Geschwister: Ein Dispositiv bei Jean Paul und um 1800 9783110278538, 9783110278378

Ausgezeichnet mit dem UBS-Habilitationspreis 2010 der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich Around 1800, the

198 99 3MB

German Pages 411 [412] Year 2012

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Table of contents :
Einleitung
Teil I. Die Geschwisterbeziehung
1. »Ideen-Ordnung«: Dispositionen
1.1 Das Skandalon der Antigone
1.2 Die Ordnung der Familie: familiale Struktur und kulturelle Kontingenz
1.3 Vertikale und Horizontale
1.4 Existenzweisen von Geschwisterbeziehungen und die symbolische Ordnung
1.5 Geschwisterpaare und Geschlecht
1.6 Am Nullpunkt der Kultur: Inzestdiskurse
2. »Jetzo regieren Diskurse«: Konstellationen der Horizontalen um 1800
2.1 »Eigentlich, weiter, figürlich«: Enzyklopädie der Beziehungsbegriffe
2.2 Eigentliches: Konstellationen leiblicher Geschwisterbeziehungen
2.2.1 Literarische Bruder-Schwester-Szenographie
2.2.2 Soziale Handlungspraxen: endogame Heiratspraxis, Vetterleswirtschaft
2.2.3 Bürgerliche Familienvorstellungen: Geschwisterbriefe
2.3 Eigentliches versus Weiteres: Diskurs-Schnittstellen zwischen Familie und Gesellschaft
2.3.1 Ausschluss von Sexualität: Empfindsamkeit
2.3.2 Einschluss von Sexualität: Inzestdiskurse
2.3.3 Das Modell Antigone: Hegel als Theoretiker der Horizontalen
2.4 Weiteres: institutionelle Geschwisterschaft und Freundschaft
2.4.1 Geheime Gesellschaften und ihre Literarisierung
2.4.2 Die Parole der fraternité und die illuminatische Verschwörungsthese
2.4.3 Die herrnhutischen Brüder und Schwestern
2.4.4 Freundschaft und Geschwisterschaft
2.5 Figürliches: imaginäre Geschwisterschaften
2.5.1 Primärerzählungen: Mythen und Märchen
2.5.2 Figurationen des kulturellen Imaginären: Spiegelung, Selbstverdoppelung, Androgynie
Teil II. Das Geschwisterdispositiv der Unsichtbaren Loge
Einführung
1. Geschwistergenese auf drei Ebenen
1.1 »Auf zwei Füße gestellte Schafe«: institutionelle Geschwisterschaft
1.2 »Sogar bis auf die Haare«: leiblich-materielle Geschwisterbeziehung
1.3 »Sein Schwesterchen, das mit ihm gespielet«: seelisch-imaginäre Geschwisterbeziehung
2. Liebe und Geschwister
2.1 »Herüber und hinüber«: Goethes Geschwister als Intertext zur Loge
2.2 »Ich bin ja dein Bruder nicht«: Geschwistersubtext der Loge
2.2.1 »Guido-Bilderstürmerei«: Verliebung
2.2.2 »Rolle und Geschichte«: Verwirrung
2.2.3 »Das verschwisterte Herz, nach dem wir uns sehnen«: Versöhnung
3. Freundschaft und institutionelle Geschwisterschaft
3.1. Die Verhandlungen um Freundschaft und Geschwisterschaft
3.1.1 »Bruder« Henriette: Jacobis Woldemarals Intertext zur Loge .
3.1.2 »Herzensmilchbrüder«: Freundschaften in der Loge
3.1.2.1 »Glückseligkeits-Triangel« im Geschwistermodus: Amandus, Gustav und Beata
3.1.2.2 Maximale Extension von Freundschaft: das »humoristische Quecksilber« Fenk
3.2 Eine »Titel-Sonderbarkeit«: die vierfache Spur der unsichtbaren Loge im Text
4. Schriftgeschwister
4.1 Der erzählte Text: Stückwerk, Werk und Wirkung
4.2 Genealogie der Schriftschwester: Pfand, Bruchstück und Bücherleim
4.3 Rückversicherung: membra disiecta des Osiris und Isis-Energie
Teil III. Die Geschwistersemiose in Hesperus, Titan und den Flegeljahren
Einführung
1. Genese - Genealogie der Geschwisterfigurationen
1.1 Biologisierung von Geschwisterbeziehungen im Hesperus
1.2 Geschwisterproliferation im Titan
1.3 Geschwisterkonkretisation in den Flegeljahren
2. Liebe und Geschwister
2.1 Blut-Schrift und Variation der inzestuösen Situation im Hesperus
2.2 Finales Erzählen der Geschwisterisotopie im Titan
2.3 Schwesterlose Liebe in den Flegeljahren
3. Freundschaft und institutionelle Geschwisterschaft
3.1 Jugendfreundschaft und Biologisierung der Parole der fraternité im Hesperus
3.2 Enttäuschtes Freundschaftsideal und der geheime Bund der Monarchisten im Titan
3.3 Der Bruder als Freund und der Bund der Akzessit-Erben in den Flegeljahren
4. Geschwister-Poetologien
4.1 Verschiebungen und Verabschiedung der Schriftschwester in Hesperus, Quintus Fixlein und Siebenkäs
4.2 Schrift-Zwillinge 1: »Die Doppeltgänger«
4.3 Schrift-Zwillinge 2: Flegeljahre
Schluss
Bibliographie
Jean Paul-Ausgaben
Andere Literatur
Register
1. Personenregister
2. Werkregister
2.1 Jean Paul
2.2 Andere Literatur
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Geschwister: Ein Dispositiv bei Jean Paul und um 1800
 9783110278538, 9783110278378

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart und Martina Wagner-Egelhaaf

Band 198

Franziska Frei Gerlach

Geschwister Ein Dispositiv bei Jean Paul und um 1800

De Gruyter

Die vorliegende Studie ist vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert und mit dem UBSHabilitationspreis 2011 der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich ausgezeichnet worden.

ISBN 978-3-027837-8 e-ISBN 978-3-027853-8 ISSN 0081-7236

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book is available from the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

TEIL I Die Geschwisterbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

1. »Ideen-Ordnung«: Dispositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Das Skandalon der Antigone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Ordnung der Familie: familiale Struktur und kulturelle Kontingenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Vertikale und Horizontale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Existenzweisen von Geschwisterbeziehungen und die symbolische Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Geschwisterpaare und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Am Nullpunkt der Kultur: Inzestdiskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19 19 22 28 39 47 50

2. »Jetzo regieren Diskurse«: Konstellationen der Horizontalen um 1800 . . . 58 2.1 »Eigentlich, weiter, figürlich«: Enzyklopädie der Beziehungsbegriffe . . 60 2.2 Eigentliches: Konstellationen leiblicher Geschwisterbeziehungen . . . 66 2.2.1 Literarische Bruder-Schwester-Szenographie . . . . . . . . . . . . . 67 2.2.2 Soziale Handlungspraxen: endogame Heiratspraxis, Vetterleswirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2.2.3 Bürgerliche Familienvorstellungen: Geschwisterbriefe . . . . . . 73 2.3 Eigentliches versus Weiteres: Diskurs-Schnittstellen zwischen Familie und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2.3.1 Ausschluss von Sexualität: Empfindsamkeit . . . . . . . . . . . . . 78 2.3.2 Einschluss von Sexualität: Inzestdiskurse . . . . . . . . . . . . . . . 82 Naturrechtlich-utilitaristische Argumentation 82 – Strafrechtliche Argumentation 85 – Literarische Inzestdiskurse 89

2.3.3

Das Modell Antigone: Hegel als Theoretiker der Horizontalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2.4 Weiteres: institutionelle Geschwisterschaft und Freundschaft . . . . . . 99 2.4.1 Geheime Gesellschaften und ihre Literarisierung . . . . . . . . . . 99 2.4.2 Die Parole der fraternité und die illuminatische Verschwörungsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2.4.3 Die herrnhutischen Brüder und Schwestern . . . . . . . . . . . . . . . 111 V

2.4.4 Freundschaft und Geschwisterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Figürliches: imaginäre Geschwisterschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Primärerzählungen: Mythen und Märchen . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Figurationen des kulturellen Imaginären: Spiegelung, Selbstverdoppelung, Androgynie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

114 124 125 128

TEIL II Das Geschwisterdispositiv der Unsichtbaren Loge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 1. Geschwistergenese auf drei Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 »Auf zwei Füße gestellte Schafe«: institutionelle Geschwisterschaft . . 1.2 »Sogar bis auf die Haare«: leiblich-materielle Geschwisterbeziehung . . 1.3 »Sein Schwesterchen, das mit ihm gespielet«: seelisch-imaginäre Geschwisterbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

142 146 151 159

Schwesterrolle 161 – Geschwisterspiel 162 – Erträumte Schwester, mit einem Ausblick auf Novalis’ »Ofterdingen« 166

2. Liebe und Geschwister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 »Herüber und hinüber«: Goethes Geschwister als Intertext zur Loge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 »Ich bin ja dein Bruder nicht«: Geschwistersubtext der Loge . . . . . . . 2.2.1 »Guido-Bilderstürmerei«: Verliebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 »Rolle und Geschichte«: Verwirrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 »Das verschwisterte Herz, nach dem wir uns sehnen«: Versöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Freundschaft und institutionelle Geschwisterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Die Verhandlungen um Freundschaft und Geschwisterschaft . . . . . . 3.1.1 »Bruder« Henriette: Jacobis Woldemar als Intertext zur Loge . 3.1.2 »Herzensmilchbrüder«: Freundschaften in der Loge . . . . . . . . 3.1.2.1 »Glückseligkeits-Triangel« im Geschwistermodus: Amandus, Gustav und Beata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.2 Maximale Extension von Freundschaft: das »humoristische Quecksilber« Fenk . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Eine »Titel-Sonderbarkeit«: die vierfache Spur der unsichtbaren Loge im Text. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

176 177 184 185 192 200 207 209 213 223 227 233 236

Höhere Beziehungen 238 – Geheime Gesellschaften 240 – Gesellschaftskritik 244 – Spurensicherung 248 – Vierfacher Schriftsinn 248

4. Schriftgeschwister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 4.1 Der erzählte Text: Stückwerk, Werk und Wirkung . . . . . . . . . . . . . . 256 4.2 Genealogie der Schriftschwester: Pfand, Bruchstück und Bücherleim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 4.3 Rückversicherung: membra disiecta des Osiris und Isis-Energie . . . . . 266 VI

TEIL III Die Geschwistersemiose in Hesperus, Titan und den Flegeljahren . . . . . . . . . . 271 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 1. Genese – Genealogie der Geschwisterfigurationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Biologisierung von Geschwisterbeziehungen im Hesperus . . . . . . . . . . 1.2 Geschwisterproliferation im Titan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Geschwisterkonkretisation in den Flegeljahren . . . . . . . . . . . . . . . . . .

283 283 290 299

2. Liebe und Geschwister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 2.1 Blut-Schrift und Variation der inzestuösen Situation im Hesperus . . . 306 2.2 Finales Erzählen der Geschwisterisotopie im Titan . . . . . . . . . . . . . . 310 Liane 310 – Linda 313 – Idoine 317

2.3 Schwesterlose Liebe in den Flegeljahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 3. Freundschaft und institutionelle Geschwisterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Jugendfreundschaft und Biologisierung der Parole der fraternité im Hesperus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Enttäuschtes Freundschaftsideal und der geheime Bund der Monarchisten im Titan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Der Bruder als Freund und der Bund der Akzessit-Erben in den Flegeljahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

324

4. Geschwister-Poetologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Verschiebungen und Verabschiedung der Schriftschwester in Hesperus, Quintus Fixlein und Siebenkäs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Schrift-Zwillinge 1: »Die Doppeltgänger« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Schrift-Zwillinge 2: Flegeljahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

346

324 329 339

348 351 355

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Jean Paul-Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Andere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Jean Paul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Andere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

399 399 401 401 402

VII

Einleitung

Obgleich durch jedes neue große System eine gewisse Einseitigkeit des Blicks in alle Köpfe kommt – zumal da jeder kalte Philosoph gerade desto einseitiger ist, je einsichtiger er ist –, so verschlägts doch nichts; denn große Wahrheit-Barren gehen nur durch das gemeinschaftliche Wühlen des ganzen Denker-Gewerks hervor. (I/1,800f.)1

Geschwister sind um 1800 omnipräsent: Sie finden sich im realen Leben, in Diskursen des Wissens, im politischen Handeln, in literarischen Texten, in Figurationen des kulturellen Imaginären, in der psychischen Organisation und als Element der symbolischen Ordnung. Der Blick der Forschenden darauf ist bisher partikular gewesen, denn Geschwister besetzen Felder, die in herkömmlichen Forschungsperspektiven nicht miteinander in Beziehung gesetzt worden sind. Das will die vorliegende Studie mit einer detaillierten Aufarbeitung kulturhistorischer Konstellationen von Geschwistern ändern, die bisher vorliegende Forschungsergebnisse in einen systematischen Zusammenhang stellt und durch neue Erkenntnisse ergänzt.

1

Ich zitiere Jean Paul wie in der Forschung üblich nach der auf den Berendschen Sämtlichen Werken (1927ff.) beruhenden Werkausgabe von Miller (in der Lizenzausgabe von 1996), mit Nennung von Abteilung/Band,Seitenzahl im Text. Berend und Miller haben Ausgaben letzter Hand vorgelegt und damit bei der Loge die zweite Auflage von 1822, beim Hesperus die dritte Auflage von 1819 zu Grunde gelegt. Der Titan und die Flegeljahre folgen den zu Lebzeiten einzigen Auflagen von 1800-03 respektive 1804/05. Die auffälligste Differenz bei der Loge und dem Hesperus zu den früheren Auflagen ist die formale Bearbeitung, insbesondere die »Ausrottung falscher Genitiv-S und Ungs«, (I/1,15) was beim Hesperus aus den titelgebenden und den Text einteilenden »Hundsposttagen« von 1795 und 1798 in der Ausgabe von 1819 »Hundposttage« machte, (vgl. I/1,477) wie sie in der Jean Paul-Rezeption seither heißen. Mit der neuen historisch-kritischen Ausgabe, von der inzwischen der Pilotband zum Hesperus vorliegt, wird sich die Zitierweise bei Jean Paul künftig ändern. Da derzeit aber erst die Textausgabe des Hesperus vorliegt – der Kommentarband wird in »überschaubarem zeitlichen Abstand« folgen (HKA I/1,XIII) – und um die Kohärenz der Jean Paul-Zitate dieser Arbeit zu gewährleisten, zitiere ich nach Miller und vermerke relevante inhaltliche Veränderungen zu den ersten Auflagen in den Fußnoten. Bei der Loge erfolgt dies nach der synoptischen Ausgabe von Pauler 1981, beim Hesperus nach der neuen HKA von 2009, die die Fassungen von 1795 und 1798 synoptisch darstellt und diejenige von 1819 in den Fußnoten mitführt. Zu den beiden Fassungen der Loge vgl. Golz 2002, zu den drei Fassungen des Hesperus vgl. die Einleitungen von Pfotenhauer und Hunfeld in die HKA 2009, die Werkstattberichte zur Edition von Pfotenhauer et al. 2008 und Hunfeld 2006 sowie die Bezugnahme darauf in dieser Studie Teil III, Einleitung.

1

Geschwisterverhältnisse aus unterschiedlichen Kontexten präsentieren sich im Ergebnis dieser Zusammenschau als eine »komplex[e] strategisch[e] Situation«, die ich mit Foucault ein »Dispositiv« nennen will.2 Gezeigt werden soll, wie sich um 1800 ein Geschwisterdispositiv formiert und in literarischen Texten Jean Pauls und seiner Zeitgenossen produktiv ist. Wenn das Geschwisterdispositiv als ein »große[s] System« um 1800 auch nicht wie bei Jean Paul »in alle Köpfe« kommen kann,3 so soll es dafür den Leserinnen und Lesern dieser Seiten »desto [...] einsichtiger« werden. Dass dies im »DenkerGewerks«4 bisher noch nicht zum Wissensstand gehört, liegt nur zum Teil an der Partikularität wissenschaftlicher Wahrnehmung von Geschwisterphänomenen. Der andere Grund dafür liegt – wahrnehmungspsychologisch gesprochen – tiefer. Geschwister sind Ausdruck einer horizontalen Strukturierung von Welt, ein Vektor der Macht, für den in einer vertikal orientierten Wahrnehmungstradition erst der Blick geschärft werden muss. In diesem Sinne plädiert die vorliegende Arbeit für einen Perspektivenwechsel oder mit Jean Paul »eine gewisse Einseitigkeit des Blicks«, (I/1,800) um die Horizontale in ihren Ausprägungen, Wirkungen und vor allem ihrer literarischen Produktivität sichtbar zu machen. Die Stoßrichtung dieser Studie verläuft darum auf drei Ebenen. Es gilt erstens eine systematische Grundlage zu gewinnen und die Geschwisterbeziehung strukturell zu beschreiben und zu verorten: Was macht das Spezifische der Geschwisterbeziehung in den Ordnungen des Wissens, den Existenzweisen sozialer Beziehungen und in der individuellen psychosozialen Entwicklung aus? Und wie werden Geschwister im Spannungsfeld von Biologie und Kultur verortet? Wie kommt es, dass Geschwister primär als ein Bruder-Schwester-Paar wahrgenommen werden und inwiefern ist die Kategorie Geschlecht von Relevanz? Und was genau verhandeln Inzestdiskurse an Geschwistern? Die aus der strukturellen Verortung der Geschwisterbeziehung gewonnenen Parameter liefern eine Beschreibungsmatrix

2 3

4

2

Foucault 1983, S. 114, 35, vgl. ausf. dazu weiter unten. Schließlich hat Jean Paul bei seinem »Registe[r]«-Eintrag in dieser Digression des Hesperus Kant und die dem epochalen philosophischen Entwurf nachfolgenden »Käntchen« im – satirischen – Blick. (I/1,796,800) In den Auflagen von 1795 und 1798 heißt es im zitierten Eintrag unter »P« wie »Philosophie« des Hesperus statt »Denker-Gewerks« noch »Denker-Personale« und »WahrheitsEvolutionen« statt »Wahrheit-Barren«, vgl. HKA I/II,136,138/137,139. Signifi kant daran ist, dass beide Bearbeitungen von 1819 semantisch die Horizontale stärken: Der Begriff des »Gewerks« verweist auf den schon zeitgenössischen und in Jean Pauls Sprachgebrauch vorhandenen Begriff der Gewerkschaft, und der »Barren« markiert etwa in der ganz auf die Vertikalität ausgerichteten – ebenfalls zeitgenössischen – Tanzsprache des Balletts die horizontale Übungsstange oder ganz allgemein: einen Querbalken. Vgl. zur historischen Semantik von ›Gewerkschaft‹ den Art. bei Grimm, Bd. IV,I,3, Sp. 5660ff. der die Begriffsentwicklung zum »heutigen [der Band wurde 1911 verlegt, F.F.G.] socialpolitischen terminus eines arbeiterverbandes« (Sp. 5664) aus der Bergbausprache im 17. und 18. Jahrhundert nachweist.

für ein nahezu universell einsetzbares Strukturierungsprinzip – wie es in der Wissenschaftssprache schon für andere Termini von Verwandtschaft, insbesondere die Position des Vaters, erprobt worden ist.5 Als Leiterzählung der »Ideen-Ordnung« (I/5,435) über die Geschwisterbeziehung dient das Antigone-Narrativ. Zweitens gilt es eine kulturhistorische Basis zu legen und die vielfältigen Repräsentationen von Geschwistern in der Zeit um 1800 zu fokussieren und in einen systematischen Zusammenhang zu stellen. Wie sind die Geschwisterbegriffe um 1800 semantisch gefüllt? Wie wurden Geschwisterbeziehungen damals erlebt und debattiert? Und woraus speist sich die offensichtliche Validierung des Geschwisters? Ausgehend von der signifikanten Häufung von geschwisterlichen Inzestnarrativen in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts wird des weiteren gefragt, welche innerliterarischen Entwicklungen, welches kulturelle Wissen und welche sozialen Energien diese Kumulation ermöglicht haben. Und wie ist es zu erklären, dass sich das sexualitätsferne empfindsame Liebesideal mit der produktiven Macht des Inzesttabus verbindet? Ein weiterer Kreis von Fragen bezieht sich auf die Verwendungsweisen von Geschwisterbezeichnungen, die nicht auf ›leibliche‹, sondern ›geistliche‹ Verwandtschaft referieren.6 Was genau heißt es, wenn sich Freunde um 1800 gegenseitig als Brüder bezeichnen? Wie hängt die fraternalistische Struktur von geistlichen Geschwisterschaften oder den Arkangesellschaften mit dem zeitgenössischen Verständnis von Geschwisterbeziehungen zusammen? Welche Implikationen des Politischen lassen sich dabei eruieren, etwa im Hinblick auf den Republikanismus und die Parole der fraternité? Und schließlich: Welche um 1800 relevanten Primärerzählungen aus dem kulturellen Gedächtnis und welche Figurationen des kulturellen Imaginären beziehen sich auf Geschwisterliches? Als Ordnungsprinzip dient dem Kapitel über Diskursregimes die zeitgenössische Differenzierung in eine ›eigentliche‹, ›weitere‹ und ›figürliche‹ Begriffsverwendung, die leibliche Verwandtschaft von institutionellen Organisationen und Figurationen des kulturellen Imaginären scheidet.7 Beide Untersuchungsperspektiven zusammen, die strukturelle und die kulturhistorische, machen den ersten Teil dieser Studie aus, der unter dem Titel »Die Geschwisterbeziehung« die konzeptionellen, begrifflichen und kulturhistorischen Voraussetzungen für die Textlektüren bereitstellt.

5

6

7

Vgl. grundsätzlich zu Verwandtschaftsbezeichnungen als basale Ordnungsprinzipien Lévi-Strauss 1993, Jussen 2001, und zur Konzeptualisierung der Vaterposition Lacan 1973b. Geistliche Verwandtschaft ist ein spezifisch christlich-europäisches Phänomen, das im Frühmittelalter greifbar wird, und meint eine über die Taufe gestiftete spirituelle Verwandtschaft, die beispielsweise bei den Ehehindernissen der Bluts- und Heiratsverwandtschaft gleichgestellt war. Vgl. Gestrich/Krause/Mitterauer 2003, S.186ff, Mitterauer 2009. Vgl. Adelung 1990 (1793–1801), Art. Bruder, Bd. 1, Sp. 1215f. Auch der Begriff der institutionellen Bruderschaft ist zeitgenössisch, die Differenzbestimmung ›naturelle‹ versus ›institutionelle‹ findet sich unter dem Stichwort der »fraternité« im jesuitischen Dictionnaire de Trévoux von 1771, vgl. David 1987, S. 18ff.

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Der größte Teil der Arbeit widmet sich dann in detaillierten Lektüren der Formierung und den Semiosen des Geschwisterdispositivs bei Jean Paul. Geschwister sind in Jean Pauls Texten ein großes, in der Forschung darüber aber bisher kein Thema. Mit Ausnahme der Flegeljahre (1804/5), in denen die Hauptfiguren Zwillingsbrüder sind, kommen Geschwister als solche in der Jean Paul-Forschung bisher überhaupt nicht vor. Und selbst die Flegeljahre-Brüder werden meist als Effekt anderer Figurationen gelesen, etwa der Freundschaft, der Doppelgängerschaft oder der für Jean Paul typischen Doppelschreibweise,8 mit denen sie zwar in Beziehung stehen, über die sie aber durch das Spezifische ihres Geschwisterverhältnisses auch hinausweisen. Dieses Spezifische der Geschwister führt nicht nur bei den Flegeljahren zu neuen Erkenntnissen, sondern eröffnet vor allem auch neue Perspektiven auf die ›hohen Romane‹ Jean Pauls,9 seinen ersten publizierten Roman die Loge (1793), den Erfolgsroman Hesperus (1795) und seinen »Kardinal- und Kapitalroman« Titan (1800-03). (SWIII/2,110)10 Als paradigmatischer erster Text für die Formierung des Geschwisterdispositivs bei Jean Paul fungiert in dieser Studie Die unsichtbare Loge. Das mag verblüffen, denn im Zentrum der Loge steht ein Einzelkind, das auch noch einem separatistischen Erziehexperiment unterzogen und acht Jahre abgeschottet von seiner sozialen Umwelt in einer Höhle erzogen wird. Doch gerade weil hier keine leiblichen Geschwisterverhältnisse vorliegen, lässt sich in der Loge die Genese der Geschwisterbeziehungen besonders eindrücklich nachvollziehen: Denn die narrativen Strategien, die aus dieser Anfangskonstellation zur horizontalen Organisation drängen, zeigen sich dabei umso effektiver und machen die Geschwisterverhältnisse als performativ hergestellte lesbar. In der Loge formiert sich – so die These dieser Studie – mit beträchtlichem erzählerischen Aufwand, über überraschende metonymische und metaphorische Verknüpfungen sowie durch Inferenzen aus verschiedenen zeitgenössischen und kulturhistorischen Kontexten ein Geschwisterdispositiv, das seine Wirksamkeit im Text mehrdimensional entfaltet. Insbesondere generieren sich um die Hauptfigur Gustav drei Ebenen von Geschwisterverhältnissen, die das Einzelkind ins Zentrum der geschwisterlichen Horizontale stellen: eine über parodistische Hinweise gestaltete aber in der zentralen Epistemologie des hohen Menschen ironiefrei wirksame institutionelle Geschwisterschaft, eine über ein Spiel der Zeichen gestiftete leiblich-materielle Geschwisterbeziehung zu einem medialen Doppelgänger und eine imaginäre Beziehung zu einer Seelenschwester, die Gustavs Beziehungsfähigkeit zum anderen Geschlecht bestimmt.

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Jean Paul entwickelt von der Loge an einen Doppelstil zwischen empfindsamer und satirischer Schreibweise, der zu seinem Markenzeichen wird. Vgl. ausf. dazu Teil II, Kap 1.2, 4.2. Vgl. zu Jean Pauls Romantypologie I/5,253ff. sowie weiter unten. Nachweise nach der Ausgabe der Sämtlichen Werke von Berend erscheinen im Text wie in der Forschung üblich mit dem Kürzel SW und der Nennung von Abteilung/ Band,Seite.

Der Erkenntnisgewinn, den die systematische Erarbeitung des Geschwisterdispositivs der Loge bringt, bezieht sich nicht nur auf die narrative Struktur dieses Textes, sondern bedeutet auch eine andere Sichtweise auf Kernfragen der Jean Paul-Forschung. Denn es wird zu zeigen sein, dass sich in Jean Pauls erstem publizierten Roman eine Vielzahl von Themen und ästhetischen Verfahren, die der Jean Paul-Forschung in weitgehender Übereinstimmung als die zentralen gelten, im Rahmen von Geschwisterstrukturen formieren: So rekurrieren auf Figurenebene die Verhandlungen um individuelle Emotionen und soziale Beziehungen, um Freundschaft, Geschlecht und Geschlechterdifferenz sowie um Gesellschaftskritik und politische Reformpläne auf Geschwisterverhältnisse. Geschwisterlich verortet sind auch die Jean Paul sein Leben lang begleitenden Fragen um das commercium mentis et corporis, um die Spannung menschlicher Existenz zwischen erster und zweiter Welt, darüber hinaus nach Original und Kopie, Selbstrepräsentation und Verdoppelung sowie nach Identität und Alterität. Schließlich stehen in der Loge auch poetologische Fragen nach Fragment, Digression und Werk sowie nach dem Verhältnis von satirischer und erhabener Schreibweise – diesem unverkennbaren Markenzeichen Jean Pauls – im Kontext der Geschwisterbeziehung. Aus den Verbindungslinien zu den im kulturhistorischen Teil bereitgestellten Konstellationen der Horizontalen um 1800 und im intertextuellen Verweisungszusammenhang zu Texten von Goethe, Schiller, Jacobi und Novalis soll evident werden, dass Jean Paul in Sachen Geschwister zwar besonders erfi ndungsreich und nachgerade persistent ist, es sich dabei aber grundsätzlich um eine allgemeine und keine singuläre Disposition handelt. Im Einzelnen folgen die in Teil zwei dargestellten Lektüren der Loge den Spuren der Geschwistergenese um Gustavs ›zweite Geburt‹ – seine »Auferstehung« aus der Höhle (I/1,62) –, den Friktionen von Liebe und Geschwistern, den Verhandlungen um Freundschaft, Arkangesellschaften und Geschwisterschaften sowie den auf Geschwisterstrukturen referierenden poetologischen Reflexionen. Der dritte Teil dieser Studie widmet sich dann unter demselben Frageraster den Semiosen, die das Geschwisterdispositiv von der Loge aus über den Hesperus zum Titan und zu den Flegeljahren durchläuft und kommt zu überraschenden Ergebnissen: Obwohl hier Geschwisterbeziehungen den Gang der Narration zunehmend auch auf der Textoberfläche bestimmen, findet eine Verflachung und Entdifferenzierung des in der Loge komplex strukturierten und aufwendig hergestellten Geschwisterdispositivs statt. Denn ab dem Hesperus beziehen Geschwisterverhältnisse ihre Intelligibilität vorrangig über biologische Erklärungsmuster und insbesondere in den hohen Romanen dreht sich der Plot um die Frage der rechten Genealogie. Damit rücken in Hesperus und Titan auf der Ebene der verwandtschaftlichen Beziehungen vertikale Strukturen in den Vordergrund und versprechen einiges an Konfliktpotenzial zur Ausgangsthese der Loge: Wie werden vertikale und horizontale Orientierungen nun gegeneinander positioniert? Welche Themenstränge werden aus dem Geschwisterdispositiv gelöst und unter welchen Gesichtspunkten werden gewisse davon wieder darauf hin zurückgeführt? Und auf welchen Ebenen des Ge5

schwisterdispositivs spielt der in »Wechselschreiberei« (SWIII/4,129) mit dem Titan verfasste Roman über die Flegeljahre-Brüder? Komplettiert wird die Jean-Paul’sche Stil-Trilogie, von der mit den drei hohen Romanen und den Flegeljahren als Prototyp der ›mittleren‹ Stillage schon zwei Klassen genannt sind, mit dem Einbezug der im Umfeld des Titan angesiedelten ›niederen oder niederländischen‹ Texten Das heimliche Klaglied der jetzigen Männer (1801) und der Miniatur »Die Doppeltgänger« (1800).11 Räumt ersteres auch die letzten Zweifel an Jean Pauls Umgang mit der zeitgenössischen intertextuellen Szenographie der inzestuösen Situation aus, so erhellen »Die Doppeltgänger« die Interdependenzen zwischen der gleichnamigen und von Jean Paul nachhaltig geprägten literarischen Figuration und ihrem lebensweltlichen Pendant der Zwillinge. Punktuell beigezogen werden auch der Siebenkäs (1796/7), Quintus Fixlein (1796) sowie weitere literarische Texte Jean Pauls, Quellen und Briefzeugnisse und natürlich die theoretischen Reflexionen, insbesondere die Vorschule der Ästhetik (1804). Das mehrdimensionale Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung erfordert eine entsprechende methodische Breite. So basieren die strukturellen Überlegungen zur Geschwisterbeziehung neben der strukturalen Anthropologie und ihrer poststrukturalistischen Fortschreibung im Zeichen der Performativität auch auf Erkenntnissen der psychoanalytischen Theoriebildung sowie der Gender Studies. Die kulturhistorische Fragestellung verfährt in erster Linie diskursanalytisch, wobei sowohl einzelne Diskurse des Wissens befragt werden als auch mit Greenblatt in einem unspezifischeren Sinn nach der Zirkulation sozialer Energien und deren Kondensierung in Texten gefragt wird.12 Dabei wird dem literarischen Text stets ein Primat gegenüber anderen Texten der Kultur zugestanden, so dass die Fragestellungen durchgängig darauf zugeschnitten sind, in Erfahrung zu bringen, welche Wirkungsweisen das isolierte Wissen über die einzelnen Ebenen des Geschwisterdispositivs in literarischen Texten entfaltet. In den Analysen der literarischen Texte selbst erfolgt dann eine Kombination von textsemiotischen und diskurshistorischen Verfahren. Anliegen ist, sowohl die Struktur und ästhetische Organisation einzelner Textpassagen in einer Mikroanalyse als auch in einer Makroperspektive Interaktionen mit anderen kulturellen Teilsystemen zu untersuchen. Dabei bildet Umberto Ecos Lector in fabula (1979) eine wichtige Referenztheorie für das textsemiotische Instrumentarium. Eco bietet sich für die Arbeit bei Jean Paul besonders darum an, da er sein Modell der Interaktion von intensionalen und extensionalen Ebenen an jener Sparte literarischer Texte

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Jean Paul unterscheidet in seinem Paragraphen 72 der Vorschule den »poetische[n] Geist in den drei Schulen der Romanenmaterie, der italienischen, der deutschen und niederländischen«, wobei sich die »erste Klasse« durch eine hohe Stillage, die zweite durch eine mittlere und die dritte durch »komische oder auch ernste Vertiefung« auszeichnet. (I/5,253ff.) Vgl. ausf. zur Stil-Trilogie Einführung in Teil III. Vgl. Greenblatt 1993 sowie die Spezifizierungen dazu in Teil I, Kap. 2.2.1.

gewinnt und vorführt, die ihr Gemachtsein selbst thematisieren.13 Und die autopoetologische Reflexion ist ja ein besonders ausgeprägtes Strukturmerkmal von Jean Paul. Ergänzt wird Ecos am Strukturalismus orientiertes Konzept durch eine dezidiert historische Kontextualisierung mit den entsprechenden diskurshistorischen und kulturwissenschaftlichen Verfahren.14 Die vorliegende Untersuchung mit ihrem mehrschichtigen Verfahren ist notwendigerweise komplex angelegt: Auf verschiedenen Ebenen werden Teilergebnisse erzielt und in eine neue Forschungsthese integriert, um diese in der Lektüre literarischer Texte fruchtbar zu machen. Um die interessierte Leserschaft mit Jean Paul nicht dazu zu verknurren, »die ersten 10 oder 12 Sektores gleichsam als Deklinationen und Konjugationen auswendig zu lernen, weil sie ohne diese nicht im Exponieren fortkomm[t]«, (I/1,89) spannt sich ein Netz von Verweisen zwischen den verschiedenen Argumentationsebenen. Daraus sei im Folgenden ein Faden gezogen, an den als sprichwörtlich roten die wichtigsten Grundannahmen, Thesen und Ergebnisse des grundlegenden ersten Teils und dessen elf Teilkapitel geknüpft sind. Beginnen will ich mit einer Begriffsklärung und mit Giorgio Agamben bei Michel Foucault nachfragen: Was ist ein Dispositiv?15 Foucault umschreibt den von ihm eingeführten Begriff des Dispositivs in einem Gespräch von 1977 als ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann. [...] Eben das ist das Dispositiv: Strategien von Kräfteverhältnissen, die Typen von Wissen stützen und von diesen gestützt werden.

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Vgl. Eco 1987, bes. S. 89. Ecos aus dem Strukturalismus weiter entwickeltes Interpretationsmodell zielt in erster Linie auf die Koreferenzregeln, die das Aktualisieren des Sinnpotenzials eines Textes ermöglichen. Die für eine kulturhistorisch adäquate Situierung des literarischen Textes notwendigen »Umfelder der Aussage« und die zugehörige »Enzyklopädie« werden zwar als Kategorien bereitgestellt, sind aber nur in Teilbereichen (z.B. dem für die vorliegende Arbeit fruchtbar gemachten Bereich der »allgemeinen« und »intertextuellen Szenographien«) ausgeführt, und müssen darum durch eine kulturhistorische Fragerichtung ergänzt werden. Zu Ecos Begrifflichkeiten vgl. ebd., S. 89ff. In seinem kürzlich erschienenen Essay Was ist ein Dispositiv? betont Agamben die Wichtigkeit des Begriffs für Foucaults Denken und erweitert die schon bei Foucault umfangreiche Kategorie nochmals auf »alles, was irgendwie imstande ist, die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern.« Konkret aktiviert Agamben dann jedoch vor allem die militärische Isotopie und befindet sich in seiner Gegenwartsanalyse im wiederholten »Nahkampf« mit einer »gigantischen Anhäufung und Wucherung von Dispositiven«, deren ungeliebtestes Mobiltelefon heißt. Vgl. Agamben 2008, S. 26, 29, 33, 29.

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Das Dispositiv ist also ein offen gehaltener Begriff für eine Formation von Aussagen, Kräften und Wissensstrukturen, die eine strategische Funktion hat. Gemäß Foucault hat ihn der Begriff des Dispositivs aus jener »Sackgasse« geführt, in die er mit seinem Begriff der Episteme in Die Ordnung der Dinge (frz. 1966) geraten war.16 Im Unterschied zur Episteme subsumiert das Dispositiv nicht nur »Gesagtes«, sondern auch »Ungesagtes«, und damit beispielsweise auch psychische Dispositionen oder Handlungsweisen, die sich nicht diskursiv ›artikulieren‹.17 Erstmals taucht der Begriff bei Foucault als ein Nebenbegriff seiner Untersuchung der Sexualität in Der Wille zum Wissen (frz. 1976) auf, um sein Verständnis von Macht als einem »Name[n], den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt« zu verdeutlichen.18 Der Begriff des Dispositivs ist also mit zwei anderen zentralen foucaultschen Kategorien verknüpft, dem Wissen und der Macht. Das Dispositiv ist immer »in ein Spiel der Macht eingeschrieben« und strukturiert damit seinerseits Machtverhältnisse mit.19 Foucault stellt die »Einheit des Dispositivs« der Macht vertikal dar: »Die Macht […] vollzieht sich auf allen Ebenen in gleicher Weise. Von oben bis unten, […] vom Staat bis zur Familie, vom Fürsten bis zum Vater«.20 Doch seine Begriffsfassung, die Macht weder intentional noch repressiv, sondern nominalistisch denkt, erlaubt es, den Begriff des Dispositivs auch horizontal zu konzipieren. In diesem Sinne verstehe ich den Komplex der Geschwisterschaft als ein horizontal strukturiertes Dispositiv, das um 1800 ein alternatives und produktives Dispositiv der Macht ist. Die Struktur der Familie bildet ein Symbolsystem grundlegender Art, lautet eine der Grundthesen der strukturalen Anthropologie. Wenn auch »elementare Strukturen der Verwandtschaft«21 angesichts der kulturellen Kontingenz familiärer Ordnungen nicht aufgefunden werden können, so lässt sich doch sagen, dass Familienstrukturen als erstaunlich kontingenzresistente und elementar semantische Paradigmen fungieren, mit denen Beziehungen aller Art beschrieben werden. Um 1800 stellt die Geschwisterbeziehung eine besonders intelligible Struktur dar, um soziale Beziehungen zu beschreiben. Das hat verschiedene Gründe.

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Foucault 1978, S.119f., 123. Darüber, ob Nicht-Diskursives ›gefasst werden kann‹, diskutiert Foucault 1977 mit Psychoanalytikern und sucht den Einwand, dass die von ihm als Beispiel des Nicht-Diskursiven vorgebrachten Institutionen doch diskursiv seien, so zu entschärfen, als es ihm beim Begriff des Dispositivs im Unterschied zur Episteme um etwas geht, was einerseits heterogener und andererseits allgemeiner ist: Die Episteme wäre demgemäß »ein spezifisch diskursives Dispositiv«. Vgl. Foucault 1978, S. 122ff. Foucault 1983, S. 114. Als ungewohnter Begriff erschien er den Übersetzern erklärungsbedürftig und sie versahen das erste Auftreten mit der Anmerkung, dass es sich beim französischen dispositif um einen Begriff aus juristischen, medizinischen und militärischen Kontexten handle (S. 35, vgl. auch S. 87, 105). Foucault 1978, S.123. Foucault 1983, S.105. Lévi-Strauss 1993, S. 658.

Die Dynamik der Geschwisterbeziehung entfaltet sich im Spannungsfeld zwischen einer Orientierung an Ähnlichkeit, Nähe, Gleichheit einerseits und der Orientierung an Eigenständigkeit, Abgrenzung, Differenz andererseits: Autonomie und Beziehungsfähigkeit bilden für den bürgerlichen Subjektentwurf das Ziel. Dass an dieser Herausbildung der Persönlichkeit geschwisterliche Strukturen mitwirken, ist ein Wissen, das in Textzeugnissen um 1800 in hohem Maße virulent ist, theoretisch aber erst im ausgehenden 20. Jahrhundert eingeholt wird. Die psychoanalytisch geprägte Geschwisterforschung beschreibt als zentrale Strukturmerkmale: Identitätsversicherung, emotionale Nähe, soziale Kompetenz und intersubjektive Kontinuität. Mit einem Geschwister müssen wir uns auseinandersetzen, wir haben keine Wahl: Die Geschwisterbeziehung ist existenziell gegeben, nicht kündbar, gewöhnlich die längste Beziehung in unserem Leben und in der Verwandtenfamilie bedeutet sie meist auch ein gemeinsames Aufwachsen. Darüber hinaus steht die Geschwisterbeziehung für ein gewisses Maß an – je nach familiärer Ordnung – sozialer und/oder biologischer Egalität.22 Für die symbolische Ordnung um 1800 liefert die zeitgenössische Semantik signifikante Indizien dafür, dass Geschwister als eine egalitäre, horizontal strukturierte und emotional hochgradig positiv besetzte soziale Beziehung von hoher Relevanz konzipiert sind, die im kulturellen Gedächtnis tradierte und in der lebensweltlichen Praxis zweifellos bestehende Rivalitäten narkotisiert oder allenfalls peripher einbegreift.23 Die historische Semantik des Geschwisterbegriffs fördert aber noch einen weiteren bemerkenswerten Punkt zutage: und der betrifft die Kategorie Geschlecht. Gewöhnlich bildet die männliche Form im Deutschen die Basis für Gruppenbezeichnungen, die Frauen ungenannt mitmeinen. Der Begriff ›Geschwister‹ bildet hier eine signifikante Ausnahme: Er basiert wortgeschichtlich auf der weiblichen Form.24 Der für diese Untersuchung zentrale Begriff der Horizontalen hat sich in der historischen Familienforschung etabliert, die eine seit dem 11. Jahrhundert fassbare Tendenz der Horizontalisierung von Verwandtschaft diagnostiziert. Die grundlegende Matrix der familiären Struktur bilden zwei sich kreuzende Achsen: die Vertikale und die Horizontale. Auf der Vertikalen ist die Generationenabfolge von Eltern und Kind, auf der Horizontalen sind die Beziehungen zwischen den Geschwistern und – je nach zugrundeliegendem System – auch diejenigen zwischen Geschwisterkindern, zwischen den Ehegatten und ihren Schwiegerverwandten situiert.25

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Vgl. stellvertretend für die im deutschsprachigen Raum Mitte der 1990er Jahre aufkommende psychoanalytische Geschwisterforschung Ley 1995, Sohni 1999. Vgl. Art. »Bruder«, »Schwester«, »Geschwister« bei Adelung 1990 und Grimm 1854–1960. Vgl. Grimm, Art. »Geschwister«, Bd. 4 (1897), Sp. 4002ff. Vgl. zur Darstellung der Verwandtschaftsgrade in vertikaler und horizontaler Strukturierung Goody 1986, S. 151ff. De facto sind soziale Beziehungen nie nur vertikal oder nur horizontal strukturiert. Analytisch macht es aber Sinn, die Achsen zu isolieren, um die strukturrelevanten Kriterien zu benennen.

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Untersuchungen, die nach der symbolischen Ordnung und der Logik kultureller Phantasmen fragen, kommen mehrheitlich zum Schluss, dass im kulturellen Gedächtnis Europas die Vertikale dominiere, deren Direktiven – um es mit Lacan zu sagen – »[i]m Namen des Vaters« erfolgen:26 In einer vertikal dominierten Kultur und Wahrnehmungstradition fungieren die Ausformungen der Horizontale analytisch vielfach nur als blinder Fleck. Dabei steht im kulturellen Gedächtnis Europas ein alternatives Familiendispositiv bereit, dessen Tragweite bei weitem noch nicht erfasst worden ist: Seit dem 11. Jahrhundert bildet die »Einheit der Geschwistergruppe« die definitorische Achse des Familienleitbildes.27 Dieser Befund der historischen Familienforschung erstaunt, denn in unserem heutigen Begriffsverständnis nehmen wir vor allem die Eltern-Kind-Beziehung und damit die Vertikale als strukturierend wahr. Hier hat ein Paradigmenwechsel von der horizontalen zur vertikalen Tiefenstruktur stattgefunden, den die vorliegende Arbeit mit Freud um 1900 ansetzt und an zwei Reflexionsfiguren für die Ordnung der Familie als einen Wechsel von Antigone zu Ödipus beschreibt. Jüngste Exponenten der Psychoanalyse sind bestrebt, diesen Paradigmenwechsel – allerdings ohne Bezug zur Familie der Labdakiden – wieder rückgängig zu machen und plädieren dafür, die strukturierende Wirkung der Horizontalen in ihrer Wichtigkeit zu erkennen.28 Der postulierte Paradigmenwechsel zur Horizontalen in der psychoanalytischen Geschwisterforschung könnte das vorläufige Ende einer quer zur dominierenden Metaerzählung der Vertikalen liegenden Alternative bezeichnen: eine Metaerzählung der Horizontalen, zu der diese Studie einige Bausteine beitragen will. Ein Anfang dafür lässt sich in der mittelalterlichen Gesellschaftsentwicklung in Europa finden. Diese kann mit Michael Mitterauer als eine Geschichte der Horizontalisierung von Verwandtschaft beschrieben werden, wobei die Bedeutungszunahme genossenschaftlicher Sozialformen in ursächlichem Zusammenhang mit dem spezifisch europäischen Prinzip der ›geistlichen Verwandtschaft‹ steht.29 Im 18. Jahrhundert erreicht dieser Prozess der Horizontalisierung einen Höhepunkt. Dies zeigt sich in der zunehmenden Bedeutung von christlichen und laizistischen Bruder- und teilweise auch Schwesternschaften, wie beispielsweise der Freimauer, der Illuminaten oder der Herrenhuter. Die dort gepflegten Ideologien bestimmen die spezifisch europäische Entwicklung von Herrschaft und Mitbestimmung entscheidend mit. Die Parole der fraternité in der Französischen Revolution ist mit ein Ausdruck davon.30

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Vgl. Lacan 1973b, S. 119. In diesem Sinne diagnostizieren die Dominanz der Vertikalen in der abendländischen Diskursgeschichte beispielsweise für das Geschlechterverhältnis Irigaray 1980 und für das Familienmodell Koschorke 2000. Goody 1986, S. 151f. Vgl. auch Sabean 1998, S. 8f. und ders. 2002. Vgl. Petri 1994, Ley 1995, 2001, Sohni 1999, Klosinski 2000. Vgl. Gestrich/Krause/Mitterauer 2003, S. 186ff., 198, 355ff. Vgl. zur Bedeutung des im Verlauf der Französischen Revolution aufgekommenen Be-

Die von Bayern aus, Jean Pauls geographischem Umfeld, gesamteuropäische Wirksamkeit und insbesondere auch eine enorme literarische Produktivität entfaltende illuminatische Verschwörungsthese gibt Einblicke in zeitgenössische Deutungsmuster über Zusammenhänge zwischen Arkangesellschaften und dem revolutionären Geschehen in Frankreich.31 Die Verortung der Geheimgesellschaften und deren Literarisierung im Geschwisterdispositiv hat unter anderem zur Überprüfung einer literaturwissenschaftlichen Konvention geführt, an der sich exemplarisch die unreflektierte Verallgemeinerung vertikaler Familienstrukturen in Forschungsperspektiven zeigt: Die zentrale Frauenfigur im Geheimbundroman, wie sie prototypisch in Schillers Geisterseher (1787–89) entworfen worden ist, muss strukturbedingt ›Geheimbundschwester‹ und nicht ›Geheimbundtochter‹ heißen.32 Im Vergleich zur Bedeutung des Geheimbundwesens ein Nebenschauplatz, aber für die Horizontalisierung politischer Macht trotzdem bezeichnend ist der Begriff der ›Vetterleswirtschaft‹, der im deutschen Sprachgebrauch etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts relevant wird.33 Geschwister beschäftigen die kollektive Phantasie um 1800 in außergewöhnlichem Maße und bilden auch in der sozialen Praxis ein wichtiges Orientierungsangebot. Dies nicht zuletzt deshalb, weil der Geschwisterbegriff über seine leibliche und institutionelle Verwendungsweise eine Schaltstelle zwischen Familie und Gesellschaft besetzt und wie der Begriff Geschlecht biologisch und kulturell zugleich funktioniert.34 Der für das 18. Jahrhundert typische enge Zusammenhang zwischen politischem Denken und Familienstruktur macht die geschwisterliche Horizontale in humanitär-egalitären Entwürfen zur Umschaltstelle zwischen individuellen und gesellschaftlichen Konzepten.

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griffs der fraternité, der die schon bestehende Binärformel von liberté und égalité zum Terzett erweitert, David 1987, S. 7ff., Antoine 1981, S. 133ff., Borgetto 1997, S.11f. Anders als die beiden schon bestehenden Termini meint fraternité kein Grundrecht, sondern eine moralisch-ethische Haltung in interpersonalen Beziehungen. Die durch Cagliostros angebliche Geständnisse initiierte Verschwörungsthese macht die Arkangesellschaft der Illuminaten zu Drahtziehern der Französischen Revolution und löste im Stammland der Illumination, in Bayern, eine regelrechte Geheimbundhysterie aus. Vgl. Bieberstein 2002. Dass sowohl die soziale Realität der Geheimgesellschaften wie auch die erzählte Welt im Geisterseher von Hierarchien und Ungleichheiten geprägt ist, betrifft die strukturelle Ordnung nicht respektive schließt die beteiligten Bundesbrüder ebenso mit ein: Es ist darum nicht einsichtig, weshalb die weibliche Figur aus der Horizontalen ausgenommen und in einer vertikalen Anordnung gedacht werden soll und widerspricht darüber hinaus auch dem zeitgenössischen Sprachgebrauch. Vgl. ausf. dazu Teil I, Kap. 2.4.1. Vgl. Sabean 1998, S. 37ff. Die Geschlechterforschung differenziert die biologischen und soziokulturellen Begründungszusammenhänge von Geschlecht begrifflich mit sex und gender, vgl. einführend dazu von Braun/Stephan 2000. Auch die Frage der Verbindung zwischen Biologie und Kultur von Verwandtschaft ist ein viel diskutiertes Problem der Forschung, erhellend dazu Jussen 2001.

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Gegenüber den gewählten, kündbaren und mit partiell Fremden eingegangenen Beziehungsformen der Freundschaft und der Liebe hat Geschwisterschaft – in ihrer genuinen Form als ›eigentliche‹ Geschwisterschaft – den Vorteil von Kontinuität, Stabilität und Vertrautheit: Dies macht die Geschwisterschaft für die bürgerliche Utopie der individuell glücklichen und sozial egalitären Beziehung so attraktiv. Da Geschwisterschaft in ihren ›weiteren‹ Varianten auch gewählte Beziehungen einbegreift, erhöht sich die Transfermöglichkeit dieser positiven Konnotationen sowohl auf soziale Kollektive als auch auf individuell gewählte Liebes- und Freundschaftsbeziehungen. Freundschaft, die für das 18. Jahrhundert in der Forschung als prägende soziale Beziehung gilt,35 steht in einer engen semantischen Verbindung zum Bedeutungsfeld der Geschwisterschaft und weist dazu eine Reihe von Überschneidungen auf. Gerade identifikatorisch konzipierte sowie politisch motivierte Freundschaften privilegieren, wie Derrida in seiner Politik der Freundschaft (1994) herausgearbeitet hat, »den Namen des Bruders oder den Namen Bruder«.36 In der Geschlechterbeziehung indiziert eine signifikante Zunahme von CousinCousinen-Heiraten um 1800 eine horizontale Rekonfiguration, die symbolisch auf das Bruder-Schwester-Paar als innerem Kern von Verwandtschaft verweist.37 Dieser Prävalenz des Bruder-Schwester-Paars, die sich auch wahrnehmungspsychologisch erklären lässt, ist diese Studie unter anderem im Briefwechsel der Geschwister Brentano und in einer Lektüre einer Passage aus Hegels familienphilosophischen Überlegungen in der Phänomenologie des Geistes (1807) auf der Spur. Dabei wird der in der Forschung bekannte Antigone-Subtext bei Hegel mit Elementen des zeitgenössischen Geschwisterdispositivs verbunden und führt so zu einer neuen Lesart dieser viel diskutierten Passage. Geschwisterliches bestimmt die empfindsame Liebeskonzeption und zeitgenössische Liebes- und Ehepraxis in vielfacher Weise mit: Geschwisterliebe stellt die nahe liegende Konkretisierung der empfindsamen Liebe zwischen den Geschlechtern dar, die sich unter Ausschluss von Sexualität ganz auf das Gefühl konzentrieren kann und in der ein bestimmter Grad an Gleichheit über die Herkunft verbürgt ist. Literarisch findet die Verknüpfung von Geschwister- und Geschlechterliebe ihren Ausdruck in der um 1800 inflationär auftretenden inzestuösen Situation: In einer Vielzahl von Texten erweist sich das Bruder-Schwester-Paar für die Aushandlung der Liebesbeziehung zwischen den Geschlechtern als unverzichtbar und wird anderen narrativen Möglichkeiten vorgezogen, auch wenn dafür die Grenzen der Wahrscheinlichkeit arg strapaziert werden. Für die Zeit um 1800 ist darum davon

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Vgl. die verbreitete Forschungsthese vom ›Jahrhundert der Freundschaft‹ nach einer Formulierung von Tenbruck 1964, S. 436. Derrida 2002, S. 372. Vgl. Sabean 1998, S. 10ff., 73ff., 208ff., 428ff. und ders. 2002.

auszugehen, dass Leserinnen und Leser jeweils erwartet haben, dass Geschwisterund Geschlechterliebe mit einander zu tun hat.38 Um zu verstehen, welches kulturelle Wissen und welche sozialen Energien diesen Erwartungshorizont ermächtigen, wird gefragt, was genau Inzest in den zeitgenössischen Diskursen, in der konkreten Erfahrung und in der literarischen Konstruktion jeweils bedeutet und welche Grenzen dabei verhandelt werden. Dafür liefern Ergebnisse der historischen Sozialforschung neue Anregungen, die es ermöglichen, die wechselseitigen Transformationen von kulturellem Wissen und Literatur sichtbar zu machen.39 Die figürliche Rede von Geschwistern ist dagegen ein eminent literarischer Bereich. Gerade deswegen verfährt die kulturwissenschaftliche Grundlegung an dieser Stelle knapp. Denn zum einen liegen für die Figurationen des kulturellen Imaginären, die mit Geschwisterbegriffen korrelieren, umfangreiche Forschungsresultate vor: Spiegelung, Doppelgängertum und das Androgyne sind eingeführte Forschungsfelder, die in Einzeltextanalysen oft aufgegriffen werden und zu denen auch je umfassende Darstellungen vorliegen. Zum anderen sind die literarischen Gestaltungen dieser Phänomene gleichzeitig so heterogen und je spezifisch, dass ihnen am ehesten die Einzelfallanalyse gerecht werden kann. Und das will die vorliegende Studie dann auch in ihren Jean Paul-Lektüren tun. Der kulturhistorische Teil stellt darum nur die minimalen Struktureinheiten von Geschwisternarrativen bereit, wie sie sich aus repräsentativen Erzählungen des abendländischen kulturellen Imaginären isolieren lassen, und skizziert die Forschungsfelder über Spiegelungen, Doppelgänger und Androgyniefigurationen in ihren jeweiligen Zusammenhängen mit dem Geschwisterthema. Für das Erproben der Valenzen des um 1800 virulenten Geschwisterdispositivs bietet sich Literatur mit ihren Möglichkeiten metonymischer und metaphorischer Verknüpfungen sowie fiktionaler Modellbildung bevorzugt an. Von diesen Möglichkeiten macht Jean Paul ausgiebig und virtuos Gebrauch. Geschwisterbeziehungen fungieren in seinen Texten als Prismen, in denen sich Konzepte von Identität, Ähnlichkeit und Differenz, von Nativität und Performativität mit Vorstellungen und Handlungspraxen von individuellen Emotionen und sozialen Beziehungen und diskursiven Manifestationen der Ordnungen des Wissens brechen und neu konfigurieren. Über eigentliche, weitere und figürliche Geschwister werden so heterogene Kontexte wie Empfindsamkeit und Inzestdiskurse, individuelles Gefühl und Geheimbünde oder Geschlechterdifferenz und Poetologie zusammen geführt und in eine Textbewegung überführt, die in mehrfacher Hinsicht eine Ermächtigung der Horizontalen leistet. Diesen Textbewegungen, ihren Strukturen und Performanzen, Verläufen und Gegenläufigkeiten gelten die Jean Paul-Lektüren, die

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Vgl. Frei Gerlach 2003, Baßler 2000, Titzmann 1991, Wilson 1984. Vgl. Eming et al. 2003, Sabean 2002.

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den soeben beschriebenen roten Faden der Horizontalen zu variantenreichen aber unverkennbaren Mustern verstricken. Da Geschwister jedoch auch einen realen Ort, einen konkreten Erfahrungshintergrund und eine eminent individualpsychologische Bedeutung haben, sei zum Schluss dieser Einleitung noch ein Seitenblick auf Jean Pauls biographische Geschwisterkonstellation geworfen. Jean Paul ist das älteste von insgesamt sieben Geschwistern, zwei Schwestern sterben schon als ganz kleine Kinder. Auch der Vater stirbt früh, noch bevor die fünf Brüder das Erwachsenenalter erreicht haben: Jean Paul ist zu diesem Zeitpunkt sechzehn Jahre alt und eben in das Gymnasium eingetreten. Der Tod des Vaters bringt die Familie Richter in eine finanzielle Notlage, die nicht nur Armut, sondern nachgerade Hunger bedeutet. Einer von Jean Pauls Brüdern, Heinrich, begeht aus Verzweiflung ob dieser desolaten Lebenslage Selbstmord. 40 Die Bedeutung der Schwesterfigur als Chiffre der Sehnsucht in den hohen Romanen oder die Kindheitserinnerung an eine verstorbene kleine Schwester in den Flegeljahren, die auffällige Absenz von eigentlichen Geschwistern beim Aufwachsen der Helden in den hohen Romanen respektive die radikale Differenz der gemeinsam aufwachsenden Zwillingsbrüder in den »Doppeltgängern« und den Flegeljahren – all dies dürfte neben der Ermächtigung durch das strategische Netz von Geschwisterstrukturen um 1800 auch einen Rückhalt im individuellen familiären Erleben haben: in der frühen Verlusterfahrung, die der Tod der Schwestern bedeutet hat, in der bei den prekären finanziellen Verhältnissen sicherlich angespannten Situation unter den Brüdern und in der besonderen Belastung, die dies für den ältesten als Stellvertreter des Vaters wohl darstellte. Wenn Aussagen über diese konkreten Hintergründe bei der schmalen Quellenlage zu Jean Pauls Herkunftsfamilie ihrer Spekulativität wegen in den Textlektüren dieser Studie auch unterbleiben werden, 41 so gilt es doch festzuhalten, dass alles zusammen, die individuelle wie die kulturelle Einbettung, die horizontal strukturierten Energien in den literarischen Texten ermächtigt. Oder um es mit Jean Paul textil zu veranschaulichen: »Uebrigens kanst du vorn keine einzige Szene herausziehen, ohne daß hinten alles zusammenfält, weils Werk ist wie meine Hosen, wo eine Masche alle hält.« (SWIII/1,346)42 Die vorliegende Studie ist vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert, als Habilitationsschrift von der Universität Zürich angenommen und mit dem UBSHabilitationspreis der Philosophischen Fakultät als beste Habilitation des Jahres 2010 ausgezeichnet worden. Ich danke meiner Habilitationskommission für ihre

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Vgl. Vollmann 1996, Ueding 1993, de Bruyn 1991. Hierzu darf mit Spannung das 2012 erscheinende Buch über Jean Pauls Leben von Helmut Pfotenhauer erwartet werden, der sich als Herausgeber der neuen HKA am Puls der Nachlassforschung befindet. Jean Paul schreibt dies über die Loge, deren Manuskript er am 27. Februar 1792 an Christian Otto zur Begutachtung schickt, und verwendet das Gleichnis dann wieder in seiner Vorrede zur zweiten Auflage des Hesperus, vgl. I/1,484.

Begutachtung, namentlich Elisabeth Bronfen, Tatiana Crivelli, Daniel MüllerNielaba und Karl Wagner sowie ganz besonders Sabine Schneider darüber hinaus für die schöne Zusammenarbeit. Der Jean-Paul-Arbeitsstelle und insbesondere Helmut Pfotenhauer danke ich für die freundliche Aufnahme in Würzburg und die Gelegenheit, meine Habilitationsthese im Kreis der Jean Paul-Forschenden zu diskutieren. Für Diskussionen, Anregungen, Ermutigungen, fachspezifische Hilfestellungen und Kontroversen rund um meine Forschung danke ich Elsbeth DangelPelloquin, Barbara Hunfeld, Beatrice Mall-Grob, Claudia Opitz, Ralf Simon und Magdalene Stoevesandt. Für ihre Unterstützung und ihr Verständnis danke ich meinem Mann Thomas Gerlach und unseren Kindern Michael und Julia.

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TEIL I Die Geschwisterbeziehung

1.

»Ideen-Ordnung«: Dispositionen

1.1

Das Skandalon der Antigone Zugunsten welcher Satzung sag ich das nun? Für einen toten Gatten würd’ ein andrer mir, ein Kind von einem andren Mann, verlör’ ich dies, Da aber Mutter mir und Vater ruhn im Grab, so wird ein Bruder niemals wieder mir geschenkt.1

Die Beziehung zwischen Schwester und Bruder ist von anderem Gewicht als alle anderen familiären Beziehungen, hält Sophokles’ Antigone (442/1 v. Chr.) folgenreich fest. Die Unersetzlichkeit des eigenen Bruders macht die »Satzung« aus, um derentwillen Antigone den eigenen Tod in Kauf nimmt. Die Begründung provoziert durch die Aufrechnung von Leben ethischen Widerspruch und zeigt doch zugleich auf, dass die Beziehung zwischen Bruder und Schwester als etwas unersetzbar Eigenes in unserem kulturellen Gedächtnis tradiert wird. Diese Verse der sophokleischen Antigone haben Anlass zu zahlreichen Deutungen und Entwürfen gegeben, gerade in der Zeit um 1800, in der Geschwister die kollektive Phantasie in außergewöhnlichem Maße beschäftigen. »Der Verlust des Bruders ist daher der Schwester unersetzlich« schreibt Georg Wilhelm Friedrich Hegel die Antigone unter Löschung ihres Eigennamens fort und dem Kapitel über »Die Sittlichkeit« der Phänomenologie des Geistes (1807) als allgemeine Beziehung der Geschwister ein: Die »Geschwister als Bruder und Schwester« sind bei Hegel als einzige der untersuchten familiären »Verhältniss[e]« in einem Zustand des »Gleichgewicht[s]«.2 Eine Auszeichnung der Geschwisterbeziehung, in

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Sophokles 1995, Vers 909–912. Hegel 1973, S. 338, 335f. Der Name Antigone erscheint in der Phänomenologie zweimal, einmal vor (S. 322) und einmal gegen Ende der Argumentation über »Die Sittlichkeit« (S. 348). Dass die sophokleische Antigone als Subtext von Hegels Phänomenologie fungiert, ist in der Forschung schon vielfach bemerkt und kommentiert worden. Exemplarisch genannt seien hier die aufschlussreichen Arbeiten von Steiner 1988 und Butler 2001. Ausf. zu Hegel vgl. Teil I, Kap. 2.3.1. 1804 schon war die Antigone-Übersetzung von Hegels Jugendfreund aus dem Tübinger Stift, Friedrich Hölderlins Antigonä erschienen. Vgl. Hölderlin, HKA, Bd.16. Hölderlins Textfassung hat, nach einer vorübergehenden Ablehnung durch Zeitgenossen, eine breite Wirkungsgeschichte erlangt und u.a. Thesen über die Freiheit der Übersetzung

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der, so Jacques Derrida in seinen Glossen zur Phänomenologie, auch die psychosoziale Energie von Hegels eigenem Erleben als Bruder wirksam sein dürfte.3 Diese psychosoziale Energie ist jedoch keineswegs als singuläre und individuelle Disposition zu betrachten, sondern – so wird im kulturhistorischen Teil dieser Studie aufgezeigt werden – Teil einer historisch spezifischen Konstellation: der Fokussierung auf die Geschwisterbeziehung, meist verstanden als Beziehung zwischen Bruder und Schwester. Angesichts der kulturhistorischen Evidenz der »Obsession« auf »die BruderSchwester-Beziehung« im Zeitraum zwischen 1740 und 1840, 4 ist es umso erstaunlicher, dass zugleich mit der Privilegierung der Verse 905ff. der sophokleischen Antigone um 1800 die Geschichte eines Fälschungsverdachts beginnt, der fortan der ›Skandalstelle‹ unlösbar verwoben bleibt und künftige Kommentatoren bis heute herausfordert, Stellung dazu zu beziehen.5 Johann Wolfgang von Goethe, hinsichtlich gelebter, imaginierter und erzählter Beziehungen zwischen Bruder und Schwester wahrlich kein unbeschriebenes Blatt,6 kanalisiert das Skandalöse besagter Stelle im Gespräch mit Eckermann im März 1827 in dem Wunsch, die Verse mögen »unächt« sein: So kommt in der Antigone eine Stelle [V. 905–12] vor, die mir immer als ein Flecken erscheint, und worum ich vieles geben möchte, wenn ein tüchtiger Philologe uns bewiese, sie wäre eingeschoben und unächt. [...] Wie gesagt, ich möchte sehr gerne daß ein guter Philologe uns bewiese, die Stelle sey unächt.7

Hintergrund dieses Wunsches ist die 1821 von August Ludwig Jacob aufgebrachte Forschungshypothese, die Verse 905ff. seien nicht original, sondern eine spätere Hinzufügung. Diese Hypothese blieb nicht unwidersprochen, August Boeckh erklärte 1824 die Verse für echt, entschieden war die Sache damit aber nicht, und die

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(Benjamin), ein philosophisches Weiterdenken (Heidegger) und dramatisches Bearbeiten (Brecht) angeregt. Vgl. dazu Steiner 1988, S.86ff. Vgl. Derrida 1981, S. 202ff., bes. S.210ff. u. S.246ff. So das Fazit des Sozialhistorikers David Warren Sabean, der die Beziehungsdynamiken von Verwandtschaftsvorstellungen und -praxen in einer mikrohistorischen Langzeitstudie untersucht hat; vgl. Sabean 2002, S.9, sowie grundlegend Sabean 1998. Marion Giebel kommentiert in den Reclams-Erläuterungen 1992: »Sicher will Sophokles damit nicht sagen, daß sich die heiligen, ungeschriebenen Gesetze nur auf Brüder und nicht auf andere tote Angehörige beziehen«, S. 17. Lacan hat diese Diskussion in seinem Antigone-Kommentar ebenfalls aufgegriffen und prägt die Formulierung vom »Skandalcharakter« dieser Stelle, vgl. Lacan 1996, S. 308. Ausführlicher dazu vgl. Teil I, Kap. 2.2.1 sowie spezifisch die Analyse von Goethes Einakter Die Geschwister in Teil II, Kap. 2.1. Grumach 1949, Bd. 1, S. 262ff., hier S. 265. Anlass für das Gespräch über die Antigone war das eben erschienene Buch Das Wesen der antiken Tragödie in ästhetischen Vorlesungen durchgeführt an den beiden Ödipus des Sophokles im allgemeinen und an der Antigone insbesondere von Friedrich Hermann Wilhelm Hinrichs.

Frage nach Funktion und Bedeutung dieser Verse gehört bis heute zu den meist diskutierten Fragen der Antigone.8 Die Verhandlungen um die ›Skandalstelle‹ der Antigone sind ein Symptom für die Brisanz des Bruder-Schwester-Themas um 1800. In vielfältigen sozialen Praxen, in Schrift gewordenen psychischen Repräsentationen und in zahlreichen Diskursen ist die Beziehung zwischen Bruder und Schwester um 1800 virulent. Besonders spannungsreich gestaltet ist sie in der Literatur, die ihrerseits Handlungspraxen, emotionale Dispositionen, Repräsentationsformen und diskursives Wissen reflektiert und bearbeitet. Wie zu zeigen sein wird, bieten Jean Pauls Texte hierfür einen besonders komplexen Reflexionsraum: In ihnen fungieren Geschwisterbeziehungen als Prismen, in denen sich Konzepte von Identität, Ähnlichkeit und Differenz, von Eigentlichkeit, Mimesis und Repräsentation mit Vorstellungen und Handlungspraxen von individuellen Emotionen und sozialen Beziehungen und diskursiven Manifestationen der Ordnungen des Wissens brechen und neu konfigurieren. Um die Analyseinstrumente zu gewinnen, die eine derart polyperspektive Textgestaltung erfordern, möchte ich mich in einem ersten Schritt der »Ideen-Ordnung« zuwenden.9 Es gilt ganz grundsätzlich danach zu fragen, was die psychosoziale Tiefenstruktur der Geschwisterbeziehung ausmacht und wie ihre symbolischen und

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Die Beziehungen und Überlagerungen der Antigone-Lektüren sind anschaulich dargestellt in Steiner 1988, zu Hegel S. 34ff., zu Goethe und dem Philologenstreit S. 60ff. Neben der philologischen Argumentationslinie, mit der die Behauptung nicht gleichwertigen Lebens innerhalb des Familienverbundes in Frage gestellt wird, beruft sich eine zweite Argumentationstradition auf eine Episode aus Herodots Geschichtswerk (III,119). Vor die Wahl gestellt, einen ihrer allesamt unterschiedslos zum Tode verurteilten Familienangehörigen frei zu bitten, entscheidet sich die Frau des Intaphernes mit derselben Begründung wie Antigone für ihren Bruder. Herodots Geschichtswerk war 442/1 v. Chr. noch nicht erschienen, Sophokles und Herodot waren jedoch befreundet, so dass davon ausgegangen werden kann, dass Sophokles die Episode gekannt hat. Vgl. Giebel 1992, S. 16f. Kann die Herodot-Episode glaubhaft machen, dass es sich beim Dilemma der Wertschätzung der engsten Familienangehörigen nicht um ein fremdes Motiv handelt, so ist – da es sich beide Male um die Beziehung von Bruder und Schwester handelt – die eigentliche Frage damit nicht lösbar: Handelt es sich um ein »Einzelfallgesetz«, wie Judith Butler in ihrer Antigone-Lektüre meint (Butler 2001, S. 26), oder hätte Antigone auch für ein anderes Familienmitglied so gehandelt, wie all die Kommentatoren, die Antigone als Hüterin des Gesetzes der Familie lesen, notwendig annehmen müssen? Ausf. zu diesen und anderen Fragen rund um Antigone vgl. Teil I, Kap. 2.3.3. Den Begriff der »Ideen-Ordnung« verwendet Jean Paul in seiner »Jubilate«-Vorlesung in der »Diesjährigen Nachlesung an die Dichtinnen« aus der Vorschule der Ästhetik (1804) zwar nicht für die strukturellen Bedingungen der Geschwisterbeziehung und deren literarischer Korrespondenzen, wohl aber für diejenigen von Ehe und Literatur: »Wäre Ideen-Ordnung so sehr von Damen gesucht als Körper-Ordnung, so müßt’ ich aufhören und Gute Nacht sagen. Aber so schnei’ es denn untereinander! Die vier HerzensKautelen männlicher Poetiker – Stolz, Grobheit, Haß, Liebe betreffend – lassen sich für weibliche in eine fünfte einfassen, die, nicht zu heiraten.« (I/5,435) Hervorhebung im Original.

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soziostrukturellen Valenzen gestaltet sind. Dies soll zuerst auf struktureller Ebene geschehen, um dann zweitens kulturhistorisch für die Zeit um 1800 spezifiziert zu werden. Anliegen ist dabei, Gewinn aus der wechselseitigen Erhellung struktureller und historischer Verfahren zu ziehen, dergestalt, dass die jeweils schwach besetzten Theorieorte durch wechselseitige Inferenzen aus dem je anderen Modell gefüllt werden, so dass sowohl das universal einsetzbare Strukturierungsprinzip als auch die historisch und kulturspezifisch kontingenten Vorstellungen und Realisierungen von Verwandtschaft im Allgemeinen und von Geschwisterschaft im Besonderen sichtbar werden. Ein erster systematischer Teil widmet sich darum der Positionierung der Geschwisterbeziehung innerhalb der familiären Struktur und fragt nach den sie bedingenden Relationen und den iterativen Praxen ihrer Herstellung. Dabei geht es nicht nur um Verwandtschaft als soziale Norm, sondern auch um deren Repräsentation in der psychischen Organisation. Um diese Interdependenz zu beleuchten, sollen neben der strukturalen Anthropologie und ihrer poststrukturalistischen Fortschreibung im Zeichen der Performativität auch Ergebnisse der Psychoanalyse einbezogen werden. Psychoanalytische Forschungen zu normativen Vorstellungen von Geschwisterbeziehungen basieren auf den sozialen Realitäten, in deren Kontext sie erhoben werden. Diese sind selbstredend nicht verallgemeinerbar, können aber Anhaltspunkte liefern, um die Wechselwirkungen von psychischen und sozialen Strukturen zu beschreiben.10

1.2

Die Ordnung der Familie: familiale Struktur und kulturelle Kontingenz

Die Struktur der Familie bildet ein Symbolsystem grundlegender Art, lautet eine der Grundthesen der strukturalen Anthropologie. In der Theoriebildung des Strukturalismus ist der Begriff der Struktur durch die wegweisenden Arbeiten Claude Lévi-Strauss’ maßgeblich mit demjenigen der Verwandtschaft verknüpft: Verwandtschaft und Familie sind das Feld, in dem der Strukturbegriff an Kontur gewonnen hat.11 Wenn auch die Suche nach einem überschaubaren Set von Regeln, das die »elementaren Strukturen der Verwandtschaft« beschreiben würde und von dem her alle auffindbaren Verwandtschaftssysteme letztlich zu deduzieren wären,12 mit dem heutigen Forschungsstand der Anthropologie nicht vereinbar 10 11 12

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Vgl. zur Interdependenz von sozialen und psychischen Normen der Verwandtschaft Butler 2001, S. 54f. Vgl. Lévi-Strauss 1993 (1949), 1967. Lévi-Strauss kommt in seinem kühnen Wurf über die Verwandtschaftsstrukturen zum Schluss, dass »nur drei mögliche elementare Strukturen der Verwandtschaft« existieren, die »mit Hilfe zweier Tauschformen« entstehen, welche ihrerseits »von einem einzigen differentiellen Merkmal« abhängen, womit »sich das ganze imposante Gebäude der

ist, so lässt sich gleichwohl grundsätzlich festhalten, dass Verwandtschaft ein »universal einsetzbares gedankliches System« ist, »um soziale Beziehungen aller Art zu strukturieren«.13 Familie, um die es im Folgenden vor allem gehen soll, übernimmt als innerer Kern eines sich immer weiter verzweigenden Netzes von Verwandtschaft eine zentrale Rolle:14 Familie gehört zu den primären sozialen wie psychischen Orientierungsmustern unserer Existenz. Wie auch immer die familiäre Struktur konkret aufgefüllt wird, sie fungiert als Parameter, entlang dessen der Eintritt in die soziale Gemeinschaft und in die kulturelle Ordnung erfolgt und in dessen Rahmen lebenslang normative Vorstellungen, soziale Beziehungen und individuelle Emotionen konzeptualisiert, verhandelt und gelebt werden. Auch eine existenziell gegebene Verunsicherung der familiären Zugehörigkeit oder eine bewusst vollzogene Absage davon entlässt uns nicht aus der familiären Struktur, denn in der Negation bleiben wir immer darauf bezogen: Es gibt für uns kein Außerhalb der Familie. Diese basale Orientierung, die die familiäre Struktur leistet, bietet sich in hervorragender Weise an, um die Relationen nicht nur zwischen Menschen, sondern auch zwischen Phänomen, Sachverhalten, Institutionen oder Ideologien zu beschreiben. Politische Vorstellungen von Vater Staat und seinen Kindern in feudalen Systemen, die Mobilisierung im Namen einer fraternité in der republikanischen oder einer sisterhood in der feministischen Bewegung, die religiöse Orientierung innerhalb einer christlichen Geschwisterschaft, die sprachliche Identifizierung im Rahmen einer Muttersprache und die nationale zu einem Vaterland greifen ebenso

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Vorschriften und Verbote a priori anhand einer einzigen Frage rekonstruieren« lässt: »welches Verhältnis besteht in der betreffenden Gesellschaft zwischen der Wohnsitzregel und der Deszendenzregel?« (Lévi-Strauss 1993, S. 658). Jussen 2001, S. 40. Ich verwende den Begriff der ›Familie‹ hier als Struktureinheit, wie es sich in den ›Geschichten der Familie‹ durchgesetzt hat, die darunter Familienverbände in ihren spezifischen Ausprägungen von der Antike bis zur Gegenwart subsumieren; vgl. Gestrich/Krause/Mitterauer 2003, Goody 2002, Burguière et al. 1994. Historisch ist das Semem ›Familie‹ im deutschen Sprachraum – aus dem Französischen beziehungsweise ursprünglich dem Lateinischen kommend – erst seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert gebräuchlich und verdrängt im 18. Jahrhundert die ältere Bezeichnung des ›Hauses‹, die alle Mitglieder des Haushaltes umfasste. Wurde ›Familie‹ in der Frühen Neuzeit synonym zu ›Haus‹ verwendet, so setzte sich mit der zunehmenden Bedeutung der Kernfamilie als Leitbild die Einheit von Eltern und Kindern als dominierender Begriffsinhalt durch. Vgl. Gestrich/Krause/Mitterauer 2003, S. 367, Zedler, Bd. 9, Sp. 205ff., Grimm, Bd. 3, Sp. 1305ff. Die Verwandtenfamilie in ihrer Ausprägung der Kernfamilie ist als Leitbild auch heute dominierend, in der sozialen Realität spielt aber heute der Haushalt, das gemeinsame Zusammenleben von Erwachsenen und Kindern in vielfältigen verwandtschaftlichen und nicht-verwandtschaftlichen Strukturen, eine wieder zunehmend wichtigere Rolle. Es bietet sich darum weiterhin an, das je spezifische Verhältnis zwischen Verwandtschafts- und Haushaltsfamilie zu bestimmen. Vgl. Gestrich/Krause/ Mitterauer 2003, S. 160.

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auf familiäre Strukturen zurück wie die Bezeichnung von Unternehmen als Mutterhaus und Tochterfirma oder die Rede von einer Geschwisterschaft der Künste oder Wissenschaften. In den Idiomen der Theoriebildung ist es im Besonderen die Psychoanalyse, deren Sprachregelung von familiären Strukturen bestimmt ist. Erkenntnisinteresse der Psychoanalyse sind die Entwicklungsprozesse der Persönlichkeit, und darin wird der Familie eine zentrale Funktion zugeschrieben. Die diesbezüglichen freudschen Setzungen, etwa die zentrale Rolle, die Sigmund Freud der Dynamik der triangulären Struktur von Vater, Mutter und Kind im Ödipuskomplex bei der Strukturierung der Persönlichkeit zuschreibt,15 haben dabei stilbildend für die psychoanalytischen Begriffsbildungen gewirkt. Die strukturalistische und sprachtheoretische Weiterentwicklung bei Jacques Lacan situiert zentrale Begrifflichkeiten ebenso im semantischen Feld der Familie wie die feministische Kritik daran, die notwendigerweise immer in das involviert ist, was sie kritisiert.16 Die aufgezählten Verwendungen von Verwandtschaftsbegriffen in den Ordnungen des Wissens machen evident, dass Verwandtschaft – und besonders ihr innerer Kern, die Familie – ein »Denkmuster« ist, um nicht nur »soziale Beziehungen aller Art«, sondern, um alle Arten von Beziehungen zu strukturieren.17 All diesen Verwendungsweisen von Familienbezeichnungen ist gemeinsam, dass sie sich an einem Modell menschlichen Zusammenlebens orientieren, das sich sowohl aus der biologischen Generativität als auch aus der kulturellen Praxis herleiten lässt, das somit – wie der Begriff ›Geschlecht‹ – biologisch und kulturell zugleich ist. Ähnlich wie es die Debatte um die sex/gender-Differenz gezeigt hat, ist die Differenz zwischen biologischen und kulturellen Zuschreibungen der Konstituenten von Verwandtschaft nicht immer leicht aufrecht zu erhalten.18 Denn die Auffassung, mit wem wir biologisch verwandt sind, ist keineswegs eine anthropologische Konstante, sondern historisch und kulturell kontingent. So galten gemäß der uno 15 16

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Die psychoanalytische Anthropologie behauptet gar die Allgemeingültigkeit des Ödipuskomplexes für alle Kulturformen; vgl. Laplanche/Pontalis 1998, 351ff. So beginnt Hélène Cixous ihre Kritik an Lacans These vom ›Gesetz des Vaters‹ (vgl. Lacan, 1973b, S. 119) mit der polemische Anrede »Großpapa Lacan« (Cixous 1977, 24), die Cixous’ eigenen theoretischen Ort als doppelten markiert: sowohl in der patrilinearen Denktradition der Psychoanalyse als auch in Absetzung von deren veralteten Weltbildern. Auch Luce Irigarays, Julia Kristevas und Jessica Benjamins sehr unterschiedlich motivierte Überlegungen zur Position der Mutter nehmen die kritischen Umwertungen innerhalb der familialen Struktur vor, wogegen Judith Butlers Thesen zum kinship trouble, den die Antigone-Figur auslöst, die verwandtschaftliche Struktur als solche in Frage stellen. Vgl. zur Darstellung der wichtigsten Linien der feministischen Entwürfe von Cixous, Irigaray, Kristeva und Butler: Frei Gerlach 2004, 1998, S. 55–151. Andere Ordnungsmuster, die eine ähnlich basale Strukturierungsfunktion haben, sind beispielsweise Nahrung (roh/gekocht gem. Lévi-Strauss) oder Geschlecht, Haus, Körper (vgl. Jussen 2001, S. 51). Zur deutschen sex/gender-Debatte vgl. exemplarisch Institut für Sozialforschung 1994, Wobbe/Lindemann 1994.

caro-Lehre seit dem frühen Mittelalter in Europa auch Schwager- und Stiefverwandte als blutsverwandt, da die Heirat nicht die Loslösung der Frau aus ihrer Herkunftsfamilie und die Einbindung in den neuen Familienzusammenhang, sondern die gegenseitige Verbindung zweier Familienverbände zu ›einem Fleisch‹ bedeutete.19 Dies ist ein Hinweis darauf, dass auch biologisches Wissen kulturell konstruiert ist und seine Geltung den je spezifischen Normen verdankt, die die Sphäre der kulturellen Intelligibilität stiften und aufrechterhalten. So sind in patrilinearen Verwandtschaftssystemen im Prinzip alle Männer mit den gleichen Personen verwandt, die Verwandtschaftsgruppe steht fest und wird durch Frauen nicht erweitert. Daraus ergeben sich andere Strukturen sozialer Netzwerke, andere Heiratsregeln, Haushaltsformationen und Erbschaftsregelungen als in bilinearen Verwandtschaftssystemen, die sich während der Antike und im Mittelalter in weiten Teilen Europas durchsetzten und die Struktur dessen bestimmt haben, was heute fast allen Europäerinnen und Europäern als Inbegriff von Familie gilt: ein Elternpaar mit Kindern. Unter Bilinearität versteht die historische Sozialforschung die gleichberechtigte20 Einbeziehung der Vorfahren sowohl der väterlichen wie der mütterlichen Seite in das Verwandtschaftssystem. Für Westeuropa charakteristisch ist, dass das Gattenpaar als ökonomische Einheit verstanden wird und räumlich getrennt von der eigenen Herkunftsfamilie wohnt. In der historischen Demographie ist dafür der Begriff der Western family geprägt worden, zu deren Herausbildung auch andere Faktoren als das Verwandtschaftssystem und die Haushaltsbildung maßgeblich waren, so beispielsweise das im Vergleich zu Ost-, Südeuropa und den außereuropäischen Kulturen späte Heiratsalter.21 Familienbeziehungen sind, so zeigt die historische Demographie, auch auf struktureller Ebene kulturelle Beziehungen. Zugleich aber sind diese kulturellen Beziehungen ›irgendwie‹ mit der Biologie der Fortpflanzung verbunden, wie die Encyclopedia of Cultural Anthropology festhält: Since in all known cultures the distribution of specific kinterms [...] maps well onto genealogically defined categories, there has to be some logical relationship between kinterm and genealogy, and thus some cultural recognition (whether direct or indirect) of a genealogical basis for kinterms.22

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Vgl. Eming et al. 2003, Einleitung; Sabean 2002, bes. S. 13ff. Der Begriff der Gleichberechtigung bezieht sich ausschließlich auf die Bildung der Verwandtschaftsstruktur, alle damit zusammenhängenden Faktoren, wie beispielsweise Namengebung, Heirats- oder Erbregelung sind von je spezifischen, oft patrilinear ausgerichteten Machtverhältnissen beherrscht. Vgl. Gestrich/Krause/Mitterauer 2003, S. 6ff. Der Typ der Western family ist gemäß Gestrich vor allem »westlich einer Linie, die von St. Petersburg nach Triest reicht«, zu finden. (Ebd. S. 10). Zur Klärung der unterschiedlichen Verwendungsweisen der Begriffe patrilinear, bilinear, Lineage usw. in der historischen Anthropologie vgl. Goody 1986, S. 240ff. Encyclopedia 1996, Bd. 2, Art. »Kinship terminology« von David Kronenfeld, S. 682– 686, hier S. 684.

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Wie dieses ›irgendwie‹ zu spezifizieren wäre, bleibt eine der großen Herausforderungen anthropologischer Forschung. Lacan, der sehr um eine Differenzierung der Institution Familie und biologischer Fortpflanzung bemüht ist, geht beispielsweise von einer rein numerischen Übereinstimmung aus.23 Doch das ist auch bei der Einschränkung des Arguments auf die Western family nur eine Scheinlösung, da damit die Art der Beziehung keineswegs geklärt wird. Die komplizierte Position zwischen Kultur und Biologie kann allgemein denn auch gar nicht bestimmt werden, es ist vielmehr Aufgabe der Einzelforschung, die Faktoren zu erarbeiten, die jeweils die Intelligibilität von Familie und Verwandtschaft stiften und aufrechterhalten. So gilt es im Einzelfall zu klären, ob die Beziehung über Geburt, Blut, Heirat, Abstammung, Adoption, Wohngemeinschaft, Taufe, Patenschaft oder andere Bündnistechniken wie Schwureinungen oder rituelle Freundschaften gestiftet und aufrecht erhalten wird, wie die Begründungen einander bekräftigen, ergänzen oder welches Konfliktpotenzial aus divergierenden Begründungszusammenhängen erwächst.24 Solche Zusammenhänge sind für Europa besonders gut für das Mittelalter erforscht, da sich dort entscheidende Weichenstellungen vollzogen, die sich als Schlüssel zum Verständnis moderner Familienstrukturen erwiesen haben.25 Schneller als anderswo hat es sich darum in der Mediävistik durchgesetzt, die Beziehung zwischen Biologie und Verwandtschaft als Gegenstand und nicht als Voraussetzung der Verwandtschaftsforschung zu bestimmen und darüber hinaus zwischen Haushalts- und Verwandtenfamilien zu spezifizieren. Für die Verwandtenfamilie lassen sich grundsätzlich zwei Typen von Begründungszusammenhängen festmachen, die ihrerseits das wirkungsmächtige Leib-Seele-Paradigma spiegeln: die fleischliche Verwandtschaft (via Geburt und Heirat) und die geistliche Verwandtschaft (via Taufe).26 Geistlich sind im Prinzip alle getauften Christen miteinander verwandt, und damit – je nach Verbreitung christlicher Praxen – ein hoher Prozentsatz der mitteleuropäischen Bevölkerung. Um tatsächlich als Differenzkriterium zwischen Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zu gelten, ist das Kriterium der fleischli-

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Vgl. Lacan 1980a, S. 42f.: »Eine andere ganz kontingente Ähnlichkeit liegt in der Tatsache, daß die normalen Komponenten der heutzutage im Abendland beobachteten Familie – Vater, Mutter und Kinder – dieselben wie die der biologischen Familie sind. Diese Identität ist nicht mehr als eine numerische Gleichheit.« Zu den Faktoren, die Verwandtschaft bedingen können, vgl. Jussen 2001. Zu einer wissenschaftshistorischen Aufarbeitung der Interrelationen zwischen biologischen und soziokulturellen Begründungszusammenhängen in Verwandtschaftsdefinitionen vgl. Schneider 1984, S. 97ff. Ein entsprechendes Reflexionsniveau hat die Forschung über die Strukturen mittelalterlicher Verwandtschaft inzwischen erreicht, vgl. Spieß 2009. Die antagonistischen Prinzipien sind aber auch ineinander verwoben, beispielsweise durch die Fleischwerdung Christi, vgl. Jussen 2001, S. 55. Das Prinzip der durch die Taufe gestifteten geistlichen Verwandtschaft blieb nicht unwidersprochen: Schon im 16. Jahrhundert kritisierten Reformatoren das damit verbundene Heiratsverbot als »ertichtet«. Vgl. Rublack 2002, S. 117.

chen Verwandtschaft darum feinmaschiger: Einer überschaubaren Gruppe von über Blut und Heirat mit einander verbundenen Verwandten stehen alle anderen als Nichtverwandte gegenüber. Liegt der Fokus dagegen auf der Differenzierung zwischen Verwandten- und Haushaltsfamilie, so werden verstärkt räumliche und ökonomische Kriterien in die Analyse einbezogen. Die historische Demographie erweist die Ordnung der Familie als kulturell kontingent. Auf der Ebene des kulturellen Imaginären und der symbolischen Ordnung droht diese Kontingenz jedoch der universalisierenden Wirkung von Familienstrukturen zum Opfer zu fallen. Wie es unser Alltagsverständnis evident macht, zeigen Familienstrukturen eine starke Tendenz, universell zu erscheinen und die innewohnenden Kontingenzen auszulöschen.27 Eine universalisierende Wirkung in diesem Sinne geht vom Typus der Western family aus: Er stellt die phantasmatische Tiefenstruktur dar, die die heutige Familienvorstellung bildet. Offensichtlich tut es wenig zur Sache, dass das reale Zusammenleben in vielen Fällen anders strukturiert ist, diese Andersheit wird vielmehr als Abweichung von der Norm empfunden. Die Persistenz dieses Familienleitbildes sichert seine Nachhaltigkeit bis in jüngste Zeit nur teilweise durch Aktualisierung in der konkreten Praxis, wichtiger scheint vielmehr das soziale und imaginäre Orientierungsangebot zu sein, welche das Leitbild bereitstellt. Erst die anstehenden und zum Teil vollzogenen rechtlichen Modifikationen in Bezug auf die Ordnung der Familie, beispielsweise die Frage der Gleichstellung von Lebensgemeinschaften mit Ehegatten, von homosexuellen mit heterosexuellen Paaren oder die Frage gleichgeschlechtlicher Elternschaft stellt die universalisierende Wirkung des Leitbildes der Western family nun allmählich zur Disposition.28 Die Verwandtschaftsstruktur als Menge der Relationen zwischen den Elementen eines Systems ist untrennbar verbunden mit den Praxen zur Realisierung dieser Beziehungen. Dies ist von besonderer Relevanz, wenn es um literarische Texte geht. Denn Familien- und Verwandtschaftssysteme werden hier in der Erzählhandlung hergestellt und – je nachdem – neu konfiguriert. Mit David Schneider lässt sich gerade für den Erzähltext festhalten, dass Verwandtschaft nicht nur als Form des Seins, sondern auch als Form des Handelns verstanden werden muss.29 Es bietet sich darum für die Textanalyse an, einen Strukturalismus von Verwandtschaft (welche Strukturen bilden das zugrundeliegende System) mit einem Poststrukturalismus von Verwandtschaft (wie werden die Relationen des Systems performativ

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Judith Butler zeigt dies an der Figur der Antigone, die in einer verwandtschaftlich und familiär prekären Position (im Zentrum eines kinship trouble) steht, und dennoch zur Repräsentationsfigur des Gesetzes der Familie werden konnte. Vgl. Butler 2001. Vgl. dazu Butler 2003. Schneider 1984 schließt aus den jeweiligen Selbstverständnissen der Konstruktion von Verwandtschaft verschiedener Ethnien, »that our definition of kinship – the conventional wisdom – stressed being while Yapese culture stessed doing in certains of its important relations« (S. 131).

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hergestellt) zu verbinden. Familienstrukturen fungieren damit als elementar semantisches Paradigma, dessen sich die literarischen Text bedienen und das sie auf spezifische Weise performativ aktualisieren, um Beziehungen ›aller Art‹ zu gestalten.

1.3

Vertikale und Horizontale

Die grundlegende Matrix der familiären Struktur bilden zwei sich kreuzende Achsen: die Vertikale und die Horizontale. Auf der Vertikalen ist die Generationenabfolge von Eltern und Kind, auf der Horizontalen sind die Beziehungen zwischen den Geschwistern und – je nach zugrundeliegendem System – auch diejenigen zwischen Geschwisterkindern, zwischen den Ehegatten und ihren Schwiegerverwandten situiert.30 Dabei organisieren mehrheitlich Regeln und Praxen der Weitergabe die Vertikale und Praxen von Teilhabe und Tausch die Horizontale. Weitergegeben, getauscht und geteilt werden biologisches und ökonomisches Gut, physische und psychische Dispositionen, Macht, Rechte, Pflichten, Wissen und Glauben. Der Vertikalen inhärent sind eine hierarchische Struktur und Differenzpositionen bezüglich der Güter und Kompetenzen, die Horizontale dagegen ist durch egalitäre Strukturen und durch gleichwertige oder zumindest ähnliche Positionen charakterisiert. Entsprechend sind es auch unterschiedliche Beziehungsdynamiken, die jeweils etabliert, und unterschiedliche Fähigkeiten, die vertikal respektive horizontal trainiert werden: Befehl und Gehorsam, Führung und Ausführung, Lehre und Lernen werden vertikal, Verhandeln, Bündnistechniken und Wettbewerb dagegen werden eher horizontal trainiert. Abgrenzungen von den weitergegeben und geteilten Gütern sowie Störungen der organisierenden Prinzipien betreffen beide Strukturachsen und sorgen darin über Aufstand und Umsturz oder über rivalisierende Gruppenkämpfe für Umverteilung, strukturell gesehen tangieren sie die Richtungsvektoren, nicht aber die Achsenstruktur. Vertikale und Horizontale bilden damit auch in Krisenmomenten den Rahmen, innerhalb dessen familiäre und – im oben genannten erweiterten Begriffsverständnis – familienhomologe Strukturen und Interaktionen beschrieben werden können. De facto sind soziale Beziehungen selbstredend nie nur vertikal oder nur horizontal strukturiert. Soziale Beziehungen müssen immer im Hinblick auf beide Strukturachsen situiert werden und können adäquat nur als Geflecht aus horizon-

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Vgl. zu möglichen Darstellungen der Verwandtschaftsgrade in vertikaler und horizontaler Strukturierung Goody 1986, S. 151ff. Das Argument bezieht sich auf die Verwandtenfamilie. Zwar lässt sich auch die Haushaltsfamilie nach vertikalen (Erwachsene und Kinder, Herrschaft und Untergebene) und horizontalen (Kinder und Gesinde) Strukturen ordnen, aufgrund der vielfältigen weiteren Kriterien (Alter, Geschlecht, Recht, Konfession, Ausbildung, Fähigkeit, emotionale Bindung), die die Struktur der Haushaltsfamilie bestimmen, ergeben sich hier aber komplexe Schräglagen, die im jeweiligen Einzelfall analysiert werden müssten.

talen und vertikalen Matrixes beschrieben werden. Unmittelbar evident ist dies bei Konzepten wie der flachen Hierarchie oder dem antiautoritären Erziehungsstil. Ergibt erst das Zusammenspiel beider Achsen ein komplettes Bild, so ist es doch analytisch notwendig, die Achsen theoretisch zu isolieren, um die strukturrelevanten Komponenten herauszuarbeiten. Die vorliegende Studie geht hier noch einen Schritt weiter und plädiert dafür, aus erkenntnistheoretischen Gründen die eine dieser Achsen zu privilegieren: die Horizontale, deren Ausformungen in einer vertikal dominierten Kultur und Wahrnehmungstradition analytisch vielfach als blinder Fleck fungiert. Forschungsansätze, die nach der symbolischen Ordnung und der Logik kultureller Phantasmen fragen, und dies auf einer semiotischen, literatur- und kunstwissenschaftlichen Basis tun sowie vorwiegend an Methoden der Psychoanalyse und der feministischen Kritik orientiert sind, kommen mehrheitlich zum Schluss, dass im kulturellen Gedächtnis Europas die Vertikale dominiere, deren Direktiven zudem, um es mit Lacan zu sagen, »im Namen des Vaters« erfolgen.31 Luce Irigaray hat in kritischer Auseinandersetzung mit Lacans Thesen 1974 in Speculum grundlegend gezeigt, wie die Geschlechterdifferenz in der abendländischen Diskursgeschichte immer wieder von neuem hierarchisiert wird, und – für eine Arbeit, die sich der Horizontale verschreibt, besonders prekär – dass gerade der Prozess der Spiegelung vertikal instrumentalisiert wird. Für ihr gesellschaftstheoretisches Projekt der Wiedereinsetzung einer hierarchiefreien sexuellen Differenz bleibt Irigaray auf der Basis dieses Analyseergebnisses keine andere Möglichkeit, als auf tief verschüttetes Wissen in Sprache und kulturellem Imaginärem zurückzugreifen.32 Für das abendländische Familienleitbild unternimmt Albrecht Koschorke 2000 einen, wenn auch bedeutend knapper ausgefallenen, so im Anspruch doch ähnlich umfassenden Entwurf im Versuch über Die Heilige Familie und ihre Folgen. Koschorke spitzt darin die These zu, dass das trianguläre Familienmodell von Vater, Mutter und Sohn durch die »Umstellung des Vaterschaftscodes« vom irdischen Stiefvater Joseph zu Gottvater die Vertikale ins Transzendente verlängere und damit einerseits deren strukturbildende Kraft bestärke, andererseits aber durch die Aufspaltung der Vaterposition in die transzendente und irdische für vielfache Besetzungsmöglichkeiten Raum schaffe, deren »Folgen« nur prekär sein können: der »Umschaltmechanismus zwischen innerweltlich-familialer und transzendenter Kopplung« ermögliche eine Übertragbarkeit von Vaterattributen von Gottvater auf seinen irdischen Stellvertreter, den Priester, ebenso wie auf das protestantische Oberhaupt der Familie oder auf das Ideologem Vater Staat, selbst auf die rivalisierende ödipale Vaterposition bis hin auf die Leerstelle in der ›vater-

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Vgl. Lacan, 1973b, S. 119: »Im Namen des Vaters müssen wir die Grundlage der Symbolfunktion erkennen, die seit Anbruch der historischen Zeit seine Person mit der Figur des Gesetzes identifiziert.« Vgl. Irigaray 1980 (frz. 1974), 1979, 1991. Zu Irigaray vgl. Frei Gerlach 2004.

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losen Gesellschaft‹. Möglich wird diese trotz aller Krisenhaftigkeit der Vaterposition strikt auf die Filiation fokussierte Familienvorstellung durch die exegetische Ausstreichung der in den Evangelien dokumentierten Geschwisterbeziehungen im jüdischen Herkunftskontext von Jesus, dem Sohn aus Nazareth. Koschorke verfolgt das weitere Schicksal der Geschwisterposition in seinem Versuch über den »DreiPersonen-Haushalt« nicht,33 und so sei hier nachgetragen, dass diese als geistliche Geschwister, als Brüder und Schwestern im Herrn, wieder in einen nun bedeutend erweiterten Familienkreis hereingeholt werden und die christliche Gemeinschaft als Ganze bezeichnen. Fazit dieser beiden Metaentwürfe aber auch einer Vielzahl anderer, sich auf bescheidenere Erkenntnisinteressen beziehender Untersuchungen, ist: Die abendländische Kulturgeschichte ist eine Geschichte des Patriarchats, das sich gegen Ansprüche, die seine Macht streitig zu machen suchten, erfolgreich zu wehren wusste. Nachhaltige Abstriche an dieser Erfolgsgeschichte hat erst das 20. Jahrhundert gefordert. Dieser Befund ist fraglos von grosser Relevanz und musste gerade im Hinblick auf das wichtige sozialpolitische Ziel einer gleichberechtigten Gesellschaft erst einmal erhoben werden. Doch bietet er wie jede Metaerzählung zwar eine hilfreiche Orientierung, im Einzelfall aber gilt ihm mit Skepsis zu begegnen. Einspruch im Namen einer komplexeren Sichtweise haben denn inzwischen auch diverse Einzeluntersuchungen erhoben, die im Detail nachweisen können, dass – beispielsweise in der Zeit um 1800 – von einer vielstimmigen, widerspruchsreichen und offenen Diskurskonstellation auszugehen ist, die nicht von ihrem Ergebnis her – dem Ausschluss von Frauen aus der bürgerlich-politischen Öffentlichkeit – auf eine lineare Patriarchatsgeschichte reduzierbar ist.34 Ich möchte darüber hinaus auf einer grundsätzlicheren Ebene zu bedenken geben, inwieweit Theorieannahmen – beispielsweise lacanianischer Provenienz – und die eigene kulturelle Einbettung in vertikale Wahrnehmungs- und Denkverhältnisse den Blick auf mögliche Aktualisierungen der Horizontalen schon auf der Ebene der Forschungsdispositionen verschließen. Denn im kulturellen Gedächtnis Europas steht neben dem patriarchalen35 auch ein alternatives Familiendispositiv bereit, dessen Tragweite – so die These dieser Studie – bei weitem noch nicht erfasst worden ist. Wie Jack Goody in seiner Untersuchung über Ehe und Familie in Europa (1983) zeigt, bestanden grundsätzlich zwei unterschiedliche Systeme zur Berechnung von Verwandtschaftsgraden: Die römische Methode, die die Zahl der Generationen-

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Vgl. Koschorke 2000, S. 28, 124, 210, 18. Der Begriff der ›vaterlosen Gesellschaft‹ ist 1919 von Paul Federn geprägt worden (vgl. a.a.O. S. 237); von Jesu Geschwister erzählt Mt 13, 54–56. Vgl. Opitz/Weckel/Kleinau 2000, bes. die Einleitung, die diese Forschungstradition der Frauen- und Geschlechtergeschichte kritisch reflektiert. Auch matriarchale Modelle, die sich ebenso aus der Aktantenstruktur der Heiligen Familie herleiten lassen, akzentuieren die Vertikale und bieten im Hinblick auf die Achsenstruktur keine Alternative.

schritte zwischen ego und alter berechnet und damit gemäß der oben eingeführten Sprachregelung vertikal strukturiert ist, sowie das germanische System, das »auf der Einheit der Geschwistergruppe« und damit der Horizontalen basiert. Mit meinen Geschwistern bin ich nach dieser Zählweise im ersten Grad verwandt, während es gemäß römischem System nur im zweiten Grad wäre.36 Lange Zeit gab die Frage der Berechnungsmethode innerhalb der Kirche Anlass zu Auseinandersetzungen.37 Und dies auch noch, nachdem sich im elften Jahrhundert offiziell das germanische oder fraternale System durchgesetzt hatte, da besonders in adligen Kreise vorerst an der römischen Zählweise festgehalten wurde. Doch letztlich ist der damit eingeleitete Prozess der horizontalen Konfiguration von Verwandtschaft unumkehrbar: Die definitorische Achse der europäischen Familie bildet etwa seit dem elften Jahrhundert die Horizontale des Geschwisterverhältnisses.38 Dieser Befund erstaunt und wirft Fragen auf. Denn im 20. Jahrhundert ist die als überzeitliche Norm verstandene Familienvorstellung vertikal ausgerichtet und definiert sich über die Achsen des Kindes zu Mutter und Vater. Horizontalität machen wir in unserer heutigen kollektiven Wahrnehmung vor allem in der Elternbeziehung geltend, und diese, das hat die Genderforschung inzwischen vielfach belegt, hat durch die Asymmetrie von Geschlecht eine starke Tendenz zur Vertikalen hin. Wie kommt es, dass sowohl in Forschungsarbeiten als auch in unserem Alltagsverständnis immer wieder die Vertikale als dominierend herausgearbeitet und erfahren wird?39 Weshalb ist unsere Familienvorstellung von schiefen Dreiecken geprägt, die die vertikalen Achsen betonen und eigentlich gar keine Dreiecke sind, da die eine Achse, diejenige vom Kind zum Vater, ins Transzendente (Gottvater) respektive Transzendentale (Gesetz des Vaters) verlängert und – historisch gesehen – auch über einen langen Zeitraum juridisch 40 machtvoller ist? Und wie gelingt

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Goody 1986, S. 151f.; vgl. auch Sabean 1998, S. 8f. und 2002. Burguière/Lebrun 1997, S. 75f., weisen die Bedeutung des geschwisterlichen Verwandtschaftsverhältnisses für den französischen Raum nach. Zur Bedeutung Goodys für die Verwandtschaftsforschung vgl. Jussen 2009. Die Autoren unterscheiden auf der Basis des kanonischen und des Gewohnheitsrechts drei Berechnungsgrundlagen: das geschwisterliche Verwandtschaftsverhältnis oder die Blutsverwandtschaft; das matrimoniale Verwandtschaftsverhältnis, das aus der copula carnalis hervorgeht; und das individuelle Verwandtschaftsverhältnis, das den Verwandtschaftsgrad qua Hierarchie der Abstimmungslinien bestimmt. Vgl. Goody 1986, S. 156, Burguière/Lebrun 1997, S. 75f. Letztere verweisen auch auf die vorrömische Formel: »Non pater et mater sunt truncus, sed frater et soror«. Vgl. Gestrich/Krause/Mitterauer 2003, 335ff. Aus der Fülle der Arbeiten zur Eltern-Kind-Beziehung seien exemplarisch genannt: Opitz 2002 (Forschungsdiskussion zur Vaterrolle S. 21ff., zur Mutterschaft S. 39ff.), Vinken 2001, von Matt 1997, Lenzen 1997. Dagegen sind kultur- respektive literaturwissenschaftliche Studien zu Geschwistern dünn gesät und kommen entweder über eine Motivreihung nicht hinaus (Vielhauer 1979, Salisbury 1993) oder sind an den Biographien ›großer Männer‹ orientiert (vgl. Pusch 1985, Damm 1988). Sowohl im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 als auch noch im

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es gerade diesem Modell, als symbolische Ordnung Anspruch auf Universalität zu erheben? Die Gründe für die Dominanz der Vertikalen sind vielfältig, betreffen im Kern aber das Thema der Macht und damit eine zentrale Konstitutionsbedingung des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses. Macht, so hat Foucault deutlich gemacht, durchzieht alle menschlichen Verhaltensweisen, wirkt im Kleinen wie im Grossen und tritt in vielfältigen Formen auf. 41 Alle menschlichen Zusammenhänge sind von Machtwirkungen mitbestimmt, es gibt kein Außerhalb von Macht und ihren Effekten: Macht ist in diesem Sinne elementar. Diese Elementarkraft nun hat eine unverkennbare Tendenz zur Vertikalen. Ein Teilen von Macht ist gesellschaftstheoretisch schon vielfach eingefordert worden, die praktische Ausübung davon hat sich noch jedes Mal als höchst schwierig erwiesen, da bisher kein Vertragswerk und keine Ideologie stark genug waren, um Macht dauerhaft auf der Horizontalen auszutarieren. Die politischen Modelle Demokratie, Republik, Sozialismus und Kommunitarismus haben ebenso wie die sozialen Gemeinschaften der Brüder- und Schwesternbünde oder die Entwürfe zur Gleichstellung der Geschlechter, Ethnien und Religionsgemeinschaften gezeigt, dass die realen Ausführungen weit hinter den theoretischen Postulaten zurückstehen. Nicht nur liegt den meisten Konzeptionen ein prekärer Gleichheitsbegriff zugrunde, der bestimmte Gruppierungen nicht mitmeint, sondern auch sogenannt ›Gleiche‹ zeigen de facto eine hohe Anfälligkeit für die Akkumulation von Macht und einer damit verbundenen Formierung dominierender Gruppierungen. Wie dies funktioniert, hat George Orwell in paradigmatischer Weise 1945 in seiner Parabel Animal Farm gezeigt. Nicht verwunderlich ist deshalb, dass das Erleben entlang der Vertikalen kulturell besser eingeübt ist: Es ist das, was von Oben kommt oder nach Oben führt, was wir vor allem anderen zur Kenntnis nehmen, Wahrnehmung ist in der christlich-abendländischen Kultur dominant vertikal strukturiert. 42 Dieser Effekt christlich-abendländischer Disziplinarmacht zeigt sich gemäß Foucaults Theorieannahmen in repressiven wie produktiven Wirkungen. Repressiv wirkt sich ein vertikaler Code auf das Potenzial der Horizontalen aus, denn nur über eine kritische Reflexion der eigenen Ordnungsmuster und einen Perspektivenwechsel vermögen wir, die Horizontale als strukturierend und in gewissen Zusammenhängen sogar als ein Dispositiv der Macht 43 wahrzunehmen, wie es das Anliegen der Analyse von Konstellationen der Horizontalen um 1800 in der kulturhistorischen Grund-

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Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 kommt dem Vater rechtlich die Entscheidungsgewalt über das Kind zu; vgl. Hubbard 1983, S. 55ff. Vgl. bes. Foucault 1978, 1983. Eine gute Zusammenfassung der verschiedenen Facetten des foucaultschen Machtbegriffs bietet Ruoff 2007, S. 146–157. In diesem Sinne wiederholt Ley 2001, 1995. Vgl. zum Begriff des Dispositivs der Macht die Begriffsklärung nach Foucault 1983, S. 35, 87, 105; 1978, S. 119ff. in der Einleitung zu dieser Arbeit, sowie Ruoff 2007, S. 101f. und Agamben 2008.

legung dieser Studie ist. In Wissenschaft, Kunst, Religion, Wirtschaft und Politik bis hin zu unseren individuellen Lebensentwürfen zeigt sich zugleich auch die enorme Produktivkraft vertikaler Orientierung, sei es in deduktiven Systembildungen, in künstlerischen Statements, sei es in Transzendenzvorstellungen oder in Aufschwungs- und Aufstiegsszenarien, um nur einige Beispiele zu nennen. In unseren Familienvorstellungen besteht ein Effekt der vertikalen Orientierung darin, dass wir die Eltern-Kind-Beziehung als familienbildend wahrnehmen. Als Bildspender dafür steht im kulturellen Gedächtnis des Abendlandes insbesondere das schon skizzierte Modell der Heiligen Familie bereit. Deren Transferangebot impliziert aber auch, dass die Modellfamilie nur ein Kind hat und dieses männlichen Geschlechts ist. In zentralen Punkten wiederholt das psychoanalytische Familienmodell, das Sigmund Freud um 1900 entwickelt hat, die Kodierungen der Heiligen Familie. 44 Freud greift für sein Dreiecksmodell jedoch auf einen anderen Ort im kulturellen Gedächtnis zurück und fasst die Dynamik der Achsen neu: Mit Rückgriff auf den Ödipusmythos beschreibt Freud die libidinösen Besetzungen in der Kernfamilie um 1900 als Begehren des Kindes nach und Rivalität zu seinen Eltern. 45 Aus den verschiedenen im kulturellen Imaginären vorhandenen Modellen von Familien-Konstellationen scheint sich das Dreieck von Vater, Mutter und Sohn als besonders intelligibel zu erweisen. Hierin bestätigt sich einmal mehr die androzentrische Ausrichtung der abendländischen Kultur, es zeigt sich aber auch eine Präferenz für einfache und abgeschlossene Systeme. Genealogisch notwendig sind allein die Positionen der Kernfamilie, Vater, Mutter und Kind: Keine ist ohne die beiden anderen möglich. Die Figur des Dreiecks verbindet die kleinstmögliche Zahl von Einzelpunkten zu einer geschlossenen Form. Figuren mit mehr als drei Eckpunkten eröffnen dagegen vielfältige Möglichkeiten, und die Verbindung zwischen zwei Punkten, die Gerade, verläuft sogar ins Offene: Das Hinzukommen von Geschwistern eröffnet eine Reihe, die potenziell unabschließbar ist und an Stelle von Notwendigkeit auf Kontingenz verweist. Es ist dies eine Kontingenz, die nicht nur das alter, sondern auch das ego erfasst. 46 Doch bruchlos lässt sich die Kontinuität des Dreieckmodells nur behaupten, wenn allein vertikalen Strukturen im kulturellen Gedächtnis Relevanz zugeschrie-

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Vgl. Koschorke 2000, S. 203ff. Als Gründungsstelle für den Ödipuskomplex gilt der Forschung eine Stelle im Brief Freuds vom 15. Oktober 1897 an Wilhelm Fließ: »[... man] versteht die packende Macht des Königs Ödipus [...], die griechische Sage greift einen Zwang auf, den jeder anerkennt, weil er dessen Existenz in sich verspürt hat«. Zitiert nach Laplanche/Pontalis 1998, S. 352. Erstmals als Ödipuskomplex benannt hat Freud den von ihm entdeckten Zusammenhang 1910 in seiner Schrift »Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne«. Zur Geschwisterreihe vgl. Wellendorf 1995, S. 303f. Analog verweist auch die Erweiterung der Elternpositionen auf Kontingenzen.

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ben wird. Die Ersetzung des Modells der Heiligen Familie durch das Ödipusmodell um 1900 indiziert aber nicht nur Umkodierungen auf der Vertikalen, wie Koschorke sie als Machtverschiebung von der Vater- auf die Sohnesposition beschreibt. 47 Der historische Ort der Geburt des psychoanalytischen Familienmodells lässt sich adäquat nur beschreiben, wenn deutlich wird, dass Freud sich auch gegenüber der Tradition der Labdakiden-Rezeption radikal neu positioniert. Wie George Steiner minutiös nachweist, steht das 19. Jahrhundert unter dem Bann der Antigone: Nicht Sophokles König Ödipus (ca. 429–425 v. Chr.) sondern seine Antigone gilt unter Literaten und Philosophen als schönste und vollendetste antike Tragödie; Figur und Konflikt der Schwester, ihre besondere Beziehung zum Bruder berühren unmittelbar und stellen »Gegenwart« her. 48 Hugo von Hofmannsthal fasst 1900 in seinem Vorspiel zur Antigone des Sophokles eine gut hundertjährige Begeisterung in Verse: Dies strahlende Geschöpf ist keines Tages! Sie hat einmal gesiegt und sieget fort. [...] mein Unvergängliches rührt sich in mir: aus den Geschöpfen tritt ihr tiefstes Wesen heraus und kreist funkelnd um mich her: ich bin der schwesterlichen Seele nah ganz nah, die Zeit versank [...]49

Zur »schwesterlichen Seele« aus dem »griechisch Trauerspiel« stellt Hofmannsthals Prolog eine zeitübergreifende Nähe her, versichert sie einer »fürchterliche[n] Gegenwart«, die sich vom Siegeszug der Antigone-Szenographie her- und diesen weiterschreibt. Es ist die geschwisterliche Beziehungsdynamik, die solche Aktualität herstellt und – in Anlehnung an die Goetheschen Verse über die »schwesterlichste

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Vgl. Koschorke 2000, S. 213. Hofmannsthal, Dramen III, S. 479. Steiner 1988 folgt in seinem ersten Kapitel der Wirkungsgeschichte der sophokleischen Antigone, namentlich den Transformationen bei Hegel, Goethe, Hölderlin und Kierkegaard. Als einen »grundlegenden Passus der Antigone-Welle« macht er ein Buch des Abbé Jean-Jacques Barthélémy von 1788 aus, Voyage du jeune Anacharsis, das – neben dem Zusammentreffen von Hegel, Hölderlin und Schelling im Tübinger Stift und deren hier initiierten Griechenbegeisterung und Antigone-Auseinandersetzung – eine bedeutsame Weichenstellung für die Griechenlandbegeisterung des 19. Jahrhunderts vornahm. Die Geschichte eines jungen Reisenden im nachperikleischen Griechenland erzählt vom prägenden Bildungserlebnis einer Antigone-Aufführung und wirkt nachhaltig auf das kollektive Imaginäre des Lesepublikums. 1841 konkretisiert sich dies mit einer Erfolgsserie von Antigone-Aufführungen auf deutschen und französischen Bühnen, ausgelöst durch die Inszenierung von Ludwig Tieck, die Vertonung der Chöre durch Felix Mendelssohn Bartholdy und die Neuübersetzung von J.J. Chr. Donners. Das Konzept der antikisierenden Kostüme und Choreographie begeisterte das Theaterpublikum, und die Mendelssohn-Chöre gehörten bald zum Standardrepertoire im geselligen Musizieren in Familie und Gesangsverein. Vgl. a.a.O., S. 19ff. Hofmannsthal, Dramen III, S. 484.

der Seelen« – auch bei Hofmannsthal als Superlativ vorgestellt wird.50 Gefeiert wird hier der Sieg der horizontalen, nicht derjenige der vertikalen Tiefenstruktur. Diese horizontale Tiefenstruktur, die in der germanischen Zählweise bereits im 11. Jahrhunderts greifbar ist, sich um 1800 in vielfältigen diskursiven Zurichtungen, sozialen Praxen und im individuellen Erleben als alternatives und produktives Dispositiv konsolidiert und im 19. Jahrhundert im Namen der Antigone eine anerkannte Vorrangstellung verficht, wird mit Freuds Entscheidung für Ödipus und dem durchschlagenden Erfolg des ödipalen Modells an die Peripherie gedrängt und überlässt in der familiären Codierung dem vertikalen Paradigma den Platz. Die Erfolgsgeschichte des ödipalen Modells im 20. Jahrhundert ist untrennbar mit der Erfolgsgeschichte der Psychoanalyse verbunden: Die Analyseraster produzieren genau diese Familienstruktur, so dass sich die These im hermeneutischen Zirkel stets neu realisiert, während andere Strukturierungsmöglichkeiten aus dem Blick fallen. Dabei kann, dies nur nebenbei, die Ödipus-Figur nicht ohne Komplexitätsreduktion zur Repräsentationsfigur für die Vertikale werden, denn Ödipus steht in seinem Ursprungskontext in einer mehrfach kodierten verwandtschaftlichen Position: Er ist gegenüber Iokaste Sohn und Gatte, gegenüber Laios Sohn und Nebenbuhler, gegenüber Antigone, Ismene, Polyneikes und Eteokles Vater und Bruder. Auch Ödipus bezeichnet, wie es Judith Butler für die Antigone-Figur herausgearbeitet hat, einen kinship trouble und damit die Grenzen der Repräsentation von Verwandtschaft.51 Erst die Rezeptionsgeschichte hat beide Figuren zu Ikonen der Ordnung der Familie gemacht und dabei Antigone zur Repräsentationsfigur der Schwester und Ödipus zur Repräsentationsfigur des Sohnes vereindeutigt. Wie bewusst Freud den Paradigmenwechsel von Antigone zu Ödipus vorgenommen hat, lässt sich nicht sagen, da er dies nicht zum Thema macht. Doch in seinen Untersuchungen zum Witz und dessen Beziehung zum Unbewussten (1905), an der er zur Zeit der Entwicklung seiner Ödipus-Theorie schreibt, lässt sich ein Beispiel über die Technik der zweifachen Wortverwendung als selbstreflexive Pointe – die, wie ebenda zu lernen ist, nur mit Beteiligung des Unbewussten möglich ist – auf die Verneinung des Primates der Antigone lesen: Die Kritik einer Berliner Antigone-Aufführung bemängelte den fehlenden antiken Charakter der Inszenierung, worauf folgender Witz kursierte, den Freud uns weitererzählt: »Antik? Oh, nee.«52 Es hätte auch anders kommen können. Was wäre, wenn die Psychoanalyse statt von Ödipus von Antigone ausgegangen wäre?53 Es gibt zeitgenössische Entwürfe,

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Ebd., S. 480, 479; 481: »der schwesterlichsten Seele Schattenbild [...], Antigone, [...] ist Wirklichkeit, und alles andre ist Gleichnis und ein Spiel in einem Spiegel«; sowie Goethe, »Euphrosyne«, Bd. 1, S. 194, Vers 135. Vgl. Butler 2001. Freud 1970, Bd. 4, S. 33. Diese Frage stellt – im Anschluss an Steiner, 1988, S. 32f. – auch Judith Butler 2001, S. 93. Butlers Antwort darauf gipfelt in der These, dass Antigone keinen heterosexuellen

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die die mit der Theorieentwicklung parallel laufende Institutionalisierung der sich herausbildenden neuen wissenschaftlichen Disziplin der Psychoanalyse in einer Familienstruktur denken, die nicht vertikal, sondern horizontal organisiert wäre: so beispielsweise von Sándor Ferenczi in seiner programmatischen Schrift Zur Organisation der psychoanalytischen Bewegung von 1910.54 Doch hat sich dieser Denkansatz nicht behaupten können, weder für die Vereins-, noch für die Familienstruktur. Theoretisch eingeholt worden ist das horizontale Modell aber im ausgehenden 20. Jahrhundert: Befasst mit der Untersuchung von Geschwisterbeziehungen, schreiben eine Reihe von PsychoanalytikerInnen der Horizontalen strukturbildende Kraft zu und plädieren für einen Paradigmenwechsel von der Vertikalen zur Horizontalen. Eine verstärkte Forschungstätigkeit zu Geschwisterbeziehungen beginnt in den achtziger Jahren im angloamerikanischen Raum, Publikationen im deutschsprachigen Kontext setzen in den neunziger Jahren ein.55 Bezeichnend daran ist, dass Geschwisterbeziehungen zu einer Zeit in den Fokus der Forschung gelangen, in der die durchschnittliche Geschwisterzahl im Sinken begriffen ist: Die Aufmerksamkeit auf das Potenzial des Geschwisters ist auch eine Reaktion auf eine kollektive Verlusterfahrung. Die PsychoanalytikerInnen Horst Petri, Katharina Ley, Hans Sohni und Gunter Klosinski machen gegen die Dominanz des Eltern-Kind-Modelles geltend, dass Geschwister bei der Konstitution der Ich-Position eine wesentliche Rolle spielen, dass hier zweitens soziale Kompetenz und emotionale Nähe trainiert werden und dass Geschwisterbindungen drittens den höchsten Grad an sozial verlässlicher Kontinuität besitzen. Sie greifen dabei, neben den Beispielen aus ihrer therapeutischen Praxis, mit Vorliebe auf Märchen, Mythen und Sagen aus dem Fundus des kulturellen Gedächtnisses zurück und zeigen überzeugend auf, dass Geschwisterbeziehungen – und mit ihnen homologe Beziehungsstrukturen zwischen Gleichaltrigen

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Abschluss des Dramas hervorbringe und damit Heterosexualität aussetze (S. 122f.). Damit gliedert sie ihre Antigone-Lektüre in die von ihr anderswo überzeugender dargelegte Argumentation eines dem Inzesttabu vorgängigen Tabus gegen Homosexualität ein (vgl. Butler 1991, S. 93–122). Sophokles’ Antigone lässt sich in diese Argumentation aber nicht einpassen: Die Figur Haimon und die Vereinigung der Liebenden im Tod, ein Motiv, das nachmalig vor allem durch Shakespeares Romeo und Julia zu Berühmtheit gelangt ist, stehen der Butlerschen Lesart diametral entgegen. Ausf. dazu Teil I, Kap. 1.5, 2.3.3. Darin plädiert Ferenczi dafür, dass die Homologie von Vereins- und Familienstruktur in der anstehenden psychoanalytischen Vereinigung dahingehend genutzt werde, dass ein Verband von »vereinigten jüngeren und älteren Geschwistern« mit einem Vater, dem »keine dogmatische Autorität« zukomme, entstehe. Ferenczi 1970, S. 53. Zu Ferenczis horizontalem Entwurf vgl. auch Sohni 1999, S. 6. Eine Ausnahme bildet hier Alfred Adler. Er hat die Geschwisterthematik insofern als Gegenstand der Forschung eingeführt, als er von gegebenen Minderwertigkeitsgefühlen des Kindes ausgehend Kompensationsversuche in der Geschwisterbeziehung untersucht hat. Zur Aufarbeitung der Forschungssituation und -geschichte in der Psychologie vgl. Lüscher 1997; zum Stand insbesondere der anglo-amerikanischen Forschung vgl. Kasten 2009.

oder Gleichgestellten – als eigenständige Grunderfahrung betrachtet werden müssen. Die strukturierende Wirkung der Horizontalen zu übersehen, so das einhellige Fazit, verunmögliche eine adäquate Analyse der Persönlichkeitsstruktur und ihrer intersubjektiven Valenzen.56 Zu diesem Schluss kommt auch Franz Wellendorf in seiner Skizze der Wissenschaftsgeschichte der Psychoanalyse, die er entgegen der Erzähltradition als eine Geschichte der »Geschwisterkämpfe« erzählt, in der es um die Auslöschung der Rivalen ging. Wellendorf zeigt auf, wie in der Gründungszeit der psychoanalytischen Bewegung fachliche, institutionelle und persönliche Fragen und Konflikte interagieren und sich homolog zur dominierenden Fachmeinung ›lösen‹: als Verschiebung von der horizontalen Ebene der Bruderkonflikte (zwischen Ernest Jones, Karl Abraham und Max Eitingon einerseits und Sándor Ferenczi und Otto Rank andererseits) auf die vertikale Ebene der Vater-Sohn-Beziehung (wobei Freud die Vaterposition einnimmt und Jones aus dem Kampf der Söhne siegreich hervorgeht).57 Ähnliches vollzieht sich laut Wellendorf bei Freuds persönlicher Entscheidung für das Modell Ödipus: Wenige Tage vor der ersten Erwähnung des Ödipus in jenem viel zitierten Brief an Fließ schreibt Freud seinem Briefpartner von seinem nur wenige Monate alt gewordenen Bruder Julius und den »bösen Wünschen«, mit denen er ihm begegnet war; dieser bestimme seither »das Neurotische« an seinen Freundschaften.58 Wellendorf sieht hier einen zweiten Kern der Neurose, auf den Freud in seiner Selbstanalyse gestoßen ist, den er aber nicht in sein Theoriegebäude integrieren wird: Im Familienroman der Psychoanalyse agieren allein die Eltern, nicht die Geschwister des egos. Julius wird in Freuds Schriften nicht mehr erwähnt werden.59 Damit sind einige Ansatzpunkte einer Kulturgeschichte der Horizontalen skizziert. Eine solche hat zu bedenken, dass der Befund horizontaler Strukturen, wie er sich als definitorische Achse der europäischen Familienvorstellung gemäß germani-

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Vgl. Petri 1994, Ley 1995, 2001, Sohni 1999, Klosinski 2000; vgl. auch Frick 2004. Der Konflikt eskalierte im Anschluss an Otto F. Ranks 1924 erschienenes Buch Das Trauma der Geburt und endete in erbitterten persönlichen Feindschaften. Entlarvend in Bezug auf das Konfliktlösungsschema ist Jones’ Nachrede über Rank in seiner großen Freud-Biographie: »Mir war bekannt, daß Rank in seiner Kindheit unter einer stark verdrängten Feindseligkeit gegenüber seinem Bruder sehr gelitten hatte, eine Haltung, hinter der sich gewöhnlich entsprechende Gefühle gegen den Vater verbergen. Diese lud er nun auf mich ab, und meine Hauptsorge bestand darin, Freud vor den Auswirkungen zu schützen [...]. Drei Jahre hindurch lebte ich in der Angst, Ranks ›Bruder-Feindseligkeit‹ könnte auf die tieferliegende ›Vater-Bruder-Feindseligkeit‹ regredieren, trotz allem hoffend, daß dies nicht zu Freuds Lebzeiten geschehen werde«. Jones 1962, Bd. 3, S. 64. »Ich kann nur andeuten, [...] daß ich meinen ein Jahr jüngeren Bruder [...] mit bösen Wünschen und echter Kindereifersucht begrüßt hatte und daß von seinem Tod der Keim zu Vorwürfen in mir geblieben ist. [...] Dieser Neffe (es handelt sich um Freuds Neffen John, F.F.G.) und dieser jüngere Bruder bestimmen nun das Neurotische, aber auch das Intensive an allen meinen Freundschaften«. Brief an Fließ vom 3. Oktober 1897; zitiert nach Wellendorf, 1995, S. 300. Vgl. Wellendorf 1995.

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schem Verwandtschaftsmodell ergeben hat, für sich genommen nicht reicht, damit sich das Potenzial der Horizontalen entfalten kann. Es braucht eine entsprechende Diskurskonstellation, eine entsprechende soziale Praxis und ein ebensolches individuelles Erleben, um die Horizontale gegen einen kulturhistorisch meist dominierenden vertikalen Code zu aktivieren. Diese Disposition ist nach 1968 gegeben und ermöglicht damit nicht nur den eben skizzierten Paradigmenwechsel in der Psychoanalyse, sondern auch die Perspektive dieser Studie. Eine solche Disposition war aber auch um 1800 gegeben. Dies soll im kulturhistorischen Teil dieser Studie exemplarisch dargelegt und dann spezifisch in der Analyse der literarischen Texte gezeigt werden. Über diesen Kernbereich um 1800 hinaus seien hier noch ein paar Anhaltspunkte zu einer Vorgeschichte der Horizontalen gegeben. Diese Skizze einer Metaerzählung bekennt sich unumwunden zur Schwäche der Textsorte, möchte aber zugleich deren Stärke nutzen: Metaerzählungen stellen gerade durch ihre Fokussierung auf stringente und dominante Bedeutungslinien einen Raster bereit, innerhalb dessen die Analyse situiert und vor dem die Bestätigungen, Verschiebungen, Ersetzungen und Überschreibungen, die literarische Texte vorführen, allererst sichtbar gemacht werden können. Als alternative Metaerzählung ist diejenige der Horizontale immer schon auf die dominante der Vertikalen bezogen. In ihrem Verweisungsverhältnis schärft sie darum den Blick für die eigentliche Frage: Welche Strukturachse wird warum, wie und in welchen Zusammenhängen betont, und zwar nicht nur im untersuchten Textmaterial, sondern auch in der eingenommenen Untersuchungsperspektive? Eine Geschichte der Horizontalisierung von Verwandtschaft und Familie kann sich auf die jüngsten Ergebnisse der historischen Sozialforschung berufen, die eine historisch sich verstärkende Tendenz auf die Horizontale konstatiert. Ein wichtiges Indiz dafür ist der in fast allen europäischen Sprachen beobachtbare Prozess der Parallelisierung der Verwandtschaftsterminologie. Im Deutschen verschieben sich etwa seit dem Mittelalter ehemals patri- beziehungsweise matrilinear differierende Verwandtschaftsbezeichnungen (wie ›Base‹ für die Schwester des Vaters versus ›Muhme‹ für die Schwester der Mutter) auf eine bilinear gleichlautende Terminologie (d.h. Onkel und Tante sowohl für Geschwister auf mütterlicher wie väterlicher Seite).60 Damit korrespondiert die Parallelisierung in der Terminologie von Blutsund Heiratsverwandtschaft.61 Beide Terminologieparallelisierungen signalisieren einen Bedeutungsverlust des Abstammungsdenkens – wobei Adelsstrukturen, die sich über ihre Zugehörigkeit in der Ahnenreihe definieren, hier eine wichtige Ausnahme bilden – und eine Zunahme der Bedeutung von horizontal strukturierten Verwandtschaftsbeziehungen, insbesondere der Gattenbeziehung.

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Ein Prozess, der im Griechischen schon in vorchristlicher Zeit und im Vulgärlatein in der Spätantike beginnt. Vgl. Gestrich/Krause/Mitterauer 2003, S. 166ff. Vgl. ebd. S. 355ff.

Den Prozess der Horizontalisierung indiziert darüber hinaus die Ausweitung der Geschwisterterminologie auf soziale Gemeinschaften, die nicht auf Blutsverwandtschaft basieren. Die zunehmende Bedeutung von christlichen und laizistischen Bruder- und teilweise auch Schwesternschaften im 18. Jahrhundert62 und die dort gepflegten Ideologien bestimmen die spezifisch europäische Entwicklung von Herrschaft und Mitbestimmung entscheidend mit. Die Parole der fraternité in der Französischen Revolution ist mit ein Ausdruck davon.63 Michael Mitterauer beschreibt in seiner Geschichte der Familie den Trend der mittelalterlichen Gesellschaftsentwicklung in Europa als eine Bedeutungszunahme genossenschaftlicher Sozialformen und damit horizontaler Beziehungen: Diese spezifisch europäische Gesellschaftsentwicklung stehe in ursächlichem Zusammenhang mit dem Prinzip der ›geistlichen Verwandtschaft‹.64 Die starke Betonung der Horizontalen, die David Warren Sabean in der horizontalen Rekonfiguration von Verwandtschaft im 18. Jahrhundert geltend macht und von einer vertikalen Organisation im Barock abhebt, wird von Mitterauer im Unterschied zu Sabean schon im Mittelalter als Tendenz wahrgenommen: Hier bahnt sich tatsächlich eine alternative Metaerzählung an. Sie ist fraglos Ausdruck einer Antithese gegen die tradierte vertikale Perspektive. Es ist eine Frage des Standpunktes, inwieweit schon im Feudalsystem des Mittelalters von Horizontalisierung gesprochen werden kann. Aus der Perspektive des 18. Jahrhunderts und seiner – mit Sabean – »kulturellen Obsession« auf die Bruder-Schwester-Dyade, die sich in einer durch zahlreiche Dispense belegten, endogamen Heiratspraxis der ländlichen Oberschicht konkretisiert,65 kann für die im Mittelalter beobachteten Tendenzen allenfalls von Anfängen gesprochen werden. Der damit gesetzte Anfang einer Horizontalisierung von Verwandtschaft ist der Beginn einer zwar nicht steten, aber nachhaltigen Entwicklung.

1.4

Existenzweisen von Geschwisterbeziehungen und die symbolische Ordnung

Geschwistergruppen sind strukturell auf einer Horizontalen situiert. Je nachdem, welche Kriterien die Geschwisterschaft stiften und aufrecht erhalten, konkretisiert sich diese Struktur generationell, ideologisch oder metaphorisch, in Erfahrungen, Vorstellungen oder Eigenschaften.

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Die Ausweitung des Bruder-Begriffs auf nichtverwandte Männer reicht schon in vorchristliche Zeit zurück, neu und ausschließlich christlich ist, dass neben der Bruder-Bezeichnung in gleicher Funktion der Schwester-Begriff gebraucht wird; vgl. ebd., S. 196. Vgl. dazu Teil I, Kap. 2.4.1 bis 2.4.3. Vgl. Gestrich/Krause/Mitterauer 2003, S. 198, Mitterauer 2009. Sabean 1998, S. 73ff., 428–448; und ders., 2002.

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Geschwister im gängigen Sprachgebrauch, als Kinder eines Elternpaares oder eines Elternteiles, sind Teil derselben Generation. Über Geburt gestiftete Geschwisterschaft ist nicht frei gewählt, sondern existenziell gegeben und unkündbar. Wir befinden uns in einer Beziehung zu unseren Geschwistern, wir können diese Beziehung pflegen oder sie ablehnen, doch aus ihr heraustreten können wir nicht. Alle, die Geschwister sind und haben, müssen sich dieser Beziehung stellen, sind von dieser Beziehung geprägt und können – bei positivem Verlauf – auf diese Beziehung bauen. Dies ist von grosser Relevanz, denn gewöhnlich ist die Geschwisterbeziehung die längste Beziehung unseres Lebens. Wachsen Geschwister in einem gemeinsamen Haushalt auf, wie dies für die Western family typisch ist, so sind sie von ähnlichen Sozialisations- und Defizitserfahrungen geprägt: Dies bildet einen Grundstock an gemeinsamen Ressourcen, auf die im Verlauf des Lebens immer wieder zurückgegriffen werden kann. Gewöhnlich gehören Geschwister auch bei unterschiedlichen Lebensentwürfen zu den ersten Zeugen biographischer Ereignisse wie Hochzeit, Geburt eines Kindes oder beruflichen Weichenstellungen. Und bei der Bewältigung von Verlusten, wie dem Zerbrechen der Partnerschaft, Krankheit und Tod naher Angehöriger, kann die geschwisterliche Anteilnahme eine wichtige Stütze sein. Wie die Geschwisterforschung gezeigt hat, besitzen Geschwisterbindungen einen besonders hohen Grad an sozial verlässlicher Kontinuität.66 Empirische Untersuchungen liegen bisher vor allem für das 20. Jahrhundert vor,67 doch auch historische Zeugnisse fokussieren die Intensität und Kontinuität der Geschwisterbeziehung: Mir erscheint nun, dasz dieser edle, die menschheit festigende und bestätigende hintergrund seine gröszte kraft hat zwischen geschwistern, stärkere sogar als zwischen eltern und kindern. geschlechter haben sich zu stämmen, stämme zu völkern erhoben nicht sowohl dadurch, dasz auf den vater söhne und enkel in unabsehbarer reihe folgten, als dadurch dasz brüder und bruderskinder auf der seite fest zu dem stamm hielten [...] ich laufe gefahr mich in eine politische anwendung zu verlieren und will lieber den einfachen grund angeben warum brüder sich besser verstehen und erkennen als vater und sohn. eltern und kinder leben nur ein halbes leben miteinander, geschwister ein ganzes. [...] geschwister, wenn ihr lebensfaden nicht zu früh abgeschnitten wurde, haben zusammen als kinder gespielt, gehandelt als männer und nebeneinander gesessen bis ins alter. niemand weisz folglich bessern bescheid zu geben als vom bruder der bruder und diesem natürlichen verhalt hinzu tritt noch ein sittlicher. der vater vom sohne redend wird sich seiner gewalt über ihn stets bewust bleiben, der sohn zeugnis vom vater ablegend der gewohnten ehrfurcht nie vergessen. geschwister aber stehen untereinander, ihrer wechselseitigen liebe zum trotz, frei und unabhängig, so dasz ihr urtheil kein blatt vor den

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Vgl. Frick 2004, Ley 2001, 1995, Klosinski 2000, Sohni 1999, Lüscher 1997, Petri 1994, Wellendorf 1995. Auch die folgenden Aussagen über Geschwisterspezifi ka stützen sich auf diese AutorInnen. Vgl. Kasten 2009. Kasten isoliert aufgrund seines Forschungsüberblicks »Nähe« und »Rivalität« als wesentliche »Bestimmungsstücke« von Geschwisterschaft über verschiedene Lebensphasen, und kommt zum Schluss, dass Rivalität zwischen Geschwistern im Verlauf des Lebens tendenziell abnimmt.

mund nimmt. und dazu nun die leibliche geschwisterähnlichkeit [...] brüder theilen sich des vaters und der mutter gesicht [...]; laszt brüder sich in der kindheit noch so unähnlich erscheinen, im alter wenn ihre wangen einfallen, gleichen sie einander durch die bank.68

In seiner Rede auf Wilhelm Grimm, gehalten am 5. Juli 1860, nimmt Jacob Grimm eine besonders enge Geschwisterbindung zum Anlass für eine Laudatio auf die strukturierende Kraft der Horizontalen für die individuelle und die gesellschaftliche Entwicklung, und wertet dabei den Einfluss der Horizontalen höher als den der Vertikalen. Kann der Lebensentwurf der Brüder Grimm, die wiederholt zusammen arbeiteten und lebten und stets im engsten Austausch standen, auch keineswegs als repräsentativ für seine Zeit gelten, so hält Grimms Aussage doch exemplarisch – wenn auch ausschließlich für Brüder – zentrale Kriterien einer Geschwisterbeziehung fest: Neben der strukturierenden Kraft der Horizontalen für die individuelle, soziale, emotionale und sittliche Entwicklung ist es vor allem die intersubjektive Kontinuität, die eine Geschwisterbeziehung auszeichnet: »eltern und kinder leben nur ein halbes leben miteinander, geschwister ein ganzes.« Umso gravierender kann sich eine unrettbar feindliche Geschwisterbindung auswirken: auch sie besteht lebenslänglich. Die Dynamik der Geschwisterbeziehung formuliert sich im Spannungsfeld zwischen einer Orientierung an Ähnlichkeit, Nähe, Gleichheit einerseits und der Orientierung an Eigenständigkeit, Abgrenzung, Differenz andererseits: Autonomie und Beziehungsfähigkeit bilden für den bürgerlichen Subjektentwurf das Ziel. Dass an dieser Herausbildung der Persönlichkeit nicht nur vertikale, sondern auch horizontale Strukturen beteiligt sind, ist ein Wissen, das in Textzeugnissen um 1800 in hohem Maße virulent ist, theoretisch aber erst im ausgehenden 20. Jahrhundert eingeholt wird. Wie die psychoanalytische Forschung der letzten Jahrzehnte zeigt, spielen Geschwister einen wichtigen Part in der individuellen und sozialen Entwicklung der Persönlichkeit. Entgegen dem Paradigma der älteren Geschwisterforschung, die Neid und Rivalität als geschwisterliches Grundgefühl isoliert, überwiegen gemäß neuerer Geschwisterforschung die positiven Grundgefühle.69 In der Persönlichkeitsentwicklung hat das Miteinander von Geschwistern entscheidenden Anteil an der Konstitution der Ich-Position, der Herausbildung von Emotionen und der Entwicklung und Umsetzung sozialer Kompetenzen. Die Abgrenzung vom Du und die gegenseitige Anerkennung des anderen Ichs, die Herausbildung von und der Umgang mit Gefühlen wie Liebe und Geborgenheit, aber auch Eifersucht und Angst, die Entwicklung und Umsetzung sozialer Kompetenzen wie Geben und Nehmen, Verantwortung, Gerechtigkeitsempfinden, Fürsorge und Anteilnahme werden durch die Geschwisterbeziehung in großem Maße

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Grimm 1865, S. 4f. Zu einem Forschungsüberblick vgl. Lüscher 1997, S. 3–11, und Kasten 2009, der als Forschungsdesiderat die Differenzierung der positiven wie negativen Komponenten der Geschwisterbeziehung nach Lebensabschnitten ausmacht.

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strukturiert. Dank der Grundgefühle von Nähe, Verlässlichkeit und Zusammengehörigkeit können auch Enttäuschungen und Ängste leichter ertragen und verarbeitet werden. Die für einen Paradigmenwechsel auf Horizontalität plädierende psychoanalytische Geschwisterforschung hat ihre Ergebnisse aus der Analyse von Geschwisterbeziehungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewonnen und beschreibt in erstaunlicher Nähe zu Grimms Thesen als zentrale Strukturmerkmale: Identitätsversicherung, emotionale Nähe, soziale Kompetenz und intersubjektive Kontinuität. Dagegen fokussiert die Geschwisterkonstellationsforschung, die mit dem viel beachteten Buch von Frank Sulloway Born to rebel (1996) neuen Auftrieb erhalten hat, Differenzen und Rivalitäten zwischen den Geschwistern. Gemäß Sulloways darwinistisch-evolutionsbiologischer Forschungshypothese ist es biologisch sinnvoll, dass Individuen mit unterschiedlichen Strategien um begrenzte Ressourcen (die Fürsorge der Eltern) konkurrieren: Antrieb der Persönlichkeitsentwicklung sind gemäß Sulloway Rivalität und ein Verdrängungskampf um Anerkennung und Erfolg, wobei die dafür verfolgte Strategie entscheidend von der Stellung in der Geburtenfolge abhänge. Unumgänglich ist darüber hinaus gemäß Sulloway, sich der Tatsache zu stellen, dass Eltern das Erstgeborene bevorzugen, da sie hier schon am meisten an Fürsorge investiert haben. Sulloway hat seine Thesen anhand von 6566 Biographien der letzten 500 Jahre erhoben und geht von deren überhistorischer Gültigkeit aus.70 Gegen seine Konstellationsthesen lässt sich nun schon mit Jacob Grimm einwenden: man hört wol sagen, dasz in gesegneter ehe die älteren kinder mehr dem vater, die jüngeren mehr der mutter nachschlagen, sowie dasz unter den söhnen der erste minderbegabt sei als der zweite, diesen aber der dritte übertreffe, wie auch in kindermärchen immer der dritte hervorgehoben wird; haben solche wahrnehmungen irgend grund, so stehn ihnen sicher zahllose ausnahmen entgegen.71

Stehen Sulloways Thesen also »sicher zahllose ausnahmen entgegen«, die darüber hinaus in einem ausgewogeneren Untersuchungsrahmen, der die Position in der Geburtenfolge nicht absolut setzt, sondern als einen Faktor unter anderen gewichtet,72 ihren ›Ausnahmezustand‹ verlieren, so ist doch festzuhalten, dass auch Rivalität Teil von Geschwisterbeziehungen ist und in Forschungsdispositionen berücksichtigt werden muss. Die Frage, die sich damit bei Geschwisterbeziehungen und den darüber angestellten Forschungen stellt, lautet darum: Wie werden in den

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Vgl. Sulloway 1997. So sind gemäß Sulloway Erstgeborene eher konservativ und prädestiniert für Führungspositionen in bestehenden Strukturen, Spätgeborene dagegen eher rebellisch und fähig zu Entdeckungen und Erneuerungen. Grimm 1865, S. 5. Wobei hier mit zu bedenken ist, dass der in der Rede gefeierte Wilhelm der Drittgeborene der grimmschen Familie ist. Vgl. Klosinski 2000, S. 10ff.

untersuchten Aussagen und in den Forschungsdispositionen die Paradigmen Liebe und Rivalität gewichtet?73 Anders als die Eltern-Kind-Beziehung hat die sozialhistorische Forschung Existenzweisen von Geschwisterbeziehungen noch kaum zum Thema gemacht.74 Angesichts der in den Geschichten der Familien gerade für die Zeit um 1800 aufgezeigten unterschiedlichen rechtlichen und genderspezifischen Möglichkeiten von Heranwachsenden, der Bedeutung von Geburtenfolge beispielsweise im Erbrecht sowie der Pflichten gegenüber Geschwistern, »die sich selbst zu ernähren ganz unfähig sind«,75 ist für Geschwisterbeziehungen mit einem weiten Spektrum an Existenzweisen, Emotionen und sozialen Praxen zu rechnen. Die im Rahmen dieser Arbeit untersuchten literarischen und philosophischen Textzeugnisse und insbesondere die in zeitgenössischen Lexika dokumentierte historische Semantik dagegen spiegeln diese sozialhistorische Forschungshypothese nicht. Vielmehr zeichnet sich in der symbolischen Ordnung um 1800 ein recht einheitliches Bild der geschwisterlichen Beziehungsbegriffe (Bruder, Schwester, Geschwister) und der damit verbundenen Vorstellungen ab. Die historische Semantik liefert signifikante Indizien dafür, dass Geschwister in der symbolischen Ordnung um 1800 als eine egalitäre, horizontal strukturierte und emotional hochgradig positiv besetzte soziale Beziehung konzipiert sind, die im kulturellen Gedächtnis tradierte und in der lebensweltlichen Praxis zweifellos bestehende Rivalitäten narkotisiert oder allenfalls peripher einbegreift.76 Die Übereinstimmungen der Geschwisterdiskurse um 1800 mit den psychoanalytischen Thesen der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts erweisen das ausgehende 18. Jahrhundert als eine entscheidende kulturhistorische Station für die Formierung von Geschwisterlichkeit als Modell einer horizontalen Beziehung. Aus der symbolischen Ordnung können selbstredend keine direkten Rückschlüsse auf soziale Praxen gezogen werden. Die Analyse der symbolischen Ordnung zeigt aber Muster des kulturellen Imaginären und damit auch psychosoziale Orientierungen auf, die implizit soziale Praxen und individuelle Existenzweisen mitbestimmen. An der Formierung der symbolischen Ordnung von Geschwistern ist Literatur in mehrfacher Weise beteiligt.77 Literatur entwirft Modelle, spielt Konflikte und Lösungsmuster durch, reflektiert gegebene Ordnungen und wirkt mit an deren Fixierung oder Veränderung, wobei familiäre Beziehungen zu den

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Exemplarisch hierzu die Positionierung von Petri 1994: Geschwister: Liebe und Rivalität; Ley 1995: Geschwisterliches: Jenseits der Rivalität. Eine Ausnahme bilden hier die Beiträge von L’Homme 2002 sowie Schnyder 2008, die in einer Mikroanalyse den Geschwisterbeziehungen einer Schweizer Pfarrfamilie im frühen 20. Jahrhundert nachgeht. Vgl. Allgemeines Preußisches Landrecht von 1794, § 15; zitiert nach Hubbard 1983, S. 61. Vgl. Teil I, Kap. 2.1. Vgl. zur Rolle von Literatur für Familienvorstellungen auch Anz/Kanz 2000, S. 19ff.; Habermaas 2000, S. 345ff.

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Kernthemen dafür gehören. Insbesondere im Roman und im bürgerlichen Trauerspiel stehen Familienbeziehungen im Handlungszentrum, der Erfolg dieser Genres um 1800 ist nicht zu trennen von der Bedeutung der dargestellten Inhalte für die Rezipientinnen und Rezipienten. Im Unterschied zur heutigen medialen Vielfalt inszenierter Geschichten – in der das Familienthema als Kernstück des Genres Soap nach wie vor hohe Quoten erzielt – behauptet Literatur um 1800 eine unbestrittene Vorrangstellung. Und dies so sehr, dass die Wirkungen von Literatur auf Lebensentwürfe und Existenzweisen Gegenstand einer engagiert geführten Debatte waren, in der die Suchtwirkung von Literatur namentlich auf das weibliche Lesepublikum diskutiert wurde. Doch nichts zeigt wohl deutlicher die Rolle von Literatur als Reflexionsmedium als die Tatsache, dass die Interdependenzen zwischen Literatur und Leben selbst Gegenstand literarischer Gestaltung wird, wie in Goethes Einakter Die Geschwister.78 Die Wirkung erzählter Familiengeschichten beginnt jedoch schon vor dem Eintritt ins Lesealter: Erzählt werden Kindern von ihren erwachsenen Verwandten oder den Erziehungsberechtigten gewöhnlich die Primärgeschichten aus unserem kulturellen Imaginären, Märchen und Mythen, die zahlreich und vielfältig von Familienkonstellationen und insbesondere von Brüdern und Schwestern handeln. Gerade diese Primärerzählungen weisen ein breites Spektrum an Familienmöglichkeiten und -konflikten auf, wie es die stilbildenden Sammlungen der Brüder Grimm dokumentieren. Darüber hinaus indiziert auch die Zirkulation von Begriffen wie Familiendrama, Familienroman oder Familienblätter die wirkungsmächtige Verflechtung von Familie und Literatur: Die charakteristischen Gattungen und Medien des 18. und 19. Jahrhunderts nehmen in der Massenkultur eine den heutigen Soaps homologe Funktion ein.79 Für die Zeit um 1800 aber ist Literatur auch die Ressource, aus der sich eine wegweisende Bestandsaufnahme des semantischen Wissens speist: Das Wörterbuchprojekt der Brüder Grimm, dessen erster Band 1854 erschienen ist und das 1960 dann vorläufig abgeschlossen wird, exemplifiziert die dokumentierten Begriffe hauptsächlich mit literarischen Beispielen. Angesichts der vorhandenen Vielfalt erzählter Geschwisterverhältnisse im gerade von den Brüdern Grimm in wichtigen Teilen lesbar gemachten kulturellen Gedächtnis erstaunt die präsentierte Auswahl doch: Insbesondere das Stichwort ›Bruder‹ im zweiten Band, an dem noch Wilhelm und Jacob beteiligt waren, dokumentiert ein Begriffsverständnis, in dem Ähnlichkeit, Liebe und Gegenseitigkeit dominieren. Es scheint, dass hier nicht nur Ermächtigungsstrategien der Horizontalen, wie sie auch in empfindsamen und politischen Diskursen virulent sind,80 das zeitgenössische Verständnis von Geschwisterschaft

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Spezifischer über den Realitätsgehalt der Lesesuchtsdebatte und zu Goethes Geschwister vgl. Teil II, Kap. 2.1. Vgl. Anz/Kanz 2000, S. 20. Vgl. dazu Teil I, Kap. 2.3, 2.4.

als einer positiven und gleichwertigen Beziehung formieren und die Auswahl an Beispielen selektionieren. Zu bedenken ist, ob nicht der individuelle Lebensentwurf und die spezifische Existenzweise der Brüder Grimm hier noch katalysatorisch wirkten:81 So hätte dieses spezifische Geschwisterband über das enzyklopädische Projekt, das uns heutigen WissenschaftlerInnen als Indikator der sprachlichen Verfasstheit um 1800 gilt, zumindest retrospektiv eine exemplarische Wirkung. Neben den genannten Kriterien, die Geschwisterverhältnisse in Leben und Literatur bestimmen, ist der Faktor Geschlecht von entscheidender Bedeutung: Die Herausbildung der geschlechtlichen Identität ist in starkem Maße von der Auseinandersetzung mit dem eigenen und dem anderen Geschlecht geprägt, und dafür bietet sich in der Western family der geschwisterliche Rahmen über seine horizontale Struktur besonders an. Insbesondere die Beziehungsfähigkeit zum anderen Geschlecht wird auf geschwisterlicher Ebene erprobt. Dass literarische Texte um 1800 die Ähnlichkeit und Differenz zwischen gegengeschlechtlicher Geschwister- und Geschlechterliebe mit einer bislang unerreicht gebliebenen Persistenz verhandeln,82 indiziert eine Problemlage von hoher psychosozialer Brisanz. Diesen Zusammenhängen will ich im folgenden Kapitel über »Geschwisterpaare« systematisch, im kulturhistorischen Teil diskurs- und literaturgeschichtlich sowie in den Textanalysen in mehrschichtigen Lektüren nachgehen. Doch zuvor gilt es, das Spezifische von Geschwisterbeziehungen, die nicht über Geburt oder gemeinsames Aufwachsen gestiftet sind, zu benennen. Denn hier findet sich jene Umschaltstelle zwischen individuellen und gesellschaftlichen Konzepten und Existenzweisen, die Jacob Grimm mit seiner »politische[n] anwendung«83 andeutet. Geschwisterschaften, die auf Bündnistechniken basieren, sind nicht existenziell gegeben, sondern – mehr oder weniger – frei gewählt und werden performativ hergestellt. Religiöse, laizistische oder politische Geschwisterschaften orientieren sich dabei an einer Geschwisterideologie, die die oben isolierten positiven Werte der Geschwisterbeziehung transportiert: Horizontalität, Egalität, Solidarität und Kontinuität. Die Ressourcen, die das Beziehungsmodell Geschwisterlichkeit für den Entwurf einer guten und gerechten Gesellschaft bereithält, dürfte die utopische Perspektive sein, die die Sozietätenbildung motiviert.84

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Vgl. dazu die Detailanalyse in Teil I, Kap. 2.1. Stützen lässt sich diese These mit Differenzen in der Begriffserfassung der Stichwörter ›Bruder‹ und ›Schwester‹: Der Artikel zu ›Bruder‹ im noch von den Brüdern Grimm selbst herausgegebenen zweiten Band fällt nämlich eine Spur positiver aus. Zu hinterfragen wäre aber, ob die unterschiedliche Behandlung von Rivalität und Ungleichheit bei Brüdern und Schwestern Ausdruck einer Geschlechterauffassung ist oder mit dem späteren Erscheinen des Bandes zu den mit »S« (Bd. 9 ist 1899, Bd. 2 dagegen schon 1860 erschienen) beginnenden Begriffen zu tun hat, oder ob beide Erklärungsansätze verknüpft werden müssen. Vgl. Titzmann 1991, Baßler 2000, Frei Gerlach 2003, ausf. dazu Teil I, Kap. 2.2, 2.3, Teil II, Kap. 2, Teil III, Kap. 2. Grimm 1865, S. 4. Konkreter zu Ideologie und Realität institutioneller Geschwisterschaften vgl. Teil I,

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Zentrale Werte einer guten und gerechten Gesellschaft wie Gleichheit, Gerechtigkeit, Verantwortung, Fürsorge und Zusammengehörigkeit werden semantisch dem Begriffsfeld ›Geschwisterlichkeit‹ zugeschlagen. Die metaphorische Begriffsverwendung, wie sie beispielsweise – weniger oder mehr geschlechterbewusst – in der Französischen Revolution als fraternité oder in der neuen Frauenbewegung als sisterhood gemeinschaftsstiftend wirkte, verdankt ihre identifikatorische Kraft der Verbindung mit diesen Werten. Für die Konstitution einer sozialen Gruppe unter dem Begriff einer ›Brüder‹- oder ›Schwesternschaft‹ sind zudem die Stabilität und Kontinuität, die im Begriffsfeld mitschwingen, äußerst verheißungsvoll. Laizistische wie religiöse Geschwisterschaften verlieren nach 1800 sukzessive an Bedeutung und die zugrundeliegende Ideologie von Solidarität und Partizipation85 ist im 19. und 20. dominanter in marxistisch-sozialistischen und feministischen Kontexten relevant.86 Um 1800 jedoch sind insbesondere brüderlich organisierte Vereinigungen von hoher gesellschaftspolitischer Relevanz und darum ein wichtiger Faktor für das Verständnis davon, was Geschwisterlichkeit damals bedeutet. An der Erfolgsgeschichte institutioneller Geschwisterschaften und an der Formierung der damit verbundenen Vorstellungen ist auch Literatur in spezifischer Weise beteiligt: Zum einen schlägt sich ein großes Bedürfnis nach Selbstdarstellung der Sozietäten und komplementär nach öffentlichem Wissen um die Geheimnisse der geheimen Gesellschaften in einer ausgedehnten Publizistik nieder, für die sogar eigene Rezensionsorgane geschaffen werden. Zum andern bietet sich die narrative Grundstruktur von ›Geheimnis und Aufklärung‹ für die Transformation des Geheimbundmaterials in Literatur so augenfällig an, dass das neu entstehende Genre des Geheimbundromans eine rasante Erfolgsgeschichte schreibt. Eigene Erfahrungen der Autoren mit der Realität in den geheimen Gesellschaften fokussieren als literarisches Thema aber bald einmal die Diskrepanz zwischen horizontaler Ideologie und vertikaler Realisierung und führen dazu, dass vor allem die ästhetisch-formalen Möglichkeiten des Geheimbundmaterials genutzt werden, auch losgelöst von den zugehörigen Ideologien.87 Diese Zusammenhänge werden dann ausführlicher in der kulturhistorischen Grundlegung sowie den Textanalysen zu Jean Pauls Umgang mit der Geheimbundthematik zur Sprache kommen.

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Kap. 2.4.1 bis 2.4.3, zu ihren literarischen Transformationen Teil II, Kap. 3.2, Teil III, Kap. 3. Vgl. zum Bedeutungsfeld fraternité und der historischen Fluktuation der Begriffsinhalte zu solidarité und participation Antoine 1981, S. 133ff. Wobei Männerbünde auch eine zentrale Organisationsform der faschistischen Bewegung sind, deren Ideologie dominant vertikal geprägt ist. Vgl. dazu die umfassende Untersuchung von Voges 1987.

1.5

Geschwisterpaare und Geschlecht

Der Begriff ›Geschwister‹ impliziert mindestens eine Zweiheit, ist mengenmäßig nach oben hin aber prinzipiell offen: Geistliche Geschwister umfassen ja alle getauften Christen. Der kleinste gemeinsame Nenner der Begriffsverwendung ist das Geschwisterpaar, und diese Grundeinheit bestimmt eine zweiwertige Prävalenz unserer Geschwistervorstellung. Dies erscheint insofern sinnvoll, als eine Beziehung zwischen zwei Aktanten gegenüber einer Beziehung zwischen mehreren die nötige Komplexitätsreduktion bietet, um das Verhältnis zu spezifizieren. Auf einer grundsätzlicheren Ebene speist sich die zweiwertige Valenz aus der dualen Logik, der das abendländische Denken verpflichtet ist: Sie legt uns nahe, eine Beziehung als Verhältnis des einen zum anderen zu fassen und damit auch Dreier-, Vierer- oder Gruppenbeziehungen paarweise zu strukturieren.88 Auch das Leitbild der Western family, wie es sich angesichts der veränderten Situation in der Familienplanung im ausgehenden 20. Jahrhundert präsentiert, spiegelt diese Valenz: Als ›komplette Familie‹ schwebt uns die Konstellation eines Eltern- und eines Kinderpaares vor.89 Idealtypisch spiegelt das Kinderpaar auch die Geschlechtsidentitäten des Elternpaares: Mit Mutter und Vater, Tochter und Sohn ist jede mögliche Position der kernfamilialen Aktantenstruktur singulär besetzt, und für die ›komplette Familie‹ ergibt sich damit die grafische Figur des Vierecks. In seiner sprachlichen Verwendung ist der Begriff ›Geschwister‹ geschlechterübergreifend. Für geschlechterdifferente Bezeichnungen horizontaler Verwandtschaftskonstellationen kennen wir die Begriffe ›Brüder‹ und ›Schwestern‹. Gewöhnlich bildet die männliche Form im Deutschen die Basis für Gruppenbezeichnungen, die Frauen ungenannt mitmeinen. Diesen Sprachgebrauch, der sich besonders deutlich beim Wörtchen ›man‹ zeigt, haben feministische Analysen nachhaltig ins kollektive Bewusstsein gebracht. Die Gruppenbezeichnung ›Geschwister‹ bildet hier jedoch eine signifikante Ausnahme: Sie basiert wortgeschichtlich auf der weiblichen Form.90 Es ist also die Schwester, in deren Namen das Geschwisterver-

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Vgl. hierzu auch die grundsätzliche Begriffsbestimmung von Ute Guzzoni im einleitenden Aufsatz zum Band Beziehungen, bei der Guzzoni ebenfalls von einem »Verhältnis [...] zwischen den beiden aufeinander Bezogenen« ausgeht, und dieses dann in einem zweiten Schritt auf Selbstbeziehung, Dreier-, Vierecks- und Gruppenbeziehungen erweitert. Guzzoni 2000, hier S. 22. Vgl. z.B. die Bilder ›glücklicher Familien‹ in der Werbung. Ein Spezialfall dieser Zweiwertigkeit sind Zwillinge, die demographisch signifi kant häufiger als andere Mehrlinge vorkommen und Vorstellungen von Verdoppelung und Spiegelung in unserem kulturellen Imaginären speisen. Vgl. zu letzterem Teil I, Kap. 2.5.2. Vgl. Grimm, Art. »Geschwister«, Bd. 4, 1897, Sp. 4002ff.: »alte pluralistische bildung zu schwester, zufrühest von schwestern, dann mit einschlusz der brüder; später auch als neutrales collectivum aufgefasst und selbst von einer einzelnen person gebraucht«, wobei die Beispiele zur letzten Verwendungsweise deutlich machen, dass der kollektive Singular immer ein alter in Beziehung zu einem ego meint.

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hältnis in der deutschen Sprache begrifflich bezeichnet wird, und die Brüder sind dabei mitgemeint; bei Geschwistern nimmt die Schwester lexikalisch die sinntragende Stellung ein.91 Geschlecht, dies ist schon wiederholt angeklungen, ist ein wesentlicher Faktor in Geschwisterverhältnissen. Wie die Begriffsbezeichnungen Brüder, Schwestern und Geschwister zeigen, nehmen wir gleichgeschlechtliche und differentgeschlechtliche Geschwisterpaare unterschiedlich wahr, wobei wir bei den gleichgeschlechtlichen wiederum zwischen männlichen und weiblichen Paaren unterscheiden. Unter der Annahme, dass sich in der mitteleuropäischen Population die Anzahl Jungen und Mädchen in etwa die Waage halten, ergibt sich ein Wahrnehmungsmuster, das für das Bruder-Schwester-Paar eine statistisch signifikante Prävalenz ausweist: Zwar kommen gleichgeschlechtliche Geschwisterpaare gleich häufig vor, da wir aber Brüder- respektive Schwesternpaare als zwei verschiedene Konstellationen wahrnehmen, fungiert das Bruder-Schwester-Paar in unserer Wahrnehmung als häufigstes. Zu fragen ist nun, wie Geschwisternarrative die Kategorie Geschlecht einbeziehen. Hier sind es vorab Märchen und Mythen, die zahlreich von Geschwistern erzählen: Es gibt Erzählungen von unverbrüchlicher Geschwisterliebe und solche von Rivalität und tödlichem Hass. Neben dem prototypischen Bruderzwist von Kain und Abel stehen Erzählungen wie diejenige über Brüderlein und Schwesterlein, deren Geschwisterliebe der Metamorphose in ein Tier, dem Aufbrechen der geschwisterlichen Zweierbeziehung durch Heirat und letztlich selbst dem Tod trotzt. Eine Tendenz in unserem kulturellen Imaginären lässt sich dahingehend ausmachen, dass Geschwisterrivalität bei gleichgeschlechtlichen, Geschwisterliebe bei geschlechterdifferenten Paaren dominiert. Bei all diesen Erzählungen von Brüdern und Schwestern ist der Gender-Aspekt auch in einer zweiten Weise relevant: Einigen rettenden Brüdern steht eine Vielzahl erlösender Schwestern gegenüber. Oft ist diese Erlösung mit großem Einsatz verbunden, etwa dem Sprechverbot über Jahre, das auch angesichts des Todes nicht gebrochen wird, wie im grimmschen Märchen Die zwölf Brüder.92 Paradigmatisch sind diese Geschwisternarrative in Sophokles’ Antigone gestaltet. Polyneikes, dessen unbegrabener Leichnam den Konflikt der Antigone auslöst, ist im Kampf der um die Macht in Theben rivalisierenden Brüder gefallen: Die beiden Brüder Eteokles und Polyneikes haben sich dabei gegenseitig getötet. Doch damit nicht genug: Als Aggressor der Stadt wird Polyneikes über den Tod hinaus bestraft. Der machthabende Kreon verweigert ihm das Begräbnis und setzt auf eine Zuwiderhandlung gegen sein Gebot die Todesstrafe. Im Wissen darum nimmt

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Andere Sprachen strukturieren Geschwisterverhältnisse jedoch anders: Das Französische kennt neben frères und soeurs keine geschlechterübergreifende Kollektivbezeichnung, ebenso das Italienische; das Englische dagegen schon: sibling (vom Wortstamm sib: kinhsip, relationship; vgl. Oxford English Dictionary 1989, Bd. 15, S. 404ff.) neben brothers und sisters. Vgl. dazu Teil I, Kap. 2.5.1.

Antigone die Begräbnishandlung an Polyneikes vor: Für die Erlösung ihres Bruders nimmt die Schwester den eigenen Tod in Kauf. Die Schwestern Antigone und Ismene, die im ersten Vers der Tragödie nicht nur inhaltlich, sondern auch formal als innige Zweiheit eingeführt werden,93 entzweien sich in der Frage des Widerstandes gegen das Begräbnisverbot. Diese Entzweiung geht von einem Einspruch Ismenes im Prolog aus, wird im Textverlauf von Antigone gegen alle Versöhnungsangebote ihrer Schwester hartnäckig verfochten und gipfelt schließlich in der Aufkündigung der schwesterlichen Verwandtschaft. Offen bleibt dabei, ob hier ein Bruch aus Gesinnung oder zum Schutz der Schwester, als der einzigen Überlebenden dieser Familientragödie, stattfindet.94 Klar aber ist die Zuordnung der Geschwisterpaare in heterophile und homophobe. Verknüpfen wir diese Logik der Geschwisternarrative mit der oben festgestellten statistischen Prävalenz bei Geschwisterpaaren, so ergibt sich eine deutliche Validierung des Bruder-Schwester-Paares und der damit verknüpften Geschwisterliebe. Dies lässt sich als Effekt jener Begehrensregulierung verstehen, die im feministischen Diskurs »Zwangsheterosexualität« genannt wird.95 Deutlich wird die Machtwirkung des heterosexuellen Diskursregimes in Geschwisternarrativen vor allem in jenen Texten, die literarisch den Grenzbereich zwischen Geschwister- und Geschlechterliebe erkunden. Geschwisterliebe, die Sexualität einschließt, berührt ein kulturelles Tabu, das so gravierend ist, dass es in vielen Erzählungen mit dem Tod verbunden wird. In der Literatur ist Geschwisterinzest ein wiederkehrendes Thema und transportiert ein widerspruchsreiches Bedeutungskonglomerat von Schuld und Auserwähltheit, Verderben und Erlösung. Darauf wird noch ausführlich zurückzukommen sein, denn für die Zeit um 1800 erfreuen sich Inzestnarrative über Geschwister größter Beliebtheit, und dies keineswegs nur in ästhetisch weniger anspruchsvollen Texten.96

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»O du, geschwisterlich vertraut, Ismenes Haupt!«; zitiert in der Übersetzung von Wilhelm Willige, 1999. Dieser erste Vers gibt einige Übersetzungsprobleme auf, da er in der Formulierung κοινòν αὐτάδελφον schon zweifach Verwandtschaftsbegriffe einsetzt und darüber hinaus im Dual formuliert ist, für den es im Deutschen keine grammatikalische Entsprechung gibt. Vgl. zur Aufkündigung von Verwandtschaft Vers 876ff. und 940ff., in denen sich Antigone als »letzte« ihres Stammes sieht, sowie Vers 531ff., in denen Antigone die von Kreon als Mittäterin verdächtigte und sich selbst bezichtigende Ismene von der Tat ausnimmt und ihr das Weiterleben nahelegt. Vgl. z. B. Butler 1991, S. 46. Für die breitenwirksame Etablierung des ursprünglich von Sándor Ferenczi geprägten, dann in Vergessenheit geratenen und 1975 von Alice Schwarzer für den deutschsprachigen und Gayle Rubin für den englischsprachigen Diskurs erneut erfundenen Begriffes haben vor allem die Arbeiten Judith Butlers gesorgt. Vgl. Hauer/Paul 2006. Vgl. dazu Wilson 1984, Titzmann 1991, Baßler 2000, Frei Gerlach 2003.

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Die seit dem späten 18. Jahrhundert gängige Lesart von Geschwisterliebe als inzestuöser Situation97 darf aber nicht historisch verabsolutiert werden, sondern muss gerade bei der Lektüre älterer Texte wie der sophokleischen Antigone als historisch spezifische Rezeptionshaltung verstanden werden. Wenn Judith Butler das BruderSchwester-Paar bei Sophokles als in einem inzestuösen Begehren verstrickt liest, so projektiert sie damit die kulturelle Enzyklopädie, zu der sich die Antigone-Lektüren um 1800 verhalten, auf den altgriechischen Text zurück.98 Am Beispiel dieser symptomatischen Fehllektüre werde ich im kulturhistorischen Teil die Genese des Modells Antigone als (Anti-)Inzestnarrativ in der kulturellen Disposition um 1800 verorten und dazu die zeitgenössischen Inzestdiskurse detailliert diskutieren. Im jetzt anstehenden systematischen Zugriff sollen nun vorab die Analyseinstrumente gewonnen werden, die aufzeigen können, wie Literatur und Diskurse des Wissens Geschwisterliebe und Inzest zueinander positionieren. Darüber hinaus gilt es einen ersten Überblick zu gewinnen, welche historisch-spezifischen und systematischen Kontexte mit der Engführung von Geschwisterliebe und Inzest eröffnet werden.

1.6

Am Nullpunkt der Kultur: Inzestdiskurse

Die Begriffe des ›Inzests‹ und des ›Inzesttabus‹ umfassen kulturhistorisch gesehen eine ganze Bandbreite von Denkbildern, Begründungskonzepten und Handlungspraxen.99 Die spezifische Verbindung von Begehren, Verbot, Überschreitung und Sanktion sowie die Verortung im Verhältnis von Verwandtschaft und Gesellschaft haben Inzest und dessen Tabu zu einem Thema gemacht, an dem grundlegend Grenzen verhandelt werden. So ist Inzest immer wieder zum Denkbild geworden, an dem die Grenzen zwischen Natur und Kultur, Unreinem und Reinem, Liebe 97 98

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Den Begriff der ›inzestuösen Situation‹ führt Titzmann 1991 in seiner Analyse der Erzählliteratur der Goethezeit ein. Dabei geht es vor allem um Hegels Antigone-Lektüre, deren Bestehen auf einer begierdefreien Beziehung zwischen Bruder und Schwester Butler als Symptom dient, gerade das Verneinte als Motor des Textes zu sehen. Vgl. Butler 2001, S. 19. Die philologische und diskursanalytische Kritik an Butlers These wird in Teil I, Kap. 2.3.3 entfaltet. Der Begriff ›Inzest‹ leitet sich von lateinisch castus (keusch, rein) und in (nicht) ab, bezeichnet damit das Unreine, Unkeusche. Im Deutschen ist bereits im 16. Jahrhundert die Bezeichnung ›Blutschande‹ nachgewiesen, die dann Ende des 18. Jahrhunderts den Begriff Inzest weitgehend ablöst: Im Allgemeinen Landrecht der Preußischen Staaten (1785/94) ist ausschließlich von ›Blutschande‹ die Rede. Vgl. Sabean 2002, S. 7, und Jarzebowski 2003, S. 163. Den aus dem Polynesischen stammenden Begriff des ›Tabus‹ hat James Cook 1771 auf seiner Reise nach Tonga kennen gelernt und ins Englische eingeführt. Dabei wird dem Begriff im Kulturtransfer eine nachhaltige Doppeldeutigkeit eingeschrieben: Cook wie auch andere europäische Beobachter waren sich nicht sicher, ob ›Tabu‹ den Bereich des Heiligen oder des Unreinen bezeichne. Vgl. von Hoff 2003, S. 32. In der deutschsprachigen Literatur und Wissenschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist der Begriff noch nicht gebräuchlich.

und Sexualität ausgelotet werden, und die Bandbreite der Urteile über eine vollzogene Grenzüberschreitung reichen von Todsünde über Missbrauch und Trauma hin zu Rausch, Entgrenzung und utopischer Erfüllung.100 In der Theoriedebatte um das Inzesttabu, wie sie im 20. Jahrhundert geführt worden ist, wurde von den beiden wirkungsmächtigsten Autoren – Sigmund Freud und Claude Lévi-Strauss – aus unterschiedlicher Perspektive die These aufgestellt, dass das Inzesttabu eine Kulturforderung der Gesellschaft darstelle und damit als grundlegendstes gesellschaftliches Tabu zu betrachten sei.101 Impliziert ist dabei sowohl beim psychoanalytischen als auch beim ethnologischen Erklärungsansatz die Annahme einer primären Inzestneigung: Freud und Lévi-Strauss gehen davon aus, dass sich das libidinöse Verlangen naturgemäß auf die engste persönliche Umgebung und damit gewöhnlich die Mitglieder der eigenen Familie richte. Dies sei entwicklungspsychologisch naheliegend und nicht weiter erklärungsbedürftig.102 Die konträre Annahme einer natürlichen Inzestscheu, die im Anschluss an den Anthropologen Edward Westermarck vor allem biologischen Erklärungsansätzen zu Grunde liegt, hat sich nicht im selben Ausmaß durchsetzen können. Dies liegt unter anderem daran, dass zugleich mit der natürlichen Inzestscheu die Universalität des Inzesttabus zu den Axiomen des Ansatzes gehört: Unter dieser Präsupposition gilt es die Notwendigkeit eines Tabus zu begründen, dem das ›natürliche‹ Handeln nicht zuwiderläuft. Das Dilemma wird von den Vertretern der natürlichen Inzestscheu meist mit der Argumentation gelöst, dass nie alle Mitglieder einer Sozietät regelkonform handeln und die Sanktionen dem Schutz des Willens der Mehrheit gelten würden.103 Beide Ansätze gehen aber davon aus, dass die Einhaltung des Inzesttabus eine kulturelle Notwendigkeit sei. Wenn in der sozialen Praxis vorwiegend endogame Verbindungen eingegangen würden, so verunmögliche dies kulturelle Entwicklung und hätte zivilisatorische Stagnation zur Folge. Das Inzesttabu – und dies hat vor allem Lévi-Strauss ins Zentrum seiner Argumentation gestellt – ist damit weniger ein Verbot endogamer Verbindungen, als vielmehr ein Gebot zur Exogamie. Sowohl die Argumentation Freuds als auch diejenige Lévi-Strauss’ ist inzwischen vielfältiger Kritik unterzogen worden, insbesondere aus der Perspektive

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Vgl. zur Pluralität des Inzestbegriffs auch Eming et al. 2003, Einleitung, und von Hoff 2003, Kap. I. Vgl. Freud 1991; 1970, Bd. 5, S. 127; Lévi-Strauss 1993. Noch vor Freuds Erstveröffentlichung von Totem und Tabu (1913) ist eine literaturwissenschaftliche Bearbeitung des Inzestthemas erschienen: Otto Ranks Pionierstudie Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage (1912), die auch kulturhistorisches Material wie Gerichtsprozesse berücksichtigt und in ihrem Kapitel »Sitte, Brauch und Recht der Völker« eine ethnohistorische Perspektive eröffnet. Zur Forschungsdiskussion um Inzest und dessen Tabu vgl. Eming et al. 2003; von Hoff 2003; Butler 2001, 2000, 1999; Kiper 1994; Hirsch 1994; Klein 1991; Von Braun 1989; Kiefl 1986; Rubin 1975. Vgl. dazu Kiefl 1986, S. 252ff., Klein 1991, S. 85ff.

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der Gender Studies. Denn die Theorien formulieren zugleich mit der kulturellen Grundlegung im Inzesttabu auch eine Zementierung von patriarchalen Genderrollen. Wegweisend für die feministische Kritik war hier Gayle Rubin, die Freud und Lévi-Strauss als avancierteste Theorien weiblicher Unterdrückung liest.104 Unmittelbar evident ist dies in der für ihre Geschlechterspezifität inzwischen viel kritisierten Formulierung von Lévi-Strauss: »Das Inzestverbot ist weniger eine Regel, die es untersagt, die Mutter, Schwester oder Tochter zu heiraten, als vielmehr eine Regel, die dazu zwingt, die Mutter, Schwester oder Tochter einem anderen zu geben.« 105 Die gegenwärtige feministische Diskussion stellt ein zweite Implikation der Inzesttheorien zur Diskussion: die darin vorausgesetzte Heterosexualität. Judith Butler stellt in ihrer Kritik an Freud und Lévi-Strauss deren These einer primären Inzestneigung in Frage und die – auf Foucaults produktiver Macht der Repression gründende – Gegenthese auf, dass das Inzesttabu sexuelles Begehren und damit auch die Inzestneigung allererst produziere. Als Ursprungstabu, das dem Inzesttabu logisch vorausgehe, macht sie ein Tabu gegen Homosexualität geltend. Gemäß Butler regelt das Inzesttabu damit zu allererst die Grenze zwischen Homo- und Heterosexualität und produziert eine heterosexuelle Begehrensstruktur. In ihrer Antigone-Lektüre differenziert Butler ihr Argument weiter aus und kommt zum Schluss, dass bestimmte Verwandtschaftsformen mit Hilfe des Inzesttabus als intelligibel und lebbar erst geschaffen würden.106 Doch auch wenn die Kritik die Implikationen der Kulturleistung, die durch das Inzesttabu geschaffen werden, in Frage stellt, so bleibt darin die grundlegende These der Kulturleistung des Inzesttabus unangetastet. Soll diese These also Gültigkeit beanspruchen können, so muss für das 18. Jahrhundert nicht nur gefragt werden, welche Diskurse und Narrative das Reden über Inzest strukturieren, sondern auch, ob die im Namen der Inzestthematik erfolgten Grenzverhandlungen Fragen der Entwicklung und Stagnation von Kultur berühren. Historisch gesehen gilt es bei der Rede von Inzest zu differenzieren. Erfahrungen von Inzest, die vor dem 20. Jahrhundert öffentlich vor allem dann wurden, wenn es zu gerichtlichen Untersuchungen kam,107 zeigen eine Verschränkung von struktureller und sexueller innerfamiliärer Gewalt und damit eine soziale Realität, die in diskursiven Verhandlungen über verwandtschaftsbedingte Eheverbote völlig

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Vgl. Rubin 1975, bes. S. 200. Lévi-Strauss 1993, S. 643. Vgl. Butler 1991, bes. 93–122; 2000, 2001, S. 112. Und dies war meist dann der Fall, wenn eine uneheliche Schwangerschaft eintrat und nach der Geburt in einem Verhör durch Hebamme und Obrigkeit hartnäckig nach dem Kindsvater geforscht wurde, oder wenn das Kind umgebracht worden war. Es ist darum von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Vgl. Rublack 2003, S. 126f. Ausf. zu Inzestdiskursen und Erfahrungen von Inzest im 18. Jahrhundert vgl. Teil I, Kap. 2.3.2.

ausgeblendet sein kann.108 Und Narrative entwerfen nicht selten ein enges Geflecht von Inzestbefürchtungen und -wünschen. Zu differenzieren ist weiter auch der Sprachgebrauch. Eine soziologische Definition Ende des 20. Jahrhunderts bezeichnet als Inzest den »heterosexuellen Geschlechtsverkehr zwischen blutsverwandten Eltern und Kindern und zwischen blutsverwandten Geschwistern.«109 Der Begriff des Inzests ist heute vorwiegend in wissenschaftlichen Diskursen virulent, im gegenwärtigen politischen und populären Sprachgebrauch ist an seine Stelle die Formulierung vom ›sexuellen Missbrauch‹ getreten. Damit verbinden sich konzeptionell eine hierarchische Beziehung sowie die Positionen von Täter und Opfer: ein Begriffsverständnis, das sich maßgeblich um 1800 formiert. Grundlage dafür ist die Entflechtung von Inzest als Eheverbot, der nun zivilrechtlich, und Inzest als innerfamiliärem Missbrauch, der im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 strafrechtlich geregelt wird. Die zivilrechtliche Neuregelung der Ehehindernisse verengt den Bereich dessen, was als inzestuös gilt, auf die engsten Blutsverwandten: Dies ist Ausdruck einer Biologisierung von Inzest, was der nun gebräuchliche Begriff ›Blutschande‹ indiziert. Zugleich findet im kulturellen Imaginären um 1800 ja aber eine Validierung von inzestuösem Begehren statt, sofern es sich auf der horizontalen Ebene vollzieht: Es wird als natürlich und – sofern es nicht realen Inzest in der Kernfamilie betrifft – als legitim gewertet, wie zahlreiche Dispense für endogame Verbindungen im Verlauf des 18. Jahrhunderts und schließlich die Abschaffung von Inzestverboten für Schwager- und Stiefverwandte zeigen.110 In die strafrechtliche Regelung von Inzest gehen Überlegungen zu Machtverhältnissen in familiären Beziehungen ein, so dass ›Blutschande‹ zwischen Eltern und Kindern härter als ein Geschwisterinzest bestraft wurde: Mit dem strafrechtlich relevanten Komplex der ›Blutschande‹ verbinden sich damit primär vertikale Familienbeziehungen.111 Vertikale Inzestpaare sind es auch, die im Zentrum der psychoanalytischen Theorie stehen, die nun aber nicht als reale sexuelle Beziehung vorgestellt, son-

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Vgl. Rublack 2003, die in der Auswertung von 130 Inzestfällen in Südwestdeutschland zwischen 1533–1700 zeigt, dass es hier um das geht, was wir heute als ›sexuellen Missbrauch‹ bezeichnen. Die Verbindung von Inzest und sexueller Gewalt im 18. Jahrhundert weist die Untersuchung von Jarzebowski anhand von Prozessakten in Preußen nach, und fokussiert die Differenz zwischen Inzesterfahrung und zeitgenössischem normativen Diskurs über Inzest. Vgl. Jarzebowski 2006, 2003. Krechner zeigt ebenfalls am Beispiel Preußens für das 19. Jahrhundert, wie die Entkriminalisierung von ›Blutschande‹ als Ehehindernis es ermöglicht, realen Inzest als sexuelle Gewalt strafrechtlich zu fassen. Des Weiteren zeichnet sie die folgenschwere Verknüpfung von ›Blutschande‹ mit den Kategorien Klasse und Rasse nach, die sich im 19. Jahrhundert vollzieht und im frühen 20. Jahrhundert der faschistischen Ideologie als Begründungspool diente. Vgl. Kerchner 2003. Vgl. zu letzterem auch von Braun 1989. Klein 1991, S. 10. Vgl. Teil I, Kap. 1.1, 1.3, 2.3.2. Vgl. Jarzebowski 2003, Kerchner 2003.

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dern als Begehrensstruktur im Symbolischen verortet werden. Aus der psychoanalytischen Begriffsverwendung und den mythischen Kontexten, aus denen die entsprechenden Konzepte entwickelt worden sind, speist sich die Valenz der phantasmatischen Begehrensstruktur und einer – so der Anspruch – universell geltenden Station in der persönlichen Entwicklung: die für eine gesunde psychosexuelle Entwicklung notwendige Bewältigung des Ödipuskomplexes.112 Prägen diese beiden Diskurskonstellationen um 1800 und um 1900 das heutige mitteleuropäische Begriffsverständnis von Inzest, so ist im US-amerikanischen Kontext der Inzestbegriff inzwischen so flexibel geworden, dass mit ihm all das bezeichnet werden kann, was ›zu nah‹ ist, sowie jede Art von Machtasymmetrie.113 Differenziert werden muss drittens, welche Konstellation als inzestuös gilt und welche Paare die Debatten über Inzest jeweils dominieren. Während Ehewillige in der frühen Neuzeit hoch komplizierte Berechnungen anstellen mussten, um Inzest als Ehehindernis definitiv auszuschließen, gelten gemäß heutigem Verwandtschaftsverständnis allein Konstellationen zwischen engsten Blutsverwandten als inzestuös.114 Historisch gesehen fokussieren jeweils spezifische Paare die Debatten über Inzest. David Warren Sabean unterscheidet diachron drei unterschiedliche Paare, an denen sich Inzestbefürchtungen respektive Inzestwünsche konkretisieren: Während sich die Inzestdiskussion der jüngeren Vergangenheit auf die Dyade von Vater und Tochter konzentrieren, stehen zwischen 1740 und 1840 das BruderSchwester-Paar und im 17. Jahrhundert der Witwer und die Schwester der verstorbenen Gattin im Zentrum.115 Die bisher zur Verfügung stehenden sozialhistorischen Forschungen lassen keinen stringenten Zusammenhang zwischen der Häufigkeit realer Inzeste und ihrer diskursiven Verhandlung zu. Historisch gesehen kann die Frage nach dem Verhältnis von sozialer Realität zu normativen Diskursen und zu Narrativen, die Inzestphantasien verhandeln, auch nur bedingt gestellt werden, da Daten zu realem Inzest nur insofern vorliegen, als Inzestfälle öffentlich wurden. Für das 20. Jahrhundert stellt sich die Datenlage etwas anders dar, da mit der Verbreitung der psychoanalytischen Theorie, die im Kern eine der inzestuösen Besetzungen ist, und mit dem Aufkommen der feministischen Gesellschaftskritik, die Innerfamiliäres vom Privaten ins Politische transferierte, sowie letztlich auch mit dem erstarkenden Bewusstsein für die Rechte des Kindes eine breite Sensibilisierung für Inzest stattgefunden hat.

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Die mangelnde Reflexion des freudschen Konzeptes auf seine genderspezifischen Implikationen ist schon früh der Kritik unterzogen worden, so führt C.G. Jung schon 1913 den Begriff des ›Elektrakomplexes‹ in die psychoanalytische Theorie ein. Vgl. Laplanche/ Pontalis 1998, S. 129. Zum Ödipuskomplex vgl. ebd. S. 351–357. Vgl. Sabean 2002, S. 7ff. Auch hier findet die entscheidende Weichenstellung im 18. Jahrhundert statt, vgl. Jarzebowski 2006, S. 79ff., 2003, S. 164ff. Vgl. Sabean 2002.

Gemäß heutigem Verwandtschaftsverständnis werden drei zentrale Konstellationen des primären Inzests unterschieden, die als je eigene Phänomene mit unterschiedlichem Konfliktpotenzial und verschiedenem Realitätsgehalt zu betrachten sind, und die auch im kulturellen Imaginären mit unterschiedlichen Bedeutungen beladen werden: Vater-Tochter, Mutter-Sohn und Bruder-Schwester.116 Vertikale Inzestpaare sind durch eine Machtdifferenz bestimmt, die adäquat mit dem Begriff des ›sexuellen Missbrauchs‹ bezeichnet werden kann und sich historisch und zeitgenössisch vorrangig in Vätern als den Tätern und Töchtern als Opfern konkretisiert. In den historischen Inzestdiskursen mit dem grössten Tabu belegt ist jeweils der Mutter-Sohn-Inzest, der als Ödipus-Komplex im Zentrum der psychoanalytischen Theorie steht und im Phädra-Stoff eine enorme literarische Wirkungsgeschichte entfaltet hat, realiter aber höchst wahrscheinlich die seltenste Inzestpraxis darstellt. Da ein Verständnis von Frauen als möglichen Täterinnen aber erst wachsen musste und immer noch muss, sind solche Aussagen nur mit Vorsicht zu machen.117 Auch Aussagen über den Realitätsgehalt von Geschwisterinzest stehen auf unsicherem Boden, da hier wohl die grösste Dunkelziffer und zugleich die höchste gesellschaftliche Akzeptanz bei einer vollzogenen Grenzüberschreitung aufeinandertreffen. Strafrechtlich gilt er als die harmlosere Inzestvariante, da damit die Vorstellung von Ebenbürtigkeit und Gegenseitigkeit und nicht von Missbrauch verbunden wird.118 Eine deutliche Umakzentuierung bis hin zur radikalen Umdeutung der mit Inzest verbundenen Begriffsinhalte nehmen Narrative vor: Im kulturellen Imaginären werden mit Geschwisterinzest Schöpfungsgeschichten, produktive Entgrenzungen sowie die dem Begriff semantisch konträre Reinheit verbunden. Mythen erzählen den Anfang der Welt von einem Geschwisterpaar her oder besetzen die

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Vgl. Hirsch 1994, S. 23ff. Diese Differenzierung und unterschiedliche Bewertung von Inzestpaaren findet sich schon in Johann David Michaelis Mosaischem Recht von 1774; vgl. Jarzebowski 2003, S. 168ff. Lange Zeit galt die Erhebung von Weinberg (1955) als richtungsweisend, der bei 203 Inzestfällen, bei denen die Täter verurteilt wurden, eine prozentuale Verteilung von 78% Vater-Tochter-Inzest, 18% Bruder-Schwester-Inzest, 3% multiple Inzestformen und 1% Mutter-Sohn-Inzest angibt; bestätigt wurde diese Verteilung von der Untersuchung von Kempe (1978), ebenfalls für die USA. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass die Dunkelziffer für verschiedene Inzestformen unterschiedlich hoch ist. So gehen Weiner (1962) und Finkelhor (1979) davon aus, dass der Geschwisterinzest eher passagerer Natur und Ausdruck eines weniger tiefgreifenden Familienkonfliktes als der Vater-Tochter-Inzest sei, und darum häufiger im Verborgenen bleibe. Sie halten darum den Geschwisterinzest gerade für die häufigste Form. Spätere Untersuchungen differenzieren die Verwandtschaftsbeziehungen weiter (Russell 1986, Drajier 1990) und kommen zu Datenreihen, bei denen Väter, Onkel und Geschwister/Cousins etwa gleich große Gruppen bilden. Da alle diese Erhebungen aber auf unterschiedlichen Voraussetzungen beruhen, sind sie nur bedingt miteinander vergleichbar. Zu dieser Forschungslage und zu den genannten Untersuchungen vgl. Hirsch 1994, S. 18ff. So schon im ausgehenden 18. Jahrhundert, vgl. Teil I, Kap. 2.3.2.

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Grenze zwischen Leben und Tod mit inzestuöser Geschwisterliebe, und Androgynie- und Spiegelungsnarrative treffen sich mit Erzählungen von Geschwisterinzest zu einer nicht unbedeutenden Schnittmenge. Geschwisterliebe wird seit den Anfängen der Erzählliteratur immer wieder mit positiven Konnotationen, einem produktiven Potenzial, der Transzendierung von existenziell gesetzten Grenzen sowie einer Vorstellung von reiner und absoluter, jedweder Machtinteressen enthobener Liebe verbunden.119 Ihren literaturgeschichtlichen Höhepunkt hat diese Konstellation von Geschwisterliebe um 1900 erreicht.120 Dieses Potenzial aus dem kulturellen Imaginären suchen Gilles Deleuze und Félix Guattari für ihre Reformulierung psychoanalytischer Konstellationen zu nutzen. In ihrem Anti-Ödipus (1972) und in Kafka. Für eine kleine Literatur (1975) entwerfen sie ein Modell des Geschwisterinzests, das das freudsche familiale Dreieck horizontal aufsprengen und von der Dominanz der Vertikalen befreien würde, den »Schizo-Inzest«: Der Schizo-Inzest wird indes mit der Schwester gemacht; er ist ein DeterritorialisierungsInzest, denn die Schwester ist eben kein Substitut der Mutter, sondern sie steht auf der anderen Seite des Klassenkampfes [...]. Der ödipale Inzest entspricht dem transzendenten Paranoia-Gesetz, das ihn verbietet und das er übertritt – direkt, wenn es soweit kommt, oder symbolisch, wenn es zu mehr nicht langt: [...] womit dann alles wieder von vorn beginnt im Familien- und Ehezyklus, denn die Übertretung war wirklich nichts, ein bloßes Mittel zur Reproduktion. Dagegen entspricht der Schizo-Inzest dem immanenten Schizo-Gesetz: Er bildet statt einer zirkulären Reproduktion eine Fluchtlinie aus, er vollzieht statt einer Transgression eine Progression [...].121

Im Inzest mit der Position der Schwester treffen bei Deleuze/Guattari Entgrenzungsbewegung und Selbstbezug aufeinander, und beides ist auf der Horizontalen situiert: Die »Fluchtlinie« führt aus der familialen Reproduktion hinaus auf die »ander[e] Seite«. Diese andere Seite wird durch die Bezeichnung des »SchizoInzests«122 als vom – ungenannt maskulin markierten – ego abgespaltenes und von diesem geschlechtlich differentes alter lesbar: In der inzestuösen Vereinigung wird das alter wieder auf das ego zurückgeführt und ermöglicht diesem eine Ganzheitserfahrung in der geschlechtlichen Transzendierung. Dies wird in Deleuzes Lektüre von Hermann Melvilles Pierre deutlich, in der Deleuze genau diese Bewegung der Geschlechtertranszendierung herausarbeitet.123 Deleuze/Guattari schreiben mit anderen Worten im Schizo-Inzest jenen utopischen Ort um 1900 fort, der in der Literatur der Jahrhundertwende vielfach als Konnex von Androgynie, narzisstischer

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Vgl. dazu auch Teil I, Kap. 2.5. Vgl. von Hoff 2003, Schoene 1997. Deleuze/Guattari 1976, S. 92. Das griechische Verb σχίζω bedeutet spalten, zerspalten, durchschneiden (aktiv) und sich spalten, sich trennen, sich teilen (passiv), vgl. Langenscheidt 1967, S. 669. Vgl. dazu von Hoff 2003, S. 24f.

Spiegelung und inzestuöser Situation gestaltet und von Robert Musil im Mann ohne Eigenschaften paradigmatisch als ›anderer Zustand‹ entworfen worden ist.124 Wirken im Modell von Deleuze/Guattari »direkte[r]« und »symbolisch[er]« Inzest explizit ineinander, so plädieren neuere soziologische Untersuchungen gerade beim Komplex des Geschwisterinzests für eine dringend notwendige Entflechtung: Es gilt die im kulturellen Imaginären wirkenden und narrativ tradierten positiven Präsuppositionen des Geschwisterinzests von realem Inzest zu unterscheiden und sich vom Bild der relativen Harmlosigkeit oder der Ebenbürtigkeit der Beteiligten zu verabschieden: Realer Inzest ist, so Hirsch, in jeder Form sexueller Missbrauch.125 Die Literatur dagegen vollzieht diesen Schritt nicht, sondern verteilt positiv und negativ konnotierten Inzest auf spezifische Inzestpaare: In den meisten literarischen Inzestthematisierungen im 20. Jahrhundert wird Geschwisterinzest mit einer androgynen respektive geschlechteregalitären Utopie verbunden, während VaterTochter-Inzest als sexuelle Gewalt mit traumatischen Folgen dargestellt wird.126 Ein Beispiel für die diesbezügliche Thematisierung dieser beiden Inzestkonstellationen auf der Ebene des Symbolischen sind die Texte des Todesarten-Projektes von Ingeborg Bachmann.127 Festzustellen ist bis in Literatur und Film der Gegenwart hinein eine erstaunliche Persistenz des Vorstellungskomplexes um Geschwisterinzest,128 der gegen die im 20. Jahrhundert breit diskursivierten Erfahrungsberichte von sexuellem Missbrauch auf der positiven Konnotation von Geschwisterliebe selbst in der inzestuösen Grenzüberschreitung besteht. Wie genau die historische Konstellation um 1800 an der Formierung des produktiven Potenzials der Geschwisterliebe beteiligt ist und welche Grenze dort das Inzestthema markiert, soll im nun folgenden Kapitel in einer spezifisch kulturhistorischen Fragestellung nach Strategien der Horizontalen um 1800 untersucht werden. Um es mit Jean Paul zu sagen: »jetzo regieren Diskurse«. (I/5,443)

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Vgl. dazu u.a. ebd., S. 216ff., Schoene 1997, S. 158ff. Vgl. Hirsch 1994, S. 25. Zur Androgynität vgl. Aurnhammer 1986, Wedekind-Schwertner 1984, spezifisch zur Literatur um 1900 vgl. Schoene 1997; zur Entwicklung der egalitären Geschlechterutopie in der Literatur von Frauen im 20. Jahrhundert vgl. Venske 1988, S. 290ff.; einschlägiges Beispiel der Bekenntnisliteratur zu sexuellem Missbrauch im Zuge der feministischen Gesellschaftskritik ist Iris Galey: I couldn’t cry, when Daddy died (1986). Vgl. insbesondere das Franza-Fragment für die Geschwisterutopie und das Kapitel »Der dritte Mann« aus Malina für die Vater-Tochter-Beziehung als Täter-Opfer-Konstellation; Bachmann 1995, Bde. 2,3. Vgl. dazu Frei Gerlach 1998, S. 292–309; 2000. Zu Inzest in Literatur und Film der Gegenwart vgl. von Hoff 2003; spezifisch zu Geschwisterinzest im Film vgl. von Hoff 1995. Typische Beispiele dafür sind Höhenfeuer (1985) und The Cement Garden (1992).

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2.

»Jetzo regieren Diskurse«: Konstellationen der Horizontalen um 1800

Der systematische Zugang zu den Ordnungen des Wissens und den Existenzweisen sozialer Beziehungen hat den strukturellen Ort sichtbar gemacht, an dem Geschwister situiert sind, sowie die Kontexte benannt, an denen sie partizipieren. Diese Struktur gilt es nun kulturhistorisch und spezifisch literarisch zu konkretisieren, um das Geschwisterdispositiv um 1800 in seinem Facettenreichtum sichtbar zu machen. Im Folgenden sollen Konstellationen der Horizontalen um 1800 zur Sprache kommen, an denen Geschwister realiter, semiotisch oder phantasmatisch partizipieren, und weitergehend auch solche, die in der Engführung mit dem Geschwisterdispositiv ein produktives Potenzial freilegen, das literarisch gestaltet wird. Aus zwei Gründen wird es dabei notwendig sein, den Fächer horizontaler Linien weit zu öffnen: Zum einen gilt es, den Cluster aus sozialen Energien, psychisch-emotionalen Dispositionen und kulturellem Wissen, gerade auch über Phantasmem, zu entwirren, um zeigen zu können, wie und über welche Transformationen sich das Geschwisterdispositiv um 1800 formiert und in Narrativen produktiv wird. Damit erhält die vorliegende Untersuchung ihre kulturhistorische Grundlegung. Zum andern liefert die kulturhistorische Analyse der Horizontalen für sich genommen einen ersten systematischen Beitrag für die Zeit um 1800 zur anstehenden Kulturgeschichte der Horizontalen. Trotz der diagnostizierten »Obsession«1 auf das Bruder-Schwester-Paar in der Zeit selbst sind Geschwister um 1800 bisher noch kein eigenständiges Thema der Forschung.2 Werden Geschwister in der Forschung thematisiert, so als Subsystem übergeordneter Zusammenhänge wie Doppelgänger, Androgynie oder Spiegelung,3 vor allem aber als Teil von Inzestdiskursen. So ist die Fokussierung li1 2

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Sabean 2002, S. 9. Die Untersuchungen von Vielhauer 1979 und Salisbury 1993, zu Goethe, beschränken sich im Wesentlichen auf einen Überblick über die Darstellung von Geschwisterpaaren in literarischen Texten. Vgl. dazu Teil I, Kap. 2.5.2. Dies gilt in besonderem Maße für die Jean Paul-Forschung, die Jean Paul zu Recht als Pionier der Doppelgängerkonstellation und als Meister von Spiegelszenen liest, aufgrund dieses Befundes nun aber das nicht minder prominente Geschwisterthema nur als Variante davon ohne eigenständiges semantisches und poetologisches Potenzial beurteilt. Vgl. in diesem Sinne: Böschenstein 1987, Webber 1996, S. 56ff., Forderer 1999, S. 37ff., Préaux 1986, sowie spezifisch zum Spiegel Bosse 1970, S. 217ff. Eine zweite Argumentationslinie der Jean Paul-Forschung subsumiert das Geschwisterthema unter den Freundschaftsdiskurs, der von der Literaturwissenschaft als

terarischer Texte des 18. Jahrhunderts auf die Verhandlungen um Geschwister- und Geschlechterliebe schon wiederholt und aufschlussreich untersucht worden, 4 bisher aber nicht in einem systematischen Zusammenhang horizontaler Organisationen gesehen worden.5 Genau dies aber, so die These dieser Studie, ist zu leisten, um das Potenzial des Geschwisterthemas um 1800 zu erfassen. Für das Bruder-SchwesterPaar ist darüber hinaus spezifisch für die Zeit um 1800 danach zu fragen, was Inzest im kulturellen Wissen, in konkreter Erfahrung und in der literarischen Konstruktion jeweils bedeutet und welche Grenzen dabei verhandelt werden. Dafür liefern die Ergebnisse der historischen Sozialforschung wichtige und neue Anregungen, die es ermöglichen, die wechselseitigen Transformationen von kulturellem Wissen und Literatur sichtbar zu machen.6 Im Folgenden sollen nun auf der Basis des enzyklopädischen Wissens des ausgehenden 18. Jahrhunderts die Valenzen des Geschwisterbegriffs in ihren leiblichkonkreten, geistlich-institutionellen und semiotisch-imaginären Ausprägungen erläutert werden. Ich beginne dabei mit einer Analyse der historischen Semantik, denn die systematische Trennung der homonymen Geschwisterbegriffe ist eine Leistung des 18. Jahrhunderts und wird bei Johann Christoph Adelung begrifflich als »eigentliche«, »weitere« und »figürliche« Bedeutung gefasst.7 Diese zeitgenössische Strukturformel liefert meiner Argumentation den systematischen Rahmen, um die verschiedenen Ebenen des Geschwisterdispositivs einzuordnen. Ziel der gründlichen Recherche nach Geschwistern und ihrer strukturellen Einbindung in Vorstellungen und Darstellungen ist, sowohl das spezifisch Eigene des Geschwisterthemas als auch seine Verortung im Netz horizontaler Strukturierungen der kulturhistorischen Dispositionen um 1800 sichtbar zu machen. Die kulturwissenschaftliche Argumentation dieses Teils räumt dabei der Literatur eine privilegierte Position ein: Das Erkenntnisinteresse dieser Studie ist ein kulturwissenschaftlich geprägtes literaturwissenschaftliches.8

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grundlegend für das 18. Jahrhundert erarbeitet worden ist (vgl. dazu Teil I, Kap. 2.4.4) und der auch bei Jean Paul zentral ist, aber – so wird zu zeigen sein – das Geschwisterthema nicht vereinnahmt, sondern damit in Dialog steht. Vgl. Teil II, Kap. 3.1. Im Kontext der institutionellen Geschwisterschaft sieht dagegen Harich 1974, S. 271f. durchaus die Bedeutsamkeit der erzählten Geschwisterbeziehungen für die Persönlichkeitsentwicklung von Jean Pauls Helden. Angesichts der lange nachwirkenden Kritik an Harichs überzogener Hauptthese dürfte dies jedoch nicht der einzige Befund seiner Forschung sein, der nicht zur Kenntnis genommen worden ist. Vgl. zu Harichs Stellung in der Jean Paul-Forschung Teil I, Kap. 2.3.3 (Anmerkungsteil) und Teil II, Kap. 3.2. Vgl. Wilson 1984, Titzmann 1991, Baßler 2000, Sabean 2002; darüber hinaus verweisen literaturwissenschaftliche Studien zur Inzestthematik um 1900 oder zum 20. Jahrhundert jeweils auf die Diskurskonstellation um 1800; vgl. Schoene 1996, S. 35ff.; von Hoff 2003, S. 82ff. Eine Vorstudie hierzu ist Frei Gerlach 2003. Vgl. Eming et al. 2003, Sabean 2002. Vgl. ausf. dazu Teil I, Kap. 2.1. Die Studie verortet sich damit in der gemäßigt kulturwissenschaftlichen Fraktion, wie

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Die Erörterung der für relevant befundenen Themen setzt ihre Schwerpunke nach dem Neuheitswert der gemachten Aussagen. Wo schon umfangreiche Forschungsliteratur vorliegt, etwa zur bürgerlichen Familie, zum Diskurs der Empfindsamkeit oder zu Selbstverdoppelungen genügt eine kürzere Darstellung, die sich auf die Schnittstellen zum Geschwisterthema konzentriert.

2.1

»Eigentlich, weiter, figürlich«: Enzyklopädie der Beziehungsbegriffe

Signifikante Hinweise auf die historische Semantik des 18. Jahrhunderts geben die zeitgenössischen enzyklopädischen Projekte. Johann Christoph Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (1793–1801) nennt als entscheidenden Begriffsinhalt für ›Geschwister‹: »Personen, welche einerley Ältern, oder doch Einen Vater oder Eine Mutter haben, ohne Unterschied des Geschlechtes, als ein Collectivum«.9 Ähnlich verweist auch das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm auf die Kollektivbezeichnung, differenziert aber hinsichtlich des Geschlechts. In für das Deutsche ungewöhnlicher Weise leitet sich ja die Kollektivbezeichnung ›Geschwister‹ etymologisch aus der weiblichen Form, von ›Schwester‹ her.10 Diese begriffliche Genealogie bleibt in den grimmschen Erläuterungen gewahrt, durchgehend wird der semantische Primat der Schwester bei Geschwistern betont: »GESCHWISTER, nebst geschwester (s.d.) alte pluralisitsche bildung zu schwester, zufrühest von schwestern, dann mit einschlusz der brüder; später auch als neutrales collectivum aufgefaszt und selbst von einer einzelnen person gebraucht«; entsprechend finden sich dann die Einträge »1) leibliche schwestern« und »2) schwestern mit einschlusz der brüder«.11 Die Schwester ist damit gemäß Grimm bei ›Geschwistern‹ semantisch immer mitgemeint: Hier findet sich die wortgeschichtliche Herleitung der im systematischen Teil diagnostizierten Prävalenz des Bruder-Schwester-Paars. Eine Vielzahl von Differenzierungen nicht hinsichtlich der Geschlechtsidentität, sondern bezüglich der Genealogie ist Anliegen in Johann Heinrich Zedlers Grossem vollständigen Universal-Lexikon von 1733ff., das wissensgeschichtlich den Übergang vom 17. ins 18. Jahrhundert dokumentiert. Bezeichnenderweise findet

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sie sich in der Debatte um Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft im ausgehenden 20. Jahrhundert formiert hat. Vgl. zu dieser Debatte DVjs 1/1999, S. 69–121; Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 41 (1997), S. 1–11 und 42 (1998), S. 457–507, Böhme/ Scherpe 1996, Glaser/Luserke 1996, Bachmann-Medick 1995, Baßler 1995. Adelung 1990 (Reprint der zweyten vermehrten und verbesserten Ausgabe, 1793–1801), Bd. 2, Sp. 620. Vgl. Teil I, Kap. 1.5. Vgl. Grimm, Bd. 4/I,2 (1897), Sp. 4002ff. Die Hervorhebungen hier und im Folgenden nach dem Original.

sich kein eigentlicher Artikel zu ›Geschwister‹ oder consanguinei, dafür gibt es zahlreiche Einträge in Verbindung mit spezifischen Appositionen. So allen voran die »recht[e]« Begriffsverwendung: Rechtes Geschwister; Germani, heissen eigentlich solche Brüder und Schwestern; die von einem Vater und von einer Mutter gezeuget worden, und werden also denen so genannten Halb- und Stieff-Geschwister entgegen gesetzt.12

Die Begriffserläuterung des ›rechten Geschwisters‹ reflektiert die so genannte germanische Zählweise, die nach Jack Goody die horizontale Strukturierung von Verwandtschaft einleitet.13 Doch der Eindruck einer horizontalen Konfiguration von Verwandtschaft täuscht: Die differenzierte Auflistung der möglichen genealogischen Zusammenhänge in den einschlägigen Artikeln weist als dominantes Ordnungsmuster die Vertikale aus.14 So wird bei Schwestern wie Brüdern nicht nur unterschieden zwischen »vollbürtige[n] leibliche[n], Halb und Stief«- sowie Adoptivgeschwistern, sondern genauer, ob beispielsweise die Halbschwestern eine gemeinsame Mutter (»sorores uterinae«) oder einen gemeinsamen Vater (»consanguineae«) haben, oder ob es sich um Stiefschwestern (»comprivignae«) handelt, »welche sowohl unterschiedene Väter, als Mütter, haben«.15 Diese vertikal differenzierten Bezeichnungen finden sich in den Lexika des ausgehenden 18. Jahrhunderts nur noch eingeschränkt: Zwischen Zedler und Adelung ist auch in der Geschwisterterminologie eine semantische Entdifferenzierung hin zu horizontal egalisierten Verwandtschaftsbezeichnungen festzustellen.16 Besonderen Erklärungsbedarf hat bei Zedler die homonyme Verwendung von Geschwisterbezeichnungen sowohl für »natürliche Brüder« als auch für »Personen von gemeinem Stande«.17 Die Einträge bemühen sich alle darum, Kontiguitäten

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Zedler 1961, Bd. 30 (1741), Sp. 1383. Vgl. Goody 1986, S. 151f., sowie Teil I, Kap. 1.3. Das ausgeprägte genealogische Denken affiziert selbst den altrömischen Rechtsgrundsatz mater semper certa est: So verzeichnet der Artikel »Bruder, Dein Bruder, Deiner Mutter Sohn. [...] Es scheinet dem ersten Ansehen nach das letzte vergebens hinzu gesetzet zu seyn, weil doch darein niemand einen Zweiffel setzen wird.« Zedler 1961, Bd. 4, Sp. 1533. Als gravierend ist darum die Verunsicherung Gustavs in Jean Pauls Unsichtbarer Loge zu werten, der fragen muss, »ob die Rittmeisterin von Falkenberg, [...] die bekanntlich Gustavs Mutter ist, ob die – sie wirklich sei ...« (I/1,314). Zedler 1962, Bd. 36 (1743), Sp. 480; 1961, Bd. 4 (1733), Sp. 1534; Bd. 9 (1735), Sp. 1765. Dies ist im übergreifenden Zusammenhang einer seit dem Mittelalter einsetzenden Parallelisierung der Verwandtschaftsterminologie zu situieren, die einen Bedeutungsverlust des Abstammungsdenkens und eine Zunahme der Bedeutung von horizontal strukturierten Verwandtschaftsbeziehungen zeigt. In der historischen Sozialforschung wird die Entdifferenzierung von Verwandtschaftsbegriffen der Vater- und Mutterseite gewöhnlich an der Vereinheitlichung der Bezeichnungen für die Geschwister des Vaters und der Mutter festgemacht. Vgl. Gestrich/Krause/Mitterauer 2003, S. 166ff., bes. S. 178, sowie S. 355ff. und Teil I, Kap. 1.3. Zedler 1961, Bd. 9 (1735), Sp. 1765.

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zwischen den beiden Verwendungsweisen zurückzuweisen. Dabei zeigt sich eine Bevorzugung der geistlichen Verwandtschaft. Als erster Eintrag zum Komplex ›Bruder‹ fungiert: »Bruder, Frater, Frere, nennet man die Ordens-Leute in denen Clöstern, welche keine Priester sind.«18 Der Begriff ›Bruder‹ bedeutet damit nach Zedler in erster Linie die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft, wobei die Verbindung zur leiblichen Verwandtschaft jeweils in die christologische Argumentation eingebaut wird.19 Größere Schwierigkeiten bietet Zedler die Homonymie des Schwester-Begriffs. Denn hier gilt es in der Bibel selbst einer Anlage zur inzestuösen Situation mit der ›richtigen‹ Textauslegung entgegen zu arbeiten. So windet sich der Artikel von 1743 durch »merckwürdig[e]« semiotische Verschiebungen: Merckwürdig ist es weiter, daß der Schwester-Nahme mit unter die Liebes-Titul gehöret, dadurch Mannspersonen ihre sonderbahre zarte Neigung gegen Leute des weiblichen Geschlechts auszudrucken den Brauch gehabt, der aber offt zum Mißbrauch unreiner Liebe ausgeschlagen, und also das Wort Schwester eine Benennung der Buhlerey geworden ist, welches auch das Wort Bruder, Freund und Freundin erfahren müssen. 20

Das Problem, das sich stellt, ist brisant, wie die anschließende Argumentation zeigt: Wie lässt sich die Kontiguität zwischen der »Buhlerey« und dem »heilig-reine[n] Gebrauch« jener Benennung im »Hohen Lied« verhindern, in der – so die zedlersche Bibel-Interpretation – »der himmlische Bräutigam Jesus [...] seine auserwehlte Braut seine Schwester« nennt: »Meine Schwester, liebe Braut, du bist ein verschlossener Garten«?21 Es hängt alles davon ab, hierfür das korrekte Textverständnis zu befördern, da Zedler die Benennung der christlichen Glaubensgemeinschaft in Brüder und Schwestern von dieser Stelle herleitet. Zwei Spalten scharfsinniger Textauslegung sollen verhindern, dass die christliche Gemeinschaft in ihrem Selbstverständnis mit »Blutschande« verbunden wird, wie es ihr von den »in aller Leichtfertigkeit lebenden[n] und das Reine verunreinigende[n] Heyden« vorgewor-

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Zedler 1961, Bd. 4 (1733), Sp. 1533. Zur fraternitas als Konzept personaler Bindung im Mittelalter vgl. van Eichels 2009. Vgl. z.B. die Einträge »Bruder kan niemand erlösen [...] Diejenigen, so unter einem Hertzen gelegen haben, sollen einander mit der hertzlichsten liebe zugethan seyn. Ja auch andere Menschen sind dazu verbunden[...]«. Sowie »Bruder, oder Schwester, so bloß ist [...] Brüder oder Schwestern sind nach dem leiblichen Geschwister diejenigen, so ein Glaube mit uns verbindet.« Zedler 1961, Bd. 4, Sp. 1534. Zedler 1962, Bd. 36 (1743), Sp. 480. Grimm, der diese negative Begriffsvalorisierung ebenfalls verzeichnet, erklärt diese als »erweiterung« des Begriffs »der gleichartigkeit, der übereinstimmung, der genossenschaft«, »durch die anschauung vermittelt [...], dasz in der angegebenen besonderen eigenschaft die person sich mit allen zusammen findet, leichtfertige lose schwester«. Grimm, Bd. 9 (1899), Sp. 2600f. Grimm führt im Artikel »Schwesterliebe« hierzu einen Kommentar von Herder an: »bruder- und schwesterliebe: die süszesten reize blühen da (im ›garten der liebe des hohenliedes‹), wie blumen, die zartesten früchte werden mit einer unschuld der bruder- und schwesterliebe gekostet.« Ebd., Sp. 2605.

fen wird. Dabei überspielt Zedler die argumentative Verlegenheit durch die Reihung von nur geringfügig variierenden Fragen und Antworten, deren Iterativität die erwünschte Wirkung erzielt und besagte Schwester – in Differenz zu »Christo« und den ihm folgenden »Matronen« – als »rechte[s] Ehewei[b]« des Apostels und seiner Nachfolger verstehen lässt.22 Die Homonymie der Geschwisterbegriffe klärt Adelung im ausgehenden 18. Jahrhundert dagegen souverän mit der systematischen Trennung zwischen »eigentlich[er]«, »weiterer« respektive »noch weiterer« und »figürlich[er]« Bedeutung: Von der eigentlichen Bedeutung, der leiblichen Verwandtschaft, abgeleitet sind gemäß Adelung Bezeichnungspraxen, die geistliche Verwandtschaft meinen. Diese Ableitung wird von ihrem allerersten Anfang her konkretisiert, von »Adam« und der Herkunft aller Menschen »von einem gemeinschaftlichen Stammvater«, so dass »in noch weiterer Bedeutung« damit das »Verhältnis aller Menschen gegen einander« bezeichnet werden kann.23 Sowohl Adelung als auch Grimm unterscheiden klar zwischen leiblicher Schwester und Schwesternschaft – respektive leiblichem Bruder und Bruderschaft – und nennen als besonders augenfälliges Beispiel einer Brüdergemeinde die Herrnhuter. Auch ist bei beiden zu erfahren, dass »brudern« – im Rückgriff auf die Bettelorden – »betteln« heißt.24 Unerwähnt bleibt jedoch die im 18. Jahrhundert neue Wendung der »warmen Brüder«, mit der homosexuelle Beziehungen unter Männern bezeichnet werden.25 Die Begriffe, die die figürliche Bedeutung von Bruder, Schwester und Geschwister im ausgehenden 18. Jahrhundert semantisch strukturieren, sind Ähnlichkeit und Gleichheit: »Im weitesten Verstande werden zuweilen zwey Dinge, welche einander völlig ähnlich sind, Brüder genannt«;26 »unter brüdern gilt gleichheit«; Geschwister bedeutet »bildlich und übertragen, von gleichartigem«.27 Als zweitwichtigster Referenzbegriff fungiert die Liebe: »lieb« ist laut Grimm »ein häufiges beiwort zu schwester«. Und »geschwisterlich« wird quasi mit »geschwüsterlicher lieb« gleichgesetzt. In der symbolischen Ordnung um 1800 fungieren Brüder, Schwestern und

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Zedler 1962, Bd. 36 (1743), Sp. 480ff. Adelung 1990, Bd. 1, Sp. 1215f. Die Begriffserklärungen laufen beim Artikel ›Schwester‹ analog, jedoch ohne die Ausweitung auf die Menschheit als gesamte. Vgl. Bd. 3, Sp. 1747f. Laut Adelung wurde dies »ehedem« gebraucht (Bd. 1, Sp. 1216), Grimm nennt »bruder = bettler« eine schweizerische Bezeichnung (Bd. 2 (1860), Sp. 418). Vgl. Derks 1990, S. 95ff. Bei Adelung erfolgt eine leibliche Konkretisierung dieser theoretischen Bestimmung, »die Hoden« (Bd. 1, Sp. 1216); eine Begriffsverwendung, die auch Grimm – vornehmer als »Testikel« ausgedrückt – kennt (Bd. 2, Sp. 420). Eine analoge Verwendung wird bei Adelung auch unter dem Artikel »Schwester« als figürliche Rede ausgewiesen: »Ein Ding weiblichen Geschlechtes, welches einem anderen Dinge gleich oder ähnlich ist« (Bd. 3, Sp. 1748), und bei Grimm leiblich konkretisiert: »deiner vollen brust geschwister (deine beiden brüste)« (Bd. 4/I,2 (1897) Sp. 4003). Grimm, Bd. 2 (1860), Sp. 418; Bd.4/I,2 (1897), Sp. 4003; vgl. auch Bd. 9 (1899), Sp. 2600.

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Geschwister für das, was als gleich oder zumindest ähnlich verstanden wird und sich in Liebe zugetan ist. Der Eintrag zum damit als Accumulatio lesbaren Begriff »Geschwisterliebe« bei Grimm besteht jedoch aus einem ambivalenten Beispiel aus Jean Pauls Flegeljahren: »er musz nur nicht denken, mich mit geschwisterliebe abzufinden.« Breiten Raum erhält bei Grimm die Verhandlung der Differenz von Geschwister- und Geschlechterliebe und wird vor allem anhand von Beispielen von Lessing und Goethe belegt.28 Es ist die in all diesen Beziehungen wirkende Liebe, die – so ist den Wörterbüchern zu entnehmen – maßgeblich auch zur Begriffsvermischung von Freundschafts- und Geschwisterbeziehung beiträgt.29 So ist ein »Freund« bei Adelung »überhaupt eine Person, welche uns liebt, doch unter verschiedenen Einschränkungen«: Als erstes Beispiel dafür fungiert »ein Verwandter«.30 Ausführlich weisen Adelung und Grimm auf die semantische Durchlässigkeit von Geschwisterbeziehung und Freundschaft hin: »freundschaft und gesellenschaft knüpfen fortwährend enge brüderschaften, freunde und genossen reden sich bruder an«.31 Belegt sind auch die Komposita »Bruderfreund« und »freundbrüderlich«, wobei letzteres gemäß Grimm auch ironisch verwendet werden kann.32 Die semantische Durchlässigkeit der Beziehungsbegriffe affiziert letztlich auch die Geschlechter: »beachtenswerth ist auch die anwendung von bruder auf frauen, ähnlich von freund, oder umgedreht der von braut auf männer«; ein Textausschnitt aus Jean Pauls Titan belegt diese Verwendung bei Grimm: schwester (sagt Albano zu Julienne), du bist entweder nicht mein bruder, oder ich deine schwester nicht, sonst wir uns leichter verständen. Julienne schien vom vorwurf des geschlechts betroffen zu sein.33

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Grimm, Bd. 9 (1899), Sp. 2597; Bd. 4/I,2 (1897), Sp. 4007; ebd., Sp. 4008; Bd. 9 (1899), Sp. 2597f. Zur Analyse der genannten Flegeljahre-Stelle, die vor der »Geschwister-Liebe« noch das bei Grimm ausgelassene Epitheton »lumpiger« verzeichnet (I/2,815) und einen grundsätzlichen Konflikt der Flegeljahre-Brüder zur Sprache bringt, vgl. Teil III, Kap. 3.3. Spezifisch dazu vgl. Teil I, Kap. 2.4.4. Adelung 1990, Bd. 2, Sp. 283. Adelung nennt aber auch die von solchen Emotionen nicht tangierte Begriffsverwendung als Anrede für »unbekannte Personen [...], deren Nahmen oder Stand man nicht weiß«; ebd. Sp. 283f. Grimm, Bd. 2 (1860), Sp. 418. Dagegen sucht Zedler in seinem Artikel von 1735 noch in zwei verschiedene Freundschaftstypen zu differenzieren: die »natürliche«, die aufgrund der »Gleichheit der Gemüther« gegeben ist und zu der im weiteren Sinn auch die verwandtschaftliche Beziehung gehört, und die »moralische, oder tugendhaffte« Freundschaft, im Fortgang der Argumentation die »wahre« genannt, die soziale Verbindung via vernünftige Liebe herstellt; Zedler 1961, Bd. 2, Sp. 1838. So jedenfalls das zitierte Beispiel von Herder: »und mordeten freundbrüderlich/ manch ehrlich frommen Abel.« Grimm, Bd.4/I,1 (1878) Sp. 164. Wogegen Adelung 1990, Bd. 2, Sp. 284, die Begriffsverwendung ironiefrei »unter fürstlichen Personen« verortet. Grimm, Bd. 2 (1860), Sp. 419. Grimm rückt diese Titan-Stelle in den Kontext der Wahlgeschwisterschaft: »das grenzt noch an probatim und posestrima«, die kurz zuvor als die

Zedlers Lexikonautor hatte dagegen in seiner Exegese der biblischen Gleichsetzung von Schwester und Braut noch argumentiert, dass »man wohl weiß, daß kein Mann eine Schwester seyn kann«, und kann diese Lösung für eine sexuell unverdächtige Interpretation der den Apostel Paulus begleitenden »γυναῖκα ἀδελφὴν« darum nicht in Anspruch nehmen.34 Die Wörterbucheinträge weisen darauf hin, dass die Verhandlungen um individuelles Gefühl und soziale Beziehungen Ende des 18. Jahrhunderts besonders rege sind, und zeigen, wie sich eine schon vorhandene semantische Durchlässigkeit – etwa zwischen Freundin und Schwester respektive Freund und Bruder – zu einer fast unbegrenzten Semiose entwickelt. Ausdruck davon sind auch die vielen neuen Komposita, die die Begriffe Bruder, Schwester oder Geschwister mit Bezeichnungen aus ganz unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen engführen. Folgt man den Ausführungen der Brüder Grimm, so sind viele dieser Komposita erstmals in literarischen Texten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgetaucht, und besonders erfindungsreich scheint hier Jean Paul zu sein.35 Die semantische Offenheit und vielfältige Anschlussfähigkeit der Beziehungsbegriffe aus dem Geschwisterkomplex bietet sich allein schon durch diese Disposition als Feld für Grenzverhandlungen an. Aus heutiger Perspektive fällt bei den verschiedenen Begriffsbestimmungen zu Geschwistern die geringe Präsenz von Differenzen und Rivalitäten auf. Seit Geschwister zu einem wissenschaftlichen Gegenstand geworden sind, sind sie meist unter dem Rivalitätsparadigma untersucht worden, jüngstes Beispiel dafür ist die viel beachtete, evolutionsbiologisch argumentierende Arbeit von Sulloway. Der Paradigmenwechsel der Geschwisterforschung zur Horizontalen, den Autorinnen und Autoren wie Ley, Petri, Sohni und Klosinski in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts propagieren, ist eine Antwort auf diese übermächtige Forschungstradition.36 Was hat diese marginale Berücksichtigung von Geschwisterrivalität um 1800 zu bedeuten? Beispiele dafür fehlen im kulturellen Gedächtnis ja keineswegs: So würde die Literatur, aus der zahlreiche Beispiele für Geschwisterliebe bei Grimm Eingang gefunden haben, auch für Geschwisterrivalität reiches Anschauungsma-

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serbische Bezeichnungen für Wahlbruder (probatim) und Wahlschwester (posestrima) eingeführt worden sind. Vgl. zu Institution der Wahlgeschwisterschaft, unter anderem bei den Südslawen, Vielhauer 1979, S. 61ff. Zur Analyse der Beziehung zwischen den sich lange unbekannten leiblichen Zwillingen Albano und Julienne im Titan vgl. Teil III, Kap. 1.2, 2.2. Zedler 1962, Bd. 36, Sp. 481. So fungiert Jean Paul als Referenzautor für Bruderachtung, Bruderbild, Bruderfrage; Schwesterblut, Schwesterkraft, Schwesternase; Geschwisterbänkchen, Geschwisterliebe, Geschwisterpaar; wogegen kein einziger Eintrag zu ›Familie‹ auf Jean Paul Bezug nimmt. Vgl. Sulloway 1997 sowie Kasten 2009, Klosinski 2000, Sohni 1999, Lüscher 1997, Ley 1995, Petri 1994, Wellendorf 1995; spezifisch dazu Teil I, Kap. 1.4.

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terial bieten, gerade in den Märchen, zu denen die Gebrüder Grimm – und wohl auch die in ihrem Namen das Deutsche Wörterbuch fortsetzenden Autoren – eine besondere Affinität hatten. Genauso wenig taugt die lebensweltliche Realität als Erklärungsansatz für die nicht thematisierte Rivalität, denn Ungleichheiten, etwa im Erbrecht37 oder den Bildungsmöglichkeiten zwischen Erst- und Spätergeborenen oder zwischen den Geschlechtern sind reich dokumentiert. Es müssen darum andere Gründe sein, die dafür sorgen, dass Geschwister in der symbolischen Ordnung um 1800 als egalitäre, horizontal strukturierte und emotional hochgradig positiv besetzte soziale Beziehung konzipiert sind, die im kulturellen Gedächtnis tradierte und in der lebensweltlichen Praxis bestehende Rivalitäten narkotisiert oder allenfalls peripher einbegreift. Verständlich ist diese Validierung nur, so die These dieser Studie, wenn Geschwister um 1800 als ein Dispositiv verstanden werden, in dem unterschiedliche Strukturen formiert werden, die in ihrer Kombination eine Ermächtigung der Horizontalen leisten. Diese Konstellationen der Horizontalen sollen nun gemäß der isolierten Ordnungsstruktur der historischen Enzyklopädie in ihren ›eigentlichen‹, ›weiteren‹ und ›figürlichen‹ Dimensionen dargestellt und auf ihr Transferpotenzial auf literarische Texte hin beleuchtet werden.

2.2

Eigentliches: Konstellationen leiblicher Geschwisterbeziehungen

Mit der Fokussierung auf Geschwisterbeziehungen ist in literarischen Texten gewöhnlich eine Krise in der Elterngeneration verbunden. Sei es, dass die patriarchale Autorität bröckelt, sei es, dass die Elterngeneration abwesend ist, wie in Goethes Einakter Die Geschwister (1776):38 Die Stärkung der Horizontalen geht strukturell mit einer Schwächung der Vertikalen einher. Erst die erzählerische Deprivilegierung der Vertikalen setzt die Horizontale richtig in Szene. Für die Literatur um 1800 erweist sich dabei eine Szenographie39 als typisch, die – in literarhistorisch

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Grimm verweist zwar auf die Ungleichstellung von Bruder und Schwester im deutschen Erbrecht, leitet daraus aber keinen Ansatz für Rivalität her. Kommt im Artikel »Geschwister« Rivalität nicht vor, so finden sich zumindest Andeutungen dafür bei gleichgeschlechtlichen Geschwisterpaaren: Adelung verweist im Artikel »Bruderliebe« auf die Möglichkeit von deren Fehlen: »die Liebe, welche leibliche Brüder gegen einander tragen, oder tragen sollen« (Bd. 1, Sp. 1217); Grimm nennt die Ungleichheiten, die – so wäre zu ergänzen – Märchenszenographien als Rivalitätsnarrative gestalten, bei Schwestern: »sonst wird schwester genauer bestimmt durch jünger, älter: sie hat aber eine jüngere schwester die ist schöner denn sie.« (Grimm, Bd. 9 (1899), Sp. 2596; 2598). So sehr Rivalität auch narkotisiert wird, die oben diagnostizierte Tendenz des kulturellen Imaginären, Liebe und Rivalität geschlechterspezifisch (heterophil und homophob) zu verteilen, ist zumindest ansatzweise wirksam. Vgl. Teil Kap. 1.5 und 2.5.2. Erstdruck von Die Geschwister in der Werkausgabe von 1787. Der Begriff der ›Szenographie‹ beschreibt nach Eco eine narrative Strukturform, die

selten erreichter Kumulation40 – das Bruder-Schwester-Paar ins Zentrum der narrativen Verhandlungen stellt. 2.2.1

Literarische Bruder-Schwester-Szenographie

Bei dem »allgemeinen Föderalismus« in Liebe und Ehe kann, so Jean Pauls 1801 erschienene Erzählung Das heimliche Klaglied der jetzigen Männer, »kein junger Mensch mehr gewiß sein [...] – wenn er eine verwandte Seele heiratet –, ob er nicht seine Schwester trifft.« (I/4,1102) Um zu den dafür notwendigen, ausreichend verwickelten Familienverhältnissen zu gelangen, betreiben literarische Texte des späten 18. Jahrhunderts einen erheblichen erzählerischen Aufwand. Kinder werden vertauscht, wachsen unter fremden Namen auf und treffen über erzählerische Anstrengungen, die Wahrscheinlichkeiten arg strapazieren, nicht nur aufeinander, sondern verlieben sich auch ineinander. In der Nebenhandlung von Christian Fürchtegott Gellerts Leben der schwedischen Gräfinn von G*** (1747/8) heiratet Carlson, der ›natürliche‹ Sohn des Grafen von G***, eine Frau namens Mariane, die seinetwegen das Kloster verlässt. Eine ganze Reihe von Unwahrscheinlichkeiten hat dazu geführt, dass selbst die leibliche Mutter der beiden, Caroline, nicht erkennt, dass sie Geschwister sind: Zum einen lässt eine rege Reisetätigkeit des Romanpersonals die beiden an einem Ort aufeinandertreffen, der mit der Familiengeschichte nichts zu tun hat. Zum andern scheitert die Kommunikation zwischen Caroline und ihrem Bruder, dem sie die Tochter gleich nach deren Geburt in Obhut gegeben hatte, ohne dass der Erzähltext eine Erklärung dafür anbieten würde: Nicht nur informiert der Bruder seine Schwester nicht über die Änderung des Vornamens ihrer Tochter oder darüber, dass er sie zur Erziehung ins Kloster gegeben hat, er schreibt nach dem Tod seiner Frau auch einen so missverständlichen Brief, dass Caroline ihre Tochter seit deren sechstem Lebensjahr für verstorben hält. Als sich die Verwandtschaft aufklärt, ist der Inzest bereits vollzogen. Und die Tabuverletzung fordert ihren Tribut: Carlson und Mariane sterben beide eines gewaltsamen Todes. 41

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eine stereotype Situation oder Handlungssequenz abruft, und ist eine auf die Erzähltextanalyse zugeschnittene Weiterentwicklung des in der Kognitionsforschung entwickelten Begriffes des frame (der die mentale Repräsentation einer stereotypen Situation wie ›zu einem Kindergeburtstag gehen‹ meint). Vgl. Eco 1987, S. 98ff. Vgl. zur inzestuösen Situation um 1800 die grundlegende Arbeit von Titzmann 1991, der unter anderem auch eine quantitative Auswertung vorlegt (S. 229, 247ff.,) und an einem Korpus von 487 Erzähltexten nachweist, dass in 10 Prozent davon inzestuöse Situationen vorkommen, wovon wiederum 78 Prozent Bruder und Schwester betreffen. Unter einer ›inzestuösen Situation‹ versteht Titzmann eine Beziehung zweier Personen, bei denen sexueller Kontakt gemäß kulturellem Wissen der betreffenden Zeit einen Inzest bedeuten würde (vgl. S. 230). Vgl. Gellert, Schriften, Bd. 4, S. 1–96. Gellerts Texte prägten den literarischen Diskurs des 18. Jahrhunderts entscheidend, er war einer der meist gelesenen Autoren. Kiesel/

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Auch in Jakob Michael Reinhold Lenz’ Komödie Der neue Menoza. Oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi (1774) wird der Sohn der Familie Biederling als kleines Kind gleich zweimal weitergereicht und wächst ohne Wissen seiner Eltern als Prinz Tandi im fernen Cumba auf. Während einer Europareise verliebt er sich ausgerechnet in die Tochter der Biederlings. Just nachdem sie sich ihre Liebe gestanden haben, wird entdeckt, dass sie Geschwister sind. Sie entsagen, doch nicht für lange, denn ein zweites unwahrscheinliches Ereignis führt das Paar zum glücklichen Komödienschluss: Die Tochter der Biederlings war im Kindbett durch ihre Amme vertauscht worden. 42 Um die Jahrhundertwende hat die Szenographie der inzestuösen Situation in der erzählenden und dramatischen Literatur eine solche Verbreitung erfahren, dass sie als fester Bestandteil zur enzyklopädischen Kompetenz der zeitgenössischen Leserinnen und Leser gehört und in der Literatur ihrerseits als literarisches Versatzstück schon wieder parodistisch kommentiert wird. So ist in Jean Pauls Heimlichem Klaglied die aus einem »gegenseitigen Ehebruch« (I/4,1090) hervorgegangene inzestuöse Konstellation ein von der ganzen Stadt vermutetes Geheimnis, das nur noch eines letzten Beweises bedarf, um als keines mehr zu gelten. Als selbiger Beweis fungiert die erzählte Geschichte, in der sich »die lesende Welt« (I/4,1097) zusammen mit dem Erzähler darüber zu wundern hat, dass die betrogene Ehefrau des Konsistorialrates Perefi xe nicht nur die Augen vor der Untreue des Gatten verschließt, sondern selbst noch den Vorschlag macht, die natürliche Tochter – als vermeintlich rechte Tochter der Madame Traupel und deren Gatten – zur besseren Erziehung als Pflegetochter aufzunehmen. Die – notabene – in der Literatur so stark verbreitete inzestuöse Situation erscheint im Klaglied schließlich als gesellschaftliches Problem von hoher Relevanz, das dringend der Lösung bedarf. 43 Diese Ironisierung ist auch eine selbstreflexive Reaktion auf das eigene exzessive Erzählen entlang der Szenographie der inzestuösen Situation, die vor allem in Jean Pauls ›hohen‹ Romanen44 als unverzichtbarer Bestandteil seiner Liebesnarration erscheint. 45 Damit befindet sich Jean Paul in guter und zahlreicher Gesellschaft. In

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Münch sprechen von »Gellert-Kult« und zitieren aus den Frankfurter gelehrten Anzeigen von 1772: »An Gellert, die Tugend und die Religion glauben, ist bey unserem publico beynahe Eins«; vgl. Kiesel/Münch 1977, S. 169. Einen Rückschluss auf die stilbildende Funktion insbesondere von Gellerts Leben der schwedischen Gräfinn von G*** erlaubt auch die Schreibweise der Figur Marianne in der handschriftlichen Fassung von Goethes Geschwister als »Mariane«; vgl. Meyer-Krentler 1982, S. 235. Vgl. Lenz, Werke, Bd. 1, S. 125–190. Im Menoza ist die Zirkulation der Diskurse besonders deutlich greifbar: Die Inzestthematik wird explizit mit Argumenten aus der damals viel gelesenen Abhandlung von den Ehegesetzen Mosis welche die Heyrathen in die nahe Freundschaft untersagen (1755, 2. Aufl. 1768) von Johann David Michaelis verhandelt; vgl. dazu Meyer-Krentler 1982, S. 245, Baßler 2000. Zum Lösungsansatz des Klagliedes vgl. Teil I, Kap. 2.3.2. Zu Jean Pauls Romantypologie vgl. I/5,253ff. und Teil III, Einleitung. Vgl. ausf. dazu Teil II, Kap. 2, Teil III, Kap. 2.

einer Vielzahl von Texten der erzählenden und dramatischen Literatur um 1800 erweist sich das Bruder-Schwester-Paar für die Aushandlung der Liebesbeziehung zwischen den Geschlechtern als unverzichtbar und wird anderen narrativen Möglichkeiten vorgezogen, auch wenn dafür die Grenzen der Wahrscheinlichkeit arg strapaziert werden. Zwar reflektiert schon Goethes Einakter Die Geschwister von 1776 dieses Szenario als aus »Romane[n]« hinreichend bekannt und damit als eher trivial, doch ist es gerade bei Goethe erstaunlich wirkungsmächtig. 46 Und nicht nur bei ihm. Für das späte 18. Jahrhundert lässt sich eine enorme Häufung dieser Szenographie feststellen, und ein signifikanter Spitzenwert zeichnet die neunziger Jahre aus, 47 die Schreibzeit von Jean Pauls hohen Romanen, die im Zentrum der Textanalysen dieser Untersuchung stehen. Neben den schon genannten Texten von Jean Paul, Gellert, Lenz und Goethe findet sich die Szenographie unter anderem auch in Wielands Geschichte des Agathon (1766/7), Lessings Nathan der Weise (1779), Tiecks Peter Lebrecht (1795/6) und Der blonde Eckbert (1797), Therese Hubers Die Familie Seldorf (1795/6), Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/6), Klingers Geschichte Giafars des Barmeciden (1799), Müllners Incest oder der Schutzgeist von Avignon (1799) und Der neunundzwanzigste Februar (1812), Schillers Die Braut von Messina oder Die feindlichen Brüder (1803), Brentanos Romanzen vom Rosenkranz (1803/12) und Die drei Nüsse (1817), Arnims Halle und Jerusalem (1811), Grillparzers Die Ahnfrau (1812) oder E.T.A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels (1815). 48 Zwei Texte seien aus dieser Auswahl herausgegriffen, da sie über die Inzestthematisierung hinaus für das Geschwisterdispositiv um 1800 symptomatische Aspekte verdeutlichen. In Therese Hubers Saga über die in der Französischen Revolution zerbrechende Familie Seldorf verknüpft sich die Liebe der Geschwister mit Fragen der politischen Partizipation, so dass es zu spannungsreichen Interaktionen zwischen den Ebenen der eigentlichen und der weiteren Geschwisterschaft kommt.49

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Goethe, Werke, Bd. 4, S. 367. Vgl. etwa die viel zitierten Zeilen aus einem Gedicht an Frau von Stein, das Goethe ebenfalls 1776 verfasst hat: »Ach, du warst in abgelebten Zeiten / Meine Schwester oder meine Frau;« (Bd. 1, S. 123). Vgl. das entspr. Diagramm bei Titzmann 1991, S. 248ff. Zu Zusammenstellungen von Inzesttexten aus der deutschen Literatur vgl. neben Titzmann 1991 schon Rank 1974 (1912), Wilson 1984, Baßler 2000, von Hoff 2003, S. 82ff sowie die trotz aller Vorbehalte gegen die ideologische Haltung der Forscherin informative Aufzählung in Elisabeth Frenzels Motivgeschichte, vgl. Frenzel 1988, S. 399ff. Reiches Anschauungsmaterial zu Inzestthematisierungen bietet auch die französische Literatur, die mit den zunehmenden Übersetzungen im ausgehenden 18. Jahrhundert eine größere Verbreitung erfahren hat: Einschlägig sind hier Montesquieu, Voltaire, Diderot, Mirabeau, aber auch Casanova, der allerdings weit hinter dem Bekanntheitsgrad der erstgenannten liegt. Vgl. für die französische Literatur Neumann 1991. Wie es sich dann auch – was das Revolutionsgeschehen betrifft jedoch nur höchst indirekt – in den Analysen von Jean Pauls Texten zeigen wird. Ausf. zu den Ausprägungen der weiteren Geschwisterschaft, spezifiziert als Freundschaft und als instiutionelle Ge-

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Bemerkenswert an diesem von der Forschung viel zu selten beachteten Roman ist zum einen, dass er anders als die meisten zeitgenössischen Texte nicht mehrfach vermittelt auf republikanisches Gedankengut anspielt, sondern uns direkt ins Zentrum der Französischen Revolution und der nachfolgenden Kriege führt. Zum anderen zeigt Therese Huber die politische Partizipation und sogar die militärische Integration im Namen der fraternité an einer Frauenfigur. Und nicht zuletzt behauptet sich hier eine bürgerliche Frau als professionelle Schriftstellerin und dazu noch mit einem – auf der Ebene der Familie wie auch derjenigen des Staates – hoch politischen Text.50 Einen anderen zentralen Aspekt des Geschwisterdispositivs um 1800 macht Schillers Braut von Messina augenscheinlich: Darin interagiert die inzestuöse Situation mit dem Bruderkonflikt in einer Art und Weise, die beide Konstellationen zu unmittelbar gegebenen und in ihrer Kombination zu unentrinnbaren macht. Schillers formales und inhaltliches Experiment, Antike und Moderne dramatisch miteinander zu verbinden und dabei die Geschwisterbeziehung ins Zentrum zu stellen, macht das heterophile und homophobe Geschwisterpaar als eine Basisstruktur des kulturellen Imaginären lesbar, deren Begründbarkeit vom schicksalhaften Verhängnis bis zur individuellen und freien Entscheidung reicht.51 Fast bei jedem prominenten Autor um 1800 ist die inzestuöse Situation vertreten, und wie die quantitative Erhebung von Titzmann zeigt, betreffen knapp achtzig Prozent dieser Inzestthematisierungen das Bruder-Schwester-Paar.52 Dabei ist Geschwister-Inzest, wie er in Gellerts Schwedischer Gräfinn vollzogen wird, jene Grenze, die literarische Texte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer seltener überschreiten. Denn wird diese Grenze überschritten, wie beispielsweise von Sperata und Augustin, den Eltern Mignons in Wilhelm Meisters Lehrjahren, dann sind die Folgen mehr als prekär: Literarische Inzestpaare des 18. Jahrhunderts sterben eines gewaltsamen Todes oder verfallen in Wahnsinn, der unter dem Paradigma der Aufklärung als Todesäquivalent zu verstehen ist.53 Es geht also weniger um den Reiz des Tabubruchs, da hier keine literarischen Gestaltungsmöglichkeiten bestehen, als vielmehr um die angrenzenden Zonen, deren Möglichkeiten und Grenzen verhandelt werden. Die komplizierten Genealogien, die in den literarischen Texten für das jeweilige Bruder-Schwester-Paar entworfen werden, zeugen vom Bemühen, die starke Attraktion zwischen Bruder und Schwester mit dem gesellschaftlich Zulässigen in Einklang zu bringen.

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schwisterschaft vgl. Teil I, Kap. 2.4 sowie die Textanalysen in Teil II, Kap. 3 und Teil III, Kap. 3. Zu den Rahmenbedingungen weiblicher Autorschaft um 1800 vgl. u.a. Becker-Cantarino 2000, zu Therese Huber und ihrem ersten Roman Die Familie Seldorf vgl. ebd. S. 86–112. Zu einem Überblick über die Forschungsdiskussion zur Braut von Messina vgl. Alt 2004, Bd. 2, S. 528ff. Vgl. Titzmann 1991, S. 247ff. Zum Inzestdiskurs im Meister vgl. Frei Gerlach 2003, S. 220ff. und Teil I, Kap. 2.3.2.

Wenn auch »Romane«, wie Goethe und Jean Paul versichern,54 maßgeblich zur Wirkung der Szenographie beitragen haben, so lässt doch gerade deren Persistenz darauf schließen, dass hier auch dezidiert außerliterarische Faktoren beteiligt sind. Welche sozialen Energien darin zirkulieren und welches kulturelle Wissen dabei wirksam sein könnte,55 soll nun im Folgenden dargestellt werden. 2.2.2

Soziale Handlungspraxen: endogame Heiratspraxis, Vetterleswirtschaft

In seiner mikrohistorischen Langzeitstudie über Neckarhausen in Baden-Württemberg zeigt David Warren Sabean auf, dass es im 18. Jahrhundert zu einer horizontalen Rekonfiguration von Verwandtschaft kommt. Wichtigstes Indiz dafür ist die Veränderung endogamer Heiratspraxen. Hatten Heiraten zwischen Cousins und Cousinen ersten, zweiten und sogar dritten Grades früher als inzestuös gegolten, so häuften sich nun die entsprechenden Dispensationen, und Heiraten in diesen Verwandtschaftsgraden wurden vor allem in ländlichen Gebieten in den besitzenden

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Vgl. Goethe, Werke, Bd. 4, S. 367, Jean Paul I/4,1102, sowie die Analyse des »Geburttagdramas« der Loge in Teil II, Kap. 2.2. Die für kulturwissenschaftliche Fragestellungen richtungsweisende Begriffsbildung der ›Zirkulation sozialer Energien‹ geht auf Stephan Greenblatts Gründungsschriften zum New Historicism, insbesondere den stilbildenden Referenztext »Die Zirkulation sozialer Energie« (engl. 1988) aus seinen Verhandlungen mit Shakespeare (dt. 1993) zurück. Darin plädiert Greenblatt dafür, die literarischen Texte mit der kulturellen Energie ihrer Entstehungszeit wieder aufzuladen. Dieses Aufladen funktioniert technisch über den inspirierenden Funken, der entsteht, wenn eine historische Geschichte – sie hat bei den Gründungsvätern des New Historicism gewöhnlich die Form einer Anekdote – überraschend mit einem literarischen Text verknüpft wird. Über solche Verknüpfungen sollen die Verschiebungen kultureller Praktiken und von Dingen aus einer ›kulturell abgegrenzten Zone‹ in eine andere als ein ›strukturierter Tauschhandel‹ deutlich werden. Methodisch ist das Projekt durch das auf Clifford Geertz zurück gehende Verfahren der ›dichten Beschreibung‹ (vgl. Geertz 1983) sowie ein energietechnisches, ökonomisches und topographisches Vokabular gekennzeichnet, das die neue Akzentsetzung, die der New Historicism gegenüber ideengeschichtlich basierten kulturhistorischen Fragestellungen vornimmt, und die inhaltliche Erweiterung diskursanalytischer Verfahren kenntlich macht. Zugrunde liegt – mit Louis Montrose – die Annahme eines ›gegenseitigen Verweisungszusammenhanges der Geschichtlichkeit der Texte und der Textualität von Geschichte‹ (vgl. Montrose 1995, S. 67), und damit ein virtuell unendlicher Textbegriff, von ›Kultur als Text‹. Das hat um die Jahrtausendwende viel zu Reden und Schreiben gegeben, trifft es doch ins Zentrum des Selbstverständnisses der literaturwissenschaftlichen Disziplinen. Vgl. DVjs 1/1999, S. 69–121; Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 41 (1997), S. 1–11 und 42 (1998), S. 457–507, Böhme/Scherpe 1996, Glaser/Luserke 1996, Bachmann-Medick 1995, Baßler 1995. Der in dieser Studie verfolgte gemäßigte kulturwissenschaftliche Ansatz nimmt die Anregungen aus dem New Historicism auf, verbindet sie jedoch auch mit der bewährten Diskursanalyse, also der Analyse von geregelten Mengen von Aussagen, die ein spezifisches Wissen transportieren, und bekennt sich grundsätzlich zum Primat des literarischen Textes und seinem ästhetischen Mehrwert gegenüber anderen Texten der Kultur.

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Schichten üblich. Vergleichende Studien bestätigen diese Tendenz auch für weitere Regionen Deutschlands und andere europäische Länder.56 Dies hängt – so die These von Sabean – damit zusammen, wie Familien über Besitz und Erbschaft organisiert waren. Organisierten sich Familien im 17. Jahrhundert stärker über das patrimoniale Erbe und betonten damit die vertikale Verwandtschaftsbeziehung, so schien es unter den gegebenen ökonomischen und politischen Bedingungen im 18. Jahrhundert strategisch besser, Allianzen auf der Horizontalen zu bilden. Besitz und Ämter wurden nun weniger über Vererbung weitergegeben, als vielmehr über strategische familiäre Allianzen kontrolliert, die langfristig die Erhaltung von Besitz und Macht in Verwandtschaftsgruppen sichern und die Reintegration zwischen Gleichen stärken konnten.57 Eine stark an Exogamieregeln orientierte Gesellschaft hat die Expansion von Verwandtschaft zum Ziel und sucht dazu die Ehe mit möglichst Fremden einzugehen. Effekt dieser gesellschaftlichen Dynamik ist aber auch eine Fragmentierung von familiär verorteter Macht und eine erhöhte strukturelle Komplexität. Die Bewahrung und Intensivierung gegebener Netzwerke und Machtstrukturen dagegen erfordert eine Orientierung am Nahen, Ähnlichen und Vertrauten. Verstehen wir mit Lévi-Strauss die jeweils geltenden Exogamieregeln als Indikator für gesellschaftliche Entwicklung, so lässt sich für das 18. Jahrhundert festhalten, dass nicht eine Erweiterung der Gesellschaft über Verwandtschaft, sondern eine Konsolidierung bestehender Familienverbände und ihrer Besitztümer über eine endogame Heiratspraxis gesucht wird. Die soziale Energie richtet sich damit auf das Innen der Familienverbände und hier insbesondere auf deren horizontale Strukturen, da auf der Horizontalen die Verbindungen gefestigt werden. Das Bruder-SchwesterPaar wird dabei zum symbolischen Kern von Verwandtschaft.58 Anders als in der Literatur mit ihren abenteuerlichen Genealogien steht in der sozialen Praxis die ›eigentliche Geschwisterschaft‹ meist fest und das Geschwister kommt damit als möglicher Ehepartner nicht in Frage. Es sind darum Cousinen und Cousins, die nun zu wichtigen Sozialpartnern werden. Der spätere Rückgang des Phänomens der Verwandtenehe seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert59 dürfte mit dem sich ausbreitenden Diskurs der Eugenik zusammenhängen, der solche Ehen als biologisch problematisch taxiert. Die große Bedeutung der Cousinen und Cousins im 18. Jahrhundert zeigt sich aber nicht nur in der über zahlreiche Dispense belegten Ehepraxis, sondern auch am parallel verlaufenden Diskurs über ›Vetterleswirtschaft‹. Etwa ab 1740 wird der kritische Begriff ›Vetterle‹ in sozialen und politischen Diskursen relevant und indi-

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Vgl. Sabean 1998, S. 427ff.; Gestrich/Krause/Mitterauer 2003, S. 492ff.; Johnson 2002, S. 52 prägnant: »Die Heirat zwischen Cousins und Cousinen wurde normal«; Delille 1985, Gouesse 1986. Vgl. Sabean 2002, 1998, S. 10ff., 208ff., 428ff. Dazu auch Burguière/Lebrun 1997, S. 101ff. Vgl. Sabean, 2002, S. 10, Johnson 2002, S. 52. Vgl. Gestrich/Krause/Mitterauer 2003, S. 494.

ziert eine Zunahme politischer und administrativer Macht über horizontal organisierte Verwandtschaftsstrukturen. Betonte der mittelalterliche Begriff des Nepotismus die Dyade Onkel-Neffe für verwandtschaftsbezogene Politik, so der seit Mitte des 18. Jahrhunderts gebräuchliche Begriff der Vetterleswirtschaft die Beziehungen unter Cousins.60 Erst die Trennung zwischen privatem und öffentlichem Bereich, die sich nach den napoleonischen Kriegen mit der verstärkten Bürokratisierung durchzusetzen beginnt, schwächt diese strategische Stellung der Cousins. Der enge Austausch zwischen verwandten Familien verläuft damit über zwei vernetzte Strategien, die eine doppelte Stärkung der Horizontalen bewirken: langfristige Heiratsallianzen und politisch-ökonomische Allianzen zwischen Verwandten derselben Generation. Da sich ›eigentliche‹ Verwandtschaft im 18. Jahrhundert über die graduelle Teilhabe an einer gemeinsamen biologischen Substanz defi niert, lässt sich gar von einer Biologisierung nicht nur des sozialen und ökonomischen, sondern auch des politischen Bereichs sprechen. 2.2.3

Bürgerliche Familienvorstellungen: Geschwisterbriefe

Kulturhistorisch ist die Aufwertung von Geschwisterbeziehungen auch im Kontext der Etablierung der bürgerlichen Mentalität zu situieren. Die Konzentration auf die Kernfamilie und die darin wirkenden Beziehungen und Emotionen wertet alle innerfamiliären Strukturen in der bürgerlichen Familie auf, insbesondere die Generation der Kinder, da Kindheit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verstärkt als eigenständige Lebensphase thematisiert wird.61 Die bürgerliche Familie entwickelt sich zum Raum des Privaten, in dem das individuelle Gefühl der einzelnen Personen im Verhältnis zu den intrafamiliären Beziehungen neu definiert werden muss: Waren die verwandtschaftlichen Beziehungen – zugleich mit anderen sozialen Relationen wie Freundschaft oder Liebe – früher eher funktional strukturiert, so werden sie jetzt tendenziell individuell und emotional besetzt.62 In diesem Transformationsprozess sind die Grenzverhandlungen zu situieren, die individuelles Gefühl und soziale Beziehung austarieren, und dafür scheint die innergenerationelle Ebene der Geschwister besonders geeignet. Überlieferte Briefwechsel zwischen Geschwistern dokumentieren, dass etwa zwischen 1740 bis 1840 in bisher ungekannter Intensivität Brüder und Schwestern 60

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Vgl. Sabean 1998, S. 37–62. Auch Grimm weist die Verwendung des Diminuitivs ›Vetterle‹ als kritischen zeitgenössischen Begriff und Komposita wie ›Vetterleswirtschaft‹ als besonders in Schwaben – dem Untersuchungsraum Sabeans – gebräuchlich nach. Vgl. Grimm 1956, Art. »Vetterle«, Bd. 26, Sp. 33. Dies wird insbesondere in Rousseaus Emile (1762) manifest. Vgl. zur Geschichte der Kindheit Mall-Grob 1999, S. 24ff.; Burguière/Lebrun 1997, S. 179ff.; Richter 1987; Martin/Nitschke 1986. Vgl. das Stichwort »Familie« in Brunner/Conze/Koselleck 1975; Shorter 1983; Rosenbaum 1982, S. 251–380; Frevert 1986, S. 15–62; Sieder 1987, S. 125–145; Burgière/Lebrun 1997; Gestrich/Krause/Mitterauer 2003, S. 482ff.

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miteinander eine Sprache des Gefühls erproben, die die Grenzen zwischen Geschwister- und Geschlechterliebe als durchlässig erscheinen lässt. Diese neue Gefühlsbetontheit ist eng verbunden mit bürgerlichen Vorstellungen und Werten der familialen Bindung. Allerdings sind solche Briefwechsel vor allem aus adligen sowie aus literaturnahen Kreisen überliefert, andere Textzeugnisse sind im Vergleich selten.63 Am fünften August 1793 schreibt der fünfzehnjährige Clemens Brentano an seine zwei Jahre jüngere Schwester Sophie: Sophie! ich dich vergessen o! du kennst mich noch nicht, Tag und Nacht denke ich an dich, dein Bild steht mir vor Augen am Tage und im Traume schon oft habe ich Verweise bekommen, weil ich oft lange Zeit auf einen Flek hinsehe und alles um mich herum vergesse, und das thue ich so gerne, sogerne, als ich mir jene goldne Zeit zurükrufen möchte, wenn ich könnte, wo ich bei dir war, und mit dir vertraut reden konnte.64

Jene »goldne Zeit« bezieht sich auch auf die entbehrungsreichen Jahre 1784–86, die die beiden Geschwister getrennt vom Rest der kinderreichen Kaufmannsfamilie65 bei ihrer strengen Tante Luise in Koblenz lebten. Dieser spezifischen Konstellation verdankt sich wohl die familiäre Situierung, die Clemens Mitte März 1800 in einem Brief an Sophie vornimmt: »Wir sind die Mitte unserer ganzen Familie in jedem Sinne.«66 In der Zwischenzeit haben die Liebesbezeugungen an die Schwester eine immer erotischer eingefärbte Sprache angenommen: O geliebte beste! wie wunderbar sind die Empfindungen eines liebenden. Die Liebe zu dir erregt in mir den Wunsch bei dir zu sein, und die Vernunft unterdrükt diesen Wunsch. Schon wieder seufze ich nach dir und dann wird mir’s so enge um das Herz, ein Strom erleichternder Thränen enstürzt dem suchenden Auge und izt schwimmt der liebende Bruder im Wonnegefühl der reinsten edelsten Liebe.67 Wenn sich aus unsrer Liebe oder Freundschafft, ein Wesen bilden könnte, und wäre es auch nur ein Mythologisches, so wäre es sicher sicher das vollkommenste. Wir sind Wesen von der Art, die am weitesten Entfernt sind, ich möchte sagen wir stehn, an den zwei Enden des Lebens, und werden nie ganz glücklich sein. Du nimmst alles in dich und ich gebe alles hin.68

Als Clemens Brentano im Frühjahr 1800 solches schreibt, gehört seine Liebe zugleich seiner späteren Frau Sophie Mereau, die er 1798 kennen gelernt hat und mit

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Vgl. die Beispiele bei Sabean 2002, S. 22ff. und Johnson 2002, S. 53ff. Brentano, Werke, Bd. 29, S. 18. Clemens Brentano, geboren am 9. September 1778, war das dritte von zwölf Kindern – von denen einige allerdings früh starben – des Kaufmanns Peter Anton Brentano und seiner zweiten Frau Maximiliane von La Roche, einer Tochter der Autorin Sophie von La Roche. Aus der ersten Ehe von Peter Anton Brentano gab es darüber hinaus noch vier weitere Halbgeschwister. Brentano, Werke, Bd. 29, S. 210. Brief vom 22.12.1793; in: Brentano, Werke, Bd. 29, S. 31f. Brief von Mitte März 1800; in: ebd., S. 206.

der er ebenfalls eine umfangreiche Korrespondenz unterhält. Dabei kommt es zu Vergleichungen der beiden Sophies, bei denen die Schwester gegenüber der – zu diesem Zeitpunkt noch abweisenden – Geliebten einiges voraus zu haben scheint. So heißt es im schon oben zitierten Brief von Mitte März 1800 an Sophie Brentano weiter: Mein Verhältniß mit dir ist in seinem innern Zusammenhange eben so doppelt, so freudig und so schmerzlich für mich. Nur bist du mir ganz und gar entgegengesezt, und wärst du mir so ähnlich wie S M so würde es sicher das nehmliche sein. Du bist in dir, in deiner Seele, in deiner Einzelnheit so vollendet abgeschloßen, das der Begriff von dir, der Begriff eines Ideals im einzeln wird.69

Doch diese innige Geschwisterbeziehung zwischen Clemens und Sophie erweist sich keineswegs als so individuell und einzigartig, wie dies hier erscheint. Vielmehr wird die Stelle der einzig geliebten Schwester auch nach Sophies Tod (1800) wieder besetzt. Wie spätere Briefe zeigen, nimmt nun die sieben Jahre jüngere Schwester Bettine, die meist außer Haus erzogen worden war, die Position der geliebten Schwester ein, und mit ihr wird die Sprache des Gefühls noch gesteigert. Offenbar handelt es sich bei der geliebten Schwester nicht nur um eine individuelle emotionale Bindung, sondern auch um eine funktionale Notwendigkeit für die Gefühlswelt des Bruders: Diese Position muss für den jungen Clemens Brentano besetzt sein. Immerhin reflektiert Clemens diese Abfolge von Schwestern und löst sie in einem Vergleich auf, in den auch Sophie Mereau involviert wird. So schreibt er an Sophie Mereau am 18. März 1803, dem Jahr, in dem die Ehe schließlich doch noch zu Stande kommt: […] ach und waß meinem Glücke die Krone aufsezzt, es ist Betinens Liebe, ein Geschöpf, Sophie, Sie würden sich selbst bei ihr vergessen können, einen solchen Engel hat Göthe noch nicht gedacht, sie haben Sophien gekannt, wenn Sie Betinen kennten, sie würden aufhören zu dichten, zu tändeln, zu sehnen, sie würden ruhig werden, und zum erstenmahl lieben. Dies Mädchen, Sophie, ist mein, mein allein, und wenn ich gut bin, so bin ich es, um ihr zu gleichen, um ihre Liebe, und ihren süßen Vorwurf, daß sie alles durch mich sei, zu verdienen. Die verstorbne Sophie verhält sich zu ihr, wie die prächtigen Gemächer der Mde. Bonaparte zum Frühling, wie ein Flitterfächer, zur Sonne. Aber, liebe Freundinn, sie ist meine Schwester, ach und wie verdiente sie, die ihrige zu werden. Erschreken sie nicht, spotten sie nicht, ich verstehe es in dem bürgerlichsten Sinne, sie ist schön, sie sind schön, o wären sie schöne Schwestern belles soeurs.70

Hier werden die beiden Schwestern – die ja keineswegs Clemens’ einzige Schwestern sind – im großen Vergleich gegeneinander austariert, wobei die ehemals als »Ideal« und »Vollendung«71 gepriesene Sophie zum schalen Abklatsch (»Flitter«) gegenüber der eigentlichen »Sonne« Bettine wird. Dies sind jedoch nur die Präliminarien, um den eigentlichen Zusammenhang herzustellen, denjenigen zwischen Schwester

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Ebd., S. 209f. Ebd., Bd. 31, S. 62. Ebd., Bd. 29, S. 210.

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und Geliebter: Letztere soll über die Liebe und Schönheit der Schwester in einer metonymischen Bewegung gewonnen werden, die sich über das Wortspiel von den »belles soeurs« auch realiter als Verschwägerung konkretisieren soll. Dabei betont Clemens ausdrücklich, dass er diese Annäherung von Schwester und Braut im »bürgerlichsten Sinne«, als Familienbeziehung sieht. Dass auch Bettine Brentano die Korrespondenz zu ihrem Bruder als entscheidend für die Ausbildung ihrer emotionalen Kompetenz erachtet hat, zeigt ihre Veröffentlichung des Briefwechsels. Unter ihrem ehelichen Namen, Bettine von Arnim, hat sie 1844 den literarisch stark überarbeiteten Jugendbriefwechsel als Clemens Brentanos Frühlingskranz herausgebracht. Die Form der Edition nähert sich dabei deutlich dem Genre des Briefromans an und lässt die Grenzen zwischen literarischer Fiktion und historischer Realität durchlässig werden.72 Aber auch die Aussagen aus authentischen Briefwechseln von AutorInnen, die sich in ihrer literarischen oder theoretischen Produktivität mit Geschwisterbeziehungen befassen – so etwa von den Geschwistern Goethe oder Hegel73 – können nicht vorbehaltlos für die Befindlichkeit einer Generation herangezogen werden, sondern müssen in ihrem diffizilen Status zwischen Literatur und Leben gesehen werden.74 Zwar hat die Forschung nachgewiesen, dass gerade für die Zeit um 1800 zeitgenössische soziale Energien zahlreich in literarischen Texten zirkulieren. Ins-

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Zu einer umfassenden biographischen Darstellung der Geschwister Clemens und Bettine Brentano vgl. Schultz 2004. Prokop 1991, Bd. 2, S. 376ff., die die Beziehung der Geschwister Goethe vorwiegend anhand von Selbstzeugnissen von Cornelia Goethe untersucht, macht dabei deutlich, dass die innige Geschwisterbindung für Cornelia zugleich auf einem Unterwerfungsverhältnis beruht, gegen das sie sich schreibend aufzulehnen sucht. Vgl. bes. S. 386f. Zu einem ähnlich tragischen Befund kommt Lucas 1988 bei den Geschwistern Hegel, die in ihrer Jugend eine sehr enge Bindung pflegten, deren Laufbahnen – bei congenialen Anlagen – aufgrund der unterschiedlichen Möglichkeiten ihres Geschlechts sich jedoch völlig verschieden entwickelten: Einer glänzenden wissenschaftlichen und akademischen Karriere mit Gründung eines eigenen Hausstandes bei Georg Wilhelm Friedrich stehen die Unterrichtstätigkeit in Privathaushalten, die Verweigerung des Ehestandes und schließlich der Rückzug in eine psychische Krankheit bei Christiane Luise Hegel entgegen. Vgl. Lucas 1988, bes. S. 420ff. Sabean geht zu weit, wenn er auf der Basis des Briefwechsels der Geschwister Bettine und Clemens Brentano und literarischer Texte von Brentano, Klinger und Wieland vorschlägt, die Zeit zwischen 1740 und 1840 »als eine Periode zu betrachten, in der sich Brüder und Schwestern gegenseitig in die Gefühlsbetontheit intrafamiliärer Beziehungen einführten« und daraus »die Neigung zum zukünftigen Ehepartner« entspringe. Sabean 2002, S. 22. Denn gerade anhand dieser Beispiele müsste eine sozialhistorische Argumentation wie die seine genau nachfragen, welche sozialen Realitäten diese literaturnahen und literarischen (und also fi ktiven) Textzeugnisse motivieren, und darf die Texte nicht als sozialhistorische Quellen missverstehen. Es wären also Fragen zu stellen wie: Ist die enge Geschwisterbindung Ausdruck einer stabileren und kürzeren Geschwisterreihe aufgrund geringerer Kindersterblichkeit und/oder weniger Geburten? Oder hat sich hierin im Vergleich zum 17. Jahrhundert wenig geändert und die Geschwisterbin-

besondere das neu aufgestiegene Genre des Romans stellt ein wichtiges Verständigungs- und Selbstvergewisserungsmedium für die Veränderung intrafamiliärer Beziehungen und die neue Gefühlsbetontheit dar. Doch umso mehr muss die Differenzialität zwischen fiktionalem Entwurf und sozialer Praxis beachtet und im Einzelfall spezifisch nach deren Interdependenzen gefragt werden. Dass solche Interdependenzen zwischen Literatur und Leben in der Zeit um 1800 in besonderem Maße wirksam sind, zeigt am deutlichsten das Medium des Briefes. Und dies nicht nur in Briefwechseln aus literaturnahen Kreisen oder in literarischen Briefen. So weist Heinz Reif anhand von umfangreichen Briefwechseln des westfälischen Adels aus der Zeit zwischen 1770 bis 1860 nach, dass auch hier eine neue, gefühlsbetonte und persönliche Sprache erprobt wird. Diese neue Kommunikationsform beschränkt sich dabei auf Briefwechsel zwischen Geschwistern und gleichaltrigen Freunden und Freundinnen, gegenüber den Eltern – und insbesondere gegenüber dem Vater – sind die Briefe über eine längere Zeit noch in traditionalem, formelhaften Stil abgefasst. In dieser Kommunikation unter Peers wird die Ausbildung eines horizontal strukturierten Generationengefühls fassbar, das quer zur vertikal angelegten adligen Familienordnung steht. In besonderem Maße ist es dabei die Verbindung zwischen Bruder und Schwester, die zu einem dominant individuellen Vertrauenskreis innerhalb der generationellen Zugehörigkeit wird. Die dieser geschwisterlichen Zweierbindung zugehörige Briefsprache zeugt von der Integration bürgerlicher Einstellungen und Werte, wie sie im viel gelesenen Genre des Briefromans dokumentiert sind, in das Selbstverständnis der heranwachsenden Adligen.75 Die Textzeugnisse lassen nur sehr begrenzt Schlüsse über die tatsächliche bürgerliche Beziehungspraxis zwischen Geschwistern zu. Dafür verweisen die literarischen, literaturnahen und von Literatur inspirierten Texte auf die symbolische Ordnung, die in ihnen zum Tragen kommt: Und für diese lässt sich festhalten, dass die Zeit um 1800 eine Periode ist, in der die Bruder/Schwester-Dyade ein Zentrum für die Herausbildung und Entwicklung des Gefühls und der individuellen Beziehungsfähigkeit bildet und damit auch die Vorstellungen über die zukünftige Ehepartnerin oder den zukünftigen Ehepartner formt. Die in der sozialen Praxis zahlreich dokumentierten Eheschließungen zwischen Cousins und Cousinen76 finden

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dung ist vielmehr als Ausdruck einer historisch spezifischen emotionalen und mentalen Disposition zu verstehen und damit diskursanalytisch zu untersuchen? Vgl. Reif 1979, S. 265ff. Reif betont dabei, dass nicht einfach von einer Übernahme bürgerlicher Werte und Ideale gesprochen werden kann, sondern dass eine Entwicklung innerhalb des Adels – die Unterwanderung bisher selbstverständlicher Privilegien etwa bei Landtagen, staatlichen Ämtern, an den Universitäten oder bei Gericht durch das aufstrebende Bürgertum – die Tendenz zum Aufbau persönlicher und nicht vorgegebener Beziehungen und Werte förderte, wofür bürgerliche Einstellungs- und Verhaltensweisen ein Orientierungsangebot bereit hielten. Vgl. dazu Teil I, Kap. 2.2.2.

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ihren psychosozialen Rückhalt in dieser Disposition: Die Heirat mit dem Cousin oder der Cousine als genealogisch dem ›eigentlichen‹ Geschwister nächststehenden Verwandten erscheint damit als die reale Einlösung der Geschwisterliebe als Geschlechterliebe im Rahmen dessen, was – seit Mitte des 18. Jahrhunderts – neu möglich und gesellschaftlich legitim ist. Es ist diese Verbindung von symbolischer Ordnung, individuellem Gefühl und sozialer Praxis, die das Bruder-Schwester-Paar ins Zentrum rückt: Die soziale Endogamie im Interesse der Besitzstandswahrung verbindet sich mit dem individuellen Liebesempfinden als Basis für die Partnerwahl, indem sich diese Gefühlsentwicklung auf den sozial Nächsten respektive die sozial Nächste richtet: das Geschwister. So werden in der Geschwisterliebe individuelle Emotionen und persönliche Beziehungsfähigkeit erprobt, die sich in der Cousin/Cousinenheirat zugleich als Einlösung materiell-familiärer Interessen konkretisieren können. Effekt dieser ineinander greifender Orientierungen, Prägungen und Praxen ist eine Validierung der Horizontalen in bisher ungekanntem Ausmaß. Im Folgenden gilt es nun an den Schnittstellen zwischen Familie und Gesellschaft genauer zu beleuchten, wie sich diese Validierung der Horizontalen in den Verhandlungen zwischen ›eigentlichen‹ und ›weiteren‹ Geschwistern gestaltet und welche Rolle dabei der Literatur zukommt.

2.3

Eigentliches versus Weiteres: Diskurs-Schnittstellen zwischen Familie und Gesellschaft

2.3.1

Ausschluss von Sexualität: Empfindsamkeit

Der Kommunikationscode, in dem soziale Beziehungen wie Familie, Ehe, aber auch Freundschaft ausgedrückt werden, wird in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in historisch bisher ungekanntem Ausmaß durch den Begriff der Liebe dominiert.77 An der Herausbildung dieser neuen Liebessemantik hat Literatur entscheidenden Anteil. Insbesondere der Diskurs der Empfindsamkeit und die darin propagierte zärtliche Liebe wirkt über die – von den Zeitgenossen oft kritisierte – zahlreich betriebene Selbstvergewisserung in der Lektüre literarischer Texte prägend für die Bildung und Etablierung dieser Liebessemantik.78 Ein wichtiges Kennzeichen dieser Liebessemantik ist der Platonismus in der Geschlechterliebe. Zahlreiche bürgerliche Eheratgeber um 1800 propagieren die

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Vgl. Luhmann 1982, S. 23. Nach Luhmann ist das »Medium Liebe selbst kein Gefühl, sondern ein Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit all dem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird.« Vgl. Wegmann 1988, Hansen 1990, Sauder 1990, Greis 1991, Bobsin 1994, Koschorke 1999, bes. S. 20 ff. und 154ff, sowie die Pionierstudie von Kluckhohn 1922.

geringe Bedeutung von Sexualität für die zeitgenössische ideale Ehe und stellen als Hauptzweck nicht die Reproduktionsgemeinschaft, sondern die Neigungspartnerschaft ins Zentrum. Galt die Kanalisierung der Leidenschaft in der Ehe als zentraler Baustein der alten Ehelehre, so wird dem sexuellen Begehren jetzt keine eigenständige Kraft mehr zugesprochen, so dass die menschliche Triebnatur in den ungesagten Leerstellen des Liebes- und Ehediskurses verschwindet.79 Literarische und populärphilosophische Texte überbieten sich mit Formulierungen zärtlicher, leidenschaftsfreier, beständiger und rein auf Tugend und Empfindung gegründeter Liebe. Diese Reinigung von sexuellem Begehren ermöglicht zugleich eine Angleichung der Liebescodes unterschiedlicher sozialer Beziehungen, so dass die semantischen Grenzen zwischen ehelicher, vorehelicher, freundschaftlicher und geschwisterlicher Liebe durchlässig werden. Diese Glättung der Liebescodes unterschiedlicher sozialer Beziehungen produziert aber auch Mehrdeutigkeiten, die ein Konfliktpotenzial bergen. Davon wissen literarische Texte zu erzählen. In Friedrich Heinrich Jacobis Woldemar (1779) führt die Zirkulation unterschiedlicher Rollen der weiblichen Hauptfigur (Freundin, Schwester, Braut) im Zeichen einer stets gleich lautenden, gefühlvollen und asexuellen Liebe zu einem Konfliktpotenzial, das sich nur aus dieser Angleichung der Liebessemantiken verstehen lässt. Die Durchlässigkeiten der Liebescodes und die erwartbare Verwandlung des geschwisterlich-freundschaftlichen Verhältnisses von Woldemar und Henriette in ein eheliches unterbindet der Text schließlich mit einer Radikalisierung des Geschwisterstatus: Statt nur im weiteren Sinne wie Geschwister, verstehen sich Woldemar und Henriette als eigentliche Geschwister, »ganz, und wie von Mutterleibe an«, so dass das Inzesttabu eine Verwandlung der Beziehung nun wirksam verhindern kann.80 Die Affektreinigung des Liebesdiskurses lässt insbesondere die Dyaden Mann/ Frau und Bruder/Schwester beinahe deckungsgleich werden. Darum setzen literarische Texte ihre Grenzverhandlungen genau an dieser Stelle an. Anders als in der Geschlechterliebe ist sexuelles Begehren in der Liebe zwischen Geschwistern nicht nur sublimiert, sondern tabuisiert. Die Liebe zwischen Bruder und Schwester stellt damit eine einfach zu realisierende konkrete Ausformulierung der empfindsamen Liebe zwischen den Geschlechtern dar, die sich unter Ausschluss von Sexualität ganz auf das Gefühl in der zwischenmenschlichen Interaktion konzentrieren kann. Gerade für Heranwachsende ergibt sich damit die Möglichkeit, das geltende Liebesideal zu verwirklichen respektive es zu allererst einzuüben, um sich so für den Liebesmarkt fit zu machen. Auch diese Entwicklungsmöglichkeit führt Literatur vor und reflektiert dabei gleich die Auswirkungen von literarischen Modellen auf Le-

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Vgl. Koschorke 1999, S. 20ff.; 2000, S. 163. Zur Empfindsamkeit als sublimierter Sexualität vgl. Sauder 1990, Koschorke 1999, S. 95ff. Übergreifend zur Geschichte der Sexualität in der bürgerlichen Gesellschaft vgl. V. Hull 1988. Jacobi 1969, S. 147. Vgl. ausf. dazu Teil II, Kap. 3.1.1.

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bensentwürfe mit: In Goethes Geschwister wird die asexuelle Geschwisterliebe zum Modell der Einübung für die auf Neigung gründende Geschlechterliebe, zu der Sexualität in der – nicht mehr ausgeführten – weiteren Entwicklung der Beziehung dann hinzukommen wird, soll die erhoffte Mutterrolle auch ›eigentlich‹ eingenommen werden können. Dass die Verwandlung von der Schwester zur Braut letztlich konfliktfrei und vor allem augenblicklich geschieht, erklärt sich aus der enzyklopädischen Kompetenz der weiblichen Hauptfigur: Das »[H]erüber und hinüber« von der Schwester zur Braut ist ihr aus der Lektüre zahlreicher »Romane« hinlänglich bekannt und war ihr wiederholt Anlass, sich selbst in der Rolle der entsprechenden Romanheldinnen zu imaginieren. So dass ein Transfer des literarischen Musters in ihre eigene Lebenswirklichkeit für sie problemlos möglich ist.81 Gefördert wird die Stellung des Bruder-Schwester-Paars im zeitgenössischen Liebesideal aber auch durch die geschwisterlichen Implikationen, die dem empfindsamen Liebes- und dem tugendhaften Ehediskurs genealogisch inhärent sind. So speist sich das platonische Eheideal unter anderem aus der Modellfunktion der Heiligen Familie mit ihrer spezifischen Fortpflanzungspraxis.82 Als irdisches Gründerpaar des Christentums stehen Maria und Joseph durch ihre asexuelle eheliche Gemeinschaft symbolisch auch für das Sozialmodell des Christentums als einer sich gegenseitig stützenden Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern ein. In der Überblendung der bürgerlichen Ehegemeinschaft mit Elementen der MariaJosephs-Konstellation83 und der dort initiierten geschwisterlichen Liebe fi ndet sich ein wichtiger Ursprung der Engführung von geschwisterlicher mit ehelicher Liebe. Deutlicher noch ist die christliche geschwisterliche Liebe, wie sie historisch im mittelalterlichen Liebesmodell der caritas fassbar ist, in den Diskurs der Empfindsamkeit eingegangen. Die caritas bildet eine Keimzelle im Prozess der Gefühlsanreicherung sozialer Interaktionen, ohne die der Erfolg der späteren empfi ndsamen Neuformulierung zwischenmenschlicher Liebe nur schwer erklärbar wäre.84 Die caritas und ihre empfindsame Ausprägung der tugendhaften Liebe im 18. Jahrhundert bildet so eine Umschaltstelle zwischen geistlicher und eigentlicher Geschwisterliebe einerseits, und zwischen Geschwister- und Geschlechterliebe andererseits. Die damit bezeichneten Schnittstellen zwischen Familie und Gesellschaft zeigen die Übereinstimmungen der Codes für soziale Interaktionen, verdecken aber

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Goethe, Werke, Bd. 4, S. 359,367. Vgl. ausf. dazu Teil II, Kap. 2.1. Vgl. Koschorke 2000, S. 163. Vgl. insbes. die literarischen Gestaltungen, beispielsweise die Josephs-Geschichte der Wanderjahre. Zwar sind die Wanderjahre erst 1821 resp. 1829 erschienen, doch zeugt schon eine Briefstelle von 1799 von der Josephs-Idee, vgl. Goethe, Werke, Bd. 8, S. 519. Wegmann spricht von der Implementation des operativen Elements der caritas als einer ersten Etappe, die den Virus gelegt hat für die spätere, ungleich stärkere Neudefinition von Gefühlsqualitäten als bindendes Regulativ interfamiliarer Interaktion. Vgl. Wegmann 1988, S. 28.

doch nur teilweise die damit transportierten Gegenläufigkeiten. Dieser Gegenläufigkeiten nehmen sich vorrangig literarische und metaliterarische Texte an. Dass empfindsame Liebe Sexualität sublimiert und damit nicht beseitigt, haben schon die Zeitgenossen diskutiert. In Rezensionen empfindsamer Romane, Gedichte oder Dramen wird wiederholt geäußert, dass es sich dabei bloß um eine versteckte Sinnlichkeit handle. So heißt es in einem Aufsatz von 1783: Zu den Vorzügen unseres Jahrzehends gehöret ohnstreitig die Kunst, die sinnliche Liebe mit der platonischen zu verbinden, und unsere ganze Erziehung ist darauf eingerichtet, verliebte Siechlinge zu bilden, die sich und dem Staate zur Last sind.85

Besonders scharfzüngig hat Georg Christoph Lichtenberg den erotischen Subtext der empfindsamen Sprache kritisiert und ihn gar im Bereich des Obszönen verortet: Nicht von Zärtlichkeit, Freundschaft und Menschenliebe sei die Rede, sondern von Testikeln und Schwänzen: »Wenn eine andere Generation den Menschen aus unsern empfindsamen Schriften restituieren sollte, so werden sie glauben es sei ein Herz mit Testikeln gewesen. Ein Herz mit einem Hodensack«.86 Mag Lichtenbergs Lektüre auch überspitzt sein, so zeigt sie zusammen mit anderen Lektüreberichten doch auf, dass Sexualität und Empfindsamkeit in den entsprechenden Texten nicht nur auf Kollisionskurs sind, sondern sich aneinander reiben und damit vielfältige Aus- und Einschlüsse von Sinnlichkeit aus der respektive in die empfindsame Sprache produzieren. Literarische Texte führen die Verhandlungen um Aus- und Einschließung von Sexualität mit Vorliebe anhand von Geschwisterpaaren durch. Paradigmatisch scheint dafür die Szenographie der inzestuösen Situation geeignet zu sein: Sie tritt – wie oben schon ausgeführt87 – in erstaunlich vielen erzählerischen und dramatischen Texten der Zeit um 1800 auf. Diese Persistenz verweist auf eine Problemlage von hoher Relevanz. Um zu klären, wie ein sexualitätsfernes Liebesideal mit der Produktivkraft eines sexuellen Tabus, das auch sexualitätsfreundlicheren Zeiten stets als Tabu galt, zusammengehen, und weshalb gerade Geschwister dabei die zentrale Rolle spielen, gilt es nun genauer danach fragen, was Inzest – und insbesondere Geschwisterinzest – in der Zeit um 1800 bedeutet. Wie haben zeitgenössische Diskurse Inzest verhandelt und wie wurde realer Inzest erlebt und debattiert?

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Anonymus: Galanterien mit dem medicinischen Fernglase betrachtet. In: Almanach für Ärzte und Nichtärzte. Bd. 2 (Jena 1783), S. 195; zitiert nach Sauder 1990, S. 169. Sauder weist nach, dass selbst der Begriff der ›Sublimierung‹ in der von Freud später geprägten Verwendung der Verschiebung des Triebziels schon im 18. Jahrhundert in ebendiesem Sinne auftritt: »ich bezeuge Ihnen vor Gott, es ist natürlicher Geschlechtstrieb […]; nun mag man das verfeinern und destilliren, und zum schönsten Platonismus hinauf sublimiren, wie man will, es bleibt immer ein leidentlicher Zustand, bis er befriedigt ist.« (Heinrich Jung-Stilling: Theobald oder die Schwärmer. Eine wahre Geschichte. 2 Teile, 1784/85); zitiert nach Sauder 1990, S. 174. Lichtenberg, Sudelbücher, Schriften, Bd. 1, S. 508, Fragment 345. Vgl. Teil I, Kap. 2.2.1.

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2.3.2

Einschluss von Sexualität: Inzestdiskurse

Ausgehend von der in der Forschung wiederholt festgestellten Produktivkraft der Szenographie der inzestuösen Situation für die Literatur um 1800 gilt es im Folgenden zu klären, welche Diskurse das Reden über Inzest strukturieren. Spezifischer wird mit Michel Foucault und Judith Butler danach gefragt, ob sich das Phänomen der Inzestkumulation in der Literatur um 1800 mit der These der produktiven Macht der Repression erklären lässt.88 Dies erfordert eine genauere Klärung der Frage, welche Diskurse diese Repression regulieren und ob es sich dabei um ein rein literarisches Phänomen handelt, oder ob Korrelationen zu anderen kulturellen Phänomen bestehen. Zu letzterem liegen schon einige Untersuchungen vor,89 auf denen die folgende Argumentation aufbauen und dabei auch von neueren Ergebnissen zu Inzestdiskursen des 18. Jahrhunderts aus historischer Sicht profitieren kann.90 Naturrechtlich-utilitaristische Argumentation Die Veränderungen des 18. Jahrhunderts in den Strategien zur Begründung von Normen betreffen auch die Frage der Blutschande. Aufklärerisches Denken verabschiedet theologische und mythische Erklärungsansätze weitgehend und sucht auch überkommene Normen aus der Vernunft und Natur neu zu begründen. So steht an erster Stelle des Artikels »Blutschande« von 1733 in Zedlers Universallexikon der Versuch, das Inzestverbot aus dem iure naturae zu begründen.91 Der Autor findet bei seinem Durchgang durch die wissenschaftlichen Autoritäten aber auf jedes Argument einen Einwand. Da er trotz dieses Begründungsnotstandes von der Rechtmäßigkeit des Inzestverbotes überzeugt ist, werden argumentative Auswege erprobt: Da nun in der Vernunft so mancher Widerspruch wider den Satz, daß die Blut-Schande nach denen Rechten der Natur verboten sey, gefunden wird, so berufft man sich in diesem Falle auf die göttlichen Gesetze [...]. Wir wollen nur noch anietzo die Bewegungs

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Foucault entwickelt seine Kritik an der »Repressionshypothese«, die er in früheren Texten selbst vertreten hatte – beispielsweise in Wahnsinn und Gesellschaft (frz. 1972) oder Die Ordnung des Diskurses (frz. 1971) – in Der Wille zum Wissen (frz. 1976): Repression ist hier nicht primär ein Negatives, das ein Positives als das voraussetzt, was unterdrückt wird. Vielmehr produziert die Macht der Repression – vorab in ihrem juridischen Gewand – zugleich ihren Gegenstand. Vgl. Foucault 1983, S. 25ff., 131ff. und Butler 1991, S. 118ff. Vgl. Frei Gerlach 2003, Baßler 2000, Wilson 1984, die grundlegende Arbeit von Titzmann 1991, Meyer-Krentler 1982 sowie die Pionierstudie von Rank 1974 (Erstauflage 1912) die, obwohl Jean Paul bei den untersuchten Beispielen nicht vorkommt, ein Motto von ihm vorangestellt hat. Jarzebowski 2006, Eming et al. 2003, Sabean 1998, 2002, L’homme 2002. Zedler stützt sich dabei laut eigenen Angaben vor allem auf Fid. Schnaderbach Disputatio iuris de respectu parentelae von 1723.

Gründe anführen: Warum die Blut-Schande mit Recht verboten werde? Es ist nöthig, dieses zum voraus zu setzen, daß, ob man gar wider ieden Grund insonderheit etwas einwenden könne, [...] man doch diese Gründe alle zusammen nehmen müsse, da denn sich ihre Wichtigkeit zeigt. Die Blut-Schande ist zwar also nicht wider die Natur, [...] gleichwol aber muß man in dem Rechte der Natur nicht nur dahin sehen, wo die Gesellschafft bestehen könne, sondern auch, wodurch ihr Nutzen befördert wird.92

Obwohl also Konsens darüber besteht, dass das Inzestverbot nicht aus dem iure naturae abgeleitet werden kann,93 muss es als rechtmäßig verteidigt werden. Da die rationalen Argumente auf eine naturrechtliche Legitimierung des Inzestes hinauslaufen würden, sucht der Autor dies mit einem Rückgriff auf Überkommenes abzuwehren. Doch die göttlichen Gesetze, die für Inzestvergehen traditionell zuständig gewesen waren, passen nicht in seine Argumentationslogik, er nimmt diesen Ausweg darum nicht ernsthaft in Anspruch. Zum gewünschten Erfolg führt ihn der argumentative Kniff, den Begriff des Naturrechts so auszulegen, dass es zu dem wird, was der Gesellschaft nützt: »Das Honestum und utile, wenn es wahrhafftig nützlich ist, ist zugleich Justum.« Als solchermaßen utilitaristische Basis der kulturellen Ordnung weist der Lexikon-Autor das Exogamiegebot aus: Wodurch der Nutzen der Gesellschafft befördert wird, dasselbe ist recht. Nun wird durch Verbietung der Blut-Schande nachfolgender Nutzen geschafft: 1) werden die Freundschafften vermehret.94

Wie es gut 200 Jahre später Lévi-Strauss als zentralen Bestandteil seiner Definition des Inzesttabus gefasst hat, fungiert die Vermehrung der »Freundschafften«95 auch im Artikel »Blutschande« von 1733. Selbst die ökonomische Konkretisierung bei Zedler weist auf Lévi-Strauss’ Argumentation des Inzestverbots als »die höchste Regel der Gabe« voraus, und andererseits auf die weitreichende Wirkung augustinischer Tradition zurück, in der die Argumente stehen:96 Es herrschet zu unsern Zeiten die böse Gewohnheit, daß das Geld der erste Grund der Heyraten ist, da suchet man nun in reichen Familien das Geld fein zusammen zu behalten, und verheyratet die Freunde unter einander damit ja kein armer fremder davon etwas bekommen möge. Was würde nun nicht erst der Geiz anfangen, wenn Schwestern und Brüder einander heyraten könnten?97

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Zedler 1961, Bd. 4, Sp. 253. Vgl. auch Wilson 1984, S. 251ff. Zedler 1961, Bd. 4, Sp. 253. Im 18. Jahrhundert ist der Begriff der Freundschaft, wie in Teil I, Kap. 2.1 schon dargelegt, semantisch offener: Er kann nicht nur eine gewählte Beziehung, sondern auch eine verwandtschaftliche bedeuten; vgl. die Artikel »Freund« und »Freundschaft« bei Adelung 1990, Bd. 2, Sp. 283ff., und Grimm 1878, Bd. 4, Sp. 161ff. Lévi-Strauss 1993, S. 643, zur augustinischen Tradition vgl. Sabean 1998, S. 64. Zedler 1961, Bd. 4, Sp. 253.

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Diese Befürchtung hat einen hohen prognostischen Gehalt, wie die Entwicklung zur endogamen Heiratspraxis und zur ökonomischen Besitzwahrung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeigt.98 Neben dem Exogamiegebot werden bei Zedler im utilitaristischen Argumentationszusammenhang noch zwei weitere Punkte angeführt, die stringenterweise auf derselben Implikation – der libidinösen Besetzung der Familie – beruhen. Dies ist zum einen die Erhaltung des respectus parentelae, der »Ehrfurcht zwischen Eltern und Kindern«, auf deren Basis die patriarchal organisierte Familie konzipiert ist. Zum andern nennt Zedler die Verhinderung manch »unkeusche[r] That«, wobei hier vor allem der »vertrauliche Umgang zwischen Schwester und Bruder« problematisiert wird.99 Es sind dies alles Argumente, die schon in den Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts zahlreich belegt sind.100 Dies zeigt, wie sorgfältig bei Zedler das tradierte Wissen dokumentiert und gemäß dem aufklärerischen Paradigma tariert wird, es ist aber auch ein Hinweis auf die dem enzyklopädischen Unterfangen per se innewohnende rückwärtsgewandte Tendenz. Denn die Zeichen der Zeit weisen ja in jene andere, befürchtete Richtung. Die naturrechtlich-utilitaristische Argumentation regelt bei Zedler vor allem den gesellschaftlichen Umgang miteinander, berührt aber mit dem Exogamiegebot auch eine grundlegende Ebene. Doch zielt der Autor damit nicht auf einen gesellschaftlichen Ursprung, wie dies Freuds spekulative Hypothese der Urhorde tut,101 sondern behandelt die gesellschaftliche Weiterentwicklung, wie die Formulierung der ›Vermehrung‹ der Allianzpartner deutlich zeigt.102 Wo im Zusammenhang des Inzestes im 18. Jahrhundert kulturelle Ursprünge verhandelt werden, läuft die Argumentationslogik im Gegenteil auf inzestuöse Ursprünge hinaus. Dazu wieder Zedler: Die andere Betrachtung, welche man von der Blut-Schande anstellet, geschiehet nach dem so genannten Jure Gentium, oder dem Gebrauche der Völcker. Cain muß nothwendig seine Schwester zur Ehe gehabt haben.103

Es folgt eine Aufzählung verschiedener Völker, »bey denselben die Blut-Schande üblich gewesen«: die Britannier, Araber, Perser, Aethiopier, Indianer, Scotis, Mauris, Babylonier und Aegypter. Das ethnohistorische Argument wird im Denken des 18. Jahrhunderts mit dem naturrechlichten verbunden durch die homonyme Formulierung vom einen Stamm, der sich fortpflanzt.104 Laut Zedler gilt das eth98 99 100 101 102

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Vgl. Teil I, Kap. 2.2.2. Zedler 1961, Bd. 4, Sp. 254. Vgl. Sabean 1998, S. 64ff. Vgl. Freud 1991, S. 195ff. In dieser Linie argumentiert insbesondere Christoph Friedrich Ammon in Über das moralische Fundament der Eheverbote unter Verwandten, 2.Abhandlung (Göttingen 1799), der die Inzestregeln als grundlegend für die Vervollkommnung des Menschengeschlechts ansieht, vgl. Sabean 1998, S. 68; 2002, S. 18. Zedler 1961, Bd. 4, Sp. 252. Der dritte Erklärungsansatz, die Degenerationshypothese, war im 18. Jahrhundert aus

nohistorische Argument aber nicht als naturrechtlicher Beleg, sondern nur als »Erläuterung«, dass die Blut-Schande »nicht wider die Vernunft sey«.105 Strafrechtliche Argumentation Hand in Hand mit der Schwächung der metaphysischen Begründungslogik für das Inzestverbot verläuft im 18. Jahrhundert eine Strafrechtsreformdebatte über die Aufweichung von Ehehindernissen und die Verminderung des Strafmaßes bei Inzestvergehen. Dies hatte verschiedene Gründe. Zum einen war die Berechnung von Verwandtschaftsgraden zum Erkennen allfälliger Ehehindernisse so kompliziert geworden, dass es notwendig erschien, gemeinverständliche Anleitungen dazu zu verfassen.106 Dabei gilt es zu erinnern, dass sich Verwandtschaft, die als ehehindernd galt, nicht nur auf Angehörige derselben biologisch-genetischen Gruppe, sondern auch auf Verschwägerte und deren Angehörige, auf Stief-Verwandte sowie auf die geistliche Verwandtschaft, die durch die Taufe zwischen Täufling und Pfarrer respektive den Paten gestiftet wurde, bezog.107 Zum andern galten nebeneinander vielfältige Einzelbestimmungen aus unterschiedlichen Rechtstraditionen, und diese wurden darüber hinaus regional unterschiedlich gehandhabt.108 Die aufgrund dieser weitläufigen Verwandtschaftskonzeption und der oft kleinräumigen Lebensverhältnisse nachgefragten Dispense bildeten eine florierende Einnahmequelle.109

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der wissenschaftlichen Argumentation weitgehend ausgeschlossen, da naturwissenschaftliche Daten dazu fehlten. Die Hypothese eines biologischen Selektionsprozesses und einer daraus resultierenden natürlichen Inzestscheu wurde dann Ende des 19. Jahrhunderts von verschiedenen Wissenschaftlern vertreten, aber erst im 20. Jahrhundert im Rahmen der Genforschung auf einer anerkannten wissenschaftliche Basis diskutiert, ohne allerdings den über die Tragfähigkeit der Hypothese entbrannten Wissenschaftsstreit beilegen zu können. Im 18. Jahrhundert ist die Degenerationshypothese dagegen ein Argument des zeitgenössischen Populärwissens. Vgl. Wilson 1984, S. 250ff, Kiefl 1986, S. 252ff., Klein 1991, S. 85ff. Zedler 1961, Bd. 4, Sp. 253. Vgl. z.B. Johann Friederich Christoph Weisser: Anleitung zur Berechnung der Verwandtschaftsgrade. Nach Grundsätzen des römischen und päbstlichen Rechts (Stuttgart 1781), zitiert bei Meyer-Krentler 1982, S. 242. Zur historischen Entwicklung der verbotenen Grade und zu deren unterschiedlicher Zählweise in römischer und germanischer Tradition vgl. Goody 1989, S. 149ff. sowie Teil I, Kap. 1.2,1.3. Einschlägig diesbezüglich schon der Titel von Karl August Moritz Schlegel: Kritische und systematische Darstellung der verbotenen Grade der Verwandtschaft und Schwägerschaft, bey Heyrathen, nach dem Mosaischen Gesetze, dem Römischen und Canonischen Rechte, und den Protestantischen Kirchenordnungen, mit besonderer Hinsicht auf die ChurBraunschweig-Lüneburgischen Kirchenordnungen, nebst einem Versuche zu einer neuen Begründung der Eheverbote nach reinen Principien der Sittenlehre und des Naturrechts, und einer Prüfung der bisher darüber aufgestellten Systeme (Hannover 1802), zitiert bei Meyer-Krentler 1982, S. 242. Jean Pauls Vorschlag in der 1801 erschienenen Erzählung Das heimliche Klaglied der jet-

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In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist – wie schon dargelegt – eine deutliche Zunahme an ausgesprochenen Dispensen auszumachen, vor allem bei Heiraten zwischen Cousins und Cousinen, was beispielsweise in Baden-Württemberg zu einer gesetzlichen Erweiterung von Dispensationsmöglichkeiten führte. Die neue Dispenspraxis schlägt sich letztlich auch strafrechtlich nieder: Wenn Inzestdelikte unterschiedlich sanktioniert werden, dann rangiert der Inzest in horizontaler Linie, namentlich der Geschwisterinzest, unter einem niedereren Strafmaß.110 Auch der juridische Diskurs verweist also auf die neue Bedeutung der horizontalen Verwandtschaftsbindung und des Bruder-Schwester-Paars als dessen symbolischem Kern. Diese unterschiedliche juridische Bewertung der verschiedenen Inzesttypen aktualisiert unter anderem auch Wertungen aus einschlägigen Mythen und theologischen Argumentationen. Geschwisterinzest ist darin – im Gegensatz zu demjenigen zwischen einem Elternteil und einem Kind 111 – tendenziell positiv besetzt: So erzählt der in literarischen Bearbeitungen vielfach aktualisierte altägyptische Mythos von Isis und Osiris von selbst existenzielle Grenzen überwindender Geschwisterliebe.112 Auch der kanonische Text, auf den fast jede Inzestargumentation im 17. und 18. Jahrhundert Bezug nimmt, das dritte Buch Mose, unterscheidet zwischen Inzestvergehen in vertikaler und in horizontaler Linie und beurteilt letztere als weniger gravierend. Im fünften Buch Mose erscheint dann eine Heirat mit der – kinderlosen – Schwägerin sogar als gottgefällig.113 Und schließlich findet sich in der Bibel ja auch die Herleitung des Menschgeschlechts aus einem Stamm, so dass – mit Zedler – »Cain [...] nothwendig seine Schwester zur Ehe gehabt haben«114 muss. Dies sind alles Argumente, die in der zeitgenössischen Diskussion bedacht wurden, und besonders wirkungsmächtig von Johann David Michaelis in seiner in mehreren Auflagen erschienen Abhandlung von den Ehe-Gesetzen Mosis welche Heyrathen in die nahe Freundschaft untersagen 115 untersucht wurden.

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zigen Männer, »daß die Konsistorien von allen verbotnen Verwandtschafts-Graden auf einmal dispensierten«, (I/4,1102) oder die im »Zweite[n] Extrablatt« oder der »Strohkranzrede eines Konsitorialsekretärs, worin er und sie bewiesen, daß Ehebruch und Ehescheidung zuzulassen sind« geführte Argumentation, die jetzige konsistoriale »Sporteleinbussen« (I/1,70,75) satirisch beklagt, können auch als Verhandlung solchen Ablasshandels gelesen werden. Vgl. Sabean 2002, 1998, S. 10ff., S. 70 ff., 399ff. 428ff., Titzmann 1991, S. 246 sowie Teil I, Kap. 2.2.2. Ein prominentes und wirkungsmächtiges Beispiel für diese Inzestkonstellation ist der Ödipusmythos. Vgl. dazu Teil I, Kap. 2.5.1. Vgl. dazu Sabean 2002, S. 17, 1998, S. 70ff. Zedler 1961, Bd. 4, Sp. 252. 1. Aufl. Göttingen 1755, 2. Aufl. 1768 sowie 2. und vermehrte Aufl. Frankfurt und Leipzig 1786.

Cousin/Cousinen-Heiraten und eine Rechtsauffassung, die inzestuöse Beziehungen zwischen Geschwistern als nicht so gravierend einstuft, verweisen darauf, dass die libidinöse Besetzung der verwandtschaftlichen Horizontalen eine höhere gesellschaftliche Akzeptanz genießt als das bei anderen libidinös besetzten Verwandtschaftsverhältnissen der Fall ist. Die Freisetzung von Emotionen im innerfamiliären Raum, wie sie das Programm der Empfindsamkeit bildet, könnte diese allenfalls vorhandene libidinöse Besetzung der Familienmitglieder noch verstärkt haben.116 Die These einer ›natürlichen‹ Inzestneigung, die den Überlegungen Freuds und Lévi-Strauss’ zugrunde liegt, dürfte sich jedenfalls aus diesem bürgerlichen Familienverständnis speisen.117 Wenn Freud aber aufgrund seiner Anfang des 20. Jahrhunderts erhobenen Daten die aus dieser primären Inzestneigung resultierende Inzestphantasie auf die Beziehung zwischen Kindern und Eltern aus- und auf dieser vertikalen Achse sein als universal verstandenes Theoriegebäude aufrichtet, so muss dies mit Blick auf die Situation um 1800 modifiziert werden: Hier stehen Geschwister im Zentrum der Inzestdiskurse. Die Inzestphantasie der Zeit um 1800 ist horizontal strukturiert. Dass der juridische Diskurs unter Inzest im ausgehenden 18. Jahrhundert mehr und mehr eine sexuelle Beziehung zwischen eigentlichen Verwandten versteht, verweist auf eine historische Bedeutungsverschiebung. Ging es in der Rechtssprechung vormals um Fragen der Dispensabilität von den Eheverboten in einem weitläufigen und hochkomplexen Verwandtschaftssystem, das leibliche ebenso wie geistliche Verwandtschaft umfasste, so interessieren sich die Juristen nun für den konkreten Ablauf der sexuellen Handlungen zwischen den von jeder Dispensabilität ausgenommenen Mitgliedern der Kernfamilie. Der Umgang zwischen den Familienmitgliedern wird damit zu einer staatlichen Angelegenheit: Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 verbietet etwa das gemeinsame Nächtigen von Geschwistern und Eltern in einem Bett.118 116

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Als Signal dafür lässt sich jedenfalls das Verbot des gemeinsamen Nächtigens in einem Bett werten, wie es das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 erlässt, vgl. unten. Vgl. Teil I, Kap. 1.6. Um einer Pauschalisierung des hier vorgebrachten Arguments der Inzestneigung vorzubeugen sei darauf hingewiesen, dass für das 18. Jahrhundert auch die der Inzestneigung entgegengesetzte Tendenz der ›natürlichen‹ Inzestscheu nachgewiesen ist: Sie ist in den Texten fassbar als ›Stimme des Blutes‹, die inzestuöse Beziehungen durch ihr Warnen mit Sicherheit verhindern würde. Vgl. Wilson 1984. Wilson stellt die These auf, dass die Stimme des Blutes jedoch dann versagt, wenn die Geschwister getrennt aufgewachsen sind, so dass es dann zum »unwitting sibling incest« kommen kann. Ein literarisches Beispiel dafür ist die Inzestkonstellation um Karlson und Mariane in Christian Fürchtegott Gellerts Leben der schwedischen Gräfinn von G***: »Sie hatten einander in ihrem Leben nicht gesehen, und also kam ihnen die Vertraulichkeit nicht zu Hülfe, die sonst die Liebe unter Blutsverwandten auszulöschen pflegt.« Gellert, Schriften, Bd. 4, S. 28. So in den Paragraphen des ALR über »Blutschande«: »§ 1044 Um aber dergleichen Unheil mit desto mehrerer Sicherheit zu verhüten, sollen Aeltern mit ihren Kindern ver-

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Am Beispiel der preußischen Gerichtspraxis lässt sich zeigen, dass sich das verwandtschaftsbezogene Ehe- und Sexualverbot nun vor allem auf die Kernfamilie bezieht. Das bedeutet zugleich eine Bedeutungsverengung und eine Biologisierung von Inzest. Deutlich wird letzteres am Sprachgebrauch des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten, in dem nicht mehr die Rede vom crimen incestus, sondern durchgängig von Blutschande ist, ein Begriff, der den Zusammenhang des Deliktes mit der engsten Blutsverwandtschaft betont.119 Zugleich zeigt sich, dass die zeitgenössischen Vorstellungen von Liebe und emotionaler Nähe zwischen den Familienmitgliedern in das Inzestverständnis integriert werden, so dass Inzest im normativen Diskurs als ein Verhältnis diskutiert wird, das aus einer für natürlich empfundenen emotionalen Nähe resultiert. Die inzestuöse Beziehung wird damit als ein Verhältnis der Gegenseitigkeit verstanden, wobei die Grenze zwischen legitimen inzestuösem Begehren und illegitimen inzestuösem Beischlaf in der Kernfamilie durchgängig aufrechterhalten wird. Als eine Beziehung der Gegenseitigkeit gilt vor allen anderen intrafamiliären Beziehungen das Geschwisterverhältnis: Michaelis, der die Diskussion über die Reform des Inzeststrafrechts anführt, bringt darum gerade dem Geschwisterinzest ein besonderes Verständnis entgegen.120 Es ist also die Position der Geschwisterbeziehung im jeweiligen Diskurs – dem empfindsamen Liebes- und bürgerlichen Familiendiskurs einerseits121 und dem juridischen Inzestdiskurs andererseits –, die jene Verbindung von sexualitätsfernem Liebesideal und Inzesttabu ermöglicht, die als Geschwisterliebe diese enorme diskursive Produktivkraft entfaltet. In der Strafrechtsreformdebatte des 18. Jahrhunderts zeichnet sich eine Neudefinition von Inzest ab, die unserer heutigen Auffassung von Inzest zu Grunde liegt: Inzest als intrafamiliäres sexuelles Fehlverhalten. Das heutige Verständnis von Inzest fasst die hauptsächliche Beziehungsebene von Inzest aber anders: nicht als ein Verhältnis der Gegenseitigkeit, sondern als hierarchische Beziehung, wie der Begriff des sexuellen ›Missbrauchs‹ klar zum Ausdruck bringt. Sozialhistorische Untersuchungen von konkreten Inzestfällen im 18. Jahrhundert zeigen allerdings auf, dass die reale Inzesterfahrung der Betroffenen auch damals eine Erfahrung des Missbrauchs war, die mit der im normativen Diskurs verhandelten Gegenseitigkeit nicht kompatibel ist.122

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schiedenen Geschlechts, die schon zehn Jahr oder darüber alt sind, nicht in Einem Bette schlafen. § 1045 Auch Geschwistern verschiedenen Geschlechts, soll dergleichen Zusammenschlafen, sobald das jüngere das zehnte Jahr vollendet hat, nicht gestattet werden. § 1046 Die Uebertretung dieser Vorschrift ist, so lange noch kein Verbrechen begangen worden, an den Aeltern durch gerichtlichen Verweis, und im Wiederholungsfalle mit verhältnißmäßiger willkührlicher Gefängnißstrafe zu ahnden.« Vgl. Jarzebowski 2006, S. 63ff., 2003, S. 163. Vgl. Michaelis 1774, § 104. Ausführlich dazu Jarzebowski 2003, bes. S. 163ff. Vgl. Teil I, Kap. 2.3.1 und 2.2.3. Vgl. Jarzebowski 2003, S. 172ff., Rublack 2003, bes. S. 123, 150f., Hehenberger 2003.

Der rechtliche Umgang mit Inzest ist darüber hinaus im Rahmen der allgemeinen Veränderungen des Rechtssystems des 18. Jahrhunderts zu sehen. In der Nachfolge von Cesare Beccarias wirkungsmächtiger Schrift Dei delitti e delle pene von 1764 begründen viele Reformrechtler juristische Normen nun nach dem Schadensprinzip. Inzest wird demzufolge von einem höchstrangigen Vergehen gegen Gott und die Natur zum Schadensprinzip hinuntergestuft, eine Sichtweise, die sich in der Gesetzgebung aber nur partiell niederschlägt. Doch wird das Strafmass deutlich reduziert: Wurde Inzest in gerader Linie vormals mit dem Tode bestraft, fungieren als Strafmaß für vollzogenen Inzest in den Gesetzeskodifikationen des späten 18. Jahrhunderts Gefängnisstrafen oder Arbeitshaus zwischen sechs Monaten und sechs Jahren. Inzest zwischen unehelichen Verwandten wird gemäß preußischem Recht gar nur mit maximal sechs Wochen Gefängnis bestraft.123 Eine entscheidende Rolle bei der Beurteilung des Vergehens betrifft in der Rechtsreformdebatte neben dem Schadensprinzip die Frage der persönlichen Schuld. Unwissend eingegangener Inzest muss demgemäß als straffrei gelten. So argumentiert Johann Jakob Cella in Ueber Verbrechen und Strafen in Unzuchtsfällen (1787): Ehen, die einmal ex ignorantia in solchen zu nahen Graden geschlossen worden, [brauchen] deshalb weder gestraft noch annullirt zu werden, [...] auch wenn die Eheleute sonst wollen, gar wohl salva conscientia kontinuirt werden können.124

Literarische Inzestdiskurse Ganz anders stellt sich die Problemlage in den literarischen Texten dar: Hier ist die Unschuldsvermutung nicht handlungsrelevant. Auch wenn der Inzest unwissend begangen worden ist – und das ist in der Literatur, wie Titzmanns Zusammenstellung schlüssig belegt, der Normalfall – trifft alle darin verstrickten Figuren die Höchststrafe: der Tod.125 Literatur hält für vollzogenen Inzest ausnahmslos jene Grenze aufrecht, die im zeitgenössischen Rechtssystem nicht mehr so scharf gezogen wir: Der literarische Text übernimmt die traditionale Sanktion für den Tabubruch, die im wirklichen Leben nicht mehr so dramatisch ausfällt. Es ist mit anderen Worten die Literatur selbst, die die Repression in Gang hält, und es ist mit Foucault und Butler zugleich auch die Literatur, die mit ihrem Begehren nach inzestuösen Situationen an der produktiven Macht der Repression teil hat, wobei literatursoziologische Aspekte wie der sich ausbreitende literarische Markt, das Auf-

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Vgl. Titzmann 1991, S. 232ff., bes. S. 244–7. Allgemein zur Entwicklung der modernen Kriminalpolitik im preußischen Rechtsstaat vgl. Schmidt 1980, S. 343ff. Zitiert nach Wilson 1984, S. 267. Vgl. dazu auch schon Zedler 1961, Bd. 4, Sp. 257: »Wer unwissend Blutschande begehet, machet sich solches Lasters nicht theilhafftig«. Wobei Wahnsinn unter dem Rationalitätsparadigma als Todesäquivalent betrachtet werden muss.

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kommen von Trivialliteratur mit ihren Wiederholungsmustern und das veränderte Leseverhalten zu dieser Breitenwirkung sicher mit beigetragen haben. Dass in der Literatur Geschwister im Zentrum der Inzestdiskurse stehen, verdankt sich nun ebenfalls der Position der Geschwisterbeziehung in den verschiedenen mit den Schnittstellen zwischen Familie und Gesellschaft befassten Diskursen: Literarische Texte erproben die Grenzverhandlungen um eine legitime, libidinös besetzte intrafamiliäre Beziehung und die illegitime inzestuöse Sexualität an der Beziehungskonstellation, die erstens als ein Verhältnis der Gegenseitigkeit verstanden wird, die zweitens rechtlich als niedrigschwelligstes Inzestdelikt gilt und die drittens in der Verschiebung in der Verwandtschaftskette um einen Grad eine legitime lebensweltliche Konkretisierung in der Cousin/Cousinenheirat kennt. Impliziert ist damit auch in der Literatur eine Hierarchisierung von Inzestvergehen. In Goethes Geschwister wird der Geschwisterinzest in Mariannes Wunsch, sowohl ihren Bruder Wilhelm als Partner zu behalten als auch Mutter zu werden, wiederholt evoziert. Wogegen die Lesart, die Wilhelm als Mariannes Vater versteht, nur implizit entwickelt werden kann und sich auf eine große Leerstelle berufen muss: Zu gewagt erscheint diese Inzestkonstellation für das kleine Stück auf der Weimarer Liebhaberbühne.126 In der gängigen literarischen Szenographie des 18. Jahrhunderts wissen die Liebespartner, die dann als Geschwister entlarvt werden, gewöhnlich nichts von ihrer Verwandtschaft:127 Das Fehlverhalten liegt allein in der Elterngeneration und wiegt durch das Verschweigen – das für die Inzestkonstellation der Kinder konstitutiv ist – doppelt schwer. Trotz ihrer Schuldlosigkeit aber fällt in den literarischen Texten auch die Kindergeneration den rigiden Strafen anheim. In Jean Pauls Klaglied markiert ein Gedankenstrich diese Schuld der Elterngeneration, die das Liebesglück der Kinder in Unglück verwandelt: O die Unschuldigen und Glücklichen! – Und die Unglücklichen! – Denn auf dem Berge liegt schon das Gewitter, das in euer Tempe herabschlägt; es stieg an dem Tage auf, wo euer Vater sündigte, und bald bricht es los über der unschuldigen Liebe. –(I/4,1114)

Ein moralinsaurer Erzähler geißelt hier vor allem das Verschulden der Väter und nennt sie geradezu »Kindermörder«. (I/4,1120) Zur zukünftigen Verhinderung des Unglücks der Kinder schlägt der Erzähler eine Lösung vor, die er aus der Straf-

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Zum Ursprungskontext der Geschwister vgl. Goethe, Werke, Bd. 4, S. 608ff. Der kinship trouble um Wilhelm entsteht daraus, dass er sich Marianne gegenüber als Bruder ausgibt, Marianne jedoch die Tochter seiner verstorbenen Geliebten ist und damit ein Vater-Tochter-Verhältnis nahe liegender wäre: Doch über den biologischen Vater von Marianne schweigt sich der Text aus. Vgl. ausf. dazu Teil II, Kap. 2.1. Dies ist das zentrale Ergebnis der Untersuchung von Wilson 1984, in diesem Sinne auch Titzmann 1991, S. 250, der in seinem Textkorpus 88 Prozent von Fällen auszählt, bei denen eine inzestuöse Situation zwischen Bruder und Schwester aus Unkenntnis der Verwandtschaft entsteht.

rechtsreformdebatte über Blutschande herleitet und mit der er die Reduzierung der verwandtschaftsbezogenen Eheverbote radikalisiert: Immer nötiger wird es daher, daß schon jetzt die Konsistorien von allen verbotnen Verwandtschafts-Graden auf einmal dispensierten, weil bei dem allgemeinen Föderalismus und der galvanischen Kette der Liebe, die um das seidne Band der Ehe herumläuft, kein junger Mensch mehr gewiß sein kann – wenn er eine verwandte Seele heiratet –, ob er nicht seine Schwester trifft. (I/4,1102)

Jean Paul hat das Klaglied zur Zeit seiner Arbeit am Titan geschrieben, seinem dritten ›hohen Roman‹, der in verschiedener Hinsicht eine Steigerung seiner beiden ersten hohen Romane Loge und Hesperus darstellt. Massiv gesteigert ist im Titan die Begehrensstruktur der geschwisterlichen Horizontalen.128 Insofern ist das Klaglied auch als ein Kommentar auf das eigene Erzählen von Geschwisterliebe zu lesen, der die drastischen Konsequenzen des in konkrete Liebeserfüllung umgesetzten empfindsamen Liebesideals aufzeigt129 und für eine radikale Lösung des Problems plädiert. Jean Paul verhandelt damit aber auch die Veränderung der endogamen Heiratspraxis seiner Zeit und die diese Veränderung begleitenden rechtstheoretischen und moralphilosophischen Diskurse. Doch auch wenn die Entwicklung der Eheverbote historisch eine große Flexibilität aufweist, die Schranke der Kernfamilie ist nie übertreten worden: Sie ist in allen Dispensationen von Eheverboten absolut tabu.130 Der Vorschlag, dieses Tabu durch eine Kirchenrechtsrevision aufzuheben, um das Recht den skizzierten gesellschaftlichen Zuständen anzupassen, führt über die sich daraus ergebenden Konsequenzen die Ungeheuerlichkeit dieser gesellschaftlichen Zustände drastisch vor Augen: Die im Erzähltext nicht ausgeführte Umsetzung bedeutete nichts anderes als eine über zentrale regelnde Instanzen der Kultur – Religion und Recht – herbeigeführte Aufhebung von Kultur. 2.3.3

Das Modell Antigone: Hegel als Theoretiker der Horizontalen

Wenn literarische Texte Geschwister ins Zentrum ihrer Verhandlungen stellen, so erzählen sie dabei meist zugleich von krisenhaften Elternrollen: Erst die Unord-

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Vgl. ausf. dazu Teil III, Kap. 2.3. Dass das Klaglied in diesem Sinne auch poetologisch gelesen werden kann, zeigt die Rolle der Väter am Hervorbringen der inzestuösen Geschwisterliebe: Im Klaglied sind es eindeutig die Väter, die dafür verantwortlich gemacht werden. Analog versteht Jean Paul seine Rolle als Autor immer mehr als ein Vater, der seine Kinder respektive Bücher verantwortet. Vgl. zu Jean Pauls vertikaler poetologischer Genealogie Pfotenhauer 2002 und zum Wechsel von einer horizontalen poetologischen Genealogie in der Loge zur späteren Vertikalen Frei Gerlach 2004 sowie Teil III, Kap. 4. Vgl. Goody 1989, S. 149ff., Titzmann 1991, S. 244f., Sabean 1998, S. 72ff., Eming/Jarzebowski/Ulbrich 2003.

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nung in der vertikal strukturierten Familie131 ermöglicht ein Erproben alternativer Beziehungsstrukturen. Dies ist auch die Quintessenz von Judith Butlers Argumentation zur sophokleischen Antigone, für die sie in Auseinandersetzung mit Hegels, Lacans und Irigarays Antigone-Lektüren herausarbeitet, dass die Figur der Antigone nicht das Gesetz der Familie, sondern dessen Krise repräsentiere: einen kinship trouble. Butler verfolgt dabei ein Stück der Faszinationsgeschichte der Antigone, die sie vor allem daran festmacht, dass die Antigone Fragen der Interdependenz von Verwandtschaft und Staat verhandelt, die jede Generation von Lesenden für sich aktualisieren kann.132 Die Figur der Antigone wird dabei durchwegs als eine widerständige, subversive gelesen: Bei Hegel repräsentiert Antigone die göttlichen Gesetze der Blutsverwandtschaft, die mit der Staatsräson in Konflikt stehen, bei Irigaray ist Antigone die Figur des weiblichen Widerstandes gegen das phallogozentrische politische System und bei Lacan steht Antigone an der Grenze des Symbolischen und konstituiert dieses von ihrer todgeweihten Grenzposition aus als ein Gefüge von Regeln und Normen, das bestimmte Verwandtschaftsstrukturen zur Sprachstruktur formt. Butler streicht in ihrer eigenen Antigone-Lektüre nun gegen Hegel, Irigaray und Lacan heraus, dass Antigone weder die Gesetze der Verwandtschaft (auch nicht deren matriarchale Fassung) noch die Einsetzung des Symbolischen repräsentiere, sondern deren Krise, die zugleich eine Krise der Repräsentation sei und als solche neue Möglichkeiten eröffne. Butler positioniert das subversive Potenzial der Antigone damit neu und dies analog zu ihrer stilbildenden Argumentation über einen gender trouble:133 Antigone, in ein inzestuöses Erbe verstrickt – und in der Interpretation Butlers wiederum selbst in inzestuöser Bindung zu ihrem Bruder134 –, hat weder eine verwandtschaftlich, noch geschlechtlich, noch symbolisch gesicherte Position, sondern steht für den kontingenten Charakter von Verwandtschaft und damit zugleich auch von Geschlecht und Sprache: »And so we’ve arrived at something like kinship trouble at the heart of Sophocles.«135 Antigones »Satzung« in dieser Situation des kinship trouble beinhaltet den Schutz und die Bewahrung der Einzigartigkeit der Beziehung zu ihrem Bruder, daran richtet sie ihr Handeln und

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Zur historischen »Liebesunordnung im Familienroman« vgl. Wetzel 1999, S. 146–162. Vgl. Butler 2001, Irigaray 1980, Lacan 1996, Hegel 1973. Vgl. Butler 1990 (engl.) resp. 1991 (dt.). Zur dadurch ausgelösten ›Butler-Debatte‹ vgl. u.a. Institut für Sozialforschung 1994, Wobbe/Lindemann 1994, Frei Gerlach 1998, S. 119–151, Bublitz 2002. Zur Kritik an dieser Lesart vgl. unten. Butler 2000, S. 62, vgl. dies. 2001, S. 100. Butler bezieht sich dabei explizit auf Sophokles’ Antigone, Vers 328, 1365ff. Ich zitiere nach dem englischen Original, da die deutsche Übersetzung die begriffliche Verwandtschaft zu Butlers gender trouble nicht präsent halten kann.

Sprechen aus und dafür widersetzt sie sich dem machthabenden Kreon, selbst um den Preis des eigenen Todes.136 Die Orientierung, die das Modell Antigone in der Situation des kinship trouble bietet, ist nun gerade für die Zeit um 1800 besonders attraktiv, steht doch die Geschwisterbeziehung im egalitär-republikanischen Denken in besonderer Weise an der Schnittstelle zwischen Familie und Gesellschaft. Die geschwisterliche Horizontale birgt das Potenzial, das familiale Gefüge und – in der zeitgenössischen Analogie vom Staat als Familie – auch das Gemeinwesen neu zu strukturieren und patriarchal-hierarchische Strukturen durch horizontal-egalitäre zu ersetzen. Davon wissen literarische Texte zu erzählen: Geschwisterbande im eigentlichen wie übertragenen Sinn bieten sich bei Jean Paul nicht nur für Liebesbande und familiäre Zusammenführungen, sondern auch wiederholt als Ausgangsort für Gesellschaftskritik und Reformpläne im Gemeinwesen an: Die geheime Bruderschaft der Loge, die Drillinge im Hesperus und die im geheimen wirksame Genealogie der Fürstenfamilie im Titan sind alles Erzählarrangements, die herrschende Ordnung von einer geschwisterlichen Basis aus umzustürzen oder zu reformieren. Dass es jedoch nie zur Ausführung dieser teilweise nur schemenhaft angedeuteten Vorhaben kommt, darauf wird noch zurückzukommen sein.137 Eine zeitgenössische theoretische Fassung findet das Modell Antigone in Georg Wilhelm Friedrich Hegels familienphilosophischen Überlegungen in der Phänomenologie des Geistes (1807). In seinen Thesen zur Sittlichkeit betrachtet Hegel die Beziehungskonstellationen der Kernfamilie und gliedert diese nach den Kriterien des Sich-Erkennens im Bewusstsein und des Erkennens des gegenseitigen Anerkanntseins.138 Für das Verhältnis der Ehegatten zueinander und dasjenige zwischen Eltern und Kindern hält er fest, dass beide »innerhalb des Übergehens und der Ungleichheit der Seiten stehen, die an sie verteilt sind.«139 Im Unterschied dazu befindet sich die Beziehung von Bruder und Schwester laut Hegel im Gleichgewicht:

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Sophokles 1995, Vers 909, vgl. dazu auch Teil I, Kap. 1.1. und 1.5. Vgl. Teil II, Kap. 3.2 und Teil III, Kap. 3. Zu Jean Pauls Gesellschaftskritik und seiner Rolle als ›Revolutionsdichter‹ (Harich 1974) vgl. v.a. die marxistisch inspirierte Forschung der siebziger und achtziger Jahre, gegen deren monokausale Argumentationstendenz sich so viel Widerspruch erhoben hat, dass damit der sozialkritische Jean Paul lange aus der Forschungsdiskussion ausgeschlossen blieb, respektive nur unter Vorbehalten berücksichtigt wurde. Zu nennen sind hier die Beiträge von Hans G. Helms, Burkhardt Lindner und Peter Krumme in Arnold 1970, S. 98–124, Harich 1974, Sprengel 1977, Nell 1987, Wölfel 1989. Neuere Arbeiten dagegen fragen nun auch wieder unbefangener nach Implikationen des Politischen in Jean Pauls Texten, so Jordheim 2007 oder Frei Gerlach 2009. Dabei geht es um Beziehungsstrukturen, nicht um Gefühle: »[D]ie sittliche Beziehung der Familienglieder [ist] nicht die Beziehung der Empfindung oder das Verhältnis der Liebe«, Hegel 1973, S. 331. Ebd., S. 336.

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Das unvermischte Verhältnis aber findet zwischen Bruder und Schwester statt. Sie sind dasselbe Blut, das aber in ihnen in seine Ruhe und Gleichgewicht gekommen ist. Sie begehren daher einander nicht, noch haben sie dies Fürsichsein eines dem anderen gegeben noch empfangen, sondern sie sind freie Individualität gegeneinander. [...] Der Bruder aber ist der Schwester das ruhige gleiche Wesen überhaupt, ihre Anerkennung in ihm rein und unvermischt mit natürlicher Beziehung [...] das Moment des anerkennenden und anerkannten einzelnen Selbsts darf hier sein Recht behaupten, weil es mit dem Gleichgewicht des Blutes und begierdeloser Beziehung verknüpft ist.140

Hegel präsentiert die Beziehung zwischen Bruder und Schwester als Modell der Anerkennung im »Gleichgewicht«. Basis dieses Gleichgewichtes ist die Abwesenheit von Begehren. Der Begriff des Gleichgewichtes weist Hegel als historischen Vordenker der Geschwisterforschung des 20. Jahrhunderts aus, die Horizontalität als Spezifikum der Geschwisterbeziehung herausstellt: Die dem Begriff des Gleichgewichtes zugrundeliegende Anschauung ist die der Waage, deren Gewichte sich in horizontaler Ausrichtung befinden. Mit dieser Horizontalität wäre eine Basis für ein Anerkennungsmodell auch zwischen den Geschlechtern gegeben. Doch diesen Weg nimmt Hegels Argumentation nicht. Mit der Thematisierung der Geschlechtsidentität kommt zugleich auch das zuvor ausgeschlossene Begehren wieder ins Spiel: Damit verschieben sich die Gewichte gemäß dominierender zeitgenössischer Geschlechterauffassung zu Ungunsten der Frau: Als Frau »entbehrt« die vormalige Schwester »das Moment, sich als dieses Selbst im Anderen zu erkennen«, die »Weiblichkeit« repräsentiert den »inneren Feind«, »die ewige Ironie des Gemeinwesens«, die zum Wohl des Gemeinwesens unterdrückt werden muss.141 Hegel wird denn auch von der feministischen Kritik, und hier besonders von Luce Irigaray, vor allem als Vertreter einer misogynen Geschlechterauffassung rezipiert.142 Diese Kritik ist fraglos wichtig und richtig. Doch möchte ich gegen Irigaray betonen, dass im Geschwistermodell ein Moment zur Darstellung gelangt, das eine Alternative erkennen lässt und darum genauerer Betrachtung bedarf. Irigaray betont in ihrer Hegel-Lektüre in Speculum das Ungleichgewicht in Hegels »Gleichgewicht«: Also, für einen Moment erkennen sich der Bruder und die Schwester in ihrem einzelnen Selbst an, und jeder darf sein Recht behaupten, gemäß der Macht eines jeden, die sich in und durch den anderen im Gleichgewicht befindet [...]. Der Krieg der Geschlechter findet hier nicht statt. Doch dieser Moment ist natürlich ein mythischer, und der Hegelsche Traum ist bereits ein Ergebnis einer durch den Diskurs des Patriarchats hervorgebrachten Dialektik. Eine beschwichtigende Phantasie, ein Waffenstillstand in einem Kampf mit ungleichen Waffen, eine Leugnung der schweren Schuld, die schon auf dem Werden des Geistes lastet [...].143

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Ebd., S. 336–8. Ebd., S. 337, 352. Vgl. Irigaray 1980 (frz. 1974), S. 266ff., Benhabib 1995, S. 258ff. Irigaray 1980, S. 269; vgl. auch 274ff.

Ich gehe mit Irigaray einig, dass die Konsequenzen, die Hegel aus diesem Gleichgewicht zieht, radikal asymmetrisch sind und sich im Fortgang der Argumentation die Dominanz des phallogozentrischen Diskurses voll entfaltet. Dies bedeutet aber nicht, dass der Moment des Gleichgewichts immer schon patriarchal überformt, immer »schon zerstört« und nur als mythische Projektion möglich ist.144 Vielmehr drängt hier eine alternative Auffassung zur Darstellung, die die konsequent phallogozentrische Argumentation stört, sich aber wie diese aus dem zeitgenössischen enzyklopädischen Wissen speist: dem Verständnis der Geschwisterbeziehung als einer egalitären, horizontal strukturierten und emotional hochgradig positiv besetzten sozialen Beziehung. Offenbar handelt es sich dabei um ein wichtiges Moment, denn Hegel nimmt für seine Darstellung des geschwisterlichen Gleichgewichts Inkonsequenzen in Kauf. Wie Butler in ihrer Interpretation dieser Hegel-Stelle nachweist, besteht im geschwisterlichen, begierdefreien Anerkennen eine Diskrepanz zur Erörterung der Anerkennung im Kapitel über »Herrschaft und Knechtschaft«, in der Anerkennung vom Begehren nach Anerkennung motiviert, »Anerkennung [...] selber eine kultivierte Form des Begehrens« ist.145 Damit erweist sich das geschwisterliche Gleichgewicht in Hegels Phänomenologie als doppelte Störung: Es unterbricht die phallogozentrische Argumentation und unterläuft die vorher gegebene Definition von Anerkennung. Doch die Störung wird nicht produktiv, das Potenzial der Horizontalen bleibt nicht nur für die Geschlechtsidentität ungenutzt. Auch für das Gemeinwesen macht Hegel die Horizontale nicht fruchtbar, obwohl mit der institutionellen Geschwisterschaft und der Ideologie der fraternité ein republikanisches Modell im zeitgenössischen enzyklopädischen Wissen bereitstehen würde.146 Ebenso wenig kommt die Horizontale grundsätzlich als Basis für das Aufbegehren gegen Autorität zum Tragen. Vielmehr thematisiert Hegel die Horizontale als Moment, der für sich besteht und übergangslos und scheinbar konfliktfrei in die vertikal strukturierte Ordnung überführt wird: Dies Verhältnis ist zugleich die Grenze, an der sich die in sich beschlossene Familie auflöst und außer sich geht. Der Bruder ist die Seite, nach welcher ihr Geist zur Individualität wird, die gegen Anderes sich kehrt und in das Bewußtsein der Allgemeinheit übergeht. Der Bruder verläßt diese unmittelbare elementarische und darum eigentlich negative Sittlichkeit der Familie, um die ihrer selbst bewußte, wirkliche Sittlichkeit zu erwerben und hervorzubringen. Er geht aus dem göttlichen Gesetz, in dessen Sphäre er lebte, zu dem menschlichen über. Die Schwester aber wird oder die Frau bleibt der Vorstand des Hauses und die Bewahrerin des göttlichen Gesetzes.147

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Ebd., S. 274. Butler 2001, S. 33, vgl. Hegel 1973, S. 145ff. Vgl. Teil I, Kap. 2.4.1 und 2.4.2. Hegel 1973, S. 338.

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Dieser konfliktfreie Übergang vom Gesetz der Familie zu demjenigen des Gemeinweisens ist umso erstaunlicher, als Antigone die verschwiegene Schwesterfigur ist, die als Subtext die hegelschen Überlegungen steuert, wie in der Forschung wiederholt herausgearbeitet worden ist.148 Folgen wir dieser Lesart, so geht es hier um eine Symbolfigur des Widerstandes, die in vielen literarischen und philosophischen Aktualisierungen, hegelsche eingeschlossen, im Namen der Familie gegen das Gemeinwesen opponiert. Noch irritierender wird dieser Zusammenhang, wenn wir auch die Ergebnisse der Analyse von Judith Butler mit einbeziehen, gemäß denen Antigone als Symbolfigur nicht die Ordnung der Familie sondern einen kinship trouble und das damit verbundene Potenzial repräsentiert.149 Wie also ist unter diesen Präsuppositionen der konfliktfreie respektive fehlende Übergang von der Schwester zur Frau zu erklären, der in Hegels Text bis in die Syntax hinein als Bruch lesbar ist – »Die Schwester aber wird oder die Frau bleibt«? Derrida liest Antigone bei Hegel als das nicht integrierbare Außen, Butler sieht in der Verallgemeinerung der Schwester zur »Weiblichkeit« einen Gewaltakt, der Antigone und die durch sie verkörperte Kontingenz auslöscht.150 Voraussetzung beider Lektüren ist, dass Sophokles’ Antigone allein es ist, die den abrupten Übergang zwischen Schwester und Frau bei Hegel steuert, dieser Textstelle damit eine Signifikantenkette zugrunde liegt, die Schwester, Braut und Grab engführt: »O Grab, o Brautgemach, o unterirdische Behausung ewige Haft, wo ich die Meinen nun aufsuche«.151 Doch es gibt noch eine andere Möglichkeit. Möglich ist auch, dass nicht Antigone der Subtext ist, der an dieser spezifischen Stelle den Übergang von der Schwester zur Frau steuert, sondern die zeitgenössische literarische Szenographie der inzestuösen Situation: Hegel und seine lesenden Zeitgenossen verfügten in ihrer enzyklopädischen Kompetenz über das Wissen, dass ein »[H]erüber und hinüber«152 von Schwester und Braut umstandslos möglich ist: Eine Vielzahl von literarischen Texten hat dieses Wissen spätestens seit den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts in steter Wiederholung verfestigt.153 Gleichzeitig insistiert Hegel nun aber gerade darauf, dass die Beziehung zwischen Bruder und Schwester durch die Abwesenheit von Begehren charakterisiert ist und wehrt damit von allem Anfang an die inzestuöse Isotopie ab. Das ist in der Zeit um 1800 jedoch nur bedingt ein Widerspruch, vielmehr ist – wie oben gezeigt – beides Teil der kulturellen Enzyklopädie: Es sind die zeitgenössischen Verhandlungen zwischen dem auf einer emotional hochgradig positiv besetzten Bruder-Schwester-Beziehung beruhenden und für legitim gehaltenem inzestuösen

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Vgl. Teil I, Kap. 1.1, 1.5, sowie spezifisch dazu Derrida 1981, S. 231ff., Irigaray 1980, S. 266ff., Butler 2001 sowie das NachWort von Bettine Menke in Butler 2001, S. 139ff. Vgl. dazu Steiner 1988, Bossinade 1990, Butler 2001. Vgl. Derrida 1981, S. 227, Butler 2001, S. 63. Sophokles 1995, Vers 891–893. Goethe, Werke, Bd. 4, S. 359, vgl. ausf. dazu Teil II, Kap. 2.1. Vgl. Teil I, Kap. 2.2.1.

Begehren und dem stets als illegitim sanktionierten inzestuösen Beischlaf, die als komplexer Subtext die Hegelsche Argumentation steuern. Wenn Judith Butler in ihrer Antigone-Lektüre also die Thematik des inzestuösen Begehrens bei Hegels Antigone-Modell mitliest, so liegt sie damit durchaus richtig. Einen ahistorischen Kurzschluss jedoch produziert sie, wenn sie die inzestuöse Geschwister-Szenographie auf den sophokleischen Text rückprojiziert: Nun aber ist es ganz besonders interessant zu sehen, wie viele Deutungen des Sophokleischen Stücks darauf beharren, dass hier keine inzestuöse Liebe im Spiel ist, und man fragt sich schon, ob die Lektüre des Stücks hier nicht geradezu zur Gelegenheit wird, auf eben dieser Leugnung zu bestehen: Es gibt hier keinen Inzest, es kann hier keinen Inzest geben.154

Butler entwickelt ihr Argument aus der inzestuösen Genealogie, doch liefert der Text keinen Hinweis darauf, dass sich der vererbte Fluch der Labdakiden im kinship trouble der Kinder respektive Geschwister des Ödipus inzestuös konkretisiere. Die Betonung der Reinheit in der Beziehung zwischen Polyneikes und Antigone und der damit verbundene Ausschluss von Begehren und Sexualität, die Butler zu Recht in den Antigone-Kommentaren bei Hegel liest, ist auf dem Hintergrund der kulturellen Enzyklopädie über Geschwister um 1800 und als Reaktion auf diese zu beurteilen. Der Verweis auf die zahlreichen Inzestnarrative um 1800, den Butler als einzigen Beleg für ihre These bringt, macht evident, dass auch Butler selbst sich bei ihrer Interpretation an der hegelschen und nicht der sophokleischen Zeit orientiert.155 Meine Gegenthese zu Butler lautet darum: Die Antigone-Lektüren können einen Inzest nicht ›leugnen‹, da ein solcher im sophokleischen Text nicht angelegt ist.156 Die inzestuöse Thematik ist vielmehr eine Anreicherung der Zeit um 1800,

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Butler 2001, S. 37f. Butler verweist allein auf Steiners Erläuterungen zu inzestuösen Geschwisterbindungen zwischen 1780 und 1914 und nicht etwa auf sophokleische Textstellen; vgl. Butler 2001, S. 38. Um diese These zu stützen, gilt es nichts desto trotz zu klären, inwieweit die inzestuöse Lesart vom Text selbst stimuliert respektive reguliert wird. Dies sei im Folgenden in einer altphilologischen und einer interpretatorisch-intratextuellen Argumentation ausgeführt. Für die fachkundige Unterstützung bei dieser Argumentation danke ich Magdalene Stoevesandt. Die Art der Liebe von Antigone und Polyneikes wird bei Sophokles stets mit dem Wortfeld ϕιλία/ϕίλος ausgedrückt, analog zur Beziehung Antigones zu anderen Familienmitgliedern. Nun weist ϕιλία ein weites Spektrum an Bedeutung auf (vgl. Liddell/Scott 1996, Sp. 1936ff.) und ein ϕίλος bei Sophokles »can be anything from a close relative to a political ally« (Brown 1987, S. 137). Die Konnotation sexueller Liebe hat jedoch einzig ϕιλότης, und zwar bei Homer (Liddell/Scott 1996, Sp, 1940), in der sophokleischen Antigone steht dafür jedoch der Begriff des ἔρως (vgl. Vers 781ff.), und dieser wird nicht für die Beziehung zwischen Antigone und Polyneikes verwendet. Die wichtigste Stelle für die Qualifizierung der Liebe zwischen Antigone und Polyneikes ist Vers 73, in

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bedingt durch eine literarische Kumulation inzestuöser Situationen zwischen Geschwistern, durch eine emotional-lebensweltliche und eine empfindsam-diskursive Fokussierung auf die Bruder-Schwester-Dyade und deren Transfer in eheliche Geschlechterbeziehungen sowie durch eine endogame Heiratspraxis, die das BruderSchwester-Paar symbolisch in der Cousin/Cousinen-Heirat zu realisieren sucht. Diese zeitgenössische Enzyklopädie steuert Hegels Antigone-Lektüre an den diskutierten Stellen und hat durch ihre stilbildende Wirkung spätere Lesende immer wieder dazu veranlasst, zu der inzestuösen Thematik Stellung zu nehmen, obwohl diese bei Sophokles als Lesart nicht angelegt ist. Nachdem mit den Diskurs-Schnittstellen zwischen Familie und Gesellschaft das Konflikt- und Synergiepotenzial zwischen ›eigentlicher‹ und ›weiterer‹ Ge-

der Übersetzung von Willige: »Von ihm geliebt, lieg’ ich bei ihm, dem Lieben, dann«, in dem ϕίλος/ϕίλη zweifach (männlich und weiblich) und als ein ›beieinander Liegen‹ vorkommt. Mit unserer heutigen Lektürehaltung legt diese Übersetzung in der Tat einen inzestuösen Subtext nahe. Entsprechend reagieren auch die Kommentatoren darauf und qualifi zieren die Möglichkeit eines Inzest-Subtextes von Vers 73 als »preposterous« (Kamerbeek 1978, S. 48) respektive als keine zeitgenössische Implikation (Brown 1987, S. 141) oder verweisen darauf, dass eine eventuell »faintly incestuous […] devotion« ein Diskussionspunkt in den Antigone-Lektüren sein kann (Griffith 1999, S. 33), wobei Griffith (S. 63) dafür spezifisch auf Antigone-Transpositionen (Anouilh z.B.) verweist. Zugleich gilt in Betracht zu ziehen, dass die Engführung von Grab und Brautgemach (vgl. auch Verse 654, 804, 888, 891, 899), die die These eines inzestuösen Subtextes in Butlers Lektüre stützt, historisch auf einer tendenziellen Übereinstimmung der Übergangsriten ›Heirat‹ und ›Begräbnis‹ im antiken Griechenland beruht und damit für die zeitgenössischen Zuschauer ein anderes Konnotationsfeld eröffnete (dazu Brown 1987, S. 189; Griffith 1999, S. 266f.) Philologisch ist damit eine inzestuöse Auslegung der Beziehung Antigone-Polyneikes nicht stichhaltig. Unmissverständlich ist hier Zimmermann 1993, S. 320, die aufgrund ihrer gründlichen Analyse der antiken Quellen zur Antigone und spezifisch auch der Zuordnung von ϕιλία und ἔρως eine inzestuöse Auslegung für falsch hält. Im intratextuellen Vergleich zu den anderen sophokleischen Stücken wird darüber hinaus evident, dass sich Sophokles nicht scheut, Inzest offen als solchen zu thematisieren, auch in der Antigone selbst ist die inzestuöse Genealogie der Labdakiden Thema (Vers 863ff.) und wird ausnahmslos – auch wenn er unwissend begangen worden ist (wie in König Ödipus) – aufs schärfste sanktioniert. Sollte also Antigone in »[e]inen Inzest« (Butler 2001, S. 38) verstrickt sein, so widerspricht das der Handlungslogik des Stücks: Unter dieser Präsupposition wäre nicht erklärbar, weshalb am Schluss allein Kreon als derjenige erscheint, der gegen heilige Gesetze verstoßen hat. Auch die Engführung von Grab und Brautgemach, die zu Beginn noch auf das Zusammenliegen der Geschwister hin angelegt erscheint, realisiert sich im Textverlauf in einer nicht-inzestuösen Konstellation: Es sind Haimon (der von Butler nicht berücksichtigt wird) und Antigone, die tatsächlichen Brautleute, die zum Schluss zusammen im Grab vereint sind. Beide Argumentationen zusammen verdeutlichen, dass es in der Frage um einen inzestuösen Subtext der Antigone nicht darum geht, eine Lesart zu ›leugnen‹, wie Butler insinuiert, sondern darum, Implikationen auszuschließen, die nicht im sophokleischen Text selbst angelegt sind und unserer heutigen – und maßgeblich von den AntigoneTranspositionen der Zeit um 1800 geprägten – Lektürehaltung entspringen.

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schwisterschaft ausgelotet worden ist, fokussiert das Folgende nun den umfangreichen Komplex ›weiterer‹ Geschwisterschaft, der sich um 1800 in verschiedenen sozialen Gemeinschaften und ihren Leitideen, aber auch individuell und literarisch entfaltet.

2.4

Weiteres: institutionelle Geschwisterschaft und Freundschaft

Die hohe kulturelle Intelligibilität der familialen Struktur bietet sich, wie die systematische Analyse deutlich gemacht hat,157 dafür an, Beziehungen aller Art zu beschreiben. Die nach Adelung »weitere« Bedeutung des Geschwisterbegriffs findet ihre lebensweltliche Konkretisierung im 18. Jahrhundert in einer Vielzahl geistlicher und laizistischer Schwestern- und vor allem Bruderschaften und verdichtet sich darüber hinaus in der republikanischen Ideologie zum Leitbegriff der fraternité. Der für das 18. Jahrhundert typische enge Zusammenhang zwischen politischem Denken und Familienstruktur macht die geschwisterliche Horizontale in humanitär-egalitären Entwürfen zur Umschaltstelle zwischen individuellen und gesellschaftlichen Konzepten. Die ursprünglich klerikal-christologische Füllung des Geschwisterschafts- und namentlich des Bruderschaftsbegriffs158 wirkt in den laizistischen Sozietäten weiter, führt aber auch zur Ausbildung neuer religiöser Gemeinschaften, wie beispielsweise der Brüdergemeinde der Herrenhuter. Wie die historischen Begriffsbestimmungen gezeigt haben,159 steht Freundschaft, die für das 18. Jahrhundert in der Forschung als prägende soziale Beziehung gilt,160 in enger semantischer Verbindung zum Bedeutungsfeld der Geschwisterschaft und weist dazu eine Reihe von Überschneidungen auf. Eine genauere Analyse der Ähnlichkeiten und Differenzen der historischen Enzyklopädie der beiden sozialen Beziehungskonzeptionen wird zeigen, dass hier ein Diskurstransfer stattfindet: Die egalitäre Komponente ist als Definitionsmerkmal der Beziehungskonzeption im ausgehenden 18. Jahrhundert von der Freundschaft auf die Geschwisterschaft übergegangen. 2.4.1

Geheime Gesellschaften und ihre Literarisierung

Im 18. Jahrhundert waren große Teile der künstlerischen, wissenschaftlichen und sozialen Elite Deutschlands in institutionellen Bruderschaften organisiert. Diese

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Vgl. Teil I, Kap. 1.2. Vgl. Teil I, Kap. 2.1. Vgl. ebd. Vgl. die verbreitete Forschungsthese vom ›Jahrhundert der Freundschaft‹, wobei Tenbruck 1964, S. 436, auf den diese Formulierung gewöhnlich zurückgeführt wird, die betreffenden 100 Jahre 1750 beginnen lässt: »Die große Epoche der Freundschaft in der deutschen Geschichte ist zweifellos das Jahrhundert von 1750 bis 1850«.

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gehörten zu den wichtigsten Institutionen der bürgerlichen Öffentlichkeit, und die zugehörige Ideologie, sich ungehindert durch Staats-, Standes- oder religiöse Grenzen als Brüder zu verstehen, wurde breit mitgetragen.161 Schon die Zeitgenossen diskutierten einen Zusammenhang zwischen der Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft und den so genannten geheimen Gesellschaften, die sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer umfassenden Wirkungs- und Kommunikationsgemeinschaft entwickelten.162 Dieser Zusammenhang ist in der Geschichtswissenschaft heute unbestritten, strittig sind jedoch die konkreten politischen Intentionen und Wirkungen der geheimen Sozietäten und die Art und Weise der Interdependenzen zwischen diesen und der bürgerlichen Öffentlichkeit.163 Die erfolgreichste geheime Gesellschaft waren die Freimaurer. Ausgehend von England, wo die Maurer sich 1717 in der Londoner Großloge konstituierten, verbreitete sich die Freimaurerei rasch in den europäischen Ländern und diente zahlreichen Tochtergesellschaften und Neugründungen als Vorbild. Von den Neugründungen sei spezifisch der Bund der Illuminaten genannt, da er trotz seines nur knapp zehnjährigen Bestehens für die literarische Elite von besonderer Bedeutung war: Literarisch vermittelte Erfahrungen liegen dem 1776 gegründeten Illuminatenprojekt zu Grunde,164 wichtige Exponenten des literarischen Schaffens waren – wenn auch nur für kurze Zeit – Mitglieder, namentlich Goethe, Herder und Jacobi, und es ist konkret der Bund der Illuminaten, der der neueren literaturwissenschaftlichen Forschung als Folie für viel diskutierte literarische Geheimbundtranspositionen gilt, so für die Turmgesellschaft in Goethes Meister oder für die politische Utopie des Marquis Posa in Schillers Don Karlos (1787).165 Die ursprüngliche freimaurerische Ideologie ist im Konstitutionenbuch von 1723 fassbar, und ihre Weiterentwicklung wurde in der Folge in einem exzessiven freimaurerischen Schrifttum öffentlich wirksam verbreitet. Das freimaurerische Selbstverständnis beinhaltet zentrale Grundwerte einer guten und gerechten Ge161 162

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Vgl. Voges 1987, S. 63ff, Neugebaur-Wölk 2002, S. 80ff. Vgl. exemplarisch Lessing in seinen Freimaurergesprächen Ernst und Falk (1778): »Ihrem Wesen nach ist die Freimäurerei eben so alt, als die bürgerliche Gesellschaft. Beide konnten nicht anders als miteinander entstehen – Wenn nicht gar die bürgerliche Gesellschaft nur ein Sprößling der Freimäurerei ist.« Lessing, Werke, Bd. 10, S. 11–66, hier S. 56. Auf diese Diskussion kann hier nicht eingegangen werden, vgl. zu einer kurzen Darstellung der unterschiedlichen Forschungspositionen Neugebaur-Wölk 2002, S. 81f. Vgl. Voges 1987, S. 100ff., Weis 2002, S. 91ff. 1776 von Adam Weishaupt in Bayern gegründet und insbesondere durch das Wirken von Adolph Freiherr von Knigge rasch sehr erfolgreich, wurde der Orden schon 1785 verboten und erlosch in der Folge als tätiger Bund, lebte aber in diskursiven Verhandlungen und letztlich als mythenähnliches Narrativ weiter: Die Illuminaten standen im Zentrum einer zeitgenössischen Verschwörungstheorie, die Geheimbündler zu Drahtziehern der Französischen Revolution macht. Vgl. zu letzterem Teil I, Kap. 2.4.2 sowie Voges 1987, S. 136ff. und von Bieberstein 2002, S. 31f. Vgl. Müller-Seidel/Riedel 2002, Schings 2002, 1996.

sellschaft: Freiheit und Gleichheit für alle Mitglieder in einer Gemeinschaft, die über Staats-, Standes- und Religionsgrenzen hinweg einen engen gegenseitigen Zusammenhang pflegt. Als Organisationsform fungiert die Bruderschaft, Basis der Organisation sind die so genanten Logen. Ziel des freimaurerischen Projektes ist die Bildung respektive Erziehung zur Gesellschaftlichkeit im Sinne des Humanitätsideals: individuell als Prozess persönlicher moralischer Veredelung und politisch als Erlangung einer paritätisch-humanitären Gesellschaft. Neben dieser politischgesellschaftlichen Dimension aber ist eben so wichtig die intellektuell-esoterische. Diese ist um Begriff und Sache des Geheimnisses zentriert und verspricht den Eingeweihten die stufenweise Partizipation an überwältigendem Geheimwissen. Das Konstitutionenbuch deutet schon an, dass dieses Geheimwissen die Überlieferung verloren geglaubter Weisheiten und Erkenntnisse der Alten umfasse, für deren Verständnis es einer bestimmten inneren Einstellung bedürfe. Genaueres jedoch bleibt allein den Logenbrüdern vorbehalten. Das Geheimnis als Organisationsprinzip und die Gleichheit als Organisationsstruktur bedingen einander gegenseitig: Alle Maurer sind gleich in ihrer Suche nach höherer Erkenntnis. Die Struktur der Bruderschaft als genossenschaftlich-egalitäre Organisationsform leitet sich aus dem mittelalterlich-bürgerlichen Zunftwesen her und ist damit für sich genommen nichts Neues. Neu jedoch ist, dass das Prinzip der brüderlichen Egalität bei den Freimaurern über die Standesgrenzen hinweg galt und damit bürgerliche gleichberechtigt neben adlige Brüder stellte. Diese Ideologie übte eine große Faszinationskraft aus. Ebensogross nun aber ist die Faszinationskraft des Geheimnisses, das die Logen umgibt: Das Arkanum, quasi die Kehrseite der Aufklärung, zieht gerade die aufgeklärte intellektuelle Elite in ihren Bann. Die neueste Forschung hält diese esoterische Dimension für den eigentlichen Kern der Freimaurerei.166 Zwischen Ideologie und Realität der Logen bestand jedoch eine große Diskrepanz. Das Gleichheitsideal wurde realiter weder sozial noch religiös eingelöst. Eine eigentliche Durchmischung aller Schichten fand nicht statt, es ist vor allem die bürgerliche und adelige Elite, die den Grossteil der Logenbrüder stellt, wobei sich die soziale Position im öffentlichen Leben nicht selten auch in der Logenhierarchie spiegelt.167 Frauen waren in Deutschland von fast allen Logen ausgeschlossen, insbesondere die Freimaurerei war exklusiv Männern vorbehalten.168 Anders in Frankreich: hier existierten im 18. Jahrhundert sowohl vor als auch nach der Revolution (nicht jedoch während des Regimes des Terreur) sowohl Frauenlogen als auch ge-

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So wiederholt und dezidiert Neugebaur-Wölk. Vgl. ausf. zur freimaurerischen Ideologie Voges 1987, S. 23ff., Neugebaur-Wölk 2002, S. 81ff. Zur konkreten sozialen Zusammensetzung am Beispiel der Weimarer Loge Amalia um 1800 vgl. Riederer 2002, S. 159ff. Das Verbot, Frauen in die Freimaurerlogen aufzunehmen, wurde expressis verbis erstmals 1738 in der Fassung der Old Charges formuliert und löste in ganz Europa Kontroversen aus. Vgl. Raschke 2002, S. 154.

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mischte Logen, und das obwohl Freimaurerei offiziell für Frauen verschlossen war. Wahrscheinlich seit 1740 öffneten sich einige Logen für Frauen und 1774 wurden gemischte Logen in Frankreich offizieller Teil der Freimaurerei.169 Zwar akzeptierten auch in Deutschland gerade gebildete und sozial privilegierte Frauen ihren Ausschluss aus der organisierten Geselligkeit nicht und suchten nach Möglichkeiten der Integration respektive nach Alternativen. Die derzeitige Quellenlage deutet darauf hin, dass solche Alternativen allein in der Hocharistokratie möglich waren: Hier fungierten Fürstinnen als Ordensstifterinnen. Sie knüpften damit an das im 17. Jahrhundert vor allem in Frankreich aufgekommene Modell der gemischtgeschlechtlichen Ritterorden an, mit dem die traditionell ausschließlich männlichen Ritterorden genderspezifisch revolutioniert worden waren, und integrierten teilweise aktuelle maurerische Elemente.170 Auch religiös ist das Gleichheitsideal in den Logen nicht eingelöst worden: Nicht-christliche Religionsangehörige, namentlich jüdische und islamische, waren ausgeschlossen, ebenso Atheisten.171 Der Bildungsweg, der zu den humanitär-egalitären Zielen führen sollte, verlangte von den Einweihungswilligen zu allererst deren Unterwerfung. Die Bildung wurde über die stufenweise Erreichung von Graden erlangt, wozu Initiationsrituale gehörten, bei denen sich der einzelne Maurer szenisch-theatralischen Ritualen auslieferte, die ihn seinen eigenen Tod und seine Wiedergeburt sinnlich erleben ließen. Den dabei aufgestellten Regeln war strikter Gehorsam zu leisten. Nach dem im Prinzip freiwilligen, in der Praxis aber oft via sozialen Druck erfolgten Eintritt erwartete den Logennovizen darum weniger gelebte Freiheit und gleichwertige, individuelle Entfaltung, als vielmehr eine Struktur von Hierarchien, Gehorsam und

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Vgl. Burke 2000. Vgl. Raschke 2002, S. 153ff. Konkrete Beispiele gemischtgeschlechtlicher Orden in Deutschland waren: der von Luise Dorothea von Sachsen-Gotha-Altenburg gestiftete Orden Ordre des Hermites de bonne humeur (1738–1758), die Compagnie des Incas ou L’Ordre de l’Amitié (1745) der späteren Kurfürstin von Sachsen Maria Antonia von Bayern sowie der Eremitenorden Wilhelmines von Bayreuth (um 1750). Der Eremitenorden zeichnet sich dadurch aus, dass er zahlreiche maurerische Elemente in seine Statuten integriert, so nennen sich die – ausschließlich adligen – Mitglieder (30 Frauen, 43 Männer) erstmals nicht chevalières und chevaliers, sondern soeurs und frères und verpflichten sich zur Geheimhaltung der Ordensangelegenheiten. Daneben wurden auch von Fürsten gemischtgeschlechtliche Orden gegründet, die aber dezidiert antimaurerisch waren, so die Antimassonianische Sozietät (1739 bis etwa 1780) und der weit verbreitete Mopsorden (um 1740 bis nach 1780), der freimaurerische Gepflogenheiten gekonnt persiflierte; vgl. ebd. S. 155f. Die Kritik der freimaurerischen religiösen Toleranz aus katholischen Kreisen malte sich jedoch genau diese Konstellation als besonders abstoßend aus, so der Dominikaner und spanische Inquisitor Joseph Torrubia: »Der Katholik ist hier der Bruder des Lutheraners, des Kalvinisten, des Zwinglianers, des Schismatikers und wer weiß, ob nicht des Mohammedaners und Juden.« Zitiert nach Bieberstein 2002, S. 30. Tatsächlich kam es in Ausnahmefällen zur Aufnahme assimilierter Juden, vgl. ebd.

Sanktionen.172 Besonders prekär war die hierarchisch-ungleiche Struktur bei den Illuminaten,173 mit ein Grund für die kurze Dauer des Bundes und die zahlreichen kritischen Stimmen über die Diskrepanz zwischen Ideologie und Realität der Logen. So formuliert Schiller in seinem elften Brief über Don Karlos: […] nennen Sie mir den Ordensstifter, oder auch die Ordensverbrüderung selbst, die sich – bei den reinsten Zwecken und bei den edelsten Trieben – von der Willkürlichkeit in der Anwendung, von Gewalttätigkeit gegen fremde Freiheit, von dem Geiste der Heimlichkeit und der Herrschaft immer rein erhalten hätte?174

Darüber hinaus verlor das Arkanum mit zunehmendem Grad an Einweihung seine Kraft, so die Erfahrung vieler Zeitgenossen: Zwar erfüllte das Geheimnis als Organisationsprinzip seine Funktion formal, enttäuschte aber die meisten inhaltlichen Erwartungen, da es leer blieb. Hinter dem Vorhang, so die Übernahme des szenischen Arrangements der Enthüllung in die Sprache der Kritik, sei nichts: »der Vorhang ist alles«.175 Dass nicht nur wir, sondern schon die nicht-eingeweihten Zeitgenossen so viel über die geheimen Gesellschaften wissen, liegt an der enormen Produktivkraft, die dieses Geheimnis bei den Mitgliedern ausgelöst hat: ein faszinierendes Beispiel für die Wirksamkeit von Foucaults These der produktiven Kraft der Repression. Eine exzessive Publizistik begleitete das freimaurerische Projekt, beginnend mit den so genannten ›Verräterschriften‹, die erstmals und unautorisiert über maurerische Geheimnisse berichteten, über Publikationen legitimierter Freimaurerschriften, insbesondere von Reden, zu Abhandlungen über Wunder und Geisterseher in aufklärerischer Absicht und philosophischen Reflexionen über Sinn und Zweck der Freimaurerei sowie der Frage der zulässigen Mittel dafür bis hin zu Kritik, Spott und Parodie. Parallel und teilweise in Überschneidung dazu entwickelte sich ein vielfältiger literarischer Diskurs: Das die Logen konstituierende Geheimnis eröffnete eine Leerstelle, die mannigfaltige Überschreibungen nicht nur ermöglicht, sondern offensichtlich herausgefordert hat. Die Schaffung eigener Reihen über die Geheimbundthematik, beispielsweise ein Periodikum Gegen den Aberglauben in der Allgemeinen deutschen Bibliothek 1788, sowie von eigenen Rezensionsorganen176

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Vgl. Voges 1987, S. 63ff. Vgl. Weis 2002, S. 92. Schiller, Werke und Briefe, Bd. 3, S. 465. Die neuere literaturwissenschaftliche Forschung geht davon aus, dass Schillers Don Karlos und spezifischer die späteren Briefe darüber eine Auseinandersetzung mit dem Bund der Illuminaten darstellen. Vgl. dazu in der Nachfolge von Schings 1996, die Beiträge von Müller-Seidel, Riedel und Borchmeyer in Müller-Seidel/Riedel 2002. So Theodor Gottlieb von Hippel in seinen Kreuz- und Querzügen des Ritters A. bis Z. (1860; zuerst 1793/4), Theil II, S. 302f. Vgl. ausf. zur sozialen Realität, den konkreten Abläufen und der Enthüllungsliteratur der Logen Voges 1987, S. 63ff. So richtete etwa die Jenaische Allgemeine Litteraturzeitung im April 1785 eine eigene Sparte für die Rezension freimaurerischer Schriften ein, vgl. Voges 1987, S. 126.

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zeugt von der enormen Wirkung, die diese freimaurerische Publizistik erzielte: Sie deckte sichtlich auch auf Rezipientenseite ein brennendes Bedürfnis nach Enthüllung der Geheimnisse ab respektive schuf durch das stete Aufschieben der letztgültigen Offenlegung weitere Anreize für die Produktion erneuter Schriften. Hinzu kam die engagiert geführte öffentliche Debatte über Verschwörungstheorien, die den Freimaurern machtpolitische Ziele von globalen Dimensionen zuschrieb und die Maurer unter anderem mit den 1773 verbotenen Jesuiten in Verbindung brachte.177 Die Bewegung von Geheimnis und Aufklärung, die das geheimbündnerische Schrifttum vollzieht, bietet sich in hohem Maße für eine Literarisierung des Geheimbundmaterials an, sind doch Geheimnis und diskrepante Informiertheit von Autor, Figuren und Lesenden ein genuin literarisches Mittel der Informationsvermittlung. So bedient sich auch die maurerische und aufklärerische Sachprosa gerade beim Schreiben über die Geheimnisse literarischer Mittel und erzielt damit eine – wohl nicht immer beabsichtigte – fiktionalisierende Wirkung. Wie Michael Voges schlüssig nachweist, fördern der prekäre Wirklichkeitscharakter des Geheimbundmaterials und die zentrale Funktion des Geheimnisses darin die Transposition des Geheimbundmaterials in Literatur.178 Darüber hinaus waren viele Autoren – wenn auch teilweise nur für kurze Zeit – Mitglieder in Geheimbünden, verfügten also auch über Kenntnisse aus erster Hand. Eine Schlüsselstellung im Literarisierungsprozess des Geheimbundmaterials nimmt Friedrich Schillers Der Geisterseher (1787–89) ein.179 Der Fragment gebliebene Roman wird zum Prototyp des sich herausbildenden Geheimbundromans, einem beliebten und viel gelesenen Genre der Unterhaltungsliteratur. Ein Set wiederkehrender Elemente macht den Geheimbundroman im Wesentlichen aus: die Struktur von Geheimnis und Aufklärung, die Ideologie von Gleichheit und Freundschaft, die Organisationsform der Bruderschaft und deren machtpolitische Ziele, rituelle Handlungsweisen in szenisch-theatralischen Arrangements und eine Aura des Wunderbaren. Dazu gehört auch eine spezifische Figurenkonstellation, und eine dieser Schlüsselfiguren im männerbündnerischen Kontext (Genius, Emissär, Geheimbundopfer, Helfer) ist die – von der literaturwissenschaftlichen Forschung – so genannte »Geheimbundtochter«.180

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Vgl. zur freimaurerischen Publizistik Voges 1987, S. 125ff., 249ff. Vgl. Voges 1987, S. 225ff. Schiller war im Unterschied zu den meisten seiner Kollegen im Umfeld der Weimarer Klassik selbst nicht Mitglied in einem Geheimbund, kam aber durch seinen Lehrer Jacob Friedrich Abel, einem Ordensoberen der Illuminaten in Württemberg, früh in Kontakt mit dem Gedankengut der Illuminaten und wurde selbst noch nach dem offiziellen Ende des Bundes von Restgruppen der Illuminaten stark umworben; vgl. dazu Schings 1996, S. 30ff., Riedel 2002. Der Begriff ist von Schneider 1909, und Thalmann 1923, eingeführt worden, vgl. dazu Voges 1987, S. 369.

Die »Griechin« aus Schillers Geisterseher wurde zum Prototyp dieser Figur, mit der ihr zugehörigen Ambivalenz von Schönheit und Lasterhaftigkeit, Glaube und Intrige, Liebe und Betrug:181 Die Frauenfigur verkörpert eine Einheit des Gegensätzlichen, wie sie analog in vielen zeitgenössischen Erfahrungen über die Akzeptanz der geheimbündnerischen Ideologie und der Kritik an der diskrepanten Realität der Logen zum Ausdruck kommt, und verdichtet damit das wesentliche Moment der öffentlichen Geheimbundwahrnehmung im ausgehenden 18. Jahrhundert in einer ästhetischen Figur.182 Bemerkenswert daran ist, dass es sich um eine weibliche Figur handelt, die ein derart wichtiges Element im Erzählen über männerbündnerische Geheimnisse darstellt. Wie oben ausgeführt, waren Frauen realiter – von wenigen Ausnahmen abgesehen – aus den Geheimgesellschaften ausgeschlossen, und im Geheimbundmaterial gibt es keine vergleichbare weibliche Aktantenposition. Die Literatur geht hier also einen Schritt weiter, was die Integration von Frauen angelangt. Die Neuheit dieser Figurenkonzeption und ihre Romantauglichkeit wird im Geisterseher selbst im nachgetragenen »Siebenten Brief« poetologisch reflektiert: »Der Einfall schien mir neu und zu einem Roman die Anlage gemacht.«183 Ein Blick auf die Handlung zeigt, dass der Grund hierfür jedoch eher trivial ist: Der literarische Text führt die Frauenfigur ein, um die im Geheimbundmaterial gegebenen Themen der Freundschaft und Bruderschaft durch die für ein breiteres Lesepublikum unverzichtbare Thematik von Liebe und sexuellem Begehren zu ergänzen, da diese in gleichgeschlechtlichem Kontext nicht akzeptiert war. Der Geisterseher wurde als Fortsetzungsroman in den Thalia-Heften 1787–1789 publiziert, zu deren Verkaufserfolg er beizutragen hatte und wozu er – wie der große Rezeptionserfolg zeigt – entscheidend beigetragen hat. Die literarische Erfindung der so genannten »Geheimbundtochter« kann darum – so meine These – als eine Konfiguration gelten, die die männerbündnerische institutionelle Geschwisterschaft mit der Szenographie der gegengeschlechtlichen Geschwisterliebe verknüpft: Sie integriert Elemente der erfolgreich eingeführten literarischen Szenographie um emotionale Attraktion und sexuelles Begehren zwischen ›eigentlichen‹ Geschwistern184 in den Kontext ›weiterer‹ Geschwisterschaft.

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Vgl. zur Konzeption der Figur auch Schillers Korrespondenz mit den Schwestern Lengefeld vom 26. Januar 1789, wo er um eine weibliche Beurteilung dieser Figur bittet: »[...] denn meine liebenswürdige Griechinn ist eine abgefeimte Betrügerinn.« Schiller, Werke und Briefe, Bd. 11, S. 377. Vgl. dazu Voges 1987, S. 368ff. Das männliche Pendant einer Einheit des Gegensätzlichen findet sich in Schillers Geisterseher in der Figur des Armeniers gestaltet. Schiller, Werke und Briefe, Bd. 11, S. 719. Das Zitat stammt aus dem als Nachtrag im achten Thalia-Heft vom Oktober 1789 publizierten Fragment »Der Abschied«, das seit der dritten Buchausgabe des Geistersehers (1789) als neu gezählter »Siebenter Brief« integriert worden ist; vgl. ebd. S. 1011. Vgl. zur literarischen Szenographie der inzestuösen Geschwisterliebe Teil I, Kap. 2.2.1.

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Die Validierung der Bruder-Schwester-Beziehung, die sich über vielfältige Diskurse und soziale Praxen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vollzieht, unterstützt diese Konfiguration nachhaltig.185 Die Verortung der Griechin im Geschwisterdispositiv zeigt nun aber, dass es sich bei der in der Forschung inzwischen eingebürgerten Bezeichnung der ›Geheimbundtochter‹ um eine Fehlbenennung handelt: Die Griechin im Geisterseher fungiert nicht als Geheimbundtochter, sondern als Geheimbundschwester. Die Fehlbenennung ist Ausdruck einer unreflektierten Projektion der als dominierend wahrgenommenen vertikalen Familienstruktur186 in den zeitgenössisch horizontal strukturierten Kontext der institutionellen Geschwisterschaft. Denn die Frauenfigur im Geisterseher ist strukturell unmissverständlich auf der Ebene der Brüder angesiedelt. Hierarchien in der Logenstruktur betreffen auch Brüder, die reale Unterwanderung der horizontal strukturierten Ideologie ist kein Argument, allein die Frauenfigur in einer vertikalen Anordnung zu denken. Darüber hinaus widerspricht die Formulierung der ›Geheimbundtochter‹ dem zeitgenössischen Sprachgebrauch: Die seltenen, hochadligen gemischtgeschlechtlichen Orden nennen ihre weiblichen Mitglieder soeurs,187 und Freimaurer die weiblichen Angehörigen ihrer Brüder ›Schwestern‹, was laut Grimm ihr »verbundensein in liebe« ausdrücke.188 Bei Grimm findet sich also schon ein Hinweis auf die in der Figur der Geheimbundschwester angelegte Verknüpfung von Geschwisterliebe und institutioneller Geschwisterschaft. All dies macht evident, dass die zeitgenössische soziale Energie, die in der Figur der Griechin codiert ist, auf der Horizontalen fließt und einen spannungsgeladenen Teil des Geschwisterdispositivs um 1800 zu beleuchten vermag. Jean Pauls hohe Romane, allen voran die Loge, rekurrieren sowohl auf die Geheimbundthematik als auch auf die Szenographie der Geschwisterliebe: Es wird noch genauer zu fragen sein, inwiefern diese beiden Kontexte eine Verbindung eingehen und welche Rolle dafür Schillers Geisterseher spielt. Denn fraglos war der Geisterseher, ganz im Unterschied zu anderen zeitgenössischen Rezeptionen, Schillers eigener eingeschlossen, ein von Jean Paul auch ästhetisch hoch geschätzter Text: In der Vorschule ist der Geisterseher nach dem Werther der zweite Text, der die Reihe der »ersten Klasse« respektive der »Romane der italienischen Schule« anführt. (I/5,253)189

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Vgl. dazu Teil I, Kap. 2.2.2, 2.2.3 und 2.3. Zur Struktur von Vertikale und Horizontale vgl. Teil I, Kap. 1.3. Vgl. dazu oben sowie Raschke 2002, S. 153ff. Grimm, Bd. 9 (1899), Sp. 2600. In der zeitgenössischen Kritik wird Schillers Geisterseher dagegen als Auslöser eines Trivialisierungsprozesses gesehen, vgl. Voges 1987, S. 296, und Schiller selbst spricht in seiner Korrespondenz von einer aus rein ökonomischen Gründen verfertigten »Schmiererei« (Brief vom 17. März 1788 an Körner), Schiller, Werke und Briefe, Bd. 11, S. 286. Zum Geisterseher als Intertext bei Jean Paul vgl. Teil II, Kap. 3.2 und Teil III, Kap. 1.2.

2.4.2

Die Parole der fraternité und die illuminatische Verschwörungsthese

Während der Französischen Revolution erweitert die Parole der fraternité die schon länger bestehende Binärformel von liberté und égalité zum Terzett. Damit wird eine neue Qualität eingeführt: Während liberté und égalité im juridischen Diskurs beheimatet sind und Grundrechte bezeichnen, meint fraternité einen moralischethischen Wert. Es geht dabei um die Dimension des gegenseitigen Einstehens der concitoyens, um ihre Fürsorge für- und ihre Liebe zueinander. Die zeitgenössischen Begriffe für diese Werte, die im Vorfeld der Revolution in die ursprünglich christologisch-klerikale Konzeption der fraternité integriert werden, sind: bienfaisance, bienveillance, humanité, amour des autres, und ebenfalls schon zeitgenössisch ist der Begriff der solidarité, der die fraternité im ausgehenden 19. Jahrhundert als gesellschaftspolitischer Leitbegriff ablösen wird. Im Verlauf seiner Etablierung in der jungen französischen Republik verschärft sich der Begriff der fraternité zu einer radikalen Kampf-Parole, wie die vor allem während des Terreur häufig verwendete Formulierung fraternité ou la mort eindrücklich dokumentiert.190 Obwohl der Begriff in vielen revolutionären Äusserungen nachgewiesen werden kann, erscheint fraternité anders als liberté und égalité nicht in den Gründungsdokumenten der Republik: Sie kommt weder in der Déclaration des droits de l’ homme et du citoyen (1789) noch in der Verfassung von 1791 vor. Als offizielle Formel wird die Trias liberté, égalité et fraternité erstmals in der Verfassung von 1848 verwendet. Dies zeigt deutlich die andere Qualität, die der Begriff um 1800 hat: Er ist in der verwendeten politischen Form erst kurz in Gebrauch und noch zu neu, um Eingang in diese wichtigen Dokumente zu erlangen, und er bezeichnet eine moralisch-ethische Haltung in interpersonalen Beziehungen, aber kein Grundrecht. Dass sich diese neue Akzentuierung des Begriffs der fraternité erst im Vorfeld der Revolution herausgebildet hat, zeigt ein Blick auf die historische Enzyklopädie. In der großen Encyclopédie von Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d’Alembert (1751–1780) finden sich mehrseitige Artikel zu liberté und égalité, aber nur wenige Zeilen zur fraternité. Diese lassen noch nichts von der späteren Sprengkraft des Begriffs erahnen: Genannt werden die Bedeutungsdimensionen von ›eigentlicher‹ und ›geistlicher‹ Bruderschaft sowie von Waffenbrüdern, und im Ganzen konnotiert der Gestus des Artikels eine vergangene und keineswegs eine aktuelle Beziehungskonstellation. Im jesuitischen Dictionnaire de Trévoux (1704–1771) findet sich dagegen ein ausführlicher Artikel zur fraternité, der systematisch zwischen naturelle und institutionelle trennt, und christlich-ethische Werte – insbesondere die Gegenseitigkeit – in die Definition der institutionellen Bruderschaft integriert. Werden hier aus der Sicht der jesuitischen Bruderschaft schon erste Akzentuierungen der späteren Bedeutungsfüllung greifbar, so vollzieht die Rezeption der staatspolitischen Schriften von Jean-Jacques Rousseau den entscheidenden Schritt für die Integration der 190

Die Ausführungen zu Begriff und Geschichte der fraternité beruhen auf: David 1987, S. 7ff., Antoine 1981, S. 133ff., Borgetto 1997, S. 11ff.

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fraternité in die republikanische Ideologie: Rousseau verwendet fraternité als gesteigertes Synonym von concitoyens.191 Dass der Begriff letztlich so rasch reüssierte, hat aber noch andere Gründe. Da ist zum einen der oben schon erwähnte enge Zusammenhang zwischen politischem Denken und familialer Struktur,192 der es nahe legte, die neue horizontale Ideologie in der bekannten Denkstruktur auszudrücken. Auch Rousseau bedient sich der hohen Intelligibilität dieser Struktur in seinen Discours sur l’ économie politique (1755), bezeichnet darin das Vaterland (la Patrie ist im Französischen weiblich) als Mutter der concitoyens, und folgert für letztere daraus, dass sie sich gegenseitig wie Brüder lieben und achten (se chérir mutuellement comme des frères).193 Lynn Hunt geht soweit, von einem kollektiven politischen Unbewussten der Französinnen und Franzosen zu sprechen, das über Narrative von Familienbeziehungen strukturiert war.194 Zum andern wurde schon von den Zeitgenossen ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der gesellschaftspolitischen Macht der geheimen Gesellschaften, die ja als Bruderschaften organisiert waren, und dem Siegeszug der Parole der fraternité diskutiert. Die konkreten Verbindungen zwischen den Freimaurern und der Französischen Revolution sind ein brisantes und bis heute nicht befriedigend geklärtes Thema, dessen Erforschung nicht geringe Schwierigkeiten bietet. Das liegt zum einen daran, dass die möglichen Einflüsse eventuell weniger konkreter als vielmehr ideologischer Art waren, und zum anderen an der zentralen Funktion des Geheimnisses in der internationalen maurerischen Gemeinschaft und der damit gegebenen prekären Quellenlage. Für das in dieser Studie verfolgte Erkenntnisinteresse ist es aber weniger wichtig zu wissen, wie die geheimen Zusammenhänge konkret abliefen, als vielmehr zu verstehen, wie diese Zusammenhänge von den Zeitgenossen gesehen und diskutiert wurden. Denn dies führt uns unter anderem zurück nach Bayern und damit in die nähere geographische Umgebung von Jean Paul, der Elemente der im Folgenden geschilderten Geheimbunddebatte literarisch bearbeitet. Um 1790 intensivierte sich in Deutschland die öffentliche Debatte über einen Zusammenhang zwischen der Französischen Revolution und den geheimen Gesellschaften. Anlass dafür waren die angeblichen ›Geständnisse‹ Cagliostros, einer der schillerndsten Figuren im Geheimbundwesen.195 1790 von der päpstlichen Kam-

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Vgl. ausf. dazu David 1987, S. 18ff. Modell für das Staatsgefüge steht bis weit ins 18. Jahrhundert hinein die patriarchal organisierte Familie. Mit der Veränderung der Aufgaben insbesondere des Familienvaters im Zuge des bürgerlichen Familienkonzeptes veränderten sich auch die Erwartungen an den Landesvater. Vgl. Opitz 2002, S. 21ff. Vgl. Borgetto 1997, S. 20. Vgl. Hunt 1992, S. xiii. Hunt deutet die Revolution feministisch-freudianisch als Triumph der ›Bande der Brüder‹, die den Vater ermorden, der Mutter die Schuld dafür zuschieben und die Schwestern für ihre versuchte Teilhabe an der fraternité bestrafen. Der Sizilianer Joseph Balsamo, genannt Cagliostro, war in ganz Europa als Magier,

merdruckerei veröffentlicht, wurden sie schon 1791 auf Deutsch publiziert. Darin behauptete Cagliostro, die Freimaurer und insbesondere die Illuminaten hätten die Französische Revolution geplant und würden sich nun mit vergleichbaren Absichten anderen europäischen Staaten zuwenden. Damit reduzierten sich in Teilen der öffentlichen Debatte die komplexen zeitgenössischen gesellschaftspolitischen Umwälzungen auf eine einfache Kausalerklärung mit konkreten Drahtziehern, die nicht nur für die Ereignisse in Frankreich, sondern auch für revolutionäre Regungen in den jeweils eigenen Ländern verantwortlich gemacht wurden. Von einem ständisch-hierarchischen und antimodernistischen Standpunkt aus wurde auf die Verunsicherung durch die neuen, horizontal strukturierten Legitimitätsthesen mit einer Komplexitätsreduktion reagiert, durch die das Gleichheitsprinzip und insbesondere der Wert der fraternité als gefährlich, sektiererisch und intrigant verworfen werden konnte. In der Folge verbreitete die Wiener Zeitschrift 1793 erfolgreich die These, die Illuminaten seien die Urheber der französischen Revolution, diese sei damit eigentlich eine bayrisch-deutsche: Nicht die Franzosen sind die Erfinder dieses großen Entwurfes, die Welt umzukehren; diese Ehre kommt den Deutschen zu. Den Franzosen gebührt die Ehre, daß sie mit der Ausführung den Anfang gemacht […]. Aus dem in Deutschland entstandenen, und noch ganz und gar nicht verloschenen, sondern nur verborgen und desto gefährlicher sein Wesen treibenden Illuminatismus sind diese Comités politiques entstanden, die dem Jakobinerclub sein Dasein gegeben.196

Die Verbindung zwischen Illuminaten und der Französischen Revolution wurde von den Verschwörungstheoretikern in der Paris-Reise von 1787 der Illuminaten Johann Joachim Christoph Bode und Wilhelm von dem Busche festgemacht.197 Im Stammland der Illuminaten, in Bayern, kam es durch diese international rege diskutierte Verschwörungsthese zu einer eigentlichen Geheimbundhysterie. Zwar war der Orden der Illuminaten schon 1784/85 offiziell verboten worden, Mitglieder des Ordens waren öffentlich verfolgt und zahlreiche Zensurmaßnahmen umgesetzt worden. Doch um 1790 erneuerte und verschärfte der bayrische Kurfürst das Illuminatenverbot: Priester und Beamte hatten in der Folge zu schwören, dass sie den

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Geisterbeschwörer und Prophet unterwegs und vermochte jeweils schnell an Einfluss zu gewinnen. Durch seine Verstrickung in die französische Halsbandaffäre um Kardinal de Rohan und Gräfin La Motte geriet Cagliostro aber in die Kritik und wurde 1789 durch die Inquisitoren in Rom festgenommen. Seine phantastischen ›Geständnisse‹, in denen er ein angeblich großangelegtes maurerisches Komplott aufdeckte, retteten ihn vor dem Todesurteil. Er faszinierte die Zeitgenossen mit seinen Inszenierungen und war Anlass für manche literarische Umsetzung, am bekanntesten hiervon Goethes GroßCophta (1792). Vgl. dazu Voges 1987, S. 49f. Zitiert nach Bieberstein 2002, S. 33. Die Auffindung der so genannten »Schwedenkiste« mit dem Bericht Bodes über seine Reise nach Paris hat nachgewiesen, dass diese Reise tatsächlich stattgefunden hat und keine Erfindung der Verschwörungstheoretiker war. Vgl. Bieberstein 2002, S. 33.

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Illuminaten weder angehört hatten noch je angehören würden. Verbote geheimer Gesellschaften häuften sich im Anschluss an die Französische Revolution in allen deutschen Ländern, und im Zentrum standen die nun oft zusammen genannten ›Jakobiner und Illuminaten‹.198 Ihre weltweite Verbreitung aber erfuhr die jakobinisch-illuminatische Verschwörungstheorie durch den Abbé und Ex-Jesuiten Augustin Barruel. 1797/98 erschien sein einflussreiches Werk Mémoires pour sérvir à l’ histoire du Jacobinisme: In dieser vierbändigen Anti-Revolutionsgeschichte wird die Verschwörungstheorie systematisiert und in einen weltpolitischen Zusammenhang gestellt, in den die nordamerikanische Entwicklung einbezogen wird. Durch die Übersetzung in neun europäische Sprachen entfaltete die eingängige Systematik eine große Wirkung: Die direkte Verbindung zwischen Illuminaten und Jakobinern wurde damit Teil der Geschichtswahrnehmung der nachfolgenden Generation. Bemerkenswert daran ist, dass die Quellen dafür weitgehend deutschen Ursprungs sind: Im Londoner Exil bezieht sich Barruel bei der Entwicklung seiner Systematik vor allem auf ihm von Sympathisanten zugesandte deutsche Pamphletliteratur.199 Unterwanderten die Verschwörungstheorien und die damit verbundenen machtpolitischen Spekulationen die moralisch-ethische Bedeutung der fraternité ideologisch, so tat die Realpolitik der Republik dies konkret: Das Regime de terreur korrumpierte den Begriff und verband ihn nachhaltig mit Gewalt.200 Daraus resultierte ein ausgeprägtes Bewusstsein der Zeitgenossen für die Differenz zwischen der revolutionären Ideologie und der republikanischen Realität von fraternité. Die Ideologie hat diese Anfechtungen realen Zusammenlebens überstanden, wie die Folgeformationen im 20. Jahrhundert – der sozialistische Leitbegriff der ›Solidarität‹201 oder die sisterhood in der feministischen Bewegung – zeigen. Für die neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts ist aber davon auszugehen, dass die Differenzerfahrung zwischen Ideologie und Realität des moralisch-ethischen Wertes der fraternité besonders stark ausgeprägt war. Eine solche Differenzerfahrung mussten insbesondere die Französinnen machen: Zwar schloss der Begriff der fraternité Frauen konzeptionell aus. Bildliche Darstellungen zur fraternité mit allegorischen Frauenfiguren oder gemischtgeschlechtlichen Gruppen verweisen jedoch darauf, dass dies nicht so eng ausgelegt wurde.202 Im Zuge der geschlechteregalitären Tendenzen erlaubte auch der Wert der fraternité eine gewisse genderspezifische Öffnung, wie dies ihrerseits auch die maurerischen Bruderschaften in Frankreich schon getan hatten.203 Die geschlech-

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Das Magazin für Kunst und Literatur schreibt 1793 vom Illuminatismus, dieser sei ein »leiblicher Bruder des Jakobinismus«, vgl. Bieberstein 2002, S. 33. Vgl. zur Verschwörungsthese Voges 1987, S. 49ff., 139ff., Bieberstein 2002. Vgl. David 1987, S. 107ff. Zur Fluktuation von fraternité zu solidarité und participation vgl. Antoine 1981, S. 133ff. Vgl. David 1987, Abb. 15–19. Vgl. Teil I, Kap. 2.4.1 sowie Burke 2000.

teregalitären Tendenzen – Frauen waren willkommene Helferinnen und Partnerinnen für die Revolution – verloren sich aber, sobald es um die Festigung der Macht in der neuen Staatsform der Republik ging. Olympe Marie de Gouges, die 1791 in der Pariser Nationalversammlung ihre Déclaration des Droits de la femme et de la citoyenne vorgeschlagen hatte, wurde 1793 hingerichtet, die bestehenden Frauenclubs wurden aufgelöst und das Versammlungsrecht für Frauen aufgehoben.204 Vor dem Hintergrund der kulturhistorischen Verknüpfung der Parole der fraternité mit den teilweise obskuren zeitgenössischen Verschwörungstheorien wird im Lektürenteil genauer zu fragen sein, inwiefern Jean Pauls hohe Romane diese zeitgenössische Debatte bearbeiten. Dabei wird es weniger darum gehen, an den marxistisch gelesenen Jean Paul als ›Revolutionsdichter‹ anzuknüpfen,205 als vielmehr darum, die Gestaltung republikanischen Gedankenguts und die damit verbundenen sozialkritischen Implikationen sowie die satirischen Bezüge auf die illuminatische Verschwörungstheorie im Rahmen der Erzählarrangements zu eigentlichen und weiteren Geschwistern zu diskutieren.206 Zahlreiche Textbezüge finden sich nun aber bei Jean Paul noch zu einer anderen institutionellen Geschwisterschaft, die durch ihre besondere Lebensweise die Aufmerksamkeit der intellektuellen Elite auf sich zog. Zwischen Faszination und Spott schwanken die Reaktionen der Zeitgenossen auf die Brüder- und Schwestergemeine der Herrnhuter, und bei Jean Paul ist diese doppelte Besetzung des Herrnhutertums bis in die Mikrostruktur der Texte hinein lesbar. Grund genug, die kulturhistorische Darstellung institutioneller Geschwisterschaft um 1800 mit einem Blick auf das gesellschaftspolitische Experiment »auf des Herren Hut« zu beschließen. 2.4.3

Die herrnhutischen Brüder und Schwestern

Neben den laizistischen Gesellschaften gewinnen im 18. Jahrhundert auch dezidiert religiöse Vereinigungen an Gewicht, die sich als ›geistliche Geschwister‹ im engeren Sinne verstehen: als »eine Gesellschaft von wahren Kindern Gottes, eine Familie Gottes, die Jesum zu ihrem Haupte hat, deren Glieder sich als Brüder und Schwestern lieben, und in der genauesten Verbindung unter einander stehen«. So heißt es exemplarisch in den Unitäts-Statuten von 1818 der Herrnhuter Brüdergemeine. Die Herrnhuter übten durch ihre spezifische Lebensführung und ihre immer »gleiche Fassung der Heiterkeit des Gemüts« eine große Faszination auf die intellektuelle Elite aus und sind nicht zufällig ein oft genanntes Stichwort in Jean Pauls Texten.207

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Vgl. Frevert 1986, S. 15f. Vgl. Harich 1974. Vgl. Teil II, Kap. 1.1 und 3.2, Teil III, Kap. 3. Zitate nach Meyer 2000, S. 90, 87. Der zitierte Ausschnitt aus den Statuten stammt aus den erneuerten Statuten der Gemeine von 1818. Die Darstellung des Herrnhutismus hier und im Folgenden beruht auf RGG 4. Aufl., Art. »Bruderschaften, Brüderunität«, Bd. 1, Sp. 1435ff., Meyer 2000, S. 19ff.

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In ihren gesellschaftspolitischen Zielen – Erziehung zur Humanität des je Einzelnen und Ausweitung der Ideale auf eine weltweite Geschwisterschaft – finden sich zwar einige Übereinstimmungen mit den maurerischen Ambitionen. Doch ist die herrnhutische Ideologie antiaufklärerisch und pietistisch-christlich, wobei es schon bald zu klaren Abgrenzungen des herrnhutischen zum hallischen Pietismus kam, in dem der geistige Begründer Herrnhuts, Graf Ludwig von Zinzendorf, seinen pietistischen Durchbruch erlebt hatte. Die Herrnhuter sind aus einer Erneuerungsbewegung der verfolgten böhmischmährischen Brüdergemeinde hervorgegangen. Auswanderer kamen seit 1722 auf das Gut Berthelsdorf des Grafen Ludwig von Zinzendorf und gründeten da eine Handwerkerkolonie »auf des Herren Hut«, in der sich die überkonfessionellen Gemeinemitglieder einer neuartigen, pietistisch orientierten Lebensordnung verpflichteten.208 Ein kollektives Erweckungserlebnis bei einer Abendmahl-Feier am 13. August 1727 begründete nachhaltig die Einheit der Gemeine unter der geistigen Führung von Zinzendorf. Im Zentrum von Zinzendorfs Ideologie stehen die Erfahrung und die wahre Empfindung der von Herzen kommenden Gottesliebe und die Bruderliebe zu allen Kindern Gottes, die sowohl bei den je Einzelnen als auch in der globalen Gemeinschaft gefördert werden soll. Entsprechend bestehen die Hauptaufgaben der Brüdergemeine in der Erziehung der Kinder und Jugendlichen, der je individuellen Bildung des Herzens zu einem wahren Kind Gottes und der Missionstätigkeit. Theologisch nehmen der stellvertretende Tod Christi und die alleinige Wirksamkeit der Gnade die zentrale Stelle im herrnhutischen Glauben ein. Abgelehnt werden aufklärerische Konzepte, die auf einer natürlichen Gotteserkenntnis und Moral beruhen. Die aus dem Erbe der mittelalterlichen Gebetsverbrüderungen hervorgegangenen Herrnhuter führen in ihrem Selbstverständnis und in ihren Statuten das Konzept der horizontal konzipierten Brüderlichkeit prominent fort und gehen dabei viel weiter als die maurerischen Bruderschaften. In der herrnhutischen Verfassung von 1727 finden sich radikaldemokratische Prinzipien und Verfahren: Alle dienen einander gegenseitig auf der Basis ihrer Gleichheit, und Handwerker übernehmen selbstverständlich leitende Ämter. Mitglieder des Gelehrten- und des Adelsstandes

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Meyer 2000, S. 21. Die Gründungsstatuten wurden 1727 den Gemeinemitgliedern zur Unterschrift vorgelegt. In einem 1. Teil wurden die Rechte, Pflichten und Lasten der einzelnen für das gemeinsame Zusammenleben geregelt, darin war z.B. die Aufhebung von Dienstbarkeit und Leibeigenschaft »zu ewigen Zeiten« verankert. In einem 2. – in der Geschichte der Herrnhuter später als die eigentliche Statuten eingestuften – Teil wurden das geistliche Selbstverständnis und die geistlichen Ziele der Brüder festgelegt. Darin wird Herrnhut definiert als »nur eine für Brüder und um der Brüder willen errichtete Anstalt« und die Gemeinemitglieder werden auf »Liebe mit allen Brüdern und Kindern Gottes in allen Religionen« verpflichtet. Die Gemeinschaft versteht sich im Sinne der christlichen Urgemeinen: »Die Brüder sollen nach Art der ersten Gemeine einander alles zu Liebe thun« und ihre wichtigste Aufgabe ist »die Gewinnung der Seelen zu Christo« (ebd., S. 25).

wurden von der Wahl in den Rat der Ältesten, der der Gemeine vorstand, sogar bewusst ausgeschlossen, und die vier Oberältesten, die die Oberaufsicht führten, wurden durch das Los bestimmt. Zwar dominiert begrifflich die traditionale Bezeichnung der Brüderunität, doch bestehen alle organisatorischen Einheiten (leitende, seelsorgerliche, diakonische) auch für die geschlechterdifferent organisierten Schwesternschaften: Es gab Ältestinnen, Helferinnen, Lehrerinnen, Aufseherinnen, Ermahnerinnen, Dienerinnen und Krankenwärterinnen. Die im Zentrum der Gemeine stehende wahre Bruderliebe wurde über organisatorische Maßnahmen befördert, da es zuerst »zu gar keiner Herzlichkeit unter den Brüdern kommen wollte«. Es entstanden geschlechterdifferente Seelsorgegruppen, die so genannten ›Banden‹, die die individuelle Entwicklung – so soll »täglich Gelegenheit« zur Erweckung gegeben sein – und das Sozialleben der einzelnen maßgeblich prägten.209 Die jüngeren Gemeinemitglieder organisierten sich entsprechend in altersgerechten ›Chören‹, in denen sie sich auf ihr ›Ausgehen‹ vorbereiteten. Dieses Ausgehen meinte die Entsendung von Brüdern zu anderen erweckten Kreisen in ganz Europa und schließlich die Missionstätigkeit vor allem in Nordamerika, um auch ihre dortigen »Indianer-Geschwister«210 in die weltweite herrnhutische Geschwisterschaft einzubinden. Auch die Kindererziehung fand in Herrnhut in nach Alter und Geschlecht geordneten ›Chören‹ statt. Da die Eltern oft auf Missionsreisen waren, erforderte dies die Unterbringung der Kinder in Heimen, so dass die ›Chöre‹ zur prägenden sozialen Einheit für die Kinder wurden.211 Im Zentrum stand auch hier die religiöse und nicht die gelehrte Bildung, wie sie Zinzendorf in seiner pädagogischen Schrift, den Kinderreden, entfaltete. Es geht darum, einen persönlichen, auf existenziell erfahrener Nähe gegründeten und wahrhaft emotionalen Umgang mit Christus zu entwickeln, der auf alle Bereiche des Lebens ausstrahlen wird, so dass es – entgegen der sonstigen Pädagogik des frühen 18. Jahrhunderts – keine strenge Zucht braucht, sondern die Kinder in ihrer natürlichen Entwicklung bestärkt werden können.212 Nachhaltige Wirksamkeit hat die herrnhutische Pädagogik durch die Betonung der Natürlichkeit213 und die altersgerechte psychologische Entwicklung des Kindes erfahren. Die dezidiert horizontal konzipierte institutionelle Geschwisterschaft der Herrnhuter und ihre konsequente Realisierung in allen Lebensphasen lassen ei-

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Zitiert nach Meyer 2000, S. 28, 25. 1728 gab es etwa 3 Banden bei 220 Einwohnern, vgl. ebd. S. 28. Vgl. Hertrampf 1997: »Unsere Indianer-Geschwister sind lichte und vergnügt«. Die herrnhutischen Lehranstalten mit ihrer Betonung einer kindgerechten Förderung entwickelten sich im ausgehenden 18. Jahrhundert zu angesehenen Pädagogien und Gymnasien. Ausf. zur herrnhutischen Pädagogik vgl. Ranft 1958. Jean-Jacques Rousseaus Emile (1762) ist erst zwei Jahre nach Zinzendorfs Tod erschienen.

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ner Lektüre, die nach den Valenzen des Geschwisterthemas in Jean Pauls Texten fragt, die häufigen Textstimuli zum Herrnhutismus bei Jean Paul in einem anderen Licht erscheinen: Von der Jean Paul-Forschung bisher stets satirisch oder als bloßes Dekor gelesen, gilt es das Herrnhuterthema aus dieser veränderten Perspektive darauf hin zu befragen, inwiefern es – satirisch und erhaben – zentrale Textstrategien befördert.214 2.4.4 Freundschaft und Geschwisterschaft Freundschaft ist im Unterschied zu Geschwisterschaft schon lange ein Thema der Forschung des 18. Jahrhunderts und damit auch ein eingeführtes Thema der Jean Paul-Forschung. Die Dominanz des Freundschaftsthemas in der Erforschung der Literatur des 18. Jahrhunderts hat jedoch dazu geführt, dass das Spezifische der Geschwisterbeziehung und ihrer Differenzen zur Freundschaft unter die Freundschaftsthematik subsumiert und damit nicht zu einem eigenständigen Forschungsgegenstand gemacht worden sind. Das erstaunt gerade für Jean Paul, nimmt in seinen Texten die Geschwisterthematik doch exzessive Ausmaße an.215 Hier gilt es im Lektüreteil genauer danach zu fragen, wie Freundschaft und Geschwisterschaft bei Jean Paul von einander abgegrenzt werden, wo sie miteinander in Konflikt geraten und wo sie ineinander übergehen. Dazu wird auch Friedrich Wilhelm Jacobis Woldemar oder Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte (1779) beigezogen werden, um – ähnlich wie an Goethes Geschwistern beim Thema der Geschwisterliebe – mit Hilfe eines stilbildenden Intertextes die zentralen Aspekte der Jean-Paul’schen Kohäsionen, Friktionen und Distinktionen zwischen Freundschaft und Geschwisterschaft deutlicher zu konturieren. Eine breitere kulturhistorische Basis dafür soll die nun folgende Darstellung der zeitgenössischen Verhandlungen um Freundschaft und Geschwisterschaft liefern. Ausgehend von der Vorstellung des 18. Jahrhunderts als des Jahrhunderts der Freundschaft ist die Freundschaftsthematik einer der am besten erforschten Bereiche dieser Zeit.216 Deutlich geworden ist dabei, dass keineswegs von einem

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Vgl. Teil II, Kap. 1.1, Teil III, Kap. 3. Vgl. den Forschungsbericht in Teil II, Kap. 3. Vgl. die umfangreiche Bibliographie zum Thema der Freundschaft im 18. Jahrhundert von Wolfram Mauser und Eckhardt Meyer-Krentler in Mauser/Becker-Cantarino 1991, S. 311–342. Seit Kluckhohn 1922 ist das Verhältnis von Liebesverständnis und Freundschaftsbewusstsein des 18. Jahrhunderts ein stetes Thema der Forschung. Die erste Monographie zu Freundschaft im 18. Jahrhundert stammt von Rasch 1936, eine Arbeit, die immer noch Teil des Forschungsdiskurses ist, deren historischer Kontext, die Freundschaftsideologie des dritten Reichs, aber immer kritisch mit zu bedenken ist, vgl. dazu Meyer-Krentler 1984, S. 18ff., Adam 1998. Soziologisch hat erstmals Tenbruck 1964 Freundschaft als Paradigma persönlicher Beziehungen untersucht, er gilt als Kronzeuge der Formulierung vom ›Jahrhundert der Freundschaft‹, das er jedoch von 1750–1850 ansetzt (S. 436). Grundlegend für die literaturwissenschaftliche Forschung ist

einheitlichen Freundschaftsbegriff auszugehen ist, sondern von unterschiedlichen Paradigmen mit differentiellen Codierungen,217 von vielfältigen Überlagerungen mit anderen sozialen Beziehungen und individuellen Emotionen sowie von historisch,218 geographisch,219 sozial220 und genderspezifisch221 zu differenzierenden Kontexten. Auch bestehen Unterschiede zwischen dem Reden über Freundschaft und tatsächlichen Freundschaftspraxen. Als eines der wesentlichen Elemente

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Meyer-Krentler 1984, aufbauend darauf argumentieren die Beiträge in Mauser/BeckerCantarino 1991 und Van Ingen/Juranek 1998, wobei erstere Meyer-Krentlers Ergebnisse insbesondere in genderspezifischer Hinsicht und letztere unter anderem auf das 17. Jahrhundert erweitern. Pfeiffer 2000, unterscheidet drei solcher Paradigmen: die Freundschaft als Zweckbündnis, tugendempfindsame Freundschaft als sozialethisches Programm sowie Freundschaft als Leidenschaft. Insbesondere ist zwischen der Frühaufklärung, die Freundschaft im Kontext der allgemeinen Menschliebe situiert und dabei Kriterien wie Gleichheit, Geselligkeit und Zweckorientiertheit anführt, und der zweiten Jahrhunderthälfte zu unterscheiden, in der Freundschaftsbeziehungen tendenziell privatisiert und individualisiert erscheinen, vorindividualistische Freundschaftsvorstellungen aber weiterhin wirksam sind. Vgl. Meyer-Krentler 1991, S. 6ff. Meyer-Krentler 1991, S. 11f., macht nicht nur national verschiedene Freundschaftsideologien aus, sondern auch Binnendifferenzierungen innerhalb deutscher Regionen: Dominierend für die literarische Entwicklung des Freundschaftsdenkens ist der protestantisch-norddeutsche Raum. Barner 1991, S. 27, insistiert auf dem bildungsgeschichtlichen und ständischen Sonderstatus der theoretischen Wegbereiter (Leibniz, Thomasius, Wolff, Heumann) der Freundschaftsbewegung, die er alle in gelehrten, späthumanistischen Kontexten verortet, wogegen die kaufmännisch-patrizische Welt, deren Teilhaber sich ebenso wie die Gelehrten über das Medium des Briefes untereinander verbunden wussten, nicht zu den Wegbereitern der Freundschaftsideologie zu zählen sind. Das Freundschaftsideal in literarischen und philosophischen Texten schließt Frauen weitgehend aus. Pointiert formuliert hat dies Derrida in seiner Politik der Freundschaft (2002, S. 388, vgl. auch S. 372), in der er Freundschaft über den »doppelten Ausschluß des Weiblichen« definiert: Sowohl die Freundschaft zwischen Frauen als auch diejenige zwischen Mann und Frau ist im philosophischen Diskurs ausgeschlossen. Vgl. ausf. zu Derridas Dekonstruktion des Freundschaftsdiskurses und den Folgerungen, die sich daraus für die Jean Paul-Lektüre fruchtbar machen lassen Teil II, Kap. 3. Im 18. Jahrhundert wird Freundschaft zwischen den Geschlechtern entweder als missverstandene Liebe erkannt oder als idealer Zustand in der Ehe beschrieben. Freundschaft unter Frauen dagegen wird kaum eigens oder höchstens satirisch thematisiert. Vgl. Meyer Krentler 1984, S. 45f.; ders. 1991, S. 20ff; und Bengt Algot Sørensen in Mauser/ Becker-Cantarino 1991. Wie sich Frauen im 18. Jahrhundert dennoch freundschaftlich untereinander sowie mit dem anderen Geschlecht verbanden, welche gesellschaftlichen Zwänge zu überwinden waren und wie Frauenfreundschaften und die Freundschaft zwischen den Geschlechtern literarisch progressiv imaginiert werden, zeigen die Aufsätze von Barbara Becker-Cantarino, Verena Ehrich-Haefeli, Magdalene Heuser, Brigitte Leuschner und Ulrike Prokop in Mauser/Becker-Cantarino 1991 sowie von Frei Gerlach 2008. In dieser Arbeit wird die Thematik der Freundschaft zwischen den Geschlechtern an Jacobis Woldemar vertieft, vgl. Teil II, Kap. 3.1.1.

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im Freundschaftsdenken des 18. Jahrhunderts nennt Meyer-Krentler nichtsdestotrotz die Spannung von Gemeinschaftszugewandtheit und Ich-Identität und sieht diese Spannung insbesondere in den beiden Polen von individualisierter Freundesbeziehung und Freundschaftsbünden sowie den Transpositionen zwischen den beiden Modellen ausgedrückt.222 Hier besteht eine systematische Schnittstelle zum Thema der Geschwisterschaft, das – wie oben ausgeführt – im 18. Jahrhundert analog in seiner ›eigentlichen‹ und ›weiteren‹ Bedeutung sowie den Interdependenzen dazwischen verhandelt wird. Diskursiv erscheint Freundschaft im 18. Jahrhundert insbesondere in moralphilosophischen Abhandlungen, wobei vor allem den Moralischen Wochenschriften bei der Ausformulierung der »bürgerlichen Gemeinschaftsutopie« Freundschaft eine stilbildende Rolle zukam.223 Von zentraler Bedeutung für den Freundschaftsdiskurs ist zweitens das Medium des Briefes: Privatbriefe, publizierte Briefwechsel sowie das Genre des Musterbriefes sind konstitutiv für die Durchsetzung und Verbreitung des Freundschaftsverständnisses im 18. Jahrhundert. Für die diskursive Verbreitung der Freundschaftsvorstellung sorgen drittens literarische Texte, und zwar sowohl rein fiktionale Texte als auch Gelegenheitsdichtungen mit Bezugnahmen auf reale Freundschaften. Gehäuft gehen die letzten beiden Diskursträger dabei eine Verbindung ein: Ein klassischer Grundtypus des gelehrten Briefes ist die Korrespondenz über eine übersandte poetische Arbeit, Gellerts »Acht und vierzigster Brief« aus seiner Sammlung von Musterbriefen von 1751 ist ein typisches Beispiel dafür.224 Im juridischen Diskurs dagegen, sonst eine wichtige Quellenbasis für soziale Beziehungen im 18. Jahrhundert, erscheint Freundschaft nicht: Anders als Ehe, Verlöbnis und Familie ist Freundschaft kein Gegenstand des Rechtsdiskurses.225 Die verschiedenen Freundschaftsparadigmen und ihre unterschiedlichen Codierungen spiegeln sich auch in der Begriffsgeschichte. Zedlers Universal-Lexikon leitet die Freundschaft 1735 aus der »gesellschafftliche[n] Liebe« her und beschreibt sie als Zweckbündnis: »Die Bezeigungen in einer wahren Freundschafft zielen

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Vgl. Meyer-Krentler 1984, S. 20f., sowie 1991, S. 3ff. Wobei die Frage nach der möglichen Anzahl Freunde seit der Antike Gegenstand des Freundschaftsdiskurses ist, vgl. Barner 1991, S. 36. Meyer-Krentler 1984, S. 20. Zu einer differenzierten Beschreibung der wichtigsten Texte der Philosophie (Wolff, Thomasius, Heumann, Crusius) und Popularphilosophie (Moralische Wochenschriften wie Der Biedermann oder Bodmers und Breitingers Discourse der Mahler) der Frühaufklärung, über die Tugendempfindsamkeit (Gellert, Möser, Klopstock) und die Moralischen Wochenschriften der mittleren Aufklärung (Bremer Beyträge, Der Jüngling, Der Freund ) zum Fortwirken in moralischen Traktaten (Auersperg, Behrisch, Natter) und philosophischen Abhandlungen (Jacobi, Kant, Fichte, Schleiermacher) der Spätaufklärung mit einem Ausblick ins 19. und 20. Jahrhundert vgl. ebd., S. 25–69. Vgl. Gellert, Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 199f. Dazu Barner 1991, S. S. 29ff. Vgl. Meyer-Krentler 1991, S. 9f. Teil des Rechtsdiskurses ist Freundschaft nur hinsichtlich der Frage der Befangenheit vor Gericht.

auf einen Nutzen ab«. Basis der Freundschaft ist »eine Übereinstimmung der Gemüther, woraus ein mutuell[e]s Wohlwollen, und folglich eine mutuelle Gewogenheit entspringt«.226 Darin sind unschwer die zentralen Maximen frühaufklärerischer Freundschaftsauffassung zu erkennen, wie sie sich auch bei Thomasius, Wolff, Shaftesbury, Heumann und Crusius finden: allgemeine Menschenliebe, Geselligkeit, Gleichheit oder zumindest Gleichartigkeit und Zweckorientiertheit.227 Auf der Basis des Gleichheitsbegriffs führt Zedler zwei Typen von Freundschaft an: die »natürliche« und die »moralische«. Die natürliche Freundschaft gründet auf »eine natürliche Gleichheit der Gemüther, da Leute von gleichem Geschmack o[r]dentlicher Weise einander am liebsten leiden können: indem ihre Meynungen, Reden und Tun übereinstimmen.«228 Im Begriff des ›Natürlichen‹ wird das Naturgesetz fassbar, nach dem alle Menschen als Kinder einer Mutter zu verstehen sind und sich darum als Freunde wie Geschwister »so herzlich lieben sollen«: Das weit verbreitete Emblembuch Moralia Horatiana (1607) von Otto van Veen, 1656 von Philipp von Zesen ins Deutsche übersetzt, legt dar, »wie unzerbrechlich und heilig diese gesetze / welche die natur selbst mit ihrem eignen finger in aller menschen gemüther eingegraben«, sind.229 Zedler zählt denn auch zur natürlichen Freundschaft die »Bluts-Freundschafft, welche nahe Anverwandte unter einander haben, wohin auch die eheliche Freundschafft könnte gerechnet werden« sowie im weiteren Sinn die »geistliche Freundschaft« der christlichen Glaubensgemeinschaft, deren Mitglieder sich gemäß eigener Sprachregelung als Brüder und Schwestern im Herrn verstehen.230 Neben diesem nahe am Geschwistermodell konzipierten Typus der natürlichen Freundschaft beschreibt Zedler als zweites die »moralische oder tugendhaffte« Freundschaft. Diese kann auch bei unterschiedlichen »Gemüths-Neigungen« statthaben, da die »vernünftige Liebe« der Freundschaft für ein Gleichgewicht sorgt. Im Fortgang der Argumentation wird die Differenzbestimmung der zwei Freundschaftstypen begrifflich von ›natürlich‹ versus ›moralisch‹ zu ›natürlich‹ versus »wahr[e] Freundschafft« verschoben, und die Beschreibung der »Pflichten, die man einem Feund zu erweisen schuldig ist« – aus denen auch oben genannter »Nutzen« resultiert – bezieht sich ganz auf diese wahre Freundschaft. Damit zeichnet das Kriterium der freien Wahl des Sozialpartners das »wahr[e]« Wesen von Freundschaft gegenüber der Freundschaft in bestehenden – familiären oder institutionellen –

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Zedler 1961 (1735), Bd. 9, Sp. 1838. Vgl. Ritter 1972, Bd. 2, Sp. 1109f.; Meyer-Krentler 1984, S. 25–33; zu Shaftesbury auch die signifi kanten Textauszüge in Eichler 1999, S. 98–109. Zedler 1961 (1735), Bd. 9, Sp. 1838. Zitiert nach van Ingen 1998, S. 178. Zum weiteren Kontext von Freundschaftskonzepten im 17. Jahrhundert und deren emblematischer Darstellung vgl. ebd., S. 173ff. Zedler 1961 (1735), Bd. 9, Sp. 1838. Vgl. auch Sp. 1836.

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sozialen Beziehungen aus, ein Zug, der für das moderne Freundschaftsverständnis konstitutiv ist.231 Doch die Kohäsion von Freundschaft und Geschwisterschaft besteht diskursiv nicht nur im Typus der auf bestehende familiäre oder institutionelle Verbindungen bezogenen ›natürlichen‹ Freundschaft. Vielmehr ist ein Diskursmerkmal gerade der frei gewählten, ›wahren‹ oder ›moralischen‹ Freundschaft die Engführung von Freund und Bruder. Signifikant ist dies in Montaignes stilbildendem Essay Über die Freundschaft (1580) formuliert, in dem Montaigne gegebene Beziehungen von frei gewählten über das Kriterium der darin wirkenden wahrhaftigen Zuneigung unterscheidet, paradoxerweise aber gerade die wahre Freundschaft im Namen des Bruders definiert: »In Wahrheit aber ist Bruder ein schöner Name, voller Innigkeit, und deshalb gründeten wir, er und ich, unseren Bund darauf.«232 Ausgehend von dieser Privilegierung des Namens des Bruders fragt denn auch Derrida in seiner dekonstruktiven Lektüre des philosophischen Freundschaftsdiskurses von Aristoteles über Platon, Cicero, Augustinus, Montaigne, Kant zu Freud, Carl Schmitt, Nietzsche, Heidegger, Blanchot und Bataille: »Warum ist der Freund wie ein Bruder?« Dabei versteht Derrida die Engführung von Freund und Bruder als eine etwas andere Art von »Urszene«, in der »die Gestalt des Freundes regelmäßig – und das ist der entscheidende Einsatz, der in dieser Analyse auf dem Spiel steht – in den Zügen des Bruders wiederkehrt, also unmittelbar einer familiären, fraternalistischen und also androzentrischen Konfiguration des Politischen anzugehören scheint.«233 Ein weiteres zentrales Diskursmerkmal der Freundschaft und zugleich eine systematische Schnittstelle zur Geschwisterschaft ist die Gleichheit. Seit Platons Lysis ist die Frage der Gleichheit, Gleichartigkeit respektive Ausgeglichenheit als Voraussetzung von Freundschaft steter und kontrovers bearbeiteter Diskussionsgegenstand im Freundschaftsdiskurs. In der philosophisch-anthropologischen Begründung der frühaufklärerischen Freundschaftskonzeption nimmt das Gleichheitspostulat – wie es bei Zedler im Typus der natürlichen Freundschaft wirksam ist – eine prominente Stellung ein und wird bei Thomasius, Wolff und Heumann aus dem naturrechtlichten Denken hergeleitet. Ist ihm vorerst ein ständisches Differenzmerkmal inhärent,234 so wird dieses im Zuge der Egalitätstendenzen aufklä-

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Ebd. Montaigne, nach der überarbeiteten Ausgabe von 1595 in der Übersetzung von Hans Stilett, 1988, S. 99. Es geht dabei um Montaignes Freundschaftsbund mit Étienne de La Boétie. Zu einer ausf. Lektüre von Montaignes Freundschaftsessay und den intertextuellen Bezugnahmen Jean Pauls darauf vgl. Teil II, Kap. 3.1. Derrida 2002, S. 10. Den Begriff der ›Urszene‹ meint Derrida hier dezidiert nicht im psychoanalytischen Sinne, vielmehr verwendet er das Vokabular der Dramaturgie, um den systematischen Ort der untersuchten Figuration im Diskurs zu bezeichnen: Es »ist daher kaum ein erster Akt, nur eine Art Vorspiel, eine Szene vor der Szene. Gewiß etwas vollkommen anderes als eine Urszene, auch wenn die Gestalt des Freundes regelmäßig [usw.].« Zu Derridas Politik der Freundschaft vgl. auch Teil II, Kap. 3.1. Vgl. Ritter 1972, Bd. 2, Sp. 1105ff.; Barner 1991.

rerischen Denkens mehr und mehr aufgeweicht und auf alle Menschen – sofern sie bürgerlicher Herkunft und männlichen Geschlechts sind – ausgeweitet. Gleichheit respektive Ausgeglichenheit ist auch ein dominantes Merkmal in der emblematischen Darstellung von Freundschaftsbeziehung, wie sie sich vor allem im 17. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreut. Typische Bildspenderin dafür ist die Waage, die sich trotz unterschiedlicher Beladung im Gleichgewicht befindet:235 Zedlers Typus der moralischen oder tugendhaften Freundschaft, die den Ausgleich zwischen einem »hitzig[en]« und einem »gelinde[n]« Temperament schafft, lässt sich auf diese Vorstellung eines Gleichgewichts zurückführen.236 Im Sprachgebrauch des ausgehenden 18. Jahrhunderts, den Adelung und Grimm dokumentieren, ist den Begriffsbestimmungen die Erfahrung der Freundschaftsemphase der Tugendempfindsamkeit eingeschrieben. Weder Nutzen noch – erstaunlicherweise – Gleichheit fungieren nun unter den Kriterien, mit denen Freundschaft definiert wird. Hatte sich der Nutzen in der frühaufklärerischen Freundschaftsauffassung noch direkt mit der Tugend verbunden, so ist dieses Bündnis nun nicht mehr salonfähig, und Tugend wird nun per se als ein oberstes Gut verstanden. Faktisch jedoch, gerade unter Literaten, war die Zweckfreundschaft von großer Bedeutung; ein viel genanntes Beispiel dafür ist die Freundschaft von Schiller und Goethe.237 Doch auch der Gleichheitsbegriff erscheint weder bei Adelung noch bei Grimm als signifikant für Freundschaft. Bei Grimm steht ein »gleichgestimmter, gleichgesinnter« Freund unterschiedslos in einer Reihe mit Beiwörtern von gut bis verräterisch. Bei Adelung wirkt der Gleichheitsbegriffs noch im Argument der Gegenseitigkeit nach. 238 Dieser Bedeutungsschwund des Gleichheitsbegriffs für die Freundschaftsdefinition in den Lexika, die den Sprachgebrauch des ausgehenden 18. Jahrhunderts dokumentieren, irritiert angesichts der sonstigen diskursiven Präsenz von Gleichheit. Ist Gleichheit doch einer der Leitbegriffe in der Diskussion um bürgerliche Werte, Rechte und soziale Beziehungen und darüber hinaus über Jahrhunderte unverzichtbarer Teil von Freundschaftskonzeptionen. Offenbar ist es bei der Formulierung des kollektiven Wissensstandards um 1800 aber nicht mehr notwendig, das Gleichheitspostulat für die Männerfreundschaft – denn diese ist für die Freundschaftskonzeption ja bestimmend – explizit anzuführen. Dafür erscheint Gleichheit und deren schwächere Variante, die Ähnlichkeit, in den Lexika in den Begriffsbestimmungen zu Geschwistern.239 Hier hat ein Diskurstransfer stattgefunden: Gleich-

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Vgl. van Ingen 1998, S. 179. Zedler 1961 (1735), Bd. 9, Sp. 1838. Vgl. Pfeiffer 1999, Barner 1991, S. 40ff. Die Gegenseitigkeit ist ebenfalls schon ein Argument der Frühaufklärung, bei Thomasius ist die Gegenseitigkeit jedoch bedürfnisorientiert (vgl. Mauser/Becker-Cantarion 1991, S. 217), bei Adelung bezieht sie sich nun allein auf die alles dominierende Liebe; vgl. Adelung 1990 (1796), Bd. 2, Sp. 285; Grimm, Bd. 4/I,1 (1878), Sp. 162. Vgl. den lexikalischen Befund in Teil I, Kap. 2.1. Da Geschwister sowohl bei Ade-

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heit als notwendige Voraussetzung einer sozialen Beziehung zwischen zwei durch Liebe verbundenen Menschen ist in den Begriffsdefinitionen von der Freundschaft auf die Geschwisterschaft übergegangen.240 Dieser lexikalische Befund gewinnt noch an Schärfe durch die völlige Absenz von Gleichheits- oder Ähnlichkeitskriterien bei den Begriffen ›Bruder‹ und ›Schwester‹ in der Zusammenstellung des frühaufklärerischen Wissens bei Zedler: Hier werden im Gegenteil Differenzen angeführt, zwischen »vollbürtige[n] leibliche[n], Halb und Stiefschwestern« respektive zwischen »leibliche[m] und StiefBrude[r]« sowie »Brüder[n] von einem Stamm«.241 Dieselbe Akzentverschiebung innerhalb ihrer Zuordnung zu sozialen Beziehungen vollzieht auch das Bild der gleichgewichtigen Waage: Vormals stereotypes Emblem der Freundschaft, wird die konventionalisierte Metapher zu Beginn des 19. Jahrhunderts, bei Hegel, zum Signum der Beziehung von Bruder und Schwester.242 Ist das Argument der Gleichheit im popularphilosophischen Diskurs, den die Lexika des ausgehenden 18. Jahrhunderts repräsentieren, von der Freundschaft auf die Geschwisterschaft übergegangen, so findet sich die Liebe als zentrales Diskursmerkmal in beiden Beziehungsdefinitionen. Darin nähern sich die Bedeutungskonzeptionen von Freundschaft und Geschwisterschaft so sehr an, dass hier im ausgehenden 18. Jahrhundert wohl die größte semantische Durchlässigkeit besteht.243 Dagegen war Gellert in seiner moralischen Vorlesung »Von den Pflichten der Verwandtschaft und Freundschaft«, der 24. seines zwischen 1744 und 1769 stets

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lung wie auch bei Grimm auch unter den Freundschaftsbegriff fallen – und vice versa Freundschaft unter den Verwandtschaftsbegriff –, kommt damit Gleichheit quasi über die Hintertür doch wieder in die Freundschaftsdefinition hinein. Dieser Befund verliert in einer breiter abgestützten Analyse der Freundschaftsdefinitionen im ausgehenden 18. Jahrhundert notwendigerweise an Eindeutigkeit. Dennoch hat er Relevanz, da (so das Ergebnis von Meyer-Krentler 1984, S. 53) sich die Diskussion des tugendempfindsamen Freundschaftsethos – neben dem Romanschaffen, das hochkomplexe Systeme generiert, die sich nicht verallgemeinern lassen – auf popularphilosophischer Ebene vollzieht; und für dieses Wissen ist ein Lexikonbefund symptomatisch. Im philosophischen Diskurs fungiert das Gleichheitsargument jedoch weiterhin als wichtiges und – etwa bei Kant – als hoch differenziertes Argument, neben weiteren zentralen Punkten des tradierten Freundschaftsdiskurses. Diese Kontinuität lässt sich unschwer aus den Diskursregeln ableiten: Der philosophische Zugang schreibt sich bewusst von seiner Tradition her und bezieht sich damit notwendig auf diese. Zedler 1962 (1743) Bd. 36, Sp.480, und ebd. (1733) Bd. 4, Sp. 1534. Vgl. ausf. dazu Teil I, Kap. 2.1. Vgl. die Analyse von Hegels Geschwisterthese aus der Phänomenologie in Teil I, Kap. 2.3.3. Vgl. zur in der Freundschaft wirkenden Liebe Art. »Freund, Freundschaft« bei Adelung 1990 (1796) Bd. II, Sp. 283ff. und Grimm, 1878, Bd. IV/I,1, Sp. 161ff., sowie zur Herleitung der Liebe als herausragendem Definitionsmerkmal der Geschwisterbeziehung im ausgehenden 18. Jahrhundert Teil II, Kap. 2.

umgearbeiteten Vorlesungszyklus, noch sehr um eine Differenzierung der in Verwandtschaft und Freundschaft wirksamen Liebe bemüht: Die Bande der Verwandtschaft werden von der Natur geknüpft, und durch die Pflicht und den Umgang fester zusammen gezogen. Die Verbindung durch Freundschaft ist zwar auch von der Natur veranstaltet; allein sie ist doch mehr ein Werk unsrer Wahl und moralisch guter Eigenschaften. Die wahre Freundschaft setzet allezeit gegenseitige Verdienste voraus, wenigstens die Meynung derselben; in meinen Verwandten aber kann ich nicht stets das Verdienst lieben, und ihr Herz, wenn es auch gut ist, ist darum nicht mein Herz. Ich achte es hoch, aber ich fühle im genauen Verstande nicht den Reiz der Liebe. Der Freund kann nicht Freund seyn, ohne sich mit mir zur Tugend zu vereinigen; der Verwandte hingegen, dem ich Liebe schuldig bin, hat darum nicht einerley Neigungen und tugendhafte Absichten mit mir. In diesem Verstande kann man behaupten, daß die Freundschaft die höchste und edelste Verwandtschaft sey, und daß ein treuer Freund oft fester, als ein Bruder, liebe.244

Doch was Gellert an inhaltlicher Differenzierung aufbietet, ein unterschiedlicher Anteil der Natur, von Verdienst, Herz und Liebe am Herstellen der Beziehung, wird durch die semantische Durchlässigkeit der Beziehungsbegriffe im Sprachgebrauch, auch Gellerts eigenem, wieder verunsichert: Nicht nur in der angeführten Spruchweisheit, dass die Freundschaft die edelste Verwandtschaft sei, sondern auch im stilistischen Wechsel zwischen »Blutsverwandten« und »Blutsfreunde[n]« oder der Bestimmung der »Bruderliebe der Religion« als »edelste und erhabenste Freundschaft«.245 Aufschlussreich für Gellerts Beurteilung der sozialen Beziehung Verwandtschaft ist dagegen, wie ausführlich er von der Pflicht zur Tugend bei »Feindschaften unter den Blutsverwandten« und »einheimische[m] Laster der Familie« spricht: Anders als bei Adelung und Grimm ist die verwandtschaftliche Bindung noch nicht per se emotional positiv besetzt, eine positive verwandtschaftliche Beziehung ist vielmehr Ergebnis von persönlicher Anstrengung. Auch wird dabei nicht zwischen unterschiedlichen Verwandtschaftsverhältnissen differenziert, so dass hier noch nichts auf eine besondere Hochschätzung der Geschwisterbeziehung schließen lässt.246 Es zeigt sich einmal mehr, dass die spezifische Validierung der Geschwisterbeziehung eine Entwicklung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist. War Gellert in seiner moralischen Vorlesung »Von den Pflichten der Verwandtschaft und Freundschaft« noch um ein ausgeglichenes Verhältnis von »Privatliebe« und »allgemeine[r] Menschenliebe« bedacht,247 so steht im ausgehenden 18.

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Gellert, Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 256. Ebd. S. 254, 257. Ebd. S. 254f. Diese Ausgeglichenheit macht Gellert sowohl für die verwandtschaftliche als auch für die freundschaftliche Liebe geltend; vgl. Gellert, Gesammelte Schriften, Bd.6, S. 255: »So sehr wir indessen für unsere Blutsfreunde und ihr Glück zu sorgen haben: so muß diese Privatliebe doch allezeit durch die allgemeine Menschenliebe eingeschränkt werden, damit sie nicht in eine eigennützige Partheylichkeit ausarte, und dem gemeinen

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Jahrhundert die Liebe zu einer ausgewählten Person ganz im Vordergrund. Diese Exklusivität von Liebe macht spezifische Abgrenzungen erforderlich. Freundschaft bedeutet [i]m engern Verstande, gegenseitige Liebe zweyer Personen, ohne Unterschied des Geschlechts und ohne alle Absicht auf Befriedigung sinnlicher Begierden, wodurch sich die Liebe im engern Verstande von der Freundschaft unterscheidet.248

Zwei Kriterien sind es, die Liebe im engeren Sinn gemäß Adelung von Freundschaft unterscheiden: geschlechtliche Markierung und sexuelles Begehren.249 Diese Differenz ist bei Grimm in Auflösung begriffen. Zwar wird in einem der Literaturzitate zur Erläuterung des Sprachgebrauchs »ein unterschied« zwischen Freundschaft und Liebe gemacht, doch zugleich auch »liebschaft, liebe« als eine der Bedeutungen von Freundschaft genannt. Im Artikel »Freund«, der bedeutend ausführlicher ausgefallen ist, findet sich dann aber als eines der definierenden Kriterien explizit sinnliches Begehren: »freund bezeichnet, so wie liebhaber nach einer sache begehrend«. Die Objekte des Begehrens – Wein, Pferde, Hunde, Nachtigallen, Lesen, Bücher, Ordnung, Reinlichkeit, Handschrift, Worte – entschärfen hier zwar die sexuelle Konnotation. Doch nur scheinbar, denn im Gang der Lektüre wirkt diese Konnotation noch nach: »Freund bedeutet auch den geliebten, den liebhaber, friedel«.250 Die Grenzverhandlung zwischen Liebe und Freundschaft hat historisch im Briefwechsel zwischen Johann Wilhelm Gleim und Johann Georg Jacobi seine wohl markanteste Ausprägung erhalten: Die Publikation dieser erotisch aufgeladenen Korrespondenz 1768 irritierte schon das zeitgenössische Lesepublikum und irritiert nachhaltig auch die literaturwissenschaftliche Forschung.251 Auf dieser labilen konzeptionellen Grenze beruht auch die Konnotation der Homosexualität, die heutige Lektüren in diesen Texten erkennen. Diese ergibt sich jedoch vor allem aus unserem heutigen Sprachverständnis und berücksichtigt den davon unterschiedenen des 18. Jahrhunderts zu wenig.252 Denn begrifflich wird Homosexualität im

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Besten schade.« Vetternwirtschaft, ein Begriff, den Gellert allerdings nicht verwendet sondern als Sachverhalt beschreibt, sei »Sünde wider das Publicum«. Ausführlicher wird Gellert dann bei der Freundschaft, S. 256ff: »Man hat die Lobsprüche der Freundschaft oft auf Kosten der allgemeinen Menschenliebe übertrieben und die heftigsten Ausbrüche einer natürlichen Neigung, die Eines für das Andre gefühlt, zu einer heroischen Tugend gemacht.« Es folgt eine längere Passage, in der diese vermeintliche »Tugend« als »Selbstliebe« und »bloßer Naturtrieb« entlarvt wird, die »zum Verbrechen« an »der allgemeinen Menschenliebe und Gerechtigkeit« führen können. Adelung 1990 (1796), Bd. 2, Sp. 285. Im Fortgang dieses Unterabschnitts, der Liebe und Freundschaft scheidet, wird noch eine weitere Differenzierung etabliert: Auch die »eheliche Freundschaft« wird unter die obige Definition subsumiert, womit die »Befriedigung sinnlicher Begierden« aus der Ehe ausgelagert erscheint. Vgl. ebd. Grimm Bd. 4/I,1 (1878), Sp. 163ff. Vgl. Barner 1991, S. 24, dazu auch Pfeiffer 2000. So die Kritik von Meyer-Krentler 1991, S. 19.

18. Jahrhundert anders diskutiert. Im zeitgenössischen Sprachgebrauch meint die Rede von griechischer, sokratischer, manchmal auch platonischer Liebe eine homosexuelle, ältere Bezeichnungen sind Päderastie, Sodomie und Florenzen. Doch selbst in diesem Diskursfeld zeigt sich die neue Bedeutsamkeit von Geschwistern im ausgehenden 18. Jahrhundert. Die neue Begriffsbildung, die das 18. Jahrhundert in den Queer-Diskurs einführt, rekurriert nämlich nicht auf die Freundschaft, sondern die Geschwisterschaft: Es ist die Bezeichnung der »warmen Brüder«, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts neu auftaucht und im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem eingeführten Begriff für Schwule werden wird.253 Diese sexualisierte Engführung von Liebe und weiterer Geschwisterschaft wird in den Analysen zu Jean Pauls Texten jedoch keine Rolle spielen: Zu sehr ist Jean Pauls Liebessprache zwischen Freunden im Diskurs der Empfindsamkeit beheimatet. Zwar kommt es wiederholt zu Männer-Umarmungen, doch ist Jean Pauls empfindsamer Sprachgebrauch umso weniger zu resexualisieren, als das erotische Begehren der sich umarmenden Männer deutlich heteronormativ ist.254 Nachdem nun das zeitgenössische Verständnis der eigentlichen und der weiteren Geschwisterschaft dargelegt worden ist, geht es abschließend um den nach Adelung dritten Bereich: die figürliche Begriffsverwendung. Die figürliche Rede von Geschwistern ist ein eminent literarischer Bereich und so könnte hierin der Schwerpunkt in der kulturhistorischen Grundlegung dieser Studie erwartet werden. Diese Erwartung wird sich jedoch nicht erfüllen. Es erscheint mir nämlich gerade in einer literaturwissenschaftlichen Arbeit sinnvoller, an dieser Stelle knapp zu sein. Denn zum einen liegen für die Figurationen des kulturellen Imaginären, die mit Geschwisterbegriffen korrelieren, umfangreiche Forschungsresultate vor: Spiegelung, Doppelgängertum und das Androgyne sind eingeführte Forschungsfelder, die in Einzeltextanalysen oft aufgegriffen werden und zu denen auch je umfassende Darstellungen vorliegen. Zum anderen sind die literarischen Gestaltungen dieser Phänomene gleichzeitig so heterogen und je spezifisch, dass ihnen am ehesten die Einzelfallanalyse gerecht werden kann. Und das will die vorliegende Studie dann auch in ihren Jean Paul-Lektüren tun. Erwartet werden darf an dieser Stelle darum zweierlei: Die Bereitstellung minimaler Struktureinheiten von Geschwisternarrativen, wie sie sich aus repräsentativen Erzählungen des abendländischen kulturellen Imaginären isolieren lassen. Und eine Skizzierung der literaturwissenschaftlichen Forschungsfelder über Spiegelun-

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Vgl. Derks 1990, S. 88ff. Die Herkunft des Begriffs der ›warmen Brüder‹ ist laut Derks bisher nicht geklärt, die Apposition ›warm‹ – als Synonym für das 1847 erstmals belegte ›schwul‹ (etymologisch: drückend heiß) – in Verbindung mit Freundschaft findet sich, so Derks, dann erst bei Heine. Vgl. z.B. I/1,321 und zur Analyse dieser »engen Umarmung« in der »keine Entfernung [...] klein genug zu sein vermochte« und die einen »Bund der Liebe« bedeutet, Teil II, Kap. 3.2.

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gen, Doppelgänger und Androgyniefigurationen, die auf die jeweiligen Zusammenhänge mit dem Geschwisterthema fokussiert ist.

2.5

Figürliches: imaginäre Geschwisterschaften

Anders als die Geschwisterbeziehungen selbst sind die Figurationen des kulturellen Imaginären, die mit dem Geschwistermodell korrelieren, ein vielfach untersuchtes Gebiet der literaturwissenschaftlichen Forschung. Auch in der Jean Paul-Forschung sind Spiegelphänomene und Doppelgängerfiguren oft untersuchte Forschungsfelder. Das kommt nicht von ungefähr: Jean Pauls Facettenreichtum an Spiegelphänomenen scheint nahezu unerschöpflich und seine Gestaltung des Doppelgängertums gilt als maßgeblich für die deutsche Literatur. Der Siebenkäs ist mit Grimm derjenige Text, der den Begriff des Doppelgängers in die deutschsprachige Literatur eingeführt hat.255 Weniger dagegen ist zu der damit verknüpften Androgyniethematik zu finden. Das hat zum einen damit zu tun, dass sich das Androgyniemotiv bei Jean Paul erst über andere Motive – wie die Geschwisterbeziehung oder den gender trouble – erschließt. Zum anderen resultiert dies aus dem erstaunlich hartnäckigen male gendering der Jean Paul-Forschung. Denn Fragen nach Geschlecht und Geschlechterdifferenz sind noch nicht lange Thema der Jean Paul-Forschung.256 Der hier folgende Überblick über die genannten drei Figurationen ist jeweils auf die Jean Paul-Forschung zugeschnitten, sucht die einzelnen Figurationen aber von ihrer je spezifischen Grundstruktur und ihrem kulturgeschichtlichen Hintergrund her zu situieren und voneinander zu differenzieren, um schließlich die Schnittstellen zum Geschwisterdispositiv um 1800 zu fokussieren. Vorweg jedoch soll es um die im abendländischen kulturellen Imaginären tradierten Primärerzählungen gehen, die von Geschwistern handeln. Sie sollen eine kleine Handlungsgrammatik der Geschwisterbeziehung bereitstellen, wie sie in ›einfachen Formen‹ tradiert werden, wobei über die strukturalistische Beschreibung hinaus der Akt der Performanz des Erzählens und Hörens, Weitererzählens und Umschreibens mitbedacht werden soll. Dies scheint mir der Begriff der Primärerzählung am besten auszudrücken, da das – natürlich nicht absolut zu verstehende – Primäre den doppelten Präfigurationseffekt präsent halten kann. Unter Primärerzählungen verstehe ich im Folgenden also Mythen und Märchen, die stets von neuem erzählt werden, in der je individuellen Entwicklung zu den frühen Erzählerfahrungen gehören und über diese Wiederholungsstruktur das kulturelle Imaginäre onto- wie phylogenetisch präfigurieren. Ihrer Struktur nach handelt es sich dabei meist um Familiengeschichten.257

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Vgl. I/2,66f. und Grimm, Art. »Doppelgänger«, Bd. 2, 1860, Sp. 1263. Wegweisend hierfür Dangel-Pelloquin 1999. Theoretisch verortet sich der Begriff der Primärerzählung und das hier damit verfolgte

Was nun die darin handelnden Geschwister anbelangt, so ist eine deutliche Tendenz des abendländischen kulturellen Imaginären dahingehend auszumachen, dass gleichgeschlechtliche Geschwisterpaare unter das Rivalitätsparadigma und differentgeschlechtliche Geschwisterpaare unter das Liebesparadigma fallen.258 Da sich in den horizontalen Konstellationen um 1800 die Bruder-Schwester-Beziehung als dominierende herausgestellt hat, soll es im Folgenden vor allem um Geschwisternarrative gehen, die von Bruder-Schwester-Paaren erzählen. Auch zu diesem Thema finden sich schon systematische Zusammenstellungen in der Forschung, namentlich in Untersuchungen zur Inzestthematik,259 so dass hier eine exemplarische Vorstellung der Narrative genügt. Genaueres sei den konkreten Lektüren zu Jean Pauls Texten vorbehalten, wenn es um die Frage gehen wird, wie im literarischen Text spezifische Mythologeme und Versatzstücke aus unserem kulturellen Imaginären bearbeitet werden.260 2.5.1

Primärerzählungen: Mythen und Märchen

Die Geschwisternarrative der Primärerzählungen des abendländischen kulturellen Imaginären weisen das ganze Spektrum von unverbrüchlicher Liebe bis tödlichen Hass auf.261 Dabei handeln vorzugsweise Bruder-Schwester-Narrative von einer Liebe, die selbst existenzielle Grenzen überschreitet und je nachdem auch weit hinter sich lässt. Ihre stilbildende Wirkung erhalten diese Primärerzählungen dadurch, dass sie über Generationen hinweg die narrative Sozialisation gestalten: Es sind die tradierten und stets neu erzählten Märchen und Mythen, die zu den ersten Erfahrungen mit Fiktionalität in der Kindheit gehören. Die Repräsentativität dieser

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Erkenntnisinteresse in der Nachfolge der strukturalistischen Märchenanalyse, wie sie Vladimir Propp als Morphologie des Märchens 1927 begründet hat, vollzieht aber eine poststrukturalistische Öffnung der strukturalen Beschreibung, in dem die Performativität der jeweiligen Aktualisierung mitbedacht wird, die ja gerade bei den so genannt ›einfachen Formen‹, zu denen – nach André Jolles 1930 – Märchen und Mythen zu rechnen sind, besonders ausgeprägt ist. Umberto Eco, dessen erzähltheoretischen Begriffe diese Studie ansonsten favorisiert und an dessen rezeptionstheoretischer Öffnung der strukturalen Textanalyse die hier verfolgte Perspektive auch orientiert ist, bietet dafür den Begriff der maximalen intertextuellen Szenographie an. (Eco 1987, S. 102) Dieser Begriff erscheint mir aber nicht praktikabel zu sein, gerade im Kontext dieser Studie, die ja mit Szenographien argumentiert und für die Distinktion umständliche Appositionen einführen müsste. Hilfreich dagegen wäre für eine – hier nicht vorgenommene – Vertiefung der performativen Aktualisierungen im Weitererzählen, Nieder- und Umschreiben dagegen die Forschung zum Volksmärchen, die nach Mündlichkeit, Schriftlichkeit und den dabei durchlaufenen Transformationsprozessen fragt. Vgl. hierzu Bausinger 1980. Vgl. dazu Teil I, Kap. 1.5. Vgl. Vielhauer 1979, Schoene 1997. Vgl. dazu v.a. Teil II, Kap. 4. Vgl. zu den Märchen die systematischen Zusammenstellungen in der Enzyklopädie des Märchens, 1977ff., Bd. 2, Sp. 950ff. und Bd. 12, Sp. 421ff.

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Primärerzählungen erweist sich über diesen Sozialisationseffekt hinaus darin, dass sie nicht nur Anlass zum Weitererzählen, sondern auch zur kulturhistorisch immer wieder neu ansetzenden Reflexion und zum Um- und Neuschreiben bieten.262 Als Leiterzählung in diesem Sinne hat meiner Argumentation bisher das Antigone-Narrativ gedient, das unsere Vorstellungen über die Beziehung von Bruder und Schwester nachhaltig geprägt und zu zahlreichen Reflexionen und philosophischen wie künstlerischen Transpositionen Anlass gegeben hat. Die Antigone, insbesondere in der Gestalt, die ihr Sophokles um 442/1 v. Chr. gegebenen hat, gehört damit zweifellos zu den wirkungsmächtigsten Geschwisternarrativen. Ein diskursiv nicht immer so präsentes, durch sein beeindruckendes Alter aber nicht weniger repräsentatives Geschwisternarrativ ist der altägyptische Stoff um Isis und Osiris.263 Sein Aktantenschema bestätigt einmal mehr die These der homophoben und heterophilen Struktur der Geschwisternarrative. Für die abendländische Rezeption des schon im dritten Jahrtausend vor Christus in Pyramidentexten dokumentierten und in diversen, sich widersprechenden Überlieferungssträngen tradierten Stoffes zentral geworden ist die Fassung, die Plutarch erzählt.264 Wichtig sind daneben auch die Hinweise in Diodors Bibliotheca Historica.265 Laut Plutarch liebten sich die Geschwister Isis und Osiris »schon vor ihrer Geburt und wohnten einander im Mutterleibe in der Finsternis bei«. In der späteren Überlieferung des Stoffes gelten Isis und Osiris gemeinhin als Zwillinge. Plutarch ist da noch genauer: Osiris ist der Erstgeborene und Isis die Viertgeborene von Fünflingen, unter denen auch die zentralen anderen Protagonisten sind. Seths Rolle als Bösewicht ist dabei schon in seiner Geburt angelegt: Er kommt »nicht zur richtigen Zeit und nicht aus dem gehörigen Orte« zur Welt, sondern spaltet die Weiche seiner Mutter, um dort herauszuspringen.266 Die Götterkinder herrschen als Geschwistergatten über die Welt und gelten vor allem bei Diodor als große Kulturbringer: Als Inzestpaar sind sie positiv konnotiert.267 Das Unheil erwächst nicht daraus, sondern aus Hass: Osiris wird von

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Der Begriff des Primären ist darum nicht absolut zu verstehen, sondern als Marker, der auf den onto- wie phylogenetischen Präfigurationseffekt dieser Erzählungen verweist. Vgl. zur Tradierung der Isis und Osiris-Szenographie in Literatur und bildender Kunst Frei Gerlach 2000. Vgl. Plutarch 1940/1. Vgl. Diodor 1992/3, Teil 1, 1. Buch, Kap. 11ff. Plutarch, Kap. 12; zitiert nach Hopfner 1940/1, Bd. 1, S. 3. Im Gegensatz zu Plutarchs und Diodors eigenem kulturellem Erbe erscheint die inzestuöse Geschwisterbeziehung in der ägyptischen Mythologie als legitime Praxis. Dieses Wissen, dass die »Egyptier« die »Gewohnheit« hatten, »ihre Schwestern zu heyrathen, weil dergleichen Ehen zwischen dem Osiride und der Iside glücklich gewesen seyn sollte«, erscheint im Artikel »Blutschande« von 1733 in Zedlers Universal-Lexikon mit Berufung auf Diodor als gesichertes Wissen in der Inzestargumentation nach dem iure gentium und kehrt auch in literarischen Texten wieder. So etwa in der Inzestdebatte in der Erzählung des Marchese in Goethes Meister, in der Augustin das ethnohistorische

seinem Bruder Seth heimtückisch ermordet. Den toten Körper zerreißt Seth – bei Plutarch in 14, bei Diodor in 26 Stücke – und zerstreut die Teile über das ganze Land. Isis aber findet nach langer Suche die einzelnen Körperteile,268 fügt sie wieder zusammen und belebt den Leichnam durch ihren Klagegesang und ihre sexuelle Aktivität von neuem, nun für das ewige Leben im Jenseits. Seit dem regiert Osiris als Gott die Unterwelt.269 Die Elterngeneration spielt in diesem Geschwistermythos keine Rolle, die Sache wird unter Geschwistern geregelt.270 Bemerkenswert daran ist nicht nur die den Tod überwindende Liebe der Schwester zu ihrem Brudergatten, sondern auch, dass die ganze Aktivität bei der Schwester liegt: Sie ist es, die schützt, sucht und heilt, sie beklagt und belebt, bei ihr liegt die sexuelle Aktivität, und schließlich verhilft sie Osiris zu seiner dann bleibenden Stellung als Gott der Unterwelt. Von erlösenden Schwestern, die ihrer Liebe zum Bruder wegen auch existenzielle Grenzen verschieben können, wissen auch Märchen zu erzählen. In diesem Genre haben im deutschen Sprachraum die von den Brüdern Grimm zu Beginn des 19. Jahrhunderts gesammelten und literarisch bearbeiteten Kinder- und Hausmärchen (1812/1815) eine stilbildende Wirkung.271 Aus dieser Sammlung sei hier paradigmatisch »Brüderchen und Schwesterchen« genannt, andere Märchen mit vergleichbaren Handlungsgrammatiken wären »Die zwölf Brüder«, »Hänsel und Gretel«, »Die drei Raben«,272 »Die sechs Schwäne« oder »Die weisse und die schwarze Braut«. Wie in den obigen mythischen Stoffen auch, ist in »Brüderchen und Schwesterchen« ein Geschwisterpaar von der vertikalen Genealogie abgeschnitten: Allein im Wald schlagen sich Brüderchen und Schwesterchen durch. Die enge Geschwisterbindung trotzt selbst der Verwandlung des Brüderchens in ein Reh, die wohl nicht zuletzt den Zweck erfüllt, die Einhaltung des Inzesttabus bei den von allen anderen Menschen getrennt aufwachsenden Geschwistern zu garantieren, müssten bei der Sexualität mit dem Bruder, der zugleich ein Tier ist, doch gleich zwei gravierende Tabus verletzt werden.

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Argument der »edle[n] Völker, die eine Heirat mit der Schwester billigten« anführt. Vgl. Zedler 1961 (1733) Bd. 4, Sp.252f. Goethe, Werke, Bd.7, S.583. Bis auf den Phallus, dieser ist von den Fischen des Nils gefressen worden. An Stelle des unauffindbaren Geschlechts fügt Isis ihrem Brudergatten darum einen künstlichen Phallus an. Daneben existiert auch die Version, dass die Körperteile des Osiris einzeln an ihren Fundorten begraben sind, wobei die Grabpfleger von Isis jeweils – auch mit Hilfe von Nachbildungen des Körpers – im Glauben belassen wurden, hier ruhe der ganze Osiris. Vgl. Plutarch, Kap. 18,21; Diodor, 1. Buch, Kap. 22. In der Folge kommt die Generation der Kinder ins Spiel, die den Vater zu rächen sucht. Isis ist denn auch zugleich als Muttergottheit überliefert. Die Kinder- und Hausmärchen erschienen in erster Auflage 1812 (Band 1) und 1815 (Band 2), wurden dann für die maßgeblich gewordene zweite Auflage von 1819 nochmals deutlich überarbeitet. Im Folgenden beziehe ich mich auf die erste Auflage von 1812/15. Ab der zweiten Auflage heißt das 25. Märchen »Die sieben Raben«.

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Auch hier ist es durchwegs die Schwester, die den Bruder zu beschützen sucht. Aufgesprengt wird die enge Geschwisterbindung erst durch die Einführung in die Gesellschaft und die prestigeträchtige Heirat der Schwester, die ein Mordkomplott von Stiefmutter und -schwester gegen das Schwesterchen hervorruft. Doch die Bindung der Schwester zu ihrem Bruder und neu auch zu ihrem Kind überwindet den Tod und führt schließlich zur Erlösung beider Protagonisten, die im Schlusssatz wieder vereint sind: »und Brüderchen und Schwesterchen waren wieder beisammen und lebten glücklich ihr Lebelang.« In diesem glücklichen Märchenschluss ist allein von Bruder und Schwester, nicht aber von Ehemann und Kind die Rede.273 In den hier vorgestellten Primärerzählungen ist es immer – und in einem breiter gefassten Spektrum bleibt es meistens – die Schwester, die rettet und dafür ihre eigene Existenz aufs Spiel setzt. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Geschwisterliebe die Grenze zur Geschlechterliebe überschritten hat, die Schwester als solche ist in diesen Primärerzählungen meist als liebende und erlösende Figur konzipiert. Selbstverständlich gibt es auch liebende und den eigenen Tod für die Schwester in Kauf nehmende Brüder, doch sind diese vergleichsweise in der Minderheit: Zu dieser dominierenden Geschlechterkonstellation in den Primärerzählungen unseres kulturellen Imaginären haben sich literarische Texte immer auch zu verhalten, die ihre je eigenen Geschwisternarrative entwerfen. 2.5.2

Figurationen des kulturellen Imaginären: Spiegelung, Selbstverdoppelung, Androgynie

Die in der Literatur um 1800 gehäuft auftretenden Figurationen Spiegelung, Doppelgängerschaft und Androgynie sind Diskursprodukte, beziehen ihre nachhaltige Wirkung aber nicht nur durch ihre vielfältige künstlerische Tradierung, sondern auch aus einer Verankerung in konkreten Erfahrungen und Wahrnehmungen sowie in Primärerzählungen, die die spezifischen Figurationen narrativ begründen. Die drei Figurationen sind eng untereinander vernetzt und weisen eine ganze Reihe von Schnittmengen auf, deren eine die Geschwisterbeziehung ist. Wenn die Figurationen im Folgenden aus ihrer Genealogie heraus systematisch getrennt dargestellt werden, so ist dabei immer mit zu bedenken, dass die Grenzen dazwischen porös und in der ästhetischen Gestaltung fließend sind. Spiegelung bedeutet als Phänomen erstens die Wahrnehmung mit Hilfe eines optischen Instruments von etwas, was ist, aber nicht unmittelbar sichtbar ist. Sie steht zweitens in den gängigen Persönlichkeitstheorien auch des 18. Jahrhunderts für einen als notwendig erachteten Schritt zur Selbsterkenntnis und sie kann drittens ein Effekt der Täuschung, sie kann Vorspiegelung von etwas, was nicht ist, sein. Die literarische Gestaltung von Spiegelmotiven partizipiert an allen drei Deutungskontexten und akzentuiert je nachdem den einen oder anderen stärker. Me-

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Grimm 1812, S. 38.

taliterarisch ist vor allem die erste Bedeutungsebene relevant: Sowohl in poetologischen Reflexionen als auch in der Literaturtheorie bis hin zur konventionalisierten Wissenschaftssprache im Allgemeinen ist die Vorstellung von der ›Kunst als Spiegel von‹ wirksam. Dahinter steht die auf Aristoteles zurück gehende Vorstellung von Kunst als Mimesis von Welt. An avancierten Spiegelpoetologien um 1800 seien exemplarisch genannt das 116. »Athenäums-Fragment« Friedrich Schlegels, dessen Formulierung von der »endlosen Reihe von Spiegeln« die Vorstellung romantischer Ironie nachhaltig geprägt hat, sowie Jean Pauls Überlegungen zur Spiegelschrift in der Vorschule.274 Literaturtheoretisch hat sich vor allem die marxistisch geprägte Widerspiegelungsthese mit Kunst als Spiegel der Gesellschaft befasst, eine Vorstellung, die inzwischen komplexeren theoretischen Modellen gewichen ist, sich in konventionalisierter Form jedoch auch gegenwärtig in einer Vielzahl von wissenschaftlichen Arbeiten ›spiegelt‹.275 Der Ursprungsmythos für die narrative Gestaltung der Spiegelung handelt von Narziss, stilbildend dafür ist die Fassung, die Ovid in den Metamorphosen (ca. 1 v.–10 n.Chr.) erzählt: Verliebt in sein eigenes Spiegelbild, muss Narziss vor unerfüllbarer Sehnsucht nach einer Trennung seines Abbildes von sich selbst und der Vereinigung mit diesem vergehen.276 Die Schnittstelle zwischen Spiegelphänomen und der Geschwisterkonstellation ergibt sich aus der analogen Grundstruktur einer Zweiheit des annähernd Gleichen respektive sehr Ähnlichen: Spiegelfiguren können sich in der literarischen Gestaltung auch anders als im Narzissmythos von ihrer nur mittelbar möglichen Herstellung lösen und ein Eigenleben entwickeln, das lebensweltlich in der Konstellation von sich zum Verwechseln ähnlichen Zwillingen sein Vorbild hat:277 Seit Plautus’ Menaechmi (200 v.Chr.) sind Zwillinge dafür ein verbürgter Rahmen.278 In literarischen Texten kann darum von Geschwistern als Spiegelfiguren oder von

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Vgl. KFSA 2,182f. und Jean Paul, I/5,158, vgl. ausf. zu letzterem Teil III, Kap. 4.3. Eine grundlegende Studie über Spiegelphänomene in Literatur und Kunst hat Nibbrig 1987 vorgelegt, auf Jean Paul geht er dabei vor allem im Kontext der romantischen Poetologie ein. Neben den Forschungen zur romantischen Ironie wird in der Literaturwissenschaft vor allem auch in der Mediävistik nach Spiegelungen gefragt, ist die Frage der Sichtbarkeit doch zentral in der höfischen Literatur, vgl. Wenzel 2009. Die Kategorie der Visualität, die mit dem Spiegel gegeben ist, hat in jüngerer Zeit zahlreiche Untersuchungen zu Spiegelphänomenen im Film motiviert, wobei diese meist zugleich unter den Begriff des Doppelgängers gestellt werden. Die entsprechende Literatur wird darum bei der Erörterung der Forschung zum Doppelgängermotiv aufgelistet. Wegweisend für die marxistisch geprägte Widerspiegelungsthese waren die Schriften von Georg Lukács (1916,1923) und die Beliebtheit der Redewendung von ›Kunst im Spiegel von‹ wird bei einer entsprechenden Suchanfrage in einem Bibliothekskatalog sogleich evident. Vgl. Ovid, Metamorphosen, 3.339–510, bes. Vers 405ff. Doch auch der Narzissmythos ist mit der Zwillingskonstellation verbunden worden: In der Wiedergabe bei Pausanias ist Narziss in seine Zwillingsschwester verliebt, deren Bild er nach ihrem Tod in seinem eigenen Spiegelbild erinnert. Vgl. dazu Schoene 1997, S. 35. Auch Jean Paul beruft sich auf diese Tradition der »zwei ähnliche[n] Brüder und

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Spiegelfiguren als Geschwistern erzählt werden, wobei sich der Ursprungskontext der Spiegelung von Urbild und Abbild, Selbsterkenntnis und Täuschung in die Geschwisterfiguren mit hineinschreibt. Diese Engführung von Spiegelung mit Zwillingen hat sich als so prägend erwiesen, dass Zwillingsfiguren in der Literatur oft auch vorschnell als Spiegelfiguren gelesen werden: so Jean Pauls Zwillinge Walt und Vult aus den Flegeljahren, die als Literaten poetologisch ausdrücklich auf Spiegelschrift referieren, sich als Zwillingsfiguren aber gerade nicht in ein Spiegelverhältnis einpassen lassen.279 In der Literatur um 1800 sind Spiegelungen des erzählenden egos ein gern genutztes Mittel, um die Setzung des Selbstbewusstseins abzubilden, der Erkenntnis – um es mit Jean Pauls viel zitierter Aussage der Selberlebensbeschreibung (1818/19) zu sagen – des »ich bin ein Ich«. (I/6,1061)280 Eine Erkenntnis, die sich in Jean Pauls Texten auch zu jener Gewissheit verdichten kann, die sich mit Rimbaud und Lacan als »Ich ist ein anderer« fassen lässt.281 Als »Wiederholungen des Ich«, (I/2,430) die zugleich das Potenzial der Differenz bieten, werden darum seit Kommerell Jean Pauls vielfältige Spiegelfiguren, Ichverdoppelungen, Zwillingsbrüder und selbst die Freundespaare gelesen.282 Eng mit der Spiegelung verknüpft ist die Figuration des Doppelgängers. Literarisch vor allem seit der Romantik – und hier ist namentlich E.T.A. Hoffmann zu nennen – produktiv geworden, fasziniert das Phänomen des Doppelgängers seither ungebrochen sowohl Kunstschaffende wie -rezipierende und hat gerade in jüngster Zeit eine enorme Forschungstätigkeit darüber angeregt, insbesondere zu filmischen

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Menächmen« in der Vorschule und überführt sie aus der Verwechslungskomödie in die Doppelgängerthematik, die mit dem »Schaudern« einhergeht (I/5,113). Vgl. ausf. dazu Teil III, Kap. 1.3, 4.3. »Nie vergeß’ ich die noch keinem Menschen erzählte Erscheinung in mir, so ich bei der Geburt meines Selbbewußtseins stand, von der ich Ort und Zeit anzugeben weiß. An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht ›ich bin ein Ich‹ wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen blieb: da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig.« (I/6,1061) An der Selberlebensbeschreibung, mit deren Absicht sich Jean Paul schon lange trug, hat er in den Jahren 1818/19 geschrieben, publiziert wurde sie erstmals posthum von Christian Otto 1826 in Wahrheit aus Jean Pauls Leben. Lacans Aufsatz »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion« (1949) fasst diese zentrale These anhand des Spiegelns, die mit Rimbaud verbundene Formulierung findet sich dann in »Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse« in der ersten Vorlesung von 1954: Die »Freudsche Entdeckung [... der] Dezentrierung« des Ichs »wird sehr schön durch die blitzende Formulierung Rimbauds zum Ausdruck gebracht – die Dichter, die bekanntlich nicht wissen, was sie sagen, sagen trotzdem die Dinge immer vor den anderen – Je est un autre / Ich ist ein anderer.« (Lacan 1980b, S. 14) Vgl. Kommerell 1933, S. 11. Vgl. dazu den kurzen Forschungsüberblick bei Dangel-Pelloquin 1999, S. 14f., spezifisch zum polyvalenten Spiegelmotiv in Jean Pauls Titan vgl. Bosse 1970, S. 217ff.

Umsetzungen.283 All diesen Arbeiten ist – sofern sie die Anstrengung des Begriffes leisten – eines gemeinsam: Sie beginnen mit Jean Paul. Genauer mit jener Fußnote des Siebenkäs, in der Jean Paul den von ihm neu eingeführten Begriff des »Doppeltgänger« erklärt: »So heißen Leute, die sich selber sehen.« (I/2,66f.) Es ist evident, wie eng diese erste Begriffskonzeption an die Vorstellung vom Spiegel gebunden ist. Besonders hervorzuheben ist daran aber die Differenz, die sich zum heutigen Begriffsverständnis des Doppelgängers ergibt: Jean Paul versteht im Siebenkäs unter dem Doppelgänger das Subjekt, nicht das gespiegelte Objekt, also das sehende erste und nicht das wahrgenommene zweite Ich. In seinen literarischen Konkretisierungen und poetologischen Reflexionen kann diese Ich-Verdoppelung sowohl bedeuten, sich in einem ebenbildlichen Anderen wieder zu erkennen, als auch sich selber zu objektivieren, insbesondere im Schreiben.284 Die erste Bedeutung hat Jean Paul im Figurenpaar des Armenadvokaten Firmian Siebenkäs und seines ebenbildlichen Freundes Leibgeber paradigmatisch umgesetzt, die darauf hin beide in vielerlei Varianten und Ableitungen, aber auch als explizite Wiedergänger durch den Jean-Paul’schen Werkkosmos spazieren.285 Die Ich-Spaltung als Grundlage der schriftstellerischen Tätigkeit ist ein Leitgedanke von Jean Pauls poetologischen Reflexionen, insbesondere im Kontext seiner Humor-Theorie, und tritt expressis verbis in Verbindung mit dem Doppelgängerbegriff und dessen erster Definition im Siebenkäs in Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf (1799) auf: »Als ein Doppeltgänger hab’ ich in der Konjektural-Biographie mich selber gesehen und gemalt.« (I/4,928) Die Vorstellung der Doppelgängerfiguration als solche setzt aber natürlich nicht mit Jean Paul ein, sondern ist bedeutend älter. Schon im antiken Drama findet sich die Figur der Selbstverdoppelung als Reflexionsmedium, die göttlich bewerkstelligte Verdoppelung in Abbild und Urbild oder die Vorstellung des Schat-

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Vgl. Hergret 2009, Ritter 2009, Dettmering 2007, Lachenmeier 2007, Bär 2005, Rüffert 2005, Fröhler 2004, Heinemann 2001, Fichtner 1999, Forderer 1999, Moraldo 1996, Webber 1996, Böschenstein 1987, Hildenbrock 1986, wobei nach wie vor die Arbeiten von Böschenstein und Webber grundlegend für einen Überblick über die literarische Doppelgängerthematik bleiben. Von den neueren Arbeiten ist Bär hervorzuheben, der die ganze Spannbreite der Doppelgängerkonzeptionen fundiert und textgenau aufarbeitet sowie auf eine komparatistische Perspektive hin öffnet. Dies ist in der Forschung schon wiederholt und ausführlich herausgearbeitet worden, vgl. Bär 2005, S. 9ff., Heinemann 2001, S. 193ff., Webber 1996, S. 56ff., Forderer 1999, S. 37ff., sowie Préaux 1986. Um ein Beispiel einer typisch Jean-Paul’schen Doppelgängerkulmination zu geben: So spaziert die Figur Siebenkäs (aus dem Siebenkäs) im Titan genau auf jenen Wegen, auf denen gerade die mit Siebenkäs ebenbildliche Titan-Figur Schoppe (die damit zugleich ein Ebenbild von Siebenkäsens Doppelgänger Leibgeber aus dem Siebenkäs, und wie der Anhang zum Titan dann insinuiert, tatsächlich Leibgeber ist) geht, und löst beim Zusammentreffen mit Schoppe, dessen Ich durch ein sowohl philosophisch als auch optisch »[a]us den Spiegeln der Spiegel« blickendes »Ichs-Volk« (I/3,796) schon aufs Äußerste erschüttert ist, den Tod aus.

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tenbildes, das die Seele als Abbild des Körpers und damit den Tod meint.286 Die letzte Isotopie prägt die Aura des Unheimlichen, die Doppelgängervorstellungen anhaften kann und sich in der Szenographie vom Doppelgänger als Ankündigung des Todes oder dem so genannten ›zweiten Gesicht‹ manifestiert. Auch der psychoanalytischen Theoretisierung des Unheimlichen und der Dissoziation des Ichs in Wahnvorstellungen liegt ebenso wie den androiden Doppelgängern vor allem diese angstbesetzte Doppelgängerbedeutung zu Grunde.287 Auch wenn die Facetten der Doppelgängerfiguration äußerst vielfältig und kulturhistorisch aus vielerlei Vorstellungen und Diskursen gespeist sind, so nimmt Jean Paul in der Geschichte der Doppelgängerimaginationen eine herausragende Stellung ein. Allgemein gesehen ist diese neben der begrifflichen Pionierleistung vor allem im Facettenreichtum seiner Doppelgängerfiktionen begründet, die von ebenbildlichen Figurenpaaren über Maschinenmenschen zu Geistererscheinungen und metaliterarischen Reflexionen reichen. Entscheidend für Jean Pauls nachhaltige Wirkung ist darüber hinaus, dass und wie er die Doppelgängerfiguration mit der zeitgleich sich formierenden Philosophie des Ichs in Beziehung setzt.288 In der Perspektive dieser Arbeit liegt der Zugewinn der Beschäftigung mit Jean Pauls Doppelgängern in der Verbindung mit der Geschwisterbeziehung. Sind nämlich Jean Pauls erste so genannte ›Doppeltgänger‹ Freunde, so die zweiten Geschwister. Unter dem Titel »Die Doppeltgänger« (1800) berichtet eine kleine Erzählung im komischen Anhang des Titan von »Koppelzwillingen« mit dem Familiennamen Mensch. Die zusammengewachsenen Zwillingsbrüder Peter und Seraph müssen als von Temperament und Fähigkeiten her ungleiches Brüderpaar durch ihren Zusammenschluss im teilweise gleichen Körper exemplarisch das Dilemma von Einheit und Differenz tagtäglich als unlösbares erfahren: Durch ihren Familiennamen und unterstützt durch die Schlusssätze dieser erzählerischen Miniatur verweisen sie allegorisch auf die grundlegende anthropologische Bedeutung dieses »tolle[n] Bündnis[ses]«. (I/3, 839,844)289 In dieser wenige Jahre nach dem Siebenkäs geschriebenen Erzählung ist der Begriff des Doppelgängers schon neu akzentuiert. Er hat

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Vgl. Böschenstein 1987, S. 338ff. Die Verdoppelung als Reflexionsmedium tritt – laut Böschenstein erstmals – in der euripideischen Medea, Abbild und Urbild treten in der Helena des Euripides und Schattenbilder in Homers Odyssee in Erscheinung. Vgl. dazu Meyers Großes Konversationslexikon von 1889ff., 5,70 und 16,1013, das das Stichwort ›Doppelgänger‹ nicht füllt, sondern auf das ›zweite Gesicht‹ verweist und dort mit regionalen Besonderheiten dieser Gabe des Sehens aufzuwarten weiß. Zur psychoanalytischen Theoretisierung des Doppelgängermotivs vgl. Rank 1925 (1914) und Freud Das Unheimliche (1919), Schriften IV, S. 242–272. Die Konnotation des Unheimlichen prägt auch die englische Verwendung des deutschen Lehnwortes ›Doppelganger‹, das umgangssprachlich bezeichnenderweise mit ›evil twin‹ synonymisiert wird. Vgl. insbesondere Jean Pauls kritische Auseinandersetzung mit Fichte, die im komischen Anhang des Titan in der Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana ihren Höhepunkt hat. Zur umfangreichen Forschung dazu vgl. Teil III, Kap. 1.2. Vgl. ausf. dazu Teil III, Kap. 4.2.

sich von seiner konzeptionellen Grundlage im Spiegel gelöst und meint keine ebenbildliche Austauschbarkeit, sondern ist wörtlich gemeint: Die am Rücken zusammengewachsenen Zwillinge müssen notwendigerweise überallhin gemeinsam und also im Doppel gehen. Die Zwillinge Mensch referieren anthropologisch gerade nicht auf eine Figur von Identität, sondern auf eine der Differenz. Jean Paul eröffnet mit seinen Spiegelfiguren und Doppelgängern eine horizontale Reihe, deren eine existenzielle Verankerung diejenige der Geschwisterreihe ist. Doch in die Engführung der »Wiederholungen des Ich« (I/2,430) mit dem Geschwister ist eine grundlegende Unvereinbarkeit eingeschrieben: Anders als die selbsterzeugten Ichdoppelungen ist die Existenz eines Geschwisters vom ego nicht zu verursachen, dies ist ja der Kern jener »Satzung«, von der her Antigone ihr Handeln herleitet.290 Gerade auf poetologischer Ebene fordert ebendiese Satzung den außerordentlich zeugungs- und gebärfreudigen Erzähler Jean Paul heraus, wie die Analyse der Geschwister-Poetologien zeigen wird.291 Spiegelung und Doppelgänger sind Wiederholungen im eigenen – und das bedeutet in der Literatur des 18. Jahrhunderts gewöhnlich: männlichen – Geschlecht, darum fungieren als Geschwisterfiguren dafür in erster Linie Brüderpaare. Auf die Beziehung von Bruder und Schwester übertragen ermöglicht die Phantasie der Selbstverdoppelung jedoch, dass sich das ego ein alter ego als anderes Geschlecht gegenüberstellen und so Geschlechtergrenzen transzendieren kann. Auch in zeitgenössischen Selbstzeugnissen ist das Sehen des Selbst im Andern nicht nur mit der Doppelgängerkonstruktion, sondern auch mit der Beziehung von Bruder und Schwester verknüpft worden. So schreibt Clemens Brentano an Achim von Arnim, den späteren Ehemann seiner Schwester Bettine, am 8. September 1802: »Meine Liebe zu ihr ist selbst nicht ächt, ich stehe mit Scheu neben ihr, weil sie mir nichts zeigt, als ein schöneres Bild meiner selbst«; und wenig später, in einem Brief an Johanna Kraus, argumentiert er mit Bettine, als sei sie eine Doppelung von ihm und nennt sie schließlich sein »Ebenbild«.292 Zugleich hält Brentano die Geschlechterdifferenz präsent, und situiert damit sowohl sich als auch Bettine im Kontext des Androgyniediskurses. Wie oben gezeigt geworden ist, steht das Bruder-Schwester-Paar im kulturellen Imaginären um 1800 vielerorts an der prekären Grenze zum Inzest. Darum liegt es nahe, dass die Diskurse der Androgynie und des Geschwisterinzestes im 18. Jahrhundert eine Reihe von Schnittstellen aufweisen.293 Dies wird etwa im Liliengleichnis aus der Inzestdebatte in Goethes Wilhelm Meister deutlich, in der es um

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Sophokles 1995, Vers 909, vgl. dazu Kap. Teil I, Kap. 1.1. Vgl. dazu Teil II, Kap. 4 und Teil III, Kap. 4. Brentano, Werke, Bd. 29, S. 503, 522. Vgl. dazu Aurnhammer 1986, S. 137ff.

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die naturrechtliche, theologische, moralische und juridische Legitimität der Inzestbeziehung zwischen dem Geschwisterpaar Augustin und Sperata geht:294 Seht die Lilien an: entspringt nicht Gatte und Gattin auf e i n e m Stengel? Verbindet beide nicht die Blume, die beide gebar, und ist die Lilie nicht das Bild der Unschuld, und ist ihre geschwisterliche Vereinigung nicht fruchtbar?295

Es ist die Vorstellung der Selbstbefruchtung als der Vereinigung mit dem eigenen Wesen, in der sich die Diskurse der Androgynie und des Inzestes treffen. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts galt Hermaphroditismus als Norm pflanzlicher Sexualität, Goethes eigene Suche nach der einen Urpflanze impliziert notwendig deren androgyne Anlage. Diese These entsprach zwar nicht mehr dem neuesten Stand des botanischen Wissens zur Zeit der Arbeit am Meister, wird im literarischen Text aber als wichtiges Argument eingesetzt.296 Verknüpft wird damit auch die Unschuldsvermutung, die in der Inzestdiskussion am ehesten Geschwistern zugesprochen wird, ganz besonders, wenn sie von ihrer Verwandtschaft nicht wissen.297 Ihre anthropologische Verankerung hat die Vorstellung der Androgynie im zwar seltenen, aber nachweislich existenten Phänomen des Hermaphroditen. War dieses Wissen um hermaphroditische Sonderfälle in der Neuzeit Gegenstand des wissenschaftlichen Diskurses,298 so wird es im aufklärerischen Denken zwar weiter tradiert, aber als »ganz falsch« dargestellt: Die deutsche Ausgabe von Pierre Bayles

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Vgl. ausf. dazu Frei Gerlach 2003, S. 220ff. Goethe, Werke, Bd. 7, S. 584. Interessanterweise findet sich bei Grimm diese Goethestelle ohne Hinweis auf die Problematik der Blutschande als Beleg unter dem Artikel »Geschwisterlich«, der daneben die Bedeutungen »wie Geschwister gesinnt«, »geschwisterlich lieben« und »sich geschwisterlich vertragen« versammelt. Vgl. Grimm, Bd. 4/I,2, Sp. 4007f. Falsifi ziert worden ist die These vom pflanzlichen Hermaphroditismus durch eine 1793 erschienene Untersuchung, die besagt, dass Selbstbefruchtung bei Pflanzen zwar vorkommt, in der Regel aber durch die zeitlich getrennte Reife der weiblichen und männlichen Geschlechtsorgane bei Zwitterblüten verhindert wird. Vgl. Aurnhammer 1986, S. 166ff., Wilson 1984, S. 262ff. Vgl. Teil I, Kap. 2.3.2. In diskurshistorischer Perspektive von besonderem Interesse ist die Fortsetzung der Lilienargumentation: Sie stellt das Gleichnis in einen evolutionsbiologischen Zusammenhang und verwendet die Degenerationshypothese im Gegensatz zur gängigen Argumentationslogik für die Inzestlegitimation, denn im 18. Jahrhundert ist die Degenerationshypothese ein Argument des Populärwissens, das das Inzestverbot stützt. Darüber berichten u.a. anhand von Jacques Duvals einschlägigem Werk Traité des hermaphrodits von 1612 Greenblatt 1990, S. 89ff. und Laqueur 1996, S. 156ff. Mit Greenblatt und Laqueur wird deutlich, dass sich das Phänomen des Hermaphroditen unter der Episteme des ›Ein-Geschlecht-Modells‹ der Renaissance leichter erklären lässt, als unter der Episteme der Geschlechterdifferenz, die im 18. Jahrhundert dominiert: Gemäß EinGeschlecht-Modell enthält jeder menschliche Körper männliche wie weibliche Elemente und die primären Geschlechtsorgane sind einander homolog, ihre Differenz liegt darin, dass sie einmal außen und einmal innen angebracht sind. Die Entwicklung einer eindeutigen Geschlechtsidentität verdankt sich der erfolgreichen Überwindung der einen

Wörterbuch (1797) listet unter dem Artikel ›Adam‹ zwar ausführlich die Quellen und Beschreibungen des ersten Menschen »als Mann und Weib« respektive »mit einem doppelten Geschlechte gebohren« auf, disqualifiziert die Überlieferung aber als »Mährchen«. Synonym dazu werden auch die Begriffe des ›Zwitters‹ und des ›Androgynen‹ als reine Einbildungen ohne Realitätsgehalt verstanden.299 Das entspricht dem zeitgenössischen Verständnis, in dem sich – affirmativ gewendet – das androgyne Denkmodell des 18. Jahrhunderts vom Imaginären her formiert.300 Als wirkungsmächtigste und für die Geschlechterauffassung des 18. Jahrhunderts besonders intelligible Ursprungserzählung für das Androgyniemotiv fungiert der von Platon erzählte Mythos über die mannweiblichen Kugelmenschen, die einmal getrennt, stets ihre andere und geschlechtlich differente Hälfte suchen.301 Achim Aurnhammer hat in seiner Studie zum Androgyniediskurs gezeigt, dass die Grundfigur des Androgyniemotivs die Zusammenfügung des Getrennten beinhaltet: Zeichenhaft fassbar ist dies im symbolon des in zwei Hälften zerbrochenen Rings, die – wieder zusammengefügt – als Erkennungszeichen für Gastfreunde, deren Nachkommen oder Stellvertreter dienen.302 Effekt dieser androgynen Vereinigungstendenz ist, wie vielfach literarisch belegt, ein gender trouble.303 Neben der dem androgynen Strukturmodell inhärenten Bewegung des Zusammenfügens zu einem Ganzen bietet sich gerade bei Geschwisterpaaren auch die erzählerische Möglichkeit, die Geschlechterdifferenz des alter ego bewusst zu nutzen. So erschreibt sich der mit dem Autor homonyme Erzähler ›Jean Paul‹ in der Unsichtbaren Loge eine Schwester, die das Textmanuskript in seiner materiellen Entstehung begleitet und für den nicht möglichen Abschluss des Buches einstehen muss. In der Schwesterfigur agiert ein weibliches Pendant des Erzählers, dem dank des prekären Status weiblicher Autorschaft in der zeitgemäßen Geschlechterauffassung die Verantwortung für den Abbruch des Textes unbeschadet für das Renommee des Erzählers als Autor übertragen werden kann. Doch der dem Androgyniemodell inhärente gender trouble lässt sich damit nicht ganz umgehen. Darauf spielt der Lebensbeschreiber der Loge an, wenn er fiktive Rezensenten vermuten lässt, der Text könne von einer »Dame« (I/1,314) sein.

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geschlechtlichen Anlage durch die andere, entsteht jedoch ein Gleichgewicht zwischen beiden, dann kommt es zum Phänomen des Hermaphroditen. Vgl. Baylens Wörterbuch, 1797, S. 47–57, hier S. 48,51f. Die Erstauflage von Pierre Bayles frühaufklärerischem Klassiker Dictionnaire historique et critique, aus dem von Ludwig Heinrich Jakob 1797 eine Auswahl der »philosophischen Artikel« auf Deutsch zusammengestellt wurden, datiert genau hundert Jahre früher. Vgl. dazu Sick 2011. Vgl. Platon, Symposion, 189c–193e. Vgl. Aurnhammer 1986, Einleitung. Vgl. etwa die Mignon-Figur in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, wo sich der gender trouble bis auf die Ebene der Personalpronomina niederschlägt.

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Die Schriftgeschwister der Loge, so wird zu zeigen sein, entwerfen auf der poetologischen Ebene eine erste Lösung für das zentrale Erzählproblem Jean Pauls, wie sein ausuferndes und dissonierendes Erzählen zu einem Abschluss und – so der Anspruch jedenfalls noch des »romantischen Erstling[s]« (I/1,14) – zu einem Ganzen werden kann. Die mit dem Geschwisterdispositiv verbundenen konkreten, semiotischen und imaginären Valenzen sind aber, so ist den späteren Verschiebungen und schließlich Verabschiedungen der Schriftschwester zu entnehmen, dem Erzähler nicht nur Chance, sondern auch Bedrohung. Zwar erhält die geschwisterliche Horizontale in Jean Pauls Schreiben in ihren eigentlichen, weiteren und figürlichen Ausprägungen von der Loge über den Hesperus zum Titan immer mehr Raum, doch beschränkt sich dieser zunehmend auf Handlung und Metaphorik: Poetologisch werden andere Formen von Autorschaft und Partizipation daran verhandelt. Erst die Flegeljahre setzen poetologisch erneut bei der Geschwisterbeziehung an, doch geschlechtlich anders positioniert: Die Schrift-Brüder kommen ohne Schwestern aus.304 Die verschiedenen Ausblicke auf Jean Paul in den erörterten Konstellationen der Horizontalen um 1800 sind hoffentlich Anreiz, in den nun folgenden Textlektüren genauer zu verfolgen, wie virtuos Jean Paul das Geschwisterdispositiv handhabt. Geschwisterbeziehungen fungieren in seinen Texten als Prismen, in denen sich Konzepte von Identität, Ähnlichkeit und Differenz, von Eigentlichkeit, Mimesis und Repräsentation mit Vorstellungen und Handlungspraxen von individuellen Emotionen und sozialen Beziehungen und diskursiven Manifestationen der Ordnungen des Wissens brechen und neu konfigurieren. Über eigentliche, weitere und figürliche Geschwister werden so heterogene Kontexte wie Empfindsamkeit und Inzestdiskurse, individuelles Gefühl und Geheimbünde oder Geschlechterdifferenz und Poetologie zusammen geführt und in eine Textbewegung überführt, die in mehrfacher Hinsicht eine Ermächtigung der Horizontalen leistet. Diesen Textbewegungen, ihren Strukturen und Performanzen, Verläufen und Gegenläufigkeiten gelten die nun folgenden Lektüren. Bewegt wird diese Lektüre nicht zuletzt von der Frage nach der der Interdependenz von Struktur und Performanz inhärenten Möglichkeit, langfristig gesehen Symbolsysteme zu verändern.

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Vgl. dazu Teil II, Kap. 4 und Teil III.

TEIL II Das Geschwisterdispositiv der Unsichtbaren Loge

Einführung

»Wenn man nun fragt, warum ein Werk nicht vollendet worden, so ist es noch gut, wenn man nur nicht fragt, warum es angefangen.« Fertig gestellt hat Jean Paul seinen ersten publizierten Roman letztlich nie, trotz wiederholter gegenteiliger Beteuerungen. In der Vorrede der Werkausgabe von 1825 entschuldigt er sich bei seinen Lesern für diese »geborne Ruine«, die er mehr als dreißig Jahre nach ihrem Entstehen – und wie wir wissen, kurz vor seinem Tode – »nicht ausbauen, nur ausflicken« könne: Und wenn wir uns beklagen, daß ein unvollendet gebliebener Roman uns gar nicht berichtet, was aus Kunzens zweiter Liebschaft und Elsens Verzweiflung darüber geworden […] – so tröste man sich damit, daß der Mensch rund herum in seiner Gegenwart nichts sieht als Knoten, – und erst hinter seinem Grabe liegen die Auflösungen; – und die ganze Weltgeschichte ist ihm ein unvollendeter Roman. – (I/1,13)

Schon Ende Februar 1792, als Jean Paul den Text seinem Freund Christian Otto zur Lektüre schickte, schrieb er dazu: »Übrigens ist dieses Pak ein corpus vile, an dem ich das Romanenmachen lernte: ich habe jezt etwas bessers im Kopfe!«1 Dieses Bessere war Jean Pauls Hesperus, der ihn schlagartig berühmt und zu einem anerkannten und viel bewunderten Autor machte. Nicht nur die zeitgenössische Rezeption, sondern auch die Jean Paul-Forschung hat darob den »romantischen Erstling« (I/1,14) etwas stiefmütterlich behandelt.2 Dabei gibt es gute Gründe, gerade diesem Text, dem ersten unter dem Künstlernamen Jean Paul,3 eine größere Aufmerksamkeit zu schenken. Denn hier finden

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Brief vom 27. Februar 1792, SWIII/1,346. Von der neueren Forschung haben sich Jordheim 2007, Bergengruen 2004, Mall-Grob 1999 und Steppacher 1996 ausführlicher mit der Loge befasst. Aus der älteren Forschung sind zu nennen Köpke 1977, Sprengel 1977, Harich 1974 sowie die nach wie vor aufschlussreiche Einleitung von Berend zur Loge in den Sämtlichen Werken von 1927. Einzelaspekte der Loge werden untersucht bei Sinn 2007, 1998, Heinritz 1999, Allert 1998, Voges 1987, Köpke 1986 sowie in Vorstudien zu dieser Arbeit, vgl. Frei Gerlach 2009, 2004, 2003. Umfassende Bibliographien finden sich im JbJPG 28 (1993), S. 175–228 und 2008 (43), S. 171–202, sowie auf der Website der Jean-Paul-Gesellschaft. Als begeisterter Rezipient von Rousseau änderte Johann Paul Friedrich Richter seinen bürgerlichen Namen in Verehrung für Rousseau in den Künstlernamen Jean Paul. Das Pseudonym taucht in den Briefen erstmals am 9. Mai 1792 auf, vgl. SWIII/1,349. Mit der Loge trat Jean Paul zum ersten Mal öffentlich unter diesem Namen auf.

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sich die Themen und ästhetischen Verfahren, die Jean Pauls Werkkosmos als spezifischen auszeichnen, in ihrer ersten ausgearbeiteten Romanform.4 Bezeichnend daran ist, dass sich eine Vielzahl dieser Themen und Verfahren im Geschwisterdispositiv formiert: So rekurrieren erstens auf der Figurenebene die Verhandlungen um individuelle Emotionen und soziale Beziehungen, um Geschlecht und Geschlechterdifferenz sowie um Gesellschaftskritik und politische Reformpläne auf Geschwisterverhältnisse. Geschwisterlich verortet sind zweitens die Jean Paul sein Leben lang beschäftigenden erkenntnistheoretischen Fragen um das commercium mentis et corporis, um die Spannung menschlicher Existenz zwischen erster und zweiter Welt, darüber hinaus nach Urbild und Abbild, nach Produktion und Reproduktion, nach Selbstrepräsentation und Verdoppelung sowie nach Identität und Alterität. Drittens stehen in der Loge poetologische Fragen nach Fragment, Digression und Werk sowie satirischer und erhabener Schreibweise im Kontext der Geschwisterbeziehung. Damit sind Themenkomplexe von Jean Paul genannt, die der Jean Paul-Forschung in weitgehender Übereinstimmung als die zentralen gelten: Nicht gesehen worden ist bisher jedoch ihr Zusammenhang mit der geschwisterlichen Horizontale. Welche andere Sichtweise sich damit auf Kernfragen der Jean Paul-Forschung ergeben kann, will die vorliegende Studie mit ihrer detaillierten Erarbeitung der Wirkungsweisen der geschwisterlichen Horizontalen aufzeigen. Dabei muss offen bleiben, ob die herausgearbeiteten Themen und Verfahren in der Loge in den Rahmen des Geschwisterdispositivs gestellt und darin erprobt werden oder ob sie sich als Themenkomplexe aus diesem entwickelt haben. Dies ließe sich jeweils nur von Fall zu Fall mit einer umfassenden genealogischen Abklärung nachweisen, die nicht nur das Frühwerk, sondern auch die umfangreiche Schreibwerkstatt Jean Pauls einbeziehen würde: die Exzerpte, die Gedanken, die Einfälle, Bausteine und Erfindungen sowie die Satiren- und Ironiehefte, deren Edition derzeit in Gange ist.5 Im Folgenden wird jedoch davon abgesehen und mit der Loge als dem Text begonnen, in dem sich bei Jean Paul ein umfassendes Geschwisterdispositiv formiert. Aufgezeigt werden soll, wie sich in der Loge Themenkomplexe in einer Art

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1781 hatte Jean Paul einen stark an literarische Vorbilder angelehnten kleinen Briefroman geschrieben, Abelard und Heloise, der 1881 erstmals unter dem Titel Ein Roman aus der Werther-Zeit ediert worden ist, vgl. II/1,117–172 und II/4,111ff. Unter dem Pseudonym J.P.F. Hasus publiziert hatte Jean Paul vor der Loge die Satiren Grönländische Prozesse (1783/4) und Auswahl aus des Teufels Papieren (1789), vgl. II/1,367–582, II/2,9–469. Aus dem Nachlass elektronisch zugänglich über die Website der Arbeitsstelle der Jean Paul-Edition sind die Exzerpten. Ende 2011 sind von den Nachlassbänden der Abteilung II der von Eduard Berend begonnenen und seit 1927 erscheinenden Historisch-kritischen Ausgabe der Sämtlichen Werke Jean Pauls die Bände bis und mit Band 8, Gedanken, 2000–2004, erschienen. Von den in Arbeit befindlichen Bänden 9,10 und 11 liegt Band 10.1, Satiren und Ironien, Bd. 14–18 (1789-ca.1794), seit 2010 vor, und einige sind für 2012 angekündigt. Zum Stand der Edition der Jean-Paul’schen schriftstellerischen Werkstatt vgl. die Website der Arbeitsstelle der Jean-Paul-Edition.

und Weise vernetzen, dass sie in ihrem gegenseitigen Verweisungszusammenhang eine Ermächtigung der geschwisterlichen Horizontale leisten. Welche Themenkomplexe sind an dieser Vernetzung beteiligt und wie werden sie narrativ, intertextuell und kulturhistorisch verortet? Wie beziehen diese Geschwisterthemen ihre Intelligibilität im Spannungsfeld von Biologie und Kultur? Und wie behaupten sie sich gegenüber vertikalen Orientierungen? Welche Verbindungen werden über die geschwisterliche Horizontale gestiftet und welche Konflikte damit geschürt? Dabei werden die ästhetischen Konfigurationen der Horizontalen mit den im ersten Teil entwickelten systematischen Kategorien analysiert und auf die in ihnen zirkulierenden kulturhistorischen Energien hin befragt werden. Die weiterführenden Textanalysen zum Hesperus, zum Titan und den Flegeljahren werden dann nach den sich daraus ergebenden Konsequenzen und Entwicklungen im Sinne einer Semiose der geschwisterleichen Horizontale fragen. Wie werden vertikale und horizontale Orientierungen nun gegeneinander positioniert? Wie werden einzelne Themenstränge aus dem Geschwisterdispositiv gelöst und unter welchen neuen Gesichtspunkten werden gewisse davon wieder darauf hin zurückgeführt? Dabei wird eine gegenstrebige Bewegung sichtbar werden: Einerseits nimmt die Breite von geschwisterlich verhandelten Fragen und Ebenen von der Loge über den Hesperus zum Titan und – erstaunlicherweise – auch zu den Flegeljahren sichtlich ab. Andererseits gewinnen Geschwister als handelnde Figuren jedoch signifikant an Bedeutung: Befinden sich in der Loge unter den Hauptfiguren noch keine Geschwister im Sinne von ›rechten‹ Geschwistern, so spielt im Hesperus die Frage nach der biologischen Verwandtschaft eine wichtige Rolle. Und im Titan spannt sich schließlich ein weit verzweigtes horizontales Netz von Verwandtschaft, innerhalb dessen sich die Erzählhandlung entwickelt. Zwar reduzieren sich dann in den Flegeljahren die geschwisterlichen Aktanten, gewinnen aber durch ihre zentrale Stellung umso mehr an Bedeutung, wird in den Flegeljahren doch in erster Linie die Geschichte eines Bruderpaares erzählt.6 In der aufgezählten Diversivität ist das Geschwisterdispositiv also nur in der Loge wirksam. Die Loge nimmt in dieser Untersuchung darum die Stelle des zentralen ersten Textes ein, in dem die ganze Breite der Möglichkeiten und ästhetischen Konfigurationen von Geschwistern erprobt wird. Da im Zentrum der Loge das Einzelkind Gustav steht, dürfen wir dabei auf einen besonders hohen Einfallsreichtum gespannt sein: Denn wie Gustav bei dieser biologischen Ausgangslage ins Zentrum eines Geschwisterdispositivs gelangt, fordert die erzählerische Kreativität beträchtlich heraus.

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Vgl. ausf. dazu Teil III.

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1.

Geschwistergenese auf drei Ebenen

Es ist eine typische Eigenheit der Helden von Jean Pauls hohen oder »italienischen« Romanen, (I/5,253)1 dass ihre Sozialisation von Täuschungen über die eigene Herkunft begleitet ist. Diese Irreführungen sind eine Folge der Interessenlage der älteren Generation, die sowohl spezifische Leitideen mit der Erziehung des Helden zu realisieren als auch durch »geborgte[...] Namen« (I/1,243) die Folgen nicht-ehelicher Sexualität zu vertuschen sucht. Wird dies in späteren Texten erst nach und nach über Rückblenden ersichtlich, so skizziert Die Unsichtbare Loge die Ausgangslage und die darin wirkenden Absichten schon ganz zu Beginn. Der zur Verheiratung der Tochter ausgehandelte Kompromiss zwischen der Spielleidenschaft des Obristforstmeisters von Knör und dem Herrnhutismus seiner Frau sieht vor, dass Ernestine von ihrem Bräutigam in einem Schachturnier zu gewinnen sei2 und das erste Kind aus dieser Verbindung »für den Himmel sollte groß gezogen werden, nämlich: acht Jahre unter der Erde«. (I/1,34) Die für die Entwicklung der Hauptfigur zum Bildungsziel des »hohen Menschen« zentrale und für die Anlage der Textbewegung zur Vertikalen grundlegende Höhlenerziehung erscheint dem Lebensbeschreiber ›Jean Paul‹, der sich mit dem Autor seinen Namen teilt,3 damit genügend motiviert. Die im »Extrablatt – Von hohen Menschen« entworfene Charakteristik zeichnet die von Jean Paul so genannten »hohen Menschen« dadurch aus, dass sie neben sittlichen Grundsätzen, Einfühlungsvermögen, moralischen Handlungsweisen und hervorragenden Charaktereigenschaften vor allem eines besitzen: »die Erhebung über die Erde«, respektive »das Gefühl der Geringfügigkeit alles irdischen Tuns«. Diesen »Blick über die Wolken« soll das Kind Gustav erlernen, indem es »unter der Erde« erzogen wird. (I/1,221,34) Die aus der Höhlenerziehung resultierende Weltfremdheit Gustavs, »die mittelmäßige Menschen und fast sein Vater für Einfalt nehmen«, (I/1,65) gehört dabei zu den spezifischen Voraussetzungen für die Bildung zum hohen Menschen. 4

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Vgl. zu den Spezifi ka von Jean Pauls Romantypologie Einführung in Teil III. Auf die literarhistorische Tradition des Schachspielens um Liebe und Ehe verweist Schönle 1999, S. 9f. Wie in der Forschung üblich, setze ich die Erzählerfigur jeweils in einfache Anführungszeichen und schreibe über den realen Autor ohne besondere typographische Hervorhebung. Die Höhlenerziehung übernimmt im Text als Allegorie eine wichtige Funktion für die Darstellung der Genese der menschlichen Sehnsucht nach dem Unendlichen, vgl. Mall-

Vom Ehepaar, von dem sich der Erzähler pünktlich nach »neun Monaten den Helden dieses Buches abliefern« lässt, (I/1,46) wird nicht erzählt, ob mit der Geburt von Gustav die eheliche Sexualität eingestellt worden ist: Gustav erscheint als einziges Kind aus dieser Verbindung. Dafür wird schon vor des Rittmeisters geglücktem »Schnitt« ins »Gesindebrot der ehelichen Liebe« von seinem früheren Kosten vom »gärenden Pumpernickel der physischen« erzählt. (I/1,35f.) Der Text deutet an, dass als Folge dieser Nascherei ein Halbbruder Gustavs unter dem Familiennamen Röper firmiere, der zu diesem Zeitpunkt der Geschichte sechzehn Jahre alt sein müsste. Literal muss jener eine »Bissen« (I/1,36) Pumpernickel dafür einstehen, dass das Einzelkind Gustav ins Zentrum von Geschwisterkonstellationen geraten kann.5 Wie Gustav zu Geschwistern kommt, wird im Anschluss an eine allegorische Geburtssituation erzählt und damit in jenen Kontext gestellt, in dem Geschwister realiter entstehen. Das unterirdische Erziehexperiment, das den Boden für Gustavs Bildung zum »hohen Menschen« bereiten soll, wird nach den vereinbarten acht Jahren mit der sorgfältig inszenierten »Auferstehung« (I/1,62) beendet. Der Tag, an dem der Austritt aus der dunklen Höhle und der Eintritt in die Welt statt findet, ist bezeichnenderweise Gustavs »Geburttage« (I/1,59), allerdings sein zehnter. Die Geburtsmetaphorik dieser Szene speist sich aus der im kulturellen Gedächtnis tradierten und vielfach aufgegriffenen Verknüpfung von dunkler Höhle und Uterus, wie sie etwa im Begriff der chora 6 wirkt.7

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Grob 1999, S. 89ff. Ausf. zum Konzept der hohen Menschen, unter Einbeziehung horizontaler Strukturen vgl. Teil II, Kap. 3.2. Damit nehme ich eine dezidiert andere Perspektive ein als Walther 1990, S. 176, der in der Übernahme des freudschen familialen Dreiecks als zentrale Familienkonstellation der Loge Gustav und seine Eltern bestimmt. Zur chora vgl. u.a. Butler 1995, S. 61ff., Derrida 1990, Kristeva 1978. Damit ist nur eine der Isotopien genannt, entlang der die »Auferstehung« (I/1,62) aus der Höhle gelesen werden kann. Schon von Berend als »Brennpunkt« des Romans identifiziert (SWI/2,XXXVI), hat diese Textszene entsprechende Aufmerksamkeit der Forschung erhalten. Weitgehende Einigkeit besteht darin, die Szene aufgrund der systematisch durchgeführten Metaphorik als Allegorie zu lesen. Meist wird die »Auferstehung« als übertragene zweite Geburt diskutiert, von der Seelenwelt in die Körperwelt (Mall-Grob 1999, S. 96) respektive als Geburt der Sinnlichkeit (Käuser 1989, S. 260), oder aber umgekehrt, als geistige Wiedergeburt (Kaiser 1995, S. 27, Ueding 1993, S. 55, Köpke 1977, S. 333). Heinritz 1999, S. 163, liest sie als Inszenierung des philosophischen Gründungserlebnisses des Staunens, die Signifi kanz der platonischen Metaphorik herausgearbeitet haben schon Berend (vgl. SWI/2,XL), Köpke 1977, S. 332ff., Kiermeier 1980, S. 70ff., Kaiser 1995, S. 29ff. und Fennell 1996, S. 78ff. Steppacher 1996, S. 53ff., interpretiert die Auferstehung dagegen als Modell der Sprachentstehung. Vielfach in der Forschung bemerkt worden ist die Analogie der »Auferstehung« zu einem pietistischen Erweckungserlebnis (u.a. Sinn 1998, S. 149ff.), daneben besteht die Lesart als Initiationsritual, über die Strukturähnlichkeiten der rituellen Inszenierung von Tod und Wiedergeburt in den geheimen Gesellschaften (Schlaffer 1998, Voges 1985, S. 538ff., spezifisch zu Initiationsritualen S. 85ff.). Proß 1975, S. 222, stellt die Höhlenerziehung und damit

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Doch der Text belässt es nicht bei diesem Gemeinplatz, sondern führt die Isotopie weiter aus, in der allegorisch der Geburtskanal, ein Geburtshelfer und der Schnitt, der die Nabelschnur durchtrennt, lesbar werden. Über einen »Nachtgang«8 verlässt Gustav die Höhle, in der er allein mit seinem Erzieher Genius und einem Pudel acht Jahre verbracht hat. Am Höhlenausgang »stösset« der Genius »die Pforte auf, hinter der die Welt steht«. (I/1,62) Mit dem Genius als Geburtshelfer wird eine der Bedeutungsschichten aktiviert, die im antiken Begriff des Genius liegen.9 Zugleich steht der Genius für den Körper der Mutter ein, in dem er in der Höhle das Kind in engster Symbiose nährt. Die Nahrung, von der der Text erzählt, ist allerdings ausschließlich geistiger und immaterieller Art: Gustav wird für die Transzendenz großgezogen. Doch der Vorgang des Nährens erfolgt in engster körperlichen Verbindung, so dass sich hier das Paradox ergibt, dass die Innerlichkeit, um die es in der Höhlenerziehung geht, auch die Bedeutung des Körperinneren im organischen und nicht nur seelischen Sinne einnimmt,10 analog der Nährgemeinschaft im Körper und durch den Körper der Mutter: [...] lagst du, Gustav, auf dem Schoße, in den Armen und unter den Lippen deines teuern Genius, wie eine trinkende Alpenblume an der rinnenden Wolke, und sogest dein Herz an den Erzählungen von guten Menschen groß [...]. (I/1,55)

Der Schnitt zwischen der Höhlenexistenz und dem Eintritt in die Welt, der in der hier verfolgten Lesart für das Durchtrennen der Nabelschnur steht, wird im Text durch ein zerschnittenes Notenblatt symbolisiert. Davon behält Gustav die eine Hälfte, einziges materielles Andenken an den sehr plötzlich verschwundenen Genius, der nun gänzlich entmaterialisiert im Textverlauf nur noch im Traum, in der Erinnerung und als Stimme wahrgenommen wird. Da Gustav in diesem Sinne erst zehnjährig zur Welt gekommen ist, sieht seine Umgebung, sehen insbesondere seine Eltern ihn als »einen Neugebornen«.11 Alles ist ihm unbekannt und damit auch »gefährlich«. Dies bewahrheitet sich just dann,

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auch die Auferstehung in einen intertextuellen Zusammenhang zu Montesquieus Lettres Persanes, Berend zu Cicero, Wieland, Calderon und Voltaire (vgl. SWI/2,XXXVIII). In der ersten Auflage von 1793 heißt dieser noch »Todesgang« und lässt damit die Lesart des Geburtskanals nur bedingt zu, vgl. Pauler 1981, S. 57. Vgl. Mall-Grob 1999, S. 93, Schmidt-Dengler 1978, S. 24. In der Vorschule der Ästhetik schreibt Jean Paul die Ermöglichung einer Lösung des commercium mentis et corporis hin zu »einem Ganzen« der Figur des Genius zu (I/5,66). Die Thematik des commercium mentis et corporis hat in der Jean Paul-Forschung einen hohen Stellenwert. Unter den zahlreichen Arbeiten, die sich mit dem Verhältnis von Körperund Innenwelt befassen, sind besonders hervorzuheben Wölfel 1989, S. 259ff., Müller 1983, S. 94ff., Bergengruen 2003, Pabst 2007. In welchem Verhältnis diese Konzeption zum zeitgenössischen Verständnis von einem zehnjährigen Kind steht, zeigen die § 1044, 45 des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794, die das gemeinsame Nächtigen in einem Bett von Eltern und ihren Kindern sowie zwischen Geschwistern ab dem 10. Lebensjahr per Strafe untersagen, um damit inzestuöse sexuelle Handlungen zu verhindern; vgl. dazu Teil I, Kap. 2.3.2.

als das Ergebnis des Erziehexperiments von »herrnhutischen Brüdern« und einer »Schwesterschaft« Herrnhuterinnen, aus deren Ideologie die unterirdische Versuchsanordnung im Romantext ja hervorgegangen ist, bestaunt werden soll. Doch Gustav ist weg. Erst nach drei Tagen taucht er wieder auf: Ein Reisewagen setzt ihn wohlbehalten vor der heimischen Schloss-Haustüre ab. Zwei entscheidende Prägungen resultieren aus dieser geheimnisvollen dreitägigen Abwesenheit. Die eine wird als »Hals-Gehenk« in Form eines ihm zum Verwechseln ähnlichen Porträts manifest, die andere als Erinnerung an ein »Schwesterchen, das mit ihm gespielet«. Eine briefliche Erklärung und der eingefügte Erzählerkommentar vermitteln das Porträt und die erinnerte Schwester Beata so miteinander, dass Beata und Gustav – ohne blutsverwandt zu sein – im »Hals-Gehenk« einen gemeinsamen Halbbruder haben, der Gustav »so ganz, sogar bis auf die Haare« gleicht. (I/1,65–68) Mit diesem Textarrangement rückt Gustav nun explizit ins Zentrum von Geschwisterverhältnissen, und dies auf dreierlei Ebenen: erstens über ein medial vermitteltes physiognomisches alter ego oder als Geschwisterbeziehung des ›äußeren Menschen‹, zweitens über die erinnerungsgestützte Beziehung zu einer Schwester oder als Geschwisterbeziehung des ›inneren Menschen‹ und drittens als Fortwirken der herrnhutischen Erziehung in der unterirdischen »Dreibrüder-Kartause« (I/1,54) oder als institutionelle Geschwisterschaft. Diese mehrschichtige Geschwistergenese konfiguriert die – im kulturhistorischen Teil nach Adelung herausgearbeitete – eigentliche, weitere und figürliche Geschwisterbedeutung neu und radikalisiert ihre Differenzqualität: Hat sich in der historischen Semantik der Geschwisterbegriffe gezeigt, dass das organisierende Differenzkriterium zwischen der leiblichen und geistlichen Verwandtschaft die Leib-Seele-Dichotomie ist,12 so treibt Jean Paul dies auf die Spitze. Er generiert erstens einen Bruder, dessen Verwandtschaft allein über das Körperäußere manifest wird und der im Text nicht als Figur, sondern ausschließlich medial und materiell als Bild und als Schrift existiert und dafür auf Spiegelfigurationen aus dem kulturellen Imaginären rekurriert. Zweitens geht es hier um eine Schwester, die bei ihrer Einführung in den Text ebenfalls als Figur abwesend und deren Dasein allein in der Erinnerung und damit im Inneren lokalisiert ist. Ihr Verwandtschaftsstatus zu Gustav ist darüber hinaus ein indirekter: Er wird über besagten »Hals-Gehenk«-Bruder vermittelt. Neben den damit gestifteten leiblich-materiellen und seelisch-imaginären Geschwisterbeziehungen verortet die Geburtsallegorie Gustav drittens mit dem Herrnhuterthema und der Figur des Genius auf der Ebene der institutionellen Geschwisterschaft. Alle drei Ebenen bleiben im Textverlauf präsent, sind jedoch unterschiedlich stark ausgeprägt. Am wenigsten ausgeführt ist die Ebene der institutionellen Geschwisterschaft. Doch gerade sie wird durch Textsignale stimuliert, die strategisch höchst bedeutsam platziert sind: allen voran im Titel des Romans. Der im Stil der gängigen Geheimbundromane gehaltene Titel stimmt die Erwartungen der

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Vgl. Teil I, Kap. 2.1.

145

zeitgenössischen Leserinnen und Leser auf einen Geheimbundroman ein, wofür der Genius als typische Figur des Genres13 eine erste Bestätigung sein kann. Auf die Ausdifferenzierung dieser drei Ebenen werde ich noch eingehend zu sprechen kommen, an dieser Stelle soll es jetzt um ihre Genese gehen. Dabei beginne ich mit der Ebene der institutionellen Geschwisterschaft, da sie in der Erzähllogik zuerst kommt.

1.1

»Auf zwei Füße gestellte Schafe«: institutionelle Geschwisterschaft

Vom Titel Die unsichtbare Loge eingestimmt auf die Erzählstrategie von Geheimnis und Aufklärung des Geheimbundromans, müssen die Lesenden lange darauf warten, bis sie auf deutlich identifizierbare Elemente des gängigen Genres stoßen. Entsprechend ernüchtert fällt die Rezension des Freiherrn von Knigge von 1794 aus, als wichtiger Exponent der Illuminaten ein profunder Kenner der Geheimbundthematik: »Vergebens sucht man im ganzen Werke etwas, wodurch der Titel des Buches erklärt würde.«14 Als durchsichtiges Spiel mit trivialen Leseerwartungen ohne eigentlichen Bezug zur Haupthandlung wird die Geheimbundthematik der Loge in der Jean Paul-Forschung denn auch gewöhnlich gesehen.15 Doch lässt sich der Titelstimulus, der in der Romanhandlung zwar spärlich, aber immerhin auch mit Elementen aus dem Geheimbundmaterial gefüllt wird, nicht nur im engeren Sinn als Verweis auf den Geheimbundroman, sondern auch breiter als Anspielung auf die Thematik der ›weiteren‹ Geschwisterschaft insgesamt lesen. In diesem Lektüreansatz gewinnt die von Jean Paul in einem Brief vom 12. Juli 1792 an Christian Otto so genannte »Titel-Sonderbarkeit« an Prägnanz, wie ich im Folgenden zeigen möchte.16 Die von der Erzähllogik her ersten Hinweise auf die Bedeutung der institutionellen Geschwisterschaft in der Loge liefern die auftretenden Herrnhuterinnen und Herrnhuter. Deren Schilderung als »auf zwei Füße gestellt[e] Schafe« (I/1,66) lässt zwar keine Zweifel an ihrer satirischen Zuspitzung,17 doch zugleich wird das herrnhutische Gedankengut vom Text funktional für die Motivation der Höh-

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Vgl. Voges 1987, S. 396. Rezension von Adolph Freiherr von Knigge über die Loge in der Neuen allgemeinen Bibliothek 11 (1794) S. 216–318, zitiert nach Sprengel 1980, S. 4. Vgl. dazu den ausf. Forschungsbericht in Teil II, Einleitung in Kap. 3. SWIII/1,360. Vgl. ausf. zu Jean Pauls »Titelfabrikatur« (ebd. 359) und der Spur der Loge im Text Teil II, Kap. 3.2 sowie Frei Gerlach 2009. Pikant daran ist allerdings, dass die Formulierung im herrnhutischen Diskurs selbst beheimatet ist. So Zinzendorf, über die Kinder in den ihnen zugewiesenen Gruppen: »sie gehen mit den andern Schafen«, zitiert nach Ranft 1958, S. 27.

lenphase und damit für eine für die Erzählanlage zentrale Textszene in Anspruch genommen. Vom historischen Sachverhalt her ist es verblüffend, dass die Zinzendorfer Brüderunität für die Isolationsideologie der unterirdischen Erziehung einstehen muss. Beruhen doch deren Erziehungsgrundsätze in starkem Maße auf geselligem Austausch unter Gleichaltrigen, wofür die Struktur der Chöre geschaffen wurde, in der sich die Kinder geschlechterdifferent und altersgemäß entwickeln und auf ihre weltumspannende Geschwisterschaft vorbereiten sollten.18 Dass Jean Paul von dieser horizontalen Sozialstruktur einen Begriff hatte, zeigen die Gruppenangaben »Faszikel« und »Kompagnie« für die Herrnhuter deutlich an. (I/1,66) Inwiefern das Herrnhutertum die Höhlenphase mitstrukturiert, erschließt sich darum nicht unmittelbar. Zumal die Isolierung eines Kindes von seiner Umwelt fraglos eine pädagogische Strategie ist, die sich auf Rousseaus Emile zurückführen lässt und im 18. Jahrhundert grundsätzlich als Möglichkeit zur Erforschung des Menschen diskutiert wurde. Da Emile einen wichtigen Intertext für Jean Pauls Loge bildet, liegt es nahe, die Isolationspädagogik der Loge in erster Linie als Bearbeitung von Rousseau zu lesen.19 Unter diesem offensichtlichen Verweisungszusammenhang gilt es nun, die Textstimuli zu isolieren, die mit der Geschwisterthematik von Anfang an einen der Isolationspädagogik und der Ausrichtung auf die Vertikale widersprechenden Subtext generieren. Ein erster solcher Textstimulus erschließt sich über die Textgenese. Wie Eduard Berend aufgrund der im so genannten Schmierbuch überlieferten Vorarbeiten zur Loge festhält, hatte Jean Paul ursprünglich geplant, die Geniusfigur mit Guido zu identifizieren, jenem unehelichen Sohn von Gustavs Vater und der späteren Frau von Röper: »Genius Sohn d(er) Röper(in), also Verwechslung mit Gustav leichter«.20 Gemäß dieser Konzeption steht Gustavs erste prägende Beziehung, die achtjährige unterirdische Gemeinschaft mit Genius, im Zeichen der Geschwisterschaft. Geplant war also eine Geschwisterbeziehung, die aufgrund von äußeren Ähnlichkeiten auf eine Verwechslung der Geschwister hinarbeitet und damit die Doppelgängerfiguration bedient. Mag die Altersdifferenz von 16 Jahren zwischen Gustav und Guido diesen ursprünglichen Plan als schlecht realisierbar erwiesen haben,21 so verbleiben im ausgearbeiteten Text doch einige Hinweise, die diese Genese erinnern: Es sind dies vor allem die Alliteration der Namen Genius, Gustav, Guido sowie eine Bildbe-

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Vgl. Teil I, Kap. 2.4.3. Dies ist in der Forschung schon wiederholt und überzeugend nachgewiesen worden, vgl. dazu schon Berend, SWI/2,XXXVII. SWI/2,XXIV. Vgl. I/1,36. Die Doppelgängerfiguration zwischen Gustav und Guido setzt Jean Paul dann medial um: In der Romanhandlung zirkulieren Porträts der beiden, die als zeitlos gleich bleibende Bilder den Verwechslungseffekt der Doppelgängerfiguration bedienen können, ohne die Altersdifferenz der Erzähllogik berücksichtigen zu müssen. Vgl. dazu Teil II, Kap. 1.2.

147

trachtung und daraus hervorgehende Traumszene, in der für Gustav sein Genius und Guido in eins fallen.22 Doch letztlich wird diese Identifikationsmöglichkeit vom Text in der Schwebe gelassen:23 Der Lebensbeschreiber entlässt die Figur des Genius nach der Höhlenphase ganz ins Ungewisse, das von der Handlungslogik her letzte, was er mit Sicherheit von ihr zu berichten weiß ist, »daß nachher der schöne Genius ungekannt von Autor und Leser wegziehet«. (I/1,61)24 An Stelle einer ›eigentlichen‹ Geschwisterbeziehung der Halbbrüder stehen jedoch Hinweise auf ›weitere‹ Geschwisterschaft für die Geschwisterthematik in der Höhlenphase ein. Zum einen ist dies die Verortung der Geniusfigur in der herrnhutischen Ideologie, zum anderen der Name des Erziehortes, »Dreibrüder-Kartause«, (I/1,54) der wie schon der Romantitel die Ebene der institutionellen Geschwisterschaft konnotiert. Darüber hinaus überlagert sich die Szenographie von Höhlenexistenz und Höhlenaustritt mit Diskurspartikeln sowohl eines pietistischen Erweckungserlebnisses, wie es als Gründungserlebnis die Geschwisterunität der Herrnhuter konsolidierte,25 als auch mit dem Geheimbundmaterial, signifikante Parallelen bestehen insbesondere zu den bei den Freimaurern praktizierten rituellen Inszenierungen von Tod und Wiedergeburt.26 Und schließlich lässt sich ja auch die Geniusfigur ihrem Namen nach im Kontext des Geheimbundmaterials situieren, gehört sie doch zum typischen Figurenarsenal des Geheimbundromans.27 Zwar können diese Textstimuli aus dem Geheimbundmaterial auch als Spiel mit der Leseerwartung gelten, die der Romantitel Die unsichtbare Loge beim zeitgenössischen Lesepublikum ausgelöst hat. Das Herrnhuter-Thema lässt sich aber nicht auf diesen Rahmen reduzieren. Das Herrnhutertum der durchgehend hoch

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148

Vgl. I/1,176 und die Lektüre dieser Traumszene weiter unten. Die Alliteration der Namen des Romanpersonals als Zeichen gegenseitiger Zugehörigkeit benutzt Jean Paul auch für Frauenfiguren: So werden Bouse und Beata wiederholt durch gegenseitige Zuordnung respektive Abgrenzung profi liert. Berend sucht hier aufgrund von Jean Pauls Vorarbeiten zu vereindeutigen, was vom ausgearbeiteten Text her in der Schwebe bleibt: »Auch passt das Alter des Genius, der bei Gustavs Geburt ein Jüngling genannt wird, sehr wohl zu dem jenes damals etwa 17jährigen Halbbruders.« (SWI/2,XXIV) Diese Angaben lassen sich dem literarischen Text aber nicht entnehmen, die Altersangabe bleibt vielmehr höchst vage: »Aber die Alte hatte schon vor der Taufe einen himmlischschönen Jüngling aus Barby verschrieben. [...] Über seinem schwärmerischen trunknen Auge glättete sich eine ruhvolle schuldlose Stirne, die das vierzigste Jahr ebenso unrastriert und ungerunzelt ließ wie das vierzehnte.« (I/1,53) In der Entwurfsstufe (Fasz. 17, 328ff.) heißt die entsprechende Stelle: » [...] einen himlisch schönen Jüngling aus Barby, mit einem schwärm Auge, glatt iugend Stirne, die im 50 J. so unliniert und unrastriert blieb als im 18ten.« (Pauler 1981, S. 45) Die weiteren Auftritte des Genius im Text sind alle von Textstimuli begleitet, die den Wahrheitsgehalt der Aussage bezweifeln, vgl. I/1,177,418. Vgl. zur gemeinsamen Erweckung in Herrnhut bei einer Abendmahlfeier vom 13.8.1727 Teil I, Kap. 2.4.3. Vgl. Sinn 2007, 1998, S. 149ff., Schlaffer 1998, Voges 1985, S. 538ff. Vgl. Voges 1985, S. 394.

besetzten Geniusfigur ist vor jeder satirischen Überzeichnung gefeit und wird deutlich abgesetzt von jenen »auf zwei Füße gestellten Schafe[n]« (I/1,66): »Allein der Genius [...] lag nicht an jenen das Herz einschraubenden Krämpfen des Herrnhutismus krank, er nahm bloß das Sanfte und Einfache von ihm.« (I/1,53) Mit der Geniusfigur als dem »beste[n] Herrnhuter« (I/1,52) ist auch Geschwisterlichkeit, wie sie den Kern herrnhutischer Ideologie und Organisation ausmacht, in einer ursprünglichen und reinen Form in der Höhlenphase als Thema eingeführt. Die Sozialstruktur in der Höhle ist nun aber gezwungenermaßen beschränkt und kann hinsichtlich der Geschwisterschaft höchstens als derivative Wiederholung der namengebenden »Dreibrüder« (I/1,54) im ungleichen Terzett Genius, Gustav und dem mit ihnen lebenden Pudel geltend gemacht werden. Explizit ist auch in den Erziehreden des Genius nicht die Rede von Geschwistern, doch entwirft er in seinen Erzählungen eine analoge horizontale Beziehungsstruktur: O tausendmal glücklicher als ich neben meinem Tertius und Konrektor lagst du, Gustav, auf dem Schoße, in den Armen und unter den Lippen deines teuren Genius, wie eine trinkende Alpenblume an der rinnenden Wolke, und sogest dein Herz an den Erzählungen von guten Menschen groß, die der Genius sämtlich Gustave und Selige nennte, von denen wir bald sehen sollen, warum sie mit Schwabacher gedruckt sind! (I/1,55)

In den Erziehreden ist, wie Mall-Grob überzeugend nachweist, die modellierende Seelenstrukturierung eines hohen Menschen als Genese des Sehnens nach dem Unendlichen angelegt, die ihre Effektivität erst nach der Trennung vom Genius als verinnerlichte entfalten wird.28 Entsprechend wird die Erziehanordnung gewöhnlich strikt vertikal gelesen. Doch das Versprechen des Genius umfasst auch interpersonale Beziehungen: »im Himmel ist alles voll Seliger, und da sind alle die guten Leute, von denen ich dir so oft erzählet habe, und deine Eltern«. (I/1,58) Neben den klar auf der Vertikalen situierten Eltern werden Gustav »die guten Leute« in Aussicht gestellt, die der Genius »sämtlich Gustave und Selige nennte« und damit der Horizontalen zuordnet. Die typographische Differenz unterbricht die Analogie des Genius, der die Erde in Gustavs Seele als Himmel konstruiert, da mit den »Selige[n]« Protagonisten ins Spiel kommen, deren Zuordnung zum Himmel von anderer – echter und nicht nur vorgestellter – metaphysischer Qualität ist. Als »gute Menschen«, die Gustav auf der für den Himmel gehaltenen Erde erwarten kann, verbleiben damit die so genannten »Gustave«. Die Ausdehnung des Eigennamens auf alle andern guten Menschen erweist diese als kollektive Doppelgänger. Das Prinzip geistlicher Geschwisterschaft, das alle der christlichen Glaubensgemeinschaft angehörigen Menschen umfasst, wird durch den Genius auf größtmögliche Gemeinsamkeiten hin zugespitzt: Gustavs Beziehungsfähigkeit wird in seiner Bildung so modelliert, dass er nach einem alter ego, nach dem Gleichen im Anderen suchen wird. Und dafür steht nicht nur das

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Vgl. Mall-Grob 1999, S 89ff.

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Prinzip geistlicher Geschwisterschaft, sondern auch eine Geschwisterkonfiguration aus dem kulturellen Imaginären Pate: Zwillinge bilden jenen kulturell verbürgten Rahmen, auf den für die Gestaltung des Doppelgängermotivs in der Ausprägung der ebenbildlichen Spiegelfigur seit Plautus Menaechmi immer wieder zurückgegriffen worden ist.29 Da sich Gustavs Herz in der Isolation als »Demant [...] so durchsichtig und so strahlend und so ohne Flecken und Federn zusammensetzte«, (I/1,61) ist auch das über die »Gustave« darin angelegte Sehnen nach Geschwistern von dieser Reinheit geprägt. Angelegt ist hier die von allen Widrigkeiten realer Gegebenheiten gereinigte Form einer Geschwisterideologie, wie sie auch in den historischen Lexika die Semantik des Geschwisterbegriffs bestimmt: gut, gerecht, egalitär und voller Liebe zum anderen. Auf dieser Basis ermöglicht das Auftreten gelebter Bruder- und Schwesterschaft in den »auf zwei Füße gestellten Schafe[n]« (I/1,66) eine Differenzerfahrung von Ideologie und Realität, die nicht nur textimmanent als zwei Qualitäten von Herrnhutertum in der Unsichtbaren Loge unterschieden werden kann, sondern sich auch aus dem kulturellen Wissen der Zeit speist.30 Mit seiner Doppelbesetzung des Herrnhutertums vermag Jean Paul unter der satirischen Überzeichnung realer institutioneller Geschwisterschaft eine reine Geschwisterideologie mitzuführen, die er an strategisch wichtiger Stelle, dem »Ausläuten oder Sieben Letzte Worte an die Leser« beschreibt als »das verschwisterte Herz für uns [...], nach dem wir uns sehnen.« (I/1,465)31 Die Treffsicherheit, mit der sich Gustav in seinem zukünftigen Lebensweg von Geschwisterstrukturen bestimmen lässt, belegt, dass der »Chorton seiner überirdischen, d. h. unterirdischen Erziehung« nach dem »sein ganzes Leben klang«, (I/1/,53) geschwisterlich komponiert ist: Nicht von ungefähr verweist der Begriff des Chors an dieser wegweisenden Stelle auf das pädagogische Konzept der Herrnhuter, unter deren Schirmherrschaft ja auch Gustavs Erziehung steht.32 29

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Motiv und Wort des Doppelgängers verdanken Jean Paul bekanntlich ihren entscheidenden Durchbruch in der deutschen Literatur, vgl. Teil I, Kap. 2.5.2. In der Vorschule beruft auch Jean Paul sich auf Plautus, hier, um die unheimliche Seite der Figuration von der komischen abzusetzen: »Und warum hingegen könnten zwei ähnliche Brüder und Menächmen, zugleich beisammen geschauet, leichter Schaudern als Lachen erregen?« (I/5,113) Vgl. zur historischen Enzyklopädie der Geschwisterbegriffe Teil I, Kap. 2.1. und zur Differenzerfahrung zwischen Ideologie und Realität institutioneller Geschwisterschaften am Beispiel der Geheimbünde, Teil I, Kap. 2.4.1. In diese Richtung – wenn auch nicht im Hinblick auf die Geschwisterthematik – zielt auch die Lektüre Sinns 1998, S. 153, die aus der Differenz von »Geist und Buchstabe des Pietismus« gegenüber den auftretenden Herrnhuterinnen »das Ideal einer wahrhaft unsichtbar gewordenen Loge« herleitet. Zur prägenden sozialen Einheit des Chors für herrnhutische Kinder und Jugendliche vgl. Teil I, Kap. 2.4.3. In der ersten Auflage heißt es »Karton« statt »Chorton« (vgl. Pauler 1981, S. 47) und ist damit enger an die Isotopie von Tod und Auferstehung Christi denn an die Sozialstruktur des Herrnhutertums gebunden.

1.2

»Sogar bis auf die Haare«: leiblich-materielle Geschwisterbeziehung

Die in den Vorarbeiten entworfene äußere Ähnlichkeit der Halbbrüder Gustav und Guido konkretisiert sich im ausgearbeiteten Text in jenem »Hals-Gehenk«, (I/1,68) das der auferstandene Gustav nach seiner geheimnisvollen dreitägigen Abwesenheit mit bringt und das Ausgangsort einer ganzen Reihe von Verhandlungen über Ebenbildlichkeit wird. So stellen sich angesichts der medial-materiellen Verdoppelung Gustavs im »Hals-Gehenk« Fragen nach dem Verhältnis von Original und Kopie respektive von Signifikat und Signifikant. Die Konstellation von lebendigem Urbild und repräsentiertem Abbild wird zweitens im Kontext des Verhältnisses von äußerer Erscheinung und Innenraum situiert und verhandelt dabei die Frage nach der Lesbarkeit von Körper und Seele entlang des zeitgenössischen Physiognomikdiskurses. Dass das vermeintliche Abbild gemäß beigelegtem Kommentar einen anderen, den Halbbruder Guido zeigt, entwirft drittens die Spannung zwischen Selbstrepräsentation – und damit der Möglichkeit einer Selbstzeugung im Medium – und dem von jeder Urheberschaft durch das ego ausgeschlossenen Dasein eines Geschwisters, mit dem das ego auf seine Kontingenz verwiesen wird. Die Beziehung zwischen der handelnden Figur Gustav und dem Bildmedium Guido bleibt in dieser ambivalenten Position zwischen Objekt und Zeichen, zwischen Innenraum und äußerer Erscheinung sowie zwischen Selbstrepräsentation und Bruderbeziehung. Im Textverlauf werden diese Ambivalenzen jeweils in beide Richtungen hin ausgelotet und in immer weiter führenden Digressionen zu eigenen Themenkomplexen verdichtet. Im Folgenden soll es vor allem um die Genese dieser Ambivalenzen in der Loge gehen. Wie kommt es, dass die Grenze zwischen einer handelnden Figur und einem Bild, einem »Farben-Nichts«, (I/1,196) so labil ist, dass eine Verwechslungsgefahr zwischen den beiden besteht? Verschiedene Textstrategien arbeiten darauf hin und generieren sich aus der spezifischen Figuration, in der die Beziehung zwischen Gustav und Guido eingeführt und begründet wird. Am Anfang steht eine Fehlinformation: Der Text führt das Porträt, das nach Gustavs dreitägigem Verschwinden um seinen Hals hängt, als sein eigenes Bild ein: »Am Halse hing in einem schwarzen Bande sein Porträt.« Eine zugehörige Karte legt jedoch das Bild aus und weist es dem »verlorne[n] Guido« zu, der Gustav »so ganz, sogar bis auf die Haare« gleicht. (I/1,68) Beim ersten Auftreten ist es die auslegende Schrift einer Anonyma, die die Grenze zwischen Bildzeichen und Bezeichnetem regelt und die Selbstrepräsentation von der Repräsentation des Bruders unterscheidet. Doch gelingt diese Differenzierung nur vorläufig, denn die Bild-Schrift-Konfiguration ist von Anfang an auf Grenzüberschreitungen hin angelegt. Das zeigt sich schon in der Fortsetzung des Kommentars der anonymen Briefschreiberin, die sich als Mutter Guidos zu erkennen gibt: »[U]m das Ebenbild meines Guten doppelt zu haben«, (I/1,68) hat sie sich auch Gustavs Porträt malen lassen, womit von nun an mehrere, hinsichtlich ihrer äußeren Anmutung von einander ununterscheidbare Porträts im Textverlauf zirkulieren. Dies fordert die 151

Interpretationsarbeit sowohl auf der Ebene der handelnden Figuren als auch auf derjenigen der textuellen Mitarbeit durch die Lesenden heraus. Dabei wird evident, dass die dem Bild jeweils zugehörige Schrift den – in der »Hals-Gehenk«-Szene begründeten – Anspruch, Eindeutigkeit herzustellen, nicht einhalten kann. So lässt einige Zeit später die vormalig anonyme Briefschreiberin, Guidos Mutter und derzeit Frau von Röper, angesichts der entstandenen Bilderverwirrung ausrichten, dass der Namenszug Falkenberg auf der Rückseite eines für Guido gehaltenen Bildes »alle übrige Ähnlichkeiten widerlege«. (I/1,241) Die Gewissheit, die sie aus der Beschriftung ableitet, ist jedoch nur eine vordergründige: Da Falkenberg als Familienname auf den Namen des Vaters verweist und Guido wie Gustav gemäß der entfalteten Genealogie vom selben Vater abstammen – was niemand besser wissen muss als Frau von Röper –, erweist sich die Schrift als zweideutig und stärkt die gegebene Ambivalenz, statt sie aufzuheben. Die Rezeption von Figur und Bild der beiden sich zum Verwechseln ähnlichen Brüder ist im Textverlauf stets auf zusätzliche Kriterien angewiesen, um den richtigen Interpretationsentscheid zu treffen. Ein solches Differenzkriterium führt nun schon die erste Beschreibung der äußeren Erscheinung der Brüder ein. In jener beigelegten Karte zum Hals-Gehenk bezeichnet Frau von Röper die beiden als »himmlisch schön«.33 In dieser näheren Bestimmung der Jünglingsschönheit sind zwei Lesarten angelegt, die sich aufgrund der qualitativen Differenz der Zugehörigkeit zum Himmel von Gustav oder Guido jeweils einem Bruder zuordnen lassen: Gustavs Affinität zum Himmel hat ihren Grund in seiner unterirdischen Erziehung und deren Konzept, die Erde in seiner Seele als Himmel zu konstruieren. Seine Schönheit ist damit eine irdische, die himmlisch nur genannt wird. Von Guido dagegen wissen wir wenig mehr, als dass dieser vom »Schicksal auf eine sonderbare Art [...] lebendig aus dem Schoß« der Mutter genommen worden ist. (I/1,68) Da der Text Guido nicht wieder bringt, sondern stets als ›verloren‹ markiert,34 liegt es nahe, seine Verbindung zum Himmel als die Teilhabe eines tatsächlich Verstorbenen an der Transzendenz zu lesen.35 Mit dieser Lesart ist nicht nur eine Differenzierung hinsichtlich des ontologischen Status von Gustav und Guido in der Textwelt, sondern auch ein erstes

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»O nicht, weil er so himmlisch schön, sondern weil er so ganz, sogar bis auf die Haare, wie mein teuerer verlorner Guido aussieht, kann ich ihn kaum lassen«. (I/1,68) Das Attribut der Himmelsschönheit wird in der Loge auch für die Figur des Genius verwendet (vgl. I/1,53) und ist damit ein weiteres Argument für die konzeptionelle Zusammengehörigkeit der drei Figuren. Vgl. die wiederkehrende Formulierung vom »verlorne[n] Guido« I/1,68, 69, 175, 176, 196. Als Gustavs alter ego und Seliger zugleich bezeichnet Guido damit auch genau jene Differenz in der Menge der »guten Menschen«, die durch die typographische Markierung in der Benennung des Genius als »Gustave und Selige« bestimmt worden ist. (I/1,55) Darüber hinaus greift diese Doppelgängerkonstellation die tradierte Vorstellung der Engführung von Doppelgänger und Tod auf, vgl. Teil I, Kap. 2.5.2.

Kippen der Notationen von Original und Zeichen verbunden: Guido, das Bildmedium, erhält gemäß dieser Signatur die Qualifizierung ›echt‹, der lebendige Gustav dagegen wird dem Bereich des Metaphorischen zugeschrieben. Diese Verunsicherung über den Status von Echtem und Übertragenem steht am Anfang einer ganzen Reihe von Grenzüberschreitungen und Durchlässigkeiten, die rhetorisch die Austauschbarkeit von Original und Kopie befördern und damit die Vorstellung von Authentizität als Illusion entlarven: Auf der Basis der äußeren Erscheinung, so die Quintessenz dieser Erzählmanöver, steht die Frage nach Echtheit so sehr unter Täuschungsverdacht, dass sie sich als unbeantwortbar erweisen muss. Denn die äußere Erscheinung figuriert auf der Ebene des Zeichens und der damit grundsätzlich gegebenen Möglichkeit der Täuschung.36 An diesem Punkt bricht die Argumentation um die äußere Erscheinung ab und geht über in das »Zweite Extrablatt« oder die »Strohkranzrede eines Konsistorialsekretärs, worin er und sie beweisen, daß Ehebruch und Ehescheidung zuzulassen sind«. Die »Extrablätter« der Loge formulieren satirische Kommentare oder Digressionen zuvor entfalteter Themenkomplexe, markieren also nur scheinbar einen Bruch in der Logik des Textes. Sie machen damit formal kenntlich, was Jean Paul, von den Jugendsatiren und einem schülerhaften – wie er es selbst beurteilt hat – empfindelnden »Romängen« herkommend, (II/1,172)37 in der Loge als seinen spezifischen Schreibstil entwickelt: das Zugleich von empfindsamer und satirischer Schreibweise. Zu Jean Pauls Doppelschreibweise wird in der Forschung gewöhnlich jener Brief an Karl Ludwig von Knebel vom 16. Januar 1807 zitiert, in dem Jean Paul seine Schreibweise eine ständige Bewegung zwischen »Hesperus-Rührung und Schoppens-Wildheit« nennt. (SWIII/5,126)38 Doch schon in der Loge findet sich eine entsprechende poetologische Reflexion, die den Wechsel zwischen »Empfindsamkeit« und – wie es hier für die satirische Schreibweise heißt – »Stiefelwichsen« als eine Notwendigkeit des eigenen Schreibens darstellt. (I/1,361)39 Und so wechseln denn von der Loge an empfindsame und satirische Schreibweise bei Jean Paul stets und dies in den unterschiedlichsten Formen: schnell und langsam, subtil und direkt, vermittelt und unvermittelt und kommentieren die entfalteten Themenkomplexe gegenseitig sowohl erhellend als auch verdunkelnd oder überlassen es

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Jean Paul nimmt mit seiner Zeichentheorie in gewissem Sinne Umberto Ecos prägnante Definition der Semiotik als einer »Theorie der Lüge« vorweg. Vgl. Eco 1991, S. 26. Vgl. »Mein eigen Urteil über den Abelard, den 9. August 1781«: »Dieses ganze Romängen ist ohne Plan gemacht, die Verwiklung felt gänzlich und ist altäglich und uninteressant. [....] bei vielem empfindet man nichts, eben weil es ser – empfindelnd sein solte.« Die ganze Formulierung lautet: »Die zwei Brennpunkte meiner närrischen Ellipse, Hesperus-Rührung und Schoppens-Wildheit, sind meine ewig ziehenden Punkte; und nur gequält geh’ ich zwischen beiden, entweder blos erzählend oder blos philosophierend, erkältet auf und ab.« (SWIII/5,126) Vgl. ausf. zu dieser Stelle Teil II, Kap. 4.2.

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manchmal auch ganz der Kombinationsgabe der Lesenden, dabei Korrespondenzen herzustellen oder solches zu unterlassen. Das »zweite Extrablatt« der Loge führt von diesem Potenzial der Doppelschreibweise schon einiges vor. Die »Strohkranzrede« folgt direkt auf die »Hals-Gehenk«Szene respektive die sie beschließende Schönheitsbeschreibung Gustavs und tut dies unvermittelt, wie der Textübergang noch unterstreicht: »Der Leser sollte wissen (es geschieht aber weiter hinten), was mich jetzo nötigt, meinen Sektor plötzlich auszumachen und einzusperren….«. (I/1,70) Auf diese Leseanweisung kommt der Erzähler aber »weiter hinten« nicht mehr zurück, aus gutem Grund, wie die Lektüre unter der hier verfolgten Perspektive zeigen kann:40 Das »Extrablatt« selbst liefert das Wissen für einen pragmatischen Ausweg aus dem durch das »Hals-Gehenk« aufgeworfenen Dilemma um Echtheit. Ausgehend vom physiologischen Befund der Erneuerung der Körperzellen entwickelt das »Extrablatt« eine satirisch-materialistische Körperwechseltheorie für Ehepaare, die unter anderem anhand der Geschwisterisotopie illustriert wird und damit auch auf der manifesten Textebene an das Vorhergehende anknüpft: »in 3 Jahren dampfe der eine Zwilling-Bruder weg und schieße der andere an.« (I/1,71) Ehepaare begingen damit automatisch alle drei Jahre Ehebruch, da dann jeweils »im Ehebette bloß ein Gipsabdruck oder eine zweite Auflage« liege, »die der vorige Körper von sich darin gelassen und in welcher kein altes Blatt der alten mehr ist.« (I/1,71) Als Lösung des Dilemmas schlägt das »Extrablatt« vor, die Kopien alle drei Jahre formal in die Rechte der weggedampften Originale einzusetzen, nicht ohne dabei an den materiellen Gewinn der für Scheidung und Wiederverheiratung zuständigen Konsistorien zu denken. Die Kopien garantieren hier jene Kohärenz und Kontinuität, die in einer herkömmlichen Vorstellung dem Original zukommt: Kopie und Original sind damit, so die pragmatische Lösung des »Extrablattes«, gleichrangig zu behandeln, ja letztlich gewinnen die Kopien gegenüber den Originalen an Wert, da sie durch ihre im Prinzip infinite Iterierbarkeit beständiger als die physisch anfälligen Originale sind. Der Status von Original und Kopie wird im Textverlauf anhand der mit dem »Hals-Gehenk« begründeten Konstellation von Bild und Figur wiederholt verhandelt und auf Durchlässigkeiten hin ausgelotet. Poetologisch wird damit die Frage erörtert, inwieweit Figur und Bild rhetorisch austauschbar sein können. Dies geschieht erstmals schon bei jener näheren Bestimmung der Jünglingsschönheit, die zwischen der Hals-Gehenk-Szene und dem »Extrablatt« gleich zweifach zu lesen ist: nämlich »von vornen« und »von hinten«. In der Beschreibung »aus der Vernunft oder von vornen« (I/1,69) gehen rhetorisch Figur und Bild ineinander über: Über die Metaphorik entsteht anstelle von Gustavs Gesicht ein Landschaftsbild,

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Auch Berend weist auf die fehlende Einlösung dieser Erklärung hin und sieht darin eine störende Erzählinkonsequenz, wobei er ausdrücklich einen möglichen Zusammenhang des »Extrablattes« mit dem Kotext ausschließt. Vgl. SWI/2,459.

mit weitem, von Schleierwolken durchzogenem Himmel, mit einem Waldstück mit schönem und unverletztem Gewächs sowie einem Treibhaus, in dem blassrosa und dunkle Rosen neben weißen Lilien blühen. Hier gibt es, dies nur nebenbei, nicht nur rhetorische Durchlässigkeiten zwischen Figur und Bild, sondern auch zwischen den Geschlechtsidentitäten: Eine derart auf Pflanzenmetaphorik zurückgreifende Schönheitsbeschreibung fügt dem Jüngling eine Signatur des Weiblichen hinzu.41 Der rhetorische Austausch von Figur und Bild akzentuiert einmal mehr das ambivalente Verhältnis von Bezeichnetem und Zeichen. Wesentlich erleichtert werden diese Tauschhandlungen dadurch, dass Figur und Bild einer Geschwisterkonstellation zugeordnet sind: Damit ist die Textbewegung auf einer Horizontalen situiert und qualitative Sprünge, wie sie beim Übergang von Figur und Bild sehr wohl vorstellbar wären, können so ausgeblendet werden. Im weiteren Handlungsverlauf führt die Austauschbarkeit von Bildmedium und handelnder Figur schließlich dazu, dass das Bild die Handlungspotenz einer Figur erhält: Der als Figur ›eigentlich‹ verschwundene Guido greift als Bild wiederholt – und wie zu zeigen sein wird – entscheidend in den Handlungsverlauf ein und wird damit zu einem Akteur auf der Ebene der handelnden Figuren. 42 Diese Energie bezieht das Bildmedium jedoch nicht allein aus den im »HalsGehenk« mehrschichtig angelegten Tauschmöglichkeiten, sondern auch aus einem darin wirkenden Diskursimport: Es ist das die Zeitgenossen stark interessierende kulturelle Phänomen des ›Fetischs‹, das im »Hals-Gehenk« mitwirkt. Mit Charles de Brosses viel rezipierter und 1785 ins Deutsche übersetzten Studie Ueber den Dienst der Fetischengötter oder Vergleichung der alten Religion Egyptens mit der heutigen Religion Nigritens wurde das exotische Phänomen des Fetischs als ein in die eigene kulturelle Gegenwart transponierbares Konzept verstanden, mit dem wirkende Kräfte in den Dingen selbst verortet werden konnten.43 Das »Hals-Gehenk« partizipiert von seiner Einführungsszene an, in der es wie ein Amulett getragen wird, am 41

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Insbesondere bei Jean Paul selbst ist die metaphorische Engführung von Pflanzen mit Figuren respektive Blumen mit Gesichtern vor allem weiblich denotiert, vgl. dazu Teil II, Kap. 1.3. Die Durchlässigkeit von Figur und Medium funktioniert für Guido noch in einer weiteren Dimension. Das Attribut des Verloren-gegangen-Seins, mit dem die Figur Guido konsequent bezeichnet wird, geht im Textverlauf metonymisch von der Figur auf ihr Bild über: Es beginnt mit »mein teuerer verlorner Guido« (I/1,68) und »der verlorne Guido« (I/1,69) und geht über zum »Bild seines Guido«, das in der zugehörigen Anmerkung als »Bild des verlornen Kleinen« spezifiziert wird. (I/1,175) Gustav erhält dann das Bild Guidos als eines von fünf großen Dingen, über die im Jenseits gerichtet werden wird, ob er sie »erhalten oder verloren« hat. (I/1,176) Vgl. zu dieser Motivreihe auch I/1,196: »das Porträt des verlornen und ihm ähnlichen Guido«. Parallel dazu sucht Beata das Porträt ihres Halbbruders Guido, das sie verloren hat, und findet es schließlich bei Gustav, worauf dieser das Porträt wieder an Beata ›verliert‹. Zu dieser »Guido-Bilderstürmerei«, (I/1,210) die Teil der Liebesgeschichte der Loge ist, vgl. Teil II, Kap. 2.2.1. De Brosse war im Original erstmals 1760 erschienen. Zu Begriff und Konzept des Fetischs um 1800 vgl. Weder 2007.

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Fetisch-Diskurs und realisiert die dem Fetisch zugeschriebenen Kräfte in seinem Weg durch den Text, so dass es schlussendlich den Status einer handelnden Figur einnehmen kann. Die materielle Seite des Zeichens, das »Farben-Nichts,«(I/1,196) verweist damit nicht nur semiotisch auf etwas Anderes – den bezeichneten Guido und vice versa auf den diesem ebenbildlichen Gustav – sondern wird als Ding in einer Art Substantiation mit Handlungspotenz aufgeladen. Doch diese starke Gewichtung der Materialität des Signifikanten wird im Textverlauf durch zwei zentrale Argumente relativiert. Zum einen konterkariert die Frage nach dem zugehörigen Innenraum die Potenz des Bildmediums, zum andern begrenzt die Situierung von Figur und Bild in einer Geschwisterkonfiguration die potenziell auf unendliche Iterierbarkeit angelegte Selbstrepräsentation. Der erste Einwand trifft ins Zentrum jenes Erkenntnisproblems, das Jean Paul zeitlebens und in immer neuen Ansätzen beschäftigt hat: Wie hängen Leib und Seele zusammen? Mit dem in der Loge entworfenen Konzept des »hohen Menschen« (I/1,221ff.) findet Jean Paul eine mögliche Lösung des commercium mentis et corporis in platonischer Tradition: Die Fokussierung auf die Seelenbildung, die die existenzielle Gegebenheit des Leibes als zwar unhintergehbar, aber störend begreift, liefert die Leitlinie für den Bildungsweg des Romanhelden. Zahlreich und in der Forschung vielfach rezipiert sind darum die Äußerungen, die die Seele hoch und auffliegend, den Körper dagegen niedrig und beengend werten: »so sieht man, daß die größten Bewegungen unsers Ich nur vielleicht außerhalb des Körpers ihren vergönnten geräumigern Spielraum antreffen.« (I/1,224)44 Doch der Status des das Körperäußere repräsentierenden »Hals-Gehenks« im commercium mentis et corporis erhellt sich weniger aus dieser allgemeinen Zuordnung zur Makroproposition der Lebensbeschreibung, sondern spezifischer aus einer Allegorie des Seelen-Lesens, die Jean Paul in den zwei kleinen Beschreibungen von der Jünglingsschönheit und dem Bild von ihr als Engführung zweier dominierender zeitgenössischer ästhetischer Diskurse entwickelt: Die Verschränkung von Physiognomik- und Laokoondiskurs erlaubt ihm an dieser Stelle zu zeigen, dass Poesie als bildliches Reden einen Zugang zu einer möglichen Seelenlektüre bietet, während die bildende Kunst, der klassische Ausgangsort der Lesetheorie der Physiognomik, sich dafür als unvernünftig erweist. 45

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Ausführlicher zum Konzept des »hohen Menschen« vgl. Teil II, Kap. 3.2. Der Laokoon-Diskurs über das Verhältnis der Künste ist der größere Rahmen, in dem sich der im Folgenden an der Geschwisterbeziehung der Loge exemplifizierte Physiognomikdiskurs situiert. Da auf diesen großen Rahmen in der angemessenen Weise hier nicht eingegangen werden kann, mögen einige kurze Hinweise als Anregung dienen: Die Diskussion über die Beziehung der Künste zueinander wurde mit Lessings Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766) und den zahlreichen Reaktionen darauf gerade um 1800 besonders engagiert geführt. Auch Jean Paul beteiligt sich an dieser Debatte, zahlreich und kontrovers sind seine theoretischen Betrachtungen und literarischen Reflexionen über Bild und Schrift, die eine umfangreiche Forschung da-

In der oben angeführten Beschreibung von Gustavs Schönheit »aus der Vernunft oder von vornen« entsteht sein Gesicht metaphorisch als ein Landschaftsbild, das »schöne[s] Gewächs«, bar jeder zerstörerischen Einschnitte, und den »offne[n] Himmel« darstellt. Es ist vor allem dieser »offne Himmel«, an dem sich die Allegorie des Seelen-Lesens festmachen lässt: Zum einen ist es die paradigmatische Assoziation zum offenen Buch, die sich dabei einstellt, zum anderen und wichtigeren ist das Sinnesorgan, für das der Himmel in der Schönheitsbeschreibung metaphorisch steht, jenes, an dem sich hier wie anderswo bei Jean Paul Seele konkretisiert: »Sein Auge war der offne Himmel«. (I/1,69) Das Auge, gerade in dieser Singularformulierung, steht bei Jean Paul als »Ehrenpforte« (I/1,70) zur und als »Kleinleib« der Seele. 46 Seele ist, so hält Jean Paul wiederholt fest, grundsätzlich nur durch Bilder darstellbar. 47 In Gustavs Schönheitsbeschreibung »von vornen« ist es explizit das Sprachbild, das eine Seelendarstellung ermöglicht: Poesie als bildliches Reden und zwar als »[p]oetische Landschaftsmalerei« (I/5,288) ist die dafür geeignete Form, so lautet die hier formulierte vorsichtige Antwort auf die Frage nach der Darstellung und Lesbarkeit von Korrespondenzen zwischen Seele und äußerer Erscheinung. 48 Vorsichtig darum, da sich die Jünglingsschönheit über die Allegorie der Landschaftsmalerei wie in einem offenen Buch zwar als Seelenschönheit lesen lässt, doch nicht ohne Abstriche: Der »offne Himmel« bleibt nicht ganz unbedeckt: »lang[e] Augenwimpern […] verschleier[n] oder verschöner[n]« seine Lesbarkeit. (I/1,69)49

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rüber angeregt haben. Vgl. u.a. Pfotenhauer 1999, 1996, Schmitz-Emans 1999, 1995, Esselborn 1989. In der Loge verhandelt Jean Paul den Status von Bild und Schrift und ihrer Kontiguitäten und Differenzen wiederholt im Rahmen der Geschwisterbeziehung. Zwischen Gustav und Guido herrscht ein reges Hin und Her von Bild und Schrift: Die Bilder führen ein Eigenleben, bedürfen aber der Schrift, um interpretiert zu werden, wobei sowohl die Bildbetrachtung als auch die Schriftauslegung zu Fehlurteilen führen kann. Indem Jean Paul die Verhandlungen um Schrift und Bild auf Geschwisterebene durchspielt, situiert er das Verhältnis der Künste auf einer Horizontalen. Damit ergibt sich eine egalitäre Ausgangslage, in der Fragen der Ähnlichkeit und Differenz, von Symbiose und Rivalität sowie der Effektivität der beiden Medien diskutiert werden können. Den kulturhistorischen Rahmen dafür liefert die ihrer Intelligibilität nicht nur um 1800 viel genutzte Beschreibungsform der Künste als Schwestern (z.B. in Lessings Laokoon, Werke 5.2, S. 83), deren Primärerzählung von den Musen handelt. Vgl. auch: »so öffneten sie sich einander ihre Augen und ihr Innerstes; die zwei entkörperten Seelen schaueten groß ineinander hinein«. (I/1,385) Am prägnantesten drückt Jean Paul den Zusammenhang von Auge und Seele in einem Aufsatz von 1813 über den organischen Magnetismus aus: »Das Auge ist eigentlich der Kleinleib der Seele« (II/2,905). Vgl. dazu Dangel-Pelloquin, 1999, S. 61ff. Vgl. Schmitz-Emans 1986, S. 85ff. Zu Jean Pauls differenzierter Argumentation über den Zusammenhang von Darstellbarkeit und Lesbarkeit von Leib und Seele und dem jeweiligen Anteil der Künste daran vgl. die § 79ff. der Vorschule. Auch die mit den Begriffen von Schönheit und Schleier verbundenen langen Wimpern bestärken Gustavs Signatur des Weiblichen.

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Gegenüber dem Sprachbild erweist sich das aus konkreten Farben gemalte Bild als unvernünftiger Weg, Seele zu erfassen. Dies ist die Quintessenz der zweiten Beschreibungssituation, die sich Gustavs Seelenschönheit »von hinten« nähert. (I/1,69) Anhand der formalen Situation der Physiognomik – ein Porträt wird auf der Basis der stabilen Körperzeichen, insbesondere des Schädelbaus, gedeutet – wird die zentrale physiognomische These »durch das Aeußerliche eines Menschen sein Innres zu erkennen«50 satirisch unterlaufen: Der zehnjährige Gustav ist aufgrund solcher Kriterien gleichauf mit Geistesgrößen wie Shakespeare und Winckelmann, zwischen deren Porträts das seinige im Arbeitszimmer des Lebensbeschreibers hängt.51 Neben den prekären Rückschlüssen von der äußeren Erscheinung auf den Innenraum beschränkt nun aber noch ein zweiter Verweisungszusammenhang die Potenz des Bildmediums, und dies im wahrsten Sinne des Wortes: Als Teil der geschwisterlichen Horizontale kann es sich nicht selbst fortzeugen. Ein Geschwister eröffnet im Unterschied zu einer Selbstrepräsentation eine heterogene Reihe, die nicht aus Vervielfältigungen des Ichs, sondern aus unterschiedlichen Anderen besteht und somit das ego nicht seiner selbst versichert, sondern auf seine Kontingenz verweist. Die in der »Hals-Gehenk«-Szene eingeführte Spannung zwischen der Selbstrepräsentation Gustavs und der Repräsentation des Bruders52 wird vom Text her nicht endgültig aufgelöst. Sowohl die Isotopie der Geschwisterschaft als auch diejenige der Selbstzeugung ist also zulässig. Doch macht es einen Unterschied, welche der beiden Isotopien als die dominante und welche als ihr Widerpart gelesen wird, denn der genealogische Kontext, aus dem sie sich speisen, hält sie in einem widersprechenden Verhältnis. In der Forschung werden Jean Pauls erfindungsreiche Figurenvervielfältigungen gewöhnlich als Reproduktionen und die männlichen darüber hinaus als Wiederholungen des (Autor-)Ichs gelesen.53 Das bietet sich aus zahlreichen Stellen nicht nur aus den literarischen Texten, sondern auch aus den Briefen und Exzerpten an. Darin dominiert eine »literarische Biologie«, die sich vertikal an Zeugung und Reproduktion orientiert und die Modelle von Präformation, der in einer Urzeugung vorgeformten Keime, aus denen sich alles Leben plangemäß entwickelt, und von Epigenesis, der eigenständigen und kontingenten Entwicklung des Lebens, gegeneinander abwägt und auf ihr Potenzial zur Selbstzeugung hin auslotet: als »Biologie

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Lavater 1999, S. 21. Physiognomik ist ein zentrales Thema bei Jean Paul und hat in der Forschung die entsprechende Aufmerksamkeit erhalten, zu nennen sind hier insbesondere Pabst 2007, zu Jean Paul S. 167ff., Käuser 1989, S. 241ff., zur Loge S. 258ff, Och 1985. Vgl. I/1, 68: »Am Halse hing in einem schwarzen Bande sein Porträt« und: »Das Porträt werden Sie für seines halten, so ähnlich ist er meinem Sohn; aber es ist das meines Guido«. Vgl. I/2,430. Wegweisend hierfür ist Kommerell 1966 (1933), vgl. grundsätzlich dazu Teil I, Kap. 2.5.2.

der ersten Person«.54 In der Loge jedoch werden die mit dem »Hals-Gehenk« verbundenen Wiederholungen des Ichs dominant mit der Geschwisterisotopie verbunden. Das »schön[e] Gesich[t]«, (I/1,64) das Gustav und das nicht in die entscheidenden Details eingeweihte Romanpersonal jeweils auf den diversen Porträts für das seinige halten, ist fast immer ein anderes, nämlich das seines Bruders Guido. Die aus dieser sich am Körperäußeren manifestierenden Geschwisterbeziehung resultierende Verunsicherung über Gustavs eigene Genealogie geht so weit, dass er selbst das in Frage stellt, was biologisch – bis ins ausgehende 20. Jahrhundert – unfehlbar festgestellt werden kann: »ob die Rittmeisterin von Falkenberg, [...] die bekanntlich Gustavs Mutter ist, ob die – sie wirklich sei ...«. (I/1,314) Dies ist von umso größerer Bedeutung, als es dabei nicht nur um die eigene Herkunft, sondern auch die Zukunft geht: Denn der heranwachsende Gustav ist in Beata verliebt, deren genauer Grad und Status von Verwandtschaft zu Guido und damit auch zu ihm selbst entscheidend für die Zulässigkeit und Erfüllung dieser Liebe ist.

1.3

»Sein Schwesterchen, das mit ihm gespielet«: seelisch-imaginäre Geschwisterbeziehung

Guido ist in der Genealogie der Unsichtbaren Loge nicht nur der Halbbruder Gustavs, sondern auch derjenige Beatas, der Tochter des Ehepaars von Röper. Gustav und Beata haben in Guido, ohne selbst biologisch miteinander verwandt zu sein, einen gemeinsamen Halbbruder. Vor dem Hintergrund dieser genealogischen Konstellation wird die Beziehung von Gustav und Beata in der Kindheitserzählung als Geschwisterbeziehung initiiert und im Verlauf ihrer Transformation zur Geschlechterliebe in obsessiver Weise von Geschwisterverhältnissen überlagert. Hier soll es in erster Linie um die Genese dieser Beziehung gehen, die eigentliche Liebesgeschichte ist dann das Thema des nächsten Kapitels. Eingeführt wird Beata zugleich mit dem »Hals-Gehenk« und lange vor ihrem Eintritt als handelnde Figur in den Text als Erinnerung Gustavs an ein namenloses »Schwesterchen, das mit ihm gespielet«. (I/1,68) Wie die »Hals-Gehenk«-Szene für Gustav und Guido, so ist die Erinnerung an das Spiel mit der Schwester die wiederkehrende Wendung, die die Beziehung von Beata und Gustav begründet.55 Drei Aspekte halte ich daran für signifikant: Erstens ist die Position der Schwester entpersonalifiziert, sie fungiert als reine Rolle, ohne durch einen Eigennamen auch als Person in Betracht zu kommen. Die Begegnung von Bruder und Schwester steht zweitens im Zeichen des Spiels. Und sie wird drittens nicht als präsente oder zukünftige, sondern als erinnerte Beziehung zur Sprache gebracht.

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Pfotenhauer 2002, S. 461ff., 471. Vgl. I/1,68, 87, 176, 204.

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Das dreitägige Zusammensein mit jenem »Schwesterchen, das mit ihm gespielet« (I/1,68) in der Kindheit ist alles, worauf sich Gustavs Erfahrung, eine Schwester zu haben, gründen kann. Dass dies eine unauslöschliche Erinnerung an eine Schwester stiftet, auf die im Textverlauf sehnsüchtig zurückgegriffen wird, ist für sich genommen wenig plausibel. Zumal die Beschreibung dieser Geschwisterschaft jeder persönlichen Note entbehrt, sie ist allein auf struktureller Ebene angesetzt. Erklärungsansätze für die Wirkung dieser Schwesterrolle sind darum auch auf der strukturellen Ebene sowie grundsätzlich in der kulturhistorischen Konstellation zu Geschwisterschaft um 1800 zu suchen. Wie im einführenden Teil zu Geschwisterbeziehungen dieser Studie gezeigt, fungiert Geschwisterschaft als »universal einsetzbares gedankliches System«, um soziale Beziehungen zu peers zu strukturieren.56 In Jean Pauls Texten und insbesondere in der Loge ist es das Denkmuster par excellence, in dem Beziehungen derselben Generation organisiert sind. Dies nicht nur darum, weil Familie – wie auch immer sie konkret gefasst wird – grundsätzlich das primäre soziale und psychische Orientierungsmodell der Beziehungsfähigkeit bildet, sondern vor allem auch aufgrund der spezifischen kulturellen Disposition um 1800: der Fokussierung auf die Geschwisterbeziehung und dabei ganz besonders auf diejenige zwischen Bruder und Schwester. Wie im kulturhistorischen Teil dargelegt, lässt sich sowohl in verschiedenen Diskursen als auch in sozialen Praxen eine regelrechte Obsession auf die Bruder-Schwester-Dyade diagnostizieren. In der symbolischen Ordnung um 1800 strukturiert das Bruder-Schwester-Paar die Geschlechterbeziehung im Spannungsfeld von sexualitätsferner, empfindsamer Geschwisterliebe und dem sexuellen Tabu des Inzests, das sich unter anderem in der literarischen Szenographie der inzestuösen Szenographie produktiv fortschreibt. Gestützt wird diese brisante Verbindung durch einen cluster von sozialen Energien und kulturellen Vorstellungen zu eigentlichen, weiteren und figürlichen Geschwisterschaften, die in ihrer wechselseitigen Ermächtigung eine bisher nicht da gewesene Validierung der horizontalen Struktur leisten.57 In diesem Sinne fungiert Geschwisterschaft in der Loge als elementar semantisches Paradigma für soziale Beziehungen, das auf unterschiedliche Weise aktualisiert wird. Für die Bruder-Schwester-Beziehung möchte ich diese horizontale Tiefenstruktur in einem ersten Schritt textimmanent und diskurshistorisch kurz skizzieren, um dann zweitens danach zu fragen, wie sie performativ aktualisiert wird. Dass dabei der Begriff des Spiels zentral ist, lässt schon vermuten, dass hier die textuelle Welt mit den Mitteln, die in der heutigen Theoriesprache die Doppelformel von Performance/Performativität58 bereit stellt, auf ihre eigene Herstellung

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Jussen 2001, S. 40. Vgl. ausf. dazu Teil I, Kap. 1.2. Vgl. Teil I, Kap. 2.1, 2.2. und 2.3. Ausf. zum theoretischen Kontext um die Doppelformel Performance/Performativität und die vor allem von den Performance und Gender Studies vollzogene kulturwissen-

anspielt. Die weiteren Überlegungen gelten dann dem dritten und im Hinblick auf die weitere Textentwicklung wichtigsten Bereich, der Lokalisierung der Geschwisterbeziehung im Innern. Begleitet wird diese Argumentation zur seelisch-imaginären Geschwisterbeziehung anlässlich der Analyse des Traums von der blauen Blume der Loge durch einen intertextuellen Vergleich zum stilbildenden Text für dieses nachmalig berühmteste Symbol romantischen Denkens, den Heinrich von Ofterdingen (1802) von Novalis. Schwesterrolle Textimmanent wird, wie oben gezeigt, Gustavs Disposition zur horizontalen Strukturierung von Beziehungen in der Höhlenerziehung gelegt, als eine über die herrnhutsche Ideologie angelegte Sehnsucht nach universeller Geschwisterschaft. Damit durchkreuzt von Anfang an eine horizontale die in der Forschung bisher herausgearbeitete vertikale Suchbewegung Gustavs: Psychodynamisch auf die Horizontale gerichtet sind Beziehungsstrukturen, während seine Seelenstrukturierung nach dem Leitbild des hohen Menschen vertikal organisiert ist.59 Mit dem brüderlichen »Hals-Gehenk« und dem erinnerten Schwesterchen wird diese Geschwisterstruktur für den aus der Isolation entlassenen Gustav erstmals besetzt. Wenn auch nicht mit »eigentlichen« Geschwistern, so doch mit Platzhaltern, die sowohl beide Geschlechter als auch Leib und Seele berücksichtigen. Die Familienbeziehungen, die der auferstandene Gustav eingeht, gelten vordringlich Geschwistern. Zwar sind Gustavs Eltern und die dreitätige Ersatzmutter Frau von Röper fraglos Teil seiner Familienstruktur, doch erzählt der Text vor allem von der Beziehung der Eltern zu Gustav, die umgekehrte Beziehungsdynamik findet kaum Erwähnung.60 So bezieht sich Gustavs Erinnerung an jene drei Tage der Entführung – soweit sie Personen betrifft – allein auf das »Schwesterchen«, an die ebenfalls anwesende Mutterfigur erinnert sich Gustav nicht. Die dadurch initiierte Sehnsucht nach der Schwester, die über die Erfahrung des Zusammenseins und die radikale Trennung angelegt ist, wiederholt strukturell die Beziehungsdynamik der unterirdischen Erziehung von Totalität in der Genius-Kind-Dyade und deren Aufspaltung, die in Gustavs Seele eine Suchbewegung nach dem Verlorenen begründet. Doch während die Genius-Kind-Dyade Jahre dauert und entsprechend

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schaftliche Wende des in der Sprechakttheorie geprägten Begriffs der ›Performanz‹ vgl. weiter unten. Kurz und gut dazu: Schumacher 2002. So orientieren sich auch die Beziehungen der hohen Menschen untereinander am Modell der Geschwisterschaft: Die »gewisse Verlegenheit«, die Gustav »aus seiner unterirdischen Schulpforte« mitgebracht hat, halten »höhere Menschen […] für das Ordenkreuz ihres Ordenbruders.« (I/1, 65f.) Ausf. dazu vgl. Teil II, Kap. 3.2. Vgl. I/1, S. 63ff. Die Beschreibung des »ersten Mal[s]«, an dem Gustav seine Eltern und vor allem seine Mutter sieht, hört und spürt, akzentuiert die Vertikale mit Metaphern, die höher nicht steigen könnten: Das liebende Herz der Mutter ist »Sonne« und »Gott« (I/1,63).

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ausführlich erzählt wird, genügen für die Bruder-Schwester-Beziehung drei Tage und ein kurzer Textstimulus: Sie muss offenbar nicht weiter begründet werden. Jean Paul kann damit rechnen, dass seiner Leserschaft die Bedeutung der Bruder-Schwester-Beziehung unmittelbar einsichtig ist: Wie im kulturhistorischen Teil gezeigt, handelt es sich um eine im zeitgenössischen kulturellen Imaginären fest verankerte Tiefenstruktur, die ohne großen erzählerischen Aufwand aktualisiert werden kann. Insbesondere die literarische Szenographie der inzestuösen Situation – auf die dann auch die Liebesgeschichte der Loge baut – ist eine im zeitgenössischen Erwartungshorizont sehr präsente Struktur, die aus vielen erzählten und dramatischen Texten bekannt ist.61 Dass Geschwister- und Liebespaare miteinander zu tun haben, erfüllt also eine gängige Leseerwartung. Die Möglichkeiten der Verwicklung von Geschwister- und Geschlechterpaaren unterstehen dabei aber gewissen Regeln: Nicht vorgesehen ist darin der wissentlich eingegangene Geschwisterinzest, ein solcher stellt im 18. Jahrhundert die Grenze des Zumutbaren dar.62 Im Normalfall entwickelt sich der Konflikt aus einem Nicht-Wissen der tatsächlichen verwandtschaftlichen Verhältnisse, und das heißt über komplizierte familiäre Konstellationen, die mit beträchtlichem erzählerischen Aufwand installiert werden müssen. Jean Paul dagegen macht das Umgekehrte: Er etabliert nicht ›eigentliche‹ Geschwister, die getrennt aufwachsen und sich über Zufälle kennen und lieben lernen, um dann – je nachdem – zu entsagen, tragisch zu enden oder ob einer unglaublichen Wendung doch zusammen glücklich zu werden,63 sondern unterlegt die Liebesgeschichte der Loge mit einer Geschwisterstruktur, die gespielt, erinnert und herbeigeredet wird. Damit ist eine Textbewegung in Gang gebracht, die einerseits die mit der Geschwisterbeziehung verbundene Ideologie als Seelenverwandtschaft in die Liebesgeschichte einbringen kann, die andererseits aber stets auf ihr eigenes Gemachtsein als zitierter Intertext hin durchsichtig bleibt und so auf ihr Konstruiertsein verweist. Zentral für diese selbstreflexive Textbewegung ist der Modus des Spiels, in dem die Geschwistergenese von Gustav und Beata steht. Geschwisterspiel Das einzige, was über das Beisammensein von Gustav und Beata als Kinder gesagt und von Gustav erinnert wird, ist das gemeinsame Spiel. Fraglos handelt es sich hier

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Vgl. Teil I, Kap. 2.2.1. Den Begriff der ›inzestuösen Situation‹ verwende ich nach Titzmann 1991 für eine Beziehung zweier Personen, bei denen sexueller Kontakt gemäß kulturellem Wissen der betreffenden Zeit einen Inzest bedeuten würde. Anders als Titzmann gehe ich dabei nicht davon aus, dass in der Literatur des 18. Jahrhunderts diese Beziehung »eindeutig erotisch identifizierbar« (S. 230) sein muss, um das Inzesttabu zu konnotieren. Vgl. Teil I, Kap. 2.3.2. Vgl. die Beispiele in Teil I, Kap. 2.2.1.

um das semantisch nicht weiter zu hinterfragende Spielen von Kindern. Bedeutsam wird dieses für Gustav und Beata aber dadurch, dass sich der Modus des Spiels in vielen Varianten durch ihre Beziehung zieht: Im Traum erscheint Gustav eine spielende Schwester, ein Kinderpaar spielt Beata und Gustav nach (respektive vor), sie finden sich im Klavierspiel, Kartenspiel und ganz besonders im Theaterspiel, in dem sie ein als ihre eigene Geschichte lesbares und gleichzeitig unoriginelles – weil die inzestuöse Situation regelkonform abhandelndes – Skript aufführen.64 Darüber hinaus verdankt Gustav selbst seine Existenz dem Spiel, ist die Ehe seiner Eltern doch durch ein Schachspiel herbeigeführt worden. Dieses Insistieren auf dem Spiel führt eine grundlegende Kulturtechnik mit der Stiftung zwischenmenschlicher Beziehung eng und erweist die Geschwisterkonstellation im literarischen Text als Spielsituation: Gustav und Beata spielen Brüderchen und Schwesterchen, in dem sie sich – um es mit Derrida zu sagen – »einem iterierbaren Muster konform«65 als Bruder und Schwester aufführen. Besonders deutlich wird dies im Theaterspiel, das vom Text her offen als Engführung von »Rolle« und »Geschichte« deklariert ist: (I/1,341) In der Performance stellen sie ihre Geschwisterbeziehung über das Zitieren von Normen performativ her, um sie dann – getreu der Szenographie der inzestuösen Situation – zu einer Liebesbeziehung hin zu verschieben. Geschieht dies auf der Bühne gemäß den Diskursregeln – mit Austins Begrifflichkeit – »unernst«,66 so verweist die Engführung von »Rolle« und »Geschichte« doch zugleich darauf, dass es hier grundsätzlich um die Konstruktionsbedingungen von Bedeutung geht. Damit nimmt Jean Paul poetisch vorweg, was Derrida theoretisch in seiner Austin-Lektüre initiiert hat, und was dann von Shoshana Felman und Judith Butler weiter entwickelt worden ist:67 Die »schräge Schnittstelle«68 zwischen Performance und Performativität legt offen, wie etwas

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Ausführlich dazu vgl. Teil II, Kap. 2.2.2. Derrida 2001, S. 39. Austin 1979, S. 43f. Das Theoriefeld, in dem sich dieses Argument bewegt, gründet auf Derridas AustinLektüre in Signatur Ereignis Kontext (1971), in der er zeigt, dass das Zitieren performativer Äußerungen auf der Bühne, die Austin als »unernst« aus seiner Argumentation in How to do Things with Words (1962) ausschließt, auf die Bedingung der Möglichkeit des Zeichengebrauchs verweist: die Zitathaftigkeit. Den Themenkomplex um Performance/ Performativität und Iterierbarkeit hat Judith Butler – unter anderem auch unter Einbezug von Shoshana Felmans Austin/Derrida-Lektüre in The Literary Speech Act (1983) – für die Analyse der Konstruktion von Gender fruchtbar gemacht und daraus ihr viel diskutiertes Konzept der Performativität von Geschlechtsidentität entwickelt. In Gender Trouble (1990) noch eng an die Begrifflichkeit der Performance geknüpft (vgl. z.B. dt. 1991, S. 198ff.), arbeitet sie in Bodies that Matter (1993) an einer Entflechtung der Begriffe und einer stärkeren Gewichtung des Performativitätsbegriffs: »Die Performativität ist demzufolge kein einmaliger ›Akt‹, denn sie ist immer die Wiederholung einer oder mehrerer Normen […]. Darüber hinaus ist dieser Akt nicht in erster Linie theatralisch […].« (dt. 1995, S. 35) Vgl. Parker/Sedgwick 1995, S. 1. Parker/Sedgwick verwenden für die Schnittstelle von

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›mit Worten getan wird‹. Deutlich wird daran insbesondere, wie Identitätszuschreibungen als Verfahren repetitiver Bezeichnung funktionieren, als – um es mit Judith Butler zu sagen – »ritualisierte Wiederholung von Normen«,69 die Butler als repressiv versteht, und gegen die sie Veränderung als derivative Repetition und damit als Resignifikation anführt. Was Judith Butler als methodische Herangehensweise für die Analyse der Gender-Identität entwickelt hat, lässt sich – so meine ich – in der Erzähltextanalyse auch für performativ hergestellte soziale Beziehungen fruchtbar machen. Für die hier verfolgte Fragestellung bei Jean Paul bietet sich diese Theoriesprache auch darum an, weil sie sich – eingedenk ihrer historischen Differenz – auf dieselbe Isotopie bezieht, auf die auch Jean Paul für die Herstellung der Bruder-SchwesterBeziehung in der Loge baut: Spiel und spezifischer noch: Theaterspiel. Die Geschwisterbeziehung von Gustav und Beata wird in diesem Sinne als ein Zitieren der grundlegenden Geschwisterstruktur performativ hergestellt: Beata »fühlte, daß sie die Wiederholung ihres Schicksals dramatisiere«. (I/1,340) Dies geschieht nicht nur durch besagte »Wiederholung ihres Schicksals« auf der Bühne, sondern auch über Gustavs wiederkehrende Erinnerung an das Geschwisterspiel sowie durch wiederholte Äußerungen des Romanpersonals. Insbesondere die Residentin von Bouse, anlässlich deren Geburtstag das schon erwähnte Theaterstück, ein »GeburttagDrama« (I/1,322) aufgeführt wird, hält Gustav und Beata für Geschwister – ob sie das wirklich tut oder nicht vielmehr strategisch handelt, überlässt der Lebensbeschreiber der Entscheidung der Lesenden. (Vgl. I/1, 346f., 353) Gustav, inzwischen sehr in Beata verliebt, wird dadurch nicht nur im Theaterspiel, sondern auch in seiner eigenen Geschichte mit einer offensichtlich inszenierten inzestuösen Situation konfrontiert, aus der ihn die Resignifikation der Geschwisterbeziehung im Wortlaut des Theaterspiels nur ein Stück weit entlässt: Auf der Bühne mit den Worten »O doch, ich bin ja dein Bruder nicht« (I/1,341) von der geschwisterlichen zur geschlechtlichen Liebe wechselnd und dies sowohl in ihren Rollen als Henri und Marie als auch als Figuren Gustav und Beata, macht Gustav im Schlafzimmer der Residentin von Bouse dieselbe Bewegung in umgekehrter Richtung und mit einer Verschiebung: Durch eine kunstfertige Doppelung der inzestuösen Situation vollzieht sich unter dem Stichwort »Bruder!!« (I/1,348) mit der Residentin von Bouse der Transfer von der vermeintlichen Geschwister- zur Geschlechterliebe weniger psychisch, als vielmehr physisch.70 Neben dem Geschwisterspiel als Sozialisationsspiel71 haben Beata und Gustav aber auch Teil am gegenläufigen, kulturkritischen Topos vom Leben als Spiel, der

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Performance/Performativity den Begriff ›queer‹, der im Deutschen mit ›schräg‹ nur unzureichend übersetzt ist; die Implikation der Homosexualität ist daher bei ihnen mitzudenken. Vgl. dazu Schumacher 2002, S. 383ff. Butler 1995, S. 15. Vgl. ausf. dazu Teil II, Kap. 2.2. Grundsätzlich das kreative, kulturstiftende Potenzial des Spiels betont Huizinga

sich aus dem barocken theatrum mundi herleitet. Die Häufigkeit des Spiels, insbesondere des Theaterspiels in Jean Pauls Texten hat eine entsprechend umfangreiche Forschungstätigkeit motiviert. Zwei Aspekte sind dabei immer wieder betont worden: Neben der These der fundamentalen Theaterhaftigkeit menschlicher Existenz ist vor allem die aufklärerisch motivierte Kritik am Maskenwesen, insbesondere der höfischen Gesellschaft herausgearbeitet worden.72 Jean Paul hat sich nicht nur in seinen literarischen Texten, sondern auch in den theoretischen Reflexionen mit dem Spielbegriff auseinandergesetzt. So ordnet er in der Vorschule in seiner einleitenden doppelten Abwehr gegen »Poetische Nihilisten« und »Poetische Materialisten« diesen einen jeweils unterschiedlich akzentuierten, klar negativ denotierten Spielbegriff zu: Ichsüchtig würde der nihilistische Zeitgeist »die Welt und das All« vernichten, »um sich nur freien Spiel-Raum im Nichts auszuleeren«, (I/5,31) wogegen die Materialisten das »Feld der Wirklichkeit« wie ein Brettspiel mit »Figuren und Kunst [be]spielen« würden. (I/5,37) Im Fortlauf der Argumentation der Vorschule um die Bestimmung schlechter und guter Poesie bleibt das Spiel ein Kernbegriff. Deutlich wird dabei, dass sich der Spielbegriff – neben der schon genannten negativen Verwendung – in einem mittleren Feld bewegt: Jean Paul gebraucht ihn, um die Technik der Poesie 73 oder den Effekt von Poesie 74 zu beschreiben. Das poetische Spiel ist in diesem Sinne ein Mittel, um »das Höchste« zu erreichen, wie es in der »Kantate-Vorlesung« pointiert heißt: Lassen Sie mich das Höchste der Poesie […] auf andere Weise nennen. Wir haben etwas in uns, was unaufhaltbar einen ewigen Ernst, den Genuß einer unbegreiflichen Vereini-

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(1938). Vgl. zu einer literaturwissenschaftlichen Anwendung Kittlers Modellanalyse des Wilhelm Meisters als Sozialisationsspiel: »Ein Spiel ist die Sozialisation, weil ihre Regeln nicht weiter auf erste oder letzte Gründe rückführbar sind, immer; daß sie aber in Spielen statthat, gehört zu den Erfahrungen am Ausgang des 18. Jahrhunderts.« (Kittler 1978, S. 74) Im Zentrum der meisten Forschungsarbeiten zur Theatermetaphorik bei Jean Paul steht der Titan. Vgl. u.a. Döll 1995, Schmitz-Emans 1987, Bachmann 1986, S. 111–151, Mauch 1974. Vgl. I/5,193: »Spielt denn nicht die ganze Poesie, erstlich mit Bildern, dann mit den Klängen des Reims und Metrums?« Besonders deutlich wird die spielerische Fertigkeit, die es zur Poesie auch braucht, in der Argumentation über den Witz, einer zentralen Stilfigur bei Jean Paul: Als »ästhetische[m] Verstand« kommt der »leicht spielende[n] Tätigkeit« des Witzebildens eine wichtige Funktion beim poetischen Schreiben zu. (I/5,175) Der Absatz über das Wortspiel dagegen befindet diese spezifische »Spielmarke« für »zu leicht« und darum – von wenigen Ausnahmen abgesehen – rechtens »mit andern schlechtern Spielen in die Besuchzimmer« und also aus den wahrhaft poetischen Texten verwiesen. (I/5,191f.) Vgl. zum Spielbegriff in Jean Pauls Vorschule, insbes. im Programm über den Witz Buschendorf 2000/01, S. 226ff. Vgl. I/5,339: »Denn da bloß die Dichtkunst alle Kräfte aller Menschen zu spielen reizt, so bereitet sie eben jeder regierenden eines Einzelwesens den freiesten Spielraum, und sie spricht den Menschen nicht stärker aus, als sich jeder selber durch seinen Geschmack an ihr.«

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gung mit einer unbekannten Realität als das letzte setzt. Das Spielen der Poesie kann ihr und uns nur Werkzeug, niemals Endzweck sein. […] Jedes Spiel ist eine Nachahmung des Ernstes, jedes Träumen setzt nicht nur ein vergangenes Wachen, auch ein künftiges voraus. Der Grund wie der Zweck eines Spiels ist keines; um Ernst, nicht um Spiel wird gespielt. Jedes Spiel ist bloß die sanfte Dämmerung, die von einem überwundenen Ernst zu seinem höhern führt. […] Götter können spielen; aber Gott ist ernst. (I/5,444)

Das Spiel um des Spiels willen – sei es nihilistisch oder materialistisch – bleibt in der Vorschule verurteilenswert, doch als »Werkzeug« zum Ziel, das hier »das Höchste der Poesie« genannt wird, ist das Spiel integraler Bestandteil von Jean Pauls Ästhetik und seines literarischen Schreibens. Um Ernst also, nicht – mit Austin zu sprechen – unernst wird bei Jean Paul gespielt. Dies bewahrheitet sich für die Loge, in der die gespielte Geschwisterschaft von Gustav und Beata über das Spiel mit der inzestuösen Situation hinausweist und zur Seelenverwandtschaft, der erhabensten Form einer sozialen Beziehung führt: Bei Gustav und Beata finden sich »die zwei Seelen […] leichter als ihre Körper«. (I/1, 330) In der Geschwistergenese, die ja über das erinnerte Spiel mit der Schwester konstituiert wird, ist es das Moment der Erinnerung, das buchstäblich auf jene Dimension verweist, in der die Beziehung von Gustav und Beata im Textverlauf situiert wird: das Innere. Erträumte Schwester, mit einem Ausblick auf Novalis’ »Ofterdingen« In »Über die natürliche Magie der Einbildungskraft« (1796) betont Jean Paul, dass Gedächtnis und Phantasie nicht klar voneinander geschieden, zwischen reproduktiv-rezeptivem und produktivem Vermögen der Einbildungskraft nur ein gradueller Unterschied bestehe: »Gedächtnis ist nur eine eingeschränktere Phantasie«. (I/4,195) Wie sich die reproduktive Beziehungskonstellation in der Einbildungskraft zur produktiven weiter schreibt, zeigt in der Unsichtbaren Loge ein Traumbild. Darin wird nicht nur die bisher konstituierte Geschwistergenese reflektiert, sondern zugleich die Beziehungsdynamik projektiert, wie sie im Fortgang des Textes sich entfalten wird: Das Traumbild fungiert als erzählerisches Programm in nuce.75 Eine Kompositionstechnik, die Jean Paul in der Loge wiederholt einsetzt: Dieses Traumbild ist das erste einer Reihe, die sich über eine metonymische Verkettung der Metaphorik konstituiert.76 Mit seinen durchkomponierten Traumbildern fasst Jean Paul das zeitgenössische Theorem vom Traum als »unwillkürliche[r] Dichtkunst«, (I/4,978) wie er in der Abhandlung »Über das Träumen« (1799) schreibt, als

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In diese Richtung, wenn auch unter einer anderen Perspektive, zielt auch Kommerells Diktum: »Die reine Form des Jean-Paul-Romans ist der Traum«, zitiert im Nachwort von Walter Höllerer in I/4,1241. Vgl. I/1,297f., 397, die metonymische Verkettung reicht über die Textgrenze der Unsichtbaren Loge hinaus, vgl. z.B. Titan, I/3,51.

eine textimmanente Poetologie:77 Der Protagonist nimmt träumend den Gang der Schrift vorweg. Doch dieses erste Traumbild der Loge ist nicht nur textimmanent relevant. Denn es entwirft vor Novalis’ Heinrich von Ofterdingen die Sehnsuchtsfigur der blauen Blume und präfiguriert, wie eine genauere Analyse des Traumbildes und der darin verwendeten Metaphorik zeigen kann, entscheidende Züge diese nachmals berühmtesten romantischen Symbols.78 Blumen sind in Jean Pauls Texten so dicht gesät, dass die Thematisierung einer Blume für sich genommen wenig spezifisch ist.79 In Jean Pauls Romanen, insbesondere den frühen, stehen wahrlich »Blumen an Blumen«, und zwar explizit »uneigentliche und eigentliche«. (I/1,579, 562) Jean Pauls Blumenliebhaberei ist auch bei Grimm dokumentiert: Im grimmschen Wörterbuch ist Jean Paul beim Artikel »Blume« – vor allem aufgrund seiner schier unerschöpflichen Komposita – ein häufig genannter Referenzautor.80 Doch Jean Pauls Blumen sind fast immer rot oder weiß, blaue Blumen finden sich – außer dem selbstredenden Vergissmeinnicht – eher selten. Dass diese Farbgebung nicht zufällig ist, weisen verschiedene Reflexionen über die Signifikanz der Farben nach.81 Über rote und weiße Blumen ist in der »Vorrede zur zweiten Auflage« der Loge nachzulesen: »Die Blüten der Kraftbäume sind schmal und haben nur zwei einfache Farben, die weiße und rote, Unschuld und Scham«. (I/1,16) Die Farbe Blau dagegen wird in Jean Pauls Texten semiotisch dem Himmel, der Nacht und den Augen der ›schönen Seelen‹ zugeordnet.82 Blau erweist

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Schmidt-Hannisa 2000/01, S. 100, situiert Jean Pauls These im zeitgenössischen kulturellen Wissen und weist nach, dass das Theorem vom Traum als unwillkürlicher Dichtkunst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts mehrfach belegt ist. Zu einem kurzen Forschungsüberblick über die Traumthematik bei Jean Paul vgl. ebd., S. 93ff. Auf den Blumentraum aus der Unsichtbaren Loge als einen von mehreren Prätexten für Novalis’ »blaue Blume« ist in der Novalis-Forschung wiederholt verwiesen worden, so schon bei Hecker 1931, doch eine spezifisch intertextuelle Untersuchung der beiden Blumenträume steht noch aus. Zur Blume als einem zentralen allegorischen Motiv Jean Pauls am Beispiel des Siebenkäs vgl. Vollmer 2002. Vgl. Grimm, Bd. 2 (1860), Sp. 158ff. Esselborn 1989, S. 243, hält für die von ihm untersuchten weißen Lilien und roten Rosen fest, dass bei den Blumensymbolen Jean Pauls die abstrakte Farbvorstellung im Vordergrund stehe, die die physikalische Vorstellung von der Zerlegung des Sonnenlichtes spiegle und vor allem geistige Orientierung und seelische Bewegung signalisiere. Vgl. dazu die einschlägige Stelle in der Vorschule: »Wie schön, daß man nun Metaphern, diese Brotverwandlungen des Geistes, eben den Blumen gleich findet, welche so lieblich den Körper malen und so lieblich den Geist, gleichsam geistige Farben, blühende Geister!« (I/5,184) Signifi kant für Jean Pauls Chromatographie insgesamt ist folgender Ausschnitt aus einem Traumbild im Hesperus: »eine weiße Rose stand über dem Herzen, das darunter verhüllet lag, zwei rote wuchsen über den Wangen, deren zartes Erröten sich in die Erde verbarg, und oben am himmlischen Nachtblau wankte der weiße und rote Widerschein der Hügel-Blumen gleitend ineinander, sooft unten die Rosen des Herzens und der

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sich damit – denkt man die metonymische Verschiebung der Signifikanten weiter – als Seelenfarbe.83 Die Bedeutsamkeit monochromer Farben im Allgemeinen und diejenige des Blaus im Besonderen fasst Jean Paul in der »Magie der Einbildungskraft« folgendermaßen zusammen: Die letzte Antwort aber bleibt: weil alles Große einfärbig sein muß, da jede neue Farbe einen neuen Gegenstand anfängt. Im einfachen Blau des Himmels wiegt die Seele ihre Flügel auf und nieder – und aus dem letzten Stern stürzt sie sich mit ausgebreiteten Schwingen in die Unermeßlichkeit. (I/4,201)

Die im Traum der Unsichtbaren Loge von Gustav gesehene blaue Blume nimmt darum auch in Jean Pauls Blumenstrauß eine Sonderstellung ein. So dass sich lohnt, die Frage zu stellen, inwieweit der »blau[e] Blumenkelch« (I/1,176) Gustavs die »blaue Blume« Heinrichs präfiguriert.84 Dazu will ich nun die Traumstruktur des Blumentraums der Loge genauer skizzieren. Dem Traumbild gehen im Text zwei Ereignisse voraus, die damit ursächlich verknüpft werden.85 Zum ersten ist dies eine von Professor Hoppedizel, einem Mitglied der geheimen Gesellschaft, inszenierte Gespensterszene, die in Gustavs innerem Erleben tiefe Spuren hinterlässt. Und zum zweiten hat Gustav von seinem jetzigen Erzieher, dem Hofmeister ›Jean Paul‹, »fünf große Dinge« erhalten, die ihn leiten sollen. Dabei ist unter anderem seine »Gestalt, die auch um Guidos Seele liegt«: eines der unter dem Romanpersonal zirkulierenden Porträts. Unter dem Anschauen des Bildes erblickt Gustav darin aber nicht sich selbst – und auch nicht Guido, sondern sieht »im gemalten Nichts wie in einem Hohlspiegel« seinen ersten Erzieher Genius. Im Übergang in den Traumzustand schreibt sich die Einbildungskraft fort: Sein Gehirn brannte wie eine glimmende Steinkohlenmine im Traume auf dem Kopfkissen fort. Ihm kams darin vor, als zerlief ’ er in einen reinen Tautropfen und ein blauer

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Wangen sich mit dem Hügel bewegten«. (I/1,766) Spezifisch zum Blau vgl. auch: »[...] ists nicht eine alte Sache, daß er das Blau der schönsten Augen, in die je ein amoroso geblickt, vermittelst eines Saussureschen Cyanometers genauer nach Graden angegeben«, wobei eine Fußnote erklärt, ein Cyanometer sei ein »Instrument, das Blau des Himmels zu bestimmen« (I/1,818). Gestützt wird diese Lesart von der organologischen Organisation in Jean Pauls Texten, die das – gewöhnlich blaue – Auge der Seele zuordnet. Einen grundsätzlichen Zusammenhang der Traumbilder Jean Pauls mit denjenigen von Novalis hat schon Béguin (1937) in seiner klassischen Studie festgestellt, ohne aber diesen ersten Traum der Unsichtbaren Loge, in der ein motivischer Zusammenhang zum ersten Traum des Heinrich von Ofterdingen gegeben ist, mit einzubeziehen. Béguin betont denn auch vor allem die Differenzen zwischen Jean Pauls kosmischen Visionen und Novalis’ allegorischer Komposition. Vgl. Béguin 1972, S. 236, zu den von Béguin ausgewählten Träumen von Jean Paul vgl. S. 539–40. Vgl. I/1,175: »Ich mußte den einfältigen Professor-Spaß aufschreiben, weil er nach zwei Tagen um den fliegenden Gustav folgende Szene erzeugte«: Es folgen die Traumszene und das Erwachen.

Blumenkelch sög’ ihn ein – dann streckte sich die schwankende Blume mit ihm hoch empor und höb’ ihn in ein hohes hohes Zimmer, wo sein Freund, der Genius, oder Guido mit dessen Schwester spielte, dem der Arm, sooft er ihn nach Gustav ausstreckte, abfiel und dem die Schwester ihn wieder reichte. Auf einmal knickte die Blume zusammen, und niederfallend sah er drei weiße Mondstrahlen seinen Freund in den Himmel ziehen, der die Blicke abwärts gegen den Gefallnen drehte. Er erwachte – (I/1,176)

Das dia- und prognostische Potenzial des Traumbildes verdankt sich nicht einer göttlichen Einschreibung, sondern der menschlichen Einbildungskraft: Gustavs »Gehirn« erzeugt die Bilder aus seinem vorigen inneren Erleben. Damit nimmt die Loge literarisch vorweg, was Jean Paul in seinen späteren Überlegungen zu Träumen theoretisch festhält. So heißt es in der »Magie der Einbildungskraft«: »es ist nämlich [...], daß unser bekanntes Ich die Sukzession in der Phantasie (wie das Simultaneum in der Empfindung) ordnet und regelt, sogar im Chaos des Traums«. (I/4,196) Radikaler noch beschreibt den Traum als anthropologisches Phänomen der 1799 veröffentlichte Aufsatz »Über das Träumen«: »Addison nennt die Träume selber träumerisch-schön den Mondschein des Gehirns; diesen wirft nun, wie ich beweisen werde, eben unser Satellit und Mond aus Fleisch.« (I/4,972) Jean Paul argumentiert in der Fortsetzung physiologisch und beschreibt das Entstehen der Träume aus den vom Wachen noch »fortoszillierenden Organen«: Literarisch wie theoretisch fungiert das »erhitzte Gehirn« (I/4,973) als Traumfabrik.86 Wissenschaftshistorisch befindet sich Jean Paul damit auf der Höhe der aufklärerisch-erfahrungsseelenkundlichen Theorie seiner Zeit, die den Traum nicht mehr als ein übernatürliches Ereignis sondern als anthropologisches Phänomen versteht, das physiologisch und psychologisch zu erklären ist.87 Psychologisch verweist Jean Paul in seinem Traumaufsatz von 1799 auf »das weite Geisterreich der Triebe und Neigungen«, das für die Trauminhalte verantwortlich zeichnet: »Fürchterlich tief leuchtet der Traum in den in uns gebaueten Epikurs- und Augias-Stall hinein; und wir sehen in der Nacht alle die wilden Grabtiere oder Abendwölfe ledig umherstreifen, die am Tage die Vernunft an Ketten hielt.« (I/4,980) In der Vorschule nennt Jean Paul den inneren »Augiasstall« und die »Abendwölfe« auch »das Unbewußte«, (I/5,60) und nicht erst hier zeigt sich die Bedeutsamkeit dieser kulturhistorischen Station in einer Traditionslinie, die zu Freuds Traumtheorie und der Bedeutung der Träume in der Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts führen wird. Aus diesem psychologischen Erklärungszusammenhang ergeben sich Konsequenzen für den Status der textimmanenten Poetologie der Loge: Damit entwirft das Unbewusste einer Figur die erzählerische Makroproposition.88 Dies ist erzähl-

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Auch bei Novalis schreibt sich der Traum aus dem vorangegangenen Erleben her: »Der Jüngling lag unruhig auf seinem Lager, und gedachte des Fremden und seiner Erzählungen. [...] Der Jüngling verlohr sich allmählich in süßen Fantasien und entschlummerte. Da träumte ihm [...].« Novalis 1,240f. Vgl. Schmidt-Hannisa 2000/01, S. 95ff. Zum erzähltheoretischen Konzept der Makroproposition vgl. Eco 1987, S. 128ff.

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logisch jedoch nur partiell ein Widerspruch, denn die Erzählsituation steckt der Einbildungskraft des Erzählers ›Jean Paul‹ enge Grenzen – was nicht heißt, dass die Strategien, diese zu durchbrechen, nicht zahlreich wären. Dennoch ist festzuhalten, dass die Erzählsituation einen Lebensbeschreiber vorsieht, der den Lebensweg seines Protagonisten dokumentarisch festhält. So dass es nicht einer gewissen Logik entbehrt, wenn sich die »Triebe« und »Neigungen« des Protagonisten in dessen Lebensweg niederschlagen und damit Teil des Textes werden. Inhaltlich sind Gustavs Triebe und Neigungen auf die Verflüssigung des egos in »einen reinen Tautropfen«, auf den Aufenthalt in einem »blaue[n] Blumenkelch«, auf die dreifach akzentuierte Dimension der Höhe sowie auf das Zusammenspielen von Bruder und »Schwester« gerichtet. Alle Traummotive stehen in engem Zusammenhang mit dem bisherigen Entwicklungsgang. Der formlose, flüchtige Tautropfen akzentuiert die Dimension des Innern, in der sich die Traumszene abspielt, und verweist wie die Farbe Blau auf die Seele.89 Das Begehren nach Höhe ist als Ausdruck des Strebens nach dem Bildungsziel des hohen Menschen lesbar. Und in der Überblendung der Figuren Genius und Guido bricht nicht nur jener Prätext aus dem Schmierbuch durch, in dem die beiden Figuren konzeptionell noch zusammenfallen,90 es ist auch eine Engführung der bisher entworfenen Bruderfiguren, der institutionellen und der leiblich-materiellen. Gestützt auf die Implikation der Bezeichnung »dessen Schwester« und aufbauend auf meiner zuvor entwickelten Argumentation der mehrschichtigen Geschwistergenese akzentuiere ich in meiner Lektüre des Traumbildes die Isotopie der Geschwister. Zwar nennt der Text die Figur Genius/Guido nicht Gustavs Bruder, sondern spricht von seinem »Freund«. Doch wie im kulturhistorischen Teil gezeigt, generiert die zeitgenössische Redepraxis über Geschwisterschaft und Freundschaft eine semantische Durchlässigkeit, in der das eine Beziehungskonzept für das andere stehen und sich darüber hinaus noch mit einem dritten mischen kann: der Liebe.91 Auf diesen Bruder, Freund und – wie der Textfortgang ihn gleich zweifach nennt – »Geliebte[n]« (I/1,177) richtet sich Gustavs Begehren nach Vereinigung, das er dann erwacht ausdrücklich kundtut.92 Im Traumbild überträgt Gustav sein Begehren auf Genius/Guido, da diese Figur den Arm, den der formlose Gustav als Tautropfen nicht hat, als Zeichen des Wunsches nach Vereinigung nach ihm ausstreckt. Die Trennung zwischen ihnen bleibt jedoch für den gesamten Traumverlauf konstitutiv: Erst kommt Vereinigung nicht zustande, weil der Arm, den Genius/Guido ausstreckt, immer wieder abfällt. Und zum Schluss des Traumbildes wird der metaphorisch immer schon dem Himmel zugewiesene Genius/Guido in

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Zur Deutung des Tautropfens als Metapher für den göttlichen Ursprung der Seele vgl. Mall-Grob 1999, S. 98. Vgl. Teil II, Kap. 1.1. Vgl. Teil I, Kap. 2.1 und 2.4.4., sowie Teil II, Kap. 3.1. Dieses Erwachen und die darauf folgende Dekonstruktion des metaphysischen Erlebens hat vor allem die Aufmerksamkeit der Forschung erhalten, vgl. z.B. Wölfel 1989, S. 298f.

diesen gezogen, mit dem Gustav nur über die Allegorie der Höhlenerziehung und die daraus resultierende Einbildungskraft verbunden ist, zu dem er als Figur aber keinen Zutritt hat. Alle diese Elemente der Traumerzählung stehen in engem Zusammenhang mit Gustavs bisheriger Situierung und seinem Erleben. Dazu gehört auch die Figur der Schwester, die namenlos und spielend die ihr zugehörigen Attribute auch im Traumbild mit sich führt. Einen neuen Akzent setzt in diesem resetting des Vorangegangenen die Aktivität der Schwesterfigur: Sie reicht ihrem Bruder jedes Mal von neuem den abgefallenen Arm und stellt so die Bedingung der Möglichkeit von Vereinigung wieder her. Mit dieser Arm- respektive Handreichung erhält die Figur der Schwester eine Tiefendimension, die sich einerseits aus dem kulturellen Gedächtnis speist und andererseits auf poetologischer Ebene richtungsweisend ist. Das Ansetzen des abgefallenen Körperteils zitiert Isis, die heilende Schwesterfigur aus dem altägyptischen Mythos, die mit ihren Fähigkeiten, den in Einzelstücke zerrissenen Körper ihres Brudergatten Osiris wieder zusammensetzt und neu belebt.93 Der mythologische Kontext führt mit der außerordentlichen, selbst existenzielle Grenzen überwindenden Geschwisterliebe die Inzestthematik in die Traumerzählung ein, und zwar unter spezifischen Vorzeichen. Das alte Ägypten galt im kulturellen Wissen des 18. Jahrhunderts als eine der Kulturen, die den Geschwisterinzest nicht tabuisierten, sondern favorisierten. So heißt es bei Zedler mit Berufung auf die glückliche Ehe von Isis und Osiris, dass die »Egypter [...] die Gewohnheit [hatten], ihre Schwestern zu heyrathen«. Dieses Argument zählt im aufklärerischen Diskurs über Blutschande zu den Legitimierungsstrategien nach dem iure gentium, »dem Gebrauche derer Völcker«, welches in der im 18. Jahrhundert kontrovers geführten Debatte erweist, dass die Blutschande »nicht wider die Vernunft sey«.94 Das in der Traumerzählung der Loge mitwirkende ethnohistorische Argument akzentuiert damit die Seite der Inzestlegitimierung und verweist über Isis und Osiris auf das mit dem Tabu konkurrierende Moment der Auszeichnung, die dem Inzest in mythischen und literarischen Kontexten zukommen kann. Neben der Inzestthematik führt der mythologische Kontext in der Traumerzählung auch das Modell einer Grenzüberschreitung ein: Durch ihre Fähigkeiten überwindet Isis die Grenzen zwischen erster und zweiter Welt.95 Diese Mittlerrolle

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Vgl. dazu Teil I, Kap. 2.5.1. Zedler 1961, Bd. 4, Sp. 252f., vgl. dazu Teil I, Kap. 2.3.2. Müller 1996, S. 83f., der sich mit dem Bild der sich ablösenden Arme im Siebenkäs befasst – und dabei auch auf die Verwendungen in den Flegeljahren und im Fälbel ausgreift, das Traumbild der Loge aber in seine Überlegungen nicht einbezieht – situiert das Bild ebenfalls auf der Grenze zwischen Leben und Tod und stellt einen Zusammenhang mit der Thematik von ewiger Liebe und Todesüberwindung her. Dieser Zusammenhang leitet sich aber nicht mehr direkt aus dem Bild der sich ablösenden Arme her – der zweite Teil der Allegorie, die Handreichung der Schwester, kommt nur in der Loge vor – sondern muss über den weiteren Kontext des Spiels mit Liebe und Tod im Siebenkäs erschlossen

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zwischen den Welten nimmt der Textverlauf anhand des Motivs der Handreichung produktiv auf,96 wenn Gustav an der Hand Beatas auf der Schwelle zwischen Traum und Erwachen auch die Grenzen zwischen Existenz und Transzendenz durchlässig werden.97 Nicht nur Gustav als hoher Mensch, auch Beata als ›höheres Weib‹ wird vom Text her wiederholt der Transzendenz zugewiesen, so ist sie »oft krank« und ihr Lieblingsausdruck lautet »zum Sterben schön«. (I/1,158f.) Auch in ihrer jeweiligen Position zwischen Immanenz und Transzendenz passen Gustav und Beata zusammen und finden sich auch eben dort.98 Als Beata das Grab des verstorbenen gemeinsamen Freundes Amandus besucht, trifft sie auf den dort eingeschlafenen Gustav. Dieser träumt in einer metonymischen Verschiebung des Traums von der blauen Blume von »Riesen-Blumen«, in deren Silberschatten er liegt, und von »jauchzende[n] Seelen«, die »weit von ihm und näher den weggleitenden Sonnen« in den »Abendstrahlen« baden, und sehnt sich »unendlich« danach: Endlich dufteten in der Luft zwei Leiber in eine dünne Abendwolke auseinander und das fallende Gewölk entblößte zwei Geister, Beata und Amandus – dieser wollte jene in Gustavs Arme führen, aber er konnte nicht in den Silberschatten hinein – Gustav wollte ihr in die ihrigen entgegenfallen, aber er konnte nicht aus dem Silberschatten hinaus. – »Ach, du bist nur noch nicht gestorben,« rief Amandus’ Seele, »aber wenn die letzte Sonne hinunter ist: so wird dein Silberschatten über alles fließen und deine Erde von dir flattern und du wirst an deine Freundin sinken« – eine Sonne um die andre zerging [...] und über den ausgebreiteten Silberschatten wehte ein Entzücken und hob ihn empor und er nahm – – die wahre Hand von Beata und sagte, indem er wachte und träumte und nicht sah, die Worte zu ihr: »O nimm mich ganz, glückliche Seele, nun hab’ ich dich, geliebte Beata, auch ich bin tot.« (I/1,297f.)99

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werden. Zu überlegen wäre allerdings, inwiefern die Funktion der leibgebenden Schwester aus der Loge auf Leibgeber im Siebenkäs transponiert wird. Auch die groteske Gestaltung des Motivs fehlt nicht: Der vom Liebeskummer »zertrümmerte Amandus« reicht Gustav zum erbetenen Handschlag auf ihre Freundschaft statt seiner eigenen Hand »die kalte schwarze – Färbers Faust«, ein Präparat aus der anatomischen Sammlung seines Vaters (I/1,216). Anders als Dangel-Pelloquin 1999, S. 86, die dieses Arrangement als »eine von den komplizierten Zufallskonstruktionen« deutet, die notwendig seien, um die Liebenden überhaupt zusammenzuführen, lese ich die Handreichung Gustavs und Beatas als metonymische Verschiebung derjenigen von Genius/Guido und dessen Schwester und damit als Element einer systematisch ausgeführten Makroproposition. Ausf. zur Charakteristik des hohen Menschen zwischen Immanenz und Transzendenz vgl. Teil II, Kap. 3.2. Beata eröffnet eine Reihe von hohen Frauenfiguren, die der Transzendenz in steigendem Ausmaß (Klotilde im Hesperus) und schließlich endgültig (Liane im Titan) verhaftet sind, vgl. dazu Teil III, Kap. 2.1. und 2.2. Nicht nur mit Beata und Amandus gelingt Gustav eine Grenzüberschreitung zwischen den zwei Welten, sondern auch mit Genius/Guido: Im Anschluss an den Traum von der blauen Blume hört Gustav eine Stimme vom Himmel, die ihn ruft, kurz nachdem er einen sehnsüchtigen Appell an den Himmel geschickt hat, ihm wenigstens die Stimme des vermissten »Geliebte[n]« zu senden: »Die zwei Welten waren nun für ihn in eine

Doch nicht nur die nachmalig auch von Erfolg in der ersten Welt gekrönte »Liebeerklärung« (I/1,310) ist eine Erfüllung des programmatischen Traumes vom blauen Blumenkelch, zur dort entfalteten Makroproposition gehört auch Gustavs »Fall« (I/1,348) aus dem Raum geschwisterlich-liebender Zusammengehörigkeit. Dies konkretisiert sich im Textverlauf zweifach: Nicht nur verliert Gustav Genius und Guido an die Transzendenz,100 er wird auch seiner verlustig gegangenen Unschuld wegen aus der Beziehung mit Beata herausfallen und sagt sich deshalb schriftlich von ihr und von Guido los: »Wenn einmal dein Bruder mit einem schöneren Herzen an deines sinkt: so sag es ihm nicht, so sag es dir selber nicht, wer ihm ähnlich sah«. (I/1,359) In der Traumerzählung der Unsichtbaren Loge wird die Metapher der blauen Blume als Raum der Sehnsucht etabliert, der Höhe, Transzendenz und geschwisterliche Vereinigung konnotiert: Alle drei Qualitäten werden von Gustav erstrebt und für kurze Zeit oder fast erreicht, doch letztlich geht er aller verlustig. Am Schluss präsentiert sich die Traumtopographie auf drei Ebenen: Am Boden liegt der aus der Blume gefallene Gustav, während Genius/Guido aus der Transzendenz auf ihn hinunterblickt. Von der Schwester ist als einziger Figur aus dem Innern des blauen Blumenkelchs nicht mehr die Rede, da die anderen Figuren die Blume verlassen haben, kann daraus geschlossen werden, dass sie am Schluss des Traums allein dem Raum der Blume verbleibt. In der Mitte zwischen Immanenz und Transzendenz befindet sich damit die blaue Blume mit der Schwester als möglicher Mittlerin zwischen den Welten. Im Textverlauf wird die Schlussszene des Traumes, die Blume und Frauenfigur engführt, metaphorisch weiter etabliert. Insbesondere diese Fortschreibung der Metaphorik deutet auf Novalis und jenen »blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte«101 voraus: So fliegt der im Anblicken von Frau-

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zusammengefallen«. Die Dekonstruktion der erhabenen Stelle, die gleich darauf folgt, tut der Wirkung der unio mystica in Gustavs Seele jedoch keinen Abbruch: Dass »diese hohen Bewegungen« höchst wahrscheinlich ein entflogener Starmatz erregt hat, ist – da dies nur ›Jean Paul‹ und die Lesenden wissen – »einerlei«. (I/1,177) Die beiden Szenen sind nicht nur im Hinblick auf die Traumerfahrung und daraus resultierender unio mystica parallel gestaltet, sondern auch hinsichtlich der darauf folgenden Dekonstruktion des erhabenen Augenblicks: Der »Liebeerklärung« folgen sowohl ein satirischer Erzählerkommentar als auch eine nihilistische Gegenbewegung, die die Thematik der »Rede des toten Christus« vorwegnimmt: Der lebendig begrabene und dem Grab entstiegene Ottomar kommuniziert seine Jenseitserfahrung: »Ich habe mit dem Tode geredet, und er hat mich versichert, es gebe weiter nichts als ihn.« (I/1,303) Unter die Bruderfiguren, die Gustav an den Himmel ›verliert‹ muss an dieser Stelle auch Amandus gezählt werden: »Amandus! trennt dich der Himmel ganz von mir, und kannst du, der du mir die Lilien-Hand Beatens gegeben, nicht meine befleckte sehen, die nicht mehr für die reinste gehört? – Auch, wenn du noch lebtest, so hätt’ ich ja dich auch verloren...« (I/1,358) Zur Interdependenz von Freundschaft und Geschwisterschaft zwischen Gustav und Amandus vgl. Teil II, Kap. 3.1. Novalis 1,242.

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engesichtern völlig unerfahrene Gustav schon in seinem »Vorfest« der Liebe auf das »Zauber-Gesicht«102 der Schäferin Regina »wie auf eine Blume«, obwohl dieses, wie ›Jean Paul‹ sich zu bemerken beeilt, »ein alltägliches war«. (I/1,79)103 Aber es ist vor allem Beata, Gustavs große Liebe, die metaphorisch den Blumen zugewiesen wird: »Und du, Blumen-Seele, Beata, deren Wurzeln auf dem irdischen Sandboden so selten die rechte Blumenerde finden«. (I/1,209) Die Weiterschrift der Metaphorik aus dem Traum von der blauen Blume kulminiert in einer explikativen Allegorie, in der Beata mit dem Hesperus enggeführt wird, eine Konstellation, die nachmalig Patin für ein »bessres«104 Romanprojekt stand: [...] der immer Beata als Abendstern nachzog. Sanfter holder Hesperus am Himmel! du wirfst deine Strahlen-Silberflitter auf unser Erden-Laub und schließest leise unser Herz für Reize auf, die so sanft wie deine sind! Alle Sommerabende, die mein Auge in Träumen und Erinnerungen auf deinen über mich erhöhten Unschuld-Auen verlebte, belohn’ ich dir, versilberter schönster Tautropfe in der blauen Äther-Glockenblume des Himmels, indem ich dich zu einem Bilde der schönen Beata mache! (I/1,265)

Anders als bei Novalis, wo die blaue Blume botanisch unspezifisch bleibt, konkretisiert sich diese bei Jean Paul. Neben der blauen Äther-Glockenblume des Himmels, in der Beata als Abendstern leuchtet, sind es zwei sprechende Blumen, die mit Beata in Verbindung stehen: Im idyllischen Blumenort »Lilienbad« schmücken eine »Himmelleiter« und ein »Blumentopf, mit einem einzigen Vergißmeinnicht« Beatas Hütte. (I/1,381f.) Das Vergissmeinnicht, das vor allem im Siebenkäs allegorische Karriere machen wird, wird in der Loge im Abschiedsbrief Gustavs an Beata als Gradatio eingeführt: »vergiß [... m]ich«, »aber ich vergess’ es nicht«, »erinnere dich meiner nicht« und »vergiß mich doch nicht«. (I/1,359f.) In der Wiederholungsfigur verschiebt sich die Anfangsaufforderung des Vergessens in ihr Gegenteil. Beata löst diesen Appell des Gedenkens handelnd ein, indem sie das Vergissmeinnicht auf ihrem Fenstersims nährt. Die »Himmelleiter«, die darüber hinaus als »Malzeichen oder [...] Signatur« Beatas Hüttendach ziert, nimmt die im Blumentraum angelegte Rolle der Mittlerin zwischen Immanenz und Transzendenz auf und verweist zugleich auf eine weitere, himmelblau blühende Blume: die Himmels- oder Jakobsleiter. (I/1,382)105

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Die erste Auflage verzeichnet »magisches Gesicht«, vgl. Pauler 1981, S. 74. Die Metaphorik, die Blume und Gesicht engführt, ist bei Jean Paul zahlreich vertreten und meist weiblich konnotiert, aber nicht ausschließlich, auch Gustav hat Lilienhaut und Rosenwangen (vgl. I/1,69): Hier kommt es zu einer »Vermischung« der Geschlechtersignatur über die »Metaphern« (I/1,354). Vgl. Jean Pauls Brief vom 27. 2. 1792 an Christian Otto, SWIII/1,346. Die Insignien der Hütten werden vom Erzähler als »scherzhaft[e]« eingeführt, womit – wie Jean Paul es dann beim Witz in der Vorschule definiert – eine Ähnlichkeitsbeziehung insinuiert ist, die beispielsweise den Erzähler ›Jean Paul‹ als »Damenschneider« präsentiert (I/1,382).

Erweist sich grundsätzlich in der Engführung von im Traum geschauter blauer Blume und der geliebten Frauenfigur Die Unsichtbare Loge Jean Pauls als Prätext für Novalis’ Heinrich von Ofterdingen, so markiert zugleich die je andere Genese der metaphorischen Zuschreibung die entscheidende Differenz: Bei Jean Paul entwickelt sich das Bild der geliebten Frauenfigur aus dem Raum des Geschwisterlichen, bei Novalis aus der Beziehung zu den Eltern. Diese Disposition ist in den ersten Worten des Romantextes programmatisch angelegt: »Die Eltern lagen schon und schliefen«. Eine ganze Reihe von Textstimuli organisiert die Zuordnung der blauen Blume zum Raum der Eltern, beginnend mit dem Erwachen, das das Blumengesicht mit der Mutter überblendet: Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung, als ihn plötzlich die Stimme seiner Mutter weckte, und er sich in der elterlichen Stube fand, die schon die Morgensonne vergoldete. Er war zu entzückt, um unwillig über diese Störung zu seyn;106

Heinrich wird die blaue Blume denn auch im Raum der Mutter suchen.107 Das Traumbild von der Sehnsuchtsfigur der blauen Blume, das sich aus der Erinnerung des Erlebten zu den im Unbewussten situierten Trieben und Neigungen weiter schreibt, gibt aufgrund der unterschiedlichen Verankerung der »Erwartung« in der familialen Struktur in Jean Pauls Unsichtbarer Loge und Novalis’ Heinrich von Ofterdingen der »Erfüllung« der Traumstruktur im Textverlauf eine je andere Richtung vor.108

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Novalis 1,242. Schon Mahoney 1980, S. 61, sieht in der Sehnsucht nach der blauen Blume einen kaum verhüllten Wunsch nach der eigenen Mutter. Diese Isotopie stützt auch der als Verdoppelung lesbare väterliche Blumentraum, dessen Einlösung die Mutter ist. Schmaus 2000, S. 72, dagegen verortet die blaue Blume bei Novalis im Raum der Geschwisterliebe und des Androgynen. Ist dies für die Zulima-Szene, anhand der Schmaus dieses Argument entwickelt, höchst einleuchtend, so ist die Extension dieser Textbeobachtung auf den ganzen Ofterdingen und insbesondere die Deutung der blauen Blume als Chiffre der Geschwisterliebe eine Verabsolutierung, die nur auf Kosten der Unterdrückung einer ganzen Reihe widersprechender Textstimuli möglich ist. Vgl. die Titel der beiden Teile des Ofterdingen.

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2.

Liebe und Geschwister

Über die Kindheitserzählung der Unsichtbaren Loge werden Gustav und Beata in ein Geschwisterverhältnis gebracht, und die Entwicklung ihrer Liebesbeziehung wird in obsessiver Weise von Geschwistern befördert, überlagert und gestört. Der Geschwister-Subtext ist nicht der einzige Text, der die Liebesbeziehung vorantreibt, doch ist er einer der beharrlichsten – und, wie meine Lektüre zeigen soll, mitunter der wichtigste. Die Etablierung des geschwisterlichen Subtextes verläuft in der Loge beinahe unter der Hand: Wenige, gezielt eingesetzte und strategisch wiederholte Hinweise genügen für die Geschwistergenese.1 Dass Jean Paul diesen Geschwistersubtext im Textverlauf extensiv bearbeiten kann, ist nur bedingt die Leistung dieser wenigen Hinweise: Vielmehr kann der Erzähler hierfür auf ein spezifisches kulturelles Wissen und einen entsprechend strukturierten Erwartungshorizont beim zeitgenössischen Lesepublikum bauen. Jean Pauls Modell-Leser, um mit Eco zu sprechen, verfügt nicht nur über ein vom Text errichtetes Wissen, sondern auch über eine Enzyklopädie, zu der kulturelle Formationen und intertextuelle Szenographien über Geschwister gehören, die im Lektüreverlauf investiert werden können.2 Für die Interferenzen von Geschwistern und Liebe sind es vor allem zwei Formationen, die aktiviert werden können: Zum einen handelt es sich um die vom Diskurs der Empfindsamkeit propagierte zärtliche Liebe, die in der asexuellen Geschwisterliebe eine mögliche konkrete Ausformulierung findet, die als Bildungsziel oder Station auf dem psychosexuellen Bildungsweg der Liebe literarisch in Anspruch genommen werden kann.3 Zum andern ist es die Szenographie der inzestuösen Situation, anhand der literarische Texte die Hierarchisierung und Situierung von individuellem Gefühl und sozialer Beziehung ausagieren. 4 An Goethes Einakter Die Geschwister will ich die Verhandlungen um Liebe und Geschwister im Folgenden exemplarisch analysieren. Dies nicht nur, da es sich dabei um einen Intertext zur Loge handelt, sondern auch, da diese in nur zwei Tagen,

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Vgl. Teil II, Kap. 1.3. Zu den erzähltheoretischen Konzepten des Modell-Lesers, der Szenographie und der Enzyklopädie vgl. Eco 1987. Vgl. ausf. dazu Teil I, Kap. 2.3.1. Vgl. dazu Teil I, Kap. 2.2.1 und 2.3.2.

am 28. und 29. Oktober 1776, verfasste Gelegenheitsdichtung5 durch ihre Schreibsituation die Verhandlungen des zeitgenössischen kulturellen – und in diesem Fall auch individuellen6 – Wissens zur Geschwisterliebe nachdrücklich präsent hält.7

2.1

»Herüber und hinüber«: Goethes Geschwister als Intertext zur Loge

In Goethes Einakter Die Geschwister kommt Marianne, die mit ihrem vermeintlichen Bruder Wilhelm in einem gemeinsamen Haushalt lebt, durch den Heiratsantrag des Hausfreundes Fabrice in einen Konflikt widerstreitender Beziehungen und Emotionen. Während Fabrice und Wilhelm klare Absichten verfolgen, erprobt sie spielerisch verschiedene Rollen. Sie ist nach- und nebeneinander Schwester, Hausfrau, Mutter, Braut sowie Freundin. Dieses Rollenspiel ermöglicht ihr, die jeweiligen Bedingungen sowie den spezifischen Gefühlshaushalt der einzelnen Rollen auszuloten und darin das je andere Beziehungsgefüge zu erproben. Eine Rolle im setting weiblicher Beziehungsmöglichkeiten scheint für sie allerdings nicht in Frage zu kommen: die der Tochter. Im Spielraum der von Marianne eröffneten Möglichkeiten trachten die Männer danach, den ihnen gemäßen Gefühlstransfer zu betreiben: Wilhelm möchte die schwesterlichen in bräutliche Gefühle verwandeln, Fabrice sieht die freundschaftlichen Gefühle als erfolgsversprechende Basis für einen Transfer der Geschwisterliebe auf ihn als zukünftigen Gatten an. Marianne dagegen sucht nach Lösungen, sowohl die Liebe zum Bruder als auch den Wunsch, Gattin und Mutter zu sein, in

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Erstdruck von Die Geschwister in der Werkausgabe von 1787. Ich zitiere Goethes Werke nach der Hamburger Ausgabe 1994–96, im Folgenden im Text mit Angabe des Bandes und Seitenzahl. Ein in den Text eingearbeitetes wörtliches Zitat aus einem Brief Charlotte von Steins an Goethe gilt – zusammen mit der Namenskonkordanz mit der Figur Charlotte – gemeinhin als Anlass, den Einakter biographisch und damit auch in Bezug auf Goethes Beziehung zu seiner Schwester Cornelia zu deuten. Vgl. zu dieser Forschungstradition Meyer-Krentler 1982. Zweifellos hat die inzestuöse Situation Goethe auch persönlich beschäftigt, vgl. etwa die viel zitierten Zeilen aus einem Gedicht an Charlotte von Stein, das Goethe ebenfalls 1776 einem Brief an sie beigelegt hat: »Ach, du warst in abgelebten Zeiten / Meine Schwester oder meine Frau«. (1,123) Und schon 1775 schreibt der junge Goethe an eine Brieffreundin, der er persönlich noch nie begegnet ist: »Ich will Ihnen keine Namen geben, denn was sind die Namen Freundin, Schwester, Geliebte, Braut, Gattin oder ein Wort, das einen Komplex von all denen Namen begriffe, gegen das unmittelbare Gefühl«, Goethe 1988, Briefe, Bd. 1, S. 176. Mir geht es im Folgenden aber nicht um solche biographischen Zusammenhänge, sondern um die Wirkungen einer überindividuellen Konstellation, für deren Potenz auch die ausgesprochen erfolgreiche Aufführungspraxis der Geschwister im 19. Jahrhundert spricht; vgl. zur Aufführungsgeschichte Meyer-Krentler 1982, S. 230. Eine Vorstudie hierzu ist Frei Gerlach 2003.

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einen Gefühlsverbund zusammenzubringen, in dem auch der Freundschaft noch ein Platz offen gehalten würde. Eines ist für sie dabei allerdings klar: Den ersten Rang in der Hierarchie der Gefühle belegt die Liebe zu ihrem Bruder: M ARIANNE. Manchmal stell ich mir’s auch vor und kann mir ein langes Märchen erzählen, wenn ich so sitze und sticke oder nähe, wie alles gehen könnte und gehen möchte. Komm ich aber hernach aufs Wahre zurück, so will’s immer nicht werden. FABRICE. Warum? M ARIANNE. Wo wollt ich einen Gatten finden, der zufrieden wäre, wenn ich sagte: »Ich will Euch lieb haben«, und müßte gleich dazusetzen: »Lieber als meinen Bruder kann ich Euch nicht haben, für den muß ich alles tun dürfen, wie bisher.« – – – Ach, Sie sehen, daß das nicht geht! FABRICE. Sie würden nachher einen Teil für den Mann tun, was sie für den Bruder taten, Sie würden die Liebe auf ihn übertragen.– M ARIANNE. Da sitzt der Knoten! Ja, wenn sich Liebe herüber und hinüber zahlen ließe, wie Geld [...].(4,359)

Liebe lässt sich nicht »herüber und hinüber zahlen«, Marianne hält den ökonomischen Diskurs nicht für die geeignete Analogie, um den Knoten zwischen Geschwisterliebe, Gattenliebe und Freundschaft zu lösen.8 Doch genau um eine derartige Transposition von Liebesgefühlen geht es im Text. Die Differenz zwischen den Positionen von Marianne und Fabrice ist nicht diejenige zwischen Konstanz und Transposition, sondern eine zwischen den Referenzsystemen für diese Transposition. Nicht aus der Zirkulation des Geldes leitet Marianne das ›Herüber‹ und ›Hinüber‹ ab, sondern aus derjenigen der Literatur. Eine erste Referenz auf die Literatur stellt ihr Hinweis auf das Erzählen eines Märchens dar: In der Märchenwelt kann eine Lösung projektiert werden,9 die jedoch aufgrund der Struktureigenheiten des Genres den Transfer in die Wirklichkeit nicht erträgt. Im »Wahre[n]« schnürt sich dagegen der Knoten nun enger: Fabrices Heiratsantrag erzwingt eine Klärung der Positionen. In dieser Situation greift Marianne auf ihr Wissen aus »Romane[n]« zurück, das nun anders als das Märchenwissen wirklichkeitstauglich ist, wie der Fortgang der Handlung erweist.10 Sie bezieht sich

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Die Anrufung und Außerkraftsetzung des ökonomischen Diskurses bezeichnet genau jene Systemstelle, an der vorrangig durch ökonomische Verbindlichkeiten definierte Heiratsregeln von der auf Sympathie gegründeten Liebesheirat abgelöst werden. An der Herausbildung dieser neuen Liebessemantik hat Literatur entscheidenden Anteil, auf sie greift Marianne darum nicht zufällig zurück. Vgl. dazu Teil I, Kap. 2.3. Eine solche Lösung führt beispielsweise Grimms Märchen »Brüderchen und Schwesterchen« vor, in der das Zusammenleben von Bruder und Schwester und danach selbdritt mit dem König durch die Verwandlung des Brüderchens in ein Reh ermöglicht wird, was ihn als möglichen Sexualpartner für das Schwesterchen ausschließt. Vgl. Grimm 1812, S. 33–38 und Teil I, Kap. 2.5.1. Koschorke 1999, S. 157ff., verortet das in der Literatur der Empfindsamkeit häufige Mo-

dabei explizit auf die Geschichte der Miss Fanny Wilkes (1766), einen beliebten Roman von Johann Timotheus Hermes: Unter allem konnt ich am wenigsten leiden, wenn sich ein Paar Leute lieb haben, und endlich kommt heraus, daß sie verwandt sind, oder Geschwister sind – Die Miß Fanny hätt ich verbrennen können! Ich habe so viel geweint! Es ist so ein gar erbärmlich Schicksal! Sie wendet sich und weint bitterlich. (4,367f.)

Mariannes identifikatorische Lektürehaltung – »wenn eine Dame recht hübsch war und recht gut und recht geliebt – und recht verliebt – das war immer ich selbst« –, die auch ihren Bruder mit einbezog, der den zugehörigen Helden vorzustellen hatte, hat sie derlei Konstellationen selbst schon oft nachempfinden lassen. (4,367)11 Sie ist damit für eine Neuverteilung der Rollen im Beziehungsgeflecht nicht nur durch ihr Rollenspiel im Alltag, sondern auch durch ihre Lektüreerfahrung vorbereitet. Nicht so Fabrice, der mit seinem Heiratsantrag nicht nur Mariannes Gefühlshaushalt zu einer Klärung führt, sondern auch Wilhelm zur Aufklärung der tatsächlichen Beziehungsstruktur nötigt: WILHELM: [...] Marianne ist nicht meine Schwester. FABRICE: Darauf war ich nicht vorbereitet. (4/364)

Einen fleißigen Romanleser oder Theaterbesucher hätte diese Enthüllung nicht so unvorbereitet getroffen: Fabrice erweist sich spätestens hier als Träger eines sprechenden Namens, wenn nicht schon das Geldgeschäft, mit dem das Stück beginnt, oder seine Auffassung von Liebe als Tauschgeschäft ihn als Kaufmann und Fabrikanten identifiziert haben. Es scheint notwendig zu sein, ihm die ganze Enthüllung der Verwandtschaftsverhältnisse darzulegen, wogegen Marianne über den Sachverhalt nicht im einzelnen aufgeklärt wird: Die Verwandlung von der Schwester zur Braut geht Schlag auf Schlag, Marianne bringt mit ihrem Rollenspiel und ihrer Lektüreerfahrung offenbar die dafür notwendige Disposition mit.12 Mit dem Rückgriff auf literarische Muster ist aber auch das Risiko einer nochmaligen Verkehrung der Verhältnisse gegeben, wie es beispielsweise in der zwei

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tiv des Buches im Buch als Reflexion des Zirkulationsprozesses zwischen Literatur und Leben in der empfindsamen Liebessemantik: »Empfindsam lieben bedeutet: die Erfahrungen machen, von denen man zuvor durch Bücher Kenntnis erhielt.« (S. 162) Die von Koschorke herausgearbeitete empfindsame Konstellation der Liebe durch Lektüre folgt dabei aber einer Geschlechterdramaturgie, die sich von derjenigen in Goethes Geschwistern markant unterscheidet: Der Mann rezitiert und vertritt damit Autorstelle, die Frau wird von seinen und den Worten des Dichters durchdrungen. Damit entspricht Marianne dem in den zeitgenössischen Lesesuchtsdebatten gezeichneten Bild weiblicher Lektürehaltung, vgl. ausf. dazu weiter unten. Damit beziehe ich eine Gegenposition zu Flitner 1988, S. 202, welche Marianne als vom Beziehungswechsel »gänzlich überrascht« deutet und die fehlende Aufklärung als Machtspiel der Männer interpretiert, darauf angelegt, Marianne zur Überschreitung der Inzestgrenze zu bringen.

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Jahre zuvor entstandenen Komödie Der neue Menoza. Oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi von Goethes Jugendfreund Jakob Michael Reinhold Lenz der Fall ist, wo Liebende zu Geschwistern und dann wieder zu Liebenden werden.13 In Goethes Geschwister erlauben die genealogischen Verhältnisse nicht, in die titelgebende Beziehungsstruktur zurückzufallen, dafür aber scheint eine andere Möglichkeit auf: Mariannes Mutter Charlotte war Wilhelms Geliebte, die ihm sterbend ihr Kind anvertraut hat. Dies führt nicht nur eine große Altersdifferenz in die vormalige Geschwisterbeziehung ein, sondern bringt auch eine erneute Inzestkonstellation ins Spiel: Der Text gibt keine Sicherheit darüber, ob Wilhelm nicht Mariannes Vater ist. Dass es hier um ein bedrohlicheres Tabu geht, als es der Geschwisterinzest gewesen wäre,14 zeigt die große Leerstelle im interpersonalen Beziehungsgefüge: Marianne darf nicht Tochter sein. Nicht nur verwandelt Wilhelm die Vater-Tochter-Beziehung, die naheliegender gewesen wäre, in eine der Geschwister, er versagt Marianne auch das Andenken an ihre Mutter: Fabrice ist »der einzige Mensch, der je was« von den Briefen Charlottens »zu sehen gekriegt hat«. (4,354) Und Charlotte selbst wird nicht als Mutter, sondern als »heilige Frau« und »schöne Seele« erinnert und damit als Teil der Transzendenz vorgestellt. (4,354f.) Es bedarf also einiger Kunstgriffe, damit Marianne für Wilhelm zuerst Schwester und dann Braut sein kann. Dahinter steckt System: Geschwisterliebe als Modell für und als Brücke zur Geschlechterliebe. Das Wissen aus »Romane[n]« erfüllt in Goethes Einakter Die Geschwister dafür eine entscheidende Funktion: Das Rollenspiel in Literaturrezeption und Alltag ermöglicht Marianne ein Austarieren von sozialen Beziehungen und individuellen Emotionen im familialen Wertsystem und bereitet sie so auf die von ihr geforderte Rollen- und Gefühlstransposition optimal vor: Die asexuelle Geschwisterliebe wird zu einer notwendigen Station ihrer psychosexuellen Entwicklung hin zur Sexualität einbegreifenden Geschlechterliebe. Dabei lässt Mariannes identifikatorische Lektürehaltung die Grenzen von Leben und Roman durchlässig werden, so dass sie ihr Leben wie einen Roman verstehen und die Konfliktsituation nach dem Muster der Literatur lösen kann: Was Clemens Brentano 1797 seiner Schwester Sophie als pädagogisches Mahnmal vorhält, dass »die Lektüre auch von den besten Romanen [...] Frauenzimmer [... zu] Copien der Romancharaktere« werden lasse,15 ist für die 1776 konzipierte literarische Figur Marianne gerade die Voraussetzung, ihr Leben zu meistern.

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Die Drucklegung des Menoza wurde 1774 von Goethe vermittelt, vgl. Meyer-Krentler 1982, S. 245. Zum Menoza vgl. auch Teil I, Kap. 2.2.1. Dabei ist von einer Hierarchisierung der Inzestkonstellationen auszugehen: Im literarischen wie auch im juridischen Diskurs rangiert Geschwisterinzest als die geringfügigere Inzestvariante. Vgl. dazu Teil I, Kap. 2.3.2. Clemens Brentano an Sophie Brentano, 14. August 1797, in: Brentano, Werke, Bd. 29, S. 128.

Mariannes Wissen aus Romanen stellt eine explizite Selbstreferenz auf den literarischen Diskurs dar: Literatur reflektiert sich selbst als wirklichkeitsbestimmenden Faktor. Das zeitgenössische Lesepublikum, das – wie die Klagen über die »Lesesucht« dokumentieren – nicht nur zahlreich, sondern auch mit beträchtlichem Zeitaufwand bei der Sache war,16 dürfte anders als der Nicht-Leser Fabrice auf die zum Tragen kommende Szenographie vorbereitet gewesen sein. Die Verteilung der Geschlechter auf die Rollen von Leserin und Nicht-Leser ist in den Geschwistern nicht zufällig: Goethe nimmt damit die Argumentationslinie der Lesesuchtsdebatte auf, die sich von Anfang an vorwiegend mit weiblichem Leseverhalten beschäftigt hat. Dies ist Reflex der Annahme eines geschlechterdifferenten Lesens, das ein als Norm verstandenes männliches, von sich absehendes und an der Kunst orientiertes Lektüreverhalten von einem zu korrigierenden weiblichen, identifikatorischen und subjektiv-emotionalem Lesen abgrenzt.17 Die Fokussierung auf die Leserin scheint Effekt des durchschlagenden Erfolges der frühaufklärerischen Bildungsoffensive der Selbstbildung durch Lektüre beim weiblichen Zielpublikum zu sein:18 Im späten 18. Jahrhundert geht es den Autoren der diversen Frauenzimmerlexika und Taschenbücher für Damen nun darum, die weibliche Lesesucht oder gar »Lesewut«19 zu reglementieren und das Interesse der Leserinnen von Romanen auf nützlicheres, wie »gute Kenntnisse in der Religion, Erziehungskunst der Kinder, und allem was zum häuslichen Leben gehöret« zu lenken.20

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Wie König 1977, S. 91f., nachweist, ist das Schlagwort der Debatte, die »Lesesucht«, ein neuer Begriff, der in den siebziger Jahren fassbar wird und ab den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts Standard ist. Die publizistische Lesesuchtsdebatte lässt jedoch nur bedingt Rückschlüsse auf tatsächliches Leseverhalten zu. So gehen Kiesel/Münch 1977, S. 154ff., in ihrer soziologischen Studie zur Entstehung des literarischen Marktes in Deutschland davon aus, dass tatsächlich eine Zunahme an Lesern und Leserinnen auszumachen ist, das Lesepublikum faktisch aber bedeutend geringer war, als die Lesesuchtsdebatte suggeriert. Auch König 1977, S. 98, legt dar, dass sich die Klagen über Lesesucht und über die damit verbundenen Konsequenzen falscher Lebensführung nur in geringem Maße auf tatsächliche Erfahrungen stützen. Vgl. dazu auch Koschorke 1999, S. 398ff. Vgl. Schlichtmann 2001, S. 29ff. Frauen und Jugendliche sind vor allem Ziel der frühaufklärerischen Bildungsoffensive, vgl. Kiesel/Münch 1977, S. 167f. Adelung (1793–1801) berücksichtigt das neue Modewort ›Lesesucht‹ noch nicht, bei Campe jedoch, der das adelungsche Wörterbuch in seinem Wörterbuch der Deutschen Sprache von 1807–1811 zeitgemäß ergänzt, findet sich im 3. Band von 1809, S. 107, die Definition: »Lesesucht, [...] die Sucht, d.h. die unmäßige, ungeregelte auf Kosten anderer nöthiger Beschäftigungen befriedigte Begierde zu Lesen, sich durch Bücherlesen zu vergnügen. ›Die Lesesucht unserer Weiber‹ Den höchsten Grad dieser Begierde bezeichnet man durch Lesewut.« Der Eintrag bei Grimm, Bd. 6, 1885, Sp.789, ist dann wiederum minimal. Frauenzimmer-Lexicon 1773, Sp. 1075, Art. ›Frauenzimmer‹, zitiert nach Cöppicus-Wex 2000, S. 277. Cöppicus-Wex zeichnet anhand von zwei Ausgaben des Nutzbaren, galanten und curiösen Frauenzimmer-Lexicons (1. Auflage: 1715, dritte Auflage 1773) die Entwicklung vom frühaufklärerischen Bildungsideal, das für Frauen noch drei unter-

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Teilt man Kittlers inzwischen kanonisch gewordene These von der Komplementärfunktion der Geschlechter im Literatursystem der Spätaufklärung, so arbeiten die Autoren der Lesesuchtsdebatte an der inneren Erosion des Systems und den Romanautoren entgegen, obwohl beide Erklärungszusammenhänge von Geschlecht als Differenzkategorie ausgehen. Die Kritik an weiblicher Lesesucht trifft das Literatursystem an empfindlicher, nämlich systemerhaltender Stelle: Den lesenden Frauenzimmern kommt gemäß Kittler ja gerade die Funktion zu, durch ihre emphatisch-identifikatorischen Wiederholungslektüren und die Rückadressierung selbiger an den Dichter die männlich konnotierte Rolle der Autorschaft zu stabilisieren, wenn nicht gar zu konstituieren.21 Lesen als autorstabilisierende Funktion lässt sich in der historischen Lektürepraxis jedoch nicht wie in der theoretischen Konzeption des Polaritätenmodells mit Ausschließlichkeit an eines der beiden Geschlechter koppeln, wie eine systematische Auswertung solcher Rückadressierungen, die weibliche und männliche Selbstzeugnisse einbegreift, zeigt: Silke Schlichtmann modifiziert in ihrer Untersuchung zeitgenössischer Goethelektüren Kittlers These dahingehend, dass die – von zeitgenössischen Autoren wie den über sie schreibenden Literaturwissenschaftler und Literaturwissenschaftlerinnen geäußerte – Aussage, Geschlecht sei eine relevante Kategorie bei der Lektüre, weniger die Beschreibung tatsächlicher historischer Lesepraxis, als vielmehr ein Reflex der Diskurse um die Geschlechterpolarität um 1800 ist.22 An der zeitgenössischen Diskussion einer geschlechterdifferenten Lektürepraxis und ihrer Auswirkungen auf das Literatursystem beteiligt sich maßgeblich auch Jean Paul. Seine theoretischen Überlegungen dazu orientieren sich weitgehend am Polaritätenmodell.23 Jean Paul wird in der Forschung denn auch als Prototyp des »von den Weibern geliebt[en]« Schriftstellers rezipiert.24 Eine ausgefeilte Systematik aller bisher genannten Lesetypen liefert die Vorrede zum Siebenkäs:

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schiedliche Bildungsziele kannte – das »haushältige und sorgfältige«, das »curiöse und galante« und das »gelehrte Frauenzimmer« – zur zunehmenden Verhäuslichung nach. Vgl. Kittler 1995, S. 138ff., in diesem Sinne auch Schön 1990. Vgl. Schlichtmann 2001. Insbesondere weist Schlichtmann nach, dass emphatische Liebesartikulationen der Lesenden an den Autor bei männlichen Briefschreibern in der Forschung an den Empfindsamkeitsdiskurs angebunden, bei weiblichen dagegen wörtlich genommen wird, (S. 282) was ein eindrücklicher Beweis der Macht der Heteronormativität ist. Vgl. dazu Dangel-Pelloquin 1999, S. 177ff. Die Formulierung entstammt einem Brief Esther Gads an Jean Paul, vgl. Hahn 1990, S. 26, sowie Köpke 1980. Inwiefern sich Jean Paul über die Liebessemantik in seinen Briefen inszeniert, zeigt Paulus 2008. Eine systematische Auswertung der Korrespondenz an Jean Paul, die männliche und weibliche Selbstzeugnisse den gleichen Bewertungsmaßstäben unterziehen würde, steht meines Wissens noch aus und könnte – wie Schlichtmann bei Goethe gezeigt hat – zu anderen Ergebnissen führen. Die Grundlagen dafür werden derzeit ediert: Mit der in Berlin-Brandenburg in Arbeit befindlichen Edition der Briefe an Jean Paul, von der Ende 2011 fünf Bände vorliegen, wird die von Berend

Ich untersuchte nämlich am Ofen das Publikum und befand, daß ich solches wie den Menschen in drei Teile zerlegen konnte – ins Kauf-, ins Lese- und ins Kunst-Publikum, wie mehre Schwärmer den Menschen in Leib, Seele und Geist. (I/2,16)

Gemäß dieser Systematik erweist sich Fabrice aus Goethes Geschwister als Repräsentant des Kaufpublikums, das Literatur als Ware ansieht, sie jedoch nicht liest.25 Dem Lesepublikum ist Marianne und sind mit ihr die in den Lesesuchtsdebatten besprochenen identifikatorisch-lesenden Frauenzimmer zuzurechnen, denen die Szenographie des ›Herüber‹ und ›Hinüber‹ von Geschwister- und Geschlechterliebe hinlänglich vertraut ist.26 Das Kunst-Publikum, das sich gemäß Jean Paul an Autoren wie »Herder, Goethe, Lessing, Wieland« (I/2,17) hält, stellt dann das männliche Lesepublikum dar, das einen exquisiteren Geschmack als Marianne an den Tag legt. Doch auch für diese Zielgruppe bietet sich eine Vielzahl von Möglichkeiten, das enzyklopädische Wissen über die intertextuelle Szenographie von Geschwister- und Geschlechterliebe zu erwerben: Fast bei jedem prominenten Autor der Goethezeit ist die Szenographie vertreten, insbesondere bei den genannten Referenzautoren Goethe, Lessing und Wieland:27 Liebe im Spannungsfeld von Geschwistern und Geschlechtern lässt sich, um Mariannes Votum aus den Geschwistern in ein JeanPaul’sches umzumünzen, »herüber und hinüber« zwar nicht »zahlen«, sehr wohl aber erzählen.28 Wie Jean Paul dies in seinem ersten großen Roman, der Unsichtbaren Loge, als virtuoses Spiel mit Szenographien, Bildern und Diskursen tut, und wie weit er die empfindsamen Zirkulationsprozesse zwischen Literatur und Leben dabei dreht, soll nun Thema der folgenden Jean Paul-Lektüre sein.

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geplante Abteilung IV der Sämtlichen Werke nun umgesetzt. Parallel dazu werden in Magdeburg Briefe aus dem Familien- und Freundeskreis, das so genannte »Archiv der Liebe«, ediert: ein über Briefe geführter geselliger Austausch, der zugleich eine bewusst vollzogene medial-ästhetische Inszenierung war. Vgl. zu letzterem Böck 2006. Vgl. zum Verhältnis von Bücherkauf, Bücherbesitz und Lektüre Kiesel/Münch 1977, S. 159. Jean Paul nimmt in seiner Beschreibung typischen Merkmale aus der aufklärerischen Bildungsoffensive auf: »Der zweite Teil des Publikums, die Seele, das Lese-Publikum, besteht aus Mädchen, Jünglingen und Müßigen. [...] es lieset uns alle doch und überschlägt gern dunkle Blätter, worin bloß räsoniert und geschwatzt wird, und hält sich wie ein ehrlicher Richter und Geschichtsforscher an Fakta.« (I/2,17) Literarische Texte der genannten Referenzautoren für das Kunstpublikum, die Verhandlungen um Geschwister- und Geschlechterliebe explizit gestalten, sind – bis zu der vom November 1795 datierten Vorrede des Siebenkäs – beispielsweise Wielands Geschichte des Agathon (1766/67), Goethes Geschwister (1787) und Lessings Nathan der Weise (1779). Genau diese Differenz von »erzählen« und »erzahlen« umspielt die Allegorie des Lesens, Erzählens und Schreibens in der Vorrede des Siebenkäs, vgl. Dangel-Pelloquin 1999, S. 176. Vgl. grundsätzlich zur Zirkulation von Geld und Literatur Hörisch 1996 und zu Jean Paul, Pross 1997.

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2.2

»Ich bin ja dein Bruder nicht«: Geschwistersubtext der Loge

In der Loge steht Gustav vor der Aufgabe, eine Geschwisterbeziehung zu der von ihm – und mit ihm vom nahezu gesamten männlichen Romanpersonal – geliebten Beata abzustreiten. Dass es für das Einzelkind Gustav überhaupt soweit kommt, wird über eine mehrschichtige Geschwistergenese eingeleitet, mit Rückgriff auf ein spezifisches enzyklopädisches Wissen über Substitute, Analogien und Verdoppelungen entfaltet und kulminiert schließlich in einer die Struktur nochmals verdoppelnden Theateraufführung.29 Gustav durchläuft also zuerst eine kunstvoll inszenierte Transformation zum Geschwister, um sich in der Formation von Geschwister- und Geschlechterliebe situieren zu können. Dabei wird das Arrangement als hergestelltes kenntlich und auf seine literarische Herkunft hin transparent gemacht: Jean Pauls Gestaltung des empfindsamen Liebesdiskurses weist einen hohen Grad an Selbstreflexivität auf. Doch nicht nur der männliche Protagonist leitet sein Liebesgefühl aus dem Raum des Geschwisterlichen her. Auch Beata leistet die entsprechende Transformationsarbeit, wobei die leiblich-materielle Geschwisterschaft von Guido und Gustav produktiv wird: Konnte sich ihre Liebe als Schwester bisher nur rein projektiv auf das Bild des abwesenden Bruders richten, so kann diese Schwesterliebe mit dem Auftreten Gustavs, als dem leibhaftig gewordenen »Ebenbild ihres Bruders«, für eine gegenseitige Beziehung aktiviert werden. Was diese Übertragungsleistung von »Bilde und Ebenbild« (I/1,245) für den eh schon prekären Status von Kopie und Original bedeutet,30 ist eine Frage, die Amandus, Gustavs Jugendfreund, ausformuliert: »Wird sie, da sie die Kopien verwechselte, nicht auch die Originale verwechseln, da sie sich alle vier so gleichen u.s.w.?« (I/1,203) Die erste Begegnung von Gustav und Beata nach ihrer Kindheitsbekanntschaft fügt sich jedoch nur mittelbar in den skizzierten Geschwisterzusammenhang ein: als Voraussetzung für Gustav wie Beata, sich mit dem Porträt ihres Halbbruders, jenem »Hals-Gehenk« aus der Gründungsszene ihrer Geschwisterschaft zu befassen. Für die Entwicklung der Beziehung der beiden ist diese Begegnung aus anderen Gründen bedeutsam: Es ist die erste bewusste Begegnung von Gustav und Beata, und sie enthält deutliche Hinweise auf einen rite de passage.31

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Vgl. Teil II, Kap. 1.3. Vgl. dazu Teil II, Kap. 1.2. Zum Begriff der rites de passage vgl. die stilbildende Untersuchung von Arnold van Gennep (1909). Schlaffer 1998, S. 43, spricht – allerdings mit Bezug auf die Einweihungsrituale zum hohen Menschen – von der »Ubiquität der Einweihungen« in der Unsichtbaren Loge.

2.2.1

»Guido-Bilderstürmerei«: Verliebung

Die erste bewusste Begegnung von Gustav und Beata steht unter keinem guten Stern.32 Gustav bricht in die Maußenbacher Familienidylle anlässlich des Geburtstagsfestes von Beatas Vater mit Anschuldigungen über Kornschmuggel ein und stört damit nicht nur das Fest und die von den Teilnehmenden damit verbundenen Erwartungen empfindlich,33 sondern setzt auch in kriegerischer Metaphorik Beatens Kindheitsgefühl ein Ende: Mit reißenden Gefühlen floh Gustav aus einem stummen Zimmer, wo er vom weichsten Herzen, das noch unter einem schönen Gesicht gezittert, von Beatens ihrem, die Blumen kindlicher Freude weggebrochen und herabgeschlagen hatte. (I/1,192)

Die Schwelle als Grenze zwischen zwei Entwicklungszuständen ist in dieser Textszene ihrem literalen Sinn nach da: Gustav tritt ins »Geburttagzimmer« ein und flieht nach getaner Tat daraus. Ein- wie Austritt sind von Gefühlen begleitet, die leiblich der Dimension der Weitung 34 zugehören und deren zentrifugale Kraft mit Flüssigkeitsmetaphern beschrieben wird: »mit überwallendem Hasse« tritt Gustav ein, mit »reißenden Gefühlen« aus, und dazwischen steht seine »Tugend-Plethora«: die Überfülle, in ihrer medizinischen Verwendung eine allgemeine oder – im zu skizzierenden Kontext zutreffendere – lokale Vermehrung der normalen Blutmenge.35 Über die Attribute kommt hier eine Sexualmetaphorik in Gang, die sich mit der zugehörigen, durch Bindestrich, »Brautstand« und »Flitterwochen« verbundenen Tugend in einer gegenstrebigen Fügung befindet. (I/1,191f.)36 Zwischen Gustavs Überwallen und seinem Reissausnehmen befindet sich im Text eine Zäsur, was die Vorgänge im Zimmer betrifft: Röper und der Lebensbeschreiber respektive Amtmann ›Jean Paul‹ diskutieren die Injurie »vor d[er] Haustür«. Zurück bleibt Beata, von deren Gesicht Gustav »die Blumen kindlicher Freude weggebrochen und herabgeschlagen hatte«: (I/1,192) eine metaphorische Wendung, die den Begriff der Defloration auf seine florale Bildlichkeit hin transparent macht. Die durchgeführte Sexualmetaphorik dieser Textszene verdichtet sich zu einer Alle-

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Vgl. I/1,191: »[A]ls er mich [den Lebensbeschreiber ›Jean Paul‹, F.F.G.] nach vielen Wochen und meine Schülerin [Beata, die bei ›Jean Paul‹ Klavierunterricht nimmt, F.F.G.] zum ersten Male sah«. Etwa diejenige des Lebensbeschreibers ›Jean Paul‹, »gegen Abend nach Mondaufgang etwas sentimentalisch zu sein in Beisein von Beaten« (I/1,193). Eine Systematik leiblicher Gefühlszuständen nach ihrem Verhältnis im Raum (Engung, Weitung) hat in den 1960er Jahren Hermann Schmitz erstellt, die von der Gender-Theoriebildung im Kontext der deutschen Butler-Debatte rezipiert und in deren Leibtheorien integriert worden ist. Vgl. zur zeitgenössischen Sprachverwendung den ausf. Art. »Vollblütigkeit, Vielblütigkeit, Lateinisch Plethora« bei Zedler, Bd. 50, 1746, Sp. 426–464. »Zweitens lebte er [Gustav, F.F.G.] jetzt mit der Tugend im Brautstand und in den Flitterwochen«. (I/1,191) Grundsätzlich zur Substitutionsfunktion der empfindsamen Flüssigkeitsmetaphorik vgl. Koschorke 1999, S. 87ff.

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gorie der Initiation zwischen Kindheit und Erwachsensein: Diese Schwellenerfahrung eröffnet eine neue Phase in der Entwicklung der Beziehung von Gustav und Beata, in der – zumindest über die Metaphern – sexuelles Begehren hinzukommt.37 Nach seiner »Maußenbacher Aventüre« (I/1,203) sucht Gustav Trost bei seinem Jugendfreund Amandus. Da dieser in seinen sozialen Beziehungen stets zur Eifersucht tendiert, erkauft sich Gustav dessen ungetrübte Zuwendung durch die Preisgabe eines älteren Geheimnisses, da er das aktuelle, sein fünftägiges geheimes Verreisen,38 nicht eröffnen kann: Er zeigt Amandus das Porträt Guidos und klärt ihn über die damit verbundenen Ähnlichkeiten und Differenzen auf: »O du gemalter Freund, du geliebtes Farben-Nichts, du trägst unter deiner gemalten Brust kein Herz, du kennst mich nicht, du vergiltst mir nichts, – und doch lieb’ ich dich so sehr. – Und meinem Amandus wär’ ich nicht treu?« – – Er sah plötzlich im Glase dieses Porträts sein eignes mit seinen Trauerzügen nachgespiegelt: »O blicke her;« (sagte er in einem andern Tone) »ich soll diesem gemalten Fremden so ähnlich sehen, sein Gesicht lächelt in einem fort, schau aber in meines!« – und er richtete es auf, und weit offne, aber in Tränen schwimmende Augen und zuckende Lippen waren darauf. (I/1,196)

Das Porträt wird zum Reflexionsmedium in einem doppelten Sinn: Zum einen wird es zum Anlass, die in der Geschwistergenese um das »Hals-Gehenk« gruppierten Reflexionen um Ähnlichkeit und Differenz, Original und Kopie, Materialität und Innenraum wieder aufzunehmen, zum andern reflektiert das spiegelnde Glas über dem gemalten das eigene Bild und ermöglicht so eine Selbstrepräsentation gerade in Absetzung zum ähnlichen Anderen. Es ist der Ausdruck des inneren Empfindens, die pathognomische Differenz, die hier die physiognomische Ähnlichkeit konterkariert und es Gustav ermöglicht, diese Differenz als eine von »Farbenkörner[n]« und »[L]ebendige[m]« »mit der ganzen Geschichte« (ebd.) über den Erhalt des Porträts zu explizieren. Um der damit wiederhergestellten Liebe und Freundschaft zu Amandus den nötigen Raum zu geben, brechen Gustav und Amandus daraufhin zu einem Spaziergang auf,39 zu dem sie den nun in ihre Bezie-

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Vgl. z.B. folgende Szene einer Begegnung von Gustav und Beata bei Hofe, in der die Leerstelle nach dem ersten Teil der typographisch hervorgehobenen Geminatio »eine«, »einen« den weiblich markierten Ort des Ergießens offen hält: »[...] und als er sich plötzlich nach dem nahen Urbild des wegblickenden Farben-Schattens umdrehte und sitzend in das gesenkte Auge der stehenden Freundin mit seiner Liebe eindrang und als er in einem Augenblicke, den Sprachen nicht malen, sich nicht einmal in eine, nicht einmal in einen Laut ergießen durfte?« (I/1,331) Dies ist einer der zahlreichen Hinweise auf die geheime Gesellschaft, die die Sozialutopie der Loge wohl konzeptionell verbürgt, narrativ aber nur als geheimnisvoll bleibende Verweiskette in Erscheinung tritt; vgl. dazu Teil II, Kap. 3.2. Im 53. Sektor der Loge reflektiert der Erzähler »über das Spazierengehen, das so oft in meinem Werke vorkommt« und unterteilt es in »vier Kasten«, wovon die vierte und höchste das Spazierengehen jener Menschen betrifft, »die nicht bloß mit dem Auge, sondern auch mit dem Herzen spazieren gehen«, eine Definition, die er direkt auf die Liebe von Gustav und Beata und »das Leben der hohen Menschen« anwendet, die beide einem

hung integrierten »Dritte[n]«, das »Porträt des unbekannten Gustavischen Freundes« (I/1,201) mitnehmen. An dieser Stelle schiebt der Lebensbeschreiber einen Brief von Beata ein, in dem sie sich ebenfalls mit besagtem Porträt befasst. Die Platzierung des Briefdokumentes kommentiert der Erzähler als kontingent: »Ich wußte ohnehin nicht recht, wohin ich den Brief tun sollte«. (I/1,197) Das durch vorgebliche Erzählerwillkür herbeigeführte Zusammentreffen von Bild und Brief im Text nimmt jedoch gezielt die bei der Einführung des Porträts initiierte Mediologie von Bild und auslegender Schrift auf.40 Auch hier mit dem Effekt, nicht die erwartete Eindeutigkeit, sondern Mehrdeutigkeit herzustellen: Die Beteiligten gehen am Schluss dieser Textszene von drei verschiedenen Bildern analoger Form, aber unterschiedlicher Bedeutung aus. Beatas Brief ist an eine zweite Schwesterfigur gerichtet, an Philippine, die Schwester des Lebensbeschreibers ›Jean Paul‹. Nach der empfindsamen Darstellung ihrer gegenwärtigen Gefühlslage kommt Beata in ihrem Brief auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen: Sie vermisst das Porträt ihres Bruders und fragt bei ihrer Freundin nach, ob es beim Packen vielleicht unter deren Bücher geraten sei: Alles ziehet von mir weg, Bilder sogar; ein totes stummes Farbenbild hinter einer Glastür war der ganze Bruder, den ich zu lieben hatte. Sie können nicht fühlen, was Sie haben oder ich entbehre – jetzo scheidet sogar sein Widerschein von mir, und ich habe nichts mehr vom geliebten Bruder, keine Hoffnung, keinen Brief, kein Bild. [...] Ich weiß gewiß, in unserem Hause war noch ein zweites, etwas unähnlicheres Porträt meines Bruders; aber sei langem ists nicht mehr da. (I/1,198)41

Mit dem Betrachten des Porträts, dem Erzählen davon und Schreiben darüber ist dieses derart ins Zentrum gerückt, dass diese Zentrumsfunktion nun notwendig zum Zusammentreffen der daran Beteiligten führt. Die Szene dafür ist folgende: Amandus, im Begriff, in einer für Jean Paul typischen Landschaftsszenerie42 seine »Verliebung in Beaten« (I/1,202) zu bekennen, hält Gustav an der Hand und spricht das im Gras liegende Bild des Dritten an, als plötzlich Beata dazukommt: [...] aber ihr kleines Erstaunen über die zwei Gäste des Berges floß plötzlich in das über den dritten auf dem Grase über. Eine hastige Bewegung gab ihr das brüderliche Bild, und sie sagte, unwillkürlich zu Amandus gekehrt: »Meines Bruders Porträt! Endlich find’ ichs doch!« – Aber sie konnte nicht vorbeigehen, ohne aus jenem weiblichen feinen

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»solche[n] Spaziergang« gleichkommen. (I/1,404f.) »Über den Spaziergang als poetische Handlung« bei Jean Paul vgl. Wölfel 1989, S. 102–139. Vgl. Teil II, Kap. 1.2. Das »unähnlicher[e] Porträt« ist, wie sich der Lebensbeschreiber zu erklären beeilt, dasjenige Gustavs, das Röper versteigert und ›Jean Paul‹ erworben und »zwischen Shakespeare und Winckelmann (von Bause) aufgenagelt« hat, und das vom Erzähler physiognomisch »von hinten« beschrieben worden ist. (I/1,69f.) Vgl. dazu Teil II, Kap. 1.2. Zur Landschaft als Seelenphysiognomie bei Jean Paul vgl. Kommerell 1966, S. 29, Müller 1983, S. 59ff., 136, Vinçon 1970, Käuser 1989, S. 261ff., Weber 1996, Cloot 2000/01.

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Gefühl, das in solchen Manual-Akten zehn Bogen durchhat, ehe wir das erste Blatt gelesen, zu beiden zu sagen: »sie dankte ihnen, wenn sie das Bild gefunden hätten« – (I/1,202)

Eine allgemeine Verstimmung ist die Folge dieser »Guido-Bilderstürmerei«. (I/1,210)43 Ungerecht behandelt fühlen sich alle: Gustav, weil das ehemalige »HalsGehenk« seit Kindertagen im Besitz des Hauses Falkenberg ist und damit nicht das kürzlich vermisste Bild Beatas sein kann; Beata, weil sie sich bestohlen glaubt, und Amandus, weil er sich von Gustav betrogen und eine Intrige im Gange glaubt, mit der Gustav Beata durch »magnetischen Wirbel« dahin bringe, nicht nur die »Kopien«, sondern auch die »Originale [zu] verwechseln, da sie sich alle vier so gleichen«. (I/1,203) Dabei gehen alle drei von unterschiedlichen Voraussetzungen aus: Amandus ist davon überzeugt, Gustav habe ein Porträt von sich selbst Beata als Liebespfand überlassen. Wogegen Beata das erhaltene Bild für das »echte brüderliche und verlorne«44 hält und Gustav darin das »Hals-Gehenk« seiner Kindertage weiß. Das Porträt ist Anlass für eine Neuverhandlung der sozialen Beziehungen der drei Bilderstürmer: Zwischen Amandus und Gustav kommt es durch die Porträtzirkulation zu einem – vorläufigen – Bruch der Freundschaft, Gustav und Beata kommen einander dadurch hingegen näher, und dies als Geschwister. In einer Assoziationskette stellt Gustav den Zusammenhang zwischen dem Porträt und der erinnerten Kindheitsschwester einerseits, sowie dem Porträtierten als Bruder von Beata andererseits her. Über die Syntax schließt sich der Kreis von der Kindheitsschwester zu Beata als junger Frau: er dachte an einen unschuldigen, vom Verdacht angefressenen Freund, an das eingebüßte Porträt, an die Schwester, mit der er einmal in seiner Kindheit gespielt hatte, an den unbekannten abgemalten Freund, der also der Bruder dieses schönen Wesens sei u.s.w. (I/1,203f.)

Einmal in Gang, führt die Produktivkraft des Geschwistermediums dahin, die physiognomische Geschwisterschaft von Gustav mit Guido auf Beata als »seine physiognomische Schwester« (I/1,250) zu erweitern: Das erinnerte seelisch-imaginäre Kindheits-»Schwesterchen« wird damit leiblich eingeholt und Beata wird mit Leib und Seele zu einer Schwester Gustavs. Auch bei Beata löst das brüderliche Porträt eine Transposition aus: War »ein totes stummes Farbenbild hinter einer Glastür« das einzige, worauf sich ihre Schwesterliebe bisher richten konnte, so tritt ihr mit Gustav nun ein leibhaftiges »Ebenbild ihres Bruders« als Liebesobjekt gegenüber. Für diese Übertragung von »Bilde und Ebenbild« (I/1,245) ist offenbar das faktische Vorhandensein des Bildmediums

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Die erste Auflage verzeichnet hier »Portrait-Affaire«, Pauler 1981, S. 238. Das »echte brüderliche und verlorne« Bild findet sich dann im Besitz der Residentin von Bouse, ohne dass der Handwechsel erklärt würde: Von einer Erklärung wird mit dem Hinweis darauf, dass die Residentin »hundert Antworten dazu wußte« abgesehen (I/1, 251f.).

notwendig. In der Maußenbacher Begegnung hatte Beata noch nichts von einer physiognomischen Geschwisterschaft von Gustav und Guido bemerkt, nach der »Guido-Bilderstürmerei« (I/1,210) dagegen wird ihr Gustav zum »Adoptiv-Bruder«. (I/1,330) Das von Beata behändigte Porträt bleibt jedoch nicht lange in ihrem Besitz: Es wird von der Familie Röper mit dem Hinweis zurückerstattet, »der Name Falkenberg« auf der Rückseite widerlege »alle übrige Ähnlichkeiten« (I/1,241)45 und damit erneut zur Interpretation im Dreieck von Zeichen, Bezeichnetem und Interpretationsmöglichkeiten ausgeschrieben. Doch nicht nur die Ebenbildlichkeit der Brüder Guido und Gustav erweist sich als ein Verwirrspiel von Kopie und Original, die ganze Geschwisterszenographie wird als solches kenntlich gemacht. 46 So spielen vor den Augen von Beata und Gustav zwei Gärtnerskinder, ein Geschwisterpaar, Gustav und Beata als Liebespaar, und greifen damit – zumindest was die erklärte Liebe der beiden betrifft – etwas vor. Zuvor schon sind die Kinder durch die Beschreibung immer umfangreicherer Liebesbeweise, die sie von Gustav und Beata erhalten haben, als verschobene Liebesobjekte der beiden kenntlich gemacht worden: [...] bei den zwei Gärtners-Kindern ausgenommen, die nichts wußten, als daß Beata, wie er [Gustav, F.F.G.], noch immer mit ihnen tändle und sie beschenke. Vielleicht gab sie ihnen, weil er ihnen gab; denn er gab ihnen, weil sie es tat. (I/1,246)

Mit ihrem Spiel knüpfen die Kinder an das zentrale Moment der Geschwistergenese von Beata und Gustav an und stellen zugleich performativ das Herüber und Hinüber von Geschwistern und Liebenden her: Mit jenem hastigen Sprung der Kinder zu einem neuen Spiel sagte das Mädchen: »Jetzo mußt Du der Herr (Gustav) sein; und ich will das Fräulein (Beata) sein. Jetzo will ich dich liebhaben, nachher mußt du mich.« (I/1, 267)

Während ihrer Performance bemerkt das Mädchen plötzlich »einen verdammten Anachronismus an diesem historischen Schauspiele«, (I/1,267) denn als Liebespaar haben sich Gustav und Beata einander noch nicht zu erkennen gegeben: »Das war zu viel für die Frontloge oben, die zugleich das Auditorium und das Original der kleinen Spieler war, und die Kopie derselben zu werden in Gefahr geriet.« (I/1,267) Die damit gegebene Konstellation ist verzwickt: Die Performance der Gärtnerskinder erweist sich als ein Zitat ohne Original – da für das vermeintliche Original, Gustav und Beata, noch nicht geklärt ist, ob sie sich ›lieb haben‹. Zugleich aber ist gemäß der intertextuellen Szenographie der inzestuösen Situation, die als Subtext das performative ›Herüber‹ und ›Hinüber‹ von Geschwistern und Geschlechtern

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Vgl. dazu Teil II, Kap. 1.2. Wie in der Gründungsszene ist das Porträt auch hier in mehrfacher Weise von Schrift begleitet: Gustav ist gerade dabei, einen Brief zu schreiben, als ein Bedienter das Bild bringt, welches seinerseits von einem erklärenden Brief begleitet ist, der sich auf den Schriftzug auf der Rückseite des Bildes bezieht. Vgl. Teil II, Kap. 1.3.

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organisiert, der weitere Verlauf vorgegeben, womit Gustav und Beata weiter an Originalität einbüssen und zu einem Zitat des Zitats werden. Dieses Zitat zweiten Grades wird vom Text folgerichtig eingelöst, jedoch in einem anderen Register erzählt. Gustav bückt sich nach einer Rose, die Beata »zu Boden zittern« ließ, und lässt dabei seine Träne verborgen wegsinken; aber da er ihr die Rose gab und beide furchtsam die gesenkten Augen auf der Blume versteckten und hefteten und da sie ein herspringender Tropf unterbrach: so standen plötzlich ihre aufgeschlagnen Augen einander wie der aufgehende Vollmond der untergehenden Sonne gegenüber und sanken ineinander, und in einem Augenblick unaussprechlicher Zärtlichkeit sahen ihre Seelen, daß sie einander – suchten. (I/1,267f.)47

Der hohe Ton, in der die vom Körper absehende Seelenliebe erzählt wird, hält nicht lange vor: Das Seelenfluidum, die wegsinkende »Träne«, verkörpert sich als »herspringender Tropf« in einer Paronomasie zu einem gewissen Herr von Oefel, der diesen Seelenaugenblick unterbricht: »Der springende Tropf war Oefel«. (I/1,268) Mit Oefel kommt an dieser Stelle eine alternative Schreibweise ins Spiel, denn Oefel ist Konkurrenzautor des Lebensbeschreibers ›Jean Paul‹ und verfolgt Gustavs Lebensgeschichte mit denselben Absichten wie der Erzähler der Unsichtbaren Loge, sie zu einem Buch zu gestalten. Doch während ›Jean Paul‹ sich erklärtermaßen an biographische Fakten hält und mehr als einmal zu bedauern hat, dass er nicht wie ein Romanschreiber erfinden kann, will Oefel Gustav in ein bestehendes Romankonzept pressen und ihn – im Leben wie im Roman – zum »Großsultan« (I/1,208) formen.48 Der Differenz von Lebensbeschreibung und Roman entspricht eine unterschiedliche Schreibweise über ein – im Leben wie in der Literatur – zentrales Thema: die Liebe. Während ›Jean Paul‹ die Liebenden über einen Seelenblick zusammenführt, der in einer Rose gründet, und damit einen literarischen Topos renaturalisiert, beschreibt Oefel umgekehrt nur »auf poetischen Blumen Liebe« und verlegt den »Schauplatz der Liebe vom Herzen aufs Papier«, ja er gilt ›Jean Paul‹ gar als Erfinder der »Papier-Liebe«. (I/1,315) Die satirische Digression des 47

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Eine ähnlich lautende Stelle findet sich in Wielands Agathon und bestärkt den in der Loge mitgeführten Subtext der inzestuösen Situation. Im Agathon sind es die sich ihrer Verwandtschaft noch nicht bewussten Geschwister Agathon und Psyche, die sich dergestalt ins Auge fassen: »ihre Seelen erkannten einander in eben demselben Augenblike, und schienen durch ihre Blike schon in einander zu fliessen, eh ihre Arme sich umfangen [...] konnten.« (Wieland, Werke, Bd. 8.1, S. 17) Vgl. I/1,207ff. Jean Paul insistiert wiederholt auf der Differenz von Lebensbeschreibung und Roman, vgl. z.B.: »Der Romanschreiber hat also einen Vorteil vor dem Lebensbeschreiber (ich bins) voraus: er schläft neben seinem Helden.« (I/1,212) Zu Oefel und seinem mit der Lebensbeschreibung Loge konkurrierenden Romanprojekt vgl. auch Teil II, Kap. 2.2.3 und 3.1.2 sowie grundsätzlich zu Jean Pauls Schriftstellerfiguren vgl. das »Werkbiographische Lexikon in Fortsetzungen« von Schmitz-Emans im JbJPG 2008ff., hier zu Oefel, ebd., S. 164–166.

Liebesaugenblicks in die Welt des Hofpoeten erfüllt an dieser Stelle aber auch eine zuvor angestellte poetologische Reflexion: »aber es versuch’ es einmal ein lebhafter Mann und schreib’ über die Liebe und entschlage sich des Witzes! – Es geht fast nicht.« (I/1,212)49 Fast geht es jedoch bei der endlich stattfindenden Liebeserklärung am Grab des inzwischen verstorbenen Freundes Amandus, einer langen Passage im hohen empfindsamen Stil, deren Vokabular ganz dem Jenseits verhaftet bleibt.50 In Wiederaufnahme des Traumarrangements von der blauen Blume erklärt Gustav Beata seine Liebe in einer doppelt markierten Schwellensituation, die vom Text auch doppelt erzählt wird: Genau auf der Grenze zwischen erster und zweiter Welt und zwischen Wachen und Träumen ergreift Gustav Beatas Hand und erklärt: »O nimm mich ganz, glückliche Seele, nun hab’ ich dich, geliebte Beata, auch ich bin tot«. (I/1, 297)51 Das Jenseits erscheint hier als die notwendige Bedingung, unter der allein ein Zusammenkommen der zwei Seelen denkbar ist.52 Abgesehen von einer poetologischen Digression ist selbst die Gegenbewegung an dieser Stelle erhaben: In einer Präfiguration der berühmten »Rede des toten Christus« aus dem Siebenkäs »erzähl[t]« der lebendig begrabene und dem Sarg entstiegene Ottomar »mit Orgeltönen« (I/1,306) von seiner Erfahrung der Annihilierung der zweiten Welt: »Ich habe mit dem Tode geredet, und er hat mich versichert, es gebe weiter nichts als ihn«. (I/1,303) Dieses Orgelspiel in der Friedhofskirche motiviert narrativ das Erwachen des auf dem Grab von Amandus eingeschlafenen Gustav und damit die Schwellensituation, in der die Liebeserklärung erfolgt, und streicht semantisch zugleich das erstellte Bedingungsgefüge ihrer Liebe als einer allein Jenseitigen durch. Doch da diese Dekonstruktion in für ›Jean Paul‹ ungewohnter Weise nicht satirisch erzählt wird, tangiert sie die Erhabenheit dieses Liebesaugenblickes als solche nicht. Dieser Textszene gilt vor allem die Aufmerksamkeit der Forschung, was die Rezeption des Paares Gustav und Beata entscheidend geprägt hat: Es gilt fast ausnahmslos als ›hohes Seelenpaar‹.53

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Anders als Bosse 1970, S. 319, meint, ist das Verhältnis von Liebe und Poesie schon explizites Thema in literarischen Texten vor den Flegeljahren. In der ersten Auflage heißt es noch zum witzfreien Schreiben über Liebe: »es geht gar nicht«. Pauler 1981, S. 240. Vgl. I/1,295ff., dazu auch Dangel-Pelloquin 1999, S. 86ff. Vgl. ausf. zu dieser Szene als metonymische Verschiebung des Traumarrangements von der blauen Blume Teil II, Kap. 1.3. Vgl. auch die Traumrede von Amandus an Gustav I/1, 297f., mit der er das verhinderte Zusammenkommen zwischen Beata und Gustav über den »Silberschatten« der Immanenz hinweg erklärt. Wobei die Figuration der hohen Seelenliebe gewöhnlich am Hesperus gezeigt und diese Loge-Stelle als Prätext dafür mit einbezogen wird. Vgl. Bobsin 1994, S. 124ff., mit einem Forschungsüberblick S. 101ff., und – in deutlicher Absetzung von Bobsin – DangelPelloquin 1999, S. 89–96. Pietzcker 1983, 112ff., versteht die Figur der hohen Geliebten als Abspaltungen von Mutterimagines. Bei dieser Lesart bildet die für universal gehal-

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Der für die Geschwistergenese von Gustav und Beata konstitutive spielerische Subtext wird in der Szene der Liebeserklärung nicht aktualisiert. Die Geschwisterisotopie selbst ist ebenfalls nur indirekt greifbar, über die mit der Handreichung verknüpfte Geschwisterfiguration des Traumarrangements der blauen Blume und über Ottomar, dessen Aktantenposition die eines natürlichen Bruders des Fürsten und eines führenden Mitgliedes der institutionellen Bruderschaft, der titelgebenden Unsichtbaren Loge, ist.54 Ebenfalls nur mittelbar ist Geschwisterschaft über die Kontexte Freundschaft und Verwandtschaft gegeben: Die Gefühle für den und die soziale Beziehung zum gemeinsamen Freund Amandus55 hat an dieser Stelle der Erzählung »die verwandten Seelen« Gustav und Beata am Grab des Freundes zusammengeführt und »wie zwei hohe Flammen ineinderschl[a]gen« lassen. (I/1,299) Der hyperbolischen Sprache dieser ganzen Passage geht jedes spielerische Moment ab.56 Diese schwache Präsenz von Geschwisterschaft und völlige Absenz des Spielerischen in der Liebeserklärung verweist darauf, dass der Modus des Spiels für eine nachhaltigere Aktualisierung des Geschwistersubtextes von Gustav und Beata zentral ist. Das soll nun das Folgende zeigen. 2.2.2

»Rolle und Geschichte«: Verwirrung

Wie wichtig das Spiel für die Beziehung von Gustav und Beata ist, zeigt in aller Deutlichkeit ein Theaterspiel, in dem Beata und Gustav »Gedanken der Liebe« nicht nur haben, sondern auch »memorieren« können. (I/1, 329) Dabei wird evident, dass sie nicht nur das Spiel der Gärtnerskinder zu ihrem eigenen machen, sondern mehr noch »die Wiederholung ihres Schicksals dramatisiere[n]«, (I/1,340) so dass es zu einer Spiel-Potenzierung kommt.57

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tene Aktantenstruktur der freudschen psychoanalytischen Theorie die Interpretationsvorgabe. Wogegen die Jean Paul-Lektüre dieser Studie die textuelle Genese der hohen Geliebten aus der Schwesterfigur verfolgt und eine alternative These für die Struktur der hohen Geliebten entwirft, die in deren Semiosen in Hesperus und Titan überprüft wird. Vgl. dazu Teil III, Kap. 2.1. und 2.2. Zu Ottomar und der Geheimgesellschaft der Loge vgl. Teil II, Kap. 3.2. Zur Durchlässigkeit der Konzepte Freundschaft und Geschwisterschaft in der Beziehung von Gustav und Amandus vgl. Teil II, Kap. 3.1. Der Gestus des Unüberbietbaren des hyperbolischen Stils wird jedoch im Text selbst reflektiert, vgl. I/1, 299, 301: »Begehrt kein Landschaftstück der blühenden Welten von mir, über welche sie in jenem Augenblicke hinzogen, den kaum die Empfindung, geschweige die Sprache fasset. Ich könnte ebenso gut einen Schattenriß von der Sonne geben. […] Das ist aber unmenschlich schwer, und ich bin am wenigsten der Mann dazu. Ein solches Glück ist schwer zu steigern und eben darum schwer zu halten.« Die Rolle des Theaters bei Jean Paul ist in der Forschung schon oft thematisiert worden, insbesondere am Beispiel des Titan, vgl. u.a. Döll 1994, Schmitz-Emans 1987, Bachmann 1986, S. 111–151, Mauch 1974. Döll, S. 17 und 152ff., bestimmt in ihren einleitenden Bemerkungen Jean Pauls Fiktionsbegriff als einen, der das Moment des Dialogischen und der Kommunikabilität von Realem und Fiktivem als integratives Element habe und

Anlass dafür ist folgender: Die hinlänglich bekannte Szenographie der Geschwister- und Geschlechterliebe ist Thema eines »Geburttag-Drama[s]«, (I/1,326) das der Konkurrenzautor des Lebensbeschreibers ›Jean Paul‹, der Romanschreiber Herr von Oefel, zu Ehren der Residentin von Bouse verfasst. Die einzige Probe von Oefels Schriftstellerei ist nun aber selbiges Geburttag-Drama, das »wie eine Idylle von Fontenelle« (I/1,327) gemacht ist und damit unter Plagiatsverdacht steht. Mit dem Stichwort der Idylle ist ein Genre bezeichnet, das die ländlich-pastorale oder bürgerlich-kleine Welt zum Gegenstand hat und damit einen expliziten, im späten 18. Jahrhundert jedoch stereotyp gewordenen Gegensatz zur höfischen Umgebung der Theateraufführung entwirft. Zwar deklassiert sich damit der »Hof-Poe[t]« (I/1,327) als Schriftsteller und Konkurrent des Lebensbeschreibers ›Jean Paul‹, doch da sein Stück für Beata und Gustav zugleich die »Wiederholung ihres Schicksals« ist, wird – und das ist nun bedeutend gravierender, affiziert es doch auch die schriftstellerische Reputation des Lebensbeschreibers – deren Lebensgeschichte zum Plagiat einer stereotypen literarischen Vorlage. In Oefels Geburttag-Drama geht es in empfindsamer Manier um die Klärung der sozialen Beziehungen und die Hierarchie der damit verbundenen Gefühle, kurz: »Das Drama sollte Beziehungen haben.« (I/1,235) In der Theateraufführung spielt Beata die Rolle einer Marie, die mit ihrem lange auf Reisen gewesenen und ihr nun herzlich zugetanen Bruder Henri, gespielt von Gustav, eine Hierarchie der Liebesintensitäten ersteigert: »Aber du mußt noch größere Liebe für mich haben«, sagt’ er; – »die schwesterliche«, sagt sie; – »eine noch stärkere«, sagte er; – »die freundschaftlichste«, sagte sie; – »eine noch viel stärkere«, sagt’ er; – »weiter gibt’s keine größere«, sagte sie; – »o doch! ich bin ja dein Bruder nicht«, sagt’ er und fiel mit liebetrunknen Augen vor ihr nieder und gab ihr ein Papier, das sie aus ihrem bisherigen Irrtum zog und sie dafür in eine kleine FreudenOhnmacht stürzte. (I/1,326)

In der Rolle des Henri fällt Gustav während der Komödienprobe ein, bei der Aufklärung der wahren Verwandtschaftsverhältnisse statt der Theaterrequisite einen Liebesbrief zu übergeben, von dessen Angemessenheit im jetzigen Stadium der Liebesbeziehung er sich durch Konsultation einiger »der besten Roman[e]« (I/1,316) vergewissern will. Wie Marianne in Goethes Geschwister bezieht Gustav hier relevantes Wissen in Liebesdingen aus »Romanen«. Dies ist unter einem Gender-Aspekt hoch signifikant, denn in der zeitgenössischen publizistischen Debatte ist ein identifikatorisches Lektüreverhalten, das die Grenzen von Leben und Roman durchlässig werden lässt, weiblich besetzt und der Kritik ausgesetzt.58 Mit Rückgriff auf die zeitgenössische Enzyklopädie fügt dieses Lektüreverhalten Gustavs Signatur des

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führt dies am Titan aus, der die Rolle des Theaters vielfach in diesem Sinne reflektiert: »[...] setzet nicht jede Bühne am Ende ein doppeltes Leben voraus, ein kopierendes und ein kopiertes?« (I/3,30f.) Vgl. Teil II, Kap. 2.1.

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Weiblichen ein weiteres Zeichen hinzu.59 Besonders prägnant präsentiert sich diese weibliche Signatur im Kontext von Jean Pauls Beurteilung geschlechterdifferenten Lektüreverhaltens und deren Folgen in der »Kleinen Nachschule zur Ästhetischen Vorschule«: Die Frauen lesen sich am Ende eine schöne Prose in die Feder und machen nichts daraus als höchstens Briefe, aber die Jünglinge sich eine schöne Poesie und machen eben Bücher daraus. (I/5,493)

In der Loge überführt jedoch der Jüngling Gustav sein Wissen aus Romanen in Briefe und hat damit Teil an dem, was den Zeitgenossen im Allgemeinen und Jean Paul in seinen poetologischen Überlegungen im Besonderen als écriture féminine gilt.60 Es ist explizit dieser »Brief, den er überreichen wollte«, der »seine Rolle mit seiner Geschichte« verwirrt (I/1,341) und die Grenzen von Literatur und Leben durchlässig macht: Gustav verhält sich damit auf seinem exemplarischen Bildungsweg zum »hohen Menschen« wie jene »Frauenzimmer« die durch »die Lektüre auch von den besten Romanen [...] nichts als Copien der Romancharaktere waren«.61 Dadurch, dass Gustav seinen »Liebebrief« aber ständig verbessert und umschreibt, kommt dennoch ein Schreibprozess in Gang, der auf stilistische Brillanz und damit Autorschaft ästhetischer Texte zielt. (I/1,332)62 Trotz dieser ästhetischen Entwicklung wird Gustav von der Autorin Beata überflügelt, und das ist bemerkenswert, schreiben Jean Pauls Frauenfiguren doch gewöhnlich »höchstens Briefe«. (I/5,493)63

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Vgl. Teil I, Kap. 1.2. Die Figur Gustav lässt sich damit in ihrem Lese- und Schreibverhalten nicht in Kittlers System eines entlang der Geschlechtergrenzen installierten Ergänzungsmodells integrieren, sondern stellt ein solches in Frage. Vgl. Kittler 1995, S. 138ff., vgl. dazu auch Teil II, Kap. 2.1. Der Begriff der écriture féminine wurde in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in der feministischen Theoriediskussion geprägt, um die Entwürfe zu weiblichem Schreiben – u.a. von Hélène Cixous, Luce Irigaray und Monique Wittig, eine Zeitlang war aufgrund der angloamerikanische Rezeption auch Julia Kristeva unter diesem Label diskutiert worden – unter einen Begriff zu subsumieren. Vgl. dazu Frei Gerlach 1998, S. 38ff. Clemens Brentano an Sophie Brentano, 14. August 1797, in: Brentano, Werke, Bd. 29, S. 128. Eine Probe von Gustav als Briefschreiber liefert der vorgängige Brief im 27. Sektor, der, wie in der Forschung wiederholt festgestellt worden ist (vgl. z.B. Köpke 1975, S. 56), deutliche Werther-Anspielungen hat; was den Briefschreiber einerseits als Kunst-Autor adelt, ihn – bedingt durch das Genre des Briefromans – andererseits aber auch wieder in den Produktionsprozess einfügt, in dem Romanlektüre in Briefproduktion überführt wird. Für ein weibliches Schreiben in der Loge steht auch Philippine, die Schwester des Lebensbeschreibers ›Jean Paul‹, die für ihren Bruder Autorstelle vertritt, vgl. Teil II, Kap. 4, sowie folgende poetologische Reflexion: »Inzwischen wird doch mutig fortgeschritten; denn ich weiß auch, daß, wenn ich mein biographisches Eskurial und Louvre ausgebauet und endlich auf dem Dache mit der Baurede sitze, ich etwas in die Bücherschränke geliefert habe, dergleichen die Welt nicht oft habhaft wird und was freilich vorüberge-

Von Beata gibt es jedoch nicht nur Briefe im Text, sondern auch einen Aufsatz und damit eine formal anspruchsvollere, weil weiter vom subjektivem Empfinden entferntere Textsorte.64 Mit dem Plagiatsverdacht der Liebesgeschichte von Beata und Gustav sowie Gustavs Wissensaneignung aus Romanen erweist sich nicht nur strukturell das Leben in der Loge als nach der Literatur gebildet, die Interdependenz wird nun auch handlungsrelevant: Gustav zieht »seine theatralische Rolle in seine wirkliche hinein« und verwirrt damit endgültig »seine Rolle mit seiner Geschichte«: (I/1,336,341)65 Dieses Feuer gehörte dazu, um seiner geliebten Marie Beata an der Stelle, wo er ihr die Brüderschaft aufkündigt, den wahren Liebebrief zu geben – sie faltete ihn zufolge ihrer Rolle auf – unendlich schön hatt’ er die sein ganzes Leben umschlingende Worte gesagt: »O doch, ich bin ja dein Bruder nicht« – sie blickte auf seinen Namen darin – sie erriet es schon halb aus der Art der Übergabe (denn sicher mankierte noch kein Mädchen einer männlichen List, die es zu vollenden hatte) – aber es war ihr unmöglich, in eine verstellte Ohnmacht zu fallen – denn eine wahre befiel sie – die Ohmacht überschritt die Rolle ein wenig – Gustav hielt alles für Spaß, die Ministerin auch und beneidete ihr die Gabe der Täuschung. (I/1,341)

Die »sein ganzes Leben umschlingende Worte« sind ziemlich genau jene, die gewöhnlich in den damit befassten Dramen den Wendepunkt in der inzestuösen Situation markieren. In Lenz Menoza heißt die entsprechende Stelle: »Ich bin deine

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hende Rezensenten reizen muß, zu sagen: ›Tag und Nacht, Sommer und Winter, auch an Werkeltagen sollte ein solcher Mann schreiben; wer kann aber wissen, obs keine Dame ist?‹« (I/1,314) Zu den Schriftstellerfiguren der Loge vgl. auch Schmitz-Emans 2008. Inhaltlich erfüllt der als Aufsatz eingeführte Text Beatas diese Vorgabe jedoch nicht: Er ist in der Form eines Briefes und ganz aus dem subjektiven Empfinden heraus geschrieben. Dennoch wird er vom Erzähler unmissverständlich als »Aufsatz« und nicht als Brief eingeführt (I/1,384). Vgl. auch I/1,259: »Da es meinem Gustav im Buche wie im Leben gehen kann«. Die Reflexion über die Interdependenz von Literatur und Leben wird vom Text immer wieder angestellt und schon gleich zu Beginn eingeführt. In der »Vorrede« überlegt der Erzähler der Loge, der ja zugleich auch handelnde Figur ist, anhand seines alter ego »Einbein«: »was soll da das Einbein machen, das am nämlichen Tag, wo es einen Roman zu schreiben anfing, zugleich einen zu spielen anhob und so beide wie auf einem Doppelklavier nebeneinander zu Ende führen wollte?« (I/1,45) In der »Magie der Einbildungskraft« verweist Jean Paul auf die stoische Herkunft der Lebensregel, das Leben als Schauspiel zu betrachten (vgl. dazu Müller 1983, S. 203f.) und – in beinahe wörtlicher Wiederaufnahme aus der Loge – auf die Konsequenzen einer Regelverletzung: »[...] der, für den das äußere (bürgerliche, physische) Leben mehr ist als eine Rolle: der ist ein Komödiantenkind, das seine Rolle mit seinem Leben verwirrt und das auf dem Theater zu weinen anfängt.« (I/4,198f.) Doch genau diese Missachtung der stoischen Lebensregel kehrt in Jean Pauls Schreiben vielfach wieder: So resumiert der Erzähler des Hesperus, dass sein »Held« nach ihm »selber gebosselt« und er selbst wiederum »nur ein elender zerflossener ausgewischter Schieferabdruck von ihm« sei. (I/1,1218,1232) Vgl. zu letzterem Teil III, Kap. 1.1.

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Schwester nicht«,66 in Goethes Geschwister lautet sie: »Marianne ist nicht meine Schwester.«67 Das existenzielle Diktum erweist sich damit als jene formelhafte Wendung, die im zeitgenössischen Erwartungshorizont als hinreichend bekannt vorausgesetzt werden kann. Doch anders als in der dramatischen Literatur, wo die Enthüllung den Wendepunkt für den glücklichen oder tragischen Schluss darstellt,68 verselbständigen sich die Formel und die damit verbundenen Inhalte in der Loge. Beflügelt von der geglückten Briefübergabe wird Gustav am Abend der Theateraufführung »verliebter [...], ohne zu wissen in wen« (I/1,344) und landet im Kabinett der Residentin mit dem sprechenden Namen von Bouse,69 der über die Hervorhebung dieses spezifischen weiblichen Körperteils metonymisch auf ihre Rolle als Verführerin verweist.70 Die Gefährlichkeit der sich anbahnenden Konstellation wird mit verschiedenen literarischen Mitteln angemahnt: Es beginnt mit der wörtlichen Benennung: Gustav hat eine »gefährliche Mitternacht« zu bestehen. Konkretisiert wird die Gefahr dann zweitens metaphorisch: Bouses Verführungsstrategie wird als Kriegsführung bezeichnet, bei der die Kriegsherrin »mit dem ganzen Heer ihrer Reize« in das Herz ihres Gegenübers einfällt und »aus diesem, gleichsam in Feindes Land, den Krieg gegen« die Sinne führt. Komplettiert wird die Vorbereitung des Lesepublikums auf das nun Kommende durch ein Bild, das Bouse und Gustav gemeinsam betrachten, und das als eine verschobene Repräsentation des ungleichen Paares lesbar ist: Das Bild »stellte bloß eine Nacht, einen aufgehenden Mond, eine Indianerin, die ihm auf einem Berge entgegenbetet, und einen Jüngling vor, der auch Gebet und Arme an den Mond, die Augen aber auf die geliebte Beterin an seiner Seite richtete«. (I/1,344–5) In der betenden Indianerin ist der gemischte Charakter, als der Bouse wenige Zeilen zuvor vorgestellt worden ist – »weder aufrichtig noch verstellt, sondern beides« –, in ein Bild übersetzt.71 Die Indianerin repräsentiert um 1800 das Fremde, 66 67 68 69

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Lenz, Werke, Bd. 1, S. 186. Goethe 4,364. Vgl. Baßler 2000. Wie in der Forschung wiederholt festgestellt worden ist, benutzt Jean Paul in seiner literarischen Praxis – entgegen seiner poetologischen Thesen der Vorschule (vgl. I/5,270) – wiederholt sprechende Namen. Zur Namengebung bei Jean Paul vgl. Berend 1942, Bosse 1970, S. 153–156, zu weiteren Konnotationen des Namens Bouse in der Loge vgl. Fennell 1996, S. 73. Zu dieser Verführungsszene vgl. auch Dangel-Pelloquin 1999, S. 128–134, die in ihrer Analyse auf die Metaphorik, die Metaphernvermischung und die Illusionsbrechung fokussiert, der Geschwisterthematik darin aber keine tragende Rolle zuschreibt. Die Loge reflektiert schon früher im Textverlauf in einem Zeitungsartikel Fenks zum ›unvollkommnen Charakter‹ über ein solches Mischverhältnis für den Schelm, vgl. I/1,149ff. sowie Teil II, Kap. 3.1.2. Bei Bouse besteht »das Misch-Verhältnis« der verschiedenen »Eigenschaften«, die dann gemäß dem 10. Programm der Vorschule den literarischen Charakter bestimmen, zu gleichen Teilen und bewirkt damit, dass der »geheime organische Seelen-Punkt« in keine vorherrschende Charaktereigenschaft überführt wer-

Andere, das über die Pose des Betens zwar in eine religiöse Ordnung eingebunden erscheint, aus der ihre exotisch-erotische Ausstrahlung aber zugleich hinausstrebt: Die Faszination, die dieses Gemisch aus eingebundener und überschüssiger Weiblichkeit bietet, zeigt sich im Blick des Jünglings, der sich nicht auf sein Gebet, sondern auf die Beterin konzentriert. Der Bildinhalt fungiert zugleich als Übergang zur Geschwisterthematik, die der nun konkreter werdenden Verführungsszene als organisierendes Prinzip zugrunde liegt. Die Darstellung einer betenden Indianerin kann als Hinweis auf die Missionarstätigkeit der Herrnhuter Brüdergemeinde gelesen werden, die sich im 18. Jahrhundert insbesondere auf die Einbindung ihrer »Indianer-Geschwister« in die weltumspannende Brüderunität konzentrierte.72 Damit scheint in dieser bildlichen Repräsentation der Subtext der institutionellen Geschwisterschaft auf. Dieser Subtext der institutionellen Geschwisterschaft ist noch in einer zweiten Weise greifbar, die aber aufgrund des Fragmentcharakters der Loge spekulativ bleiben muss. Der gemischte Charakter, bei dem das »Misch-Verhältnis« der gegensätzlichen »Eigenschaften« (I/5,208) in einem ausgeglichenen Verhältnis steht, hat in der Figur der ›Geheimbundschwester‹, wie sie in Schillers Geisterseher prototypisch entwickelt worden ist, ein Vorbild.73 Von der Anlage des Textes her ist gut denkbar, dass Bouse eine ähnliche Funktion für den Handlungsgang übernehmen sollte, wie die ›Griechin‹ im Geisterseher, wodurch Gustavs moralischer mit seinem politischen »Fall«, (I/1,348) die Verführung durch Bouse mit der unaufgeklärten Gefangennahme der Logenbrüder am Schluss des Fragmentes, in Verbindung gesetzt würde.74 Explizit greift die Verführungsszene im Folgenden die physiognomische Geschwisterschaft auf:75 Das »Hals-Gehenk«, das in der Geschwistergenese Gustavs

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den kann, sondern in sich ambivalent und changierend bleibt. (I/5,208) Diese Konzeption des Uneindeutigen ist mit ein Grund, weshalb Gustav mit seiner charakterlichen Disposition Bouse nicht richtig einschätzen kann. Jean Pauls Definition in der Vorschule bezieht sich ihrerseits auf Lessings Überlegungen zu den Vermischungen verschiedener Leidenschaften für die Charakterisierung einer Figur in der Hamburgischen Dramaturgie (1767/69), No. XCII, den 18. März 1768; vgl. Lessing, Werke, Bd. 6, S. 637–641, bes. S. 641. Vgl. Hertrampf 1997. Diese Lesart lässt sich stützen durch die Präsenz der institutionellen Geschwisterschaft in der Loge im Allgemeinen, aber auch durch den Verweis auf die Missionstätigkeit im Besonderen: »In seinem [Gustavs, F.F.G.] Charakter war ein Zug, der ihn, wenn er unter einer Brüdergemeinde wäre, längst als Wildenbekehrer aus ihr nach Amerika hinabgerollet hätte: er predigte gern.« (I/1,194) Vgl. zur hier vorgeschlagenen Umbenennung der in der Literaturwissenschaft als ›Geheimbundtochter‹ eingebürgerten Griechin in ›Geheimbundschwester‹ Teil I, Kap. 2.4.1. Zumal Jean Paul Schillers Geisterseher, ganz im Gegensatz zur Selbsteinschätzung des Verfassers, nachweislich hoch schätzte. Eine solche Verbindung zwischen moralischem und politischem Fall stellt Köpke 1986, S. 14, in seiner intertextuellen Lektüre von Gustavs und Agathons »Fall« in Wielands gleichnamigen Roman her, ohne dabei jedoch den Geisterseher mit einzubeziehen. Dies wird noch gestützt durch den Zeitpunkt: Die »Hals-Gehenk«-Szene findet – wie in

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als Bild den »verlorne[n]« Bruder repräsentiert, (I/1,65,68) wird hier im Begriff des »Brustbild[s]« aufgenommen und entlang zweier Isotopien ausgeführt: Die Residentin erklärt Gustav ihre traurige Stimmung mit dem Verlust ihres Bruders, der als Bild auf dem »schwesterlichen Busen« liegt, und teilt »mit einer leichten, aber notwendigen Enthüllung« nicht »bloß [...] das gemalte Brustbild« Gustavs Augen mit. Der Übergang der Isotopie des »Hals-Gehenks« auf diejenige der »Evas-Äpfel« überführt die physiognomische Geschwisterthematik auf die Ebene des Erotischen und kann für die Effektivität dieser semantischen Transposition auf die gebräuchliche figürliche Rede von der »vollen brust geschwister (deine beiden brüste)« zurückgreifen, wie sie Grimm dokumentiert. (I/1,346)76 Die Anfälligkeit Gustavs auf das dargebotene Brustbild leitet sich damit nicht nur aus den offensichtlichen – und semantisch geschwisterlich konnotierten – Reizen auf der Ebene der erotischen Isotopie her, sondern auch aus jener Geschwisterliebe, die im Textverlauf wiederholt von der physiognomischen Ebene ihren Ausgang genommen hat. Dass sich Bouses Geschwisterliebe im Bild des toten Bruders manifestiert, wiederholt aktantiell sowohl die Position Gustavs und seines »Hals-Gehenks« als auch diejenige von Beata und ihrem »tote[n], stumme[n] Farbenbild hinter einer Glastür«, (I/1,198) so dass sich Gustav bei Bouse und ihrem Brustbild auf vertrautem Terrain wähnt. Doch nicht nur die institutionelle und die physiognomische Geschwisterthematik werden in dieser Verführungsszene derivativ aufgenommen, auch die SeelenGeschwisterschaft kommt hinzu. Dazu greift der Text zuerst auf die Frage eigentlicher Geschwisterschaft zurück, die er mit einer Reflexion über die Interdependenz von Literatur und Leben verknüpft. Dies durch die Einführung einer dritten Ebene, die traditionell die Auslegung und Einordnung von Text und Welt nach analytischen Kriterien verbürgt: dem Kommentar. Im sich entspannenden Dialog über Geschwisterliebe im Allgemeinen und derjenigen Bouses und Gustavs im Besonderen kommentiert Bouse Gustavs Verwirrung von Rolle und Geschichte dergestalt, dass Gustav nun gar nicht mehr zu unterscheiden weiß: »Ihre Schwester ist noch glücklich!« sagte sie mit einem Trauerton [...]. »Ach, ich wollte,« (sagte er mit sympathetischem Kummer) »ich hätte eine Schwester.« – Sie sah ihn mit einer kleinen forschenden Verwunderung an und sagte: »Auf dem Theater machten sie heute gerade die umgekehrte Rolle gegen die nämliche Person.« Dort nämlich gäb’ er sich fälschlich für einen Bruder der Beata, hier fälschlich für keinen aus, oder vielmehr, hier kündige er ihr seine Liebe auf. (I/1,346f.)

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Teil II, Kap. 1 gezeigt – im Anschluss an Gustavs »Geburttage« statt, die Verführungsszene nach dem »Geburtfeste« der Residentin (I/1,59ff.,345). Vgl. Grimm, Art. »Geschwister«, Bd. 4/I,2 (1897) Sp. 4003. Präziserweise handelt es sich bei den beiden zum Semem »Brustbild« zugehörigen Isotopien gemäß Eco 1987, 116ff., um ein Verhältnis in paradigmatischer Disjunktion.

Bouse hält Beata und Gustav so überzeugt für Geschwister,77 dass sich Gustav über die Ebenen eigentlicher und weiterer Geschwisterschaft überhaupt nicht mehr im Klaren ist, und allein noch auf das Stichwort »Bruder«, die Kurzformel seines existenziellen Diktums, reagieren kann: Mit »dem einzigen großen langsamen, tief heraufgeseufzeten Laute: ›Bruder!!‹« fällt Bouse an Gustav, und: »Er an sie!...«. (I/1,348) Die Formel für die Transposition von Geschwister- auf Geschlechterliebe funktioniert auch in ihrer derivativen Zitierung zur Verführung der – hier für einmal männlich besetzten – »Unschuld«, (I/1,349) der damit ursprünglich konnotierte empfindsame Gehalt seelischer Geschwisterliebe wird dabei allerdings satirisch dekonstruiert. Diese Bewegung der Dekonstruktion spiegelt sich auch im Kommentar des Erzählers, der »den traurigen Vorhang« um Gustavs »Fall« zieht, diesen moralischen Fall aber nicht als Regelverletzung, sondern Erfüllung der Transpositionsregel von Geschwister- auf Geschlechterliebe darlegt: »O Bouse! hättest Du ihr (Beata, F.F.G.) doch geglichen, und wärest eine Schwester geblieben!«(I/1,348)78 Zum Kollabieren gebracht wird die Formel aber in einer parallel gestalteten Verführungsszene, in der die Protagonisten der Fürst und Beata sind. Die Verführungskünste des Fürsten orientieren sich am Modell der im Theater vorgeführten empfindsamen Steigerung der Liebesgefühle, doch steht die Ausführung aufgrund der untauglichen Kriegsausrüstung von Anfang an im Zeichen der Niederlage: So zieht Beata ihre Hand, die sie dem Fürsten »wie einen toten Handschuh« für einen kurzen Moment gelassen hat, problemlos »aus der rostigen Scheide heraus«. (I/1,350) Im Unterschied zu den rostigen Waffen des Fürsten sind Beatas ihre glänzend und damit gefechtstauglich. An Beatas Brust erregt eine »Hemdnadel, an der eine Perle und das Wort ›l’amitié‹ glänzte«, (I/1,351) die Aufmerksamkeit des Fürsten und wird von diesem zum Anlass genommen, das Gefühl der Freundschaft als eines auf der Stufenleiter der Emotionen zu kommentieren. In dieser Nadel steckt – wie Dangel-Pelloquin überzeugend nachgewiesen hat79 – das Potenzial, angehende Zweisamkeit schmerzhaft zu stören: Es ist ein

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Der Erzähler kommentiert Bouses Kommentar gemäß der Logik des spezifischen Mischungsverhältnisses dieses Charakters damit, »daß die Residentin gar wohl die Lüge geglaubt haben kann (im Grunde muß), die sie ihm sagte«. (I/1,347) Die Verführungsanfälligkeit Gustavs ist seit der Kritik von Friedrich Wernlein an dieser Szene in seinem Brief an Jean Paul vom 31. Juli 1793 ein Diskussionsgegenstand der Loge-Rezeption. Jean Paul ist auf diese Kritik insofern eingegangen, als er in der zweiten Auflage der Loge eine längere Passage zur Erklärung der besonders gefährlichen Konstellation »Verführerin« und »Jüngling« eingefügt hat. Vgl. Pauler 1981, S. 379, vgl. dazu auch Köpke 1986, S. 15f. Proß hat Gustavs Verführungsanfälligkeit, die er in einer »psychologisch-ästhetisch[en]« Perspektive für unerklärlich hält, mit der »Literarisierung eines philosophischen Themas« – der Höhlenbewohner-Episode aus Montesquieus Lettres Persanes – zu erklären versucht. Vgl. Proß 1975, S. 222. Meine Lektüre entlang der Geschwisterszenographie zeigt jedoch, dass auch ein »psychologisch-ästhetisch[er]« Erklärungsansatz hierfür möglich ist. Vgl. Dangel-Pelloquin 2000/01.

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wiederkehrendes Motiv bei Jean Paul, dass Küsse durch spitze Gegenstände, vorzugsweise Hemdnadeln, die Zusammenführung zweier Liebender blutig unterbrechen. Diese Jean-Paul’sche Szenographie ist den Lesenden der Unsichtbaren Loge – sofern sie »ein gutes Gedächtnis haben« (I/1,89) – an dieser Stelle des Textes schon bekannt: Sie findet sich bei Gustavs allererstem Kuss.80 Doch der Einsatz der glänzenden Waffe ist nicht notwendig, die Situation wird der tugendhaften Beata nie wirklich gefährlich. Da seine Verführungskünste ihr Ziel stets verfehlen – »Verstehen Sie mich nicht?« – greift der Fürst, um endlich verstanden zu werden, zur Liebes-Formel und zitiert diese wörtlich:81 »›O doch!‹ (sagt’ er und macht Henris Liebeerklärung zur seinigen) ›Marie! ich bin ja Ihr Bruder nicht.‹« (I/1,351) Doch ohne den zugehörigen Kontext, zudem von einer »Kröte in ein[em] Blumenbeet« (I/1,349) gebraucht, funktioniert die Formel nicht: Für ihr Gelingen braucht es jenes Grundgefühl, das Jean Paul an strategisch wichtiger Stelle, dem »Ausläuten oder Sieben Letzte Worte an die Leser«, beschreibt als »das verschwisterte Herz für uns [...], nach dem wir uns sehnen«. (I/1,465)82 2.2.3

»Das verschwisterte Herz, nach dem wir uns sehnen«: Versöhnung

Nach seinem moralischen Fehltritt schreibt sich Gustav in einem Brief von Beata auf immer los. Auch für diesen, im empfindsamen Kontext nicht anders denkbaren Verlauf ihrer Beziehung referiert Gustav auf das Geschwisterthema, als auf das, was sie verbindet: »Wenn einmal dein Bruder mit einem schöneren Herzen an deines sinkt: so sag es ihm nicht, sag es dir selber nicht, wer ihm ähnlich sah«. (I/1,359) Zwar findet diese Bezugnahme im Modus einer doppelten Verneinung statt, doch sie investiert damit unter der Hand zugleich die Kontinuität und Stabilität, die die Geschwisterbeziehung bedeutet: ist die Beziehung zum Geschwister gewöhnlich doch die längste soziale Beziehung.83 Dabei ist nicht von ungefähr, dass Gustav hier

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Hier allerdings bewirkt die Verletzung mit der Nadel keine Störung der Zusammenführung, sondern gerade das Gegenteil: »aber doch erst als sie seine Brust von ihrer wegstemmte und seine mit der Nadel zerritzte, dann erst strickte er sie mit unaussprechlicher vom eignen Blute berauschter Liebe an sich und wollte ihren Lippen ihre Seele aussaugen und seine ganze eingießen« (I/1,143). Eine Ausnahme in der Wörtlichkeit ist der Wechsel der Anrede von »dein« zu »Ihr«, der auf die Transposition aus dem bürgerlich-familiären in den höfischen Kontext verweist. Vgl. auch Hesperus, I/1,1233: »Mein Geist ist dein Bruder, deine Seele ist meine Schwester, und so verändere dich nicht, verschwistertes Herz«. Vgl. Teil I, Kap. 1.3. Sozialhistorisch ist hier die um 1800 immer noch hohe Kindersterblichkeit zu bedenken, die die Dauer der Geschwisterbeziehung konkret bedroht hat. Dennoch oder vielleicht auch gerade deswegen ist die zeitgenössische Wertschätzung der Geschwisterbeziehung, wie im kulturhistorischen Teil nachgewiesen, außerordentlich hoch. Im empfindsamen Kontext begreift diese Wertschätzung auch die verstorbenen Geschwister ein, gerade die damit verbundene Verlusterfahrung vermag die Empfindung für das Geschwister noch zu steigern, wie dies Jean Paul am Beispiel des ›verlornen‹ Guido literarisch zeigt.

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auf die Bild-Geschwisterschaft mit Guido, und nicht auf die Seelengeschwisterschaft mit Beata referiert, die er ja beide mit ihr teilt. Denn letztere ist als gewählte Beziehung auch wieder kündbar, wogegen erstere – auch wenn nur über ein Bild – existenziell gegeben ist, sie kann als Beziehung über Handlungsweisen nicht aufgelöst werden. Rhetorisch ist Gustavs Abschiedsbrief im Gestus der Verneinung geschrieben, deren Iterativität eine Textbewegung der Verkehrung in Gang setzt, die vom Vergessen zum Erinnern und Bewahren führt: Die negierende Bezugnahme auf die gemeinsamen Stationen und Emotionen ihrer Beziehung hält diese in ihrer wiederholten Nennung präsent und verdichtet sich in der Figur des Vergissmeinnichts, das hier als verbale Gradatio rhetorisch aufgerufen und im Textfortgang dann konkret genährt und aufgefunden werden wird:84 – und wenn einmal dein Tränen-Auge auf die weiße Pyramide fällt: so wend es ab und vergiß, daß ich dort so glücklich war. – Ach! Aber ich vergess’ es nicht, ich wende das Auge nicht ab, und könnte der Mensch sterben an der Erinnerung, ich ginge zu Amandus’ Grab und stürbe – Beata, Beata, an keiner Menschenbrust wirst du stärkere Liebe finden, als meine war, wiewohl stärkere Tugend leicht – […] lebe länger als ich, weine weniger als ich und – vergiß mich doch nicht gänzlich. – Ach hast du mich denn sehr geliebt, du Teure, du Verscherzte? … (I/1,359f.)

Mit Bezug auf die Makroproposition des Traums vom blauen Blütenkelch und deren erster Einlösung bei der Liebeserklärung auf Amandus’ Grab erschreibt sich Gustav in seinem Abschiedsbrief zugleich die Gewissheit, dass eine erneute Vereinigung nach dem vorgegebenen Muster möglich sei, unter der Voraussetzung, sich diesmal wirklich und nicht nur träumend in der zweiten Welt zu wissen: der Tod wird mir seine Hand geben und mich wegführen […] dann komm, Beata, […] wenn dich ein Engel […] in die zweite Welt getragen, […] und ich werde wieder sagen: ›Nimm mich wieder, geliebte Seele, auch ich bin selig‹ – alle irdischen Wunden werden verschwinden, der Zirkel der Ewigkeit wird uns fassen und verbinden!... (I/1,360)85

Es folgt der Winter und mit ihm ein Erzählunterbruch, der von der Schwester des Lebensbeschreibers, von Philippine, gekittet werden muss.86 Da Beobachtungen über diese Zeit gänzlich und Dokumente weitgehend fehlen, erfahren wir summarisch über die Folgen der Verwirrung und Auflösung der Liebesbeziehung, dass Gustav den Winter bei seinen Eltern verbringt und dort seine Fehler, besonders

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Zu Beatas Insignien in Lilienbad gehört ein Vergissmeinnicht und ein zweites, seidenes, wird von den eben wieder vereinten Liebenden aufgefunden. Vgl. I/1,381,391. Zur Verbindung des allegorischen Vergissmeinnichts mit dem blauen Blumentraum vgl. auch Teil II, Kap. 1.3. Vgl. die Liebeserklärung auf der Schwelle zwischen Transzendenz und Immanenz I/1,297: »O nimm mich ganz, glückliche Seele, nun hab’ ich dich, geliebte Beata, auch ich bin tot.« Dazu auch Teil II, Kap. 2.2.1. Ausführlicher dazu vgl. Teil II, Kap. 4.

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»aber auch seinen voreiligen Abschiedbrief« bereut. (I/1,375) In Kürze wird »der biographische Winter abgetan und weggeschmolzen« (I/1,377) und Schreibende und Lesende wenden sich dem Frühling im paradiesischen Lilienbad zu, in dem sich das Romanpersonal zum Schluss versammelt. Zahlreich sind die Hinweise, dass es sich dabei um einen Phantasieort und erzählerischen Kunstgriff handelt, in und mit dem das Romanpersonal zusammengeführt und geschlagene Wunden durch gemeinsame Brunnenkur geheilt werden. So ›beredet‹ Doktor Fenk, der bei allen Krankheiten und Schreibschwierigkeiten zu Rate gezogene Freund des Lebensbeschreibers, Gustav zur Kur nach Lilienbad und ›Jean Paul‹ und Philippine gleich mit, wo sie alle auf Beata treffen werden: »Freue dich, wir gehen einem Paradies entgegen, und du bist der erste Autor im Paradies, nicht Adam.« »Das schönste Beet« – sagt’ ich – »ist in diesem Eden das, daß mein Werk kein Roman ist: die Kunstrichter ließen sonst fünf solche Personen auf einmal wie uns nimmermehr ins Bad, sie würden vorschützen, es wäre nicht wahrscheinlich, daß wir kämen und uns in einem solchen Himmel zusammenfänden. Aber so hab’ ich das wahre Glück, daß ich bloß eine Lebensbeschreibung setze und daß ich und die andern sämtlich wirklich existieren, auch außer meinem Kopfe.«... (I/1,377f.)

Damit beginnt eine Reihe von sechs »Freuden-Sektor[en]«, in denen der ParadiesAutor die Versöhnung der Liebenden erzählen kann. Erzählte Zeit und Schreibzeit differieren jetzt nur noch um wenige Stunden, so dass auch von der Schreibszene der Loge her ein Schluss möglich gemacht wird. Entscheidend für das erneute Zusammenfinden des Paares nun ist ein Aufsatz von Beata »an das Bild ihres wahren Bruders«, den sie im Winter geschrieben hat und der vom Lebensbeschreiber an dieser Stelle »vor Gustav so gut […] wie vor meine Leser« gebracht wird. (I/1,384)87 Es ist Beatas schriftliche Antwort auf Gustavs Abschiedsbrief. In die Tat umgesetzt hat sie inzwischen seinen Appell des Vergissmeinnichts: Auf ihrem Fenstersims in Lilienbad nährt sie in einem Blumentopf ein einzelnes Vergissmeinnicht, das allegorisch den Topos des einzigen Geliebten über die Gradatio »ein«, »einem einzigen« gegen das natürlicherweise büschelweise wachsende Vergissmeinnicht behauptet.88 In ihrem Aufsatz ist die Stelle des einzigen Geliebten mit ihrem Bruder besetzt, an ihn sind die Liebesemphase und die Trauer über den Liebesverlust gerichtet: Ach Bruder! sehnest du dich nach keiner Schwester, saget dirs dein Herz gar nicht, daß es in der öden Erde noch ein zweites gibt, das dich so unaussprechlich liebt? […] O Bruder, wenn du gut und unglücklich bist: so komm zu deiner Schwester und nimm ihr ganzes Herz – es ist zerrissen, aber nicht zerteilt und blutet nur! O es würde dich so sehr lieben! Warum sehnest du dich nach keiner Schwester? O du Ungesehener, wenn dich

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Zum Status von Autorschaft und Textsorte unter einer Gender-Perspektive vgl. Teil II, Kap. 2.2.2. I/1, 381: »Beatens Hütte, an deren Fenster ein Blumentopf mit einem einzigen Vergißmeinnicht noch vom Begießen tröpfelte«.

die Fremden auch verlassen, auch täuschen, auch vergessen, warum sehnest du dich nach keiner treuen Schwester? – (I/1,384f.)

In dreimaliger Wiederholung wird die Schwesterliebe und -treue als Heilmittel gegen alle Unbill der Welt angerufen. Doch da diese Schwesterliebe kein Objekt besitzt, auf das sie sich richten und allein an das »stumm[e] Bild« appellieren kann, wird der Schwester dies zum Anlass, auch sich selbst gänzlich ungeliebt zu sehen: »[…] ach ich frage mich schwer im blutenden Innern: was hab’ ich noch, das mich liebt? und ich antworte nicht…«. (I/1,385) Dies muss Beata auch nicht beantworten, denn davon hat der Erzähltext schon ausführlich berichtet. Worauf das Vergissmeinnicht allegorisch verweist, die Spannbreite zwischen dem einen Geliebten und Büscheln davon, ist erzählte Realität: Fast das gesamte männliche Romanpersonal hat – wenn auch in unterschiedlicher Ernsthaftigkeit – bisher seine »Verliebung in Beaten« (I/1,202) bekannt.89 Von ihrer Funktion her muss die Beschwörung des Bruderbildes an dieser Stelle der Erzählung das Zusammenführen der Liebenden bewirken. Zwar wird Gustav im ganzen Aufsatz nicht genannt, doch der Erzähler ordnet den Exkurs sogleich als Intertext der Beziehung von Gustav und Beata zu: Die Leser haben den Mut, daraus mehr zu Gustavs Vorteil zu erraten als er selber. Ihm als Helden dieses Buchs muß dieses Blatt willkommen sein; aber ich als sein bloßer Geschichtschreiber hab’ nichts davon als ein paar schwere Szenen mehr […]. (I/1,385)

Der Geschwistersubtext hat sich inzwischen der Beziehung von Gustav und Beata so sehr eingeschrieben, dass dieser Zusammenhang den Lesenden nicht mehr weiter ausgeführt werden muss. Dass Beatas Aufsatz in der Tat eine Antwort auf Gustavs Abschiedsbrief ist, zeigt sich am deutlichsten am Thema der Transzendenz. Die metaphorisch ja wiederholt dem Jenseits zugeordnete Beata90 erweist sich in ihrem Aufsatz als diesseitsverhafteter denn Gustav. Träumte dieser in seinem Abschiedsbrief rhetorisch – und im Textfortgang dann wirklich91 – von einer Wiedervereinigung nach dem Lebensende, so findet Beata hierfür warnende Worte, die an den Bruder gerichtet, zugleich Gustav meinen: Verweile nicht so lange, bis deine Schwester mit dem ermüdeten Herzen unter der Leichendecke ausruhet und mit allem ihren vergeblichen Sehnen, mit ihren vergeblichen Tränen, mit ihrer vergeblichen Liebe in kalte vergessene Erde zerfällt! Verweile auch nicht so lange, bis unsere Jugend-Auen abgemähet und eingeschneiet sind, bis das Herz steifer und der Jahre und Leiden zu viele geworden sind. – (I/1,385)

Beata setzt Gustavs Transzendenz-Vision ein memento mori entgegen, das nicht auf das ewige Leben der schönen Seele, sondern den verwesenden und zuvor altern-

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Namentlich sind dies neben Gustav auch Amandus, ›Jean Paul‹, Oefel und der Fürst. Vgl. »ihren Lieblingausdruck«: »zum Sterben schön« (I/1,158). Vgl. Gustavs »Traum vom Himmel«( I/1,396ff).

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den Leib verweist. Im Hier und Jetzt der Jugend soll, so ist damit gesagt, das Zusammenkommen sein, und nicht mehr lange aufgeschoben werden. Entsprechend braucht der Lebensbeschreiber die gefürchteten schwierigen Szenen auch nicht zu beschreiben, denn die Versöhnung der Seelengeschwister folgt auf dem Fuß. Anlässlich der Sonntagspredigt sitzen sich Beata und Gustav in zwei Kirchenlogen gegenüber und hier öffneten sie sich einander ihre Augen und ihr Innerstes; die zwei entkörperten Seelen schaueten groß ineinander hinein, und ein vorüberfliegender Augenblick des zärtlichsten Enthusiasmus zauberte sie an den Augen zusammen…. (I/1,389)

Im Anschluss der Seelenzusammenführung finden die beiden auch körperlich zusammen, und dies – gehen wir mit dem Lebensbeschreiber »über Kleinigkeiten hinweg« (I/1,391) – über die Motivreihe aus dem Blumentraum:92 Nach der Predigt brechen Gustav und Beata Arm in Arm zu einem gemeinsamen Spaziergang auf, der sie zu einem Vergissmeinnicht führt. Dieses ist jedoch »von Seide: ›O ein falsches‹, sagte sie. ›Nur ein gestorbnes‹, sagte Gustav, ›aber ein dauerhaftes.‹«(I/1,391) Die Armreichung, die blaue Blume und die Schwellensituation zwischen Immanenz und Transzendenz am Beispiel des so kommentierten Vergissmeinnichts verweisen auf die Makroproposition vom blauen Blumentraum und deren Iteration bei der Liebeserklärung auf Amandus’ Grab. Damit entsteht eine Verweiskette, wie der Lebensbeschreiber noch zusätzlich unterstreicht: »Unter Personen von einer gewissen Feinheit wird leicht alles zur Anspielung!« (I/1,391) Der Begriff der Anspielung nimmt auch wieder das Spiel in ihre Beziehung hinein, es konkretisiert sich jetzt jedoch nicht auf der Ebene der erzählten Geschichte, sondern derjenigen der erzählten Schreibsituation: Der Klavier spielende Gustav fungiert für den Erzähler als »musikalischer Souffleur«, (I/1,386) der den Freudenbericht orchestriert und so Spielen und Schreiben engführt. Auf dieser Basis geht die Geschichte ihrem Höhepunkt im »größten FreudenSektor« zu, und der Berichterstatter ist sich gewiss, dass dieser Sektor »alles Schöne, was je« in Bibliotheken »verbrannt«, »vermodert« oder »erhalten worden, nicht sowohl vereinigen als völlig überbieten werde«. (I/1,399) In hyperbolischer Sprache wird der »endlich«93 eingetroffene »paradiesisch[e] Tag« (I/1,403) erzählt, der die idyllische Gesellschaft anlässlich von Beatas Geburtstagsfest auf einer kleinen Insel versammelt. Damit verschreibt sich die Narration topographisch der Tradition der Gesellschaftsutopie. Diese Isotopie ist auf dem Weg zur Insel schon metaphorisch vorbereitet worden, beispielsweise in der Beschreibung eines Gartenbeetes mit Mischkultur als Gemüsevereinigung »wie in einem toleranten Staate«. (I/1,401)

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Vgl. Teil II, Kap. 1.3. Das Adverb ›endlich‹ tritt in diesem Sektor gehäuft auf, mit einer deutlichen Steigerung gegen Schluss, und verweist mit dieser Gradatio rhetorisch auf das nun nahe Ende der Lebensbeschreibung.

Die kleine Gesellschaft94 der »fünf Eiländer«, (I/1,407) die – so ist anzunehmen – den ethischen und politischen Zielen der ansonsten kaum Gestalt annehmenden »unsichtbaren Loge« entspricht,95 gruppiert sich aus eigentlichen, weiteren und figürlichen Geschwisterpaaren, wobei Gustav aufgrund seiner mehrschichtigen Geschwistervernetzung eine doppelte Aktantenposition besetzt. Auf der grünen Rasenfläche lagern die eigentlichen oder Schriftgeschwister Jean Paul und Philippine, die weiteren oder institutionellen Geschwister Ottomar und Gustav sowie die figürlichen oder Seelengeschwister Beata und Gustav: Die ideale Gesellschaft der hohen Menschen und schönen Seelen ist dominant horizontal organisiert96 und von Liebe, Geschwisterschaft und Freundschaft geprägt. Die Emotionen und Beziehungsformen gehen dabei fließend ineinander über: So sind Beata und Gustav nicht nur Liebende und Seelengeschwister, sondern »unter lauter Freunden sich auch nur Freunde«. (I/1,408) Ganz in der Freundschafts-, nicht aber in der Geschwisterstruktur verortet dagegen ist Fenk, der Gastgeber und Drahtzieher der Zusammenkunft des idyllischen Zirkels. Als »humoristische[s] Quecksilber« ist er mit den »meisten Einwohner[n] dieses Buchs« (I/1,228) freundschaftlich verbunden und namentlichen mit den Eiländern eng befreundet. Diese Aktantenposition, deren vordringlichstes Merkmal die vielfältige Anschlussmöglichkeit gerade auch an »unähnliche« Andere ist, prädestiniert Fenk für die Rolle des satirischen Kommentators, die ihm in der Loge zukommt.97 Als solcher nimmt er jeweils eine Außenperspektive ein, die den sich ganz hingebenden schönen Seelen wie Beata und Gustav nicht möglich ist.98 Fenks polyvalente und ubiquitäre Bindungsfähigkeit verunmöglichet nun aber umgekehrt die unlösbare Bindung an ein ihm Ähnliches, wie es den Kern der Geschwisterstruktur und der hohen Seelenliebe ausmacht.99 Im »größten Freuden-Sektor«, dem narrativen Höhepunkt empfindsamer Geschwister- und Seelenliebe, agiert Fenk

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Zur kleinen Gesellschaft in Lilienbad vgl. auch Bergengruen, 2003, S. 70ff., der auf die rousseausche Herkunft der ›kleinen Gesellschaft‹ der Freunde nach dem Vorbild der Julie als Gemeinwesen von »zwei Liebende + Freunde« (S. 72) verweist, den Geschwisterstatus jedoch unberücksichtigt lässt. Ausführlicher dazu Teil II, Kap. 3.2. Daneben sind auch vertikale Strukturen relevant, insbesondere das Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen ›Jean Paul‹ und Gustav. Und zu Fenk, der in die kleine Gesellschaft freundschaftlich aber nicht geschwisterlich integriert ist, steht Gustav in einer gewählten vertikalen Familienbeziehung: Nach Amandus’ Tod bietet er sich ihm an Sohnes statt an. Vgl. dazu Teil II, Kap. 3.1. Das wichtigste Merkmal, das Jean Paul in seinen ausdifferenzierten Überlegungen dem Witz zuordnet, ist dessen Fähigkeit, Verbindungen herzustellen. Schon in den frühen Satiren der Teufels Papiere (1789) schreibt er vom »buntfärbige[n] Band womit der Witz spielend unähnliche Dinge zusammennäht« (II/2,371). Typisch dafür die Formulierung der Liebeserklärung Gustavs auf Amandus’ Grab »O nimm mich ganz, glückliche Seele, nun hab’ ich dich, geliebte Beata, auch ich bin tot.« (I/1,297) Ausf. zu Fenks Position vgl. Teil II, Kap. 3.1.2.2.

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konsequenterweise ganz im Hintergrund, so wie auch die satirische Schreibweise nur latent präsent ist.100 Und so endet der – wie wiederholt bemerkt wird, auch meteorologisch – absolut perfekte Tag für Gustav von satirischen Digressionen ungestört mit einer unüberbietbaren Totalitätserfahrung: dann führte der Engel, der die Erde liebt, die zwei frömmsten Lippen zu einem unauslöschlichen Kusse zusammen – dann versanken alle Bäume, vergingen alle Sonnen, verfolgen alle Himmel, und Himmel und Erde hielt Gustav in einem einzigen Herz an seiner Brust; – (I/1,413)

Diesem Höhepunkt empfindsamer Sprache folgt die Ernüchterung tags darauf, und dies doppelt: Poetologisch, in der Bitte um Verzeihung des Übermaßes an Metaphern, die der Lebensbeschreiber auf einen – entgegen erster Angaben im »größten Freuden-Sektor« – wenig maßvollen Punschgenuss zurückführt; und narrativ, durch die Dissonanz, die der Romanabbruch nach den Unglücksmeldungen hinterlässt, die Fenk brieflich mitteilt. Gustav und mit ihm weitere Mitglieder der unsichtbaren Loge sind aufgrund unglaublicher Verknüpfungen101 als vermeintliche Diebe gefangen genommen worden, und Ottomar hat einen Suizidversuch nach diesem unrühmlichen Öffentlichwerden der Geheimgesellschaft nur knapp überlebt. Damit werden sowohl das Pathos der Paradieseskapitel als auch die Fähigkeiten der Geheimgesellschaft, die beide eine geschwisterliche Gemeinschaft der schönen Seelen und hohen Menschen avisieren, auf ihr Transferproblem hin transparent gehalten: In der angestrebten Totalität sind sie nicht wirklichkeitstauglich. So bleiben Lilienbad und die damit verbundenen Entwürfe eine »offen bleibende Stell[e]« der »Phantasie«, (I/1,398) die realiter nicht dauerhaft ausgefüllt werden kann. Wie die – mit Adelung gesprochen – ›weitere‹ Geschwisterschaft dagegen konkret als Freundschaft und institutionelle Bruderschaft den Gang der Narration bestimmt, soll nun im Folgenden gezeigt werden.

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Greifbar ist die den empfindsamen Lesefluss unterbrechende satirische Lesart hier allein über schräge Bilder wie dasjenige von »kämpfenden Schmetterlingen« (I/1,400). Vgl. I/1,419: »Bemerke, eine Menge Umstände und Personen verknüpfen sich hier, die schwerlich der Zufall zusammengeleitet hat.«

3.

Freundschaft und institutionelle Geschwisterschaft

Die vom Titel her gegebene Erwartung eines Geheimbundromans löst Jean Pauls Unsichtbare Loge nicht ein: Dies hat schon die zeitgenössische Kritik moniert. Auch die Jean Paul-Forschung ist sich darin einig, dass sich zwischen Titelstimulus und Romantext eine große Diskrepanz auftut. Weshalb hat sich Jean Paul dann für diesen Titel entschieden? Sein Brief zur »Titelfabrikatur« seines ersten großen Romans vom 12. Juli 1792 an Christian Otto gibt darüber einigen Aufschluss, doch zugleich wiederum neue Rätsel auf. (SWIII/1,359) Die Antworten, die in der Forschung auf die Frage der Titelwahl gegeben wurden, sind darum entsprechend disparat: Sie reichen von einer beliebigen Schrulle über eine gezielte Marketingstrategie weiter zu einem kalkulierten intertextuellen Spiel bis hin zum latenten Zentrum des Romans, der von der Geheimbundthematik her als Revolutionsdichtung gelesen werden könne. 1 Alle diese Antworten isolieren den Titel und die damit verbundene

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Nachdem die Frage der Titelwahl lange Jahre als schräger Einfall abgetan worden war, befasst sich die jüngere Forschung wieder damit. Jordheim 2007 liest die Loge im intertextuellen Vergleich mit Wielands Agathon als eine Gattungsverhandlung zwischen Bildungs- und Staatsroman und sieht den Titel als Versuch, mit der dadurch ausgelösten Aporie umzugehen. Sinn 2007 fragt nach dem Verhältnis der Loge zu den real existierenden zeitgenössischen Geheimgesellschaften und setzt am Beispiel von Gustavs Erziehung und Entwicklung das Textexperiment der Loge mit den Epistemologien zu den Menschenexperimenten der Geheimgesellschaften in Beziehung. Dabei hatte schon Voges 1987, S. 538ff., in seiner umfassenden Monographie über die Geheimbundliteratur gezeigt, dass sich in den neunziger Jahren ein Literarisierungsprozess des Geheimbundmaterials längst vollzogen hatte und Jean Paul in der Loge sein parodistisches Spiel mit der Textgattung des Geheimbundromans treibt. Vgl. zum Prozess der Literarisierung des Geheimbundmaterials auch Teil I, Kap. 2.4.1. Das spezifische ästhetische Kalkül, aus zitierbaren Versatzstücken literarischer Konventionen eine Geschichte zu konstruieren, lässt gemäß Voges durchaus auch eine sozialpolitische Lektüre zu, wie sie in den siebziger Jahren die Jean Paul-Forschung dominierte, eine solche muss aber die innerliterarischen Vermittlungsprozesse transparent halten und darf diese nicht überspringen. Berend hatte in seiner Einleitung zur Loge von 1927 in erster Linie Marketingüberlegungen für ausschlaggebend für die Titelwahl gehalten. (SWI/2,X) Das ist nach wie vor ein überzeugendes Argument, bedenkt man die prekäre ökonomische Lage eines bisher erfolglosen Autors, der mit diesem Roman den Durchbruch schaffen möchte und darum auf die damalige Bestseller-Strategie des Geheimbundromans setzt. Köpke 1977, S. 346ff., der Jean Pauls Schreiben von der »Erfolglosigkeit« des Frühwerks her untersucht, knüpft an Berend an und führt die Geheimbundstrategie der Loge auf den 1787–89 anonym erschienenen Geheimbundroman Dya-Na-Sore von Wilhelm Fried-

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Logenthematik jedoch aus dem Romankontext oder verabsolutieren umgekehrt die darin angelegte gesellschaftskritische Dimension. Wird die Geheimbundthematik jedoch als Baustein eines umfassenden Geschwisterdispositivs gelesen, so integriert sie sich in einen systematischen Zusammenhang und gewinnt von daher an Kontur. Diese These soll im zweiten Teil dieses Kapitels diskutiert werden. Ganz anders gewichtet dagegen die Jean Paul-Forschung den zweiten Bereich, der sich an die – im zeitgenössischen Sprachgebrauch – ›weitere‹ Geschwisterschaft anschließen lässt: Freundschaft gilt der Forschung seit je als eines der Kernthemen von Jean Pauls Schreiben. So hat schon 1929 Wolfdietrich Rasch der Freundschaft bei Jean Paul eine eigenständige Studie gewidmet.2 Wolfgang Proß identifiziert das Motiv der konträren Freunde als eines der Kernelemente von Jean Pauls poetischer Enzyklopädie und macht in einer kleinen Erzählung mit dem Titel »Die Freunde«, geschrieben Ende 1791/Anfang 1792, die Keimzelle für die expansiven Freundschaftsdarstellungen in den großen Romanen aus.3 Freundschaft und Liebe, eines der zentralen Themen empfindsamen Schreibens und fraglos auch bei Jean Paul,

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rich von Meyern zurück. Laut Köpke dient das Geheimbundmaterial jedoch allein dem Spiel mit der trivialen Leseerwartung. Anders sieht das Harich 1974, dessen marxistischsoziologischer Forschungsansatz die Logenthematik zum »ideellen Angelpunkt der gesamten Handlung« (S. 163) macht und der die Loge, den Hesperus und den Titan als »Revolutionsdichtung« liest und dabei die Dya-Na-Sore als stilbildenden Intertext integriert (S. 166ff.). Raschs Dissertation von 1929 ist noch weitgehend frei von jener Verstrickung seines Denkens in völkische Theorie, die seine viel beachtete Habilitationsschrift von 1936, Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts, korrumpiert. Vgl. zu letzterer Meyer-Krentler 1984, S. 18ff., Adam 1998. Raschs Jean Paul-Buch erstellt auf der Basis einer geistesgeschichtlichen und biographischsoziologischen Einführung in die Thematik eine Systematik der Freundschaftsdarstellungen in Jean Pauls Romanen und arbeitet als typische Motive heraus: die Jünglingsfreundschaft, die Freundschaft des Humoristen und die Freundschaft des Erziehers. Frauenfreundschaften und die Verhandlungen um Freundschaft und Liebe nennt er ebenfalls, zählt sie aber zu den »Nebenmotiven« (S. 40). Als ein Hauptmotiv dagegen untersucht er die Verbindung von Freundschaft und Tod. Vgl. Proß 1975, S. 218ff. Proß erweitert sein Argument auf Jean Pauls Doppelungen und erstellt eine kleine Systematik von hohen Menschen und ihren Kontrastbildern, die allerdings nur männliche Figuren einbegreift: weibliche kommen für Pross als Reflexionsfiguren nicht in Frage. Proß integriert seine Argumentation damit ganz dem philosophischen Paradigma des Freundschaftsdiskurses, der sich mit Derrida über eine »doppelte Ausschließung des Weiblichen« konstituiert: die Ausschließung von Frauenfreundschaften und von Freundschaften zwischen einer Frau und einem Mann. Vgl. Derrida 2000, S. 195f. und ders. 2002, S. 372, 388. Literatur und zwar auch diejenige Jean Pauls, schließt das Weibliche jedoch zuweilen auch in die Freundschaftsthematik mit ein, und bei der empfindsamen Verhandlung von Freundschaft und Liebe kann die Freundschaft zwischen den Geschlechtern sogar zum eigentlichen Thema werden, wie dies Jacobis Woldemar zeigt, vgl. Teil II, Kap. 3.1.1.

wird in der Forschung auch in Untersuchungen zu einzelnen Texten thematisiert, meist am Beispiel des Titan. 4 Nicht gesehen worden sind aber bisher die Verstrickungen der Verhandlungen um Freundschaft und Liebe in das Geschwisterdispositiv. Das erstaunt gerade beim Titan, nimmt dort die Geschwisterthematik doch geradezu inflationäre Ausmaße an.5 Hier gilt es neu anzusetzen und zu fragen, wie sich das Geschwisterthema in die empfindsamen Verhandlungen um Liebe und Freundschaft einschreibt. Dass es sich dabei nicht nur um eine Jean-Paul’sche Eigenheit, sondern auch um eine diskurshistorische Konstellation handelt, soll die exemplarische Lektüre eines empfindsamen Textes zeigen, der die Verhandlungen um Freundschaft und Liebe zum Programm hat: Friedrich Heinrich Jacobis Woldemar oder Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte von 1779, der 1777 in Vorabdrucken im Teutschen Merkur unter dem Titel Freundschaft und Liebe. Eine wahre Geschichte von dem Herausgeber von Eduard Allwills Papieren erschienen ist.6

3.1.

Die Verhandlungen um Freundschaft und Geschwisterschaft

Die Verhandlungen um Freundschaft und Liebe sind ein Dauerbrenner empfindsamen Schreibens, wie die Forschung schon wiederholt herausgearbeitet hat.7 Dabei sind die Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Freundschaft und Liebe nicht streng bestimmbar: Die diskurshistorische Konstellation ist im Gegenteil durch Verschiebungen und Überschneidungen geprägt, die manchmal bis zur Ununterscheidbarkeit der damit verbundenen individuellen Emotionen und sozialen Beziehungen reichen. Die persistenten Bemühungen um die labilen Grenzen zeigen einen großen Bedarf, sich der Neuformation von Freundschaft und Liebe und – so die These dieser Studie – von Geschwisterschaft zu versichern. Mit dieser Trias wird einer horizontalen Struktur zum Durchbruch verholfen, die der bürgerlichen Gemeinschaftsutopie und dem sie garantierenden individuellen Gefühl eine zugleich verbürgte als auch neu füllbare Form gibt. Gegenüber den gewählten, kündbaren und mit partiell Fremden eingegangenen Beziehungsformen der Freundschaft und der Liebe hat Geschwisterschaft – in ihrer genuinen Form als ›eigentliche‹ Geschwisterschaft – den Vorteil von Kontinuität,

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Vgl. Bosse 1970, S. 181–202, Baierl 1992, S. 108–120. So lässt sich bei Bosse 1970, S. 181–202, exemplarisch zeigen, wie das explizit im Text stehende Geschwisterthema als blinder Fleck fungiert, der von der Freundschaftsthematik überschrieben wird: Die Erzählregel für individuelle Emotionen und soziale Beziehungen des Titan sei das Zusammenspiel von Liebe und Freundschaft, so Bosse (S. 181) im Anschluss an das signifi kante Zitat: »Es sollte daher immer ein Paar Paare geben, kreuzweise verschwistert und liebend« (I/6,376). Eine Vorstudie dazu ist Frei Gerlach 2008. Vgl. kurz und prägnant hierzu Friedrich 2001.

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Stabilität und Vertrautheit: Dies macht die Geschwisterschaft für die bürgerliche Utopie der individuell glücklichen und sozial egalitären Beziehung so attraktiv. Da Geschwisterschaft in ihren ›weiteren‹ Varianten auch gewählte Beziehungen einbegreift, besetzt sie in ihrer Doppelfunktion von eigentlicher und institutioneller Geschwisterschaft eine zentrale Schwellenfunktion: Im Begriff des Geschwisters treffen individuelle und soziale Beziehung, Familie und Gemeinwesen aufeinander. Literatur mit ihrer Möglichkeit der Modellbildung ist für diese Verhandlungen zwischen Freundschaft, Liebe und Geschwisterschaft ein bevorzugter Ort. Haben Freundschafts- und Liebesdichtungen eine lange Tradition, so kommt mit der Geschwisterschaft eine neue Akzentsetzung dazu, die sich spezifisch aus der kulturhistorischen Disposition um 1800 speist.8 Wie die Analyse der historischen Semantik gezeigt hat, entwickelt das Konzept der Geschwisterschaft eine Sogwirkung, die das vormals exklusiv der Freundschaft zugeordnete Kriterium der Egalität anzieht und nun – zumal in den Ordnungsversuchen der deutschsprachigen Enzyklopädien – dominant der Geschwisterschaft zuschreibt. War Geschwisterschaft wie andere Verwandtschaftstermini in der ersten Jahrhunderthälfte noch vorwiegend unter dem Differenzparadigma gesehen worden, so verbindet sich im ausgehenden 18. Jahrhundert neu Egalität damit und generiert auf dieser Basis eine bedeutende Schnittmenge zwischen Freundschaft und Geschwisterschaft. Doch die Engführung von Freundschaft und Geschwisterschaft ist nicht nur neueren Datums sondern – unter anderen Voraussetzungen – auch Teil des tradierten Diskurses. Wie Derrida in seiner Politik der Freundschaft herausgearbeitet hat, privilegieren Diskurse über die Freundschaft den »Namen des Bruders oder den Namen Bruder«:9 Montaignes stilbildender Essay Über die Freundschaft (1580) benennt seine persönliche Freundschaftserfahrung mit Étienne de La Boétie mit dem »Name[n]« des Bruders, und dies vor einem klar differenzlogischen und unromantischen Geschwisterverständnis: In Wahrheit aber ist Bruder ein schöner Name, voller Innigkeit, und deshalb gründeten wir, er und ich, unseren Bund darauf. Zwischen leiblichen Brüdern jedoch führen sowohl Gemeinschaft wie Trennung der Güter und die Tatsache, daß der Reichtum des einen die Armut des anderen bedeutet, zu einer erheblichen Schwächung und Lockerung ihrer geschwisterlichen Bande. Da sie auf dem gleichen Weg und mit gleicher Geschwindigkeit voran- und emporkommen müssen, ist es unausbleiblich, daß sie hierbei oft aneinandergeraten und einander umrennen.10

Montaigne pointiert das zentrale Argument, dass eine durch »Gesetz und natürliche Pflicht« gegebene Beziehung anders als eine aus »freie[m] Wille[n]« gewählte Beziehung Zuneigung nicht notwendig einschließen muss, im Gegenteil sogar

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Vgl. dazu detailliert die kulturhistorische Argumentation in Teil I, Kap. 2. Vgl. Derrida 2000, S. 196, und 2002, S. 372, sowie Teil I, Kap. 2.4.4. Montaigne, nach der überarbeiteten Ausgabe von 1595 in der Übersetzung von Hans Stilett, 1988, S. 99.

eher verhindert. Und dennoch, so das Paradox, wählt er für die Benennung der einzigartigen, »gleichgestimmten und gleichgesinnten« Freundschaft den Namen des Bruders.11 Ein möglicher Erklärungsansatz dafür wäre, dass Montaigne hier nicht den Begriff des natürlichen, sondern denjenigen des institutionellen Bruders meint. Doch der Text lässt eine solche Lesart nur bedingt zu: Zwar ist evident, dass Étienne de La Boétie mit Montaigne in keiner Weise verwandt ist. »Brüderlichkeit«, die auf die ›weitere‹ Begriffsverwendung verweist, taucht in Montaignes Argumentation im Kontext der »gewöhnlichen Freundschaften« auf, von denen er die »einmalige, die alles überragende Freundschaft« klar abgrenzt.12 Vielmehr beschreibt der unmittelbare Kotext des Bruder-Namens unmissverständlich leibliche Brüder.13 Damit fungiert ein klar negativ konnotierter Begriff vom eigentlichen Bruder als Namensgeber für den hyperbolisch gezeichneten Freundschaftsbund, in dem sich die Seelen in »glühender Liebe« wechselseitig durchdringen und sich ihr Innerstes offenbaren.14 Glätten lässt sich dieser Widerspruch nur, wenn die Wahrheit und Schönheit, auf die sich Montaigne bei der Namensgebung beruft, stark gemacht werden: In dieser Lesart führt Montaigne gegenüber der Alltagserfahrung zwieträchtiger Bruderschaft einen anderen Bruderbegriff ins Feld, der Wahrheit, Schönheit und Innigkeit konnotiert: »In Wahrheit aber ist Bruder ein schöner Name, voller Innigkeit«.15 Worauf sich diese Wahrheit gründet, bleibt ungesagt, sie muss für sich selbst einstehen. Bei Montaigne finden sich damit drei Bruderbegrif-

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Ebd. S. 100, 101. Ebd. S. 103. Und dies – über ein Plutarch-Zitat – sehr explizit: »[…] nur weil wir aus demselben Loch gekrochen sind?« (Ebd. S. 99). Auch Derrida 2002 geht der Frage einer doppelten Bedeutung des Brudernamens nach und unterscheidet »den Namen Bruder im generischen Sinne, als Gattungsnamen« (S. 388f.) mit Bezug auf die Montaigne-Formulierung »In Wahrheit aber ist Bruder ein schöner Name« (S. 99) vom »Namen des Bruders in seiner Singularität […] bei jener testamentarischen Verfügung«, (S. 389) mit dem der Essay beginnt. Hier muss Derrida den Eigennamen »Étienne de La Boétie« meinen, der – wie Derrida herausstreicht und Montaigne es selbst formuliert – als Name der Freundschaft vorausgeht: »Schon lange nämlich, bevor ich mit ihm zusammentraf, bekam ich sie [die Abhandlung de La Boéties Gegen die Alleinherrschaft, F.F.G.] zu sehn, und durch sie begegnete ich das erste Mal seinem Namen.« (Montaigne 1988, S. 99) Anders als Derrida insinuiert, wird der in Frage stehende Namen an dieser Stelle von Montaigne nicht mit dem Begriff des Bruders verbunden, dieser ist vielmehr die Krönung der Entwicklung seiner Beziehung mit de La Boétie von »Bekanntschaft« über »Freundschaft« zum »innige[n] Bund« (Montaigne 1988, S. 99) und fällt erstmals einige Absätze weiter unten, an der hier schon mehrfach zitierten Stelle. Derrida geht es in seiner Argumentation zu Montaigne denn auch weniger um den Bruder (sonst ein durchgängiger Argumentationsstrang seiner Politik der Freundschaft), als vielmehr um den Namen als solchen: »Der Name ist, in dieser Freundschaft, Grund und Ursache von allem.« (Derrida 2002, S. 390) Montaigne 1988, S. 102. Ebd. S. 99.

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fe: ein negativ konnotierter Begriff des leiblichen Bruders, ein als ›gewöhnlich‹ apostrophierter Begriff institutioneller Bruderschaft und ein als ›Wahrheit‹ gesetzter ›Name des Bruders‹, der als Korrespondenzbegriff zur wahren Freundschaft fungiert. Dieser Name des Bruders indiziert über seine Engführung mit Montaignes Begriff wahrer Freundschaft einen ideellen Bruderbegriff, der Liebe, Egalität und Gegenseitigkeit konnotiert, wie sie erst in der Enzyklopädie um 1800 grundsätzlich dem Geschwisterbegriff zugeschrieben werden. Montaignes Freundschaftsbegriff läuft auf eine Logik der Identifikation hinaus, die die Alterität der Freunde im Fortgang der Argumentation absorbiert und ihre Identitäten nicht nur für einander durchsichtig, sondern letztlich austauschbar macht.16 Da diese Textbewegung im Namen des ›wahren Bruders‹ geschieht, impliziert der Brudername damit letztlich ebenfalls Identität oder zumindest große Ähnlichkeit, wie sie figurativ im Zwillingspaar oder imaginär im Doppelgängertum fassbar wird. In der Logik des Textes regieren damit Bilder des kulturellen Imaginären von identifikatorischer Brüderlichkeit, die den auf der Textoberfläche ausgeführten Beispielen leiblicher Brüder diametral entgegenstehen.17 Dem auf den ersten Blick einfachen Gleichnis ›der Freund ist wie ein Bruder‹18 sind damit diskurshistorische Spannungen eingeschrieben, die die Verbindung von Geschwisterschaft und Freundschaft brisant machen. Anders als die Engführung von Freundschaft und Geschwisterschaft ist diejenige von Freundschaft und Liebe ein dominantes Diskursmerkmal. Mit großer Kontinuität sind Freundschaft und Liebe diskursiv verbunden worden und werden ebenso beharrlich gegeneinander abgegrenzt. Derrida nennt diese »Ko-Implikation« in seinen Vorüberlegungen zur Politik der Freundschaft »eines der Rätsel der Freundschaft«.19 Bei Montaigne verläuft die Trennlinie paradigmatisch entlang des Leib-Seele-Dualismus: Er trennt die freundschaftliche Seelenliebe klar von der

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Vgl. ebd., S. 101: »Bei der Freundschaft hingegen, von der ich spreche, verschmelzen zwei Seelen und gehen derart ineinander auf, dass sie sogar die Naht nicht mehr finden, die sie einte.« An dieser Stelle, die noch eine – wenn auch nicht mehr auffindbare – Trennlinie kennt, heißt die Antwort auf die Frage nach dem Warum dieser Freundesliebe noch »Weil er er war, weil ich ich war.« (S. 101) Im Textfortgang findet dann ein zunehmender Grenzübertritt über die einigende Naht und schließlich eine Vereinigung und Identifi kation statt: »Unsere Seelen sind derart einträchtig im Gespann gegangen und haben sich mit derart glühender Liebe wechselseitig durchdrungen, mit derart glühender Liebe bis ins innerste Innere hinein wechselseitig offenbart, dass ich nicht nur seine wie die meine kannte, sondern mich sogar bereitwilliger ihm anvertraut hätte als mir selbst.« (S. 102) Wahre Freunde sind »nach der höchst treffenden Definition des Aristoteles nur noch eine einzige Seele in zwei Körpern« (ebd.). Und schließlich: »Er ist ich« (S. 103). Jean Paul setzt diese Logik der Identifi kation in der Loge konsequent um und entwirft mit Berufung auf Montaigne ein Freundschaftskonzept, bei dem das ego sich selbst zum Freund wählt. Vgl. I/1,154 und Teil II, Kap. 3.1.2. Vgl. zur Logik brüderlicher Identifi kation bei Montaigne auch Sandkaulen 2001, S. 658. Vgl. Derrida 2002, S. 10. Derrida 2000, S. 192.

sinnliche Liebe zu Frauen und – mit Bezug auf das antike Griechenland – zwischen Männern. Liebe nun ist um 1800 auch die zentrale Beschreibungsfigur der Geschwisterschaft: Im Begriff der Liebe findet sich darum die größte semantische Durchlässigkeit zwischen Freundschaft und Geschwisterschaft. Und im literarisch vielfach erprobten Facettenreichtum dieser Liebe gründet zumeist das Konfliktpotenzial, dessen sich die Literatur in ihren Verhandlungen um Freundschaft, Liebe und Geschwisterschaft annimmt. Dieses Konfliktpotenzial bannt der philosophische Freundschaftsdiskurs nicht nur mit der Ausschließung der sinnlichen Liebe aus der Freundschaftsliebe, sondern grundsätzlicher noch mit der Ausschließung des Weiblichen. Es ist eine »doppelte Ausschließung des Weiblichen«, wie Derrida in seiner dekonstruktiven Lektüre der stilbildenden Diskursträger zeigt: Ausgeschlossen aus dem philosophischen Freundschaftsdiskurs ist sowohl die Freundschaft zwischen Frauen als auch diejenige zwischen einem Mann und einer Frau.20 Genau dieser doppelte Ausschluss wird jedoch in Jacobis Woldemar eingeschlossen und zum eigentlichen Zentrum der Erzählung: Der Woldemar überschreibt literarisch einen weißen Fleck des philosophischen Freundschaftsdiskurses. Und Jacobi geht noch weiter: Er integriert auch die sinnliche Liebe und verbindet diese Gemengelage nicht nur dem Namen nach mit der Geschwisterbeziehung, sondern versetzt seine Verhandlungen um Freundschaft und Liebe ins Zentrum von Geschwisterverhältnissen. 3.1.1

»Bruder« Henriette: Jacobis Woldemar als Intertext zur Loge

Jacobis Romane stehen an einem Umschlagpunkt empfindsamer Liebeskonzeption und können darum exemplarisch als Auseinandersetzung mit dieser gelesen werden.21 Sie reagieren auf den Plausibilitätsverlust des metaphysisch begründeten empfindsamen Liebesmodells durch Goethes Werther und entwerfen ihre Reformulierung individueller Emotionen und sozialer Beziehungen von der »Mensch-

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Vgl. Derrida 2000, S. 195f., 2002, S. 372, 388. Wobei bei Montaigne zumindest die Möglichkeit einer Freundschaft zwischen den Geschlechtern und mit ihr die Vereinigung von unsinnlicher und sinnlicher Liebe bedacht wird, einer Freundschaft also, in der »der ganze Mensch sich hingäbe« und die darum eine »noch umfassendere und erfülltere Freundschaft sein« müsste: »Aber es findet sich kein einziges Beispiel, daß das weibliche Geschlecht bisher so weit zu gelangen vermocht hätte, und nach einhelligem Urteil der antiken Philosophenschulen bleibt ihm der Zugang hierzu verwehrt.« (Montaigne 1988, S. 100) So Friedrich 2001, der Jacobis Romane als enthusiastische Reflexion des empfindsamen Modells liest, welches seinerseits von Gellert und La Roche eingeführt worden war, seinen durchschlagenden Erfolg mit Klopstock erreichte, in Goethes Werther an seinen eigenen Aporien kollabierte und von Millers Siegwart nochmals kurzzeitig erfolgreich restituiert wurde: Jacobis Romane setzen also dort ein, wo die Aporien des empfindsamen Liebesmodells offen daliegen und allein eine Reform zu erneuter Glaubwürdigkeit verhelfen könnte.

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heit« her, »wie sie ist«, das heißt, wie sie sich in der pietistisch geschulten Selbstbetrachtung und aus der unmittelbaren Erfahrung zeigt. Diese Absichtserklärung hat Jacobi 1783 in einem Brief an Hamann formuliert und dann dem Allwil in der Neufassung von 1792 in der Vorrede als poetologische Grundlage vorangestellt: »Menschheit, wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich, auf das gewissenhafteste vor Augen stellen«.22 Von welcher Wichtigkeit dieser romantheoretische Vorsatz für Jacobi ist, zeigt sich daran, dass er in der Vorrede der überarbeiteten Woldemar-Fassung erneut darauf Bezug nimmt. In dieselbe Richtung zielt schon der Untertitel des Woldemar von 1779: Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte. Die Genrebezeichnung positioniert den Verfasser als einen objektiven Beobachter der inneren Natur des Menschen, der für seine Darstellung auf moralische Belehrung verzichtet und stattdessen einen individuellen Realismus propagiert.23 Dass dieses Unterfangen provokativ war, zeigen deutlich die zeitgenössischen Reaktionen. Goethe, mit Jacobi in freundschaftlichem Briefwechsel gerade auch über ihre Romanprojekte stehend, parodierte die soeben erschienene erste Buchfassung des Woldemar 1779 in der so genannten ›Ettersburger Kreuzerhöhung‹: In einer Stegreifrede vor den versammelten Hofleuten aus dem Kreis um Herzogin Anna Amalia lässt er die Titelfigur vom Teufel holen und nagelt den Roman an eine Eiche.24 1796 dann reagierte Friedrich Schlegel auf die zweite Fassung des Wolde-

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Jacobi, Werke, 2006, Bd. 6,1, S. 89. Vgl. dazu den Brief an Hamann vom 18. November 1783, Jacobi, Briefwechsel I, Bd. 3, S. 162, sowie die Vorrede des Woldemar in der Fassung von 1796, wie sie von Friedrich Roth 1820 herausgegeben worden ist, Jacobi 1980, S. XIVI. Hammacher 1990, S. 176ff., erläutert an dieser Absichtserklärung Jacobis Stellung zur zeitgenössischen Romantheorie, insbesondere zu Friedrich Blanckenburgs Versuch über den Roman von 1774: Die Formulierung »Menschheit wie sie ist« schließt an Blanckenburgs Forderung an, die ›entblößte‹ Menschheit darzustellen, wogegen sich »erklärlich oder unerklärlich« gegen ein kausallogisches Erzählen wendet, wie es von der zeitgenössischen Romantheorie eingefordert wird. Jacobi will dagegen den Charakter so darstellen, wie er sich der pietistisch geschulten Introspektion mit allen dabei möglichen Widersprüchlichkeiten darbietet. Zu Jacobis ›Salto mortale‹ in eine ›Unphilosophie‹, seiner Position eines philosophischen Realismus, der als Gegenbild konstruktivistischer Welterklärung auf eine Findungslogik des personalen Daseins setzt, vgl. Sandkaulen 1997, bes. S. 354f. Verständlicherweise reagierte Jacobi verletzt und enttäuscht und es kam zu einem längeren Bruch seiner einst enthusiastischen Freundschaft mit Goethe. Vgl. dazu Schüddekopf 1908, der die Begebenheit aus den Briefwechseln rekonstruiert und den von Anna Amalia veranlassten Privatdruck der Woldemar-Parodie neu ediert hat. Bemerkenswerterweise jedoch stellt Jacobi seiner zweiten Fassung des Woldemar von 1794 eine sehr persönlich gehaltene Zueignung an Goethe voran, in der er sich auf ihre lange Freundschaft und Goethes Anteil am Woldemar beruft und die erste Fassung kritisch kommentiert. Den Schluss lässt er nun nicht mehr gelten: »Vornehmlich empörten mich die letzten Blätter, und ließen mir einen solchen unerträglichen Nachgeschmack, dass ich gern mit einem Zauberschlage das kleine Ungeheuer vernichtet hätte, wenn es in meiner Macht gewesen wäre.« Jacobi 1980, S. XIIf.

mar ebenfalls mit einer Parodie: In seiner berühmt gewordene Rezension des Woldemar nimmt er Jacobis romantheoretische Absichtserklärung auf und bilanziert, dass es sich bei den dargestellten Charakteren nicht um »Menschheit«, sondern allein um »Friedrich-Heinrich-Jakobiheit« handle.25 Provokativ am Woldemar war vor allem die Behandlung der Thematik von Freundschaft und Liebe, Friedrich Schlegel hielt die entworfene Freundschaft zwischen den Geschlechtern – darin ganz dem traditionellen Diskurs verhaftet – für ein Ding der Unmöglichkeit. Jacobi ist in diesem Punkt tatsächlich originell, dies muss für einen Romancier festgehalten werden, dem in der Literaturgeschichte das Etikett des Epigonalen anhaftet und Anerkennung allein seiner philosophischen Texte wegen gewiss ist. Der Konflikt des Woldemar resultiert nicht aus der Geschlechterkonstellation des zentralen Freundschaftspaars, sondern aus dem Exklusivitätsanspruch dieser Freundschaft. Den erwartbaren Konflikt der sinnlichen Liebe bei der Freundschaft zwischen den Geschlechtern lässt Jacobi nicht aufkommen, sondern verhindert ihn mit dem genderdifferent schon vielfach bewährten Muster der Dreierkonstellation:26 Zwei Freundinnen teilen sich den Mann, die eine ist ihm Gattin, die andere Seelenfreundin. Ohne Zweifel hat Jacobis Woldemar bei seinem Erscheinen Aufsehen erregt und neben dem vernichtenden Spott auch enthusiastischen Zuspruch erfahren.27 Jean Paul jedenfalls als bekennender Jacobi-Bewunderer bricht in der Loge eine Lanze für den Verfasser des Allwil und des Woldemar: In einer Fussnote nennt er den Woldemar »das Beste, was noch über und gegen die Enzyklopädie geschrieben worden« und zeigt sich gar nicht einverstanden mit dem »Anbellen« der Kritik, »unter welchem Jakobi in den Tempel des deutschen Ruhms treten musste«. (I/1,152) Anlass für die Fußnote ist ein poetologisches Gleichnis, in dem ein Rezept für das Kochen »schriftstellerischen Blätterwerks« gegeben wird: »mit einem Pfund Leib-

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KFSA II, S. 57–77, hier S. 68. Friedrich Schlegels Rezension erschien erstmals in der Zeitschrift Deutschland, 3. Bd. 8. Stück. Sept. 1796, S. 185–213. Vgl. zum Modell des Dreiecks von zwei Freunden und einer Frau: Meyer-Krentler 1982, S. 237f., 1984, S. 12, sowie ausführlicher dazu weiter unten, Kap. 3.1.2.1. Enthusiastisch bis zustimmend auf die erste Fassung reagierten beispielsweise Wieland und Lessing, vgl. das Nachwort von Heinz Nicolai (1969) zum Faksimiledruck des Woldemar von 1779, S. 15ff. Beifall zollten auch Georg Forster und Justus Möser, vgl. Hansen 1997, S. 151f. Auf die zweite, philosophische Fassung reagierten positiv neben Wilhelm von Humboldt, dessen Woldemar-Rezension von 1794 Schlegel zu seinem Verriss anstiftete, unter anderem Fichte und Hegel; so fungiert der Woldemar als Subtext des Kapitels »Das Gewissen. Die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung« der Phänomenologie des Geistes, vgl. Sandkaulen 2001, S. 653. Leider lassen sich solche Zusammenhänge bei Bechmann 1990, der im Titel eine rezeptionsästhetische Untersuchung des Woldemar anhand der zeitgenössischen Kritik ankündigt, nur bedingt nachvollziehen, da der Sachverhalt selbst jeweils als bekannt vorausgesetzt wird. Zu den Verflechtungen literarischer und literaturkritischer Freundschaftsverhandlungen und persönlicher Freundschaftsbeziehungen im Umfeld von Jacobis Woldemar vgl. auch Baum 1985, sowie Götz 2008, S. 89ff., bes. S. 111ff. und 158ff.

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nizscher, Rousseauischer, Jakobischer Gedanken« lassen sich, so der Erzähler der Loge, »ganze Schiffkessel voll« Literatur füllen. (I/1,152)28 Bemerkenswert daran ist, dass Jean Paul hier beim Nennen seiner wichtigsten Gedankenanreger den Namen Jacobis für erläuterungsbedürftig hält: »Friedrich Jakobi in Düsseldorf«. Anders als Rousseau und Leibniz versteht sich Jacobis Name offenbar nicht von selbst, obwohl Jacobi seit 1785 fraglos eine wichtige Rolle im zeitgenössischen Diskurs spielte.29 Die Bedeutung Jacobis für Jean Paul ist von der Forschung schon vielfach belegt worden und wird aus dem 1798 von Jean Paul initiierten Briefwechsel auch unmittelbar evident. Ausgehend von Jean Pauls Äußerung, die Rezeption von Jacobi habe einen Umbau seines gesamten philosophischen Gebäudes bewirkt,30 ist dabei vor allem die Bedeutung von Jacobis philosophischen Schriften für Jean Paul hervorgehoben worden. Die Fußnote der Loge macht aber deutlich, dass Jacobi für Jean Paul auch als Literat wichtig ist, werden die literarischen Werke hier doch vor den philosophischen genannt.31 Deutlich zeigt dies auch der § 72 der Vorschule, der den Woldemar in der Aufzählung ›hoher Romane‹ an dritter Stelle direkt nach den in der zeitgenössischen Rezeption ungleich bekannteren Werther und Geisterseher führt. (I/5,253)

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Als Erzähler fungiert an dieser Stelle Fenk, dessen Zeitungsartikel über unvollkommene Charaktere ›Jean Paul‹ für seine Biographie erstanden und eingeflochten hat, vgl. I/1,155. Für Aufregung im intellektuellen Leben seiner Zeit sorgte Jacobi durch seinen öffentlich gemachten Religionsstreit mit Mendelssohn: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (1785), vgl. Jacobi, Schriften zum Spinozastreit, Werke, Bd. 1, 1998. Zur Bedeutung Jacobis im geistigen Leben seiner Zeit, vgl. Hammacher 1971. In der ersten Auflage der Loge von 1793 findet sich die erklärende Fußnote noch etwas kürzer, die Formulierung um das »Anbellen« der Kritik und die Parallelisierung Jacobis mit »Kraftgeister[n]« wie »Klopstock, Goethe, Herder« ist ein Zusatz der zweiten Ausgabe, in der ersten gedenkt Jean Paul an dieser Stelle allein Hamanns, vgl. Pauler 1981, S. 167. Vgl. Jean Pauls Brief an Pfarrer Vogel vom 16. Februar 1789, SWIII/1,257: »Wenn Sie ein Buch begehren, das mein ganzes philosophisches Gebäude umgebauet hat und dessen Tiefsin und Behauptungen gleich selten sind: so kaufen Sie…«. Der Titel besagten Buches bleibt jedoch ausgespart, Schmidt-Biggemann bezieht die Stelle auf Jacobis Spinoza-Buch von 1785, Köpke auf das Kant-Buch David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus von 1787. Vgl. Schmidt-Biggemann 1975, S. 268ff., Köpke 1977, S. 226ff. Zu Jean Pauls Jacobi-Rezeption vgl. auch Müller 1983. In der neueren Forschung betonen die Bedeutung Jacobis für Jean Paul vor allem Goebel 2002 und – anhand des philosophischen Briefwechsels zwischen Jean Paul und Jacobi – Bergengruen 2003, S. 112ff. Bei diesem Argument geht es nicht darum, einen exklusiven Gegensatz der Textsorten Literatur und Philosophie zu konstruieren. Das wäre bei einem Autor, der gemeinhin als ein philosophischer gilt, unsinnig. Vielmehr geht es um Präzision: Die erste Fassung des Woldemar von 1779, auf die sich meine Analyse als einen möglichen Intertext zur Loge bezieht, ist in erster Linie ein literarischer und kein philosophischer Roman, wie es die zweite Fassung von 1794 dann zweifelsohne darstellt.

Im Sinne der Rezeptur für das literarische Blätterwerk soll nun Jacobis Woldemar einer exemplarischen Lektüre unterzogen werden.32 Rezeptiert werden sollen in diesem Sinne vor allem die Verbindungen zwischen Geschwisterschaft und Freundschaft, wie sie sich spezifisch bei Jacobi und grundsätzlicher vor der diskurshistorischen zeitgenössischen Konstellation darbieten.33 Ausgangspunkt der Handlung von Jacobis Woldemar ist eine Überkreuzstellung von Freundschaft, Ehe und Geschwisterschaft: Die Schwestern Caroline und Luise Hornich heiraten ein Freundespaar, Carl Dorenburg und Biederthal, wobei letzterer für die Heirat einen Berufswechsel vornehmen muss, was er mit Hilfe seines Freundes tut. »Das glückliche Leben dieses doppelten Paars« vollzieht sich in wechselseitiger Ergänzung: fehlt etwas, so findet sich dieses »beym Bruder«. (15)34 Über die Heirat sind die Freunde nun miteinander verwandt und diese Verwandtschaft – eigentliche eine Schwägerschaft – wird mit dem Namen des Bruders benannt.35 Eine »Hauptstütze dieser schönen Verfassung« (15) ist die unverheiratete Schwester von Caroline und Luise, Henriette. Sie erprobt die Eherolle »[o]hne Tumult der Leidenschaft, [… s]o ganz frey und heiter, mit dem ungetrübten Sinn, mit der reinen Phantasie einer Jungfrau, dennoch so ganz befangen – blos aus himmlischer Liebe«, (20) indem sie ihrem alten Vater den Haushalt führt und damit in liebendem Wettstreit mit den Haushaltsführungen ihrer Schwestern steht. Als Partner für sie ist vom Plot die Titelfigur Woldemar vorgesehen, der jüngere Bruder Biederthals. Welcher Art nun aber ihre Beziehung sein soll, ist Gegenstand der Verhandlungen: Freundschaft, Liebe oder – und hier wird es von der verwandtschaftlichen Konstellation her eine narrative Herausforderung – Geschwisterschaft.

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Neu ist diese Verbindung in der Forschung nicht, wenn sie auch bisher nicht ausgeführt worden ist, schon Rasch, 1929, nennt den Woldemar einen wichtigen Intertext für Jean Paul. Der Woldemar seinerseits nimmt mit deutlichen intertextuellen Signalen auf Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloïse (1761) Bezug, ein Bestseller des 18. Jahrhunderts, von dem schon im Erscheinungsjahr eine deutsche Übersetzung vorlag und dessen Stoff ja auch Jean Paul 1781 zu seinem ersten »Romängen« Abelard und Heloise angeregt hatte. (II/1,172) Schon der Titel Woldemar ist bei Jacobi eine Anspielung auf Monsieur de Wolmar, der zusammen mit Julie und Saint-Preux bei Rousseau eine Freundschaftsidylle realisiert, in der ebenfalls beide Geschlechter vertreten sind. Diese Bezüge weist Hammacher 1990, bes. S. 180ff. nach. Die Zitate des Woldemar werden mit Seitenangabe im Text belegt und folgen dem von Heinz Nicolai hg. Faksimiledruck der ersten Buchausgabe von 1779, Stuttgart 1969. Dies ist im zeitgenössischen Sprachgebrauch durchaus möglich, wenn auch das Deutsche – anders als das Englische (brother-in-law) und Französische (belle-soeur) – für die Verwandtschaft durch Heirat den auf einem anderen Wortstamm beruhenden Begriff der Schwägerschaft kennt. Vgl. dazu die Art. »Bruder«, »Schwester«, »Schwager«, »Schwägerin« bei Adelung, Bd. I (1793), Sp. 1215f., Bd. III (1798), Sp. 1703f., 1747f. und Grimm, Bd. 2 (1860), Sp. 417ff., Bd. IX (1899), Sp. 2176ff., 2594ff.

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Doch vorerst wird Woldemar vor allem erwartet. Dies ergibt Gelegenheit für empfindsame Gespräche über Beziehungen und Emotionen: »Wahrhaftig! brach Biederthal einmahl in seiner Entzückung aus, es ist doch keine rechte Freundschaft, als nur unter zween solchen Brüdern!« (23) Wie bei Montaigne wird hier Freundschaft mit dem Namen des Bruders verbunden, doch ganz im Gegensatz zu Montaigne steht dafür der eigentliche Bruder Pate, der im ausgehenden 18. Jahrhundert grundsätzlich positiv besetzt ist. Ein an den Bruder gerichteter Brief, der an Woldemars statt ankommt, wiederholt diese Engführung von Geschwisterschaft, Liebe und Freundschaft emphatisch und stellt klar, warum der eigentliche Bruder dafür prädestiniert ist, auch der ›wahre‹ Freund zu sein: Ich liebte Dich immer von Grund der Seele, […] aber was ist das, […] gegen das, was Du für mich gelitten […]; dachtest nie von ferne nur, daß ich die Bruder-Treue verletzen, den Bund unserer Freundschaft brechen könne – Engel! – Und so muß es gehen, wenn Liebe zu Freundschaft empor kommen soll. Lieben – bis zur Leidenschaft, kann man jemand in der ersten Stunde, da man ihn kennen lernt; aber Eines Freund werden – das ist ein ander Ding. Da muß man erst oft und lang in dringende Angelegenheiten miteinander verwickelt seyn, sich vielfältig aneinander erproben, bis gegenseitig Wesen und Thaten zu einem unauflöslichen Gewebe sich in einander schlingen, und jene Anhänglichkeit an den ganzen Menschen entsteht, die nach nichts mehr fragt, und von sich nicht weiß – weder woher noch wohin. (33f.)

Es ist die mit der Geschwisterschaft verbundene Gemeinsamkeit des Erlebens, die Kontinuität und Stabilität der Beziehung, die diese modellhaft für einen Freundschaftsbund werden lässt, dessen Qualität sich erst in der Zeit und in Kenntnis des »ganzen Menschen« erweisen kann. Die Hierarchie der von Woldemar hier verhandelten Beziehungen scheint klar: Die Freundschaft überragt die affekthaltige Liebe und die per se gegebene Brudertreue. Doch da die Freundschaft in Modi der Geschwisterschaft beschrieben wird, sind die Grenzen dazwischen fließend. In seinem Brief skizziert Woldemar eine identifikatorische Freundschaft respektive Geschwisterschaft, in der »gegenseitig Wesen und Thaten zu einem unauflöslichen Gewebe sich in einander schlingen«. Der Textverlauf wird dies als eine Projektion entlarven: Biederthal und Woldemar sind sehr verschieden voneinander und brauchen umfangreiche Erklärungen, um sich gegenseitig zu verstehen. Es ist also nicht die bestehende Beziehung zu seinem Bruder und Freund, sondern vielmehr sein auf Geschwisterschaft abgebildetes Freundschaftsideal, das hier entworfen wird. Dass dieses auf Identifikation zielt, verspricht einiges an Brisanz, denn der Text verwirklicht Woldemars »Traum von Freundschaft« (131) ja in einer gegengeschlechtlichen Konstellation. Der Erhalt des Briefes wird mit einem Fest gefeiert, dessen Höhepunkt in empfindsamer Manier das Vorlesen des Briefes ist. Davon ist niemand gerührter als Henriette, und Biederthal sieht schon die Verbindung kommen: »Liebe Henriette! wenn Sie noch einmahl, wenn sie zum zweytenmahl meine Schwester würden!« – Das nicht, erwiederte Henriette, – wie Sie es verstehen, nicht; aber meiner Clarenau gönnte ich den Mann, und nur diesem Mann meine Clarenau – an mir soll er

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eine Schwester finden; und glauben Sie mir, Biederthal, darum ist ihm mehr Noth, als um eine Geliebte. (39)

Im Namen der Schwester werden hier Beziehungsformen zwischen den beiden Hauptfiguren entworfen: von Biederthal eine über Heirat gestiftete doppelte Schwesternschaft zwischen ihm und Henriette, und von dieser das Modell einer Seelengeschwisterschaft, die zugleich die Erfüllung sinnlicher Liebe und häuslicher Pflicht mit einbedenkt und dafür die beste Freundin vorsieht. Das von Henriette entworfene Szenario wird schließlich eintreffen. Doch die damit gegebene Dreieckskonstellation interessiert im Erzählfortgang nur in ihren Interferenzen mit den »guten Leute[n]« (168) der bürgerlichen Öffentlichkeit. Im Zentrum steht die Entwicklung der Seelengeschwisterschaft zwischen Henriette und Woldemar. In vielen kleinen Episoden des täglichen Beisammenseins im Kreise ihrer Geschwister ›erkennen‹ sich die beiden und sehen ihre gegenseitigen Erwartungen »sich erfüllen«, so dass schließlich »Empfindung die Stätte« einnimmt, »welche Ahndung bereitet hatte«: (52) »Es dauerte keine zwey Jahre, da waren beyde Seelen so ganz von einander durchwittert, waren miteinander in so geheime durchgängige Befassung gerathen, daß sie nie in etwas sich mißverstanden.« (58) Hier findet sich die genaue Einlösung dessen, was Woldemar in seinem Brief als Freundschaftsideal entworfen hat: Ein über die Zeit und das stete Beisammensein entwickeltes »unauflösliche[s] Gewebe« von in einander geschlungenen »Wesen und Thaten«. (34) Die Identifikation in der Freundschaft geht so weit, dass die Freundin in Woldemars Namen seine Briefe, »auch die von dem vertrautesten Inhalt«, (59) beantworten kann. Damit erfüllt die Beziehung mit Henriette Woldemars »alten Traum von Freundschaft«, der sich – sieht man vom Faktor Geschlecht ab – auf die Freundschaftsphilosophie des Aristoteles zurückführen lässt:36 »Eins werden und bleiben«. (131f.) Für die Vereinigung der Geschlechter steht im kulturellen Wissen und der sozialen Praxis der Zeit jedoch die Ehe, nicht die Freundschaft. Diese Erwartung wird folgerichtig auch an das Freundespaar herangetragen. Als liebende Freunde und Seelengeschwister stellen sie im empfindsamen Diskurs geradezu die idealen Ehepartner dar, basiert das empfindsame Eheideal doch nicht auf der Reproduktionsgemeinschaft oder der Kanalisierung von Sexualität, sondern einer asexuellen Neigungspartnerschaft. Beide lösen die Komplikation, indem sie ihre Beziehung als diejenige von Geschwistern bezeichnen. Henriette hatte dies ja schon vor ihrer ersten Begegnung mit Woldemar so projektiert, und auch Woldemar reagiert auf die Anfrage seines Bruders Biederthal mit derselben Strategie. Doch während sich Henriette selbst als eine ›Schwester‹ versteht, streicht Woldemar ihre Gendermar-

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Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik (Werke, Bd. 6), 9. Buch, Kap. 4, a30ff; Kap. 9, b5ff. Der aristotelische Freundschaftsdiskurs wird vor allem für die zweite Fassung des Woldemar wichtig, der neu erarbeitete Schluss enthält ein längeres philosophisches Gespräch dazu.

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kierung durch und setzt damit möglichen Heiratsprojekten gleich einen doppelten Riegel vor. »Sieh Lieber«, antwortet Woldemar auf die einschlägige Anfrage seines Bruders, »ich bin mir nicht bewußt, je nur inne geworden zu seyn, daß Henriette zu dem anderen Geschlecht gehört, geschweige daß ich eine Leidenschaft für sie empfunden hätte, oder noch empfände. […D]aher kam mir der Einfall, Henrietten manchmahl Bruder Heinrich zu nennen«. (65) Die Benennung der Freundin Henriette mit dem Namen »Bruder Heinrich« entschärft mehrere mögliche Konflikte: Zum einen wird geschlechtliche Leidenschaft37 durch die Geschwisterbeziehung und die Geschlechtertransposition gleich zweifach gebannt, zum andern wird die im Freundschaftsideal wirkende Logik der Identifikation mit dem gendercrossing Henriettes für Woldemar einlösbar und zum dritten wird die vom tradierten Freundschaftsdiskurs beargwöhnte Freundschaft zwischen den Geschlechtern durch den Geschlechterwechsel in den Kanon zurückgeführt. Dass sich diese Rückbindung über den Namen des Bruders vollzieht, macht nochmals die doppelte Grundlegung der Verbindung von Geschwisterschaft und Freundschaft des Woldemar transparent: Textintern sind es die leiblichen Brüder Biederthal und Woldemar, die über das gemeinsame Heranwachsen und Erleben dafür Modell stehen, diskurshistorisch ist es die gegenseitige Überschreibung von Freund und ideellem Bruder, wie sie besonders wirkungsmächtig von Montaigne vollzogen worden ist. Die bei Henriette durchgestrichene Weiblichkeit und potenzielle Sinnlichkeit erhalten in der Ehe von Woldemar und Allwina ihren zugehörigen Ort. Henriettes Freundin Allwina, deren Charakter vom Text bisher kaum entwickelt worden ist, gilt Woldemar nun als sein »Urbild von reinem weiblichen Character« und als »Ausbund ihres Geschlechts«. Henriettes Genderrolle dagegen bleibt Woldemar gegenüber weiterhin prekär: Sie ist für ihn »eben so wenig Mädchen als Mann« sondern »die Eine Einzige Henriette«. (144f.) In einem erklärenden Brief an seinen Bruder

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Die Abwesenheit von Leidenschaft als wichtiges Kennzeichen der Beziehung von Woldemar und Henriette und darüber hinaus auch als Charakterzug Henriettes ist ein zentrales Thema des Romans. Schon in der ersten Fassung versichern sich Henriette und Woldemar über ein »ordentliches Platonisches Gespräch« (139) gegenseitig darüber. Selbst für die Ehe zu Allwina gilt die Formel der Liebe ohne Leidenschaft: »Nie hatte jemand auf diese Weise Theil an ihm genommen, so wunder lieb und lauter, so aus ganzer Herzens-Fülle, bis zur blinden Partheilichkeit, und doch ohne weiter eine Spur von Leidenschaft«. (111) Wie Klaus Hammacher zeigt, gründet sich dieses Konzept in der ersten Fassung philosophisch auf die cartesianische Affektenlehre. Da diese in Deutschland im Unterschied zum Platonismus weitgehend unbekannt war, erschien der Rezeption Jacobis Konstellation der Hauptfiguren (die jenen »blöde[n] Enthusiasmus, den wir Platonische Liebe zu nennen belieben«, S. 143, ja explizit verneinen) in einem schiefen Licht. In der Fassung von 1794 greift Jacobi für den Komplex der Liebe ohne Leidenschaft dann auf die von ihm inzwischen rezipierte Lehre Fénelons von der amour pur zurück; Fénelons reine Liebe bewährt sich dadurch, dass sie weder Begehren noch Selbstliebe kennt. Vgl. Hammacher 1990, S. 181ff.

sucht Woldemar nach Kriterien der Zuordnung dieser einzigartigen Beziehungsform und findet sie wiederum im Geschwisterdispositiv: Wir näherten uns einander von Tage zu Tage mehr; und von Tage zu Tage wurde die Entzündung einer gemeinen Liebe unter uns unmöglicher. Der bloße Gedanke daran wäre zuletzt mir ein Gräuel gewesen; ein Gräuel wie von Blutschande. […] Jene äußerliche Zurückhaltung, die Henrietten und mir, als zwey unverheyratheten Personen, die keine Blutsfreunde sind, gegen einander oblag, durfte nunmehr wegfallen, und that es sehr bald: wir wurden Bruder und Schwester, – ganz, und wie von Mutterleibe an. – (143, 147)

Woldemar schließt seine Beziehung zu Henriette also nicht nur im Allgemeinen an das Geschwisterdispositiv an, sondern substituiert bedeutend radikaler eine eigentliche Geschwisterschaft: »ganz, und wie von Mutterleibe an«. Damit wird das Inzesttabu wirksam, das die von allen Seiten unterstellte geschlechtliche Liebe zwischen den beiden wirksam verunmöglicht: »die Entzündung einer gemeinen Liebe« wird unter dieser Präsupposition zu einem »Gräuel wie von Blutschande«. Diese Transposition des Geschwisterempfindens aus einem – nach Adelung – ›weiteren‹ Sinn in eine ›eigentliche‹ Geschwisterschaft ist im empfindsamen Kontext für eine definitive Klärung der Beziehung unabdingbar, denn die Rezeptionsgewohnheiten gehen von einem hohen Transferpotenzial zwischen mit dem Namen von Geschwistern bezeichneter und ehelicher Liebe aus, da sich die beiden Liebescodes in ihrer Asexualität aneinander angeglichen haben.38 Frei von Leidenschaft, in einem ausgeglichenen »Mittel-Zustand« (139) ist die Beziehung zwischen Woldemar und Henriette hinsichtlich Geschlecht und Sexualität, nicht aber in Bezug auf den Exklusivitätsanspruch, wie die Formulierung »die Eine Einzige Henriette« (145) unmissverständlich zeigt. Und an diesem Punkt erweist sich das Geschwisterdispositiv als nicht mehr tragfähig. Zwar ist das spezifische Geschwister also solches unersetzlich, wie die sophokleische Antigone überzeugend und ihre Fortschreibungen nachhaltig festgehalten haben.39 Doch ein Exklusivitätsanspruch ist mit der Geschwisterschaft grundsätzlich unvereinbar, eröffnet das Geschwister doch eine Reihe, auf die das ego selbst keinen Einfluss hat. Denn anders als bei der Freundschaft, deren Agenten, Anzahl und Dauer das ego bestimmen oder zumindest beeinflussen kann, sind Geschwister in all diesen Hinsichten existenziell gegeben. Lässt sich wahre Freundschaft über die Wahlfreiheit und in der Beschränkung auf die Einzahl definieren, wie das Montaigne tut, 40 so verbietet sich dies für die Geschwisterschaft: Ein Exklusivitätsanspruch auf ein Geschwister ist stets von der Möglichkeit der Erweiterung der Reihe und der Vertrautheit mit Agenten desselben Status bedroht. Aus dieser Unvereinbarkeit von

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Vgl. Teil I, Kap. 2.3.1, Teil II, Kap. 2.1 und Frei Gerlach 2003. Vgl. Teil I, Kap. 1.1. Auch Derrida diagnostiziert »eine bestimmte Singularität« bei der Freundschaft: »Ein Freund ist stets der Freund«. Derrida 2000, S. 416.

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Geschwisterschaft mit Exklusivität erwächst im Woldemar der Konflikt, der die Seelengeschwisterschaft zum Zusammenbruch führt, der nur – zumal in der ersten Fassung – bedingt gekittet werden kann. Auf Drängen ihrer leiblichen und angeheirateten Geschwister gibt Henriette dem letzten Wunsch ihres Vaters nach, zu versprechen, dass sie Woldemar nie heiraten werde. Der alte Hornich rückt auch auf dem Totenbett nicht von seinem Vorsatz ab, keine seiner Töchter einem Gelehrten zur Frau zu geben; dies war seinerzeit auch die Ursache für Biederthals Berufswechsel. Nach einigem Zögern erklärt Henriette feierlich, »daß sie ihrem Freund und Bruder Woldemar, den sie unter allen Menschen am höchsten schätze, nie als Gattinn angehören wolle«. (104) Inhaltlich bestätigt sie damit den Status ihrer Beziehung zu Woldemar. Doch das Versprechen selbst bleibt ein Familiengeheimnis, aus dem Woldemar als nur substituierter Bruder ausgeschlossen ist. Als er davon erfährt, führt diese Entdeckung zur Krise seiner Beziehung mit Henriette und schließlich zum Zusammenbruch seines empfindsamen Freundschaftsideals. Zwar verletzt das Geheimnis inhaltlich keine der zwischen Woldemar und Henriette getroffenen Vereinbarungen, selbst das Exklusive der Beziehung hat Henriette in der Apposition zum »Bruder Woldemar« noch mit eingeflochten. Doch die Tatsache, dass Henriette mit ihren eigentlichen Geschwistern ein Geheimnis teilt, bringt eine »Ungleichheit« (174) in die Beziehung zu ihrem substituierten Bruder, die dessen Logik der Identifikation in ihr Gegenteil verkehrt: Als ob! …. Das war Täuschung also – daß wir Ein Herz, Eine Seele, – Eins in allem uns fühlten? Ich muß aus mir herausgehen, als aus einem Fremden, und mich in ihre Stelle versetzen! Versetzen! – Henriette ist mir ein anderer; Henriette ist wider mich. (194)

Mit Ausgreifen der eigentlichen Geschwister in die inneren Belange der substituierten Geschwisterschaft41 kippt die Logik der Identifikation in eine der Alteration: »Henriette ist mir ein anderer«. Eine Logik der Alteration, die zugleich feindschaftlich interpretiert wird: »Henriette ist wider mich«. Damit ist der Seelengeschwisterschaft aus Woldemars Perspektive der Boden entzogen. Ganz in seine Empfindungen versunken, ob der Erschütterung seiner Vorstellungen dem Wahnsinn nahe, wirft Woldemar mit Henriette seine ganze Freundschaftsphilosophie über Bord. In einem unabgeschickten Brief, in dem er sich in »tieffste Schwermuth versunken« (237) bezeichnet, schreibt er an Allwina, die solche Zeilen ja auch auf sich beziehen könnte: Ich hab’ entdeckt, daß alle Freundschaft, alle Liebe nur Wahn ist, Narrheit ist – ausgenommen dem Narren – – […] Woher nur die Sage unter die Leute gekommen seyn mag – das allgemeine Gerücht von Liebe, von Freundschaft? – – Es ist wie mit den Gespenstern, deren überall so viele gesehen worden sind. Gerade so! (238, 240)

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Die Geheimhaltung geschieht auf ausdrücklichen Wunsch von Henriettes Geschwistern und insbesondere von Woldemars Bruder Biederthal.

Das Gespenst der Freundschaft und Liebe, die in diesen Formulierungen des Schwermütigen Hand in Hand gehen, wird von der standhafteren Henriette wieder in Kontakt mit der Wirklichkeit gebracht: Ihr Freundschaftsempfinden bewährt sich mit beharrlicher »Zärtlichkeit« und »durchgängiger Harmonie der Empfindungen« (251), so dass Woldemars »Herz« zum Schluss des Textes »in einem guten Verbande lag« (250) und Heilungschancen nicht ausgeschlossen werden. 42 Doch mit einem Hinweis auf erneute und diesmal wohl nicht bewältigbare Bewährungsproben für Woldemar und Henriette schließt der erste Band und mit ihm das ursprünglich auf drei Bände angelegte Fragment. Das Projekt des Woldemar, die wahre Freundschaft allein auf das Gefühl zu gründen, steht und fällt mit der Standhaftigkeit der psychischen Disposition: Während sich Henriette in einem harmonischen Mittel-Zustand ihrer Empfindungen bewährt, verliert sich Woldemar ins Grenzenlose der Gefühle und fällt von höchster Erfüllung in tiefste Verzweiflung. 43 Die Stabilität und Kontinuität, die die substituierte Geschwisterbeziehung dagegen aufbieten könnte, wird nur auf Seiten Henriettes wirksam, die sich von vornherein und unbeirrbar als ›Schwester‹ versteht. Woldemar führt dagegen mit der Logik der Identifikation und dem Exklusivitätsanspruch Aporien in das Geschwistermodell ein, die dieses dermaßen destabilisieren, dass es seine Stützfunktion notwendig verlieren muss. 3.1.2

»Herzensmilchbrüder«: Freundschaften in der Loge

Die Ingredienzien, die die Rezeptur von Jean Pauls Unsichtbarer Loge aus dem Woldemar weiterverarbeitet, sind die isolierten Verhandlungen um Freundschaft, Geschwisterschaft, Liebe und Geschlecht, die Problematik um die Logik der Identifikation, den Exklusivitätsanspruch und die Anzahl möglicher Freunde. Dies alles sind Szenarien, die im Woldemar nicht exklusiv, sondern exemplarisch verhandelt werden und sich in vielfältigen Formen auch in anderen zeitgenössischen Diskursträgern finden. Was die Loge mit dem Woldemar aber besonders verbindet und zugleich von anderen Texten abhebt, ist die Persistenz, mit der Freundschaft und Geschwisterschaft aufeinander verweisen. Dies sei nun für die Loge genauer skizziert. Die handelnden Figuren der Loge sind untereinander mannigfach freundschaftlich verbunden und soziale Beziehungen unterschiedlicher Art werden mit dem Begriff der Freundschaft bezeichnet. So gibt es Jünglingsfreundschaften, Mädchenfreundschaften, die Freundschaft zwischen Erzieher und Schüler und den

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Die Metaphorik vom verwundeten und verbundenen Herzen ist eine, die bei Jean Paul wiederkehrt und den intertextuellen Verweisungszusammenhang bestärkt, vgl. z.B. I/1,1008: »Denn Viktor, dessen Herz bei der geringsten Bewegung wieder den Verband durchblutete«. Jacobi greift damit, wie in der Forschung wiederholt bemerkt worden ist, die innere Daseinsproblematik des Sturm und Drangs am Beispiel des genialen Außenseiters kritisch auf, vgl. u.a. das Nachwort von Nicolai in Jacobi 1969, S. 14f.

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Freundschaftsbund der Logenbrüder. Darüber hinaus bezeichnet sich das liebende Paar, Beata und Gustav, wiederholt als Freund und Freundin und schließlich ist Fenk mit den »meisten Einwohner[n] dieses Buches« (I/1,228) befreundet. Nicht nur zwischen Gustav und Beata, sondern in allen Freundschaftsbeziehungen der Hauptfiguren wirkt die Liebe, darin ist die Loge ganz dem empfindsamen Diskurs verhaftet. Prototypisch dafür steht Amandus, Gustavs Jugendfreund, der das Geliebtwerden programmatisch im Namen führt. 44 Über die Liebe ist auch die Geschwisterschaft aufs engste mit der Freundschaft verbunden: Die innergenerationellen Freundschaften nehmen alle auf das Geschwisterdispositiv Bezug.45 So ist die erste Bezeichnung, die der Text von der Beziehung zwischen Gustav und Amandus gibt, diejenige von »Herzensmilchbrüdern«. (I/1,95) Eine Erzählregel aus dem Titan aufnehmend und variierend, lässt sich sagen, dass die Figurenkonstellationen der Loge »kreuzweise verschwistert und« befreundet sind. 46 Umso stärker ins Gewicht fällt darum die Ausnahme: Doktor Fenk. Seine Freundschaften lassen sich nicht unter das Geschwisterdispositiv subsumieren und nehmen höchstens indirekt darauf Bezug. Vor allem aber gründen sie nicht auf den üblichen Kriterien des Freundschaftsdiskurses: Als »humoristische[s] Quecksilber« und »moralischer Optimist« (I/1,228) ist die Beziehungsfähigkeit Fenks gerade nicht über Selektion, Empathie, Identifikation und Singularität motiviert, sondern setzt im Gegenteil auf Totalität, Distanz, Differenz und Alterität. Dennoch attestiert ihm der Text in Freundschaftsdingen jene »Wärme des Herzens«, (I/1,228) die seine Freundschaften fraglos zu wahren macht. Denn neben den wahren Freundschaften der Männer, den seichteren der Mädchen47 und den prekären zwischen den Geschlechtern gibt es auch die unechten, die mit dem Namen der Freundschaft nur Eigennutzen bemänteln. Diese sind im Umfeld des Hofes angesiedelt, der Gegenwelt zum idyllischen Freundschaftszirkel der Hauptfiguren. Doch auch sie greifen rhetorisch auf das Vokabular des Freund44

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Wie in der Forschung schon wiederholt festgestellt worden ist, verwendet Jean Paul trotz seiner gegenteiligen Empfehlungen der Vorschule (vgl. I/5,270) selbst öfter sprechende Namen. Nicht im Geschwisterdispositiv verortet ist die Freundschaft zwischen Lehrer und Schüler: Die Beziehung zwischen dem Hofmeister ›Jean Paul‹ und Gustav ist klar vertikal strukturiert und beruft sich auf dieser Grundlage auf die Freundschaft. Weniger deutlich ist dies zwischen Gustav und seinem ersten Erzieher Genius: Zwar ist die Erziehungsstrategie ganz der Vertikalen, der Ausrichtung auf die Transzendenz verschrieben. Doch über die Vorarbeiten, die Genius mit Gustavs Halbbruder Guido zusammengedacht haben, ist der Beziehung zwischen Genius und Gustav ein Moment des Geschwisterlichen inhärent. Vgl. ausf. dazu Teil II, Kap. 1.1. Vgl. I/6,376: »Es sollte daher immer ein Paar Paare geben, kreuzweise verschwistert und liebend«. Zu dieser Erzählregel und ihrer Umsetzung im Titan vgl. Teil III, Kap. 2.2. In diesem Punkt setzt sich das weibliche Freundschaftspaar der Loge, Beata und Philippine, von den gewöhnlichen Mädchenfreundschaften ab, vgl. I/1,197: »Die Freundschaft der Mädchen besteht oft darin, dass sie einander die Hände halten oder einerlei Kleiderfarben tragen: aber diese hatten lieber einerlei freundschaftliche Gesinnungen.«

schaftsdiskurses und freundschaftlichen Empfindens zurück. Ein erstes Beispiel für die unechten Freundschaften und ihre diskursive Einpassung gibt Röper, Beatas Vater. Da es der Lebensbeschreibung an »echten Schelmen merklich« fehlt, hat der Erzähler ein Romanversatzstück erhandelt, in dem der »unvollkommne Charakter« skizziert wird, der auch »biographisch unter dem Namen Röper« existiert, und gleich in den Text eingefügt. (I/1,155) Autor der Abhandlung »Ein unvollkommner Charakter, so für Romanenschreiber im Zeitungskomptoir zu verkaufen steht« (I/1,149) ist Fenk, der gleich eingangs klar stellt, warum der unvollkommene Charakter von Autoren erworben werden muss, sofern sie ihn nicht selbst erfinden können: Im Roman gefallen wie in der Welt keine vollkommen-gute Menschen; aber auch auf der andern Seite wird einer weder Lesern noch Nebenmenschen gefallen, der ganz und gar ein Schelm ist – bloß halb und dreiviertel muß ers sein, wie alles in der großen Welt, Lob und Zote und Wahrheit und Lüge. (I/1,149)

Unvollkommene Charaktere sind also eine erzählerische Notwendigkeit, soll der Roman erfolgreich sein. In Freundschaftsdingen glaubt der unvollkommene Charakter »mit Montaigne, man könne nicht mehr als einen Freund […] recht lieben« und setzt dies an »einer einzigen Person, die er unter allen am höchsten schätzte« um, an »seiner eignen«. Das Konzept der Identifikation in der Freundschaft, wie es bei Montaigne entworfen und in Jacobis Woldemar verhandelt wird, ist hier konsequent ausgereizt. Auch die Uneigennützigkeit freundschaftlicher Liebe, im empfindsamen Diskurs und spezifisch im Woldemar eines der zentralen Themen, treibt Jean Paul in analoger Weise auf die Spitze: Röper weiß seine »uneigennützige Liebe gegen ihn selber« am besten verwirklicht. (I/1,154) Die Radikalisierung der Maxime der Identifikation überführt eine soziale Beziehung, die per definitionem mindestens zwei Aktanten umfasst, in eine Selbstbeziehung und kippt damit zugleich das Moment des Sozialen aus der Beziehung heraus. Werden bei Röper Freundschaft und Eigennutzen deckungsgleich, ohne einen Anderen zu involvieren, so instrumentalisiert der innere Kern des Hofes Freundschaftsempfinden, um damit spezifische Ziele bei so genannten Freunden zu erreichen. Sowohl die Residentin Bouse als auch der Fürst nutzen beide die Unschärfen zwischen den sozialen Beziehungen und zugehörigen Emotionen der Freundschaft, Geschwisterschaft und Liebe, um die in diese Gefühle verstrickte junge Unschuld zu verführen. Doch während Bouse dies mit Raffinesse inszeniert und als unvollständiger respektive gemischter Charakter48 zumindest ›halb oder einviertel‹ davon auch empfindet, zitiert der Fürst die Gefühle der Freundschaft und Geschwisterschaft so emotionslos und inhaltsentleert an, dass ihm der Erfolg bei Beata vollständig versagt wird. 49

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Zum gemischten Charakter vgl. I/5,208 und die Ausführungen darüber in Teil II, Kap. 2.2.2. Vgl. zu den beiden parallel gestalteten Verführungsszenen Teil II, Kap. 2.2.2.

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Bouse hingegen ist mit ihrer Instrumentalisierung der Gefühle bei Gustav erfolgreich, was nicht nur auf Bouses Verführungskompetenz, sondern auch auf Gustavs mangelnder Differenzierungsfähigkeit beruht. Seine Beziehung zu Bouse ist nur ein Beispiel unter anderen dafür, dass er seine ganzheitlichen Freundschafts-, Liebesund Geschwistergefühle wiederholt bedenkenlos auf sein Gegenüber projiziert: Im Gespräch mit der Residentin über die Grabstätte seines Jugendfreundes Amandus fühlt Gustav »den Unterschied zwischen Freundschaft und Liebe lebendig; und er gab ihr die erste ganz.« (I/1,285) Das Sprechen über Gefühle und geliebte Menschen bewirkt bei Gustav eine situative Realisierung der besprochenen Emotionen mit seiner Gesprächspartnerin: So wie er hier seine tief empfundenen Freundschaftsgefühle zu Amandus auf seine Gesprächspartnerin transferiert, so führt auch das Reden über Geschwisterliebe zu jenem folgenreichen Gefühlstransfer, der aufgrund von Gustavs Fehleinschätzung der Disposition seines Gegenübers seinen »Fall« aus der empfindsamen Zirkulation der Gefühle in die konkrete Sinnlichkeit verursacht. (I/1,348) Auch in seiner Freundschaft zu Oefel, dem Hofpoeten und Konkurrenzautor ›Jean Pauls‹, täuscht sich Gustav über die wahren Gefühle seines Gegenübers: Während Oefel Gustavs Freundschaft sucht, um durch die Differenz ihrer Welterfahrung seiner Eitelkeit zu schmeicheln und darüber hinaus noch den Stoff für seinen Roman zu finden, empfindet Gustav »das Ekelhafte in Oefels Eitelkeit nicht ganz, weil ein Freund sich unserem Ich so sehr inokuliert und damit verwächset, daß wir seine Eitelkeit so leicht wie unsre eigne und aus gleichen Gründen übersehen.« (I/1,259) Da Gustavs Freundschaftskonzept auf Identifikation gerichtet ist, kann er den Anderen in seiner Andersheit nicht erkennen. Doch auch Oefel unterliegt einer vergleichbaren Fehleinschätzung, und dies trotz seiner eigennützigen Freundschaftsabsichten. Nicht auf Identifikation, aber auf Ähnlichkeit baut er sein Freundschaftskonzept auf: Er gefiel ihm, weil Gustav für die Poesie Geschmack und folglich, schloß er, für die seinige den größten hatte [...]. Wie nun schon Rousseau sagt, er könne nur den zum Freund erwählen, dem seine Heloise gefalle: so können Belletristen nur solchen Leuten ihr Herz verschenken, die mit ihnen Ähnlichkeit des Herzens, Geistes und folglich des Geschmackes haben und die mithin die Schönheiten ihrer Dichtungen so lebhaft empfinden als sie selber. Was indessen Oefel an Gustav am höchsten schätzte, war, daß er in seinen Roman zu pflanzen war. ( I/1,208)

Der primäre Nutzen, den Oefel aus seiner Freundschaft zu Gustav zieht, ist also ein literarischer: Ein Autor sucht sich seine Romanfigur. Da sich in diesem Punkt die Konkurrenzautoren des »Großsultans« und der Loge treffen, wie ›Jean Paul‹ freimütig zugibt, (vgl. I/1,208) erweist sich auch die Beziehung zwischen ›Jean Paul‹ und Gustav nicht als empfindsame Tugendfreundschaft, sondern als eine Nutzfreundschaft.50

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Auf der Ebene des realisierten Nutzen, dem literarischen Produkt, besteht ›Jean Paul‹

3.1.2.1 »Glückseligkeits-Triangel« im Geschwistermodus: Amandus, Gustav und Beata Werden in den unechten Freundschaften und den Nutzfreundschaften zwischen Autoren und ihren Figuren zentrale Elemente des Freundschaftsdiskurses satirisch oder als verfehlte anzitiert, so verdichten sich die Verhandlungen um Emotionen und soziale Beziehungen in den empfindsamen Passagen. Im Zentrum steht dabei die Jünglingsfreundschaft zwischen Gustav und Amandus und die Liebe beider Freunde zu Beata. Soweit ist dies die konventionelle Szenographie des tugendempfindsamen Dreiecks, wie es in vielen zeitgenössischen Texten zu finden und von Lichtenberg – ohne Ironiesignale – 1794 als »Glückseligkeits-Triangel« benannt worden ist.51 Besonders an der Loge ist jedoch, wie die triangulären Verhandlungen um Freundschaft und Liebe sich in das Geschwisterdispositiv einschreiben und sich so nicht nur aktantiell, sondern auch in Bezug auf die zur Debatte stehenden Emotionen und sozialen Beziehungen zum Dreieck aus Freundschaft, Liebe und Geschwisterschaft schließen. Darin ist die Loge Jacobis Woldemar verwandt: Zwar sind die Geschlechter in der aktantiellen Konstellation anders verteilt, doch in beiden Arrangements stehen Geschwister im Zentrum, obwohl keine eigentlichen Verwandtschaftsverhältnisse zu Grunde liegen, vielmehr werden geschwisterliche Verhältnisse beide Male performativ hergestellt. Symptomatisch für die triangulären Verhandlungen in der Loge ist jene Szene, in der Amandus »seine Verliebung in Beaten bekennt« (I/1,202) und zugleich schmerzlich diejenige Gustavs errät.52 Eingebunden ist dies in eine Folge von Freundschafts-Konflikten und -Versöhnungen, bei denen jedes Mal das Geschwisterdispositiv in einer anderen Ausprägung involviert ist. Es beginnt mit der institutionellen Geschwisterschaft: Gustav kann Amandus über sein fünftägiges

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aber auf einer massiven Differenz: Während sich der Erzähler der Loge als Dokumentarerzähler versteht, sind Oefels »Charaktere nicht aus der elenden wirklichen Welt […], sondern meistens aus der Luft gegriffen« (I/1, 249f.). So Lichtenberg in seinen Ausführlichen Erklärungen der Hogarthischen Kupferstiche, Schriften, Bd. 3, S. 1029: »Mit beiden Teilen durch Liebe verschiedener Art verwandt, vereinigt sie [die Frau, F.F.G.] beide [Freunde F.F.G.] durch das Band einer dritten Art, und also sich selbst und sie, zu dem Glückseligkeits-Triangel, der wohl mit größerem Recht den Namen des gleichseitigen verdiente, als der berüchtigte italiänische«. Vgl. zum tugendempfindsamen Dreieck der zwei Freunde und der einen Frau, bei denen ein Freund zugunsten des anderen verzichtet, zu den unterschiedlichen literarischen Gestaltungen der Konfliktlösung (Werther versus Fräulein von Sternheim) sowie zu an der literarischen Szenographie orientierten realen Lebenspraxen Meyer-Krentler 1982, S. 237f., 1984, S. 12, Becker-Cantarino 1991, S. 56f. Jean Pauls Werther-Anleihen in seinen frühen Texten sind bekannt, sein erster Romanversuch, Abelard und Heloise, gilt der Forschung neben seinem Bezug auf Rousseau auch als Werther-Paraphrase, und nach der Loge bildet der Werther gerade in der Frage des »désir triangulaire« auch für den Hesperus einen anspielungsreichen Intertext. Vgl. zu letzterem Dangel-Pelloquin 1999, S. 149ff. Vgl. zu dieser Szene auch Teil II, Kap. 2.2.1.

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Verreisen keine Auskunft geben, weil er sich seinen Logenbrüdern gegenüber zum Schweigen verpflichtet hat.53 Amandus reagiert eifersüchtig und gekränkt, lässt sich aber durch die Enthüllung eines anderen Geheimnisses versöhnen: die leiblichmaterielle Geschwisterbeziehung zu Guido. Gustav zeigt das ihm zum Verwechseln ähnliche Porträt und klärt Amandus über die »Hals-Gehenk«-Geschichte seiner Kindheit auf. (I/1,68)54 Der nächste Konflikt folgt dann auf die Begegnung mit Beata und damit der imaginären Seelenschwester, doch bevor es dazu kommt, brechen die versöhnten Freunde zu einem Spaziergang auf, um leiblich den Raum einzuholen, dessen sie »nach solchen Erweiterungen der Seelen« (I/1,196) bedürfen. In einer durch und durch künstlich gestalteten Landschaft, deren Spiel aus Licht und Schatten das ›Zittern‹ und ›Beben‹ der beteiligten Seelen antizipiert, nimmt der »GlückseligkeitsTriangel« räumlich Gestalt an. Dies in zweifacher Ausführung: Es ist eine elende rhetorische Figur, die ich aufstelle, daß ich hier so lange an- und zugeredet habe: sind denn nicht die zwei Freunde in einem größern Enthusiasmus als ich selbst? Ist nicht Amandus über freundschaftliche Eifersucht emporgehoben und hält eigenhändig das heutig angeredete Porträt des unbekannten Gustavischen Freundes vor sich hin und sagt: »Du könntest der Dritte sein«? Ja legt er nicht in der Begeisterung das Bild ins Gras, um mit der linken Hand Gustav zu fassen und mit der rechten auf ein Zimmer des neuen Schlosses zu deuten, und gesteht er nicht: »Hätt’ ich auch in der rechten das, was ich liebe: so wären meine Hände, mein Herz und mein Himmel voll, und ich wollte sterben«? Und da man nur in der größten Liebe gegen einen Zweiten von der gegen einen Dritten sprechen kann: können wir unserem Amandus mehr ansinnen, der hier auf dem Berge seine Verliebung in Beaten bekennt? – – (I/1,201f.)

Die Linien des ersten Triangels schließen über die Handreichung55 einen Bund zwischen Gustav, Amandus und Guido, in dem Freundschaft, Liebe und Ge-

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Zum Geheimbund vgl. ausf. Teil II, Kap. 3.2. Vgl. dazu Teil II, Kap. 1.2. Der Zusammenhang von Bildbetrachtung und der »ganzen Geschichte« darüber im Vorfeld des tiefgreifenden Freundschaftskonfliktes findet sich in identischer Formulierung in Jacobis Woldemar (161) und Jean Pauls Loge (I/1,202), so dass hier von einem klaren Intertextualitätssignal gesprochen werden kann. Vgl. die Iteration I/1,201: »Gustav und Amandus! […] Nehmet euch an den Händen […] Drückt euch die Hände….« und schließlich »hält Amandus eigenhändig das Porträt« Guidos dazu. Auch die Gegenbewegung der – temporären – ›Zerstückung‹ der Freundschaft bleibt konsequent im Bildfeld der Hände: »Dieses dennoch unerwartete ›Ja‹ zerstückte auf einmal des Fragers Gesicht, der seinen Stumpf in die Höhe gehalten (falls die Hand wäre abgeschossen gewesen) und geschworen hätte: ›es brauche weiter keines Beweises […]‹.« (I/1,203) Diese Handreichungen reihen sich ein in eine durchgängige Motivkette um das Verhandeln sozialer Beziehungen, beginnend mit dem Traumarrangement der blauen Blume (vgl. Teil II, Kap. 1.3) und weitergehend mit der grotesken Gestaltung, bei der Amandus in Gustavs zur Erneuerung der Freundschaft dargereichte Hand nicht die seine schlägt, sondern »die kalte, schwarze – Färbers Faust«, (I/1,216) ein Präparat aus der anatomischen Sammlung seines Vaters. Auch die letzte Versöhnung der beiden an Amandus’ Sterbebett führt über ein »Nehmen« und Geben der Hand. (I/1,279)

schwisterschaft zwischen den jungen Männern zirkuliert. Auch der zweite Triangel konstituiert sich über Handreichung: Amandus nimmt Gustavs linke Hand und zeigt mit der rechten auf Beatas Wohnsitz, muss dazu aber das Porträt aus der Hand geben. Die freigewordene Hand wird jedoch nicht von Beata ergriffen, die just in diesem Augenblick auf der Szene erscheint, Beata behändigt stattdessen das Porträt ihres Bruders Guido, das sie für dasjenige aus ihrem Besitz hält.56 Die Überlagerung beider Triangel und das Aufbrechen der von Amandus intendierten konventionellen triangulären Struktur der einen Frau zwischen zwei Freunden durch Beatas Handgriff stört die erwartete Glückseligkeit empfindlich und gruppiert die vier Aktanten um. Ein neuer Triangel ist entstanden, dessen Bande geschwisterlich sind: Gustav weiß sich nun über Guido mit Beata geschwisterlich verbunden.57 Amandus dagegen kündigt ob der »Guido-Bilderstürmerei« (I/1,210) Gustav die Freundschaft und fällt damit auch aus der vormaligen Herzensmilchbrüderschaft heraus.58 Erst im Übergang zur Transzendenz wird er erneut eingebunden. An seinem Sterbebett rekonstituiert sich der »Glückseligkeits-Triangel« in seiner konventionellen Form. Amandus fasst Beata und Gustav an den Händen und verspricht sie einander: drei Herzen bewegten sich heftig; drei Zungen erstarrten; diese Minute war zu erhaben für den Gedanken der Liebe – bloß die Gefühle der Freundschaft und der andern Welt waren groß genug für die große Minute… (I/1,283)

Die triangulären Verhandlungen lösen sich hier durch den Verzicht des einen Freundes zu Gunsten des anderen, und das Gefühl der Freundschaft resultiert als das über die Liebe erhabene. Die Hierarchie der Gefühle entspricht darin ganz dem Woldemar. Die Geschwisterschaft kommt in dieser »große[n] Minute« der Loge nicht zur Sprache, sie wird erst posthum wieder hergestellt: Gustav lässt sich von Amandus’ Vater an Sohnes statt annehmen und macht die vormalige Herzensmilchbrüderschaft zu einer Adoptivgeschwisterschaft. Damit wird eine iterative Geschwisterkonnotation letztendlich in einen legalistischen Status überführt. Die Wechselhaftigkeit der Freundschaftsbeziehung, ihre Auflösungen und ihr

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Grundsätzlich referieren die ineinander verschlungenen Hände auf die traditionelle Bildsprache der Emblembücher, in der sie ein Zeichen der Freundschaft sind. In den besprochenen Szenen der Loge werden die Handreichungen in erweiterter Bedeutung zum Emblem der Verhandlungen um Freundschaft, Liebe und Geschwisterschaft. Vgl. dazu Beatas Brief I/1,198 und die Ausführungen dazu in Teil II, Kap. 2.2.1. Vgl. dazu ausf. Teil II, Kap. 2.2.1. Guido und Amandus haben strukturell differente Funktionen, die erst nach Amandus’ Tod teilweise ineinander übergehen, dies jedoch nur in ihrem Status als Brüder von Gustav, nicht in demjenigen des Doppelgängers. Der These von Préaux 1986, S. 116, dass Guido ein »überflüssiger Bestandteil« sei, da Amandus die Funktion des Doppelgängers übernehme, ist also zu widersprechen. Die erste Auflage verzeichnet »Portrait-Affaire« an Stelle von »Guido-Bilderstürmerei«, Pauler 1981, S. 238.

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zwischenzeitliches Vergessen59 schreiben sich für das Gedächtnis um in die Unlösbarkeit, Kontinuität und Stabilität, die eine eigentliche – wenn in diesem Fall auch nicht über Blut sondern Adoption gestiftete – Geschwisterschaft bedeutet. Das Andenken des toten Freundes, ein zentrales Thema des Freundschaftsdiskurses und für Jean Paul auch von hoher biographischer Relevanz60 wird durch die unlösbaren Bande, durch die sich die Geschwisterschaft von der lösbaren Freundschaft unterscheidet, nachträglich so gefestigt, dass es vor weiterem Vergessen quasi de iure geschützt bleibt. Wie schon wiederholt für die Loge konstatiert, rekurriert dieser Geschwisterstatus nicht auf eigentliche Verwandtschaftsverhältnisse. Vielmehr wird ein Geschwisterstatus zugleich mit der Freundschaft performativ hergestellt, über stete Zuordnungen der entstehenden Beziehung zum Geschwisterdispositiv. Die Geschwistergenese zwischen Gustav und Amandus verläuft analog zu derjenigen von Gustav zu Beata und beginnt wie diese mit einem dramatischen Einschnitt. Auf dem Weg von ihrem Sommeraufenthalt nach der Stadt Scheerau trifft Gustavs Familie im Wald auf ein »feines Kind«, dessen Augen soeben zerschnitten wurden. (I/1,88) Die nachfolgende Digression über das Gedächtnis der Romanenleser belehrt diese, dass bei ›Jean Paul‹ »kein Zug umsonst da« (I/1,89) steht und lässt die Frage nach dem Stellenwert dieser Augengeschichte dringlich werden. Jean Pauls Obsession auf das Organ des Sehens, seine Grenzziehungen und -verschiebungen zwischen Sichtbarem und Unsichtbaren und die Omnipräsenz von Blindheit sind in der Forschung schon wiederholt diskutiert worden.61 Doch hier soll es nicht um Jean Pauls optische Metaphorik und deren groß angelegten Verweischarakter auf die Zustände der Seele, sondern bescheidener um die Schnittstelle der Augengeschichte der Loge zu den Themenbereichen der Liebe, Freundschaft und Geschwisterschaft gehen. Der temporär erblindete und später im Kinderspiel mit verbundenen Augen agierende Amandus erweist sich nicht nur seinem Namen, sondern auch seiner äußeren Erscheinung nach zur Liebe prädestiniert. Die Blindheit als traditionelles Epitheton der Liebe nimmt semantisch und die während der Verletzung sowie im Blinde Kuh-Spiel verbundenen Augen nehmen ikonologisch die gängige AmorDarstellung auf. Amandus’ Charakter agiert dabei auch das Negative und Unbeständige aus, das mit der blinden Liebe verbunden wird und diese von einer auf

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Vgl. I/1,182: »Unter diesen Verhältnissen, ehe Gustav den schweren Gang über Schmerzen zu Geschäften tat, kam der Trost in der Gestalt der Erinnerung zu ihm, und Gustav sah, was er nicht hätte vergessen sollen – seinen Amandus, seinen Kinderfreund.« Zur Bedeutung des Testamentarischen im philosophischen Freundschaftsdiskurs vgl. wiederholt Derrida 2002. Jean Pauls Biographie ist schon in frühen Jahren maßgeblich bestimmt durch die Verlusterfahrungen, die der Tod enger Freunde bedeutet. Die letzten Worte der Loge sind in einer persönlich gehaltenen Formulierung diesem »Nachtönen der Erinnerung« (I/1,469) in den überlebenden Freunden gewidmet. Vgl. dazu u.a. Eickenrodt 2006 und Nonnenmacher 2006.

Prinzipien gegründeten unterscheidet. So neigt Amandus zu schnell wechselnden Gefühlsumschlägen, deren Auslöser nicht immer als vernünftige erscheinen. Den Eifersuchtskonflikt zwischen Gustav und Amandus um ihrer beider Liebe zu Beata entscheidet Amandus beispielsweise auf dem oben geschilderten Spaziergang nach einem »Auxiliar-Zufall«, nämlich der Tatsache, »daß Gustav parallel an Amandus’ Seite« und nicht vor ihm geht. (I/1,204) In Bezug auf Amandus’ Freundschaftsfähigkeit zu Gustav legt die temporäre Verdunkelung und die Erfahrung des Sehendwerdens jedoch eine Disposition für Identifikation: Beide durchlaufen diesen Prozess in ihrer Kindheit als bewusst erfahrenen, Amandus mit seiner Augenverletzung und deren Heilung, Gustav in seiner Höhlenexistenz und der Auferstehung daraus.62 Mit dem Wechsel der Isotopie der Blindheit von der optischen zur sozialen Kompetenz zeigt sich aber auch eine Differenz: Während Amandus’ Sozialkompetenz weiterhin von Blindheit gezeichnet bleibt, beschränkt sich Gustavs weitergehende Blindheit auf seinen Umgang mit Hofleuten. Doch nicht nur Liebe und Freundschaft, auch die Geschwisterschaft ist mit Amandus’ Blindheit verbunden: Der erste Beziehungsbegriff zwischen dem noch blinden Amandus und Gustav ist ja derjenige von »Herzensmilchbrüdern«. (I/1,95)63 Dieser Neologismus bezeichnet sehr genau ihre Geschwistergenese: Der in der Enzyklopädie um 1800 gängige Begriff der Milchbruderschaft meint eine über das Einsaugen derselben Milch und nicht eine über das Vorhandensein desselben Blutes gestiftete Geschwisterschaft.64 Milchbrüderschaft wird über iteratives Handeln performativ hergestellt. Dass es sich bei der eingesogenen Nahrung um Herzensmilch handelt, stellt die entstehende Brüderschaft ganz auf das Gefühl ab. Diese Geschwistergenese steht zur Blindheit des Amandus jedoch nur in einem temporalen, keinem kausalen Verhältnis. Ergänzt wird der Geschwistersubtext durch ein namenloses Schwesterchen, das Amandus als ihren Bruder erkennt, danach aber keine Funktion mehr hat, und durch einen Reisewagen, der dem Geschwisterpaar als Ort zugewiesen wird.65 Die Flüchtigkeit dieser Schwesterfigur und die Verortung des Geschwisterpaares im Reisewagen lässt darauf schließen, dass hier über eine Wiederholung des Motivkomplexes von Gustavs Geschwistergenese66 wieder-

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Vgl. Teil II, Kap. 1, Einleitung. Vgl. Teil II, Kap. 3.1.2, Einleitung. Vgl. dazu die Artikel »Milchbruder«, »Milchbrüderschaft«, »Milchschwester«, »Saugebruder« bei Adelung, Bd. 3 (1789), Sp. 206, 1299 und Grimm, Bd. 6 (1885), Sp. 2190, 2199, wobei Grimm überproportional viele Jean Paul-Beispiele dazu bringt. Vgl. I/1,95 sowie Fenks Erklärung, »daß die beiden Kinder, die man gesehen, den Kleinen und die Kleine, keine andere Wiege gehabt als den Reisewagen« (I/1,99). Gustav verbringt während seiner dreitätigen Entführung die Zeit in einem Reisewagen mit einem namenlosen Schwesterchen, (vgl. I/1,67f.) das sich dann später als Beata entpuppt, vgl. Teil II, Kap. 1.3.

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um eine parallele Disposition als Basis zur Identifikation von Amandus und Gustav intendiert ist. Diese Identifikation des Freundespaares spezifiziert Jean Paul an jener Formel, die im philosophischen Freundschaftsdiskurs als ein Diktum des Aristoteles überliefert ist: In Gustav wohnte das zweite Ich (der Freund) fast mit dem ersten unter einem Dache, unter der Hirnschale und Hirnhaut; ich meine, er liebte am andern weniger, was er sah, als was er sich dachte; seine Gefühle waren überhaupt näher und dichter um seine Ideen als um seine Sinne; daher wurde oft die Freundschaft-Flamme, die so hoch vor dem Bilde des Freundes emporging, durch den Körper desselben gebogen und abgetrieben. (I/1,183)

Jean Paul nimmt die aristotelische Metapher des Wohnens67 wörtlich als ein Zusammenwohnen des Freundespaares und kommt somit zu der signifikanten Verschiebung, dass nicht eine Seele in zwei Körpern, sondern zwei Seelen unter einem Körperdach wohnen. Voraussetzung dafür ist der Gustav und Amandus zugehörige Motivkomplex der Blindheit, der hier als ein inneres Sehen verstanden wird, das sich vor der sinnlichen Realität verschließt. Schwindelerregende Konsequenz dieser Denkfigur wäre die totale Identifikation von Seelen und Körpern. Doch dieser Konsequenz wird ein Riegel vorgeschoben: Nur »fast« ist Amandus für Gustav ein »zweites Ich«. Für die nötige Korrektur sorgt der unhintergehbare Kontakt mit der sinnlichen Realität, die nicht nur die Differenz der Körper, sondern auch diejenige der Seelen aufdeckt. Die ideelle Identifikation in der Freundschaft wird so durch die Realität »gebogen« und in die Differenz »abgetrieben«. Diese Differenz bildet sich auf diejenige der Geschlechter ab, so dass sich die aktantielle Konstellation des Glückseligkeits-Triangel derjenigen des Woldemar annähert: Unser Paar lief einander täglich über vierzigmal in die Arme und herzte sich. […] Amandus hing mit seinem mehr weiblichen Herzen an Gustavs mehr männlichem mit aller der Liebe, die der Schwächere dem Stärkeren reichlicher gibt, als er sie ihm abgewinnt. Daher liebt die Frau den Mann reiner; sie liebt in ihm den gegenwärtigen Gegenstand ihres Herzens, er in ihr öfter das Gebilde seiner Phantasie; daher sein Wanken kommt. Dieses Vorredchen soll nur eine Anfurt zu einer kleinen Schlägerei zwischen unserem kleinen Kastor und Pollux sein. (I/1,103)

Die Differenz zwischen den Geschlechtern, die im Woldemar zugunsten der Identifikation in der Freundschaft durchgestrichen wird, dient in der Loge genau umgekehrt der Konkretisierung jener Differenzen, die der Logik der Identifikation entgegenstehen. Doch diese Differenzierung wird metaphorisch sogleich wieder abgeschwächt durch das Zwillingspaar Kastor und Pollux, deren ›pfiffige‹ Lösung einer unzertrennlichen Gemeinschaft trotz existenziell differenter Voraussetzung

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Die Aristoteles zugeschriebene Formulierung: »Eine einzige Seele, die in zwei Körpern wohnt«, findet sich sinngemäß in der Eudemischen Ethik (Werke, Bd. 7), 1240b, 2–15. Vgl. dazu Derrida 2002, S. 239.

– Kastor ist »menschlich und sterblich«, Pollux dagegen »göttlich und unsterblich« – der Erzähler der Loge an anderer Stelle ausführt: »wie nun jene mythologische Brüderschaft es pfiffig machte und Sterblichkeit und Unsterblichkeit gegeneinander halbierten, um miteinander in Gesellschaft eine Zeitlang tot und eine Zeitlang lebendig zu sein«. (I/1,255f.) Die narrativen Strategien bewirken durch die stete Anbindung der Freundschaft von Amandus und Gustav an die Geschwisterschaft eine Glättung von Differenzen und eine Aufhebung der Wechselfälle hin zu einer stabilen und beständigen Beziehung, wenn diese letztendlich auch nur um den Preis des Todes erreicht werden kann. Auch der Exklusivitätsanspruch, den der eifersüchtige Amandus an die Freundschaft mit Gustav stellt, wird durch die endgültige Verwandlung der Freundschaft in eine Geschwisterschaft unterlaufen: Mit Guido und Amandus hat Gustav nun zwei transzendente Brüder an seiner Seite, deren weitere Aufgabe im Text vor allem darin besteht, seiner Beziehung zu Beata den Weg zu bereiten.68 3.1.2.2 Maximale Extension von Freundschaft: das »humoristische Quecksilber« Fenk Das genaue Gegenteil der auf Emotion, Identifikation und Exklusivität ausgerichteten Jünglingsfreundschaft stellt der Freund in höchster Potenz dar: Doktor Fenk. Der mit den »meisten Einwohner[n] dieses Buches« (I/1,228) freundschaftlich verbundene Fenk steht für die maximale Extension von Freundschaft und bedarf darum einer besonderen Betrachtung. Zumal Fenk auch als Drahtzieher des freundschaftlich-geschwisterlichen Zirkels der Hauptfiguren in Lilienbad fungiert. Fenks Freundschaftsfähigkeit wird jedoch nicht auf das Geschwisterdispositiv zurückgeführt. Über das Argument der negierten Exklusivität lässt sich seine Freundschaftsmaximierung zwar an den Begriff des Geschwisters anschließen: Geschwister eröffnen per definitionem eine Reihe, die in ihrer maximalen Extension der institutionellen Geschwisterschaft in christologischer Perspektive alle Menschen meint. Damit gibt der Begriff jedoch auch jedes Spezifische auf und trägt in dieser Form wenig zur Klärung von Fenks besonderer Stellung bei. Der Erzähler der Loge setzt denn auch anderswo an: Warum sind die meisten Einwohner dieses Buchs gerade Fenks Freunde? – Aus zwei recht vernünftigen Gründen. Erstlich verquickt sich das humoristische Quecksilber, das aus ihm neben der Wärme des Herzens glänzt, mit allen Charakteren am leichtesten. Zweitens ist er ein moralischer Optimist. Zehn metaphysische Optimisten würd’ ich für einen moralischen auszahlen, der nicht ein Kraut, wie die Raupe, sondern einen ganzen Blumenflor von Freuden, wie der Mensch, zu genießen weiß – der nicht fünf Sinnen, sondern tausend hat für alles, für Weiber und Helden, für Wissenschaften und Lustpartien, für Trauer- und Lustspiele, für Natur und für Höfe. (I/1,228)

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Vgl. dazu Teil II, Kap. 2.2.1 und 2.2.3.

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Als Humorist steht Fenk in der Loge dafür ein, dem Romanpersonal und dem im Roman geschilderten Zuständen den satirischen Spiegel vorzuhalten.69 Um dies bei möglichst vielen Figuren und Situationen tun zu können, muss er über eine entsprechend ubiquitäre Verbindungsfähigkeit verfügen. Der Erzähler führt diese Fähigkeit auf eine chemisch-ästhetische Konfiguration zurück und belegt sie mit dem Namen der Freundschaft. Als humoristische sind diese Freundschaften nicht auf emotionale Nähe, sondern auf distanzierende Reflexion angelegt: Humor lässt die Dinge nicht näher rücken, sondern zeigt sie in einem anderen Licht und schafft so Distanz dazu. Leuchtet die ästhetische Strategie des Humoristischen, die Jean Paul im Verlauf seiner Autorschaft immer weiter ausbauen wird,70 für Fenks Charakter unmittelbar ein, so öffnet die chemische Basis dieses Vergleichs Abgründe. Quecksilber ist als einziges Metall bei Normaltemperaturen flüssig und steht dadurch für Fenks Flexibilität in Freundschaftsdingen. Die Kehrseite dieser quecksilbrigen Vielseitigkeit Fenks ist seine Unbeständigkeit, die sich schlecht mit dem Konzept der Freundschaft vereinbaren lässt und zur Geschwisterschaft geradezu konträr steht. Auch »verquickt« sich Quecksilber gerade nicht mit anderen Materialien, sondern bildet isolierte Kügelchen. Zielt schon der Humor auf distanzierende Verhältnisse, so verstärkt die chemische Basis von Fenks Freundschaftsfähigkeit dies noch und stellt Fenks Freundschaftsqualitäten damit nachhaltig in Frage. Bedenkt man Fenks Profession, so könnte es gar gefährlich werden, mit ihm befreundet zu sein: Quecksilber ist hoch toxisch und findet zugleich als Arzneimittel Verwendung, das nur in homöopathischen Dosen verwendet werden darf.71 Die Beispiele, die der Text von

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Zur Bedeutung des Humors und seiner Differenzierung von der Satire für die Schreibzeit der Loge (im Vergleich zur Humortheorie der Vorschule, die Satire und Humor begrifflich scheidet) sowie zum Profi l des Humoristen Fenk vgl. schon Köpke 1977, S. 294ff. Köpke bezieht aufgrund des Jean-Paul’schen Sprachgebrauchs den Begriff des Humors auf die menschliche Haltung, denjenigen der Satire auf das literarische Produkt. So wird Fenk bei seinem ersten Auftreten in der Loge als »Humoris[t]« eingeführt, (I/1,40) und wiederholt wird seine Tätigkeit als Arzt als Schreiben ausgewiesen und mit dem Begriff der Satire verbunden; vgl. I/1,145: »Das Papier ist Fenks Marforio und Pasquino, der seine satirischen Arzneien austeilt.« Sowie I/1,370: »Deine ganze Apotheke lag auf deiner Zunge! Deine Rezepte waren Satiren und deine Kur Belehrung!« Fenk eröffnet die Reihe der Jean-Paul’schen Humoristen und bezeichnet damit eine Übergangsposition zwischen den Satiren der Frühzeit und den Romanen mit ihrer Doppelschreibweise zwischen »Hesperus-Rührung und Schoppens-Wildheit«. (SWIII/5,126) Entsprechend dem Innovationspotenzial der Jean-Paul’schen Humortheorie und seiner literarischen Humoristen sind die Beiträge der Forschung zu diesem Themenbereich zahlreich, vgl. grundlegend dazu Wiethölter 1979, Müller 1983, S. 218ff, wobei sich vor allem Schoppe großer Forschungsresonanz erfreut, vgl. exemplarisch Wölfel 2000/01. Diese Materialeigenschaften der »ungemeine[n] theilbarkeit und beweglichkeit« sind Teil des zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Wissens und haben eine entsprechende bildliche Redeweise motiviert, die das grimmsche Wörterbuch schon bei Luther nach-

Fenks Therapien gibt, zeichnen sich nun nicht gerade durch Zurückhaltung aus.72 Ist Fenks Therapiestil, der »satirisch[e] Arzneien« (I/1,145) verordnet, wiederholt erfolgreich, so verweist das Quecksilber als Arznei des Humoristen zugleich auf die Gefahr der Vergiftung durch eine Überdosis. Die zweite Begründung für Fenks spezifische Freundschaftsfähigkeit, ein »moralischer Optimist« zu sein, scheint dagegen deutlich positiv gefärbt. Die Begründungen dafür vermögen den Optimismus jedoch nicht zu erklären, sondern setzen das Programm der unspezifischen Freundschaftsfähigkeit fort: Für alles und jeden – »für Weiber und Helden, für Wissenschaften und Lustpartien, für Trauer- und Lustspiele, für Natur und für Höfe« (I/1,228) weiß sich ein moralischer Optimist zu begeistern. Und, so ist aus der Disposition zu schließen, darin überall etwas sittlich Positives zu orten. Mit der »Wärme des Herzens«, die Fenk neben dem humoristischen Quecksilber attestiert wird, schließt Fenk jedoch zugleich an die empfindsame Freundschaftsemphase an. Diese Herzenswärme ist in der Ausgestaltung seiner Freundschaften zu ›Jean Paul‹, Ottomar und Gustav auch klar greifbar: Der Humorist bleibt über seine empfindsame Seite zugleich als wahrer Freund in den Freundschaftsbund der Loge eingeschlossen, ja übernimmt durch seine herausgehobene Stellung in Freundschaftsdingen bei der Ausgestaltung der geschwisterlich-freundschaftlichen Utopie in Lilienbad gar die Rolle des Regisseurs.73 Fenk verbindet sich immer den Belangen der Freundschaftspartner. Diese Verbindungen sind jedoch nicht auf Identifikation ausgerichtet – dies wäre aufgrund der Zahl der Freundschaftspartner ein aussichtsloses Unterfangen –, sondern auf humoristische Differenz. Notwendigerweise kommt Fenk mit seinen vielfältigen Verbindungen auch mit dem allgegenwärtigen Geschwisterdispositiv in Kontakt. Aber dieser Bezug bleibt stets sekundär. Deutlich wird dies an Fenks Stellung im Verhältnis zu den Logenbrüdern: Hier erlangt Fenk die paradoxe Position eines externen Eingeweihten. Ohne der Bruderschaft anzugehören, wird Fenk deren »ganze Verbindung« geoffenbart. Dies ist umso erstaunlicher, als das Logengeheimnis, so ist den wenigen Hinweisen zu entnehmen, die der Text darüber gibt, nur an Mitbrüder oder im Angesicht des Todes weitergegeben werden darf.74 Ausschlaggebend für die Einweihung Fenks sind die Beziehung und das Gefühl der Freundschaft. Ottomar, der sein Wissen weitergibt, tut dies in der festen Überzeugung, danach in »der Empfindung der Freundschaft« zu sterben, und es ist »nur ein Zufall«, dass der komplizierte Selbsttötungsversuch misslingt. (I/1,420f.) Das Geheimwissen jedoch

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weist, auch die Giftigkeit von Quecksilber ist bekannt; vgl. Grimm, Art. »Quecksilber«, Bd. 7 (1889), Sp.2336. Vgl. z.B. seine Kur der heiratswilligen Damenwelt Scheeraus I/1,97 Vgl. dazu Teil II, Kap. 2.2.3. Vgl. I/1,420f.

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bleibt geheim, mit dieser Information aus einem Brief Fenks schließt der Erzähltext der Loge. Fenks ubiquitäre Verbindungsfähigkeit und seine weit reichende Informiertheit über Figuren und Handlungszusammenhänge befähigen ihn auf der poetologischen Ebene zum Mitschreiben: Er liefert Textdokumente, wie Briefe und Zeitungsartikel, hält durch sein Insiderwissen das Figurenarsenal zusammen, führt durch seine Kenntnis der größeren Zusammenhänge für den Fortgang der Handlung relevante Zusammentreffen herbei und hilft nicht zuletzt dem Lebensbeschreiber über dessen Schreibkrisen hinweg. Der Humorist Fenk fungiert als Mit-Autor und übernimmt im Namen der Freundschaft eine analoge Funktion für den Fortgang des Textes, wie die Schwester des Lebensbeschreibers, Philippine, die das Fragment zum Werk ›zusammenleimt‹.75 Als Schrift-Freund und Schrift-Schwester sind Fenk und Philippine denn auch vor allem als poetologische Figuren konzipiert, die Verbindungen schaffen und Brüche kitten. Bevor es nun aber um die poetologischen Strategien der Loge gehen soll, steht noch der zweite Bereich ›weiterer‹ Geschwisterschaft an: Jetzt gilt es der titelgebenden unsichtbaren Loge und ihren Spuren im Text zu folgen.76

3.2

Eine »Titel-Sonderbarkeit«: die vierfache Spur der unsichtbaren Loge im Text Vergebens sucht man im ganzen Werke etwas, wodurch der Titel des Buchs erklärt würde. Nur ganz am Ende des zweiten Teils ist die Rede von einer geheimen Verbindung, zu welcher Ottomar gehört haben soll; allein es sind nur ein paar Worte davon hingeworfen.77

So rezensiert 1794 Adolph Freiherr von Knigge, selbst ein prominentes ehemaliges Mitglied des Geheimbundes der Illuminaten, die Unsichtbare Loge. Die »Titel-Sonderbarkeit«, welche – wie Jean Paul in seinem Brief vom 12. Juli 1792 an Christian Otto schreibt78 – »geheim[e] Naturforscher« schon enträtseln werden, stellt für Knigge offensichtlich kein lösbares Rätsel dar. Oder entsprechen Geheimbundspe75 76

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Vgl. ausf. dazu Teil II, Kap 4.2. Die Parallelität bezieht sich auch auf die Stellung des Charakters: Wie Fenk ist Philippine als Humoristin konzipiert. Eine Vorstudie dazu ist Frei Gerlach 2009. Der Begriff der ›Spur‹ ist in der Literaturtheorie mit Derridas dekonstruktiver Wendung der freudschen Begriffsbildung verbunden, vgl. Derrida 1983, S. 122ff. Im Folgenden verwende ich den Begriff aber nicht im Sinne der derridaschen Dekonstruktion der Metaphysik der Präsenz, sondern sehr viel konkreter: als Indiziensuche und Spurenlesen in der Absicht, das Geheimnis der Loge im Text sozusagen detektivisch-hermeneutisch aufzuspüren. Rezension von Adolph Freiherr von Knigge über Die unsichtbare Loge in der Neuen allgemeinen Bibliothek 11 (1794), S.216–318, zitiert nach Sprengel 1980, S. 4. Zur Rolle des Freundes Christian Otto als Jean Pauls »Publikum«, »Leser« und »Rezensent« vgl. den informativen Aufsatz von Meier 2006.

zialisten wie Knigge nicht dem Stellenprofil des geheimen Naturforschers? Was hat sich Jean Paul bei seiner »Titelfabrikatur« denn gedacht? Darüber gibt der genannte Brief an Christian Otto einigen Aufschluss: Ich bin des Wählens mehr als des Schaffens müde und seze daher dir als Wahlman eine Menge zur Untersuchung her: die, die mir am liebsten sind, bekreuze ich: (NB. Gleichwol sol unter jedem Titel das Wort Biographie stehen, damit der Leser nicht ganz betrogen werde sondern nur halb.) + Marggrafenpulver. Biograph[ie] von Jean Paul – Hohe Oper etc. – Aeolsharfe – + die Urnen – + die Mumien – Mikrokosmus – Orion – Sirius – Abendstern – Sternbilder – (und was noch am Himmel ist) – + Galgenpater – Der beste bleibt folgender: »die unsichtbare Loge oder die grüne Nachtleiche ohne den 9ten Nusknaker«. Bei diesem Titel denk’ ich im Grunde gar nichts, wiewol mir bis ich die Vorrede seze noch gut einfallen kan was ich dabei denke – aber ich ruhe nicht eher darin als bis andre mehr dabei denken. Ich werde in der Vorrede sagen: »ich schämte mich halb, daß ich genöthigt wäre, durch eine Titel-Sonderbarkeit, die durchaus nicht zu umgehen war, denen Autoren ähnlich zu sehen, die blos der Käufer und des Käufers (Verlegers) wegen, bunte Titel über ihre Werke klebten. Da mir aber daran gelegen wäre, die wenigen Naturforscher, die diesen Titel recht gut verständen, auf mich aufmerksam zu machen: so möchten die Rezens[enten] so wie ich mir diese kleine Maçonschürze verstatten.« Eben diese wenigen geheimen Naturfoscher werden ohne mich einsehen, was ich in der Biographie selber haben wil, welches die rechten Namen sind und auf welchen unerwarteten Schlag in diesem Säkul – aber die Schwefel-Eidexe wird doch dem rothen Löwen entschlüpfen – durch dieses Buch vorbereitet werden sol. Dem grössern Theile der Leser sag’ ich, daß sie durch die höhern Beziehungen, die sich in dem Roman verstecken, nichts verlieren und daß es für sie eben soviel ist als wenn er wirklich gar keine hätte. Ich ziehe zum Beweise Homers Odyssee an, die Aeneis, Virgils Eklogen, Dantes Hölle etc. die alle durch den mystischen, allegorischen, politischen Kern beim ungelehrten Leser nichts verlieren, den der gelehrte riecht und frisset. (SWIII/1,359f.)

Gedacht hat sich Jean Paul seiner eigenen Aussage gemäß bei der Titelwahl »im Grunde gar nichts«, als dass andere sich dabei mehr denken und einen Zusammenhang zwischen der als Marketingstrategie vorgebundenen Maurerschürze mit der Lebensbeschreibung herstellen und die »höheren Beziehungen« aufdecken sollen.79 Diese Rezeptionsvorgabe einzulösen erweist sich jedoch als nicht einfach, da die Texthinweise auf eine unsichtbare Loge spärlich und oft parodistisch sind. Welche Qualifikation also brauchen geheime Naturforscher, um in dieser Sache voran zu kommen?

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Der Untertitel der Loge lautet in der ersten Ausgabe wie im Brief an Christian Otto vorgeschlagen »Eine Biographie« und wird für die zweite in »Eine Lebensbeschreibung« geändert, vgl. Pauler 1981, S. 3.

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Höhere Beziehungen Mit den als idealen Lesern angesprochenen Naturforschern könnten dem zeitgenössischen Sprachgebrauch nach grundsätzlich Menschenforscher gemeint sein,80 die sich in diesem Falle dem »geheimen«, das heißt inneren Menschen zuwenden, also eine Kombination von Erfahrungsseelenkundlern und Anthropologen darstellen würden. Da die Lebensbeschreibung der Loge in erster Linie eine innere Geschichte erzählt und die Friktionen mit der Außenwelt jeweils vor allem im Hinblick auf die dadurch ausgelösten inneren Entwicklungen interessieren, ist damit ein adäquater Modell-Leser81 gefunden. Diesem zeigen sich die »höhern Beziehungen« in der Loge sogar als höchste, nämlich als solche, die zum Himmel weisen: Die Transzendenz des Endlichen durchzieht den Text als eine durchgängige Verweiskette. Das »Extrablatt über hohe Menschen« fasst das Bewusstsein um die zweite Welt in der hiesigen anschaulich als eine »steilrechte Ausdehnung«, die bestimmte Menschen von anderen unterscheidet, die ihre Lebensbahn »gerad[e]« »waagrecht« »schief« oder im schlimmsten Fall »liegend« absolvieren und ordnet eine Figurengruppe zu: »und in meiner Geschichte gehören Ottomar, Gustav, der Genius, der Doktor darunter, weiter niemand.«82 Diese hohen Menschen der Loge verfügen neben den in »größern

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Naturforschung meint im zeitgenössischen Sprachgebrauch zwar in erster Linie die Erforschung »der naturgesetze, physica« respektive »die wahre verfassung des weltbaues im groszen« (vgl. Grimm, Art. »Naturforschung«, Bd. 7 (1889), Sp. 447). Doch schon Jacobi hatte im Untertitel seines 1779 erschienenen Woldemar oder Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte den Begriff der ›Naturgeschichte‹, die per se das Ziel der Erforschung der Naturgesetze ist, anthropologisch und psychologisch gewendet. So dass der Schluss nahe liegt, auch der Jacobi-Leser Jean Paul verwende den Begriff des Naturforschers für jene, deren Forschungsobjekt die »Menschheit, wie sie ist« darstellt. (Jacobi, Allwil, Werke, Bd. 6.1, S. 89) Und in der Tat fasst auch Jean Paul in seinem Aufsatz »Etwas über den Menschen« von 1781 (dem ersten, den er für publikationswürdig hielt) die Naturforschung anthropologisch und diagnostiziert hier im Anschluss an Alexander Popes Essay on Man (vgl. II/4,119) eine gewaltige Forschungsaufgabe: »In allen Wissenschaften giebt’s Gelerte; allein die Menschenkentnis hat keine.« (II/1,174) Auf diese anthropologische Leerstelle zielt auch das aus den Teufels Papieren abgeleitete Motto der Loge – »Der Mensch ist der große Gedankenstrich im Buche der Natur« – so dass für die Zeit der Arbeit an der Loge von einem vergleichbaren Anthropologie-Verständnis ausgegangen werden kann. Damit hätten allerdings auch die in »Etwas über den Menschen« formulierten Konsequenzen für den Berufsstand der Naturforscher Gültigkeit: »Im Grund’ ist also ein Naturforscher nicht der, welcher die Wirkungen der Natur zu erklären weis, sondern der, welcher weis, was alle von diesen Wirkungen geglaubt, d.h. für Lügen gesagt haben.« (II/1,182) Dieser Naturforscher also ist ein Kultur-, kein Naturwissenschaftler. Vgl. zu Jean Pauls Position der epistemologischen Unzugänglichkeit des Menschen Pabst 2007, S. 176–179. Zum Begriff des Modell-Lesers, der – als eine vom Text festgelegte Strategie – das Potenzial eines Textes umfassend aktualisieren kann, vgl. Eco 1987, S. 61ff. Die erste Auflage verzeichnet »horizontale« statt »waagrechte« und »perpendikulare« statt »steilrechte« Ausdehnung, Pauler 1981, S. 250. Dies ein Beispiel für die in dieser

oder geringern Grade« vorhandenen Vorzügen der Ehrlichkeit, des Mitgefühls, der Ehre, Tugend und des Genialen noch über etwas, »was die Erde so selten hat«: die Erhebung über die Erde, das Gefühl der Geringfügigkeit alles irdischen Tuns und der Unförmlichkeit zwischen unserem Herzen und unserem Orte, das über das verwirrende Gebüsch und den ekelhaften Köder unsers Fußbodens aufgerichtete Angesicht, den Wunsch des Todes und den Blick über die Wolken.

Es ist der Sinn für das Grenzenlose – wie es dann in der »Magie der Einbildungskraft« heißt –, der den hohen Menschen auszeichnet. Doch die auf den platonischen Idealismus gegründete Denkfigur ist nicht ohne den zugehörigen Dualismus zu haben. Die Entgrenzungsbewegung der Seele stößt allenthalben an die Begrenzungen der Körperwelt: Das »Gewicht des Körpers« bindet die auffliegende Seele an »den ekelhaften Köder unsers Fußbodens«. (I/1,221f.) Wie schon oben gezeigt, gehört zur hohen Seele nicht nur die vertikale, sondern auch die horizontale Bewegung: Diese doppelte Orientierung, vertikal und horizontal, wird mit Gustavs Höhlenerziehung initiiert. Diese legt in Gustavs Seele nicht nur die Keimzelle für das Sehnen nach Transzendenz, sondern auch für die Sehnsucht nach Gemeinschaft mit ihresgleichen. Für den angestrebten Seelenbund höherer Menschen steht die institutionelle Geschwisterschaft Modell: Jene »Verlegenheit«, die Gustav von anderen unterscheidet, nehmen »höhere Menschen […] für das Ordenkreuz ihres Ordenbruders«. (I/1,65f.) Doch nicht nur die vertikale Seelenbewegung, auch die horizontale wird durch den Körper begrenzt. Wie sich die drei hohen Menschen der Loge, die nach dem Verschwinden des Genius als handelnder Figur diesen Typus im Text allein noch vertreten, in einer »engen Umarmung« zu einem »Bund der Liebe« zusammenfinden, in der »keine Entfernung […] klein genug zu sein vermochte«, spricht Ottomar die Desillusionierung aus: – wir selber sind nicht beisammen – Fleisch- und Bein-Gitter stehen zwischen den Menschen-Seelen, und doch kann der Mensch wähnen, es gebe auf der Erde eine Umarmung, da nur Gitter zusammenstoßen und hinter ihnen die eine Seele die andre nur denkt? (I/1,321)

Die direkte Seelenkommunikation ist nicht möglich, sie ist nur im Raum des Denkens anzusiedeln. Die Drei-Männer-Umarmung konkretisiert das »Ordenkreuz« der »Ordenbr[ü]der« als Zusammenkommen von vertikaler mit horizontaler Seelenbewegung und überführt mit dem strukturell angrenzenden Bildfeld des Gitters die platonische Metapher vom Leib als Kerker der Seele in ein spannungsgeladenes und mehrschichtiges Bild: Zum einen verweisen die »Bein-Gitter« auf den von der Seele verlassenen Körper in seiner dauerhaftesten Ausprägung, derjenigen des Ske-

Studie nicht durchgängig in den Fußnoten kommentierte Ersetzung von Fremdwörtern der ersten Auflage durch deutsche Begriffe in der zweiten. Zu Jean Pauls Konzeption des ›hohen Menschen‹ vgl. auch Teil II, Kap. 1, Einleitung, und zur Genese der hohen Seelenbewegung Kap. 1.1.

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lettes, und verdeutlichen damit die Persistenz des Leiblichen über den Tod hinaus. Zum anderen ist das Gitter mit seiner ambivalenten Struktur von Abgrenzung und Durchblick dem Gefängnis als Bildfeld zugehörig und steht damit sowohl für die Ausgrenzung aus der Gemeinschaft der anderen als auch den Durchblick auf das erwünschte Andere. Die platonische Herkunft dieses prekären Verhältnisses von ins Transzendente aufstrebender und im Immanenten verbindungswilliger Seele macht das »Extrablatt« mit einer expliziten Bezugnahme auf Platons »Republik« und dem dort entworfenen Bild »vom tugendhaften Manne« deutlich, mit dem die Ideenlehre in einen gesellschaftspolitischen Rahmen eingeordnet wird. (I/1,222)83 Damit ist ein erster Baustein für das Programm der Bruderschaft der unsichtbaren Loge gewonnen: eine Art Jenseitsgemeinschaft im Diesseits, die zugleich eschatologisch und sozialpolitisch konzipiert ist. Geheime Gesellschaften Die konkrete Umsetzung dieses paradoxen Konzepts müsste allerdings so abstrus ausfallen, dass dies nur parodistisch erzählt werden kann. Im Anschluss an die erhabene Formulierung eines Seelenbundes, dessen Vervollkommnung am Widerstand des jeweiligen Leibes scheitert, verfolgt eine ganze Reihe parodistischer Argumente konkret die Frage, wie der störende Leib beiseite geschafft werden kann. Eine Form der Entkörperung, so heißt es da, sei beispielsweise bei den Hofleuten anzutreffen, die im Gegensatz zum anthropologischen Idealbild des ganzen Menschen sämtlich »nicht ganz« seien: darum sehe diese »fragmentarische Division wie ein Phalanx von Krüppeln aus«. Angeschlossen werden theologiehistorische Überlegungen zu der Frage, mit welchen Materieteilen wir auferstehen, und schließlich folgt als Kernstück der Argumentation das Entkörperungsprogramm von »geheimen mystischen Gesellschaften«: Heutiges Tages muß jede Seele von – Stand desorganisiert und entkörpert werden. Hier hat man nun nicht mehr als zwei ganz verschiedne Operationen. Die kürzeste und schlechteste meines Erachtens ist die, daß sich der Mensch – aufhenkt und daß so die Seele den Körper von sich wie eine Warze abbindet. Ich würde keinen Großen deshalb tadeln, wenn ich nicht wüßte, daß er die weit bessere und sanftere Operation vor sich

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Platon entwickelt in seiner Politeia (in der römischen Übersetzung De re publica und von daher die Jean-Paul’sche Eindeutschung der »Republik«) sowohl sein wirkungsmächtiges Höhlengleichnis, das Kernstück seiner Ideenlehre, das philosophiehistorisch stilbildend für die Formulierung des Leib-Seele-Problems geworden ist, als auch den Entwurf eines idealen Staates, in dem das Ziel der Gerechtigkeit über die gemeinsame und gleichberechtigte Bildung aller Jungen und Mädchen erreicht werden soll: Die neugeborenen Kinder werden nicht von ihren leiblichen Eltern, sondern von Erziehern als eine große Geschwistergemeinschaft erzogen, und die Zugehörigkeit zu einem Stand (Handwerker- und Bauernstand, Wächter oder Philosoph respektive Regent) erfolgt über persönliche Bildung und Leistung, nicht Geburt. Ausgenommen davon sind allerdings unrechtmäßige Geburten, sie haben in Platons Idealstaat kein Recht auf Leben.

habe, wodurch er seinen Leib gleichsam als die Form, worein die geistige Statue gegossen ist, bloß gliedweise ablösen kann. Ich will hier nicht in den Fehler der Kürze, sondern lieber in den entgegengesetzten fallen. (I/1,323f.)

Es folgt eine detaillierte Beschreibung, wie die Seele sich gemäß »Philosophen, die auch eine Seele haben« Körperteile »nach und nach zerfressen und abbeißen« muss, bis es zur »völligen Ertötung nicht mehr weit« ist und die Seele im Meere des Seins endlich schwimmen gelernt hat, ohne von ihrem Schwimmkleid nur so viel, als man zum Verkorken einer Flasche bedarf, noch um sich zu haben. Nachher wird man beerdigt. So wenigstens trägt man in geheimen Gesellschaften von Ton die menschliche Entkörperung vor. (I/1,324f.)

Die dreifache Nennung geheimer Gesellschaften84 und die zusätzliche derivative Formulierung der »zerbrochne[n] Gesellschaft« (I/1,325) lassen angesichts der sonst dünn gesäten Hinweise auf die titelgebende Arkangesellschaft der Loge aufhorchen. Zwar handelt es sich fraglos um eine Satire, die die Überhöhung der Seele von einer materialistischen Position aus ad absurdum führt und die zugehörige philosophische Position der Körpervergessenheit als eine Selbstkasteiung konkretisiert, die jedes Folterprogramm in den Schatten zu stellen vermag. Dennoch umkreist diese Argumentation genau jene Leerstelle, die die unsichtbare Loge überschreiben soll.85 Jean Paul tut dies wohl mit einer Referenz auf den Geheimbund der Illuminaten, zu dessen Leitideen die Frage einer Vorstellung von Seelenwanderung gehörte.86

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Zwischen den beiden zitierten Stellen findet sich noch die Formulierung: »Der philosophische Mann von Welt und das Mitglied geheimer desorganisierender Unionen schafft also von diesem Schwimm-Panzer anfangs nur das Fleisch an Beinen und Backenknochen beiseite.« (I/1,325). Dafür spricht auch, dass Ottomar, der im Zentrum der Arkangesellschaft der Loge steht, kurz zuvor im Erzähltext eine vergleichbare Entkörperung von Hofleuten »in Gedanken« vornimmt: »So brachte er z. B. fünf groteske Minuten bei der Residentin damit zu, dass er – da den eigentlichen Körper der Seele nur Gehirn und Rückenmark und Nerven ausmachen – den vernünftigsten Hofdamen und den schönsten Hofherrn die Haut abschund in Gedanken, ihnen ferner die Knochen herauszog und das wenige Fleisch und Gedärm, was sie umlag, wegdachte, bis nichts mehr auf der Ottomane saß als ein MarkSchwanz mit einem Gehirn-Knauf oben dran. [...] Das nennen viele das philosophische Pasquill.« (I/1,318) Bergengruen 2003, der in seiner Arbeit der Frage des commercium mentis et corporis nachgeht, macht die Passage I/1,324f. stark und interpretiert sie gemäß der Strategie der frühen Satiren als Hinweis auf eine Parodie des gesamten, in dieser Lesart nur empfindsam scheinenden Romans. Sinn 2007, S. 69 weist darauf hin, dass die Befreiung vom Leiblichen ein zentrales Thema in Christoph Meiners Mysterienschrift Über die Mysterien der Alten besonders über die Eleusinischen Geheimnisse (1776) ist, auf die sich der Gründer des Illuminatenordens, Adam Weishaupt, stützte. Dessen Schriften über Sinn und Zweck der Illuminaten waren nach dem Verbot des Ordens in den achtziger Jahren in rascher Folge erschienen und damit öffentlich geworden. Genauer zu Meiners Rolle (zusammen mit Johann Georg Heinrich Feder) als »philosophische Autoritäten« (S. 32f., 36) der Illuminaten und zu

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Die für das Geheimbundwesen typische esoterisch-politische Doppelfunktion87 ermöglicht Jean Paul, das transzendentale Kernstück des Romans – die Höhlenerziehung und Bildung zum hohen Menschen – mit dem noch näher zu bestimmenden gesellschaftspolitischen Thema zu verbinden. Die Illuminaten dürften sich dazu aus verschiedenen Gründen angeboten haben. Inhaltlich verbinden die Erziehung zur Tugend und zu vorbildlichen Menschen – diesem Ziel trug der erste Name »Perfektibilisten« des neu gegründeten Bundes Rechnung88 – sowie die versuchte Unterwanderung bestehender politischer Strukturen über tugendhafte Herrscher das Programm der Illuminaten mit der Loge. Von seiner Struktur her war der Geheimbund der Illuminaten der unsichtbarste aller Geheimbünde, da er organisatorisch die bestehenden Freimaurerlogen unterwanderte und im Unterschied zu letzteren – jedenfalls bis zu seinem Verbot – keine Öffentlichkeitsarbeit machte, sondern tatsächlich unsichtbar blieb89 und damit der Loge ihr titelgebendes Stichwort lieferte.90 Verbindend gewirkt hat nicht zuletzt die geographische Nähe: Bayern und damit der hauptsächliche Aufenthaltsort des jungen Jean Paul war das Stammland des 1776 in Ingoldstadt gegründeten Bundes. Zur Schreibzeit der Loge existierte der

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Weishaupts eigener philosophischer Position eines »sensualistischen Idealisten« (bes. S. 55ff.) vgl. Mulsow 2002. Dass Jean Paul in der Loge insbesondere auf den Bund der Illuminaten Bezug nimmt, ist in der Forschung schon oft geäußert worden, wobei die Einschätzungen, wie er das tut, sich diametral entgegen stehen: Harich 1974 geht von Jean Pauls literarischer Verstärkung der politisch-oppositionellen Bedeutung des Logenwesens gemäß seiner These der »Revolutions-Dichtung« aus (bes. S. 174ff.), Voges 1987 dagegen macht in seiner sorgfältigen Untersuchung plausibel, dass das Geheimbundmaterial der Loge seinen Realitätsgehalt aus der ästhetischen Funktionalisierung innerhalb der Romanstruktur bezieht, daran knüpft Jordheim 2007 an. Sinn 2007 untersucht dagegen ohne Rückbezug auf die schon bestehende Forschungslage die Frage, inwiefern Jean Paul konkrete Logen allegorisiere. Neben der politisch-gesellschaftlichen Dimension spielt die intellektuell-esoterische im Geheimbundwesen eine wichtige Rolle. Diese ist um Begriff und Sache des Geheimnisses zentriert und verspricht den Eingeweihten die stufenweise Partizipation an überwältigendem Geheimwissen. Das Arkanum, die Kehrseite der Aufklärung, zog gerade die aufgeklärte intellektuelle Elite in ihren Bann. Die neueste Forschung hält diese esoterische Dimension für den eigentlichen Kern des Geheimbundwesens. Vgl. ausf. dazu Teil I, Kap. 2.4.1, 2.4.2. Vgl. dazu Müller-Seidel/Riedel 2002, S. 25. Vgl. dazu ebd., S. 28, 44. Weiterer Stichwortgeber ist der Begriff der ›unsichtbaren Kirche‹, der im Protestantismus die ideelle christliche Glaubensgemeinschaft von den leiblich greifbaren Repräsentanten und Gemeindemitgliedern unterscheidet, und im Kontext freimaurerisch geprägter zeitgenössischer Diskussionen um eine imaginäre Einheit des Menschengeschlechts (z.B. in Lessings Freimaurergesprächen Ernst und Falk) eine große Rolle spielte. In der Loge fällt der Begriff der »unsichtbaren Kirche« (I/1,227) im Rahmen eines der bei Jean Paul so häufigen Gleichnisse.

Geheimbund der Illuminaten offiziell zwar nicht mehr, doch umso mehr wurde über ihn gesprochen: Die durch Cagliostros so genannten ›Geständnisse‹ von 1790 ausgelöste Verschwörungstheorie, gemäß der die Illuminaten maßgeblich die Französische Revolution zu verantworten hätten, wurde international rege diskutiert und löste in Bayern eine regelrechte Geheimbundhysterie aus.91 In diesem Klima diskursiver Verhandlungen und imaginärer Übersteigerungen ist Jean Paul nur einer unter anderen Autoren, die das Geheimbundmaterial literarisch verarbeiten.92 Mit dem Unterschied aber, dass Jean Paul dies parodistisch tut: So nimmt er in der Loge auf die illuminatische Verschwörungstheorie Bezug, in dem er Cagliostro an einem Souper bei der Residentin teilnehmen lässt, bei dem neben dem Fürsten auch Gustav und Beata anwesend sind.93 An dieser untypischen Bearbeitung des Geheimbundmaterials liegt es wohl, dass Knigge in seiner Rezension der Loge keine Verbindungen zwischen dem Romantext und der Diskussion um die Illuminaten herzustellen vermag, gäbe es unter den zeitgenössischen Rezipienten doch kaum einen, der dafür geeigneter wäre.94 Aus seiner parodistischen Verschiebung in eine »zerbrochne Gesellschaft« (I/1,325) soll in der Loge also das Programm der titelgebenden Arkangesellschaft erschlossen werden: Ein Bund liebender Seelen und hoher Menschen, die den Leib imaginär zu transzendieren suchen, um zu einer freien Seelenkommunikation zu finden. Organisiert ist dieser Bund in der dafür typischen brüderlichen Struktur, politisch verfolgt er wohl – so ist aus dem Subtext der illuminatischen Verschwörungstheorie zu schließen – republikanische Ziele. Um zu prüfen, ob sich für diese Vermutung weitere Textbelege finden lassen, gilt es nun, die im Brief vom 12. Juli 1792 an Christian Otto angelegte zweite Rezeptionsrichtung aufzunehmen, die den geheimen Naturforscher auf eine gesellschaftspolitische Dimension lenkt.

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Die Verbindung zwischen Illuminaten und der Französischen Revolution wurde von den Verschwörungstheoretikern in der Paris-Reise von 1787 der Illuminaten Johann Joachim Christoph Bode und Wilhelm von dem Busche festgemacht. Zwar war der Orden der Illuminaten schon 1784/85 offiziell verboten worden, Mitglieder des Ordens waren öffentlich verfolgt und zahlreiche Zensurmaßnahmen umgesetzt worden. Doch um 1790 erneuerte und verschärfte der bayrische Kurfürst das Illuminatenverbot: Priester und Beamte hatten in der Folge zu schwören, dass sie den Illuminaten weder angehört hatten noch je angehören würden. Vgl. zu diesen Zusammenhängen ausf. Teil I, Kap. 2.4.2. Vgl. ausf. dazu Voges 1987. Die neuere Forschung hat nachgewiesen, dass es vor allem der Bund der Illuminaten – oder genauer der Diskurs über diesen ist, der literarische Transpositionen angeregt hat. Vgl. Müller-Seidel/Riedel 2002, Schings 2002, Schings 1996. Vgl. I/1,268f: Teilnehmer »Nro. 5 war Cagliostro, der unter so vielen pointierenden Köpfen das Schicksal der Ärzte und Gespenster und Advokaten hatte, daß seine öffentlichen Spötter zugleich seine geheimen Jünger und Klienten sind.« Knigge war einer der führenden Köpfe des Illuminatenordens und rivalisierte mit dem Gründer, Adam Weishaupt, um die ideologische und organisatorische Vormachtstellung. Knigge unterlag in diesem Machtkampf. Vgl. u.a. Stammen 2002.

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Gesellschaftskritik Es ist vor allem die Jean Paul-Forschung der 1970er Jahre, die Jean Pauls Texte sozialkritisch gelesen und in dem nun schon mehrfach zitierten Brief zur »Titelfabrikatur« (SWIII/1,359) ihre Legitimation dafür gefunden hat. Wolfgang Harich, der die für diese Forschungsrichtung maßgebliche Arbeit vorgelegt hat, liest daraus die politische Absicht heraus, den kleinstaatlichen Despotismus durch eine Revolution zu stürzen.95 Auf der Basis einer Gesamtbeurteilung der sozialkritischen Züge des frühen Jean Pauls – seiner Parteinahme für die Armen, seiner Adelskritik, seiner Begeisterung für die frühe Phase der Französischen Revolution und seiner Hochschätzung der intellektuellen und politischen Leistungen Englands – interpretiert Harich Jean Paul als radikalen Demokraten, der in seinem ersten Roman die Loge als ideellen Angelpunkt zum Sturz des kritisierten Feudalsystems setze. Mit dieser These überzieht Harich fraglos die zuvor sorgfältig extrapolierten sozialkritischen und revolutionsbejahenden Äußerungen Jean Pauls, denn im ausgearbeiteten Text der Unsichtbaren Loge sind solch klare politischen Intentionen nicht auszumachen. Gänzlich unpolitisch aber ist die Loge denn doch nicht.96 Zu nennen ist hier die Adels- und Hofkritik, die sich als wichtigstes Satirenthema durch sämtliche Jean Paul-Texte hindurch zieht.97 In der Loge fungiert Ottomar, bei dem alle Fäden der Arkangesellschaft zusammen laufen, auch als »Verfasser einer Satire über den Fürsten«, jedenfalls wird diese Verfasserschaft vom Erzähler vermutet und über Motivwiederholungen wahrscheinlich gemacht. (I/1,376) Zu diesen Wiederholungen gehört der Motivkomplex der »Räuber«, den Ottomar schon in einem früheren Brief an Fenk aufgegriffen hatte: »sooft ich zusah, so wünscht’ ich, ich würde gehenkt mit meinen Räubern, wär’ aber vorher ihr Hauptmann und rennte mit ihnen die alte Verfassung nieder!« (I/1,220) Das Stichwort der Räuber bündelt die offenbar gewordenen Aktivitäten der Arkangesellschaft, »die überhaupt weit humoristischer und unschädlicher stiehlt

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Vgl. Harich 1974, S. 117: Der »unerwartete[n] Schlag in diesem Säkul«, der »durch dieses Buch vorbereitet werden sol« ist laut Harich die deutsche Revolution. Im Einschub »aber die Schwefel-Eidexe wird doch dem rothen Löwen entschlüpfen« gibt Jean Paul gemäß Harich seiner Befürchtung Ausdruck, der kleinstaatliche Despotismus sei nicht wie Frankreichs zentralistischer Absolutismus mit einem großen Schlag zu vernichten. Die Begriffe »Schwefel-Eidexe« und »rother Löwe« sind alchimistische Bezeichnungen, vgl. SWIII/1,531. Vgl. grundsätzlich zu politischen Inhalten bei Jean Paul Wölfel 1989, S. 143ff. Wölfel attestiert Jean Paul ein hohes politisches Bewusstsein, das sich in theoretischen Erörterungen und Satiren, aber nur marginal innerhalb der erzählten Geschichten manifestiere. Darauf ist in der Forschung schon oft hingewiesen worden, vgl. z.B. Sprengel 1977, S. 15ff. Jean Pauls Adelskritik liegt von ihrem politischen Gehalt her ganz im Rahmen dessen, wie sich die zeitgenössische Literatur hier positioniert. Das liegt unter anderem daran, dass Jean Pauls Kenntnisse der höfischen Welt zur Schreibzeit der Loge noch durchgängig literarisch vermittelte sind. Speziell an Jean Pauls Adelssatire ist hingegen schon hier, mit welcher Anschaulichkeit und Detailversessenheit er sie formuliert.

als jede andre«. (I/1,377) So haben diese Spießgesellen im Textverlauf schon das anlässlich der Fürstentrauer in Kirchen ausgelegte »Landtrauertuch«, (I/1,110) ein unverdientes »Grafen-Diplom«, »wichtige Akten« sowie alle Theaterkostüme mit Ausnahme der »bäurische[n]« gestohlen. (I/1,377) Damit nimmt die Räuberbande einen ständekritischen Standpunkt ein: Über das Entwenden von zeremoniellen und theatralischen Requisiten sowie von für unzulässig gehaltenen Urkunden übt die Arkangesellschaft Kritik an Adel und Klerus. Diese Aktionen werden vom Erzähler als ›humoristisch‹ und ›unschädlich‹ qualifiziert, offenbar hegt ›Jean Paul‹ große Vorbehalte bezüglich der Wirksamkeit der Konspiration. Erstaunlich ist deshalb, dass die räuberische Arkangesellschaft im Untergrund lebt,98 jedenfalls zeitweilig: »alle sieben Wochen auf fünf Tage« finden konspirative Treffen in Höhlen statt, über deren Inhalt nichts offenbar wird. (I/1,213)99 Bleibt das politische Programm im Halbdunkeln, so wird über die wiederholte Nennung der Räuber jedoch deutlich, dass die sozialpolitischen Bausteine der Loge literarisch vermittelt sind: Schillers von Jean Paul hoch geschätzter Sturm- und Drangtext liefert hierfür die intertextuelle Folie.100 Schillers Räuber sind nicht der einzige literarische Intertext für die Konspirationsszenarien der Loge. Zu nennen ist hier zum einen Wilhelm Friedrich von Meyerns Dya-Na-Sore oder die Wanderer. Eine Geschichte aus dem Sam-skritt übersetzt, ein in einem weder historisch noch geographisch fassbaren Indien spielender Geheimbundroman, der 1787–89 anonym erschienen war und den Jean Paul nachweislich geschätzt hat. Zum andern spielt das von Jean Paul wiederholt eingesetzte Narrativ vom verborgenen Prinzen eine Rolle.101 Diese Intertexte sind zwar insbe-

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Vgl. I/1, 376f.: »Diebe und Räuber würden für Separatisten und Dissenters im Staate gehalten und lebten [...] in Höhlen wie die ersten Christen und ebensolchen Verfolgungen ausgesetzt«, schreibt der für »ein wirkliches Mitglied dieser geheimen Gesellschaft« gehaltene Verfasser der Fürstensatire, der über eine ganze Reihe von Textstimuli als Ottomar identifizierbar ist. Die Topographie der Höhle ist eines der durchgängigen Attribute der Arkangesellschaft: Gustavs Erziehung zum hohen Menschen findet ebenso in einer Höhle statt wie die Versammlungen dieser »unterirdische[n] Menschenwelt«, (I/1,419f.) deren Entdeckung schließlich zum Scheitern ihrer Aktivitäten und zum Abbruch des Erzähltextes führt, da der Erzähler dem dabei gefangen genommenen Gustav zu Hilfe eilen muss. Vgl. auch I/1,194, 318, 409. Der intertextuelle Verweis auf Schillers Räuber und die Verbindung mit den Streichen der Loge ist in die Jean Paul-Forschung von Berend eingebracht worden (SWI/2,460) und schon Harich 1974, S. 174ff. verbindet diesen Motivkomplex mit dem illuminatischen Subtext. Diese erhellende Textbeobachtung wird allerdings durch Harichs historische Fehleinschätzung der Logenaktivitäten und durch seine Überbewertung der JeanPaul’schen Transposition der »politisch-oppositionelle[n] Bedeutung des Logenwesens« (S. 176) getrübt. Vgl. zu diesen und weiteren Intertexten Berend in SWI/2,XXXIVf., Harich 1974, S. 166ff., Köpke 1977, S. 349ff., Müller 1996 (1982), S. 29–44, Berhorst 2002, S. 251ff, Schmitz-Emans 2005, hier: S. 160ff., Jordheim 2007, S. 260ff. Schillers Geisterseher, der

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sondere für den Hesperus und den Titan wichtig geworden, doch auch schon in der Loge greifbar. Das Narrativ vom verborgenen Prinzen ist im Handlungsverlauf vor allem über die Vorarbeiten zu erschließen,102 die Dya-Na-Sore mit ihrer Verbindung von leiblichen Brüdern und Bundesbrüdern, die in einer durch Sittenverrohung gekennzeichneten Gesellschaft eine an sittlichen Idealen orientierte gesellschaftliche und politische Erneuerung herbeiführen sollen, liefert jedoch eine deutlich fassbare Systemreferenz für das Geschwisterdispositiv der Loge.103 Neben diesen im Literatursystem verbleibenden Transpositionen sozialpolitischer Entwürfe104 gibt es auch einige Reminiszenzen auf nicht primär Literarisches. Auch hier ist es die Figur Ottomars, an der am ehesten ein politischer Diskurs zum Tragen kommt: Die Höfe erzürnten ihn durch ihre Gefühllosigkeit, durch seinen Bruder, durch den Volkdruck, dessen Anblick ihn mit unüberwindlichen Schmerzen erfüllte. [...] Auch war ihm wenig daran gelegen, von denen geachtet zu werden, die er selber nicht achtete; unter seinen großen philosophischen, republikanischen Ideen oder Idealen wurden ihm die Kleinigkeiten der Gegenwart unsichtbar und verächtlich [...]. (I/1,317f.)

Ottomar, der illegitime Bruder des Fürsten, ist nicht nur ein satirischer Hofkritiker, sondern auch Republikaner. Damit ist er doppelt im Geschwisterdispositiv verankert, und dies beide Male in einem politischen Kontext: Als Halbbruder des Fürsten ist er über eine eigentliche – wenn auch keine rechtmäßige – Geschwisterschaft mit der Herrschaftsstruktur verbunden, die er mit seinen republikanischen Bundesbrüdern stürzen oder reformieren will. Diese republikanische Gesinnung gibt er an Gustav weiter.105 Anzunehmen ist, dass die Verwirklichung republikanischer Ideen und Ideale auch in der Loge letztlich nicht über eine Revolution, sondern

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Prototyp des Geheimbundromans, fungiert in der Loge dagegen höchstens über verallgemeinerbare Systemmerkmale des Genres als Intertext. Vgl. dazu Voges 1987, S. 543. Im Text verweist das verschwundene Kind Ottomars darauf, vgl. dazu Berend in SWI/2,XXIIIff. Wie noch zu zeigen sein wird, umspielt das zweite Romanprojekt, das in der Loge um die Figur Gustav konzipiert wird, Oefels »Großsultan«, dieses Narrativ des verborgenen Prinzen. Müller 1996 (1982), S. 30, weist die Nähe der Fabel vom verborgenen Prinzen zum Programm der Illuminaten nach, da beide eine indirekte Gewaltnahme auf der Basis von Tugenderziehung vorsehen. Orientiert hat sich Jean Paul auch am Sprachduktus der Dya-Na-Sore, deren elegischer Stil er sich in seinem »roten Erfindungsbuch« zum Vorbild nehmen wollte und an den er noch in der Vorschule (§86) anknüpft. Vgl. Berend in SWI/2,XXXIVf. Was Jean Paul bei seiner ersten Lektüre nicht wusste: Der Autor des von Schiller in einer Rezension in der Allgemeinen Literatur-Zeitung Nr. 103 vom 29.4.1788 zerrissenen Erfolgsromans stammte aus der mittelbaren Nachbarschaft Jean Pauls, aus Ansbach. Nachzutragen ist hier noch das Genre des Staatsromans, das die politische Handlung der Loge ebenfalls speist, wie sich deutlich an der utopischen Insel, einem Kernelement der Staatsutopie, zeigt. Vgl. dazu Voges 1987, S. 539, Jordheim 2007, S. 277ff. Vgl. I/1,318. Grundsätzlich zu Jean Pauls »poetische[m] Republikanismus« vgl. Wölfel 1989, S. 171.

über indirekte Gewaltnahme angestrebt wird, wie sie im Narrativ des verborgenen Prinzen angelegt und im Hesperus und Titan ausgeführt wird.106 Erzählt wird solches in der Loge aber nicht, einzig Gustavs sorgfältige Erziehung durch den Herrnhuter Genius ist ausführlich Thema, und schon Gustavs Einbindung in die Arkangesellschaft um Ottomar muss erschlossen werden. Es ist das Geschwisterdispositiv, das die Verbindung zwischen der herrnhuterischen Erziehung und dem Logenwesen leistet, die dafür notwendige Disposition schafft die mehrschichtige Geschwistergenese, die Gustav als Kind durchläuft.107 Die Pointe daran ist, dass solches an einem Kind statuiert wird, das als Einzelkind über keine eigentlichen Geschwister verfügt, und mehr noch, das in seiner frühen Kindheit von jedem zwischenmenschlichen Kontakt isoliert und allein dem Herrnhuter Genius überantwortet wird: So wird sicher gestellt, dass nur die Einflüsse zum Tragen kommen, die gewünscht sind und die durch ihre Konkurrenzlosigkeit umso stärker wirken können. Geschwisterlichkeit als innere Einstellung sowie intersubjektive Geschwisterbeziehungen müssen von Gustav erarbeitet, performativ hergestellt und in steter Wiederholung versichert werden. Im Umkreis der Loge geschieht diese performative Wiederholung dann in ritualisierter Form in klar geregelten periodischen Abständen. Geschwisterlichkeit und Geschwisterbeziehungen sind in der Loge damit das Resultat von Erziehung und Bildung. GeschwisterErfahrungen sind nicht per se gegeben, sondern stets vermittelt. Der erzählerische Aufwand, mit dem die Bildung und Erfahrung von Geschwisterlichkeit und Geschwisterschaft ermöglicht wird, macht deutlich, von welcher Wichtigkeit das Geschwisterdispositiv für das Erzählarrangement der Loge ist: Es bildet – zusammen mit der Transzendenz-Bewegung – die Grundlage für das Projekt der Verbesserung des Menschen als Individuum und im Zusammenleben als Kollektivgesellschaft. Mit welchen sozialpolitischen Konzepten die kollektive Verbesserung aber konkret erreicht werden soll, bleibt unerzählt. In der Vorrede zur zweiten Auflage von 1821 sieht sich Jean Paul deswegen zu einer Erklärung genötigt: Es ist eigentlich ziemlich spät, daß ich erst nach 28 Jahren sage, was die beiden Titel des Buchs sagen wollen. Der eine unsichtbare Loge soll etwas aussprechen, was sich auf eine verborgene Gesellschaft bezieht, die aber freilich so lange im Verborgnen bleibt, bis ich den dritten oder Schlußband an den Tag oder in die Welt bringe. Noch deutlicher läßt

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Vgl. zu diesen Zusammenhängen Müller 1996, bes. S. 31. Der Begriff der ›indirekten Gewaltnahme‹ stammt von Reinhard Koselleck und meint jenen bürgerlichen Traum, den absolutistischen Staat von Innen her so zu reformieren, dass ohne Gewalt und Revolution ein Bürger auf den Thron kommen könne. Götz Müller liest die indirekte Gewaltnahme von ihrer literarischen Gründungsgeschichte bei Louis Sébastian Mercier in L’An 2440 von 1768 her und verfolgt sie als Narrativ vom ›verborgenen Prinzen‹ zu Wieland, Jean Paul und Schiller. Vgl. zur Erziehung zu Geschwisterlichkeit und zur Geschwistergenese Teil II, Kap. 1; zur geschwisterlichen Struktur der Herrnhuter und der Geheimbünde Teil I, Kap. 2.4.3 und 2.4.1.

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sich der zweite Titel Mumien erklären, der mehr auf meine Stimmung, so wie jener mehr auf die Geschichte, hindeutet. (I/1,20)

Vier Jahre später, inzwischen schwer krank und fast erblindet, entschuldigt sich Jean Paul »bei den Lesern der sämtlichen Werke in Beziehung auf die unsichtbare Loge«, dass diese »[u]ngeachtet [s]einer Aussichten und Versprechungen […] eine geborne Ruine« bleibt. (I/1,13).108 Der »Schlußband« also ist nicht realisiert worden, das Werk ist Fragment geblieben, und für die auf der Spur der unsichtbaren Loge Lesenden heißt dies, Indizien zusammen zu tragen. Spurensicherung Fassen wir die Spuren also nochmals zusammen: Eine äußere Geschichte wird erzählt von satirisch-harmlosen Diebeszügen, von konspirativen Treffen in unterirdischen Höhlen und von Gustav, der über ein ausgeklügeltes Erziehexperiment in eine all dies bündelnde Geheimgesellschaft eingeführt werden soll. Diese Arkangesellschaft bildet den institutionellen Rahmen, sie ist als Bruderschaft konzipiert, Ottomar ist die zentrale Figur, insgesamt aber bleibt die Loge unsichtbar. Das Programm der Loge verbindet politische mit esoterisch-eschatologischen Inhalten, aufgrund von Gustavs sorgfältiger Tugenderziehung ist anzunehmen, dass auch die individuelle Vervollkommnung zur Tugend dazu gehört. Sozialpolitisch verfolgt die Loge neben einer Kritik an den herrschenden Ständen eine gemäßigt republikanische Ideologie, die wahrscheinlich auf eine indirekte Gewaltnahme durch einen tugendhaften Herrscher, und nicht auf eine gewaltsame Revolution gemäß französischem Vorbild zielt. Die Bausteine dieses politischen Programms sind diskursiv und literarisch vermittelt: über den Geheimbunddiskurs, die illuminatische Verschwörungstheorie und den Diskurs über die Französische Revolution sowie über die Literarisierung des Geheimbundmaterials und Intertexte wie die Politeia, Die Räuber, Dya-Na-Sore und das Narrativ vom verborgenen Prinzen. Geschwisterlichkeit als innere Einstellung und Geschwisterbeziehungen als soziale Kompetenz bilden dafür das moralische und praktische Fundament. Hinzu kommt die Transzendenzbewegung der Seele, die im Initiationserlebnis der Auferstehung aus der Höhle begründet und vom ausgebildeten hohen Menschen stets gesucht wird. Vierfacher Schriftsinn Welche Kompetenzen benötigen also »geheime Naturforscher« um daraus die versteckten »höhern Beziehungen« ableiten zu können? Jean Paul hat sie in seinem

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Der Hinweis auf Schillers Don Karlos, der sich in dieser »Entschuldigung« findet, bestärkt hingegen nochmals die politische Isotopie und den illuminatischen Subtext der Loge und verweist über den Hinweis der »zwei Zeiten und zwei Stimmen«, die aus ihm sprechen, auf eine veränderte Einstellung dazu. (I/1,13) Vgl. zu Don Karlos als komplexer Bearbeitung des Illuminatentums Schings 1996, Borchmeyer 2002.

Brief zur »Titelfabrikatur« aufgelistet: Sie müssen »den mystischen, allegorischen, politischen Kern« ›riechen und fressen‹ können, den »ungelehrt[e] Leser« übersehen. Gelehrt also hat der Modell-Leser zu sein, und zusammen mit dem nicht unbescheidenen Kontext stilbildender Werke der Weltliteratur, in den Jean Paul seinen Erstlingsroman hier stellt – »Homers Odyssee [...], die Aeneis, Virgils Eklogen, Dantes Hölle etc.« (SWII/1,360) –, vervollständigt sich das Stellenprofil des geheimen Naturforscher: Gefordert ist ein Schriftgelehrter, der die Loge wie das Buch der Bücher im vierfachen Schriftsinn lesen kann. Die Abfolge ›mystisch, allegorisch, politisch und ungelehrt‹ lässt sich mit einer kleinen Umstellung der Reihenfolge unschwer auf die klassische hermeneutische Formel beziehen: »Littera gesta docet, quid credas allegoria, / Moralis quid agas, quo tendas anagogia«.109 Literal erzählt die Loge eine Reihe merkwürdiger Begebenheiten, an denen sich – analog zur Argumentation der Kirchenväter über profane Literatur und die Heilige Schrift 110 – auch ungelehrte Leser vergnügen können. Der allegorische Schriftsinn der Loge lässt sich zweifach lesen: Zum einen nah an der exegetischen Tradition, in der die Allegorie auf den dogmatischen Lehrgehalt der Texte und die dahinter stehende Institution der Kirche verweist.111 Geheime Naturforscher aktualisieren in der Loge demgemäß die Institution der Arkangesellschaft, deren Grundsätze und Absichten.112 Verstehen wir die Allegorie in ihrem zeitgenössischen hermeneutischen Sinn, wie sie von Schleiermacher angeregt als ›systematisch durchgeführte Anspielung‹ bestimmt worden ist,113 so decken besagte Naturforscher auch die verhandelten Intertexte und Diskurse auf, die diese Institution und ihr Programm speisen. Die beiden verbleibenden Schriftsinne hat Jean Paul in seinem Brief anders genannt:

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»Der buchstäbliche Sinn lehrt, was geschehen ist; der allegorische, was man glauben, der moralische, was man tun, und der anagogische, wohin man streben soll«, so die Übersetzung des seit dem 13. Jahrhundert überlieferten Merkverses im entspr. Artikel bei Ritter, Bd. 8 (1992), Sp.1434. Während die profane Literatur nur den historischen oder Buchstabensinn hat, beinhaltet die Heilige Schrift daneben auch einen höheren geistigen Sinn, den sensus spiritualis. Mag dem einfachen Gläubigen der geschichtliche Sinn genügen, so geht es der mittelalterlichen Wissenschaft um die Erschließung des geistigen Sinnes, vgl. Ohly, 1958/59, S. 2ff. Das viel zitierte Beispiel von Johannes Cassian aus den Collationes (XIV,8) über die vier Bedeutungen von Jerusalem nennt denn auch für den allegorischen Sinn Jerusalem als Bild für die Kirche Christi. Literal bedeutet Jerusalem die historische Stadt, moralisch die menschliche Seele, anagogisch den Himmel als ewige Gottestadt, vgl. Ritter, Bd. 8 (1992), Sp. 1434. Ohly 1958/59, S. 10, definiert das mittelalterliche Allegorieverständnis als Verhältnis von Präfiguration (in Antikem) und Erfüllung (in Christlichem). Das zeitgenössische Verständnis der Geheimgesellschaften lässt sich unschwer an diese Struktur anschließen, verstehen sich die geheimen Gesellschaften doch als solche, die antikes Mysterienwissen zeitgemäß verstehen und umsetzen wollen. Vgl. zum literaturwissenschaftlichen Lehrsatz der »systematisch durchgeführten Anspielung« Kurz 1997, S. 38, der sich seinerseits auf Schleiermachers Hermeneutik beruft.

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Den moralischen nennt er politisch und weist damit direkt auf die gesellschaftliche Dimension des Handlungsgebotes. Sind die sozialpolitischen Konzepte der unsichtbaren Loge im Text auch wenig ausgeführt, so belegt diese Formulierung nochmals die dahinter stehende Überlegung, besagte Loge politisch aktiv werden zu lassen. Und schließlich verbleibt »des Wortes anagogischer, in den Himmel hinaufführender eschatologischer Sinn«,114 der bei Jean Paul ein mystischer genannt wird.115 Diese Leseanweisung positioniert das eschatologische Programm der unsichtbaren Loge nicht auf der Ebene höchster Wahrheiten über die zweite Welt, sondern ordnet präziser das Streben nach Befreiung der Seele vom Irdischen der Ebene mystischer Suchbewegungen und Erfahrungen zu. So weit also die Exegese nach der brieflich formulierten Leseanweisung, die darauf abzielt, die »rechten Namen« (SWII/1,359) zu wissen und damit die »geborne Ruine« (I/1,13) Stück für Stück als Teil eines imaginären Ganzen lesbar zu machen und sich im hermeneutischen Zirkel über die Teile des Ganzen zu versichern.116 Ist es ein Mann wie Jean Paul, als Talent von Wert, als Mensch von Würde, so befreundet sich der angezogene Leser sogleich; alles ist erlaubt und willkommen. [...] Man übt seinen eigenen Witz, indem man die wunderlich aufgegebenen Rätsel zu lösen sucht, und freut sich in und hinter einer buntverschränkten Welt, wie hinter einer andern Scharade, Unterhaltung, Erregung, Rührung, ja Erbauung zu finden.

So urteilt Goethe in seinen poetologischen Überlegungen zum »besseren Verständnis des West-östlichen Divans« in seiner »Vergleichung« Jean Pauls mit einem »Orientalen«,117 und erweist sich damit zugleich als Idealbesetzung für das Stellenprofil des geheimen Naturforschers: Die vier Grade der Lesehaltung – »Unterhaltung, Erregung, Rührung, ja Erbauung« – lassen sich auf die Formel vom vierfachen Schriftsinn beziehen,118 und darüber hinaus bringt Goethe als versierter

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Ohly 1958/8, S. 10f.. Dabei ist der mystische Schriftsinn selbst Teil der historischen Genealogie des vierfachen Schriftsinnes: Der sensus mysticus bezeichnet den in den Dingen verborgenen geistigen Sinn, sofern er verschlossen ist, der sensus spiritualis, sofern er aufgedeckt wird, vgl. Ohly 1958/59, S. 9. Im Hinblick auf die gesamte Geheimbund-Thematik der Loge mag darin nochmals ein Hinweis auf die Struktur von Rätsel und Aufklärung liegen, dafür spricht sowohl die Stellung in der Reihung ›mystisch, allegorisch, politisch, ungelehrt‹ im Brief zur ›Titelfabrikatur‹ als auch die Apposition bei der Nennung der Arkangesellschaften im Erzähltext als »geheim[e] mystisch[e] Gesellschaften«. (I/1,324) Daneben gibt es eine protestantische Version vom sensus mysticus, die auf Luthers Ablehnung der Lehre vom vierfachen Schriftsinn beruht, vgl. Ritter, Bd. 8 (1992), Sp. 1435f. Bei der Differenzierung der einzelnen Schriftsinne für die Loge macht es aber mehr Sinn, den Begriff konkreter zu verstehen und mit der Tradition der Mysterien und mystischer Erfahrungen in Verbindung zu setzen. Diese Versicherung der fragmentarischen Form als Werk leistet eine poetologische Realisierung des Geschwisterdispositivs, vgl. Teil II, Kap. 4. Goethe, Werke, Bd. 2, S. 183–6. Vgl. dazu Dangel-Pelloquin 1999, S. 37ff., bes. auch S. 48, die diese Korrespondenz aus-

Kenner und innovativer Bearbeiter von Geheimbundmaterial119 genau die dafür erforderliche enzyklopädische Kompetenz mit. Um die von Jean Paul aufgegebenen Rätsel zu lösen, ist jedoch nicht nur der Witz des Hermeneuten gefordert, sondern auch derjenige des Autors zu beachten: Die Loge ist kein heiliger Text, der Glaube, Liebe, Hoffnung120 und damit eine je spezifische Seite einer grundsätzlich gegebenen Wahrheit lesbar macht. Die Loge ist wie jeder Roman von Jean Paul ein dualistischer Text, der seine eigenen Vorgaben satirisch und parodistisch hintertreibt und das eigene Gemachtsein gerade zu persistent reflektiert. Damit wirkt er ideologiekritisch selbst bei seinen höchsten Themen – der Transzendenz der Seele, der Tugend und der Geschwisterlichkeit –, die er jeweils durch eine satirische Gegenbewegung relativiert. Solches geschieht nicht nur für Teile der Narration, sondern für die Lebensbeschreibung insgesamt. Muss diese doch innerhalb des Textes mit einem Konkurrenzprojekt rivalisieren, dem Roman des Hofpoeten Oefel, der ebenfalls aus nächster Beobachtung entstehen und Gustav als Helden haben soll: Was indessen Oefel an Gustav am höchsten schätzte, war, daß er in seinen Roman zu pflanzen war. Er hatte in der Kadetten-Arche siebenundsechzig Exemplare studiert, aber er konnte davon keines zum Helden seines Buchs erheben, zum Großsultan, als das achtundsechzigste, Gustav. Und der ist gerade mein Held auch. Das kann aber unerhörte Leselust mit der Zeit geben, und ich wollte, ich läse meine Sachen und ein andrer schriebe sie. Er wünschte meinen Gustav zum künftigen Erben des ottomanischen Throns auszubilden, ihm aber kein Wort davon zu sagen, daß er Großherr würde – weder im Roman noch im Leben; – er wollte alle Wirkungen seines pädagogischen Lenkseils niederschreiben und übertragen aus dem lebendigen Gustav in den abgedruckten. (I/1,208) 121

Oefels Romanprojekt trägt den Titel »Großsultan« und zielt damit darauf ab, ein alternatives politisches Modell an Gustav zu realisieren, das unschwer als Ausführung des Narrativs vom verborgenen Prinzen erkennbar ist. Wird dieses durch eine phantastische Einbeziehung ottomanischer Genealogie auch verfremdet, so ver-

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führt und die ihre Lektüre von Klotildes Eintritt in den Text des Hesperus im vierfachen Schriftsinn unter dieses Motto stellt. Vgl. zur umfangreichen Forschung über Goethe und die Geheimbünde die Einleitung in Müller-Seidel/Riedel 2002 und zur Bearbeitung des illuminatischen Subtextes im Meister Schings 2002. So eine alternative Strukturformel für die drei vom literalen Sinn unterschiedenen geistigen Schriftsinne, die sich an den drei christlichen Kardinaltugenden orientiert, vgl. Oeming 1998, S.12. Vgl. auch I/1,182: »Oefel fing ihn [Gustav, F.F.G.] sogleich zu beobachten an, um ihn abends zu beschreiben«. Und I/1,194: »Oefel ließ sich alles rapportieren und machte daraus ein paar Sektores in seinem Roman, den ich und der Leser hoffentlich noch zu sehen bekommen. Ich wollte, seiner käme eher als meiner in die Welt, so könnt’ ich den Leser darauf verweisen und vielleicht einige Anekdoten daraus nehmen.« Zur Autorschaftsfigur Oefel vgl. auch Schmitz-Emans 2008, S. 164ff.

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weist es mit seiner zu Grunde liegenden Strukturanalogie doch zurück auf die Lebensbeschreibung durch ›Jean Paul‹. So sehr die beiden Bücher vordergründig von einander differieren und miteinander rivalisieren,122 so sehr haben sie hintergründig miteinander zu tun. Wie es sich schon beim »Geburttag-Drama« (I/1,326)123 gezeigt hat, entlarven die als Plagiate kenntlich gemachten Texte Oefels in einem selbstreferentiellen Gestus auch die Konzepte des Erzählers als Umgang mit literarischen Versatzstücken. Oder positiv gewendet, als ein Erzählen, das um sein innovatives Spiel mit Intertexten weiß und genau daraus die Lust am Text speist.

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Vgl. I/1,212: »Letzterer [Oefel, F.F.G.] triebs noch weiter und kartete es listig ab, daß Gustav, dieser Großsultan, dieser Held zweier gut geschriebner Bücher [...]. Der Romanschreiber hat also einen Vorteil vor dem Lebensbeschreiber (ich bins) voraus: er schläft neben seinem Helden.« Sowie I/1,249f.: »Von Oefels Roman Großsultan erscheinet in der Hofbuchhandlung künftige Messe nichts als das erste Bändchen; und es wird dem minorennen Publikum, das unsre meisten Romane lieset und macht, angenehm zu hören sein, daß ich in den Oefelschen Großsultan ein wenig geblickt und daß darin die meisten Charaktere nicht aus der elenden wirklichen Welt, die man ja ohnehin alle Wochen um sich hat und so gut kennt wie sich selber, sondern meistens aus der Luft gegriffen sind, diesem Zeughaus und dieser Baumschule des denkenden Romanmachers«. Vgl. Teil II, Kap. 2.2.2.

4.

Schriftgeschwister

Mit einer »schreiende[n] Dissonanz« (I/1,400) bricht die Loge auf der Höhe der idyllischen Erfüllung in Lilienbad abrupt ab. Hatte sich die kleine Gesellschaft eben noch auf nicht mehr überbietbaren Höhen freudiger Empfindung bewegt, ja wird sogar angedeutet, dass die den Lebensweg des Protagonisten begleitenden »Dissonanzen«1 nun aufgelöst seien und alles zum Ganzen sich runden würde, so bricht mit dem letzten Sektor die Reihe der »Freuden-Sektor[en]« ab und führt einen Umschlag herbei.2 Dieser letzte Sektor, dessen Überschrift bezeichnenderweise durch neun Kreuze markiert ist, wird von einem editorischen Kommentar der Schwester von ›Jean Paul‹ eingeleitet, da dieser aus dem Buch eilen musste: ††††††††† Wir unglücklichen Brunnengäste! Es ist vorbei mit den Freuden in Lilienbad. – Die obige Überschrift konnte noch mein Bruder machen, eh’ er nach Maußenbach forteilte! Denn Gustav liegt da im Gefängnis. Es ist alles unbegreiflich. Meine Freundin Beata unterliegt den Nachrichten, die wir haben und die im folgenden Briefe vom Herrn Doktor Fenk an meinen Bruder heute ankamen. Es ist schmerzhaft für eine Schwester, daß sie allzeit bloß in Trauerfällen die Feder für den Bruder nehmen muß. Wahrscheinlich wird die folgende Hiobspost dieses ganze Buch so wie unsere bisherigen schönen Tage beschließen. (I/1,418)

Aus dem folgenden Brief Fenks, der den in Sektoren geordneten Erzählteil der Loge – wenn auch nicht das Buch als solches3 – beschließt, erfahren die Lesenden, dass durch tragischkomischen Zufall Gustav und Ottomar, die sich auf eine jener wiederkehrenden geheimnisumwitterten fünftägigen Reisen gemacht hatten, gefangen

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Das Motiv der Dissonanz wird anhand jenes »in zwei Hälften zerschnitten[en]« Notenblattes eingeführt, das der herrnhutische Genius seinem Zögling Gustav beim Abschied hinterlässt: »die eine (Hälfte, F.F.G.) enthielt die Dissonanzen der Melodie und die Fragen des Textes dazu, auf der andern standen die Auflösungen und die Antworten. Die dissonierende Hälfte sollte sein Gustav bekommen; die andere behielt er: ›Ich und mein Freund‹, sagt‹ er, ›erkennen einmal in der wüsten Welt einander daran, daß er Fragen hat, zu denen ich Antworten habe.‹« (I/1,64) Eben diese Antworten, so vermutet der Lebensbeschreiber im vorletzten Sektor, seien nun in Lilienbad zu hören. Eine Vorstudie zu diesem Kapitel ist Frei Gerlach 2004. Zu den »Freuden-Sektoren« in Lilienbad vgl. Teil II, Kap. 2.3. Es folgen seit dem Erstdruck erstens die Idylle Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal und zweitens die Nachrede »Ausläuten oder Sieben Letzte Worte an die Leser der Lebensbeschreibung und der Idylle«.

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respektive knapp dem Tode entronnen sind. Die letztliche Auflösung der mit der Spur der Loge im Text aufgegebenen Rätsel steht damit weiterhin aus und ist von Jean Paul – trotz anderslautender Absichtserklärungen – nicht eingelöst worden. Schon mit dem Nachwort, dem »Ausläuten oder Sieben Letzte Worte an die Leser« wendet er sich neuen Projekten zu und belässt auch in den späteren Auflagen die Loge als »eine geborne Ruine«, wie er in der »Entschuldigung bei den Lesern der sämtlichen Werke in Beziehung auf die unsichtbare Loge« (I/1,13) kurz vor seinem Tod noch schreibt. Vor diesem Befund des zum Fragment »geborne[n]« Textes ist signifikant, wie der Schluss des Romans herbeigeführt wird, stellt doch das Beschließen eines »offenen Kunstwerks« die eigentliche ästhetische Herausforderung dar. 4 Der Lebensbeschreiber ›Jean Paul‹, der ja auch als handelnde Figur den Lebensweg Gustavs begleitet und gewöhnlich um Kommentare zur Schreibsituation nicht verlegen ist, meldet sich im abschließenden Sektor nicht mehr zu Wort, allein die ikonographische Überschrift stammt noch von ihm. Gelesen werden kann das Kreuzeszeichen als inhaltlicher Hinweis auf jene »Trauerfäll[e]«, die im editorischen Kommentar der Schwester angekündigt und im abschließenden Briefdokument berichtet werden. Die aufschlussreichere Bedeutung liegt aber auf der Ebene der Selbstreflexion der Schrift:5 Poetologisch verweist das Kreuzeszeichen auf das physische Ende der Schrift, zugleich aber auch auf deren Leben jenseits des Schreibprozesses, auf das – gemäß der bei Jean Paul zentralen christlichen Eschatologie – ewige Leben, das dem fertigen Buch in der Rezeption beschieden sein wird.6 4

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Die Kriterien, die Umberto Eco in seiner »Poetik des offenen Kunstwerks« festlegt, erfüllt Jean Paul allemal: 1. »die Einladung, zusammen mit ihrem Hervorbringer das Werk zu machen«; 2. »zwar physisch abgeschlossen, aber dennoch ›offen‹ [...] für ständige Neuknüpfungen von inneren Beziehungen« und 3. »offen [...] für eine virtuell unendliche Reihe möglicher Lesarten« zu sein. (Eco 1977, S. 57) Im Lector in fabula (1987) zeigt sich dann deutlicher, dass dem von Eco definierten Typus des Kunstschaffens v.a. jene Texte zugehören, die ihr Gemachtsein thematisieren, worin es Jean Paul bekanntlich zu kaum zu überbietender Meisterschaft gebracht hat. Eine ganz besondere selbstreferentielle Pointe dürfte darin liegen, dass Jean Paul mit der neunmaligen Zeichensetzung sich und den Lesenden mit diesem Schlusskapitel jene Knacknuss aufgibt, deren Unlösbarkeit in den Vorüberlegungen zur »Titelfabrikatur« durch das Fehlen des »9ten Nusknaker[s]« indiziert ist, wie Jean Paul in seinem Brief vom 12. Juli 1792 an Christian Otto schreibt. (SWIII/1,359) Vgl. zur ausf. Zitation und Analyse dieses Briefes Teil II, Kap. 3.2. Die Engführung von Schrift- und Todeszeichen im Kreuzeszeichen steht in jener Tradition, die Derrida in seinen grundsätzlichen Überlegungen zum Wesen der Schrift in das Dictum fasst: »Jedes Graphem ist seinem Wesen nach testamentarisch.« (Derrida 1983, S. 120) Derrida bezeichnet damit die für den Differenzcharakter der Schrift grundlegende Abwesenheit des Subjekts der Schrift respektive der Sache oder des Referenten, die einen Aufschub an Sinn und die Nachträglichkeit von Bedeutung im Rahmen des Spiels der Zeichen bedeuten. Letztgewissheiten sind aus dieser Denkweise kategorisch ausgeschlossen. Jean Paul dagegen setzt die testamentarischen Zeichen seiner metaphysikkritischen Äußerungen (Ottomar in der Loge: »Ich habe mit dem Tode geredet, und

Dieser Zusammenhang von Kreuzeszeichen, Tod des Schreibens und ewigem Leben der Schrift wird in den »Sieben Letzte[n] Worte[n]« ausgeführt, die formal auf die letzten Worte Christi vor seinem Kreuzestod verweisen: Und eben dieses, daß die Hand eines Menschen über so wenige Jahre hinausreicht und daß die so wenige gute Hände fassen kann, das muß ihn entschuldigen, wenn er ein Buch macht: seine Stimme reicht weiter als seine Hand, sein enger Kreis der Liebe zerfließet in weitere Zirkel, und wenn er selber nicht mehr ist, so wehen seine nachtönenden Gedanken in dem papiernen Laube noch fort und spielen, wie andre zerstiebende Träume, durch ihr Geflüster und ihren Schatten von manchem fernen Herzen eine schwere Stunde hinweg. – Dieses ist auch mein Wunsch, aber nicht meine Hoffnung. (I/1,465)

In der Opposition von »Wunsch« und »Hoffnung« ist auch der Zweifel präsent, der den im Matthäus- und Markus-Evangelium analog überlieferten und in der traditionellen christlichen Liturgie an vierter Stelle stehenden Variante der sieben letzten Worte Christi ihre paradoxe Stellung in der christlichen Eschatologie verleiht.7 Doch bei allem Gewicht, das der Wunsch nach Wirkung aus der Einordnung des Textes in die christliche Eschatologie durch den Erzähler bezieht, das letzte Wort der erzählten Handlung gehört nicht ihm selbst. Es ist »eine Schwester«, die in »Trauerfällen die Feder für den Bruder nehmen« und die »Hiobspost« (I/1,418) des abrupten Schlusses ankündigen muss, an sie fällt die Aufgabe, das Stückwerk von Sektoren und Extrablättern formal zu einem Werk zu formen. Im Folgenden soll plausibel werden, dass das aufgeworfene ästhetische Problem, wie das Fragment zu Werkcharakter kommt, in der Loge mit der Einführung einer Schriftschwester gelöst wird: Sie sichert das Fragment als Werk über ihre Teilhabe an einer Reihe figurativer und poetologischer Verfahren, die den im Fragmentbegriff implizit gegebenen Bezug zum Ganzen aktivieren. Rückversichert wird diese Aktivierung darüber hinaus in zwei Mythologemen, die sowohl den Akt der Fragmentierung als auch das Zusammenfügen des Fragmentierten in eine familiäre Szenographie einbinden und dabei in je konträrer Weise der Position der Schwester die aktive Rolle bei der Erzielung des Effektes eines aus Stücken zusammengesetzten Ganzen zuweisen. Aufgeboten werden dazu Partien aus dem Mythenkomplex um Medea sowie demjenigen von Isis und Osiris. Dadurch, dass die Aktivität der

7

er hat mich versichert, es gebe weiter nichts als ihn« (I/1,303) oder die »Rede des toten Christus« aus dem Siebenkäs) zum Trotz in einen Rahmen, in dem die Metaphysik ihre Geltungsmacht noch zu behaupten weiß, und baut auf den eschatologischen Schriftsinn gerade auch dann, wenn es um das Wesen der Schrift selbst geht. Vgl. dazu auch die Überlegungen zum vierfachen Schriftsinn in Teil II, Kap. 3.2. Vgl. Mk 15,34, Mt 27,46: »Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?« Die weiteren Varianten sind gemäß traditionaler Reihenfolge: 1.: Lk 23,34, 2.: Lk 23,43, 3.: Joh 19,25–27, 5.: Joh 19,28, 6.: Joh 19,30 und 7.: Lk 23,46. Die besondere Bedeutung der Zahl sieben in verschiedenen kulturellen Überlieferungstraditionen beschreibt schon ein ausführlicher Artikel bei Grimm und verweist bei den »sieben worten Jesu am kreuze« auf Jean Pauls Loge I/1,363, vgl. Grimm Bd. X,I (1905) Sp. 789f.

255

Schwester auf der Ebene der Schrift angesetzt ist, entwirft die Loge eine weibliche Autorschaftsposition, deren genealogische Ebenbürtigkeit und geschlechtliche Differenz sowohl eine Chance wie auch ein Konfliktpotenzial für den Schriftbruder bedeuten. Letzteres bestimmt dann den Karriereabbruch der Schriftschwester in den späteren Texten.8 Die Konfiguration der Schriftgeschwister der Loge gilt es nun aus den fragmentarischen Spuren an den Bruchstellen des manifesten Textes in ihrer textuellen und intertextuellen Kohärenz zu rekonstruieren.

4.1

Der erzählte Text: Stückwerk, Werk und Wirkung

Ein erster Hinweis auf die Position der Schriftschwester findet sich im Eingangsabsatz besagter »Sieben Letzte Worte«: Heute wird also meine kleine Rolle, wenigstens für den ersten Auftritt, aus; sobald ich die sieben Worte gar geschrieben habe: so gehen ich und die Leser auseinander. Aber ich trete trauriger weg als sie. Ein Mensch, der den Weg zu einem weiten Ziel vollendet hat, wendet sich an diesem um und sieht unbefriedigt und voll neuer Wünsche über die zurücklaufende Straße hin, die seine schmalen Stunden wegmaß und die er, wie eine Medea, mit Gliedern des Lebens überstreuete. (I/1,463)

Das Gleichnis, in dem der Autor sich als Medea und das Buch als Glieder des Lebens sieht, zitiert jene Episode aus dem Medea-Mythos, als Medea nach erfolgreichem Raub des goldenen Vlieses die Flucht aus Kolchis ergreift. Es ist dies auch genau die Stelle, die sich Jean Paul 1782 beim Exzerpieren mythischer Szenen aus dem Medea-Mythos notiert hatte:9 Um einen Vorsprung auf die verfolgenden Schiffe ihres Vaters zu gewinnen, wirft Medea den Körper ihres getöteten Bruders in Stücken ins Meer, so dass die Verfolger von ihr ablassen und vielmehr darum bemüht sind, die einzelnen Leichenteile einzusammeln und aufzuheben. Gemäß der poetologischen Einleitung des Gleichnisses bedeutet der in Stücke zergliederte Bruder den Textkörper, dessen fragmentarische Form ein Zusammen-Lesen erforderlich macht und damit zur Bedingung für die Lektüre durch die Nachfahr(end)en wird. Der Akt der Gewalt, das Töten des Bruders und das Zerstückeln seines Körpers, wird im allegorischen Gleichnis damit in paradoxer Weise zur notwendigen Handlung, um Lektüre und damit eine Nachwirkung des Textes zu ermöglichen.10

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Vgl. dazu Teil III, Kap. 4.1. Vgl. Nachlass Jean Paul, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Fasz. IIa, Bd.1, 1782, S. 97: »Medea hinderte die Geschwindigkeit ihres sie verfolgenden Vaters durch die an verschiedenen Orten aufgestekten Glieder ihres Bruders.« Der zweite Eintrag zum Medea-Mythos betrifft die Drachenzähne, die Iason sät. Jean Pauls Exzerpte sind über die Arbeitsstelle der Jean Paul-Edition elektronisch abrufbar. Diese Lesart beruft sich auf die wirkungsmächtige mittelalterliche Neukodierung des Fragmentbegriffs. Gemäß Eberhard Ostermanns Geschichte des Fragmentbegriffs bildet den Ausgang der übertragenen Verwendung des in der Antike noch ausschließlich

Alle drei Konstituenten des literarischen Prozesses figurieren dabei als Positionen der familiären Konstellation: Das Verhältnis von Autorschaft und Text wird als eine Geschwisterkonfiguration gedacht, genealogisch also auf der Horizontalen situiert, während Lektüre und die damit verbundene Textwirkung genealogisch vertikal angesetzt werden. Und dies in beide Richtungen: Die Nachfahrenden repräsentieren nicht nur die folgenden Lesegenerationen, sondern auch die väterliche Autorität, stehen die Schiffe doch unter dem Befehl des Vaters des Geschwisterpaares. Jean Paul erzwingt sich mit seinem Medea-Gleichnis Wirkung sowohl gegenüber dem Gesetz des Vaters – das sich gemäß allegorischer Lesart als dichterische Tradition konkretisieren lässt –, wie auch auf die nachfolgenden Lese-Generationen. Einzig die Position der Mutter ist in dieser Lesart nicht besetzt. Da Medeas Mutterrolle ein Kernstück der Figur ist und gerade Ende des 18. Jahrhunderts, in der die Frage des Kindsmordes ausgiebig diskutiert wurde, in der Rezeption besonders präsent gewesen sein dürfte, gilt zu fragen, ob hinter der Autorschaftsinszenierung nicht eine Mutterimago stehe. Doch die weiteren Erwähnungen der Medea in der Loge zeigen, dass Medea durchwegs als Teil einer Geschwisterkonstellation figuriert: Im »Vorredner« werden die Medea-Dramen von Klinger zusammen mit Goethes Geschwisterstück Iphigenie genannt,11 und in einem Brief Fenks im 18. Sektor fällt die Nennung von Georg Benda, Verfasser einer musikalischen Medea, im Anschluss an eine Nachfrage nach ›Jean Pauls‹ Schwester.12 In einem poetologischen Kommentar im dritten »Freuden-Sektor« findet sich schließlich die für die hier verfolgte These von Fragment, Werk und Wirkung aufschlussreichste Stelle: Bendas Medea ist Jean Paul konkret Anlass zu einer medienübergreifenden Reflexion des Verhältnisses von »Flickwer[k]« zu »Meisterwer[k]«: Ich hab‹ mir oft gewünscht, nur so reich zu werden, daß ich mir (wie die Griechen taten)13 einen eignen Kerl halten könnte, der so lange musizierte, als ich schriebe.– Himmel! welche opera omnia sprössen heraus! Die Welt erlebte doch das Vergnügen, daß, da bisher so viele poetische Flickwerke (z. B. die Medea) der Anlaß zu musikalischen Meisterwerken waren, sich der Fall umkehrte und daß musikalische Nieten poetische Treffer gäben. (I/1,386)14

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auf konkrete Bruchstücke aus Holz, Stein oder Brot bezogenen Fragmentbegriffs jene Stelle des Speisungswunders nach Joh. 6,12: »Sammelt die übrigen Brocken (fragmenta), auf daß nichts umkomme!«, die gemäß der allegorischen Lesart das Einsammeln der verstreuten Stücke von Christi Lehre und ihr Aufheben im Gesamtkorpus der Bibel bedeutet. Vgl. Ostermann 1991, S. 12. Vgl. I/1,29. Friedrich Maximilian Klinger hat 1787 Medea in Korinth und 1791 Medea auf dem Kaukasus verfasst. Vgl. I/1,162. In der ersten Auflage steht hier ein wohl als Fehler erkanntes »wie die Grachen«, vgl. Pauler 1981, S. 421. Jean Paul bezieht sich hier auf das erfolgreiche Melodram von Georg Benda von 1778,

257

Im poetologischen Nachwort ist es eine Schwesterfigur, die den Bruder respektive den Text zerstückelt und damit Lektüre ermöglicht, im »Letzten Sektor« beschließt in komplementärer Weise »eine Schwester« stellvertretend für »den Bruder« den erzählten Text und sichert ihm damit als Werk das ewige Leben: Was beide Textszenen über Fragment, Werk und Wirkung verbindet, ist die Aktivität dieser Schwesterfigur, die Autorschaft übernimmt. Dies erstaunt angesichts der für den literarischen Schaffensprozess gängigen und für Jean Paul typischen Zeugungs- und Gebärmetaphorik,15 die etwa den Schreibprozess der Loge in seinen Briefen und Tagebuchaufzeichnungen begleitet.16 Wie kommt diese Schwester in den Text und wie zur Autorschaft? Und weshalb wird Autorschaft an dieser Stelle genealogisch auf der Geschwister- und nicht der Elternebene inszeniert?

4.2

Genealogie der Schriftschwester: Pfand, Bruchstück und Bücherleim

In den Text kommt Philippine, die Schwester des Lebensbeschreibers, im Rahmen eines Tauschhandels zwischen der Residentin von Bouse und ›Jean Paul‹: »und dieser [Bouse, F.F.G.], die mir so viel aus Italien geliehen, lieh ich noch etwas Bessers aus Deutschland, meine Schwester Philippine nämlich«. (I/1,122) Philippine erhält damit den Status eines Pfandes, das seiner Auslösung harrt. Wie wenig auf der Ebene der Handlung mit dieser Figur als einem eigenständigen Charakter zu rechnen ist, zeigt auch die gleich darauf folgende Erzählerreflexion, in der sich ›Jean Paul‹ darüber beklagt, wie sauer ihm »das Lenken und Schwenken« (ebd.) durch das stete Anwachsen des Romanpersonals werde. Philippine tritt als Figur denn auch weiter nicht in Erscheinung, bis sie als Pfand ausgelöst wird und sich zeigt, für wen sie die Stelle offen gehalten hat.17 Es ist dies die vom nahezu gesamten männlichen Romanpersonal, den Lebensbeschreiber selbst eingeschlossen, geliebte Beata: Philippine hat »ihre Stelle einer schönen Bücherpatientin leer zu machen [...], der guten Beata nämlich«. (I/1,181) Auf der Handlungsebene zeigt sich diese Stellvertretungsfunktion dann wiederholt: Philippine dient als Projektionsfläche für Kommentare zu weiblichen Eigenheiten, über die Auswirkungen der Hofwelt auf Frauenzimmer oder über weibliche Freundschaft. Vor allem aber dient sie ihrem Bruder mangels einer verfügbaren Braut zur Paarbildung, so bilden ›Jean Paul‹ und Philippine einerseits ein »Gast-Paar« (I/1,229) in

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258

der aus einer prosaischen Textvorlage von Fr. W. Gotter von 1775 eine aufsehenerregende musikalische Umsetzung schuf, vgl. I/1,1263. Vgl. Pfotenhauer 2002. Vgl. SWI/2,VIff. Zum zeitgenössischen kulturhistorischen Hintergrund des Pfandspieles für die spielerische Partnerwahl und die damit verbundenen erotischen Ansprüche vgl. Koschorke 1999, S. 26f.

der Wutz’schen Welt und stehen andererseits dem hohen Paar Gustav und Beata im »Blumen-Eden« (I/1,378) Lilienbad zur Seite, wo ›Jean Paul‹ »fühlen« kann, dass der Unterschied zwischen einem phantasierten und einem wirklichen Himmel derjenige ist, dass letzterer »nicht allein« bewohnt wird: Aber das macht eben den unendlichen Unterschied; und wo hätt’ ich ihn süßer fühlen können als an der Seite meiner Schwester, deren Mienen der Widerschein unsers Himmels, deren Seufzer das Echo unserer verschwisterten Harmonie gewesen. (I/1,380)

Diese Gesellschaftsbildung in »verschwisterte[r] Harmonie«, wovon Philippine spiegelnd »Widerschein« und »Echo« gibt, zeigt wichtige Konstituenten des Geschwisterdispositivs der Loge in nuce: eine geschwisterlich und freundschaftlich strukturierte Sozietät, die sich über Anleihen aus den zeitgenössischen Diskursen institutioneller Geschwisterschaften definiert und in einer Spiegelmetaphorik ihrer Geltung versichert sowie darüber hinaus die enge Verbindung von Geschwisterund Geschlechterliebe präsent hält, die in der Loge den Kern des Geschlechterverhältnisses ausmacht.18 Konturen erhält Philippine in ihrer Stellvertreterfunktion kaum, körperlich ist sie allein als Fragment im ursprünglichen Wortsinn, als Bruchstück, präsent, das selbst auch noch auseinander bricht: Es handelt sich um Philippines linkes Ohrläppchen, welches durch das Ohrgehenk durchgerissen ist und von Fenk in seiner Eigenschaft als Arzt kuriert werden soll. Diese Kur besteht aber nicht etwa darin, dass Fenk die getrennten Teile zusammenfügt, sondern vielmehr im erneuten Durchstechen des Ohrläppchens, womit nun nicht nur Schmuck »hinangeschnallet und hineingeknöpfet werden« kann, sondern auch »was dazu paßt. Der Stahl kettete beinahe den Künstler selber an ihr Ohr.« (I/1,231) Schon zuvor verweist die Metaphorik, etwa im »Bettschirm ihrer Absicht«, auf die erotische Konnotation dieser Szene, und dass das Durchstechen auf einem Apfel statt hat, den Philippine Fenk zu diesem Zweck reicht, macht den Verführungs-Kontext vollends manifest. (I/1,230)19 Dass Philippine hier mit Fenk »beinahe« zum Paar zusammengekettet wird, ruft beim Bruder, der sich dadurch seiner anderen Hälfte verlustig gehen sieht, ebenfalls eine – in der Ungewissheit des Konjunktivs ausgeführte – Deflorationsabsicht hervor: »sie hätte aber füglich bis auf den Montag warten können, wo ihr Bruder das Läppchen ihr, wie einem jüdischen Knecht, auf die geschickteste Weise würde durchlöchert haben.« (Ebd.) Die erotische Konkurrenz um Philippine wird

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Vgl. zur Strukturierung der Liebesgeschichte von Gustav und Beata durch Geschwisterverhältnisse Teil II, Kap. 2.2 und zur »verschwisterten Harmonie« von Lilienbad ebd., Kap. 2.2.3. Die erste Auflage verzeichnet »Operateur« an Stelle von »Künstler« und »Betschirm« statt »Bettschirm«, vgl. Pauler 1981, S. 258. Beim »Betschirm« dürfte es sich um eine orthographische, nicht um eine semantische Variante handeln, ist der erotische Kontext der Szene doch überdeutlich.

259

jedoch gleich wieder zurück genommen: »Gegen den Doktor hab’ ich nichts«, und es wird evident, dass die Schwester auch hier stellvertretend für die begehrte und unerreichbare Beata steht, die, selbst wenn ›Jean Paul‹ »könnte oder dürfte«, für Gustav reserviert ist. (I/1,231f.) Auffallend ist, wie oft Philippines Weiblichkeit betont wird. Neben dem eingerissenen Ohrläppchen, das konkret leiblich auf das weibliche Geschlechtsteil verweist, sind es weibliche Eigenheiten oder Gegenstände des täglichen Gebrauchs, wie die »weiblichen Fußtapeten«, (I/1,226)20 die Philippines geschlechtliche Zuordnung akzentuieren. Vor allem aber wird ihre Weiblichkeit wiederholt direkt benannt: »Diese nämliche Zuneigung [»gegen das weibliche Geschlecht«, F.F.G.] stehet unserem Geschlechte gut, aber dem weiblichen nicht, und meine Schwester ist doch von diesem.« (I/1,230) Philippines Stellvertreterfunktion ist unverkennbar geschlechtlich kodiert. Was bedeutet dies nun für jene Stellvertretung, in der sie »die Feder für den Bruder« nimmt? (I/1,418) Denn dies tut sie nicht nur im letzten Sektor, sondern schon einmal zuvor. Und wiederum an einer Stelle, wo ein Ende nahe scheint, respektive ein Bruch droht. Parallel angelegt ist selbst eine vorweggenommene Nachrede: Und doch will ich dem Leser meine Qualen oder Sieben Worte am Kreuze sagen, wiewohl er selber mich an das Kreuz, unter welchem er mich bedauern will, hat schlagen helfen. (I/1,363)

In der Entwicklung der Handlung hat die Loge hier ihren Kulminationspunkt erreicht: Ottomars lebendige Begrabung hat zu der für die Konzeption eines ›hohen Menschen‹ zentralen existenziellen Grenzerfahrung geführt, die die Begriffe von Leben und Tod neu justiert, Gustav und Beata haben sich nach langen Wirren als Paar gefunden und durch Gustavs Seitensprung mit der Residentin von Bouse soeben wieder verloren, und der Dokumentarist all dessen ist an dieser Stelle eines vorläufigen Höhe- oder Endpunktes von der Vorstellung geplagt, dass »das ganze Werk« durch Feuer oder Fehler »verdorben werden« könnte, oder noch schlimmer, diesem von »Rezensenten mit ihren langen Zähnen [...] Fleisch und Kleider« abgerissen würden. (I/1,363) Kein Wunder, dass dies ›Jean Paul‹ krank und des Schreibens unfähig macht. Hier springt die Schwester ein: Mein guter und gemarterter Bruder will haben, daß ich dieses Buch ausmache. Ach, seine Schwester würd‹ es ja vor Schmerzen nicht vermögen, wenns so wäre. Ich hoff ’ aber zum Himmel, daß mein Bruder nicht so kränklich ist, als er meint. – Nach dem Essen denkt ers wohl. – Und ich muß ihn, wenn wir beide Friede haben sollen, darin bestärken und ihn für ebenso krank ausgeben, wie er sich selber. [...] Es ist für uns alle ein finstrer Winter. Der Frühling heile jedes Herz und gebe mir und den Lesern dieses Buchs meinen lieben Bruder wieder! (I/1,367)

20

260

In der ersten Auflage heißt es »dünne Damen-Lafetten«, vgl. Pauler 1981, S. 254.

Im Mai ist er denn auch »wieder zu haben, der Bruder und Biograph«, (ebd.) und der Winter, in dem die Handlungsfäden sich von Gustavs moralischem »Fall«, (I/1,348) Beatas dadurch beträchtlich verschlimmerter Krankheit und Ottomars politischer Agitation hin zum nächsten Höhepunkt des Plots, dem glücklichen Beisammensein aller in Lilienbad hätten entwickeln sollen, kann durch den krankheitsbedingten Ausfall des Erzählers und die erklärenden und beschwörenden Worte der Schwester elegant übergangen werden: Die Schwester schlägt mit wenigen Worten die Brücke zwischen dem in Dissonanzen endenden Jahr und dem – vorläufigen – glücklichen Ende im Frühling. Sie fungiert auch hier als Textstrategie, die das Fragmentarische zusammenfügt. In Philippine als Autorin kommen die Funktionen der Stellvertretung und der Ergänzung zum Paar respektive zum Ganzen zusammen: ›Jean Paul‹ lässt ein weibliches Pendant seiner selbst auftreten, das sich diskursiv an der Schnittstelle zwischen Doppelgängertum und Androgynem verorten lässt.21 Als wirkungsmächtigste und für die Geschlechterauffassung des 18. Jahrhunderts besonders intelligible Ursprungserzählung für das Androgyniemotiv fungiert jene »alt[e] Sage«,22 die Platon als Mythos von den mannweiblichen Kugelmenschen erzählt, die einmal getrennt, stets ihre andere und geschlechtlich differente Hälfte suchen. Die Grundfigur des Androgyniemotivs beinhaltet die Zusammenfügung des Getrennten: Zeichenhaft fassbar im symbolon des in zwei Hälften zerbrochenen Rings, die – wieder zusammengefügt – als Erkennungszeichen für Gastfreunde, deren Nachkommen oder Stellvertreter dienen.23 Insofern Philippine in der Loge als Pfand, Bruchstück und ergänzende Hälfte fungiert, partizipiert sie in ihrer Aktantenrolle auch am Androgyniemotiv. Auf der Folie des Androgynen gelesen, fungieren Bruder und Schwester als Autorschaftspaar, das zusammen ein Textganzes bildet. Effekt des Androgynen ist, wie vielfach literarisch belegt, darüber hinaus ein gender trouble. Darauf spielt der Lebensbeschreiber in der Loge an, wenn er fiktive Rezensenten sagen lässt: »Tag und Nacht, Sommer und Winter, auch an Werkeltagen sollte ein solcher Mann schreiben; wer kann aber wissen, obs keine Dame ist?« (I/1,314) In beiden Sektoren, in denen Philippine Autorschaft übernimmt, ist es sie, die die Bruchstellen kittet: An ihr liegt es, die Grundfigur des Androgyniemotivs auszuführen. Diese Kitt-Funktion der Schwester lässt sich nun poetologisch sogar dafür in Anschlag bringen, ganze Bücher zu einer Einheit zu verbinden. Im »Einundzwanzigsten Sektor« berichtet der Erzähler von seinem Umzug in das Wutz’sche Schulmeisterhaus, um dort den Rückstand des Schreibens auf das zu beschreibende Leben Gustavs in ungestörter Zurückgezogenheit aufzuholen. Dabei fordert er die Lesenden in einer Fußnote auf, gleich mit umzuziehen:

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Vgl. zu den Figurationen Doppelgängertum und Androgynie Teil I, Kap. 2.5.2. Vgl. Friedrich Schlegels Athenäums-Aufsatz von 1799 zur Geschlechterdifferenz: »Ueber die Philosophie. An Dorothea«, in: KFSA, 1958ff., Bd. 8, S. 41–62, hier: S. 45. Vgl. Aurnhammer 1986, Einleitung.

261

Den ganzen Lebenslauf seines Vaters, Maria Wutz, hab’ ich dem Ende des zweiten Bandes beigegeben.24 Allein ob er gleich eine Episode ist, die mit dem ganzen Werke durch nichts zusammenzuhängen ist als durch die Heftnadel und den Kleister des Buchbinders: so sollte mir doch die Welt den Gefallen erweisen und ihn sogleich lesen nach dieser Note. (I/1,181)

Gründe für diesen Umzug des Schreibenden und der Lesenden nennt der Erzähler drei, wovon er einen besonders hervorhebt: »Der dritte und vernünftigste Grund ist meine Schwester« (ebd.). Sie also fungiert an dieser Stelle als »Heftnadel« und »Kleister«, die den Wutz an die Loge fügt. Diese Lesart lässt sich auch produktionsästhetisch stützen: Jean Paul hat den Wutz in seinen Hauptzügen schon vor der Loge verfasst, und sendet ihn dann am 6. Juli 1792 an Karl Philipp Moritz, der kurz zuvor enthusiastisch auf die ihm von einem unbekannten Autor zugestellte Loge reagiert hatte und daraufhin die Drucklegung befördern wird. In seinem Begleitbrief überlässt Jean Paul die Beantwortung der Frage, ob der Wutz der Loge »beigeleimt« werden soll, Moritz’ »Urtheil«. (SWIII/1,359) Erst als dies entschieden ist und also kurz vor der Drucklegung, so vermutet Berend, wird dann jene Fußnote zugefügt, die eine Engführung von Bücherleim und Schwesterfigur indiziert.25 Als Autorin ist die Schwester nun aber nicht nur Bücherleim, sondern auch schreibendes alter ego des Erzählers. Der Witz, der ihr als Figur wiederholt zugeordnet wird, verweist darauf, dass es hier zugleich um die Skizze einer Humoristin geht. Denn offensichtlich kann Philippine die hypochondrische »Krankheitshistorie« ihres Bruders, welche Anlass für ihre Autorschaft im 47. Sektor ist, so witzig erzählen, dass sich Fenk als Zuhörer vor Lachen kaum mehr fassen kann:26 Und bei mir saß er [Fenk, F.F.G.]; und lachte (sicher mehr über die Krankheitshistorie von meiner Schwester als über meine Invaliden-Gestalt) mich so lange aus, daß ich, da ich nicht wußte, sollt’ ich lachen oder zürnen, am besten eines um das andre tat. (I/1,368)

Das wichtigste Merkmal, das Jean Paul in seinen ausdifferenzierten Überlegungen dem Witz zuordnet, ist dessen Fähigkeit, Verbindungen herzustellen: Schon in den frühen Satiren schreibt er vom »buntfärbige[n] Band womit der Witz spielend unähnliche Dinge zusammennäht«. (II/2,371)27 Philippines Befähigung zum Bücherleimen bezieht ihr Wirkungspotenzial also auch aus der ästhetischen Theoriebildung. Das ist bedeutsam, wirft es doch ein neues Licht auf den Kern Jean Paul’schen Schreibens: Das Erzählpaar ›Jean Paul‹ und Philippine ist ein erster Entwurf, die Verfugung von empfindsamer und humoristischer Schreibweise, dieses Markenzeichen Jean Pauls, in einer Geschwisterstruktur zusammen zu denken. Ein Konzept,

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262

In der ersten Auflage steht hier noch »am Ende dieses Buchs«, vgl. Pauler 1981, S. 211. Vgl. zur Entstehungsgeschichte des Wutz SWI/1,LIII. Vgl. auch I/1,198, 226. Unter den Arbeiten, die sich mit Jean Pauls Witz- und Humorreflexionen befassen, seien besonders hervorgehoben Wiethölter 1979, Müller 1983, S. 87ff., 218ff.

das dann im »Doppel-Roman« (I/2,667) der Zwillingsbrüder Walt und Vult in den Flegeljahren seine geschlechtlich different positionierte literarische Ausformulierung erhalten hat.28 Jean Pauls Doppelschreibweise, die der Forschung gewöhnlich mit der Formulierung aus einem Brief an Karl Ludwig von Knebel vom 16. Januar 1807 als ein Wechsel zwischen »Hesperus-Rührung und Schoppens-Wildheit« (SWIII/5,126) gilt, wird in ihrem ersten Definitionsversuch in der Poetologie der Loge mit der Schwester verbunden: Wer weiß es [...] als meine Schwester, daß ich in diesem biographischen Lustschloß, das mein Mausoleum werden wird, oft Zimmer und Wände übermale, die mir Puls und Atem dergestalt benehmen, daß man mich einmal tot neben meiner Malerei liegen finden muß? Muß ich nicht, wenn ich so in die Schlagweite des Todes gerate, aufspringen, durch die Stube zirkulieren und mitten in den zärtlichsten oder erhabensten Stellen abschnappen und die Stiefel an meinen Beinen wichsen, oder Hut und Hosen auskehren, damit es mir nur den Atem nicht versetzt, und doch wieder mich daran machen und so auf eine verdammte Art zwischen Empfindsamkeit und Stiefelwichsen wechseln? (I/1,361)

Zur Versicherung der Schreibweise »zwischen Empfindsamkeit und Stiefelwichsen« wird die Schwester angerufen, als einzige Mitwisserin. Inwiefern Philippine eine besondere Stellung in der Schrift zukommt, verdeutlicht sich vor allem in der Kontrastierung zu jener Figur, die ebenfalls erzählend und schreibend Wesentliches zum Fortgang des Buches beiträgt und die in der Jean Paul-Forschung die Reihe der Humoristen genealogisch anführt: Doktor Fenk.29 Fenk gibt in Zeitungsartikeln, Gesprächen und Briefen »viel Licht« in den Fortgang der Handlung, »das zu seiner Zeit den Lesern wieder gegeben« wird. (I/1,231) Als Mitleser kommentiert er das bisher Geschriebene und als Mitwisser dirigiert er das zu Schreibende, etwa die tatsächliche Ausführung jenes übersprungenen Winters, in einen sehr kurzen »schlechten Extrakt«, um »statt in einer Entfernung von 365 Stunden der vorausschreitendenden säenden Geschichte keuchend mit der Feder nachzueggen, lieber hart hinter der Gegenwart [zu] halten«. (I/1,375) Auch skizziert er alternative Geschichten, wie etwa den »fernere[n] Liebehandel zwischen Paul und Beata«. (I/1,231) Fenk bildet auf der Inhaltsebene jene Klammer, für die Philippine auf der Ebene der Schrift steht, auch darin passen die beiden »beinahe« zusammen: Warum sind die meisten Einwohner dieses Buchs gerade Fenks Freunde? – Aus zwei recht vernünftigen Gründen. Erstlich verquickt sich das humoristische Quecksilber, das aus ihm neben der Wärme des Herzens glänzt, mit allen Charakteren am leichtesten. Zweitens ist er ein moralischer Optimist. (I/1,228)30

Die Verbindung zwischen Philippine und Fenk, die in der Verkettung im Ohrläppchen leiblich manifest wird, zeigt sich also auch in deren poetologischer Funktion.

28 29 30

Vgl. dazu Teil III, Kap. 4.3. Zu Fenk als Humoristen vgl. auch Teil II, Kap. 3.1.2.2. Zu einer ausf. Lektüre dieser Stelle vgl. Teil II, Kap. 3.1.2.2.

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Als festigender Bücherleim und flüssiges Charakterenquecksilber tragen sie damit so je ihr Teil dazu bei, aus dem Stückwerk ein Werk zu machen. Dass Philippine und Fenk in dieser Bindungs-Funktion zusammengehen, zeigt auch ihre Nachbarschaft in der Schrift: Wo der Name der Schwester auftaucht, ist Fenk jeweils nicht weit.31 Doch es gibt auch eine signifikante Differenz. Fenk fügt dem Roman fraglos zentrale Teile bei, er fügt sie aber nicht selbst zusammen: Seine Teilhabe ist immer vermittelt durch die Erzählerfigur ›Jean Paul‹ oder – im letzten Sektor – durch Philippine. Fenks Erzählungen werden in indirekter Rede wiedergegeben, die mit ihm geführten Gespräche erscheinen zwar wiederholt in direkter Rede, werden aber durch begleitende »sagte Fenk« erzähltechnisch auf Distanz gebracht. Seine Zeitungsartikel und vor allem seine zahlreichen Briefe schließlich werden stets mit einer kurzen Erzählerrede angekündigt, wie etwa die das Buch beschließende »Hiobspost« durch Philippine. Auch wenn Fenk ebenfalls als Stellvertreter für den Erzähler ›Jean Paul‹ imaginiert wird – »Ich würde, wenn ich an deiner Stelle säße, sagen,« (I/1,375) – und sein Autorschaftszeichen an hoch signifikanter Stelle steht – die Signatur »Fenk« unter besagtem Hiobsbrief bildet das letzte Wort des Erzählteils der Loge, sucht damit gar Autorschaft als Werkherrschaft32 zu usurpieren –; auch wenn also Fenk als wichtiger Mit-Autor erscheint, so bleibt der Befund doch unstrittig: Die Autorschaft von Philippine und Fenk findet nicht auf derselben Erzählebene statt. Den Unterschied macht das allerletzte Schriftzeichen des Erzählteils der Loge, ein Rede-Schlusszeichen, das Fenks BriefAutorschaft als Zitat in die Erzählanrede Philippines einbindet.33 Nicht zufällig ist eine Geschwisterfigur gleichauf mit dem Lebensbeschreiber: Sie partizipiert damit am Geschwisterdispositiv der Loge im Besonderen sowie der Validierung der Horizontalen um 1800 im Allgemeinen und bezieht daraus ihre Position formaler Gleichwertigkeit. Doch auch wenn Philippine bemerkenswerterweise als Autorschaftsfigur formal äquivalent zu ihrem Bruder ist, inhaltlich ist sie dies keineswegs. Der Witz, der Philippine als Geschichtenerzählerin auf Figurenebene zugeschrieben wird, kommt in den von ihr verfassten Sektoren kaum zum Tragen: In der schriftstellerischen Kompetenz rangiert sie weit hinter ›Jean Paul‹ und Fenk. Symptomatisch ist für Philippine nicht nur, dass sie getrennte Teile zusammenfügt, sondern auch, an welchen Stellen des Plots und wie sie das tut: Mit einem kurzen editorischen Kommentar, der kaum Spielraum für eigene Entfaltung lässt, bindet sie

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Vgl. I/1,162, 230f., 367ff., 393, 418ff. Vgl. zum Konzept der Autorschaft als Werkherrschaft um 1800 Bosse 1981. In der ersten Auflage erscheint Fenks Brief dagegen nicht in Anführungs- und Schlusszeichen, vgl. Pauler 1981, S. 450,452. Welche theoretische Herausforderung Jean Pauls Inszenierung multipler Autorschaft an die in der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung diskutierten Konzepte von Autorschaft stellt, zeigt Sauder am Beispiel des Kometen, vgl. Sauder 2003. Zu den Autorschaftsfiguren der Loge vgl. auch das von Schmitz-Emans 2008 erstellte SchriftstellerLexikon, spez. zu Philippine S. 167f., zu Fenk S. 157f.

zusammen, was erzählerisch nur über eine komplexe Ausdifferenzierung diverser Handlungsstränge zu bewältigen wäre. Das Bestehen auf der geschlechtlichen Differenz Philippines kommt hier dem Schriftbruder sehr zu statten: Der prekäre Status weiblicher Autorschaft in der zeitgemäßen Geschlechterauffassung ermöglicht ihm, ein Pendant seiner selbst einzusetzen, ohne durch diesen Kunstgriff für die Entwicklung der Fabel sein Renommee als gewitzter Erzähler aufs Spiel zu setzen.34 Doch setzt ›Jean Paul‹ seine Schwester wirklich? Es scheint so, jedenfalls dort, wo sie als Bücherleim zwischen Loge und Wutz fungiert: »zweitens ist meine Schwester da, weil ichs so haben wollte«. (I/1,181)35 Genealogisch ist dieser demiurigische Akt jedoch ein Paradox: Die Existenz eines Geschwisters kann ein ego nicht verursachen, es sei denn unter Umgehung des Inzesttabus.36 Im Unterschied zu den Diskursprodukten Androgynie37 und Doppelgängerschaft38 haben Geschwister auch einen reell erfahrbaren Ort und unterliegen – sofern es sich um ›eigentliche Geschwister‹ handelt – spezifischen existenziellen Gegebenheiten, zu denen unter anderem gehört, dass ein ego sein Geschwister weder wählen noch zeugen respektive gebären kann. Das ist der Kern jener »Satzung« der sophokleischen Antigone, in deren Namen sie Widerstand gegen die staatliche Verordnung leistet und damit willentlich den eigenen Tod in Kauf nimmt: das Gesetz der Geschwisterbeziehung.39 Dieses Spezifische der Geschwisterbeziehung bedeutet nun für die Schriftgeschwister der Loge, dass das – im existenziellen Sinn verstandene – Dasein der Schwester nicht durch den Bruder verursacht sein kann. Hier liegt zugleich eine Chance als auch ein Konfliktpotenzial für den poetologisch zeugungs- und gebärfreudigen Jean Paul, was sich in der Reproduktion der Schriftschwester in späteren

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Zur Einschätzung weiblicher Autorschaft um 1800 vgl. Heipcke 2002, Becker-Cantarino 2000, bes. Kap. 1, Schabert/Schaff 1994, Brinker-Gabler, 1988, Bd. 1, S. 293–468. Philippine begleitet das Textmanuskript auch als Leserin und entspricht in dieser Funktion der – etwa in den Lesesuchtsdebatten manifest werdenden – zeitgenössischen Auffassung über die geschlechterdifferente Teilhabe am Literatursystem. Da Fenk die Textentstehung der Loge ebenfalls als Leser begleitet, erweist sich auch hier eine Kontrastierung als hilfreich. Denn während Philippine den Wunsch ihres Bruders erfüllt und eine knapp gehaltene Zusammenfassung schreibt, überführt Fenk seine Lektüre-Erfahrung in den Entwurf alternativer Geschichten, ein geschlechterdifferentes Lektüre- und Schreibverhalten, das Jean Paul in der »Kleinen Nachschule zur Ästhetischen Vorschule« theoretisch zu fassen sucht: »Die Frauen lesen sich am Ende eine schöne Prose in die Feder und machen nichts daraus als höchstens Briefe, aber die Jünglinge sich eine schöne Poesie und machen eben Bücher daraus.« (I/5,493) Vgl. zu Jean Pauls Gender-Poetologie auch Teil II, Kap. 2.2.2. In der ersten Auflage heißt es »zweitens (ist meine Schwester da,) weil ich wollte«. Pauler 1981, S. 212. Vgl. dazu Teil I, Kap. 1.4. Der Androgyniebegriff wird hier verstanden in Abgrenzung zum seltenen, aber nachweislich existenten Phänomen des Heramphroditen. Vgl. dazu Teil I, Kap. 2.5.2. Sophokles 1995, Vers 909. Vgl. ausf. dazu Teil I, Kap. 1.1 und 2.3.3.

265

Texten ausdifferenzieren wird. 40 Für die Loge jedoch ist geltend zu machen, dass Antigones »Satzung« insofern zum Tragen kommt, als die Schwester anderswoher autorisiert werden muss. Dieses Anderswoher ist, so will ich zeigen, eine Ursprungserzählung im eigentlichen Sinn: ein Mythos. Nicht nur das Fragment als Kunstform bezieht – über die Medea-Allegorie im »Ausläuten« – seine Autorisation aus einem Geschwistermythos. Auch das Zusammenleimen des Fragmentierten, für das die Schwester durch Teilhabe am Androgyniemotiv, am Witz und in stellvertrender Autorschaft steht, wird nochmals mythisch abgesichert: Und was liegt näher, als die Rückversicherung eines Textkörpers namens »Mumien« im zugehörigen altägyptischen Kontext abzuschließen?

4.3

Rückversicherung: membra disiecta des Osiris und Isis-Energie

Das kulturhistorische Phänomen ›Mumie‹ hat Jean Paul offensichtlich fasziniert, zahlreiche Einträge in seinen Exzerptheften und eine vielfältige metaphorische und allegorische Begriffsverwendung in den literarischen Texten zeugen von diesem Interesse.41 »Mumien« nennt Jean Paul in seinen Tagebuchaufzeichnungen und Briefen auch sein erstes großes Romanprojekt. Zwar fällt er dann für den Druck die Entscheidung, »Mumien« als Untertitel und Loge als Haupttitel zu verwenden. Doch wenn der Erzähler des Hesperus seine Figuren aus seinem vorigen »Werk« lesen lässt, oder der Verfasser der »Geschichte meiner Vorrede« des Quintus Fixlein (1796) auf sein Frühwerk zu sprechen kommt, so auf die »bekannten Mumien«. (I/1,1031; vgl. I/4,16) In der »Vorrede zur zweiten Auflage« der Loge von 1822, in der Jean Paul zu einer Erklärung von Titel und Untertitel ansetzt, 42 entwickelt er aus dem Bildfeld des letzteren eine allegorische Rede über Fragment, Werk und Wirkung: Und so mögen denn diese zwei Mumien, weniger mit neuen Gewürzen zur Fortdauer einbalsamiert als hie und da mit den Zeichen-Binden anders eingewickelt, sich wieder der frühern Zuziehung und Einladung zu den Gastmahlen der Leser zu erfreuen haben! Und die dritte oder Schlußmumie soll nachgeschickt werden – als die dritte Parze im schönen griechischen Sinne –, wenn nicht den Mumien-Vater selber vorher das Schicksal zur großen Mumie macht. Also im einen und im andern Falle kann es an einer dritten Schlußmumie nicht fehlen. (I/1,21f.)

Unschwer sind hier die beiden vorliegenden Teilbände der Loge als die »zwei Mumien« zu identifizieren, die nur wenig verändert neu aufgelegt werden, und als

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Vgl. dazu Teil III, Kap. 4.1. Zur Bedeutung der Metapher der Mumie für Jean Pauls Persiflagen auf den Physiognomikdiskurs vgl. Pabst 2007, S. 179ff., spezifisch zum Untertitel der Loge als Hinweis auf die nur defizitär mögliche Bezeichnung des inneren Menschen vgl. ebd., S. 181. Vgl. zum Erklärungszusammenhang um den Begriff der ›Loge‹ Teil II, Kap. 3.2.

Fragment und Werk zugleich ihre Wirkung bei der Leserschaft entfalten sollen. Damit wird nicht nur der in der Loge poetologisch bedeutsame Zusammenhang von Fragment, Werk und Wirkung mit dem Bildfeld der Mumie enggeführt, es ist dies auch eine sehr spezifische Bezugnahme auf die in Erzähltext und Nachrede entwickelte Szenographie, deren ›Urszene‹ sich nun genauer im altägyptischen Kontext situieren lässt. 43 Wie Jan Assmanns Darstellung des ägyptischen Totenkults zu entnehmen ist, wird im alten Ägypten der Körper des Toten als in seine Gliedmaßen zerstreut vorgestellt, und Aufgabe des Ritus der Mumifizierung ist, die membra disiecta durch medizinische Eingriffe, Zeichenbinden und gesprochene Rezitationen zu einem Ganzen zusammenzufügen, das ewig überdauern wird. Eine zentrale Rolle kommt dabei der sprachlichen Behandlung zu: Durch sie und in ihr werden die zerstreuten Glieder in einen Textkörper als eine neue und dauerhafte Einheit zusammengefügt.44 Diese Praxis der Zusammenfügung des Fragmentierten zu einem Ganzen referiert nun ihrerseits auf eine mythische Konstellation: Es sind die membra disiecta des Osiris, die so jedes Mal von neuem und kraft der Energie der Göttin Isis zusammengefügt werden, steht im ägyptischen Totenkult Osiris doch stellvertretend für jeden Verstorbenen. Mit der mythischen Erzählung von Isis und Osiris beginnt in unserem kulturellen Gedächtnis die Engführung von Körper, Text, Fragment, Geschwisterbeziehung und ewigem Leben, wie sie in der Loge in der Konstellation der Schriftgeschwister wiederkehrt. Dass Jean Paul in der Vorrede von 1822 die familiäre Konstellation verschiebt und sich als »Mumien-Vater« (I/1,22) imaginiert, darauf wird noch zurückzukommen sein. 45 Stilbildend für die abendländische Rezeption des altägyptischen Stoffes um Isis und Osiris ist die Fassung Plutarchs, wichtig sind daneben auch die Hinweise bei Diodor. Das positiv konnotierte Geschwisterinzest-Paar Isis und Osiris herrscht über die Welt, bis Osiris von seinem Bruder Seth heimtückisch ermordet wird. Den toten Körper reißt Seth in Stücke und zerstreut die Teile über das ganze Land. Isis aber sucht die Fragmente, fügt sie wieder zusammen und belebt den Leichnam durch ihren Klagegesang von neuem, nun für das ewige Leben im Jenseits. Seitdem regiert Osiris als Gott die Unterwelt. Die Elterngeneration spielt in diesem Geschwistermythos keine Rolle, die Sache wird unter Geschwistern geregelt. 46 Als poetologischer Prätext für die Loge gelesen, werden nun Urheber und Textkörper des Fragments als feindliches Brüderpaar identifizierbar, während es der Aktivität der Schwester zu verdanken ist, dass das Fragment zu einem dauerhaf-

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Zur Verwendung des psychoanalytischen Begriffs der ›Urszene‹ für diskursanalytisch orientierte literaturwissenschaftliche Analysen vgl. Kittler/Turk 1977. Vgl. Assmann 2000. Vgl. Teil III, Kap. 4.1. Vgl. ausf. dazu Teil I, Kap. 2.5.1.

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ten Werk wird. Über den Einbezug des Medea-Mythos in der Nachrede der Loge erfährt die Urheber- respektive Autorschaft des Fragmentierten rückwirkend eine geschlechtliche Verunsicherung, da damit nicht nur die Heilung sondern auch die Versehrung einer Schwesterfigur angelastet wird. 47 Dies kann als weiteres Indiz für den gender trouble gelten, den in der Loge die Konzeption der Schriftschwester als Stellvertreterfigur für Autorschaft auslöst. Für die Poetologie der Loge zentral aber ist die Aktivität der Schwesterfigur aus dem Mythos von Isis und Osiris: Die Schwester ist es, die zusammensucht und heilt, sie beklagt und belebt, und sie verhilft zu einer Führungsposition im Leben nach dem Tode. Motiviert ist Isis’ Handeln bei Plutarch durch die existenzielle Grenzen überwindende und nach Vereinigung strebende Geschwisterliebe. 48 Aus dieser Isis-Energie, so die hier verfolgte These, beziehen auch Jean Pauls »Mumien« ihr Wirkungspotenzial: Die im Werktitel angelegte Allegorie macht den Textkörper als membra disiecta des Bruders lesbar, die durch die Schwester zu einem dauerhaften Ganzen zusammengefügt werden. Diese poetologische Konzeption kehrt an strategisch zentraler Stelle des Erzähltextes in einer Verdichtung wieder, die als Skizze der Makroproposition der Erzählstruktur verstanden werden kann: dem Traum vom »blaue[n] Blumenkelch«. 49 Darin träumt Gustav, wie »Genius oder Guido« (I/1,176) der nach Gustav ausgestreckte Arm jeweils abfällt und von der Schwester wieder gereicht wird, bis die Doppelfigur Genius/Guido in den Himmel gezogen wird. Als erzählerische Makroproposition gelesen lassen sich die einzelnen Traumelemente Gustavs Beziehungsdynamiken, beispielsweise seiner Sehnsucht nach seinem Erzieher, nach geschwisterlicher Harmonie oder der Überblendung von geliebter Frauenfigur und Schwester, darüber hinaus seinem Streben nach Transzendenz und Verhaftetsein in der Immanenz zuordnen, selbst Gustavs moralischer »Fall« (I/1,348) ist darin schon präfiguriert. Poetologisch gewendet fungiert die Schwesterfigur jedoch als Transformation der Isis-Energie, die wann immer die Schreibhand des Bruders abfällt, ein Zusammenfügen des Fragmentierten garantiert, und damit zugleich dessen endgültige Position im Bücher-»Himmel« (I/1,176) ermöglicht. Am Schluss

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Diese Besetzung beider Aktantenstrukturen mit einer Schwesterfigur findet dann in Robert Musils Aktualisierung des Isis und Osiris-Stoffes eine prägnante Gestalt. In Musils Gedicht Isis und Osiris von 1923 ist es ein- und dieselbe Schwester, die sowohl versehrt als auch heilt, was – da es konkret um »das Geschlecht« geht – einen gender trouble zum Effekt hat, Musil 1978, Bd. 2, S. 465. Vgl. zur künstlerischen Tradierung des Isis und Osiris-Stoffes im 20. Jahrhundert Frei Gerlach 2000. Diese Isis-Energie betrifft sehr direkt auch die sexuelle Potenz: Als einziges Teil von Osiris’ Körper ist sein Geschlecht unauffindbar, da Seth es den Fischen des Nils zu fressen gegeben hat. Isis nun setzt Osiris einen künstlichen Phallus an, mit Hilfe dessen posthum ein Sohn gezeugt wird. Auch hier liegt die Aktivität ganz auf Seiten von Isis. Bildlich ist die sexuelle Vereinigung mit Osiris so überliefert, dass sich Isis in Falkengestalt auf den todgleichen Osiris setzt. Vgl. Hopfner 1940/1, Bd. 1, S. 82. Vgl. ausf. dazu Teil II, Kap. 1.3.

des Blumentraums verbleibt die Schwester als einzige dem Raum der Mitte und markiert auch topographisch ihre Rolle einer Mittlerin zwischen den Welten: Mythische Energie garantiert hier nicht nur den Zusammenhalt des Fragmentierten in einem Werkganzen, sondern auch dessen ewiges Leben. Die Schriftgeschwister ›Jean Paul‹ und Philippine sind ein erster Entwurf, die typische Doppelschreibweise Jean Pauls poetologisch auf der Horizontalen zu situieren. Über ihren Anschluss an das Geschwisterdispositiv partizipiert die Verbindung von Empfindsamkeit und Satire an der Zusammengehörigkeit, Egalität, Kontinuität und Stabilität, die die Geschwisterbeziehung um 1800 auszeichnet. Dadurch, dass die geschlechtliche Differenz der Schriftschwester so stark markiert wird, ist das Schriftgeschwisterpaar nicht auf eine Figuration von Identität rückführbar. Das angestrebte Ziel einer Einheit in »verschwisterte[r] Harmonie« (I/1,380) ist darum nicht über Verfahren der Identifikation oder Spiegelung zu erlangen. Dies muss vielmehr über die aktive Zusammenführung des Differenten geschehen. Das ist die Aufgabe der Schriftschwester: Mit wenigen Zeichen oder gar mit Leim fügt sie disparate Textteile zusammen, veranlasst als Medea das Zusammenlesen zerstreuter Stücke oder fügt als Isis-Energie Fragmente zu einem Textganzen zusammen. Über ihre Partizipation insbesondere am Isis und OsirisMythologem schließt die Schwester darüber hinaus eine Rückversicherung ab, die dem Textkörper ein ewiges Leben garantieren soll. Solche Versicherungen brauchen die auf die Loge folgenden Texte nicht mehr: Schon mit dem Hesperus hat die Bücher leimende und Mythen zitierende Schriftschwester ausgedient und wird verabschiedet.50 Nicht aber die Konzeption der Schriftgeschwister: Sie kehrt geschlechtlich anders positioniert prominent wieder in den Flegeljahren mit dem schriftstellernden Zwillingspaar Walt und Vult, das mit seinem paritätischen »Doppel-Roman« (I/2,667) »Hoppelpoppel oder das Herz« (I/2,670) die Kohäsion von Empfindsamkeit und Satire als Roman im Roman zum zentralen Thema macht.

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Vgl. Teil III, Kap. 4.1.

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TEIL III Die Geschwistersemiose in Hesperus, Titan und den Flegeljahren

Einführung

Jean Pauls Textwelten sind untereinander vielfach vernetzt: Erzählwelten bauen aufeinander auf und beziehen sich aufeinander, Erzählthemen werden wieder aufgegriffen, variiert oder mit einem neuen Schluss versehen, Figuren aus früheren Texten spielen eine Gastrolle in den neuen Texten, während sich der Erzähler zugleich als Verfasser dieser früheren Texte zu verstehen gibt, und immer wieder werden von den Protagonisten die schon gedruckten Werke des Autors gelesen.1 Diese hochgradig selbstreferentielle Schreibweise fordert dazu auf, die neuen Texte stets auch als Kommentar und Weiterentwicklung der vorgängigen zu lesen. Ein besonders enger Bezug besteht zwischen den drei Romanen Loge, Hesperus und Titan, die Jean Paul in der Vorschule als hohe Romane oder solche der »italienischen Schule« (I/5,253) bezeichnet, deren Spezifika er wie folgt charakterisiert: In diesen Romanen fordert und wählt der höhere Ton ein Erhöhen über die gemeinen Lebens-Tiefen – die größere Freiheit und Allgemeinheit der höhern Stände – weniger Individualisierung – unbestimmtere oder italienische oder natur- oder historisch-ideale Gegenden – hohe Frauen – große Leidenschaften etc. etc. (I/5,254)2

Diese Definition des hohen Romans ist strikt vertikal organisiert, nicht nur was den Stil, das Ambiente und die Themen, sondern auch was den sozialen Ort der Aktanten betrifft. Das zeigt sich in den hohen Romanen Jean Pauls in der stets höher steigenden ständischen Verortung der Helden: Mit Gustav steht in der Loge ein kleiner Landadliger von zweifelhafter Genealogie im Zentrum: Nur drei Generationen zuvor wurden durch einen ›Roßhandel‹ dem eigenen Falkenberg’schen Haus die Vorfahren eines gleichnamigen älteren Adelsgeschlechts zugefügt, so dass Gustav nun »von älterem Adel ist« als andere, »und zwar von unechtem«. (I/1,47) Der Held des Hesperus dagegen ist der Sohn des einflussreichsten Adligen am Hof und Leibarzt des Fürsten. Zwar wird sich herausstellen, dass diese Genealogie eine falsche und Teil einer politischen Intrige um fünf verlorene Fürstensöhne ist. Doch

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So liest etwa der Held des Hesperus die Loge, dies jeweils beim Gehen, und findet darin Parallelen zu seiner eigenen Geschichte, vgl. I/1,655,1026,1031f. Die Zuordnung zu einer der drei Schulen – der italienischen, deutschen und niederländischen – handhabt Jean Paul jedoch gerade bei den eigenen Texten nicht exklusiv: »Gewöhnlicherweise bauen die drei Schulen oder Schulstuben in einem Romane wie in einer Bildergalerie quer durcheinander hin, wie in den Werken des uns so bekannten Verfassers deutlich genug zu sehen ist« (I/5,255).

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die über weite Strecken des Romans vorgetäuschte ständische Verortung Viktors ermöglicht das geforderte Erzählen im hohen Ton, während die verborgene Bürgerlichkeit rückwirkend den zu einem hohen Helden nicht ganz passenden Arztberuf und Viktors satirische Ader legitimiert. Im Titan schließlich steht nichts weniger als die Thronnachfolge des regierenden Hauses Hohenfließ zur Debatte, und hier folgt die Erzählhandlung gewissenhaft dem Narrativ vom verborgenen Prinzen: Albano wird in Unkenntnis seiner Herkunft landadelig erzogen und im politisch richtigen Moment in seine angestammten Rechte des Thronerben gesetzt.3 Die Erzählhandlung in Hesperus und Titan dreht sich um Fragen der rechten Abstammung, fokussiert damit also auch auf der Ebene der sozialen Beziehungen in erster Linie die Vertikale. Zwar sind die hohen Romane ein Fortschreibungsprojekt in gerader Linie, in der jeder folgende Text auf dem vorhergehenden aufbaut. Doch für das Fortschreiben des in der Loge paradigmatisch entworfenen Geschwisterdispositivs verspricht diese zunehmende Vertikalisierung einiges an Konfliktpotenzial: Welche Geltung kann bei dieser Vorgabe das horizontal strukturierte Geschwisterdispositiv in Hesperus und Titan noch beanspruchen? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden. In einer Arbeit über die Geschwisterthematik bei Jean Paul ist es unabdingbar, auch die Flegeljahre ins Visier zu nehmen, in deren Zentrum mit den Zwillingen Walt und Vult erstmals in einem Jean Paul-Roman ein eigentliches Geschwisterpaar steht. Diese prominente Positionierung von Geschwistern ist auch von der Forschung nicht unberücksichtigt gelassen worden: Arbeiten über die Flegeljahre tragen dem Geschwisterthema in der einen oder anderen Form Rechnung. Insbesondere sind die gemeinsame Autorschaft der Zwillinge am »Doppelroman« (I/2,685) »Hoppelpoppel oder das Herz« (I/2,670) sowie die Figurationen des Doppelgängers und der Selbstreproduktion, für die Zwillinge eine intelligible literarische Darstellungsform bieten, Thema der Forschung.4 Aufgrund der bestehenden Forschungslage, vor allem aber um die der Leseerwartung bei einem Zwillingsroman zuwiderlaufende Verengung des Geschwisterdispositivs aufzuzeigen, werden die Flegeljahre hier nicht gesondert analysiert. Gefragt werden soll vielmehr wie beim Hesperus und Titan nach den Semiosen des Geschwisterdispositivs, wie sie sich von der Loge aus gesehen ergeben. Mit den Flegeljahren kommt Jean Pauls Paradebeispiel der zweiten Romanklasse, derjengen »der deutschen Schule« zur Sprache, in dem der Held »gleichsam in der Mitte und als Mittler zweier Stände, so wie der Lagen, der Sprachen, der Begebenheiten« fungiert und als Charakter »weder die Erhabenheit [...] der italienischen Form, noch die komische oder auch ernste Vertiefung der entgegengesetzten

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Zum Narrativ des verborgenen Prinzen bei Jean Paul vgl. Müller 1996, S. 29–44, Jordheim 2007, u.a. S. 111, sowie Teil III, Kap. 3.1. und 3.2. Vgl. u.a. Dettmering 2006, S. 91ff., Simon 2003, Berhorst 2002, S. 368ff., Unger 1996, S. 160ff., Rose 1990, S. 65ff., bes. S. 91ff.

niederländischen annimmt«. (I/5,254f.) Diese mittlere Stilebene nun ist dominant horizontal definiert: Die geschwisterliche Besetzung der zentralen Charaktere in den Flegeljahren steht damit schon auf der Aktantenebene Modell für die in der Vorschule erarbeiteten Maßstäbe, so wie das kleinbürgerliche Milieu die entsprechende soziale Verortung der Mittellage vorgibt.5 Punktuell werden auch andere Texte hinzugezogen werden, in denen spezifische Elemente des Geschwisterdispositivs aufgegriffen und weiter entwickelt werden, so der Quintus Fixlein, das Klaglied 6 und die im Anhang zum Titan publizierte Erzählung »Doppeltgänger«. So kommen – wenn auch nur am Rande – auch Texte aus der dritten Klasse von Romanen, »der niederländischen Schule« zu Wort, die »Tiefe [...] als die umgekehrte Höhe« auszeichnet und die sich zum hohen Ton des »romantischen Saitenbezug[s ...] wie eine Maus im Sangboden« verhalten. Damit ist die Jean-Paul’sche Stil-Trilogie komplettiert und die Möglichkeit gegeben, die Texte »wechselseitig aneinander zu erhellen«. (I/5,254f.) Deutlich wird dabei schon an der Textauswahl, dass das Geschwisterdispositiv am stärksten in den hohen und am schwächsten in den niederländischen Texten wirksam ist – von Ausnahmen wie dem Klaglied abgesehen. Bei den deutschen Texten, die ja per definitionem horizontal konzipiert sind, schreiben allein die Flegeljahre das Geschwisterdispositiv fort. Sie führen jedoch, wie zu zeigen sein wird, die mit dem Hesperus begonnene Tendenz zur Biologisierung weiter und verengen damit den Fokus des Geschwisterthemas. Der Siebenkäs hingegen schreibt sich eher vom Geschwisterdispositiv weg und hin zu anderen Beziehungskonstellationen, die als horizontal strukturiert begriffen werden: der Doppelgängerfiguration, die im Siebenkäs ihre literaturgeschichtlich wegweisende Begründung erhalten hat, sowie der Ehebeziehung, die – zumindest zeitweise – auf Horizontalität hin angelegt ist. Sind die Doppelgänger Siebenkäs und Leibgeber über die semantische Engführung von Freundschaft und Geschwisterschaft noch marginal mit dem Geschwisterdispositiv verbunden, so werden die Eheleute Lenette und Siebenkäs ganz von der Geschlechterdifferenz her konzipiert. Dass es dabei zu zwar labilen, aber sich doch wiederholt einpendelnden Konstellationen von Horizontalität kommt, ist bemerkenswert, leitet sich jedoch nicht vom Geschwisterdispositiv her.7 Vielmehr handelt es sich um einen im zeitgenössischen Diskurs um Egalität und Differenz der Ge-

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Vgl. I/5,254: Zur zweiten Klasse, den Romanen der deutschen Schule, »gehören [...] besonders die Flegeljahre«. Für die Vorschule hatte Jean Paul 1803 die Arbeit an den Flegeljahren unterbrochen, die beiden Werke hängen produktionsästhetisch also eng zusammen. Allerdings ist der § 72 über die drei Romanschulen erst ein Zusatz der zweiten Auflage von 1813, vgl. I/5,1226. Neben den Flegeljahren ist es der Siebenkäs, den Jean Paul von seinen eigenen Texten der deutschen Schule zuordnet, und in dem er den Mittelweg an einem Freundes- und Doppelgängerpaar erprobt. Vgl. zum Klaglied v.a. auch Teil I, Kap. 2.2.1 und 2.3.2. Zur Ehegeschichte des Siebenkäs vgl. Dangel-Pelloquin 1999, S. 169–294, zum Widerstreit von Differenz und Egalität vgl. bes. S. 257ff.

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schlechter verankerten Entwurf einer Geschlechterbeziehung im witzigen Genre, die mit der idealischen Bruder-Schwester-Beziehung der hohen Romane kaum Berührungspunkte hat. In diesem Sinne werden die Verhandlungen des Siebenkäs um Horizontalität und Vertikaliät, Identität und Differenz hier nicht besprochen. Als »Wegschreiben« (I/2,328) vom Geschwisterdispositiv wird vom Siebenkäs jedoch im Poetologie-Kapitel die Rede sein: als Verschiebung des weiblichen Parts am Zustandekommen der Schrift von der Schwester zur Tochter und damit von der Horizontalen zur Vertikalen. Es geht in der nun folgenden Argumentation nicht darum, vergleichbar der Lektüre der Loge die Geschwisterthematik in einzelnen Jean Paul-Texten zu untersuchen und dabei den jeweiligen Roman als ganzen im Auge zu behalten, sondern um die Semiosen, die das Geschwisterdispositiv der Loge in späteren Texten durchläuft: Welche Ebenen werden wieder aufgenommen, welche verschoben, anders akzentuiert oder gar aufgegeben? Die Argumentation folgt dabei der in der Loge herausgearbeiteten Struktur und fragt erstens nach der Genese respektive der Genealogie der Geschwisterfigurationen, zweitens nach den Friktionen zwischen Liebe und Geschwistern, drittens nach den Verhandlungen zwischen Freundschaft und Geschwisterschaft einerseits und nach den Implikationen institutioneller Geschwisterschaft andererseits sowie viertens nach Geschwister-Poetologien und allgemeiner noch, nach familiären Codes in den poetologischen Aussagen. Da der Fokus auf der Entwicklung der Thematiken und nicht auf einer jeweiligen Werkinterpretation liegt, folgt die Argumentation einer Fragestellung durch verschiedene Texte hindurch. Die Gliederung ermöglicht es aber auch, die Lektüre so zu organisieren, dass die verschiedenen Aspekte eines Textes im Zusammenhang gelesen werden können. Als »Familiengeschichte« wird der Erzählstoff des Hesperus oder 45 Hundposttage 8 in einem »Ouvertüre«-Kapitel eingeführt. Während der Haupttitel des Romans ins Kosmische weist und durch seine semantische Ambiguität – als Morgenund Abendstern zugleich – Doppeldeutigkeit programmatisch setzt, verweist der

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In der neuen HKA heißen sie nun wieder wie in der ersten und zweiten Auflage Hundsposttage, da »alles Genitiv- oder Es-Schmarotzer-Unkraut der Doppelwörter«, namentlich auch »auf dem Titelblatte der Hundposttage« (I/1,477) erst mit der dritten Auflage von 1819 getilgt worden war; vgl. Hunfeld 2006, Pfotenhauer et al. 2008, S. 15. Ich zitiere den Hesperus wie die anderen Jean Paul-Texte nach der auf der Bach-Berendschen beruhenden Ausgabe von Miller und vermerke relevante inhaltliche Änderungen zu den Ausgaben von 1795 und 1798 in den Fußnoten. Dies nicht nur, um die Kohärenz der Jean Paul-Zitate dieser Arbeit zu gewährleisten, sondern auch, weil Jean Paul gerade dem Thema der Familiengeschichte und deren Motivierung in der Vorgeschichte in seiner umfassendsten Überarbeitung von der ersten zur zweiten Auflage die größte Aufmerksamkeit geschenkt hat, wie er auch in der Vorrede zur zweiten Auflage explizit macht. (Vgl. I/1,484) Bei der Fragestellung dieser Arbeit würde es darum wenig Sinn machen, von der Erstauflage auszugehen. Inhaltlich maßgebend ist damit die zweite Auflage von 1798, die zur dritten Auflage von 1819 hin in erster Linie formal überarbeitet worden ist.

zweite Teil des Titels und mit diesem die Kapiteleinteilung auf die Erzählsituation: Dem auf einer Insel residierenden Erzähler werden von einem Korrespondenten namens Knef die Dokumente über besagte Familienbeziehungen und -entwicklungen jeweils posttäglich zugestellt, Überbringer ist ein Hund, der zur Insel schwimmt. Der Erzähler nennt sich ›Jean Paul‹ und lässt keinen Zweifel daran, dass es sich bei ihm um den Verfasser der Loge handelt, die inzwischen von einer unsichtbaren »in eine sichtbare umgedruckt wurde«. Dies hat den in der Loge ›gesetzten‹ »ausserordentlichen Teich [...], welcher unter dem Namen ostindischer Ozean bekannter ist,« so real werden lassen, dass sich darin die Insel St. Johannis ›verfertigen‹ ließ, auf der ›Jean Paul‹ jetzt wohnt. (I/1,508,506) Der Korrespondent Knef ist, wie kurz vor Schluss des Erzähltextes bestätigt wird, niemand anders als »der umgekehrte Fenk« (I/1,1225): Schon die Erzählsituation des Hesperus verweist darauf, dass hier an der mit der Loge begonnenen Textwelt weiter geschrieben wird. In den Vorarbeiten zum Hesperus hatte Jean Paul sogar noch geplant, die beiden Romane zusammenzuführen und die unsichtbare Loge nicht nur im Druck sondern auch im Hesperus sichtbar werden zu lassen.9 Die genealogischen Enthüllungen, die den Hesperus beschließen, werden dann ihrerseits zur Erzählvoraussetzung, um für den Titan ein Netz von Spionen zu haben, die so nah an der Familiengeschichte des regierenden Hauses Hohenfließ sind, dass ihnen auch nicht die kleinste Kleinigkeit entgeht. ›Jean Paul‹ steht als Sohn des Fürstenhauses Flachsenfingen dem dortigen »Departement der auswärtigen Angelegenheiten« vor und erhält vom geheimen Legionsrat von Hafenreffer »posttäglich in festen Düten« (I/3,61) die Ausbeute dieser Spionagetätigkeit, die er zu seinem Titan verarbeitet. Dieses realhistorische Material bedarf eines besonderen Umganges, damit Rückschlüsse auf noch lebende Personen ausgeschlossen bleiben: Kein kleineres Wunder als das, welches das Mauersche Geheimnis und die unsichtbare Kirche und die unsichtbare Loge vergittert und verdeckt, schien bisher die Entdeckung der wahren Namen meiner Historien abzuwenden, und zwar mit einem solchen Glücke, daß von allen bisher an die Verlagshandlungen eingeschickten, mit Mutmaßungen gefüllten Brieffelleisen keines Mäuse merkte. (I/3,65)

Über die Arbeit der Verschlüsselung führt der Erzähler die in den bisherigen Texten verwendeten Chiffren des Geheimnisses nochmals zusammen und stellt zugleich einen expliziten Zusammenhang zum Ausgangstext der Loge her.10 Mit dem poetologischen »Antrittsprogramm des Titans« (I/3,57) verabschiedet sich aber zugleich auch die in den anderen Texten stets mitlaufende Erzählfiktion mitsamt den zuge-

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Vgl. die Einleitung von Hans Bach zum Hesperus in SWI/3,XVII, gemäß der Jean Paul im zweiten Entwurfheft vom 20. Juli 1792 notiert: »Vereine beide Romane [...]. Die Loge verwirft alle Angriffe«. Duktus und Begrifflichkeit lehnen sich zudem an jenen Brief vom 12. Juli 1792 an Christian Otto an, in dem sich Jean Paul zur »Titelfabrikatur« und der Spur der Loge im Text geäußert hatte, vgl. Teil II, Kap. 3.2.

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hörigen satirischen Ausschweifungen. Hatte Jean Paul zu Beginn der zehnjährigen Entstehungszeit seines »Kardinal- und Kapitalroman[s]« (SWIII/2,110) noch in Betracht gezogen, die Stilebenen wie gewohnt zu mischen, so strich er mit fortschreitender Arbeit alles Niederländische aus dem Haupttext und verfrachtete es in Supplementbände.11 Die Hauptgeschichte des Titan verweist denn auch mit für Jean-Paul’sche Verhältnisse minimalen Digressionen ins Kosmische und Heroische und trägt der vertikal ausgerichteten Doppelbedeutung des Titels – Titanengeschlecht und Sonnengott – in seltener stilistischer Einheit Rechnung.12 Wiederholte Italienbezüge und -Reisen konkretisieren den geforderten hohen Ton noch dazu topographisch. Semantisch schwingt im Wortstamm des Titan jedoch nicht nur die vertikale, sondern auch die horizontale Ebene mit, gehen doch sowohl die einzelnen Titanen als auch der Begriff ›Titan‹ als Apposition des Sonnengottes auf die älteste Schicht griechischer Theogonie zurück, die aus der Urzeugung zwischen Erde und Himmel hervorgehende erste Göttergeneration, die ausschließlich aus Geschwistern besteht.13 So trägt auch das lexikalisch zugrundeliegende griechische τιταίνω beiden Ausdehnungen Rechnung und meint sowohl sich strecken in vertikaler, wie sich ausbreiten in horizontaler Richtung.14 Und wie zu zeigen sein wird, korrelieren nicht nur die vielfältigen Höhenflüge des Helden im Titan mit einer exzessiven Geschwisterpopulation, auch die staatsphilosophischen Modelle des aufgeklärten Absolutismus und des Republikanismus suchen eine gegenstrebige Fügung einzugehen. Die zur Erholung vom und in »Wechselschreiberei« (SWIII/4,129) mit dem Titan geschriebenen Flegeljahre sind dagegen geradezu überexplizit im typischen Nebeneinander von Empfindsamkeit und Satire gehalten. Nicht nur was die Stillage betrifft, sondern vor allem auch konkretisiert im Zwillingspaar Walt und Vult, die figural die empfindsame und satirische Lebeweise verkörpern und im gemeinsamen Romanprojekt »Hoppelpoppel oder das Herz« (I/2,670) als Doppelschreibweise zu Papier bringen.15 Eine allegorische Skizze für diese narrative Umsetzung der ihm eigenen Doppelschreibweise liefert Jean Paul mit der im Anhang des Titan publizierten Erzählung »Die Doppeltgänger«. Darin wird der Begriff des ›Doppeltgänger‹ im Unterschied zum Siebenkäs nicht als austauschbares Ebenbild, sondern buchstäblich verstanden: als am Rücken zusammengewachsene Zwillinge, die ge-

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Vgl. die Einleitung von Berend zum Titan, in SWI/8,XIXff. Zu den aus Jean Pauls Briefen und Exzerpten belegbaren Titelbezügen vgl. Golz 1996, S. 29f. Vgl. Vollmer 1874, Art. Titanen. Vgl. Art. τιταίνω, Langenscheidt 1967. Dass dies eine autopoetologische Reflexion auf Jean Pauls eigenes Schreiben ist, wurde in der Forschung schon wiederholt dargestellt, vgl. u.a. Wölfel 1989, S. 54f. In ausführlicherer Weise fungiert Selbstreflexivität als wegleitende These der Analyse der Flegeljahre vor allem bei Berhorst 2002, Vonau 1997 und Böhn 1992.

zwungenermaßen alles stets gemeinsam machen und überallhin im Doppel gehen müssen.16 Wie diese kleine Erzählung so hatte Jean Paul auch die Flegeljahre zuerst mit dem Titan verbinden wollen, hat letztere aber dann zum eigenständigen Romanprojekt werden lassen, in dem er dieselbe Objektivität im Komischen erreichen wollte, wie im Titan im Erhabenen.17 Selbstreflexivität ist das zentrale Thema der Flegeljahre, und die bei Berend dokumentierte Schreibgenealogie zeigt auf, dass für Jean Paul dabei die Bruderfigur zentral war. So hatte Jean Paul daran gedacht, sich in größerem Ausmaß als je zuvor als handelnde Figur ins Spiel zu bringen. Diese Figur sollte von ihrem Bruder erzählen, in Briefen an seine Freunde Paul Thieriot und Christian Otto nennt er die entstehenden Flegeljahre dementsprechend die »Geschichte meines Zwillingsbruders« oder »Geschichte meines Bruder, von J.P.«18 Das im Erzähltext gemeinsam geschriebene Buch der Brüder hätte inhaltlich der Loge entsprochen und wäre ein »Buch der Richter« geworden, da die Brüder Jean Pauls bürgerlichen Namen tragen sollten.19 Doch schließlich hat sich Jean Paul dafür entschieden, die Selbstbezüglichkeit im Zwillingspaar Walt und Vult zu objektivieren und ›Jean Paul‹ allein als Dokumentator ihrer Geschichte sowie in der damit verbundenen Korrespondenz auftreten zu lassen. In der Abfolge der hohen Romane rückt der Lebensbeschreiber den beschriebenen Familien genealogisch und ständisch näher: Vom Erzieher und Freund eines landadligen Jünglings in der Loge wird der Erzähler im Hesperus selbst Teil der aufzudeckenden Genealogien, was ihn für die zweite und dritte Auflage befähigt, aufgrund intimer Kenntnisse des Familienzirkels »tausend Berichtigungen und Erläuterungen nachzutragen, die sonst kein Mensch erführe, und die gleichwohl die etwas dunkle Geschichte gewaltig erhellen.« (I/1,484) Im Titan dann hat der Erzähler als etablierter Fürstensohn und Außenminister die zu beschreibende Hofwelt von Anfang an direkt vor Augen, ein unschätzbarer Vorteil für den auszuarbeitenden Text, wie das »Antrittsprogramm« darlegt. (I/3,57ff.) Zu dieser genealogischen Einbindung des Erzählers vollziehen die Flegeljahre eine Gegenbewegung, die sich als solche an der Schreibgenealogie ablesen lässt: Ein

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Zum historischen Wissensstand über »Koppelzwilling[e]« äußert sich Jean Paul gleich selber, (I/3,839) zu finden sind die von ihm genannten Fälle mit Quellenangaben auch bei Bär 2005, S. 10f. Ausf. zu den »Doppeltgängern« vgl. Teil III, Kap. 4.2. Vgl. dazu die Einleitung von Berend SWI/10,Xff. Vgl. den Brief vom 20. Januar 1802 an Paul Thieriot, SWIII/4,129, und denjenigen vom 1. Februar 1802 an Christian Otto, SWIII/4,132. Dazu Berend SWI/10, XXXff. Berend, SWI/10, XXXIIIff. Der Name Richter im und unter dem Van-der-Kabel’schen Testament (I/2,591,593) und die Initialen J.P.F.R. (I/2,593,596,905) verweisen noch im ausgearbeiteten Text auf dieses ursprüngliche Konzept und halten für eine Entwicklung in dieser Hinsicht eine Hintertür offen. Die Bedeutung des Namens ›Richter‹ für die Flegeljahre dokumentiert darüber hinaus der Erstdruck von 1804: Es ist der einzige Text Jean Pauls, der unter seinem bürgerlichen Familiennamen erscheint. Vgl. Berend, SWI/10,LVI.

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zuerst als engste verwandtschaftliche Bindung konzipiertes Verhältnis zwischen Erzähler und Figuren – Zwillinge stellen ja das verwandtschaftlich nächste Verhältnis überhaupt dar20 – wird zu Gunsten einer juridischen Vereinbarung zurück genommen: Im Van-der-Kabel’schen Testament, mit dem die Flegeljahre einsetzen und das den Erzählrahmen vorgibt, wird in der 13ten Klausel festgehalten, dass die von Walt für den Antritt des Erbes zu vollziehenden Erbämter beschrieben werden sollen, sofern »sich ein habiler, dazu gesattelter Schriftsteller von Gaben auftreiben und gewinnen« ließe. (I/2,592) Als solchermaßen ausgewiesener »Historiker« und »Geschichtschreiber« tritt »J.P.F.Richter« an, der in seinem Zusagebrief an die Testamentsvollstrecker gleich schon den »weder zu barocke[n] noch zu verbrauchte[n] Titel für das Werk« liefert: Flegeljahre.21(I/2,592ff.) Ist Jean Pauls Phantasie im Detail und auf Nebengeleisen schier unerschöpflich, so greifen die Thematiken der Hauptgeschichten stets auf das einmal Gefundene zurück.22 So geht es im Hesperus wie schon in der Loge um die Grundmotive: »Satirische Karakter – Freundschaft – Liebe – Republik – Ein Zwek – Agathonsche Zwek«, (SWI/3,XII)23 wie Jean Paul in den Vorarbeiten zum Hesperus noch während der Schreibarbeit an der Loge festhält. Und deutlich wird auch schon hier, dass die Thematik um Liebe und Freundschaft über die Verknüpfung zweier in der Loge erprobter Narrative geleistet werden soll: die inzestuöse Situation und die trianguläre Beziehung zweier Freunde zu einer von beiden geliebten Frau. Auch der Hesperus erzählt also von den Interferenzen von Liebe und Freundschaft mit Geschwistern sowie von politischen Reformplänen, die von einer geschwisterlichen Basis her konzipiert werden. Und eigentliche, weitere und imaginäre Geschwister tauchen im Rahmen der Verhandlungen um die rechte Genealogie ebenfalls auf. Dieser Facettenreichtum des Geschwisterdispositivs wird aber von einer Biologisierungswelle eingeebnet: Geschwisterliches steht im Hesperus weitgehend im Fokus der Blutsverswandtschaft.

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So auch explizit in den Flegeljahren, vgl. I/2,803, ausf. dazu Teil III, Kap. 1.3. Vgl. zum Titel ebf. I/2,925 und 669f., wo der Titel als Vorschlag für den »Hoppelpoppel oder das Herz« gehandelt und von Walt als zu »auffallend« und »wild« abgelehnt wird. Berend weist darauf hin, dass der Begriff Flegeljahre um 1800 anstößiger gewirkt haben muss, als wir es heute verstehen, vgl. SWI/10,L und die Bemerkung eines zeitgenössischen Rezensenten zum Titel in JbJPG 40 (2005), S. 184. Dass die hohen Romane Loge, Hesperus und Titan dieselben Grundfragen verfolgen und intratextuell eng vernetzt sind, darüber besteht in der Forschung Einigkeit. Was diese Grundfragen inhaltlich jedoch spezifiziert, wird je nach Forschungsperspektive anders gesehen. Vgl. hierzu u.a. Wölfel 1989, S. 52ff. Von Bach zitierte Notiz aus dem ersten Entwurfsheft »zum II Roman. Den 15. Mai 1792«. Als agathonschen Zweck nennt Bach die – in Jean Pauls Worten – »Selbstbildung der bessern Menschen« (SWI/3,XIII). Die Korrespondenzen zwischen dem Agathon und den drei hohen Romanen Jean Pauls führt in Bezug auf den Staatsroman Jordheim 2007 aus.

Einige der in der Loge aufgeworfenen Thematiken werden nun deutlich kritischer behandelt. So wird etwa die in der Loge erhaben und satirisch erörterte Frage der Entkörperung auf ihre anthropologischen Konsequenzen hin ausgeleuchtet. ›Der Wunsch des Todes‹ des hohen Menschen erscheint in der – mit Pfotenhauer gesprochen – »Todesorgie« Emanuels24 als Hybris eines im Textverlauf besonders hoch bewerteten Menschen, Gottes Handeln auf Erden zu antizipieren: Emanuel glaubt so sehr daran, sein Todesdatum zu wissen, dass er sich selbst tot glaubt, obwohl er nur einer Wahnvision unterliegt. Ließ die Loge durch ihren Fragmentcharakter Hoffnungen auf eine republikanische Reform Raum, so verläuft das reformerische Potenzial der Bundesgenossen des Hesperus nun ins Leere: Der republikanische Klub erscheint als kalkulierter Teil eines von oben geleiteten Prozesses der inneren Bildung, das republikanische Engagement, das sich vor der heroischen Tat nicht scheut, verkommt letztlich zur Rhetorik.25 Daran knüpft der Titan mit einer weiteren Reduktion der Variabilität des Geschwisterthemas, einer Verstärkung der biologisch fundierten Genealogie, dem weitgehenden Scheitern der im Hesperus noch verwendeten Alternativen zur Herstellung geschwisterähnlicher Strukturen und einer Heroisierung des Republikthemas an. So findet im Titan auf Figurenebene zwar eine Proliferation von biologisch fundierten Geschwisterbeziehungen statt, doch die Bedeutsamkeit der verschiedenen Formen von Geschwisterschaft schwindet: Die Seelengeschwisterschaft verkommt zur Geistererscheinung und die institutionelle Geschwisterschaft ist nur noch über Requisiten oder exklusive Ritterorden greifbar, die gerade keine republikanische Ideologie verfolgen. Der Republikanismus des Helden ist nicht revolutionär, sondern klassisch fundiert. In Liebesdingen lässt der Titan die im Umkreis ›weiterer Geschwisterschaft‹ verorteten Strategien aus der Loge und dem Hesperus eine um die andere scheitern, um den Ausweg im biologisch Naheliegendsten zu finden: der endogamen Heirat zur Sicherung des Besitzstandes.26 So führen im Titan die geschwisterliche Ideologie empfindsamer Seelenliebe, die Konvergenz von Geschlechter- und Geschwisterliebe als auch der Glückseligkeits-Triangel in die Katastrophe, und die bisher unverzichtbare inzestuöse Situation greift nicht. Auf der poetologischen Ebene nun kommt es nicht nur zu Verschiebungen innerhalb der Genealogien, sondern auch zu einer Verabschiedung: Der Hesperus entlässt die Schriftschwester aus dem Text, poetologische Familiencodes sind in der Folge vertikal ausgerichtet. Nahezu ohne poetologischen Familiencode kommt der Titan aus: Entsprechend der weitgehenden Enthaltung poetologischer Kommentare sind es nur wenige Stellen, die das Schreiben selbst thematisieren. Und wenn,

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Pfotenhauer 1996, S. 18. Anders sieht das Harich 1974, S. 250ff., der die »Entwicklung des positiven Helden zum Revolutionär als Gegenstand des Erziehungsromans« liest. Vgl. zur Begrifflichkeit der ›weiteren‹ Geschwisterschaft Teil I, Kap. 2.1. und zur endogamen Heiratspraxis im 18. Jahrhundert ebd., Kap. 2.2.2.

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dann kommt die Zeugungsmetaphorik zum Tragen, die seit dem Hesperus den poetologischen Familiencode dominiert. Mit den im Anhang zum Titan publizierten »Doppeltgängern« und vor allem dann den Flegeljahren erfolgt jedoch eine Neuauflage von Schriftgeschwistern, die damit – in geschlechtlich anderer Positionierung als in der Loge – vom Rand ins Zentrum rücken: Die Gebrüder Mensch in den »Doppeltgängern« verkörpern allegorisch und der von den Zwillingen Walt und Vult geschriebene Doppelroman »Hoppelpoppel oder das Herz« (I/2,670) objektiviert konkret die grundsätzliche Anlage der Jean-Paul’schen Doppelschreibweise. Damit läuft die Selbstreflexion der Schrift zur Hochform auf und macht dies gleich selbst explizit, in dem die »Duplizität der Arbeit schon auf dem ersten Blatte bezeichnet« wird, »wie es auch ein neuerer beliebter Autor« namens Jean Paul tut. (I/2,669f.) Nicht nur poetologisch, auch thematisch sind die Flegeljahre in vieler Hinsicht eine Reflexion von bisher Geschriebenem. Insbesondere die Thematiken der Nachfolgeregelung, von Liebe und Freundschaft werden explizit autoreflexiv bearbeitet. Darüber hinaus kann der Zusammenschluss der sieben »Akzessit-Erben« (I/2,589) als satirischer Kommentar vormaliger Seelenbünde gelesen werden, als ein Zweckbund zur Erreichung materieller Ziele. Die im Zentrum der Flegeljahre stehende Geschwisterbeziehung jedoch lässt sich nur bedingt als eine Reflexion des Geschwisterdispositivs bei Jean Paul und um 1800 fassen. Zwar fokussieren die eigentlichen Zwillinge Walt und Vult das Geschwisterthema wie kein anderer Text Jean Pauls zuvor. Doch mit der biologischen Konkretisation der bisher vielfältig und weitreichend wirkenden Geschwisterstrukturen findet zugleich auch die größte Verengung statt: Die Brüder Walt und Vult machen in den Flegeljahren das Geschwisterthema weitgehend unter sich und als Auseinandersetzung ihrer beider Charaktere aus. Letztere sind strikt gegensätzlich konzipiert, so dass sich auch hier der Spielraum der Möglichkeiten auf die Bewegung zwischen zwei Polen beschränkt. Diese Semiosen des Geschwisterdispositivs von der Loge über den Hesperus und Titan zu den Flegeljahren sollen jetzt im Einzelnen zur Sprache kommen.

282

1.

Genese – Genealogie der Geschwisterfigurationen

1.1

Biologisierung von Geschwisterbeziehungen im Hesperus

Im Hesperus werden Geschwisterverhältnisse nicht wie in der Loge über aufwendige narrative Konstruktionen performativ hergestellt, sondern sind Teil einer genealogischen Verwicklung und unterliegen einer Logik von Verstecken und Entdecken. Urheber dieses Versteckspiels ist Lord Horion, ein macchiavellistischer Strippenzieher,1 dessen Arrangement sich ideologisch an einem gemäßigten Republikanismus und strukturell am Narrativ vom verborgenen Prinzen orientiert. Im Zentrum der Erzählhandlung steht die Generation der Mitte Zwanzigjährigen: Der Held des Hesperus, der je nach dem Viktor, Sebastian, Bastian oder Horion genannt wird, zählt 26 Jahre.2 Zeitmäßig erstreckt sich die Erzählhandlung über ein Jahr, welches im Text als dasjenige von 1793 datiert wird.3 Im zweiten Hundposttag wird als »[v]orsündflutliche Geschichte« die Ursache der genealogischen Versteckspiele vorausgeschickt. Auf seiner »große[n] Tour« wirkte der flachsenfingische Fürst Jenner der durch die Revolution bevorstehenden »Entvölkerung Frankreichs« engagiert entgegen und zeugte an verschiedenen Orten fünf Söhne: drei davon in gallischen Seestädten, einen »auf den sogenannten sieben Inseln« und den jüngsten in England. (I/1,513)4 Schon in ihrer Einführung werden die Fürstensöhne mit dem Thema der Französischen Revolution verknüpft und damit zwei Ebenen des Geschwisterdispositivs eng geführt: die eigentliche mit der weiteren Geschwisterschaft. Diese Korrespondenz wird im Textverlauf systematisch weiter entwickelt: Drei der Fürstensöhne treten als ein Klub republikanischer »Drillinge« (I/1,897) mit konspirativen Absichten gegen das regierende Haus Flachsenfingen auf. Intertextuell resultiert diese

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Zu einer Charakteristik des Lords als Macchiavelli-Figur vgl. Jordheim 2007, S. 288ff. Vgl. I/1,993, 707. Vgl. I/1,857. An dieser Stelle finden sich die größten Bearbeitungen zwischen den verschiedenen Auflagen. Erst in der dritten Auflage nennt der Untertitel die bisherige »Antediluvianische Geschichte« mit dem signifi kanten deutschen Begriff eine »Vorsündfluthliche«. Und die ganze Passage mit der Vorgeschichte ist in der zweiten Auflage gegenüber der ersten ausführlicher und auf mehr narrative Kohärenz hin gestaltet, die Verknüpfung der Geburt der Fürstensöhne mit der »Entvölkerung Frankreichs« ist jedoch seit der Erstauflage unverändert und damit von Anfang an Bestandteil des Arguments (HKA I/I,62ff./63ff.).

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Verbindung von eigentlicher und institutioneller Geschwisterschaft aus einer potenzierten Ausführung des Narrativs vom verborgenen Prinzen, die sich an Meyerns Dya-Na-Sore orientiert:5 Jenner lässt nicht nur einen, sondern alle seine fünf Söhne in »Unwissenheit ihres Standes und in keiner schlimmern« zu »künftigen Mitarbeitern seiner Regierung« erziehen. (I/1,513) Da diese Erziehung in Frankreich und England erfolgt, bringen die verborgenen Fürstensöhne nicht nur das von ihrem Vater gewünschte staatspolitische Interesse, sondern auch freiheitlichrepublikanische Ideen mit. Am konsequentesten verborgen bleibt der auf den sieben Inseln geborene vierte Prinz: Seine Identität wird erst auf den letzten Seiten aufgedeckt. Auch er hat eine Affinität zu Frankreich, die sich in seinem Namen zeigt: Er wird der »Monsieur oder Mosje« (I/1,513) genannt. Über diesen französischen Namen und physiognomische Ähnlichkeiten erschließen sich die Indizien, die sich auf den letzten Seiten zur Gewissheit verdichten, dass der Lebensbeschreiber ›Jean Paul‹ selbst dieser verlorene Fürstensohn ist.6 Mit diesem Überraschungscoup, der durch einige wenige Hinweise vorbereitet wird,7 setzt Jean Paul an seiner gleichnamigen Erzählerfigur das in Szene, was Sigmund Freud über 100 Jahre später den »Familienroman der Neurotiker« genannt hat: Ein ego bildet sich ein, von hochstehenden Eltern oder zumindest einem hochstehenden Vater abzustammen und erfindet dazu quasi einen Roman.8 Gegenüber den vagen Genealogien und Biographien der ersten vier Fürstensöhne sind die Angaben über den jüngsten Prinzen deutlich konkreter: Er ist der Sohn 5 6 7

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Die Bedeutung dieser Intertexte für Loge und Hesperus ist in der Forschung schon zahlreich nachgewiesen worden, vgl. die Verweise in Teil II, Kap. 3.2. Vgl. I/1,1225. Vgl. I/1,662, den Hinweis auf ein Körperzeichen, das alle Fürstensöhne haben, und I/1,1223, wo ›Jean Paul‹ von seinen Entführern als »Prinzenräuber[n]« schreibt, zu einem Zeitpunkt der Geschichte, wo die Entdeckung zwar unmittelbar bevor steht, aber noch nicht bekannt ist; vor allem aber I/1,1020: »wenn ich mir zuweilen einbilde, es sei möglich, dass ich etwan [...] ein unbenannter Knäsensohn oder Schachsohn oder etwas Ähnliches wäre, das für den Thron gebildet werde und dem man nur seine edle Geburt verstecke, um es besser zu erziehen«. Vgl. Der Familienroman der Neurotiker (1909), in: Freud 1970, Bd. IV, S. 221ff. Freud situiert die Neurose in direkter Nachbarschaft zu »jeder höheren Begabung«, und schreibt beiden »eine ganz besondere Tätigkeit der Phantasie« zu. Das Phantasieren eines Familienromans ergibt sich laut Freud aus dem Gefühl des Kindes, es werde von seinen Eltern gering geschätzt. Daraus entwickelt sich die Vorstellung, »man sei ein Stiefkind oder ein angenommenes Kind«, schließlich phantasiert das Kind die Ersetzung der Eltern durch sozial höher stehende. Erkennt das Kind in seiner Entwicklung die unterschiedliche Gewissheit von Vater- und Mutterschaft, begnügt es sich damit, »den Vater zu erhöhen«, da es »die Abkunft von der Mutter [...] als etwas Unabänderliches« annimmt. Auch die Geschwisterinzestphantasie integriert Freud in dieses Erklärungsmodell: Situiert sich »der dichtende Held« als legitim gegenüber illegitimen Geschwistern, so »beseitigt der kleine Phantast [...] auf diese Weise die verwandtschaftliche Beziehung zu einer Schwester, die ihn etwa sexuell angezogen hat.«

einer Nichte Lord Horions, deren Ehre durch eine zurückdatierte Verheiratung mit dem Kammerherrn Le Baut geschützt wird. Die Lady lässt sich zwar bald scheiden, muss aber ihr ehelich geborenes zweites Kind dem Gatten überlassen, der mit diesem nach Flachsenfingen zieht, während die Mutter mit dem erstgeborenen Sohn in England bleibt. Dieses zweite Kind ist eine Tochter, Klotilde, die Heldin des Hesperus. Mit diesem getrennten Paar von Halbgeschwistern ist die erzählerische Voraussetzung für die inzestuöse Situation gegeben, entlang derer Jean Paul auch im Hesperus die Liebesgeschichte entwickeln wird. Der jüngste Prinz, den der Erzähler »allezeit bloß den Infanten nennen will«, (I/1,515) wird bis zu seinem 12. Lebensjahr in England gemeinsam mit dem Sohn des Lord Horion und einem Pfarrsohn, dessen Eltern nach Flachsenfingen zurückkehren, von einem schwärmerischen Lehrer erzogen: dem hohen Menschen Emanuel oder, mit seinem indischen Pseudonym, Dahore. Emanuel ersetzt den Kindern die abwesenden Väter und bildet zusammen mit der Lady eine familienähnliche Struktur.9 Die drei Kinder stehen untereinander in einem identifikatorischen Verhältnis, wie sich in ihrer Namensangleichung zeigt,10 die schließlich in eine genealogische Vertauschung mündet, so dass sie als junge Männer bei ihrem Auftreten im Text jeweils unter vertauschten Genealogien leben: Viktor gilt als Sohn des Lords, ist aber eigentlich der Pfarrsohn; Flamin gilt als Pfarrsohn, ist aber eigentlich der Infant, und Julius hält sich für den Sohn ihrer aller Lehrer, ist aber eigentlich der Sohn des Lords. Da Julius als Kind an den Blattern erblindet ist, bleibt er bei Emanuel, während Viktor und Flamin nach ihrer Abreise aus England im Haus des Pfarrers Eymann, der inzwischen Kaplan in St. Lüne geworden ist, gemeinsam weiter erzogen werden. Viktor wird dann Arzt, Flamin Jurist. Viktor und Flamin werden also ihre gesamte Kindheit über wie Geschwister sozialisiert: Sie haben dieselben erzieherischen Bezugspersonen und leben in einem gemeinsamen Haushalt. Verstärkt wird diese familiale Struktur durch die Kaplänin, die Viktor stets als ihren Sohn bezeichnet, so wie Viktor sie mit ›Mutter‹ anredet.11 Im Textverlauf wird sich erweisen, dass die über das soziale Zusammenleben angenommene Familiensemantik de facto auf einer biologischen Verwandtschaft gründet. Das hat auch auf der Ebene der Geschwisterbeziehungen Folgen. Das Einzelkind Viktor erhält damit – anders als Gustav in der Loge – eigentliche Geschwister, mit denen es beide Elternteile teilt und die auch tatsächlich als Figuren und nicht nur als Erinnerungszeichen da sind. Zum jüngsten Familienmitglied der Eymann’schen Familie ergibt sich für Viktor sogar eine doppelte Verwandtschaft: Die Enthüllung der Verwandtschaftsverhältnisse fügt der zu Beginn des Hesperus in der Taufhandlung performativ her-

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Vgl. u.a. I/1,1178. Die drei Kinder tragen »sogar alle einen Namen, wie die Otaheiter aus Liebe ihre Namen tauschen.« (I/1,519) Vgl. I/1, 495, 1205, 1207.

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gestellten geistlichen Verwandtschaft zum kleinen Sebastian, der seinen Namen zu Ehren seines Patenonkels Viktor Sebastian trägt, eine eigentliche hinzu. Mit dieser Konstellation – »Das ist unerhört, ein Bruder Pate des andern« (I/1,1208) – überlagern sich kulturelle und biologische Verwandtschaftsbegründung, so dass die Familienzugehörigkeit Viktors damit gleich doppelt abgesichert ist.12 Für die »Unwahrscheinlichkeiten« all dieser genealogischen Verwicklungen hat der Hund einzustehen, ›Jean Paul‹ erzählt nur weiter, was ihm »in der Kürbisflasche« geliefert wird. (I/1,519) Anders als in der Loge, in der Geschwisterverhältnisse performativ hergestellt werden und die Beziehung zu einem abwesenden Halbgeschwister 13 den größtmöglichen Grad an eigentlicher Geschwisterschaft bedeutet,14 gibt es im Hesperus sowohl unter den Haupt- wie den Nebenfiguren zahlreiche eigentliche Geschwister. Damit ist gegenüber den idealtypisch gestalteten Geschwistern der Loge auch eine größere Bandbreite an Geschwisterbeziehungen gegeben. So sind Geschwister im Hesperus auch mal uneinig: Gleich zu Beginn ist »die kleine Brüder und Schwestergemeinde« der Eymann’schen Kinder ob der erwarteten Ankunft des Helden in »zwei Parteien« gespalten. (I/1,490) Mit Mathieu und Joachime kommt dann ein intrigantes Geschwisterpaar15 und mit den komischen Zwillingen Zeusel auch das Thema der Geschwisterrivalität ins Spiel.16 Trotz dieser veränderten genealogischen Basis und der breiteren Variabilität von Geschwisterbeziehungen spielen die drei für die Geschwistergenese der Loge erarbeiteten Ebenen der institutionellen, leiblich-materiellen und seelisch-imaginären 12 13

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Zur zeitgenössischen Bedeutung der über die Taufe gestifteten geistlichen Verwandtschaft vgl. Teil I, Kap. 2.3.2. Unter den Hauptfiguren rangiert der verlorene Guido in dieser Funktion als Halbbruder von Gustav und Beata. Ottomar und der Fürst, die nie zugleich auftreten, sind ebenfalls Halbbrüder. Bei den Nebenfiguren übernimmt der verstorbene Bruder der Residentin von Bouse die strukturanaloge Position des verlorenen Bruders, sein genauer Verwandtschaftsgrad wird jedoch nicht erzählt. Eine Ausnahme bilden hier die Schriftgeschwister ›Jean Paul‹ und Philippine: Da ihr genauer Geschwisterstatus nicht verhandelt wird, könnte es sich bei ihnen durchaus um eigentliche Geschwister handeln. Allerdings ist ihr Geschwisterstatus durch den demiurgischen Akt, mit dem ›Jean Paul‹ Philippine in den Text holt, zugleich auch prekär. Vgl. dazu Teil II, Kap. 4.2. Der Hesperus nimmt mit der gefundenen Genealogie ›Jean Pauls‹ an diesem Geschwisterstatus Korrekturen vor, so dass ›Jean Paul‹ und Philippine – vom Hesperus aus gesehen – höchstens Halbgeschwister sein können. Der gleich im Anschluss an den Hesperus geschriebene Quintus Fixlein löst das damit aufgegebene Problem insofern, als er Philippine zur »Pflegeschwester« macht. (I/4,50) Vgl. dazu weiter unten, Teil III, Kap. 4.1. Vgl. I/1,875, 1160. Vgl. I/1,898, 905. Streitpunkt der Zwillinge Zeusel im Hesperus ist der Rang des Erstgeborenen. In der Loge ist Geschwisterrivalität implizit über die nicht näher thematisierte Beziehung Ottomars zu seinem Halbbruder, dem regierenden Fürsten, gegeben. Diese mögliche Geschwisterrivalität wird jedoch ausschließlich als über die institutionelle Bruderschaft zu bewerkstelligende politische Reformabsicht thematisch.

Geschwisterschaft17 auch im Hesperus eine Rolle. Sie gehören hier jedoch nur ausnahmsweise der Geschwistergenese zu: Denn diese entsteht weitgehend im Rahmen biologischer Reproduktion oder lehnt sich zumindest an biologische Erklärungsmuster an. Effekt dieser Biologisierung des Geschwisterdispositivs im Hesperus ist unter anderem, dass sich diejenigen Motivkomplexe, die schon in der Loge mit den existenziellen Gegebenheiten eines Geschwisters auf Kollisionskurs standen, aus dem Geschwisterdispositiv herausbewegen. Die institutionelle Geschwisterschaft wird im Hesperus im Unterschied zur Loge nicht über Bruderschaften wie Geheimbünde oder Herrnhuter eingeführt. Vielmehr sind die mit den institutionellen Bruderschaften verbundenen sozialpolitischen Ideologien durch die Fürstensöhne vertreten, deren Verwandtschaftsgrad als Halbbrüder über die Bezeichnung »Drillinge« (I/1,897) semantisch bis zur größtmöglichen biologischen Nähe gesteigert wird. Inhaltlich nimmt das politische Programm radikal republikanische Ideen auf und strebt letztlich »eine Universalrepublik« der Erde mit einem »Nationalkonvent der Menschheit« an. (I/1,1018) Der gemeinsame Bezug der Brüder dazu wird nicht über politische Theoreme, sondern über die Vorgänge ihrer Zeugung, Geburt und Erziehung hergestellt: Der Themenkomplex um die institutionelle Geschwisterschaft erscheint damit im Hesperus in mehrfacher Hinsicht biologisiert. Wie diese Biologisierung der Parole der fraternité in Szene gesetzt wird, soll weiter unten ausführlicher gezeigt werden.18 Die Motivkomplexe, die sich in der Loge um die leiblich-materielle Geschwisterschaft gruppiert hatten, lösen sich im Hesperus dagegen von der Geschwisterthematik respektive spielen mit den in der Loge geschaffenen Erwartungen bezüglich physiognomischer Ähnlichkeiten und daraus resultierender Verwechslungen, ohne diese Bewegungen auf Geschwisterliches zurückzuführen. Da dieser Motivkomplex in den weiterführenden Kapiteln nur noch marginal zur Sprache kommen wird, soll sein Ablösungsprozess vom Geschwisterdispositiv an dieser Stelle kurz dargestellt werden, bevor es um die dritte Ebene aus der Geschwistergenese der Loge, die imaginäre Beziehung zu einer Seelenschwester, gehen soll. Die »bezaubernde Ähnlichkeit« zwischen Viktor, dem Lebensbeschreiber ›Jean Paul‹ und dem »auf den sieben Inseln verlornen« (I/1,735) Fürstensohn ist im Hesperus wiederholt handlungsrelevant, löst sich aber gerade nicht geschwisterlich, sondern in einen produktionsästhetischen Verweisungszusammenhang auf. Die Ähnlichkeit zwischen dem Helden und seinem Lebensbeschreiber ist dabei zuerst eine charakterliche – »im Scherzen und Betragen« (I/1,736) –, die sich erst in zweiter Linie auch als eine physiognomische erweist: in der Metapher des »Schieferabdruck[s]« (I/1,1232). ›Jean Paul‹ folgt damit der von Johann Paul Friedrich Richter schon 1780

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Vgl. Teil II, Kap. 1. Vgl. Teil III, Kap. 3.1.2.

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geäußerten Kritik am Lesbarkeitstheorem des Physiognomikdiskurses, man solle »mer aus den Handlungen auf’s Gesicht schliessen, als umgekert«. (II/1,44)19 Viktors rascher Aufstieg am Hof zum Vertrauten und Leibarzt des Fürsten wird mit seiner Ähnlichkeit mit dem verlorenen Fürstensohn motiviert, dabei wird die Erwartung jedoch nicht eingelöst, dass Viktor dieser verlorene Sohn ist. Vielmehr erweist sich die Ähnlichkeit als Teil einer metonymischen Kette, deren Urheber ›Jean Paul‹ ist. Dieser hat nämlich den Helden seiner Hundposttage »ein wenig nach« sich »selber gebosselt«, (I/1,1218) ja hat sich sein »eignes Ich sitzen« lassen, um das von Viktor »abzufärben«. In einer Vertauschung von Ursache und Wirkung erklärt ›Jean Paul‹ aber zugleich, er sei »nur ein elender zerflossener ausgewischter Schieferabdruck« Viktors, »nur eine sehr freie paraphrasierte Verdolmetschung von dieser Seele«.(I/1,1232)20 Letztlich wird sich ja dieser »Schieferabdruck« als der verlorene Prinz erweisen, für den der Pfarrsohn Viktor als vorgeblicher Adliger eine Stellvertreterposition offen gehalten hat: »und ich finde, dass ein gebildeter Pfarrsohn im Grunde besser ist als ein ganz ungebildeter Prinz, und dass die Prinzen nicht wie die Poeten geboren werden, sondern gemacht.« (I/1,1232) Das sind Verhandlungen um Urbild und Abbild, wie sie in der Loge um den allein medial präsenten »verlorne[n]« (I/1,68) Bruder Guido erprobt wurden, und im Hesperus nun strategisch am Rande des Geschwisterdispositivs platziert werden. Die dabei in einer ironischen Vertauschung ins Spiel gebrachte Opposition von Nativität und Produktivität – tatsächlich werden Prinzen gerade über ihre Geburt definiert und Poeten schaffen sich als solche mit ihren Werken – bringt den Konflikt zur Sprache, der sich aus den geschwisterlichen Rahmenbedingungen der Loge ergibt: Ein Geschwister lässt sich im Unterschied zu einem physischen oder geistigen Kind nicht selbst zeugen. Die »Biologie der ersten Person«,21 die Jean Paul von nun an immer wichtiger werden wird, steht mit den biologischen Gegebenheiten des Geschwisters auf Kollisionskurs. Als Ausweg aus dem Konflikt um Nativität und Produktivität präsentiert der Hesperus mit Viktor einen Modell-Helden, den ›Jean Paul‹ nach sich selber geschaffen hat und in dessen Aktantenposition sich der

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Vgl. zur Physiognomik im Hesperus Dangel-Pelloquin 1999, 32ff., bes. S. 36, und zur schon in der Loge ästhetisch gestalteten Kritik am Theorem der Seelenlesbarkeit Teil II, Kap. 1.2. An Stelle von »Verdollmetschung« heißt es in den ersten beiden Auflagen »Version« (HKA I/III,464/465). In den »Jus de tablette«, den Brühwürfeln im Anhang des Quintus Fixlein, wird dieses Bildfeld eines »Schieferabdruck[s] unsres Ich[s]« wieder aufgenommen in einem mit derselben Verkehrung von Ursache und Wirkung spielenden Argument, mit dem gezeigt werden soll, dass es für wirkliche Selbstliebe ein doppeltes Ich und eben nicht nur ein Bild von diesem Ich im Kopf als ein – hier rein zeichenhaft gedachter – »Zwillingsbruder unsers Ichs« bräuchte: »Da Liebe nur gegen Liebe entbrennt: so müßte die Selbstliebe sich lieben, eh’ sie sich liebte, und die Wirkung brächte die Ursache hervor, welches so viel wäre, als sähe das Auge sein Sehen.« (I/4,221) Vgl. Pfotenhauer 2002, S. 471.

Erzeuger selbst – in einer Verkehrung von Ursache und Wirkung – als ein Abbild seines Helden einpassen kann. Für die dabei entgangene geschwisterliche Struktur werden ›Jean Paul‹ gleich mit vier und Viktor mit drei eigentlichen Geschwistern entschädigt, wie sie aus der Logik von Verstecken und Entdecken der wahren Genealogien resultieren. Mit der Ähnlichkeitsbeziehung zwischen ›Jean Paul‹ und seinem Helden wird die Ebene der Selbstrepräsentation gegenüber der Loge und auf Kosten der Geschwisterstruktur gestärkt. Dabei ist jedoch das repräsentierte Ich – die Figur Viktor – so stark, dass das repräsentierende Ich – der bosselnde ›Jean Paul‹ – als ein bloßer Schieferabdruck davon zurückstehen muss: Das Urbild tritt hinter sein Abbild und wird selbst zu einem solchen. Effekt dieser Metalepse von fiktiver Schreibszene und Erzählhandlung ist eine Verunsicherung von Original und Kopie, der mit einer ganzen Reihe von Indizien entgegen gearbeitet werden muss.22 Die aus der Loge übernommene Thematik der Verwechslung von lebendigem Urbild und repräsentiertem Abbild wird im Hesperus weiter kompliziert, in dem zu ›Jean Paul‹ als Urbild und zugleich metaphorischem Abbild Viktors ebendieser in der ebenfalls paradoxen Position eines lebendigen Abbilds – und zugleich beschriebenen Urbilds23 – hinzukommt, von dem nun wiederum eine Wachsstatue als totes Abbild existiert.24 Dass Viktor auf seine Wachskopie seine eigene Leichenrede hält, führt diese Spirale von Ur- und Abbildern verschiedener Grade auf jenes erkenntnistheoretische Kernprobleme des ausgehenden 18. Jahrhunderts zurück, mit dem sich Jean Paul in immer neuen Anläufen und wiederholt in nekrologischem Kontext auseinandergesetzt hat: der Frage nach dem commercium mentis et corporis.25 Ästhetisch erprobt hier Jean Paul das philosophische Problem, inwiefern die von Descartes folgenreich geschiedenen zwei Substanzen – die res extensa und die res cogitans – sowie die daraus deduzierten Philosophien des Materialismus und Idealismus für sich bestehen, miteinander verbunden oder – und das ist nun spezifisch Jean Paul26 – verwechselt werden können. Diese Möglichkeit der Verwechslung der beiden Substanzen, die Jean Paul wiederholt inszeniert,27 zielt aufs Ganze: Denn könnten zwei

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Vgl. zur Verwechslung von lebendigem Urbild und repräsentiertem Abbild in der Loge Teil II, Kap. 3.1.2. Zur Indizienkette, mit der die Originalität der Fürstensöhne bewiesen werden soll, vgl. I/1,661 sowie Teil III, Kap. 3.1. Vgl. I/1,1225: Fenk hat sich bei Viktor für einen Italiener ausgegeben, der kein Deutsch kann, »und ihm den ganzen Tag seine eigne Konduitenliste [...] abgeschrieben«, um den Lord und den Lebensbeschreiber ›Jean Paul‹ damit zu beliefern. Vgl. I/1,768. Vgl. dazu erhellend am Beispiel des Titan Simon 2006. Philosophisch orientiert sich Jean Paul dabei an Jacobi, der Idealismus und Materialismus in ihren jeweiligen Konsequenzen miteinander gleichsetzt. Vgl. zu Jean Pauls Jacobi-Rezeption und -Auseinandersetzung Bergengruen 2003, bes. S. 121ff. Vgl. z.B. I/1,942: »als das Schicksal es fügte, daß er, der heute die Wachsmumie für seine Person ausgegeben hatte, jetzt umgekehrt für das Bild angesehen werden sollte«.

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substanziell verschiedene Dinge überhaupt verwechselt werden? Ist also, so wäre hier weiter zu denken, das descartsche Axiom tatsächlich tragfähig? Diese Fragestellung kann hier nicht weiter verfolgt werden, ging es doch bei diesem kleinen Exkurs darum zu zeigen, wie sich die Thematik leiblich-materieller Repräsentation aus dem Geschwisterdispositiv herausbewegt respektive am äußeren Rand ansetzt. Dieser Rand wird in der Leichenrede Viktors auf sich selbst manifest als äußerer Rahmen, in den die Rede gestellt wird: Es ist der republikanische Klub der Drillinge, in dem Viktor seinen Leichensermon hält, den er mit der Anrede »Mitbrüder« (I/1,936) beginnt. Die Verbindung zum Geschwisterdispositiv ist damit auf eine äußere Form reduziert: Inhaltlich sind leiblich-materielle Abbilder und mit ihnen die Frage nach dem commercium im Hesperus nicht mehr Teil der Geschwistersemiose. Anders als die leiblich-materielle Beziehung zu einem Bruder ist nun aber die seelisch-imaginäre zu einer Schwester auch im Hesperus relevant und ein zentraler Bestandteil der Geschichte des liebenden Paares. Wie in der Loge wird diese Seelengeschwisterschaft zwischen Viktor und Klotilde performativ hergestellt, doch nicht als eine in der Kindheit verankerte Erinnerung, sondern mit Bezug auf kulturelle Intertexte – namentlich Goethes Iphigenie – und eine verschriftlichte Biologie. Als Seelen-Geschwisterschaft ist sie aber nicht selbst Teil der inzestuösen Situation, entlang der die Liebesgeschichte auch im Hesperus entwickelt wird. Vielmehr variiert die inzestuöse Situation des Hesperus den Glückseligkeits-Triangel der zwei Freunde und der einen Frau. Auch hier mit einer Biologisierung: Erscheint in der Loge – im intertextuellen Bezug zum Woldemar – der Glückseligkeits-Triangel in eine imaginäre Geschwisterstruktur eingepasst, so agieren im Hesperus mit Klotilde und Flamin eigentliche Geschwister, wie sie der konventionellen inzestuösen Szenographie eingeschrieben sind. Wie diese Interaktion von Seelengeschwisterschaft, Glückseligkeits-Triangel und inzestuöser Szenographie ausagiert wird, soll weiter unten dargestellt werden. Im Folgenden geht es nun um die Geschwistergenealogie des Titan.

1.2

Geschwisterproliferation im Titan

Das genealogische Versteckspiel des Hesperus wird im Titan durch eine mehrfach verschlüsselte Abstammung, verschiedene Entschlüsselungshypothesen und eine aufwendig inszenierte Aufdeckung der Verwandtschaftsverhältnisse noch übertroffen. Waren Familienpositionen im Hesperus weitgehend doppelt besetzt, so finden sich im Titan nun Verdreifachungen: Albano, der Held des Titan, hat drei Väter,28

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Die Rolle der drei Väter untersucht aus psychoanalytischer Perspektive Schönberg 1994, S. 172ff., allerdings in einer Art und Weise, die freudsche Setzungen zu überhistorisch gültigen Erklärungsmustern und den Roman zur Fallgeschichte eines Vater-Sohn-Kon-

Mütter, Schwestern sowie drei Geliebte und drei zentrale Freunde. Bezeichnenderweise werden auch die Dokumente von Albanos Abstammung »dreimal gemacht«. (I/3,809) Allein die im Hesperus vervielfacht aufgetretenen Brüder sind im Titan auf ein Minimum reduziert: Luigi, Albanos leiblicher Bruder, wird kaum ein solcher genannt, zu groß scheinen die charakterlichen Differenzen. Die Bezeichnung ›Bruder‹ ist in Albanos Umfeld weitgehend dem Feld der Freundschaft überantwortet. Grundsätzlich gesehen aber treten Geschwistergruppen potenziert auf. Nicht nur der Held, fast alle handelnden Figuren sind Teil von Geschwisterbeziehungen, und eine Vielzahl davon ist biologisch begründet: So sind die Freunde Albano und Roquairol über Kreuz in die jeweiligen Schwestern Rabette und Liane verliebt, und neu in den Text tretende Figuren wie Idoine werden über ihre Geschwisterbeziehungen verortet. Selbst der einsame Machttechnokrat, der ähnlich wie im Hesperus auch im Titan die Fäden der Handlung führt, hat einen leiblichen Bruder. Das Geschwisterdispositiv des Titan wuchert also auf Figurenebene, während die Bedeutsamkeit der unterschiedlichen Formen der Geschwisterschaft umgekehrt proportional dazu schwindet: Die Seelengeschwisterschaft verkommt zur technisch hergestellten Geistererscheinung, und von der institutionellen Geschwisterschaft sind nur noch disparate Restbestände und einzelne Requisiten greifbar.29 Die in der Loge handlungsrelevante und im Hesperus noch anklingende leiblich-materielle Repräsentation hat sich im Titan weiter aus dem Geschwisterdispositiv herausgelöst und verbindet andere Figurenkonstellationen über ihre verblüffende äußere Ähnlichkeit.30 Mit der Abfolge von Vater und Sohn sowie von zwei Frauenfigu-

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fliktes macht. Die vielfältigen horizontalen Strukturen des Titan, die ja ebenfalls aus psychoanalytischer Sicht hätten diskutiert werden können – die Theoriediskussion setzt im angloamerikanischen Raum in den frühen achtziger Jahren ein (vgl. Teil I, Kap. 1.3) – kommen dabei nicht ins Blickfeld ihrer Untersuchung. Ebenfalls aus psychoanalytischer Perspektive, doch deutlich avancierter, widmet sich Dettmering 2007 dem »Familienroman« des Titan (S. 79ff.), aber erstaunlicherweise ohne auf sein eigenes Thema der »Zwillings- und Doppelgängerphantasie« Bezug zu nehmen. Obwohl die Textgenese (etwa für das Verhältnis von Albano und Roquairol, das bei Dettmering zentral ist) und die vielfältigen Doppelungen und Spiegelungen einen reichen Materialfundus für Dettmerings Fragestellung bieten würden, wird darum nicht evident, weshalb die Familiengeschichte des Titan in seiner Analyse steht. Vgl. dazu weiter unten Teil III, Kap. 3.2. Insbesondere sind es die Männerfreundschaften, die nun mit dem Doppelgängermotiv verbunden werden: Für die Handlungslogik des Titan übernimmt die Stimmengleichheit von Albano und Roquairol – auf der Ebene des Auditiven und unter der Voraussetzung eines zumindest temporär blinden Gegenübers – eine ähnliche Funktion wie die leiblich-materielle Geschwisterschaft im »Hals-Gehenk« (I/1,68) der Loge. Vgl. dazu Teil II, Kap. 1.2 sowie weiter unten. Unter den Nebenfiguren sind es vor allem Schoppe und Siebenkäs/Leibgeber, die die Doppelgängergeschichte des Siebenkäs in den letzten Band und den Anhang des Titan einbringen und angesichts von Jean Pauls inzwischen erfolgter Fichte-Rezeption neu positionieren. (Vgl. v.a. I/3,766) Dieser Aspekt des Titan hat die Aufmerksamkeit der Forschung wiederholt auf sich gezogen, vgl. dazu u.a. Bergengruen 2003, S. 200ff. und Hesse 2005, die ihrer ausführlichen Analyse der Clavis

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ren bringt Jean Paul seine Versuchsandordnungen um Urbild und Abbild in eine Entwicklungslogik: Die gegenseitig als jeweiliges Abbild der anderen auftretenden Liane und Idoine bringen in ihrer Sukzession Albano in Liebesdingen stufenweise zu jener Disposition, die er als fürstlicher Ehegatte mitbringen muss. Zugleich aber werden Liane und Idoine im entscheidenden Augenblick, dem Sterben Lianes, als »Gesichts- und Seelen-Schwester[n]« (I/3,541) bezeichnet und damit wieder über die Geschwisterisotopie zueinander in Beziehung gesetzt. Die im Hesperus im Umfeld der Doppelgängerschaft situierte Thematik von Nativität und Produktivität, die im Geschwisterdispositiv kollidierte, wird im Titan durch eine Vertikalisierung in eine genealogisch fundierte, damit aber auch konventionelle Verbindung gebracht: Albano gleicht dem Fürsten so sehr, weil er dessen Sohn ist, und definiert sich sowohl über seine Geburt als auch als Produkt seines sorgfältig vorausgeplanten Bildungsweges als rechtmäßiger Nachfolger auf dem Thron.31 Die im Zentrum der Handlung stehende genealogisch-dynastische Intrige ist im Urteil vor allem der älteren Jean Paul-Forschung nicht eben das, was die Qualität des Titan ausmacht. Berend hält sie für eine blosse Wiederholung des Hesperus und den Schlusscoup davon, das mütterliche Vermächtnis, gar für einen »der schlimmsten Missgriffe im ganzen Werk Jean Pauls«. (SWI/8,XLIX) Wölfel beschreibt die genealogische Verwirrung als eine »Art von Ausrüstung« an Albanos »Heldenkostüm«, die seine innere Entwicklung weitgehend unbeeinflusst lasse.32 Demgegenüber möchte ich mit der jüngeren Forschung die These vertreten, dass der Handlungsfaden im Titan nicht nur ein Äußeres ist, von dem sich ein

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Fichtiana eine detaillierte Darlegung von Jean Pauls Fichte-Rezeption (S. 110ff.) und der Forschungsdiskussion über Jean Pauls Fichte-Kritik (S. 108ff.) vorausschickt. Eickenrodt 1999 zeigt auf, wie das Handlungsprinzip der Stellvertretung resp. der Reversibilität von Original und Kopie im Titan auf Darstellungsverfahren (Malen, Kopieren) transferiert wird. Simon 2003 vertritt die These, dass sich die Doppelgängerfiguren des Titan »dem Begräbniszeremoniell semantisch schulden« (S. 243). So einleuchtend die Anwendung von Ernst H. Kantorowiczs These von den zwei Körpern des Königs auf den Titan auch ist, so überzieht die Rückführung aller Doppelgängerfigurationen darauf die Bedeutung des Fürstenbegräbnisses in Hohenfließ und vereindeutigt die aus unterschiedlichen Kontexten gespeisten Doppelgängerschaften. Vgl. dazu Teil III, Kap. 1.1 sowie I/3,312, 810. Das Motiv wird wiederholt durch Linda und ihre Mutter, die sich ebenfalls vollkommen ähnlich sehen und damit eine Doppelgängerfigurationen ermöglichen. Wölfel 1989, S. 60. In der älteren Forschung steht Harich 1974 mit seiner positiven Beurteilung der äußeren Umstände um Albano für dessen Entwicklung zum Revolutionär von oben weitgehend alleine da. Die jüngere Forschung argumentiert dagegen tendenziell wertfrei und sieht das Gegeneinander von äußerer sozialer Welt und innerer Gegenwelt (vgl. Golz 1996, Kap. III) respektive das Verhältnis von Staatsroman und Bildungsroman (vgl. Jordheim 2007, S. 376ff.) als zentral für den Titan an. Eine philosophische Grundlegung für den Zusammenhang von Innerem, Äußerem und Romanintrige gibt Simon 2006, S. 240, in dem er den Titan als eine anthropologische Konstruktion liest, »die im Reflexionsmedium der politischen Verschwörung die Thematik des commercium diskutiert.«

Inneres relativ unabhängig entwickelt. Vielmehr modelliert die emotionale Auseinandersetzung mit den Mehrfachbesetzungen der familiären und familienähnlichen Positionen sowie den intriganten Inszenierungen Albanos Inneres so, dass es jene spezifische moralische Bildung erhält, die Jean Paul für die Idealbesetzung auf dem Thron hält: Als moralisch guter und zugleich tatfreudiger Mensch, im Herzen bürgerlich und im Auftreten adlig, soll sich Albano als Herrscher dem »Volksglück« (I/3,820) zuwenden. Fraglos realisiert Jean Paul diese Entwicklung über eine Wiederverwertung seiner bisherigen Erzählbausteine, doch lassen sich genau an diesen Wiederholungen die Differenzen des Titan zu seinen Vorgängerromanen aufweisen. Dies sei nun kurz skizziert. Albano wächst im idyllischen Blumenbühl des Fürstentums Hohenfließ als Pflegesohn der landadeligen Familie von Wehrfritz auf. Neben seinen Pflegeeltern Albine und Wehrfritz komplettiert seine Pflegeschwester Rabette das Familienidyll. Ab der zweiten Jobelperiode – so die Kapiteleinteilung des Titan – will ›Jean Paul‹ der besseren Les- und Schreibbarkeit wegen »das verdrießliche Pflege« (I/3,74) weglassen und erweitert mit der Streichung des Kompositums semantisch den Spielraum der Familienbezeichnungen. Für seinen leiblichen Vater hält Albano den Grafen Gaspard de Cesara, Ritter des goldenen Vlieses, den er zu Beginn der Erzählhandlung erstmals auf der borromäischen Isola bella trifft. Warum so spät, darüber lassen die Dokumente zu diesem Zeitpunkt der Geschichte keinen Aufschluss zu, und der flachsenfingische Außenminister ›Jean Paul‹ kann hierüber nur Mutmaßungen anstellen.33 In dieser Familiengeschichte wird die Vertikale akzentuiert: Albano sieht »sein ganzes Leben« als »eine Anstalt zu dieser gemeinschaftlichen Landung« mit dem Vater, dem »Autor seines Lebensbuches«. (I/3,15) Dieser Autor erweist sich seiner Bezeichnung insofern als würdig, als er selbst besagtes Lebensbuch vorschreibt, darin aber nicht als Figur, sondern nur diskursiv erscheint. Eigene Erinnerungen hat Albano nur an seine Mutter und seine Schwester, mit denen er seine ersten drei Lebensjahre auf Isola bella verbracht hat. Eben dort also kommt es zu einer etwas seltsamen Familienzusammenführung: Die Mutter ist tot,34 der Vater tritt als quasi-Leiche35 und die Schwester als Geist einer Toten auf.36 Dieser toten Familie begegnet Albano mit dem Lebenssaft Blut: Aus der überwältigenden Erinnerung an seine Mutter befreit er sich mit einem Schnitt in seine Armbeuge, und den erstarrten Vater führt er mit dem Blut dieser Wunde zurück

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Vgl. I/3,16. Vgl. I/3,14,36,38. Gaspards Leichengleichheit im Starrsuchtsanfall (vgl. I/3,37) wird nicht nur in der Beschreibung der Starrsucht als »Kopistin des Todes« (I/3,53) manifest, sondern schon auf der zweiten Seite des erzählten Textes vorbereitet, als Albano angesichts einer »nach italienischer Sitte aufgedeckt getragne[n] – Leiche [...] fragt [...]: ›Sieht mein Vater so aus?‹« (I/3,14) Vgl. I/3,48f. Zur Todessemantik des Titan vgl. Simon 2003, 2006.

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ins Leben.37 Gegen die Geistererscheinung der Schwester dagegen ist er vorerst machtlos, sie lässt ihm sein Blut gefrieren.38 Während die Blutsverwandtschaft zu Mutter und Schwester für Albano gesichert scheint, stellt er diese Bindung zu seinem Vater im Akt des Blutvergießens erst her: »Aber guter Jüngling! Wer von uns könnte dich tadeln, daß Wunden dich gleichsam mit Blut an deinen wahren oder falschen Halbgott binden –« (I/3,38). Verwandtschaft wird hier performativ39 über das biologische Fluidum der Verwandtschaftsbegründung hergestellt. 40 Doch das Anknüpfen an die im Hesperus erfolgreich durchgeführte Strategie der Biologisierung verweist schon in der alternativen Formulierung ›wahrer oder falscher Halbgott‹ auf die prekäre Stellung der Verwandtschaftspositionen im Titan: Gewissheit wird erst die letzte Jobelperiode bringen. Diese klärt uns darüber auf, dass Albanos Blut auf Isola bella für eine vorgeschobene Verwandtschaft vergossen worden ist: Weder die erinnerte Mutter noch der mit Blut gebundene Vater sind seine leiblichen Eltern. Selbst die Kindheitsschwester wird sich als nicht mit ihm verwandt erweisen. Dafür entpuppt sich das frühkindliche Beisammensein als planmäßiges Arrangement für eine entlang der Szenographie der inzestuösen Situation auszuagierende Liebesbeziehung, die auch weitere zentrale Bausteine aus den Liebesgeschichten der Loge und des Hesperus gezielt einsetzt – die Erinnerung an das Kindheitsspiel mit einer Schwester, 41 die das Bild der Seelenschwester generiert, sowie den stets aufgeschobenen Eintritt der Liebespartnerin in den Text. Doch die Wiederholung dieser Strategien gestaltet sich im Titan nicht erfolgreich, sie führen allesamt nicht zum geplanten Ziel. 42 Diese Differenz zeigt sich schon beim ersten Auftreten der Seelenschwester. Aus dem inneren Bild der Loge sind äußere Bilder geworden: Albano erhält ein optisch verschlüsseltes Medaillon seiner Schwester und sieht sie als Geist auf dem Lago Maggiore schweben. Das Medaillon, das seine Schwester als alte und ein zweites, das seine Mutter als junge Person darstellt, bekommt Albano auf Isola bella von

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Weitere Aufweckungsstrategien des in einem Anfall von Starrsucht versteinerten Vaters folgen dem galvanischen Experiment, der Inspiration und Invokation; vgl. Simon 2003, S. 240f. Dabei kommt aber dem Blut die zentrale Rolle zu: Die Bewegung des Blutens und das Sprechen über das Blut begleiten die Szene kontinuierlich und werden im Erzählerkommentar, in dem das Wortfeld wiederholt aufgenommen wird, noch verstärkt, vgl. I/3, 36ff, 53. Vgl. I/3,50. Die Iterativität, die im Begriff des Performativen liegt, wird durch die oben gezeigte Bedeutung des Blutes für diese Szene gewährleistet. Zum Begriff des Performativen und dem performativen Herstellen von Verwandtschaft vgl. Teil I, Kap. 1.2. und Teil II, Kap. 1.3. Vgl. zur Bedeutung des Blutes in der Begründung von Verwandtschaft und der damit im 18. Jahrhundert eingeleiteten Biologisierung Jarzebowski 2003, sowie Teil I, Kap. 2.3.2 und Teil III, Kap. 2.1. Vgl. I/3,668 sowie zum Themenkomplex des Geschwisterspiels Teil II, Kap. 1.3. Vgl. ausf. dazu Teil III, Kap. 2.2.

Gaspard zugleich mit einer genauen Anweisung, wann und wie er sich in ein noch näher zu bezeichnendes Bilderkabinett zu begeben habe, in dem optische Hilfsmittel zur Erkennung von Mutter und Schwester bereitstünden und die Rätsel um ihn gelöst würden. 43 Die Medaillons sind eine von mehreren ästhetischen Strategien, in der die Position der Mutter mit der der Schwester enggeführt und eine Verbindung von horizontaler und vertikaler Genealogie gesucht wird. Das beginnt schon beim Widmungsschreiben des Titan, dem »Den vier schönen und edeln SCHWESTERN auf dem Thron« zugeeigneten »Traum der Wahrheit«. 44 In diesem steigen olympische Göttinnen auf die Erde nieder und werden Schwestern und Mütter, deren »mütterlich[e] und schwesterlich[e] Herzen« in »einer großen Umarmung« aufgehen. (I/3,10f.) Der Weg zur leiblichen Mutter wird für Albano denn auch immer über die Schwester führen. Doch nicht nur dieser. Auf dem Lago Maggiore weissagt ihm die erscheinende Schwester Krone und Braut sowie ihre Hilfe dabei, weist ihm also – modern gesagt – beruflich und beziehungsmäßig den Weg. Und Albano, nun quasi Held eines Abenteuerromans, freut sich »über die Aussicht in ein Leben voll Abenteuer.« (I/3,51) Diese Abenteuer erweisen sich vom Schluss her gesehen als planmäßiges und durch Geisterinszenierungen unterstütztes Arrangement, ähnlich wie in Schillers Geisterseher. 45 Auch im Titan sind die Geistererscheinungen technisch hergestellte und aufklärbare Inszenierungen, deren Entlarvung bis zu einem gewissen Grad bereits einkalkuliert ist, um das Opfer der Intrige zur gewünschten inneren Bildung zu führen. 46 Anders als im Geisterseher erscheint im Titan aber keine handlungstechnisch nicht weiter relevante Figur als Geist, sondern die Schwester, über deren zentrale Stellung im Jean-Paul’schen Erzählen die vorherigen Texte beredtes Zeugnis ablegen. Der metaphysische Sturz der Schwester von der Seelenverwandten zum Gespensterspuk wird im Titan durch eine Mehrfachbesetzung wettgemacht: Albano hat erstens seine Pflegeschwester Rabette, die sich in solchen sich im Gespenstischen verlierenden Momenten jeweils handfest in Erinnerung ruft.47 Zweitens erkennt Albano im Verlauf der Erzählhandlung in Julienne seine leibli-

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Vgl. I/3, S. 39f. Zur Strategie der Überblendung von Vergangenheit und Zukunft mittels »optische[r] Anamorphosen« (I/3,80, vgl. auch I/3,40) vgl. die These zum Titan von Berhorst 2002, S. 310, zu den optischen Phänomenen als Vergegenständlichung der Einbildungskraft S. 319ff. und ebf. zur Bedeutung der vielfältig eingesetzten optischen Phänomene im Titan Bergengruen 2003, S. 176ff. Zu den Hintergründen des Widmungsschreibens vgl. Berend in SWI/8,LXII, Wölfel 1989, S. 301ff. Dass der Geisterseher ein zentraler Intertext des Titan ist, ist von der Forschung schon wiederholt dargestellt worden, so von Berend in SWI/8,XLIX, Harich 1976, u.a. S. 447f. und Simon 2006. Zur Rolle der Geistererscheinungen im Titan vgl. das Gespräch zwischen Gaspard und Albano I/3,562f. Beispielsweise mit einer Handarbeit, einer mit dem Spruch »Gedenke unserer« versehenen Brieftasche, die Albano nach der Geistererscheinung auf Isola bella hervorzieht.

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che und stets als quicklebendig apostrophierte Zwillingsschwester. Hinzu kommt drittens Linda, die als vermeintliche Zwillingsschwester auf Isola bella unter dem Namen Severina mit ihm gelebt hat. Dieser Schwesterproliferation auf Figurenebene steht die mehrfache Verkündigung und Bezeugung des Todes der Schwester gegenüber, 48 die sich jedes Mal als eine gezielte Provokation von Emotionen erweisen wird, denn – wenn auch fast alle anderen handelnden Figuren des Titan sterben – die Schwestern bleiben lebendig. Die Verlusterfahrung im angekündigten Schwestertod soll nach Gaspards Plan die Sehnsucht nach Geschwisterliebe befördern, die dann gemäß der engen Verbindung von Geschwister- und Geschlechterliebe von der vermeintlichen Kindheitsschwester Linda als Braut eingelöst werden kann. 49 Im konkreten Fall jedoch füllen erst einmal die anderen Schwesterfiguren die Lücke: Rabette lässt Albano im Hier und Jetzt Schwesterliebe erfahren und Julienne befördert die Aufdeckung der wahren Geschwisterverhältnisse.50 Julienne löst damit den in der Geistererscheinung prophezeiten Part der Schwester ein. Sie schlüpft dazu auch in die Rolle der Geisterschwester, um Albano in verhüllter Gestalt den rechten Weg zu weisen.51 Als »Zeichen [ihrer] Wahrhaftigkeit« hinterlässt sie Albano »einen halben goldnen Ring«, (I/3,525) das traditionale symbolon zur Wiedererkennung getrennter Hälften, wie es sich vor allem im Androgyniediskurs etabliert hat.52 Nicht auf Isola bella, sondern noch weiter südlich, auf Ischia, bezeugen dann die zum Ganzen zusammengeschlossenen Hälften die Zwillingsgeschwisterschaft von Julienne und Albano: »O mein Bruder! mein Bruder!« – »Julienne,« (sagt’ er ernst und innig) »bist du endlich meine Schwester wirklich?« – »O lange genug ist sie es«, versetzte sie und sah ihn zärtlich und selig an und lächelte ins Weinen. »[...] So lange bin ich wie ein Mond um dich herumgezogen und mußte kälter und weiter bleiben wie er; und will ich dich auch ausnehmend liebhaben, so recht zurücklieben und vorwärts dazu!« (I/3,627f.)

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(Vgl. I/3,56) Grundsätzlich wird Rabettes Leiblichkeit jeweils stark betont und in Gegensatz zu Lianes Seelenlastigkeit gestellt. I/3,48,146,303,562,610. Vgl. dazu Teil III, Kap. 2.2. Vgl. I/3,303f.: Gaspard schreibt Albano nach Blumenbühl, dass seine Schwester gestorben sei und er nun mit Linda – die ja gemäß Plan die emotionale Leerstelle besetzen soll – nach Italien gehe. »Zwei Töne waren« Albano mit dieser Nachricht »aus der Tonleiter der Liebe gerissen: er erfuhr nie, wie man einen Bruder liebe und eine Schwester.« Aus diesem emotionalen Tief erlöst ihn aber sogleich seine Pflegeschwester Rabette: »Mit Tränen hört’ er den Namen Bruder, da er heute eine Schwester verloren!« Und kurz darauf sieht Julienne Albano »herzlich an, als ob er ihr Bruder wäre«. (I/3,308, vgl. auch I/3,562) Vgl. I/3,498ff, 520ff. Vgl. zum symbolon im Androgyniediskurs Teil I, Kap. 2.5.

Doch noch werden nicht alle Rätsel gelöst und Julienne vertröstet den Bruder für die letztliche Aufklärung auf den Oktober.53 Der vollen Entfaltung der Liebe zwischen Bruder und Schwester steht nun – außer der Geheimhaltungspflicht vor »ganz Europa« (I/3,630) – nichts mehr im Weg, und die lange Trennung der Zwillinge wird zur Chance umgedeutet, sich als »Geschwister [...] gleich ausgewachsen und mit allen Vollkommenheiten« zu bekommen, so dass keine Kindheitsverletzungen zu verarbeiten sind und das Lieben »leicht« fällt. (I/3,669) Die finale Aufklärung der dynastisch-genealogischen Intrige reduziert »ganz Europa« schließlich auf die beiden konkurrierenden Fürstenhäuser Haarhaar und Hohenfließ, die »wirkliche« und nicht nur »diplomatische Verwandte« sind und sich eben darum als »Blutfeinde« ansehen. (I/3,70) Damit kommt eine alternative und von ihrem Realitätsgehalt fraglos gleichberechtigte Familienerzählung zum Zug: Die Frage der Weitergabe von Macht und Besitz macht Aktanten gerade wegen ihrer Verwandtschaft und damit Erbberechtigung zu Feinden. Dieser Zusammenhang tritt konzentriert in der – gemäß Grimm – Jean-Paul’schen Neuschöpfung des Begriffs ›Blutfeind‹ auf: Er verweist auf die alte Verwandtschaftsbezeichnung des Blutsfreundes respektive consanguineus und kehrt die der biologischen Zusammengehörigkeit zugeordnete soziale Beziehung in ihr Gegenteil.54 Um Hohenfließ zu beerben, schreckt Haarhaar nicht vor Gewaltanwendung zurück: Es lässt den Thronfolger sukzessive vergiften und sich schon in jungen Jahren bei den »maitresses des plaisirs« mit Syphilis anstecken, um ihn nicht nur zu Tode, sondern auch zu keinem Erben kommen zu lassen.55 Zugleich wehrt eine endogame Heirat externe Machtansprüche ab und sichert den Besitzstand innerhalb der Verwandtschaft: Luigi heiratet seine Cousine Isabella von Haarhaar. Um den Zweiten in der Hohenfließer Thronfolge vor vergleichbaren Haarhaarschen Nachstellungen zu schützen, hat die mit Albano schwangere Mutter einen Plan der Kindsvertauschung ausgeheckt.56 Der Zufall will es, dass zugleich mit Fürstin Eleonore auch Gräfin Cesara, Tochter aus dem Fürstenhaus di Lauria, kurz vor der Niederkunft steht. Sie bringt ein Mädchen zur Welt, Severina, das später dann Linda de Romeiro genannt werden wird. Die beiden Freundinnen vereinbaren, ihre Kinder zu tauschen, falls Eleonore einen Sohn gebären sollte, denn einem Mädchen würde keine Gefahr von Haarhaar drohen. Doch es kommt anders: Eleonore gebärt Zwillinge, Julienne und Albano. Darauf hin geht sie mit Julienne zurück nach Hohenfließ, Albano aber bleibt zusammen mit Severina bei der Gräfin Cesara, und hält diese für seine leibliche Familie. Severinas Vater Gaspard willigt in den Handel

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Der Aufklärungstermin ist ein deutlicher intratextueller Bezug zum Hesperus. Dort verfügen die echten Fürstensöhne über sich nur zur Reifezeit der Stettineräpfel rötende Körperzeichen und werden so erkennbar: »der edigende Oktober, der die Muttermäler gleichsam mit roter Dinte unterstrich«. (I/1,1224) Vgl. dazu Teil III, Kap. 3.1. Vgl. Grimm, Art. »Blutfeind«, »Blutfreund«, Bd. 2 (1860), Sp. 181f., 192. Vgl. I/3,184f.,240,431,808,817. Zu den Unwahrscheinlichkeiten dieser Genealogie vgl. Simon 2003, S. 237ff.

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unter der Bedingung ein, dass Albano und seine Tochter ein Paar würden. Um dies zu gewährleisten, wird jene Reihe von Geistererscheinungen und Verkündungen vereinbart, von der schon wiederholt die Rede war. Die Überwachung des Planes wird in die Hände Gaspards gelegt, ausgeführt werden die Inszenierungen von seinem »tausendkünstlerische[n] Bruder«. (I/3,809) Das Ganze kulminiert in der Aufklärung der Intrige im Spiegelkabinett von Hohenfließ, die mit Hilfe avancierter technischer Instrumente die Entschlüsselung der Geheimnisse um Albanos Genealogie betreibt und zum brieflichen Vermächtnis der Mutter führt. Gaspard ist damit nicht, wie von Albano zuerst angenommen, Autor seines Lebensbuches, sondern derjenige, der den vom gemischtgeschlechtlichen Autorenkollektiv entworfenen »Zauberplan« (I/3,809) umsetzt. Damit steht nicht wie im Hesperus eine Einzelperson, sondern ein Bund im Hintergrund der geheimnisvollen Handlungen. Doch anders als in der Loge dient dieser Bund der Stützung der Monarchie, nicht ihrer Reform.57 Das Narrativ des verborgenen Prinzen fungiert im Titan also als Schlüssel zur Sicherung der Dynastie.58 Die Folgen für das familiäre Glück sind jedoch fatal: Albanos leibliche Familie ist – bis auf die Schwester – nun tatsächlich tot: Albano erhält damit keine Gelegenheit, seine leiblichen Eltern kennen zu lernen, ja sie werden ihm nicht einmal gezeigt, sondern »vorgespiegelt, meinen Vater kann ich in einem Zylinderspiegel, und meine Mutter durch ein Objektivglas sehen«. (I/3,814)59 Dafür gedenkt der zum Fürsten gekürte Held als erstes seiner Pflegefamilie und löst damit Rabettes gestickten Spruch »Gedenke unserer« (I/3,825) getreu ein. Von seiner leiblichen Familie ist Albano allein seine Schwester geblieben, die er dafür desto höher schätzt: »So muß man immer auf der Erde viel verlieren,« (erwiderte ihr [Idoine, F.F.G.] Albano) »um viel zu gewinnen« und wandte sich an seine Schwester, als woll’ er dadurch diesem Worte einen vieldeutigern Sinn verwehren. (I/3,824)

Dass Schwester und Braut im Titan miteinander zu tun haben, wenn auch nicht als Einlösung des mit der schwesterlichen Geistererscheinung beabsichtigten Plans, verwundert wohl nicht mehr: Am Schluss drückt Albano »Schwester und Braut an eine Brust«. (I/3,830) Wie es dazu kommt, soll im nächsten Kapitel dargestellt werden. Im Folgenden geht es nun um die genealogische Konkretisation des Geschwisterdispositivs in den Flegeljahren, die sich von der Schwesterfigur weitgehend verabschiedet.

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Vgl. dazu Teil III, Kap. 3.2. Vgl. zum Narrativ des verborgenen Prinzen Müller 1996 und Teil II, Kap. 3.2., Teil III, Kap. 3.1. Die Eltern wiederum haben Albano als Kind – so weit dies erzählt wird – je einmal gesehen, vgl. I/3,125,128.

1.3

Geschwisterkonkretisation in den Flegeljahren

Im Unterschied zu Hesperus und Titan sind die genealogischen Zuordnungen der Flegeljahre vollkommen transparent: Die handelnde Familie Harnisch wohnt in einem Dörfchen mit dem sprechenden Namen Elterlein, der Vater Lukas hat das Schultheißen-Amt inne, jedoch so, dass dieses »von ihm, nicht er vom Amte« lebt. Hab und Gut hält die Mutter Veronika zusammen, »eine gesunde Vernunft in corpore«. (I/2,609) Zur Familie gehören die Zwillinge Walt und Vult, die zur Erzählzeit 24jährig sind, sowie eine Pflegeschwester Goldine, die nach ihrem Anteil am anfänglichen Familienidyll nicht mehr weiter in Erscheinung tritt. In Elterlein wohnt allein noch Walt, der bei Romanbeginn vor der Approbation zum Notar steht, in seinem Selbstverständnis aber ein Dichter ist und als solcher ein neues Versmass, den Polymeter oder Streckvers erfunden hat. Vult dagegen ist vierzehnjährig mit einem Musiker davongelaufen und hat sich seither als Flötist durchs Leben geschlagen, lebt also von der Kunst. Unter dem Pseudonym van der Harnisch weilt er jetzt in der Elterlein benachbarten Stadt Haßlau, um hier ein Konzert zu geben. Sein Inkognito lüftet er nur für Walt und die Leserschaft, das übrige Romanpersonal hält Vult Harnisch nach wie vor für verschwunden. Ins Zentrum des Interesses rückt die Familie Harnisch durch das Testament Van der Kabels, das Walt als Universalerben eines beträchtlichen Vermögens bestimmt, sofern er neun vorgeschriebene »Erb-Ämter« abarbeitet, die jeweils für spezifische Stationen im Leben des Erblassers stehen. (I/2,589) Weitgehend leer gehen dabei die anderen sieben potenziellen oder »Präsumtiv-Erben« (I/2,588) aus, die jedoch testamentarisch und mit materiellen Anreizen dazu aufgefordert werden, dem Universalerben in spe das Ausüben seiner Ämter schwer zu machen, um diesen »leichten Poeten« in seiner charakterlichen Entwicklung vorwärts zu bringen. (I/2,590) Die Nachfolgeregelung beinhaltet auch eine verwandtschaftliche Bindung, soll der Universalerbe doch zum Adoptivsohn60 werden und den ursprünglichen Namen Van der Kabels, »Friedrich Richter« erben. (I/2,588) Dass Selbstreflexivität in potenzierter Weise das eigentliche Thema der Flegeljahre ist, zeigt sich auch beim Thema der Verwandtschaft: Gemäß der dritten Testamentsklausel soll derjenige der sieben »Herren Anverwandten« das Van-derKabel’sche Haus erben, »welcher in einer halben Stunde (von der Vorlesung der Klausel an gerechnet) früher als die übrigen sechs Nebenbuhler eine oder ein Paar Tränen über mich, seinen dahingegangenen Onkel, vergießen kann vor einem löblichen Magistrate, der es protokolliert.« (I/2,584) Diese großartige Szene parodiert zugleich die Begründung von Verwandtschaft über Körperflüssigkeiten, als auch die empfindsame Technik der Rührung und damit das an Tränenreichtum unübertroffene eigene Buch, den Hesperus.61

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Vgl. I/2,592. Vgl. zu letzterem auch Berhorst 2002, S. 379, und grundsätzlich zu den Tränenflüssen

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Steckt in den Hinweisen auf eine Adoption und Namensänderung von Gottwalt Harnisch auch die Möglichkeit anderer genealogischer Zuordnungen, wie sie beispielsweise im Hesperus und Titan entlang des Narrativs vom verborgenen Prinzen erzählt wurden,62 so liefert der Erzähltext der Flegeljahre dafür keine weiteren Anhaltspunkte. Allfällige Zweifel an Walts Herkunft werden im Gegenteil von vornherein mit der Schilderung des Geburtsvorganges ausgeräumt. Diese Geburt ist speziell nicht nur darum, weil es eine Zwillingsgeburt ist. Das Elternhaus der Familie Harnisch liegt nämlich genau auf der Grenze der elterleinschen Herrschaften, einer ritterschaftlichen linkerhand und einer landesherrlichen rechterhand. Das erstgeborene Kind, Peter Gottwalt, kommt als »Linker« zu Welt, um es so vor einer allfälligen Soldatenpflicht zu bewahren. Wie sich abzeichnet, dass ein Zwillingsgeschwister nachkommen will, wird das Bett der Gebärenden auf die rechte Seite geschoben, um der zweiten Herrschaft Genüge zu tun. Dies in der Erwartung, es gebe bloß »ein Mädchen [...] oder was Gott will.« Zur Welt kommt damit als Rechter »Quod Deus vult, oder Vult im Alltagswesen«. (I/2,611) Diese Geburtsszene enthält schon im Kern jene Opposition, die von der Physiognomie über die innere Einstellung, die Sozialkompetenz und die Handlungsweise bis hin zur Schreibweise das Zwillingspaar charakterisieren wird: »weißlockig, dünnarmig, zartstämmig und [...] blauäugi[g]«, den Wissenschaften und insbesondere der Theologie zugetan ist Walt. Unerschütterlich ist seine Menschenliebe und gefühlsmäßig ist er von höchster Empfindsamkeit. Im sozialen Umgang jedoch ist Walt einfältig und sein Blick auf die Welt ist beschränkt; obwohl selbst ausgesprochen arm, geht ihm jedes ständekritische Engagement ab, ja er ordnet den höheren Ständen stets auch höhere Beweggründe zu. Der »schwarzhaarige, pockennarbige, stämmige Spitzbube« Vult dagegen ist ein Spaßvogel und in seiner Kindheit auch ein Raufbold, der von seinen Eltern der Jurisprudenz zugedacht ist und mit seiner Weltklugheit das väterliche Amt sukzedieren soll. (I/2,612) Daraus wird jedoch

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300

der Empfindsamkeit Koschorke 1999, S. 87ff. In seinem Brief an den Haßlauer Stadtradt, der das dritte Bändchen der Flegeljahre beschließt und gängige zeitgenössische Kriterien der Literaturbewertung diskutiert, lässt sich der Erzähler auch über die – unter anderem in Kants Kritik der Urteilskraft (1790) erfolgte – Diskreditierung der empfindsamen »Wasserwerke« aus: »Ein hochedler Stadtmagistrat wünschte nämlich von weiten, daß das Werk etwas verweint und beweglich verfasset würde. [...] Wer öffentlich noch ein wenig empfinden darf – und der ist zu beneiden –, das sind entweder die Buchhändler in ihren Bücher-Geburts-Anzeigen, indem man alle etwanige Empfindsamkeit darin mit dem Eigennutz entschuldigen kann; oder es sinds die lachenden Erben in ihren Todes-Anzeigen [...]. Sonst aber hat man gegen Weinen, besonders wahres, viel – die Tränenkrüge sind zerschlagen [...]. Kurz, Rührung wird gegenwärtig nicht verstattet – leichter eine Rückenmarksdürre als eine Augenwassersucht; – und wir Autoren gestehen es uns manchmal untereinander heimlich in Briefen, wie erbärmlich wir uns oft wenden und winden, damit wir bei Rühr-Anlässen (wir müssen selber darüber lachen) keinen Tropfen fahren lassen.« (I/2,930f.) Und wie sie sich Jean Paul wohl in den Flegeljahren als Option offen gelassen hatte.

nichts, da Vult als Jugendlicher davon läuft und Musiker wird. Als solcher kommt er weit herum und schlägt sich gewandt und spielerisch durchs Leben. Als Humorist hält er seinem Umfeld den Spiegel vor und ist entsprechend sozial- und ständekritisch eingestellt. Beide sind zugleich auch Schriftsteller und verfolgen dabei zwei entgegen gesetzte Schreibweisen: Walt die empfindsame Dichtkunst und Vult die Satirenschreiberei. In jeder Hinsicht also ist dieses Zwillingspaar als Gegensatz konzipiert und bis ins kleinste Detail sind diese Oppositionen auch ausgearbeitet, so dass nachgerade von einer stilistischen Übercodierung gesprochen werden kann.63 Von dieser antithetischen Ausgangslage her Verhandlungen auf der geschwisterlichen Horizontale in Gang zu bringen, das ist das Projekt der Flegeljahre. Verhandelt wird vor allem auf fünf Themenfeldern: dem praktischen Handeln entlang der vorgeschriebenen Testamentsämter, der sozialen Urteilsfähigkeit, der Freundschaft und der Liebe sowie der all dieses nochmals reflektierenden Schriftstellerei. Die Zielvorstellung, die Vult für diese Verhandlungen formuliert, avisiert eine – wie auch immer zu gestaltende – Einheit. Vult bezieht sich dabei auf das gemeinsame Schreibprojekt, den »Doppel-Roman«, der ein »Einling, ein Buch« werden soll.64 (I/2,667) Seine Enttäuschung über die gegenseitige Unbeeinflussbarkeit am Ende des Erzähltextes zeigt aber auf, dass es ihm bei der avisierten Einheit nicht nur um die Ebene Schrift ging: »zu was waren wir denn beide überhaupt beisammen und ritten, wie alte Ritter, auf einem Trauer- und Folter-Pferd [...]? [...] Ich lasse dich, wie du warst, und gehe, wie ich kam.« (I/1080f.) Diese Bilanz nimmt Walt schon vor der Wiederbegegnung mit seinem Bruder als eine Art Naturgesetz vorweg: Wenn nun einmal eine Natur, welche die Antithese und Dissonanz der meinigen ist, existieren sollte, wie von allem die Antithesen: so könnte sie mir ja leicht begegnen; und da ich ebensowohl ihre Dissonanz bin als sie meine, so hab ich nicht mehr über sie zu klagen als sie über mich.

Goldine, zu der er dieses sagt und Vult, der im Verborgenen zuhört, können gegen diese »Denkweise« nichts einwenden und sie wird sich ja am Romanende auch bewahrheiten, »aber beiden war sie äußerst verdrüßlich.« (I/2,641)65 Die von Walt

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64 65

Vgl. zum Begriff der stilistischen Übercodierung Eco 1987, S. 97f. Wie Berend SWI/10,XLV nachweist, hat sich Jean Paul für die antithetische Charakterisierung ausführliche schematische Übersichten erstellt. Die diametrale Entgegensetzung der Charaktere ist in der Forschung vielfach herausgearbeitet worden, vgl. dazu den Forschungsbericht bei Berhorst 2002, S. 370–374. Die Option des Doppelgängerpaares, die in der Zwillingsfiguration ja grundsätzlich angelegt ist (vgl. Teil I, Kap. 2.5.2), wird in den Flegeljahren jedoch nicht bedient. Es leuchtet darum nicht ein, weshalb Simon 2003 seine – im Hinblick auf das Déjà-vu anregende – Lektüre der Flegeljahre unter die Präsupposition einer Ich-Verdoppelung und die daraus resultierende Frage stellt, wie die identischen Zwillinge in ihre Differenz gekommen sind. Ausf. dazu vgl. weiter unten, Teil III, Kap. 4.3. Wie Berend anhand der Schreibgenealogie nachweist, hatte Jean Paul ursprünglich tat-

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prognostizierte Begegnung der geschwisterlichen Antithesen bietet bei ihrem Zustandekommen aus dem Geschwisterdispositiv die institutionelle Ebene sowie die affirmativ gewendete Erkennungsformel auf, welche aus dem inzestuösen Kontext, in dem sie beheimatet ist, auf die Situation der Flegeljahre transponiert wird:66 »Ich bin ja der Bruder« sagt Vult zu Walt auf einem Herrnhuter Gottesacker neben dem »Wirtshaus zum Wirtshaus«67. (I/2,660,653) Die intertextuell verankerte Produktivkraft der Formel, Geschwisterverhältnisse her- und wieder in Frage zu stellen,68 kommt in den Flegeljahren jedoch nicht zum Tragen: Dafür gibt es – zumal im ausgearbeiteten Text – zu wenig genealogische Geheimnisse. Das Herrnhuterthema, das in der Loge für die Geschwistergenese zentral war, danach aber weitgehend zum Dekor wurde, wird in den Flegeljahren analog zur Begegnungsszene zwischen Roquairol und Albano als topographische Verstärkung der getauschten Gefühle aufgeboten,69 zugleich aber satirisch gewendet: Der herrnhutische Wirt wird ganz entgegen den hohen ethischen Grundsätzen seiner Bruderschaft als ein Betrüger geschildert, der zum Schaden des Gastes allein auf seinen Profit aus ist. Mit dieser kurzen Reminiszenz70 ist das Herrnhuterthema für die Flegeljahre aber auch weitgehend erledigt. Die institutionelle Geschwisterschaft im weiteren Sinn kommt vor allem noch über das Vokabular der Französischen Revolution in vielfältigen semantischen Verbindungen sowie den Zweckbund der sieben »Akzessit-Erben« (I/2,589) zur Sprache.71 Als zentrales Argument jedoch verwendet Vult die geistige Geschwisterschaft, um seine Idealvorstellung einer auf Identität gegründeten Zwillingsbruderschaft des Herzens zu begründen: »er ist allerdings der Bruder, ja Zwillingsbruder meines Herzens, und geistige oder kanonische Verwandtschaft, dächt’ ich, gälte wohl hienieden, da ja unser Herrgott selber eine dergleichen mit uns Bestien im allgemeinen verstattet und sich unsern Vater nennen läßt. [...] Was,« fuhr der Flötenspieler fort, »es wäre nicht so, nämlich daß wir uns geistig verbrüderten? O Zwilling, wer ist verwandter? bedenke! Wenn Körper Seelen ründen und Herzen gatten, so dächt’ ich, ein Paar Zwillinge – um neun Monate früher einander verschwistert als alle andere Kinder – in ihrer zweischläferigen Bettstelle des

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sächlich geplant, die antithetischen Charaktere am Ende ihrer Verhandlungen auf der Horizontalen zu einer Synthese höheren Grades zu führen, hat dann aber davon abgesehen. Vgl. SWI/10, XLV,LX. So lautet die Formel in der Loge »ich bin ja dein Bruder nicht«. (I/1,341) Vgl. dazu Teil II, Kap. 2.1., 2.2. Dies eine Kurzformel der für die Flegeljahre zentralen Selbstreflexivität. Vgl. dazu Teil I, Kap. 2.2.1. Und dies explizit, vgl. I/2,658: »Hätte Vult zehn Meilen umher nach einem schönen Postamente für eine Gruppe zwillings-brüderlicher Erkennung gesucht, ein besseres hätt’ er schwerlich aufgetrieben, als der Herrnhuter Totengarten war«. Schon in der Loge erfolgt diese der Jean-Paul’schen Doppelschreibweise entsprechende idealische und satirische Validierung des Herrnhuterthemas, vgl. Teil II, Kap. 1.1. Vgl. dazu Teil III, Kap. 3.3.

ersten Schlafes ohne Traum – teilend alle und die frühesten und wichtigsten Schicksale ihres Lebens – unter einem Herzen schlagend mit zweien – in einer Gemeinschaft, die vielleicht nie im Leben mehr vorkommt – gleiche Nahrung, gleiche Nöten, gleiche Freuden, gleiches Wachsen und Welken – beim Teufel, wenn ein solcher Fall, wo im eigentlichsten Sinn zwei Leiber eine Seele ausmachen, wie ja der alte und erste Aristoteliker, nämlich Aristoteles selber, begehrt zur Freundschaft, zum Sakerment, wenn von solchen Personen nicht der eine Zwilling sagen dürfte, er sei mit dem andern geistig genug verwandt, Walt, wo wäre denn noch Verwandtschaft zu haben auf Erden? Kann es denn, du ordentlicher Bruder-Mörder, frühere, nähere, ältere, peinlicher Freundschaften geben als bei solchen Zwillingen? [...]« (I/2 802f.)

Geistige Geschwisterschaft, die ja, wie auch Vult anführt, die Gesamtheit der christlich orientierten Bevölkerung in einen Verwandtschaftsbegriff fasst,72 wird von Vult anhand des identischen Umfeldes in der embryonalen Entwicklung von Zwillingen umgedeutet zur auf Identität gründenden Seelenverwandtschaft. Verstärkt wird das Identitätsargument durch das traditionale Diktum des Freundschaftsdiskurses von den zwei Körpern mit einer Seele,73 das Vult im pränatalen Zwillingsdasein konkretisiert sieht und das er ebenfalls der Isotopie geistiger Geschwisterschaft zuschlägt. Dass es sich bei dieser Vorstellung von naturwüchsiger Identität mit seinem Zwillingsbruder Walt um ein uneinlösbares Phantasma handelt, ist an dieser Stelle der Geschichte längst klar geworden. Nicht nur haben die Differenzen zwischen Vult und Walt schon zu wiederholten Verstimmungen geführt, gerade auch das konkrete Umfeld der Aussage ist von unüberbrückbaren Gegensätzen geprägt: Zwar jagen beide Brüder einem Phantasma nach, Walt dem eines imaginären Freundes, die Motivationen und Handlungsstrategien aber sind völlig unterschiedlich gelagert.74 Anders als im Hesperus garantiert die biologische Verwandtschaft in den Flegeljahren gerade keine geistige Verbrüderung.75 Auch die seelisch-imaginäre Geschwisterschaft, die in der Loge die Geschwistergenese mit strukturiert hatte und in allen drei hohen Romanen das Ideal in Liebe und Freundschaft bildete, ist bei den Flegeljahre-Brüdern nicht gegeben. Trotz ihres identischen Umfeldes in der frühen Kindheit entwickeln sie ungleiche innere Bilder und Gefühlslagen. Dies zeigen deutlich die Kindheitserinnerungen an ein und dieselbe Situation, die konträre Geschichten zu Tage fördern. Dabei zeigt sich, dass Rivalität um die elterliche Anerkennung und nicht die Gleichheit der geschwisterlichen Horizontalen den kindlichen Alltag prägten; eine dieser Auseinandersetzungen hatte dann auch schließlich dazu geführt, dass Vult das Elternhaus verlassen hatte. Trotz Walts idealisierender Grundhaltung zeichnen diese Kindheitserinnerungen darum – und dies vor allem durch Vults Korrektiv-Sicht – ein weit realistischeres Bild vom Geschwisterleben im ausgehenden 18. Jahrhundert,

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Vgl. dazu Teil I, Kap. 2.1. Vgl. dazu Teil II, Kap. 3.1. Ausf. zu dieser Szene vgl. Teil III, Kap. 3.3. Zur Biologisierung institutioneller Geschwisterschaft im Hesperus vgl. Teil III, Kap. 3.1.

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als die Geschwistervorstellungen der hohen Romane.76 Dennoch ist es auch in den Flegeljahren der Bereich des Gefühls, der die ungleichen Brüder gleich werden lässt: in ihrer gegenseitigen Liebe zu einander. Diese Geschwisterliebe ist die Konstante in ihrer Beziehung und verhilft stets dazu, die diversen Kränkungen und Zerwürfnisse zu beheben.77 Walt fasst die Gewissheit ihrer Geschwisterliebe in einen Polymeter, den er dem Bruder in einer ihrer Beziehungskrisen schickt: »Ich sah dich, und liebte dich. Ich sah dich nicht mehr, und liebte dich. So muß ich dich immer lieben, ich mag nun frohlocken oder weinen tief im Herz.«(I/2,987) Vergegenwärtigen wir uns noch die letzte der drei Ebenen, die die Geschwistergenese der Loge neben der institutionellen und der seelisch-imaginären Geschwisterschaft strukturiert hatte,78 so fällt deren Absenz in den Flegeljahren besonders auf: Die beim Zwillingsmotiv nahe liegende leiblich-materielle Geschwisterschaft und damit der ganze Bereich der Doppelgängerschaft werden nicht bedient.79 Ganz lässt sich Jean Paul die Möglichkeiten der Verwechlsung von Zwillingen aber doch nicht entgehen, braucht dazu aber zusätzliche Faktoren: So gibt es ein kurzes Missverständnis wegen Walt und Vults ähnlich lautender Nachnamen und der Wechsel der Verkleidung auf einem Maskenball löst den entsprechenden Verwechslungseffekt tatsächlich aus. Beide Male betroffen ist Wina, eine Adelstochter aus Elterlein, in die beide Brüder verliebt sind. Zwischen Wina und Walt wirkt jene innere Verbundenheit, die in den hohen Romanen an eine imaginäre Seelenschwester geknüpft war. Doch auch wenn es strukturelle Analogien gibt – eine Kindheitserinnerung, trianguläre Verstrickungen und schließlich ein Einverständnis ohne viele Worte – so wird die geliebte Frau in den Flegeljahren nur am Rande mit einer Schwesterfigur in Verbindung gebracht.80 Ja Schwestern überhaupt sind hier zu einem marginalen Thema geworden. Die Pflegeschwester Goldine, die zu Romanbeginn als Walts Partnerin auf der Horizontalen erscheint und gemäß der empfindsamen Erwartungshaltung einen wichtigen Part in seinem Gefühls- und Liebesleben einnehmen könnte, wird schon im zweiten Bändchen als »alte Seelen-Schwester« (I/2,717) aus dem Text verabschiedet. Und die verstorbene kleine eigentliche Schwester, von der wir aus Walts Kindheitserinnerungen wissen, verbleibt in diesem Rahmen der Kindheitserzählung, ohne je auf Walts oder Vults gegenwärtige Gefühlslage Einfluss zu nehmen. In der Erzählgegenwart sind Schwesterfiguren mit Raphaela und Engelberta Neupeter, den Töchtern von Walts Hauswirt, vertreten. Diese sind Anlass für eine Reihe köstlicher sozialer Erfahrungen Walts und fungieren in diesem Sinne auch als Stell-

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Vgl. I/2,669,1018ff. Vgl. u.a. I/2,619, 650, 658, 736, 802ff., 813f., 821, 941f., 984ff. Vgl. Teil II, Kap.1. In Testament Van der Kabels bezeichnet dieser Walt noch als sein »Ebenbild«, (I/2,590) auch dies wohl eine der Anlagen, auf die für eine andere Genealogie hätte zurückgegriffen werden können. Vgl. Teil III, Kap. 2.3.

vertreterinnen der geliebten Wina, ihre Geschwisterlichkeit beschränkt sich jedoch auf die Tatsache, dass sie biologische Schwestern sind. Diese Marginalität der Schwesterfigur ist das Ergebnis einer bewussten Rücknahme des vormals zentralen Themas, wie sich im ausgearbeiteten Text an der Figur Goldine, aber auch in der Geschichte der Konzeptionen für die Flegeljahre zeigt. Anfangs waren noch mehrere Geschwister geplant, darunter verschiedene Schwestern. In einer späteren Arbeitsperiode kristallisierte sich eine eigentliche Schwester Theresiana heraus, aus der dann in der Endfassung die Pflegeschwester Goldine wird.81 Tritt diese zu Romanbeginn noch als wichtige Bezugsperson Walts auf, so wird sie schon im zweiten Bändchen zum Altenteil gelegt. Die dann angehende Liebesgeschichte der Flegeljahre findet unter weitgehendem Ausschluss von Schwesterfiguren statt. Nicht so in den die Loge fortschreibenden hohen Romanen: Im Hesperus und im Titan erscheint die Schwester als unverzichtbarer Bestandteil der Liebesnarration.

81

Vgl. die Einleitung von Berend, SWI/10,XIV,XXV,XLVIII.

305

2.

Liebe und Geschwister

2.1

Blut-Schrift und Variation der inzestuösen Situation im Hesperus

Das zentrale Liebespaar des Hesperus, Viktor und Klotilde, ist wie dasjenige der Loge als ein hohes Seelenpaar konzipiert, das für die Strukturierung seiner Liebesbeziehung auch auf Geschwisterliebe zurückgreift. Anders als in der Loge werden im Hesperus die zwei Themenkomplexe der Seelengeschwisterschaft und der inzestuösen Situation aber nicht ineinander verschränkt, sondern auseinanderdividiert. Dabei kommt es, wie schon für die Geschwistergenelaogie des Hesperus festgestellt, zu einer Biologisierung der Motive. Die Seelengeschwisterschaft zwischen Viktor und Klotilde wird wie in der Loge performativ hergestellt, und zwar an der Schnittstelle zur Performance: Anlässlich einer Aufführung von Goethes Iphigenie werden Klotilde, Viktor und Flamin aus Zuschauenden zu den tragenden Rollen: »Iphigenie war Klotilde – der wilde Orest, ihr Bruder, – war ihr Bruder Flamin – der sanfte helle Pylades sein Freund Viktor.« (I/1,854) Die ›schräge Schnittstelle‹ zwischen Performance und Performativität führt auch hier vor, wie etwas mit Worten getan wird: Identitätszuschreibungen erfolgen über Verfahren repetitiver Bezeichnungen.1 Es ist vor allem Klotilde, die hier performativ zu ›der Schwester‹ wird, wofür der Goethetext die mehrdeutige intertextuelle Folie liefert:2 Leiht Klotilde zuerst »ihren Schmerz der Iphigenie« und klagt »über die Entfernung vom geliebten Bruder« (I/1,852) so fühlt sie im Fortgang 1 2

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Vgl. zum theoretischen Hintergrund um die ›schräge Schnittstelle‹ zwischen Performance und Performativität Teil II, Kap. 1.3. In mehrfacher Weise dient Goethes Iphigenie auf Tauris als intertextuelle Folie für die Verhandlungen um den Geschwisterstatus der Figuren im Hesperus. Dreh- und Angelpunkt der Handlung der Iphigenie ist der Status ›der Schwester‹, wie er im Orakelspruch Apolls für den von den Furien wegen seines Muttermordes gejagten Orest eingeführt wird: »im Heiligtum der Schwester / Sei Trost und Hülf und Rückkehr dir bereitet.« (Goethe, Werke, Bd. 5, S. 23, Vers 611f.) Orest und Pylades gehen in ihrer Deutung davon aus, dass damit die Schwester von Apoll, Diana, gemeint sei, und treffen in Dianas Tempel auf Iphigenie, die Schwester Orests, die sich als Erfüllung des doppeldeutigen Orakels erweist. Auch Orest und Pylades liefern dem Hesperus eine explizite Strukturform: Wie die zitierten Verse 643ff. (vgl. I/1,854f.) zeigen, haben die beiden eine geschwisterähnliche Sozialisation durchlaufen und geben sich im Textverlauf darum teils als Brüder, teils als Freunde aus.

des Stücks, »daß man auf der Szene ihr Leben spiele« und antizipiert dabei die Enthüllungsszene mit ihrem Bruder in den Goetheversen: »dem Liebsten, was die Welt / Noch für mich tragen kann, das Haupt zu küssen«. (I/1,855)3 Nicht nur der Modus des Spiels wird damit im Hesperus für die Herstellung von Geschwisterstrukturen wieder aufgenommen, sondern auch die Engführung von Rolle und Geschichte. Im Unterschied zur Loge aber ist es nicht der hohe Seelengeliebte, der zugleich in der Rolle eines Bruders gedacht wird und damit die Szenographie der inzestuösen Situation auslöst. Vielmehr ist der Bruder analog zum goetheschen Intertext ein eigentlicher Bruder, nämlich Flamin, der wie Orest seine Schwester nicht erkennt. Viktor dagegen bleibt hier in der Rolle des mitfühlenden – und bezieht man Pylades ein, auch berechnenden – Freundes, 4 der sich von seinem Handeln auch einen Vorteil verspricht: Kenner sagen, jedes Geheimnis, das man einer Schönen sage, sei ein Heftpflaster, das mit ihr zusammenleime, und das oft ein zweites Geheimnis gebäre: sollte Viktor etwan darum Klotilden seine Kenntnisse von ihrer Geschwisterschaft so begierig zu zeigen getrachtet haben? (I/1,709)

Dadurch dass Viktor Klotilde offenbart, dass er um die Verwandtschaft zwischen ihr und Flamin weiß, ermöglicht er Klotilde, ihrer sonst stets verborgen gehaltenen Schwesterliebe freien Lauf zu lassen und diese mit ihm zu teilen. Fragen der Geschwisterbeziehung werden so zu einem zentralen Bestandteil ihrer Gespräche und die Geschwistersemantik begleitet und strukturiert ihre Beziehung. So wünscht Viktor sich schon zu einem frühen Zeitpunkt ihrer Bekanntschaft, Klotilde sagen zu können »ich liebe dich!« und schöpft aus der »schöne[n] Verschwisterung seines Herzens mit ihrem« die Hoffnung auf Erfüllung. Eine solche erfolgt hier stellvertretend: Im Augenblick des inneren Erkennens seiner Liebe umarmt er »den – Bruder seiner Klotilde«. (I/1,778)5 Über das gemeinsame, brüderlich konnotierte Objekt ihrer Zuneigung werden letztlich Viktor und Klotilde selbst in eine latente Geschwisterstruktur eingebunden. Deutlicher aktualisiert diesen Geschwistersubtext die mit der Geschwisterbeziehung verbundene Ideologie der Seelenverwandtschaft, die für Jean Paul ein unverzichtbarer Bestandteil eines hohen Paares ist. Der Dritte, der diesmal die Geschwisterstruktur vermittelt, ist Emanuel. Über ihre je eigene Beziehung und Begeisterung für ihren väterlichen Freund und Lehrer begeben sich Viktor und Klotilde in eine verwandtschaftliche Struktur:6 »Zwei schöne Seelen entdecken

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Die Verse 1192f. finden sich bei Goethe genau an der Stelle, da Iphigenie Orest offenbart, dass sie seine Schwester ist, dieser sie aber noch nicht als Schwester erkennt. Vers 740f. charakterisiert Pylades in dieser Hinsicht: »Mit seltner Kunst flichst du der Götter Rat / Und deine Wünsche klug in eins zusammen«. Vgl. auch I/1,859, 957. Im Textverlauf wird die Verbindung der drei Menschen mit verschiedenen sozialen Beziehungen umschrieben, die vertikale wie horizontale Strukturierungen umfassen; so

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ihre Verwandtschaft am ersten in der gleichen Liebe, die sie an eine dritte bindet.« (I/1,549) Die genaue Differenzierung dieser Seelenverwandtschaft erfolgt paradoxerweise durch Blut. Es ist das Blut Emanuels, der in dieser Seelenfamilie die Vaterstelle vertritt und die anderen Aktanten geschwisterlich gruppiert: Mein Sohn! [...] Ich habe, mein Sohn, mit meinem Blut an dich geschrieben. – Julius denkt jetzo Gott. – [...] Meine Tochter (Klotilde) führt den Frühling an der Hand und kömmt zu mir – Sie nehme meinen Sohn an die andre Hand und lege ihn an meine Brust, worin ein zerlaufender Atem ist und ein ewiges Herz...[...] Ja wenn du und deine Klotilde und unser Julius, wenn wir alle, die wir uns lieben, beisammen stehen; (I/1,883)

Mit seinem eigenen Blut zu schreiben, verleiht der Schrift bindenden Charakter, der selbst existenzielle Grenzen überschreiten kann. In diesem Sinne ist die Blutschrift Emanuels lesbar als ein Pakt, der die beschriebenen schönen Seelen in eine Familienstruktur einbindet und für diese Struktur Geltung beansprucht. Zugleich überführt die Blutschrift die Seelengeschwisterschaft in eine biologische Isotopie und zieht damit ausgerechnet am Paradebeispiel des Immateriellen, der Seele, den Bedeutungsaufschwung nach, den dieser Saft für die Verwandtschaftsbegründung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchmacht:7 Fungierten zuvor consanguinitas, affinitas und cognatio spiritualis als ein weitgreifendes und gleichwertiges Konglomerat von Verwandtschaftsbegründungen, aus dem je nach Bedarf das Passende aktualisiert werden konnte, so zeigt sich an der Terminologie um das crimen incestus, an dem Verhandlungen um Verwandtschaft besonders gut ablesbar sind, dass sich nun eine Biologisierung abzeichnet. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (1785/94) kennt nur noch den Begriff der ›Blutschande‹ und verdeutlicht so die eingeleitete Fokussierung auf Blutsverwandtschaft.8 Die inzestuöse Situation des Hesperus jedoch knüpft nicht an diese Blut-Schrift an, sondern an die tatsächliche Blutsverwandtschaft:9 Flamin liebt Klotilde, weiß jedoch nicht, dass sie seine Schwester ist. Für das einzige Hindernis hält er die Standesdifferenz, die er durch eine Militärlaufbahn kompensieren möchte. Klotilde dagegen liebt Flamin schwesterlich, muss aber das Geheimnis um ihre Verwandtschaft wahren, und hat Flamin darum aufgetragen, »mit ihr [...] kein Wort über seine Liebe [... zu] sprechen [...], als bis ihr Bruder (der Infant) wieder da und dabei sei«. (I/1,534)10 Diese beiden Hindernisse werden sich als bloß vermeintliche

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dient neben dem Lehrer-Schüler- und dem Familienverhältnis auch die Freundschaft wiederholt als Beschreibungsfigur. Das Paradox löst sich, wenn es in jenen theologiehistorischen Diskussionszusammenhang gestellt wird, mit dem sich Jean Paul schon in der Loge (I/1,324f.) auseinandergesetzt hat: der Frage, welche Materieteile die auferstandene Seele noch um sich hat. Vgl. hierzu Jarzebowski 2003, sowie Teil I, Kap. 2.3.2. Wobei die Schriftmetaphorik die Liebesgeschichte durchgängig begleitet. So lautet das erste Liebesgeständnis Flamins, das er Viktor offenbart: »daß jene Klotilde [...] sich mit unauslöschlicher Schrift in sein Inneres geschrieben« habe (I/1,534). Die erklärende Apposition, dass Klotildes Bruder »(der Infant)« sei, ist erst ab der zweiten Ausgabe hinzugesetzt, HKA I/I, 102/103.

erweisen, wie schon im Ersten Heftlein der Hundposttage klar wird: »Flamin ist Klotildens Bruder und des Fürsten Sohn.« (I/1,659) Damit sind die Voraussetzungen für die Szenographie der inzestuösen Situation weit konventioneller als in der Loge, in der die dafür notwendige Disposition über aufwendige narrative Konstruktionen herbei erzählt werden musste. Spannung erhält die inzestuöse Situation im Hesperus dadurch, dass sie mit der Szenographie des Glückseligkeits-Triangels verknüpft wird. Neben der geteilten Liebe zu Flamin begleiten Viktor und Klotilde auch die gemeinsame Sorge um dessen wachsende Eifersucht und die stets aufgeschobene Hoffnung, ihm seine Verwandtschaftsverhältnisse und ihre gegenseitige Liebe zu offenbaren.11 Die Situation eskaliert, als das Paar seine Liebe mit einem Seelenkuss12 besiegelt. »Schurke!« schreit der dies beobachtende Flamin und will »Blut« sehen. Klotilde sucht durch die entscheidende Formel der inzestuösen Situation den Umschlag herbei zu führen. Ihr »Du bist ja mein Bruder« verhaucht jedoch ungehört,13 da sie zugleich in Ohnmacht fällt und Flamin nicht auf sie hört, sich aber entfernt. Blut fließt schließlich doch noch, es ist aber einmal mehr Emanuels Blut: Durch diese Szene »seit Jahren zum ersten Male von Leidenschaft« ergriffen, blutet Emanuel aus seiner »auseinandergerissenen Brust« und gibt sein Blut dabei an Viktor weiter, an dessen »Herz« er liegt. Damit wird das Arrangement der durch Blut begründeten Seelenverwandtschaft nochmals aufgegriffen und leiblich als Blutstransfusion von Brust zu Herz konkretisiert. Der Geschwistersubtext drängt sich hier, wo die Liebe des hohen Paares den asexuellen Bereich der Geschwisterliebe zu verlassen droht,14 nochmals auf: Die ersten Worte, die nach dem durch diese Aufregungen ausgelösten betretenen Schweigen gesagt werden, sind von Viktor an die »Schwester« gerichtet und betreffen die Liebe zum Bruder. (I/1,1086f.) Wie Flamin schließlich im Fortgang der Geschichte über die wahren Verwandtschaftsverhältnisse aufgeklärt worden ist, erfolgt getreu der Szenographie der inzestuösen Situation ein problemloser Wechsel von der Geschlechter- zur Geschwisterliebe.15 Allein die Klärung der Freundschaftsbeziehung zwischen Viktor und Flamin erfordert eine emotionale und diskursive Anstrengung. Dass Ge-

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Vgl. u.a. I/1,706, 959, 987, 995, 1055. Die Umschreibung sei nicht vorenthalten: »Wie ein Verklärter an eine Verklärte neigte er sich zurückgezogen an ihren heiligen Mund und nahm in einem leisen andächtigen Kusse, in dem die schwebenden Seelen nur von ferne mit aufgeschlagnen Flügeln zitternd einander entgegenwehen, mit leiser Berührung von den zerflossenen weichenden Lippen die Versieglung ihrer reinen Liebe, die Wiederholung seines bisherigen Edens und ihr Herz und sein Alles – – –« (I/1,1086). Vgl. zur formelhaften Wendung Teil II, Kap. 2.1. und 2.2. Der in der obigen Anmerkung zitierte Kuss ist zwar einer, der gegen erotische Konnotationen ein ganzes Arsenal an Reinheitsmetaphorik aufbietet, trotzdem ist es kein Geschwister-, sondern ein Geschlechterkuss. Vgl. zum Hintergrund dazu Teil II, Kap. 2.1.

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schlechter und Geschwister miteinander zu tun haben, muss also auch im Hesperus nicht lange erklärt werden: Das Wissen darüber gehört zur enzyklopädischen Kompetenz sowohl der Figuren als auch der zeitgenössischen Leserschaft. Grundsätzlich formuliert das schon der 4. Hundposttag und weist damit auf die Erzählregel des Titan voraus:16 Nichts ist fataler als ein Nest, worin lauter Brüder oder lauter Schwestern sitzen; gemischt zu einer bunten Reihe muß das Nest sein, Brüder und Schwestern nämlich schichtweise gepackt, so daß ein ehrlicher Pastor fido kommen und nach dem Bruder fragen kann, wenn er bloß nach der Schwester aus ist; und so muß auch die Liebhaberin eines Bruders durchaus und noch nötiger eine Schwester haben, deren Freundin sie ist, und die der Henkel und Schaft am Bruder wird. (I/1,539)17

Finales Erzählen der Geschwisterisotopie im Titan

2.2

Die Verhandlungen um Freundschaft, Liebe und Geschwisterschaft bestimmen auch die drei Liebesgeschichten des Titan. Dies mit zwar variierenden Konstellationen, unterschiedlicher Gewichtung der involvierten Szenographien und im Vergleich zu den Vorgängerromanen überraschenden Ergebnissen, doch hoher Stringenz der beteiligten individuellen Emotionen und drei sozialen Beziehungen. Ausgereizt und zu Ende erzählt werden im Titan insbesondere die Geschwistersubtexte empfindsamen Liebens, um dann eine realitätsnahe Lösung zu befürworten: die lebensweltlich mögliche und um 1800 relativ häufige Konkretisation geschwisterlich-geschlechtlichen Liebens in der Cousin-Cousinenheirat.18 Liane »Es sollte daher immer ein Paar Paare geben, kreuzweise verschwistert und liebend« (I/3,376) formuliert der Titan als Erzählregel für die erste Liebesgeschichte, diejenige zwischen Albano und Liane, die parallel zu derjenigen zwischen Roquairol und Rabette geführt wird. Der in den vorherigen Texten stets siegreichen Formel der Verbindung von Geschwister- und Geschlechterliebe ist in dieser Form im Titan jedoch kein Erfolg beschieden: Die Beziehungen scheitern. Und dies, obwohl ein ganzes Arsenal an Geschwisterstrukturen aufgeboten wird, um Liane und Albano zusammen zu führen. Liane, die ihres Bruders Roquairol wegen temporär erblindet ist, nimmt von Albano als erstes seine Stimme war. Da Roquairol und Albano stimmliche Doppelgänger sind, besteht für Liane über diese Stimmengleichheit eine permanente Rückkoppelung Albanos an ihren

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Vgl. I/3,376, dazu Teil III, Kap. 2.2. In den beiden ersten Auflagen steht statt »Schaft« noch »Präsenti[e]rteller«, HKA I/I,112/113. Vgl. zur Cousin-Cousinenheirat Teil I, Kap. 2.2.2.

Bruder.19 Schließlich führt das Sprechen über Roquairol und über die jeweiligen Emotionen zu diesem Liane und Albano zusammen.20 Der Bruder ist ihr Modell für den Geliebten,21 und über die gemeinsame Sozialisation in der Kindheit hat sie Strategien entwickelt, um mit dem Titanischen, das Albano und Roquairol verbindet, umzugehen. Auch Albano greift für seine Kenntnisse des anderen Geschlechts auf die Erfahrungen mit seiner Schwester zurück, im Unterschied zu dieser gängigen Strategie im empfindsamen Kontext enthält die Transposition im Titan aber gewisse Fehlerquellen, wie schon gleich zu Beginn festgehalten wird: Von seiner »Schwester Rabette« schließt Albano »irrig« auf »mehrere Mädchen«. (I/3,81) In den Liebesbeziehungen über Kreuz befördern Liane und Rabette über ihre jeweilige übermächtige Schwesterliebe die Gefühle der je anderen Frau zu ihren Brüdern und sehen in der Freundin zugleich eine »Schwester«. (I/3,309)22 Auch Roquairol und Albano versichern sich ihrer Freundschaft semantisch stets über den Begriff des Bruders und suchen damit die Gleichheit und Dauerhaftigkeit dieser Beziehung zu beschwören.23 Wie sie sich ihre jeweilige Liebe zu des anderen Schwester gestehen, wird dies fast zur verwandtschaftlichen Realität: Mit dem Ausruf »Bruder!« sinken sie sich »neu-verschwistert« in die Arme. (I/3,276) In diesem »Doppelroman« (I/3,401) bezieht das eine Paar sein Glück aus dem Glück der Geschwister: »›O, mein Albano,‹ (sagte Liane, sich entzückt an ihn schlingend) ›welche

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Vgl. I/3,192f.,197,212. Das ist funktional analog zum »Hals-Gehenk« (I/1,68) der Loge und der dortigen visuellen Repräsentation des Gustav zum Verwechseln ähnlichen Halbbruders Guido, vgl. Teil II, Kap. 1.2. Hier wie dort spiegelt sich darin auch ein Moment der Textgenese, hatte Jean Paul doch die beiden Figuren zuerst jeweils als eine angedacht, vgl. dazu auch Teil III, Kap. 3.2. Vgl. I/3,218: »›Mein Bruder‹ (brach Liane leise das Schweigen und strickte die Arbeit fort, die sie der Freundin abgenommen) ›wünscht recht sehr, Sie zu sehen.‹ Die nun mit allen heiligen Kräften aufgewachte Seele Albanos fühlte sich ihr ganz gleich und ohne Verlegenheit, und er sagte: ›Schon in meiner Kindheit hab’ ich Ihren Karl wie einen Bruder geliebt; ich habe noch keinen Freund.‹ Die bewegten Seelen merkten nicht, daß der Name Karl [ein Pseudonym Roquairols, F.F.G.] aus dem Briefe sei.« Vgl. auch I/3,328. Auch Albanos Schwester Rabette übernimmt diese Funktion des Zusammenführens. Wie sich Liane und Rabette gegenseitig in geteilter Empfindung als »Schwester[n]« umarmen, kommt Albano dazu: »›wie ist dir, Schwester?‹ fragt’ er eilig. Liane, noch in der Umarmung und Begeisterung schwebend, antwortete schnell: ›Sie haben eine gute Schwester, ich will sie lieben wie ihr Bruder.‹ Die süßen Worte, die so innig gerührten Seelen, der feurige Sturm seines Wesens rissen ihn dahin, und er umschloß die Umarmenden und drückte die verschwisterten Herzen aneinander und küßte die Schwester; als er über Lianens bestürztes Wegbeugen des Kopfes erschrak und blutrot aufflammte. – –« (I/3,309f.) Vgl. insbes. I/3,378: »ich berechnete dich nach meinem Bruder«. Vgl. I/3,316: »beide konnten von ihren Brüdern in freundlichem Wechsel sprechen.« Vgl. auch I/3,361f. Darüber hinaus ist auch Albanos leibliche Schwester Julienne mit Liane in einer Art und Weise freundschaftlich verbunden, die die beiden zu »Seelenschwester[n]« (I/3,155) macht. Vgl. dazu ausf. Teil III, Kap. 3.2.

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Süßigkeit, daß mein Bruder glücklich ist und Seelenfrieden hat und durch deine Schwester!‹« (I/3,387) Liane ihrerseits gründet ihre Gefühle zu Albano allein auf Geschwisterliches und versteht sich ihm gegenüber als eine »zweite Schwester«: »Aber da du meinen Bruder so liebtest« (fuhr sie fort) »und so gut warst gegen deine Schwester: so wurd’ ich freilich ganz beherzt und bin und bleibe nun deine zweite Schwester – du hast ohnehin eine verloren [...].« (I/3,363)

In diesem konsequenten Ausreizen des Geschwisterlichen liegt einer der Hauptgründe für das Scheitern der Liebesbeziehung zu Albano. Es ist die am Geschwistermodell orientierte Struktur der empfindsamen Liebe selbst,24 deren Aporien im Titan im konsequenten Ausführen des geschwisterlichen Subtextes offen gelegt werden und die als Basis einer Beziehung zwischen zwei Menschen für untauglich erklärt wird. Über seine gesamte Adoleszenz hinweg und aus exzessiver Romanlektüre gespeist25 liebt Albano im Geschwisterpaar Roquairol und Liane Freund und Geliebte gleich im Doppelpack, ohne die beiden je selbst gesehen noch anderweitig persönlich mit ihnen bekannt geworden zu sein.26 Diesem Übermaß an projizierter Sehnsuchtsliebe vermag keine konkrete Beziehung Stand zu halten. Zumal Liane als Inbegriff einer empfindsamen Geliebten ganz und gar schwesterlich liebt: nicht nur asexuell, sondern auch nicht-exklusiv. Der Konflikt aus Jacobis Woldemar – Exklusivitätsanspruch versus geschwisterliches Teilen27 – wird vom inzwischen in Liebesdingen über einen konkreteren Hintergrund verfügenden Jean Paul im Titan damit neu aufgelegt: »Sein ihm ewig nachstellender Argwohn, daß sie ihn liebe, bloß weil sei nichts hasse, und daß sie immer eine Schwester statt einer Liebhaberin sei, drang wieder gewaffnet auf ihn ein.«28 Und macht Albano klar, dass ihn so einiges »im feurigen Verschmelzen ihrer Seelen störe«. (I/3,364f.) Darüber hinaus wird an Liane die Todessignatur der schönen Seele bis zur letzten Konsequenz durchgeführt. Begleitete Beata noch ihr Lieblingsausdruck »zum Sterben schön« (I/1,158) mehrheitlich metaphorisch, und war Klotilde über ihr Epitheton, den Hesperus, dem Himmel eher kosmologisch zugeordnet, so ist Liane

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Vgl. dazu Teil I, Kap. 2.3.1. Vgl. zum Thema des empfindsamen Liebens durch Lektüre Teil II, Kap. 2.1. Vgl. I/3,110ff, bes. S. 113: »guter Zesara, sag’ ich, wenn du das alles neben deinen Romanen vernimmst und noch dazu von der Schwester deines Roquairols – weil jeder, wenn es nur halb praktikabel ist, sich gern mit der Schwester seines Freundes einspinnt in eine Chrysalide«. Vgl. auch I/3,166: »und wenn ein verschwistertes Paar seinem so jungen Herzen zugleich den Freund und die Freundin gäbe.« Vgl. Teil II, Kap. 3.1.1. Vgl. auch I/3,374: »Er suchte sich unter dem regnenden Blitzen zuerst die besten Beweise zuammen, daß Liane heilige Reize, göttlichen Sinn, alle Tugenden habe, besonders allgemeine Menschenliebe, Mutterliebe, Bruderliebe, Freundesliebe – nur aber nicht die glühende Einzigen-Liebe, wenigstens nicht gegen ihn.«

schon im Diesseits eine »Himmelsbürgerin«, (I/3,183) die sich vor allem anderen der Transzendenz – vertreten in ihrer verstorbenen Freundin Karoline – verpflichtet fühlt, ja diese noch übersteigert: Albano wäre über Fußabdrücke von Engeln »schwächer erstaunet« gewesen als über solche Lianens. (I/3,115) Folgerichtig stirbt Liane tatsächlich und nicht nur metaphorisch. Die empfindsame Seelenliebe, die sich ganz auf Geschwisterliches gründet und in der Transzendenz situiert ist, erweist sich in Jean Pauls Schreiben damit als ein Auslaufmodell und für den Titan als eine Durchgangsstation im Bildungsprozess des Helden. Es gibt aber auch äußere Gründe, die eine erfolgreiche Verbindung zwischen Liane und Albano verhindern. So sehen die Pläne der jeweiligen Eltern andere Partner vor. In den familiären Streitigkeiten im Hause Froulay über Lianes eigenmächtiges Handeln bewegt sich Lianes Mutter ganz auf der Argumentationslinie des Geschwistersubtextes und sucht die Modellfunktion des Bruders in die entgegen gesetzte Richtung zu deuten: »Sie wurde in der vergleichenden Anatomie zwischen Albano und Roquairol von der gleichen Stimme an bis zur ähnlichen Taille immer schneidender«, (I/3,411) um Liane zur Aufgabe des geheimen Verlöbnisses zu bringen. Liane entsagt schließlich, doch nicht ihrer Eltern wegen, sondern weil sie in das Geheimnis um Albanos Genealogie und den Plan, ihn mit Linda zu verbinden, eingeweiht wird. Als schöne und in jeder Hinsicht selbstlose Seele hatte sie schon zuvor Albano schwesterlich mit Linda teilen wollen,29 was von jenem nicht gut aufgenommen worden war. An ihrem Sterbebett jedoch verpflichtet sie ihn dazu, Linda zu lieben, und bereitet so den Boden für die nächste Liebesgeschichte. Ebenfalls an ihrem Sterbebett steht ihre »Gesichts- und Seelenschwester« Idoine, die letztlich Albanos Braut werden wird. (I/3,541) Die Beziehung zwischen Roquairol und Rabette dagegen scheitert weniger an den geschwisterlichen Implikationen, als vielmehr an Roquairols grundsätzlichem Konflikt, nichts authentisch, sondern alles nur als Illusion und Imitation zu erleben. Sein in extremis getriebener Ästhetizismus führt ihn schließlich dazu, auf dem Theater »seinen Charakter« im Suizid »wirklich durch[zuführen]«. (I/3,756)30 Linda Roquairols unglückliche Liebe zu Linda bringt eine spezifische Variation des Triangels um zwei Freunde und die von beiden geliebte Frau ins Spiel. Zwar gehen über lange Zeit weder Linda noch Albano auf die vielfältigen Zurichtungen ein, mit

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Vgl. I/3,372f. Die Figur Roquairol gilt in der Forschung als die heimliche Hauptfigur des Titan und spannungsreichste Figur Jean Pauls, entsprechend umfangreich ist die Literatur dazu. Vgl. u.a. Mauch 1974, S. 49ff., Schmitz-Emans 1987, Döll 1995, S. 162ff., Golz 1996, S. 199ff., Pfotenhauer 1997/98, Liebs 2001, Berhorst 2002, S. 342ff. (mit einem aufschlussreichen Forschungsüberblick S. 343) und Bergengruen 2003, S.161ff.

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denen die beiden verbunden werden sollen. Dass es schließlich gleich bei der ersten Begegnung auf Ischia zu einer im empfindsamen Kontext unüblich schnellen Liebeserklärung kommt, macht deutlich, dass das lange Reden und Herbeiwünschen der Verbindung doch als Vorgeschichte ihrer Liebe zu verstehen ist. Roquairols unterschwellige Eifersucht auf Albano, eine stete Bedrohung ihrer Freundschaft, war also keineswegs aus der Luft gegriffen. Doch auch dieser zweiten Liebesgeschichte des Titan ist kein Erfolg beschieden. Diesmal sind für das Scheitern vor allem äußere Gründe maßgeblich. Dass diese jedoch greifen können, verdanken sie einem grundsätzlicher liegenden, beziehungsimmanenten Konflikt: dem egalitär angelegten Autonomiestreben beider Partner. Aus dem Geschwisterdispositiv wird bei Albano und Linda vor allem die enge Verbindung zwischen Schwester und Braut aktualisiert, dies unter anderem in einer Variation der inzestuösen Situation. Letzteres geschieht etwas umständlich, zeigt jedoch eines deutlich: Sie ist für Jean Paul in seinen hohen Romanen unverzichtbarer Bestandteil der Liebesnarration. Angeschlossen werden kann die Figur Linda darüber hinaus an die institutionelle Ebene des Geschwisterdispositivs. Als Kosmopolitin31 verwirklicht sie für sich persönlich jene Grundsätze und Überzeugungen, die der fraternalistischen Politik der Illuminaten und – mit gewissen Einschränkungen – auch der Freimaurer zu Grunde liegen.32 Dass sie dies als Frau tut, macht die Brisanz der Konzeption einer Kosmopolitin deutlich und weist zugleich auf die Aporien voraus, die weibliche Tatkraft in Jean Pauls Romantopographien auslösen muss. Linda ist der Name jener Braut, die Albano in der Geistererscheinung von der Schwester genannt wird: »Linda de Romeiro geb’ ich dir.« (I/3,248)33 Und die Zwillingsschwester Julienne verhilft Albano und Linda tatsächlich zu einem rasch geschlossenen Liebesbund, obwohl sie mit der vorgängigen Geistererscheinung nichts zu tun hat. Da Albano Linda schon bei ihrer ersten Begegnung seine plötzlich auf-

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Zu Lindas Kosmopolitismus vgl. Albrecht 2005, S. 201ff. Vgl. zu den freimaurerischen und insbesondere den illuminatischen Inhalten Teil I, Kap. 2.4.1 und 2.4.2. Albrecht 2005, S. 31ff. und 138ff. zeigt, inwiefern sich der illuminatische und der kosmopolitische Diskurs gegenseitig befördern: Die größte Wirkungsmacht entfaltet der im 18. Jahrhundert in allen Wissensbereichen diskutierte Kosmopolitismus in jenen Programmatiken, die auf die Errichtung einer freiheitlichen und egalitären Gesellschaft zielen. In einer Rede über den Illuminaten-Orden, gehalten 1793 in einer Freimaurerloge, formuliert Ludwig Adolf Christian von Grolmann diesen Zusammenhang folgendermaßen: »Die Absicht der Illuminaten gieng unstreitig auf eine Weltreformation oder den sogenannten Cosmopolitismus, nach welchem Weishaupt und Knigge den Leuten alles was ihnen bisher ehrwürdig war, die positive Religion, die Staatsverfassung, die bürgerliche Ruhe und Ordnung unter dem Vorwand einer allgemeinen Freyheit und Gleichheit entreissen, die Fürsten ihrer wohlhergebrachten Rechte berauben, und sich die Herrschaft der Welt allein zueignen wollten.« Zitiert nach Albrecht 2005, S. 151. Vgl. auch I/3,49.

flammenden Gefühle gesteht, kehrt sich die Prophezeiung sogar um: »erst von der Geliebten durftest du die Schwester empfangen.« Dass es jedoch zur Begegnung gekommen ist, das haben die beiden Julienne zu verdanken: »Ich tat bloß alles, euch beide nur voreinander hinzustellen; das Übrige wußt’ ich voraus.« (I/3,629) Die Liebe zwischen Linda und Albano wird im Titan als eine Notwendigkeit hingestellt, die über das vielfältige Sprechen darüber unausweichlich geworden ist. Die Zweisamkeit ist jedoch stets eine ménage à trois: ohne Schwester geht es nicht.34 Für Linda, die im Unterschied zu Liane ihren Albano nicht schwesterlich teilen, sondern für sich haben will, ein Grund zur Eifersucht.35 Wie Linda Julienne nicht mehr zu brauchen glaubt, ist das zugleich das Zeichen dafür, dass die Beziehung zu Albano nicht mehr funktioniert, er ist nur selbdritt zu haben.36 Immerhin kann auch die Figur Linda auf schwesterliche Aktantenanteile zurückgreifen. Das frühkindliche Beisammensein als vermeintliche Geschwister beschleunigt die Paarbildung gemäß der Szenographie der inzestuösen Situation. Albanos Mentor und Freund Schoppe jedoch hält aufgrund einer darauf gegründeten Indizienkette Linda und Albano tatsächlich für Geschwister und warnt Albano wiederholt vor einem drohenden Inzest.37 Albano lässt sich davon nicht beirren, unmöglich erscheint ihm diese Konstellation angesichts der vielfältigen »Zurüstungen« seiner Familie zur Beförderung dieser Verbindung. (I/3,760) Diese Zurüstungen werden von Roquairol durchkreuzt. Er verführt Linda, indem er sich ihr gegenüber glaubhaft als Albano ausgibt.38 Lindas »Fall« ist anders als derjenige Gustavs in der Loge unverzeihlich. (I/1,348) Weder sie noch ihre bisherigen Seelengeschwister Albano und Julienne denken daran, eine Verzeihung auch nur in Erwägung zu ziehen.39 Dass sie sich in dieser Situation damit tröstet, sie sei vor einem Inzest bewahrt worden, weil sie durch Roquairol verführt worden

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Vgl. u.a. I/3,640f: »so überfloß jedes Herz von treuer Liebe, und der Bruder und die Schwester und die Geliebte nahmen wechselnd einander die Hand. [...] Linda schloß die Augen und küßte zagend, und nur ein einziges Leben und Glück rollte und glühte zwischen zwei Herzen und Lippen. Julienne umschlang leise die Umarmung mit ihrer und begehrte kein anderes Glück.« I/3,649f.: »Wahrlich, wenn du deine Schwester umarmest: so bin ich eifersüchtig und möchte deine Schwester sein [...].« Vgl. I/3,758. In der Liebesgeschichte mit Liane ist diese ménage à trois gleich doppelt verankert: Nicht nur sind Albanos Pflegeschwester Rabette und Liane Albano gemeinsam in schwesterlicher Liebe zugetan, auch Julienne ist mit Liane in einem »Seelenbund« (I/3,150), zu dem Albano hinzugenommen wird. Und auch die dritte und letzte Liebesgeschichte des Titan gründet sich auf die enge Verbindung von Julienne mit Idoine; vgl. dazu weiter unten. Vgl. I/3,703ff. Vgl. I/3, 729ff. Dabei gäbe es bei Linda im Unterschied zu Gustav allerlei mildernde Umstände, was das Eigenverschulden am Verführtwerden betrifft. Doch im Sexualverhalten unterliegen Jean Pauls Figuren einem klaren Genderregime. Vgl. zu den »Milderungen« von Lindas Fall Jean Pauls Brief an Jacobi vom 8. September 1803, SWIII/4,237, grundsätzlich zum

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ist und sich nicht in gegenseitiger Liebe mit Albano vereinigt hat – den sie nun mit Schoppe für ihren Bruder hält –, erscheint angesichts ihrer persönlichen Katastrophe doch etwas aufgesetzt.40 Oder anders gesagt: Es zeigt, wie persistent sich die inzestuöse Szenographie in Jean Pauls Erzählen behauptet. Die Zurückhaltung, die er sich damit trotz allem im Titan auferlegt hat, macht das in derselben Zeit verfasste Klaglied wett: Immer nötiger wird es daher, daß schon jetzt die Konsistorien von allen verbotnen Verwandtschafts-Graden auf einmal dispeniserten, weil bei dem allgmeinen Föderalismus und der glavanischen Kette der Liebe, die um das seidne Band der Ehe herumläuft, kein junger Mensch mehr gewiß sein kann – wenn er eine vewandte Seele heiratet –, ob er nicht seine Schwester trifft. Das ist nun das heimliche Klaglied der jetzigen leidtragenden Männer, wovon ich im Titel sprach, und welches das einzige ist, in welches sie gutmütig die Weiber nicht einzufallen zwingen; denn diesen verbleiben glücklicherweise immer die Kinder, wenigstens die natürlichen. (I/4,1102)

Lesbar ist der Leitsatz des Klagliedes als Kommentar zur Geschwisterproliferation des Titan: Unter niederländischen und nicht italienischen Charakteren lässt eine Geschwisterproliferation tatsächlich in jenen »ungeheueren Lasterpfuhl« (I/3,764) schauen, vor dem es einem hohen Menschen wie Albano schaudert. 41 Linda sticht als »Titanide« (I/3,682) aus dem Jean-Paul’schen Reigen der empfindsamen Frauenfiguren hervor. Sie handelt nach freiheitlichen Grundsätzen selbstbestimmt, ist philosophisch gebildet und diskursiv gewandt sowie kosmopolitisch orientiert: Auf ihrem Lesetisch findet Albano »den Montaigne, das Leben der Guyon, den Contrat social und zuletzt Madame Staël: Sur l’ influence des passions.« (I/3,634) Ihr Blick ist in die Welt und auf deren soziale Verfasstheit, sowie auf heroische Gefühle, nicht aber auf das Hauswesen gerichtet. Symptomatisch dafür sind ihre Reisetätigkeit und ihre »Ehe-Scheu«: Sie nennt diese Institution »den Richtplatz der weiblichen Freiheit, den Scheiterhaufen der schönsten freiesten Liebe«. (I/3,673) Lindas Kosmopolitismus ist ein individueller: Sie lernt auf ihren Reisen andere Kulturen und Mentalitäten kennen und sucht die Grundsätze von Freiheit und Gleichheit für sich persönlich umzusetzen. Das unterscheidet sie vom politischen Engagement und den weltumspannenden Plänen der institutionellen Geschwisterschaften. Linda bezieht aus dem institutionellen Geschwisterdiskurs also allein dessen Werte, nicht aber dessen fraternale Grundstruktur. Doch gerade ihr Werteverständnis wird ihr zum Verhängnis: Freiheit und Selbstbestimmtheit in der Liebe sind um 1800 nicht weiblich kodiert. 42 Anders als bei einer männlichen

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Geschlechterverhältnis bei Jean Paul Dangel-Pelloquin 1999, zur Verführungsszene des Titan ebd. S. 140ff., Liebs 2001 und Albrecht 2005, S. 215ff. Vgl. I/3,779. Vgl. zum Klaglied Teil I, Kap 2.21. Dies betont Jean Paul in seinem Briefwechsel mit Jacobi: Linda fällt nicht wie »Rabette

Figur gibt es bei einer weiblichen Entscheidungen, die nicht in einem Bildungsprozess zum Positiven gewendet werden können, sondern zwingend den Rückzug aus dem bisherigen sozialen Leben bedeuten. Nicht nur Albano, sondern auch die Linda bisher so eng verbundene Julienne wenden sich in dieser Situation übergangslos Idoine als der neuen Seelenschwester zu. 43 Idoine Vorbereitet wird dies schon bei einem gemeinsamen Besuch von Linda und Julienne bei Idoine, bei dem Julienne fühlt, »Idoine sei ihr schwesterlicher verwandt als Linda«. (I/3,724) Als Figur ist Idoine grundsätzlich schwesterlich verortet: Sie wird eingeführt als Schwester der Fürstin Isabella und als »Gesichts- und SeelenSchwester« Lianes. (I/3,541) Im Titan steht sie mit ihrer endogamen Heirat für eine praxisnahe Lösung der Kohäsion von Geschwister- und Geschlechter-Liebe, und für die im Unterschied zur Linda-Episode endgültige Dreieinigkeit von Bruder, Schwester und Geliebter. Idoine ist in jeder Hinsicht eine Kompromissfigur: Beschrieben wird sie als »die deutscheste Französin« und ein »reizende[s] Mittelding von Nonne und Ehefrau«, (I/3,712f.) sie vereinigt die Albano genehmen Anteile von Liane und Linda und nimmt schon in ihrem Namen je drei Buchstaben ihrer Vorgängerinnen auf. Die Mischung von Lianes selbstloser Liebe und Lindas Tatkraft macht sie zur perfekten Partnerin für Albano. 44 Als narrative Figur für Jean Paul aber auch langweilig: Es gibt über sie nicht besonders viel zu sagen. Denn sie ist alles andere als neu oder original, sie ist die potenzierte Kopie. An ihr erfüllt sich das Handlungsprinzip der Stellvertretung des Titan:45 Als Julienne dieses große blaue Auge und jeden verklärten Zug der Gestalt, die einst ihr Bruder so selig und schmerzlich geliebt, vor und auf ihrem Angesicht hatte: so glaubte sie jetzt, da sie seine Schwester geworden, gleichsam als seine Stellvertreterin die Liebe der Stellvertreterin Lianens zu empfangen; (I/3,713)

Am auffälligsten in der Reihe der Stellvertretungen durch Idoine ist diejenige Lianes – und vice versa: Als »Ebenbild« (I/3,787) Lianes steht sie für diese und sieht sich umgekehrt an ihrem Sterbebett in ihr erblassen. 46 Dabei ist nicht mehr zu

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und Gustav gegen ihre Grundsätze« sondern »an« ihnen. Brief an Jacobi vom 8. September 1803, SWIII/4,237. So lässt ihr Albano ausrichten, dass er »sie auch als Bruder, wenn ichs würde, nicht besuche«: (I/3,766) angesichts des hohen Stellenwerts der Position der Schwester in Albanos Bindungsverhalten ist ein radikalerer Beziehungsabbruch nicht denkbar. Vgl. auch I/3,771ff. Vgl. dazu auch Golz 1996, S. 207. Vgl. grundsätzlich zum Handlungsmuster der Stellvertretung Eickenrodt 1999. Vgl. I/3,424ff., 433f., 541f., 549, 791, 823, 827f.

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entscheiden, wer Urbild und wer Abbild ist, die Abfolge erscheint reversibel.47 Das überträgt sich auf die bei Albano ausgelösten Emotionen, wie er Idoine »vergleichend anblickte«: »alles in ihm liebte sie und rief: nur sie könnte deine letzte wie deine erste Liebe sein«. (I/3,791ff.) Albano ist auf zusätzliche Zeichen angewiesen, um der Ebenbildlichkeit nicht ausgeliefert zu sein: »drei kleine Blatternarben, gleichsam als Erden- und Lebens-Spuren« unterscheiden Idoine von der verklärten Himmelsschwester und garantieren die Sukzession. (I/3,825) In der Kette der Geliebten, die nahezu bruchlos von der einen zur nächsten führt, vertritt Idoine aber nicht nur Lianes, sondern auch Lindas Stelle. Wie diese ist sie freiheitsliebend, tätig und stolz, bleibt aber dabei innerhalb der Konventionen. 48 Die Eheschließung zwischen Idoine und Albano kopiert schließlich die Heirat ihrer Geschwister Luigi von Hohenfließ und Isabella von Haarhaar. Mit ihrem arkadisch-schweizerischen Idyll eines harmonischen Dorfes steht Idoine darüber hinaus auch stellvertretend für den gesellschaftsutopischen Aspekt des Titan, der bei Albano mehr vorausgesetzt denn ausgeführt wird und vor allem anhand seiner Rom-Reise erschlossen werden muss. 49 Mit Idoine wiederholen sich auch die Liebesaugenblicke selbdritt. Die Liebeserklärungen zwischen Albano und Idoine am Schluss des Titan beziehen die Schwester nicht nur ein, sondern betonen in selbst für Jean-Paul’sche Verhältnisse selten erreichter Intensität die Geschwisterebene: »Idoine,« (sagt’ er, und ihre Seelen schaueten ineinander wie in schnell aufgehende Himmel, und er nahm die Hand der Jungfrau) »ich habe noch dieses Herz, es ist unglücklich, aber unschuldig.« – Da verbarg sich Idoine schnell und heftig an Juliennens Brust und sagte kaum hörbar. »Julienne, wenn mich Albano recht kennt, so sei meine Schwester!« – »Ich kenne dich, heiliges Wesen«, sagte Albano und drückte Schwester und Braut an eine Brust. – Und aus allen weinte nur ein freudetrunknes Herz. »O ihr Eltern,« (betete die Schwester) »o du Gott, so segne sie beide und mich, damit es so bleibe!« [...] »schauet auf zum schönen Himmel,« (rief die feudentrunkne Schwester den Liebenden zu) »der Regenbogen des ewigen Friedens blüht an ihm, und die Gewitter sind vorüber, und die Welt ist so hell und grün – wacht auf, meine Geschwister!« – (I/3,829f.)

Mit einer Exklamation an die »Geschwister« endet der Titan und weist damit die im Text weitgehend im Rahmen von Liebe und Familie verbleibende Geschwisterisotopie in den weiteren Kreis der »Welt« hinaus. Inwieweit dieser kosmopolitische Appell auch schon diesseits des Textendes wirksam ist, soll eine Spurensuche nach den Residuen 47

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Vgl. zur Figuration von Original und Kopie auch Teil II, Kap. 1.2: In der Loge wird der Status von Original und Kopie an der Figur Gustav und dem Bildmedium Guido im Geschwisterdispositiv verhandelt sowie im zugehörigen satirischen Extrablatt (I/1,70ff.) zur Lösung geführt, die Kopien gegenüber den Originalen höher zu werten, da sie durch ihre inifinite Iterierbarkeit beständiger als die physisch anfälligen Originale sind. Die Differenz der beiden Frauenfiguren zeigt sich insbesondere in ihrer jeweiligen Liebes- und Eheauffassung, vgl. dazu I/3,719ff. Vgl. zu Idoines Arkadien I/3,712ff., dazu Golz 1996, S. 213f., und zu Albanos gesellschaftspolitischen Interessen Teil III, Kap. 3.2.

institutioneller Geschwisterschaft im Titan im nächsten Kapitel weisen. Vorab geht es nun aber um die Interferenzen von Liebe und Geschwistern in den Flegeljahren.

2.3

Schwesterlose Liebe in den Flegeljahren

Der Titan hat die Geschwisterisotopie der empfindsamen Seelenliebe zu Ende erzählt, der inzestuösen Situation nur noch wenige Reize abgerungen und den Geschwistersubtext in der Geschlechterliebe mit der endogamen Heirat der Fürstenhäuser in eine realitätsnahe Lösung überführt. Dahinter gehen die Flegeljahre nicht zurück. Im bürgerlichen Geschwisterroman um Walt und Vult ist das Thema der Geschlechterliebe gerade nicht geschwisterlich besetzt. Dafür ist die Geschwisterliebe zwischen Walt und Vult geschlechterdifferent konnotiert und einer der beiden Liebestriangel um Wina ist geschwisterlich strukturiert. Die Figur der Schwester ist dabei aber nicht von Relevanz, sie spielt weder konkret noch imaginär eine Rolle, und tritt selbst metaphorisch nur in letzten Residuen auf. Diese marginale Bedeutung der Schwesterfigur überrascht nach den hohen Romanen, in denen die Schwester als unverzichtbarer Bestandteil empfindsamer Liebesnarration erscheint. Walt, der ja überexplizit als empfindsam Liebender gezeichnet wird, greift weder für die Strukturierung noch die Richtung seines eigenen Liebesempfinden auf die Schwesterfiguration zurück. Sowohl die Pflegeschwester Goldine als auch die verstorbene Kindheitsschwester übernehmen die im empfi ndsamen Kontext zu erwartende Modellfunktion nicht. Auch die bisher unverzichtbar scheinende inzestuöse Situation kommt in Walts Umfeld nicht in Frage, die Genealogien bleiben transparent und wenig geheimnisvoll. Und das bürgerliche Schwesterpaar, Raphaela und Engelberta Neupeter, das sich gemäß titanischer Erzählregel mit den Brüdern zu einem »Paar Paare«(I/3,376) hätte zusammenführen lassen können, bietet sich dafür durch seine Oberflächlichkeit und explizite Hässlichkeit nicht an. Auch wenn Walt als empfindsamer Dichter ein Meister im Idealisieren ist, hier muss selbst er verzagen: Die beiden Töchter Neupeters hatten unter allen schönen Gesichtern, die er je gesehen, die häßlichsten. Nicht einmal der Notarius, der wie alle Dichter zu den weiblichen Schönheits-Mitteln gehörte und nur wenige Wochen und Empfindungen brauchte, um ein Wüsten-Gesicht mit Reizen anzusäen, hätte sich darauf einlassen können, eine und die andere Phantasie-Blume in Jahren auf beide Stengel fertig zu sticken. Es war zu schwer. (I/2,741)

Dass sich Walt in Liebesdingen nicht affirmativ auf die Schwesterfiguration bezieht, lässt sich durch die anders geführte Entwicklung der Erzählanlagen und über die Schreibgenealogie50 als bewusst vollzogene Rücknahme des vormals zentralen

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Vgl. Teil III, Kap. 1.3.

319

Themas sehen. Dass die Flegeljahre die Schwesterfiguration aber aus ihrem Kardinalthema Selbstreflexivität ausklammern, weist darauf hin, dass es sich dabei zugleich um einen Bereich handelt, über den sich Jean Paul nicht lustig machen will, wie über anderes aus dem empfindsamen Liebesdiskurs. Die stilistische Übercodierung Walts als Vertreter der Empfindsamkeit hat den Effekt ironischer Distanzierung von den vormals geltenden empfindsamen Idealen. So erscheint das empfindsame Liebeskonzept in den Flegeljahren als artifiziell und in erster Linie literarisch fruchtbar, im Transfer auf konkrete zwischenmenschliche Beziehungen jedoch als arbiträr und kontingent. Es ist somit keineswegs dazu geeignet, die geforderte exklusive Seelenverwandtschaft zu finden. Wiederholt zeigen die Flegeljahre auf, wie Walt Gefühle über das Schreiben in sich erzeugt und diese dann »wirklich« in die »Wirklichkeit« transponiert. (I/2,843) Das gilt sowohl für die Liebe als auch die Freundschaft. Vult diagnostiziert darum in seinen Reflexionen über seinen Bruder, dass Walt »nur poetisch lieben« kann: (I/2,1000)51 Walt ist vor allem anderen »in die Liebe verliebt«, (I/2,725) deren Transposition in die Wirklichkeit dann beispielsweise alle unverheirateten Frauen umfassen kann, die sich in jenem Saal befinden, in dem Vult sein Hasslauer Flötenkonzert gibt.52 Auch die Verhandlungen um Liebe und Freundschaft, dieses von Jean Paul stets erörterte zentrale Thema der Empfindsamkeit, wird über die wechselseitige Bezugnahme zwischen dem Roman und dem Roman im Roman selbstreflexiv bearbeitet. So wettert Vult in seinen satirischen Digressionen aus dem »Hoppelpoppel« zum Thema Freundschaft sehr gegen »die jungen Schreiber«, die »in ihren Romanen die arme Freundschaft nur als Tür- und Degengriff der Liebe vornen an diese so unnütz anbringen« und ihr keinen eigenständigen Wert geben. (I/2,691) Doch genau diesen Weg nimmt Walts Gefühlsentwicklung. Zwar nicht eine gelebte Freundschaft selbst, aber Walts Sehnen danach führt ihn zur geliebten Wina: Klothar, mit dem Walt seine schreibend generierte Sehnsucht nach Freundschaft einlösen will, ist der Verlobte Winas. Als »Braut eines Freundes [...], diese höhere geistige Schwester, diese Gott geweihte Nonne im Tempel der Freundschaft« (I/2,722) tritt Wina in Walts Bewusstsein. Dieses eine Mal, in der die zentrale Frauenfigur der Flegeljahre in die Schwesterfiguration eingebunden wird, ist mehrfach funktional. Walt, den es schon zwei Seiten später dünkt »als lieb’ er selber« Wina (I/2,724) beugt mit dem verwandtschaftlichen und geistlichen Kontext möglichen Begehrlichkeiten seinerseits gleich doppelt vor. Zugleich bereitet die Geschwistersemantik die Einebnung der Standesdifferenz vor, die der bürgerliche Walt gegenüber der adligen Wina mit verschiedenen Gedankenspielen angeht: zur Egalität in der Geschwisterschaft kommen später ein Wachtraum mit vertauschten Standesrollen, in dem ein adliger Walt großherzig

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320

Dies zeigt überzeugend Berhorst 2002, S. 392ff. auf. Vgl. I/2,760.

über die bürgerliche Herkunft einer Wina aus Elterlein hinwegsehen kann,53 sowie die wiederholte Selbststilisierung als Petrarca. Walt fühlt sich dabei »wie in jenen Zeiten und Ländern, wo die Erde noch ein leichtes Lustlager der Dichtkunst war, und der Troubadour, ja der Conteur sich in Damen höchsten Standes verlieben durfte«. (I/2,832) Die Einbindung der weiblichen Hauptfigur in eine Schwestersemantik bleibt in den Flegeljahren aber eine Marginalie: Sie wird weder zur näheren Charakterisierung herangezogen noch handlungsrelevant. Signifikant ist hierfür die Kindheitsbegegnung mit Wina, die analog zur Begegnung von Beata und Gustav in der Loge die Liebesbeziehung präfiguriert: Wina hatte dem damals an Blattern temporär erblindeten Walt einen Aurikelnstrauss gegeben. Diese Begegnung hat sich Walt »unzählige Male« (I/2,722) erzählen lassen und durch diese Iteration eine Sehnsuchtsstruktur geschaffen, die über den Duft und die Beschaffenheit der Aurikel ihrer Einlösung wartet. Semantisierte sich das prägende Kindheitserlebnis der Loge für den dortigen Helden im iterativ wieder aufgenommenen »Schwesterchen, das mit ihm gespielet« (I/1,68) geschwisterlich aus, so ist Walts Liebesstruktur ganz an der Geschlechterbeziehung orientiert und auf die »Aurikeln-Braut der Kindheit« (I/2,762) bezogen. Ganz verschwunden aber ist die vormals dominante Strukturform nicht, sondern behauptet noch wenige Residuen. So in einer Verschiebung der Schwestermetaphorik von der Hauptfigur auf ihr Umfeld: Andere Mädchen werden »alle« für Walt »Winas Schwestern oder Stiefschwestern«. (I/2,764) Das ist insofern bemerkenswert, als hier die Modellbildung umgekehrt verläuft: Nicht die Schwester steht Modell für die Geliebte, sondern diese bezieht ihren Wert aus sich allein und strahlt wie eine »untergegangene Sonne« auf die »andere[n] Mädchen« ab. (I/2,764) Ist die Geschlechterliebe der Flegeljahre auch nicht geschwisterlich strukturiert, so hat jedoch die Geschwisterliebe der Brüder Walt und Vult eine geschlechtliche Konnotation: Walt trägt als empfindsamer Charakter tendenziell weibliche, Vult als Satiriker tendenziell männliche Chrakterzüge.54 Dies ist jedoch nur ein Aspekt der grundsätzlichen oppositionellen Anlage der Charaktere, die sich auch der Geschlechterdifferenz bedient. Trianguläre Verhandlungen um Freundschaft, Liebe und Geschwisterschaft werden auch in den Flegeljahren geführt, doch wiederum ohne Bezug zur Schwesterfiguration. Der eine Triangel um Wina thematisiert den klassischen Konflikt zwischen zwei Freunden und der von beiden geliebten Frau. Dies geschieht jedoch nicht direkt, sondern mehrfach vermittelt: Die Emotionen und sozialen Beziehungen zwischen den Aktanten sind teils imaginär, teils vorgetäuscht, implodieren dar-

53 54

Vgl. I/2,839. Vgl. dazu schon die konzeptionellen Überlegungen Jean Pauls, die Berend SWI/10,XLV, auflistet.

321

um im Realitätstest55 und halten damit den Triangel auf seine literarische Herkunft hin transparent.56 Ein zweiter Triangel um Wina verteilt die Rollen der konkurrierenden Liebhaber auf die Zwillingsbrüder Vult und Walt. Um deren geschwisterliche Beziehung geht es dabei vor allem, die Liebesgeschichten selbst sind sekundär und werden weder ausreichend motiviert noch genauer ausgestaltet.57 Zwar hatte Jean Paul auch in Liebesdingen ein »happy end« geplant,58 wie dieses jedoch herbeizuführen gewesen wäre, stellt keine geringe erzählerische Herausforderung dar. Am Schluss der mit Vults Abreise abbrechenden Flegeljahre steht ein grundsätzliches Verkennen in Liebesdingen: Wina verwechselt Walt mit Vult, der auf einem Maskenball Walts Kostüm angezogen und in diesem Inkognito der als Nonne mit einem Aurikelnstrauss auftretenden Wina59 ein »Liebes-Ja« (I/2,1079) abgewonnen hat. Walt bleibt in seinem gutmütigen Verkennen von Vults Gefühlen und Ambitionen gefangen und Vult erkennt, dass er trotz all seiner Scharfsicht Walt in Liebesdingen völlig falsch eingeschätzt hatte. In seinem Abschiedsbrief an Walt formuliert er diese Erkenntnis im Rahmen einer Schriftmetaphorik, und greift damit nicht nur das Theorem von der Lesbarkeit der Seele im Allgemeinen,60 sondern konkret auch die Schrift als Medium auf, in dem die beiden Brüder der Flegeljahre ihre Einheit herstellen wollten:

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In Walts Imagination und in seinem literarischen Schaffen ist Klothar längst sein Herzensfreund, realiter sucht er dessen Freundschaft mit der Hilfe Vults – der dabei seine eigenen Zwecke verfolgt – unter Vortäuschung eines anderen Standes zu gewinnen. Wie er die Verkleidung und seine unfreiwillige Verstrickung in die Auflösung der Verlobung preisgibt, ist es vorbei mit Klothars Freundschaftsworten. Dabei zeigt sich die Differenz zwischen Klothars Reden und seinem Fühlen so deutlich, dass selbst der in seiner eigenen, inneren Welt gefangene Walt etwas davon mitbekommt. Auch die tugendhafte Wina liebt nicht ehrlich, sondern hat in die Verlobung mit Klothar nur eingewilligt, um diesen zu einem Religionswechsel zu bewegen und ihre Eltern materiell abzusichern. (Vgl. I/2,827) Wie die Probleme der Verlobten hinsichtlich ihrer religiösen Differenz öffentlich werden – Walt will einen Freundschaftsdienst tun und übergibt einen gefundenen Brief nicht dem Adressaten Klothar, sondern Winas Vater – wird die Verlobung gelöst. Vgl. zu den Verhandlungen um Freundschaft, Liebe und Geschwisterschaft auch Teil III, Kap. 3.3. Zur innerliterarischen Tradierung des »Glückseligkeits-Triangels« vgl. Teil II, Kap. 3.1.2.1. Vgl. dazu auch Berhorst 2002, S. 395. Vgl. Berend, SWI/10,LXIV, der S. LXff. die Fortsetzungspläne Jean Pauls, wie sie um 1804 dokumentiert sind, auflistet: Wina ist da Walt zugedacht, zuerst als heimliche Verlobte und dann als Gattin. Die Verkleidung Winas markiert explizit ihre Zugehörigkeit zu Walt, haben die beiden Attribute – Nonne und Aurikeln (vgl. I/2,722) – doch Wina in Walts Innenleben bisher bezeichnet. Zu Jean Pauls Auseinandersetzung mit dem Theorem der Lesbarkeit der Seele vgl. u.a. Teil II, Kap. 1.2.

Wir beide waren uns einander ganz aufgetan, so wie zugetan ohnehin; uns so durchsichtig wie eine Glastür; aber, Bruder, vergebens schreibe ich außen ans Glas meinen Charakter mit leserlichen Charakteren: du kannst doch innen, weil sie umgekehrt erscheinen, nichts lesen und sehen als das Umgekehrte. Und so bekommt die ganze Welt fast immer sehr lesbare, aber umgekehrte Schrift zu lesen. (I/2,1081)

Selbst wenn sich die empfindsame Seele offen mitteilt, ist sie nicht lesbar, auch nicht von derjenigen, die ihr verwandtschaftlich am nächsten steht. War »das verschwisterte Herz« (I/1,465) die Sehnsuchtsfigur durch alle hohen Romane hindurch, der die – in Ausnahmesituationen wie dem Liebesaugenblick auch gelingende61 – direkte Seelenkommunikation zugeschrieben wurde, so zeigt sich in den Flegeljahren gerade am Beispiel engster Verschwisterung die Unlesbarkeit der Seele als eine conditio humana, die weder durch Offenheit noch durch Mitteilung zu umgehen ist. Für die beiden Zwillingsbrüder heißt dies, dass sie sich grundsätzlich verkennen müssen und als oppositionelle Charaktere keinen Weg zum Gegenüber finden, auch nicht im Medium der Schrift. So die finale Erkenntnis Vults, der daraus die Konsequenz zieht und das gemeinsame Experiment, im Schreiben eine Einheit zu werden, abbricht.62 Findet die Liebesnarration der Flegeljahre auch unter weitgehender Absenz der Schwesterfiguration statt, so zielt das Thema der Liebe im Kern doch auf die Geschwisterbeziehung: auf das Verhältnis und die gegenseitige Einschätzung der Zwillinge Walt und Vult. Noch deutlicher wird sich dies bei der Freundschaft zeigen: Verhandeln Hesperus und Titan Jugendfreundschaften in der Geschwistersemantik und verbinden dies mit gesellschaftspolitischen Fragen sowie der Thematik institutioneller Geschwisterschaften, so geht es in den Flegeljahren nicht um die Frage, inwiefern der Freund ein Bruder, sondern ob der Bruder auch der eine Freund sein kann. Konsequenterweise wird selbst die Frage der Einzigen-Liebe nicht – wie im Titan – zwischen den Geschlechtern, sondern zwischen den Zwillingsbrüdern gestellt.

61 62

Vgl. z.B. I/1,389: »so öffneten sie sich einander ihre Augen und ihr Innerstes; die zwei entkörperten Seelen schaueten groß ineinander hinein«. Genauer dazu vgl. Teil III, Kap. 4.

323

3.

Freundschaft und institutionelle Geschwisterschaft

3.1

Jugendfreundschaft und Biologisierung der Parole der fraternité im Hesperus

Die geschwisterähnliche Sozialisation von Viktor, Flamin und Julius im Hesperus scheint prädestiniert für eine Engführung von Freundschaft und Bruderschaft, wie sie gerade für identifikatorische oder politisch motivierte Freundschaft diskursiv tradiert ist.1 Dafür spricht auch, dass das Freundschaftsempfinden wiederholt in Metaphern der Geschwisterlichkeit ausgedrückt wird.2 Eine Geschwisterstruktur umspielt darüber hinaus auch die Zirkulation der Genealogien zwischen Viktor, Flamin und Julius. Doch genau diese identifikatorische Freundschaft, die im Tausch der Identitäten gipfelt, verunmöglicht Geschwisterverhältnisse strukturell gesehen. Dadurch, dass die drei in der jeweils anderen Familie gegenseitig eine analoge Position vertreten, können sie zwar für den anderen stehen, aber nie dessen Bruder in derselben Familie werden. Die Tendenz zur Biologisierung und Stärkung eigentlicher Geschwisterverhältnisse, die den Hesperus von der Loge absetzt, gilt nicht für die Jugendfreundschaft: In ihr wirken Geschwisterverhältnisse allein im figürlichen, nicht im eigentlichen Sinne. Im Kontext des Hesperus kommt dies einer Entkoppelung von Freundschaft und Geschwisterschaft gleich. Für das zentrale Freundespaar, Viktor und Flamin, liefert denn auch eine andere soziale Beziehung den dominierenden Vergleichsraum: die Geschlechterliebe, gerade auch in ihrer institutionalisierten Form, der Ehe. Wie die Freundschaft zwischen Gustav und Amandus in der Loge ist diejenige zwischen Viktor und Flamin leidenschaftlich und eifersüchtig und wird mit dem entsprechenden Vokabular ausagiert:3 Zwar hat der Jugendfreund als solcher »etwas von einem Bruder an sich«, (I/1,1009) doch die Geschichte von Viktor und Flamin wird in erster Linie beschrieben als eine »Ehe der Seelen«, (I/1,1010) die aufgrund von Eifersucht und Misstrauen zu Bruch geht, und deren Protagonisten schließlich nach der Klärung der Missverständnisse »neuvermählt auf dem Traualter [...] ihre Silberhochzeit« (I/1,1210) feiern können. Anders als die an der beständigen und nicht lösbaren Geschwisterbeziehung orientierte Freundschaft ist diese stets vom Scheitern bedroht:

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Vgl. die Ausführungen dazu in Teil II, Kap. 3.1 sowie Teil I, Kap. 2.4.4. Vgl. z.B. I/1,533, 1009, 1040. Vgl. I/1,501, 534, 758, 1004, 1013f., 1088, 1210.

Für ihre Verbindlichkeit sind Treueschwüre notwendig, die für den Fall des Misslingens den Tod in Aussicht stellen. Damit gerät diese Freundschaft mehr als einmal in den Umkreis des Todes, denn schon kleinste Schwierigkeiten führen Bruch und Tod auf den Plan. 4 Der Freund ist in der Jugendfreundschaft des Hesperus also nicht »wie ein Bruder«,5 und mehr noch: Es sind gerade die tatsächlichen Geschwisterverhältnisse, die die Freundschaft in die Krise stürzen. Flamin liebt Klotilde, weiß aber nicht, dass sie seine Schwester ist. Klotilde wiederum liebt Viktor, mit dem sie über ihre Schwesterliebe zu Flamin sprechen kann. Viktor, der Klotilde durch Flamin kennen und lieben gelernt hat, weiß um die wahren Verwandtschaftsverhältnisse, darf diese seinem Freund aber nicht entdecken, da er durch einen Schwur gebunden ist.6 Die Verknüpfung der beiden Szenographien der inzestuösen Situation und des Glückseligkeits-Triangels macht diese trianguläre Konstellation um Liebe, Freundschaft und Geschwisterschaft nicht glückselig, sondern buchstäblich explosiv: Es fallen Schüsse, man duelliert sich, und ein Pulverturm wird in die Luft gesprengt. Flamin übernimmt für diese Handlungen weitgehend die Verantwortung und geht dafür ins Gefängnis, obwohl er sie jeweils zwar angeregt, aber nicht selbst ausgeführt hat. Aus seiner leidenschaftlichen Gefühlsverwirrung sieht er einen willkommenen Ausweg im Tod als Freiheitskämpfer. Zumal er den öffentlichen Moment vor seiner Hinrichtung zu instrumentalisieren plant. Auf dem Richtplatz will er eine politische Brandrede halten: »Da will ich Flammen unter das Volk werfen, die den Thron einäschern sollen.« (I/1,1166) Dies im Namen des republikanischen Klubs der Drillinge, in dem er inzwischen seine politische und freundschaftliche Heimstatt gefunden hat. Gilt die Biologisierungstendenz nicht für die Jugendfreundschaften des Hesperus, so umso mehr für die politische Verbrüderung: Flamin ist ja, wie die Narration nach und nach enthüllt, ein eigentlicher Bruder der drei Engländer. Innert weniger Tage treibt die »Zauberkraft eines ähnlichen Herzens« (I/1,897) Flamin in die Mitte des republikanischen Klubs:7 Die genetische Ähnlichkeit verbürgt offenbar eine Ähnlichkeit der Gesinnung. Damit treibt Jean Paul jene »Urszene«, die Derrida als zentrales Diskursmerkmal des politischen Freundschaftsdiskurses herausgearbeitet hat, auf die Spitze und kehrt zugleich deren Begründungsverhältnis um: Freundschaft erscheint nicht »in den Zügen des Bruders« um an »einer familiären, fraternalistischen und also androzentrischen Konfiguration des Politischen« zu partizipieren, die fraternalistische Politik ist vielmehr unmittelbare Folge leiblicher Bruderschaft.8

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Vgl. I/1,534, 939, 1004, 1175, 1183. In Anlehnung an Derridas Kernfrage in seiner Politik der Freundschaft 2002, S. 10: »Warum ist der Freund wie ein Bruder?« Vgl. dazu Teil III, Kap. 2.1. Vgl. I/1,899: »Ihre republikanischen Flammen schlugen mit Flamins seinen zusammen«. Derrida 2002, S. 10. Derrida verwendet den von ihm in einer Negation gebrachten Be-

325

Diese Engführung von leiblicher mit institutioneller Geschwisterschaft macht den politischen Klub des Hesperus höchst exklusiv. Nicht-verwandte Aspiranten haben es da schwer. Viktor muss beispielsweise erst wiederholt »seine republikanische Orthodoxie außer Zweifel setzen« (I/1,1015) bevor er Aufnahme im Klub findet. Die Differenz der Stände und der unterschiedliche Grad an »Denkfreiheit« (I/1,927) machen Viktor verdächtig und halten ihn gegenüber den entflammten Republikanern9 auf Distanz. In die umstürzlerischen Pläne um Flamin wird er nicht eingeweiht. Viktors gemäßigte Haltung, die den Republikanismus in den gegebenen Strukturen umsetzen möchte – und dies sowohl für die Gemeinschaft wie auch individuell10 – geht den Verschwörern zu wenig weit. Unter dem allgemeineren Etikett des »Menschenfreund[es]«, (I/1,929) vor allem aber als Humorist gehört Viktor schließlich zum äußeren Kreis des Klubs.11 Deutlicher noch als die Arkangesellschaft der Loge prägen den Klub des Hesperus humoristische und satirische Praxen: Die Aktivitäten des Klubs beschränken sich weitgehend auf das Debattieren, durchaus auch unter reichlichem Alkoholeinfluss,12 und die Republikaner nennen sich selbst nach den heiligen drei Königen »Kaspar, Melchior und Balthasar«. (I/1,926) Damit führen sie ein für die abendländische Kulturgeschichte paradigmatisches monarchistisches Element im Eigennamen, das durch die Aufdeckung der fürstlichen Herkunft von einer Parodie zum Identitätsmarker wird. Doch nicht nur der republikanische Klub als solcher, auch das Vokabular des Republikanismus wird im Hesperus wiederholt satirisch gewendet. So dienen etwa Begriffe aus dem Umfeld der Französischen Revolution als witziges Gleichnismaterial. Beispielsweise beschreibt Viktor seine widerstreitenden Gefühle für zwei verschiedene Frauen als einen »tragbare[n] Nationalkonvent in

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griff der ›Urszene‹ nicht im psychoanalytischen Sinn, sondern versteht darunter »eine Art Vorspiel, eine Szene vor der ersten Szene«. Vgl. dazu ausf. Teil II, Kap. 3.1. und Teil I, Kap. 2.4.4. Der Republikanismus der Fürstensöhne ist durchgehend in eine Flammenmetaphorik gefasst und markiert damit den schmalen Grat zwischen ansteckender Begeisterung und verheerender Katastrophe, wie es der zeitgenössischen Erfahrung mit der Französischen Revolution entspricht, vgl. u.a. I/1,826, 899, 1166. Vgl. I/1,819: »Viktor konnte bei Jenner selber über die Vorzüge der Republiken Reden halten, und dieser hätte oft im Enthusiasmus [...] gern Flachsenfingen zum Freistaat erhoben und sich zum Präsidenten des Kongresses darin.« Sowie I/1,928: »ein jeder Mensch von Bildung und Tugend lebe in einer republikanischen Regierform trotz den Verhältnissen seines Leibes«. Vgl. I/1,941. Der Intrigant Mathieu dagegen hat das Vertrauen des inneren Kreises, obwohl auch er mit den Bundesbrüdern nicht eigentlich verwandt ist. Seine Aufnahme beruht auf einer Verwandtschaft der Gesinnung. Diese ist jedoch vorgetäuscht und Resultat seiner Fähigkeit, sich jeder Situation und Gesinnung anzupassen, so dass bei seinem Gegenüber jeweils ein identifi katorischer Eindruck entsteht. So hält Viktor seine Leichenrede auf sich selber, mit der er zum »humoristischen Liebling« der Engländer avanciert, vor einem reichlich angetrunkenen und zum »Punschverein« mutierten Klub (I/1,941, 936).

nuce«, bei dem die verschiedenen Parteien und Protagonisten der Revolution gegen einander »haranguieren«. (I/1,838)13 Beinahe ganz auf die Rolle als Gleichnismaterial reduziert ist im Hesperus die Geheimbundthematik. Diese war in der Loge zwar auch weitgehend parodistisch verwendet worden, hatte sich aber mit weiteren Elementen aus dem Umfeld des institutionellen Geschwisterdispositivs zu einem kohärenten Subtext verdichtet.14 Im Hesperus bündelt diesen Geheimbund-Subtext allein die Bezeichnung Flamins als »jakobinischer Logenmeister«. (I/1197) Diese Umschreibung ist lesbar als Anspielung auf die illuminatische Verschwörungsthese, die eine solche Verbindung der Französischen Revolution mit dem Logenwesen behauptet.15 Gestützt wird diese Lesart dadurch, dass der Begriff von Mathieu, einem Meister im Umgang mit Hofintrigen und Verschwörungstheorien, eingebracht wird. Doch mit diesem einzelnen Stichwort verbleibt das Umfeld des Illuminatentums isoliert »hingeworfen« und vermag keinen systematischen Zusammenhang zur institutionellen Geschwisterschaft herzustellen.16 War in den Vorarbeiten noch wiederholt die Rede von einer »unbekanten Loge«, so hat sich das im ausgearbeiteten Text geändert:17 Keine Arkangesellschaft agiert, sondern ein den Interessierten zugänglicher Klub, der seine Versammlungen nicht im Verborgenen, sondern im gut besuchten Pfarrhaus abhält. Nicht einmal die Türen des Versammlungsraumes sind verschlossen, können doch die Damen Viktors Leichenrede auf sich selber vom angrenzenden Nebenzimmer aus mithören. (Vgl. I/1,941) Der Bund ist im Hesperus aus dem Geheimen ins Öffentliche oder zumindest Halböffentliche getreten. Und die angestammten Elemente der Geheimbundthematik haben sich auf eine andere Ebene verzogen: Sie bilden einen reichen Fundus an Gleichnismaterial, wobei einzelne Formulierungen auch

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Vgl. auch I/1,639f., 644, 751. Vgl. Teil II, Kap 3.2. und Frei Gerlach 2009. Die durch Cagliostros so genannten ›Geständnisse‹ ausgelöste illuminatische Verschwörungsthese, gemäß der die Illuminaten die Französische Revolution geplant hätten und sich nun mit vergleichbaren Zielen anderen europäischen Staaten zuwenden würden, wurde in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts international rege diskutiert und löste im Stammland der Illuminaten, in Bayern, eine regelrechte Geheimbundhysterie aus. Vgl. ausf. zu diesen Zusammenhängen Teil I, Kap. 2.4.2. Beim Hesperus also würde Knigges Verdikt über die Loge, von der titelgebenden Geheimbundthematik seien »nur ein paar Worte [...] hingeworfen« zutreffen. (Sprengel 1980, S. 4; vgl. dazu Teil II, Kap. 3.2) Götz Müller sieht dagegen in seinem ansonsten absolut überzeugenden Aufsatz zum Narrativ des verborgenen Prinzen im Hesperus durchaus Elemente des Geheimbunddiskurses, ohne diese aber im Einzelnen zu nennen. Vgl. Müller 1996, S. 39. Möglich wäre, die Insel der Vereinigung mit ihrer geheimnisumwitterten Architektur in diesem Kontext zu situieren, zumal dabei auch das Stichwort ›Bruder‹ (I/1,656) fällt. Doch diese Lektürespur wird relativiert durch die umfangreiche Charakterisierung des Lords, der diesen Bau und dessen Symbolcharakter zu verantworten hat und dabei stets als Einzelner agiert. Vgl. das Vorwort von Bach, SWI/3,XIIIff.

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als textimmanente Verweise auf den republikanischen Klub lesbar sind, aber keine kohärente Textisotopie zur Geheimbundthematik mehr generieren können.18 Zwar sind die Motive der geheimen Fürstenerziehung und der Plan zur indirekten Gewaltnahme grundsätzlich in der Geheimbundthematik zu verorten und entsprechen insbesondere dem Programm der Illuminaten.19 Doch diese Anbindung an die Geheimbundthematik ist zweifach zu relativieren. Textimmanent tritt als Urheber des Arrangements um die Revolution von Oben eindeutig Lord Horion auf, der als macchiavellistische Figur ohne Mitstreiter konzipiert ist.20 Intertextuell ist dies so deutlich als Bearbeitung der Dya-Na-Sore und der Fabel vom verborgenen Prinzen zu lesen,21 dass die Geheimbundthematik als solche gegenüber diesen spezifischen literarischen Intertexten in den Hintergrund tritt. Im Unterschied zur Loge ist der Hesperus von einer identifizierbaren politischen Handlung gespeist. Doch diese ist um die Figur des Lords konzentriert und betrifft weniger die politischen Ziele der Klubisten, als vielmehr die Pläne des Lords. Wenn das Geheimnis im Dienst der Aufklärung das zentrale Strukturmerkmal der Arkangesellschaft der Loge ist, so ist diese Struktur zwar auch im Hesperus beibehalten. Träger aber ist nun keine Gesellschaft mehr, sondern ein Einzelner, der sich in seinen Zielen, nicht aber in seinen Mitteln von den arcana imperii der absolutistischen Machtpolitik unterscheidet.22 Auch die Personalpolitik ist an monarchistischen, nicht an republikanischen Strukturen orientiert: Eine um die rechte Genealogie bemühte Indizienkette verbürgt, dass die Thronerben in politische Ämter und schließlich an die Macht kommen. Das Verstecken und sukzessives Entdecken der wahren genealogischen Zusammenhänge strukturiert die politische Handlung. Wegweisend sind dabei das Wort des Lords und die physiognomische Ähnlichkeit mit noch vorhandenen Abbildern, bei Flamin auch »das Zeugnis der mitkommenden Mutter«, entscheidend aber ist letztlich temporär lesbar gewordene Biologie: ein angeborenes Körperzeichen, »das Muttermal eines Stettinerapfels«,

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Harich 1974, S. 301ff. hatte dagegen die These vertreten, dass der Hesperus die Geheimbundthematik der Loge radikalisiere. Vgl. zum Gleichnismaterial aus der Geheimbundthematik I/1,480, 482, 553, 588, 594, 629, 654. Ganz auf die Rolle des Gleichnismaterials reduziert sind im Hesperus die Elemente aus dem Herrenhutertum, die zwar meist satirisch, einige davon aber auch bejahend eingesetzt sind, vgl. I/1,544, 616, 637, 707, 713, 969, 1076. Vgl. dazu Müller 1996, bes. S. 31. Vgl. zur Charakterisierung des Lords als Macchiavelli-Figur Jordheim 2007, S. 288ff. Insbesondere die Dya-Na-Sore ist als Intertext wirksam, deutlicher noch in den Entwürfen zum Roman, in denen die Rede von zwei konträren Klubs ist: einem um das »Geniewesen«, und einen »Klub der Bösen«. (SWI/3,XV) Dies ist in der Forschung schon wiederholt dargelegt worden, vgl. u.a. das Vorwort von Bach in SWI/3,XXXIVff., Müller 1996 sowie Teil II, Kap. 3.2. Vgl. zur absolutistischen Verknüpfung von Machtausübung und Geheimnis Jordheim 2007, S. 334.

das alle Söhne Jenners auf dem linken Schulterblatt haben und das sich jeweils nur zur Reifezeit der Stettineräpfel rötet. (I/1,661)23 Biologie geht vor Gesinnung, das Wort des Lords vor den fraternalistischen Konzepten: Aber dies fiel mir auf, daß er uns bat, ihn für das, was er bisher für Flachsenfingen tun wollen, dadurch zu belohnen, daß wirs selber täten, und ihm eidlich zu versichern, daß wir in den Staatsämtern, die wir bekommen würden, seine kosmopolitischen Wünsche, die er uns schriftlich übergab, erfüllen würden, wenigstens so lange bis er uns wiedersähe. (I/1,1230, vgl. auch 1236)

Der von allen Fürstensöhnen geleistete Schwur gilt lebenslang, denn ein mögliches Wiedersehen hat der Lord durch seinen Suizid ins Jenseits verlagert. Der republikanische Klub erscheint damit – wie Mathieu zu Recht sieht – »mehr für Arbeitzeug irgendeiner andern verborgnen Hand [...] als für Arbeiter an einem Plane selber.« (I/1,1198) Die im Hesperus erfolgte Biologisierung der Parole der fraternité bedeutet keine Stärkung, sondern eine Schwächung der Horizontalen. Das Zeugnis und der leibliche Beweis der rechten Abstammung sind wichtig, nicht der fraternalistische Bund. Die republikanische Anstrengung der Söhne erscheint als ein von oben geleiteter Prozess, der allein der inneren Bildung, nicht aber einer gesellschaftlichen Veränderung dient. Deutlicher noch wird dies der Titan akzentuieren, in dem der eben noch für die Französische Revolution streiten wollende Albano als rechtmäßiger Thronerbe identifiziert wird und sich als solcher im absolutistisch geführten Hohenfließ als erstes um eine standesgemäße Heirat kümmert, die Realisierung des »Volksglück[s]« (I/3,820) damit auf später verschiebt.

3.2

Enttäuschtes Freundschaftsideal und der geheime Bund der Monarchisten im Titan

Freundschaft ist eines der großen Themen des Titan: Alle Hauptfiguren sind untereinander befreundet und fassen diese Freundschaften durchgehend in Geschwisterbegriffe. Im Unterschied zum Hesperus koppelt der Titan die Freundschaft wieder eng an das Geschwisterdispositiv. Genderspezifisch lehnen sich die Freundschaften des Titan ganz an den tradierten Freundschaftsdiskurs an, eine Freundschaft zwischen den Geschlechtern erscheint – am Beispiel von Albano und der Fürstin – als eine fehlgeleitete soziale Beziehung.24 Der Titan ist reich an Freund-

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Im Herbst sind die Fürstensöhne darum als solche lesbar (vgl. I/1,1226: »der endigende Oktober, der die Muttermäler gleichsam mit roter Dinte unterstrich«) und finden nach der Prüfung der Schulter von ›Jean Paul‹ mit dem Ruf: »Bruder! – wir sind deine Brüder« (I/1,1224) zusammen. Vgl. zur Thematik von Freundschaftsdiskurs und Geschlecht Teil II, Kap. 3.1.

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schaftsgeschichten, sowohl zwischen den Frauenfiguren als auch den Männerfiguren, die wichtigste dieser Geschichten ist jedoch diejenige zwischen Albano und Roquairol.25 Die Freundschaftsbeziehung wird von Albano in die Wege geleitet und steht unter der Maxime ›Ideal vor Wirklichkeit‹,26 die Enttäuschung »in der wirklichen Wirklichkeit« (I/3,716) ist damit vorprogrammiert. Wie Walt in den Flegeljahren findet Albano seinen »Freund [...] in seiner – Brust«, (I/3,107) projiziert sein inneres Bild auf die Realität und sucht letztere damit deckungsgleich zu machen.27 Vorbild für den imaginierten Freund ist er selbst, und die daran geknüpfte Figuration von Identität fasst er gemäß traditionellem Freundschaftsdiskurs in den Begriff des Bruders.28 Auf Identität gründet darum auch sein Werbungsschreiben an Roquairol, das mit der Wiederholung der Formel »Ich bin wie du« (I/3,233) beantwortet wird und die erste Begegnung der beiden Freunde in die Wege leitet. Diese Begegnung wird von einer ganzen Reihe von geschwisterlichen Elementen begleitet: Albano und Roquairol treffen sich anlässlich eines Maskenballes, zu dem Albano als Tempelritter geht, die Begegnung selbst findet auf einem herrnhutischen Gottesacker statt und dies in Albanos »Geburtsstunde«. In dieser vollendet seine Schwester ihre Prophezeiung, worauf Albano »seine eigne Stimme« nach ihm rufen hört, dann aber »den Bruder Lianens« erkennt. Und schließlich bindet der Erzähler die geschlossene Freundschaft an den platonischen Kugelmenschenmythos an: »Einige Menschen werden verbunden geboren, ihr erstes Finden ist nur ein zweites, und sie bringen sich dann als zu lange Getrennte nicht nur eine Zukunft zu, sondern auch eine Vergangenheit«. (I/3,249ff.) Die Requisiten und das Dekor institutioneller Bruderschaften wie der Tempelritter und der Herrnhuter, die Anbindung an das Existenzial der Geburt, der Geisterspuk mit der Schwester, die stimmliche Doppelgängerfiguration, die Identifizierung über die Geschwisterstruktur und die Verknüpfung mit dem Androgyniemythos, all dies wird aufgeboten, um diese Freundschaft im Geschwisterdispositiv zu verorten und damit deren Authentizität, Gleichheit und Kontinuität zu garantieren.29 Performativ versichert wird dieser Geschwistersubtext dann über die Liebesbeziehung zu der jeweiligen Schwester des Freundes.30 Doch das Maskentreiben und der Gespensterspuk zeigen zugleich auf, wie die Anbindung an den Geschwisterdiskurs auch zu beurteilen ist: als Täuschung.

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Vgl. zur Freundschaftsthematik des Titan u.a. Bosse 1970, S. 181ff. Vgl. I/3,109f.: »das Ideal eilet der Wirklichkeit [...] vor«. Vgl. zur Gestaltung dieses Motivs in den Flegeljahren Teil III, Kap. 3.3. Vgl. zu den Diskurslinien Identität und Bruder im Freundschaftsdiskurs Teil I, Kap. 2.4.4 und Teil II, Kap. 3.1. Zu den einzelnen Ebenen des Geschwisterdispositivs vgl. ausf. Teil I, Kap. 2. Vgl. dazu oben Teil III, Kap. 2.2.

Täuschung, Spiel und Inszenierung sind die Domänen Roquairols.31 Spielerisch passt er sich zuerst in Albanos Projektion ein, sucht sich dabei aber zugleich ein Residuum an Authentizität zu sichern. Mit »einem unwahren Herzen«, stets mit den Gefühlen anderer spielend sowie Ästhetizität und Wahrheit für äquivalent haltend, so charakterisiert der Erzähler Roquairol, belässt ihm aber in der Kohäsion von Liebe, Freundschaft und Geschwisterschaft ein authentisches Gefühl: »Seine Schwester hatt’ er bisher befreundet geliebt, so brüderlich, so ungehemmt, so wachsend.« (I/3,264f.) In dieser Engführung der drei für die Empfindsamkeit zentralen sozialen Beziehungen und individuellen Emotionen kommt es zu der angestrebten Gleichheit zwischen Roquairol und Albano. Die Schwester ermöglicht dem Ästhetizisten Roquairol Authentizität.32 Die Jean Paul-Forschung ist sich darüber einig, Roquairol als eine Kunstfigur zu lesen, die gegen Goethe und mit Jacobi die Grenzen einer außer sich nichts mehr anerkennenden Autonomieästhetik aufzeigt: Die Folgen reiner Selbstbezüglichkeit sind Amoralität, Misanthropie und der Verlust von Authentizität, gerade im emotionalen Bereich. Roquairol kann Gefühle nur als ästhetisch hergestellte, als Inszenierung, Drama und Roman erleben.33 Das trifft fraglos ins Zentrum der Figur. Übersehen worden ist dabei jedoch, dass sich die Beziehung zu seiner Schwester Liane nicht in dieses Konzept leerer Künstlichkeit einpassen lässt. Oder anders gesagt: Dass der egoistische Ästhetizist Roquairol seine Schwester »am [...] uneigennützigsten« (I/3,276) liebt, zeigt die Unhintergehbarkeit der Schwester in Jean Pauls Schreiben – jedenfalls für die Gefühlslage der hohen Romane. Die durch die Liebe zur Schwester ermöglichte Gleichheit der Gefühlslage von Albano und Roquairol hält jedoch nicht vor. Es ist wiederum die Figur der Schwester, die Klärung schafft und die Differenzen der beiden Freunde aufzeigt. Roquairol macht dies in seinem Aufklärungsbrief an Albano transparent:

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Zur Theatermetaphorik Roquairols vgl. u.a. Mauch 1974, S. 49ff., Döll 1995, S. 162ff., Berhorst 2002, S. 347ff. Vgl. auch I/3,276: Roquairol »war in seiner reinern Begeisterung [...] darum so selig, weil er seine Schwester unter allen Menschen am meisten und uneigennützigsten und am freiesten von poetischer Schwelgerei und Willkür lieben konnte«, sowie I/3,485. Zentral dafür sind die Stellen I/3, 97f., 261ff., wichtige Intertexte für Roquairol sind Goethes Werther, Jacobis Allwil sowie grundsätzlich Jacobis Fichte-Kritik. Vgl. zur Konzeption von Roquairol Berend SWI/8,XXXIVff., sowie v.a. Pfotenhauer 1997/98, der die Selbstbezüglichkeit der Figur überzeugend mit der Ornamentdebatte um 1800 verknüpft und zugleich zeigt, inwiefern die Weimarer Begegnung mit Goethe Pate für die Konzeption einer ästhetizistischen Figur stand. Zum Stand der früheren Forschung vgl. u.a. Wiethölter 1979, S. 229ff, hier zum Werther-Bezug S. 233, zum Stand der jüngeren Forschung vgl. Bergengruen 2003, S. 161ff., mit einem Fokus auf Jacobi. Jean Paul selbst hat Roquairol in diesem Sinne in seiner Korrespondenz mit Jacobi als ganz »darstellend[e] Natur« und »hohle runde Null an der Einheit des Säkuls« gedeutet und dabei den Bezug zu Jacobis Allwil explizit hergestellt, vgl. v.a. den Brief an Jacobi vom 21.7.1801, in dem er ihn übrigens mit »Geliebtester Bruder!« anredet, SWIII/4,89ff., hier S. 90, sowie denjenigen vom 13.8.1802, SWIII/4,165ff, hier S. 167f.

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Einmal muß es geschehen, wir müssen uns sehen, wie wir sind, und dann hassen, wenn es sein muß. Ich mache deine Schwester unglücklich, du meine und mich dazu; das hebt sich auf gegenseitig. [...] Jetzt sieh mich an, ich ziehe meine Maske ab [...]. So bin ich; so war ich; da sah ich dich und wollte dein Du werden – aber es geht nicht, denn ich kann nicht zurück, aber du vorwärts, du wirst mein Ich einmal – und da wollt’ ich deine Schwester lieben! (I/3,485ff.)

An der Figur der Schwester verhandeln Roquairol und Albano die Frage ihrer Gleichheit und Differenz. Albano, empfindlich getroffen vom Vergleich der »gemißhandelten Schwester[n]« (I/3,492) deutet die vorherige brüderlich-freundschaftliche Identifikation in feindliche Differenz um: »Verleumder, gegen deine Schwester hab’ ich nicht so gehandelt wie du gegen meine – ich habe sie nicht elend machen wollen, ich bin nicht wie du!« (I/3,493) Diese Spannung zwischen Gleichheit und Differenz der beiden Jünglingsfiguren hat einen werkgenetischen Ursprung. Jean Paul hat die Figur Roquairol aus den »semiotischen Verwerfungen« Albanos generiert: Die Eigenschaften, die Roquairol charakterisieren, waren zuerst als dunkle Seite der Hauptfigur des Titan gedacht, bevor diese spannungsreiche Konzeption sich 1796 in zwei Figuren auseinander dividierte.34 Die Freundschaftsformeln des »Ich bin wie du« oder vom »verbunden geboren«-Sein lassen sich darum nicht nur als Diskurszitate identifikatorischen Freundschaftspathos, sondern auch als autopoetologische Reflexion lesen. Auch die Rede vom Freund als Bruder ist damit mehr als eine leere Formel, nämlich der Versuch, diese genetische Zusammengehörigkeit struktural aufzufangen. Doch anders als Gustav und Guido der Loge, die diese Spannung zwischen Figur und Zeichen, Innerlichkeit und Äußerlichkeit, Original und Kopie figural als Brüderpaar verhandeln, verbleiben Albano und Roquairol allein struktural und rhetorisch »verschwistert«.(I/3,276)35 Albanos weitere Freundschaften zu Schoppe und Dian werden ebenfalls nominal im Geschwisterdispositiv verortet. Doch hier ist der Anschluss nur unter Vorbehalten zu machen. Emotional drückt die Bruderbezeichnung in diesen beiden Freundschaften die Gegenseitigkeit und Nähe aus, die die Beziehungspartner damit verbinden. Generationell respektive bildungsmäßig jedoch sind die Beziehungen auf der Vertikalen und nicht der Horizontalen situiert: Schoppe und Dian sind beide Erzieher Albanos. Als solche nun haben sie entscheidenden Anteil an Albanos republikanischen Interessen, die er mit seinen Vorgängerfiguren aus der Loge und dem Hesperus teilt. Doch im Unterschied zu diesen erfolgt die Vermittlung republikanischer Inhalte ohne Bezug zur sozialpolitischen Gegenwart und nicht über eine institutionelle Bruderschaft oder einen revolutionären Klub. Der Titan führt das Republikthema als römisch-griechische Historie ein, die Albano von klein auf 34

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Pfotenhauer 1997/98, bes. S. 26, dazu schon Berend SWI/8,XXXVIIff., darüber hinaus arbeiten auch Golz 1996, S. 199ff. und Berhorst 2002, S. 342ff. die Polarität der Figuren über die ihnen zugeordneten Zeichenwelten heraus. Zu den Verhandlungen über Gustav und Guido in der Loge vgl. Teil II, Kap. 1.2.

in einer Weise internalisiert, die ihn zu einem unzeitgemäßen – oder genauer – atemporalen Heros werden lässt. Für Albano substituieren antike Vergangenheit und republikanische Zukunft die defizitäre Gegenwart: »Da wurde in Albano die fremde Vergangenheit zur eignen Zukunft«. (I/3,35)36 Albanos Italien-Reise wird gemäß dieser Maxime zu einer temporalen und topographischen Überblendung von Rom und Paris, die den Entschluss motiviert, Freiheitskämpfer auf Seiten der ›neuen Römer‹37 zu werden und in »Galliens [...] Freiheitskrieg« zu ziehen. (I/3,585) Dieser Entschluss, den Albano in einem Brief an Schoppe offenbart, wird auf der Handlungsebene kaum motiviert und hat darum die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen. Dabei hat sich gezeigt, dass die Parallelisierung von römischer und französischer Republik einerseits in der zeitgenössischen Metaphorik beheimatet ist38 und sich andererseits als durchgehender Motivstrang durch den Titan zieht. Zusammen mit der kontinuierlichen Überblendung von Albanos individueller Lebensgeschichte mit archaisch-heroischen Narrativen bereitet dieser Motivkomplex hintergründig den vordergründig abrupt ausfallenden Umschlag vom introvertierten Helden zu einem mit Tatendurst vor: »Ich bin verändert bis ins Innerste hinab und von einer hineingreifenden Riesenhand«, schreibt Albano an Schoppe, »es gibt etwas Höheres, Tun ist Leben«. (I/3,583f.)39 Neben dem mitlaufenden Antike-Subtext, der diese Veränderung in Gang bringt, sind es konkret die Freunde Schoppe und Dian, die daran Anteil haben. Auf der Handlungsebene zeigt sich dies in einer figuralen Koinzidenz: Auf Dian trifft Albano unverhofft auf dem Forum Romanum und geht mit ihm im Konkreten die Zeugen jener Vergangenheit durch, die er »in der Kinderzeit« so oft mit ihm imaginiert hatte. (I/3,575) Und an Schoppe teilt er seine Veränderung mit, obwohl er von ihm seit seiner Abreise aus Deutschland nichts mehr gehört hat. Doch genau nach Schoppe sehnt sich Albano gerade zu diesem Zeitpunkt sehr und ihm ist, »als hab’ er [...] in einem fort mit ihm zusammengelebt und sich fester verbrüdert.« (I/3,583) Diese Verbrüderung, die auch Dian einschließt, meint eine emotionale und intel-

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Vgl. auch I/3,581: »Nein, wir haben keine Gegenwart, die Vergangenheit muß ohne sie die Zukunft gebären.« Dass der Titan ein Roman über die Zeit ist, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anamorphotisch ineinander spielen, zeigt minutiös und überzeugend Berhorst 2002, S. 304ff. auf. Vgl. I/3,572f. Insbesondere das geschichtsphilosophische Verständnis und die ästhetischen Umsetzungen des Republikanismus im ausgehenden 18. Jahrhundert sind von der Parallelisierung von Antike und Moderne geprägt, konkret haben sich jedoch auch die französischen Revolutionäre auf die römische Republik und deren Rhetorik und Ikonographie bezogen, vgl. dazu Wölfel 1989, S. 140ff., Golz 1996, S. 158, Jordheim 2007, S. 367. Vgl. dazu Golz 1996, S. 155ff., der die Überblendung von Antike und Moderne des Titan zu Jean Pauls Herder-Rezeption in Beziehung setzt, sowie Berhorst 2002, S. 353ff., ergänzend dazu Jordheim 2007, S. 369ff. Grundsätzlich zum Revolutionsmotiv bei Jean Paul vgl. wiederholt und in deutlicher Absetzung zu Harich 1974, Wölfel 1989, sowie Golz 1996, S. 163ff.

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lektuelle Partizipation an einer überzeitlich verstandenen fraternité, die konkreter politischer Zusammenhänge weitgehend und Handlungsweisen ganz entbehrt. Zwar sind beide Lehrerfiguren Republikaner im Geiste, doch dies auf ihre je spezifische Weise: Dian als Herder-Allusion und Wiedergänger der Antike mit Bezug zu den aktuellen griechischen Freiheitskämpfen vereinigt Griechenland und Rom zu einem Humanitätsideal und in erster Linie zu einem ästhetischem Gleichmaß, zu dem die republikanische Gesinnung quasi als Zutat gehört. 40 Schoppe entwickelt dagegen jenen individuellen Republikanismus weiter, für den Viktor im Hesperus schon plädiert hatte, 41 und setzt die drei Postulate der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in humoristischer Auseinandersetzung mit den transzendentalphilosophischen Entwürfen von Kant, Fichte und Schelling eigenwillig um. 42

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Vgl. I/3,131: »Ein Jüngling, der den ersten Griechen sieht, kanns anfangs gar nicht recht glauben, er hält ihn für klassisch-verklärt und für einen gedruckten Bogen aus dem Plutarch. Wenn ihm nun gar das Herz so brennt wie meinem, und wenn sein Grieche noch dazu ein spartischer Nachkömmling ist wie Dian, nämlich ein unbesiegter Mainotte, der im klassischen Doppelchore der ästhetischen Singschule, in Atiniah (Athen) und Roma erzogen worden«; zu Dians Charakterisierung und Erziehungsmaximen vgl. ebd. ff. Der Begriff des Mainotten ist im zeitgenössischen Verständnis gleichbedeutend mit Freiheit und steht für den erfolgreichen Widerstand gegen die osmanische Fremdherrschaft, aus historischer Perspektive ist damit der Beginn der griechischen Freiheitskämpfe (1821–29), die so genannte Orlow-Revolte von 1770, an der sich die Bewohner der Halbinsel Mani beteiligten, bezeichnet. Zum zeitgenössischen Bild über die Mainotten vgl. Manso 1805, Beylagen, S. 128ff. Zu den Herder-Anspielungen und zur Charakterisierung Dians vgl. Berhorst 2002, S. 313ff. Das Bild Dians als eines ästhetischen Republikaners bestätigt auch seine Zustimmung zu Albanos Plan, nach Frankreich zu ziehen: »Hätte ich mir nicht Kind und Kegel aufgehalset, bei Gott! ich zöge selber mit.« Bei dieser Aussage interessiert allein deren rhetorische und ästhetische Qualität: »schön gesagt« erwidert Albano, und Dian: »Hab’ ich gut gesprochen, Albano?« (I/3,589) Vgl. I/1,928: »ein jeder Mensch von Bildung und Tugend lebe in einer republikanischen Regierform trotz den Verhältnissen seines Leibes«. Vgl. zu Schoppes individuellem Republikanismus ausführlich Albrecht 2005, S. 223ff., bes. S. 267ff. Inwiefern Schoppe, der über sein Pseudonym Leibgeber als Verfasser der im Anhang des Titan publizierten Clavis fichtiana zeichnet, die zeitgenössischen philosophischen Theorien im Medium des Humors diskutiert, ist ein zentrales Thema der Forschung. Vgl. dazu u.a. Wiethölter 1979, S. 235ff., Müller 1983, S. 218ff., Bergengruen 2003, S. 200ff. Die Figur Schoppe ist in so offensichtlicher Weise mit der transzendentalphilsophischen Diskussion im Allgemeinen und Fichtes Theoremen der Ich-Philosophie im Besonderen verknüpft, dass ihre Positionierung im Geschwisterdispositiv von dieser Einbindung nicht abstrahieren kann. Eine detaillierte Aufarbeitung der Koinzidenzen, Abgrenzungen und Verschiebungen zwischen Ich-Philosophie und Figurationen der Geschwisterschaft ist hier jedoch nicht zu leisten. Fraglich ist jedoch, welcher Mehrwert an Erkenntnis sich aus einer so perspektivierten Analyse ziehen ließe, ist der Fokus der Doppelgängerfiguration doch ein explizit philosophischer, (vgl. v.a. I/3,766f.) der die mit der Figuration verknüpfte Geschwisterisotopie nur sekundär bedient. Und dort, wo Schoppe im Handlungsverlauf unmissverständlich mit Geschwisterfiguren in Beziehung gesetzt wird, handelt es sich um retardierende Elemente, die von der Erzähldynamik inzwischen weiter entwickelt worden sind: So hält der im Zeichen einer

Anders als in der Loge oder dem Hesperus kommt es zu keinem Zusammenschluss der drei Republikaner, vielmehr verzögert gerade das Warten auf Schoppe, mit dem Albano »nach Frankreich« (I/3,766) ziehen will, die Umsetzung der Handlungsabsicht so lange, bis die endgültige Aufdeckung der Genealogie43 den Kriegseintritt auf Seiten der Nachbarnation obsolet macht: »Du schickst den Frieden – ich soll nicht in den Krieg – wohlan, ich habe mein Los!« (I/3,811) Dass es trotz Albanos Tatendurst um Geschwisterlichkeit als innere Haltung und nicht als sozialpolitische Realität geht, klärt sich endgültig wiederum an der Figur der Schwester. Schon in Italien hatte ihm Julienne das Unverhältnismäßige seines Lebensziels vor Augen gestellt: Dein Emigrier-Projekt nach Frankreich ist ein Faux-brillant. Kannst du denn glauben, daß man es dir zulässet? daß eine Prinzessin-Schwester von Hohenfließ dem Bruder Pässe zu einem demokratischen Feldzuge unterschreibt? Nimmermehr! Und gar kein Mensch, der dich liebt! (I/3,653)

Zurück in Hohenfließ und anerkannter Thronerbe, lässt Albano so schnell von seiner Kriegsabsicht, wie er sie seinerzeit gefasst hatte. Anstelle der Realisierung des »Volksglück[s]« (I/3,820) über den Freiheitskampf rückt der Appell an eine universale Geschwisterlichkeit als innere Haltung, den Julienne als Schlusswort des Titan mit einer Anspielung auf Immanuel Kants Schrift Zum ewigen Frieden (1795/6) formuliert:44 »wacht auf, meine Geschwister!« – (I/3,830) Damit schließt sich der Bogen zum Widmungsschreiben am Romananfang, in dem ebenfalls das Geschwistermodell Liebe, Freude und Harmonie im menschlichen Zusammenleben garantieren soll. 45 Zugleich hat sich die Strategie, mit der Albano der Freiheit dienen will, um 180 Grad gedreht: Statt des Krieges im Namen einer Regierungsform und Nation stehen nun – sofern die bei Kant entwickelten Maximen tatsächlich zum Tragen kommen – die Einführung einer republikanischen Verfassung im eigenen Staat und Verhandlungen unter den als gleichberechtigt verstandenen Völkern an, um einen echten und dauernden Frieden im Staat und zwischen den Staaten zu sichern. 46 Wie Albanos Regierungsprogramm tatsächlich aussehen wird, bleibt jedoch offen. Wir dürfen wohl mit einem tugendhaften, aufgeklärten und reformfreudigen

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verrückten Wahrnehmung stehende Schoppe beispielsweise an der inzestuösen Szenographie um Linda und Albano fest, zu einem Zeitpunkt, an dem sich diese weitgehend überlebt hat. Vgl. Teil III, Kap. 1.2. Vgl. I/3,830: »›schauet auf zum schönen Himmel,‹ (rief die freudetrunkne Schwester den Liebenden zu) ›der Regenbogen des ewigen Friedens blüht an ihm‹«. Genauer sind es hier wie dort »Unsterbliche« (I/3,830, vgl. I/3,11) sowie die »Eltern« (I/3,830) respektive Mütter, (vgl. I/3,11) die gemeinsam als Geschwister und mit den im weiteren Sinn als Geschwister verstanden Menschen die erträumte Harmonie garantieren sollen. Vgl. zum Widmungsschreiben Teil III, Kap. 1.2. Vgl. Kant 1995.

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Fürsten rechnen, wie die wiederholten Hinweise auf die in diesem Sinne skizzierte Gestalt Friedrichs des II. plausibel machen. 47 Die konkreten politischen Schritte, die Albano unternehmen will, erscheinen allerdings eher restaurativer denn progressiver Art, insbesondere die »Beförderung alter Feinde, besonders des verständigen Froulay«. Diese eine Stelle, in der am ehesten ein politisches Programm fassbar wird, hat in der Forschung viel zu reden gegeben. Gewöhnlich wird versucht, den Bruch, den die Nennung Froulays direkt nach der Maxime »höchster Gerechtigkeit« und gegenüber der im Erzähltext ausschließlich negativen Charakterisierung des intriganten Höflings bedeutet, so zu glätten, dass Albano hier eine Verbindung von platonisch-philosophischer Theorie und konkreter politischer Praxis anstrebe. (I/3,820)48 Bei einem Meister der Satire wie Jean Paul wäre aber doch zu bedenken, ob die Qualifizierung des bisher im Zentrum von Hof- und Adelssatire stehenden Ministers als ›verständig‹ nicht als Ironiesignal zu lesen und das Bewegungsverb ›befördern‹ in seinem ursprünglichen Sinn als Verschiebung von einem Ort zum anderen stark zu machen, also als ›wegbefördern‹ zu lesen wäre. 49 Da uns der Titan darüber im Unklaren lässt, was letztlich mit Froulay geschieht, lässt sich nicht entscheiden, welche Lesart die zulässigere ist. Im Kontext von Albanos hohen moralischen Ansprüchen an Politik wäre die letztere aber die plausiblere.50

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Vgl. dazu Golz 1996, S. 210ff., Jordheim 2007, S. 356ff. In diesem Sinne Golz 1996, S. 211, Bergengruen 2003, S. 194ff., Jordheim 2007, S. 349ff. Wölfels 1989, S.200–208, ausführliche Interpretation dieser Stelle, die auch die ältere Forschung einbezieht, sucht den Widerspruch dagegen nicht zu vermitteln, sondern Albanos Entschluss als rein moralischen und nicht politischen zu verstehen. Hier die viel diskutierten Zeilen in extenso: »Viel verwundet und durch sich gereinigt ging Albano nach diesen Erzählungen nachmittags ab ins zwieträchtige Reich, aber mit heiterer heiliger Kühnheit. Er war sich höherer Zwecke und Kräfte bewußt, als alle harten Seelen ihm streitig machen wollten; aus dem hellen, freien Ätherkreise des ewigen Guten ließ er sich nicht herabziehen in die schmutzige Landenge des gemeinen Seins – ein höheres Reich, als was ein metallener Zepter regiert, eines, das der Mensch erst erschafft, um es zu beherrschen, tat sich ihm auf – im kleinen und in jedem Ländchen war etwas Großes, nicht die Volksmenge, sondern das Volksglück – höchste Gerechtigkeit war sein Entschluß und Beförderung alter Feinde, besonders des verständigen Froulay. – So sprang er nun zuversichtsvoll aus seinem bisherigen schmalen, nur von fremden Händen getriebnen Fahrzeug auf eine freie Erde hinaus, wo er allein, ohne fremde Ruder, sich bewegen kann und statt des leeren kahlen Wasser-Weges ein festes, blühendes Land und Ziel antrifft.« (I/3,819f.). Vgl. dazu die Vielzahl an Composita von »weg« mit Verben der Bewegung bei Grimm, Bd. 27, Sp. 2931ff. Zumal die Argumentationen viel an Material aufbieten müssen, um die damit verbundene Kehrtwende in Albanos politischer Meinung zu rechtfertigen: So rekurriert Golz 1996, S. 274f. auf Wielands Gespräche unter vier Augen (1798), in denen die postrevolutionären Alternativen Republik oder Monarchie diskutiert und der Monarchie der Vorzug gegeben wird; Bergengruen 2003, S. 194ff., auf den Theorie-Praxis-Streit von Platon bis Kant, und Jordheim 2007, S. 381ff. auf die Theorie politischer Romantik, wie sie Carl Schmitt entwickelt hat, sowie den Gattungswechsel vom Bildungs- zum Staatsroman.

Bleibt letztlich offen, inwiefern republikanische oder sogar demokratische Elemente aus Albanos Sozialutopie kosmopolitischer Geschwisterlichkeit in die politische Praxis transferiert werden, so sind die im Romantext auftretenden institutionellen Geschwisterschaften und Geheimbünde, die in der Loge und im Hesperus ebendiese Umsetzung erreichen wollten, im Titan alles andere als republikanisch gesinnt.51 Da ist zum einen Albanos vorgeblicher Vater, Gaspard de Cesara, seines Zeichens Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies und damit Angehöriger einer der exklusivsten und prestigeträchtigsten Bruderschaften überhaupt. 1430 von Philipp dem Guten zur Sicherung der burgundischen Herrschaft gegründet, gehörten bevorzugt Könige und Herzöge zu den maximal 30, ab dem 16. Jahrhundert dann 50 handverlesenen Mitgliedern. War der Orden innerhalb auch durch egalitäre Strukturen definiert, so entfaltete er durch seinen Zweck – die Sicherung der burgundischen, später dann der habsburgischen Herrschaft sowie der katholischen Kirche – und die Sozialstruktur seiner Mitglieder einen monarchistischen und elitären Charakter, der sich auch in den prunkvollen Selbstdarstellungen spiegelt.52 Dass Albanos leiblicher Vater, der Fürst von Hohenfließ, als Souverän eines kleinen deutschen Fürstentums, wie es noch viele andere gab, für seinen Günstling Graf Cesara die Mitgliedschaft darin erwirken konnte,53 wirft darum – will man es nicht einfach als erzählerische Unbedarftheit abtun – ein neues Licht auf die Bedeutung des Hauses Hohenfließ im mitteleuropäischen Kontext einerseits und das Beziehungsnetz des Grafen Cesara andererseits. Weniger exklusiv als die Vliesritter, jedoch ebenso machtorientiert sind die im Romantext auf Seiten des Hauses Haarhaar mitwirkenden Deutschritter, die mit Bouverot vertreten sind. Die auf die Zeit der Kreuzzüge zurückgehende geistliche Ordensgemeinschaft, die ursprünglich vor allem karitativ tätig war, beteiligte sich im 13. Jahrhundert an der deutschen Ostkolonisation und verfügte zeitweise sogar über einen eigenen Territorialstaat auf dem Baltikum. Zur Erzählzeit des Titan hatte der Orden immer noch weit reichenden Landbesitz und entsprechende Machtansprüche vor allem im süddeutschen Raum, in dem die fiktiven Fürstentümer Haarhaar und Hohenfließ ja angesiedelt sind. Die Ordensbrüder selbst waren zu Armut und Keuschheit verpflichtet, was Bouverot im Titan mit seinen persönlichen Bereicherungsabsichten und Heiratsplänen zu unterlaufen sucht.54 Der Vliesritter Gaspard wie der Deutschritter Bouverot sind die politischen Akteure, mit denen die konkurrierenden Fürstenhäuser Hohenfließ und Haarhaar die Sicherung der eigenen Dynastie mit Geheimplänen umzusetzen versuchen. Zwar

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Zwar werden die radikal demokratischen Herrnhuter auch genannt, stellen aber nur das Dekor für die Verbrüderungsszene zwischen Albano und Roquairol oder dienen als witziges Vergleichsmaterial: handlungsrelevant sind sie im Titan nicht. Vgl. zur Geschichte, dem Selbstverständnis und der Wirkung des bis heute fortbestehenden Ordens vom Goldenen Vlies Ordenskanzlei 2007. Vgl. I/3,808. Zum deutschen Orden vgl. Sarnowsky 2007.

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geht der Erzähltext nicht darauf ein, doch im Prinzip haben dabei beide Agenten mächtige Ordensverbindungen im Rücken, auf deren Unterstützung sie im Bedarfsfall zurückgreifen könnten. Insofern ist das Vorgehen der beiden Häuser im Prinzip analog und unterscheidet sich allein in der Wahl der Mittel: Während Bouverot im Auftrag Haarhaars auch nicht vor einem Giftmord zurückschreckt, sind die von Gaspard und dem Haus Hohenfließ eingesetzten Mittel doch subtiler. Zwar sind auch hier Täuschung und Intrige zentral, doch werden die Mittel im Hinblick auf den Zweck – die Erziehung eines gesunden und moralisch guten Thronfolgers – geheiligt. Zu diesen beiden implizit an der Sicherung der Monarchie mitwirkenden Ritterorden kommt im Titan ein zu demselben Zweck tatsächlich geschlossener Geheimbund: Albanos Eltern schließen sich mit den Eltern Lindas zusammen, um den Thronerben von Hohenfließ im Verborgenen zu erziehen und gesund ins Erwachsenenalter zu bringen.55 In dieser Arkangesellschaft sind die Frauen paritätisch vertreten, ja mehr noch, die Gründungsinitiative und der Zweck der Gesellschaft gehen von den beiden Frauen aus. Die Ausführung der geplanten Spukerscheinungen wird dann jedoch einem etwas weniger angesehenen Mitglied, nämlich Gaspards Bruder überlassen. Das den Bund konstituierende Geheimnis bleibt im Unterschied zu den in der Öffentlichkeit breit debattierten und selbst offensiv Öffentlichkeitsarbeit betreibenden realhistorischen Geheimbünden so geheim, dass ohne das mütterliche Testament niemand von ihm wissen würde.56 Immerhin einmal im Erzählverlauf stellen Albano und Julienne Mutmaßungen über den »dunkle[n] Zauber-Bund«, dessen »Zweck, [...], Leiter« und »Obere[n]« an und zeigen damit ihre grundsätzliche Vertrautheit mit dem zeitgenössischen Geheimbundwissen. (I/3,629) Das Bundesziel wird erreicht zu einem Zeitpunkt, als drei der vier Gründungsmitglieder schon verstorben sind: Albano besteigt den Thron.57 Allerdings nicht ganz reibungslos: Die dreifach gefertigten Dokumente über Albanos Abstammung reichen zur Anerkennung nicht aus, auch gegen eine zusätzliche kaiserliche Absicherung macht Haarhaar Einwendungen, und erst von Gaspard ausgeübter politischer Druck bringt das konkurrierende Fürstentum zum Einlenken. Dass Gaspard über das Druckmittel, ein offenbar exklusives Wissen um die Anschläge auf Luigis Leben verfügt, lässt vermuten, dass ihm hierfür sein Beziehungsnetz dienlich war.58 Damit ist das in der Loge etablierte und im Hesperus dann biologisierte Modell institutionalisierter Geschwisterschaft als Träger einer republikanischen Reform

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Genauer lässt sich Gaspard auf diesen Bund nur unter der Bedingung ein, dass seine Tochter Linda später einmal den Thronerben Albano heirate. Vgl. I/3,809. Vgl. I/3,807ff. Vgl. dazu auch Teil III, Kap. 1.2. Vgl. I/3,808ff.,817.

pervertiert zum exklusiven staatstragenden Geheimbund. Spielt die Geheimbundthematik in den nun zu besprechenden Flegeljahren nur noch eine marginale Rolle, so erfährt sie im so genannten »Traumgeber-Orden« (I/6,689) aus dem Spätwerk Komet (1820–22) eine satirische Wiedergeburt: Hier konsolidiert sich die politische Subversion nun im nicht mehr steigerbaren Geheimen, im Traum.

3.3

Der Bruder als Freund und der Bund der Akzessit-Erben in den Flegeljahren

Wie im Titan so ist auch in den Flegeljahren die Freundschaft ein zentrales Thema. Doch während der Titan verschiedene Freundschaftsbeziehungen in seinem Plot erzählt, verhandeln die Flegeljahre Freundschaft zuerst einmal selbstreflexiv als Romanthema. So soll der erste Band des »Hoppelpoppel« ganz der Freundschaft gewidmet sein: Da den Abend vorher war ausgemacht worden, daß der Held des Doppelromans einen langen Band hindurch sich nach nichts sehnen sollte als bloß nach einem Freunde, nicht nach einer Heldin: so ließ er ihn es zwei Stunden, oder im Buche selber so viele Jahre lang, wirklich tun; er selber aber sehnte sich auch mit und über die Maßen. Das Schmachten nach Freundschaft, dieser Doppelflöte des Lebens, holt’ er ganz aus eigner Brust: denn der geliebte Bruder konnte ihm so wenig wie der geliebte Vater einen Freund ersparen. (I/2,685)

Damit ist die Freundschaftsthematik der Flegeljahre zweifach exponiert: als Transposition vom Roman auf das Leben einerseits und als Verhandlung der Frage, ob der Bruder zugleich auch der Freund sein kann, andrerseits. Das Verhältnis von Imagination zu Realität wird in den Flegeljahren als burleske Variation von Albanos imaginärem Freundschaftsideal und seiner konkreten Erfahrung mit Roquairol gestaltet.59 Walt errichtet in seiner durch das Schreiben angeregten Phantasie das »Götterbild eines Freundes [...], wie ers für sich brauchte.« (I/2,686) In dieses »Vorträumen« (ebd.) bricht Klothar als das Reale ein, das Walt mit seiner Imagination deckungsgleich zu machen sucht. Während Walt die imaginierten Gefühle wirklich durchlebt und sie in narzisstischer Bespiegelung für erwidert hält,60 ohne dafür

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Der intratextuelle Bezug wird durch die Charakterisierung des imaginären Freundes, (I/2,686f) die zentrale Merkmale Albanos benennt, explizit. Vgl. dazu auch Berhorst 2002, S. 389. Der selbstreflexive Gestus ist damit ein doppelter: Sowohl innerhalb der Flegeljahre als Verhältnis des Romans im Roman zur erzählten Geschichte, als auch auf der Ebene der Werke Jean Pauls, als Bezug der Flegeljahre zum Vorgängerroman Titan. Vgl. z.B. I/2,751: »Er und der Graf trugen nun – nach seinem Gefühl – die Ritterkette des Freundschafts-Ordens miteinander; nicht etwan, weil er mit ihm gesprochen [...], sondern weil Klothar ihm als eine große, freie, auf einem weiten Meere spielende Seele erschien [...].« Zu Walts narzisstischer Gefühlsstruktur vgl. Dettmering 2006, S. 95 und Berhorst 2002, S. 389.

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eine Bestätigung durch ein Gegenüber zu erhalten, reagiert Vult ob Walts Freundschaftsemphase für den jungen Grafen »gekränkt«. In seiner Imagination gebührt ihm die Stelle des einen und einzigen Freundes in Walts Herzen: Es hat mich ungemein und diese ganze Nacht durch gekränkt, lieber Bruder [...], daß du von der Freundschaft deines Bruders nicht so wie er von deiner befriediget wirst, sondern schon eine neue suchst. Daß ich deinetwegen im dummen Haßlau bleibe, [...] daraus kann nicht viel gemacht werden; aber daß ein Mensch, dem auf seinem Reisewagen das Herz halb ausgefahren, gerädert, ja abgeschnitten worden, doch für dich allein eines mitbringt, das darf er anrechnen zumal in einem Tausche gegen deines, das zwar unbeschreiblich rein und heiß, aber auch sehr offen – der Windrose aller Weltgegenden – dasteht. Und nun wirds gar einem Grafen aufgemacht, der als Freund den Thron besteigt, indes ich auf dem Geschwister-Bänkchen oder Kinder-Stühlchen sitze – o Bruder, das durchbrennt mich. (I/2,711f.)

Für Vult ist dies der zentrale Punkt der Beziehung, und er wiederholt pointiert, dass er sich nicht »mit lumpiger Geschwister-Liebe abzufinden« bequeme, sondern als Bruder zugleich der Herzensfreund sein will. (I/2,815) Vult positioniert damit die Beziehung zum Bruder mitten in die zeitgenössischen Verhandlungen um Liebe und Freundschaft, die durch den Einbezug der Geschwisterschaft einen neuen Akzent erhalten haben.61 Geschwisterschaft mit ihrer horizontalen Beziehungsstruktur und den Epitheta der Kontinuität, Stabilität und Vertrautheit akzentuiert im ausgehenden 18. Jahrhundert die diskurshistorische Verbindung von Freund und Bruder neu: Hatte Montaigne, der diese Formulierung als Beispiel des frei gewählten, einzigartigen, »gleichgestimmten und gleichgesinnten« Freundes62 prominent gemacht hatte, einen ideellen, auf Identität zielenden Bruderbegriff von einem differenzlogisch gedachten eigentlichen Bruder getrennt, so ist etwa bei Jacobi der eigentliche Bruder gerade durch die Faktoren, die eine Geschwisterbeziehung ausmachen, dazu prädestiniert, der wahre Freund zu sein.63 Um 1800 haben sich die sozialen Beziehungen und individuellen Emotionen der Liebe, Freundschaft und Geschwisterschaft gegenseitig so weit infiziert, dass die Begriffe nur noch schwer voneinander zu trennen sind. Die Flegeljahre leisten in diesem Beziehungs-›Hoppelpoppel‹64 insofern eine Klärung, als sie die verschiedenen Diskursstränge auf ihre Ursprünge hin zurück buchstabieren: Die Zwillinge Vult und Walt sind weder ›gleichgestimmt‹ noch ›gleichgesinnt‹ sondern – wie es Montaigne für eigentliche Geschwister beschreibt – gänzlich verschieden vonein-

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Vgl. Teil I, Kap. 2.4.4 und Teil II, Kap. 3.1. Vgl. Montaigne 1988, S. 101. Vgl. ausf. zu diesen Zusammenhängen Teil II, Kap. 3.1.1. Hoppelpoppel ist – je nach regionaler Verortung – ein Getränk oder ein Auflauf, in dem verschiedene Zutaten gemischt werden. Die ältere – und Jean Paul bekannte (vgl. I/2,1008) – Bedeutung ist diejenige eines Punschgetränks, in dem Rum, Eier und Zucker »durch anhaltendes schlagen und rühren« zu einer schaumigen Masse durchmischt werden. Vgl. Grimm, Art. »Hoppelpoppel«, Bd. 10, Sp. 1799.

ander. Aus dieser Differenz wollen sie zu einer Einheit werden und sich – so jedenfalls Vults Ansinnen – gegenseitig vom Bruder zum Freund erheben. Durch ihren Bruderstatus bringen sie dafür eine spezifische Ausgangslage mit: Sie stehen in einer unauflöslichen Beziehung, sind sozial gleich, haben eine gemeinsame Vergangenheit und als Figuren der Empfindsamkeit lieben sie sich grundsätzlich. Auf dieser Basis wollen sie – immer noch gemäß Vults Ambitionen – durch den gegenseitigen Austausch im Allgemeinen und das gemeinsame Projekt des Schreibens im Besonderen aus differenten Brüdern zu einer Freundschafts-Einheit werden. Die Rezeptur, nach der die Flegeljahre dabei vorgehen, findet sich bis ins Detail in Jacobis Woldemar vorgeschrieben:65 Ich liebte dich immer vom Grund der Seele [...] Und so muß es gehen, wenn Liebe zu Freundschaft empor kommen will. Lieben – bis zur Leidenschaft, kann man jemand in der ersten Stunde, da man ihn kennen lernt: aber Eines Freund werden – das ist ein ander Ding. Da muß man erst oft und lang in dringende Angelegenheiten miteinander verwickelt seyn, sich vielfältig erproben, bis gegenseitig Wesen und Thaten zu einem unauflöslichen Gewebe sich in einander schlingen, und jene Anhänglichkeit an den ganzen Menschen entsteht, die nach nichts mehr fragt, und von sich nicht weiß – weder woher noch wohin.66

Solches ist in einem Brief Woldemars an seinen Bruder Biedermann zu lesen. Die Stationen, die Woldemar für die Entwicklung von der – den empfindsamen Charakteren per se gegebenen – Geschwisterliebe hin zur identifikatorischen Freundschaft nennt, lassen sich in den Flegeljahren konkret benennen: Im Abarbeiten der Testamentsklauseln, in Walts Werben um Klothar, in beider Brüder Liebe zu Wina und im Eintauchen in die Kindheitserinnerungen sind sie »miteinander verwickelt« und »erproben« sich und ihre Gefühle zueinander »vielfältig«. Vor allem aber gehen sie das »unauflösliche Gewebe« aus »Wesen und Thaten« aktiv an: Im Schreiben des gemeinsamen Textgewebes,67 in das Walt seinen empfindsamen und Vult seinen humoristischen Charakter (»Wesen«), performativ umgesetzt als Schreibweisen (»Thaten«), einbringen. Gemäß dieser von Vult angestrebten Strategie ist also der Freund – anders als im tradierten Freundschaftsdiskurs – nicht wie der Bruder,68 vielmehr soll der Bruder

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In der Loge hatte Jean Paul Jacobis Texte ja explizit mit einer Rezeptur für sein eigenes Schreiben verglichen: »Ebenso kann man mit einem Pfund Leibnizischer, Rousseauischer, Jakobischer Gedanken ganze Schiffkessel voll schriftstellerischen Blätterwerks kräftig kochen.« (I/1,152) Vgl. ausf. zu den intertextuellen Verweisen zwischen der Loge und Jacobis Woldemar Teil II, Kap. 3.1.1, 3.1.2. Jacobi, Woldemar, S. 33f. Vgl. zur poetologischen Gewebemetaphorik z.B. I/2,990. Dass Jean Paul die Gewebemetaphorik exzessiv nutzt, lässt sich durch alle seine Texte hindurch zeigen, vgl. z.B. zur textilen Metaphorik des Siebenkäs Dangel-Pelloquin 2008, zur poetologischen Verwendung bes. S. 115–121. Diesen Konnex arbeitet vor allem Derrida heraus, vgl. Derrida 2002, S. 10 und ausf. dazu Teil II, Kap. 3.1.

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wie der Freund sein. In Jacobis Woldemar hatte sich die gesuchte identifikatorische Freundschaft in der Geschwisterschaft jedoch als eine uneinlösbare Projektion entlarvt. Entscheidend hierfür war die Unvereinbarkeit des Exklusivitätsanspruches der Freundschaft mit der Kontingenz der Geschwisterschaft: Einem wählbaren und singulären Freund, der das ego identifikatorisch bestätigt, steht die existenziell gegebene, inklusive und prinzipiell offene Reihe von Geschwistern gegenüber, in der das ego auf seine Kontingenz verwiesen wird. Wenn Jean Paul dieses Konfliktschema wieder aufnimmt, dann nicht umsonst am Beispiel von Zwillingen. Denn damit verändert sich die Ausgangslage auf Seiten der Geschwisterschaft: Zwillinge unterliegen zwar wie alle Geschwister der Kontingenz insofern, als sie andere Geschwister haben können. Doch dies tangiert den spezifischen Zwillingsstatus nicht. Als Geschwistersubsystem bilden Zwillinge eine der Freundschaft strukturell vergleichbare singuläre Zweiheit: Der eine Zwilling ist für den anderen ebenso exklusiv einzigartig, wie das der eine gewählte Freund wäre. In den Flegeljahren lässt sich diese Kontingenzreduktion von Geschwistern auf Zwillinge sowohl werkgenetisch als auch auf der Ebene des Plots als eine bewusst vollzogene Bewegung nachvollziehen. Waren in den frühen Entwurfsstufen noch mehrere Geschwister geplant, so handelt der fertige Text von einem Zwillingspaar. In für die Flegeljahre typischer selbstreflexiver Geste wird diese Reduktion sogar zu einem Teil des Plots: Es wird von einer früh verstorbenen Schwester aus Kindertagen erzählt, und die Pflegeschwester Goldine wird mit Beginn des Romanschreibens aus dem Text verabschiedet.69 Trotz der Zwillingsspezifik gelingt die Freundschafts-Einheit jedoch nicht. Vult und Walt bleiben verschieden, und dies sogar, wenn sie scheinbar sich gegenseitig bestätigend vom selben reden. Es geht dabei um die Kernfrage, ob der Bruder der Freund sei: Und der Bruder wurde glücklich und sagte: »Wir bleiben Brüder.« »Nur einen Freund kann der Mensch haben, sagt Montaigne«, sagte Vult. »O! nur einen«, sagte Walt – »und nur einen Vater und nur eine Mutter, eine Geliebte – und nur einen, einen Zwillings-Bruder!« (I/2,816)

Während Vult mit explizitem Bezug auf Montaignes Maxime der Singularität die Beziehung zu Walt als Freundschaft definiert, pflichtet Walt ihm trotz des stark affirmativen Duktus seiner Rede nur scheinbar zu. Vielmehr reiht Walt den »einen Freund« in eine Reihe anderer einzigartiger Beziehungen ein, in der der ZwillingsBruder additiv und nicht substituierend zum Freund steht. Selbst in der »Versöhnung« in »Liebe« (I/2,816) bleibt das Konfliktschema persistent. Dieser Versöhnung vorausgegangen ist eine Klärung von Walts Verhältnis zu seinem imaginären Freund Klothar. Vult hat eine Begegnung mit Klothar herbei geführt, die Walt in seiner weltfremden Art nie gelungen wäre. Erzählerisch je-

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Vgl. Teil III, Kap. 1.3.

doch bieten Walts zahlreiche Bemühungen, Klothars habhaft zu werden – denn »[B]efreunden [...] wollten wir uns leicht, falls wir uns erst hätten« (I/2,688) – Jean Paul eine Steilvorlage, um das empfindsame Freundschaftspathos zu ironisieren und Situationskomik erfindungsreich zu variieren: So empfindet Walt auf seiner »Klothars-Jagd« (I/2,715) im Garten des Grafen »manches [...] vergeblich« (I/2,721) oder stellt Klothar durch eine andere Gartenanlage hindurch in einem »freundschaftliche[n] Ballet« (I/2,754) vergebens nach. Der adelsstolze Graf interessiert sich keineswegs für die Liebesblicke eines Notars aus Elterlein. Die Aufmerksamkeit des Grafen erlangt Walt erst durch den Anschein der Standesgleichheit. Im durch Vult organisierten Stelldichein, zu dem Walt im Theaterhabit eines Edelmannes erscheint, stimmt Klothar sogleich in die empfindsame Freundschaftsrhetorik ein. Dass es sich bei ihm aber um leeres Pathos handelt, zeigt sich auf dem Fuß: Walt nimmt Klothars Argument, »daß die Freundschaft keinen Stand kenne« beim Nennwert und lüftet sein »Inkognito« inklusive seine Verwicklung in die »Brief-Sache«, worauf Klothar gerade die Standesdifferenz zum Abbruch jeglicher Beziehung nimmt: »von Bürgerlichen« fordert der Graf »keine Erklärung«. (I/2,809ff.) Auch Klothars Reden über »Freiheit«, (I/2,746) »Gleichheit und die Revolution« (I/2,796) hatte Walt wörtlich genommen, während Vult vergeblich versucht hatte, diesen vom Adelsstolz des Grafen zu überzeugen. In ihrer unterschiedlichen Beurteilung von Klothar steckt jedoch nicht nur ihre Verschiedenheit an Weltklugheit, sondern auch eine Differenz hinsichtlich der zeitgenössischen Frage der Ständekritik. Während Vult republikanisch nicht nur redet, sondern auch denkt und handelt, hängt Walt – bei vordergründiger Egalitätsrhetorik – hintergründig dem Nimbus der höheren Ständen nach:70 Diese scheinen dem empfindsamen Dichter »für die Poesie durch eine Poesie aus der schweren tiefen Wirklichkeit entrückt« (I/2,798) und vom Leben »Ludwigs XIV.« hat er gar eine »romantische Ansicht« als »fortgehende Poesie«. (I/2,957) Für Walt sind die höheren Stände an sich poetisch und darum von größter Anziehungskraft, ihre Verortung in einem größeren sozialpolitischen Zusammenhang interessiert sein Dichterherz herzlich wenig. Bei dieser Differenz auch im politischen Denken ist an eine Entwicklung wie im Hesperus, wo sich leibliche Brüder zu einem institutionellen Klub republikanischer Revolutionäre zusammenschließen,71 nicht zu denken. Das Thema institutioneller Geschwisterschaft kommt in den Flegeljahren denn auch kaum zur Sprache, und wenn, dann als satirisches Gleichnismaterial.72 Bemerkenswert ist jedoch die

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Die Differenz in der politischen Gesinnung kommt besonders deutlich im Gespräch der Brüder über den Adelstolz zum Tragen, vgl. I/2,796ff. Vgl. dazu auch Berhorst 2002, S. 390. Vgl. Teil III, Kap. 3.1. So dienen das Herrnhutertum und das Vokabular der Französischen Revolution in erster Linie als Materialspeicher für satirische Szenen oder witzige Vergleichungen, vgl. u.a. I/2,653f., 673, 857, 888, 923ff. sowie Teil III, Kap. 1.3.

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Verwendung des Begriffs der »geheime[n] Gesellschaft« (I/2,749) im Kontext eines Diskurses über Hexenglauben und Hexenprozesse: Klothar äußert die gender- und kulturkritisch bedenkenswerte These, dass sich Männer in einer Art Geheimbund des Hexensglaubens bedienten, um ihre Macht über Frauen auszuüben. Da Klothars philosophisches Debattieren – auch bei seinem politisch brisanten Plädoyer für absolute individuelle Freiheit73 – jeweils nicht mit seinem Denken und Handeln übereinstimmt, verpufft die politische Sprengkraft seiner Thesen in leerer Rhetorik und bleibt auf der Ebene des Plots folgenlos. In der Handlungslogik der Flegeljahre kann jedoch die Interessengemeinschaft der »Akzessit-Erben« (I/2,589) als ein Derivat der Geheimbundthematik der hohen Romane gelesen werden. Die achte Testamentsklausel fungiert dabei als Anleitung zur Bundesgründung, in der der Erblasser unter Berufung auf ihre gemeinsame Einbindung in die institutionelle Geschwisterschaft der Christen den sieben enttäuschten Erben als Bundesziel vorgibt, als sieben Weise dem jungen möglichen Universalerben scharf aufzupassen und ihm nicht den kleinsten Fehltritt, womit er den Aufschub oder Abzug der Erbschaft verschulden mag, unbemerkt nachzusehen, sondern vielmehr jeden gerichtlich zu bescheinigen. Das kann den leichten Poeten vorwärts bringen und ihn schleifen und abwetzen. [...S]eid [...] seine böse Sieben. (I/2,590f.)

Bundesziel der »sieben Weisen« und zugleich der »böse[n] Sieben« ist also, den »leichten Poeten« durch Hindernisse und Widerstände zu bilden. Lesbar ist dies als satirische Reminiszenz an die Geheimbünde der Loge und des Titan und die dort verfolgten Bildungsziele für den jeweiligen Helden. Verstärkt wird diese Isotopie durch die Anrufung eines guten und eines schlechten Bundes – hier zu einem ambivalenten Zweckbündnis zusammengeschlossen – die auf den für Jean Pauls Bearbeitung des Geheimbundmaterials maßgebenden Intertext der Dya-Na-Sore verweist.74 Waren in der Loge noch vor allem die ideellen Ziele der Bildung zum ›hohen Menschen‹ zentral und konkrete materielle oder organisatorische Fragen eher nebensächlich, so verfolgte der Geheimbund des Titan mit seinem Ziel der Sicherung der Dynastie schon handfestere Interessen. In den Flegeljahren nun sind materielle Interessen eine Selbstverständlichkeit für eine Bundesgründung und werden noch vor dem ideellen Ziel genannt: Zu »gleichen Teilen« sollen die Akzessit-Erben »jährlich zehn Prozent aller Kapitalien« bekommen, solange Walt seine Erbschaft noch nicht hat antreten können. (I/2,590) Die horizontale Ausrichtung dieses Bundes ist durch und durch materiell fundiert. Humoristisch gingen schon die Arkangesellschaft der Loge und die Klubisten des Hesperus zu Werk, und witzig sind die Finten der »Präsumtiv-Erben« (I/2,588)

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Vgl. I/2,748. Vgl. zum Intertext Dya-Na-Sore Teil II, Kap. 3.2 und Teil III, Kap. 1.1.,1.2.

der Flegeljahre: So werden etwa die von Walt gemäß der sechsten Testamentsklausel zu stimmenden Klaviere entsprechend präpariert, um möglichst viele Saiten zum Reißen75 und Walt um den dafür festgelegten Teil seines Erbes zu bringen. Oder es wird ein rühriges Komplott eingefädelt, um den gutgläubigen Walt zu einer Bürgschaft zu überreden, die den Antritt der Erbschaft auf lange Zeit hinaus schieben könnte.76 Vult, der diese Zusammenhänge durchschaut, versucht vergeblich Walt darauf aufmerksam zu machen: Walt hört nicht auf ihn, sondern bleibt stur bei seiner Ansicht und tappt in jede Falle des Erben-Bundes. In den Angelegenheiten rund um das Testament hat die die eigentliche gegenüber der institutionellen Geschwisterschaft das Nachsehen. Dies ist ein weiterer Effekt jener durch den ganzen Text hindurch unabänderlichen Differenz der zwei Zwillingsbrüder, die zu keiner Einheit und keiner Einigkeit zusammenfinden können. Mit einer Ausnahme: dem Schreiben. Das ist insofern möglich, als Vult und Walt hierbei auf andere Parameter setzen. In ihrem gemeinsamen Text »Hoppelpoppel oder das Herz« rekurriert die Einheit des Textes nicht auf eine Figuration von Identität, wie dies der Anspruch etwa in ihrem Freundschaftsideal gewesen wäre, sondern auf eine der Differenz. Welche Rolle der Geschwisterstatus bei den poetologischen Überlegungen zu einer Einheit des Differenten spielt, soll nun im letzten Kapitel im Rückgriff auf die Schriftgeschwister der Loge und deren Entwicklung in den späteren Texten bis hin zu den Flegeljahren gezeigt werden.

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Vgl. I/2,724ff. Vgl. I/2,977.

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4.

Geschwister-Poetologien

Jean Paul gilt sich selbst und der Forschung insofern als Romantiker avant la lettre, als er schon »mitten in den Achtziger Jahren [...] und anfangs der Neunziger« mit den Teufels Papieren und der Loge »manche Sachen und Richtungen« (I/5,399) vorweg genommen hat. Dies wird insbesondere für die fragmentarische Form geltend gemacht, die ja nachmalig zur Wunschform romantischen Schreibens avancierte.1 Die Rede von der Loge als »geborne Ruine« (I/1,13), wie Jean Paul seinen »romantischen Erstling« (I/1,14) kurz vor seinem Tode nennt, fügt diese Vorläuferschaft nahtlos in die romantische Programmatik ein, klingt darin doch das 24. »Athenäums-Fragment« Friedrich Schlegels an: »Viele Werke der Alten sind Fragmente geworden. Viele Werke der Neuern sind es gleich bei der Entstehung.«2 Doch gerade im »romantischen Erstling«, so die oben dargelegte These, erfolgt die Verbindung von fragmentarischer Form und Werk nicht unmittelbar. Vielmehr werden eine Reihe figurativer und poetologischer Verfahren aktiviert, um das Fragment als Werk zu sichern, bis hin zur Rückversicherung des im Fragmentbegriff implizit gegebenen Bezugs zum Ganzen via Mythologemen.3 Verantwortlich dafür ist die Schriftschwester der Loge: Auf Figurenebene vertritt Philippine Autorschaftsstelle und springt für ›Jean Paul‹ in jenen Fällen als Erzählerin ein, in denen sich ihr Bruder durch Krankheit oder Abwesenheit einer komplizierten Überleitung oder dem alle Fäden zusammenführendem Abschluss des Textes entzieht. Poetologisch kann die Schriftschwester durch ihre genealogische Ebenbürtigkeit und geschlecht-

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Vgl. bes. Athenäums-Fragmente Nr. 24, 259, KFSA, Bd.2, S. 169, 209. Der Perspektivenwechsel zum Fragment als intendierter, eigenständiger literarischer Form beginnt zwar schon mit Hamann in den späten fünfziger respektive Herder Mitte der sechziger Jahre des 18. Jahrhunderts, der eigentliche Durchbruch gelingt diesem Fragmentbegriff jedoch erst mit der frühromantischen Programmatik kurz vor der Jahrhundertwende. Vgl. Art. »Fragment«, in: Ueding 1996, Bd.3, Sp.454ff., hier bes. Sp.459ff. Zu Jean Paul als »Ganzheiten-Verächter« vgl. z.B. Walter-Schneider 2004. KFSA, Bd.2, S.169. Vgl. ausf. dazu Teil II, Kap. 4. Man könnte auch sagen, dass Jean Paul mit seiner Rückversicherung in Mythologemen die Suchrichtung der Romantiker nach Versicherung der Universalpoesie in einer ›neuen Mythologie‹ vorgibt. Den mit dem Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus (1796/7) beginnenden Versuch, eine »neue Mythologie [...] philosophisch« zu begründen, (Jamme/Schneider 1984, S. 13) hat Jean Paul dann aber in seiner Vorschule als artifiziell, unpoetisch und atheistisch verworfen. Vgl. I/5, S. 71ff.

liche Differenz die gestellte Aufgabe mit einem Minimalaufwand an schriftstellerischem Können erledigen, ohne das Renommee von ›Jean Paul‹ als Autor zu gefährden: Dies garantiert die klar geschlechterdifferent kodierte Autorschaftskompetenz im ausgehenden 18. Jahrhundert zur Genüge. Und so hängen wenige Worte der Schriftschwester Textfragmente zusammen, die gemäß einer am klassischen Ideal eines harmonischen Ganzen orientierten Ästhetik nur über komplexe und strategisch anspruchsvolle Textarbeit hätten verbunden werden können. Philippine dagegen kann als praktisch veranlagte Frauenfigur besonders umfangreiche Textteile allein mit »Heftnadel« und »Kleister« zusammenfügen. (I/1,181) Darüber hinaus sichern Verweise auf die Schwesterfiguren Medea und Isis die Bewegung des Zusammenfügens des Fragmentierten nochmals mythisch ab. Und insbesondere die Verbindung zum Isis und Osiris-Mythologem zitiert zugleich auch jene mythische Energie, die den zum Textganzen zusammengefügten membra disiecta das ewige Leben verleiht. Mit den poetologischen Schwesterfigurationen wird gründliche Vorsorge getroffen für den Zusammenhalt und das Weiterleben der Loge als Werk. Solche schwesterlichen Rückversicherungen werden in den späteren Texten nicht mehr abgeschlossen. Eine Anbindung des Fragmentarischen an ein Ganzheitsideal wird insofern obsolet, als das Stückwerk selbst nun als ästhetisches Programm erscheint. Angelegt ist diese progressive Konzeption ebenfalls schon in der Loge, quasi als »Fragmen[t] aus der« eigenen schriftstellerischen »Zukunft«, 4 und wird programmatisch direkt im Anschluss an das Medea-Mythologem formuliert: Eh’ es heute Nacht wurde, hab’ ich alle die Papierspäne, die von diesem Buche fielen, eingesargt, aber nicht, wie andre Schreiber, eingeäschert [...]. – So etwas sollte der Mensch stets deponieren und alle Freudenblumen aufkleben, trotz ihrer Vertrocknung, in einem Kräuterbuche; [...] Warum will ich schon wieder ein neues Buch schreiben und in diesem die Ruhe erwarten, die ich im alten nicht fand? (I/1,463f.)

Das Einsammeln, Aufheben und Zusammenkleben von papiernem Abfall verdichtet sich im weiteren Schreibprozess in die poetologischen Metaphern des ›Zettelkastens‹ – so das organisierende Prinzip des Quintus Fixlein – oder des »Papierdrache[n]« (I/6,425), der als Schlussbild der Flegeljahre aufsteigt und seit dem Fibel (1812) prominent für das Zusammenfügen des Fragmentierten steht. Im Spätwerk, besonders im Komet, avanciert der Papierdrache dann zur zentralen poetologischen Metapher.5 Hier steht das Material nun für sich selbst, Leim und Papier bedürfen keiner schwesterlichen oder gar mythischen Kraft mehr, um zusammenzuhalten. Auch ein offener Schluss, der in der Loge noch das Einstehen der Schriftschwester bis zum Eintreffen der versprochenen »Schlußmumie« (I/1,22) erfordert, erscheint in der Konzeption des »Hoppelpoppel oder das Herz« (I/2,670) der Zwillingsbrüder Walt und Vult in den Flegeljahren nun als Programm, wenn auch

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Wie sich in Anlehnung an das 22. »Athenäums-Fragment« sagen ließe, vgl. KFSA, Bd. 2, S. 168. Vgl. Pfotenhauer 2000/01, S. 51ff.

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nach wie vor unter der Bedingung, dass sich jene Bedeutung von »Schlußmumie« realisiere, die den Tod des Autors meint: Vult bemerkte, wenn ein Romanschreiber gewiß wüßte, daß er sterben würde – z. B. er brächte sich nur um –, so könnt’ er so seltsame herrliche Verwicklungen wagen, daß er selber kein Mittel ihrer Auflösung absähe, außer durch seine eigne; denn jeder würde, wenn er tot wäre, die durchdachteste Entwicklung voraussetzen und darnach herumsinnen. (I/2,1010)

Mit dieser Programmatik des offenen Kunstwerks6 hat die stellvertretende und bücherleimende Schriftschwester funktional ausgedient. Zwar gewinnen Schwestern auf Figurenebene und in der Metaphorik gerade der großen Romane bedeutend an Gewicht, wie in den Semiosen des Geschwisterdispositivs von der Loge über den Hesperus zum Titan gezeigt werden konnte.7 Auf der Ebene der Selbstreflexion der Schrift jedoch findet eine Verschiebung und Verabschiedung der Schwester statt, die schließlich in die Ersetzung durch einen Schriftbruder mündet. Dies geschieht in Etappen, die nun in einem kurzen Ausblick auf die Formen der Reproduktion der Schriftschwester nach der Loge skizziert werden sollen,8 bevor es abschließend um die Schriftbrüder der »Doppeltgänger« und der Flegeljahre gehen soll.

4.1

Verschiebungen und Verabschiedung der Schriftschwester in Hesperus, Quintus Fixlein und Siebenkäs

Namentlich taucht Philippine noch im Hesperus und im Quintus Fixlein auf, die beide direkt auf die Loge folgen. Zwar begleitet Philippine den Hesperus an wenigen Stellen als kommentierende Leserin9 und erscheint auch als Paar mit ihrem Bruder,10 zugleich aber wird ihr ›Wegtreten‹ initiiert. Dies geschieht völlig unvermittelt mit der Erzählsituation des Kotextes und gewinnt nur aus dem hier aufgearbeiteten übergeordneten Kontext der Verabschiedung der Schriftschwester an Sinn: Und du, Philippine, teure Seele, tritt weg in eine verborgne Zelle und lege unter den Tränen, die du schon so oft vergossen hast, deine Hand an dein reines weiches Herz und schwöre: »Ewig bleibe du Gott und der Tugend geweiht, wenn auch nicht der Ruhe!« Dir schwör es; mir nicht, denn ich glaub’ es ohne Schwur. – – (I/1,767)11

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Zum Begriff des offenen Kunstwerks vgl. Eco 1977 und die Bezugnahmen darauf in Teil II, Kap. 4. Vgl. Teil III, Kap. 1.1, 1.2, 2.1, 2.2. Vgl. dazu auch Frei Gerlach 2004, S. 106ff. Vgl. I/1,794, 992f., 1022. Vgl. I/1,1029. In den ersten beiden Auflagen ist die Wertschätzung Philippines durch die Geminatio »theure, theure Seele« noch stärker betont, HKA I/II,76/77.

Dieses Wegtreten zeigt sich als erstes im Lockern der verwandtschaftlichen Bindung: Durch die genealogischen Enthüllungen des Hesperus, die aus ›Jean Paul‹ einen verlorenen Fürstensohn machen, ohne Philippine in das Geschlecht des regierenden Hauses Flachsenfingen einzubinden, kann sie höchstens noch eine Halbschwester ›Jean Pauls‹ sein.12 Der Quintus Fixlein konkretisiert die unsichere verwandtschaftliche Position vorerst als die einer »Pflegeschwester« des Erzählers. (I/4,50) Noch tiefgreifender sind die Verschiebungen, die in der Folge auf verwandtschaftlicher und genderspezifischer Ebene die Figuration der Schriftschwester auffächern und letztlich auflösen. Zum einen verschiebt sich der weibliche Part am Zustandekommen der Schrift innerhalb der familiären Konstellation: das Gegenüber des Autors bilden nun Tochter, Braut und Ehefrau. »Johanne Pauline«, die in der Vorrede des Siebenkäs als »Namenbase« auf ein weibliches alter ego verweist, durchläuft eine Verschiebung von einer horizontalen zu einer vertikalen Verwandtschaftskonstellation, die im Textverlauf selbst reflektiert wird. (I/2,19) Gehört sie als Base bei ihrer Namensnennung der selben Generation wie der Erzähler ›Jean Paul‹ an, so akzentuiert der Textverlauf immer deutlicher ihre Position der Tochter und weist das sich hier findende Schriftpaar als »Autor und Tochter« (I/2,25) aus. Diese starke Akzentuierung einer vertikalen Genealogie im Schriftprozess findet sich bei Jean Paul nun immer ausgeprägter und motiviert fraglos auch die Bezeichnung »Mumien-Vater« in der Vorrede zur zweiten Auflage der Loge von 1822, die sich durch diese familiäre Zuordnung von der Isis-Energie und der Konstellation der Schriftgeschwister entfernt und der schöpferischen Inszenierung von Autorschaft zuwendet. (I/1,22)13 Zugleich mit der innerfamiliären Neuverteilung der Positionen widmet sich die Vorrede des Siebenkäs auch der Arbeitsverteilung im Zustandekommen der Schrift. Johanne Paulines Beitrag hierzu ist die – aufgrund der beschränkten Buchstabenauswahl ihres »Hemde-Schriftkasten[s]« – defizitäre Aufforderung, zu »erzahlen«, was der Erzähler in korrekte Schriftsprache zu übersetzen hat – »d.h. ich sollte dieser guten Hemd-Setzerin die Hundposttage heute erzählen« (I/2,23) – und sogleich umsetzt. ›Jean Paul‹ und Johanne Pauline setzen damit jene geschlechterdifferente Arbeitsteilung in Szene, die Kittler als typisch für das Aufschreibesystem 1800 herausgearbeitet hat: Der Autor erzählt seinen Text einer weiblichen Zuhörerin, die ihn durch ihre gefühlvolle Rezeptionshaltung zu erneuter Produktion anregt.14 Der Platz der Schriftschwester ist in der Vorrede des Siebenkäs an die Hörtochter übergeben worden, wobei diese doppelte Verschiebung über einen Zwischenschritt

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Vgl. Teil III, Kap. 1.1 Vgl. auch I/1,14: »ein Familienfest mit einem seiner liebsten Kinder«, eben der Loge. Vgl. Kittler 1995, S. 131–154. Dass Kittlers These das Selbstverständnis des Literatursystems – und für dieses steht die Textsorte der Vorrede ja paradigmatisch –, nicht aber die reale kulturhistorische Schreib- und Lesesituation um 1800 adäquat reflektiert, zeigt u.a. Schlichtmann 2001. Vgl. ausf. zu diesen Zusammenhängen Teil II, 2.1. und zur Vorrede des Siebenkäs Dangel-Pelloquin 1999, S. 175–185.

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abgefedert wird: Der Hesperus kennt noch die »Rolle [...] einer Hörschwester« (I/1,863).15 Die anderen weiblichen Positionen der familiären Konstellation, die direkten Einfluss auf den Vorgang des Schreibens nehmen, sind Braut und Ehefrau. Die »gute, die liebe, bekannte – Pauline, des sel. Hauptmanns und Kaufherrns Oehrmann nachgelassene Tochter« (I/4,31) treibt als gerührte Braut das Aufschreiben der »Geschichte meiner Vorrede« im Quintus Fixlein voran: Ach du weiche Braut! Ich wollte dich sehr rühren durch Erzählen, aber du rührtest mich noch mehr durch Zuhören. Es muß überhaupt noch mehre Paulinen und Jean Pauls in Deutschland geben: sonst wäre gegenwärtige zweite Auflage gar nicht zu machen gewesen [...]. (I/4,35f.)16

Nicht durch empfindsame Rührung, sondern durch Störung und kompetitive Konkurrenz – »Stiche« gegen »Striche« (I/2,172) – auf geschlechterdifferent abgestecktem Feld weiblicher Näh- und Hausarbeit gegen männliche Schreibarbeit strukturiert Lenette im Siebenkäs das Schreiben ihres Gatten Firmian.17 In all diesen familiären Umbesetzungen beinhaltet der weibliche Part am Zustandekommen der Schrift keine weibliche Autorschaft mehr. Das zeichnet sich schon im Hesperus ab, in dem die Schriftschwester als solche expressis verbis verabschiedet wird. In die Reihe der neu gewonnen Fürstenbrüder wird Philippine nicht integriert. Zwar vertreten die vier neuen Brüder keine Autorschaftsstelle, doch sie bestimmen die genealogische Zuordnung neu, und dies über biologische Kriterien: Körperzeichen und das Zeugnis der Mutter garantieren die rechte Abstammung und definieren das Geschwisterverhältnis. Eine Gemeinschaft der Gesinnung, die noch in der Loge eine Geschwisterschaft begründen konnte, ist im Hesperus ursächlich verknüpft mit der biologischen Verwandtschaft. In dieses Schema biologisch-institutioneller Geschwisterschaft lässt sich Philippine nicht einpassen und wird zur »Ex-Schwester« degradiert. Innerhalb derselben Argumentationsfigur jedoch wird der prekär gewordene Schwesterstatus zugleich neu abgesichert: [...] eile nicht, damit ich nur noch zu meiner Schwester sagen kann: du geliebte ExSchwester, dein toller Bruder schreibt sich von, aber du hast nur seine Brust, nicht sein Herz verloren. Wenn ich nach Scheerau komme, will ich mich um nichts scheren und an dir unter dem Umarmen weinen und endlich sagen: es hat nichts auf sich. Mein Geist ist dein Bruder, deine Seele ist meine Schwester, und so verändere dich nicht, verschwistertes Herz. (I/1,1233)

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Im höfischen Kontext gibt es im Hesperus auch »Hörbrüder«, die nun nicht biologisch, sondern institutionell verbunden sind und einer Ableitung für nötig befunden werden: »So wie es Hörschwestern (les Tourières oder Soeurs écoutes) gibt, die mit den Nonnen ins Sprachzimmer gehen, um auf ihr Reden achtzugeben.« (I/1,638) Vgl. zur Vorrede des Quintus Fixlein Dangel-Pelloquin, 1999a. Vgl. zu dieser Textszene Dangel-Pelloquin, 1999, S. 266–279.

Nicht leiblich (»Brust«), sondern über das Innere definiert sich neu die Beziehung zwischen ›Jean Paul‹ und seiner Schwester: Geist, Seele und vor allem das Gefühl machen in Zukunft das Wesentliche ihrer Geschwisterbeziehung aus. Die Verbindung der hoch besetzten Sehnsuchtsfigur des ›verschwisterten Herzens‹18 mit der Schwesterfigur und die Berufung auf Unveränderlichkeit machen zugleich deutlich, dass dies nicht als Abwertung der Beziehung, sondern im Gegenteil, als Erhöhung zu verstehen ist: Die für die hohen Romane unverzichtbare Figuration der Seelen-Schwester legt von dieser Bedeutung ja beredtes Zeugnis ab.19 Die Funktion der Schwester am Zustandekommen der Schrift hat sich damit jedoch grundsätzlich geändert: Sie übernimmt nun den traditional weiblichen Part der Muse oder genauer der Inspiration und trägt damit indirekt zum Gelingen insbesondere der gefühlvollen Szenen und der Schilderung der Frauenfiguren bei. Direkt jedoch hat Philippine keinen Anteil mehr an der Schrift. Dies macht ›Jean Paul‹ unmissverständlich klar, in dem er die Funktion der vormaligen Schriftschwester, ein Textganzes zu garantieren, aufgreift und neu gewichtet: Dabei wird Philippine auch physisch ein Platz außerhalb der Schrift zugewiesen. Das Kunststück, die nachmalige »Ex-Schwester« in ihrer Funktion des Zusammenfügens des Textkörpers auch physisch aus den Manuskriptseiten herauszubefördern, vollzieht Jean Paul schon im 18. »Hundposttag« des Hesperus. Diese Textszene fällt – wie auch das oben schon zitierte ›Wegtreten‹ – ganz aus dem Rahmen der erzählten Schreibszene des Hesperus, die ja einen einsamen Inselbewohner imaginiert, dem der Stoff für seine Geschichte jeweils posttäglich durch einen zur Insel schwimmenden Hund geliefert wird. Sinn macht diese aus dem Kontext des Hesperus heraus gefallene Szene jedoch, wenn man sie auf den übergreifenden Rahmen der Verabschiedung der Schriftschwester bezieht. Eine Erzählerreflexion wegen der sich abzeichnenden Überlänge des Hesperus liefert den äußeren Anlass dafür: »[...] weil mein Manuskript ohnehin schon so groß ist, daß meine Schwester sich darauf setzet, wenn sie Klavier spielet, da der Sessel ohne die Unterlage der Hundposttage nicht hoch genug ist.« (I/1,750) Die Schwester hält hier das Manuskript nicht mehr durch mythisches, sondern allein durch ihr körperliches Gewicht zusammen, und dies auch nicht von Innen, sondern von Außen her. Aus diesem Außen führt für die Schwester letztlich kein Weg mehr zurück ins Innere der Schrift.

4.2

Schrift-Zwillinge 1: »Die Doppeltgänger«

Die Konstellation der Schriftgeschwister selbst kehrt wieder in erzählten Schreibszenen auf Figurenebene, doch geschlechtlich neu positioniert: In den Flegeljahren verfolgen die Zwillingsbrüder Walt und Vult ihr gemeinsames Schreibprojekt eines

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Vgl. zum ›verschwisterten Herzen‹ Teil II, Kap. 2.2.3. Vgl. dazu Teil III, Kap. 2.1, 2.2.

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paritätischen »Doppelromans«, (I/2,669) und in der im Anhang zum Titan publizierten kleinen Erzählung »Die Doppeltgänger« tarieren die am Rücken zusammengewachsenen »Gebrüder Mensch« (I/3,839) das Mit- und Nebeneinander von enthusiastischer und prosaischer Schreibweise aus. Im Titan selbst stellt sich die Frage des Zusammenhalts von zwei Schreibweisen ja nicht, da dort im Erzähltext eine Einheit im italienischen Stil angestrebt ist, wobei poetologische Reflexionen auf ein Minimum reduziert sowie die Digressionen ausgegrenzt und in den Anhang verlegt sind.20 Im satirischen Anhang wird die im »Armensünderstuhl des historischen Lehrstuhls« auferlegte Zurückhaltung unter anderem mit dem Pestitzer Realblatt kompensiert, dessen erstes literarisches Stück die Erzählung »Die Doppeltgänger« ist. Als Verfasser zeichnet ›Siebenkäs‹, einer der »vier Blattmacher« des Realblattes. (I/3,836)21 Das Phänomen von »Koppelzwillingen«, die vor den 1811 geborenen Brüdern aus Siam noch nicht siamesische Zwillinge geheißen haben, kennt ›Siebenkäs‹ aus »Büchern« und nennt die zwei bekanntesten Fälle und deren jeweilige Verwachsung. (I/3,839)22 Die im Zentrum der Erzählung stehenden Gebrüder Mensch nun sind am Rücken zusammengewachsen, und zwar »von den Lendennerven an (n. lumbares) bis zu den heiligen Nerven (n. sacrales) [...] und kehren einander die Hinterköpfe und verknüpften Rücken zu.« (I/3,840) Die Art und Weise ihrer Verwachsung ist darum von Relevanz, weil sie die Differenz der vom Blattmacher ›Siebenkäs‹ beschriebenen »Doppeltgänger« im Pestitzer Realblatt zum »Doppeltgänger«-Begriff, wie ihn Jean Paul im Roman Siebenkäs eingeführt hat, markiert. In jener viel zitierten Fußnote des Siebenkäs definiert Jean Paul den Begriff wie folgt: »So heißen Leute, die sich selber sehen.« (I/2,67) Was, wie die Forschung überzeugend dargelegt hat, sowohl bedeuten kann, sich selber in einem ebenbildlichen Gegenüber zu sehen, als auch von sich zu abstrahieren und sich zu objektivieren, insbesondere in der schriftstellerischen Tätigkeit.23 Paradig20 21

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Vgl. dazu die Einleitung von Berend, SWI/8 sowie die Einführung in Teil III dieser Arbeit. Als Blattmacher fungieren in »einerlei Stil« der »Verfasser des Titans, zugleich der Redakteur«, »Doktor Viktor«, »Inspektor Siebenkäs« und »Doktor Fenk in Scheerau«: nebst Jean Paul also seine gesammelten Satiriker, wobei zugleich noch die Identität von Schoppe und Leibgeber insinuiert wird. Geordnet sind die einzelnen Beiträge nach dem Kalender und den – so die dann frei umgesetzte Absichtserklärung – dem jeweiligen Kalendertag zugeordneten »regierenden Heiligen«, beginnend mit dem »1sten Jenner 1799«, an dem aber wegen des Feiertages das Realblatt nicht erscheinen kann, so dass es »kahl und fahl« einsetzt und mit dem 2ten Jenner und der »Doppeltgänger«-Erzählung erst richtig angeht. (I/3,835ff.) Vgl. dazu die Einleitung von Berend, SWI/8,LXXXVIIf., der die genannten historischen Beispiele verortet und zusätzlich auf den Aufsatz Lichtenbergs »Daß du auf dem Blocksberge wärst« aus dessen Taschenkalender von 1799 als Intertext für die kleine Erzählung verweist. Vgl. zum historischen Kontext auch Bär 2005, S. 10f. Vgl. dazu Préaux 1986, Hildenbrock 1986, S. 8, Böschenstein 1987, S. 338ff., Webber 1996, S. 56ff., Forderer 1999, S. 37ff., Heinemann 2001, S. 193–216 und Bär 2005 S. 9ff.

matisch umgesetzt hat Jean Paul die erste Bedeutungslinie im Figurenpaar Siebenkäs und Leibgeber des Siebenkäs und expressis verbis im zweiten Sinn in Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf von 1799 verwendet: »Als ein Doppeltgänger hab’ ich in der Konjektural-Biographie mich selber gesehen und gemalt«. (I/4,928) Ohne hier auf die vielfältigen Nuancierungen und Weiterentwicklungen der Konfiguration bei Jean Paul eingehen zu können, sei grundsätzlich festgehalten, dass es beide Male um eine Figuration von Spiegelung, Kopie oder Wiederholung eines Ichs geht und dass dabei als Doppelgänger das sehende erste und nicht das wahrgenommene zweite Ich bezeichnet wird. Anders als im heutigen Sprachgebrauch meint der Doppelgängerbegriff in der Definition im Siebenkäs nicht zwei gegebene und tendenziell gleichwertige Phänomene, sondern das Sehen als Aktivität eines Ichs. Nicht so in der »Doppeltgänger«-Erzählung des Pestitzer Realblattes. Diese Doppeltgänger sehen sich gerade nicht, dies ist ihnen durch ihre physiologische Verfasstheit, ihr Leben mit »föderierte[m] Rückenmar[k]« (I/3,841) vielmehr grundsätzlich verwehrt. Zwar geht es auch hier um die bei Jean Paul zentralen Verhandlungen um Identität und Differenz der Ich-Figurationen, die unter anderem über das Schreiben geführt werden. Doch die Ausgangslage der Gebrüder Mensch bildet keine auf Identität referierende ebenbildliche Austauschbarkeit wie bei Siebenkäs und Leibgeber/Schoppe. Vielmehr sind die Zwillinge Mensch »von Natur« aus ganz und gar different: Peter ist »ein fester und vigilanter Mensch«, Jurist und zielstrebig, Seraph dagegen ist »ein schlimmer Vogel«, hat vielerlei und nichts zu Ende studiert und ist entsprechend sprunghaft. (I/3,840) Diese charakterliche Differenz ist in eine unhintergehbare leibliche Einheit gezwungen, mit und in der beide Brüder leben müssen. Wenn die signifikante Beschreibung von Siebenkäs und Leibgeber die »einer in zwei Körper eingepfarrten Seele« ist, (I/2,39) so ließen sich Peter und Seraph als zwei Seelen beschreiben, die in einen Körper gesperrt sind. Der Begriff ›Doppeltgänger‹ ist darum wörtlich zu verstehen: Die zusammengewachsenen Zwillinge müssen stets und überallhin im Doppel gehen, ein individuelles Gehen bleibt ihnen – mehr noch als ein selbständiges Handeln – verwehrt. So ist denn auch die Art und Weise ihres »närrischen vierfüßigen Gang[es]« (I/3,841) ausgiebig Thema. Diese erzwungene Einheit des Differenten bringt das Gesetz des Vaters in eine »Äquotion und Mutschierung«:24 Jeder Mensch darf jeweils einen Tag lang regieren,

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»Mutschierung« meint eine vertragliche Teilung von Besitz, vgl. die entspr. Anmerkung I/2,1112. Als ›Gesetz des Vaters‹ lesbar ist die testamentarisch festgehaltene und damit über den Tod hinaus geltende Verfügung nicht nur durch die Wortwahl, die eine juridische Isotopie nahelegt, sondern auch durch die Allegoriesignale, die auf eine überzeitliche und die Menschheit als ganze betreffende symbolische Struktur verweisen, in der Art und Weise, wie sie im 20. Jahrhundert Lacan als ›Gesetz des Vaters‹ beschrieben hat: »Im Namen des Vaters müssen wir die Grundlage der Symbolfunktion erkennen, die seit Anbruch der historischen Zeit seine Person mit der Figur des Gesetzes identifiziert.« Lacan 1973b, S. 119. Vgl. zum lacanianischen Konzept auch Teil I, Kap. 1.3.

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danach wechselt »die gesetzgebende Gewalt« wieder. (I/3,840) Die Namengebung und Wortwahl – Mensch, Vater sowie die gehäuften juristischen Begriffe – sind ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Erzählung als Allegorie der Menschheit und ihrer symbolischen Ordnung gelesen werden kann.25 Dass es in dieser Erzählung um Grundlegendes geht, macht der Schluss unmissverständlich klar: Und das ist wohl gewiß; aber für das Ende eines Abel- und Seths-Blattes, dessen Name viel ähnlichere Brüder vereint als dessen Inhalt, darf man wohl die Frage aufheben: ist außer der Familie von Mensch noch ein so tolles Bündnis vorhanden, wenn man etwan das ausnimmt zwischen Leib und Seele – zwischen Mann und Frau – zwischen Rezensenten und Dichter – zwischen erster und zweiter Welt? Und wenn sie da wären, könnte man nicht den Reichsanzeiger bitten, sie vorzuzählen? (I/2,844)

Eine Aufzählung der Jean Paul umtreibenden Fragen um das commercium, welches Differentes verbinden könnte, beschließt die allegorische Skizze. Damit ist zugleich die Frage aufgegeben, ob die für die Gebrüder Mensch gefundene Lösung einer alternierenden Herrschaft auch anderswo einsetzbar wäre, oder ob nach anderen Lösungen gesucht werden muss. Bleibt bei den aufgezählten Beispielen bis auf weiteres offen, wie ihr commercium gedacht werden soll, so stellt sich für die Zwillingsgeschwisterschaft der Erzählung genau diese Frage nicht: Das commercium der Brüder Mensch ist leiblich in ihrem Zusammengewachsensein gegeben und verantwortet durch die daran geknüpfte Form der Verwandtschaft eine horizontale Struktur, die für eine alternierende Herrschaft Voraussetzung ist. Ins Zentrum seiner Menschheitsallegorie stellt Jean Paul Brüder. Das verweist nicht nur auf ein christliches Weltbild, das die Menschheit als geistliche Geschwisterschaft versteht. Es zeigt auch, dass für Jean Paul die Implikationen des Geschwisterdispositivs zentral für eine Reflexion über die symbolische Ordnung sind. Wobei die Exklusion der Schwester ebenso signifikant ist wie die Wahl der »regierenden Heiligen«, (I/2,836) unter deren Patronat – oder in diesem Falle eher Fraternat26 – die Erzählung steht: Abel und Seth. Die biblisch-mythischen Brudergestalten sind alles andere als eindeutig, tragen aber fraglos ein hohes Aggressionspotenzial in die Erzählung hinein.27 Mit der Thematik des Brudermordes, die sowohl der biblische als auch der altägyptische Prätext um Abel und Seth konnotieren, wird die Dring-

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In diesem Sinn schon Berend, SWI/8, LXXXVIIf. Vgl. I/2,839,844. Abel steht in der biblischen Überlieferung zusammen mit seinem Bruder Kain paradigmatisch für den tödlich endenden Bruderzwist um väterliche Anerkennung, und Seth ist doppelt besetzt. Zum einen heißt der drittgeborene Sohn Adam und Evas Set(h). Er ersetzt die verstorbenen respektive vertriebenen Brüder Abel und Kain und wird zum Stammvater der Menschheit. Zum anderen jedoch ist Seth der Aggressor von Osiris im Isis und Osiris-Stoff: Seth zerreißt aus Eifersucht den Körper des Osiris in Stücke, die Isis dann sucht und wieder zusammenfügt, was gleichzeitig als Allegorie des Text-Lesens zu verstehen ist. Vgl. zum letzteren Teil II, Kap. 4.3

lichkeit des Ausgleichs zwischen den differenten Naturellen und Verhaltensweisen der »Menschen« (I/3,840) evident. Die existenzielle Gegebenheit ihrer physiologischen Verbundenheit und die kulturelle Praxis der alternierenden Herrschaft bewahrt die Brüder vor einer radikalen Lösung ihrer Differenz, wie sie im biblisch-mythologischen Prätext des Bruderzwistes gegeben ist. Doch ohne Kosten ist der Ausgleich gleichwohl nicht zu haben: Auf der individuellen Ebene bedeutet das grundlegende Unverständnis für den Bruder eine permanente Frustration,28 auf der Ebene der symbolischen Ordnung bedeutet die Alternation einer Herrschaft des grundsätzlich Differenten den kulturellen Stillstand.29 In diesem Setting gewinnt eine kulturelle Tätigkeit, die beide individuell und tatsächlich auch gleichzeitig ausüben können, an besonderer Relevanz: das Schreiben. Denn beide »sind Literaten« und schreiben von Berufs respektive Naturell wegen: Peter, der Jurist, verfasst juristische Protokolle, Seraph als »Tragikus, Lyrikus, Fagottist, Epigrammatist und Genie« allerlei Textsorten, und dies auch während der juristischen Sitzungen seines Bruders: »Unter dem Protokollieren faßte der Tragikus eine Idylle ab und trank sehr dabei«. (I/3,840f.) Im Schreiben können sie ihre differente Individualität zugleich ausdrücken und insbesondere »der Tragikus« kann dabei die gesetzgebende Gewalt seines Bruders auch subversiv unterlaufen: Durch die »Kommunikation ihrer Blutgefäße« bleibt der Alkoholkonsum des einen nicht ohne Einfluss auf den anderen und affiziert im »derivativen Rausch« Peters prosaischen Stil. (I/3,841) Zwar bleiben die Charaktere von einander unbeeinflusst, wie es sich dann auch bei den Zwillingen der Flegeljahre zeigen wird, nicht aber die Schreibweisen der »Doppeltgänger«: Der physiologische Zusammenhalt sorgt über die Zirkulation des Blutes respektive den darin transportierten »Geist«30 für gegenseitige Beeinflussung.

4.3

Schrift-Zwillinge 2: Flegeljahre

Es spricht viel dafür, die »Doppeltgänger« als allegorische Skizze für die SchriftZwillinge der Flegeljahre zu lesen:31 der enge werkgenetische Zusammenhang, die parallele Anlage der Figuren und ihrer Schreibweisen und nicht zuletzt die Bedeutung des Gehens. Denn die Art und Weise des Gehens ist nicht nur für die »Doppeltgänger«, sondern auch für die Flegeljahre-Zwillinge charakteristisch. Und denkt man an Jean Pauls Definition aus der Vorschule für den Roman als »Renn-

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Peter beklagt diese I/3,842 und Seraph I/3,843f. Vgl. I/3,840. Vgl. I/3,842, wo »Geist und Feuer« des Poeten in direkte Relation zum »Branntewein« gesetzt wird. So schon Berend, SWI/8,LXXXVIIf.

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bahn der Charaktere«, (I/5,252) die insbesondere für die Flegeljahre zutrifft,32 so wird die Bedeutung der Art und Weise der Fortbewegung vollends evident. Was für die Doppeltgänger ihre gemeinsame conditio humana ist, liegt für Walt und Vult im Bereich individueller Handlungsfreiheit, strukturiert aber in analoger Weise ihre gegenseitige Beziehung: von einander weg, hintereinander her und aufeinander zu zugehen. Signifikant dafür sind unter anderem Walts Spaziergang durch das Rosana-Tal mit Vults Orchestrierung dazu33 sowie die abendliche Verabschiedung: Walt begleitete – bei seinen innern Bewegungen, deren Blutkügelchen wie höhere Kugeln einen freien Himmel zum Bewegen brauchten – den Bruder nach Hause. Dieser begleitete erfreut wieder jenen; Walt wieder diesen, um vor Winas Fenster auf dem Heimwege vorbeizukommen. So trieben sie es oft, bis der Notarius siegte. (I/2,842)

Auch den Romantext als Ganzen beschließt ein Gehen: Vult geht die Flöte blasend »davon« und Walt merkt nicht, dass mit den »entfliehenden Tönen [...] sein Bruder entfliehe.« (I/2,1088) War es in der Loge die Schriftschwester Philippine, die auf der poetologischen Ebene durch ihre stellvertretende Autorschaft den fragmentarischen Text zum Abschluss und zu seinem Werkstatus brachte, so ist es in den Flegeljahren der Zwillingsbruder Vult, der durch sein Weggehen den Plot über die horizontalen Verhandlungen zwischen den Brüdern beendet und damit zugleich das Textende markiert. Ob es sich beim Ende der Flegeljahre um einen Abbruch oder einen Abschluss handelt, darüber ist, beginnend mit den ersten zeitgenössischen Rezensionen, schon viel geschrieben worden.34 1967 hat Bosse die Sache auf den Punkt gebracht: Je nachdem, ob man die Geschichte der beiden Brüder oder diejenige von Walts Erbschaft und seiner Liebe als das Wichtigere nimmt, ist der Roman abgeschlossen oder ein Fragment.35 Diese Ambivalenz geht auf Jean Paul selbst zurück. Vom Selbstverständnis eines unvollendeten Romans zeugen seine nicht abbrechenden Fortsetzungspläne, vom Gegenteil, dass diese in zwei Jahrzehnten nie in die Tat umgesetzt worden sind. In der Vorschule der Ästhetik hat sich Jean Paul denn auch explizit zu den Schwierigkeiten einer Fortsetzung geäußert und diese Schwierigkeiten in Relation zu jener Mittellage gesetzt, die die deutsche Schule gegenüber der italienischen und niederländischen einnimmt, und die – im Sprachgebrauch dieser Studie – als Privilegierung der Horizontalen zu verstehen ist: Der Held im Roman der deutschen Schule, gleichsam in der Mitte und als Mittler zweier Stände, so wie der Lagen, der Sprachen, der Begebenheiten, und als ein Charakter,

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Wie Simon 2000/01, S. 263, zeigt. Vgl. I/2,855ff. Vgl. zur Rosana-Passage insbes. Vonau 1997, der die »Quodlibetszeichnung« (I/2,877) im Rosana-Tal ins Zentrum seiner Untersuchung über Autoreferentialität stellt. Zu den zeitgenössischen Rezensionen vgl. JbJPG 8 (1973), S. 138–140; 13 (1978), S. 40– 44, die Forschungsdiskussion über die Frage der abbrechenden Textgestalt arbeitet Berhorst 2002, S. 368ff. ausführlich auf. Bosse 1967, S. 84.

welcher weder die Erhabenheit der Gestalten der italienischen Form, noch die komische oder auch ernste Vertiefung der entgegengesetzten niederländischen annimmt, ein solcher Held muß den Dichter nach zwei Richtungen hin die Mittel, romantisch zu sein, verteuern, ja rauben, und wer es nicht einsehen will, setze sich nur hin und setze die Flegeljahre fort. (I/5,255)

Findet Jean Paul die Fortsetzung nicht auf der Horizontalen, so jedenfalls den Schluss: Es ist die Figur eines Schriftgeschwisters, die den Abschluss der Flegeljahre verantwortet. Nimmt man – wie es die Forschung überzeugend dargelegt hat36 – Selbstbezüglichkeit als die zentrale Bewegung der Flegeljahre, so ergibt sich daraus nicht nur ein Bezug zur von Jean Paul in der Vorschule genannten Ästhetik der Romantik und ihrer Programmatik des Fragmentarischen,37 sondern auch ein intratextueller Rückbezug auf die Schriftschwester der Loge. In der Perspektive einer auf das eigene Schreiben fokussierten Autoreferentialität geht es beim Schluss der Flegeljahre zwar auch um eine Einordnung im Spannungsfeld von Fragment und Werk, in erster Linie aber wird eine erzählerische Herausforderung durch ein Selbstzitat gemeistert: Ein Schriftgeschwister bringt den Text zu seinem Abschluss. Zwar ist den Flegeljahren anders als der Loge die fragmentarische Form kein Problem, das mit verschiedenen poetologischen Verfahren und einer in Mythologemen abgeschlossenen Rückversicherung behoben werden müsste. Das zeigt die selbstbewusst gewordene Ästhetik des offenen Kunstwerks, die sich unter anderem in den poetologischen Verhandlungen der Schriftbrüder über das Buch im Buch und dessen offenen Schluss spiegelt,38 wie auch die Tatsache, dass der Textschluss nicht auf der poetologischen, sondern der inhaltlichen Ebene herbei geführt wird. Doch für eine pragmatische Lösung auf der Horizontalen bietet sich das erprobte Konzept des Schriftgeschwisters allemal an. Mit den schreibenden Zwillingen Walt und Vult wird die in der Loge etablierte und danach sukzessive aufgehobene Schriftgeschwisterschaft in neuer Form zu einem zentralen Thema: Als Zwillinge verkörpern Walt und Vult die engste Form der Geschwisterbeziehung und schließen durch ihr gleiches Geschlecht all jene problematischen Faktoren aus, die die weibliche Autorschaft Philippines mit sich gebracht hatte.39 Die der Geschwisterbeziehung im Allgemeinen und der Zwillingsgeschwisterschaft im Besonderen eigene Zusammengehörigkeit und Egalität bilden zusammen mit der Unauflöslichkeit dieser Beziehung den optimalen Rahmen für eine Einbindung der Jean-Paul’schen Doppelschreibweise: Indem sich satirischer und empfindsamer Stil in der Zwillingsgeschwisterschaft objektivieren, gehen sie eine egalitäre und unauflösliche Verbindung ein.

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Vgl. dazu Einführung in Teil III. Dass die Flegeljahre eine Auseinandersetzung mit der Romantik sind, ist in der Forschung schon wiederholt nachgewiesen worden, vgl. Böhn 1992, S. 67ff., Simon 2000/01, S. 261ff, Berhorst 2002, S. 377ff. Vgl. I/2,988f. Vgl. dazu Teil II, Kap 4 und Teil III, Einleitung zu Kap. 4.

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Es ist evident, dass Walt und Vult für Jean Pauls zwei Schreibstile stehen. Während Vult über autobiographische Reminiszenzen eng an Jean Pauls eigenes satirisches Schreiben angebunden wird, ist die Figur Walt und mit ihr der empfindsame Stil jedoch überzeichnet: So wird Walt als ein »weiche[r] Dichter des Herzens« (I/2,1042) geschildert, der ein neues Versmaß, den Streckvers oder Polymeter erfunden hat, und solche Verse, von denen sich einige in den Flegeljahren abgedruckt finden, »auf der Stelle« (I/2,626) zu machen pflegt. Der für die satirischen Ausschweifungen verantwortliche Vult wird hingegen geradewegs als Verfasser der Grönländischen Prozesse eingeführt, die er – wie Jean Paul auch 40 – erfolglos »in zwei Bänden anno 1783 bei Voß und Sohn in Berlin« publiziert hat. (I/2,666) Auch von Vults schriftstellerischem Können finden sich einige Beispiele in den Flegeljahren abgedruckt, die auch darum von besonderem Interesse sind, weil sie Einblicke in die Textwerkstatt für den Roman »Hoppelpoppel« – und damit im übertragenen Sinn auch in jene Jean Pauls41 – ermöglichen: Die in Auszügen abgedruckten Tagebuchaufzeichnung beispielsweise dienen als Rohmaterial, aus dem Vult »brauchbare Ausschweifungen sogleich heraus[schneidet] für den Hoppelpoppel.« (I/2,1005) Walt wie Vult speisen ihr Selbstverständnis und Selbstwertgefühl zu einem großen Anteil über das Schreiben, wobei die Schrift insbesondere für Walt einen befreienden und emanzipatorischen Charakter hat. Ist Walt im wirklichen Leben der Flegeljahre-Narration beruflich wenig erfolgreich, in Gefühlssachen ein Opfer seiner Empfindsamkeit und in sozialen Kontakten ein einfältiger Tropf, der kein Fettnäpfchen auslässt, so hält er sich als Schriftsteller für einen »neuere[n] Petrarca«, der nicht nur unmittelbar vor dem künstlerischen, sondern auch dem ökonomischen Erfolg steht: In seiner Selbsteinschätzung verdankt er seine Position des Universalerben in spe allein seiner »Dichtkunst«. (I/2,736,643) Im Schreiben ist Walt souverän: Anders als im Leben ist er nicht »Diener«, sondern »Befehlshaber seiner Phantasie«. (I/2,718) Und das Schreiben öffnet seinen Horizont, es gibt ihm »in die enge Welt hinein die Zeichen einer unendlichen«. (I/2,679) Wenn es um das Schreiben geht, dann entwickelt der nachgiebige Walt eine erstaunliche Widerstandskraft: »ein Donnerkeil spalte mein Herz, der Ewige werfe mich dem glühendsten Teufel zu, wenn ich je den Streckvers lasse und die himmlische Dichtkunst. [...] Ich dichte fort«. (I/2,639) Vult dagegen begründet in einem schriftlichen Selbstbekenntnis seine Lebens- und Schreibeinstellung tautologisch: »Wie ich lebe, nicht um zu leben, sondern weil ich lebe, so schreib’ ich bloß, Freund, weil ich schreibe.« Sein Ausruf, an sich selbst – »Mir selber ist Schriftstellerei so gleichgültig, Vult!« (I/2,999) – kontrastiert aber sehr mit seinen engagierten Debatten über das Schreiben und den von ihm initiierten Versuchen, den erst im Entstehen begriffenen Roman bei renommierten Verlegern, selbst im Ausland, unterzubringen, und

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Vgl. II/1,369 und II/4,175ff. Zur Erfolglosigkeit von Jean Pauls satirischem Frühwerk vgl. Köpke 1977. Zu Jean Pauls Arbeitstechnik vgl. Espagne/Helmreich 2002.

sich dabei auch durch Absagen nicht erschüttern zu lassen. 42 All dies weist auf ein ausgeprägtes Selbstverständnis als professionelle Autoren bei Walt wie Vult hin. Dass Walt und Vult Jean Pauls Doppelschreibweise, seine Arbeitstechnik sowie die Entwicklung seines Selbstverständnisses zum professionellen Autor reflektieren, ist in der Forschung schon oft bemerkt worden und muss hier nicht ausführlich erläutert werden. Nachzutragen aber sind die poetologischen Implikationen, die sich aus der dafür gewählten Form der Zwillingsgeschwisterschaft ergeben. Dazu gilt sich nochmals zu vergegenwärtigen, dass die Zwillinge der Flegeljahre nicht auf eine Figuration von Identität referieren, 43 die sich als Spiegelung, alter ego oder Doppelgängerschaft im Sinne von Siebenkäs und Leibgeber semantisieren würde. Vielmehr sind Walt und Vult als eigentliche Geschwister different, ja sogar antithetisch konzipiert in ihrem Charakter und ihren Handlungsweisen. Von ihrem sozialen Status her sind sie jedoch ebenbürtig, stehen verwandtschaftlich in einer unauflöslichen Verbindung und sind sich als empfindsame Geschwister in unerschütterlicher Liebe zugetan. Zusätzlich repräsentieren Walt und Vult als Zwillinge die verwandtschaftlich engste Bindung und profitieren von einer Kontingenzreduktion: Die kontingente Reihe von Geschwistern reduziert sich beim Subsystem Zwillinge auf eine nicht erweiterbare Duplizität hin. Poetologisch gewendet heißt das, dass eine Figuration von Differenz über die Spezifika der Zwillingsgeschwisterschaft – Ebenbürtigkeit, Unauflöslichkeit, Empathie sowie eng verbundene und unhintergehbare Zweiheit – auf ihr Zusammengehörigkeitspotenzial hin ausgelotet wird. Die Zwillingsfiguren werden so poetologisch zu Garanten für ein – mit Jacobi – ›unauflösliches Gewebe aus Wesen und Thaten‹:44 den eine Einheit des Differenten repräsentierenden Text der Flegeljahre. Walt und Vult reflektieren die für den Roman Flegeljahre zu leistende Garantie für die Unauflöslichkeit des Gewebes – gemäß der Maxime der Autoreferentialität der Flegeljahre – gleich selbst an ihrem Roman im Roman »Hoppelpoppel oder das Herz«: Dieser ist der gegen alle Schwierigkeiten sich unerschütterlich behauptende Ausdruck ihrer Zwillingsgeschwisterschaft. Als paritätischer Doppelroman spiegelt, bricht oder – je nachdem – antizipiert er nahezu alles Geschehene und Gefühlte aus den jeweiligen Perspektiven der Brüder und bringt es als Schrift in eine dynamische Einheit. So jedenfalls lautet das unter dem Titel »Modell eines Hebammenstuhls« im 14. Kapitel projektierte Romankonzept, über dessen konkrete Ausführung wir uns jedoch weitgehend auf Angaben aus zweiter Hand verlassen müssen: die Beschreibung der Textarbeit durch den »Biograph[en] der jungen Harnische« ›Jean Paul‹, da der Text des »Hoppelpoppel oder das Herz« selbst »in sein eignes Buch gehört und nicht in dieses«. (I/2,996,762)

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Vgl. I/2,1009,1054f.,1066. Wie u.a. wiederholt Simon annimmt, vgl. Simon 2000/01, 2003. Vgl. Jacobi, Woldemar, S. 33f, sowie Teil II, Kap. 3.1.1, 3.1.2 und Teil III, Kap. 3.3.

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Dennoch erhalten wir einigen Aufschluss über die Arbeitsweise der Schriftbrüder. Die im »Hoppelpoppel oder das Herz« gedoppelte Repräsentation der Wirklichkeit der Flegeljahre betrifft nämlich nicht nur die großen Romanthemen Liebe, Freundschaft und Geschwisterschaft, 45 sondern auch unzählige Detailbeobachtungen: so sind Walt an Neupeters Geburtstagsdiner die ankommenden Gäste »lauter Fracht und Meßgut für den Roman«, und mehr noch als das Essen schmeckt ihm das zugehörige Geschirr, das er als Neuheit »in seinen Doppelroman als in einen Küchenschrank abliefern konnte«. (I/2,736,739) Auch Vult betrachtet eine Schlägerei allein aus dem Gesichtspunkt, wie sie »als eine fertige Mauer mit Freskobildern« in den »Hoppelpoppel oder das Herz« einzufügen ist: dazu gilt es ihr »romantisches Odeon nur darauf hinzumauern [...], bis sich die Mauer gerade da einfügt, wo es krumm läuft«. (I/2,770) Doch der »Hoppelpoppel« verleibt sich nicht nur »vieles« vom Plot der Flegeljahre ein, (I/2,736) die Geschichte um das Romanschreiben wird auch immer mehr zum eigentlichen Zentrum und verdrängt die ursprüngliche Geschichte um die Testamentsämter. Verdankt sich das Romangewebe der Flegeljahre als Plot und als Textur damit weitgehend dem Geschwisterverhältnis, 46 so gilt umgekehrt für den Roman im Roman »Hoppelpoppel oder das Herz«, dass er das eigentliche Band der Brüder ist. Dies zeigt sich besonders in Krisensituationen. Wie gerade beide Brüder sich missverstanden fühlen und sehr aufeinander zürnen, »webte« Walt »– ganz entblößt von Menschen und Geschäften – seinen Roman fort, als das einzige dünne leichte Band, das sich noch aus seiner Stube in die brüderliche spannen ließ.« (I/2,990) Wenn alle anderen Stricke in ihrer Beziehung gerissen sind, dann schreiben die Brüder »eifriger als je« an ihren Texten und kommunizieren miteinander allein über ihren Roman. So schickt Vult die »Ausschweifungen für den Hoppelpoppel ohne ein Wort dazu«, und wenn ein Begleitbrief dabei ist, dann enthält dieser einen kurzen Kommentar zur Arbeit am Text, jedoch keine persönliche Bezugnahme. Walt dagegen schickt seine empfindsamen Kapitel an Vult ohne Textkommentar, dafür mit einer Bezugnahme auf die der Schreibarbeit zugrunde liegende Geschwisterbeziehung. Wie dem »hier ganz mitzuteilendem Briefe« zu entnehmen ist, ist diese Bezugnahme strukturell auf das absolute Minimum reduziert und erhält durch diesen Gestus den Status einer Beschwörungsformel: Bruder! Hier! – – – – – – –

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Dein Bruder G. (I/2,986f.)

Vgl. dazu Teil III, Kap. 2.3, 3.3. Weitgehend insofern, als die Geschichte der Brüder diejenige um die Erbämter ja nicht vollständig ersetzt und es neben den Schrift-Zwillingen die Erzählerfi ktion ›Jean Paul‹ gibt, die als »Geschichtschreiber« die Geschichte der Flegeljahre-Brüder historisch erzählt und die Drucklegung der eingestreuten Textpassagen des Autorenduos Harnisch verantwortet (I/2,594).

Den in der kommunikativen Kälte drohenden Verlust des Bruders – »Auf ewig ist mir der Bruder begraben und eingesenkt« (I/2,987) – sucht Walt durch die performative Versicherung des Geschwisterstatus abzuwenden. Als Strategie ist die Krisenbewältigung über die Schrift nicht nur dem Gedeihen des Romans, sondern auch der Geschwisterbeziehung förderlich: Über das Schreiben fi nden die beiden Brüder jeweils wieder zusammen. Das wird ihnen im Verlauf ihrer Beziehung so sehr bewusst, dass beide entsprechende Vorsorge treffen: Walt »nahm sich vor, alle schönen Züge« Vults »unbemerkt aufzuschreiben, um sie als Rezepte nachzulesen, wenn er wieder knurren wolle.« (I/2,995) Umgekehrt schreibt Vult nicht nur am »Hoppelpoppel«, sondern parallel und heimlich auch an einem Tagebuch über Walt, in dem er diesen analysiert und ihm damit seine ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen lässt, um ihn dann als »Held« in »einen göttlichen Roman« zu setzen: »Nur ist durchaus erforderlich, daß ich als der Beschreiber des Lebens ihn geschickt, wie eine herkulanische Bücherrolle, auseinanderwinde und dann kopiere. (I/2,999) Dazu ist Vult zu Walt gezogen, um in der »Stuben-Verbrüderung« die »Lettern-Zeit« im gemeinsamen Leben und Schreiben optimal zu nutzen. (I/2,995,1008) Wobei »das Beisammenwohnen desto schöner motiviert« wird, als die beiden nach wie vor mausarmen Harnische dabei Lebenskosten teilen und sparen können. (I/2,1010) Auf mehreren Ebenen arbeiten Walt und Vult damit schreibend an der angestrebten Einheit des Differenten: Über ihr »Doppel-Leben« und -Schreiben in engster physischer Nachbarschaft, über die zusammengefügten Textbeiträge für den gemeinsamen Roman-»Einling« und über das heimliche Beschreiben des jeweiligen Zwillingsbruders. (I/2,1005,667) Auf jeder dieser Ebenen fungiert ihr Geschwisterstatus als Garant für das Gelingen: Das Zusammenleben auf engstem Raum nimmt Bezug auf jene einmalige pränatale und dann besondere soziale »Gemeinschaft«, (I/2,803) die das Zwillingsdasein ausmacht und nur erneut abgerufen zu werden braucht. Der Doppelroman »Hoppelpoppel oder das Herz« referiert über seine zentrale Metaphorik des Gewebes auf die Kontinuität und Unauflöslichkeit der Geschwisterbeziehung und sucht sich so seines Wachsens und seiner Dauerhaftigkeit zu versichern. Und die Versuche, sich schreibend in den anderen Zwillingsbruder hinein zu versetzen und damit quasi ›ein Herz und eine Seele‹ zu werden, zielen darauf, die erstrebte Figuration einer ›Zwillingsgeschwisterschaft des Herzens‹ herbeizuführen, jenes von Vult wiederholt angerufene Phantasma einer auf Identität gründenden Zwillingseinheit. 47 Das dafür zentrale Bild des Herzens, das zugleich den Doppelroman »Hoppelpoppel oder das Herz« zur Hälfte repräsentiert,

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Vgl. dazu die Ausführungen zu I/2,802f. in Teil III, Kap. 1.3. Auch Walt greift die Identitätsfiguration auf, und dies in engem Bezug zum Titan: »Sei wie ich, Vult«. (I/2,991) Der intratextuelle Bezug auf die Gründungsformel des Freundespaares Albano und Roquairol aus dem in »Wechselschreiberei« (SWIII/4,129) mit den Flegeljahren geschriebenen Titan verweist schon auf die Fehleinschätzung, die der Identitätsformel zu Grunde liegt. Zur Figuration von Identität in der Freundschaft bei Albano und Roquairol vgl. Teil III, Kap. 3.2.

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ist als ein der Empfindsamkeit geschuldetes Organ zwar als ein leicht erregbares, in seiner »ächte[n]« Liebe zum Geschwister (I/2,1000) aber unerschütterliches gezeichnet. Die Bildspender Herz, Gewebe und Zwillingsgemeinschaft zielen damit alle auf Kontinuität und Dauerhaftigkeit der interdependent auf einander verweisenden Konstellation von Schrift und Geschwisterbeziehung. In diese die Einheit des Differenten auf Dauer verpflichtenden Bilder bringt die andere Hälfte des Romantitels ein prekäres Element ein: »Wer einen Hoppelpoppel schreibt, sollte ohnehin einen Hoppelpoppel trinken, ja er sollte beides vereinen und ein Punsch-Royalist werden, wenn du weißt, was Punch royal ist.« (1007f.) Die schaumige Masse aus geschlagenen Eiern, Zucker und Rum, die das Hoppelpoppel-Getränk ausmacht, 48 ist nicht konservierbar: Wird sie nicht rasch konsumiert, fällt die homogene Schaumschlägerei in sich zusammen und scheidet sich in ihre Einzelteile. Mit dem Bildspender Hoppelpoppel ist jedoch nicht nur die Konsistenz und Dauerhaftigkeit der Romantextur bedroht. Vults Aufruf, einen Hoppelpoppel nicht nur zu schreiben, sondern zugleich auch zu trinken, ist in den Flegeljahren im Unterschied zu den »Doppeltgängern« auch kein Rezept für eine gegenseitige Einflussnahme auf der Ebene der Schrift. Wirken die Gebrüder Mensch durch ihren geteilten Blutkreislauf bei der Konsumation von Geist in flüssiger Form selbst »wider Willen« auf das gegenseitige Schreiben ein, (I/3,841) so steht am Ende der Flegeljahre die ernüchternde Erkenntnis gegenseitiger Unbeeinflussbarkeit: »du bist nicht zu ändern, ich nicht zu bessern«. (I/2,1082) Darüber hinaus ist der Alkoholkonsum dem gemeinsamen Schreiben nicht eben förderlich: Beim Trinken halten die Brüder Harnisch »ihre guten Diskurse, wie Menschen pflegen und sollen«, haben aber dabei »nicht viel« bis »gar nichts« geschrieben. (I/2,1008) Bei solchen Gesprächen wird Walt deutlich bewusst, dass er trotz aller gegenseitigen Empathie seinen Bruder gerade diskursiv – beim »Diskurieren« – nicht versteht: »Walt verstand ihn nicht; denn oft kam es ihm vor, als finde Vult zuweilen später den Sinn als das Wort.« (I/2,1012) Poetologisch gewendet heißt das, dass der Zusammenhalt der Doppelschreibweise allein über äußere Faktoren der Zwillingsgeschwisterschaft – Ebenbürtigkeit, Unauflöslichkeit, Empathie sowie eng verbundene und unhintergehbare Zweiheit – respektive die handwerkliche Zusammenfügung im Weben und Hoppelpoppel-Mischen, nicht aber über textimmanente Verbindungen verläuft. Die einzelnen Textteile stehen je für sich und ein übergreifender Sinn muss aus dem Zusammenhang, in den die Textstücke gestellt werden, erschlossen werden. 49 Die hermeneutische Arbeit, einen Sinnbezug zwischen satirischen und empfindsamen Teilen herzustellen, wird also ganz den Lesenden

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Ein Punsch royal besteht dagegen aus einem »Extrakt von Orangen- und Zitronenschalen, die in Rum oder Arrak gezogen haben, aus geschlagenem Eiweiß und Zucker, die mit gleichen Teilen roten und weißen Weins aufgegossen werden«, (I/2,1201) und bringt wie der »Orangenzucker« aus Walts Idyll »Das Glück eines schwedischen Pfarrers« »das schöne Welschland mit seinen Gärten auf die Zunge und vor alle Sinne« (I/2,600). Vgl. zu diesem Vorgehen Vults poetologische Reden über das Einfügen von satirischen

überlassen. Wobei dem Autorenduo zu Gute zu halten ist, dass sich Vult und Walt nicht nur als Autoren, sondern auch als die ersten Leser der eigenen sowie der Texte des Bruders verstehen. Im poetologischen Schlussbild der beschriebenen Glastür fasst Vult seine Einsicht in die uneinholbare Differenz mit seinem Schriftbruder nochmals zusammen: Wir beide waren uns einander ganz aufgetan, so wie zugetan ohnehin; uns so durchsichtig wie eine Glastür; aber, Bruder, vergebens schreibe ich außen ans Glas meinen Charakter mit leserlichen Charakteren: du kannst doch innen, weil sie umgekehrt erscheinen, nichts lesen und sehen als das Umgekehrte. (I/2,1081)

Für die Offenlegung des Menschen findet Jean Paul hier die zukunftsträchtigen Metaphern der durchsichtigen Glastür und des Schreibens des Charakters, die auf das Bild des gläsernen Menschen und die biopolitische Durchleuchtung respektive die Lesbarkeit des Menschen über die Entzifferung des Genoms im 20. Jahrhundert voraus weisen. In den Flegeljahren jedoch ist die Offenlegung des Menschen ein ganz und gar selbst bestimmter Prozess,50 allein die dafür gewählten Mittel – Glastür und Schrift – genügen nicht: Die Schriftbrüder können sich einander nicht lesbar machen, ihre Differenz gipfelt im hermeneutischen Desaster des Nicht-Verstehens. Wie es vielleicht hätte klappen können, beschreibt eine Passage aus der zeitgleich mit den Flegeljahren entstandenen Vorschule, die mit ähnlichen Bildfeldern argumentiert: Der Dichter muß selber seine Handschrift verkehrt schreiben können, damit sie sich im Spiegel der Kunst durch die zweite Umkehrung leserlich zeige. Diese hypostatische Union zweier Naturen, einer göttlichen und einer menschlichen, ist so schwer, daß statt der Vereinigung meistens eine Vermengung und also Vernichtung der Naturen entsteht. (I/5,158)

Eine andere Wahl der Mittel – verkehrte Handschrift und Spiegel – hätte den gewünschten Erfolg vielleicht auch bei den Flegeljahre-Brüdern bringen können. Allerdings hält die Vorschule die Erfolgsaussichten aufgrund der Schwierigkeit des doppelten Übersetzungsprozesses für gering: Muss doch der ästhetischen Verkehrung der Welt in Schrift eine zweite Umkehrung »im Spiegel der Kunst« entsprechen. Oder anders gesagt: Das Scheitern der Schriftbrüder an ihrer Lesbarkeit macht einmal mehr evident, dass sie gegenseitig nicht auf die Spiegelmetaphorik und damit auf keine Figuration von Identität referieren.51

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Mauerstücken in das romantische Odeon und die vielfältigen Möglichkeiten dafür, die sich durch einen baldigen Tod des Autors ergeben würden. (I/2,770,998f.) Wenn auch mit einem Ausweitungspotenzial versehen, das auf die oben genannten Ausprägungen der Biomacht im 20. Jahrhundert voraus weist: »Und so bekommt die ganze Welt fast immer sehr lesbare, aber umgekehrte Schrift zu lesen.« (I/2,1081) Die jeweilige Poetisierung der Welt durch Walt und Vult erfolgt dagegen – analog zur dichterischen Handschrift in der Vorschule – der Figur des Spiegelns: So hält Vult in gewohnter Manier Jean-Paul’scher Satiriker kleinen und großen menschlichen Verfeh-

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Vult zieht aus der Erkenntnis der finalen Differenz die Konsequenz und bricht das Experiment des Doppel-Lebens ab: »Ich lasse dich, wie du warst, und gehe, wie ich kam. [...] so wollen wir einander denn in wechselseitiger Luftperspektive entlegen erblicken«. (I/2,1081f.) Über die gewonnene Distanz vom Identitätsphantasma und die damit veränderte Perspektive auf das zu Erreichende kann dann der Doppelroman fertig gestellt werden, und zwar nicht als überhöhter »Einling«, (I/2,667) sondern als solides Werkstück, das gleichwohl zur Höhe strebt, nämlich »als fest zusammengeleimter und langgeschwänzter Papierdrache«, der »aufsteigen will« und dann als poetologische Zentralmetapher durch Jean Pauls Spätwerk flattert. (I/2,1082)

lungen den Spiegel vor, und Walt als »ein Polymetriker im Göttermonat der Jugend, ein ewig entzückter Mensch« beschaut und mildert »das harte Leben stets [...] im (poetischen) Spiegel«. (I/2,675f.)

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Schluss

Jene »gewisse Einseitigkeit des Blicks«, (I/1,800) mit der die literarische Formierung des Geschwisterdispositivs und seine Semiosen bei Jean Paul erst sichtbar werden konnten, hat eine Vielfältigkeit der Gestaltungen zu Tage gefördert. Zum Schluss will ich darum den roten Faden nochmals aufnehmen und komplementär zur in der Einleitung gegebenen Zusammenfassung der strukturellen und kulturhistorischen Grundlegung einen Überblick über die Ergebnisse der Textlektüren gewinnen. Die Valenzen des Geschwisterlichen in ihren leiblich-konkreten, geistlich-institutionellen und semiotisch-imaginären Ausprägungen bilden in Jean Pauls Texten ein Netzwerk, das strategisch eine Validierung der Horizontalen leistet: Wie sich dergestalt Elemente aus heterogenen Kontexten zum Dispositiv formieren, zeigt in nuce die Loge. Denn hier gerät das Einzelkind Gustav über eine mehrschichtige Geschwistergenese ins Zentrum von Geschwisterverhältnissen. Die Pointe daran ist, dass dies an einem Kind statuiert wird, das über keine eigentlichen Geschwister verfügt und zusätzlich in seiner frühen Kindheit von jedem zwischenmenschlichen Kontakt isoliert und allein dem Herrnhuter Genius überantwortet wird: Bildung und Entwicklung vollziehen sich hier als kontrolliertes Experiment. Die vom Text her benannte Ideologie, die dafür verantwortlich zeichnet, ist das Herrnhutertum. Damit ist dem Erziehexperiment von Anfang an ein geschwisterlicher Subtext eingeschrieben: Die in der Forschung bisher strikt vertikal gesehene Textbewegung um den Erzählkomplex des »hohen Menschen« (I/1,221) wird durch die Aufdeckung ihres horizontalen Subtextes neu positioniert: Transzendenzbewegung und Geschwisterschaft zusammen machen – so das Ergebnis dieser Studie – das Bildungsideal aus. Wie die innere Ausrichtung auf die Transzendenz und die in der »Auferstehung« (I/1,62) durchlebte Erfahrung davon müssen auch Geschwisterlichkeit als innere Einstellung sowie die Erfahrung intersubjektiver Geschwisterbeziehungen von Gustav erarbeitet und in steter Wiederholung versichert werden. Das Geschwisterdispositiv der Loge wird performativ hergestellt. Im Zentrum dieser performativen Textbewegung stehen das »Hals-Gehenk«, (I/1,68) ein Bildmedium, das behändigt und besprochen wird und so Geschwisterbeziehungen zu knüpfen fähig ist, sowie eine Performance im eigentlichen Sinn des Wortes: Gustav und Beata erspielen sich ihren Geschwisterstatus und versichern sich dessen in wiederholten Aus- und Aufführungen. Im Ansatz weniger überraschend als der Geschwisterstatus eines Einzelkindes ist die Einschreibung des Geschwisterlichen in die Liebesgeschichte der Loge. Das Ausmaß der Ausführung jedoch verblüfft: Denn diese geht weit über die Umset365

zung der zeittypischen inzestuösen Szenographie hinaus, wie sie paradigmatisch an Goethes Einakter Die Geschwister herausgearbeitet wird. Obwohl die inzestuöse Szenographie in der Loge bis in die Minimaleinheit der formelhaften Wendung »ich bin ja dein Bruder nicht« (I/1,326)1 als Versatzstück aus dem narrativen Pool der Zeit und als Bauplan des eigenen Textes zugleich kenntlich gemacht wird, schafft sie es dennoch, die Handlung voranzutreiben und alle Etappen der Liebesgeschichte auf Geschwisterstrukturen zurückzuführen. Neben den Interdependenzen zwischen Liebe und Geschwisterschaft sind es diejenigen zur Freundschaft, über die im Diskurs der Empfindsamkeit die Verhandlungen um individuelle Emotionen und soziale Beziehungen geführt werden. Mit dieser Trias wird einer horizontalen Struktur zum Durchbruch verholfen, die der bürgerlichen Gemeinschaftsutopie und dem sie garantierenden individuellen Gefühl eine zugleich verbürgte als auch neu füllbare Form gibt. In der Loge geschieht dies über die kleine Gesellschaft der hohen Menschen und schönen Seelen in Lilienbad und im »Glückseligkeits-Triangel«2 um Amandus, Gustav und Beata. Die ideale Gesellschaft in Lilienbad ist sich liebend, freundschaftlich und geschwisterlich zugleich verbunden und in Geschwisterpaaren gruppiert. Auch der auf die zeitgenössische Szenographie des tugendempfindsamen Dreiecks um zwei Freunde und die von beiden geliebte Frau bezugnehmende Glückseligkeits-Triangel ist im Geschwistermodus gestaltet, wobei alle drei Geschwistermodi der Loge zum Einsatz kommen: die leiblich-materielle, die seelisch-imaginäre und die institutionelle Ebene. Darin, wie sich die triangulären Verhandlungen um Freundschaft und Liebe in das Geschwisterdispositiv einschreiben und sich so nicht nur aktantiell, sondern auch in Bezug auf die zur Debatte stehenden Emotionen und sozialen Beziehungen zum Dreieck aus Freundschaft, Liebe und Geschwisterschaft schließen, ist die Loge Jacobis Woldemar verwandt. Der Woldemar hat sich insbesondere auch darum als ein wichtiger Intertext der Loge erwiesen, da geschwisterliche Verhältnisse hier nicht als verborgene aufgedeckt werden müssen, sondern jenseits von eigentlichen Verwandtschaftsverhältnissen performativ hergestellt werden. Welch stupende Bedeutung und integrative Funktion bisher für kurios gehaltene Einfälle und frei schwebende Motivreihen durch ihre systematische Verortung im Geschwisterdispositiv erhalten können, zeigt sich am deutlichsten bei der institutionellen Thematik: So haben sich die in der Forschung meist als satirische Anspielung ohne nennenswerten Rückhalt im Text gelesene Herrnhuterthematik oder die titelgebende, aber weitgehend unauffindbare Loge als Elemente der institutionellen Ebene erwiesen, die mithelfen sollen, das Ideal der Geschwisterlichkeit in Gustav zu verwirklichen und die Spur der unsichtbaren Loge im Text sichtbar

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Im goetheschen Intertext Die Geschwister lautet die entsprechende Formulierung: »Marianne ist nicht meine Schwester« (Goethe, Werke 4, S. 364). Lichtenberg, Schriften, Bd. 3, S. 1029.

zu machen. Das Programm der Loge ist damit ein doppeltes, auf die Transzendenz und die soziale Gemeinschaft zugleich gerichtetes: Ziel ist eine Art Jenseitsgemeinschaft im Diesseits mit der für das zeitgenössische Geheimbundwesen typischen eschatologisch-politischen Doppelfunktion. Die Eschatologie der Loge widmet sich der Frage, wie der die direkte Seelenkommunikation störende Leib transzendiert werden kann, und findet vor allem satirische Antworten darauf. Das sozialpolitische Konzept verfolgt neben einer Kritik an den herrschenden Ständen eine gemäßigt republikanische Ideologie, die wahrscheinlich auf eine indirekte Gewaltnahme durch einen tugendhaften Herrscher zielt: Gustavs sorgfältige Tugenderziehung scheint jedenfalls darauf ausgerichtet zu sein. Als wichtigster Subtext für die Spurensuche nach der Loge im Text hat sich der zeitgenössische Diskurs um die illuminatische Verschwörungsthese erwiesen. In einem Brief über die »Titel-Sonderbarkeit« der Loge gibt Jean Paul den entscheidenden Hinweis, wie wir beim Entschlüsseln des Titel-Rätsels vorgehen können: Es gilt die Indizien im Text gemäß dem vierfachen Schriftsinn auf ihren – mit Jean Paul – »mystischen, allegorischen, politischen Kern« hin aufzuspüren und mit dem »ungelehrten« respektive literalen Sinn zu verbinden. In diesem Sinne erzählt die Loge über ihre Arkangesellschaft literal eine Reihe merkwürdiger Begebenheiten, allegorisch verweist sie dabei auf den Geheimbunddiskurs und die dahinter stehenden Institutionen, »politisch« respektive moralisch auf ein ständekritisch ausgerichtetes sozialpolitisches Handlungsgebot und »mystisch« oder anagogisch auf die den Logenbrüdern gegebene Gewissheit der Transzendenz. (SWIII/1,360) Auf der poetologischen Ebene sind die Schriftgeschwister ›Jean Paul‹ und Philippine ein erster Entwurf, die ab der Loge zu Jean Pauls Markenzeichen gewordene Doppelschreibweise auf der Horizontalen zu situieren. Über ihren Anschluss am Geschwisterdispositiv partizipiert die Verbindung von Empfindsamkeit und Satire an der Zusammengehörigkeit, Egalität, Kontinuität und Stabilität, die die Geschwisterbeziehung um 1800 auszeichnet. Dadurch, dass die geschlechtliche Differenz der Schriftschwester so stark markiert wird, ist das Schriftgeschwisterpaar nicht auf eine Figuration von Identität rückführbar. Das angestrebte Ziel einer Einheit in »verschwisterter Harmonie« (I/1,380) ist darum nicht über Verfahren der Identifikation oder Spiegelung zu erlangen, sondern muss über eine aktive Zusammenführung der verschiedenen Teile geschehen. Das ist in der Loge die Aufgabe der Schriftschwester: Mit Leim, wenigen Worten und letztlich auch mythischer Potenz fügt sie das Fragment zum Werk und schließt über Anleihen an Mythologemen noch zusätzlich eine Rückversicherung ab, die dem so Zusammengefügten ein ewiges Leben im Bücherhimmel garantieren soll. Derselben Problemlage einer Einheit des Differenten haben sich dann gut zehn Jahre später und unter anderen Voraussetzungen die Schrift-Zwillinge der Flegeljahre zu stellen. Die vorliegende Studie hat die hohe Selbstreflexivität von Jean Pauls Schreiben zur Aufforderung genommen, Geschwisterliches im Hesperus, Titan und den Flegeljahren vom Geschwisterdispositiv der Loge her zu lesen und als Geschwistersemiosen zu verstehen. Dadurch sind Bewegungen und Entwicklungen durch die 367

Texte hindurch sichtbar geworden, die sich schlagwortartig als Weg von der Performativität zur Biologisierung und Konkretisierung umschreiben lassen. Diesem Weg entspricht zugleich eine Bewegung der Ent-Täuschung und Objektivierung, der Zurücknahme von Idealisierungen über die Texte hinweg als auch in den einzelnen Textwelten selbst. Auch auf der poetologischen Ebene orientieren sich die familiären Codes zunehmend an biologischen Erklärungsmustern, und dies sowohl vertikal als auch horizontal. In der vergleichenden Lektüre der Jean Paul-Texte hat sich deutlich gezeigt, dass das Geschwisterdispositiv in der in Teil I herausgearbeiteten Diversivität allein in der Loge wirksam ist. Mit dem Hesperus wird der Facettenreichtum von Geschwisterstrukturen zurückgenommen: Blutsverwandtschaft wird nun zum primären Begründungszusammenhang von Geschwisterverhältnissen. Dabei folgt die Erzähllogik einer Bewegung von Verstecken und Aufdecken. Zwar gibt es noch performativ hergestellte Geschwisterstrukturen, doch hauptsächlich entscheidet die eigentliche Genealogie und damit die Vertikale über die jeweilige familiäre Positionierung. Mit ihrer biologischen Fundierung werden die erzählten Geschwisterbeziehungen selbst realitätsnäher und damit vielfältiger als die idealtypisch hergestellten der Loge: Geschwister im Hesperus können sich auch streiten oder auf der Seite der Intriganten stehen. Teil der Biologisierung des Geschwisterdispositivs im Hesperus ist erstaunlicherweise auch die institutionelle Ebene: So besteht der politisierende Klub, der die ständekritische und republikanische Programmatik vertritt, weitgehend aus eigentlichen Brüdern, den gemäß dem Narrativ vom verborgenen Prinzen inkognito aufgewachsenen und am Textschluss in ihre angestammten Rechte gesetzten Fürstenbrüdern. Die rechte Abstammung, nicht der fraternalistische Bund ist damit entscheidend. Die im Klub debattierten politischen Inhalte bleiben reine Rhetorik und dienen der inneren Bildung zum guten, gerechten und reformfähigen, aber keineswegs revolutionären Herrscher. Vom Schluss her gesehen ist dieser Bildungsprozess kein selbst bestimmter Weg, sondern von oben, der staatstragenden Macht geleitet: Die Biologisierung der Parole der fraternité bedeutet keine Stärkung, sondern eine massive Schwächung der Horizontalen. Effekt der Biologisierung des Geschwisterdispositivs im Hesperus ist darüber hinaus, dass sich Motivkomplexe, die schon in der Loge mit den existenziellen Gegebenheiten eines Geschwisters auf Kollisionskurs standen, aus dem Dispositiv herausbewegen und neu vernetzen. So etwa die semiotisch fundierte leiblich-materielle Geschwisterschaft, die in der Loge die Spannung zwischen Selbstrepräsentation und damit der Ermächtigung durch ein ego gegenüber der existenziellen Gegebenheit eines Geschwisters, das das ego auf seine Kontingenz verweist, repräsentierte. Im Konflikt um Nativität und Produktivität stärkt der Hesperus letztere: Die Ebene der Selbstbezüglichkeit proliferiert in eine Vielfalt von Urbildern und Abbildern, die sich ihrem Begründungszusammenhang entzogen hat, dafür jedoch narrative Höhepunkte wie Viktors Rede auf seine Wachs-Leiche verantwortet. Relevant bleibt dagegen im Hesperus die seelisch-imaginäre Beziehung zu einer Schwester, sie ist zentraler Bestandteil der Geschichte des liebenden Paares. Wie in 368

der Loge wird auch die Seelengeschwisterschaft im Hesperus performativ hergestellt, und zwar an der ›schrägen Schnittstelle‹3 zur Performance: Anlässlich einer Aufführung von Goethes Iphigenie werden Viktor und Klotilde über Verfahren repetitiver Bezeichnungen zu einem Bruder-Schwester-Paar, das als imaginäres Geschwisterpaar die ideale Basis für ein Zusammenkommen als Geschlechterpaar bildet. Doch ganz entgehen selbst die Seelengeschwister nicht dem biologischen Paradigma des Hesperus: Über die Metaphorik einer Blut-Schrift wird die Seelen-Verwandtschaft in einen biologischen Erklärungszusammenhang eingebunden. Nicht metaphorisch, sondern tatsächlich auf Blutsverwandtschaft referiert im Hesperus dann jedoch die inzestuöse Situation. Gegenüber deren komplexer Herleitung in der Loge kann dies als eine Re-Trivialisierung hin zur konventionellen Gestaltung der Szenographie gedeutet werden. Zugleich zeigt sich, dass es sich dabei um einen für Jean Paul unverzichtbaren Baustein seiner Liebesnarration handelt. Freundschaft ist im Hesperus zwar von einer Geschwistermetaphorik umspielt, referiert strukturell aber gerade nicht darauf: Der Freund ist hier nicht »wie ein Bruder«4 und mehr noch, es sind gerade die tatsächlichen Geschwisterverhältnisse, die die Freundschaft in die Krise stürzen. Die Verknüpfung der beiden Szenographien der inzestuösen Situation und des Glückseligkeits-Triangels macht die trianguläre Konstellation um Liebe, Freundschaft und Geschwisterschaft nicht glückselig, sondern explosiv. Richten die Schüsse, die im Hesperus aus enttäuschter Freundschaft fallen, keinen Schaden an und werden die fehlgeleiteten Gefühle bei der Aufdeckung der wahren Verhältnisse problemlos in die richtigen Bahnen gelenkt, so kennt dann der Titan die tragische Fallhöhe im realen und sozialen Tod nach emotionaler und personaler Fehleinschätzung. Strukturell führt der Titan die mit dem Hesperus eingeleitete Bewegung der Biologisierung der Geschwisterverhältnisse fort: mit einer weiteren Reduktion der Variabilität des Geschwisterthemas, einer Verstärkung der biologisch fundierten Genealogie, dem weitgehenden Scheitern der im Hesperus noch verwendeten Alternativen zur Herstellung geschwisterähnlicher Strukturen und einer Heroisierung und Individualisierung des Republikthemas. So findet im Titan auf Figurenebene zwar eine Proliferation von biologisch fundierten Geschwisterbeziehungen statt, doch die Bedeutsamkeit der verschiedenen Formen von Geschwisterschaft nimmt weiter ab: Die Seelengeschwisterschaft verkommt zur Geistererscheinung und die institutionelle Geschwisterschaft ist nur noch über Requisiten oder exklusive Ritterorden greifbar, die gerade keine republikanische Ideologie verfolgen. Die genealogisch-dynastische Intrige des Titan gilt der Forschung nicht gerade als Jean Pauls Glanzleistung und wird gewöhnlich als eine Art verzichtbares Requisit behandelt, von dem sich Albanos innere Entwicklung unabhängig entwickle.

3 4

Zur ›schrägen Schnittstelle‹ zwischen Performance und Performativität vgl. Parker/ Sedgwick 1995, Schumacher 2002, S. 383ff. Derrida 2002, S. 10.

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Demgegenüber wird hier die konträre These vertreten, dass die emotionale Auseinandersetzung mit den Mehrfachbesetzungen und Inszenierungen der familiären und familienähnlichen Positionen Albanos Inneres modelliert und er dadurch jene spezifische moralische Bildung erhält, die Jean Paul als ideal für den Thron gilt: Als moralisch guter und zugleich tatfreudiger Mensch, im Herzen bürgerlich und im Auftreten adlig, soll sich Albano als Herrscher dem »Volksglück« (I/3,819) zuwenden. Die um 1800 stark betonte Parallelität von Familie und Staat liefert den strukturellen Rahmen, in dem innerhalb der Familie gewonnene Erfahrungen und Erkenntnisse gesellschaftlich und politisch gewendet werden können. In diesem Sinne bildet Albanos komplizierte Geschwistersozialisation die Basis für seine – allerdings nicht erzählte – staatspolitische Umsetzung des kosmopolitisch denotierten Appells und Schlusswortes des Titan: »wacht auf, meine Geschwister!« (I/3,830) In Liebesdingen lässt der Titan die im Umkreis ›weiterer Geschwisterschaft‹ verorteten Strategien aus der Loge und dem Hesperus eine um die andere scheitern, um den Ausweg im biologisch Naheliegendsten zu finden: der endogamen Heirat zur Sicherung des Besitzstandes. So führen im Titan die geschwisterliche Ideologie empfindsamer Seelenliebe, die Konvergenz von Geschlechter- und Geschwisterliebe als auch der Glückseligkeits-Triangel in die Katastrophe, und die bisher unverzichtbare inzestuöse Situation greift nicht: Im Titan erzählt Jean Paul die Geschwisterisotopien seiner bisherigen Liebesnarrationen zu Ende. »Es sollte daher immer ein Paar Paare geben, kreuzweise verschwistert und liebend«, (I/3,376) formuliert der Titan als Erzählregel für die erste Liebesgeschichte, diejenige zwischen Albano und Liane, die parallel zu derjenigen zwischen Roquairol und Rabette geführt wird. Die in den vorherigen Texten stets siegreiche Formel der Verbindung von Geschwister- und Geschlechterliebe scheitert jedoch. Es ist die am Geschwistermodell orientierte Struktur der empfindsamen Liebe selbst, deren Aporien im Titan im konsequenten Ausführen des geschwisterlichen Subtextes offen gelegt werden und die als Basis einer Beziehung zwischen zwei Menschen für untauglich erklärt wird. Für das Scheitern der zweiten Liebesgeschichte Albanos sind vor allem äußere Gründe maßgeblich. Dass diese greifen können, verdanken sie jedoch einem grundsätzlicher liegenden, beziehungsimmanenten Konflikt: dem egalitär angelegten aber gesellschaftlich geschlechterdifferent geregelten Autonomiestreben beider Partner. Aus dem Geschwisterdispositiv wird bei Albano und Linda vor allem die Kohäsion zwischen Schwester und Braut aktualisiert. Dies in einer umständlichen Version, die vor allem zeigt, wie persistent sich die inzestuöse Situation bei Jean Paul auch noch in letzten Residuen behauptet. Erfolg hat erst die dritte Liebesgeschichte des Titan, die Verbindung Albanos mit Idoine. Von ihrer Qualität als Liebesgeschichte ist diese die für den Erzähler wie die Lesenden am wenigsten spannendste, von ihrer Stellung im Gesamtplan der Liebesnarration des Titan jedoch ist sie die Kulmination: Sie verortet Idoine dominant, aber unproblematisch als Schwester, realisiert in der Cousin/Cousinen-Heirat eine praxistaugliche Lösung der Kohäsion von Geschwister- und Geschlechterliebe 370

und bindet zugleich Albanos eigentliche Schwester Julienne in den Bund mit ein, so dass der für den Titan charakteristische Liebesaugenblick selbdritt – Bruder, Schwester und Geliebte – dauerhaft verankert ist. Darüber hinaus repräsentiert Idoine physiognomisch, charakterlich und nominal die bisher von Albano geliebten Frauenfiguren, bewahrt damit deren Andenken und profiliert sich als ihre Steigerung. Als Stellvertreter- und Kompromissfigur führt Idoine die Liebesnarration des Titan und mit dieser zugleich auch die Dominanz der Schwester in Liebesdingen bei Jean Paul zu Ende: Die Flegeljahre erzählen dann schwesterlos von Liebe. Ist Idoine der konstruierteste, so Roquairol der komplexeste und ausdrucksstärkste Charakter: Er gilt der Forschung einhellig als die heimliche Hauptfigur und ist die meist analysierte Figur des Titan. Man ist sich darin einig, Roquairol als eine Kunstfigur zu lesen, die gegen Goethe und mit Jacobi die Grenzen einer außer sich nichts mehr anerkennenden Autonomieästhetik aufzeigt: Die Folgen reiner Selbstbezüglichkeit sind Amoralität, Misanthropie und der Verlust von Authentizität, gerade im emotionalen Bereich. Das trifft fraglos ins Zentrum der Figur. Übersehen worden ist dabei jedoch, dass sich die auf Authentizität beruhende Beziehung zu seiner Schwester Liane nicht in dieses Konzept leerer Künstlichkeit einpassen lässt. Oder anders gesagt: Dass der egoistische Ästhetizist Roquairol seine Schwester »am [...] uneigennützigsten« (I/3,276) liebt, zeigt die Unhintergehbarkeit der Schwester in Jean Pauls Schreiben – jedenfalls für die Gefühlslage der hohen Romane. Die Freundschaftsgeschichte zwischen Albano und Roquairol wird über eine ganze Reihe ästhetischer Verfahren eng an das Geschwisterdispositiv gekoppelt und referiert auf die im Freundschaftsdiskurs an der Figur des Bruders tradierte Logik der Identifikation. Die Formel vom »verbunden geboren«-Sein (I/3,249) ist aber nicht nur ein Diskurszitat identifikatorischen Freundschaftspathos, sondern auch eine autopoetologische Reflexion: Jean Paul hat die Figur Roquairol aus den »semiotischen Verwerfungen«5 Albanos generiert. Die Rede vom Freund als Bruder ist damit auch ein Versuch, diese werkgenetische Zusammengehörigkeit struktural aufzufangen. In den Verhandlungen um Identität und Differenz der zwei Freunde ist es die Figur der Schwester, die eine Klärung herbeiführt und die Dominanz der Differenzen aufzeigt: Identifikation erweist sich für die Beziehung zwischen Albano und Roquairol als die falsche Präsupposition und führt die Freundschaft in die Katastrophe. Diesem Fragenkomplex um eine an der Figur des Bruders verhandelte identifikatorische Freundschaft geht Jean Paul dann in einem Neuansatz in den zeitgleich zum Titan verfassten Flegeljahren nach: Hier wollen über die Logik der Identifikation Freunde nicht wie Brüder, sondern Brüder wie Freunde werden und scheitern ebenso wie Albano und Roquairol an ihren grundsätzlich differenten Ausgangslagen.

5

Pfotenhauer 1997/98.

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In der Bundesthematik nun hat der Titan die Seiten gewechselt: War schon der Klub des Hesperus staatstragend, wenn auch noch reformfreudig, so sind die institutionellen Geschwisterschaften des Titan konträr zur Loge ganz auf die Machterhaltung der regierenden Dynastie ausgerichtet. Im Hintergrund der Thronstreitigkeiten ziehen mächtige, aber durchwegs monarchistisch gesinnte Ordensverbindungen die Fäden und zugleich wird von einem kleinen Kreis Eingeweihter ein Geheimplan inszeniert, um Albano gemäß dem Narrativ des verborgenen Prinzen gesund und integer auf den Thron zu bringen. Damit ist das in der Loge etablierte und im Hesperus dann biologisierte Modell institutionalisierter Geschwisterschaft als Träger einer republikanischen Reform pervertiert zum exklusiven staatstragenden Geheimbund. Albano jedoch ist, wie alle Helden der hohen Romane, republikanisch gesinnt. Sein Republikanismus ist aber nicht revolutionär, sondern klassisch fundiert. Er partizipiert über seine humanistische Bildung an einer atemporal gewendeten fraternité, die konkreter politischer Zusammenhänge weitgehend und Handlungsweisen ganz entbehrt: In diesem Sinn bleibt sein Entschluss, Freiheitskämpfer auf Seiten der ›neuen Römer‹ zu werden und in »Galliens [...] Freiheitskrieg« zu ziehen, ohne praktische Konsequenzen. (I/3,585) Letztlich bleibt offen, in welchem Ausmaß und ob überhaupt republikanische Elemente aus seiner Sozialutopie kosmopolitischer Geschwisterlichkeit in die politische Praxis des Fürstentums transferiert werden. Fragen der hohen Politik berühren die Flegeljahre nicht mehr und beschränken ihren Wirkungskreis ganz auf das familiäre Umfeld. Wie bei einem Roman über zwei Zwillingsbrüder nicht anders zu erwarten, hat sich die Jean Paul-Forschung schon verschiedentlich den Flegeljahre-Brüdern gewidmet. Dabei ist die Geschwisterbeziehung als solche mit ihren spezifischen Konstituenten jedoch nicht in den Blick gekommen, sondern jeweils unter andere Figurationen wie die Doppelgängerschaft, Spiegelung und Selbstreflexion, insbesondere im Hinblick auf Jean Pauls Doppelschreibweise, subsumiert worden. Wenn diese Studie auch in der Frage der Doppelgängerschaft und Spiegelung zu einem anderen Ergebnis kommt, so knüpft sie doch grundsätzlich an die These an, dass Selbstreflexivität das zentrale Thema der Flegeljahre ist. Nicht nur poetologisch, auch thematisch sind die Flegeljahre in vieler Hinsicht eine Reflexion von bisher Geschriebenem. Das zeigt sich auch beim Thema der Verwandtschaft: Die Eröffnungsszene mit der Testamentsverlesung, in der von den sieben potenziellen Erben derjenige das Van-der-Kabel’sche Haus erben wird, der zuerst Tränen über den Erblasser vergießen kann, parodiert die Begründung von Verwandtschaft über Körperflüssigkeiten und nimmt damit zugleich den Vormarsch der literarischen Biologie in Jean Pauls Schreiben aufs Korn. Die im Zentrum der Flegeljahre stehende Geschwisterbeziehung jedoch lässt sich nur bedingt als eine Reflexion des Geschwisterdispositivs bei Jean Paul und um 1800 fassen. Zwar fokussieren die eigentlichen Zwillinge Walt und Vult das Geschwisterthema wie kein anderer Text Jean Pauls zuvor. Doch mit der biologischen Konkretisation und Reduktion des Geschwisterlichen auf eine Zwillingsbeziehung 372

findet zugleich auch die größte Verengung statt: Die Brüder Walt und Vult machen das Geschwisterthema weitgehend unter sich und als Auseinandersetzung ihrer beider oppositionell konzipierten Charaktere aus. Das schränkt den Spielraum der Möglichkeiten beträchtlich ein. Entgegen der primären Leseerwartung bei einem Geschwisterroman hat sich für die Flegeljahre eine in Bezug auf die Loge, den Hesperus und Titan weitere Verengung des Geschwisterdispositivs ergeben. Von der antithetischen Ausgangslage ihrer beider Charaktere Verhandlungen auf der geschwisterlichen Horizontale in Gang zu bringen, das ist das Projekt der Flegeljahre. Die Zielvorstellung Vults für diese Verhandlungen avisiert eine Einheit, die sich im gemeinsamen »Doppel-Roman«, der ein »Einling, ein Buch« werden soll, (I/2,667) sowie in freundschaftlicher Identifikation ergeben soll. Für diese identifikatorische Freundschaft sucht Vult die tradierte Diskursfiguration vom Freund, der »wie ein Bruder« ist,6 in umgekehrter Richtung zu aktivieren: Der biologisch gegebene und per definitionem exklusive Zwillingsbruder soll über eine geistige Verbrüderung zum ›einen und einzigen Freund‹ im Sinne von Aristoteles und Montaigne werden. Das Unterfangen scheitert jedoch an der narrativen Ausgangslage, die eine der Differenz und nicht der Identität ist und allen Identifikationsanstrengungen trotzt. Das zeigt sich gerade beim Thema der Spiegelung und der Doppelgängerschaft, die in dieser Hinsicht ausgelotet werden: Auch spiegelnd sind sich Walt und Vult immer »das Umgekehrte«, nie das Gleiche. (I/2,1081) War »das verschwisterte Herz« (I/1,465) die Sehnsuchtsfigur durch alle hohen Romane hindurch, der die – in Ausnahmesituationen wie dem Liebesaugenblick auch gelingende – direkte Seelenkommunikation zugeschrieben wurde, so zeigt sich in den Flegeljahren gerade am Beispiel engster Verschwisterung die Unlesbarkeit der Seele als unhintergehbare conditio humana. Wenn die im Anhang zum Titan publizierte kleine Erzählung »Die Doppeltgänger« eine Allegorie für die Flegeljahre-Brüder ist, wie in der Forschung immer wieder betont, dann aber mit der Doppeltgänger-Definition des Siebenkäs kurzgeschlossen wird, so kommt die vorliegende Arbeit hier bei derselben Präsupposition zum gegenteiligen Schluss, dass Walt und Vult gerade keine ebenbildlichen Spiegelfiguren wie Leibgeber und Siebenkäs sind. Denn die »Doppeltgänger«-Erzählung wendet die im Siebenkäs eingeführte Doppelgänger-Figuration nicht nur inhaltlich, sondern auch begrifflich satirisch. Die Einheit der ganz und gar differenten »Doppeltgänger« beschränkt sich auf ein leiblich erzwungenes ›Im-Doppel-Gehen‹: Als am Rücken zusammengewachsene »Koppelzwilling[e]« (I/3,839) haben sie keine andere Möglichkeit, als sich stets gemeinsam fortzubewegen und müssen für die Bewältigung ihres Alltags Strategien der Alterität entwickeln und institutionalisieren, um miteinander auszukommen. Entsprechend ist die Einheit, die die FlegeljahreZwillinge erreichen können, keine, die sich auf eine Figuration von Identität gründen könnte, sondern eine Einheit des Differenten. Dafür steht paradigmatisch ihr

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Derrida 2002, S. 10.

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gemeinsamer Doppel-Roman »Hoppelpoppel oder das Herz«, der ihre unterschiedlichen Schreibweisen und Auffassungen von Welt als je differente in einem Buch vereint und dabei gegen die mögliche Labilität dieser Einheit Strategien aufbietet, die diese auf Dauer verpflichten sollen. Von Liebe erzählen die Flegeljahre und mit diesen auch der sie reflektierende »Hoppelpoppel« ganz im Unterschied zu allen bisher besprochenen Texten schwesterlos. Das überrascht nach der herausgearbeiteten Dominanz der Schwester in Jean Pauls Liebesnarration und ist von der Schreibgenealogie als eine bewusste Rücknahme zu belegen. Dass die Flegeljahre die Schwesterfiguration aber aus ihrem Kardinalthema Selbstreflexivität ausklammern, zeigt zugleich, dass es sich dabei für Jean Paul um einen Bereich handelt, über den er sich nicht lustig machen will, wie über anderes aus dem empfindsamen Liebesdiskurs. In diesem Sinne spielen auch in den Flegeljahren die Verhandlungen um Liebe, Freundschaft und Geschwisterschaft eine wichtige Rolle. Verhandlungspartner dafür sind aber in erster Linie die Zwillingsbrüder, ja selbst die Frage der Einzigen-Liebe wird zwischen ihnen und nicht zwischen den Geschlechtern gestellt. Die Freundschaftsthematik der Flegeljahre ist zweifach exponiert: als Transposition vom Roman auf das Leben einerseits und als Verhandlung der Frage, ob der Bruder zugleich auch der Freund sein kann, andrerseits. Mit letzterem gehen die Flegeljahre der empfindsamen Vermischung von Freundschaft und Geschwisterschaft auf den Grund. An Jacobis Woldemar hatte sich gezeigt, dass die identifikatorische Freundschaft in der Geschwisterschaft an der Unvereinbarkeit des Exklusivitätsanspruchs der Freundschaft mit der Kontingenz der Geschwisterschaft scheitern musste: Einem wählbaren und singulären Freund, der das ego identifikatorisch zu bestätigen vermag, steht die existenziell gegebene, inklusive und prinzipiell offene Reihe von Geschwister gegenüber, in der das ego auf seine Kontingenz verwiesen wird. Wenn Jean Paul dieses Konfliktschema nochmals aufnimmt, so nicht umsonst am Beispiel von Zwillingen. Denn Zwillinge unterliegen zwar wie alle Geschwister der Kontingenz insofern, als sie andere Geschwister haben können. Doch dies tangiert den spezifischen Zwillingstatus nicht: Als Geschwistersubsystem bilden Zwillinge eine der Freundschaft strukturell vergleichbare singuläre Zweiheit. Trotz dieser Zwillingsspezifik gelingt die Freundschafts-Einheit nicht, da Walt im Unterschied zu Vult nicht eine, sondern eine ganze Reihe einzigartiger Beziehungen kennt, in der der Zwillings-Bruder additiv und nicht substituierend zum Freund steht. Die Thematik institutioneller Geschwisterschaft nehmen die Flegeljahre an der Interessengemeinschaft der »Akzessit-Erben« (I/2,589) satirisch auf: Die Gemeinschaft der potenziellen Erben lässt sich als ein Derivat der Geheimbundthematik der hohen Romane und der dort verfolgten Bildungsziele für den jeweiligen Helden lesen. Waren in der Loge noch vor allem die ideellen Ziele der Bildung zum ›hohen Menschen‹ zentral und konkrete materielle oder organisatorische Fragen eher nebensächlich, so verfolgte der Geheimbund des Titan mit seinem Ziel der Sicherung der Dynastie schon handfestere Interessen. Bundesziel in den Flegeljahren nun ist 374

unumwunden die materielle Bereicherung, die dafür zur Begründung herangezogene Bildung des Helden ist ein bloßer Nebeneffekt davon. Vult, der diese Zusammenhänge durchschaut, vermag sie seinem Bruder nicht einsichtig zu machen: In den Angelegenheiten rund um das Testament hat die eigentliche gegenüber der institutionellen Geschwisterschaft das Nachsehen. Dies ist ein weiterer Effekt der unabänderlichen Differenz der Zwillingsbrüder, die durch den ganzen Text hindurch zu keiner Einheit zusammenfinden können. Mit einer Ausnahme: dem Schreiben. Die Frage, wie differente Schreibweisen zu einer Einheit werden können, ist die poetologische Kernfrage Jean Pauls und wird in der Loge im Rahmen einer Geschwisterbeziehung exponiert und gelöst. Die Schriftschwester Philippine steht dort für eine Reihe figurativer und poetologischer Verfahren ein, um die membra disiecta zum Textganzen zusammenzufügen, und schließt darüber hinaus über ihre Partizipation an Schwester-Mythologemen noch zusätzlich eine Rückversicherung ab, um die Loge als Werk zu sichern. Solche schwesterlichen Rückversicherungen werden in den späteren Texten nicht mehr abgeschlossen, denn die fragmentarische Form muss nun nicht mehr an ein Ganzheitsideal angeschlossen werden, sondern behauptet selbstbewusst ihren Status als offenes Kunstwerk oder wird – so die ästhetische Konzeption des Titan – durch formale Geschlossenheit umgangen. Die Frage der Verbindung heterogener Teilstücke jedoch ist damit nicht gelöst und stellt sich je nach Text neu. Welche Rolle dabei in den späteren Texten die in der Loge gefundene Figuration der Schriftgeschwister spielt, sei hier abschließend zusammengefasst. Die Schieflage, in die der Faktor Geschlecht mit einer weiblichen Autorschaft ein horizontal konzipiertes Schriftgeschwisterpaar bringt, nötigt den unter anderem über seine Standeserhöhung noch selbstbewusster gewordenen Schriftbruder zur Entledigung seiner Schriftschwester. Philippine wird im Hesperus als handelnde Figur denn auch expressis verbis verabschiedet und nachgerade physisch aus dem Text herausbefördert. Von dort her hält sie aber nach wie vor das Textmanuskript zusammen: Sie sitzt darauf beim Klavierspielen. Aus diesem Außen führt für die Schwester aber kein Weg mehr zurück ins Innere der Schrift. Die Konstellation der Schriftgeschwister jedoch kehrt prominent wieder in den geschlechtlich neu positionierten Schriftzwillingen der »Doppeltgänger« und Flegeljahre. Beide Zwillingspaare stehen poetologisch für die Realisierung einer Einheit des Differenten. Zu einer solchen Einheit finden die Gebrüder Mensch aus den »Doppeltgängern« im Schreiben: Denn im Unterschied zum Gehen oder ihrer Berufsausübung können sie dies zugleich tun und dabei dennoch ihre differente Individualität in ihren unterschiedlichen Schreibstilen ausdrücken. Dabei eröffnet ihre physiologische Verbindung die Möglichkeit einer gegenseitigen Einflussnahme: Der via Alkoholkonsum des einen im Blutkreislauf auch des anderen Zwillings zirkulierende »Geist« enthusiasmiert im »derivativen Rausch« den prosaischen Stil und befördert so eine Angleichung der beiden Schreibweisen. (I/3,841f.) »Ich lasse dich, wie du warst, und gehe wie ich kam« bilanziert dagegen Vult seine Versuche der Einflussnahme auf Walt und bricht das Experiment, im Schreiben 375

eine identifikatorische Einheit zu werden, ab. (I/2,1081) Dabei ist die Ausgangslage bestechend. Als Zwillingsgeschwister verfügen die Flegeljahre-Brüder trotz ihrer different konzipierter Charaktere über ein großes Zusammengehörigkeitspotenzial, das sich poetologisch in Anschlag bringen lässt: Ebenbürtigkeit und Unauflöslichkeit der Beziehung, gegenseitige Empathie und unhintergehbare Zweiheit. Zwillingsbrüder sind mit anderen Worten der optimale Rahmen, um die Jean-Paul’sche Doppelschreibweise in einer poetologischen Figuration zu objektivieren, die Satire und Empfindsamkeit egalitär behandelt sowie die Unauflöslichkeit und Dauerhaftigkeit der Verbindung garantiert. Insofern verdankt sich der Romantext der Flegeljahre nicht nur als Plot, sondern auch in seinem formalen Nebeneinander von Satire und Empfindsamkeit der Zwillingsfiguration. Der Roman im Roman »Hoppelpoppel oder das Herz« fungiert dagegen umgekehrt als eigentliches »Band« (I/2,990) der Bruderbeziehung: In ihm kommen die differenten Schreibweisen und Weltauffassungen zu einem unauflöslichen Gewebe aus Wesen und Taten zusammen, das als eine Einheit des Differenten die den Flegeljahre-Brüdern einzig mögliche Form von Einheit repräsentiert. Die darin enthaltenen Bildspender Herz, Textgewebe und Zwillingsgemeinschaft zielen alle auf Kontinuität und Dauerhaftigkeit der interdependent aufeinander verweisenden Konstellation von Schrift und Geschwisterbeziehung. Wogegen sich diese die Einheit des Differenten auf Dauer verpflichtenden Bilder richten, zeigt die andere Titel-Hälfte des paritätischen Doppelromans: Die schaumige Mischung aus geschlagenen Eiern, Zucker und Rum, die das Hoppelpoppel-Getränk ausmacht, ist nicht konservierbar und scheidet sich leicht wieder in ihre Einzelteile. Das auf eine homogene Vermischung zielende Schaumgetränk verweist also an prominenter Stelle darauf, dass eine einheitliche Mischung des Differenten nur prekär und keine Lösung von Dauer sein kann. Die in Vults Titelhälfte »Hoppelpoppel« enthaltene Vereinigungs-Metapher weicht darum am Schluss der Flegeljahre der neuen poetologischen Chiffre des Papierdrachen, dessen einzelnen Teile zum soliden Ganzen »fest zusammengeleim[t]« sind, (I/2,10182) und der erst in dieser Form in jenen Himmel in concreto steigen kann, in den die Geschwisterlichkeit im Sozialen, Emotionalen, Politischen und Poetologischen metaphorisch und allegorisch führen will. Die hohe Relevanz, die Geschwisterliches in Jean Pauls Texten entfaltet, hat selbst die Verfasserin, die mit ihrer Forschungsthese ja dieser Frage nachgegangen ist, frappiert. Ist das Jean Paul-Bild der Forschung doch dominiert durch jene Streckübung zwischen Himmel und Erde, in der Jean Paul seine ›hohen Menschen‹ sich üben lässt und in der er selbst als Autor zwischen platonischen Höhen und materialistischen Tiefen auf- und niederschreibend die gesamte Skala der Vertikalität bearbeitet. Die vorliegende Studie hat einen anderen Jean Paul lesbar und neue Verknüpfungen in der kulturhistorischen Konstellation um 1800 sichtbar gemacht und weist damit das Faszinosum um 1800 als eine zentrale Station für eine Kulturgeschichte der Horizontalen aus. Das einmalige Zusammenspiel von Enthierarchisierungstendenzen aus der Spätaufklärung mit dem Egalitätsdiskurs im Gesellschaftlichen und Politischen 376

um 1800 und der fraternalistischen Struktur der organisierten Sozietäten, das Zugleich des Verweisungszusammenhangs von Staat und Familie mit dem Bedeutungsaufschwung der Familie, der intrafamiliären Beziehungen und der primär darin verlaufenden persönlichen psychosozialen Entwicklung, hinzu noch die Gefühlsanreicherung individueller, familiärer, freundschaftlicher und der Beziehungen zwischen den Geschlechtern, all dies zusammen macht die Geschwisterbeziehung um 1800 zum intelligiblen Fokus eines strategischen Netzwerkes, das eine Ermächtigung der Horizontalen leistet. In den Stand der Lesbarkeit erhoben hat das Geschwisterdispositiv seine literarische Gestaltung. Jean Pauls Texte weisen mit ihrer exzessiven Bearbeitung von Geschwisterstrukturen und ihren überraschenden Verknüpfungen von Kontexten über Sache und Begriff der Geschwister darauf hin, dass Geschwister um 1800 ein Thema sind, das den bisher die Forschung über soziale Beziehungen und individuelle Emotionen dominierenden Fragestellungen nach Freundschaft, Liebe und Geschlechterdifferenz den Rang ablaufen könnte.

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Register

1. Personenregister Aufgeführt sind die Namen aller Autorinnen und Autoren (mit Ausnahme Jean Pauls), historischer Persönlichkeiten sowie ausgewählter Forscherinnen und Forscher, welche für die Arbeit von besonderer Bedeutung gewesen sind. Abel, Jacob Friedrich 104 Abraham, Karl 37 Adelung, Johann Christoph 59–61, 63f., 99, 119, 121–123, 181, 206, 221 Agamben, Giorgio 7, 32 Alembert, Jean Baptiste le Rond de 107 Ammon, Christoph Friedrich 84 Aristoteles 118, 129, 212, 219, 232, 303, 373 Arnim, Achim von 69, 133, Arnim, Bettine von 12, 76, 133 Augustinus 118 Austin, John L. 163, 166 Bachmann, Ingeborg 57 Barruel, Augustin 110 Bataille, Georges 118 Bayle, Pierre 134f. Beccaria, Cesare 89 Benda, Georg 257 Benjamin, Jessica 24 Berend, Eduard 1, 139f., 143, 147f., 154, 207, 245, 262, 279f., 292, 295, 301, 322, 352 Blanchot, Maurice 118 Blanckenburg, Friedrich von 214 Bode, Johann Joachim Christoph 109, 243 Boeckh, August 20 Boétie, Étienne de La 118, 210f. Brentano, Bettine, s. Arnim, Bettine von Brentano, Clemens 12, 69, 74–76, 133, 180, 194 Brentano, Sophie 74f., 180, 194 Brosse, Charles de 155 Busche, Wilhelm von dem 109, 243 Butler, Judith 19, 21, 24, 27, 35f., 49f., 52, 82, 89, 92f., 95–98, 163f., 185

Cagliostro, eig. Joseph Balsamo 11, 108f., 243, 327 Campe, Joachim Heinrich 181 Cella, Johann Jakob 89 Cicero 118, 144 Cixous, Hélène 24, 194 Crusius, Christian August 117 Deleuze, Gilles 56f. Derrida, Jacques 12, 19f., 96, 115, 118, 163, 208, 210–213, 221, 236, 254, 325, 341, 369, 373 Descartes, René 289f. Diderot, Denis 69, 107 Diodorus, Siculus 126f., 267 Duval, Jacques 134 Eco, Umberto 6f., 66f., 125, 153, 176, 198, 238, 254, 301, 348 Eitingon, Max 37 Euripides 132 Feder, Johann Georg Heinrich 241 Felman, Shoshana 163 Fénelon, François 220 Ferenczi, Sándor 36f., 49 Fichte, Johann Gottlieb 116, 132, 215, 291f., 331, 334 Fließ, Wilhelm 33, 37 Forster, Georg 215 Foucault, Michel 2, 7f., 32, 52, 82, 89, 103 Freud, Sigmund 10, 24, 33–37, 51f., 56, 81, 84, 87, 118, 130, 132, 169, 236, 284 Friedrich II. 336

399

Geertz, Clifford 71 Gellert, Christian Fürchtegott 67–70, 87, 116, 120–122, 213 Gleim, Johann Wilhelm 122 Goethe, Cornelia 76, 177 Goethe, Johann Wolfgang von 5, 20, 34f., 44, 64, 66, 68f., 71, 76, 80, 90, 96, 100, 109, 114, 119, 126f., 133–135, 176–183, 193, 196, 213f., 250, 257, 290, 306f., 331, 366, 369, 371 Goody, Jack 9f., 30f., 61 Gouges, Olympe Marie de 111 Greenblatt, Stephen 6, 71, 134 Grillparzer, Franz 69 Grimm, Jacob 2, 9, 23, 41f., 44f., 45, 47, 60, 62–66, 73, 83, 106, 119–122, 124, 127f., 134, 167, 178, 181, 198, 217, 231, 234f., 238, 255, 297, 336, 340 Grimm, Wilhelm 2, 9, 23, 41f., 44f., 45, 47, 60, 62–66, 73, 83, 106, 119–122, 124, 127f., 134, 167, 178, 181, 198, 217, 231, 234f., 238, 255, 297, 336, 340 Guattari, Félix 56f. Hamann, Johann Georg 214, 216, 346 Hegel, Christiane Luise 76 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 12, 19–21, 34, 50, 76, 91–99, 120, 215 Heidegger, Martin 118 Herder, Johann Gottfried 62, 64, 100, 183, 216, 333f., 346 Hermes, Johann Timotheus 179 Herodotus 21 Heumann, Christoph August 115–118 Hippel, Theodor Gottlieb von 103 Hirsch, Mathias 55, 57 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 69, 130 Hofmannsthal, Hugo von 34f. Hölderlin, Friedrich 19, 34 Huber, Therese 69f. Humboldt, Wilhelm von 215

Jones, Ernest 37 Kant, Immanuel 2, 116, 118, 120, 216, 300, 334–336 Klinger, Friedrich Maximilian 69, 76, 257 Klopstock, Friedrich Gottlieb 116, 213, 216 Klosinski, Gunter 10, 36f., 40, 42, 65 Knebel, Karl Ludwig von 153, 263 Knigge, Adolph Freiherr von 100, 146, 236f., 243, 314, 327 Kristeva, Julia 24, 194 Lacan, Jacques 3, 10, 24, 26, 29f., 92, 130, 353 Lavater, Johann Caspar 158 Leibniz, Gottfried Wilhelm 115, 216, 341 Lenz, Jakob Michael Reinhold 68f., 180, 195f. Lessing, Gotthold Ephraim 64, 69, 100, 156f., 183, 197, 215, 242 Lévi–Strauss, Claude 3, 8, 22–24, 51f., 72, 83, 87 Ley, Katharina 9f., 32, 36f., 40, 43, 65 Lichtenberg, Georg Christoph 81, 227, 352, 366 Manso, Johann Caspar Friedrich 334 Meiner, Christoph 241 Mendelssohn Bartholdy, Felix 34 Mendelssohn, Moses 216 Mereau, Sophie 74f. Meyern, Wilhelm Friedrich von 207f., 245f., 248, 283f., 328, 344 Michaelis, Johann David 55, 68, 86, 88 Miller, Johann Martin 213 Mitterauer, Michael 10, 39 Montaigne, Michel de 118, 210–213, 218, 220f., 225, 316, 340, 342, 373 Moritz, Karl Philipp 262 Möser, Justus 116, 215 Müllner, Adolf 69 Musil, Robert 57, 268

Irigaray, Luce 10, 24, 29, 92, 94–96, 194 Jacob, August Ludwig 20 Jacobi, Friedrich Heinrich 5, 79, 100, 114–116, 122, 208f., 213–223, 225, 227f., 238, 289, 312, 315–317, 331, 340–342, 359, 366, 371, 374 Jacobi, Johann Georg 122

400

Nietzsche, Friedrich 118 Novalis 5, 161, 166–175 Orwell, George 32 Otto, Christian 14, 130, 139, 146, 174, 207, 236f., 243, 254, 277, 279 Ovid 129

Petri, Horst 10, 36f., 40, 43, 65 Philipp der Gute 337 Platon 118, 135, 143, 156, 239f., 261, 330, 336, 376 Plautus 129, 150 Plutarch 126f., 211, 267f., 334 Rank, Otto 37, 51 Reif, Heinz 77 Roche, Sophie von La 74 Rousseau, Jean–Jacques 107f., 113, 139, 147, 205, 215–217, 226f., 341 Rubin, Gayle 49, 52 Sabean, David Warren 10–13, 20, 31, 39, 54, 58f., 71–74, 76 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 34, 334 Schiller, Friedrich 5, 11, 69f., 100, 103–106, 119, 197, 245–248, 295 Schlegel, Friedrich 129, 214f., 261, 346 Schlegel, Karl August Moritz 85 Schleiermacher, Friedrich 116, 249 Schmitt, Carl 118, 336 Shaftesbury 117 Shakespeare, William 158, 187 Sohni, Hans 9f., 36f., 40, 65

2.

Werkregister

2.1

Jean Paul

Abelard und Heloise 140, 153, 217, 227 Auswahl aus des Teufels Papieren 140, 205, 238, 346 Das heimliche Klaglied der jetzigen Männer 6, 67f., 85f., 90f., 275, 316 Der Komet oder Nikolaus Marggraf 264, 339, 347 Die Doppeltgänger 6, 14, 132, 275, 278, 282, 348, 351–355, 362, 373, 375 Die Freunde 208 Die unsichtbare Loge 1, 4f., 14, 61, 71, 91, 93, 106, 135–176, 184–208, 223–269, 273–291, 294, 298, 302–305, 306f., 309, 315, 318, 321, 324, 326–328, 332, 335, 337–339, 341, 344f., 346–350, 356f., 365–375

Sophokles 19–21, 34, 36, 48, 50, 92f., 96–98, 126, 133, 265 Sulloway, Frank 42, 65 Tenbruck, Friedrich H. 12, 99, 114 Thieriot, Paul 279 Thomasius, Christian 115–119 Tieck, Ludwig 34, 69 Veen, Otto van 117 Voges, Michael 46, 100f., 103–106, 109f., 139, 143, 146, 148, 207, 242f., 246 Weishaupt, Adam 100, 241–243, 314 Weisser, Johann Friedrich Christoph 85 Wellendorf, Franz 37, 40, 65 Westermarck, Edward 51 Wieland, Christoph Martin 69, 76, 144, 183, 190, 197, 207, 215, 247, 336 Winckelmann, Johann Joachim 158, 187 Wittig, Monique 194 Wolff, Christian von 115–118 Zedler, Johann Heinrich 23, 60–65, 82–86, 89, 116–120, 126f., 171, 185 Zesen, Philipp von 117 Zinzendorf, Ludwig Graf von 112f., 146f.

Exzerpten 140, 158, 256, 278 Flegeljahre 1, 4–6, 14, 64, 130, 136, 141, 263, 269, 274f., 278–280, 282, 298, 299–305, 319–323, 330, 339–345, 347f., 351, 355–364, 367, 371–376 Grönländische Prozesse 140, 358 Hesperus oder 45 Hundposttage 1f., 4f., 14, 91, 93, 136, 139, 141, 153, 167, 172, 174, 191f., 195, 200, 208, 227, 234, 246f., 251, 263, 266, 269, 273–292, 294, 297–300, 303, 305, 306–310, 323–329, 332, 334f., 337f., 343f., 348–351, 367–370, 372f., 375

401

Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf 131, 353 Leben des Quintus Fixlein 6, 266, 275, 286, 288, 347–351 Leben Fibels, des Verfassers der Bienrodischen Fibel 347 Schmierbuch 147, 170 Selberlebensbeschreibung 130 Siebenkäs. Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel 6, 124, 131f., 167, 171f., 174, 182f., 191, 254f., 275f., 278, 291, 341,

2.2

Titan 1, 4–6, 64f., 91, 93, 131f., 136, 141, 172, 192f., 208f., 224, 245–247, 273–282, 290–298, 300, 305, 310–319, 323, 329–339, 344, 348, 352, 361, 367, 369–375 Über das Träumen 166, 169 Über die natürliche Magie der Einbildungskraft 166, 168f., 195, 239 Vorschule der Ästhetik 6, 21, 106, 129f., 144, 150, 157, 165–167, 169, 174, 194, 196f., 216, 224, 234, 246, 265, 273, 275, 346, 355–357, 363

Andere Literatur

Adelung, Grammatisch–kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart 60f., 63f., 66, 83, 99, 119–123, 145, 181, 206, 217, 221, 231 Allgemeine deutsche Bibliothek 103 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten 31, 43, 50, 53, 87f., 144, 308 Aristoteles, Nikomachische Ethik 219 Eudemische Ethik 232 Arnim, Achim von, Halle und Jerusalem 69 Arnim, Bettine von, Clemens Brentanos Frühlingskranz 76 Austin, How to do Things with Words 163, 166 Bachmann, Todesarten–Projekt 57 Barruel, Mémoires pour sérvir à l’ histoire du Jacobinisme 110 Bayle, Philosophisches Wörterbuch 134f., Beccaria, Dei delitti e delle pene 89 Benda, Medea 257 Blanckenburg, Versuch über den Roman 214 Brentano, Romanzen vom Rosenkranz 69 Die drei Nüsse 69 Brosse, Ueber den Dienst der Fetischengötter oder Vergleichung der alten Religion Egyptens mit der heutigen Nigritens 155 Butler, Antigones Verlangen 19, 21f., 24, 27, 35f., 50–52, 92, 95–98

402

348–353, 359, 373

Das Unbehagen der Geschlechter 49, 82, 89, 92, 163 Körper von Gewicht 163f. Cella, Ueber Verbrechen und Strafen in Unzuchtsfällen 89 Deleuze und Guattari, Anti–Ödipus 56 Kafka. Für eine kleine Literatur 56 Derrida, Glas 20, 96 Grammatologie 236, 254 Politik der Freundschaft 12, 115, 118, 210–212, 230, 325, 341 Signatur Ereignis Kontext 163 Dictionnaire de Trévoux 3, 107 Diderot und d’Alembert, Encyclopédie 107 Diodor, Bibliotheca Historica 126 Euripides, Medea 132, 255-257, 266, 268f., 347 Felman, The Literary Speech Act 163 Foucault, Der Wille zum Wissen 2, 8, 32, 82 Dispositive der Macht 7f., 32 Freud, Das Unheimliche 132 Der Familienroman der Neurotiker 284

Der Witz und dessen Beziehung zum Unbewussten 35 Über einen besonderen Typus der Objektwahl beim Manne 33 Totem und Tabu 51, 84 Gellert, Briefe, nebst einer Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen 116 Leben der schwedischen Gräfinn von G*** 67f., 87 Von den Pflichten der Verwandtschaft und Freundschaft 120–122 Goethe, Die Geschwister 44, 66, 68f.,80, 90, 114 176–183, 193, 196, 366 Die Leiden des jungen Werthers 106, 140, 194, 213, 216, 227, 331 Euphrosyne 35 Ettersburger Kreuzerhöhung 214ff. Iphigenie auf Tauris 257, 290, 306f., 369 Wilhelm Meisters Lehrjahre 69f., 100, 126f., 133–135, 165 Gouges, Déclaration des Droits de la femme et de la citoyenne 111 Grillparzer, Die Ahnfrau 69 Grimm, Deutsches Wörterbuch 44f., 47 60, 62–66, 73, 106, 119–122, 124, 134, 167, 198, 231, 234f., 238, 255, 297 Kinder– und Hausmärchen 44, 48, 127f.,178 Hegel, Phänomenologie des Geistes 12, 19f., 93–95, 215 Hermes, Geschichte der Miss Fanny Wilkes 178f. Hippel, Kreuz- und Querzüge des Ritters A. bis Z. 103 Hoffmann, Die Elixiere des Teufels 69 Hofmannsthal, Vorspiel zur Antigone des Sophokles 34 Huber, Die Familie Seldorf 69f. Irigaray, Speculum 29, 92, 94f. Jacobi, Allwil 214, 331 Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn 216 Woldemar 79, 114, 209, 213-223, 225,

227–229, 232, 238, 290, 312, 341f., 366, 374 Kant, Kritik der Urteilskraft 299f. Zum ewigen Frieden 335 Klinger, Geschichte Giafars des Barmeciden 69 Medea auf dem Kaukasus 257 Medea in Korinth 257 Lacan, Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse 130 Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion 130 Das Wesen der Tragödie. Ein Kommentar zur „Antigone“ des Sophokles 20, 92 Die Familie 26 Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse 3, 10, 24, 29, 353 Lenz, Der neue Menoza. Oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi 68, 179f., 195f. Lessing, Ernst und Falk 100, 242 Nathan der Weise 69, 183 Laokoon 156f. Lichtenberg, Ausführliche Erklärungen der Hogarthischen Kupferstiche 227 Meyern, Dya–Na–Sore 207f., 245f., 248, 283f., 328, 344 Michaelis, Abhandlung von den Ehe–Gesetzen Mosis welche Heyrathen in die nahe Freundschaft untersagen 68, 86, 88 Miller, Siegwart 213 Montaigne, Über die Freundschaft 118, 210–213, 225, 340 Müllner, Incest oder der Schutzgeist von Avignon 69 Der neunundzwanzigste Februar 69 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften 56f. Isis und Osiris 268 Novalis, Heinrich von Ofterdingen 161, 166–175

403

Orwell, Animal Farm 32 Ovid, Metamorphosen 129 Platon, Lysis 118 Politeia 240, 248 Symposion 135 Plautus, Menaechmi 129, 150 Plutarch, Über Isis und Osiris 86, 126f., 171, 259, 266–269, 347, 349, 354 von La Roche, Geschichte des Fräuleins von Sternheim 227 Rousseau, Discours sur l’ économie politique 108 Emile 73, 113, 147 Julie ou la Nouvelle Héloïse 205, 217 Schiller, Die Braut von Messina oder Die feindlichen Brüder 69f. Der Geisterseher 11, 104–106, 197, 216, 245f., 295

404

Don Karlos 100, 103, 248 Die Räuber 245, 248 Schlegel, Athenäums–Fragmente 129, 261, 346f. Sophokles, Antigone 19–22, 34–36, 48–50, 52, 91–99, 126, 221, 265f. König Ödipus 34, 98 Teutscher Merkur 209 Tieck, Peter Lebrecht 69 Der blonde Eckbert 69 van Veen, Moralia Horatiana 117 Wieland, Geschichte des Agathon 69, 183, 190, 197, 207, 280 Zedler, Grosses vollständiges Universal–Lexikon 60–65, 82–86, 89, 116–120, 126f., 171