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German Pages 508 [501] Year 2003
Peter Dilg (Hg.) Natur im Mittelalter
Natur im Mittelalter Konzeptionen Erfahrungen Wirkungen -
Akten des 9.
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Symposiums des Mediävistenverbandes, Marburg, 14.-17. März 2001
Herausgegeben von
Peter
Dilg
Akademie Verlag
Die
Darstellung der .Natura' auf dem Einband wurde entnommen Mechthild Modersohn: Natura als Göttin im Mittelalter. Berlin 1997. S. 381 [Ausschnitt aus Abb. Siehe auch Abb. 1 zu Modersohns Beitrag in diesem Band.
185].
ISBN 3-05-003778-4 © Akademie Das
Verlag GmbH, Berlin 2003
eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.
Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. -
Druck und
Einbandgestaltung: Ingo Ostermaier, Berlin Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Gedruckt in Deutschland
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Inhalt
Vorwort
I.
EröffhungsVortrag
Gundolf Keil
Physis. Aspekte des antiken Naturbegriffs II.
Hauptreferate
Christoph Kann Zeichen Ordnung -
Philosophie
Gesetz: Zum Naturverständnis in der mittelalterlichen -
jürgen sarnowsky Zur Entwicklung der Naturerkenntnis
an
den mittelalterlichen Universitäten
Udo Friedrich Die
Ordnung der Natur. Funktionsrahmen der Natur in der volkssprachlichen
Literatur des Mittelalters
Mechthild Modersohn Natura als Göttin -
eine Personifikation zwischen Mythos und
Aufklärung
Ortrun Riha Mikrokosmos Mensch. Der Naturbegriff in der mittelalterlichen Medizin
VI
Christian Hünemörder Traditionelle Naturkunde, realistische Naturbeobachtung und theologische Naturdeutung in Enzyklopädien des Hohen Mittelalters Peter Schreiner Die Byzantiner und ihre Sicht der Natur. Ein Überblick
III.
Sektionsbeiträge
Kurt Smolak Dum tremet mundi machina: Reflektiertes Naturerleben im Frühmittelalter michele C. ferrari Aura levatitia. Naturbeherrschung und Naturexegese im Frühmittelalter
Thomas Haye Erfahrene Natur in lateinischen Reisegedichten des Mittelalters adelheid kräh Wahrnehmung und Funktionalisierung der Natur im Krieg aus der Perspektive des 9. Jahrhunderts brigitte englisch Die
Umsetzung topographischer Strukturen in den Mappae mundi
des Mittelalters Elke Freifrau von Boeselager Sturmfluten an der norddeutschen Küste im Mittelalter Erlebnis und Konsequenz
-
jürgen schulz-grobert Narrative
'Wetterfühligkeit'. Naturbilder in witterungsbedingten
Ereignisfolgen der mittelhochdeutschen Epik
bernhard pabst Elemente und Atome als Träger der Naturprozesse Physik des 12. Jahrhunderts
neue -
Wege in der
VII
Inhalt
Wendelin Knoch
Gesegnete Schöpfung von Sünde gezeichnete Welt: Beobachtungen zum biblischen Hintergrund scholastischer Deutung von Naturerfahrungen -
268
milène wegmann Die 'Entdeckung der Natur' in der monastischen Historiographie des 12. und 13. Jahrhunderts
280
Susann El Kholi Skizzen zur Naturbildlichkeit in den Briefen Hildegards
294
von
Bingen
Elisabeth Schinagl
Naturkunde-Exempel in den Predigten des Albertus Magnus
311
jürgen werinhard einhorn 'Natur' und Naturerscheinungen in zwei mittelalterlichen Bilderhandschriften der Franziskus-Vita des Bonaventura
319
Michael Menzel Die Jagd als Naturkunst. Zum Falkenbuch Kaiser Friedrichs II.
342
Haiko Wandhoff swaz fliuzet oder fliuget oder bein zer erde Naturkonzeptionen im Reichston Walthers
360
biuget. Konkurrierende von der Vogelweide
romy günthart Virtus est ratio: Natur und Naturkunde in der spätmittelalterlichen Fabelsammlung 'Speculum sapientiae' und ihren deutschen Übertragungen
373
Ruth Finckh 'Natur' als politische Parole in Ulrichs von Etzenbach
'Alexander-Anhang'
386
Spiegel der mittelalterlichen Wunderkonzeption
408
Constanze Rendtel Krankheit und Heilung im
Silke Tammen Marianischer und 'natürlicher' Uterus: Überlegungen zur Anatomie des Heils am Beispiel einer spätmittelalterlichen Heimsuchungsgruppe
419
Inhalt
VIII
Bernhard Schnell Pflanzen in Bild und Text. Zum Naturverständnis in den illustrierten Kräuterbüchern des Spätmittelalters
deutschsprachigen
willi erzgräber (f) Wandel des Naturverständnisses im ausgehenden Mittelalter: Langland, Chaucer
442
462
klaus NlEHR ad vivum al vif.
Begriffs- und kunstgeschichtliche Anmerkungen Auseinandersetzung mit der Natur in Mittelalter und früher Neuzeit -
zur
472
Anschriften der Autorinnen und Autoren
489
Personenregister
493
Vorwort
Unter dem Generalthema 'Natur im Mittelalter' fand vom 14. bis 17. März 2001 an der Philipps-Universität in Marburg das 9. Symposium des Mediävistenverbandes statt. Dazu waren die Redner für den Eröffnungsvortrag und die sieben Hauptreferate vorab eingeladen worden, während alle anderen der in diesem Band vereinigten 30 Texte auf einen call for papers zurückgehen, der in Form von drei Sektionen zugleich die intendierten Problemaspekte vorgegeben hatte. Demgemäß sollten sich die erbetenen Beiträge an der Trias 'Konzeptionen Erfahrungen Wirkungen' orientieren und das Zentralthema exemplarisch aus jeweils fachspezifischer Sicht behandeln, um somit insgesamt und einmal mehr die Walirnehmungs-, Deutungs- und Erklärungsvielfalt zu dokumentieren, die das unerschöpfliche 'Buch der Natur' in der mittelalterlichen Welt hervorgebracht hat. Die Systematik dieser ursprünglichen Gliederung, der im Rahmen des Symposiums denn auch die programmbedingte Zuordnung der einzelnen, aus organisatorischen Gründen stets parallel gruppierten Beiträge folgte, wurde für deren Publikation indes nicht beibehalten: einmal, weil die eingereichten Texte insbesondere die dritte Sektion quantitativ nicht adäquat ausfüllen; zum anderen, weil sich im Falle der ersten und die Themenstellungen tendenziell zweiten von wenigen Ausnahmen abgesehen mehr oder minder überschneiden und daher nicht eindeutig in das anfänglich konzipierte Strakturschema einfügen lassen. Es erschien deshalb ratsam, die Resultate des Symposiums in der nun vorliegenden Form zu präsentieren: Demnach enthält der erste Teil den Eröffnungsvortrag, der einleitend und sachlich grundlegend Aspekte des antiken Naturbegriffs erörtert und damit zugleich deren unterschiedliche bzw. nur partielle Relevanz für das Naturverständnis des Mittelalters demonstriert; im zweiten Teil sind sodann die Hauptreferate zusammengefaßt, die aus der Perspektive einzelner Fächer hier der Philosophie, der Geschichts- und der Literaturwissenschaft, der Kunst-, der Medizin- und der Naturwissenschaftsgeschichte sowie der Byzantinistik in die je eigene Problematik des zentralen Themas einführen; der dritte Teil schließlich bietet in nunmehr grob chronologischer Reihung die Sektionsbeiträge, unter denen sich auch die letzte Publikation von Willi Erzgräber findet, der am 9. Dezember 2001 verstorben ist, -
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Vorwort
X
während auf den Text von Heiner Lück (Halle), der über 'Natur als Erklärungshilfe in den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels' vorgeüagen hatte, ebenso verzichtet werden mußte wie auf denjenigen von Thomas Lentes (Münster), dessen Referat dem Thema 'Körper Raum Schöpfung: Zur religiös-kulturellen Determination des Natürlichen im Mittelalter' gewidmet war. Im übrigen wurde darauf geachtet, daß die Artikel dieses Bandes zumindest jeweils in sich die wünschenswerte formale Homogenität aufweisen, wohingegen eine übergreifend-allgemeine Angleichung der differierenden Zitiermethoden, der Schreibvarianten bei den Eigennamen oder den Bibelstellen u. ä. wie auch eine Vereinheitlichung der unterschiedlich verwendeten (alten bzw. neuen) Rechtschreibung weder als sachlich notwendig erschien noch zeitlich hätte geleistet werden können. Abschließend gilt es, ein Wort des Dankes zu sagen: zunächst den Referenten, den Sektionsleitern und den Sponsoren (Akademie-Verlag GmbH, Berlin; Chiron-Behring GmbH & Co, Marburg; Marburger Universitätsbund e.V.), die allesamt die Durchführung des Symposiums überhaupt erst ermöglicht haben; ferner den beiden wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen des Marburger Instituts für Geschichte der Pharmazie: Frau Tanja Pommerening, M.A., und Frau Katja Schmiederer, ohne deren tatkräftige Unterstützung bei der redaktionellen und technischen Aufbereitung des vorliegenden Bandes dessen Publikation wohl kaum innerhalb der gebotenen Frist zustande gekommen wäre; endlich dem Verlag, der das Unternehmen auch diesmal kommerziell betreut und in bewährter Weise für eine angemessene Verbreitung des Buches Sorge tragen wird. -
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Marburg, im Januar 2003
Peter Dilg
I.
EröffnungsVortrag
Gundolf Keil
Physis. Aspekte des antiken Naturbegriffs
von Salms1, eine der herausragenden Gestalten altdeutscher Medizin, seinem westdeutschen Wohnsitz aus um 1430 ein Bildungsprogramm entworfen, das auf den natürlichen meister zielt und das sein Verfasser mit einem umfangreichen Korpus an Lehrschriften begleitet. Aus dem westlothringischen Salms vom Nordrand des Wasgenwaldes (oder aus dem west-lützelburgischen [Viel-]Salm[s] in den Ardennen) ruft er seinen deutschen Landsleuten zu, sie sollten als praktizierende Ärzte sich der Natur zuwenden und hinsichtlich der Natur kundig machen. Als nichtausgebildete Empiriker blieben sie im Können und in ihrem sozialen Status zurück: die unnatürlichen meister [...], sie wissent nichts von der natürlichen kunst, zu dem schaden, das vücht und kalt zu eime schaden, das kalt und dürre ist; sie behandeln alle mit einer kunst [...], und höret zu inen nichts zu kumen wanne huren und grob volk. Ganz anders der natürlich meister, der im Gegensatz zum unnatürlichen nach der schrift [...] kunt geworden ist und von dem menschen durchaus , als der genaturt ist. Zu einem solchen natürlichen meister, dem gegenüber man hinsichtlich des Heilerfolges höher gespannte Erwartungen hegt, kommen nun ganz andere Patienten, nämlich große herren, deren nutz beträchtlich und deren Ion groß ist. Nach dem Bildungsprogramm für deutsche Chirurgen aus dem spätmittelalterlichen Lothringen lohnt es sich also, zwischen 'heiß' und 'kalt', 'trocken' und 'feucht' unterscheiden zu lernen und nachdem man selbst natürlich geworden ist, indem man es in der natürlichen kunst zur Meisterschaft gebracht hat genau zu wissen, wy man dy natur eines yeglichen menschen [...] erkennen kann. Und damit nicht genug: Auch die Arzneimittel sind in das 'natürliche' System eingebunden, so daß auch hier die Notwendigkeit gilt, sich hinsichtlich ihrer Natur kundig zu machen und zu wissen, wie man der würze nature unde ir kraft irkennen soll; denn nur, wer die Natur seines Patienten
Hesse, der Jude hat
von
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1
Vgl. hierzu Gundolf Keil: Jude von Solms. Nachtrag in: Bd. 11 [im Druck],
In: Verfasserlexikon. Bd. 4
(21983). Sp. 889-891; dazu
Gundolf Keil
4
naturgerecht die erforderlichen Heilmittel zuordnen kann, vermag naturgemäß therapieren und darf mit dem erstrebten Heilerfolg rechnen. Als Hesse der Jude allen unnatürlichen meistern den Kampf ansagte und sein naturorientiertes Programm für die handwerklich Ausgebildeten unter seinen deutschen Kollegen vorstellte, war das Konzept von 'Natur', mit dem er arbeitete, schon über 2000 Jahre alt und hatte in seiner Begrifflichkeit nicht unerheblichen Wandel erfahren. Was unabhängig von allem Wandel dieses Konzept indessen für das abendländische Denken bewirkt hat und welch kognitive Dimensionen in kaum begrenzten Freiräumen
kennt und ihr zu
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dem abendländischen Geistesleben erschloß, wird am besten sichtbar, wenn wir in kontrastivem Vorgehen die ägyptischen Bedingungen vergleichen und als repräsentativ für altägyptische Denkprozesse den Papyrus Ebers wählen2: Der bedeutendste Vertreter pharaonischer Heilkunde umfaßt 108 Textspalten und bietet ein aus zahlreichen Schriften zusammengefügtes Kompendium, das als Lehrbuch angelegt wurde, wahrscheinlich aus einer Medizinschule stammt und zu Beginn des Neuen Reichs unter Beteiligung zweier Hände um 1550 v. Chr. kompiliert worden ist. Ähnlich wie im gleichalten Papyrus Edwin Smith sind magische Texte kaum verfügbar und tritt der Heilzauber vordergründig nur mit einigen Segen in Erscheinung, was gute Kenner des Lehrbuchs veranlaßte, die magischen Anteile zu bagatellisieren oder (wie Bendix Ebbell) lediglich von einer Begleitmagie zu sprechen. Kamal Sabri kolta hat jedoch davor gewarnt, den magischen Anteil altägyptischer Therapieversuche zu gering zu schätzen3, und in der Tat haben jüngste Studien zur materia medica ex animalibus gezeigt, daß die Magie im Papyrus Ebers allgegenwärtig ist4 und hinsichtlich Organotherapie, Sympathiezauber, Analogisieren und mythologische Bezüge auf Schritt und Tritt begegnet. Von der Indikationsmotivierung für pflanzliche Drogen sowie mineralische Arzneistoffe läßt sich Vergleichbares sagen; hinzu tritt iterativ angewandter Wortund Handlungszauber; in jüngeren Zauberpapyri wird die Kontakt-Magie zusätzlich um Verfahren der Distanz-Magie ergänzt. Der Erwerb von neuem Wissen und die Umsetzung empirischer Beobachtungen waren also nur in engem, magisch-mythologisch es
2
Vgl. hierzu Reinhold Scholl: Der Papyrus Ebers. Die größte Buchrolle zur Heilkunde Altägyptens. Leipzig 2002 (Schriften aus der Universitätsbibliothek Leipzig 7); Gundolf Keil: Der Papyrus Ebers und die Medizin des Abendlandes. In: Hans-Werner Fischer-Elfert u. a. (Hgg.): Therapie Tabu Magie. Der Papyrus Ebers und die Antike Heilkunde. Verhandlungen des Internationalen ägyptologischen Kolloquiums, Leipzig [in Vorbereitung]; Christian Leitz: Die Rolle von Religion und Naturbeobachtung bei der Auswahl der Drogen im Papyrus Ebers. In: Fischer-Elfert [w. o.]. Vgl. Kamal Sabri Kolta u. Doris Schwarzmann-Schafhauser: Die Heilkunde im Alten Ägypten. Magie und Ratio in der Krankheitsvorstellung und therapeutischen Praxis. Stuttgart 2000 (Sudhoffs Archiv, Beiheft 42). S. 143-145: „Singularitätsmagie stand hinter der therapeutischen Empfehlung, Exkremente verschiedenster Tiere zu verwenden [...]. Der vorherrschende [...] Grundsatz der Papyri lautet jedoch 'similia similibus', [...] wobei [...] auch mythologische Bezüge [...] eine Rolle spielten. [...] Auch die Zubereitung der Heilmittel aus den einzelnen Drogen [...] stand in dieser Tradition. Sie begann mit der Auswahl und dem Abmessen einer oder mehrerer Drogen [...]". Vgl. Leitz [wie Anm. 2].
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Physis. Aspekte des antiken Naturbegriffs
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zumindest teilweise die Innovationsarmut Heilkunde und Technik im Mittleren und Neuen Reich erklären. Nicht zu Unrecht hat man in solch magisch-aspektivischem Denken die Ursache für die Rigidität altägyptischer Kultur gesehen. Es ist entscheidend für die abendländische Kultur, daß sie sich von diesem magischen Denken gleich von Anfang an freigemacht hat. Das soll nicht heißen, daß es keine Kontinuität gegeben hätte und daß nicht Reste altägyptischer Magie etwa bei Plinius wieder greifbar würden5; aber die Tilgungsspuren in hippokratischen Texten zeigen doch deutlich, mit welcher Konsequenz man ärztlicherseits gegen zaubermedizinische Relikte vorgegangen ist, und sie lassen etwas von jenen Anstrengungen erahnen, die erforderlich waren, um den Weg für die ionische Naturphilosophie freizumachen6. Bei Hesiod um 700 zeigt sich noch mythische Dominanz. Neben der Théogonie seines Weltentwurfs begegnet in youa und qnXfa indessen schon eine tastende Begriffsbildung, die aus dem Chaos heraus das Seiende entstehen läßt und in ihrem Deutungsanspruch sich der mythischen Kosmogonie als zukunftsweisende Struktur einfügt. Die Loslösung der Kosmogonie von magisch-mythologischen Grundlagen ist jedenfalls erst den Milesiern gelungen, wobei die Frage nach dem Anlaß mit dem Schlagwort Wertrauensverlust' ebensowenig beantwortet ist wie mit dem Hinweis auf technischen Fortschritt. Selbstverständlich muß die frühe griechische Technologie (und ein Blick auf die Instrumentenfunde beweist dies) als ebenso hochentwickelt wie innovativ gelten; aber diesen technischen Fortschritt zeigten die Hethiter tausend Jahre früher auch, ohne daß es dadurch zu einem Akzeptanzverlust bei den babylonischen Astralgottheiten gekommen wäre. Und die Frage nach dem 'Grund aller Dinge' stellte sich die frühe indische Philosophie ähnlich wie die abendländische, ohne daß sie dadurch ihrem prakrti-Moddl cpûaiç-Begrifflichkeit hätte verleihen können und ohne daß es ihr gelungen wäre, sich von den Implikationen einer Erlösungsreligion zu befreien. Die Emanzipation aus magisch-mythologischem Denken ist erst an der Wende zum 6. Jahrhundert der ionischen Naturphilosophie geglückt, und es ist ihr Natur-Modell gewesen, das sie zum Niederreißen magisch-mantischer Einfriedungen befähigte: Die milesische Schule versucht, das Seiende in seiner Gesamtheit zu deuten, und leitet das
umgrenztem Rahmen möglich. Das mag
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von
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Vgl. hierzu Joachim Stephan: Medizinschulen im Alten Ägypten und der Einfluß ihrer Lehren auf die griechische Medizin. In: Fischer-Elfert [Anm. 2]; Sabine Vogt: Magie und wissenschaftliche Theorie in der Behandlung von Schlangen- und Tierbissen von Nikander bis Galen. In: FischerElfert [Anm. 2], 6 Vgl. zum Folgenden Fritz Peter Hager: Natur, I: Antike. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 6 (1984). Sp. 421-441; Ernst von Aster: Geschichte der Philosophie. 15. Aufl. besorgt von Franz Josef Brecht u. Gerd Schröder. Stuttgart 1975 (Kröners Taschenausgabe 108). S. 38-108; Karen Gloy: Das Verständnis der Natur. Bd. 1: Die Geschichte des wissenschaftlichen Denkens. München 1995. S. 74-76; Lothar Schäfer u. Elisabeth Ströker (Hgg.): Naturauffassungen in Philosophie, Wissenschaft und Technik. Bd. 1. Freiburg i. Br. 1993. S. 117-160; Franjo Kovacic: Der Begriff der Physis bei Galen vor dem Hintergrund seiner Vorgänger. Stuttgart 2001 (Philosophie der Antike 12). 5
Gundolf Keil
6
will Wesen bzw. die Beschaffenheit der einzelnen tpucc aus deren Gewordenheit Wuchs wobei sie für dieses Gewordenderen aus Werden, Beschaffenheit, ab, sagen: sein den Terminus (pticuç verwendet. Thaies, Anaximander, Anaximenes von Milet sie alle haben gemäß doxographischer Überlieferung je ein Werk ITepi (pûaecoç geschrieben.7 Dabei ging es ihnen nicht nur um den Ursprung, sondern genauso um das Prinzip der natürlichen Dinge und Abläufe, aus deren prozessual gesehener Entstehung sie ihre Weltentwürfe ableiteten. Im 7. und 6. Jahrhundert dominierte zunächst ein monistischer Hylozoismus: Thaies von Milet leitet seine Seinsdeutung aus dem Urstoff Wasser ab, den er in den drei Aggregatzuständen 'fest', 'flüssig', 'gasförmig' kennt und dessen lebenspendende Wirkung er beim Bewässern erleben konnte. Daß er Ägypten bereist hat, ist wahrscheinlich; daß er hydrologische Gestaltungsvorgänge auch im Küstenversatz beobachten konnte, liegt auf der Hand. Aber wenn sein Grundstoff im Sinne eines Hylo-Zoismus auch belebt ist, so postuliert der Milesier doch in seiner Wissenschaftsdefinition die Zweckfreiheit8. An Jahren jünger, und nicht im selben Jahr9 gestorben wie Thaies, ist dessen Schüler Anaximander von Milet bei seinem Naturbegriff von jenem Unbegrenzten, Undefinierten (arteipov) ausgegangen, das qualitative Bestimmtheit und gestalthafte Struktur durch das Auseinandertreten polar entgegengesetzter Qualitäten findet. Bei Thaies war das Weltmodell noch halbkugelig: In seiner Mitte schwamm die Erde wie ein Schiff auf dem Wasser, umgürtet vom Okéanos. Bei Anaximander ist die Welt kugelig geworden: In ihrer Mitte schwebt jener Zylinder, der ursprünglich ganz von Wasser bedeckt die Erde darstellt, deren landbewohnende Lebewesen sich aus fischartigen Vorfahren entwickelt haben. Die 'drei Weltteile' waren schon Hesiod bekannt; Anaximander entwirft nun die erste Weltkarte und gestaltet die Weltkugel als Himmelsglobus. Was die aus lebenspendendem Wasser sich entwickelnde Welt betrifft, so sah sie Thaies als von Göttern erfüllt, die dank ihrer Vielzahl freilich nur eingeschränkte Gestaltungskraft besitzen konnten; für Anaximander verfügt der unbegrenzt-gestaltlose Urgrund des Apeiron über etwas Göttliches, was die zur Gestalt hin strebende Trennung von ihm zur Sünde macht und den Tod als unausweichliche Buße nach sich zieht. Anaximenes, der jüngste unter den drei Milesiern, verzichtet bei seinem Natur-Konzept -
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7 Für Thaies ist es nicht bezeugt, aber wahrscheinlich. Vgl. 0[lof] Gigon: Thaies von Milet. In: Lexikon der Alten Welt (1965). Sp. 3023f. 8 Ich folge hier Hans-Georg Gadamers Vorsokratiker-Vorlesung, die ich in meiner Heidelberger Studienzeit zu wiederholten Malen hören konnte. Nach Gadamer hatte der Milesier anhand der hälftigen Kreisteilung mittels des Durchmessers drei Kriterien festgelegt, aufgrund derer er Wissenschaftlichkeit definierte; Wissenschaft müsse sein: 1. beweisbar, 2. n./pntV»t«J grnbfn p*«}ttfeti «4»n 0) nirtn fin- Alt \c hre
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