern sowie satirischen Abhandlungen zur Kunst- und Kulturgeschichte. Die Ausgabe war beim Publikum so erfolgreich, dass in den Jahren 1815 und 1820 jeweils ein Folge­band erschien. Durch die enge und vertrauliche Zusammenarbeit mit Cotta wurde sich Jean Paul zunehmend seiner bisherigen pekuniären Nachgiebigkeit gegenüber den Verlegern bewusst. „Ich bin immer zu sampft“, schrieb er im August 1817 an Otto. In den 1810er Jahren stand Jean Paul im Zenit seiner Popularität, aber Glück sieht anders aus. Erstmals in seinem Leben erkrankte er ernsthaft, und zwar an dem von Durstanfällen, Übelkeit, Angstzuständen und Atemnot begleiteten Wechselfieber. Bei dem nach eigenem Bekunden zunehmend fetter werdenden „Leib-Herkules“ (Brief an Otto vom 7. Mai 1809) stellten sich körperliche Beschwerden ein, die nicht zuletzt in seinem bewegungsarmen Schreibtischleben begründet waren. Am 15. März 1812 heißt es: „ich verdicke mich täglich.“ Die nach Beendigung der Befreiungskriege verbesserte Ernährungslage bekundete sich in Bestellungen wie jener vom 5. Februar 1813, als er von Nürnberg „einen geräucherten Preß- oder Sausack … 24 geräucherte Brat- und 12 geräucherte Leberwürste“ anforderte. Legendär waren auch die schwelgerischen Wurstmahlzeiten mit Otto. In Bayreuth  249

Im August 1814 empfiehlt der selbst ernannte Wunderheiler und Wetterprophet (zu diesem Zweck gehörten zwei Frösche und ein „Wetterfisch“ zum Haushalt Jean Pauls) dem erkälteten Emanuel zur Gesundung eine Diät, an welche er sich selbst niemals hielt. Die körperlichen Warnsignale verhallten bei jemandem, zu dessen jugendlichen Traumata das Hungergefühl gehörte und der im Essgenuss eine seiner größten Leidenschaften sah. Jean Paul lebte auf Kosten seiner physischen und psychischen Gesundheit, und es war nur eine Frage der Zeit, wann sich der Körper nachhaltig wehren würde. Anlässlich einer zweitägigen Reise nach Bamberg im August 1810 mit Besuch bei E. T. A. Hoffmann machte Jean Paul die Erfahrung, dass sich seine Gemütslage mit der räumlichen Entfernung von Bayreuth verbesserte. Eine dreiwöchige Fahrt im Juni des Folgejahres aus der „hiesige[n] Geisteseinsamkeit“ (Brief vom 12. Mai 1811) nach Nürnberg und Erlangen bestätigte diese Erfahrung. In Begleitung von Sohn Max ließ er freilich auch während der Reise nicht von seinen „Lese-Orgien“ zur Vorbereitung der geplanten Neuauflage der „Vorschule“ ab. Nach alter Gewohnheit teilte sich der Arbeitstag in eine „Buchschreibe-Zeit“ am Vormittag, eine „Briefschreibe-Zeit“ am Nachmittag und abendliche Lektüre. Abwechslungen brachten Besuche von Erlanger Universitätsprofessoren sowie eine Tagesreise nach Nürnberg, wo er mit dem Buchhändler Schrag über die Herausgabe des „Fibel“ handelseinig wurde. Während des Erlangen-Aufenthalts unterzog Jean Paul seinen Sohn Abhärtungsmethoden, von deren positiver Wirksamkeit auf Körper und Geist er zutiefst überzeugt war. So berichtet der Vater mit stolzem Unterton in einem Brief vom 6. Juni, dass Max „die Nacht … ohne Bettdecke“ hat verbringen müssen. Zu Mittag aß der Dichter so derb wie daheim, „ein Stückchen Preßsack, dann ein Stückchen Dessert-Kuchen“, abends genügte hingegen „ein Stückchen Käse und Brot“ nebst Bier. Durch ein Schreiben vom 10. Juni erfährt Otto von einer selten erlebten „heitere[n] Seelenharmonie“, welche ihn fern von daheim erquickt. Am Wegesrand in einem Wäldchen nahe Truppach traf er anlässlich einer Kutschfahrt zufällig seinen verwahrlosten Bruder Adam, der sich, „zwei Bündel250  7. Kapitel

chen“ tragend, auf der Wanderung nach Kulmbach befand. In einem Brief an Emanuel vom 11. Juni drückt Jean Paul sein Unbehagen über die Begegnung mit dem brüderlichen Penner oder „Stadt-Aermsten“ aus, aber, so heißt es resignierend: „Ihn könnte nicht einmal das große Loos für immer retten.“ Das Große Los zog Adam sechs Jahre später, im Dezember 1816 erlöste ihn der Tod. Die ausführlichen, teilweise nach der Art eines Tagebuches verfassten Briefe an Caroline können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich hinter der Reiselust ein tiefgehender ehelicher Zwist verbarg. So reagierte Caroline überaus argwöhnisch auf neue Damenbekanntschaften ihres Mannes, der vorsorglich jede nähere Vertrautheit mit weiblichen Personen verschwieg. „Kannst du denn nicht erraten und festhalten, wie ich dich liebe?“, heißt es mit zweideutigem Unterton am 18. Juni. So beschwörend schreibt kein Unverdächtiger, der Stachel des Misstrauens saß tief nach seiner Rückkehr zur Familie. Neun Jahre nach der Heirat war die Ehe derart zerrüttet, dass „die schwarze Idee der Scheidung“ in Betracht kam. Am 25. Juli 1810 sandte Jean Paul einen Brandbrief an seinen Schwiegervater, worin er sich über charakterliche Mängel Carolines beklagt: „Ein Engel in Gesellschaft, gegen Mann, Kinder und Hausgenossen eine Furie.“ Nicht minder aufgebracht klingt ein weiterer Brief an Mayer vom 7. August, als die „Wetterwolke“ sich zwar vorübergehend verzogen hatte, er jedoch vorsorglich die Ehe durch die vorübergehende Abschiebung seiner Frau nach Berlin retten wollte. Als Autor einer bekannten Erziehungslehre beanspruchte Jean Paul die familiäre Oberherrschaft in pädagogischen Fragen. Sein Einsatz für die Abhärtungslehre des Brownianismus führte jedoch zu Grobheiten gegenüber dem Nachwuchs, welchen sich die Mutter widersetzte. Sozialgeschichtlich gehört die Lehre des englischen Arztes John Brown zur bürgerlichen Bewegung, welche gegen die verzärtelnde Erziehungspraxis an den Höfen opponierte und die Ertüchtigung der Jugend fördern wollte. Für heutige Erzieher ähneln freilich Jean Pauls drakonische Gesundheitsmaßnahmen mehr den Strafaktionen verwahrloster Eltern, wobei das Schlafen ohne Bettdecke bei geöffnetem Fenster noch die einfachste Übung war. In Bayreuth  251

Zudem verstand sich Jean Paul als Arzt, der durch Magnetisierung auf ähnliche Weise Kranke zu heilen vermochte, wie einst Jesus Christus. Tatsächlich litt der selbsternannte Heiler, Wetterprophet und nationale Friedensprediger an einem Messiaskomplex, der, verbunden mit einer latenten Frauenfeindlichkeit, die Grundfesten seiner Ehe zusätzlich bedrohte. Denn er wollte mit seiner (freilich missverstandenen) Rollenvorstellung von Männlichkeit das gesetzlich sanktionierte Patriarchat unbedingt gewahrt wissen. Die Streitigkeiten, Verbitterungen und gegenseitigen Kränkungen im Hause Richter erinnern denn auch an die traumatischen Szenen einer Ehe, wie sie im „Siebenkäs“ beschrieben sind. In einem Brief an Emanuel und Otto vom 6. November 1811 wundert er sich darüber, „dass ich nicht wieder Hagestolz geworden bin.“ Denn Caroline war kein passiver Hausmütterchen-Typ, sie gab als selbstbewusste Frau und einfühlende Mutter ihrem Mann Kontra, der öffentlich und privat als Chefideologe der Abhärtungslehre auftrat. Jean Pauls Macho-Attitüden wurden durch die Alkoholsucht bedenklich verstärkt. Seine „Trink-Sessions“ waren legendär, das „Regensburger Märzenbier“ mit hohem Alkoholgehalt floss in Strömen. Immer häufiger behinderten die exzessiven Delirien das ursprüngliche Ziel des Trinkgenusses, nämlich die eigene Kreativität zu steigern. Die Folgen blieben nicht aus. Nach einem Gelage bei Otto am 4. August 1810 stürzte er angetrunken in den Main, ohne freilich einen ernsthaften körperlichen Schaden zu erleiden. Zunehmend kamen (unter anderem von Emilie von Berlepsch in Umlauf gebrachte) „Gerüchte über meine Trinkunmäßigkeit“ auf, aber ein Alkoholiker ist bekanntlich nie um Ausreden verlegen. Im Stillen gab er seiner Frau und den übrigen Kritikern Recht, aber die übermäßige Neigung zum Alkohol aufzugeben, war er nicht bereit. Erneut packte er die Koffer und ergriff die Flucht. Im Juni 1812 lockte ein dreiwöchiger Aufenthalt in Nürnberg. Nach wenigen Tagen tauschte Jean Paul die schlechte Mietstube gegen ein besseres Logis am „Roßmarkt“, welches er sich mit Sophie Ket­ tenburg, der 39-jährigen Tochter eines verstorbenen preußischen Mi­nisters, teilte – ein Umstand, der Carolines Argwohn weckte. Die 252  7. Kapitel

Bekanntschaft mit dem frisch verheirateten Professor und Gym­na­sial­ direktor Georg Wilhelm Friedrich Hegel, mit dem Buchhändler Johann Leonhard Schrag und anderen Gelehrten erfreute ihn mehr als die gemeinsame Tagesfahrt mit Jacobi nach Erlangen, denn man fand persönlich nicht zueinander. So scheiterte der fast siebzigjährige Philosoph mit seiner Absicht, Jean Paul als Nachlassverwalter in München anzustellen. Zudem war Jacobi abgestoßen von Jean Pauls ständigem Schwanken zwischen Humor und Ernst, er verweigerte sogar die Teilnahme an einer Lesung aus „Katzenberger“ und „Fibel“. Wie stets in Begleitung der ihn umsorgenden Schwestern, wirkte Jacobi ängstlich, steif und verunsichert, vor allem durch die heftige Kritik von Hegel und Schelling fühlte er sich gekränkt. Mit aller gebotenen Zurückhaltung deuteten die Schwestern auf eine beginnende Demenz des Philosophen hin. Der Hintergrund der Nürnberg-Reise wird nur vor der Ehekrise verständlich, denn selbst in der Ferne erwies sich der Gatte so unverständig und wenig einfühlsam wie daheim. Man lese nur seine familiäre Geschäftsordnung mit der Überschrift „Täglich durchzulesen“. Auch während seiner Abwesenheit wollte er kein Jota seiner beherrschenden Männerrolle aufgeben, mithilfe einer aus 15 Punkten bestehenden Liste regelte er detailliert den heimischen Alltag. Um nur ein Beispiel zu nennen, heißt es dort unter Punkt 7: „Lasse ja die beiden Thüren meiner Stube immer zugesperrt; auch darf das Eichhörnchen nicht hinein.“ Gute Ratschläge gibt es auch bezüglich der Beseitigung der „Haare vom Kanapé“ und der korrekten Buchführung: „Notiere bloß jeden Thaler, den du heraus nimmst“. Mit einem Wort, er behandelte Caroline, eine gestandene Hausfrau mit drei Kindern, wie eine geistig Minderbemittelte. Um dem Argwohn seiner Gemahlin die Spitze zu nehmen, enthalten seine ausführlichen Reise-Briefe wohlweislich nur Bemerkungen über männliche Bekannte oder verheiratete Frauen. In gesundheitlicher Hinsicht möchte er die Gattin beeindrucken, so verzichtet er erstmals auf die Anwendung von Laudanum. Freilich enthalten die Briefe an Caroline auch Töne der Selbstkritik, etwa in dem freimütigen Schreiben vom 15. Juni, worin er bedauert, dass der Zorn bei ihm zuweilen In Bayreuth  253

förmlich zur Ekstase werde. Gleichwohl kann er sich den Hinweis nicht verkneifen, dass die „größere medizinische Kenntnis auf der Mannes Seite“ sei und das Familienoberhaupt ein „von allen Völkern zugestandenes Vorrecht“ zu beanspruchen habe. Beschwichtigend gibt er jedoch der Hoffnung Ausdruck, dass nach seiner Heimkehr „alle kleinen Rügen, Mistöne & vertrieben“ sein würden. Als wäre die Ehe nicht schon genug belastet, erhielt Jean Paul im Mai 1813 einen ersten „Liebesbrief“ aus Mainz, dem im geringen zeitlichen Abstand drei weitere folgten. Marianne Lux, Tochter des deutschen, wegen seines Widerstandes gegen die Gewaltherrschaft der Jakobiner unter dem Fallbeil hingerichteten Adam Lux, schrieb patriotisch-sentimentale Briefe an den verehrten Dichter in Bayreuth. Die junge Frau glaubte in Jean Paul, der im Corday-Aufsatz der politischen Märtyrerin ein Denkmal gesetzt und Adam Lux namentlich gelobt hatte, einen Gesinnungsfreund gefunden zu haben, der ihren hohen moralischen Anspruch teilte. Sie begehrte, ihn Vater zu nennen und in seinem Haus dienen zu dürfen, die wirren Schreiben enthalten auch sexuelle Anspielungen und Selbstmordgedanken. Jean Paul verhielt sich gegenüber den Lux-Briefen zunächst abwartend und zog schließlich Emanuel zu Rate. Nachdem die Briefserie aus Mainz nicht enden zu wollen schien, entschied er sich zur Abfassung eines Antwortschreibens. Sein erster Brief vom 29. Mai ist von einem Ton respektvoller Distanz geprägt. Er unterzeichnet als „Vater“ und fügt ausdrücklich Grüße Carolines bei. Aber die hysterische Frau weiß ihre Liebe zu inszenieren, ein missglückter Selbstmordversuch schreckt auf. In einem Brief an Marianne vom 20. Juni notiert Jean Paul den freilich tiefsinnigen Satz: „Sie denken viel zu gut von mir als Menschen, kein Schriftsteller kann so moralisch sein wie seine Werke.“ Einen Monat später erhält sie eine gewünschte Locke von seinem spärlich behaarten Haupt. In dem Folgebrief vom 12. September distanziert er sich eindringlicher als zuvor von der bizarren Fernliebe und weist ihr Ansinnen schroff zurück. Die Affäre auf Distanz endete abrupt im Mai 1814 durch den Freitod Mariannes, die sich in selbstmörderischer Absicht in den Rhein stürzte. „Ihr Wesen zog sie in die Tiefe hinab“, heißt es am 21. Mai gegenüber Emanuel. 254  7. Kapitel

Caroline war sicher zu klug, um ihre Position durch die hysterische Frau bedroht zu sehen, aber dieser Vorfall mit der „Feuerseele“ ließ erkennen, dass ihr Ehemann als prominenter Dichter weibliche Begehrlichkeiten erweckte, denen zu widerstehen sie ihm nur bedingt zutraute. Der psychische Druck, an dem Jean Paul in dieser Phase seines Lebens litt und der die Ehe an den Rand des Scheiterns brachte, war auch finanziell begründet. Während der napoleonischen Kriege lag der Buchhandel danieder, so dass die Familie durch das Schreiben kaum ernährt werden konnte. Die an verschiedene Minister der preußischen Regierung sowie an König Friedrich Wilhelm III. gerichteten Bitten um die Gewährung einer Pension lagen mittlerweile über zehn Jahre zurück, ohne dass – trotz mehrerer Kabinettszusagen – ein Taler überwiesen worden wäre. Im Dezember 1815 trafen schließlich abschlägige Bescheide vom preußischen König und von Staatskanzler Hardenberg ein. Begründet wurde die Nichtgewährung mit dem Argument, dass der Staat nach den Kriegen knapp bei Kasse sei. Anfang Januar 1816 erhielt Jean Paul jedoch von einem Vertrauten in Berlin die freilich ernüchternde Nachricht, „daß der König keinen Sinn für Poesie habe und die Poeten für Phantasten halte.“ Die Verweigerung der Pension wurde allgemein als Beleg für seine (vermeintlich) antipreußische Haltung gewertet. Im Oktober 1808 hatte Jean Paul dem damaligen Fürstprimas von Aschaffenburg in Hoffnung auf Gewährung einer Pension die Schrift „Friedenspredigt“ zugeeignet. Tatsächlich gewährte der von Napoleon eingesetzte Großherzog von Frankfurt, Primas des Rheinbundes und einstige Freund Herders, Carl Theodor von Dalberg, eine stattliche jährliche Pension von 1000 Gulden, die zu einem festen Bestandteil des Familienbudgets wurde. Im November 1813 zog sich Dalberg aus der Politik zurück und lebte ab 1814 in Regensburg. Nach seiner Abdankung stellte jedoch das „Provisorische Gouvernement“ die Pensionszahlung ein. Gegenüber Otto lamentierte Jean Paul am 15. Juli des Folgejahres: „Pension muß ich haben, beim Henker, da ich in 1 Vormittage (Korrigier- und Vorbereitzeiten eingerechnet) nicht über 2 Quartseiten fertige.“ In Bayreuth  255

Wiederholte Eingaben an den russischen Zar Alexander und Fürst Metternich blieben ergebnislos. Schließlich sandte er Bittschriften an Frankfurter Regierungsstellen, Maximilian I. König von Bayern, dessen Gemahlin Caroline sowie an einige Minister mit der Bitte um Übernahme der von Dalberg gewährten Pension. Umgehend sagte die Königin ihre Unterstützung zu, bereits drei Monate später traf die Rente für die beiden vorhergehenden Jahre ein. Fast zeitgleich mit der Unterzeichnung der „Heiligen Allianz“ im September 1815 hatte Jean Paul notgedrungen die politischen Fronten der Geldgeber gewechselt. Die finanzielle Konsolidierung festigte auch die Ehe, eine Scheidung wurde immer unwahrscheinlicher. Sicher wirkte auch die Rücksicht auf die Kinder einer endgültigen Trennung entgegen. Die elfjährige Odilie spielte als Nesthäkchen zu dieser Zeit eine untergeordnete Rolle. Dafür übernahm die frühpubertäre Emma – wie der Vater mit einem „Funken- und Bildergeist“ begabt (Brief vom 9. Juni 1816) – bei Abwesenheit der Mutter die Rolle der Hauswirtschafterin, denn häufig gab es Probleme mit den Hausmägden, deren Unterordnung zu wünschen übrig ließ. Dem Sohn Max fehlte hingegen die Imaginationskraft des Vaters, er fokussierte sich auf die Kärrnerarbeit schieren Lernens. Nachdem Max täglich zwei private Lehrstunden in Griechisch und Latein erhalten und sich in die Originalwerke Homers und Ovids hineingearbeitet hatte, absolvierte er im September 1816 mit Erfolg ein altphilologisches Examen. Allerdings musste der Vater einige Monate später feststellen, dass die übermäßige Anstrengung zur körperlichen Schwächung des Sohnes geführt hatte, das Lernpensum wurde daraufhin durch die Verringerung des Lateinunterrichts zugunsten von Griechisch, Mathematik und Geschichte verändert. Weil die Konfirmationen von Emma und Max bevorstanden, wurde auch der Religionsunterricht verstärkt. In dieser Zeit machte sich ein klimatisches Phänomen mit gravierenden Folgen bemerkbar. Für West- und Südeuropa waren die Jahre von 1812 bis 1821 die kältesten seit der Reformation, gleichwohl zählte 1816, das „Jahr ohne Sommer“, zu den meteorologischen Ausnahmen. Das anhaltend kalte Wetter mit heftigen Niederschlägen verhagelte die Ernten mit der Folge steigender Getreidepreise und Hun256  7. Kapitel

gersnöten in vielen Teilen Deutschlands. Das von einigen Zeitgenossen als Strafgericht Gottes gedeutete klimatische Phänomen wird heute auf den Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im Frühjahr 1815 zurückgeführt, dessen Flugasche den Himmel über weiten Teilen Asiens und Europas bedeckte. Eine starke Abkühlung sowie monatelange Regengüsse mit Überschwemmungen waren die Folge. Aufgrund der wissenschaftlichen Ratlosigkeit gegenüber den meteorologischen Unbilden hatten „magnetische Propheten“ und selbsternannte Wetterkundler wie Jean Paul Konjunktur. Allerdings erwiesen sich dessen prophetische Fähigkeiten als begrenzt, denn ein bereits im Sommer zuvor geplanter Besuch bei Carl Theodor von Dalberg in Regensburg wurde – entgegen seiner Prognose – wegen des ständig schlechten Wetters immer wieder verschoben. Jean Paul fühlte sich gegenüber Dalberg nicht nur aufgrund der gewährten Pension, sondern auch wegen dessen langjähriger Freundschaft zu Herder verbunden. Der aufgeklärte katholische Staatsmann verstand sich als schriftstellernder Philosoph, der ästhetische, moralphilosophische, kriminalwissenschaftliche und kosmologische Schriften publizierte. Zudem lebte in Regensburg der seit seinem WeimarAufenthalt mit Jean Paul befreundete Regierungsassessor Ludwig von Oertel, der Jean Pauls Besuch vorbereitete, während Dalberg die Kosten übernahm. Die Reise nach der Freien Reichsstadt an der Donau ab Mitte August 1816 dauerte etwa drei Wochen und gehörte zu den emotional und intellektuell besonders anregenden Ereignissen im Leben Jean Pauls. Eine Frucht dieses Aufenthalts wurde die philosophische Erzählung „Selina“. Jeden Morgen wurde der Gast von einer Landkutsche abgeholt, „und so sitzen wir beide oft bis ins Dunkle bei einer nur halb austropfenden Weinflasche und die Gespräche sind über Religion – und Physik – und alles Wissenschaftliche.“ Der weltkundige, betagte einstige Erzbischof und Fürstprimas – „mehr Gelehrter als Fürst“ – vereint eine authentisch gelebte Frömmigkeit mit naturwissenschaftlichem Interesse. „Am ersten Tag … war unsere Bekanntschaft so entschieden, daß ich seit Herders Tode das erste Gastmal dieser Art genossen“, heißt es in einem Brief an Emanuel vom 21. August, und wenige Tage In Bayreuth  257

später erfährt Caroline: „Einen Tag Abwesenheit spüren unsere Herzen. Er umarmt mich so sanft wie Herder.“ Jenseits der konfessionellen Barrieren fanden zwei Intellektuelle im Geiste Herders zueinander. Gleichwohl waren sich der liberale Protestant und der katholische Würdenträger durchaus uneins in theologischen Fragen, insbesondere Jean Pauls Subsumierung von Jesus unter Gott stieß bei Dalberg auf Widerstand. Aber die Dispute blieben stets freundlich. Nach den „Himmels-Stunden von Regensburg“, wie Jean Paul in einem Dankbrief an Dalberg vom 2. Oktober seinen Aufenthalt charakterisierte, war die Aussicht auf die Rückkehr in das „matte Baireut“ wenig verlockend, zumal der Ehekrieg nach wie vor schwelte. Beschwichtigend stellte er seiner Frau als Geschenk einen „herrlichen rohseidenen Regenschirm“ in Aussicht. „Wir werden, Geliebte, wieder schöne Tage verbringen“, schreibt er mit mehr Hoffnung als Glauben am 31. August an die Gattin. Zudem weist er auf seine Mäßigung des Speise- und Alkoholkonsums hin. Die zweitägige Rückreise, so heißt es, wolle er „moralischen Betrachtungen“ widmen, um „die harte Unart – die ich ganz von meinem Vater geerbt“ zu bekämpfen. Caroline blieben Zweifel. Als Autor war Jean Paul zu dieser Zeit gefragter als jemals zuvor. So schrieb er seit dem Frühjahr 1809 Rezensionen für die ein Jahr zuvor gegründeten „Heidelberger Jahrbücher der Literatur“, dem Organ der ältesten deutschen Universität Heidelberg. Das wissenschaftliche Renommee der Neckar-Stadt nahm stetig zu, seitdem die Hochschule Jena aufgrund der repressiven Kulturpolitik und Abwanderung prominenter Professoren wie Fichte an Bedeutung eingebüßt hatte. Die badische Regierung berief insbesondere für die Fächer Jura, Philologie und Theologie renommierte Lehrkräfte an die Heidelberger Universität. Zudem sorgte eine Sinekure-Professur für den bekannten Dichter und Übersetzer Johann Heinrich Voß (der gemeinsam mit seinen beiden Söhnen an einer neuen deutschsprachigen Shakespeare-Ausgabe arbeitete) für einen besonderen Akzent in der wissenschaftlichen Landschaft. Zu den prominenten Heidelberger Professoren gehörten der Jurist Anton Friedrich Justus Thibaut sowie die evangelischen Theologen 258  7. Kapitel

Carl Daub und Heinrich Eberhard Gottlob Paulus. Vor allem der rationalistische Gottesgelehrte Paulus – vormals Theologieprofessor in Jena, Verteidiger Fichtes im Atheismusstreit sowie entschiedener Gegner seines Landsmanns Schelling – setzte sich mit dem Begriff der „Denkgläubigkeit“ von pietistischen und orthodoxen Theologen ab. Für ihn stand die Vernunft höher als Wundergläubigkeit, dem Wandeln Christi auf dem Wasser, der Auferstehung sowie anderen überirdischen Erscheinungen sprach er öffentlich ihren Wirklichkeitsgehalt ab. Ende Juli 1816 – Jean Paul arbeitete gerade an einer Neuauflage des „Siebenkäs“ und bereitete die „Fastenpredigten“ für die Veröffentlichung vor – erhielt er von Cotta den dritten Band der Heidelberger Shakespeare-Übersetzung sowie einen Brief von Heinrich Voß, dem Sohn des Dichters. Jean Paul bedankte sich und bat die JahrbücherRedaktion, man möge ihm das Abfassen weiterer Rezensionen erlassen, denn längere Texte gingen ihm schneller von der Hand als Besprechungen, Aufsätze und die besonders zeitraubenden Neubearbeitungen. Schließlich wünschte er, das landschaftlich reizvoll gelegene „Augen-Eden“ Heidelberg selbst zu besuchen. Heinrich Voß übernahm die Vorbereitung der Reise, die zu einem Höhepunkt im Leben Jean Pauls werden sollte. Am 12. Mai 1817 präzisierte er gegenüber Voß die Bitte um Anmietung einer Wohnstube mit Fensterblick auf die untergehende Sonne; zudem erbat er die Anstellung einer Bediensteten „zum Kaffee- und Bettmachen und Getränkeholen … ohne besondern Lärmen in der Morgenschlafstunde“. Auch versäumte er nicht, eine genaue Wetterprognose mit guten Aussichten für die nächsten Monate zu übermitteln. Am 2. Juli begann die Reise über Bamberg und Würzburg, „das Wetter [war] kühl, hell und göttlich“. Vier Tage später bezog er eine Wohnung im (noch heute existierenden) Gasthof „Goldener Hecht“ nahe der „Alten Brücke“. „Mein Zimmer ist fast zu gut“, wie er Caroline in einem der regelmäßig heimwärts gesandten Briefe mitteilt. Weniger mitteilsam ist er hinsichtlich der Phalanx von Verehrerinnen, die persönliche Nähe zu ihm suchen. Eine von ihnen, mit der er noch jahrelang einen Briefwechsel führte, war Henriette von In Bayreuth  259

Ende, eine fromme, gebildete, schöne Frau Anfang dreißig, die ihn später in Bayreuth besuchte. Bei den Kontakten in Heidelberg handelte es sich jedoch in erster Linie um Gelehrte, wie den ein Jahr zuvor zum Philosophieprofessor ernannten Hegel, den Kirchenrat Friedrich Schwarz, den Kunsthistoriker Sulpiz Boisserée, den Philologen Friedrich Creuzer sowie den Familien Voß und Paulus, bei welchen der Dichter vorzugsweise verkehrte. In den Kreis von Familie Paulus zog ihn indes nicht nur die Gelehrsamkeit und liberale Theologie des Familienoberhaupts oder dessen liebenswerte, zuweilen schriftstellernde, kränkliche, aber treusorgende Hausfrau Caroline, sondern vielmehr deren attraktive und geistreiche, Mitte 20-jährige Tochter Sophie, die mit ihren dunkelblauen Augen und braunen Locken als eines der schönsten Mädchen von Heidelberg galt. Die ausgezeichnete Pianistin las Shakespeare im Original und widmete ihr Zeichentalent der Darstellung von Pferden. Der vernünftig-religiöse Glauben des Vaters war ihr Leitstern, die tägliche Lektüre der Bibel in englischer Übersetzung ein persönliches Anliegen. Jean Paul erlag dem Charme der kapriziösen jungen Frau, die nach seiner Vorstellung alle Vorzüge von Weiblichkeit vereinte: Schönheit, Geist und Frömmigkeit. Während eines Ausflugs nach Weinheim küsste er die Angebetete „stundenlang“, was die misstrauische Caroline ihrem Gatten niemals verzieh. Obwohl das Verhältnis zwischen Sophie und Jean Paul vermutlich rein platonisch blieb, wurde die Stimmung im Hause Richter durch die vermeintliche Affäre zusätzlich vergiftet. Ein Jahr darauf ging Sophie Paulus die vielfach kolportierte Mesalliance mit August Wilhelm Schlegel ein. Der Aufenthalt in Heidelberg erfüllte auf vielfältige Weise Jean Pauls Sehnsucht nach Anerkennung. Denn der Albtraum, durch anhaltende literarische Misserfolge in jene gesellschaftlichen Niederungen gestoßen zu werden, denen er entstammte, verließ ihn niemals, zumal der elende Tod seines sozial gescheiterten Bruders Adam ihm dieses Trauma erneut drastisch vor Augen geführt hatte. In Heidelberg kam man jedoch seinem (selbst für damalige Maßstäbe) ausgeprägten Sinn für Kitsch entgegen. In einer Zeit des Ringens um eine eigen260  7. Kapitel

ständige nationale Identität kürte man den fränkischen Autor im badischen Heidelberg zur nationalen Integrationsfigur. Als wäre die Idee einer besonders rührseligen Stelle des „Hesperus“ entnommen, erklingen in Heidelberg studentische Vivatrufe auf den „Lieblingsdichter der Deutschen“, sorgt eine Lustfahrt auf dem Neckar für den Eindruck, „als würden meine Romane lebendig und nähmen mich mit“, wie er am 20. Juli in tranceartiger Benommenheit an Emanuel schrieb. Tatsächlich könnte die Szenenfolge einer seiner Erzählungen nachempfunden sein: Bei Soireen las Hegel aus Goethes „Farbenlehre“, fand eine Singakademie mit altitalienischer Musik bei Familie Thibaut statt, gefolgt von einer Tour nach Schwetzingen sowie einem Gastmahl zu seinen Ehren für 60 Personen im „Goldenen Hecht“. Endlich fühlte er sich (wenigstens vorübergehend) der Einsamkeit des Schreibens entronnen und aufgenommen im Kreise von Gleichgesinnten. Auch formale Ehren wurden ihm zuteil. Ein besonders glücklicher Moment war es, als er im Namen der Universität von Hegel und Creuzer ein pergamentenes Ehrendoktordiplom erhielt. Mit einem Wort, in Heidelberg heimste Jean Paul mehr Titel und Würden ein, als sonst ein Karnevalsprinz in der Faschingszeit. „Ich habe hier Stunden erlebt, wie ich sie nie unter dem schönsten Himmel meines Lebens erlebt habe … Der gesellige Ton hier ist Leichtigkeit, Anstand und Freude; vier ausgetrunkene Punschbowlen bei Voß und 100 ausgetrunkene Weinflaschen auf dem Schiff ließen doch diesen Ton bestehen“, heißt es in einem ausführlichen Brief an Caroline vom 18. Juli. Das Lauschen auf die „Sphärentöne“ der klassizistischen Oper „Die Vestale“ von Spontini sowie Ausflüge nach Mannheim, Mainz, Worms, Bingen und Wiesbaden befriedigten seine Sehnsüchte. Er besuchte die Gemäldesammlung Boisserée und begegnete seinem Verleger Georg Reimer, dem Dichter Ludwig Tieck sowie der Schwester von Marianne Lux. Mit besonderer Leidenschaft betreibt er sein Steckenpferd, das Magnetisieren. So vermochte er „durch bloßes festwollendes Anblicken, wovon niemand wusste“ seine Verehrerin Juliane von Krüdener „zweimal beinahe in Schlaf [zu bringen] und vorher zu Herzklopfen, Erbleichen“, wie er Caroline nicht ohne Stolz am 19. August berichtet. In Bayreuth  261

Vom breiten Publikum, vorzugsweise von den weiblichen Anhängern, wurde Jean Paul als Autor des „Hesperus“-Romans gefeiert, dessen Wirkung auch zwei Dekaden nach dessen Veröffentlichung nicht nachgelassen hatte. Die übermäßige Verehrung zeitigte freilich einen üblen Scherz, der die fröhliche Stimmung kurzfristig trübte: Seinen Hund, der ihn auf der Reise begleitete, hielt man für den „Hesperus“Vierbeiner „Spitzius Hofmann“, weshalb man ihm als Souvenir etlicher Locken beraubte. Fast hätte gar der verehrte Dichter selbst seine wenigen letzten Haare eingebüßt. Jenseits des Wirbels um Jean Pauls Aufenthalt in Heidelberg lag freilich das wichtigste Ergebnis der Reise darin, einen neuen Freund gefunden zu haben, der zukünftig sein wichtigster Lektor wurde: Heinrich Voß. Mit dem Triumph in Heidelberg sah sich Jean Paul auf dem Höhepunkt der Anerkennung als Autor und Gelehrter, der befürchtete Absturz in die gesellschaftlichen Niederungen war ferner denn je zuvor. Aber es gibt Stürze, die nicht minder bitter sind. Mehrere standen ihm bevor.

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Lebensdämmerung Während Jean Paul an einer Neuauflage des „Siebenkäs“, dem „Ergänzungsblatt“ für „Levana“ sowie an dem „Saturnalien“-Aufsatz für das „Morgenblatt“ arbeitete, schwelte weiterhin der Ehekonflikt. So kritisierte Caroline seine (für ihr Empfinden) allzu freundlichen Briefe an Sophie Paulus, die eine Zärtlichkeit ausstrahlten, welche der Gattin nur noch selten zuteil wurde. Ein weiterer Höhepunkt dieser Affäre war das Angebot von Anfang 1818, als ihm Familie Paulus eine Wohnung in Heidelberg zum Geschenk anbot, welches der geschmeichelte Dichter am 3. Februar mit milden Worten ablehnte. Der Bekannte und Freunde mit Wetterprognosen versorgende selbst ernannte Meteorologe litt an einem starken Fußrheuma, welches ihm weite Wanderungen wie zur „Rollwenzelei“ beschwerlich machte. Auch um die Finanzen war es nicht wohl bestellt, häufig musste Emanuel um ein verzinstes Darlehen gebeten werden, zum Dank erhielt der Freund mit Gattin eine Einladung zur häuslichen Mittagstafel. Auch Jean Pauls Gesundheit ließ zu wünschen übrig. Obwohl er seiner eigenen Arzneikunde mehr vertraute als fremden Medizinern, erhielt der Berliner Arzt Johann Gottfried Langermann Anfang Dezember 1817 einen Krankenbericht zugesandt, worin der Dichter bei sich seine „krankhafte Affektation der Lungen- und Herznerven“ diagnostizierte. Am 10. Januar des Folgejahres erhielt sein Schwiegervater Mayer einen Dankbrief für das „Einholen von ärztlichen Rathgebungen“, aus dem hervorgeht, dass der Dichter täglich zwei Gramm Fingerhutextrakt (Digitalis) sowie einen mit Schwefelmilch angereicherten medizinischen Trank zu sich nahm, dessen Gestank die Familie immens belästigte. Ein starker Trost in Jean Pauls von beruflichen Anstrengungen und Anfeindungen, familiären Zwistigkeiten und vielfältigen Krankheitssymptomen bestimmten Leben waren die Kinder, wobei vor allem der (voraussichtliche) Stammhalter Max das väterliche Wohlgefallen fand. Lebensdämmerung  263

Nachdem der Sohn ein philologisches Examen mit Bravour bestanden hatte, wurde die Original-Lektüre von Homer, Euripides, Horaz und Tacitus zu seiner täglichen Übung. Seine Fremdsprachenkenntnisse übertrafen schon bald diejenigen des Vaters, wie Jean Paul in einem Brief vom 13. November 1818 Heinrich Voß mitteilte, dem er Max für ein Studium in Heidelberg empfehlen wollte. Wie zuvor verschaffte sich Jean Paul durch Reisen den nötigen Abstand zu Bayreuth. Im Frühjahr 1818 standen Besuche in Bamberg und Frankfurt auf dem Programm, mit Abstechern nach Würzburg, Aschaffenburg, Offenbach und Heidelberg. Er verstand sich durchaus als reisender Wunderheiler, der seine Kunstfertigkeit gerne den Leidenden zur Verfügung stellte. So behandelte er beispielsweise in Würzburg ein schwindsüchtiges 16-jähriges Mädchen durch Magnetisieren. In Heidelberg besuchte Jean Paul einen mehrstündigen „wahren magnetischen Gottesdienst“, an dem auch der preußische königliche Leibarzt und Direktor des Ärztekollegiums an der Charité, Christoph Wilhelm Hufeland, teilnahm. Ein Brief an Caroline vom 18. Juni schildert ausführlich die Sitzung, welcher 27 Personen unterschiedlichen Alters und Geschlechts beiwohnten: Der Magnetiseur berührte jeden Einzelnen mit einem Eisenstäbchen, worauf die Gemeinde in Schlaf versank. Nach längerer Trance erwachte das Publikum „mit schrecklichen herauswürgenden Gebärden … hervorknirschend, und doch mit frommen Äußerungen überall“, worauf jede Person ein individuelles Rezept zur Behebung seiner Leiden ausgehändigt erhielt. Auch Juliane von Krüdener war anwesend mit „Zuckungen und Schlaf“. Höhepunkt der Veranstaltung war die prophetische Rede eines Blinden, der mit eindringlichen Worten Gott als den „Weltarzt“ beschwor. Tatsächlich gab es auch damals nicht wenige Personen, welche das Magnetisieren für schieren Humbug hielten, aber Jean Paul zeigte sich beeindruckt: „Ich war im Tempel des Weltgeistes“, schreibt er seiner Frau aus Heidelberg, wo er wenig Tage darauf einen Hellseher befragte. Trotz zahlreicher Aktivitäten zu seinen Ehren – wie einer nächtlichen Bootsfahrt auf dem Main, einem Essen im Landhaus der Brentanos sowie bei Gelehrtenvereinen, Begegnungen mit Friedrich und 264  8. Kapitel

August Wilhelm Schlegel, dem Maler und Kunstprofessor Heinrich Meyer sowie einer Soiree mit Pianomusik von Louis Spohr – wollte sich die rechte Freude nicht einstellen. Ein Grund dafür waren die hohen Preise, so beklagte Jean Paul in einem Brief an Caroline vom 30. Mai die Teuerung in Frankfurt. Nicht einmal der Besuch des geliebten Heidelberg vermochte die Freude des Vorjahres zu erneuern. Zwar begegnet er abermals jenen Freunden, welche ihm die schönste Reise seines Lebens beschert hatten, aber die rechte Stimmung wollte sich diesmal nicht einstellen. Ein Grund dafür war auch sein prekäres Verhältnis zu Sophie Paulus, denn Carolines Misstrauen war keineswegs verflogen. Auch blieb nicht unbemerkt, dass August Wilhelm Schlegel um die Gunst der schönen Professorentochter buhlte, die sich nicht abgeneigt zeigte. Zudem litt Jean Paul vor allem in Frankfurt aufgrund übermäßigen Genusses von Alkoholika an einer Übersäuerung des Körpers mit morgendlichem Erbrechen. Mit einem Wort, der Aufenthalt in Frankfurt war bei kaltem Wetter und eingedenk der traurig-argwöhnischen Briefe von Caroline so trübselig, die Situation in Heidelberg so bedenklich, dass er sich nach Hause sehnte. Nach sechswöchiger Abwesenheit traf er am 4. Juli wieder in Bayreuth ein. Ein Brief Carolines vom 8. September 1818 vermittelt einen aufschlussreichen Einblick in den Alltag von Familie Richter und das Verhältnis der Eheleute: „Um 6½ oder 7 Uhr steht mein Mann auf … Er wartet mit dem Kaffee noch eine Viertelstunde, bis er Wasser getrunken hat, und trinkt ihn beim Lesen vorbereitender Sachen auf dem Kanapee liegend allein auf seinem Zimmer … Wir essen spät … nur ein Gericht, doch muß es kräftig und mit Behutsamkeit gekocht, gedämpft oder gebraten werden, damit es die gerade Mitte hat, und da dies keiner Magd in seinen feinen Nuancen beizubringen ist, so bewache ich es selbst … Um 1½ Uhr schlägt die Mittagsglocke, wo mein Mann nicht eine sechzehntel Sekunde zu früh gerufen werden darf … Wenn er dann wohl mitunter seine Hand auf meine Schulter legt, so bin ich selig und möchte ihm zu Füßen fallen … Beim Essen spricht mein Mann viel mit den Kindern, dann ruht er ein wenig … Ist es schön, so geht er am Morgen mit seinen Papieren in Gärten – Lebensdämmerung  265

oder er geht nach einem Orte, eine halbe Stunde weit zur Frau Rollwenzel … gewöhnlich kommt mein Mann nachmittags um 3 – 4 Uhr wieder von dort nach Hause … Abends um 7 Uhr geht er in die Harmonie, um 8 Uhr wieder nach Hause, arbeitet eine Stunde für sich, und um 9 Uhr essen wir. Der Abendtisch besteht nur aus einem einzigen, aber warmen Gericht … Hier ist mein Mann am gesprächigsten, und oft sitzen wir bis 10 Uhr am Tisch. Alsdann wird gleich zu Bett gegangen … Sein alles überflügelnder Geist läßt es nicht zu, daß ich mich ohne Schüchternheit äußere, und es erscheint mir alles überflüssig und einfältig, was ich sagen könnte.“ Geistige Anregung fand Jean Paul in dem Briefwechsel mit seinem neuen Freund und Lektor Heinrich Voß, mit dem er sich nicht nur ausführlich über dessen Shakespeare-Übersetzung austauschte und der die Neuauflage des „Siebenkäs“ unterstützte, sondern der sich allgemein zum mentalen Rückhalt des einsamen Dichters entwickelte. So förderte Voß die Neuausgabe des „Hesperus“ in vier Bänden und betreute den „Doppelwörter“-Aufsatz mit seinem philologischen Fachwissen. In einem Schreiben vom 31. Juli ernannte Jean Paul den Heidelberger Vertrauten zum „geistigen executor testamenti“, zum alleinigen Nachlassverwalter seines Gesamtwerkes sowie sämtlicher unveröffentlichter Faszikeln. In Heinrich Voß hatte der Dichter einen kongenialen Freund und Berater gefunden, dessen sprachwissenschaftliche Kompetenz jene von Emanuel oder Otto deutlich übertraf. Eine Kurzreise nach Orten seiner Jugendzeit, Joditz und Hof, im Oktober 1818 sowie ein Besuch bei Ottos Vater brachte jene Erinnerungen zurück, die er für sein neues Werk benötigte. Zeitlich parallel mit der Arbeit an der Drittauflage des „Hesperus“ begann er mit der Planung seiner Memoiren unter dem Titel „Selberlebensbeschreibung“. Aber die Niederschrift des Textes ging ungewöhnlich langsam voran, innere Blockaden widersetzten sich dem Federfluss. Die durchaus scharfsinnige Vermutung des Sohnes, dass seines Vaters Schwierigkeiten bei der Abfassung der Autobiografie in dessen „Abneigung vor einer unangenehmen Vergangenheit“ begründet sei, wies Jean Paul allerdings in einem Brief vom 4. September 1821 entschieden zurück. Der wahre Grund ist in einem Brief an Emanuel vom 3. August 1818 266  8. Kapitel

erwähnt: „Jetzo arbeit’ ich an der Beschreibung meines Lebens; ich bin aber durch die Romane so sehr ans Lügen gewöhnt, dass ich zehnmal lieber jedes andere beschriebe.“ Virtuos beherrschte er die Fähigkeit, auf den Elfenbein- und Ebenholztasten der Gefühlsklaviatur zu spielen, aber der kritischen Darstellung der eigenen Vergangenheit widersetzte sich sein literarischer Instinkt, um nicht die Freude am Schreiben einzubüßen. Verfolgen wir die Spuren seiner frühen autobiografischen Projekte und untersuchen den Text auf verfängliche Spuren. Als frühester Versuch eine Lebensbeschreibung gilt jener aus dem Jahre 1781, vor allem jedoch ein als Nekrolog geplanter biografischer Vorspann zu den „Opera Omnia“. Zu diesem Zweck sammelte Jean Paul Aufzeichnungen und Notizen in einem „Vita“-Buch. Die erste Erwähnung einer „Selbst-Lebensbeschreibung“ in der späteren Form enthält ein Brief an Pfarrer Vogel vom 10. November 1810. Aber erst im Zusammenhang mit dem Plan, seine Erinnerungen mit dem Roman „Komet“ zu verbinden, sammelte er Nachrichten über seine frühe Kindheit, die er kurz vor Beginn der Niederschrift sichtete. Unmittelbar nach seiner Rückkehr von der Frankfurt-Reise, am 14. Juli 1818, begann die Anfertigung der Memoiren, in welchen das „Frühlingskind“ Jean Paul eine Erinnerungslandschaft entwirft, deren Schönfärbung nur durch matte Schatten konturiert ist. Reminiszenzen voller Melancholie „erheben den bodenlosen Menschen“, heißt es am Schluss der „Vorlesung“ genannten Kapitel, und tatsächlich vermögen die idyllisch-heiteren Beschreibungen etwa des Fichtelgebirges sowie seiner frühen Erlebnisse in Wunsiedel, Joditz und Schwarzenbach die unterschwellige Bitterkeit über die in der Jugendzeit erlebten Ängste und Pressionen kaum zu kaschieren. Der „Professor der Selbergeschichte“, wie er sich zu Beginn der „Zweiten Vorlesung“ ironisch bezeichnet, schildert beflissentlich seine zwischen Lernbegierde und ersten erotischen Empfindungen schwankende Bildungs- und Gefühlsgeschichte. Bezeichnenderweise spielt die Mutter vordergründig keine wesentliche Rolle in der Darstellung, aber ihr Geist schwebt über den Wassern der Autobiografie, ihre duldende Güte strukturiert die Erzählung in Wahrheit mehr als das RauLebensdämmerung  267

schen der Fichtelgebirgswälder. Im Vordergrund steht jedoch die Person des Vaters, dessen postume Omnipotenz gleichsam federführend das Werk bestimmt. Bezeichnenderweise gehörte es zu den „unerkannten Kindheitsfreuden“, wenn der Vater verreist war – diese aufschlussreiche Sentenz spricht für sich. Der Leser erfährt Einzelheiten, wie die rührenden Umstände von Jean Pauls erstem Kuss mit dem blauäugigen Bauernmädchen Auguste, auch die zeitlebens währende Lernbegierde, die Gespensterfurcht und die in seinen Erzählungen weidlich geschilderte Freude an Sommerlustbarkeiten haben ihren Ursprung in jener Zeit. Besonders ausführlich werden die Verhältnisse in Schwarzenbach geschildert, wo er den ersten umfassenden Unterricht erhielt und auch das Klavierspiel erlernte. Dem „Triebe zum Philosophieren“ frönte er erstmals in Schwarzenbach, auch das Schreiben, diese „Hebammenkunst, die man an sich selber übt“, kam in dem Saale-Ort erstmals zur Geltung. Außer der beherrschenden Person des Vaters war es das Trauma der Armut und Abhängigkeit, das durch den „Zeremoniellkuß“ vor dem Zedwitzer Thron dem jungen Paul die soziale Minderwertigkeit seiner Familie deutlich vor Augen führte. Das Fragment endet mit der Begeisterung des Zwölfjährigen für das hehre Lebensziel, aus sich selbst „einen ganz Reinen“ zu bilden, in dem sich das Ideal des „Hohen Menschen“ bewährt. Aber die Fallhöhe zwischen Dichtung und Wahrheit war zu beträchtlich, um nicht Skrupel aufkommen zu lassen; nach einem halben Jahr Schreibarbeit unterbrach er die Fortsetzung des Manuskripts. Dass er sich keineswegs vor öffentlichen Auseinandersetzungen scheute, beweist die Studie mit dem umständlichen Titel „Ueber die deutschen Doppelwörter; eine grammatische Untersuchung in zwölf alten Briefen und zwölf neuen Postkripten“. Der Aufsatz, im Jahre 1820 bei Cotta erschienen, richtete sich gegen Veröffentlichungen des Pädagogen und Sprachpuristen Christian Heinrich Wolke, der durch die Tilgung von Fremdwörtern und die Verdeutschung von grammatischen Begriffen ein musterhaftes Hochdeutsch entwickeln wollte – ein Vorhaben gegen das Jean Paul mit fachlichen Argumenten und viel Ironie polemisierte. Dass freilich auch der Dichter nicht frei von 268  8. Kapitel

Sprachmarotten war, zeigt seine ab etwa 1820 (mit Wolkes Grammatik übereinstimmende) praktizierte Tilgung des Fugen-S innerhalb von Wortkomposita. Jean Pauls Sinn für aktuelle politische Ereignisse war gefordert, als der liberale Bayreuther Abgeordnete und erste Bürgermeister Bambergs, Franz Ludwig von Hornthal, am 5. Februar 1819 im Bayerischen Landtag die Vereidigung des Heeres nicht mehr auf den König, sondern auf die einige Jahre zuvor eingeführte Verfassung forderte. Obwohl von Hornthal bereits seit einigen Jahren in bestimmten Regierungskreisen als widerständiges „Subjekt“ verschrien war, vermochten die politischen Gegner seine Wahl zum Bamberger Städteabgeordneten in die Zweite Kammer der Bayerischen Ständeversammlung nicht zu verhindern. Die Infragestellung der königlichen Militärhoheit brachte vor allem die Mehrheit des Offizierkorps gegen den Antrag auf, König Maximilian I. von Bayern erwog sogar die Auflösung des Landtages. Jean Paul war sehr interessiert an der Debatte, so las er den in der liberalen Tageszeitung „Korrespondent von und für Deutschland“ ungekürzt abgedruckten „Gesetz-Entwurf“ und beklagte in einem Brief an Emanuel vom 19. Februar 1819 den Einfluss der „Baierischen Stände … den Eiterpunkt der deutschen Monarchien“. Mit der Stellungnahme für den jüdischstämmigen, konvertierten Abgeordneten und radikalen Aufklärer von Hornthal und dem ebenfalls von semitischen Herausgebern betriebenen Journal „Korrespondent“ bezog Jean Paul eindeutig Stellung zugunsten der liberalen Fraktion. Seit Ende 1820 führten die „Karlsbader Beschlüsse“ jedoch auch in Bayern zu verschärften Zensurmaßnahmen gegen die Opposition und veränderten das bislang verhältnismäßig liberale Klima im Bayerischen Landtag. Obwohl Jean Paul häufig Besuche empfing, wie jenen von Heinrich Voß im Frühjahr 1819, fühlte er „die Verarmung an gelehrter Gesellschaft in Baireuth“, wie er Caroline am 16. Juni aus Stuttgart schrieb. Erneut ging er auf Reise, diesmal stand eine Visite der Hauptund Residenzstadt des Königreichs Württemberg auf dem Programm. Die Anfahrt in Begleitung seines neuen Pudels verlief über Erlangen, Ansbach und Dinkelsbühl, am 7. Juni traf er in Stuttgart ein und Lebensdämmerung  269

nahm Privatquartier bei einem Kaufmann. Ähnlich wie zuvor in Frankfurt und Heidelberg, hatte er vor allem Kontakt zu Gelehrten und Künstlern, dazu gehörte sein Verleger Cotta ebenso wie der klassizistische Bildhauer Johann Heinrich Dannecker, der Kunsthistoriker Sulpiz Boisserée sowie die Schriftstellerin und Redakteurin Therese Huber. Eine Audienz beim literarisch wenig interessierten König erfolgte nicht, dafür wurde er von dem früheren Herzog und dessen Frau empfangen. Allgemein beliebt und anerkannt, schlug er jedoch eine Einladung der Tübinger Studentenschaft anlässlich der Niederlage Bonapartes bei Waterloo aus, zumal sein Patriotismus durchaus die Errungenschaften der napoleonischen Reformen schätzte. Bei Tee-Empfängen, Diners, Soireen und Gartenkonzerten begegnete er Personen, von denen er bisher nur Briefe empfangen hatte. So „gewährt [Cotta] die reichste Unterhaltung bis sogar in die Philosophie hinein“, wie Caroline in einem Schreiben vom 16. Juni erfährt. Vor Cottas Geiz wurde er eindringlich gewarnt, aber der Verleger erwies sich ebenso gelehrt und fleißig wie maßvoll gegen sich selbst. Ein dem Brief an Caroline beigefügter „Speise- und Trinkzettel“ gibt beredte Auskunft über die kulinarischen und bacchantischen Exzesse, welche Jean Paul in Stuttgart erlebte. Das „ewige Herumtrinken“ begann um 11 Uhr vormittags mit einem Tee, gefolgt von zwei weiteren Tee-Einladungen, von denen die letzte um 22 Uhr angesetzt war; dazwischen häuften sich an vielen Tagen nicht weniger als sieben Diners. Trotz der zahlreichen interessanten Kontakte wollte sich jedoch bei Jean Paul die rechte Stimmung nicht einstellen. Es regnete in Strömen, und das lokale ungesalzene Dinkelbrot mundete nicht. Prekär war seine abermalige Begegnung mit Sophie Paulus, denn Carolines Argwohn war erneut erwacht. Wesentlich angenehmer gestaltete sich für ihn der Aufenthalt auf Schloss Löbichau im September 1819. Er war der Einladung von Herzogin Dorothea von Kurland gefolgt, einer Diplomatin und Salonfrau, welche das im Altenburger Land befindliche Schloss Löbichau in einen Musenhof verwandelt hatte. Ihr Tagebuch vermerkt am 1. Mai 1819 über den Dichter: „Sein Äußeres hat nichts Aesthetisches – groß, stark und roth im Gesichte, Obzwar er sich der Brille bedient, so sind 270  8. Kapitel

seine Augen verständig und Lebendig. Er scheint mir gemüthlich, seine Sprache ist schön, man möchte ihn hundert zungen goennen um alle seine Gedanken die sich drängen und viel Seitig sind auszudrücken. – es ist so viel Lebendigkeit in seinem Geistigen Wesen er spricht wie er schreibt … Er schien sich bey mir zu gefallen, und versprach mich diesen Sommer in Loebichau zu besuchen“. Jean Paul, der Reisepläne nach Stuttgart, München und Weimar (zu Goethe, „die letzte Ruine meiner literarischen Geisteswelt“, wie es im Brief vom 6. August 1819 heißt) verworfen hatte, fand in Löbichau für die Zeitspanne von drei Wochen eine gesellige Heimat. Von der Dienerschaft wurde der dickliche Dichter mit dem Scherznamen „Schankpol“ bedacht, weil er den Genuss des süffigen Geraer Doppelbiers dem Tee vorzog. Zutiefst genoss er den persönlichen Umgang mit einer gepflegten Hausgesellschaft: „Ich kenne keine größere Freiheit als hier unter diesem italienischen Dache wohnt“, schrieb er am 2. September an Caroline. Unter freiem Himmel las er aus seinen Werken, man frühstückte auf einer Insel, auf der zu seinen Ehren ein Fest veranstaltet wurde. Zu den Vortragenden gehörten der Dichterkollege Christoph August Tiedge und der protestantische Theologe Philipp Konrad Marheineke. Man dinierte gemeinsam. Auf dem nahe gelegenen Schloss Tannenfeld ertönten Arien, vorgetragen von der Gastgeberin, die keine Kosten und Mühen scheute, um die Bedürfnisse ihrer Gäste zufrieden zu stellen. Man traf sich zum Blindekuhspiel, einem bevorzugten Zeitvertreib. Welchen Eindruck der körperlich unbeholfene Dichter bei dem Spiel hinterlassen haben mag, ist indes ebenso unbekannt wie seine tänzerischen Meriten beim Aufführen der Polonäse, aber es scheint, als hätte die Begeisterung seine chronische Fußgicht wenigstens vorübergehend betäuben können. Mit einem Aufsatz für Cottas „Damenkalender“ schuf Jean Paul dem Löbichau-Aufenthalt ein bleibendes Andenken. Wieder daheim, beendete er den „Doppelwörter“-Artikel und bereitete den dritten Band „Herbstblumine“ für Cotta vor. Als besonders schmerzlich empfand er den Abschied von Sohn Max, der im Oktober 1819 für ein Jahr nach München reiste, um dort das Gymnasium zu besuchen. Schließlich fuhr Caroline, deren Vater gestorben war, zur Lebensdämmerung  271

Regelung der Erbschaft nach Berlin und Dresden, so dass Jean Paul das Weihnachtsfest nur in Gesellschaft der beiden Töchter und des Pudels verbringen musste. Aus Berlin traf eine Weihnachtskiste ein, gefüllt mit Zuckerwerk für die Kinder und einem Fernglas für den Vater. Sich selbst beschenkte er durch die Bestellung von „Haut Sauterne“-Wein bei einem Frankfurter Spirituosen-Händler. An den Kaufmann Elias Mumm schrieb er am 17. Februar, dass der Weingenuss für die Aufrechterhaltung seiner Schaffenskraft unerlässlich sei, nämlich für sein „geistiges [Leben], um die Anstrengungen des Schreibens zu erhöhen und zu verlängern.“ Dem regelmäßigen Alkoholkonsum verdankte er freilich auch die Plagen seines mittlerweile durch „Wollstrumpf und Wachsstaffent“ gepolsterten Gichtfußes. Für den Wortphantasten bot die Parallelwelt des Schreibens stets eine Zuflucht. Nach wie vor schäumte sein Geist von Ideen, fand das sprudelnde Kelchglas seiner Fantasie keine Neige. Aber er beklagte den Zeitverlust, welchen die Vorbereitung der Neuauflagen seiner Werke abnötigte. Zudem behinderte ihn die seit den Karlsbader Beschlüssen verschärfte Zensur. Vor allem in Preußen gab es eine „heiße Zensur-Linie“, die sich allzu gewagten politischen Äußerungen entgegenstellte, wie er in einem Brief an Cotta vom 6. Juli 1820 klagte. Sein Verhältnis zu Preußen stand ohnehin auf dem öffentlichen Prüfstand, denn eine ebenso unsachliche wie bösartige Rezension des „Doppelwörter“-Aufsatzes durch den Schriftleiter des Literaturteiles ausgerechnet bei Cottas „Morgenblatt“, Adolf Müllner, legte die Nichtgewährung der versprochenen Pension an Jean Paul durch den preußischen König als Retourkutsche für dessen (vermeintlich) antipreußische Haltung aus. Obwohl für ihn die Tage angefüllt waren mit zeitraubenden Arbeiten für Journale, der Vorbereitung von Neuausgaben, Reisen, literarischen Querelen und familiären Problemen, entschloss er sich zur Abfassung eines großen komischen Romans. Bereits am 19. September 1811 – während der Arbeit am ersten Band der „Levana“-Zweit­ auflage – war ihm die Haupthandlung der neuen Erzählung bekannt. Zwei Jahre später, während er noch an den beiden „Levana“-Folgebänden saß, begann die Arbeit „an einem großen komischen Werke“, 272  Lebensdämmerung

wie er Jacobi in einem Brief vom 22. Mai 1813 schrieb. Die geplante Edition seiner Gesamtwerke wurde zurückgestellt, nur die Neuauflage des „Hesperus“ beschäftigte ihn neben der Arbeit an dem Roman „Der Komet oder Nikolaus Marggraf “. Es ist hier nicht der Ort, die in den frühen Jahren der Französischen Revolution spielende bizarre „marggrafsche Geschichte“ von der „Selberkrönung“ eines reich gewordenen Bürgers detailliert zu beschreiben. Jedenfalls spielt der Titel gebende Schweifstern (benannt nach dem Kometen „Flaugergues“, der 1811 den größten Teil des Jahres am Firmament zu sehen war) keine Rolle in der Geschichte. Im Zentrum der Erzählung steht vielmehr die Lebensgeschichte des Apotheker- und (vermutlichen) Fürstensohnes Nikolas Marggraf, der durch alchemistische Künste zu Reichtum und fürstlichen Weihen gelangt. Jene Leser, welche von ihrer Jean-Paul-Lektüre eine Fülle von Wunderlichkeiten, teilweise ins Nichts verlaufende Handlungsstränge sowie den plötzlichen Abbruch der Erzählung erhoffen, finden ihre Erwartung reichlich erfüllt. Zahlreiche stilistische Preziosen sind dem Vorbild Laurence Sternes entlehnt. So besteht ein Kapitel aus nur einem einzigen Satz. Das bündige Erzählen über lange Strecken hinweg ist Jean Pauls Sache nicht, wie zumeist bei der Lektüre dieses Autors liegt der Lese- und Erkenntnisgenuss im Detail. Die narrative Kunst liegt in der genauen Beschreibung kurioser Gestalten und Situationen, Interieurs und Milieus, die hinreichend subversive Ein- und Ansichten bieten, um auch den satirisch veranlagten Leser zu fesseln. Im Mittelpunkt der Erzählung steht der wundersame Aufstieg von Nikolaus Marggraf, dessen Eltern – ein protestantischer Salbenmischer und eine katholische Sängerin aus dem deutschen Landstädtchen Rom (nicht zu verwechseln mit der Papststadt!) – ihrem Sohn Nikolas jene spezifische Gen-Mischung vererben, welche unerlässlich ist für die Entwicklung einer Schalks- und Wunderperson. Denn der überaus empfindsame, schauspielerisch begabte und mit zwölf Blatternnarben auf der Nase bedachte Nikolas vermochte beim intensiven Beten oder Schwitzen einen Heiligenschein über dem eigenen Haupte leuchten zu lassen.

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Der Anlass für die satirische Beschreibung einer heiligen Schalksfigur wie Nikolaus Marggraf war Jean Pauls Kritik am Überchristentum und einer überstiegenen romantischen Poesie, welche er vor allem an seinem Freund Kanne, aber auch an bekannten zeitgenössischen Autoren wie Fouqué und Hoffmann beklagte. Der „Komet“ ist insofern eine Parodie der literarischen Auswüchse seiner Zeit. So spielt die Mode des Magnetisierens durch den 6-fingrigen Hellseher, Hypnotiseur und Freimaurer Peter Worble eine entscheidende Rolle. Der Reisebegleiter von Fürst Nikolas verfügt nämlich über die Gabe, die geschmacklichen Vorlieben schlafender Personen zu ermitteln. Das Thema „Magnetisieren“ wird zudem ausführlich behandelt in der Vorrede zum zweiten Band über den „Traumgeber-Orden“, dessen Mitglieder die Träume fremder Leute beeinflussen können. Der fiktive Briefwechsel von Mai 1820 zwischen dem Legationsrat Jean Paul und dem Polizeidirektor Saalpater über die juristische Behandlung von fünf verdächtigen „magnetische[n] Studenten aus Berlin“ ist an spöttischer Zeitkritik gegenüber dem Polizeistaat nicht zu überbieten. Derartige Textpassagen zogen die Aufmerksamkeit der Zensur ebenso auf sich, wie die ständigen Sticheleien gegen die Absurditäten der deutschen Kleinstaaterei. „Ausschweife“ genannte Digressionen sowie Vor- und Zwischenkapitel sorgen für Abwechslung bei der Lektüre. Dazu gehört der „Anhang der ernsten Ausschweife für Leserinnen“, worin die Rechte des Glaubens und der Fantasie eingefordert werden. Stellenweise lesen sich diese Abschnitte wie Predigten einer gehobenen Ratgeberkolumne: Lobreden auf Jacobi und Herder wechseln mit bitteren Einsichten über die zuweilen befremdliche Sprache der Natur, wenn etwa über dem Schlachtfeld von Waterloo die Pracht eines Regenbogens erglänzt. Pietistische Jenseitsvisionen mit Jesuskind, wie in dem Abschnitt „Traum über das All“, erinnern an die symbolisch-surreale Schlussszene des Science-Fiction-Films „2001 Odyssee im Weltraum“ mit dem Säugling als Symbol für die neu geborene Menschheit. Das Buch ist getränkt mit autobiografischen Anspielungen. So wird in Zusammenhang mit der Entwendung einer Wachsbüste der schönen Fürstin (welche Nikolaus als Liebesfetisch in der Stutzuhr 274  Lebensdämmerung

verwahrt) Jean Pauls niemals gänzlich überwundene Gespensterfurcht thematisiert. Auch der latente bürgerliche Wunschtraum, adliger Herkunft zu sein (von dem auch der Dichter nicht ganz frei war), kommt in der dubiosen Herkunftsgeschichte des Apothekersohns Nikolaus zur Geltung. Bei dem trinkfesten Satiriker, Leipziger Hunger-Studenten, selbst ernannten Doktorgrad-Verleiher (an Freund Nikolas), späteren „unterste[n] Schullehrer“ und Reisemarschall Peter Worble handelt es sich – freilich mit Abstrichen – ebenfalls um eine Selbstspiegelung Jean Pauls. Die Hinweise auf dessen Autorschaft der „Grönländischen Prozesse“ im fünften Vorkapitel sowie Anspielungen auf den Leipziger Philosophen Platner im neunten Kapitel sind zu deutlich, um diesen Zusammenhang zu übersehen. Die antifeudale Haltung Worbles äußert sich in witzigen Reflexionen wie etwa in dessen zutiefst satirischer Bemerkung im fünften Vorkapitel, dass „ein Fürst in jedem Fall das Höchste sei, was er sich denken könne“ – wobei sich freilich dem spöttischen Ton auch klammheimliche Bewunderung für den sozial Privilegierten beimischt. Auch Nikolaus Marggrafs Faktotum und Leibpage Veit Stoß (der seinem Herrn bei der Herstellung eines künstlichen Diamanten hilft) gehört ebenso wie der Waisenhausprediger Süptitz und der Künstler Renovanz in die Reihe der satirischen Romangestalten, deren anspielungsreiche Dialoge mit dem Apotheker-Fürsten die satirischen Glanzpunkte der Erzählung bilden. Zu diesen überaus interessanten Reflexionen gehören auch die tiefgründigen Bemerkungen zur psychologischen Disposition des jüdischen Mitbürgers, Schächters und Kantors Hoseas im sechsten Kapitel, in dem Marggraf mithilfe des künstlich hergestellten Diamanten endlich seine Schulden gegenüber dem semitischen Geldverleiher begleichen kann. Jean Paul scheut nicht die Anwendung von schierer Slapstick-Komik, wie im zehnten Kapitel die Beschreibung von Marggrafs verzweifeltem Stehleiter-Kampf mit dem Nachtwächter oder die wunderliche Bataille, welche als „Schlacht bei Rom“ in die Annalen der Literaturgeschichte Eingang fand. Heitere Anspielungen bewahren den Roman vor dem Abgleiten in bloßen Zynismus. An vielen Stellen finden sich Bezüge auf Jean Pauls frühere Erzählungen, ja im Grunde verdeutlicht Lebensdämmerung  275

der „Komet“ wie kaum ein anderes seiner Werke zuvor, dass es sich bei Jean Pauls gesamtem Werk in Wahrheit um einen einzigen kontinuierlichen Erzählstrang handelt. Im 13. Kapitel gesellt sich (wie bereits in etlichen Erzählungen zuvor) der Kandidat Richter höchstpersönlich mit langem Flatterhaar als selbst ernannter Wetterprophet und Verfasser der „Teufelspapiere“ zu dem höfischen Tross, der seine Reise just am Tage von Jean Pauls Geburtstag beginnt. Dem Kandidaten der Theologie ist denn auch (um der Ironie die Spitze zu geben) im Gegensatz zum Prediger und Hofmaler die persönliche Teilnahme an der Fürstentafel erlaubt. Und ausgerechnet einer von Jean Pauls Lieblingsorten, Liebenau nahe Mei­ ningen, wird zu Marggrafs Residenzstadt Nikolopolis gekürt. Das 15. Kapitel bietet ein Kabinettstück der Selbstironie, indem der Autor nicht nur sein mittelwüchsiges Pass-Signalement preisgibt, nämlich „5 Fuß und 10 Zoll lang … 59 Jahre alt [zu sein, sondern auch freimütig einräumt], Swift und Sterne nachgeahmt und bestohlen“ zu haben. Köstlich zu lesen im 18. Kapitel die mit profunden kunsthistorischen Reflexionen angereicherte Persiflage zur konkurrierenden Anfertigung des Fürstenporträts durch 16 Malmeister in Lukas-Stadt. Das Schauerliche ist eine feste Zutat in Jean Pauls Erzählungen, zumeist erscheinend in Gestalt unheimlicher Personen mit seherischen Gaben. So Vult in „Siebenkäs“, der rot geschminkte Teufelsadjunkt Peifenberger in der Erzählung „Die Wunderbare Gesellschaft“ und der totenkopfähnliche Kahle in der 22. Jobelperiode des „Titan“. Im „Komet“ hört diese Unperson auf den bezeichnenden Namen Kain, ein mit Affenleder bekleideter „Fürst der Welt“, der die Männer hasst (mit Ausnahme des Kandidaten Richter!) und – aus moralischen Gründen – die Frauen liebt. Bei Kain handelt es sich, wie aus einem Brief Jean Pauls vom 25. August 1820 an Heinrich Voß hervorgeht, um den ewigen Juden, um den verdammten Bruder Rastlos mit gekrümmten Haarhörnern und einem vor Zorn rot anschwellenden Schlangenzeichen auf der Stirn. Der Teufel wird lebendig in dieser Gestalt, deren Boshaftigkeit durchaus sympathische Züge trägt, wenn er sich etwa für die misshandelten Frauen einsetzt. Der Sohn des AntiChristus, diabolische Rächer und Todesengel vertieft die Erzählung 276  Lebensdämmerung

durch die Memento-mori-Symbolik. Kains geistiger Leitstern ist der französische materialistische Naturforscher Buffon, dessen Deutung der Gattung Homo sapiens als „ausgearteter, unvollendeter Affe“ die Menschenschelte wissenschaftlich fundiert. So beabsichtigt der Ledermann, den selbst ernannten Regenten Nikolas durch dessen Vergiftung von der Erde zu tilgen. Der vormalige Apotheker postiert in seiner Furcht vor dem Kainsmann Wachen vor sein Logis, welche freilich den heimlichen Zutritt des Leibhaftigen nicht verhindern können. Allein der Magnetiseur Worble vermag des Ledermanns Furien zu vertreiben, der plötzlich (psychologisch freilich völlig unmotiviert) mit sanfter Stimme einlenkt: „Und ich liebe nun die ganze Welt; als wär’ ich ein Kind.“ Der Roman endet als Fragment. Zur Klärung der weiteren Handlung nützen auch die dem Roman angefügten „Zwanzig Enklaven zu den vorstehenden zwanzig Kapiteln“ wenig – eine AbschweifungsOrgie, für deren erheblichen Umfang sich der Autor in einem knappen Vorwort entschuldigt. Zur Kenntnis gebracht werden dem geneigten Leser zudem Reisenotizen des „Hof- und Zuchthauspredigers Frohauf Süptitz“, eine Leichenrede des Kandidaten Richter sowie die detaillierte Ankündigung der Herausgabe von Jean Pauls sämtlichen Werken in 59 Bänden, wobei jedes Buch für ein Lebensjahr des Autors steht. Heinrich Voß übernahm das Lektorat des ersten Manuskriptbandes, Otto sah die Vorrede durch. Am 23. März 1820 erhielt Verleger Reimer das Angebot für die Veröffentlichung des „Komet“, der schließlich in einer Auflage von 2000 Exemplaren erschien. Aus dem Briefwechsel jener Zeit geht hervor, dass nur Voß’ ständiges Lob der Antrieb für Jean Pauls müde Feder war, ja die Behauptung ist nicht übertrieben, dass er den Roman in erster Linie für den Heidelberger Freund schrieb. Im November erschien der erste Band, welcher freilich ein eigenes Druckfehler-Register erforderlich machte. Wie in früheren Jahren, schwächte die kalte Jahreszeit Jean Pauls Fantasie, zudem setzte ihm die Gichterkrankung immer mehr zu. Möglicherweise hatte das Gefühl des Überdrusses bei der Niederschrift des „Komet“ aber nicht nur einen persönlichen Hintergrund, denn die Karlsbader Lebensdämmerung  277

Beschlüsse kollidierten mit der politischen Dimension des Romans. Obwohl die Vorzensur nur für Zeitungen und Schriften unter 20 Druckbogen galt, konnten auch Autoren umfangreicher Werke betroffen sein, sobald einzelne Textpassagen vorab erschienen. Auch das Bekenntnis des aus Wunsiedel stammenden Kotzebue-Attentäters Carl Ludwig Sand für die (in Jean Pauls Aufsatz verherrlichte) Tat Charlotte Cordays galt für die Zensur als Verdachtsmoment. Zudem enthielt die Vorrede zum zweiten „Komet“-Band brisante politische Äußerungen, welche selbst bei der Verlagsredaktion auf Bedenken stießen. Jean Paul sah der öffentlichen Aufnahme des Romans skeptisch entgegen, denn „das Publikum verfeinert seinen Geschmack am Komischen nicht in dem Grade, wie es ein Autor darin thut“, vermerkt er feinsinnig in einem Schreiben vom 6. Februar 1821. Im Frühjahr 1821 arbeitet er am dritten „Komet“-Band, allerdings unterbrochen durch die zeitraubende Überarbeitung der „Grönländischen Prozesse“ sowie die Zweitauflage der „Unsichtbaren Loge“. Ebenfalls vergriffen war die „Katzenberger“-Edition, eine neue Ausgabe erwünscht. Auf bewährte Weise lektorierte Emanuel die älteren Texte, während Heinrich Voß die Durchsicht der neuen Arbeiten übernahm. Eine zusätzliche Belastung entstand für den Dichter durch die Zusendung fremder Manuskripte, die er beurteilen und einem Verleger empfehlen sollte. Schließlich versiegte jedoch die für die Fertigstellung des Romans nötige Kraft und Lust, raubten ihm Krankheiten zunehmend den Seelenfrieden. Ein beredtes Zeugnis seiner Leiden geben Jean Pauls Briefe an die zur Regelung des väterlichen Nachlasses in Berlin weilende Gattin, teilweise lesen sich die Schreiben wie väterliche Ermahnungen an ein Kind. Die detaillierten Anweisungen dürfte die Gattin stillschweigend als besserwisserische Anmaßung empfunden haben, welche sie freilich vonseiten ihres Mannes hinlänglich gewöhnt war. Ein weiteres Thema der Briefe ist die Behandlung seiner Krankheiten. So wird im Schreiben vom 2. Januar 1821 die erfolgreiche Bekämpfung der „Fußgicht, Blutbeule und Diarrhöe“ erwähnt, zwei Wochen später nutzt er Carolines Pelzstrümpfe als Fußhülle zur Linderung des Podagra-Schmerzes. 278  Lebensdämmerung

Umsorgt wird er von den Töchtern, Emma hantiert in der Küche, Odilie übernimmt die Übersicht über den Gesamthaushalt, eine neue Magd ist avisiert. Ende Januar belästigten ihn erneut die leidigen Blutbeulen an Wade, Kniescheibe, Schenkel und Ellenbogen, „die nicht sehr schmerzen, aber sehr beschweren“, wie es im Brief vom 21. Januar heißt. Ein Trost bei allem Ungemach war die verstärkte Freundschaft zu Emanuel, der freilich zu beschäftigt war, um hinreichend Zeit für den persönlichen Austausch aufbringen zu können. Zu Otto hingegen – der Anfang 1821 nach München berufen worden war, um an der Erneuerung des bayerischen Handels mitzuwirken – hatte sich die Freundschaft merklich abgekühlt. Als ob das neue Jahr für Jean Paul nicht schon genug Unpässlichkeiten gebracht hätte, stellte sich im Frühjahr zusätzlich der „Lungenschlagfluß“ (Apoplexia pulmonum) ein, die Ergießung von Blut in das Lungengewebe. Es bestand akute Gefahr der Organlähmung, der Dichter wähnte sich dem Tode nahe, wie aus einem Schreiben vom 4. Mai an Heinrich Voß hervorgeht. Kein Zweifel, Jean Paul war ernstlich krank, seine Cotta am 26. Mai angekündigten Pläne zur Fortsetzung des „Komet“ und „Siebenkäs“, die Fertigstellung der Lebensbeschreibung und die Niederschrift eines philosophischen Werks wurde durch den körperlichen Verfall zunehmend infrage gestellt. Sein Glück fand er im häuslichen Kreis. Wenn Emma ihm vorsang, Caroline die Hauswirtschaft führte und der geliebte Pfefferkuchen aus Berneck die Tafel bereicherte (dessen Verzehr freilich seinen Diabetes mellitus förderte), war die Welt in Ordnung. Ihn bedrückten freilich die Schulden gegenüber Emanuel, der sich indes als überaus großzügig erwies, aber der Zwang zum Schreiben aufgrund finanzieller Not ließ nicht nach. Nach Abschluss der „Traumgeberorden“-Satire trotzte Jean Paul dem körperlichen Ungemach durch eine Fahrt nach München, wo Sohn Max die Schule besuchte. In ausführlichen Briefen schildert er seiner Frau die Reiseerlebnisse, aber „gar nichts von Weibern“, denn das Misstrauen schwelte daheim weiter, wie aus einem Brief vom 28. Mai hervorgeht. Dieses Schreiben ist, wie etliche andere Reisebriefe, mit zahlreichen überflüssigen Ratschlägen gespickt, welche mehr den Lebensdämmerung  279

Querulanten als den sorgenden Familienvater verraten. Dazu gehört jene Mahnung, Odilie möge ja die Frösche in die Sonne stellen und die Blumenstöcke alle drei Tage begießen, auch dürften seine Bücher nicht etwa durch „unnützes Abstäuben“ aus der Ordnung gebracht werden. Direkte Vorwürfe an die Ehefrau folgen in weiteren Briefen, wenn er sich etwa am 3. Juni darüber pikiert zeigt, dass ihm Caroline lediglich ein einziges Schnupftuch mitgegeben habe, auch vermisst er die von der Hofetikette geforderten „Schuh- und Hosenschnallen“, wie in gereiztem Unterton vermerkt wird. Nach kurzen Aufenthalten in Regensburg und Landshut traf der Dichter in Begleitung seines Hundes am 30. Mai in der königlichbayerischen Haupt- und Residenzstadt ein, wo er im Rochusgäßchen bei einer älteren Dame „zwei Zimmerchen mit Abendsonne“ bezog. Außer seinem Sohn begegnete er alten Bekannten, wie dem Ehepaar Schlichtegroll sowie Christoph (dem Bruder von Christian) und Renate Otto, aber auch der romantische Philosoph Franz Xaver von Baader sowie weitere Gelehrte gehören zu seinem Umgang. Ein gesellschaftlicher Höhepunkt war die Audienz bei König Maximilian und Königin Caroline, einem Ehepaar, dessen zugleich anspruchsloses wie weltoffenes Auftreten bei Jean Paul einen guten Eindruck hinterließ. Auch der einige Jahre zuvor pensionierte bayerische Staatsminister Maximilian von Montgelas sowie der evangelische Kabinettsprediger, Ministerialrat und persönliche Seelsorger der Königin, Ludwig Friedrich Schmidt, standen auf dem Besuchsprogramm. Ein Malheur trübte die Stimmung, denn während der Kutschfahrt nach Nymphenburg stürzte der Einspänner um, wobei Jean Paul einen Rippenbruch erlitt. Als der Schmerz nach Monaten noch anhielt, ließ er sich von einer Hellseherin medizinische Blutegel auf der Brust ansetzen. Mehr ärgerte ihn jedoch der von ihm als „Pfaffenunsinn“ bezeichnete Pomp, den die bayerischen Katholiken zu Fronleichnam zelebrierten, wie er Heinrich Voß am 8. Juni schrieb. Aber weder die zahlreichen Begegnungen, noch Besuche der Gemäldegalerie, von Opernaufführungen und der optischen Fabrik Fraunhofer vermochten den trüben Grundton zu vertreiben, der seine Seele beschattete. Familie Schlichtegroll wollte ihn zum Umzug nach München bewe280  Lebensdämmerung

gen, aber er empfand das oberbayerische Wetter als zu schlecht, das „brustfeindliche Klima … und die Besuchsmenge zwingen mich, im leeren Baireut zu sterben“, wie er am 23. Juni an Caroline schrieb. Auch „ein Münchner Witziger ist mir noch nicht aufgestoßen“, weiß er zu berichten, und am 28. Juni beklagt er die „Kälte und Gemüthslosigkeit der Altbaiern“. Auch der eigentliche Anlass der Reise, die Begegnung mit Sohn Max, schien mehr Verdruss als Freude zu bereiten, denn die ständigen väterlichen Vorhaltungen stießen auf taube Ohren. Ein beredtes Zeugnis dafür ist der Brief vom 6. April 1820, der eine Litanei an Ermahnungen enthält. So bemängelt der Vater die Handschrift des Sohnes, gibt genaue Empfehlungen zum Bücherkauf und drückt seine Skepsis gegenüber dem von Max zutiefst bewunderten Philosophen Schelling aus. Auch erfolgten ständige finanzielle Mahnungen, so dass sich die Freude des Sohnes am Umgang mit dem Vater in Grenzen hielt. Über Pfaffenhofen, Ingolstadt, Eichstätt und Nürnberg erreichte Jean Paul schließlich Bayreuth. Ende August 1820, während er mit neu erwachtem Eifer am dritten Band des „Komet“ schrieb, kehrte Max ebenfalls nach Bayreuth zurück. Begleitet wurde er von Schelling, über den sich der Vater freilich enttäuscht zeigte, denn er „hatte ihn tiefer und reicher vermutet“, wie er Heinrich Voß in einem Brief vom 30. August schreibt. Max weilte noch für einige Wochen bei der Familie, bevor er sein Studium in Heidelberg aufnahm. In Begleitung von Emanuel ging die Fahrt nach Berneck, wo sich Jean Paul den geliebten Pfefferkuchen bestellte. In Heidelberg wollte sich Max zum klassischen Philologen ausbilden lassen, unter anderem besuchte er die Metrik- und Aristophanes-Vorlesungen von Heinrich Voß. In ausführlichen Briefen an den Sohn schildert der Vater seine akuten Leiden. Dazu gehört das „Lungenübel“, welches er auf Anraten der Hellseherin durch „Aderlaß“ und den Genuss von vier Tassen kräftig-derbem „Drescherblut von vielem Kruor“ (einem Serum aus geronnenem Blut) zu therapieren versuchte. Der Aderlass brachte tatsächlich eine gewisse Erleichterung und wurde mehrfach wiederholt. Das körperliche Ungemach vermochte jedoch seine geistige RegsamLebensdämmerung  281

keit nicht zu schwächen. So erwachte das Interesse an der Philosophie Hegels, dessen anderthalb Dekaden zuvor publiziertes Werk „Die Phänomenologie des Geistes“ er nun erstmals las. Nach der Lektüre hielt er Hegel für den „scharfsinnigsten“ seiner Gilde. Eindringlich bestärkt er Max’ „religiöses frommes und für Gott begeistertes Gemüth“ und warnt zugleich vor dem überhitzten Christentum vieler Zeitgenossen. Aus Kosten- und Zeitgründen rät er dem Sohn vom Studienwechsel von der Philologie zur Theologie ab und warnt dringlich vor dem Duellieren. Er empfiehlt hingegen den Besuch von Paulus-Vorlesungen sowie das Studium von Platon, Leibniz und Herder – Autoren, die „eigentlich in allen Wissenschaften auf einmal“ tätig waren. Mehrmals wird Max’ unleserliche Handschrift gerügt. Vor allem jedoch beklagt er die „schwärmerische Melancholie“ des Sohnes, welche er einerseits auf den Einfluss der romantischen Philosophie, andererseits auf das übermäßige Lernpensum zurückführt. Dem überspannten Studenten fehlt „die Freiheit des eigenen Entwickelns und Beschauens“, wie er in einem Brief vom 20. Mai 1821 beklagt. Längere Textpassagen der Briefe Jean Pauls schildern seine angeschlagene Gesundheit, welche ihn schließlich sogar die Weinsorte wechseln lässt: Von dem Frankfurter Händler lässt er sich kräftigen „Haut Sauternes“ schicken, den er – zur Linderung der Beschwerden – bereits am Vormittag regelmäßig trinkt. Dem Sohn geht es jedoch körperlich und geistig kaum besser. Bereits im Winter 1820 tauchen erste Anzeichen einer körperlichen Überanstrengung des Studenten auf, die den sonst auf Fleiß drängenden Vater schließlich ängstigen. Er rät zur körperlichen Schonung und übernimmt die Schulden des Sohnes. Gleichwohl deutete noch wenig auf das bestürzende Ereignis hin, welches Familie Richter nur wenige Monate später bevorstand. Im Frühjahr 1821 hatte Jean Pauls übliche Lebens- und Reiselust erheblich abgenommen, ein geplanter Besuch in Heidelberg wurde aufgrund der „kränklichen Körperstimmung“ abgesagt. Der Wein­ genuss belebte zwar die Fantasie, vermochte aber die körperlichen Beschwerden nur kurzzeitig zu betäuben, der 58-jährige wurde zu­ nehmend vergesslicher und einsamer. Plötzlich einsetzender „Nerven282  Lebensdämmerung

schwindel, Aussetzen des Pulses und Erhitzung des Kopfes“ zeigten die Grenzen der Alkohol-Therapie an, wie aus einem Brief an seinen Weinhändler vom 6. November hervorgeht. Schließlich bekämpfte er die Beschwerden durch eine streng geregelte „nächtliche Haus- und Betthaltung“; die Repetieruhr wurde zu seinem Lebensmeister. Das Jahr 1821 sollte zum schlimmsten seines Lebens werden, der apokalyptische Todesfürst aus dem „Komet“ könnte die Leitfigur jener Tragödie sein, welche „die größte Wunde meines Lebens“ hinterließ, wie er in einem Brief vom 19. Oktober an Otto schreibt. Am 18. September traf Sohn Max, an Schlaflosigkeit leidend und körperlich stark angegriffen, bei den Eltern ein, die Symptome indizierten eine Typhuserkrankung. Der eigentliche Hintergrund seiner Beschwerden, so meint die Fachwelt, dürfte jedoch eine beginnende Schizophrenie mit starken psychotischen Schüben gewesen sein. Auffallend ist die ausgeprägte Schlaflosigkeit des Sohnes, welche der Vater durch Magnetisieren zu therapieren versuchte. Sämtliche Maßnahmen erwiesen sich jedoch als vergeblich, mehr als eine Viertelstunde Ruhe vermochte der letale jugendliche Körper nicht zu finden. Am 25. September, abends nach 10 Uhr, starb der noch nicht 18-jährige Max an dem damals „Nervenfieber“ genannten Typhus infolge einer Bakterieninfektion. Mit dem Sohn wurde auch der Humorist Jean Paul zu Grabe getragen. Eine Folge dieses Schicksalsschlages war die Ausarbeitung der bereits seit etlichen Jahren konzipierten philosophischen Erzählung „Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele“. Die ersten Notizen zu der Schrift stammen von dem Besuch bei Dalberg im Herbst 1816, aus der damals begonnenen Aphorismen-Sammlung zum Thema Unsterblichkeit sollte schließlich das neue Werk hervorgehen. Am 20. Dezember 1821, also bereits zwei Monate nach dem Tod des Sohnes, informierte er Cotta über das neue Vorhaben, welches als philosophische Krönung seines Lebenswerkes gedacht war. Tatsächlich handelt es sich bei „Selina“ um den Schwanengesang der platonischen Metaphysik. Noch einmal erstehen vor der Einbildungskraft des Lesers idealische Personen und Bilder, erklingt der Hohe Ton vom „Kampaner Tal“ und „Titan“. Erneut begegnen wir dem zweifelnden Lebensdämmerung  283

Rittmeister Karlson, Baron Wilhelmi sowie den Schwestern Gione und Nadine. Das neue Tal liegt jedoch nicht in Südfrankreich, sondern in Deutschland, sein Name lautet nicht Kampan, sondern Wiana, wo man sich auf dem Rittergut Falkenberg zum galanten Gespräch begegnet. Im Mittelpunkt des dialogischen Ensembles auf höchstem intellektuellem Niveau steht Baron Wilhelmis Tochter Selina, welche ihre philosophische Kompetenz der ernsten Lektüre von Jean Pauls Werken verdankt, wie der aus Dresden persönlich anreisende Autor zu berichten weiß. Bei Selina handelt es sich indes keinesfalls um einen allein von der Fantasie getriebenen Charakter, sondern „ihre ganze Seele ist offen, ja durchsichtig wie ein Diamant“, wie im zweiten Kapitel betont wird. Selinas Charakter sei „eine ungewöhnliche Vereinigung von fortschwebender Phantasie und fortgrabender Philosophie“, welche die eigene Seele (freilich bei Ausblendung der stets lauernden Gefährdungen) als wahren Reichtum entdeckt. Der Leser glaubt sich bei der Lektüre in die diskursive Idealwelt platonischer Dialoge versetzt, hehre Worte finden geneigte Zuhörer in einer vollkommenen Landschaft. Jean Paul erweist sich als Prediger der Unsterblichkeit, ankämpfend gegen Fantasielosigkeit und „die hergeerbte tausendjährige Enge der theologischen An- und Aussichten“, wie es in der zweiten Unterabteilung des ersten „Merkur“Kapitels heißt. Die Erzählung atmet nicht nur den Hohen Ton des „Kampaner Tal“ und „Titan“, sondern die Beziehungen zu den früheren Schriften sind vielfältig. So liegt das Rittergut Wilhelmis nur eine halbe Tagesreise vom Fürstentum Albanos entfernt. Auch zeugen die Protagonisten vom „Kampaner Tal“ würdige Nachkommen. So handelt es sich bei Wilhelmis Tochter Selina und Rittmeister Karlsons Sohn Alexander um ethisch überaus hochwertige Sprösslinge, welche den galanten Gesprächen neue Akzente zu verleihen vermögen. Nicht zu vergessen des Rittmeisters edle Frau Josepha, „eine wahre Palmengestalt durch Natur und durch Kunst“, wie es in der vierten Unterabteilung des „Merkur“-Kapitels bewundernd heißt. Und auch deren Tochter Nadine gehört zum Geistesadel von Schloss Falkenberg. 284  Lebensdämmerung

Ähnlich wie das „Titan“-Personal in die Wirren der Französischen Revolution verstrickt ist, fokussiert „Selina“ auf den hellenischen Befreiungskampf von der Herrschaft der Türken. Mit der Konstituierung der ersten griechischen Nationalversammlung im Dezember 1821 war in Europa eine Euphorie ausgebrochen, die alle Gemüter heftig bewegte. Bekanntlich speist sich die deutsche Kultur zu großen Teilen aus dem Philhellenismus, und auch das ethisch gediegene Personal von Falkenberg gehört zu den Befürwortern des Freiheitskampfes, als dessen Sachwalter man sich schmeicheln durfte, ein Mitkämpfer Platons zu sein. So ist Selinas Zimmer geschmückt von einer Griechenland-Karte, ihren Nähtisch ziert ein selbst gefertigtes Porträt des Geliebten Henrion, eines patriotischen Aktivisten an vorderster Front, der jedoch für seine Begeisterung einen herben Blutzoll entrichten muss. Das Sterben für die Freiheit wird mythisch verklärt, man ist begeistert vom „Kanonendonner der Griechen über ihre Tyrannen“, wie es im 2. Kapitel heißt. Schließlich greift Selina gar zum Mittel der Selbstmagnetisierung, um als „magnetische Seherin“ im Traum ihren tödlich verwundeten Geliebten aus der Ferne zu heilen. Während in Griechenland (der im Ergebnis freilich ernüchternde) Freiheitskrieg wütet, werden in Falkenberg letzte Sinnfragen erörtert. So stellt man im Kreuzgang eines Lustparks bei Schalmeienklang die These vom radikal Bösen im Menschen infrage. Auch wird die seinerzeit häufig besprochene Idee von der „Weltseele“ diskutiert. Man gelangt zu dem Ergebnis, dass in Wahrheit der Plural gelte, nämlich die Wirklichkeit von „Weltseelen“. Die dritte Unterabteilung der Erzählung enthält gar eine Philosophie des Schlafes und Traumes. Erschlossen wird das „Reich des Unbewussten“, wo die Fantasie, gleich der schlummernden Prinzessin Dornröschen, der Erweckung harrt. Die menschliche Vorstellungskraft gilt als ein Lebenselixier, welches den Verständigen nicht das Vergessen, sondern höhere Wirklichkeiten zu offenbaren vermag. Nicht Dichtkunst oder Malerei, sondern allein die Tonkunst vermag die gediegenen Schichten unserer Seele zu öffnen. Die in der „dritten Unterabteilung“ von „Selina“ vertretene These der strikten Trennung von Leib und Seele unterscheidet sich indes Lebensdämmerung  285

grundlegend von Herders Auffassungen, hinter dessen materialistischpantheistisch geprägtes Weltverständnis die Erzählung zurückfällt. Die Vorstellung von einer nur „geistigen Kraft“ hat Herder abgelehnt, so heißt es im fünften Kapitel seines Hauptwerks „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“: „Einen Geist, der ohne und außer aller Materie wirkt, kennen wir nicht“. Ähnliche Textpassagen, welche von der Einheit von Leib und Seele, der Materialität des Geistigen ausgehen, sind bei Herder vielfach belegbar. Seinem empirischen Sensualismus galt „eine von Sinnlichkeit befreite Seele“ als „Mißbildung“, wie aus einem Brief an Moses Mendelssohn von Anfang April 1769 hervorgeht. Jean Pauls scharfe Trennung von Leib und Seele, Geist und Materie ist freilich populärer als Herders Monismus, der ihn dem Verdacht der Ketzerei aussetzte. Wie viele seiner Geschichten endet auch diese abrupt und unvermittelt, aber diesmal lag der Grund für den vorzeitigen Abbruch weder im mangelnden Interesse an der Fertigstellung noch an der Arbeitsüberlastung. Vielmehr hinderte ihn die seit dem Spätsommer 1824 schwindende Sehkraft an der Fortsetzung. Ein Erlanger Arzt hatte Anfang September bei Jean Paul den Grauen Star diagnostiziert, von einem Münchner Mechaniker angefertigte „konkave Doppellorgnetten“ vermochten die drohende Erblindung nicht aufzuhalten. Besonders belastend war dieser Vorgang, weil seine Arbeitsweise nicht auf das Diktieren angelegt war. Der Verleger gewährte Aufschub für „Selina“, als Ersatz wurde eine Sammlung von Vorreden und Rezensionen vorbereitet, die zu Ostern des Folgejahres als „Kleine Bücherschau“ erschien. Anfang November war die Sehkraft jedoch so gemindert, dass Jean Paul zum ersten Mal gezwungen war, einen Brief zu diktieren. Schließlich erlahmte seine Kraft immer mehr. Die „Selina“, begonnen um den seelischen Druck nach dem Tod des Sohnes zu kompensieren, blieb unvollendet. Während der renommierte Breslauer Verleger Josef Max sich um die Veröffentlichung einer Zweitauflage von „Katzenberger“ bewarb und Cotta „Selina“ zum Druck vorbereitete, reiste Jean Paul, dessen Sehkraft wenigstens teilweise wiederhergestellt war, im Frühjahr 1822 nach Dresden. Über Hof, Plauen, Reichenbach, Zwickau, Chemnitz 286  Lebensdämmerung

und Freiberg ging die Fahrt nach der Residenzstadt des Königreichs Sachsen, wo er im engen Umgang mit seiner Schwägerin sowie deren Kindern sein negatives Urteil über Minna Spazier änderte. Er begegnete alten Bekannten wie Tieck und Böttiger und begleitete den Tonkünstler Carl Maria von Weber zum Dresdner Liederkranz, aber auch ein „Extra-Konzert“ zu seinen Ehren im Großen Garten vermochte seine trübe Stimmung nicht aufzuhellen. Mehr als früher scheute er die öffentliche Präsenz. Lustlos besuchte er Lesungen sowie Musikveranstaltungen und war über einen Rezensenten-Widersacher so verbittert, dass er dessen Empfang verweigerte. Zwar erfolgten kurze Ausflüge nach Tharandt und Pillnitz, aber eine auf der Brühlschen Terrasse geplante Abschiedsfeier musste ausfallen, weil der Dichter sein Erscheinen verweigerte. Es zog ihn nach Hause, wo er nach einem fünfwöchigen tristen Dresden-Aufenthalt Mitte Juni eintraf. Als hätte das Schicksal dem geprüften Manne nicht genug Last auferlegt, ereilte ihn im Oktober 1822 die Nachricht vom Tod seines Heidelberger Vertrauten und Lektors Heinrich Voß. Dieser zweite Schock nach Max’ plötzlichem Tod wurde durch eine große Feuersbrunst in Hof verstärkt, der im September 1823 viele Stätten seiner Jugend zum Opfer fielen. Trotz dieser schlimmen Erfahrungen führte ihn im Spätsommer eine letzte Reise nach Erlangen, wo er anlässlich einer Teegesellschaft abermals Schelling begegnete. Aber zunehmend machten sich bei dem 60-jährigen die körperlichen Gebrechen geltend, und die Nachricht von dem großen Brand in Hof, der ihn der wichtigsten Stätten seines Lebens beraubt hatte, nahm die Freude an weiteren Reisen. Daheim war er verhältnismäßig heiter und gelassen. Versorgt von seiner Frau, Odilie (die an einer Rückgratverkrümmung litt) und der heiteren, als Hausköchin tätigen Tochter Emma, fühlte er sich wohl. Seine Lust und Fähigkeit zum Schreiben nahm jedoch mit der schwindenden Sehkraft ab, gleichwohl musste die Familie weiterhin ernährt werden. Ein Schreibprofi findet sich jedoch in (fast) jede Lage, und so lieferte er weiterhin satirische Aufsätze für Cottas „Morgenblatt“. Es war einsam geworden um ihn, selbst Emanuel ging nach einer Verstimmung im Sommer 1822 für längere Zeit auf Distanz, und zwei Lebensdämmerung  287

Jahre später starb sein langjähriger Freund Kanne. Obwohl die sich verstärkende Kurzsichtigkeit sein linkes Auge fast erblinden ließ, vertiefte sich Jean Paul zunehmend in naturwissenschaftliche Studien, die Lektüre von Texten der Entomologie, Astronomie und Poetologie belebte wenigstens vorübergehend den Lebensmut. Häufig, wenn sich auch die Sehkraft des rechten Auges abschwächte, lasen ihm Caroline und die Kinder vor. Aber der körperliche Verfall war unübersehbar, kraftlos und abgemagert besuchte er im Sommer 1824 ein letztes Mal die Rollwenzelei. Ein Leipziger Arzt verbat ihm den Genuss von Wein und Weißbier, aber der Diabetes hatte bereits irreversible Schäden gesetzt. Auf seiner letzten Reise nach Nürnberg wurde ihm eine Staroperation vorgeschlagen. Aber seine letzte Reise sollte ihn nicht in die fränkische Reichstadt, sondern in jene Region führen, in die Schulmeisterlein Wutz vorangegangen war. Seit Herbst 1824 beschwerte ihn zusätzlich die Brustwassersucht, eine häufig bei schweren Herzleiden im Brustraum zwischen Lungenund Rippenfell entstehende Ansammlung wässriger Flüssigkeit. Vergeblich wehrte sich der geschwächte Körper gegen den Verfall, sein letztes Werk, die „Kleine Nachschule zur ästhetischen Vorschule“, rang er sich förmlich ab. Sein Geist blieb jedoch weitsichtig, so gehörte Arthur Schopenhauers 1819 publiziertes Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ zu seinen beliebtesten zeitgenössischen Schriften. In der Zweiten Jubilate-Vorlesung beschreibt er das Buch als ein „genialphilosophisches, kühnes, vielseitiges Werk voll Scharfsinn und Tiefsinn“, das er zwar loben, aber nicht unterschreiben kann, weil ihn dessen „trost- und bodenlosen Tiefe“ zutiefst verschreckt. Vermutlich empfand er den von ihm als Credo der Hoffnungslosigkeit (miss)verstandenen Text als Spiegelbild seiner eigenen Lebenssituation. Bis zuletzt nahm die Planung einer Gesamtausgabe seine Schaffenskraft in Anspruch. Der Verleger Josef Max kam nach Bayreuth, um über die Ausstattung und Finanzierung zu verhandeln, aber schließlich erhielt Reimer in Berlin den Zuschlag. In diesen Monaten wurde der Neffe Richard Otto Spazier Jean Pauls wichtigster Vertrauter, der eigens zur Vorbereitung der „Teufels Papiere“ aus Leipzig anreiste. Für 288  Lebensdämmerung

die Werkausgabe sollte der Dichter die stattliche Summe von 35000 Talern erhalten, geplant waren 60 Bände mit einer Auflage von 5000 Exemplaren. Aber Jean Pauls Lebenskräfte schwanden stetig, am 5. Oktober 1825 beschrieb er Caroline in einem Brief seine „außerordentliche Abmagerung des Oberleibs und eine seit vier Wochen überhand nehmende Geschwulst des Unterleibs und der Füße“. Unerbittlich forderte der sieche Körper Tribut, nach dem Lesen fiel ihm nun das Schreiben zunehmend schwerer. Die beiden letzten Texte waren Vorworte für die Gesamtausgabe zu den „Teufels Papieren“ und die „Unsichtbare Loge“. Lieder von Zelter und Schuberts „Erlkönig“ sowie Textpartien aus Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ vermochten seine Stimmung wenigstens vorübergehend aufzuhellen. Nach völliger Erblindung starb er am 14. November gegen 8 Uhr am Abend im Beisein von Caroline, Emanuel, Spazier und dem Leibarzt. Drei Tage später begrub man ihn an der Seite seines Sohnes, dem Sarg wurde ein Exemplar der „Vorschule“ vorangetragen, gefolgt von der „Levana“ sowie einem großen Trauerzug. Es scheint, als hat er sein trübes Ende im sechsten Kapitel der „Konjektural-Biografie“ vorweg beschrieben, als sich der alte Jean Paul „in der kältesten Stunde des Daseins, in der letzten“ wähnt. Er überblickt sein Leben mit dem letzten Trost, „dass ich vor meinem Schreibtisch nie etwas anderes suchte als das Gute und Schöne … und daß ich vielleicht oft geirret, aber selten gesündigt habe.“ In weiser Voraussicht verstand er das Alter als eine „asthenische“, eine überaus schwächende Krankheit, die mit der Geburt ihren Anfang nimmt.

Lebensdämmerung  289

Reflexionen über Jean Paul

In den drei Jahrzehnten vor dem Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich in Deutschland das literarische Publikum mehr als verdoppelt, die Anzahl von Bürgern mit habitualisierten Lesegewohnheiten umfasste einige hunderttausend Personen. Nicht mehr Bibel, Gesangbuch und Volkskalender standen im Fokus des Interesses, sondern Romane, Essays und wissenschaftliche Veröffentlichungen fanden einen öffentlichen Zuspruch, der sich bisher nur auf einen kleinen Gelehrtenkreis beschränkt hatte. Nach der Messe-Statistik war innerhalb von zwei Dekaden die Anzahl der jährlich erscheinenden deutschsprachigen Bücher auf zirka 4000 Titel angestiegen. Lesegesellschaften, Salons und private Zeitschriften-Abonnements befriedigten das Bedürfnis nach umfassender Information. Um dem Publikum im expandierenden Buchmarkt einen Überblick zu ermöglichen, entstand ein ausführliches Rezensionswesen. Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt mussten zunächst den Gassenlauf der Kritiker überstehen, bevor sie einen Käufer fanden. Jean Paul hat diese leidvolle Erfahrung häufig machen müssen. Sein Erfolgsroman „Hesperus“ erreichte eine Auflage von maximal 4000 Bänden. Mit wirklichen Bestsellern seiner Zeit (wie das mit 200 Auflagen und 100000 Exemplaren publizierte Unterrichtswerk für Landschulen „Der Kinderfreund“ von Eberhard von Rochow) konnte freilich kein Autor von Erzählungen und Dramen mithalten, selbst alle Werke Goethes und Schillers zusammengenommen haben diese Auflagenhöhe bis zur Mitte des 19. Jahrhundert nicht erreicht. Jean Paul, ohne sonstige Einkünfte, war also zum kommerziell erfolgreichen Schreiben genötigt, wollte er den sozialen Abstieg vermeiden. Nach seinem Tod sollte eine autorisierte Gesamtedition die wirtschaftliche Grundlage der Familie sichern. Von 1826 bis 1838 erschien beim Berliner Verleger Georg Reimer die 65-bändige Ausgabe „Jean Paul`s Sämmtliche Werke“, herausgegeben von Richard Otto Spazier. Zur Edition gehören auch die 1836/38 publizierten fünf 290  Reflexionen über Jean Paul

Nachlassbände. Eine „Allerhöchste Cabinetts-Ordre“ des preußischen Königs vom 29. April 1826 schützte die Erben vor unerlaubten Nachdrucken. Mehrere weitere Privilegien der Könige von Bayern und Sachsen, dem Großherzog von Baden, der „Königlich Württembergischen Stadt-Direction für die Residenzstadt Stuttgardt“ und dem Großherzog von Hessen-Darmstadt sicherten Familie Richter für die folgenden 25 Jahre das Recht zum ausschließlichen Verlag der Gesamtausgabe sowie zur Herausgabe des Nachlasses. Den Vertrag mit Reimer hat Jean Paul noch kurz vor seinem Tode abgeschlossen und einige Vorarbeiten geleistet. Nachdem Spazier sich mit Familie Richter überworfen hatte, übernahm dessen Schwiegersohn, der Maler und Kunsthistoriker Ernst Förster, die Leitung des Projektes. Wie Spazier hatte Förster bereits biografische Werke über Jean Paul veröffentlicht, nun bewies er sein editorisches Talent mit der Herausgabe des Briefwechsels und des Nachlasses. Förster, der wenige Jahre nach dem Tod des Dichters den Band „Wahrheit aus Jean Paul’s Leben“ sowie 1832 die Schrift „Politische Nachklänge von Jean Paul“ herausgegeben hatte, bewies auch in weiteren biografischen Publikationen sowie einer Werkauswahl ein subtiles Gespür für die prekäre soziale Herkunft Jean Pauls. Die Kindheit ist „eine himmlische Zeit, die wir nie vergessen, die wir ewig lieben und nach der wir uns noch auf dem Grabe zurücksehnen“, heißt es im letzten „Fixlein“-Kapitel. Ähnlich euphemistische Bemerkungen zur Kindheit konterkarieren die Erfahrungen irdischer Vergänglichkeit, welche der Dichter in seiner Jugend häufig machen musste. So hatten die Tode seines Vaters, von Bruder Heinrich sowie der Freunde Lorenz von Oerthel und Hermann früh seinen Sinn für die Vanitas geweckt, und mit dem Tod des verehrten preußischen Königs Friedrich II. starb auch die Hoffnung auf politische Reformen des letalen Reichskörpers. Jean Pauls Todesvision von 1790 fand ihre literarische Fortsetzung in den vielen Schreckensbildern seines Werkes. Die Freude an der Zuwendung zum einfachen Volk leuchtet allerorten in seinem Werk. Wie Herder, Wieland und viele weitere Gelehrte und Schriftsteller seiner Zeit entstammte er den dürftigen VerhältnisReflexionen über Jean Paul  291

sen eines aufgeklärten protestantischen Elternhauses. Neben dem Eindruck diesseitiger Nichtigkeit prägte ihn mithin die Erfahrung sozialer Unterdrückung, welche er bereits in der Jugend in unterschiedlichen Formen erlebte: Die Abhängigkeit seiner Eltern vom Grundherrn, die Verdingung seiner Mutter zu niederen Diensten, der Zwangsverkauf des Familienhauses und die Repression der Bauern auf dem Frongut Töpen verdeutlichten ihm die realen Machtverhältnisse. Dieser „Blick von unten“, diese Sympathie für die Unterschicht wirkte stilbildend auf seine Schriften. Zuweilen stilisiert er die Armut sogar zur Tugend, wenn sie etwa von Walt im „vierten Bändchen“ der „Flegeljahre“ als „Mutter der Hoffnung“ gepriesen wird. „Vielleicht wird der Druck einer niedrigen Abstammung nie schmerzlicher empfunden als in den geselligen Festen, zu welchen die dürftige Erscheinung nicht mit den Künsten der Freude ausrüstete, wie Tanz, Gesang, Reiten, Spiel, französisches Sprechen ist“, heißt es in dem Roman „Flegeljahre“, in dem soziale Standesunterschiede besonders ausführlich beschrieben werden. Ähnliche Erfahrungen des Neides, wie der scheele Blick auf das verhasste Stutzertum, machte er auch als Student in Leipzig. Manchmal singen nicht nur die Gebirgswälder, sondern auch deren Bewohner. Obwohl Jean Paul (außer den Polymetern) keine Lyrik schrieb, war er ein Sänger, in dessen Liedern das Sprudeln der Saale und das Rauschen der Baumwipfel des Fichtelgebirges ertönen. Er war kein Stadtmensch, Residenzstädte spielen zumeist eine bedenkliche Rolle in seinem Werk. Seine Erzählungen handeln vielmehr vorzugsweise in Mittelgebirgslandschaften, deren Täler und Höhen von den Protagonisten mit dem Ziel durchwandert werden, Sonnenuntergänge bei Nachtigallen-Klang zu genießen. Während die heimatliche Natur für ihn stets ein Schatz der Erinnerung blieb, bewahrte er indes an die Schwarzenbacher und Hofer Bevölkerung kein gutes Andenken, denn sie gehörte zum Personal einer „bewölkte(n) Jugendwelt“, wie es in einem Brief vom 1. März 1799 an Christian Otto heißt. Stets musste er um Anerkennung kämpfen: „Hart und kämpfend erober’ ich mir meinen Bissen – an einen Glücksfall ist nicht zu denken.“ Im fortgeschrittenen Alter wird er sich erinnern, in Hof „das Schlimmste gelitten und das Beste geschrieben“ zu haben. Das „Hö292  Reflexionen über Jean Paul

fer-Beisammenleben“, das gemeinsame Diskutieren und Tändeln mit den Herold-Töchtern, Renate Wirth und den männlichen Freunden erweckte eine Stimmung, deren Emotionalität den sensiblen Autor zum Verfassen des „Hesperus“ stimulierte. Die Stadt Hof war mithin die Keimstätte eines der erfolgreichsten deutschen Romane jener Zeit. Als Hauslehrer in seiner Heimat fand er zu dem für ihn typischen Schreibstil, der mit „Wutz“, „Fixlein“ und den „Belustigungen“ neue Maßstäbe in der deutschen Literatur setzte. Jean Pauls Herkunft und die Erfahrung sozialer Ausgrenzung war die Grundlage seiner Offenheit für Leute niederen Standes, denen er sich zugehörig fühlte. Der „Siebenkäs“-Ruf „Ach ihr Reichen!“ aus dem sechsten Kapitel des „Zweiten Bändchens“ wirft den Wohlhabenden Blindheit für die kleinen Kostbarkeiten des Alltags vor. Indes lugte stets „das kalte Gespenst der Armut“ nicht nur über die Schulter von Siebenkäs, sondern auch über diejenige Jean Pauls. Es gab für ihn nur eine Chance zur Überwindung der sozialen Niederung: Sein literarisches Sendungsbewusstsein, das ihm tatsächlich schließlich eine gesellschaftliche Achtung eintrug, welche gleichwohl durch etwaige literarische Misserfolge stets gefährdet blieb. Selbst als arrivierter Autor war er sich nie ganz sicher, ob er in den nächsten Jahren seine Familie würde ernähren können. Er kannte freilich auch glückliche Zeiten, besonders gern erinnerte er sich an den Aufenthalt in Berlin und die erste Fahrt nach Heidelberg, wo er jene Anerkennung erlebte, welche ihm in der Heimat versagt blieb. Jean Paul, ein (seit der Jahrhundertwende) dicklicher, mittelgroßer vormaliger Hauslehrer, hatte den Parnass der deutschen Literatur erklommen, anders als Goethe vermied er jedoch die öffentliche Selbstinszenierung. Sein integrativer Charakter vermochte zwischen unterschiedlichen literarischen und philosophischen Positionen zu vermitteln, wie er nicht nur bei seiner Moderation des Streits zwischen Herder und Jacobi anlässlich der Zweitauflage der Schrift „Gott“ bewies. In seiner öffentlichen Selbstdarstellung war Jean Paul kein literarischer Halbgott auf marmornem Sockel, sondern ein offenherziger, liebenswürdiger Charakter, den eine Umarmung von Herder oder eine idyllische Neckar-Fahrt zu Tränen rühren konnte. Reflexionen über Jean Paul  293

Freilich war das nur die lichte Seite seiner Persönlichkeit. Es gab auch „die harte Unart – die ich ganz von meinem Vater geerbt“, wie er (sich entschuldigend für manche Zumutungen gegenüber seiner Frau) am 31. August 1806 an Caroline schrieb. „Könnt’ ich die Wirkung meiner Explosionen berechnen, so unterblieben sie“, heißt es in einem weiteren Brief an Caroline von Dezember 1808. Die Eheschließung und der sich einstellende Nachwuchs hatte den wirtschaftlichen Druck erhöht. Die Furcht, seine Familie nicht ernähren zu können, hing wie ein Damoklesschwert an einem Himmel, der sich durch das europäische Kriegsgeschehen zusehends verdüsterte. Eines seiner Lebensziele bestand darin, zu vermeiden, wie sein Bruder Adam im sozialen Abseits zu enden. Aber der Buchabsatz stagnierte während der napoleonischen Kriege und die Zensur wurde noch strenger. Auch befürchtete er das Leerbrennen seiner Fantasie. Vor allem unter dem Einfluss von Alkohol machte sich das väterliche Erbe des Jähzorns geltend, unter dessen üblen Auswirkungen auch seine Kinder und Freunde zu leiden hatten. Vor allem in der frühen Bayreuther Phase gab es häufige Kontrollverluste, die er zutiefst bereute. Das väterliche Erbe hinterließ indes keineswegs nur schlechte Spuren, die Belesenheit des Patriarchen, seine pastorale Rhetorik und profunde Musikalität gingen auf den Sohn über, zu dessen schönsten Momenten das freie Fantasieren auf dem Piano gehörte. Sein Charakter barg (ähnlich wie derjenige von „Hesperus“-Held Viktor) „überhaupt recht viel von einer Frau“, wie es im „11. Hundposttag“ heißt. Die Selbsteinschätzung eines „viel zu weiche(n) Jean Paul“ findet sich ebenfalls im letzten Kapitel des „Fixlein“ sowie in zahlreichen weiteren Texten. Tatsächlich verband sein Wesen eine Mischung von (männlicher) Besserwisserei und dem Drang nach familiärer Vormacht mit einer pathetischen Weinerlichkeit und einem ausgeprägten Einfühlungsvermögen in die Lebenssituation anderer Menschen. Diese teils genetisch bedingten, teils sozialisierten Verhaltensweisen erschauerten indes vor dem Abgrund des Ich, „der im Spiegel des Gedankens tief ins Dunkle zurückläuft“, wie es im „28. Hundposttag“ heißt. Denn Jean Paul wusste, dass das Ich mehr ist als die Summe der gespielten Lebensrollen. Jene kalten Schauer der 294  Reflexionen über Jean Paul

Verzweiflung waren ihm bekannt, welche das Gesicht mit Asche bestäuben lassen, um sich nicht vor dem eigenen Spiegelbild zu fürchten. Beharrlichkeit war ein Grundzug seines Wesens. So setzte er gegen alle Widrigkeiten die Schriftstellerei fort, obwohl die Erstschrift ungedruckt blieb und seine satirische Neigung kein Gefallen bei der Mutter fand. So weit ging seine Liebe zu Sophie Rosine Richter denn doch nicht, um sich gänzlich zu verbiegen. In weiser Selbsteinschätzung heißt es im „16. Hundposttag“: „Aber in Menschen seiner Art haben Kummer, Satire und Philosophie nebeneinander Platz“, und einige Seiten später verlautet über Viktor, dass „ihn die Phantasie mehr in der Gewalt hatte als die Sinne“. Diese Aussage könnte ein Motto von Jean Pauls Leben sein: Die eigene Vorstellungskraft schuf ihm jene Welten, in denen die Wirklichkeit unter dem Schein der Imagination ihre klare Kontur verliert, aber nicht gänzlich verblasst. Die Eigentümlichkeiten seines Charakters sind wesentlich leichter zu beschreiben als die vielfältigen Facetten seines Werkes. Der Haupteindruck seiner Person war Liebenswürdigkeit sowie Unbeholfenheit in Alltagsfragen, die ihn schnell Helfer finden ließ. Er wirkte integrativ, versuchte Streit zu schlichten, über einen längeren Zeitraum konnte man ihm nicht böse sein. Und er hatte eine ausgeprägt karitative Neigung: So beteiligte er sich nach einer Feuersbrunst in der Bayreuther Vorstadt im November 1804 aktiv an einer Sammlung für die Geschädigten und verfasste einen Spendenaufruf. Einen Monat später ließ er sich zum Vorsteher der Bayreuther „Speise- und Arbeitsanstalt“ ernennen. Es mag sein, dass er diese Ehrenämter übernahm, um als Neubürger seine gesellschaftliche Reputation zu steigern, aber eine Empathie für die Armen, war ihm zeitlebens eigen. Sein wirkliches Glück fand er jedoch (wie Siebenkäs), weitab vom Weltgetümmel abseits „im Gedächtnis oder in der Phantasie“. Soziales Engagement, Austausch mit anderen und häusliches Familienleben befriedigten ihn, glücklich machten sie nicht. Wir wollen nicht verhehlen, dass Jean Paul für einige Zeitgenossen durchaus abstoßende Züge hatte. Als Beispiel sei Therese Huber genannt, die (nach seinem Besuch in Stuttgart) in einem Brief vom Reflexionen über Jean Paul  295

3. Juli 1819 bemerkte, dass die Äußerungen des Dichters aus Bayreuth sämtlich konstruiert wirken, zudem mangele es ihm an Lebenserfahrung, auch sei er ein Schwätzer, unfähig zuzuhören. Auch wurde seine schäbige Alltagskleidung kritisiert, und die Sauberkeit des Haushalts ließ (wie etwa anlässlich Odilies Taufe bemängelt wurde) zu wünschen übrig. Die Kritik mag im Einzelnen durchaus berechtigt sein, geprägt vom Wildheits-Kult des Sturm und Drang legte Jean Paul wenig Wert auf sein Äußeres. In späteren Jahren trug er allerdings (in Ermangelung von Kopfhaaren) keine Flatterfrisur mehr, zeigte er sich zumeist im verschossenen Frack, während er nicht selten bei Reisen die feinen Hosen ungenutzt im Gepäck mit sich führte. Unter einer weiteren Schwäche Jean Pauls hatte jedoch vor allem seine Familie zu leiden: Die Nachlässigkeit gegenüber dem eigenen Habit stand im umgekehrten Verhältnis zur pedantischen Aufmerksamkeit, welche er seiner Privatbibliothek beimaß. Materialübersicht und Ordnungsliebe waren für ihn (wie für Firmian Siebenkäs) das höchste Gut beim Schreiben, mit dem Advokaten teilte er auch dessen neurotische Datumsfixiertheit. Gern hielt sich der Schönwetterfreund in der freien Natur auf. Ein kaltes Klima ließ nicht nur die Glieder erstarren, sondern auch die Vorstellungskraft. Zuerst wurde die Wohnung klamm, dann die Gedanken. Ausgedehnte Fußmärsche allein oder in Begleitung durch schöne Täler in warmer Jahreszeit sind denn auch häufige Motive seiner Erzählungen. Denken wir nur an die luzide Plastizität der Wanderung durch das frühlingshafte „Kampaner Tal“. Wie Albano liebte er einsame Spaziergänge über fette Weiden, auf denen sein Pegasus reichlich Futter fand. Ein Spitz- oder Pudelhund an seiner Seite beim Wandern vermochte freilich die Zufriedenheit noch zu steigern. Weniger zufrieden war indes die Familie mit ihm, als deren Oberhaupt er (wie vormals sein Vater) einen ausgeprägten Hang zur Besserwisserei entwickelte, den nicht einmal eine so geduldige Frau wie Caroline zu tolerieren bereit war. Er war kein einfacher Ehemann, oft nörgelnd, die Kinder mit drakonischen Maßnahmen erziehend, peni-

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bel auf Ordnung in seiner Schreibstube achtend, war es für die eigene Familie ein großes Glück, wenn sich der Vater auf Reisen befand. Jean Paul entwickelte pseudo-messianische Talente, die ihn (nach seiner Meinung) zu einem besonderen Können in der Wetterprophetie, Heilkunst und Pädagogik befähigten. Vor allem nach der Eheschließung beanspruchte er überdurchschnittliche Begabungen in der meteorologischen Vorhersage (vermittels Beobachtung von FroschKriecherei in der Konservendose) und im Heilen durch Magnetisieren. Seine in „Levana“ bekundeten Ratschläge zur diätetischen Lebensweise (nicht ohne Ironie angesichts seiner Fettleibigkeit) und Kindererziehung (sein Nachwuchs musste zur Abhärtung häufig ohne Bettdecke nächtigen) sowie die politischen Predigten ließen ihn schließlich zum Praeceptor Germaniae werden, dessen Gedanken die Nation bewegten. Seine wahren Leidenschaften jedoch waren das Lesen und Schreiben. So heißt es im „20. Hundposttag“: „Wahrlich, wenn Jean Paul nicht fleißig schreibt, so tuts keiner“. Ähnlich wie für Wieland war der Barometerstand auch für ihn ein wichtiger Ratgeber zur Einschätzung der literarischen Tagesform. Vorzugsweise nutzte er (wie „der satirische Rückenschwimmer“ Siebenkäs) „die Morgenkraft des Gehirns“, indem er sich zur Morgenstunde zum Lesen auf das Sofa legte. Freilich drohte stets ein Schmerz-Gespenst namens Migräne. Den Kopf zurückgelehnt und die Augen geschlossen, verbrachte er manche schlimme Stunden. Vor allem Leistungsdruck (unter dem er eigentlich immer stand) scheint die heftigen Attacken ausgelöst zu haben. Indes lockte ein probates Gegenmittel, nämlich der „Hohlspiegel des Weinnebels“, wie es im „Elften Zettelkasten“ von „Quintus Fixlein“ heißt. Zur Aufrechterhaltung seiner Kreativität erwies sich eine „almählige Zunahme der Reizmittel“ als unerlässlich. In einem Brief vom 15. März 1803 an Emanuel wehrt er sich gleichwohl gegen das Gerücht, trunksüchtig zu sein. Freilich räumt er ein, ab etwa 1793 – also ab dem dreißigsten Lebensjahr – das Bier als ein „Heilmittel“ für sich entdeckt zu haben, „um nicht in Kaffee zu ersaufen“. Der starke Weinkonsum begann jedoch erst acht Jahre später, mithin zeitlich parallel zur Heirat. Außer die Götter Bachus und Gambrinus schätzte er Reflexionen über Jean Paul  297

allerdings auch gehaltvolle Speisen. So konnte Caroline die üppigen Mahlzeiten nach seinem Geschmack gar nicht deftig genug würzen, und die legendären Bayreuther Wurstessen mit Otto ließen kein Fettauge erblinden. Jean Pauls Freundschaften hielten dauerhaft. In der Jugendzeit blieben der sensible Schöngeist Oerthel, der satirisch veranlagte Naturwissenschaftler Hermann und der aufgeklärte Geistliche Vogel mit ihm innig verbunden. Frühzeitig machte sich freilich seine Abneigung gegenüber dem Kaufmannsstand geltend, vor allem einigen Hofer Honoratiorenfamilien neidete der sozial Unterprivilegierte den Wohlstand. Seine besten Freunde im mittleren und späten Alter waren der Berliner Ahlefeldt, Christian Otto sowie der jüdische Freund und Immobilienhändler Emanuel, der den (vermeintlichen) Gegensatz von Intellektualität und kaufmännischen Interessen geschickt zu überbrücken verstand. Die satirische Darstellung des mosaischen Gläubigers Hosea im „Komet“ wurde von Emanuel denn auch mit Humor toleriert. Mit einigen, an entfernten Orten wohnenden Freunden – wie Ahlefeldt, Schlichtegroll und Jacobi – ersetzte die Korrespondenz den persönlichen Kontakt. „Ich bin begieriger nach Briefen als nach Büchern“, heißt es in einem Schreiben Jean Pauls vom 31. Dezember 1795. Das Zitat aus dem „Vierten Hirten und Zirkelbrief“ des „Jubelsenior“ –„Bücher sind nur dickere Briefe an Freunde; Briefe sind nur dünnere Bücher für die Welt“ – könnte ein Motto seines Lebens gewesen sein. Dabei brachte er die Briefe zumeist ziemlich schnell und ohne Konzept zu Papier, wie im Parlando strömten die Worte. Hinter dem Bedürfnis zu schreiben stand der Drang zum Bekenntnis, der vielen seiner Briefe den Charakter von Tagebucheinträgen verleiht. Tadel an seinem Werk bedeutete für ihn keineswegs die pauschale Ablehnung des Kritikers. So verstand er sich (bei aller inhaltlicher Kontroverse) gut mit Friedrich Schlegel, der bekanntlich seinen Texten übertriebene Sentimentalität und Moralisierung vorwarf. Der Aufnahme Jean Pauls in einen vereisten Moral-Olymp stand indes seine satirische Siebenkäs-Natur entgegen, welche ihn eher durch das wonnig-warme Saale-Tal wandern ließ als durch griechische Marmorsäle. 298  Reflexionen über Jean Paul

Ein hohes Maß an Empathie und Empfindlichkeit machte ihn hellhörig für Kritik, besonders für ungerechte. Um so mehr belasteten ihn notorische Nörgler wie Merkel und Müllner, die kein anderes Ziel hatten, als ihn pauschal zu desavouieren. Zu dieser üblen Gilde gehörte auch August von Kotzebue, der, gemeinsam mit Merkel, im Dezember 1804 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Der Freymüthige“ eine positive Rezension der „Vorschule“ zugunsten einer negativen, teilweise aus der Feder Merkels stammenden Besprechung unterdrückt hatte. Tatsächlich dokumentieren Jean Pauls Schriften und Briefe ein handfestes Rezensenten-Trauma: Ob im Anfangskapitel des vierten „Hesperus-Heftleins“ oder im Flegeljahre-Abschnitt „Nr. 61. Labrador-Blende“ – an vielen Textstellen findet sich ein Aufbegehren gegen böswillige Urteile. So klagt der „Fünfte Offizielle Bericht“ im „Jubelsenior“ über jene „Kunstrichter, die ihren Eiszapfen als einen Feuermesser an meine und andere Sonnen legen.“ Gegen den akuten Schmerz half nur die Hoffnung auf Unsterblichkeit als Autor. Neben den böswilligen Querulanten des Rezensionswesens gab es einen im wahren Wortsinn diabolischen Gegner, den zu bekämpfen dem Streit mit der hundertköpfigen Hydra gleichkam: den Druckfehlerteufel. Dass Quintus Fixlein an einem Druckfehlerverzeichnis in deutschen Schriften arbeitete, ist denn auch als schiere Ironie zu verstehen. Gegenüber Cotta heißt es am 20. Dezember 1806: „Wenden Sie ja alle Druckfehler ab, die mich immer so häufig treffen, weil die Setzer immer meinem Sinne den ihrigen leihen wollen.“ Tatsächlich war Jean Pauls delikater Wort- und Gedankensalat für manchen Setzer eine zu bunt gefüllte Schüssel, um das Mischgericht nicht zusätzlich zu verquirlen. Auch der gestandene Autor klagte im Jahre 1809, dass Druckfehler in seinen Werken „so häufig sind als Gleichnisse“. Klagen über das stupide, zeitraubende Ausmerzen des Setzerteufels füllen viele Seiten seiner Briefe. Ein weiterer Gegner, der ihm nicht minder zusetzte, war die Zensur, die (wie das Schicksal des „Freiheitsbüchleins“ verdeutlicht) nicht nur staatliche, sondern auch akademische Instanzen betraf. Häufig wurde bemerkt, dass seine Romane „politischer“ sind als seine übrigen Schriften. Der Grund hierfür mag in den Zensurgesetzen begründet Reflexionen über Jean Paul  299

gewesen sein, welche weniger umfangreiche Texte schärfer überwachte als lange Prosa-Erzählungen. Zweifellos wirkte die Rücksicht auf die Zensur federführend an seinen Schriften mit. So hatte sich seit der napoleonischen Herrschaft die staatliche Kulturaufsicht eher verschärft als gemildert, auch sollten sich katholische und orthodoxe protestantische Leser durch die Lektüre seiner Werke nicht allzu sehr düpiert fühlen. Das Leben bietet bekanntlich nicht nur Leiden und Gegner, sondern auch Freude und Zuneigung, vor allem das weibliche Geschlecht war für Jean Paul ein Zündstein seiner Fantasie. Dabei gehörte er jahrelang zu jenen Asketen, denen die Vorstellung einer Oase genügt, um durstfrei Wüsten zu durchqueren. Ob in den Jugendjahren Sophie Ellrodt, später Wilhelmine von Kropff, Amöne Herold und Renate Wirth – die Zuneigung zum weiblichen Geschlecht beschäftigte ihn intensiv. Die sentimentale Liebesfähigkeit von „Hesperus“-Held Viktor mag ins Reich der Fantasie gehören, aber zweifellos war die Zu­ neigung zum anderen Geschlecht (neben Alkohol und Koffein) ein zentrales Stimulans seiner Kreativität. Bis zur Heirat fühlte er sich besonders von schöngeistigen adeligen Frauen wie Josephine von Sydow und Juliane Krüdener angezogen. Damals passierten vor allem extravagante Damen mit Esprit das Defilee seines Herzens, das Jawort erhielt jedoch die bodenständige Caroline. Obwohl Jean Paul in der Vorrede zur zweiten Auflage der „Grönländischen Prozesse“ von 1822 seine lebenslange Verehrung für das weibliche Geschlecht betont, durchziehen frauenfeindliche Äußerungen sein Werk wie die Saale das Vogtland. Diese unterschwellige Ablehnung mag sich aus dem Unbehagen gegenüber dem Verhalten des männlichen Geschlechts speisen. So heißt es im „16. Jenner. Marzellusblatt“ des „Komischen Anhang zum Titan“ (wo die Frauen mitleidig als „weiße Neger“ apostrophiert werden): „Wir verehren das weibliche Geschlecht und tyrannisieren einzelne“. Auch Emanuel erfährt am 6. Januar 1820 per Brief das Resümee eines zwanzigjährigen Gattenlebens: „Ein rechter Mann braucht keine rechte Frau, aber eine rechte Frau einen rechten Mann.“

300  Reflexionen über Jean Paul

Die Vorrede zum „Satirischen Appendix“ der „Biografischen Belustigungen“ von 1796 gibt dem schlechten Gewissen Ausdruck, welches er gegenüber dem „so oft verletzte(n), zwischen Wunden und Narben lebende(n) Geschlecht“ empfand. Möglicherweise liegt hierin auch der Grund für seine späte Heirat, denn er zögerte, eine Frau in das „Burgverlies der Ehe“ zu führen, wie es in der „Geschichte meiner Vorrede“ von „Quintus Fixlein“ heißt. Instinktiv spürte er, dass für ihn ein genialer Schöngeist als Lebenspartner nicht in Frage kommt, vielmehr lief es auf eine Lenette hinaus. Mit der Heirat und dem Nachwuchs nahmen freilich die finanziellen Sorgen zu, mussten doch seine Schreibkünste in einer Zeit stagnierenden Buchhandels die Familie ernähren. Aufgrund des seelischen Druckes steigerten sich die Alkoholexzesse, ein Tiefpunkt war im August 1810 der Sturz in den Main. Seine frühen literarischen Vorbilder waren humoristische Autoren wie Hippel, Liscow und Sterne, deren literarische Techniken er studierte. Zudem fanden Bücher, welche bereits seine Zeitgenossen als Schund empfanden, bei ihm großen Beifall, wie Millers „Siegwart“. Jean Paul schätzte durchaus die Darstellung emotionaler Maßlosigkeiten. Dabei war ihm Lesen und Schreiben eine Lust ohnegleichen. So schreibt er am 17. September 1819 an Verleger Reimer: „Denn das Erste bei einem Buche ist, daß ich selber durch das Machen genieße“. Die Grundlage guten Schreibens, so wusste er, war der Fleiß: „Gerade durch Arbeit wird das poetische Paradies verdient“, schrieb er einem jungen Autor am 27. August 1820. Indes vermögen ernsthafte Autoren wie Jean Paul gewisse Selbstzweifel nie gänzlich zu überwinden. Um so wichtiger waren für ihn Berater und Helfer wie Otto, Emanuel und Heinrich Voß, deren Ratschläge stets berücksichtigt wurden. Jean Paul war ein literarischer Epikuräer, sein Stimulans war die Freude an der Imagination, deren Intensität er freilich durch den Genuss von Alkoholika und anderen Rauschmitteln verstärkte. Das Verfassen von Aufsätzen und Essays schätzte er weniger, denn der Zeitaufwand war zu erheblich. Dennoch schuf er Essays, Rezensionen und politische Satiren, welche für ihre Gattung Maßstäbe setzten. Er zog es jedoch vor, das Publikum durch scheinbar endlose, mit AbschweiReflexionen über Jean Paul  301

fungen gesegnete Geschichten voller Bizarrerien, hypertrophen Leidenschaften und ausufernden Gefühlswelten an sich zu binden. Ambitionierte Jung-Autoren wie Jean Paul begnügen sich häufig mit einem geringen Honorar, und so scheute er bis zu den WeimarAufenthalten gegenüber den Verlagen die Forderung höherer Tantiemen. Mit der Heirat fand diese Zurückhaltung allerdings ihr Ende, nun beanspruchte er eine angemessene Bezahlung. Es war ein Leben für das Schreiben, das ihm wichtiger war als das Lesen und Sprechen, wie Albano in der „Vierten Jobelperiode“ des „Titan“ bemerkt. Über den kreativen Prozess reflektierte Jean Paul denn auch so intensiv wie nur wenige andere Autoren. Viele seiner Briefe enthalten längere Textpassagen zu diesem Thema, wie etwa ein Schreiben an Christian Otto vom 26. März 1798, in welchem er die nötige Distanz des Dichters zum beschriebenen Gegenstand verlangt. Bei dieser Forderung nach Objektivierung handelt es sich freilich um das Gegenteil zu der von ihm praktizierten Autorschaft. So heißt es in der Vorrede zur zweiten „Hesperus“-Auflage: „Ein Entwurf ist ein Blatt oder ein Bogen, auf welchem ich mirs bequemer mache und mich gehen lasse, indem ich darauf meinen ganzen Kopf ausschüttele“. Umso nötiger waren für ihn die befreundeten Lektoren, welche seinem Pegasus die Zügel anlegten. Das immense Schreibpensum Jean Pauls braucht den quantitativen Vergleich mit keinem anderen deutschsprachigen Autor zu scheuen. Er war eine Schreibstuben-Existenz, deren Vorstellungskraft sich (optimiert durch Stimulanzien) von der eigenen Befindlichkeit zu lösen vermochte. Die Worte entströmten ihn sogar in der mütterlichen Wohnstube, umflattert von Tauben und dem Lärm ablenkender Alltagsverrichtungen. Das Schreiben war für ihn eine „Ouvertüre des frohen inneren Konzerts“ gegen die „Öde des Daseins“, wie er am 4. April 1797 an Friedrich von Oertel schrieb. Diese Öde versüßte er sich durch ständiges Laborieren an stilistischen Feinheiten. So ergänzte er sein erstes selbst erfundenes Kompositum „todtenleise“ später durch viele weitere Wortspiele, beispielsweise, wenn im „Vierten Bändchen“ der „Flegeljahre“ dem „Frühstück“ ein „Spätstück“ folgt oder in der „43. Summula“ von „Katzenbergers Badereise“ dem „Lieb302  Reflexionen über Jean Paul

haber“ ein „Haßhaber“ gegenübergestellt wird. Ein kühnes Deutsch bietet auch der „Titan“, wenn Albano in der „Ersten Jobelperiode“ in Spanien ein Land voller „umhergeworfener Glieder zerstückter Riesengebürge“ erträumt. Zuweilen versteigt sich die dichterische Emphase in gewagte meteorologische Metaphern, wenn im „Dritten Bändchen“, 12. Kapitel des „Siebenkäs“, „die tiefe Goldgrube einer Abendwolke tropft.“ Bisweilen wird auch ein deftiges Idiom angedeutet, wenn etwa im Abschnitt „Nr. 62 Saustein“ vom „A-Leder“ die Rede ist. Ein gewagtes Deutsch bietet auch der „Jubelsenior“, wo es im „Fünften offiziellen Bericht“ heißt: „Der Palmbaum bedornte seinen Palmwein mit Stacheln“. Gestandene Deutschlehrer würden auf diese Palme sicher gehen. Sprachpurismus im Sinne Campes lehnte Jean Paul ab, Worte gehörten für ihn in ein Labor. An den Eigenarten seiner Orthografie, Interpunktion und Idiomatik vermag der geschulte Philologe sogar die jeweilige Lebensphase des Autors zu identifizieren, wie etwa bei der konsequenten Tilgung des Fugen-S im Genitiv nach 1817. Im „Satirischen Appendix“ der „Biographischen Belustigungen“ rechtfertigt er denn auch seine konfus anmutende Schreibart gegenüber den irritierten Lesern, und in der „Dritten Jobelperiode“ des „Titan“ erhebt er den (freilich vergeblichen) Anspruch, dass er „Geschichte und Digression in diesem Werke strenge auseinanderhalte“. In erster Linie geht es Jean Paul um das Zwiegespräch mit dem Leser, selten war ein deutschsprachiger Autor so dialogisch strukturiert wie der Wortzauberer aus dem Frankenland. Jean-Paul-Lektüre verlangt Muße und Zeit. Man sollte bereit sein, zu geselligen Märschen durch schöne Täler inmitten einer betörenden Fauna. Die in Jean Pauls Werk enthaltenen unzähligen Wanderungen durch narkotisierend liebliche Maienlandschaften (wie bei Siebenkäs’ Fußmarsch nach Bayreuth) bezeugen einen hohen emotionalen Aufwand des Autors und des Protagonisten, dem sich der aufmerksame Leser gern überlässt. Wie kein anderer deutschsprachiger Autor zuvor thematisierte Jean Paul seine eigene Identität, indem er seine Person in die Erzählungen hineinschrieb und teilweise selbst in die Handlung eingreift. Häufige Selbstreferenz und ein anspielungsreicher Dialog Reflexionen über Jean Paul  303

mit dem Leser (bei dem die Kenntnis seiner vorherigen Werke vorausgesetzt wird) machen die Lektüre zu einer ständigen Interaktion zwischen Leser und Autor, der mitunter sogar (scherzhaft) seine Autorschaft leugnet, wie am Schluss des ersten „Hundposttages“. Jean Pauls Tinte waren reichlich Zähren beigemischt. So ließ die mitreißende Larmoyanz des „Hesperus“ beim Publikum wahre Tränenbäche rinnen, ja teilweise ist der Roman so rührselig, dass der Leser geneigt ist, den Gefühlshelden ein Taschentuch in die Buchseiten zu reichen. Der Autor aus dem Fichtelgebirge hat das zeitgenössische Modewort Sentimentalité auf eine neue Ebene gehoben, seine Emotionsattacken erwiesen sich als Publikumsmagnet. Man denke nur an den „Fest-Nachmittag der häuslichen Liebe“ im „7. Hundposttag“, wo sich die Protagonisten einfinden, „um die Gruppe des liebenden Edens zu ründen“. Als geeigneten Ort zur Lösung der wirren „Hesperus“-Familiengeschichte (Flamin ist Klotildes Bruder und des Fürsten Sohn) wählt Jean Paul die sagenhafte „Insel der Aufklärung“, welche an gediegener Anmut nichts zu wünschen übrig lässt. Wahrscheinlichkeit spielt für die Handlung denn auch eine gänzlich untergeordnete Rolle. Schuld an der mangelnden Stringenz der Erzählung sei – so klagt der Autor – allein der Hund „Spitzius Hofmann“, welcher ihn mit Fehlinformationen versorge. „Die Menge der Unwahrscheinlichkeiten in dieser Historie“, welche der Autor im „5. Hundposttag“ freimütig einräumt, betrifft indes nicht nur den „Hesperus“, sondern nahezu sein gesamtes erzählerisches Werk. Jean Paul lieferte dem Publikum, wonach es begehrte, so hofft er in der „Hesperus“-Vorrede von 1794, sein „kleines Nacht- und Abendstück vor nasse, aufgerichtete und feste Augen zu bringen“. Sein Geheimnis bestand darin, in den Erzählungen persönlich erlebte Verluste und Triumphe prismatisch zu brechen und wie von einer Lupe vergrößert wiederzugeben: An die Bildsprache Claude Lorraines erinnernde Naturgemälde ziehen am Leser vorbei, Sonnenauf- und Untergänge, liebreizende Landschaften und Parks beschreiben seelische Befindlichkeiten. Gelegentliche Slapstick-Einlagen (wie die gleichsam im Zeitlupentempo geschilderte Prügelei im „17. Hundposttag“) verzögern die Beantwortung der Frage aller Fragen, nämlich ob Klotilde und Viktor 304  Reflexionen über Jean Paul

schlussendlich zueinander finden. Grandiose Seelengemälde voller Gedichte und Träume werden geschildert, mit denen verglichen selbst Goethes Werther als kaltschnäuziger Typ erscheint. Man ist Zeuge von Feststunden des moralisch Guten, in denen Romanheld und Leser mit „Tugend überflammt“ werden. Das Ziel war die Erweckung einer „moralische(n) Kraft“, wie er am 22. Mai 1795 an Christian Otto schrieb. Die Aussicht auf umwälzende gesellschaftliche Veränderungen nach dem Vorbild Frankreichs hatte bei großen Teilen des Bürgertums neue politisch-moralische Gefühlswelten freigesetzt, die Jean Paul in Worte fasste. Man glaubte mit gleichsam religiöser Inbrunst an das Erscheinen eines neuen Äons voller Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen, an die Verwirklichung einer gerechten Gesellschaft und Abschaffung ständischer Privilegien. Doch bald schon wich der hoffnungsvolle Traum der Ernüchterung. Die Revolution war von Massentötungen begleitet, der Tanz um den Freiheitsbaum wurde abgelöst vom Marschschritt der Soldaten. Der „Hesperus“ enthält eine Sprache wie vor dem Sündenfall. Seinen Erfolg verdankt der Roman der Freisetzung von Gefühlswelten mit einem bisher nur von der Religion bekannten emotionalen Pathos. Das bürgerliche Publikum (freilich auch Teile des Adels, vor allem der weibliche) hatte eine Seelenweide entdeckt, welche den Zynismus der politischen Eliten diskreditierte. Mit dem edlen Gefühl, das Recht der Geschichte auf seiner Seite zu haben, verschuf man sich ein Gefühl moralischer Überlegenheit. Diese Emotionen wurden gesteigert durch raffinierte stilistische Finessen, wie die zeitliche Einholung des Erzählten durch den Erzähler, so dass Traum und Wirklichkeit schließlich miteinander verschmelzen. Die narrative Kontinuität wird aufgelöst durch die Schichtung unterschiedlicher Zeitebenen, Anspielungen auf eigene und fremde Werke sowie Wortschöpfungen, welche die Grenze des Sagbaren überschreiten. Jean Pauls Prosa zerlegt die Welt in Metaphern und konstruiert sie neu. Es ging ihm um eine Sprache der Sinnlichkeit. Seine frühen und mittleren Romane gleichen Seelenorgeln, die kein Register ungenutzt lassen. Das Bekenntnis zu Rationalität war ja nur die eine Seite der Aufklärung, in einer historischen UmbruchReflexionen über Jean Paul  305

phase spielen Gefühle eine ebenso zentrale Rolle für die Identifikation sozialer Gruppen wie Vernunft und Theorie. Gesteigerte Emotionalisierung war der authentische Ausdruck einer gesellschaftlichen Schicht, welche Zeuge eines neues Äon zu werden hoffte. Ein Merkmal vieler Texte Jean Pauls ist die Regression in die Phase der Kindheit, wie etwa in der surrealen Szenerie von Emanuels Traum im „38. Hundposttag“. Sogar gute Freunde empfanden diesen Stil zuweilen als übertrieben, so forderte Christian Otto mehr Nüchternheit und Besonnenheit der Darstellung, worauf der Gescholtene mit dem (schließlich ebenfalls kritisierten) „Referier-Ton“ am Schluss des dritten „Hesperus“-Teils antwortete. Bei den Geschichten Jean Pauls handelt es sich im Grunde um Modifikationen einer einzigen Meta-Erzählung, das Gespinst von Bezügen in seinem Werk erschließt sich nur dem Vielleser. Als Gegenleistung für das beharrliche Lesen erhält man vom Autor schöne Lügen, denn es gibt keinen Menschen „der sich so bequem bereden und belügen läßt als einer, der liest“, wie der Autor im 21. Kapitel des „Komet“ freimütig einräumt. Der Leser ist ein Wesen, das sich mit Freude beschwindeln lässt – diese Einsicht ist grundlegend für Jean Pauls Selbstverständnis als Belletrist. Die poetischen Wort-Gaukeleien aus der fränkischen Schreibstube faszinierten ein Publikum, das in Jean Pauls Texten seine seelischen Abgründe geschildert fand. Über viele Dekaden vermochte er den Ton der Zeit zu treffen, sein Sensorium für neue geistige Strömungen war so ausgeprägt, dass er schließlich zum nationalen Sprachrohr der so genannten Freiheitskriege wurde. Ein Hindernis bestand freilich darin, dass seine Romane nur schwer ein Ende finden und die Grenzen von Prosa und Lyrik ständig überschritten werden. Jean Pauls Gesamtwerk beschränkt sich indes nicht nur auf die Erzählungen, Essays und Romane, vielmehr bildet der Gesamtkorpus seines Schaffens ein Gewebe, das zu entflechten ganze Forschergenerationen berufen sind. Seine Neigung, aus Notizkonvoluten Großtexte zu montieren, setzt für die wissenschaftliche Erforschung eine genetische Werkanalyse voraus. Jean Paul war das schwierige Verhältnis der Deutschen zur Heiterkeit in der Literatur bekannt, um so erstaunlicher ist seine Entwick306  Reflexionen über Jean Paul

lung zu einem nationalen Humoristen par excellence. Sein KomikRepertoire reicht denn auch von Slapstick-Einlagen bis zu satirischen Texten mit Trauerrand: „Nie hab ich gesuchten Witz, sondern nur suchenden; die zwei Brennpunkte meiner närrischen Ellipse, Hesperus-Rührung und Schoppens Wildheit, sind meine ewig ziehenden Punkte“, schreibt er am 16. Januar 1807 an Knebel. Diese Aufzählung unterschlägt allerdings den die spießige Seite des Kleinbürgertums karikierenden „Wutz“-Humor der Idyllen. Zu den vielfältigen Facetten seiner Komik gehört freilich auch die Betitelung seiner Romane, Erzählungen und Essays mit überaus kuriosen Überschriften. Die Satire, von Friedrich Schiller in der Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung“ als „Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideale“ gedeutet, entstammt dem Geist der Trauer. So heißt es im „Dritten Bändchen“ des „Siebenkäs“: „Der Satiriker ist aus demselben Grunde trauriger als der Spaßmacher“. Deutlich ist die unterschwellige politische Dimension des Spottes: Die Fürsten tolerierten ihn nur ungern, und auch moderne Diktaturen sind daran erkennbar, dass sie die Satire fürchten. Jean Paul war jedoch kein Humorist aus politischer Berechnung, sondern aus Neigung. Die psychologische Macht der Heiterkeit, so wissen wir von Sigmund Freud, besteht in der Abwehr des Leidens durch den Triumph des narzisstisch besetzten Lustprinzips. Die bedrückende Erfahrung seiner Sozialisation in Armut und gesellschaftlicher Abhängigkeit begünstigte insofern bei Jean Paul die Reifung einer satirischen Grundhaltung. Über die Dialektik von Ernsthaftigkeit und Scherz äußert er sich in einem Brief vom 6. März 1806 an Jacobi: „Ohne Ernst kenn’ ich keinen Scherz, aber Ernst ohne Scherz ist denkbar und sogar ursprünglich.“ Jean Paul besaß das Talent, den Ton der Zeit zu treffen, seine politischen Schriften brachten den „Gärbottich“ zum Schäumen. Das deutsche Volk, in einem „Elementen-Gefechte poetischer, philosophischer und politischer Bildung begriffen“, fand seine Nöte und Hoffnungen in diesen Schriften formuliert. Die niederen und mittleren Stände (aber auch etliche Fürsten) konnten sich mit den Aufsätzen eines Autors identifizieren, der sich nur „im weitesten Sinne“ als politischer Schriftsteller verstand, wie er in der Vorrede zu „Mars und Reflexionen über Jean Paul  307

Phöbus“ betont. Fürst, Knecht und Biedermann fanden in seinen Texten die Seele des Volkes ausgedrückt, welche sich ebenso über die Last der napoleonischen Besetzung wie über die Fürstenwillkür empörte. In einem Brief vom 3. Dezember 1805 an Verleger Perthes bekannte sich Jean Paul zu dessen „patriotische(r) Gluth“, ohne dass seine Texte freilich für Anhänger Napoleons gänzlich ungenießbar gewesen wären. Friedrich Nietzsche notiert in „Jenseits von Gut und Böse“: „Jean Paul wusste, was er that, als er sich ergrimmt gegen Fichte’s verlogne, aber patriotische Schmeicheleien und Übertreibungen erklärte.“ Jean Pauls Ton war stets mild gestimmt, Pamphlete und kämpferische Aufrufe waren seine Sache nicht. Die Aufmerksamkeit galt den Mühseligen und Beladenen, den sorgenden Müttern und leidenden Soldaten. Freilich tummeln sich in seinem Kosmos auch titanische Gestalten gehobener Herkunft, wie Albano. Zum Ende des „Hesperus“ erweist sich sogar die Nobilität des Autors, und Nikolaus Marggraf erklärt sich selbst zum Fürsten. Kein Zweifel: Die antifeudale Haltung Jean Pauls war von einer unterschwelligen Sehnsucht nach Zugehörigkeit zum Adel unterlegt. Von diesem Honig saugten bekanntlich viele Künstler. Mit dem Einsatz für die so genannten Freiheitskriege verband Jean Paul die Hoffnung auf politische Reformen. „Der Krieg ist die stärkende Eisenkur der Menschheit“, heißt es in dem Abschnitt „Hoffnungen und Aussichten“ der „Friedens-Predigt für Deutschland“. Ähnlich äußert er sich in Briefen, wie etwa gegenüber Knebel am 16. Januar 1807. Obwohl der einschlägige § 36 der „Levana“ den „Krieg als älteste(n) Barbarismus der Menschheit“ und „Generalsturm auf die Moral“ bezeichnet, war Jean Paul beileibe kein Pazifist, den bewaffneten Widerstand als Mittel zum „heiligen“ Zweck hielt er durchaus für gerechtfertigt. So begrüßt er in Briefen von Februar 1813 an seinen Intimus Christian Otto ausdrücklich die Bildung von Freikorps, und „Selina“ ergreift Partei sowohl für die kämpfenden Griechen wie für die südamerikanischen Freiheitsbewegungen. Für Jean Pauls Stellung zum Krieg gilt ein „Hesperus“-Zitat aus dem „40. Hundposttag“: „Und wahrlich die Toten predigen fort – für die 308  Reflexionen über Jean Paul

Wahrheit sterben ist ein Tod nicht für das Vaterland, sondern für die Welt.“ Seine politisch liberale Haltung lässt sich am Beispiel der Coburger Regierungskrise beschreiben, als er sich vom Tagesgeschehen in seine Poetenfestung auf dem Adamiberg zurückzog, jedoch Partei ergriff für die Reformer um Kretschmann. Finanzielle Unterstützung erhielt er freilich sowohl vom pro-napoleonischen Dalberg wie vom König von Bayern, welcher dem restaurativen Bündnis der „Heiligen Allianz“ angehörte. Deshalb wäre es falsch, Jean Paul (an der Seite Dalbergs) als „Philosoph des Rheinbundes“ zu verstehen. Seine Hoffnung auf pekuniäre Zuwendung durch den preußischen König, die Nähe zum bayerischen Königshaus sowie die Unterstützung der Freikorpsbewegung sind deutliche Anzeichen, dass er auch mit Napoleons Gegnern sympathisierte. Sein Metier war die politische Satire, vorgetragen ohne Hasstiraden. Hierin mag auch die Kritik Garlieb Merkels begründet sein, der Jean Pauls politische Schriftstellerei als zu seicht ablehnte. Jean Paul war kein politischer Revolutionär, sondern ein Spätaufklärer mit Hoffnung auf die moralische Verbesserungsfähigkeit der Menschen. Man lese den IX. Abschnitt der „Dämmerungen“ mit dem vielsagenden Titel „Über die jetzige Sonnenwende der Religion“, um seine Hoffnung auf eine spirituelle Wiedergeburt Deutschlands aus dem Geist des Glaubens zu verstehen: „Die schönen Künste haben jetzt Anlass und Pflicht, der Religion, die ihnen sonst Pflanz- und Freistätten in Kirchen gegeben, durch Erwiderung zu danken.“ Bei solchen Textpassagen handelt es sich beileibe um keine servilen öffentlichen Lippenbekenntnisse, denn auch zahlreiche seiner vertraulichen Briefe enthalten die Klage über den Verlust des Glaubens sowie Aufrufe zu spiritueller Erweckung. Durch die Sozialisation in einem geistlichen Elternhaus war Religion gleichsam in Jean Pauls Genen angelegt. Der frühe Einfluss aufgeklärter Pfarrer, die alchemistischen Künste Doppelmaiers und seine begeisterte Lektüre der Werke des rationalistischen Bibelkritikers Semler sind Grundlagen für ein unorthodoxes christliches Weltbild: „Gottlehrer findest du nicht in der Orthodoxie, sondern in der Sternkunde, Naturwissenschaft, Dichtkunst, in Plato, Leibnitz, Antonin, Reflexionen über Jean Paul  309

Herder, eigentlich in allen Wissenschaften auf einmal“, heißt es in einem Brief vom 20. Februar 1821 an Sohn Max, dem er (zur Minderung schwärmerischer Tendenzen) die Lektüre moralphilosophischer Autoren wie Epiktet und Marc Aurel empfahl. Theologie ohne Ergänzung durch Philosophie und Naturwissenschaften galt für ihn als Irrweg. Gleichwohl waren ihm auch pietistische Jenseitsvisionen nicht fremd, wie etwa der „Traum über das All“ im „Komet“ belegt. Für Jean Paul galt Religion als eine rettende Korkweste, welche ihn davor bewahrte, im Meer der Sinnlosigkeit zu ertrinken. Wie viele glaubwürdige Christen experimentierte er mit dem Atheismus, ohne freilich jemals dem Glauben gänzlich abzuschwören. Seine Prosa, welche den bürgerlichen Alltag als unvollkommenen Abglanz des jenseitigen Heils inszeniert, war nicht nur boden- sondern auch himmelständig. Er befürchtete, dass auf Gott schließlich nur noch die ganz Dummen oder die ganz Klugen vertrauen. Jean Pauls ausgeprägte Religiosität schärfte seinen Blick für ritualisierte Zwangshandlungen, wie etwa des jungen Quintus Fixlein manische Wiederholung von Bibelsprüchen. Satirisch äußert er sich auch zum Verhältnis von Juden und Christen. So bezeichnet er am Schluss des sechsten „Siebenkäs“-Kapitels mit sanftem Spott die Hebräer als „Generalpächter und Metallkönige der Christen“. Auch das Verbot, welches den Juden das Melken am Sabbat untersagt, wird weidlich karikiert. Dieser sanften Ironie liegt indes nichts ferner als Antisemitismus, sein intensives Tora-Studium und enges Verhältnis zu Emanuel lassen daran keinen Zweifel zu. Dass Jean Paul indes die Fibel lieber als die Bibel las, geht aus dem „Appendix des Appendix“ im „Jubelsenior“ hervor, und in einem Brief vom 20. Dezember 1821 an Cotta bekennt er: „Nicht die Bibel, sondern der rechte Blick ins All tröstet und kräftigt.“ „Selina“, „das starke Buch über die Unsterblichkeit“, entstand sogar gänzlich „ohne Beihilfe der Bibel“, wie Heinrich Voß in einem Brief vom 22. Dezember 1821 erfährt. Jean Paul war ein Christ mit protestantischem Vorzeichen, der sich ebenso gegen die „neuen Überchristen“ vom Schlage eines Kanne wie gegen „die abscheulichste, die katholische“ Kirche wandte, wie er in einem Brief vom 7. Januar 1819 an Heinrich Voß betont. Gleichwohl 310  8. Kapitel

war er offen für den Austausch mit aufgeklärten Vertretern des Klerus, wie seine Unterhaltungen mit Primas Dalberg bezeugen. Religiöse Vorstellungen waren für Jean Paul zugleich Bedürfnis und Material, das Schreiben empfand er nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung des Glaubens. Es graute ihn vor scholastischen Worthülsen, vielmehr versuchte er im Stile Herders durch analogische Schlüsse eine Sinnlichkeit der Sprache zu erreichen, welche den Leser nicht nur unterhält, sondern ihn auch moralisch belehrt. Jean Pauls Geist war gleichsam mit heiligem Goldstaub bedeckt, den Gedanken Gottes wollte er einpflanzen ins menschliche Herz. Aber die Hoffnung ist ein vergehendes Fragezeichen. Er wusste: Sollte die Idee Gottes ein Irrtum sein, dann ein erhabener, der das Leben bereichert. Es ging ihm um die „Vermählung von Religion und Philosophie“, wie es in der Vorrede zur zweiten „Vorschule“-Ausgabe heißt. Das Projekt seines Denkens und Strebens war die Aufklärung, jenes goldene, im „Sechsten Hundposttag“ beschriebene Zeitalter, „wo das Volk am Denken und der Denker am Arbeiten teilnimmt.“ Seine wichtigsten philosophischen Vorbilder waren Herder sowie – trotz persönlicher Vorbehalte – Jacobi. Oft wird jedoch der Einfluss Hamanns übersehen, dessen Werke er immer wieder las. Sein frühes Weltbild wurde zudem durch die aufgeklärte Popularphilosophie und die Persönlichkeit Ernst Platners geprägt, dessen interdisziplinärer, zwischen Geistes- und Naturwissenschaften vermittelnder Ansatz ihn lebenslang inspirierte. Jean Paul verstand sich als Teil der Spätaufklärung in der Tradition Herders, welche den schieren Fortschrittsoptimismus durch ein dialektisches Verständnis der Wirklichkeit ersetzte. Gemeint ist jene in den 1760er Jahren beginnende Überwindung rationalistischer Denkinhalte durch den kritischen Sensualismus. Aus dieser Position, die ihn mit Herder und Wieland verband, lehnte er den Idealismus Fichtes und Schellings als spekulative Elaborate voller Denk- und Worthülsen ab. Die Frontstellung war jedoch nicht geradlinig, so schätzte er durchaus Hegels „Phänomenologie des Geistes“, auch sein Verhältnis zu Schelling war nicht eindeutig. In der „III. Kantate“-Vorlesung der „Vorschule“ suchte er denn auch nach einer organischen Synthese zwischen Reflexionen über Jean Paul  311

den Parteien des „alten Realismus“ und dem „neuen Idealismus“. Mit einem Wort: Jean Paul war ein realistischer Idealist, für den „die idealische Welt [als] die einzig wahre“ galt, denn „jeder Traum, jede Phantasie, jeder Wunsch existiert so gut in und über uns als der Regenbogen und das Morgenroth“, heißt es in einem Brief vom 31. Dezember 1795. Er bekannte sich zur liberalen Theologie des Heidelberger Professors Paulus, die sich entschieden gegen ein überhitztes Christentum erklärte, wie es etwa von Kanne praktiziert wurde. Im Mai 1817 entstand unter seiner Feder ein „gegen die orthodoxe und für die liberale Theologie“ gerichtetes Sammelheft mit dem Titel „Überchristentum / Wider-Kanne“, worin er sich gegen das religiöse Schwärmertum aussprach, welchem er nicht zuletzt die Schuld an der Schwächung seines Sohnes zuschrieb. Noch sechs Jahre später, in einem Brief vom 27. Mai 1823, beklagte er das „infusorische Chaos“ von Kannes „indisch-poetisch-mystisch-übergläubigem Christenthum“. In einer Zeit, in welcher eine Gefühlstheologie zunehmend Anhänger fand, bekannte sich Jean Paul zu seinem Vorbild Herder, dessen Predigt der Humanität ihn zutiefst begeisterte. Mehr als jeder andere Theologe erstrebte der Weimarer Geistliche jene immer wieder neu austarierte Balance zwischen Emotionalität und Rationalität, welche das Menschliche zum Mittelpunkt erklärt. Tatsächlich fallen die zahlreichen gedanklichen Übereinstimmungen zwischen Herder und Jean Paul (wie die Idee vom „Festtagsmenschen“) auf, und die „Dämmerungen“ erklären Herder gar zum religiösen Vorbild und Wiedergeburthelfer Deutschlands. Gleichwohl unterschieden sich beide wesentlich in einer Position: Jean Paul war kein Monist wie Herder, der die Vorstellung einer Trennung von Leib und Seele, von Materialität und Immaterialität ablehnte. Bereits in der „Unsichtbaren Loge“ galten für Jean Paul „Philosophie und Dichtkunst [als] die eigentlichen Früchte und Blüten am Baume der Erkenntnis“, und im Vorbericht zum „Kampaner Tal“ ist „die Dichtkunst der elektrische Kondensator der Philosophie“. Ähnlich wie für Klopstock, Schiller, Hölderlin und andere Zeitgenossen waren für Jean Paul die Grenzen zwischen Poesie und Weisheitslehre aufgehoben, verstand er sich – wie einst Pindar – als Sänger des Heili312  8. Kapitel

gen. Mit dieser Haltung reagierte er ablehnend gegenüber dem systemfixierten Jargon des Idealismus. Es waren indes nicht die Schriften Kants, denen er skeptisch begegnete, sondern jene von dessen Nachfolgern, denn „das elendeste theologische und ästhetische Gestein erhält jetzt eine kantische Fassung aus Wörtern“, wie er im „Fünften Schalttag“ des „Hesperus“ und in der „Ersten Nachdämmerung“ klagt. Vor allem „Clavis Fichtiana“ bekämpft den Hyperkritizismus als Krankheit seiner Zeit. Mit seiner vehementen Ablehnung des kantianisierenden Kauderwelschs reihte sich Jean Paul in die Phalanx der älteren Generation um Herder, Wieland und Gleim ein, die (freilich vergeblich) den Mode-Ton bekämpfte. Man befürchtete die Auflösung des Ich „in einem … schwimmenden Ideen-Schleim“, wie es im „Vierten Offiziellen Bericht“ des „Jubelsenior“ heißt. Der Luftschiffer Giannozzo, Aufklärer und Aufklärungskritiker in einer Person, weiß als erfahrener Aeronaut, dass zu viel Licht auch blenden kann: „Diese(n) erbarmungslosen Aufklärer(n), die wie eine frostige Hökerin vor ihrem Lichtlein gekrümmt sitzen“, begegnet der schwebende Fremdling mit seiner Luftphilosophie. Das Seitenstück zum zynischen Luftschiffer ist Dr. Katzenberger, jener hyperrationale Außenseiter, dessen zweifelhafte Tugenden ihn zur Leitung eines beliebigen Konzentrationslagers befähigen würden. Jean Paul wusste, dass Aufklärung ein fragiles Projekt ist, dessen Erfolg eher durch ein Zu viel an Wissen als durch ein Zu wenig gefährdet war. Im „Dritten Bändchen“ der „Flegeljahre“ glimmt denn auch „die Aufklärung als ein eingeklemmter angezündeter Strick“, als eine schwache Lunte, die zu verlöschen droht. Er formuliert das Unbehagen gegenüber einer schieren Rationalität, die des sittlichen Elements entbehrt. Es handelt sich mithin bei Jean Paul um Aufklärungskritik sui generis; nur wenige zeitgenössische Autoren reflektierten die Hoffnungen und Abgründe dieses Projektes mit ungewisser Aussicht auf Erfolg so intensiv wie der Autor aus Franken. Ein ausuferndes Wissen ohne Werte, so wusste er, würde den Menschen in Abgründe blicken lassen, die ihm zu seinem eigenen Vorteil besser verborgen geblieben wären. Was die Sprache nicht ausdrücken kann, vermag die Musik zu sagen: Am Horizont der Prosa Jean Pauls steht die Tonkunst. Ständige Reflexionen über Jean Paul  313

Reflexion und Ironie sowie das Betrachten der Natur als magische Instanz verlangen nach einer Ausdrucksform, welche die Möglichkeiten der verbalen Vermittlung überschreitet: die Musik. Der Wunsch, das Unsagbare in Tönen zu formulieren, begegnet häufig im Werk Jean Pauls, dessen Subjektivismus (im Sinne Schillers gilt er als sentimentalischer Dichter) die Grenzen der logischen Pünktlichkeit oft überschreitet. Das musikalische Personal in Jean Pauls Erzählungen ist denn auch Legion, denken wir nur an die Harfinistin und den Flötenspieler im letzten „Siebenkäs“-Kapitel sowie an Vult, der seiner Flöte den Hauch des Heiligen zu entlocken vermag. Man lese nur das Kapitel „Titan-Schörl“ im „Vierten Bändchen“ der „Flegeljahre“, um sich, gleichsam in Trance, dem Wiegeschritt des Ball en masque einzuordnen, welcher in die Musik, das „Land der Seelen“, (ent-)führt. „Das Idealische in der Poesie ist nichts anderes als diese vorgespielte Unendlichkeit“, heißt es in dem ästhetisch bedeutsamen Aufsatz „Über die natürliche Magie“, dessen Schlussteil eine Apotheose der Tonkunst enthält. Und im „Neunten Selbst-Anzeiger“ der „Palingenesien“ verlautet: „Unter der Tonkunst schwillt das Meer unseres Herzens auf wie unter dem Mond die Flut“. Unvergessliche musikalische Erinnerungen hatte Jean Paul (ebenso wie Firmian Siebenkäs) insbesondere an seine Jugendjahre, als „die Kindheit tausendmal durch Musik geweckt“ wurde. Er beherrschte die Technik der Selbstemotionalisierung durch Musik und Schreiben, dem einsamen Fantasieren auf dem Pianoforte und dem Lauschen auf die Harmonien in der Natur. Das kulturelle Hauptereignis, welches ihn bis in die Tiefenschichten seiner Denkens und Schreibens prägte, war der Sturm und Drang, dessen charakteristische Ausdrucksformen – übertriebene Empfindlichkeit und Rührseligkeit, Tugendpathos und Schauer-Elemente – konstitutive Bestandteile seiner erzählerischen Prosa wurden. Zeitlebens blieb er „Stürmer und Dränger“, verschrieb sich jener Mischung aus Subjektivismus, Emotionalität und sinnlicher Sprache, die zu seinem Erfolgsrezept wurde und welche er durch Elemente der Schwarzen Romantik und Satire ergänzte. Um die beliebte Gelehrtenfrage, ob Jean Paul ein Romantiker war, eindeutig zu beantworten: Gemäß dem in den Paragraphen 22 und 314  8. Kapitel

25 der „Vorschule“ weitgefassten Romantik-Begriff („Das Romantische ist das Schöne ohne Begrenzung oder das schöne Unendliche“) verstand sich Jean Paul selbst als ein Romantiker sui generis. Freilich zählte er im engen, parteilichen Sinne nicht zu den Romantikern, gehörte er doch einer anderen Generation an als Friedrich Schlegel, Novalis oder Ludwig Tieck, deren teilweise schwülstige Erotika ihn zutiefst abstießen. Gleichwohl gab es mit der jungen Generation viele geistige Schnittmengen. So wurde Jean Paul (wie einige seiner romantischen Dichterkollegen) durch die Thematisierung des Unbewussten in der „Vorschule“ und „Selina“ zu einem Vordenker der Psychoanalyse. Und auch das romantische Motiv des Unheimlichen findet sich in der Gestalt des „Kahlen“ im „Titan“, des „Ledermannes“ im „Komet“ sowie in vielen anderen Erzählungen. Anders als der in seinen späten Lebensjahren verbohrte Herder, suchte Jean Paul Kontakt auch zu literarischen und philosophischen Gegnern, wie Friedrich Schlegel und Schelling. In Berlin hatte er persönlich hinreichend viele Jung-Romantiker und idealistische Philosophen kennen gelernt, um einen Begriff von deren teilweise exaltierter Lebensweise zu bekommen. Besonders fühlte er sich von dem etwa gleichaltrigen Fichte angezogen – was ihn freilich nicht davon abhielt, dessen spekulativen Idealismus in „Clavis Fichtiana“ satirisch zu hinterfragen. Der Kritisierte nahm den humorvollen Tadel freilich nicht übel. Skeptisch äußerte sich Jean Paul über E. T. A. Hoffmann, dem er in einem Brief vom 4. Mai 1820 vorwarf, ein „Nachahmer meines Komischen“ zu sein. Tatsächlich gab er nicht viel auf die neue Dichtergeneration, wie aus dem Schlussteil der „Jubilate-Vorlesung“ hervorgeht, wo er scharf gegen jene Heißsporne (zu denen er freilich in jungen Jahren selbst gehörte) polemisierte, die gleichsam aus dem Nichts zu literarischer Größe gelangen wollten. Hingegen schätzte er Johann Peter Hebels gemütvoll-idyllisches „Schatzkästlein“ sowie (trotz persönlicher Distanz) die Werke Goethes, diesem „Abendstern des jetzo bewölkten oder ausgestorbenen Dichterhimmels“, wie er am 17. Mai 1814 an Knebel schrieb. Das Verfassen von „größere(n) Briefe(n) an das Publikum“, nämlich von Büchern, verstand er als persönliche Zuwendung an die LeReflexionen über Jean Paul  315

ser. Er war im besten Sinne ein Unterhaltungsschriftsteller, hinter dessen Ironien und Satiren der kluge Leser freilich hinreichend Zeitkritik zu entdecken vermochte. Der witzige Gedanke in Form eines Streckverses, eine durchaus symbolische Landschaftsschilderung oder das Auftauchen einer weiteren Bizarrfigur in seinem Personenkosmos waren gleichsam die Fantasie-Strahlen seiner inneren Erregung. Als Unterhaltungsautor, der eine Familie ernähren musste, konzipierte er seine Texte als Ware mit möglichst optimalen Marktchancen. Und der Erfolg gab ihm Recht. Romane, Erzählungen, Essays, politische und pädagogische Schriften sowie Rezensionen sind ein vielgestaltiger Teppich, auf dem der geneigte Leser ein Leben lang wandeln kann, ohne sich zu langweilen. Eine diskursive Logik im strengen Sinne kann man von einem Autor wie Jean Paul freilich nicht erwarten, stets verbleibt ein emotionaler Überhang, welcher seinen Texten jenen individuellen Charme verleiht, den seinerzeit viele Epigonen vergebens nachzuahmen suchten. Er war ein großer Romancier, der in Wahrheit keine Geschichten zu erzählen verstand, aber der die Triumphe und Verkrümmungen der eigenen Seele mit Worten illustrierte. Er schrieb sich frei aus einem Käfig. Seine Geschichten gleichen ewigen Lichtern, die ein magischer Schirm vor dem Verlöschen bewahrt. Bei den wegen ihres vielfachen literarischen Anspielungsreichtums eigentlich unübersetzbaren Erzählungen handelt es sich im Grunde um unendliche Geschichten ohne Anfang, ohne Ende, einen weisen Gesang an die Menschheit. Den Pfad zu seinen Texten schmückt eine Mischung aus Sentimentalität, Humor und plötzlich aufblitzenden Erkenntnissen, welche selbst den Scharfsinnigsten nicht enttäuschen. Seine Verflechtung von Autor, Werk und Leser war beispiellos in der deutschen Literatur, noch niemals zuvor hatte die hiesige literarische Welt eine derart ausgefeilte Selbstreferenz zur Kenntnis genommen. Mit Jean Paul hat sich ein Intellektueller selbst thematisiert, ohne sich freilich selbst zu stilisieren, jegliche Selbstinszenierung etwa im Stile Goethes war für ihn undenkbar. Auch in den Zeiten des Erfolgs bewahrte er seinen zurückhaltenden, gutmütigen Charakter, der nicht frei war von einer gewissen Unbeholfenheit ge316  8. Kapitel

genüber den Erfordernissen des Alltags – ein Manko, das seine Freunde tatkräftig auszugleichen halfen. Jean Pauls Schriften funkeln wie ein Schatz, zu dem freilich auch Diamanten mit dunklen Einschlüssen gehören. So erfahren wir im „13. Papierdrachen“-Kapitel des „Fibel“, dass ein Autor auch Ungeheures (ver)birgt. Mit diesem Wissen wandte sich Jean Paul gegen jede Form von übermäßiger Verehrung eines Literaten, „denn bei einer gar zu langen Unsterblichkeit verflüchtigt sich der Autor“, wie in der „Wunderbaren Neujahrsnacht“ verlautet. Gegenüber Friedrich Schlichtegroll, einem besonders nahestehenden Freund, äußerte er sich in einem Brief vom 21. Februar 1797 mit offenem Visier zur moralischen Frage des Schreibens: „Man wird besser durch Bücherlesen als durch Bücherschreiben … die ewige Sehnsucht nach dem Ideal wird durch die Darstellung desselben entladen wie die Liebe durch Besitz.“ Sein Ziel war die Versöhnung des Lesers mit der Welt: „Könte man die Menschen froh machen, so wären sie auch gut: das Volk beglücken, heisset es verbessern und alle Sünden desselben entstehen aus der Armuth“, heißt es in einem Brief an Emanuel vom 29. November 1796. Betrachtet man die menschliche Geistes- und Religionsgeschichte als Moderation von Ängsten, kann Jean Paul füglich als Groß-Entertainer bezeichnet werden, der im Grunde an einem einzigen groß­ formatigen Erzählteppich webte. Geschildert werden Personen am emotionalen Limit, Neurotiker, Infantile und Exzentriker, deren Gefühlslevel oberhalb des Durchschnittspotenzials angesiedelt ist. Seine Landschaftsschilderungen gleichen Reisen ins Innere, die es verdienen, in jede Kulturgeschichte der Empfindungen aufgenommen zu werden. Freilich gab es auch moderne Vermarktungsstrategien, die ihm zuwider waren, wie das schnelllebige Rezensionswesen, welches den oberflächlichen Fließband-Leser mit Neuigkeiten versorgt. Auch tat er sich mit den Besprechungen fremder Bücher schwer, denn sie erforderten „eine ästhetische Ergründung und Darstellung des ganzen Menschen und Buchs zugleich“, wie er in einem Brief vom 22. November 1816 an Heinrich Voß schrieb. Für ihn bildeten Autor und Reflexionen über Jean Paul  317

Werk eine Einheit, der biografische Blick galt für die Gesamteinschätzung eines Buches als unerlässlich – eine weise Erkenntnis, die bis heute noch nicht zu allen Germanisten vorgedrungen ist. Jean Paul war aufgeschlossen für die Fortschritte in den Naturwissenschaften und der Technik, die alleinige Beschränkung auf reine Geistesgeschichte war seine Sache nicht. Was er an der Aufklärung bemängelte, war die übertriebene Beschleunigung der Lebenswirklichkeit und die zunehmende Seichtigkeit der Kultur, aber die religiöse Exzentrik eines Kanne lehnte er ebenfalls ab. Er war kein Parteigänger, sondern suchte den Ausgleich zwischen den verschiedenen philosophischen und literarischen Gruppen. Mehr als Lagerkämpfe interessierten ihn persönliche Begegnungen, auch wenn diese nicht immer so heiter wie mit Fichte verliefen – man denke nur an die betrüblichen Treffen mit Jacobi und die eher enttäuschenden Begegnungen mit Schelling. Kultur war für Jean Paul ein Nährmittel des inneren Menschen, aber er fürchtete die unzähligen Piktogramme und Abbreviaturen einer ausufernden Medienwelt. Er ahnte, dass in der aufkommenden Wissensgesellschaft ein Zu viel an Kenntnis der Moral mehr schaden könnte als ein Zu wenig. Ohne ungebührlich zu aktualisieren, könnte man Jean Paul als Propheten einer globalen Schreibkultur oder des Internet-Zeitalters bezeichnen. Die Freuden und Schrecken dieser Vision teilt der Leser mit dem Autor: Zuweilen fühlt man sich bei der Lektüre seiner Texte als Teilnehmer einer fröhlichen Karussellrunde, ein andermal glaubt man sich in eine Geisterbahn versetzt. Auf den Lese-Anfänger mag freilich sein uneigentlicher oder metaphorischer Stil (bei dem die ironisch gebrochene Aussage nicht immer deckungsgleich mit dem Gemeinten ist) irritierend wirken. Wollte man sein Werk einem Maler zuordnen, dann wäre weniger der Idylliker des Sonderbaren, Carl Spitzweg, sondern der Meister des Skurrilen, der englische Maler William Hogarth, zu nennen, dessen satirisch-apokalyptische Gemälde ein ähnliches Personal von Kaspern, Narren und Neurotikern schildern. Jean Paul war stets ein Spötter wider den Zeitgeist, weder das Hofleben, noch das Spießertum blieben vor seinen Attacken verschont. Allerdings waren seine Angriffe 318  8. Kapitel

nie verletzend, aufgeklärte Personen jeden Standes konnten über seine Metaphern und Bilder schmunzeln, ohne sich gekränkt zu fühlen. Seine ästhetische Zauberformel war die Liebe, jene „höhere weitere Liebe; sie scheidet und erlöset die Natur vom dienstbaren Tode und beseelt wie ein Gott“, wie es in der Besprechung von Hebels „Alemannischen Gedichten“ heißt. Die paulinische Tugend-Trias war Grundlage seiner Moral: Glaube, Liebe und Hoffnung verbanden sich bei ihm zu einem geschichtsphilosophischen Optimismus, der das Gute in Jahrhunderten heranwachsen, das Böse jedoch im Augenblick aufschießen sieht. Der Weltgeist ist für ihn kein Weltgespenst, insbesondere die politischen Schriften, „Dämmerungen“ und „Fastenpredigten“, tragen als Panier das Prinzip Hoffnung. Freilich mag mehr Zweckoptimismus als wirkliche Erwartung im Spiele gewesen sein – als Praeceptor Germaniae wollte Jean Paul den Seinen einen Stab für die Wanderung in die Zukunft reichen, der gewiss nicht brechen würde. Er sah die globale Bücher-Republik und Medialisierung der Lebenswirklichkeit voraus. Insbesondere „Levana“ ist angefüllt mit kühnen Gedanken zur Bildung einer „Gesellschaft Jesu in schönerm Sinne oder human society“. Die Pfade und Maßnahmen zur Erreichung dieses Zieles lässt der Autor freilich im Dunkeln, aber der Weg ins Medienzeitalter erscheint unvermeidlich. Freilich kann diese Kultur auch ohne Gott und Altar auskommen, wie Satansduplikat Pfeifenberger in der „Wunderbaren Neujahrsnacht“ lakonisch vermerkt. Jean Paul spürte den „vernünftigen Frost“, der eine aufgeklärte Welt erstarren lässt. Jean Paul war ein moralischer Autor in der Tradition der Spätaufklärung, ein aufgeklärtes, dogmenfreies Christentum im Sinne Herders erschien ihm als geeignetes Mittel zur Volkserziehung. „Denn ein Autor ist der Stadtpfarrer des Universums“, heißt es im „Elften Zettelkasten“ des „Quintus Fixlein“, dessen „umgehangene(s) Säetuch voll göttlichen Wort-Samen“ er vor dem Schoß trug. „Um etwas vom Leben zu begreifen, muß man geradezu es überall, auch in der tiefsten Tiefe annehmen“, schreibt er am 1. September 1808 an einen Hamburger Bekannten. Seine Texte zertrümmern das Tableau der Wirklichkeit, um eine neue Realität zu begründen. Reflexionen über Jean Paul  319

Auswahlbibliografie Arbeitsstelle Jean-Paul-Edition (Helmut Pfotenhauer). Universität Würzburg. (Website: Uni-wuerzburg.de). Bade, Heidemarie: Jean Pauls politische Schriften. Tübingen 1974. Berend, Eduard (Hg.): Jean Paul: Die Briefe. Bd. 1-4. München 1922 ff. Berend, Eduard (Hg.): Jean-Paul-Bibliographie. 2. Aufl. neu bearbeitet und ergänzt von Johannes Krogoll. Stuttgart 1963. Berend, Eduard (Hg.): Jean Pauls Persönlichkeit in Berichten der Zeitgenossen. Weimar 2001. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften durch Christian Begemann, Markus Bernauer und Norbert Miller (Hg.): Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Vierte Abteilung: Briefe an Jean Paul. Berlin 2003 ff. De Bruyn, Günter: Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter. Halle (Saale) 1975 und Frankfurt am Main 1976. Goebel, Ralf: Philosophische Dichtung – dichtende Philosophie. Eine Untersuchung zu Jean Pauls (Früh-)Werk unter Berücksichtigung der Schriften Johann Gottfried Herders und Friedrich Heinrich Jacobis. Europäische Hochschulschriften Bd. 1847. Frankfurt am Main u. a. 2002. Goltz, Jochen: Historische Position und Erzählhaltung im Werk Jean Pauls. Diss. Jena 1969. Harich, Walther: Jean Paul. Leipzig 1925. Harich, Wolfgang: Jean Pauls Revolutionsdichtung. Versuch einer Deutung seiner historischen Romane. Berlin 1974. Hunfeld, Barbara: „Jean Paul: Werke“. Zu Geschichte und Konzept einer neuen historischen Ausgabe. In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 22/2008. Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft. Jg. 1 ff., 1966 ff. Jean Paul Edition an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. (Website: bbaw.de). Jean-Paul-Gesellschaft. Sitz Bayreuth. (Website: Jean-Paul-Gesellschaft.de). Jean-Paul-Portal. (Website: uni-würzburg.de). Knickmann, Hanne: Der Jean-Paul-Forscher Eduard Berend. Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft, Jg. 29, 1994, S. 7-91. Kommerell, Max: Jean Paul. 5., durchges. Aufl., Frankfurt am Main 1977. Auswahlbibliografie  321

Ortheil, Hanns-Josef: Jean Paul mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 6. Aufl., Reinbek 2006. Pfotenhauer, Helmut (Hg.): Jean Paul. Lebensbeschreibung. München 2004. Schweikert, Uwe: Jean Paul. Stuttgart 1970. Schweikert, Uwe u. a. (Hg.): Jean Paul Chronik. Daten zu Leben und Werk. München, Wien 1975. Sprengel, Peter (Hg.): Jean Paul im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Jean Pauls in Deutschland. München 1980. Ueding, Gert: Jean Paul. München 1993.

322  Auswahlbibliografie

Zeittafel 1763

21. März: Johann Paul Friedrich Richter wird in Wunsiedel als erstes Kind der Eheleute Johann Christian Christoph Richter und Sophia Rosina Richter geboren. 1765 Übersiedlung nach Joditz, wo der Vater eine Pfarrstelle antritt. 1767 Umzug nach Schwarzenbach. 1778 Entstehung der ersten Exzerpthefte. 1779 Besuch des Hofer Gymnasiums. Freundschaft mit Adam Lorenz von Oerthel und Christian Otto. Tod des Vaters. 1780 Rede zur Schulentlassung Über den Nutzen und Schaden der Erfindung neuer Wahrheiten. Übungen im Denken. 1781 Erster Romanversuch Abelard und Heloise. Lob der Dummheit. Theologiestudium in Leipzig. Aufgabe des Studiums. 1782 Erster Teil Grönländische Prozesse erscheint anonym. 1783 Grönländische Prozesse, erster und zweiter Band erscheinen. 1784 Flucht aus Leipzig vor Gläubigern. Rückkehr nach Hof. 1786 Tod des Freundes Lorenz Adam von Oerthel. 1787 Hofmeisteramt in Töpen. 1789 Rückkehr nach Hof. Auswahl aus des Teufels Papieren erscheint. Tod des Bruders Heinrich. 1790 Winkelschullehrer in Schwarzenbach. Tod des Freundes Johann Bernhard Hermann. „Todesvision“ im November. 1791 Arbeit am Wutz. Beginn Unsichtbare Loge. 1792 Vorarbeiten zu Hesperus. 1793 Die Unsichtbare Loge erscheint, darin Wutz. Liebe zu Amöne Herold. Verlobung mit deren Schwester Caroline. Reise nach Bayreuth und Erlangen. 1794 Rückkehr von Schwarzenbach nach Hof. Fertigstellung des Hesperus. Auflösung der Verlobung mit Caroline Herold. 1795 Hesperus erscheint. Arbeit am Siebenkäs. 1796 Quintus Fixlein, Biographische Belustigungen und Siebenkäs erscheinen. Erste Reise nach Weimar. 1797 Geschichte meiner Vorrede zur zweiten Auflage des Quintus Fixlein, Jubelsenior und Kampanertal erscheinen. Bekanntschaft mit Emilie von Berlepsch und Juliane von Krüdener. Tod der Mutter. Umzug nach Leipzig. Zeittafel  323

1798

Eheversprechen und dessen Rücknahme an Emilie von Berlepsch. Palingenesien erscheinen. Aufenthalte in Dresden, Giebichenstein und Halberstadt. Begegnungen mit Verleger Matzdorff, Komponist Reichardt und Ludwig Gleim. Umzug nach Weimar. Beginn des Briefwechsels mit Jacobi. 1799 Die Konjekturial-Biographie erscheint. Begegnungen mit Schiller, Herder, Goethe und Charlotte von Kalb. Arbeit am Titan.Aufenthalt in Hildburghausen. Freundschaft mit Caroline von Feuchtersleben. Ernennung zum Legationsrat. 1800 Aufenthalt in Ilmenau. Auflösung der Verlobung mit Caroline von Feuchtersleben. Erster Band Titan mit Luftschiffer Giannozzo, Komischer Anhang zum Titan, Clavis Fichtiana und Corday-Aufsatz. Begegnungen mit Königin Luise von Preußen, Josephine von Sydow, Rahel Levin, Verleger Matzdorff und Caroline Mayer, seiner späteren Frau. Umzug nach Berlin. Begegnungen mit Fichte, Schleiermacher und Tieck. 1801 Zweiter Titan-Band. Das unheimliche Klagelied und Die wunderbare Gesellschaft in der Neujahrsnacht erscheinen. Hochzeit mit Caroline Mayer. Weimarreise mit Frau. Übersiedlung nach Meiningen. 1802 Dritter Titan-Band erscheint. Erneuter Weimar-Aufenthalt. 20. September: Geburt der ersten Tochter Emma. Abschluss vierter Titan-Band. 1803 Vierter Band Titan erscheint. Arbeit an Flegeljahre. Umzug nach Coburg. Vorschule der Ästhetik entsteht. Tod Herders. 1804 Erster und zweiter Band Flegeljahre und Vorschule der Ästhetik erscheinen. Reise nach Bamberg und Erlangen. Umzug nach Bayreuth. Abschluss vierter Band Flegeljahre. Arbeit an Levana. Geburt von Tochter Odilie. 1805 Dritter und vierter Band Flegeljahre und Freiheitsbüchlein erscheinen. 1806 Levana erscheint. Arbeit am Fibel. 1807 Arbeit an Schmelzle und Katzenbergers Badereise. 1808 Friedenspredigt erscheint. Arbeit an Dämmerungen. 1809 Schmelzle, Katzenberger und Dämmerungen erscheinen. Jährliche Pension durch Dalberg. „Rollwenzelei“. 1810 Erster Band Herbst-Blumine erscheint. In Bamberg Begegnung mit E. T. A. Hoffmann. 1811 Reise nach Erlangen und Nürnberg. Fibel erscheint. 1812 Begegnung mit Hegel und Jacobi in Nürnberg. 1814 Mars und Phöbus Thronwechsel erscheint. 324  Zeittafel

1815 1816 1817

1818 1819 1820

1821 1822

1823 1824 1825

Zweiter Band Herbst-Blumine. Pension wird von Bayern übernommen. Begegnung mit Dalberg in Regensburg. Beginn des Briefwechsels mit Heinrich Voß. Politische Fastenpredigten erscheinen. In Heidelberg Begegnungen mit Voß, Hegel, Paulus, Thibaut, Boisserée, Frau von Ende. Neckarfahrt. Doktordiplom durch Hegel und Creuzer. Reise nach Heidelberg, Mainz, Mannheim und Frankfurt am Main. Zweite Reise nach Frankfurt und Heidelberg. Begegnung mit den Schlegel-Brüdern. Beginn der Selberlebensbeschreibung. Überarbeitung des Hesperus für dritte Auflage. Reisen nach Stuttgart und Löbichau. Erster und zweiter Band Der Komet, Über die deutschen Doppelwörter und dritter Band Herbst-Blumine erscheinen. Reise nach München zu Sohn Max. Begegnung mit dem Bayerischen König. Reise nach Bamberg. Tod des Sohnes Max in Bayreuth. Der Komet, dritter Band erscheint. In Dresden Begegnungen mit Tieck, Wolke und Carl Maria von Weber. Heinrich Voß stirbt in Heidelberg. Begegnung mit Schelling in Nürnberg. Arbeit an Selina. Allmähliche Erblindung. Der Neffe Richard Otto Spazier hilft bei der Arbeit. Völlige Erblindung. 14. November: Jean Paul sirbt abends. Beerdigung in Bayreuth.

Bildnachweis Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin: Abb. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 8, 9, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 20. Das Gleimhaus, Halberstadt: Umschlagbild. Aus: Eduard Berend (Hg.): Jean Pauls Persönlichkeit. München, Leipzig 1913: Abb. 19. Aus: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Eduard Berend.1927 ff.: Abb. 7, 10, 11, 12.

Bildnachweis  325

1815 1816 1817

1818 1819 1820

1821 1822

1823 1824 1825

Zweiter Band Herbst-Blumine. Pension wird von Bayern übernommen. Begegnung mit Dalberg in Regensburg. Beginn des Briefwechsels mit Heinrich Voß. Politische Fastenpredigten erscheinen. In Heidelberg Begegnungen mit Voß, Hegel, Paulus, Thibaut, Boisserée, Frau von Ende. Neckarfahrt. Doktordiplom durch Hegel und Creuzer. Reise nach Heidelberg, Mainz, Mannheim und Frankfurt am Main. Zweite Reise nach Frankfurt und Heidelberg. Begegnung mit den Schlegel-Brüdern. Beginn der Selberlebensbeschreibung. Überarbeitung des Hesperus für dritte Auflage. Reisen nach Stuttgart und Löbichau. Erster und zweiter Band Der Komet, Über die deutschen Doppelwörter und dritter Band Herbst-Blumine erscheinen. Reise nach München zu Sohn Max. Begegnung mit dem Bayerischen König. Reise nach Bamberg. Tod des Sohnes Max in Bayreuth. Der Komet, dritter Band erscheint. In Dresden Begegnungen mit Tieck, Wolke und Carl Maria von Weber. Heinrich Voß stirbt in Heidelberg. Begegnung mit Schelling in Nürnberg. Arbeit an Selina. Allmähliche Erblindung. Der Neffe Richard Otto Spazier hilft bei der Arbeit. Völlige Erblindung. 14. November: Jean Paul sirbt abends. Beerdigung in Bayreuth.

Bildnachweis Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin: Abb. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 8, 9, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 20. Das Gleimhaus, Halberstadt: Umschlagbild. Aus: Eduard Berend (Hg.): Jean Pauls Persönlichkeit. München, Leipzig 1913: Abb. 19. Aus: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Eduard Berend.1927 ff.: Abb. 7, 10, 11, 12.

Bildnachweis  325

Namenregister Abbt, Thomas (1738–1766) 51 Adelung, Johann Christoph (1732– 1806) 79 Ahlefeldt, Hans Georg von (1770– 1828) 170, 172, 298 Alexander I., Zar von Russland (1777– 1825) 129, 223, 256 Alvensleben, Philipp Carl Graf von (1745–1802) 175, 182, 183, 184 Anna Amalia, Herzogin von SachsenWeimar-Eisenach (1739–1807) 126, 127, 128, 143, 144, 145, 164, 201 Archenholz, Johann Wilhelm (1743– 1812) 77, 83, 84, 89, 90 Arnim, Achim von (1781–1831) 24 Baader, Benedikt Franz Xaver von (1765–1841) 280 Bach, Johann Sebastian (1685–1750) 26 Bacon, Francis (1561–1626) 81 Basedow, Johann Bernhard (1724– 1790) 227 Baumgarten, Alexander Gottlieb (1714–1762) 27, 211 Beethoven, Ludwig van (1770–1827) 26 Bekmann, Christoph Friedrich (Lebensdaten unbekannt) 83 Benda, Georg Anton (1722–1795) 107 Berend, Eduard (1883–1973) 10, 19, 20, 21, 22, 23 Berlepsch, Emilie Dorothea Friederike von (1755–1830) 122, 123, 134, 137, 138, 140, 141, 142, 151, 157, 166, 252 Bernard, Esther (um 1767 – nach 1833) 167 326  Namenregister

Bernhardi, August Ferdinand (1769– 1820) 175, 176, 183 Beygang, Johann Gottlob (1755–1823) 133 Böhme, Jakob (1575–1624) 176 Boie, Heinrich Christian (1744–1806) 71, 83, 84 Boileau-Despréaux, Nicolas (1636– 1711) 70 Boisserée, Sulpiz (1783–1854) 260, 261, 270 Börne, Ludwig (1786–1837) 17 Böttiger, Carl August (1760–1835) 127, 134, 139, 287 Bouterwek, Friedrich Ludwig (1766– 1828) 203 Braun, Henriette (Jette) (1781–1837) 220 Brown, John (1735–1788) 203, 251 Bruyn, Günter de (geb. 1926) 25 Buffon, Georges-Louis Leclerc, Comte de (1707–1788) 116, 277 Butler, Samuel (1612–1680) 64, 85 Campe, Joachim Heinrich (1746– 1818) 303 Carl Friedrich, Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach (1783–1853) 245 Caroline Friederike Wilhelmine, Königin von Bayern (1776–1841) 231, 256, 280 Cervantes Saavedra, Miguel de (1547– 1616) 15 Charlotte Georgine Luise Friederike, Herzogin von Sachsen-Hildburghausen (1769–1818) 161, 167 Chézy, Helmina von, eigentl. Chézy, Wilhelmine Christiane de, geb. von Klencke (1783–1856) 166

Chladni, Ernst Florens Friedrich (1756–1827) 26 Chodowiecki, Daniel Nikolaus (1726– 1801) 97 Cicero, Marcus Tullius (106–43 v. Chr.) 45, 81 Cloeter, Johann Gottfried (1741–1822) 42, 61, 92, 93 Corday, Charlotte (1768–1793) 152, 153, 154, 239, 254, 278 Cotta von Cottendorf, Johann Friedrich Freiherr (1764–1832) 178, 216, 227, 228, 231, 235, 240, 243, 244, 245, 247, 249, 259, 268, 270, 271, 272, 279, 283, 286, 287, 299, 310 Creuzer, Friedrich (1771–1858) 260, 261 Dalberg, Carl Theodor Reichsfreiherr von (1744–1817) 255, 256, 257, 258, 283, 309, 311 Dalí, Salvador (1904–1989) 169 Dannecker, Johann Heinrich (1758– 1841) 270 Daub, Carl (1765–1836) 259 Diogenes Laertios (Ende 2. – Anfang 3. Jh. n. Chr.) 61, 81, 145 Doppelmaier, Johann Georg Gottfried (1753–1826) 42, 56, 79, 309 Eckermann, Johann Peter (1792–1854) 17 Einsiedel-Scharfenstein, Friedrich Hildebrand Freiherr von (1750– 1828) 127 Ellrodt, Anna Marie Sophie (geb. 1759) 75, 300 Emil August Leopold, Herzog von Sachsen-Gotha und Altenburg (1772–1822) 146, 148, 219 Ende, Henriette von (Lebensdaten unbekannt) 260 Epiktet (50 – um 138 n. Chr.) 310

Erasmus von Rotterdam (1466–1536) 71 Ernesti, Johann August (1707–1781) 66 Ernst II. Ludwig, Herzog von SachsenGotha und Altenburg (1745–1804) 216 Eschenburg, Johann Joachim (1743– 1820) 60 Eulenberg, Herbert (1876–1949) 21 Euripides (480–406 v. Chr.) 264 Falk, Johannes Daniel (1768–1828) 144 Feind, Dorothee Elisabeth (Lebensdaten unbekannt) 136 Feind, Johann Gottlieb (Lebensdaten unbekannt) 136, 154 Fenélon, François (1651–1715) 229 Feuchtersleben, Caroline von (1774– 1842) 151, 163, 168, 172 Fichte, Johann Gottlieb (1762–1814) 27, 142, 149, 155, 160, 175, 176, 177, 178, 184, 247, 258, 259, 308, 311, 315, 318 Forberg, Friedrich Carl (1770–1848) 206 Förster, Ernst (1800–1885) 20, 291 Fouqué, Friedrich Freiherr de la Motte (1777–1843) 247, 274 Franz Friedrich Anton, Herzog von Sachsen-Coburg-Saalfeld (1750– 1806) 206, 207, 217, 218, 219 Freud, Sigmund (1865–1939) 31, 155, 307 Friedrich, Caspar David (1774–1840) 174 Friedrich, Herzog von Sachsen-Hildburghausen (1763–1834) 151 Friedrich II., König von Preußen (1712–1786) 74, 91, 291 Friedrich I., Markgraf von Brandenburg (1371–1440) 36

Namenregister  327

Friedrich Wilhelm III., König von Preußen (1770–1840) 167, 182, 221, 255, 272, 291, 309 Friedrich Wilhelm II., König von Preußen (1744–1797) 182 Garve, Christian (1742–1798) 51 Gellert, Christian Fürchtegott (1715– 1769) 58 George, Stefan (1868–1933) 18, 19, 21 Georg I., Herzog von Sachsen-Meiningen (1761–1803) 184, 201, 202, 205, 209 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig (1719–1803) 24, 112, 121, 129, 138, 140, 147, 148, 168, 175, 184, 313 Goethe, Johann Wolfgang von (1749– 1832) 9, 13, 16, 17, 18, 20, 32, 37, 50, 52, 53, 58, 60, 71, 97, 103, 108, 109, 116, 117, 118, 124, 125, 126, 127, 128, 143, 144, 146, 149, 150, 158, 175, 212, 213, 229, 231, 243, 247, 261, 271, 290, 293, 305, 315, 316 Gottsched, Johann Christoph (1700– 1766) 42, 58, 59, 150 Grimm, Jacob (1785–1863) 239 Gruner, Johann Ernst (1757–1822) 207 Haller, Albrecht von (1708–1777) 86, 88 Hamann, Johann Georg (1730–1788) 27, 116, 152, 173, 210, 311 Hänel, Marianne Elisabeth (1763– 1805) 138 Hardenberg, Karl August Freiherr von (1750–1822) 182, 202, 255 Harich, Walther (1888–1931) 22 Harich, Wolfgang (1923–1995) 14, 88, 104, 153 Hartknoch, Johann Friedrich (1740– 1789) 77, 82 328  Namenregister

Hausser, Philipp (1918–2003) 25 Hebel, Johann Peter (1760–1826) 239, 247, 315, 319 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–1831) 241, 253, 260, 261, 282, 311 Heim, Johann Ludwig (1741–1819) 201, 202, 204 Heinse, Wilhelm (1764–1803) 117 Heinsius, Johann Wilhelm Immanuel (1768–1817) 142, 154 Heißenbüttel, Helmut (1921–1996) 25 Helvétius, Claude Adrien (1715–1771) 111, 116 Hemsterhuis, Frans (1721–1790) 135 Hennings, Johann Wilhelm Christoph (um 1770–1838) 133, 134, 177 Herder, Carl Emil Adelbert (1779– 1857) 144 Herder, Johann Gottfried (1744–1803) 9, 15, 20, 24, 26, 27, 32, 37, 43, 65, 82, 83, 94, 97, 109, 111, 112, 116, 117, 118, 126, 127, 128, 132, 138, 139, 140, 141, 143, 144, 145, 148, 149, 150, 151, 152, 157, 162, 163, 164, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 201, 205, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 227, 229, 230, 241, 255, 257, 258, 274, 282, 286, 289, 291, 293, 310, 311, 312, 313, 315, 319 Herder, Luise Theodora Emilie (1781– 1860) 143, 162 Herder, Maria Carolina (1750–1809) 24, 83, 112, 127, 128, 129, 138, 143, 144, 147, 149, 150, 151, 152, 171, 172, 183, 208, 209 Herder, Siegmund August Wolfgang (1776–1838) 144 Hermann, Johann Bernhard (1761– 1790) 47, 48, 62, 65, 77, 78, 80, 82, 88, 91, 116, 119, 291, 298

Herold, Amöne (1774–1837).  siehe Otto, Amöne, geb. Herold (1774– 1837) Herold, Amöne Friederike Dorothea (1784–1794) 100 Herold, Caroline (geb. 1779–) 100, 102, 123 Herold, Johann Georg (1741–1805) 100, 182 Hesse, Hermann (1877–1962) 18, 19 Hippel, Theodor Gottlieb von (1741– 1796) 44, 50, 63, 70, 74, 79, 135, 210, 301 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus (1776–1822) 24, 239, 247, 250, 274, 315 Hogarth, William (1697–1764) 133, 318 Hölderlin, Friedrich (1770–1843) 18, 124, 312 Höllerer, Walter (1922–2003) 25 Homer (9.–8. Jahrhundert v. Chr.) 135, 256, 264 Horaz, eigentl. Quintus Horatius Flaccus (65–8 v. Chr.) 264 Hornthal, Franz Ludwig von (1765– 1833) 269 Huber, Therese (1764–1829) 270, 295 Hufeland, Christoph Wilhelm (1762– 1836) 264 Hume, David (1711–1776) 45, 66, 149, 215, 247 Iffland, August Wilhelm (1759–1814) 175 Jacobi, Friedrich Heinrich (1743– 1819) 24, 27, 73, 85, 107, 117, 122, 139, 140, 148, 149, 152, 153, 157, 160, 162, 164, 171, 175, 176, 177, 178, 203, 205, 208, 210, 215, 244, 247, 253, 273, 274, 293, 298, 307, 311, 318 Jahn, Ludwig (1778–1852) 228

Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm (1709–1789) 42 Jesus von Nazareth, Jesus Christus (um 4 v. Chr. – um 30 n. Chr.) 16, 33, 121, 241, 252, 258 Johanna von Orleans, eigentl. Jeanne d›Arc (um 1410–1731) 154 Joseph II., Römisch-Deutscher Kaiser (1751–1790) 82 Kalb, Charlotte Sophie Juliane von (1761–1843) 24, 123, 124, 126, 128, 143, 144, 146, 147, 157, 164, 166, 176, 207, 220 Kalb, Heinrich Julius Alexander von (1752–1806) 124 Kanne, Johann Arnold (1773–1824) 203, 274, 288, 312, 318 Kant, Immanuel (1724–1804) 27, 37, 64, 65, 66, 67, 81, 82, 98, 107, 117, 131, 148, 149, 150, 155, 176, 211, 215, 313 Karsch, Anna Luisa (1722–1791) 116, 166 Kettenburg, Sophie (geb. um 1773) 252 Kierkegaard, Søren (1813–1855) 17 Kiesewetter, Johann Gottfried (1766– 1819) 176 Kirsch, Georg Wilhelm (1752–1829) 45, 60 Klencke, Wilhelmine Christiane von.  siehe Chézy, Helmina von, eigentl. Chézy, Wilhelmine Christiane de, geb. von Klencke (1783– 1856) Klopstock, Friedrich Gottlieb (1724– 1803) 43, 52, 58, 92, 140, 148, 229, 312 Knebel, Carl Ludwig von (1744–1834) 127, 140, 145, 147, 148, 149, 152, 162, 183, 208, 243, 307, 308, 315

Namenregister  329

Knigge, Freiherr Adolph Franz Friedrich Ludwig von (1752–1796) 79, 122 Koch, Franz (1761–1831) 107 Köhler, Helene (1769–1847) 86 Kommerell, Max (1902–1944) 19 Könitz, Christian Ferdinand von (1756–1832) 218 Köppen, Friedrich (1775–1858) 247 Kosegarten, Ludwig (1758–1818) 242 Kosmeli, Michael (1773–1844) 203 Kotzebue, August von (1761–1819) 154, 183, 278, 299 Kretschmann, Theodor Konrad von (1762–1829) 206, 217, 218, 219, 309 Kropff, Wilhelmine von (geb. 1769) 138, 170, 300 Krüdener, Barbara Juliane Freifrau von (1764–1824) 129, 134, 157, 166, 261, 264, 300 Kuhn, Eva Barbara (1701–1782) 37 Kuhn, Johann Paul (1710–1780) 37, 44, 69 Kurland, Anna Charlotte Dorothea von (1761–1821) 270 Lafontaine, August Heinrich (1758– 1831) 138 Langermann, Johann Gottfried (1768– 1823) 263 Lavater, Johann Kaspar (1741–1801) 50, 98 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646– 1716) 27, 44, 51, 67, 68, 94, 140, 215, 282, 309 Le Pique, Johann Philipp (1776–1815) 220 Lessing, Gotthold Ephraim (1729– 1781) 32, 50, 51, 58, 63, 74, 149, 150 Levin, Rahel (1771–1833) 24, 167 Lichtenberg, Georg Christoph (1742– 1799) 15, 77, 133 330  Namenregister

Liscow, Christian Ludwig (1701–1760) 70, 301 Lohenstein, Daniel Casper von (1635– 1683) 81 Longin (um 213–273 n. Chr.) 45 Lorraine, Claude (1600–1682) 304 Lübeck, Johann Christoph Gottlieb (1766–1811) 112 Ludwig Carl Friedrich, Prinz von Sachsen-Coburg-Saalfeld (1755–1806) 218, 219 Luise Eleonore, Herzogin von SachsenMeiningen (1763–1837) 184, 201 Luise, Herzogin von Sachsen-WeimarEisenach (1757–1830) 153 Luise, Königin von Preußen (1776– 1810) 24, 161, 167, 172, 182 Lux, Adam (1766–1793) 254 Lux, Marianne (1787–1814) 254, 261 Mahler, Gustav (1860–1911) 27 Mahlmann, August Siegfried (1771– 1826) 170 Mahlmann, Ernestine, geb. Mayer (1779–1805) 226 Mallarmé, Stéphane (1842–1898) 18 Mann, Thomas (1875–1955) 181 Marat, Jean Paul (1744–1793) 152, 153 Marcus Aurelius Antoninus Augustus, römischer Kaiser (121–180 n. Chr.) 310 Marheinke, Philipp Konrad (1780– 1864) 271 Maria Pawlowna, Großherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach (1786– 1859) 245 Marie Antoinette, Königin von Frankreich (1755–1793) 105 Matzdorff, Carl August (1765–1839) 97, 102, 108, 109, 118, 125, 138, 147, 161, 165

Maximilian I. Joseph, König von Bayern (1756–1825) 243, 256, 269, 280, 309 Max, Josef (1787–1873) 286, 288 Mayer, Caroline.  siehe Richter, Friederike Leopoldine Caroline, geb. Mayer (1777–1860) Mayer, Johann Siegfried Wilhelm (1747–1819) 25, 167, 171, 251, 263 Meckel, Johann Friedrich (1724–1774) 238 Meißner, August Gottlieb (1753–1807) 77, 84 Mendelssohn, Moses (1729–1786) 43, 45, 85, 286 Mengele, Josef (1911–1979) 240 Merkel, Garlieb (1769–1850) 30, 139, 162, 179, 183, 243, 299, 309 Mesmer, Franz Anton (1734–1815) 247 Metternich, Clemens Lothar Fürst von (1733–1859) 256 Meyer, Carl Johann Albrecht (1755– 1823) 144 Meyer, Heinrich (1760–1832) 265 Meyern, Wilhelm Friedrich von (1762– 1829) 96 Miller, Johann Martin (1750–1814) 52, 103, 301 Mirabeau, Honoré Gabriel Victor Riqueti Comte de (1749–1791) 160 Montaigne, Michel Eyquem de (1533– 1592) 50, 160 Montgelas, Maximilian von (1759– 1838) 280 Moritz, Karl Philipp (1757–1793) 79, 85, 96, 97, 104, 116, 210 Morus, Samuel Friedrich (1736–1792) 65, 68 Mozart, Wolfgang Amadeus (1756– 1791) 37, 136, 145, 160

Müller, Christian Adam (1751–1821) 82 Müller, Friedrich Theodor Adam Heinrich von (1779–1849) 203 Müller, Josef (Lebensdaten unbekannt) 20 Müllner, Adolf (1774–1829) 30, 272, 299 Mumm, Elias (1751–1839) 272 Muncker, Franz (1855–1926) 19, 21 Napoleon I. Bonaparte, Kaiser von Frankreich (1769–1821) 153, 208, 221, 223, 226, 240, 242, 244, 255, 270, 308, 309 Nerrlich, Paul (1844–1904) 20 Nicolai, Friedrich (1733–1811) 77, 162, 165, 179, 237 Nietzsche, Friedrich (1844–1900) 17, 308 Nösselt, Johann August (1734–1807) 42 Novalis, eigentl. Hardenberg, Georg Friedrich Philipp Freiherr von (1772–1801) 150, 212, 315 Oertel, Friedrich Benedikt von (1767– 1807) 126, 135, 139, 162, 302 Oertel, Ludwig von (1770–1818) 125, 257 Oerthel, Christian Adam von (1775– 1792) 87, 102, 225 Oerthel, Johann Adam Lorenz von (1763–1786) 46, 47, 53, 60, 64, 65, 69, 70, 78, 79, 80, 82, 86, 87, 88, 89, 91, 116, 291, 298 Oerthel, Johann Georg von (1728– 1804) 87, 89, 90, 96 Oken, Lorenz (1779–1851) 247 Ortheil, Josef (geb. 1951) 25 Ortloff, Johann Andreas (1769–1828) 206 Osmund, Emanuel (1766–1842) 25, 28, 33, 37, 108, 117, 118, 137, 138, 144, 163, 171, 202, 203, 204, Namenregister  331

206, 207, 209, 211, 217, 219, 220, 222, 224, 225, 231, 240, 248, 250, 251, 252, 254, 257, 261, 263, 266, 269, 278, 279, 281, 287, 289, 297, 298, 300, 301, 310, 317 Otto, Amöne, geb. Herold (1774– 1837) 100, 102, 116, 123, 146, 157, 300 Otto, Christoph Albrecht (1765–1837) 280 Otto, Georg Christian (1763–1828) 47, 48, 55, 65, 82, 86, 93, 95, 96, 98, 100, 102, 104, 112, 113, 115, 116, 117, 118, 121, 124, 125, 126, 132, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 143, 144, 145, 146, 151, 154, 156, 162, 163, 165, 166, 170, 171, 172, 182, 183, 202, 204, 207, 208, 209, 219, 225, 243, 244, 247, 249, 250, 252, 255, 266, 277, 279, 280, 292, 298, 301, 302, 305, 306, 308 Otto, Sophia Renata Euphrosyna, geb. Wirth (1775–1848) 293, 300 Otto, Sophia Renata Euphrosyna, geb. Wirth (1775–1848) 91, 99, 100, 108, 124, 134, 135, 280, 300 Ovid, eigentl. Publius Ovidius Naso (43 v. Chr. – um 17 n. Chr.) 70, 256 Paulus, Caroline (1767–1844) 260 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob (1761–1851) 259, 260, 282, 312 Paulus, Sophie (1791–1847) 260, 263, 265, 270 Perthes, Friedrich Christoph (1772– 1843) 216, 227, 228, 242, 308 Pestalozzi, Johann Heinrich (1746– 1827) 227 Petersen, Julius (1878–1941) 20, 21, 22 Pfenninger, Heinrich (1749–1815) 137, 142

332  Namenregister

Pindar (um 518 – nach 446 v. Chr.) 312 Platen, August Graf von (1796–1835) 239 Platner, Ernst (1744–1818) 27, 65, 66, 67, 68, 79, 85, 111, 136, 275, 311 Platon (427–347 v. Chr.) 86, 282, 285, 309 Plotho, Louise Eleonore von (Lebensdaten unbekannt) 39, 41 Plutarch (um 46 – um 125 n. Chr.) 116, 232 Pope, Alexander (1688–1744) 64, 70 Pufendorf, Samuel von (1632–1694) 86 Rabener, Gottlieb Wilhelm (1714– 1771) 70 Reichardt, Johann Friedrich (1752– 1814) 26, 116, 124, 129, 130, 138, 152 Reich, Philipp Erasmus (1717–1787) 76, 77 Reimer, Georg Andreas (1776–1842) 261, 277, 288, 290, 291, 301 Reinhold, Carl Leonhard (1758–1823) 231 Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1606–1669) 16 Richter, Amöne Odilie Minna (1804– 1865) 224, 256, 279, 280, 287, 296 Richter, Emma Emanuele Georgine Amalie Idoine (1802–1853) 204, 206, 207, 225, 226, 248, 256, 279, 287 Richter, Friederike Leopoldine Caroline, geb. Mayer (1777–1860) 24, 167, 168, 170, 171, 172, 176, 184, 201, 202, 203, 204, 207, 208, 220, 224, 225, 226, 248, 251, 252, 253, 254, 255, 258, 259, 260, 261, 263, 264, 265, 269, 270, 271, 278, 279,

280, 281, 288, 289, 294, 296, 298, 300 Richter, Gottlieb (1768–1850) 44, 75, 138, 147, 204, 220 Richter, Heinrich (1770–1789) 44, 88, 116, 291 Richter, Johann (1687–1763) 37, 38 Richter, Johann Adam Christian (1764–1816) 38, 86, 147, 250, 251, 260, 294 Richter, Johann Christian Christoph (1727–1779) 38 Richter, Johann Samuel (1778–1807) 138, 147 Richter, Maximilian Emanuel Ernst (1803–1821) 207, 225, 226, 227, 250, 256, 263, 264, 271, 279, 281, 282, 283, 287, 310 Richter, Sophia Rosina, geb. Kuhn (1737–1797) 37, 44, 69, 86, 122, 123, 295 Rochow, Eberhard von (1734–1805) 290 Rollwenzel, Anna Dorothea (1756– 1830) 224, 266 Rollwenzel, Friedrich (Lebensdaten unbekannt) 224 Rousseau, Jean-Jacques (1712–1778) 19, 36, 37, 50, 70, 116, 160, 169, 227, 229 Sand, Carl Ludwig (1795–1820) 154, 278 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von (1775–1854) 136, 160, 177, 253, 259, 281, 287, 311, 315, 318 Schiller, Friedrich von (1759–1805) 9, 17, 20, 60, 70, 95, 98, 108, 117, 118, 124, 126, 128, 143, 144, 145, 146, 148, 149, 150, 158, 212, 213, 229, 290, 307, 312, 314 Schlabrendorff, Henriette Gräfin von (1773–1853) 162, 163, 168, 172, 201

Schlegel, August Wilhelm (1767–1845) 27, 139, 260, 265 Schlegel, Friedrich (1772–1829) 15, 27, 139, 149, 150, 164, 175, 176, 183, 212, 213, 242, 247, 264, 298, 315 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1768–1834) 164, 175, 183 Schlichtegroll, Adolf Heinrich Friedrich (1765–1822) 147, 148, 163, 201, 280, 298, 317 Schmidt, Ludwig Friedrich (1764– 1857) 280 Schopenhauer, Arthur (1788–1860) 288 Schrag, Johann Leonhard (1783–1858) 231, 250, 253 Schubert, Franz (1797–1828) 289 Schuckmann, Caspar Friedrich Freiherr von (1755–1834) 138, 183 Schumann, Robert (1810–1856) 26, 27, 180 Schwarz, Friedrich Heinrich Christian (1766–1837) 260 Semler, Johann Salomo (1725–1791) 50, 309 Seneca, Lucius Annaeus (um 1–65 n. Chr.) 70 Sengle, Friedrich (1909–1994) 10, 25 Shakespeare, William (1564–1616) 37, 43, 60, 63, 67, 104, 116, 213, 247, 258, 259, 260, 266 Sintenis, Christian Friedrich (1750– 1820) 70 Soemmerring, Samuel Thomas (1755– 1830) 238 Sophia Antoinette, Herzogin zu Sachsen-Coburg-Saalfeld (1724–1802) 207 Spangenberg, Beata Auguste Antonie von (geb. 1762) 46, 87 Spangenberg, Christiane Wilhelmine Dorothea von (geb. 1769) 87, 90 Namenregister  333

Spazier, Johann Gottlieb Karl (1761– 1805) 168 Spazier, Richard Otto (1803–1854) 20, 288, 289, 290, 291 Spazier, Wilhelmine (Minna), geb. Mayer (1776–1825) 170, 248, 287 Spinoza, Baruch de (1632–1677) 85, 139, 215 Spitzweg, Carl (1808–1885) 13, 112, 318 Spohr, Louis (1784–1859) 265 Spontini, Gasparo (1774–1851) 261 Staël-Holstein, Anne Louise Germaine de (1766–1817) 135, 160, 229, 247 Stamitz, Carl (1745–1801) 107 Stein, Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum (1757–1831) 223 Sterne, Laurence (1713–1768) 15, 31, 47, 50, 71, 117, 273, 301 Sulzer, Johann Georg (1720–1779) 45 Swift, Jonathan (1667–1754) 15, 64, 70, 71, 81, 117, 160, 276 Sydow, Josephine von (1758–1829) 165, 166, 300 Tacitus (um 55 – um 120 n. Chr.) 264 Thibaut, Anton Friedrich Justus (1772–1840) 258, 261 Thieriot, Paul Emil (1780–1831) 25, 26, 135, 136, 145, 162, 176, 203, 205, 207, 209, 210, 219 Thümmel, Moritz August von (1738– 1817) 146, 203 Tieck, Ludwig (1773–1853) 67, 150, 162, 164, 175, 176, 183, 212, 213, 239, 247, 261, 287, 315 Tiedge, Christoph August (1752– 1841) 271 Tournon, Baron Camille de (1778– 1833) 221, 222 Unger, Johann Friedrich Gottlieb (1753–1804) 161 334  Namenregister

Varnhagen von Ense, Carl (1785– 1858) 243 Verlaine, Paul (1844–1896) 18 Vieweg, Johann Friedrich (1761–1835) 152, 227 Vogel, Erhard Friedrich (1750–1823) 49, 50, 51, 56, 58, 61, 62, 63, 65, 66, 67, 68, 70, 72, 73, 75, 78, 81, 82, 92, 267, 298 Vogel, Johann Wilhelm (1753–1806) 42, 43, 50, 61 Völkel, Johann Samuel (1748–1795) 41, 42, 61, 81, 92, 93 Vollmann, Rolf (geb. 1934) 25 Voltaire, eigentl. François-Marie Arouet (1694–1778) 15, 28, 43, 70, 86, 213 Voß, Christian Friedrich (1722–1795) 74, 75, 76, 78 Voß, Heinrich (1779–1822) 9, 259, 261, 262, 264, 266, 269, 276, 277, 278, 279, 280, 281, 287, 301, 310, 317 Voß, Johann Heinrich (1751–1834) 135, 213, 258 Wangenheim, Karl August Freiherr von (1773–1850) 218 Weber, Carl Maria von (1786–1826) 287 Weber, Michael (1754–1833) 65 Weiße, Christian Ernst (1766–1832) 136 Weiße, Christian Felix (1726–1804) 58, 77, 136 Werner, Carl August (um 1740–1797) 42 Wernlein, Friedrich (1765–1830) 93, 94, 100 Weygand, Christian Friedrich (1743– 1806) 71, 74 Wezel, Johann Carl (1747–1819) 68 Wieland, Christoph Martin (1733– 1813) 9, 15, 20, 32, 33, 37, 51, 60,

63, 83, 92, 95, 97, 116, 118, 124, 126, 134, 139, 140, 143, 144, 145, 148, 149, 150, 156, 163, 164, 175, 201, 211, 291, 297, 311, 313 Winckelmann, Johann Joachim (1717– 1768) 213, 214 Wirth, Dorothea Friederike (1743– 1808) 91 Wirth, Sophia Renata Euphrosyna (1775–1848).  siehe Otto, Sophia Renata Euphrosyna, geb. Wirth (1775–1848)

Wolff, Christian (1679–1754) 27, 51, 150 Wolfskehl, Karl (1869–1948) 18, 21 Wolke, Christian Heinrich (1741– 1825) 268, 269 Young, Edward (1683–1765) 64, 70 Zelter, Carl Friedrich (1758–1832) 289 Zimmermann, Johann Georg (1728– 1795) 51

Namenregister  335

MICHAEL ZAREMBA

CHRISTOPH MARTIN WIELAND AUFKLÄRER UND POET EINE BIOGRAFIE

Christoph Martin Wieland (1733–1813) gehört zu den Mitbegründern der Weimarer Klassik. Neben der Herausgebertätigkeit für das erste deutsche Kulturjournal »Der Teutsche Merkur« sind es vor allem die Versepen »Musarion« und »Oberon« sowie die Romane »Agathon«, »Geschichte der Abderiten« und »Aristipp«, welche zu den Standardwerken der deutschen Literatur zählen. Michael Zaremba legt eine moderne Biografie vor, die erstmals auf die Gesamtausgabe des umfangreichen Wielandschen Briefwechsels zurückgreifen kann. Wielands literarischen Werdegang versteht der Biograf als Emanzipation von den religiösen Paradigmen des Elternhauses. Vor diesem Hintergrund schildert er die Kontinuitäten und Widersprüche seiner Persönlichkeit. Das Buch zeigt Wieland als Familienpatriarch, Lehrer, Philosophieprofessor und Prinzenerzieher im Dienste der Herzogin Anna Amalia. Michael Zaremba würdigt Wieland nicht allein als Dichter und Übersetzer aus dem Englischen, Griechischen und Lateinischen, sondern vor allem aufgrund seiner vielfältigen kulturpolitischen Beiträge und der vielschichtigen, oft ironisch gebrochenen Erzählkunst als einen führenden Vertreter der europäischen Auf klärung. 2007. 314 S. 20 S/W-ABB. AUF 16 TAF. GB. MIT SU. | ISBN 978-3-412-22006-8

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