Die Volkssprachen als Lerngegenstand im Mittelalter und in der frühen Neuzeit: Akten des Bamberger Symposions am 18. und 19. Mai 2001 [Reprint 2013 ed.] 9783110202045, 9783110175417

Emphasis on the subject of "German as a foreign language" has increased in formal schooling in recent years. T

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German Pages 158 [160] Year 2002

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Table of contents :
Vorwort
Deutsch-italienische Vokabulare des 15. Jahrhunderts: Inhalt, Struktur, Zielgruppe
Lateinisch-deutsch-tschechische Vokabulare für Habsburger Regenten im 15. Jahrhundert
Fremdsprachen in der Adelserziehung des 17. Jahrhunderts: Die Sprachbücher von Juan Angel de Sumarán
Matthias Kramer als Deutschlehrer
Bestseller in der frühen Neuzeit. Die verschiedenen Ausgaben des Gesprächsbüchleins von Ondrej Klatovský (1540)
Zum Dialog im tschechisch-deutschen Gesprächsbuch von Ondrej Klatovský
Fremdsprachen in der Schule. Die Lehrbuchtradition des Sebald Heyden
Deutsch-tschechische Lehrbuchtraditionen in den böhmischen Ländern von 1740 bis 1918
Wann wurde Deutsch eine Fremdsprache? Die Anfänge des Deutschunterrichts in Danemark
Mittelalterliche Zeugnisse für den Erwerb des Deutschen als Fremdsprache
Quellen und Quelleneditionen
Literatur
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Verzeichnis der Abbildungen
Namenregister
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Die Volkssprachen als Lerngegenstand im Mittelalter und in der frühen Neuzeit: Akten des Bamberger Symposions am 18. und 19. Mai 2001 [Reprint 2013 ed.]
 9783110202045, 9783110175417

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Die Volkssprachen als Lerngegenstand im Mittelalter und in der frühen Neuzeit

W G DE

Die Geschichte des Deutschen als Fremdsprache Herausgegeben von Helmut Glück in Verbindung mit Ulrich Knoop und Jochen Pleines Wissenschaftlicher Beirat: Csaba Földes · Gerhard Heibig · Hilmar Hoffmann Barbara Kaitz · Alda Rossebastiano · Konrad Schröder Libuse Spacilova · Harald Weinrich · Vibeke Winge

Band 3

Walter de Gruyter · Berlin · N e w York

2002

Die Volkssprachen als Lerngegenstand im Mittelalter und in der frühen Neuzeit Akten des Bamberger Symposions am 18. und 19. Mai 2001

Herausgegeben von Helmut Glück

Walter de Gruyter · Berlin · N e w York

2002

® G e d r u c k t auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Bibliografische

ISSN 1610-4226 ISBN 3-11-017541-X Information Der Deutschen

Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < h t t p : / / d n b . d d b . d e > a b r u f b a r .

© Copyright 2002 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in G e r m a n y

Inhalt Vorwort A Ida Rossebastiano, Turin Deutsch-italienische Vokabulare des 15. Jahrhunderts: Inhalt, Struktur, Zielgruppe

VII

1

Oskar Paasch, Wien Lateinisch-deutsch-tschechische Vokabulare für Habsburger Regenten im 15. Jahrhundert

21

Barbara Bru^one, Bamberg Fremdsprachen in der Adelserziehung des 17. Jahrhunderts: Die Sprachbücher von Juan Angel de Sumarän

37

Sandra Miehling, Bamberg Matthias Kramer als Deutschlehrer

47

Zdenek Opava, Prag Bestseller in der frühen Neuzeit. Die verschiedenen Ausgaben des Gesprächsbüchleins von Ondrej Klatovsky (1540)

57

Alena Simeckovä, Prag Zum Dialog im tschechisch-deutschen Gesprächsbuch von Ondrej Klatovsky

67

Holger Klatte, Bamberg Fremdsprachen in der Schule. Die Lehrbuchtradition des Sebald Heyden

77

Libuse Späcilovä, Olmüt£ Deutsch-tschechische Lehrbuchtraditionen in den böhmischen Ländern von 1740 bis 1918

87

VI

Inhaltsverzeichnis

Vibeke Winge, Kopenhagen Wann wurde Deutsch eine Fremdsprache? Die Anfänge des Deutschunterrichts in Dänemark

103

Helmut Glück, Bamberg Mittelalterliche Zeugnisse für den Erwerb des Deutschen als Fremdsprache

113

Quellen und Quelleneditionen

125

Literatur

129

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

136

Verzeichnis der Abbildungen

139

Namenregister

141

Vorwort Das Lateinische war im gesamten Mittelalter und noch lange danach, unter dem Einfluß von Humanismus und Reformation, die gemeinsame Muttersprache Europas und gleichzeitig die alles beherrschende Fremdsprache in Mittel-, West- und Nordeuropa. Weil sie aber (fast) keines Menschen Muttersprache war, mußte sie von jedem gelernt werden, der Zugang zu Bildung und geistigen Gütern haben wollte, auch zu solchen ganz elementarer Art. Lange Zeit war das Lesen- und Schreibenlernen nämlich gleichbedeutend mit Lateinunterricht, und jeder litteratus (wörtlich: jemand, der lesen und schreiben kann) konnte Latein, anders als der illiteratus, der analphabetische Ungelehrte, der beides nicht konnte. Lange Zeit war Lesen- und Schreibenkönnen das Privileg eines Standes, der Geistlichen. Die Lateinschulen waren gewissermaßen Berufsschulen für künftige Priester, die vor allem die Lateinkenntnisse vermitteln sollten, die Geistliche für ihre eigentliche Ausbildung und für die spätere Ausübung ihres Amtes brauchten. Dieses Amt übten sie in lateinischer Sprache aus: was sie lasen oder schrieben, waren lateinische Texte. Sprachlich geronnen ist dieser Sachverhalt in dem niederdeutschen Wort klerk, das zunächst niedrige Weltgeistliche, dann aber diejenigen bezeichnete, die in den Hansestädten und -kontoren den Schriftverkehr, die Verwaltung erledigten; im Englischen und im Niederländischen lebt es als clerc ,Schreiber, Büroangestellte(r), Buchhalterin)' bzw. klerk ,dass.' bis heute fort. Es geht zurück auf lat. ckricus ,Geistlicher'. Neben den Lateinschulen entwickelte sich im deutschen Sprachraum seit dem Hochmittelalter allmählich ein Netz niederer Schulen, in denen man das Deutsche lesen und schreiben und etwas Rechnen lernen konnte. Manche dieser deutschen Schulen boten auch lateinischen Elementarunterricht an, modern gesprochen Brückenkurse, die den Ubergang an die Lateinschulen erleichtern sollten. Vergleichbare muttersprachliche Schulen gab es auch in anderen Sprachräumen. Moderne Fremdsprachen konnte man jedoch vor 1600 in ganz Europa fast nirgends in einer Schule lernen, weder an Lateinschulen noch an muttersprachlichen Schulen. Das muß man präzisieren: die Volkssprachen waren weder formelles Unterrichtsfach noch nennenswerter Gegenstand des Unterrichts, sie waren kein Lehrstoff (vgl. Glück 2002: 84 — 97). Dennoch wurden in ganz Europa schon immer jeweils ,moderne',

VIII

Vorwort

,lebende' Sprachen als Fremdsprachen gelernt (ich setze die Anführungszeichen, um die große Relativität dieser Attribute anzudeuten: im 17. und 18. Jahrhundert war das Lateinische eine moderne, lebende Sprache, während beispielsweise das Finnische, das Litauische oder das Slovenische gerade erst dabei waren, sich das Prädikat ,Sprache' zu erwerben und das Norwegische als Sprache verschwunden war — es erwarb sich diesen Status erst im 19. Jahrhundert wieder). Heute ist man darauf geeicht, beim Stichwort ,Lernen' das Stichwort ,Schule' mitzudenken. Für das Erlernen von Fremdsprachen gilt das ganz besonders. Dieser Sachverhalt hat sich in der Fachterminologie der Spracherwerbsforschung niedergeschlagen. Sie unterscheidet ,ungesteuerten' Fremdsprachenerwerb vom ,gesteuerten' Fremdsprachenunterricht (vgl. die einschlägigen Artikel im MLS). Zwar ist diese Unterscheidung nicht sehr trennscharf, denn der ,ungesteuerte' Fremdsprachenerwerb enthält fast immer auch Momente von Steuerung (ζ. B. durch individuelle Lernstrategien, durch Fehlerkorrekturen, durch Antworten auf Fragen usw.). Anderseits bemühen sich Heerscharen von Didaktikern seit langem darum, dem ,gesteuerten' Fremdsprachenunterricht Spontaneität und Kreativität einzuhauchen, ihre Klienten zu Eigenaktivität zu veranlassen, ,das Leben' ins Klassenzimmer zu holen, kurz: dem Unterricht ,Authentizität' zu geben. Dennoch ist diese Unterscheidung brauchbar, denn sie betrifft etwas Wesentliches: auf der g e steuerten' Seite stehen das Organisierte, Geregelte, Kontrollierte, auf der ,ungesteuerten' Seite das Improvisierte, Bastlerische, das der Trias von Versuch, Irrtum und korrigiertem Versuch unterworfen ist. Die Beiträge in diesem Band befassen sich eher mit Letzterem, mit dem Freistil, wenn ich eine Metapher aus dem Ringersport bemühen darf, nicht mit dem zivilisierteren griechisch-römischen Stil. Im Zentrum steht die Frage, wie von wem warum mit welchen Mitteln zu welchen Zwecken mit welchen Erfolgen seit dem Mittelalter Volkssprachen (und namentlich das Deutsche) als Fremdsprachen erworben worden sind. Man sollte die Unterscheidung, die im letzten Absatz skizziert worden ist, nicht über Gebühr strapazieren. Doch sei der Hinweis gestattet, daß die ,Schulen', die im Spätmittelalter damit begannen, Volkssprachen zu unterrichten, natürlich im Freistil arbeiten mußten: woher hätten sie sich denn Grammatiken, Wörterbücher, sprachdidaktische Anweisungen holen können, als es das alles noch nicht gab? Die Lehrer in diesen Schulen mußten improvisieren und ausprobieren und erst einmal herausfinden, was brauchbar war und was nicht. Man kann das gut studieren an der Präsentation des deutschen Verbs in den Sprachbüchern der frühen Neuzeit, bevor man die Ablautklassen entdeckt und etwas über Rektion wußte: diese Präsentation war widersprüchlich,

Vorwort

IX

unsystematisch und geprägt von unermüdlichen Versuchen, sie didaktisch besser zu machen als die jeweiligen Vorgänger. Aus solchen Gründen möchte ich den schulischen Unterricht in den Volkssprachen bis wenigstens 1750 der ,ungesteuerten' Seite zurechnen. In diesen Schulen wurde nämlich improvisiert und gebastelt und von einem Versuch zu einem Irrtum, dann zum nächsten Versuch und zum nächsten Irrtum, der aber oft schon nicht mehr ganz so irrig war wie sein Vorgänger, vorangegangen. Die Beiträge in diesem Band haben zwei klare geographische Schwerpunkte, nämlich Norditalien und die böhmischen Länder, und einen zeidichen Schwerpunkt, nämlich die frühe Neuzeit, die hier für das 15. bis 17. Jahrhundert angesetzt wird. In diesen beiden Nachbarsprachräumen (und in Polen) beginnt die Produktion von Lehrmaterialien für die Fremdsprache Deutsch am frühesten, und dort werden die ersten Schulen eingerichtet, in denen man sie lernen kann. Im 16. Jahrhundert kommen weitere Sprachräume dazu, und im 17. Jahrhundert kann man in den meisten Ländern Europas Deutsch lernen, was sich daran zeigt, daß Lehrbücher für einzelne Zielgruppen verfaßt werden, ζ. B. für Spanier, Ungarn oder Engländer, daß Menschen aus diesen Ländern in den deutschen Sprachraum kommen, um Deutsch zu lernen und daß Sprachmeister sich ihren (bescheidenen) Lebensunterhalt mit dem Deutschunterricht verdienen können (vgl. Schröder 1980/ 1982, ders. 1985 — 1998, Glück 2002). Doch auch andere geographische Räume und andere Zeiträume spielen eine Rolle: Dänemark und das (ζ. T. historische) westslavische Sprachgebiet, das Mittelalter und der Beginn der Moderne. Das alles soll nun in der gebotenen Kürze erläutert werden. Die grande dame der neueren philologischen Forschung über vormodernes Fremdsprachenlernen, Alda Rossebastiano (Turin), eröffnet den Reigen mit einem Beitrag über die ältesten deutsch-italienischen Sprachbücher, die gleichzeitig die ältesten (größeren) Sprachbücher sind, die europäische Volkssprachen miteinander verbinden, nämlich das Venezianische mit dem Bairischen und dem Alemannischen. Es sind keine Sprachbücher „für die Hand des Schülers": die erhaltenen Handschriften des späten 14. und des 15. Jahrhunderts wurden nicht benutzt, um damit Hausaufgaben zu machen oder Vokabeln zu lernen. Sie wurden von Lehrmeistern zusammengestellt, die die Erfahrung gemacht hatten, daß man manchmal vergeßlich ist. Man muß diese Manuskripte verstehen als Gedächtnisstützen und Leitfäden, die der Lehrer verwenden konnte, wenn ihm eine Vokabel gerade nicht einfiel oder ein Flexionsschema nicht auf Anhieb präsent war. Außerdem enthielten sie Musterdialoge, die man im Unterricht zur ,Sicherung' von gelerntem Stoff und zum Üben einsetzen konnte. Solche Dialoge kann ein erfahrener Lehrer zwar auch improvisieren, aber es ist doch besser, wenn er sie vorbereitet und in den Unterricht mitbringt.

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Vorwort

Nachdem sich die Druckkunst in den 70er Jahren des 15. Jahrhunderts zu einem Gewerbe entwickelt hatte, das Bücher zu einem Gebrauchsgegenstand des alltäglichen Bedarfs machte für die, die lesen konnten, zunehmend auch für die, die lesen lernen wollten, änderte sich die Funktion der volkssprachlichen Sprachbücher. Nun gelangten sie „in die Hand des Schülers". Der Schüler bekam den Stoff jetzt im Buch direkt präsentiert, er brauchte keinen Lehrmeister mehr, um herauszufinden, was er lernen sollte. Das sprachdidaktische Arkanum war nun geöffnet, das Wissen des Lehrmeisters, das ihm den Broterwerb sicherte, wurde auf dem Markt käuflich. Der Lehrmeister mußte sich etwas Neues einfallen lassen, um vom gedruckten und gebundenen Mitbewerber um die Lernbegierigen nicht überflüssig gemacht zu werden. Dieser Mitbewerber ging, zum Glück für den Lehrmeister, bald andere Wege: er konzentrierte sich auf diejenigen, die autodidaktisch eine Fremdsprache lernen wollten. Weil das häufig nicht klappte, konnte der Lehrmeister abwarten. Meist konnte er dem Buch seine Klientel wieder abnehmen, genauer: die Klientel mit ihm teilen. Alda Rossebastiano stellt diese Entwicklung vom 14. bis zum 16. Jahrhundert für Italien dar, nämlich: für Lehrbücher des Deutschen, die sich an Italiener richteten. Sie stellt dar, welche Wortschätze und welche grammatischen Grundmuster sie enthalten, welche Zielgruppen sie im Auge hatten, wie die Dialoge aufgebaut sind, welche Gegenstände sie vermitteln, welche pragmatischen Regeln für die Gesprächs führung sie transportieren. Und sie zeigt, daß diese Entwicklung dynamisch war, eben weil sich die Funktionen, die diese Sprachbücher erfüllen mußten, erheblich veränderten. Oskar Pausch (Wien) befaßt sich mit demselben Genre. Die Vokabulare, die er behandelt, gehören jedoch in eine ganz andere soziale Welt. Bei ihm geht es um Wortlisten aus dem 15. Jahrhundert, die zusammengestellt wurden, um Fürsten- und Königssöhnen die Sprachen ihrer künftigen Untertanen beizubringen, nämlich das Tschechische und das Deutsche. Das Lateinische ist stets mit von der Partie. Im Mittelpunkt des Beitrags steht ein Vokabular, das um die Mitte des 15. Jahrhunderts von dem böhmischen Ritter Jan Holubarz für den späteren König Ladislaus Postumus verfaßt worden ist. Dieses Vokabular stützt sich auf ältere Traditionen; sie reichen zurück bis in die Zeit Karls IV., der in die Goldene Bulle die vielzitierte und oft falsch verstandene Bestimmung aufnehmen ließ, die Söhne der Kurfürsten hätten die wichtigsten Sprachen des Reichs (Lateinisch, Deutsch, Italienisch, Tschechisch) zu lernen. Holubarz' Vokabular wurde seinerseits traditionsstiftend für die habsburgischen Bemühungen um die Vermittlung von Volkssprachen in der Prinzenerziehung, die mit den Lehrbüchern für Maximilian I. im späten 15. Jahrhundert einen ersten Höhepunkt fanden. Der Beitrag liefert darüber hinaus eine Fülle von überlieferungsgeschichtlichen Einzelheiten, eine

Vorwort

χι

biographische Skizze zu Jan Holubarz und eine paläographische Entdeckung zum sogenannten Tücheralphabet. Er macht aber auch eine Forschungslücke sichtbar: die Beziehungen dieser Vokabulare für die Prinzenerziehung zur Tradition des vocabularius ex quo und derjenigen der norditalienischen Sprachbücher des späten 14. und des 15. Jahrhunderts sind unklar (es ist allerdings zu vermuten, daß es keine Beziehungen zu letzteren gibt). Mit dem Sprachunterricht für Jugendliche von adligem Stand beschäftigt sich auch Barbara Bru^one (Bamberg). Bei ihr geht es um einige mehrsprachige Sprachbücher, die im Dreißigjährigen Krieg in Deutschland, genauer: in Baiern, verfaßt und gedruckt wurden. Ihr Autor war der baskische Edelmann Juan Angel de Sumaran, der an den Hohen Schulen in München und Ingolstadt Italienisch, Französisch, Spanisch und die Tanzkunst lehrte. Uber seinen Lebensweg ist wenig bekannt. Seine Bücher richteten sich nicht nur an süddeutsche Jugendliche, die die genannten Sprachen lernen wollten, sondern auch an Italiener, Franzosen und Spanier, die sich für das Deutsche interessierten. De Sumaran war weder Lexikograph noch Grammatiker, sondern ein Sprachlehrer, der sich die Lehrwerke für seinen Unterricht selber zusammenschrieb und dann drucken Heß. Der Autorin geht es in erster Linie darum, sprachdidaktische Konzepte in den Werken dieses produktiven Sprachmeisters zu entdecken. Sie zeigt, daß solche Konzepte vorhanden sind und daß sie sich entwickeln. Am Beginn steht das induktive Arbeiten mit Beispielen, die späteren Bücher verfolgen systematischere Ansätze, in denen mehr oder weniger ausformulierte (und nicht immer zutreffende) Regeln eine Rolle spielen. Der ,Held' des Beitrags von Sandra Miehling (Bamberg), der polyglotte Matthias Kramer (Cramer, Krämer, Cremer), war in den Jahrzehnten um 1700 ein höchst produktiver Verfasser von Lehrwerken und Wörterbüchern, die das Deutsche mit einer ganzen Reihe von Sprachen verbanden. Er befand sich auf der Höhe der philologischen Erkenntnis seiner Zeit, die mit den Namen Johannes Clajus und Kaspar Stieler angedeutet werden kann, konnte also in höherem Maße als seine Vorgänger grammatisches und lexikologisches Wissen in seine Lehr- und Wörterbücher einbringen. Entsprechend klar läßt sich nachzeichnen, wie er versucht hat, linguistische Erkenntnisse zu didaktisieren, für die Zwecke des Sprachunterrichts einzusetzen und nutzbar zu machen. Dieser Aspekt steht bei Sandra Miehling im Vordergrund. Sie zeigt aber auch, wie reich und vielseitig Kramers große Lehrbücher des Deutschen für Italiener und Franzosen in thematischer Hinsicht waren: weder die komplizierten Regeln für die korrekte Anrede im deutschen AlamodeZeitalter noch die Fähigkeit, bei Bedarf situationsangemessen schimpfen und beleidigen zu können, hat er zu lehren vergessen.

XII

Vorwort

Zdenek Opava und Alena Simeckovä (beide Prag) befassen sich mit einem tschechisch-deutschen Gesprächsbuch, das 1540 erstmals erschien und bis 1641 elf Mal neu bearbeitet und aufgelegt wurde. Sein Verfasser, der reiche Kaufmann Ondrej Klatovsky, war zu seiner Zeit ein bekannter Mann, nicht nur als Verfasser eines Sprach- und eines Rechenbuchs. Er war Bürgermeister der Prager Altstadt und wurde wegen seiner Beteiligung am Ständeaufstand gegen König Ferdinand 1547 aus der Stadt verbannt. Zdenek Opava erörtert zunächst Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Klatovskys Sprachbuch und einem wenige Jahre früher erstmals erschienenen kleinen Lehrbuch, der Kurt^en Undterweisung Bei diesem Büchlein handelt es sich um eine Bearbeitung eines wenige Jahre älteren polnischdeutschen Sprachbuchs für den böhmischen Markt (vgl. Pirozynski 1981, Glück 2002: 367 — 369). Klatovskys Sprachbuch ist viel umfangreicher, entsprechend gehaltvoller und in mancher Hinsicht origineller und moderner als die Kurt^e Undterweisung. Deshalb konnte es den älteren Konkurrenten schnell vom Markt verdrängen, ohne daß in den einzelnen Auflagen bis 1641 viel verändert worden wäre, sieht man davon ab, daß sich seine sprachliche Gestalt vom Bairischen wegbewegt hin zu frühneuhochdeutschen Ausgleichsformen. Nach 1641 jedoch wäre eine Neubearbeitung unumgänglich gewesen, weil das Buch sachlich völlig veraltet war, doch das unterblieb. Stattdessen erlebte die schmalere und anspruchslosere Kurt^e Undterweisung eine neue Blüte, denn sie war leichter zu bearbeiten und billiger zu drucken, und so erlebte sie erst 1785 ihre letzte Auflage. Alena Simeckovä analysiert den Aufbau der Dialoge in Klatovskys Sprachbuch. Zunächst charakterisiert sie die Textsorten Gespräch und Dialog unter konversationsanalytischen Gesichtspunkten und gibt einen Uberblick über das thematische Spektrum der verschiedenen Gespräche. Die Textgestaltung der Gespräche und ihre innere Gliederung sind Gegenstand der folgenden Abschnitte. Schließlich kommt sie auf pragmatische und soziologische Aspekte zu sprechen: auf asymmetrische Rollenverteilungen, wie sie in den Anreden und in der Verteilung des Duzens und Ihrzens zwischen den Gesprächsbeteiligten sichtbar werden, auf Geschlechterrollen, auf Distanz- und Nähesignale und schließlich auch auf die (wenigen) Beschimpfungen, die man bei Klatovsky lernen konnte. Der abschließende Ausblick macht deutlich, welchen Wert die Analyse der sprachlichen Gestalt solcher Sprachbücher für die Gewinnung von Einsichten in die Besonderheiten der gesprochenen Sprachform des Deutschen in früheren Jahrhunderten hat. Zeitlich, geographisch und teilweise auch thematisch benachbart ist das lateinisch-deutsch-tschechische Gesprächsbuch des Nürnberger Humanisten Sebald Heyden. Es steht allerdings in einer anderen Tradition, nämlich der

Vorwort

XIII

Tradition der lateinischen Schülergespräche der Humanisten. In manchen dieser Schülergespräche waren dem lateinischen Leittext Ubersetzungen in die Volkssprache(n) als Lernhilfen beigegeben. Später ,emanzipieren' sich diese Ubersetzungen: die Gesprächsbücher werden damit zum Erlernen auch der Volkssprache(n) tauglich. Holger Klatte (Bamberg) geht zunächst auf das Vorbild Heydens ein, das einsprachige lateinische Schüler-Gesprächsbuch von Erasmus von Rotterdam (1518), und stellt dann dar, wie sich Heydens Buch, dessen erste Auflage (1528) noch einsprachig war, dann aber das Deutsche, Polnische und Tschechische aufnahm, von Auflage zu Auflage entwickelte. Auf Exkurse zur Rolle der Volkssprachen und zur tatsächlichen Verwendung mehrsprachiger Gesprächsbücher in den böhmischen Schulen des 16. Jahrhunderts folgen Skizzen des Aufbaus und der Themen des Büchleins und seiner Stellung zu den beiden anderen wichtigen Lehrwerken der Zeit in Böhmen; sie wurden in den Beiträgen von Alena Simeckovä und Zdenek Opava vorgestellt. Einen großen Abschnitt der späteren Geschichte des Deutschlernens in den böhmischen Ländern behandelt IJbuse Spacilovä (Olmütz/Olomouc). Ihr Beitrag beruht (ebenso wie der von Holger Klatte) auf den Resultaten eines Forschungsprojekts, das in den Jahren 2000/2001 an den Universitäten Olmütz und Bamberg durchgeführt wurde. Es wurde vom Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien gefördert. In diesem Projekt wurde eine teilkommentierte Bibliographie aller Lehrwerke für das Deutsche als Fremdsprache im historischen Königreich Böhmen von den Anfängen im Spätmittelalter bis 1918 erarbeitet; diese Bibliographie erscheint als Band 2 dieser Reihe. Libuse Spacilovä rekonstruiert die sprachdidaktischen Konzepte, die dieser Lehrwerkproduktion zugrundelagen, für die Zeit zwischen 1740 und 1918. Sie zeigt, daß bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die sogenannte Grammatik-Ubersetzungs-Methode dominierte. Sie stammt aus dem traditionellen Lateinunterricht, doch werden im Konzept der ,Elementargrammatik' nach 1800 auch Spuren neuhumanistischer Modelle (Entwicklung der Fähigkeit, literarische Texte in der Fremdsprache zu lesen) deutlich sichtbar (vgl. Fuhrmann 2001 113—154). Die um 1880 in ganz Europa grassierende direkte Methode hatte in den Schulen der böhmischen Länder im Deutschunterricht keinen Erfolg, denn dort setzte sich die sogenannte vermittelnde Methode durch. Von Bedeutung ist schließlich, daß sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Lehrwerkproduktion konzeptionell, thematisch und bezüglich der Zielgruppen stark diversifizierte: Die Gattungen des Konversationsbuchs und des fachbezogenen Sprachführers treten wieder auf die Bildfläche, und zwar für ein erwachsenes Publikum, und das Genre des fachsprachlichen Lehr- und Wörterbuchs entwickelt sich in die Breite.

XIV

Vorwort

Dänemark gilt als einer der klassischen, sprachlich homogenen Nationalstaaten Europas. Vtbeke Winge (Kopenhagen) zeigt in ihrem Beitrag, daß Dänemark seit dem Hochmittelalter ein mehrsprachiges Land war und erst nach 1772, verstärkt dann im 19. Jahrhundert, das Dänische als dominierende, später als einzige Landessprache durchgesetzt wurde. Das Deutsche war jahrhundertelang — sei es das Mittelniederdeutsche zwischen dem 13. und dem 16. Jahrhundert, sei es das Hochdeutsche seit dem 16. Jahrhundert — in Dänemark keine wirkliche Fremdsprache, weil die meisten Dänen Deutsch verstanden (im Sinne des Konzepts der Semikommunikation) und viele Dänen das Deutsche aktiv verwenden konnten. Bis 1864 war zudem ein beträchtlicher Teil der Untertanen der dänischen Könige deutschsprachig, nämlich in den Herzogtümern Schleswig und Holstein. In ihrem Beitrag stellt sie eine niederdeutsche Fibel aus dem späten 16. Jahrhundert vor, die in Dänemark gedruckt und verwendet wurde, aber, wie die Autorin meint, wahrscheinlich nicht zum Zweck des Fremdspracherwerbs, sondern als ganz ,normales' ABC-Buch. Der formelle, schulische Deutschunterricht fing in Dänemark erst vergleichsweise spät an (im 17. Jahrhundert), ebenso die Produktion von Grammatiken des Deutschen und zweisprachigen Wörterbüchern. So ergibt sich, daß das Deutsche in Dänemark eine ,junge' Fremdsprache ist (vgl. Winge 1992, dies. 2000). Um mittelalterliche Zeugnisse für den Erwerb des Deutschen als Fremdsprache geht es bei Helmut Glück (Bamberg). Zunächst wird das methodische (Schein-) Problem angesprochen, ob es Deutsch als Fremdsprache überhaupt geben konnte, bevor sich das Deutsche im 18. Jahrhundert selbst zu einer Hoch- und Literatursprache ausgebildet hatte. Im weiteren geht es dann um zwei althochdeutsche Glossare, die man als Handreichungen zum (Althoch-) Deutschlernen verstehen kann, und um die mittelalterliche deutsche ,Ostkolonisation', bei der über eine mehr oder weniger lange Phase slavisch-deutscher Zweisprachigkeit große Gebiete des östlichen Mitteleuropa deutschsprachig wurden, d. h. daß die früher elb- und ostseeslavische Bevölkerung fast vollständig, andere west- und südslavische Völker teilweise den Sprachwechsel zum Deutschen vollzogen, so wie Deutsche ihrerseits bei entsprechenden Mehrheits- und Machtverhältnissen den Wechsel zu slavischen Sprachen vollzogen haben. Schließlich befaßt er sich mit zwei mittelalterlichen Berichten über Sprachkontakt und Sprachlernen aus dem deutsch-italienischen Kontaktgebiet, nämlich einigen Passagen aus Der weihische Gast von Thomasin von Zerclasre und aus dem Gedicht Neu Teutsch. Der Beitrag schließt mit einigen Hypothesen, die als Programm für die weitere Forschung auf dem Gebiet, dem dieser Band und die ganze Reihe gewidmet ist, verstanden werden sollen.

Vorwort

XV

Dieser Sammelband beruht auf Vorträgen, die bei dem Symposion Die Volkssprachen als Lerngegenstände in Europa im Mittelalter und in der frühen Neuheit der Arbeitsstelle für die Geschichte des Deutschen als Fremdsprache der Universität Bamberg am 18. und 19. Mai 2001 gehalten wurden (www.unibamberg.de/split/hist-daf). Die Literaturangaben befinden sich am Ende des Bandes, die Anmerkungen am Ende jedes einzelnen Beitrags. Der Beitrag von Alda Rossebastiano wurde von Barbara Bruzzone und Sandra Miehling ins Deutsche übersetzt. Alle übrigen Beiträge wurden unter ihrer Mitarbeit und der Hilfe von Holger Klatte sowie Wieland Eins redigiert, der auch das Register erstellte. Die Beiträge folgen teils den herkömmlichen, teils den 1996 veränderten Regeln der deutschen Rechtschreibung; von einer Vereinheitlichung wurde abgesehen. Das Symposion war finanziell gefördert worden durch die Forschungskommission der Universität Bamberg, durch den Universitätsbund Bamberg und durch die Stadt Bamberg — als Beitrag zum Internationalen Jahr der Sprachen, zu dem die Kommission der Europäischen Union und der Europarat das Jahr 2001 ernannt hatten. Die Zusammenarbeit mit dem Verlagslektorat, namentlich mit Heiko Hartmann, war effizient und unkompliziert. Ihnen allen möchte der Herausgeber danken.

Alda Rossebastiano, Turin

Deutsch-italienische Vokabulare des 15. Jahrhunderts: Inhalte, Strukturen, Zielgruppen Die Forschung zur volkssprachlichen Lexikographie hebt übereinstimmend die große Bedeutung Italiens im 14. Jahrhundert hervor. In diesem Zeitraum können wir nämlich eine wahrhafte Revolution in der Anordnung der Wörtersammlungen miterleben. Die älteren lateinischen Vokabulare waren alphabetisch angeordnet und mit mehr oder weniger ausführlichen volkssprachlichen Glossen versehen (vgl. Rossebastiano 1986). Sie richteten sich an Leute, die im Lateinischen ganz gut in Übung waren. Nun ging man über zu Wortlisten, die systematisch volkssprachlich glossiert wurden, gerade nicht in alphabetischer Reihenfolge angeordnet waren und sich an Menschen richteten, die kein Latein konnten. Es waren Wortlisten für den Anfängerunterricht. Noch immer steht das Lateinische im Vordergrund: die lateinischen Lemmata stehen in der linken Spalte in den Listen, was zeigt, daß die Idee weiterlebt, es sei in didaktischer Hinsicht sinnvoll, vom weniger Bekannten (dem Lateinischen) zum besser Bekannten (der Volkssprache) zu gehen. Eine weitere augenfällige Veränderung ist der Verzicht auf die alphabetische Anordnung der Lemmata — oder besser, wie es für die Derivationes (vgl. Rossebastiano 1986, insbesondere 113 — 118) angebrachter ist, der Stämme der Wortfamilien — zugunsten einer systematischen Anordnung nach thematischen Feldern, nach Sachgruppen 1 , die über die Zwischenstufe einer zufälligen Anordnung geht (wobei diese durch Systematiken erweitert wird, die von Homonymie, Opposition, Derivation oder Assonanz inspiriert sind). In manchen Fällen — vor allem in späteren Zeiten — finden sich dann Versuche, die alphabetische Anordnung 2 wieder herzustellen. 1 Es ist hier nicht möglich, auf die Problematik der Qucllcnlagc cinzugchcn. Wie L. de Man (1964) gezeigt hat, ist die Sachgruppenanordnung in den Enzyklopädien üblich, beginnend mit derjenigen des Isidor von Sevilla, Etymokgiarum sive orginum iibrl XX. 2 Dies ist zum Beispiel der I'all bei dem Glossar des Jakob von Calcinia, das aus der Alitte des 15. Jh. stammt.

2

A l d a Rossebastiano

Für nicht unerheblich halte ich schließlich den Umstand, daß die expositio immer wieder zurückgenommen und vereinfacht wurde. Im Lauf ihrer Entwicklung verliert sie jeden morphologischen, etymologischen oder paraetymologischen Bezug, um am Ende zu verschmelzen mit der Erklärung durch die volkssprachliche Glosse und sich schließlich in dieser zu erschöpfen. Noch offensichtlicher ist die Aufhebung von denvatio und compositio, beides Verfahren, für die Kompetenzen auf höherem Niveau erforderlich sind. Hingegen verbreitet sich immer mehr die Gewohnheit, Beispiele einzuführen, die Anwendungsmöglichkeiten für die einzelnen Begriffe zeigen, und zwar mittels kurzer Sätze, die Assonanz, Reim, Opposition und Homonymie nutzen, um das im Mittelalter übliche Auswendiglernen zu erleichtern. 3 Im Lauf der Zeit zeigt sich die Tendenz, diese Sätzchen ans Ende des ,Kapitels' zu setzen mit der formalen Funktion, das Thema abzuschließen. Im Laufe dieser Entwicklung wird das ,vocabulario' erst zum ,glossario', dann wandelt er sich zum ,manuale didattico', mit dem die weniger bekannte Sprache erlernt werden soll, was in den meisten Fällen das Lateinische ist. Man bedient sich dabei der besser bekannten Sprache, des italienischen volgare, der Vehikularsprache, die an zweiter Stelle (rechts) steht. Es gibt Dutzende von Werken dieser Art. Unter ihnen sticht besonders ein kurzes, unter linguistischen Gesichtspunkten sehr fehlerhaftes Glossar hervor, das aus den letzten Jahren des 14. Jahrhunderts oder aus den ersten Jahren des 15. Jahrhunderts stammt. Hier tritt das Deutsche an die Stelle des Lateinischen, so daß — und das ist etwas völlig Neues — zum ersten Mal zwei Volkssprachen einander gegenübergestellt werden. 4 Deshalb ist dieses Zeugnis von übergeordneter sprach- und kulturgeschichtlicher Bedeutung (vgl. Scarpa 1991). Es ist nicht nur von Interesse wegen der Einsichten, die die lexikalischen Daten ermöglichen, oder deshalb, weil sein volgare im zentralen Bereich (Marken-Umbrien-Abruzzen) verortet werden könnte, in einer Region also, die an der italienisch-deutschen Produktion bisher unbeteiligt gewesen zu sein schien. Dieser Fund steigert noch die Bedeutung jenes stark beschädigten frammento di guida turistica italo-tedesca con frasi e parole d'uso corrente ,Fragment eines deutsch-italienischen Touristenführers mit alltagssprachlichen Sätzen und Wörtern', das im Franziskaner-Kloster von Capestrano (AQ) aufbewahrt wird und das mit der Wiener Predigt gegen die Türken von Giovanni von

3

Ich erinnere an die Hexameter des Eberhard von Betbune und des Alexander dei Villadei.

4

l 7 ür den Inhalt und die sprachliche Gegenüberstellung von schwer zu definierendem Neolateinisch und Bairisch sind die Kasseicr Glossen aus dem 9. J h . zu erwähnen (vgl. den Beitrag von II. Glück in diesem Band).

Dcutsch-italienischc Vokabulare des 15. Jahrhunderts

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Capestrano in Verbindung gebracht werden kann. Es würde sich nicht mehr um ein isoliertes Zeugnis handeln, sondern man könnte einen VerbreitungsKernpunkt annehmen, dem man künftig gebührende Aufmerksamkeit zukommen lassen muß. 3 Wir sehen hier den ersten Schritt einer wichtigen Entwicklung, der mit der Ersetzung des Lateinischen durch das Deutsche das Zentrum des Interesses von der traditionellen Schule auf den Markt verschiebt. Gleichzeitig erfolgt ein Ubergang von der Welt der Kinder zu derjenigen der Erwachsenen. Dies zeigt sich an der Verwendung eines alltäglichen und freizügigen Wortschatzes, der viel eher den Bedürfnissen eines Reisenden entspricht, der nach pikanten Zerstreuungen schielt, als der Ausbildung eines Schülers, der eine andere als seine Muttersprache lernen soll. Wir sind also thematisch auf einer Ebene mit der Manuskript- und Drucktradition, die uns überliefert ist in den Sprachaufzeichnungen Reisender, und mit den späteren volkssprachlichen Arbeiten, die entstanden sind als Hilfsmittel für diejenigen, die in einer Zeit durch die Welt reisen wollten, in der das Lateinische seine Reichweite als internationale Sprache bereits teilweise verloren hatte (vgl. Rossebastiano 2000). Die folgenden Beispiele mögen dies illustrieren: Broto — Lo pane ,Brot' Guino — lo vino ,Wein' Flesci — la carne ,Fleisch'

aber auch : Flolas met gaire — io me voglo iacere con teco ,Ich will mit dir schlafen' Ich bei tich op — io te voglio basciare ,ich will dich küssen' Trinche des galas fol vinco — bevite q(ue)sto biccbiero do lo vino pieno ,trinkt dieses Glas voll Wein' Chanche gayti ti modera fcayta aura — va iacite co mamata puetana t(t)ista ,Geh, leg dich zu deiner Mutter, dieser elenden Hure' (vgl. Scarpa 1991).

Ich glaube, die Beispiele genügen, um sowohl den äußerst korrupten Zustand des deutschen Textes als auch dessen starke Italianisierung zu dokumentieren. Die erste Annahme erklärt sich dadurch, daß es sich um die Kopie einer Handschrift handelt, die womöglich auch durch die Hände von Schreibern ging, die des Deutschen nicht mächtig waren, die zweite dadurch, daß der Autor des Werks sehr gut Italiener gewesen sein könnte. Die zweite Annahme wird durch die Anordnung der Sprachen bekräftigt, wenn denn unsere Ausle5 Xu diesem Tbemenbereich Bart Rossebastiano 1977: 91 f.

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gung weiterhin Gültigkeit beanspruchen kann: Das Italienische in der rechten Spalte steht an der Stelle der Vehikularsprache, das Deutsche in der linken Spalte ist die Sprache, die glossiert wird. Verglichen mit früher ist also eines unverändert geblieben: die Zweitstellung des italienischen volgare. Was den Inhalt anbelangt, so folgen die Wörter und die Sätze einander ohne eindeutigen Zusammenhang. Aber die Lemmafolge ist auch nicht ganz zufällig, weil sich Themengruppen ausmachen lassen, die, wenn man nicht übermäßig streng ist, folgende Bereiche erkennen lassen: Nahrungsmittel, Familie, Kleidung, Gott, Himmelskörper, menschlicher Körper, Geld, Gebrauchsgegenstände, Metalle, Gewürze, Tiere. Im Anschluß werden die Zahlwörter ohne Ubersetzung ins Italienische aufgeführt. Der Umfang des Werkes (3 Blätter mit ungefähr 200 Einträgen, die Zahlenreihe ausgenommen) zeigt deutlich die Grenzen seiner Inhalte und seiner Reichweite als didaktisches Handbuch. Dennoch ist es bemerkenswert als frühes Zeugnis einer Tradition, die später ihre Früchte tragen wird. In die gleiche Traditionslinie (Zusammenstellung des Deutschen und des Italienischen) reiht sich das Fragment einer Inkunabel, die gegen Ende des 15. Jahrhunderts von Johann Hamman in Venedig gedruckt wurde. Vier Bögen davon sind uns überliefert. 6 Sie erwecken nicht den Eindruck, daß der Autor sie so enden lassen wollte, wie sie heute vorliegen. Der Inhalt ist nicht mit demjenigen der oben erwähnten Handschrift identisch. In der Inkunabel überwiegen die morphologischen Aspekte, insbesondere Beispiele für die Konjugation, und die Phraseologie, aber die Grundidee bleibt erhalten. Hier wird auch der Ort des Druckes, nämlich Venedig, und die deutlich lokale Färbung des volgare wichtig. Es bestätigt sich auf diese Weise, daß in der Lagunenstadt eine ältere Tradition existierte, die uns die von Georg von Nürnberg vielleicht begründete und jedenfalls in Umlauf gebrachte, vom venezianischen Fondaco dei Tedeschi ausgehende Lösung ins Gedächtnis ruft, aber nicht mit ihr zusammenfällt. Schließlich und endlich ist nach so vielen Jahren der Forschung immer noch das Werk Georgs das wichtigste italienische Zeugnis für eine didaktische Betätigung, die dem Unterricht des Deutschen in der Ubergangsphase vom Mittelalter zur Neuzeit gewidmet war. Von seinem Autor wissen wir vor allem das, was er uns selbst in seinem Werk zur Kenntnis bringen möchte 7 :

6 Hin Exemplar wird in der Bayerischen Staatsbibliothek in München aufbewahrt. Bezüglich der restlichen Rxemplare vgl. Rossebastiano Bart 1977: 92 Anm. 31. 7 Vgl. fol. 99v —lOOr des Codex 12514 der Osterreichischen Nationalbibliothek in Wien, diplomatische Ausgabe von Oskar Pausch (Pausch 1972). Auf diese ausgezeichnete Arbeit verweise ich für vertiefte Studien bezüglich des Fondaco und des Autors.

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er mag Sensal gewesen sein, aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt geht er seiner Tätigkeit als Deutschlehrer im Campo San Bortholamio beim Fondaco dei Tedeschi nach. 8 Er heißt Meister Georg, kommt aus Nürnberg, ist mittleren Alters, und hat einen guten und gefälligen Unterrichtsstil. Der Schüler kann mit Recht zufrieden sein, wenn seine Deutschkenntnisse nach weniger als einem Studienjahr jenen gleichgesetzt werden, die man sich während eines zwanzigmonatigen Aufenthalts in Deutschland aneignen kann. Der Text sagt ganz deudich: Quanto tempo es-tu andado a schuola? — Wie lang pistu zu scbull gegangen? Kl no e ancora un anno. — Hz ist noch nicht ein iar. Hl sera un anno a bonaman. — Hz wirt ein iar sein am newen iar. Per me fe, tu ne sa assay in questi tempo! — Pei mein trewen, du cbanst sein gnug in disei" zeyt! Hl basterave se tu fosse stado vinti messy in Allemagna. — Sein wer genügt ob du zwainczick monet in deuezen landen berst gebesen.9 Dieser Dialogausschnitt führt uns auf eine wichtige Spur, was die Zielgruppe des Buches betrifft. Es dürften italienische Schüler gewesen sein: nur für sie, und nicht für deutsche Schüler, ergibt es einen Sinn, von einem Sprachaufenthalt in Deutschland zu sprechen. Die Hypothese wird durch den Hinweis auf die Herkunft Georgs bestätigt, den das Toponym „von Nürnberg" gibt. Er war also ein deutscher Muttersprachler und eignete sich zweifellos eher dazu, Italienern Deutsch als Deutschen Italienisch beizubringen. 10 Ist das der Fall, so haben wir es mit einem ersten Zug unbestreitbarer didaktischer Modernität zu tun. Ist das der Fall, müssen wir aber auch die Anordnung der Sprachen beachten, die gegenüber der Uberlieferung umgekehrt ist. Die Reihenfolge ist italienisch-deutsch, d. h. aus der Perspektive der Lerner: einfache Sprache — schwierige Sprache. Diese Überlegung macht plausibel, daß Georg eine bewusste didaktische Innovation vornahm (man geht vom Einfachen aus und kommt dann zum Schwierigen). Sie macht aber auch höchst plausibel, daß die direkte Quelle, 8 Die im Text erwähnten Ortsangaben sind real und noch heute existent: im ursprünglichen Sitz des Fondaco dei Tedeschi an der Rialtobrücke befindet sich heute das venezianische Postund Tclegraphenamt; wenig weiter findet man den Campo San Bartolomio, einen der belebtesten Plätze Venedigs. 9 Ich zitiere aus meiner kritischen Ausgabe dieses und anderer Codices (Rossebastiano Bart 1983, I: XXI, fol. 99v des Wiener Codex). 10 Allerdings muß hier an die alte venezianische Tradition der Privatschulen mit deutschen Studenten erinnert werden, die seit 1308 nachgewiesen ist (vgl. Simonsfeld 1987, I: 24 und Pausch 1972: 49).

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aus der er geschöpft und die ihn inspiriert hat, deutschen Ursprungs ist. Hier erst scheint die Positionierung des Deutschen an die zweite Stelle (rechts) vereinbar mit der mittelalterlichen Uberlieferung, während das Italienische an erster Stelle (links) einfach das Lateinische ersetzt haben könnte. Die Beispiele für lateinisch-deutsche Glossare sind zahlreich; sie entstanden teilweise vor dem 15. Jahrhundert (De Man 1964). Sie werden eröffnet durch eine auf Gott bezogene religiöse Nomenklatur, ebenso wie bei Georgs Werk und beim größten Teil der mittelalterlichen Enzyklopädien, angefangen bei Isidor von Sevilla. Dieser Aspekt ist durchaus nicht nebensächlich, wenn man die Geschichte der Gattung Sprachbuch nachzeichnen will. Dadurch wird die Bedeutung von Georgs Buch sicherlich nicht geschmälert. Es bleibt ein innovatives Werk, wenn man es unter dem soziologisch aufschlußreichen Gesichtspunkt betrachtet, daß es zwei Volkssprachen enthält, das Lateinische aber fehlt. Das bezeugt, daß das Zielpublikum nicht die Lateinkundigen, sondern Menschen aus dem Volk waren. Das Werk ist aber auch bemerkenswert, was seine Einheitlichkeit und Vollständigkeit anbelangt. Diesbezüglich übertrifft es die anderen uns bekannten vergleichbaren Werke bei weitem. In einer anderen Hinsicht ist der Text jedoch vergleichsweise konservativ: er ist für einen schulischen Kontext, für italienische Schüler konzipiert. Die Welt der Schule scheint in der Tat oft zwischen den Zeilen durch, vor allem in den Dialogen, wie bereits zu sehen war. Man muß aber präzisieren: seine Zielgruppe waren nicht Kinder, sondern Heranwachsende, was plausibel wird, wenn man den Ton einiger studentisch gefärbter Scherze betrachtet, die vor dem Hintergrund des Nachdebens rund um San Marco stehen und der Welt von Kindern fremd gewesen sein dürften: Andemo dal" una volta — Gee wir tün ein umbganck. In questo mezo vegnetä note — Die weil wirt ez nacht werden. Ii sy andemo puoy a chasa mia a ffar cholazion — Se gee wir denn zu meim haus ein trunck tun.

[•·;] Brigade, e' ve don un partido — Ir herrn, ich gib euch ein getailcz. d e ogn'omo mostra la so dona — Daz yeder man sein pilz zaig. Ii' so de certo che Piero usa in questa chontrada per una bella mamola — Ich waizz gebissleich daz del" Peter in diser gaz freit ein hübsche tochter. E' crezo che nuj tuti quanti usemo qua per done — Ich gelaub da7. wir alsampt hie puln durch frawen willen. Ben che nessun voia mostrar la soa al'altro — Bol daz einer dem andern sein puln nicht zaigen wöl. 11 11 Fol. 107 der Münchcncr Handschrift, in Rosscbastiano Bart 1984: 93 f.; vgl. Holtus/ Scliweickard 1985.

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Witze, Wortspiele und Neckereien folgen einander in einem geschickten verbalen Schlagabtausch, der dennoch nie ins Banale abrutscht (wie man es in anderen Fällen beobachten kann), was uns die erzieherische Ausrichtung der Arbeit bestätigt. In anderen Passagen befaßt sich der Text mit Kaufverhandlungen und Verkäufen, insbesondere von Stoffen. Wir können davon ausgehen, daß die Benutzer mit der Welt des Handels zu tun hatten. Wir haben ein Handbuch vor uns, das für junge Leute konzipiert ist, die den Beruf des Kaufmanns ausüben sollen, entweder innerhalb oder wenigstens auf irgendeine Weise im Schatten des Fondaco dei Tedeschi, und die deshalb daran interessiert sind, die Fachterminologie des Handels und typische Situationen des Handelsgeschäfts kennenzulernen, und zwar über das Alltagsleben hinaus alle möglichen Geschäftsbeziehungen. Sie werden auf höchst wirkungsvolle Weise dargestellt, und sie stellen in ihrer Lebendigkeit manche modernen Texte in den Schatten. Es handelt sich nicht mehr um einfache Wortlisten, sondern um komplexe, für den Unterricht erdachte Texte, die wahrscheinlich aus stichwortartigen Notizen des Lehrers oder der Schüler im Lauf der Unterrichtsstunden entstanden sind. Diese Möglichkeit legt eine weitere Überlegung über den Ursprung des Textes nahe. Das älteste uns bekannte Manuskript (WN) scheint an mancher Stelle abgeschrieben zu sein (Pausch 1972), aber ein Hinweis im Inneren des Textes spricht gegen diese Hypothese. Zumindest begründet sie die Annahme, daß der hypothetische Originaltext weder vom Inhalt her noch unter chronologischen Gesichtspunkten sehr stark von WN abweicht. Wenn wir nämlich die beiden Manuskripte (WN und MN) 1 2 miteinander vergleichen, die den Text von Georg von Nürnberg enthalten, können wir beobachten, daß sie aus der gleichen Feder stammen und im Abstand von etwa einem Monat entstanden sind: das beweist die Datierung am Ende der Texte (12. Februar 1423 im Fall des ersten Manuskripts, 9. März 1424 im Fall des zweiten). Nun muß man wissen, daß der venezianische cursus jedes Jahr am ersten März begann. Wir wissen nun ungefähr, wie viel Zeit man braucht, um die 100 Bögen des Codex' abzuschreiben, aber wenn wir den Text des Codex fol. 108r von M N betrachten, können wir rückschließen, daß der Schreiber, auch wenn er oft originale Einträge durch Synonyme ersetzt, die ihm seiner dialektalen Kompetenz nach angemessener erscheinen, die textinternen Informationen nicht aktualisiert. Die Datierung der Kopie wird so

12 Außer in der Wiener Handschrift ist das Werk im Manuskript ital. 261 der Bayerischen Staatsbibliothek München überliefert.

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mit der chronologischen Realität unvereinbar (der Bogen müßte ganz am Anfang des Jahres 1424 geschrieben worden sein). Quanto tempo es-tu andado a scuola? — Wie lang pistu zu schül gegangen? Fl no e anchota un anno — Fz ist noch nicht ein iar. Kl serä un anno a bonaman — i i z birt ein iar sein am newn iar.

Der Text in WN stimmt hingegen völlig mit dieser Realität überein: er wurde am 12. 2. 1423 abgeschlossen, also wenige Tage vor Beginn des neuen Jahres. Das läßt uns folgern, daß der Text, auch wenn es sich nicht um das Original handelt, eine Abschrift ist, die einen oder zwei Monate später angefertigt wurde und sich wahrscheinlich eng an seinem Beispiel orientierte. Der Text ist in drei Teile gegliedert: Wörtersammlung (daher der Titel vocabulari), Morphologie mit Erläuterungen (hauptsächlich der Verben), Phraseologie. Die Wordiste ist methodisch nach Sachgruppen angeordnet. Sie beginnt mit einem Kapitel, das Gott gewidmet ist, was der herkömmlichen Anordnung entspricht, die schon Isidor von Sevilla in seinen Etymologiarutn libri anwendet. Sie bietet uns eine umfangreiche Liste von Vokabeln, die sehr oft sowohl im Singular als auch im Plural erscheinen. Dies ist ein erstes Zeichen dafür, daß sich Grammatisches in die Vokabulare einschleicht. Diese explizite Erwähnung der Numeruskorrelation bei den Substantiven gibt den Vokabularen einen ersten Schub in Richtung einer didaktischen Anwendung. Es folgen andere, nach semantischen Kriterien angeordnete Wortgruppen, die sich auf das praktische Leben beziehen. Im Vordergrund stehen Angaben zum Wetter, zum Zeitverlauf, zu der Notwendigkeit, sich anzukleiden, sich zu ernähren, zu arbeiten und zu lernen. Das alltägliche häusliche Leben ist vertreten durch Wortschätze, die Gegenstände des Schlafzimmers, der Küche und des Kellers und die patriarchalisch organisierte Familie betreffen. Letztere wird durch eine große Zahl an Bezeichnungen für Verwandtschaftsverhältnisse repräsentiert. Es folgen l i s t e n von Ausdrücken aus der Tier- und Pflanzenwelt, die viele Überraschungen bereit halten, wenn man sie mit der heutigen Klassifikation vergleicht. Übrigens ist die Einordnung der Vokabeln in eine bestimmte Rubrik nie allzu streng. Auch Kriterien der Analogie, die weit vom Ausgangspunkt wegführen können, spielen eine Rolle, ebenso Oppositionspaare (Antonyme), die den jeweiligen Sachbereich mitunter unfreiwillig erweitern. Dieses Konzept, das auf eine strenge logische Kontrolle des Themas verzichtet, erlaubt lange Exkurse, durch die Zahlwörter, Exempla für die Adjektivkomparation und Anwendungsbeispiele für die Personalpronomen eingefügt werden. Auf diese Weise werden morphologische Aspekte in die Wortliste integriert. Ganz explizit ist das der Fall in einem Abschnitt, der sich ausdrücklich

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dem Verb widmet. Das Verb wird in Paradigmenlisten dargeboten: Imperativ, Infinitiv, Partizip II und Konjugationsbeispiele für die finiten Tempora, insbesondere Indikativ Präsens, Imperfekt, Futur, Perfekt, einfache und zusammengesetzte Konditionalformen, d. h. die Tempora und die Modi der Alltagskonversation. Um die Wortlisten etwas aufzulockern und durch einige Gebrauchsbeispiele das Auswendiglernen zu erleichtern, sind kurze Sätze, scherzhafte Bemerkungen, Redensarten und Dialogfetzen eingefügt, die dazu beitragen, schwungvoll und mit Geist den gesamten Inhalt zu beleben. 13 Das hatte Anziehungskraft für den Schüler von damals, aber auch auf den Leser von heute wirkt es noch lebendig. Der letzte Teil des Buches besteht aus drei Dialogen. Man kann sie verstehen als Übungsmaterial, als praktische Anwendung des Gelernten im Alltag. So kommt ein Texttyp hinzu, der in schriftlicher Form eher selten, aber für das Erlernen von Sprachen von großer Bedeutung ist. Schließlich nähert er sich mehr als alles andere den Registern der Alltagssprache an. Das gilt sowohl für den von praktischen Bedürfnissen geprägten Wortschatz als auch für die verwendeten morphologischen und syntaktischen Formen. 14 Die zwei ersten Dialoge spielen ein Kauf- und ein Tauschgeschäft um einen Posten Stoff nach, wobei sehr wahrscheinlich das ganz spezielle Interesse der Nutzer des Buches zum Ausdruck kommt, die sich in zwei Sprachen in der Kunst des Verhandeins und des Umgangs mit Kunden üben. Der Text ist lebhaft, farbig und, was den Wortwechsel zwischen den Gesprächspartnern betrifft, sehr gut durchstrukturiert. Die Wortführer sind Bortolamio, der Sohn eines Stoffhändlers, der an seinem Verkaufsstand steht, ein deutscher Großhändler und ein Sensal. Ganz selten taucht auch ein gewisser Zovane auf, der, fast als sollte er an das Ambiente erinnern, mit dem das Werk in Verbindung steht, in den Fondaco geht, um Warenträger zu holen. Der dritte Dialog ist etwas verwirrender und flüchtiger ausgearbeitet Er präsentiert eine bunte Vielzahl von Personen, die man nicht immer klar identifizieren kann. Sie schalten sich immer wieder kurz durch den Austausch von Höflichkeiten oder mit längeren Diskussionen in den Dialog ein. Es treten auf vor allem Piero und Bortolamio, aber auch Chorado, ein junger Bursche aus Wien, der nach Venedig gegangen ist, um „latin" zu lernen. Er 13 Die Redensarten, die ein Spiegelbild der im Text dargestellten Alltagskultur sind, sind kommentiert in Bart Rosscbastiano 1976. 14 Wie wichtig der Dialog für das Rrlernen von Sprachen ist, illustriert im folgenden Jahrhundert auf brillante Weise das Werk von Noel de Berlaimont, das ursprünglich ein (französich — flämisches) Vokabelbuch ist, aber rasch zum Coikquia et dktionarlohim wird. Näheres hierzu bei Verdeyen 1925 — 1935, Aktualisierungen bei Rossebastiano 2000: 693 — 696.

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hat sich inzwischen so gut in die örtlichen Gewohnheiten eingelebt, daß er ganz spezielle idiomatische Ausdrücke verwenden kann wie te nascha el vermochan — dir der hunc^ burm bags ,du sollst die Kränke (= Gallenbrechruhr) kriegen'. Stellen wie diese sprechen dafür, daß das Buch auch in umgekehrter Richtung zu gebrauchen war, d. h. für Deutsche, die Italienisch lernen wollten. Dies ist in der Tat der Vorteil einer thematischen Anordnung gegenüber einer alphabetischen. Die Hauptszene des dritten Dialogs spielt in der Schule. Im Vordergrund steht die wichtige Gestalt des Lehrmeisters, bei dem es sich, wie bereits mehrmals erwähnt, um Georg von Nürnberg handelt. Im Hintergrund der Szene wird das heitere venezianische Nachdeben junger Leute sechs Jahrhunderte vor unserer Gegenwart gut sichtbar. Das Werk Georgs war in Italien (hauptsächlich was die Phraseologie angeht) sehr erfolgreich, d. h. es wurde vielfach umgearbeitet und neu gefaßt. Die Bearbeitungen spiegeln die lokalen Varietäten des Italienischen wider, in deren Verbreitungsgebiet das Werk zirkulierte. Die sprachlichen Sequenzen, die Struktur, die Organisation des Materials und die Inhalte bleiben im Codex von Modena (ME) 15 , der im Patriarchat von Aquileia verwendet wurde, im Grunde unverändert. Er ist auf die Jahre zwischen 1433 und 1437 datierbar. Eine Notiz am oberen Rand der Rückseite des letzten Blatts des Codex trägt den Namen eines seiner Besitzer: Gregorius von Lisnick. Er erklärt auf Deutsch, daß er mit dem Buch bei dem Meister Wylhelm Vencon Italienisch lernte. Wylhelm Vencon oder Guglielmo da Venzone kam, wie sein Name verrät, aus einer Gegend in der Nähe der österreichischen Grenze. Diese Gegend war, wie auch die Mark Friaul, seit dem 10. Jahrhundert unter der Herrschaft des Herzogs von Bayern und Kärnten, und dies erklärt Guglielmo da Venzones Zweisprachigkeit. Die Widmung an den Patriarchen von Aquileia (Aquileia war seit 1420 unter der Herrschaft Venedigs) macht deutlich, wie eng die Kontakte mit der Serenissima waren. In diesem Codex ist ein starker Prozeß der Substitution durch Synonyme zu verzeichnen. Dies kann auf die Absicht, die auffälligsten volkssprachlichen Spuren durch italianisierte Varianten zu ersetzen, zurückgeführt werden. Diese Varianten entstammen jedoch der Gegend um Venedig. 16 Die Substitu-

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Rs handelt sich um das in der Biblioteca Estense aufbewahrte Manuskript it. 405 = alfa H. 5. 20. Für die Bcschrcibung, Datierung und Bibliographie vgl. Rossebastiano Bart 1983, I: Χ —XI. Die Gesamtedition des C o d e x ist in Vorbereitung.

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Zur Lokalisierung des Textes siehe Rossebastiano Bart 1983: XLVIT — L.

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tion betrifft den ganzen Text: Tilgungen und Ergänzungen führen insgesamt zu einer Bereicherung der Wortliste. Im phraseologischen Teil kann im Gegensatz dazu ein Prozeß beobachtet werden, der zu einer Synthese führt: Die drei Dialoge von WN und MN werden zu einer einzigen Einheit. Die Dialoge werden durch neue Elemente belebt, unter anderem durch ein Kaufgespräch über ein Pferd, un bei ron^in portente ,ein wunderschönes Ross'. Der Hintergrund ist nicht deutlich erkennbar, aber sicherlich eher kaufmännisch geprägt. Die vage gezeichneten Protagonisten der Dialoghandlung kommen an, gehen wieder weg, diskutieren miteinander, bilden kleine Gruppen, die sich schnell wieder auflösen und geben dem Leser den Eindruck, daß die Organisation des Textes eher improvisiert ist; er ist bei weitem nicht so durchkomponiert und lebendig wie bei Georg von Nürnberg. Der Kaufmann aus Deutschland heißt diesmal Antonio und stammt angeblich aus Konstanz. Ein paar Zeilen vorher aber wird er als de questa tera bezeichnet, also als Italiener bzw. Venezianer. Neben Venedig kommt in der Wortliste öfter auch Padua vor. Deutsch, so wird außerdem präzisiert, hat Antonio „da draußen gelernt" {ll'ä imparado todescho la fora). Zu der gleichen Manuskriptgruppe gehört der Codex von Heidelberg (HU). 17 Unter sprachlichem Gesichtspunkt ist dieser Codex sehr fehlerhaft, doch trotz erheblicher Kürzungen ist die ursprüngliche Quelle noch feststellbar. Sie ist an der übereinstimmenden Anordnung der Kapitel zu erkennen. Das gilt auch für den Codex ME. Auch hier steht am Ende des Werkes ein einziger Dialog, in dem es um den Handel mit Textilien geht. Der Kaufmann Piero, il messeta ( ,der Sensal1) und der Laufbursche Zane führen ein ziemlich lahmes Gespräch miteinander; ihr Wortgefecht wirkt nur auf den ersten Blick wie ein Streit und rutscht bald ins Banale ab. Die Gruppe der Codices, die wir bisher beschrieben haben und die mit „A" gekennzeichnet wird, stellt die älteste Manuskriptfamilie dar. Drei weitere Zeugnisse bilden die Familie „B", die von „A" die Themen (matena) erbt, jedoch nicht die Struktur, die tiefgreifende Revisionen erfährt. Diese zweite Gruppe besteht aus drei Manuskripten. Das älteste Manuskript dieser Gruppe wird in der Biblioteca Colombina in Sevilla (SC) 18 aufbewahrt. Diese Bibliothek hat sich bekanntlich um die 17 Er befindet sich in der Universitätsbibliothek Heidelberg mit der Signatur Pal. Germ. 657. Er enthält keine Datumsangabe, kann aber dem 15. Jb. zugeordnet werden; vgl. Rossebastiano Bart 1983: X I - X I I sowie L I I I - L V I und Blusch 1992. 18 Es handelt sich um den Codex 7. 3. 18 (unvollständig). Er ist auf das 15. Jh. datierbar, Rossebastiano Bart 1983: XTTT. Die Gesamtedition des Codex ist in Vorbereitung.

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Sammlung von Don Fernando Colon gebildet, gegründet von dem bibliophilen Sohn des berühmteren Christoph Columbus. Eine Notiz auf der Rückseite des Deckblattes aus Pergament erklärt deutlich die Herkunft des Werkes: Don Fernando Colon, hijo de Don Cristobal Colon, primer Almirante que descubrio las Indias, dejo este libre para uso e provecho de todos sus proximos, rogad ä Dios pot el. 19 ,Don Fernando Colon, Sohn des Don Cristobal Colon [Christoph Columbus], des Admirals, der die indischen Inseln erstmals entdeckte, hinterließ dieses Buch für den Gebrauch und den Nutzen seiner Nächsten. Bitte Gott für ihn.'

Ein zweites Manuskript wird in der Bodleian Library in Oxford (OB) 20 unter den kanonischen Codices aufbewahrt. Es ist beschädigt, und es fehlt der Anfang (vermudich 10 Blätter). Es ist darüber hinaus nicht zu Ende geschrieben worden, und auch im Inneren des Textes vermißt man einige Blätter. Auf Blatt 40 trägt das Manuskript den Besitzvermerk Henricus Hindershnsin. Weitere aus unterschiedlichen Federn stammende Notizen auf den unbeschriebenen Seiten am Ende des Manuskriptes bestätigen, daß das Buch durch ausländische Schüler benutzt worden ist (Spiello Luerbery, der Besitzer, Erman Ahirnuer, der Auftraggeber, und ein gewisser Esilhyber, der Schreiber), die im Laufe späterer Jahrhunderte Italienisch lernen wollten perche escrierem ynn tagliano et cetera ,damit sie Italienisch schreiben usw.' Eine dieser Notizen trägt das Datum per adj 2 dj sthember 1551 ,den 2. September 1551', offensichdich ein terminus ante quem. Ein dritter Codex befindet sich in der Biblioteca Nazionale di Firenze 21 , in der Sammlung des Humanisten Antonio Magliabechi. Eine Ergänzung, die nicht aus der Feder des Verfassers stammt, nennt den Namen des Besitzers des Buches, der einer berühmten florentinischen Adelsfamilie angehört, die durch Bernardo mit Lorenzo il Magnifico verwandt ist: Questo libro e di Nicholo Rucelaj e chompagnj in Firenze ,Dieses Buch gehört Nicholo Rucelaj und seinen Kameraden in Florenz'. Auf der Rückseite des letzten Bogens steht das Datum der Anfertigung des Werkes: Finite adj 13 di giugno 1467 ,beendet am 13. Juni 1467'. Die Inhalte der Wortliste bleiben prinzipiell unverändert, doch kann man eine verstärkte Hinwendung zur Verbmorphologie beobachten. Äußerst inter19 Ich zitiere aus der Originalhandschrift, die ich 1993 eingesehen habe. 20 Rs handelt sich um den Codex Canon. Ital. 291 (akephalisch), zurückgehend auf das 15. Jh., Rossebastiano Bart 1983: XIII. Die Gesamtedition ist in Vorbereitung. 21 Es handelt sich um den Codex Magi. IV. 66, beschrieben in Rossebastiano Bart 1983: XII-XIII.

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essant unter dem Gesichtspunkt der Textgeschichte des Werkes ist die enge Anlehnung an die Dialoge Georgs von Nürnberg in dem Abschnitt, der sich der Phraseologie widmet. Allerdings bricht der Text oft unversehens ab. Dies ist besonders in SC der Fall, der nur den Bruchteil eines Dialoges enthält, der mit dem in HU überlieferten übereinstimmt. Es treten die üblichen Händler und der junge Bursche Piero auf. In OB und FN sind es dann wieder drei Dialoge, die vollständig miteinander übereinstimmen, nämlich mit dem dritten und ersten von WN und MN und mit dem neuen in ME. Es ist offensichtlich, daß ganze Dialogstrecken unverändert übernommen worden sind. Dennoch lassen sich auch Spuren einer Überarbeitung erkennen. Es fehlt beispielsweise die alte Adresse des seinerzeit in Venedig tätigen Meisters Georg. Völlig verändert ist hingegen die Struktur des Textes. Der Aufbau ist wesentlich klarer geworden. Was sich aus dem Bereich der Grammatik in die Wordiste eingeschlichen hatte, wird wieder daraus verbannt, vor allem die Zahlwordisten, die Komparativ- und Superlativformen, die Pronomina, die jetzt im Anschluß an die Wortlisten erscheinen, so daß insgesamt stärker zwischen Wortschatz und Grammatik unterschieden wird. Letztere wird durch Konjugationsbeispiele und Paradigmen vervollständigt, also in umgekehrter Reihenfolge, verglichen mit den vorangegangenen Texten. Der Text beginnt hier mit einem Kapitel, das dem Menschen gewidmet ist, was zeigt, daß hier von einem ganz anderen Ansatz auszugehen ist. Dieser Ansatz ist in den mittelalterlichen Enzyklopädien gut dokumentiert (De Man 1964) und hat eine breite Tradition. Die Absicht, den Text klarer zu strukturieren, wird deutlich formuliert. Er wird nach den vier Elementen (Erde, Wasser, Feuer, Luft) in vier Teile gegliedert: Ella prima parte si e della terra e di quelle cose che sono pertinente alia terra; el secondo si e delle aque e piove e di quille cose che s'apartiene all'aqua; el terzo si e delle aire e delle chose che vi si apartenghono; el quarto si e del fuogho e delle cose celestiale e del di e tempi e del numero scenpio e chomposito ,Der erste Teil handelt von der iirde und von den Dingen, die zur iirde gehören. Del" zweite handelt vom Wasser und vom Regen und von den Dingen, die zum Wasser gehören. Der dritte handelt von den Lüften und von den Dingen, die dazu gehören. Der vierte handelt vom Feuer und von den Dingen des Himmels und von den Zeiten und von den einfachen und zusammengesetzten Zahlen'.

Tatsächlich ist der Versuch einer Vierteilung schon in OB ersichdich, wo er jedoch, auch aufgrund seiner Schadhaftigkeit, nicht ganz deutlich sichtbar wird. In SC fällt die Unterteilung mit den vier Büchern zusammen, auch wenn das in den Uberschriften nicht ausdrücklich gesagt wird.

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Eine dritte Gruppe von Codices der selben Abstammung bildet die Familie C, die aus zwei Handschriften besteht. Die älteste (MNa) 22 , auf den 8. Februar in Venedig datiert, führt uns wiederum in die Lagunenstadt, aber das Sprachmaterial zeigt veronesische Färbung, die uns noch weiter zurück in die Vergangenheit führt, vielleicht zu den ursprünglichen Keimzellen dieser Texte. 23 Eine von der Ausführung her identische viersprachige Version (lateinischitalienisch-tschechisch-deutsch) ist in einem vatikanischen Codex 2 4 überliefert, der vor 1486 entstanden sein muß. In diesem Jahr starb Otto von Mosbach, Sohn eines Pfälzer Kurfürsten. Er war in Augsburg Domherr. Auf einer Pilgerreise war er ins Heilige Land gekommen. Es gibt keine Daten, aufgrund derer wir ihm die Autorschaft (oder besser die Ausweitung des Manuskripts auf das Lateinische und Tschechische) zuschreiben könnten, so wie es die Anmerkung auf der ersten Seite vermuten läßt Hec est translacio nostri Joannis de Bavariae ductbus ,Dies ist die Ubersetzung von unserem Johannes, der von den baltischen Herzögen abstammt'. Sicher aber ist, daß der Codex ihm gehörte. Das zeigen uns Notizen auf den Bögen, die auch eine Genealogie seiner bedeutenden Familie enthalten. Kresälkovä nimmt an, daß es sich um eine von ihm in jungen Jahren verfaßte Ubersetzung handelt (darauf deuten die mangelhaften Lateinkenntnisse hin). Man kann dazu jedoch keine sicheren Aussagen machen. Eine Besonderheit verdient jedoch hervorgehoben zu werden, da wir ja herausfinden wollen, für welches Publikum diese Bearbeitung bestimmt war: das waren wahrscheinlich Palästina-Pilger. Außer von Schülern sind zweiund mehrsprachige Vokabulare oft von Reisenden verfaßt und benutzt worden, die vor und während ihrer Reise Wortlisten mit entsprechenden Ubersetzungen zusammengestellt haben, so daß sie fast die Fremdenführer ersetzen konnten, die man sonst als sprachlichen Beistand in fremden Ländern in Anspruch nehmen mußte. Die Bibliographie hierzu ist endlos, und ich verzichte deshalb auf nähere Angaben (vgl. Rossebastiano 2000). Inhaltlich unterscheidet sich die Gruppe entschieden von den Gruppen A und B: wir haben tatsächlich ein neues Werk vor uns, das mit den vorhergehenden nur noch die Grundidee gemeinsam hat. Die Beispiele zu den Komparationsstufen des Adjektivs verschwinden, ebenso die Verbparadigmen, die Konjugationsbeispiele und der Abschnitt mit den Dialogen zwischen Händ22 Cod. it. 362 der Bayerischen Staatsbibliothek München. 23 Vgl. Rossebastiano Bart 1983: LXIV sowie Rossebastiano 1981: 2 8 9 - 3 0 2 . 24 Cod. Palat. Lat. 1789 aus Heidelberg, vgl. Kresälkovä 1975, Prcsa 1975 sowie Kresälkovä 1984.

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lern. Dafür werden zahlreiche Details eingefügt, beispielweise eine Liste von Verben im Imperativ, die — und das ist von großer Bedeutung — alphabetisch angeordnet ist. Der Schlußteil besteht aus Redewendungen, Sprichwörtern, kurzen und oft extrem banalen Sätzen (die man sich als Ubersetzungsübungen vorstellen könnte); er hängt eindeutig mit dem schulischen Kontext zusammen. Wir haben es jetzt mit einem neuen Werk zu tun, das sich an Schüler recht jungen Alters wendet und nicht mehr an ältere Interessenten wie Kaufmannsgesellen. Die zwei zitierten Codices sind einander sehr ähnlich, in manchen Punkten unterscheiden sie sich jedoch. Nur in MNa ist die Serie von Verben enthalten, die im Indikativ Präsens der ersten Person angegeben sind. Die Nennung eines Beispielsatzes für die Formen des Imperativs ist bis zum Buchstaben C konsequent durchgeführt, im Folgenden dann nicht mehr durchgängig. In RV ist dafür am Anfang und am Ende noch eine Serie von Sätzen hinzugefügt. Die ersten Sätze bestehen oft aus kurzen, zum großen Teil floskelhaften Fragen mit den entsprechenden Antworten, die letzten betreffen den Handel, sind aber in ihrem sachlichen Gehalt weit von denen in den älteren Codices entfernt. Die Wortlisten sind wie immer in thematisch angeordnete Kapitel untergliedert, aber sie sind der Anzahl nach als auch vom Inhalt her reduziert. Sie befassen sich mit gewöhnlichen, das Alltagsleben betreffenden Themen. Die Kapitel haben eine Überschrift, die das Thema nennt, und schließen mit einer Sentenz oder einem Sprichwort. Dies geht auf eine althergebrachte Tradition zurück. In den Wortlisten schließlich wird bei den Substantiven der unbestimmte Artikel angegeben, anders als bei den Gruppen Α und B, bei denen systematisch der bestimmte Artikel angegeben war. Betrachtet man die Struktur der Manuskripte aus C, so sticht ins Auge, daß sie stark improvisiert ist und eine gewisse Uneinheitlichkeit aufweist, was sie als skizzenhafte, etwas flüchtige Aufzeichnungen erscheinen läßt. Der Vergleich mit der älteren Tradition zeigt deutlichen Verlust an lexikalischer Information. Immerhin wurde eine erhebliche Zahl von Themen beibehalten. Selbst wenn sie nicht auf einen gemeinsamen Ausgangspunkt zurückzuführen wären, erweckt das doch den Anschein, daß sie gemeinsame Quellen hatten, die jeweils auf verschiedene Weise bearbeitet wurde. Die Summe der Informationen, die uns zur Verfügung stehen, führen uns zu der Uberzeugung, daß der gemeinsame Ursprung auf das Ende des 14. Jahrhunderts zu datieren ist (Kresälkovä 1984: VII). Bislang haben wir von Handschriften gesprochen, aber das Interesse für diese Vokabulare war so groß, daß sie bald auch gedruckt wurden. Schon 1477 wurde in der Offizin des maister Adam von Rodueil (Rottweil) — ein weiterer Deutscher, der in Venedig tätig war — ein kleines Bändchen

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gedruckt, das in der vorgestellten Tradition der Handschriften steht. Der Text zeigt klare Ubereinstimmungen mit dem Zweig Β der Handschriften. Der am weitesten entwickelte Codex (FN), der mit der Jahreszahl 1467 versehen ist, fängt folgendermaßen an: al nome di Dio padre e del figliuolo e dello spirito santo. Questo libro lo quale si chiama Introito e porta di choloro che voglono imparare tedescho e partito in quattto parti, sechondo lo quattro alimenti. ,Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. Dieses Buch, welches „Eingang und Tor für die, die Deutsch lernen wollen" heißt, ist nach den vier Kiementen in vier Teile unterteilt.'

Die Inkunabel von 1477 übernimmt diesen Abschnitt fast wörtlich: [... ] questo libro el quale si chiama introito e porta de quele che voleno imparare e comprendere todescho a latino, cioe taliano, el quale e utilissimo per quele che vadeno apratichando per el mundo el sia todescho ο taliano 2 3 ,dieses Buch, welches „Eingang und Tor für die, die Deutsch und Italienisch lernen und verstehen wollen" heißt, ist äußerst nützlich für die, die sowohl das Deutsche als auch das Italienische benutzen wollen, wenn sie in der Welt unterwegs sind.'

Daß der Titel teilweise übereinstimmt, reicht selbstverständlich nicht aus, um eine Aussage über Parallelen zwischen den beiden Quelle zu machen. Ein Textvergleich zeigt dann sofort eine Vielzahl von Parallelen. Die Inkunabel Adams von Rottweil ist ihrer Sprache nach in der Gegend um Venedig zu situieren. Das führt uns zu der Schlußfolgerung, daß ein weiterer Codex existiert haben muß, den wir aber nicht kennen. Von der Sprache her dürfte er noch in den Umkreis Venedigs gehört haben, aber es gibt Strukturprinzipien, die ihn an FN anlehnen (FN ist toskanisch). In der Inkunabel ist eine konservative Tendenz auszumachen. Dies bezieht sich nicht nur auf die sprachlichen Aspekte, sondern auch auf den Aufbau des Textes. Die Inkunabel besteht nämlich aus zwei Büchern und nicht aus vier. Außerdem wird die Nomenklatur mit einem Gott gewidmeten Kapitel eröffnet, ebenso wie im Werk Georgs von Nürnberg. Im Moment bin ich nicht in der Lage, die Struktur des Werkes im Detail zu analysieren, aber die Grundzüge entsprechen sicherlich den von mir erwähnten. Wenn wir den Inhalt näher betrachten, stoßen wir auf zahlreiche Vokabeln, die das praktische Leben betreffen. Auch hier ist alles thematisch angeordnet. Wie in den Handschriften sind die Zahlwörter enthalten, und auch religiöses Grundwissen, wie die sieben Todsünden, die sechs Taten der Barmherzig25

Ich zitiere aus Bart Rossebastiano 1971; vgl. auch Giustiniani 1987.

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keit und die zehn Gebote, kommt vor. Das Ganze ist aber drastisch reduziert, denn es fehlen die vielen Satzbeispiele, die in den Handschriften enthalten sind. Auch die Morphologie ist zusammengestrichen und ins zweite Buch verschoben worden. Dort finden sich auch Reste einer Phraseologie. Wir haben es also mit einem im Vergleich zu seinen Vorgängern viel bescheideneren Buch zu tun. Auch die anvisierte Lerngruppe ist eine andere. Nun handelt es sich nicht mehr um mehr oder weniger erwachsene Schüler bzw. um Erwachsene, die Sprachunterricht nehmen, sondern um Autodidakten. Diese neue Zielrichtung manifestiert sich in einem Vorwort, in dem Ausspracheregeln sowohl für das Deutsche als auch für das Italienische formuliert werden. Jetzt ist kein Lehrer mehr da, der den Schülern vorsprechen könnte. Deshalb müssen alle grundsätzlichen phonetischen Probleme explizit erläutert werden. Dieses Vorhaben ist offensichtlich nicht einfach, besonders in einer Epoche, in der die orthographische Norm noch kaum kodifiziert war. Es handelte sich also um einen Versuch, dessen Erfolg zweifelhaft war, aber es ist ein Beweis dafür, daß man sich sprachdidaktische Gedanken gemacht hat. Der 1479 bei Domenico de Lapi in Bologna erschiene Neudruck hat einen neuen Titel: Solenissimo vochabulista e utilissimo a imparare legere pel" queli che desiderase senza andare a schola, como e artisani e done: anchora puo imparare tedescho el talian, el todescho puo imparare talian, perche in questi libro si ze tuti nomi, vocaboli e parole che si posino dire in piu modi 2 6 ,Höchstfeierliches Vokabular, von größtem Nutzen all jenen, die wie Handwerker und Frauen lesen lernen wollen, ohne in die Schule zu gehen: sowohl kann der Italiener Deutsch als auch der Deutsche Italienisch lernen, denn in diesem Buch findet man alle Namen, Begriffe und Wörter, die man auf unterschiedliche Weise ausdrücken kann.'

Diese Titelformulierung ist deswegen interessant, weil sie eine entscheidende Neuorientierung vornimmt. Es bestätigt die Herkunft der Adressaten aus dem Handwerkermilieu ('artesani), nennt aber eine weitere potentielle Zielgruppe des Buches, nämlich die Frauen (done). Das Buch soll nun ganz offensichtlich außerhalb des Schulunterrichts eingesetzt werden können. Und noch mehr als das: das Format des Buches ist ziemlich klein, und aus diesem Grund kann man es auf Reisen mitnehmen. In der Inkunabel von 1477 wird diese Intention bereits im Titel genannt. Dort heißt es: utilissimo per quele che vadeno pratichando per el mundo el sia todescho ο taliano ,sehr nützlich für diejenigen, die auf ihren Reisen durch die Welt sowohl Deutsch als auch Italienisch verwenden wollen.' 26 Siehe fol. a2.

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[Okniffimo ν©, ehabuolifta tf ItiTimo a impatare legere per qli che de fiderafeien$a adare afcfolaComo eartefa ni e done. Anchor a puo i mparare tod eic ho eltalian eltodefc ho puo ϊ pa rare talil pche incjftolibro ft?c tuti nomi vocabali « parole che fepoiino dire in piw modi*

f i

I Ifem aller f r wirdigoften vnd nntfcdle vocatu lario ?eleriie durch d?.du betrachteft fun der ?urfchu'l?egon alfvvteinntwercife Jut vnd dar inn mag lernen ein tutfeher wellch vnd ein wei icher tutfeh w a W2 rurnb in difem buVh itnd alle namen vucf allerlei wort die ma magfprreehen inu* tichcriciweg

Abb. 1: Domenico de Lapi, 1479. Frontispiz.

Die Idee, einen Reiseführer im Taschenbuchformat herauszugeben, der vor allem für Kaufleute nützlich ist, nimmt sich sehr modern aus. Sie ist aber, wie wir gesehen haben, über 500 Jahre alt. Durch das wunderbare kulturelle Medium des Buchdrucks gelingt dem Werk trotz der offensichtlichen Kürzungen ein Triumphzug. Es wird bis 1500 in etwa zehn verschiedenen Editionen gedruckt, bevor es im nächsten Jahrhundert mehrsprachig wird. 2 7 Bis ins 18. Jahrhundert wird das Buch immer wieder neu bearbeitet und gedruckt. Es hat mittelbar oder unmittelbar die gesamte spätere Lehrbuchproduktion beeinflußt. Wesentlich bescheidener ist ein weiteres Sprachbuch für das Italienische und das Deutsche: 27

Die vollständige Bibliographie liegt vor in Rossebastiano Bart 1984.

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Vocabulario nuovo con il quale da se stessi si puo benissimo imparare diversi linguaggi, cioe Italiano e Greco, Italiano e Turco & Italiano e Todesco ,Neues Vokabular, mit dem man für sich allein und mit bestem Erfolg verschiedene Sprachen, nämlich Italienisch und Griechisch, Italienisch und Türkisch und Italienisch und Deutsch lernen kann'.

Von diesem Sprachbuch haben wir eine venezianische Druckausgabe, die auf 1574 datiert ist. Im Text finden sich Hinweise darauf, daß es sich an ein Vorbild von 1467 anlehnt. 28 Die Zielgruppe stimmt mit dem älteren Buch überein (beide richten sich an Autodidakten). Das Vokabular ist durchgängig zweisprachig angelegt, wobei die erste Sprache der Doppelspalte (links) stets das Italienische ist. Es ist dem Autor noch nicht gelungen, das Vokabular wie andere Autoren der Epoche (etwa Noel de Berlaimont mit seinen bereits erwähnten Colloquia) einfach als mehrsprachiges Wörterbuch anzulegen. Weitere Bearbeitungen am Anfang des 18. Jahrhunderts haben den italienischdeutschen Text in einen italienisch-kroatischen verwandelt, und dies öffnete ein weiteres Tor zur Welt. 29 Ubersetzung aus dem Italienischen von Barbara Bruzzone und Sandra Miehling

28 Siehe l 7 ußnote 5. 29 Vgl. Jernej 1960, Kosro 1975, Putanec 1979, Galic 1983 sowie Galic 1981.

Oskar Paasch, Wien

Lateinis ch-deuts ch-ts chechis che Vokabulare für Habsburger Regenten im 15. Jahrhundert Vor mehr als fünfundzwanzig Jahren suchte ich — im Zusammenhang mit meiner Habilitationsschrift (Pausch 1972) — in der Vaticana nach mittelalterlichen Vokabularen. Die bemerkenswertesten Wiederentdeckungen dabei waren das 1Vocabularium quadrilingue (Cod. Pal. lat. 1789), das inzwischen von Jitka Kresälkovä herausgebracht worden ist (Kresälkova 1984) und, für mich noch interessanter, das lateinisch-deutsch-tschechische Wörterbuch des Jan Holubarz für Ladislaus Postumus (Cod. pal. lat. 1787), das zwar schon seit 1904 in einem ausgezeichneten tschechischen Editionswerk von Zahradnik vorliegt, der deutschsprachigen Wissenschaft bislang aber verborgen blieb. In Kenntnis der überragenden kulturhistorischen Bedeutung dieses Stücks, das auch ein völlig neues Licht auf die sogenannten Lehrbücher Maximilians werfen mußte, gedachte ich, es sofort neu herauszugeben. Eine für mich glückliche berufliche Wendung hat dies dann verhindert, und ich gab meine Ausgrabung an Kollegen Alois Haidinger weiter, der zwei kodikologische Untersuchungen folgen ließ (Haidinger 1983: 177 und Haidinger 1981: Nr. 203). Anläßlich eines Rombesuches vor drei Jahren und bereits procul negotiis mußte ich feststellen, daß der Ladislauskodex von der Forschung offenbar noch immer nicht zur Kenntnis genommen ist. Damit lebten alte Editionsvorhaben wieder auf. Der ursprüngliche Plan wurde durch die Zuordnung einer vermutlich für Maximilian I. gefertigten Wiener Abschrift (CVP 2945) und die Erkenntnis gesprengt, daß auch Maximilians lateinisch-deutsch-tschechischer Trialogus (CVP 2868) aus dem Jahr 1489, der als ehemals Ambraser Handschrift allgemein bekannt ist, noch nicht editiert wurde, obwohl der Wiener Slawist Ferdinand Mencik schon um 1880 diesbezügliche Pläne gehabt haben dürfte (Mencik 1880: 5). Ich bearbeite dieses Corpus mit dem Arbeitstitel „Mehrsprachige Vokabulare für Habsburgerprinzen im 15. Jahrhundert" derzeit unter Mitwirkung Alois Haidingers im Rahmen der Osterreichischen Akademie der Wissenschaften und berichte al fresco aus meiner Werkstatt.

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Zuvor eine allgemeine Bemerkung: Indirekt sind immer wieder Bemühungen in verschiedenen Herrscherhäusern bekannt geworden, die charakteristische Multilinguität Mitteleuropas didaktisch zu überwinden. Die Erziehung Johanns, des natürlichen Sohnes von Matthias Corvinus zum Thronfolger Schloß das Erlernen der deutschen und tschechischen Sprache ein (Nehring 1975: 168), und es ist kein Zufall, daß das Thema — diesmal aus Prager Sicht — schon 1356 in der Goldenen Bulle Karls IV. ausführlich angesprochen wird. Darin halten die Kurfürsten dafür, daß es in einem Vielvölkerstaat wie dem Heiligen Römischen Reich wichtig sei, auch die Randsprachen zu lernen: die Prinzen [...] incipiendo a septimo etatis sue anno in gramatica Italica ac Sclavica lingwis instruantur ,sollen beginnend mit ihrem siebten Lebensjahr in der Grammatik der italienischen und der slavischen Sprache unterrichtet werden'.

Bis zum vierzehnten Lebensjahr sollten diese Sprachen dann beherrscht werden (Harnack 1883: 244). Danach überrascht es nicht, daß der systematische Beginn lateinisch-tschechischer Lexikographie einer Initiative Karls IV. entstammt. Ich meine damit das Werk des Claretus von Solencia für die Studenten der Prager Universität, insbesondere seinen Glossarius mit mehr als 7000 Wortgleichungen in Hexametern. Wir werden von diesem Klaret noch hören. Am gravierendsten freilich mußte das Sprachproblem schließlich für die Habsburger werden. In seinem berühmten Erziehungstraktat von 1450 für Ladislaus Postumus, dessen Richtlinien auch für Sigismund von Tirol und den späteren Kaiser Maximilian galten, rät Aeneas Silvius Piccolomini dem Prinzen u. a., er solle in seinem Umfeld einige Personen — also Edelknaben — mit deutscher, ungarischer und tschechischer Muttersprache haben, die gleichzeitig auch des Lateinischen mächtig seien. Damit würde er spielend alle diese Sprachen lernen und könne sich mit seinen Untertanen verständigen. Ladislaus Vater, König Albrecht II., sei in Böhmen und Ungarn unbeliebt gewesen, weil er die Landessprachen nicht verstanden hätte (StrakoschGrassmann 1903: 10). In ähnlichem Sinn äußerte sich Johann Hinderbach, der nach Aeneas einflußreichste Mentor habsburgischer Fürstenerziehung im 15. Jahrhundert. 1466 übersendet er der Mutter Maximilians, Eleonore von Portugal, eine Kopie des oben genannten Erziehungstraktats und vergibt in seinem Begleitbrief nicht, darauf hinzuweisen, daß die Vielsprachigkeit der Länder für die Erziehung des Thronerben Schwierigkeiten bringen würde (Strakosch-Grassmann 1903: 12). Die vorliegenden Texte bringen nun erstmals einen Uberblick über das, was vom vulgärsprachlichen Ausbildungsprogramm habsburgischer Prinzen im 15. Jahrhundert auf uns gekommen ist. Sie widerlegen jedenfalls die An-

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sieht, daß sich die Fürstenerziehung des 15. Jahrhunderts mit der Landessprache überhaupt nicht beschäftigt habe (Fichtenau 1961: 7) und sind infolge ihrer Zweckwidmung im buchstäblichen Sinn von erstrangiger kulturgeschichtlicher Bedeutung. Beginnen wir also mit dem Ladislauskodex. Er bringt auf 65 Blättern lateinisch-deutsch-tschechische Wortgleichungen, zunächst eine alphabetische Wortliste, ab Folium 51 eine lockere systematische Fortsetzung: Gott und die Welt, der menschliche Körper, Tiere, Pflanzen, Stände und Berufe etc. also, ganz im Sinn des Piccolominitraktats, Alltagssprache. Das ganze Werk hat — ich folge hier Vaclav Flajshans — kein direktes Vorbild (Flajshans 1926: XXX ff.). Wir kennen aber den mutmaßlichen Autor bzw. Kompilator Jan Holubarz, der sich in dem Kodex abbilden ließ (Abb. 2). Die Jahreszahl 1474 braucht nicht zu stören: Holubarz hat das Buch nach dem Tod Ladislaus offensichtlich an sich genommen. Auch ein Anhang mit dreisprachigen Fäkalien, die sicher für keinen Prinzen gedacht waren, legt dies nahe. Vom Informator serenissimiprineipis könnte 1474 die Handschrift an Mechthild von der Pfalz, die Witwe Albrechts VI., abgegeben worden sein, womit der Weg über Heidelberg nach Rom klar wäre. Noch wahrscheinlicher ist — wie auch Jitka Kresälkovä andeutet — daß sie über den mit Ladislaus verschwägerten Augsburger Domprobst Johann von Mosbach nach Heidelberg gelangte, analog dem eingangs genannten und nur zwei Signaturnummern entfernten Vocabularium quadrilingue der Vaticana (vgl. zuletzt Kresälkovä 1997: 39). Ich nütze die seltene Gelegenheit, den Sprachlehrer eines Königs biographisch festnageln zu können, umso freudiger, als Holubarz eine schillernde und weiß Gott nicht unbedeutende Persönlichkeit war. Die erste eindeutige Nennung weist ihn als katholisch aus: Johannes dictus Holubars senior de Nachod, clericus Pragensis diocesis ,besagter Johannes Holubars der Ältere von Nachod, Kleriker der Prager Diözese' ist am 21. Februar 1453 in Wien anwesend. Ein Magister Lucas Schenck de Brunna, baccalaureus in decretis constituit eum procuratorem et nuncium ,Magister Lucas Schenck aus Brünn, Rechtsgelehrter, ernannte diesen zum Prokurator und Nuntius'. Nun nimmt Zahradnik wohl mit Recht an, daß dieser Kleriker Holubarz sich — im Zusammenhang mit der Herausgabe Ladislaus durch Friedrich III. im Jahr 1452 — im Gefolge des böhmischen Thronerben befand. Ladislaus dürfte also schon vor seinem Eintreffen in Böhmen Tschechisch gelernt haben. 1 Diese Vermutung wird nach meinen Recherchen fast zur Gewißheit angesichts der quellenmäßig belegbaren engen Bindung Holubarz' an den einflußreichen Grafen Ulrich von Cilli, der den Kronprinzen Ladislaus aus den Händen 1 Dazu und v.u Ilolubarzs böhmischer Zeit vgl. Zahradnik 1904: 12 ff.

Abb. 2: Cod. pal. lat. 1787 der Biblioteca Apostolica Vaticana, Fol. 3t mit Federzeich nung Jan Holubarzs.

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Friedrichs III. übernommen hatte. Von Wien begab sich Holubarz mit dem künftigen König nach Prag und gab, noch durch keine Weihe gebunden, das Vorhaben auf, Priester zu werden, um sich ganz der Aufgabe als königlicher Erzieher und — wie wir aufgrund eines gleich zu besprechenden Ereignisses annehmen dürfen — auch als Leibwächter zu widmen. Ich übergehe hier die zahlreichen böhmischen Belege und erwähne nur, daß 1455 Ladislaus dem Jan Holubarz pro servieiis suis ,für seine Verdienste' ein Dorf im Kreis Jicin schenkt (Zahradnik 1904: 12 ff.). Der vorhin genannte Ulrich II. von Cilli war Besitzer der Herrschaft Liechtenstein in Maria Enzersdorf bei Wien und berief um 1454/55 die Franziskaner, was von den benachbarten Pfarrherren Thomas Ebendorfer in Perchtoldsdorf bzw. Johannes von Hinderbach in Mödling aus Konkurrenzgründen mehr als nur beargwöhnt wurde. Es bedurfte der Vermittlung durch den prominenten Ordensmann Johannes Capistran, den Konvent in Maria Enzersdorf zu halten. Ulrich versprach, alle Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen und die Niederlassung entsprechend zu fundieren (Petrin 1979: 22). Zuvor aber zog er mit einem vom ungarischen Reichsverweser Hunyadi geführten Kreuzheer, begleitet vom bereits genannten italienischen Feldprediger Capistran gegen die Türken. Beim Entsatz von Belgrad ließen die beiden Hunyadisöhne, die den listigen Mentor von Ladislaus als politischen Konkurrenten fürchteten, das königliche Heer in die Festung und verschlossen die Tore. Daraufhin luden sie Ulrich zu einer Unterredung und ließen ihn am 9. 11. 1456 erschlagen. Diesen Mord und die nachfolgende Rettung des Königs Ladislaus durch Jan Holubarz und einige andere böhmische Ritter schildert Michael Behaim, 1455/56 im Dienste von Ladislaus Postumus, in seinem Gedicht Von dem Türken Keiser Machamet, wie er Constantinopel gewan. Her Jan Halub, Her Gybisch / wieder die Schelk vil dibisch / stalten sie sich %ur wer (Gille/ Spriewald 1970: 703; 1 0 0 3 - 9 ) . Wie eng das Verhältnis zwischen Holubarz und Ulrich von Cilli gewesen war, beweist sich daran, daß der böhmische Ritter — ganz im Sinn des Verstorbenen — fortan das Franziskanerkloster in Maria Enzersdorf großzügig unterstützte und 1465/66 einen Neubau ermöglichte. Dies auch deshalb, weil er nach dem Tod des letzten Cilliers sich in Maria Enzersdorf niederließ und die Witwe des ehemaligen Pflegers der Herrschaft liechtenstein heiratete. Nach dem Tod König Ladislaus 1457 wurde er aber auch einer der profiliertesten tschechischen Söldnerführer, und es besteht kein Zweifel, daß er damals als einer der [...] höchst übel beleumundeten tschechischen Condottien [...] (Schalk 1911: 187 Anm. 1) eingeschätzt wurde, der es sich leisten konnte, Kaiser Friedrich III. zu erpressen. 1469 führte er ein kaiserliches Heer bei Fürstenfeld gegen die steirischen Aufrührer unter Andreas Baumgartner an, Jakob

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Unrest berichtet in seiner Österreichischen Chronik diesbezüglich von [...] Hollupp, ein Pehaym und des hert^og von Payren veldthmvbtman (Unrest 1957: 26 ff.). Im Lauf der Zeit dürfte sich der Haudegen und Kriegsgewinnler Holubarz zum friedlichen Gutsherrn gewandelt haben. Er verwaltete von 1458 bis 1478 die Herrschaft Liechtenstein, danach hatte er bis 1486 die Pflegschaft von Schloß Wildegg inne. Ein unruhiger Geist freilich blieb er: am 10. Jänner 1472 stellt Paulus von Melk, Rektor der Wiener Universität, Frau Margaretha Holowersin eine Urkunde über die vor dem Universitätsgericht unter Eid abgelegte Stellungnahme des Studenten Berchtold Gebhart von Altorff aus, der von ihrem Mann Hanus Holowers zu einer Aussage über angeblichen sträflichen Umgang mit ihr gezwungen worden war (Uhlirz 1904: Quelle Nr. 4407). Diverse Geldgeschäfte mit der Stadt Wien zeigen ihn als reichen Mann, so auch in der letzten urkundlichen Nennung zu Lebzeiten vom 9. April 1487 aus Prag. In diesem Zusammenhang kommt es sogar zu einer Intervention von König Matthias Corvinus (ebd.: Nr. 1904 und Nr. 4407). Dies verwundert nicht, weil Holubarz auch zum mächtigen Ungarnkönig enge Beziehungen hatte. Ein diesbezüglicher Bericht des hungaro-italienischen Geschichtsschreibers Marco Galeoti möge die biographische Skizze abrunden, weil darin auch eine kurze Charakteristik unseres Ritters gegeben wird: [...] natione Germanus, cognomine Holubar, virium et corporis mole mirabilis, qui in eo certamine, quod praetextis hastis concursu fit, fierebatur invictus ,νοη der Nationalität her ein Deutscher mit dem Beinamen Holubar, bewundernswert wegen der Größe seiner Kräfte und seines Leibes, der in jenem Wettkampf, welcher durch einen Angriff mit geschmückten Lanzen ausgeführt wird, unbesiegt blieb, wie berichtet wird' (Libellus ekgans Galeoti Martii, Wien 1563, cap. XIII). Und Galeoti bezeichnet sich ausdrücklich als Zeugen (me quoque spectante ,ich habe auch zugesehen 1 ) der folgenden Szene: In Buda fordert Matthias Corvinus Holubarz zum Turnierkampf auf. Der Ritter will diese Aufforderung zunächst nicht annehmen und entschließt sich, den König weitestgehend zu schonen. Daraufhin droht ihm Matthias mit dem Tode, falls nicht rücksichtslos gefochten würde. Der Kampf findet statt und Holubarz, mit einem Schlag auf die Stirn aus dem Sattel gehoben, bricht sich die Hand. Matthias Corvinus leistet daraufhin dem verletzten Ritter aufmerksamste Pflege und beschenkt ihn reichlich mit Pferden, teuren Gewändern und Geld (Zahradnik 1904: 11). Eine legatbezogene Urkunde nach dem capitaneus in Johanstyn belegt, daß Holubarz vor dem 10. Mai 1500 verstorben ist (Lampel 1917: Quelle 5693). Doch zurück zum Ladislauskodex: Er enthält eine Schilderung der Prager Krönung 1453 und ein Widmungsblatt des Prager Bürgers Wenzlaus vom Elefanten, den Zahradnik für den Illuminator gehalten hat (Zahradnik 1904: 16). Die Darstellung des thronenden Ladislaus in reichem Rankenschmuck nimmt wohl auf die Inthronisierung Bezug (Abb. 3).

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Abb. 3: Cod. pal. lat. 1787 der Biblioteca Apostolica Vaticana, Fol. 3v. Widmungsblatt mit Ladislaus Postumus im Kfönungsotnat.

Dieses Herrscherbild ist unserer Forschung bisher entgangen, es läßt sofort an ähnliche Kompositionen in den Lehrbüchern für Maximilian denken und steht jenem Künstler zumindest nahe, der den zweiten Teil des in der Prager Universitätbibliothek unter der Signatur Cod. Tepl. 39 liegenden Te-

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Abb. 4: CVP 2368 der Österreichischen Nationalbibliothek, Fol. 24v. Beginn des Tücheralphabets.

pler Diurnales für Ladislaus (1453/57) geschmückt hat. Es ist eindeutig eine böhmische Arbeit (Haidinger 1981: Nr. 203). Und es war — hier folge ich Haidinger — wohl ein und derselbe böhmische Schreiber, der den zweiten Teil des Diurnales und das Holubarzvokabular schrieb. Er verwendete jene

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Fraktur, die innerhalb Österreichs erstmals in den Lehrbüchern Maximilians auftritt, in böhmischen Handschriften aber schon wesentlich früher nachweisbar ist. Damit fällt die zentrale These in Heinrich Fichtenaus Untersuchung der Lehrbücher Maximilians, der Wiener Neustädter Hofschreiber Wolfgang Spitzweg sei Urheber dieses Schrifttypus. Dazu noch ein Detail, das bisher übersehen wurde. In einem der Lehrbücher Maximilians (CVP 2368, um 1465) befindet sich ein auffälliges Tücheralphabet. Seine Entsprechung findet sich im Ladislausvokabular nach dem Text (Abb. 4). 2 Solche Einflüsse auf höchster soziologischer Ebene belegen die kulturelle Führerschaft Böhmens auch noch im 15. Jahrhundert. Aber auch vom Kontext her scheint Holubarz' Vokabular die Erziehung Maximilians beeinflußt zu haben. Denn der Wiener Kodex 2945 bringt den gleichen Text als Kopie, wobei als einzige wesendiche Änderung der deutsche Teil, eine mittel-oberdeutsche Mischung, bavarisiert ist, so ζ. B. in der folgenden Textprobe, bei der sämtliche Änderungen von CVP 2945 kursiv beigesetzt sind: 4t Angelus Atchangel(us) Anima Aer Aqua Articulus Amicus Amita Auus Avia Awunculus Amica

Engil Engel Atchangil Archengel Sei Luft Wossei" wasser Gelid gelide Frunt freunt Müm miime Anhefte Anvtawe anvrade (!) Ome Owe b(er)lkh Ffmndin freumdin

Ancilla Antipedia Asinus Agaso Aries Angnus

Dirne diren Furfüs furfus Esel Essel Eselhytt Esselhirt Stet· Stier Lamp

Andiel Arch andiel Düsse Powiettzi Woda Czlanek Przitel pi^itel Teta Died

5

Babka

10

Vgecz Przitelnicze pr^itelince Diewka Nattie Osel

15

Oslak Beran Skopecz

Agnus Aper Avca

Ber Ganz Gan^s (s ergänzt)

Kanecz Hus

2 Fichtenau 1961: 34 ff.; vgl. dazu Haidinger 1983: 177.

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Und dieser CVP 2945, den ich selbstverständlich mitedieren werde (Zahradnik kannte ihn nicht) läßt sich bis zu einem Inventary^edl der kaiserlichen Bücher in Wiener Neustadt aus dem Jahr 1507 zurückverfolgen. 3 Damals müßte also das Vokabular im Besitz Maximilians gewesen sein. Dazu paßt genau das vorhin erwähnte Schreiben Hinderbachs an Maximilians Mutter Leonore von Portugal von 1466, dem ja — Sie erinnern sich — eine Kopie des Piccolominitraktats für die Erziehung Ladislaus' beigegeben war. Damals war Maximilian 6 Jahre alt, und sowohl im Weiskunig als auch in seiner lateinischen Selbstbiographie von 1506 meldet er, daß sein Studium der slawischen Sprachen Tschechisch und Slowenisch von seinem Vater vorzeitig unterbrochen worden sei. Er habe dasselbe aber als Erwachsener wieder aufgenommen. 4 Diese vorzeitige Unterbrechung dürfte 1467 erfolgt sein, nachdem Eleonore gestorben war und Friedrich III. die Erziehung seines Sohnes selbst in die Hand nahm. Vor diesem Jahr also dürfte für die Prinzenerziehung die Kopie des Holobarzvokabulars angefertigt worden sein. Damit unter anderem könnten auch Spezifika der böhmischen Illuminierungskunst, die Kenntnis der böhmischen Fraktur und das Tücheralphabet an den Hof von Wiener Neustadt gelangt sein. Zu unserer Datierung paßt genau, daß jenes Maximilianlehrbuch, welches das Tücheralphabet enthält, noch zu Lebzeiten Eleonores angelegt worden ist. Wie sehr die frühe Erziehung Maximilians auf Konzepten für Ladislaus Postumus aufbaute, beweist schließlich, neben dem bereits genannten Diurnale, der sogenannte Ladislausdonat CVP 23* aus Melk, der — nach scholastischem Herkommen — überhaupt der erste Lehrbehelf des jüngeren Schülers war und heute mit den übrigen Maximilianlehrbüchern in der Wiener Palatina liegt. Ich kehre zurück zu den selbstbiographischen Anmerkungen Kaiser Maximilians über seine Erziehung. Er sei — so schreibt er — von den Historien und Tagen der großherzigen Könige und Fürsten, von dem Erlernen (moderner) Fremdsprachen und der Jagd begeistert gewesen. Heimlich habe er diese Dinge treiben müssen [...] und sei deshalb in große Unlust und Traurigkeit verfallen (Fichtenau 1961: 10). Aber, ich habe es bereits erwähnt, er spricht von erneuten tschechischen Sprachbemühungen als Erwachsener. Zu dieser Aussage nun gibt es einen prominenten Beleg, der noch nicht ediert worden ist, den Codex 2868 in Wien. Das Manuskript befand sich — als ehemalige Ambraser Handschrift — im Besitz Maximilians I. und wurde, 3 Ain vocabulari, darin iMtein, Teutsch und Beheimisch begrifft! ist [...], vgl. in Stummvoll 1968: 39; Beilage IX. 4 Vgl. Weißkunig (Schulz 1888: 74): Wie der jung weiß kunig von einem pauren windisch und behamisch lernte, bzw. Strakoscb-Grassmann 1903: 18.

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wie die Schlußschrift vermerkt, In Vigilia Nativitatis 1489 als ein Trialogus bonus ac utilis geschrieben. Die 47 Blätter umfassende Handschrift ist ein systematisches Wortverzeichnis lateinisch-deutsch-tschechisch (Abb. 5) mit den Kapiteln: Deus, De Actibus, De Regionibus, Provinciarum, Ecclesia usw., bis hin zu Pflanzen, Tieren, Monstern, Lastern usw. In einem Anhang findet sich eine alphabetisch geordnete Liste von Verben, meist in der ersten Person Präsens. Der deutsche Text ist bairisch-österreichisch. Genannt seien hier neben der Orthographie nur die Kennformen Ergetag, Pfinc^tag, Tennkhannt, Scheff, Neybing(er) usw. Eine ganze Reihe deutscher Umsetzungen, vor allem Abstracta, sind — hier folge ich zum Teil Beobachtungen Wolkans (1894: 64) — offensichtlich Kunstwörter, die der lebenden Vulgärsprache fremd waren: RectorAufrichter, Poeta-Mersager, Rhetoricus-Beschöner der Red, Jurista-Puchrechter, SophistaEistredner, Pegasus-Khunstperck, Aroma-Gutrauch, Quantitas- Wiegrossekait, QualitasWietennkhait oder der ungewöhnliche Völkername Franckreicher usw. Auch die abschließenden Capitola de Verbis bestätigen mangelhafte Kenntnis der deutschen Sprache. Viele Zeitwörter mit trennbarer Vorsilbe werden so flektiert, als seien Stamm und Präfix untrennbar: ich hingee, ich hinwirf, ich absneide, ich anneme, ich annhang, ^ulauff, ich vmbtrag, ich fridmach. Völlig ungewöhnlich sind auch einige Ubernahmen aus dem Lateinischen, vgl. Auerto-Vonkere (38r8), Circumvallo-Vmbfalle (38vl0) usw. Aber auch ungewöhnliche Verdeutschungen aus dem Tschechischen fallen auf: Serophagia-Naworn-Nawora, Pluteum-Podgrad-Pohradka u. a. Bemerkenswert ist ferner die gleichsinnige Übertragung von Gignosophista in beiden Vulgärsprachen: Arm(m)clug- Chudomuk. Andererseits zeigen viele Fehler bei den tschechischen Lemmata an, daß der Kopist der Handschrift wohl kein Tscheche und auf jeden Fall ein schlechter und sehr biederer Kopist war. Ich nenne nur einige: KatholicaPethaws-Zirbek (vgl. im Klaret cierkev-catholica), Blenot statt Klenot (zu mhd. kleinotX) oder das reihenweise Ubersehen von Kontraktionskürzungen der Vorlage. Ich erwähne nur Modla für Oracio-Gepet, wo Modlitba stehen müßte. (Denn alttschech. Modla steht — etwa im Claretus — für ydola ,Götze4). Jedenfalls ist das Tschechische so fehlerhaft, daß die ältere Bohemistik seit Dobrovsky den Kodex minder beachtete, denn „[...] das Böhmische ist sehr fehlerhaft geschrieben." (Dobrowsky 1818: 306 f. bzw. Flajshans 1926: XXXI). Vergleichbares gibt es auch im lateinischen Text, ich erwähne pars pro toto nur Astrutus für astrictus, Eambarda für Bombarda, Nausea statt Nausea usw. Das Vokabular ist insgesamt eine fehlerhafte Kopie, und Vaclav Flajshans hat in seiner Analyse der Handschrift bereits auf die Abhängigkeit vom eingangs genannten Claretus-Klaret hingewiesen (Flajshans 1926: XXXI f). Ich kann

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Oskar Pausch

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Abb. 5: CVP 2868 der Österreichischen Nationalbibliothek, Fol. lt. Beginn des Vokabulars. n u n m e h r belegen, daß fast sämtliche lateinisch-tschechischen Wortgleichungen aus dieser Quelle stammen. D a m i t ist bewiesen, daß Maximilians zweiter Trialogus einen tschechischen U r s p r u n g in der Zeit Karls IV. hat. D e r deut-

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sehe Teil ist später hinzugefügt worden. Daraus auch können sich die teils hanebüchenen Umsetzungen erklären, die ich eben präsentierte. Der Codex ist das erste Beispiel einer mehrsprachigen Vokabulartradition, deren folgende Belege bereits Drucke sind. Neben den Slavisten Mencik und Flajshans wies auch der ebenfalls schon erwähnte Prager Germanist Rudolf Wolkan auf die Abhängigkeit des „ersten lateinisch-deutsch-tschechischen Wörterbuches im 16. Jahrhundert", einem Wiener Druck Singrieners von 1513, von unserer Handschrift hin (Abb. 5). 3 Der genaue Titel lautet Dictionarius: trium linguaru(m). latine. Teutonice: Boemice potiora vocabula continens: peregrinantibus apprime vtilis ,Wörterbuch dreier Sprachen: Lateinisch, Deutsch, Böhmisch, das noch mehr Wörter enthält und besonders Reisenden von Nutzen ist'. Immerhin erlebte dieser Wörterbuchtypus in den folgenden Jahrzehnten noch mehrere Auflagen, worauf ich hier — in der Universität Bamberg, wo ein einschlägiges Bibliographieprojekt läuft — nicht näher hinweisen muß. Was Wolkan sicher nicht wußte ist, daß der Singrienerdruck zumindest auf einer mittelbaren Abschrift des Maximiliankodex beruht. Den Beweis dafür wird die im Entstehen begriffene synoptische Gegenüberstellung von CVP 2868 und dem ältesten Druck von 1513 in ein- und derselben Edition liefern, wobei die dem Handschrifttext beigegebenen Nummern auf die korrespondierenden Wortgleichungen im Klaret hinweisen. Dazu das folgende Beispiel, vgl. Abb. 5: 1r CVP 2868 (Keine Über Schrift)

Dlius Deitas Sanctus S(an)ctitas Ang(e)lus Anima Spiritus Celum Terra

Got Goth ait Hewlig I Ieyligkait linngl Seel Geist Hyml Erd

Wiener Druck von 1513 De Celo

Bouh 31 Deus Buoch Got Buostwye 31 Deitas Bostwi Gothayt Swat 1219 Sanctus swaty heilig Swatostwy (1411) Andyel 34 Angelus angel engel Düsse 36 Anima dusie seel Duch 34 Spiritus duch geyst Nebe 37 Celum nebe hymel Terra %emie erden Xeme 86

5 Vgl. Wolkan 1894: 92. Am eingehendsten untersuchte den Trialogus Ferdinand Mencik in seiner Ausgabe des Prespursky slovnik. Vocabularium latino-bohemicum Posoniense. Prag 1892 (Rozmanitosti. Prispevky k dejinäm starsi ceske literatury 2) S. X X V ff.

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Oskar Pausch

Stella Mare Aer Ignis Aqua Sol lrl7 Luna Lux Tenebre Radius Nox Crepusculu(m) Mane Dies Meridies Diluculum Vesper Annus Mensis Fbdomada

Sternn Mer Lufft Fewr Wasser Sunne

Wezda 3 Morze 37 Powietrzy 165 Ohen 51* Woda 2198 Slunczy 39

Man Liecht Vümsternüs Glanst Nacht Abennd

Myesicz 39 Swiedo 38 Temnost 47 Poprslek 64 Nocz 63 Sunabt 62

Frue Tag Mittag Frü Abennt Jar Monad Wocb

Rano 68 Den 67 Poledne 68 Switane 68 Weczei- 68 Rok 66 Myeziczna 67 Tyden 67

Stella hivie^da stem Mare mor^e merr Aerpowietr^ij l u f f t Ignis woben Jener Aqua woda Wasser Sol slunt^e sunn L^ux swietlo liecht 38 ]jina miesytk (!) mon 1 r nach 15 Tenebre tmy finsternis Radius pabrslek giant^ Nox ηοαζ nacht Crespusculu(m) sumrak abent Mane gitro frue 2v nach 21 Meridies poledne mittag Diluculum switäny morgenrot Uesper wec-^ir abent Annus rok iar Mensis rniesyt^ monadt Hebdomata tyden ivoch

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Die Edition wird übersichdiche Grundlagen schaffen, auch für weitere interlinguistische und sprachhistorische Forschungen. Denn der frühe Wiener Druck, aufgrund des neuen Mediums ein wenig straffer in der Konzeption, ist korrigiert und modernisiert in vielen Fällen, doch das wäre ein eigener Vortrag. Ich möchte mich jetzt auf die Vermutung beschränken, daß es schon aufgrund der bibliographischen Gegebenheiten durchaus wahrscheinlich ist, daß ein Mittelpunkt der eben vorgeführten Tradition Wien war: Nichts spricht nämlich dagegen, daß schon die Handschrift im Umkreis dieses maximilianistischen Zentrums entstand, am allerwenigsten der deutsche Text in seiner bairisch-österreichischen Ausformung. Dafür plädiert in jedem Fall der Ort des ersten datierten Druckes. Abschließend sei versucht, die interessantesten Punkte meines Forschungsprogramms zusammenzufassen: 1. Die habsburgischen Vokabulare stehen für didaktisches Bemühen um Vulgärsprachen bei der Prinzenerziehung — ein Umstand, der bisher nicht beachtet oder geleugnet worden ist. Sie deuten aber auch ein kultursoziologisches Gefälle zwischen Böhmen und Osterreich an. In diese Richtung deutet auch die ehemalige Ambraser Handschrift 2598 in der Österreichischen Nationalbibliothek, ein in prächtiger Textura geschriebenes lateinisch-französisches Vokabular, das ich — vielleicht in einem zweiten Band

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— zu veröffentlichen gedenke. Es wurde um 1409 für Wenzel IV. geschrieben und ist vermutlich auch von Maximilian verwendet worden. 2. Insbesondere das Vokabular von Jan Holubarz öffnet völlig neue Perspektiven für die Lehrbücher Maximilians I., den Höhepunkt aristokratischer Edukation im 15. Jahrhundert. Wissenschaftsgeschichtlich gesehen kurios ist, daß dies erst jetzt sichtbar wird. Denn der tschechische Sprachforscher Josef Zahradnik machte, wie einleitend gesagt, schon 1904 das Ladislausvokabular in einer Publikation der tschechischen Akademie der Wissenschaften in Prag bekannt. Es ist unbegreiflich und nur mit nationalistischer Ignoranz erklärbar, daß — zumal in einer Stadt mit tschechischer und deutscher Universität — dieses für die gemeinsame Wissenschaftsgeschichte so bedeutsame Zeugnis von der deutschsprachigen Forschung seinerzeit nicht angenommen wurde. 3. Der im Anschluß an Claretus entstandene Trialogus von 1489 für Kaiser Maximilian I. präfiguriert eine fruchtbare Glossartradition, die im nächsten Jahrhundert zahlreiche Nachfolge gefunden hat. Diese Tatsache steht gegen die Ansicht einer völligen Abhängigkeit der böhmischen-tschechischen von der deutschen Lexikographie. Ich verweise hierbei auf die sonst durchaus brauchbare Arbeit Heinz Brauners über die tschechische Lexikographie des 16. Jahrhunderts aus dem Jahr 1939 (Brauner 1939: besonders 105 f.). 4. Emil Skala, wohl der erste tschechische Germanist, der das LadislausGlossar zur Kenntnis nahm, bezeichnet es als das beste aller dreisprachigen Wörterbücher (Skala 1989: 694). Trotzdem fand es keine Nachfolge. Es steht nicht am Beginn oder im Strom einer Tradition wie der maximilianische Trialogus, sondern ist ein literarischer Einzelgänger. Von einem Prinzenerzieher kompiliert, ist es ausschließlich ad usum delphini verwendet worden und konnte so nicht nach außen dringen. Es zeugt aber, wie alle anderen Habsburgerglossare, vom Einfluß der Ansichten des Aeneas Silvius: Volkssprachlich konzipiert, beziehen sie sich auch auf das Alltagsleben. Freilich, den Schritt zum dialogischen Alltagsgespräch, zum Sprachbuch also, sind sie noch nicht gegangen.

Barbara Bruzzone, Bamberg

Fremdsprachen in der Adels erziehung des 17. Jahrhunderts: Die Sprachbücher von Juan Angel de Sumaran

[...] por las lenguas se mantiene la buena correspödencia, y amistad. Pol" las lenguas se oye benignamente, las relaciones, quexas, y diferencias que en la Republica ocorren, y a distinguii" lo bueno de lo malo [... ]1 (de Sumarän 1626: Dedicatio)

Der Baske Juan Angel de Sumarän wurde in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts geboren und entstammte einer adeligen Familie. Uber ihn ist nicht viel bekannt. Nach eigenen Angaben hatte er 1626 schon fünfzehn Jahre Unterrichtserfahrung gesammelt „vnnd mehr dann 400. Personen gelehrnet, [...] darunter vil Fürsten Geistlich vnd weltlich" (de Sumarän 1626: 17). Spanisch, Italienisch, Französisch und das Tanzen waren seine Fächer an den Universitäten in München und in Ingolstadt, wo er sich lange aufhielt und seine Sprachlehrbücher publizieren ließ. De Sumaräns Publikationen sind aber nicht nur interessant für romanistische Studien, denn die anvisierten Adressaten seiner Manuale sind auch Spanier, Franzosen und Italiener, die Deutsch lernen wollen (de Sumarän 1621: An den Leser). Basierend auf folgenden Werken möchte ich de Sumarän als Didaktiker des Deutschen als Fremdsprache vorstellen: 1. Tyrocinivm Gallicvm, Italicvm et Germanicvm [...]. Monachii: Ex Typographeo Annae Bergiae. 1617. 1 ,Durch die Sprachen wird die gute Verständigung und die Freundschaft aufrecht erhalten. Durch die Sprachen hört man wohlwollend die Beziehungen, die Klagen und die Unterschiede, die in der Republik auftreten und durch sie läßt sich das Gute vom Bösen unterscheiden'.

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Barbara Bruzzonc

2. Das Newe Sprachbuch. Sprachbuch / vnd gründlicher Wegweiser / durch welchen man die Vollkommenheit der vier fuernembsten Sprachen / gar leichtlich erraichen kann [...] Teutsch / Frantzoesich Italianisch vn Spanisch [...]. München: In Verlegung deß Authoris. 1621. 3. Thesaurus fundamentalis quinque linguarum [...]. Ingolstadt: Typis Wilhelmi Ederi. Sumptibus Auctoris. 1626. 4. Grammatica y pronunciaciön alemana y espanola, espanola y alemana [...] Vienna de Austria: Miguel Riccio Impressor. 1634. „Gar leichtlich" kann man mit de Sumarans Methode Fremdsprachen lernen: Sechs Monate Unterricht mit einem gescheiten Sprachmeister, der idealerweise das Lateinische beherrscht, ein Jahr Auslandsaufenthalt und vor allem viel Fleiß seitens des Schülers sind die Ingredienzien seines Erfolgsrezeptes (de Sumarän 1617: Prolog). Der vorbereitende Unterricht in der Heimat soll dazu dienen, die Grundstrukturen der Zielsprache zu erwerben. Zeit- und geldsparend ist in de Sumarans Augen diese Lösung: Ohne sprachliches Grundwissen käme man während des Auslandsaufenthalts nämlich nur wesendich langsamer voran. Um das gleiche Niveau zu erreichen, wären, anstatt nur eines Jahres, vier oder sechs Jahre im Ausland nötig mit entsprechend größerem finanziellen Aufwand (de Sumarän 1617: An den Leser). Uberzeugend ist de Sumarans Plädoyer für die Nützlichkeit des Fremdsprachenlernens. Alle können und sollen davon profitieren. Und an dieser Stelle sollen sich die „gemainen Personen" nicht ausgeschlossen fühlen, denn auch für sie kann Vielsprachigkeit nur von Vorteil sein, sollten sie ζ. B. mit ihren Herren in fremden Länder reisen oder müssten sie in den Krieg ziehen (de Sumaran 1617: Prolog). Auch die Kaufleute und die Gelehrten vergisst de Sumarän nicht: Der Handel im Ausland für die einen und das Lesenkönnen von einschlägigen, in Fremdsprachen verfassten Schriften für die anderen sind gute Motivationen, sich dem Fremdsprachenstudium zu widmen. Je höher der Stand, desto unentbehrlicher jedoch der Fremdsprachenerwerb. Noblesse oblige, denn: a [ptincipes y cavalletos] toca y obliga mas que a ottos el saber governar y mandar a diversas naciones y platicar con ellas, a todo lo qual aprovecha mucho el tener noticia de la lenguas ,Fürsten und Ritter sind dazu verpflichtet, verschiedene Nationen zu regieren, zu leiten und mit ihnen Kontakte zu halten. Zu all diesem sind Fremdsprachenkenntnisse von großem Vorteil' (de Sumaran 1634: Prolog). Dieser Gedanke entspricht einem bereits im 16. Jahrhundert entwickelten Bildungsideal: Man denke hier an die Kavalierstouren als Bestandteil der Adelserziehung (vgl. Glück 2002: 1 0 2 - 1 0 4 , 1 3 2 - 1 4 0 ) .

Die Sprachbüchcr von Juan Angel de Sumaran

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Abb. 6: de Sumatän, Juan Angel. Das Newe Sptachbucb. Monachium 1621.

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Barbara Bruzzonc

In dieser Hinsicht seien die Deutschen und Niederländer als Vorbild zu nehmen, so de Sumarän. Sie ziehen nämlich inn Welschland / Franckreich vnd Spanien / nicht allein die Sprachen / sonder auch ihre gute gebrauch vnn sitten zu lernen / welches [...] andere Nationes nit so fast in brauch haben (de Sumarän 1621: Prolog).

Und unter den „andere Nationes" meint de Sumarän principalmente nuestra nacion Espanola, poco curiosa de saber lenguas estrangeras, cosa muy indigna de vna Nacion tan nombrada en estos siglos; teniendo ä tantas naciones debaxo de su dominio, cuyas lenguas deurian saber perfectamente ,hauptsächlich unsere spanische Nation, die sehr wenig darauf erpicht ist, Fremdsprachen zu lernen. Dies ist für eine in diesen Jahrhunderten so namhafte Nation sehr empörend: Die Sprachen der Länder, die unter ihrer Herrschaft sind, sollte sie perfekt beherrschen' (de Sumarän 1626: Dedicatio, Seite 3).

De Sumaräns Zielpublikum ist nicht nur umfangreich, was die soziale Position angeht: Seine Lehrwerke sind nämlich mehrsprachig und in allen Richtungen verwendbar. Im Tyrocinivum sind drei Sprachen enthalten: Französisch, Italienisch und Deutsch. Hinzu kommt im Newen Sprachbuch das Spanische. Der Thesaurus beinhaltet darüber hinaus das Lateinische. Die Grammatica dagegen ist lediglich dem Spanischen und dem Deutschen gewidmet. Inkongruenzen zwischen den in den Titeln und Prologen anvisierten Lerngruppen und zwischen den proklamierten Lernzielen können jedoch an verschiedenen Stellen verzeichnet werden. Darauf werde ich zurückkommen. Ganz in Einklang mit der Tradition des Uber in Volgare von Georg von Nürnberg (vgl. den Beitrag von Alda Rossebastiano in diesem Band) sind alle untersuchten Werke in drei Teile aufgegliedert. Ein Teil ist der Grammatik, ein Teil den Dialogen als „Kommunikationsmodellen" gewidmet, und der letzte Teil ist lexikalischen Inhalts. Der grammatische Teil, und dies gilt für alle untersuchten Lehrwerke, fängt an mit Erläuterungen zur Erwerbsprogression in Form eines Dialogs zwischen Lehrer und Lernendem. Das Alphabet und seine Aussprache seien die ersten Elemente, die man lernen müsse. Das Lesenlernen sei der nächste Schritt. Und dabei solle man darauf achten, mit einem guten Lehrer zu üben. Sonst seria guiar vn ciego al otro (de Sumarän 1634: 2) ,wäre es so, als wenn ein Blinder einen anderen Blinden führen würde'. Nach den Ausspracheregeln solle man die einzelnen Elemente des Diskurses erlernen, und zum Schluss könne man anfangen, die Dialoge zu lesen und zu memorieren. Ausspracheregeln, die im Tyrocinivm für das Deutsche fehlen, werden dialogisch präsentiert und sprachvergleichend erklärt. De Sumarän geht auf die

Die Sprachbücher von Juan Angel de Sumaran

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Schwierigkeiten ein, die in der jeweiligen Muttersprache angelegt sein können. Für die spanischen Leser merkt er zum Beispiel an: Pregunta: Respuesta:

Que dificultad ayaun en las letras? ,Welche Schwierigkeiten gibt es in dem Alphabet?' Esta ä saber que ellos [die Deutschen] tienen tres suertes de ν la primera es esta v. la qual se prononcia como f. La otra es esta ü con puntillos que se prononcia como i. La tercera es w. doblada la qual se ha de prononciar como ve, y no como be, como suelen pecar en esto los Lpanoles ,Man muss wissen, dass die Deutschen drei verschiedene Sorten von „v" haben: Die erste wird wie /f/ ausgesprochen, das zweite ist dieses ü mit Pünktchen, das wie /i/ ausgeprochen wird. Die dritte ist das w, das wie „ve" auszusprechen ist, und nicht wie „be", wozu die Spanier neigen' (de Sumarän 1626: 208).

Und für die Italiener, in deren Sprache der Hauchlaut [h] nicht vorkommt, schreibt er, dass im Deutschen la h con aspiratione dura da.ll''interiors del petto ,das h stark aus dem Inneren des Brustkorbes' (1626: 94) auszusprechen sei. Darüber hinaus unternimmt er Versuche, die Aussprache der einzelnen Buchstaben des Alphabets bzw. von Buchstabenkombinationen in einer Lautschrift wiederzugeben: den Buchstaben c ζ. B. spreche man wie t%e aus. Mit der Morphologie des Substantivs fängt im Thesaurus und in der Grammatica der nächste Abschnitt zur Grammatik an. Im Tyrocinivm und im Newen Sprachbuch fehlt dieser Abschnitt für das Deutsche. De Sumaran hat für diesen Teil seiner Lehrwerke nicht ganz selbständig gearbeitet: Im 12. Buch des Thesaurus übernimmt er nämlich die Grammatik des Clajus von Seite 10 bis Seite 76 (Jellinek 1913: 79). Von wem er sich inspirieren ließ, verrät er uns nicht, aber er gesteht immerhin, dass: Totam hanc pronunciationem Germanico Latinam, ex quodam Authore demunsi mutatis mutandis, in gratiam istorum qui hanc linguam discere cupiunt |... ] ,Diese ganzen auf Lateinisch aufgeschriebenen Aussprache(-Regeln) für das Deutsche habe ich einem anderen Autor entnommen und an ihnen verändert, was notwendig war, zum Nutzen derjenigen, die diese Sprache lernen wollen' (de Sumaran 1626:206).

Änderungen waren offenbar kaum nötig, denn davon gibt es so gut wie gar keine. Max Hermann Jellinek (1913: 78) stellt dazu fest, dass alles, was an die lutherische Herkunft der Quelle hätte erinnern können, weggelassen worden ist. In der Ubersetzung in die jeweilige Metasprache lässt de Sumaran außerdem die Erläuterungen des Clajus über grammatische Kategorien aus und fängt mit den Regulas Generales ,allgemeine Regeln' an. In der Grammatica selbst

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Barbara Bruzzonc

n i m m t er keine weiteren inhaltlichen Veränderungen vor, aber er präsentiert die Beispiele u n d deren Ubersetzung in synoptischer Form. D e n Verbparadigmata, die als nächstes behandelt werden, w i d m e t de Sum a r ä n in allen Lehrwerken ein Kapitel. I m Tyrocinivm präsentiert er sie in der F o r m eines Dialoges. Die Ubersetzung ins Französische u n d Italienische, die ich hier auslasse, ist interlinear: Daniel: Raphael: Daniel: Raphael:

Lieber Freundt was macht ihl" den ganzen Tag? Ich sag / vnd thue was ich waiß |... ] Was meint ihr / dass ich alle Tag thue? Ihr sagt vnd thuet / was ihr wisset (1617:48 f)

Diese A r t pattern drills w e r d e n für alle weiteren Personalformen, Modi u n d T e m p o r a aufgeführt. D i e i m Fragesatz enthaltenen Adverbien bzw. Adverbiale verdeudichen funktionale Unterschiede i m Tempus- u n d Modussystem: Daniel: Raphael: Daniel: Raphael:

Liebei" nachbai" was thet ]i" gestern morgens? Ich saget vnd thete was ich wüste [...] (1617: 54) Was sagten vnd theten gern Johannes vnd sein gesell? Sie sagten vnd theten wunder wann sie das herz hetten (1617: 76)

Latina.

Italica.

DF VKRBORUM

L i VERBI AUSSILIARI

Verbo possessive,

Verbum possessiuum

Io ho

I'ai, habeo

Verbo possessivo es el verbo que sigue.

inflectione quinque diuersis Unguis vt hic sequuntur

Ilaec verba dicuntui" auxiliaria: & hoc est verbü possessiuum, eius indicatiuus est

Gallica.

I Iispanica.

Germanica.

VERBA

L o s VERBOS

AUXILIARIA

AUXILIARES

Dise Verba werden Auxiliaria genant/YanA dises ist ein Verbum possessivum, und hat in Indicatiuo

NEL INDICATIVO

presente ho

Indicativus Praesens

Indicativo presente

Ich hab

habeo Ι

1

Yo he R "1 [...J

habeo

de Sumarän 1626: 244 f.

Die Sprachbüchcr von Juan Angel de Sumaran

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Auf diese induktive Weise werden auch die Präpositionen behandelt. Erläuterungen zu den grammatischen Funktionen der einzelnen Wortarten oder eine Klassifizierung des deutschen Verbsystem enthält das Tyrocinivm nicht. In den Lehrwerken von 1621, 1626 und 1634 verfährt de Sumaran deduktiv: Er führt Regeln ein und übernimmt die lateinischen Verbkategorien. Die Angaben ordnet er nach Sprachen spaltenweise. Das Beispiel (s. S. 42 unten) stammt aus dem Thesaurus. Auch die Präpositionen und die Adverbien werden in diesen Werken synoptisch dargestellt. Die Syntax behandelt de Sumaran nirgends. Die Dialoge, die im Tyrocinivm in der deutschen Fassung fehlen, stellen den Tagesablauf eines Adeligen vor: 1. Das erste Gespraech: wo man vom auffsteben / vnnd von den Klaidern zu morgens reden tbut; 2. Das ander Gespraech: welches gar vnderschidliche auffenthaltung in sich helt / vnnd wo man von einem Zimmer mit einem schoenen Außsehen redet; 3. Das dritte Gespraech. Von Beschreibung der Mahlzeit / mit vilen andern Reden / vnd schoenen Discursen vnder dem essen; 4. Das vierte Gespraech. Wo man vom fechten / vnnd vil andern Sachen / als vom kauffen vnd vnd verkauffen discutieren tbut; 5. Das fuenffte Gespraech wo man vom scblaffengehn tractirt / vnnd von vilen andern Sachen zu denselbigen geboerig.

Inhaltlich bleiben die Dialoge in allen Lehrwerken unverändert: de Sumaran übersetzt von den im Tyrocinivm auf Französisch und Italienisch dargebotenen sechs Texten fünf ins Deutsche und übernimmt sie in seine späteren Lehrwerke. Nur das Newe Sprachbuch enthält den fünften Dialog. Im Thesaurus und in der Grammatica finden sich lediglich die ersten vier Gespräche. De Sumaräns Dialoge stellen lebhafte und witzige Alltagssituationen dar. Die überwiegend kurzen Sätze und der rasche Sprecherwechsel simulieren überzeugend die gesprochene Sprache: Der Leser kann die Dialogszenen vor seinem inneren Auge ablaufen sehen und sich in das Leben des frühen 17. Jahrhunderts einfühlen. Ein Beispiel für de Sumaräns humorvollen Stil ist folgender Abschnitt aus dem vierten Dialog. Johannes erzählt seinen Freund Peter, dass er zum Essen eingeladen worden sei (de Sumaran 1634: 345): P. J. P.

Wie baist deß Herrn Kostberr? Er heist Herr N. Doctor der Schrifft Ho ho / ich bin gewiß / dass ihr mehr geschwezt / als rieht an dem Tisch haben werdet.

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In der Konversation werden auffällig viele Sprichwörter gebraucht: Dies ist für das Spanische des Siglo de Oro charakteristisch (vgl. Bierbach 1989: 30). Die Dialoge sind nicht um eine Grammatikachse herum gebaut und eine lineare grammatische Progression ist nicht erkennbar. Versuche einer Didaktisierung sind jedoch immer wieder festzustellen. Im ersten Gespräch zum Beispiel muss der Diener sämtliche Kleidungsstücke seines Herren aus einer Truhe herausnehmen, beschreiben, aus welchem Stoff sie gemacht sind, und sie zählen. Diener: Sehet da ein duzet Ilemeter / zwey von fatzenetel / eben so vil Kragen von Kammertuch / acht mit ihren Dätzlein mit Seyden gearbeyt / drey par Leinene Hosen / funff par Strimpff von Leinwad [...] (de Sumarän 1634: 248 f.)

De Sumaräns Lehrwerke weisen untereinander vor allem inhaltliche Unterschiede im lexikographischen Teil auf. Gemeinsamer Nenner ist der Nomenclator, der in allen seinen Lehrwerken thematisch angeordnet ist. Die Themen sind — im Gegensatz zu den älteren Vokabularen — anthropozentrisch, denn sie sollen, so de Sumarän, „der taeglichen Communication" dienen. Was die innere Struktur der einzelnen Kapitel angeht, ist in der Regel kein klares Anordnungsprinzip zu erkennen. Die Jxmmata sind weder alphabetisch noch der Wortklasse nach angeordnet. Substantive, Adjektive und Verben stehen ohne erkennbare Ordnung nebeneinander. Bei den Substantiven ist in der Regel die Form des Nominativ Singular angegeben, meist mit dem bestimmten Artikel. Häufig ist aber stattdessen der unbestimmte Artikel aufgelistet oder gar keiner. Verben werden im Infinitiv angegeben, Adjektive im Positiv. Bedeutungsangaben und Phraseologie sind nicht vorhanden. Im Tyrocinivm besteht der Nomenciator aus 23 Kapiteln. Die Lemmata in den verschiedenen Sprachen sind weder spaltenweise noch interlinear aufgelistet, sondern nebeneinander in unterschiedlichen Satzschriften: IJhuotno ini bomme. dtr Mensck2 [...] colorito i coulure. ßefcrbt. (de Sumaran 1617: 122) In den anderen Lehrwerken erweitert de Sumarän seine Lemmalisten um acht Kapitel und ordnet die Angaben synoptisch. Im Newen Sprachbuch und im Thesaurus enthält Kapitel IX zwei nicht durchnummerierte Unterkapitel. Obwohl nur 29 Kapitel im Inhaltsverzeichnis aufgelistet sind, stimmt der Nomenciator deshalb inhaldich mit dem der Grammatica überein. 2 Das Deutsche im Original in Fraktur.

Die Sprachbüchcr von Juan Angel de Sumaran

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Das Tyrocinivm enthält ein „Tractat der jenigen Sachen / so nutzlich vnd vnnutzlich / auch deren von welchen man sich behüten soll" (de Sumaran 1617: 156): Es handelt sich um Sentenzen religiösen, moralischen und allgemeinen Inhalts. Sie werden wortwörtlich in die einzelnen Sprachen übersetzt und sind typographisch nebeneinander angeordnet. Im folgenden zwei Beispiele in der deutschen Fassung: 2. Ding machen den Menschen Reich vnd Arm. Leben nach Gott / del" wirdt reich sein. Leben aber nach deß Menschen urthail vnnd meinung / der wirdt oder ist Arm (de Sumaran 1617: 157) 4. Sachen sein besser alt als new. Der win / Keeß / Oel / vnd ain alter freundt. (de Sumaran 1617: 173)

Dieses Tractat wurde in den anderen Lehrwerken durch eine Sprichwörtersammlung ersetzt. De Sumaran widmet jeder einzelnen Sprache ein Kapitel und führt jeweils 100 Sprichwörter auf, die allerdings nicht immer gut miteinander korrespondieren. Der Thesaurus enthält im Gegensatz zu allen anderen Büchern ein Kapitel zum Thema „Titulieren" (bzw. „schriftliche Anredeformen") und einen Catalogus Academiarum omnium totius orbis Christiani. ,Verzeichnis der Akademien der ganzen christlichen Welt'. Zusammenfassend kann man sagen, dass de Sumarans erstes Lehrwerk sich unter didaktischen Gesichtspunkten stark von den späteren unterscheidet. Den Grund, weswegen er sich von der eher induktiven Grammatikdarstellung des Tyrocinivm trennt, nennt er nicht. Konsequent kontrastiv bleibt jedoch in allen seinen Lehrwerken die Darstellung des grammatischen Stoffes. Auf den positiven Transfer, den man ausgehend von der jeweiligen Muttersprache zu erwarten habe, kommt er in allen seinen Manualen zu sprechen. An den immer übersichtlicheren graphischen Darstellungen des Unterrichtsmaterials zeigt sich sein Streben nach Verbesserungen, die das Lernen erleichtern sollen. Im Thesaurus entscheidet sich de Sumaran aus didaktischen Gründen sogar dafür, die enge Verbindung zwischen dem Schrifttyp Fraktur und der deutschen Sprache zu lösen: Der deutschsprachige Text wurde in Antiqua gedruckt, „damit die frembde Nationen [die Buchstaben] desto besser lesen und erlernen können" (de Sumaran 1626: Prolog). Wollte man de Sumarans lexikographische Arbeit beurteilen, so würde man sie als eher ungenau einstufen. Den Grund dafür kann man aber wohl in seiner Absicht sehen, ein Lexikon zu publizieren. Vielleicht sollten die Wortlisten in seinen Lehrbüchern als Basis dienen für dieses angekündigte Werk, das jedoch nie erschienen ist.

Sandra Miehling, Bamberg

Matthias Kramer als Deutschlehrer Wer war Matthias Kramer? Matthias Kramer, 1640 in Köln geboren, war Sprachlehrer, Grammatiker und Lexikograph. Es existiert wenig an urkundlichem Material zu seiner Person. Die meisten Hinweise zu Kramers Leben und Wirken lassen sich seinem eigenen umfangreichen (Evre entnehmen. Die jüngste Personalbibliographie 1 nennt nicht weniger als 143 Titel. Allerdings verteilen sich all die Wörterbücher, Grammatiken, Phraseologien, Dialogsammlungen und Ubersetzungen, aus denen sich Kramers Gesamtwerk zusammensetzt, auf ein immerhin 89 Jahre langes Leben. Im Jahre 1729 starb der hochproduktive Sprachmeister in der Nähe von Nürnberg. In dieser Stadt hatte er die meiste Zeit seines Berufslebens verbracht: entweder am Schreibpult, oder aber im Kreise seiner Schüler. Das Unterrichten selbst war für den zeitlebens von finanziellen Nöten geplagten Gelehrten nicht mehr als ein lästiger Broterwerb. Als Lehrer des Deutschen, Italienischen, Spanischen, Französischen, Englischen und Niederländischen vermittelte er diese Sprachen seinen meist erwachsenen Schülern, Adeligen, aber auch Handels- und Kaufleuten sowie deren Angestellten. Diese Beschäftigung gab immer wieder Anlass für resignierte Klagen. Der Job des Lehrers raubte ihm wertvolle Zeit für seine eigentliche Berufung: Kramer wollte Grammatiken und Wörterbücher schreiben! Offensichtlich gelang es ihm, sich neben der Pflicht auch noch seiner Leidenschaft zu widmen: In beiden Bereichen hat er der Nachwelt eine beachtliche Anzahl an Werken hinterlassen. Berühmt wurde Matthias Kramer in erster Linie als Verfasser innovativer Wörterbücher. Auf diesen Aspekt seiner Tätigkeit kann ich an dieser Stelle jedoch nicht näher eingehen. Ebenso wenig bleibt Platz für Kramers Arbeit an den anderen oben erwähnten Sprachen. Ich werde mich einzig auf die Beiträge zum Deutschen als Fremdsprache konzentrieren. 1 Rs handelt sich um die teilweise kommentierte ISibliographie von Laurent 15ray (2000).

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Zu diesem Zweck habe ich zwei Lehrwerke ausgewählt, die sich explizit an ein ausländisches Publikum richten, das sich mit Hilfe eines muttersprachlichen Lehrers die deutsche Sprache aneignen wollte. Im Vordergrund meiner Analyse stehen die mehr als tausend Seiten umfassenden I Veri Fondamenti della lingua tedesca ο germanica2 von 1694. Diese Grammatik ist im Gegensatz zu den meisten Vorgängerinnen ihrer Art nicht auf Lateinisch, sondern in einer Volkssprache, dem Italienischen, verfasst. Die Zielgruppe ist also nicht international, sondern besteht aus einer in sprachlicher Hinsicht homogenen Lernerschaft. Dies gilt auch für den Parfait Guidon de la Fangue allemande3 von 1687, auf den ich vergleichend eingehen möchte. Dieser wendet sich an Franzosen und geht auf die spezifischen Probleme frankophoner Schüler ein. Abgesehen davon, dass das italienische Lehrbuch um einiges umfangreicher ist, ist das uns interessierende deutsche Sprachmaterial in den beiden Werken weitgehend identisch. Es ist nur je nach Ausgangssprache hier und dort unterschiedlich aufbereitet. Sehen wir uns nun die Veri Fondamenti etwas genauer an. Der eigendichen Sprachlehre schickt Kramer ein ausführliches Vorwort voraus. Der Leser wird direkt, und zwar als ,Freund' amico lettore, angesprochen. Man spürt, dass der Autor von Anfang an darauf bedacht ist, ein vertrauliches Verhältnis zu seinen Schülern herzustellen. Der lockere Gesprächston, der den autodidaktischen Lesern stets das Gefühl gibt, der Meister sei persönlich anwesend, wird das ganze Buch hindurch beibehalten. Um das eigene Werk als umso strahlendere Leistung erscheinen zu lassen, beginnt Kramer seine Ausführungen damit, die Grammatiken seiner Vorgänger und Konkurrenten zu kritisieren. Deren mangelhafte Kenntnis und Darstellung der deutschen Sprache sei schuld an dem schlechten Ruf, den diese im Ausland genösse. Wo das Deutsche doch eine der leichtesten und klarsten Sprachen überhaupt sei. Aus diesem Grund sei es ja auch ohne weiteres möglich, ohne fremde Hilfe mit den Fondamenti zurechtzukommen. Ja, selbst für Kinder, Frauen und alle anderen, deren Geist nicht ausreiche, die Dinge von der Logik her zu erfassen, sei das Werk bestens geeignet. In diesen Fällen könne man den bequemen Weg wählen, bei dem man damit beginnen solle, das Wichtigste einfach auswendig zu lernen. Ein intellektuelles Durchdringen 2 Der deutsche Titel lautet: Die richtige Grund-Fasten der Teutschen Sprache; Hauptsächlich eröffnet der Italiänischen Nation/ Welche da begierig diese herrliche Sprache ψ erlernen. Das Werk wurde in Nürnberg gedruckt und verlegt durch Johann Andreas Kndters Söhne. 3 Der vollständige Titel lautet: Le Parfait Guidon de la l.angue alemande. Ouvrage Nouveau, Exact & Acompli. Compose pour k Bien des Francois qui en. ont besoin, & sur tout de ceux qui desirent de l'aprendre par Aiethode & sur de solides Fondemens. Kin deutsches Titelblatt gibt es hier nicht. Das Werk erschien 1687 in Nürnberg bei Wolfgang Mauritius Endter.

Matthias Kramer als Dcutschlchrcr

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Abb. 7: Kramer, Matthias. Die richtige Grund-Festen Der Teutschen Sprache.

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Sandra Miehling

der Materie könne ja gegebenenfalls auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Bevor die Lernerinnen und Lerner aber endgültig zur Praxis schreiten können, wird ihnen noch ein kurzer Einblick in die deutsche Sprachgeschichte gegeben. Gründer und damit Urvater der deutschen Sprache ist Kramer zufolge der vom gütigen Gott gesandte Aschkenaz. 4 Es ist dies der Sohn von Gomer, welcher Sohn des Japhet ist und dieser wiederum ist unmittelbarer Nachkomme des berühmten Noah. Bereits vier Generationen nach der Sintflut sprach man Deutsch! Was Kramer an Aschkenaz' Leistung besonders fasziniert, ist die Tatsache, dass der Noah-Nachfahr sich darauf beschränkt hat, eine Reihe von Stammwörtern zu erfinden. Diese bildeten die Basis der Sprache. Durch das geniale System der Wortbildung könne der Lerner, sobald er das Funktionieren von Komposition und Derivation verstanden habe, seinen Wortschatz auf ein Unendliches erweitern. Das minimiere den Lernaufwand ganz erheblich. 5 Mit dieser erfreulichen Aussicht dürfen sich die Lerner schließlich dem ersten Kapitel der Grammatik zuwenden. 6 Es geht um die einzelnen Buch4 Bei Kramer in der Schreibung Aschenau 5 Bereite Schottelius hatte sich ausführlich mit dem Prinzip der deutschen Wortbildung befasst. Kramer hebt die Arbeiten Schottelius' in den Fondamenti lobend hervor. Dennoch setzen die beiden Grammatiker unterschiedliche Akzente. Während sich Schottelius in erster Linie für die Gesetzmäßigkeiten und theoretischen Möglichkeiten der Wortbildung interessiert, kommt es Kramer mehr auf den Sprachgebrauch an. Rr führt in seinen Lemmalisten nicht wie Schottelius jede grammatisch korrekte Wortbildungsform auf, sondern nur die, die tatsächlich „in U m l a u f sind. 6 Der Aufbau der Grammatik ist klassisch. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick:

1 2 3

Kapitelüberschriften

Inhalt

Deik lottere e Sillabe e della loro Prononciatione Dittionario delle Radici ο voci Radkali della lingua Tecksca De Nomi ι' loro Accidenti

Schriftzeichen und deren Aussprache

18

Verzeichnis deutscher „Stammwörter"

175

Das Nomen (Substantive, Adjektive, Artikel) und seine Rigenschaften: Wortbildung, Deklination, Motion, Pluralbildung etc. Pronomina Das Verb und seine Rigenschaften: Wortbildung, Konjugation, unpersönliche Konstruktionen etc. (auch Präpositionen, Adverbien, Interjektionen und Konjunktionen werden hier behandelt) Syntax

214

4 5

De' Pronomi De \ ri'bj Tedeschi e loro Accidenti in Generale e speciale

6

Deila Construtione

Tedesca

Seiten

14 355

252

Matthias Kramer als Dcutschlchrcr

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Stäben und deren Aussprache. Für das Erlernen der verschiedenen deutschen Schriftarten empfiehlt Kramer, sich einmal bei einer Reise — ζ. B. nach Nürnberg — die Kupferschablonen in den Setzereien anzusehen. Bei der Erläuterung der korrekten Aussprache kommt Kramer in einige Schwierigkeiten. Mangels Lautschrift muss er sich mit umständlichen Beschreibungen behelfen. Bei < n g > , [η] etwa dürfe man jeweils nur ein halbes η und g sprechen, diese beiden ,halben Laute' aber ganz rasch hintereinander. Eine geschicktere Lösung findet Kramer im Parfait Guidon. Für seine französischen Schüler entwickelt er eine Art individueller Lautschrift, d. h. er rekonstruiert die Schreibung, die ein muttersprachlicher Franzose vor sich haben müsste, um beim Sprechen etwa zu demselben laudichen Resultat zu kommen wie ein Deutscher. Geld solle man wie guelt lesen, Vogel wie feugel.\ Schlösser wie chleusser und Jud wie iioud. Dieses Verfahren kann nicht zu perfekten Ergebnissen geführt haben. Geht man aber davon aus, dass die Autodidakten kaum die Möglichkeit hatten, Muttersprachler zu hören und nachzuahmen, so war ihnen doch sicherlich eine akzeptable Annäherung an die korrekte Lautung möglich. Dass es im Deutschen Laute gibt, die Italiener oder Franzosen nicht auf Anhieb beherrschen, war Kramer sicherlich aus seiner eigenen Unterrichtspraxis bekannt. Deshalb stellte er hierzu reichlich Ubungsmaterial bereit. Zunächst müssen die Schüler nach der Syllabiermethode ch intensiv üben, und zwar anhand von Pseudowörtern, in denen sich die fünf Grundvokale der Reihe nach ablösen. Ach, ech, ich, och, uch, cha, che, chi, cho, chu, acha, echa, icha usf. sollen mehrmals laut gelesen werden, ehe man zu höheren Schwierigkeitsgraden, etwa zur Aussprache der Zahl achtundachtzig, fortschreitet. Uber das Üben mit dem Lehrbuch hinaus rät Kramer den Lernenden, mit einem Lexikon zu arbeiten. Täglich sollen ein paar Einträge laut heruntergelesen werden. Ist dann die Aussprache einigermaßen flüssig, solle man sich an Literatur wagen. Obwohl die Schüler — abgesehen vom Alphabet — des Deutschen noch gar nicht mächtig sind, sollen sie sich durch die Lektüre von Texten in die neu zu erobernde Sprache einfühlen. Eine solche „Einstimmung" auf den Lernstoff, die aller Erklärung, Analyse und Regelpaukerei vorausgeht, ist für die damalige Zeit erstaunlich. Nach den Buchstaben und deren Lautung wendet sich Kramer dem Wortschatz zu. Er bezieht sich hier wiederum auf dessen Erfinder Aschkenaz. Die stets einsilbigen Stammwörter bildeten die Grundlage für die große Überlegenheit des Deutschen gegenüber der Muttersprachen der Schüler. Teilweise brauche das Französische oder das Italienische ganze Sätze um auszudrücken, was mit einem einzigen deutschen — zusammengesetzten oder abgeleiteten — Wort sagbar sei. Kramer präsentiert an dieser Stelle eine 175 Seiten lange

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Liste von Stammwörtern. Er hat gewissermaßen ein ganzes Lexikon in seine Grammatik integriert. Dieses Lexikon zeichnet sich durch seine große Bandbreite aus. Es handelt sich um einen lebensnahen, alltagstauglichen Wortschatz, der die verschiedensten Register umfasst. Er enthält regionale, schichtspezifische und historische Varianten, meist als solche markiert. Einige wenige Beispiele sollen genügen: Wörter wie Maß Bier, Topfen und Semmel lassen eindeutig das süddeutsche Umfeld des Verfassers erkennen. Bruntv^ kotzen, scheissen etc. zeigen, dass Kramer auch vor derben Ausdrücken nicht Halt macht, Papa ist als „Kindersprache" markiert, und Wörter wie Bürt^el (,Fettdrüse der Wasservögel 4 ) wird man als fachsprachlich bezeichnen dürfen. An manchen Stellen unterlaufen Kramer Inkonsequenzen: so finden sich ζ. B. Schorstein (sie!) und Schöpfer in der liste, obwohl es sich hier bereits um Wortbildungen und nicht um Stammwörter im Sinne von Schottelius' Definition handelt. Im nächsten Kapitel geht es um das Nomen und seine Eigenschaften. Kramer behandelt hier Wortbildung, Deklination, Motion, Pluralbildung u. a., jeweils anschaulich aufbereitet. Ich werde wieder nur ein einzelnes Beispiel herausgreifen, das „göttliche Wunder" der Wortbildung. Der Sprachmeister arbeitet hier mit einer Methode, auf die er auch in anderen Bereichen gerne zurückgreift: mit der Wort-für-Wort-Ubersetzung. Die Lerner haben eine dreigliedrige Aufstellung vor sich: I Iand-schuch

mano-scarpa

guanto

Zucht-baus

disciplina-casa

etgastolo

schein-heilig

apparenza-santo

hipocrita

Die mitdere Spalte, in der die beiden Komponenten des deutschen Kompositums einzeln übersetzt sind, soll als Verständnishilfe dienen. Auf diese Weise versucht Kramer, das System der Komposition für die italienischen Lerner nachvollziehbar zu machen. Im Kapitel über die Pronomina wird besonders deutlich, wie sehr sich der Verfasser der Grammatik in Denkweisen und Erwartungen seiner Leser hineinversetzt. Kramer weiß ζ. B., dass seine italienischen Schüler gewohnt sind, im Kapitel über die Pronomina auch die pronominalen Partikel ci (,dort', ,dahin', ,daran' etc.) und ne (,νοη dort', ,darüber', ,davon' etc.) behandelt zu finden. Da diese im Deutschen aber anders, meist durch Adverbien, wiedergegeben werden, klärt Kramer seine Lerner an dieser Stelle über den Sprachunterschied auf und verweist sie auf die Seiten seines Buches, auf denen sie hierzu fündig werden.

Matthias Kramer als Dcutschlchrcr

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Das umfangreichste Kapitel ist den Verben gewidmet. Die hohe Seitenzahl erklärt sich aus der Tatsache, dass Kramer bei den Ablautklassen und bei den schwachen und starken Verben noch keinerlei Systematik erkannt hat. Deshalb muss er vieles einzeln aufführen, was später systematisiert und viel knapper dargestellt werden konnte. Erwähnenswert ist eine herausnehmbare Verbtabelle. Die unregelmäßigen Verben seien leider nicht nur ein Phänomen der gehobenen Sprache. Selbst in der banalsten Alltags situation komme man nicht um sie herum. Da man aber beim Brotkaufen nicht immer eine dicke Grammatik mit sich tragen könne, habe der Autor die praktische Lösung eines losen Bogens gewählt. Dieser konnte zu einem besonders günstigen Preis auch getrennt von der eigendichen Grammatik erstanden werden. Bei Bedarf sollte man sich entweder an den Verlag oder an Kramers Privatadresse wenden. Der Abschnitt, den der Lehrbuchautor den Adverbien widmet, fungiert als eine Art Auffangbecken. Es tummeln sich hier vom Einzelwort bis zum ganzen Satz die unterschiedlichsten, für Kramer offenbar sonst nirgendwo unterzubringenden Phänomene der deutschen Sprache. So kennt Kramer etwa „Verteidigungsadverbien" wie Finger weg!, Greift das nicht an!, Laßt mich Frieden! oder „Höflichkeitsadverbien" wie Der Herr bleibe sitzen. Zum Teil läßt sich dieses Potpourri aus der Tatsache erklären, dass sich die deutsche Grammatikographie zur Zeit Kramers noch stark am Lateinischen orientierte. Wo es an Ubereinstimmung mit der Muttersprache fehlte, wurde sie notfalls mit Gewalt in das Korsett des lateinischen Vorbilds gepresst. Die traditionellen Kategorien der klassischen Sprache bestimmten das Denken der Grammatiker. So war es nicht verwunderlich, dass man etwa auf dem Fände nicht als Nominalphrase aus Präposition, bestimmtem Artikel und Substantiv entschlüsselte, sondern ohne weitere Bedenken als Adverb klassifizierte. Schließlich ist das Adverbial auf dem Fände nichts anderes als die Ubersetzung des lateinischen Adverbs ruri. Man könnte zahlreiche weitere Beispiele nennen und am Ende vermuten, es handle sich schlicht um eine Verwechslung von Wortart und syntaktischer Funktion eines Satzgliedes, Kramer habe also nicht Adverbien, sondern Adverbiale gemeint. In vielerlei Hinsicht trifft dies sicherlich zu, doch wäre damit noch lange nicht die Gesamtheit der Kramerschen Adverbien erklärt, wie ja auch die Beispiele von „Adverbien" im Gewand eines Imperativsatzes deutlich machen. Auf dem Gebiet der Syntax, dem letzten der hier zu besprechenden Kapitel, hat sich Kramer weitgehend von den lateinischen Grammatiken gelöst. Das betrifft zum einen den quantitativen Aspekt (Kramer ist mit über 252 Seiten wesendich ausführlicher), vor allen Dingen aber den Inhalt des Bei-

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spielmaterials. Wo Laurentius Albertos 7 , Albertus Ölinger 8 und Johannes Clajus 9 überwiegend moralische Sentenzen oder Bibelstellen zitieren, findet man in den Fondammti zahlreiche idiomatische Ausdrücke und für das Alltagsleben hilfreiche Sätze, auf die die Ausländer im Kontakt mit Deutschen zurückgreifen können. 10 Dabei geht Kramer stets kontrastiv vor. Ausgehend von der Muttersprache der Lerner stellt er die Abweichungen im fremden Idiom in den Vordergrund. Er beugt auf diese Weise Interferenzfehlern vor, die ihm wahrscheinlich aus seiner Unterrichtspraxis geläufig waren. Sehr im Interesse der Schüler dürfte auch die Behandlung pragmatischer Aspekte gewesen sein. Einen besonders großen Raum erhalten die Anredekonventionen. Kramer nennt diesen Abschnitt circa la maniera di trattare civilmente lepersone in Germania ,Uber die Art und Weise, die Menschen in Deutschland höflich zu behandeln'. In keinem heute gängigen DaF-Lehrwerk ist ähnlich umfassend davon die Rede, wie man Familienmitglieder, Bekannte unterschiedlicher Vertrautheitsgrade, Vorgesetzte und Untergebene jeweils anzureden und zu titulieren habe. Sogar das Ritual des „Brüderschafttrinkens" als Ubergang zum Du wird den ausländischen Lernern vorgestellt und erklärt. Dennoch verweist Kramer am Schluss noch auf eigens zu diesem Thema verfasste Literatur, denn die Anrede sei in Deutschland ein sehr heikler Punkt, und gerade wer in diplomatischen Dingen unterwegs sei, solle sich gut darauf vorbereiten, bei den in dieser Hinsicht sehr empfindlichen Deutschen nicht ins Fettnäpfchen zu treten. Den Abschluss der Grammatik bilden ein paar allgemeine Überlegungen zu Charakter und Wesen der deutschen Sprache. Nun, da die Lerner sich ausführlich mit der Materie auseinandergesetzt haben, scheint es dem Autor angebracht, die Großartigkeit seiner Muttersprache ein letztes Mal zu preisen. Das Deutsche sei eine heldenhafte und männliche Sprache. Dies zeichne sie vor so vielen anderen Sprachen aus, die weibisch, verweichlicht und verdorben seien. Da er damit insbesondere auf die romanischen Sprachen anspielt, kann man sich durchaus die Frage stellen, ob Kramer mit seinen auch sonst 7 Teutsch Grammatick oder Sprach = Kunst, Augsburg 1573. 8 Unterricht der Hoch Teutschen Spraach, Straßburg 1573. 9 Grammatica Germanica! ! juyjur, Leipzig 1578. 10 Was für die Sjmtax gilt, trifft auch auf den Wortschatz im Allgemeinen zu. Kramers an Alltag und Praxis orientierte Auswahl unterscheidet sich wie bereits erwähnt von den rein wissenschaftlich ausgerichteten Wortsammlungen Schottelius', aber auch von dem Werk Kaspar Stielers. Dieses „läßt deutlich seine Bindung an die höfische Lebenssphäre erkennen, die im Zeichen des klassischen Bildungsideals des Barockhumanismus stand" (Ising 1956: 121).

Matthias Kramer als Dcutschlchrcr

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immer wieder eingestreuten Polemiken seinen italienischen Schülern nicht zu nahe trat. Man kann sicherlich nicht behaupten, Matthias Kramer habe den Deutschunterricht revolutioniert. Das Grundprinzip der lateinischen Vorbilder ist immer noch vorhanden, und Parallelen zu den Arbeiten von Becherer, Becher, Schottelius, Stieler, Ritter u. a. sind nicht zu übersehen. Dennoch trägt das Werk des Nürnberger Sprachmeisters dessen persönlichen Stil. Kramers Sprache ist nah an der Wirklichkeit und nah am Menschen. Mit dem oft in lockerem Plauderton präsentierten Material dürften die Lernerinnen und Lerner in fast jeder Lebenssituation zurechtgekommen sein. Der Aspekt der Anwendbarkeit hatte für „der Occidentalischen Sprachen Professore", wie Kramer sich selbst nannte, absolute Priorität. Abschließen möchte ich mit einem kurzen Blick auf das Weiterleben des Werks. Auch nach Matthias Kramers Tod wurde noch mit Hilfe seiner Fondammti Deutsch gelernt. 1733 gab der Jesuit Andreas Freyberger die Grammatik in lateinischer Bearbeitung heraus. Sie erschien in Prag und eröffnete damit einem ganz neuen Publikum den Zugang zu den „richtigen GrundFesten der Teutschen Sprache". 11

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V g l . h i e r z u B r a v 2 0 0 0 , G l ü c k 2 0 0 2 : 441 - 447.

Zdenek Opava, Prag

Bestseller in der frühen Neuzeit. Die verschiedenen Ausgaben des Gesprächsbüchleins von Ondrej Klatovsky (1540) Das Lehrbuch Κηίιφα ν C^eskem a Niemeckem ya^yku slo^ena / kterakby C^ech Niemecky a Niemec C^esky cysti / psati y mluviti ucyti se miel des Prager Kaufmanns Ondrej Klatovsky ζ Dalmanhorstu (1504 bis nach 1571) war wohl das wichtigste deutsch-tschechische Sprachlehrbuch seiner Zeit. Als historisches Zeugnis ist es von besonderem Wert sowohl für Sprachwissenschafder als auch für Kulturhistoriker. Wenn man sich die Zahl der Auflagen ansieht und sich eine ungefähre Vorstellung davon macht, wie viele Exemplare damals im Umlauf gewesen sind, muss man feststellen, dass es sich um einen „Bestseller" handelte, ein mehrfach aufgelegtes und viel gekauftes Buch. Ich versuche hier zu zeigen, welche Stellung das Buch auf dem Buchmarkt in Böhmen und Mähren im 16. und 17. Jahrhundert hatte und worin sich die einzelnen 12 Ausgaben des Lehrbuchs unterscheiden. Das Lehrbuch besteht aus einer Reihe von Dialogen und Szenen, in denen jeder Satz, genauer: jeder Schritt des Dialogs, in beiden Sprachen abgedruckt ist (das Tschechische an erster Stelle, das Deutsche an zweiter). In den einführenden Dialogen eines Deutschen mit einem Tschechen werden die deutsche und tschechische Aussprache und der Artikelgebrauch im Deutschen behandelt; es folgen Dialoge im Schulmilieu, die stark an die Dialoge in den lateinischen Gesprächsbüchern etwa von Sebald Heyden erinnern, und schließlich Dialoge von Kaufleuten über Reisen, Waren, Geld usw., die den Hauptteil des Lehrbuchs bilden. Das Buch war wahrscheinlich für den praktischen Unterricht bestimmt. Dafür spricht sowohl die Widmung an zwei aristokratische Jünglinge als auch die Ähnlichkeit des Buches mit den damals üblichen, in den Schulen benutzten lateinischen Gesprächsbüchern. 1 Viele Dialoge dienten auch dem Erwerb 1 Über die lateinischen Gespräclisbüclier vgl. Börner 1897.

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Zdcnck Opava

von sachlichen Kenntnissen, die junge Adepten des kaufmännischen Berufs brauchten (Währungsverhältnisse, Maßeinheiten, Handelswege usw.). Dem Verfasser lag offenbar auch daran, das Buch literarisch anspruchvoll zu gestalten — manchen Szenen fehlt es nicht an Witz. Sie waren auch als didaktisches Theater vorführbar. Das Lehrbuch erschien zum ersten Mal im Jahre 1540 in Prag bei Bartolome) Netolicky. In dieser Zeit waren noch mindestens vier weitere sprachliche Lehrwerke auf dem Buchmarkt, die für das Tschechisch- und zugleich für das Deutschlernen benutzt werden konnten. Schon 1513 wurde in Wien das erste lateinisch-tschechisch-deutsche Vokabular im Druck herausgegeben. 2 1526 und 1532 gab der Pilsner Drucker Hans Pekk ein kleines Lehrbuch und Vokabular mit dem Titel Elementa latinae, boiemicae ac germanicae linguae ,Grundzüge der lateinischen, böhmischen und deutschen Sprache' heraus (zum ersten Mal allerdings mit dem tschechischen Titel: Velmi u^itecnä kniska mlädencöm, kteri ν latinskym, ceskym i nemeckym ja^yku prospivati chti s poctivosti, novotne se vsi pilnosti opravenä a tistena). In den Jahren 1527, 1529 und 1531 erschien wiederum bei Pekk das bekannte deutsch-tschechische Gesprächsbuch Nauceni krätke oboji fee (Eyn kurt-^e Vndterweisung beyder sprach Deutsch vnd Behemisch). Dieses Büchlein, das 13 Jahre vor Klatovskys Werk erschien, war das erste tschechisch-deutsche Konversationslehrbuch für Kaufleute überhaupt. 3 Zu diesen zwei- und dreisprachigen Lehrwerken sind noch die lateinisch-deutsch-tschechischen Bearbeitungen des bekannten Gesprächsbuchs von Sebald Heyden (1534, 1535, 1550 usw.) zu zählen. Die Kurt^e Vndterweisung beyder sprach Deutsch vnd Behemisch (im folgenden kurz Vndterweysung genannt) ist in mehrerer Hinsicht mit dem Lehrbuch Klatovskys vergleichbar. Beide Werke sind Konversationshandbücher, die für den praktischen Gebrauch bestimmt waren (und nicht etwa für scholastische Disputationen wie die ersten lateinischen Konversationsbücher vor 1500; vgl. Börner 1897). Ihre Zielgruppe waren Fernhandel betreibende deutsche und tschechische Kaufleute. Nach ihren Bedürfnissen richten sich die zu erwerbenden Sprachfähigkeiten und die besprochenen Themenbereiche (Reisen, Unterkunft, Ankauf und Verkauf von Waren). Es soll nochmals betont werden, dass diese Werke ausgesprochen praktisch ausgerichtet waren. Im Unterschied zu Klatovskys Lehrbuch, das vollständige Dialoge enthält, die nach dem Muster der lateinischen Lehrwerke auswendig gelernt werden sollten, scheint dieser Text nicht für den Schulbedarf verfasst und herausgegeben worden zu sein, sondern er stellt ein Äquivalent der heutigen Konver2 Text und Kommentar Wizd'älkovä 1971. 3 Rdition Uohatcovä 1976a.

Ausgaben des (jcsprächsbüchlcins von Ondrcj Klatovsky (1540)

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Z d e n e k Opava

sationsbücher für Touristen dar. Es enthält die wichtigsten Ausdrücke und Sätze, die für einen kurzen Aufenthalt im fremden Land notwendig sind. Trotzdem haben beide Publikationen viele Berührungspunkte: beide enthalten einen Abschnitt über die Aussprache, in beiden werden die Wege von Prag nach Nürnberg und von Prag nach Wien auf ähnliche Art und Weise beschrieben. 4 Der Umfang der Vndterweysung ist kleiner — etwa 3 Druckbögen gegenüber den 19 bis 20 Druckbögen von Klatovskys Büchlein (je nach Ausgabe). Die Vndterweysung und Klatovskys Büchlein standen einander gewiss trotz ihrer Unterschiede als Konkurrenzwerke gegenüber. Wenn wir uns die Erscheinungsdaten der einzelnen Auflagen der beiden Werke ansehen (Klatovsky erschien insgesamt zwölfmal, die Vndterweysung mindestens neunzehnmal), stellen wir fest, dass es zwischen der vierten und fünften Auflage der Vndterweysung einen Abstand von mehr als 100 Jahren gab — 1548 bis 1655. Und gerade in dieser Zeit erschienen die zwölf Auflagen des Lehrbuchs von Klatovsky. Es scheint, dass das neuere, zweifellos modernere Büchlein Klatovskys die ältere Vndterweysung für mehr als hundert Jahre verdrängt hat, ohne sich aber auf die Dauer durchsetzen zu können. In den veränderten gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Bedingungen nach dem Westfälischen Frieden war das zu stark an die Gegebenheiten des 16. Jahrhunderts gebundene Werk Klatovskys nicht mehr brauchbar. Die Unmöglichkeit, den aktuellen Bedarf durch ein neues Werk zu befriedigen, ebenso die ökonomischen Möglichkeiten der Drucker und schließlich auch die der Rezipienten führte dazu, dass man zu der alten, vielleicht schon halb vergessenen Vndterweysung griff, die wegen ihrer Einfachheit und Allgemeinheit auch nach der Umbruchzeit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts brauchbar war. Das ältere Buch erlebte eine zweite Blüte: während Klatovskys Werk zum letzten Mal 1641 erschien, wird die endgültig letzte Auflage der Vndterweysung auf 1785 datiert. Das didaktisch und literarisch anspruchsvollere, sprachlich und inhaldich stärker durchgearbeitete Lehrbuch Klatovskys galt als ein Bestseller in der Zeit des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Aufstiegs des Königreichs. Aber gerade dieser Charakter des Werks führte schließlich 4 Weder das eine noch das andere bedeutet aber, daß Klatovsky aus dem älteren Lehrbuch geschöpft hat oder daß er die

Vndtei*weysung

selbst geschrieben hätte, wie Jirccck (1875)

vermutete. In der Regel wurden die Sprachbücher dieser Zeit mit Hinweisen zur Aussprache und Rechtschreibung ausgestattet, die eigentlich für einen Grammatiktcil standen. Die übereinstimmende Beschreibung der Wege nach Wien und N ü r n b e r g bedeutet auch nichts anderes, als daß die Wege, die in einem Tag zurückzulegenden Abschnitte sowie die empfohlenen Gaststätten mit Unterkunft ein System bildeten, das beide Werke unabhängig voneinander beschreiben.

Ausgaben des (jcsprächsbüchlcins von Ondrcj Klatovsky (1540)

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dazu, dass es von der primitiveren, kürzeren und selbstverständlich auch billigeren Vndterweysung wieder abgelöst wurde. Eine Neuauflage von Klatovskys Büchlein hätte eine Neubearbeitung erfordert (mindestens die Dialoge über die Währung, über die Preise usw. hätte man bearbeiten müssen). Die einfache Vndterweysung konnte dagegen mit geringen orthographischen Veränderungen weiter herausgegeben werden (vgl. auch Bohatcovä 1976a). Das Lehrbuch erschien, wie gesagt, zum ersten Mal im Jahre 1540 in Prag bei Bartolomej Netolicky. Die zweite, nicht überlieferte Auflage des Lehrbuchs erfolgte wieder bei Netolicky im Jahre 1551. Die dritte Auflage aus der Druckerei von Jan Günther in Olmütz von 1564 steht dagegen in zwei Exemplaren zur Verfügung. Hier kam es schon zu gewissen Veränderungen, die aber nur ausnahmsweise über die graphische Ebene hinausgehen. Zum vierten und fünften Mal wurde Klatovskys Lehrbuch in Prag bei Jiri Melantrich ζ Aventyna 1567 bzw. 1578 gedruckt. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts erschien das Buch dann noch dreimal beim Erben Melantrichs, Daniel Adam von Veleslavin, zum letzten Mal 1603. Veleslavin hat in seinen Ausgaben keine Veränderungen vorgenommen. Obwohl der Satz immer neu war, blieben sowohl der Inhalt der Dialoge als auch die graphische Gestaltung des Lehrbuchs gegenüber den maßgeblichen Ausgaben Melantrichs unverändert. Weiter erschien das Buch zweimal in Olmütz bei Georg Handl (1614, 1631) und ein weiteres Mal daselbst bei Hradecky (1641). Erst in der letzten Olmützer Ausgabe von Mikuläs Hradecky wurde die Widmung weggelassen, die seit der ersten Ausgabe immer wieder abgedruckt worden war. Inhaltlich blieb der Text bis auf die erwähnte letzte Ausgabe gleich. Graphische und sprachliche Abweichungen gab es hauptsächlich zwischen der Ausgabe von Netolicky, der Olmützer Ausgabe von Günther 1564 und den Ausgaben Melantrichs (die erste erschien 1567). Mit Melantrichs Ausgabe hatte der Text seine endgültige Gestalt erhalten, die er bis 1641 bis auf unwesentliche orthographische Kleinigkeiten behielt. Der Titel bleibt in den ersten vier Ausgaben unverändert, und es wurde auch niemals angedeutet, dass es sich um Neuauflagen handelte, wie es in dieser Zeit üblich war. Selbst die Widmung blieb in allen diesen Ausgaben gleich. Die Abweichungen zwischen den Ausgaben 1540 und 1578 untersuchte Hildegard Bokova (1999), die sich dabei hauptsächlich auf die Veränderungen in der graphischen Gestaltung konzentrierte. Ich gehe hier von ihrer Analyse aus, ergänze sie aber um den Vergleich mit der Olmützer Ausgabe von 1564 und erweitere sie um einige Aspekte. Bokova vergleicht die erste Ausgabe 1541 mit der zweiten Ausgabe Melantrichs (1578). Es wäre sicher konsequenter gewesen, die erste Ausgabe Melantrichs (1567) zum Vergleich heranzuziehen. Der Vergleich der Ausgaben Me-

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Zdcnck Opava

lantrichs hat aber gezeigt, dass diese beiden Drucke nicht voneinander abweichen. Es war also auch für mich einfacher, mit der Ausgabe von 1578, die Bokova untersucht hat und die auch mir besser zugänglich war, zu arbeiten. Allgemein kann man über die graphischen Unterschiede zwischen den verschiedenen Ausgaben sagen, dass die dialektale (nämlich bairische) Färbung der ersten Ausgabe zugunsten einer weniger regional geprägten Drucksprache der späteren Ausgaben beseitigt wurde. Darin sieht Bokova ein Beispiel dafür, wie schnell sich die Prager Drucksprache dem Ausgleichsprozess zwischen den oberdeutschen und mitteldeutschen Schriftdialekten angeschlossen und dadurch der entstehenden neuhochdeutschen Norm angenähert hat (Bokova (1999: 19). Damit sieht sie auch die Feststellungen Emil Skalas über die Stellung des Prager Deutsch in der Entwicklung der hochdeutschen Sprache bestätigt: Skala behauptet, dass das Prager Deutsch an dem Ausgleichsprozess zwischen den oberdeutschen und den ostmitteldeutschen Dialekten voll teilgenommen hat (Skala 1973: 222). Diese Tilgung der für den bairischen Schriftdialekt typischen Formen geschah aber hauptsächlich im Bereich der Schreibung, während die morphologischen, syntaktischen und lexikalischen Elemente weitgehend unangetastet blieben. Die charakteristischen Veränderungen in der Graphie sind die folgenden: 1) Vereinheitlichung der Schreibung des Diphthongs (Entsprechung des mhd. /und des alten Diphthongs), wobei die graphische Unterscheidung zwischen dem alten und neuen Diphthong verlorengeht ( zu ); 2) Die Schreibung < u e > für den mhd. Monophthong < i u > , die neben der Diphthong-Schreibung < e u > steht, wird beseitigt; 3) Schwund der für das Bairische typischen Schreibung < i e > für mhd. < i > , ζ. B. in wiertin, rnerdt, hierschen (> mrttin, Wirdt, Hirschen)·, 4) in der ältesten Ausgabe wird auch mhd. < u o > als < ü > geschrieben (guten > guten), in den neueren Auflagen steht nur noch < u > ; 5) in den jüngeren Ausgaben verschwindet die Unsicherheit bei der graphischen Wiedergabe von mhd. /a/ und /o/ (verwont > verwandt, dannern > donnern)·, 6) in den neueren Ausgaben wird die Senkung von zu ('frumben > frommen, mügen > mögen) konsequent graphisch markiert; 7) die für den bairischen Schriftdialekt charakterische Verwechselung von < w > und < b > , < b > und < p > geht einigermaßen zurück; 8) die Schreibung < - d t > am Wortende geht zurück (freundt > Freund/freunt); 9) die Schreibung < k h > wurde beseitigt (khan > kan).

Ausgaben des (jcsprächsbüchlcins von Ondrcj Klatovsky (1540)

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Bokovä vergleicht die Ausgaben von 1540 und 1578/1603, während sie die Olmützer Ausgabe von 1564 außer acht lässt (Bokovä 1999). Eine kurze Probe zeigt jedoch, dass die bairischen Elemente bereits aus der Olmützer Ausgabe von Jan Günther (1564) weitgehend entfernt waren. Die Unterschiede zwischen der Ausgabe von 1564 und den jüngeren Ausgaben sind gering: wesentliche Unterschiede bestanden zwischen der Prager Ausgabe von 1540 (bzw. 1551, von der nur der Titel bekannt ist) und der Olmützer Ausgabe 1564. Die erste Ausgabe Melantrichs (1567) unterscheidet sich von der zweiten (1578) nur unwesentlich. 1540 (e8b — f l b )

1564 (Bb-f5b)

1578 (£3a-e5b)

Güten am pesten Abendt zwäen Hegt mugen -khait frundtschaff

Guten am besten Abent Zweien Leugt Moegen -keit Freuntschafft

guten am besten abend zweyen leugt moegen -keit freundschafft

Morphologische Veränderungen betreffen hauptsächlich die Flexion der Artikel, der attributiven Adjektive und der Substantive. Bokovä behauptet, dass „die ältere Ausgabe neben flektierten zahlreiche unflektierte Formen im Attribut aufweist", während „die jüngeren Drucke ausschließlich flektierte Attribute und Artikel haben" (Bokovä 1999: 19). Trotz dieser Behauptung enthält aber auch die Ausgabe von 1578 noch einige unflektierte unbestimmte Artikel bzw. Possessivpronomina oder Pronomen. Dabei ist interessant, dass die Ausgaben Melantrichs von 1567/1578/1603 in dieser Hinsicht einen Schritt zurück gegenüber der Olmützer Ausgabe von 1564 darstellen — 1564 werden viele Artikel flektiert, die später wieder in der unflektierten Form erscheinen. Das gilt auch für die Possessivpronomina mein, dein, sein und für das Negationswort kein. Wahrscheinlich kann man aber in diesem Zusammenhang nicht von einem Defizit in der Flexion sprechen, sondern eher von synkopierten bzw. apokopierten Formen. Das Endungs-ί fehlt ja nur in den Formen, wo die grammatischen Kategorien im Artikelwort ausgedrückt werden bzw. umgekehrt: -e des unbestimmten Artikels kann apokopiert werden, wenn das Adjektiv in attributiver Stellung die Numerus/Genus/Kasus-Markierung trägt.

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Zdcnck Opava

1540

1564

1578

e8b ein schilling f2b ein bösseren vnd grosseren lust

e3b ein schilling e5a ein bessern vnd grössern lust

g l a ein angenehme andwort g2b ein hierschen f l a fuer ein bawer

£3b einen schilling f5b einen bessern vnd grossem lust g5b eine schöne zeyt g5b eine angenehme antwort g6b einen Hirschen f4a für einen Bawren

g4a ein feine kurtzyeil

h l a ein feine kurtzweil

g l a ein schöne zeit

f3a ein schöne zeit f3a ein angenehme antwort f4a ein Hirschen e3b für einen Bawren f6a ein feine kurtzweil

Diese Beispiele zeigen deutlich, dass die editorischen Eingriffe hier eher zufällig waren. Obwohl es eine Tendenz dazu gab, die synkopierten und apokopierten Formen zu vermeiden (statt ein schrieb man im Akk./Mask. einen, statt ein im Fem. eine usw.), stehen beide Möglichkeiten in allen Ausgaben nebeneinander. Dasselbe gilt auch für die Veränderungen in der Markierung des Plurals bei den Substantiven. Die meist unflektierten Pluralformen der ältesten Ausgabe wurden manchmal durch flektierte ersetzt. Die Mehrheit der Substantive im Plural blieb aber nach wie vor unflektiert — vor allem in Aufzählungen, in denen die unflektierte Form im Frühneuhochdeutschen üblich war, ζ. B. 1540

1564

1578

g3a fuchs / oder has

g7b Fuchsen oder I lasen

f5b Fuchsen oder I lasen

Im Bereich der Syntax sind Schwankungen in der Satztopologie interessant. Die einzelnen Fassungen des Textes weisen eine gewisse Unsicherheit in der Organisation der Prädikatsgruppe am Satzende auf: der Satzrahmen kann sowohl vollständig als auch unvollständig sein. In den Ausgaben von 1564 und 1578 wurde die Wortfolge in der Prädikatsgruppe manchmal gegenüber der ersten Ausgabe verändert. Die Veränderungen erwecken aber auch hier den Eindruck, dass sie eher systemlos vorgenommen wurden, da nicht alle einschlägigen Fälle korrigiert wurden. Bei der Flexion der Artikel haben wir gesehen, dass die Ausgabe von 1578 sich vom heutigen Usus, dem die erste Ausgabe näher steht, entfernt. Dasselbe gilt für Rahmenbildung und Organisation der Prädikatsgruppe. Betroffen ist hauptsächlich die Stellung des Hilfsverbs in der zusammengesetzten

Ausgaben des (jcsprächsbüchlcins von Ondrcj Klatovsky (1540)

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Verbform im Nebensatz. Während in der ältesten Ausgabe das finite Hilfsverb am Satzende steht, ist es in der Ausgabe von 1578 dem infiniten Vollverb vorangestellt: 1540

1578

r3a wier wollen die drymer was von stukhen vberblieben ist messen r4a ...was im gwelb gewesen ist b6a ...wolliche so dw sy recht khennen wurdest t6b ich wäyß nür nicht wens gewaschen worden ist t l a wen der herr ein khnecht edwo hin schicken wollen hat

ρ 5b wir wollen die druemmer / was vonstucken ist vberblieben / messen p7b ...was im gewelb ist gewesen b4b ...welche so du recht wurdest kennen r8a ich weis aber nicht wens gewaschen ist worden r2b wen der Herr ein Knecht etwa hin hat wollen schicken

Inhaltlich blieb der Text unverändert, selbst in den Gesprächen, in denen es um Preisangaben geht, die bald überholt waren. Der Charakter der Veränderungen (die Ersetzung der bairisch gefärbten Schreibweise durch eine eher überregionale Variante, die Inkonsequenz in den morphologischen und syntaktischen Veränderungen und der vollkommene Verzicht auf inhaltliche Korrekturen) spricht dafür, dass Klatovsky sich an den Neuauflagen seines Werks nicht mehr beteiligt hat, sondern dass Drucker die Änderungen vorgenommen haben. Eine Bestätigung der Annahme, dass das Buch ohne Klatovskys Korrekturen neu aufgelegt wurde, und auch ein Beispiel für die Inkonsequenz der Verleger bzw. Drucker ist der unveränderte Teil über die Aussprache. Während die baltischen Züge im Text weitgehend beseitigt wurden, blieb die metasprachliche Beschreibung der Rechtschreib- und Ausspracheregeln in allen Ausgaben erhalten — man findet im Ausspracheteil ζ. B. die Beschreibung der Verdunkelung von /a/ zu /o/, deren graphische Entsprechung aus dem Text entfernt wurde (1578, b4b): Das gemein a braucht man den meisten tbeil für ο / wiewol es zu Zeiten sein eigenschafft verliert / wie in diesen Worten: Sprach Was hast du gethan.

Rzec Cos vcinil.

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Zdcnck Opava

Diese Tatsachen stehen mit der Biographie des Verfassers im Einklang. Der steile gesellschaftliche Aufstieg des reichen Kaufmanns Klatovsky wurde durch die Ereignisse des ständischen Aufstands gegen König Ferdinand im Jahre 1547 abgebrochen — Klatovsky war in diesem Krisenjahr Bürgermeister der Prager Altstadt und beteiligte sich aktiv am Widerstand. Nach der Niederlage des Aufstands wurde er aus Prag ausgewiesen, musste nach Mähren (entweder nach Olmütz oder nach Prostejov) übersiedeln und kehrte nicht mehr zurück. An der Prager Ausgabe von 1551 hätte er also nur schwerlich arbeiten können — wohl aber an der Olmützer Ausgabe von 1564. Trotzdem halte ich es nicht für wahrscheinlich, dass der alte Klatovsky sich tatsächlich noch an der neuen Ausgabe seines Werks beteiligt hat — der Verfasser wäre sicher nicht bei oberflächlichen graphischen Veränderungen seines vierundzwanzig Jahre alten Texts geblieben. Fazit: alle Ausgaben des Lehrbuchs von Klatovsky erschienen in der Zeit 1540—1641 — in der Zeit des größten wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Aufschwungs des Königreichs. Zum vorletzten und zum letzten Mal wurde das Werk schon während des Dreißigjährigen Kriegs herausgegeben, der das Ende dieser Epoche bedeutete. Klatovskys Werk war zu stark an die Bedingungen des 16. und des ersten Drittels des 17. Jahrhunderts gebunden. Da die Drucker den Text stets ohne inhaltliche Veränderungen von den vorangehenden Ausgaben übernommen hatten, war er in der Mitte des 17. Jahrhunderts schon recht veraltet. Wie progressiv jedoch die sprachlichen Veränderungen waren, zu denen Jan Günther in der Ausgabe von 1564 und Melantrich in der von 1567 griffen, zeigt die Tatsache, dass der Text bis zur letzten Ausgabe 1641 (fast hundert Jahre nach der ersten und über achtzig Jahre nach der Ausgabe Günthers) ohne größere sprachliche Veränderungen gedruckt werden konnte.

Alena Simeckovä, Prag

Zum Dialog im tschechisch-deutschen Gesprächsbuch von Ondrej Klatovsky 1. Einleitung Das Gesprächsbuch Ondrej Klatovskys Kntj^ka w C^eskem a Nemeckem Ya^yku slo^enä / kterak by C^ech Nemecky a Nemec C^esky tijsti / psäti / y mluwiti / uciti se mel — Ein Büchlein in Behemischer vnd Deutscher Sprach / wie ein Behem Deutsch / deßgleichen ein Deutscher Behemisch lesen / schreiben vnd reden / lernen soll\ das zu den am häufigsten aufgelegten Drucken in Böhmen zwischen 1540 und 1641 gehörte, stellt eine ergiebige Quelle nicht nur für die Untersuchung der individuellen Zweisprachigkeit1 (Simeckovä 1994, 1996), sondern auch für die Analyse der gesprochenen Sprache des 16. Jahrhunderts dar. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die Untersuchung der Dialoggestaltung in der Ausgabe von Jiti Melantrich aus dem Jahre 1578, und zwar vorwiegend auf der makroanalytischen Ebene (Henne / Rehbock 1973); die Exemplifizierung beschränkt sich auf den deutschen Teil.

2. Dialog und Gespräch Die Gesprächsbücher gehörten im 15./16. Jahrhundert ebenso wie Vokabulare, Lesebücher und Grammatiken zu der Textsortengruppe ,Sprachlehrbuch' (Bellmann 1996: 205) und verfolgten das Ziel der praxisorientierten Lehrwerke, deren Dialoge von den Schülern auswendig zu lernen waren. Als Vorbild dienten hier auch Lehrwerke für lateinische Schulen mit humanistischen Dialogen. Der Dialog als eine Art der dyadischen Kommunikation (Morävek/Müllerova 1973) spielt sich gewöhnlich zwischen zwei Partnern ab und wird überwiegend als eine Art Auseinandersetzung (über ein prinzipielles Thema) defi1

Verl. S i m e c k o v ä 1994 u n d 1996

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Alcna Simcckova

niert. In Klatovskys Lehrbuch spielt eine einzige Dialogart, und zwar die persönliche Unterhaltung als Bestandteil des Unterrichts oder des Kauf- und Verkaufsgeschäfts, die entscheidende Rolle. Aus diesem Grund ziehen wir in Bezug auf Klatovskys Lehrbuch den Terminus Gespräch vor. Klatovsky selbst gebraucht den Ausdruck ,Dialog' nur einmal im Inhaltsverzeichnis am Ende des Lehrbuchs (Zpräwa na wssecky Dyalogy α Ro^mlauwänij w techto Rmj^kach / pro snadssij nyhledänij polo^enä. — Ein lauter Vntermht auff alle Dialogi oder geSprech / so hiennn begriffen / die dest leichter ^ufindenj, die einzelnen Gespräche sind als 1Unterredungen {Ro^mlauwanij) überschrieben. Es wird allgemein angenommen, daß die Lehrbuchdialoge normalerweise fiktiven (für den Unterricht entworfenen) Charakter haben und dem Erwerb der gesprochenen Sprache dienen. Von jeher haben sie zum Ziel, sich natürlichen Gesprächen anzunähern, deren Charakter sie freilich weder erreichen können noch sollen. Es kann sogar behauptet werden, daß die Diskrepanz zwischen der Bemühung, sich der Spontaneität des natürlichen Gesprächs anzugleichen, und der Unmöglichkeit, dieses Ziel zu erreichen, für den zu Unterrichtszwecken konstruierten Dialog geradezu charakteristisch ist und bleiben muß. Der Erwerb einer Fremdsprache verlangt ζ. B. die Einprägung bestimmter Konstruktionen durch Wiederholung mit schrittweiser Umwandlung, was im natürlichen Gespräch eher entfremdend wirkt (vgl. das Paradigma in der deutsch-tschechischen Phrasensammlung, die parallel mit Klatovskys Buch im Böhmen des 16. und 17. Jahrhunderts gedruckt wurde, nämlich die Naucenije — Vnderweisung. Gott gebe ewer gnaden ey η guten morgen. Gott gebe ewer gnade eyn guten tag. Gott gebe ewer gnade eyn guten abent. Gott gebe ewer gnade eyn gute nacht usw.). Der didaktische Zweck erfordert ferner die Vollständigkeit der Sprachgestaltung auf allen Ebenen des fiktiven Dialogs, während sich das natürliche Gespräch durch Eliminierung verschiedener aus dem Kontext und der Situation ergänzbarer Elemente auszeichnet. Klatovsky greift nicht zu der didaktisierenden Wiederholung, die Textgestaltung ist aber nicht elliptisch, im Gegenteil, es werden alle möglichen Mittel der Textbereicherung ausgenutzt. Besonders spontan wirken die Wortwahl und die Phraseologie; es fällt auf, daß die Phraseme in beiden Sprachen dem wirklichen Usus der Zeit entsprechen, der Autor übersetzt sie ähnlich wie den übrigen Text nicht einfach wörtlich aus einer Sprache in die andere. Es handelt sich also nicht um Unterrichtsdialoge im eigentlichen Sinn des Wortes, auch nicht im thematischen Bereich mit der gegenseitigen Belehrung des Tschechen und des Deutschen über Aussprache, Schreibung und Grammatik der beiden Sprachen. Die Gespräche zwischen dem Meister und den Schülern haben nur allgemeine Fragen des Lernens zum Gegenstand. Bohatcova (1976) meint, daß Klatovsky in seinem Bemühen, den Stoff für seine Schüler „schmackhaft zu machen", einen „redseligen belletristischen

Z u m Dialog im tschcchisch-dcutschcn ( j c s p r ä c h s b u c h von Klatovskv

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Text im modischen literarischen Stil" geschrieben hätte, was später (v. a. seit dem Ende des 17. Jahrhunderts und im 18. Jahrhundert) der Grund dafür gewesen wäre, daß sich seine „maximalistische Verarbeitung, mit einer Menge von detaillierten landeskundlichen und sprachlichen Informationen ausgestattet", überlebt hätte. 2 Klatovskys Dialoge machen eher einen inszenierten Eindruck, als wären sie als Szenen für ein Theaterstück geschrieben. Davon zeugt nicht nur die Anzahl der beteiligten Personen, die sich zwischen zwei und neun bewegt, und die Aufzählung dieser Personen vor dem Dialog (ζ. B.: Der Dominick. Der Wolff. Der Cornel Kuuffmann. Der Knecht. Der Bub), sondern auch die ,Nebenszenen', in denen die sprechenden Personen das Verhalten der Abwesenden kommentieren. Nachdem ζ. B. der Herr seinen Knecht und den Diener eingehend angewiesen hatte, was zu tun wäre, und dann weggegangen war, unterhalten sich die beiden über ihn: Jan:

Lieber Herr Gott / ein solch gebieten / wenn ich mein lebenlang kein Pallen nie gebunden het / noch darbey gewesen / so wehr es genug / er geb einen guten Prediger / er ist fast ein sorgfeltiger Mensch / ich hör jm gern zu /wenn er stillschweiget. Rzehorz: Kl" redet viel / ich halt er hab ein trunck des guten weins gethan / bis er jn außgehet / dann wird er baldt bessers muts sein (f. 82).

3. Thematische Bereiche der Gespräche Im Lehrbuch Klatovskys sind die Gespräche 3 in fünf thematischen Bereichen gestaltet, die gelegendich ineinander greifen:

2 Die verarmten Drucker hätten nach Bobatcova (1976) im 18. Jahrhundert nach billigeren Vorlagen gegriffen, z. ß. nach der S a m m l u n g der gebräuchlichsten Konversationswendun-

Naucenije krätke oboji frei, nemeche a ceske, uäti se ästi i mluwiti, Cechöm nemecky α Nemcöm cesky — Eyn kurc^e vndeiiveisung beyder sprach Deutsch vnd Behemisch :?;////-/v/v // ksm vnd reden. Dan bekamen deutsch vnd den deutschen behemisch. Diese Phrasensammlung

gen von einem anonymen Autor,

wurde bereits im 16. J a h r h u n d e r t parallel mit Klatovskys Buch gedruckt, aber sie erlebte noch im 17. und 18. Jahrhundert 16 weitere Auflagen. 3

Die Materialgrundlage dieses Beitrags bilden v. a. folgende Texte: U 63 — 64: Ο Kupowänij Suken. — Vom Tuch kauffen. F. 82 — 86: Rozmlauwänij ο prinesenij Suken do I l o s p o d y a Palijku wäzänij. — Vnterredung vom Tuch heimbringen in die Herberig vnd Pallen binden. U 87 — 88: Rozmlauwänij ο I'ormanu. — Vnterredung vom I'uhrman. F. 89 — 97: Ο sskode na Mincy vzetij. — Vnterredung vom schaden an den Müntzen.

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Alcna Simcckova

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f n ^ M X a . n c w ^ m ^ y b y ßifti φ η « Γ / Abb. 9: Klatovsky, Ondtej 7. Dalmanhotstu [Andreas von Glataw/Glatovinus], Knizkaw Czieskem a Niemeckem jazyku slozena.

Zum Dialog im tschcchisch-dcutschcn (jcsprächsbuch von Klatovskv

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(1) Unterricht: Belehrung über Aussprache und Schreibung der beiden Sprachen sowie über einige grammatische Erscheinungen, die der Autor des Gesprächsbuchs anscheinend für die wichtigsten hält, d. h. Artikelgebrauch, Genusverteilung der Substantive, Formenbildung und Graduierung der Adjektive (die Wörtlein der vergkichnus)·, ein Tscheche unterrichtet hier einen Deutschen und umgekehrt, beide treten abwechselnd in der Rolle des Lehrers und des Schülers auf; (2) Lernen und Spielen, vom Gesichtspunkt der Schüler gestaltet; (3) Alltagsleben des Kaufmanns; (4) Kaufen und Verkaufen mit Warenbeschreibung; (5) Reisen von Prag nach Nürnberg und nach Wien.

4. Die Textgestaltung im Gesprächsbuch 4 Im Gesprächsbuch Klatovskys können folgende Gesprächsgestaltungen unterschieden werden: F. 98 —103: Rozmlauwänij ο handli Kupeckem a /ιvnosi / pritom kterak Tide swau neopatrnostij a paychau sc zawozugij / pod zpusobcm bohatcho Kupcc / a znamcnitc Mcsstky. — Hin Vnterredung vom handel vnnd der Narung darneben wie sieb die Leut mit jhrer vnfürsichtigkcit vnnd hoffart selbst verführen / vnter der gestalt eines reichen Kauffmanns vnd meebtigen Bürgerin. F. 104— 115: Wypsänij ο Zene pyssne a vtratne. — Beschreibung des stoltzen vnnd zerbaftigen Weibs. F. 115 — 120: Ο kramarskych wecech. — Von Krameriscben sacben / oder Kramer wahr. F. 120 — 123: Rozmlauwänij ο prodänij zbozij / a co gym zysku pfincsla präcc. — Vnterredung vom verkauffung des Guts / vnd was er für ein gewin hat bekommen. F. 123 — 125: Ο Czclcdi rozmlauwänij. — Vnterredung vom Gcsindt. F. 125 — 127: Ο Kupowanij Zbozij do Krämu k prodagy. — Von Güttcr kauffen in den Kram zu verkauffen. F. 127 — 129: List Mocny werijcy. — Hin glaubwürdiger Gcwalts Bricff. F. 129 — 133: Ο Ceste ζ Prahy do Normbergka rozmlauwänij. — Vnterredung vom Weg / von Prag auß / gen Nürnberg. F. 134—138: Ο Noclehu a Ilospode Rozmlauwänij. — Vnterredung vom Nacbtleger vnd Hcrbcrig. F. 138 — 150: Ο Kramärskych weccch / a ο Ccduli rczanc. — Von Krämcrischcn sachcn / vnd außgeschnittenen Zetteln. F. 150 — 152: Ccdulc rezanä Krämskych wccy. — Hin außgcschnittcncr Zettel auff Kramcrischen sacben. F. 152 — 157: Loketnij a Hedwäbne wccy. — Hlcn vnd Seiden Wahr. F. 157 — 158: Rozmlauwänij ο Ceste do Wijdne. — Vnterredung vom Weg gen Wien. 4 Die Gcsprächsartcn unterliegen im Laufe der Zeit deutlichen Änderungen; Hcnnc/Rchbock 1982 unterscheiden Thcrapicgcsprächc, Beratungsgcsprächc, Vcrhandlungsgcsprächc, Mcdiengespräcbe, Unterrichtsgespräche, Spracberwerb und Integration in der Familie und lite-

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I. Gespräche im eigentlichen Sinn: Gespräche als dyadische Kommunikation mit normalem Sprecherwechsel (Gespräche vom Lernen und Spielen, Alltagsgespräche, Kauf- und Verkaufsgespräche). II. Gespräche, die mit Textteilen anderen Typs kombiniert werden: (a) Gespräche mit Exemplifizierungen in Form von Beispielen und Beispiellisten: Cze: Du sagst recht / dann ich dieses selber wol erkenne / daz die gewonbeit die andere Natur ist / nach dem gemeinen Sprichwort. Derbalben bey. (f. 20). W Nemcine Das Das Das Das Der

W Cestine

Weib / Tato zena Meidlein / Tato dewecka Roß / Tento kuon Pferdt / Gaul / Tento Hynsst

(b) Gespräche als Einleitung oder Nachtrag zu geschriebenen kaufmännischen Dokumenten, ζ. B. Ein glaubwirdiger Gewaltsbrieff; Von Krämerischen Sachen / und außgeschnittenen Zetteln.

(c) Gespräche als Einführung zu Itineraren (Vnterredung vom Weg / von Prag auß / gen Nürnberg — mit einer längeren Einführung; Vnterredung vom Weggen Wien — mit kurzer Einführung). Die Wegstrecke im Itinerar wird nach der Tradition der römischen Kaiserzeit mit Angaben über Strecken und Orte versehen, wie es auch in den zeitgenössischen Reisebüchern und Memoiren der Fall war, z.B.: Vnterredung vom Weg gen Wien Jakes:

Mein lieber freundt / ich bitt dich / sag mil gehen sol? Maitin: Ich weiß nicht / wo du dahin gehen wilt / es zween weg / der ein 36. meil. Wo ferr du den must du von Prag auff Brod zu gehen / dahin

/ wo ich auff Wien seind zweyeiley oder Weg gehen wilt / so hast du 4. meil wegs.

rarischc Gcsprächc als heute vorkommende (jcsprächsarten. Auch die ähnlich anmutenden (jcsprächsartcn (z.B. die Gespräche im Unterricht) werden heute qualitativ unterschiedlichgeführt.

Zum Dialog im tschcchisch-dcutschcn (jcsprächsbuch von Klatovskv

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Jakes: Wo dann weiter hin? Martin: Drey meil gen Köln. Von Köln zwo meil gen Zschaslaw. Von Zschaslaw 5. meil gen Deutschen Bf od. (f. 146).

III. Andere Textarten im Gesprächsbuch — Widmungen (am Anfang und als Abschluss des Gesprächsbuchs) — Gedichte — „Die Weisen" (Hinweis auf die Lehre der antiken Weisen Salomon, Pythagoras, Quintiiianus, Seneca, Cato mit den Prinzipien des Lernens als Mittel zur Erreichung der Weisheit — Wortschatzlisten (Monatsnamen, Bezeichnungen von Körperteilen, Adjektive mit Graduierungsformen, Substantive mit Artikelwörtern).

5. Gesprächsgliederung Die Makroebene (Gesprächseröffnung, Gesprächsmitte, Gesprächsbeendigung) ist in den meisten Dialogen der eigentlichen Art (I) deutlich ausgrenzbar. Die Gesprächseröffnung erfolgt durch Gruß und Anrede: D: Gott helff euch Herr Wolff / mein allerliebster Freundt. W: Danck habt mein lieber Herr Dominick. Sagt mir wie jr euch an ewer gesundheit gehabt? D: Gott sey lob wenn wir gesund sein / so sprechen wir es sey gut. Euch danck ich / das jr nach meinem gesund fraget. Deßgleichen gönne ich euch alles guts / als meinem allerliebsten Freundt (f. 63).

Nach Gruß und Anrede folgt ein ,Vorspiel' zum Gespräch, das recht umständlich sein kann: W: Sagt mir wie es meinem Son gehet / ob er auch gehorsam ist und ob er fleissig Behemisch lernet? D: Kr gehabt sich wol / vnd hat euch sampt der Frau Mutter fast grüssen lassen. Ich weis euch noch nichts von seinem vngehorsam zu sagen. Iii" ist gehorsam / so lernet er auch fleissig / wie jr denn aus seinem schreiben vernemen werdet (f. 63).

Die Gesprächseröffnung wird ausgespart, wenn ein Thema mehrere Gespräche übergreift. Der Verlauf der Gesprächsmitte hängt mit den Handlungsdimensionen des Gesprächs zusammen; ζ. B. das Gespräch zwischen dem Kaufmann und sei-

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ner Frau über das stolt^e und ^erhafftige Weib ist in der Mitte narrativ, die Frau des Kaufmanns beschreibt ihrem Mann sehr detailliert und ,dekorativ' das Außere, die Bekleidung (Möglichkeiten des Stoffverkaufs!) und das Benehmen der anderen Kaufmannsfrau. Der Kaufmann wird langsam ungeduldig und unterbricht ihren Wortschwall mit immer schärferen Signalen, ζ. B.: Ich verstehe / mein liebes Weib / das jr hoffart treiben / wie dein red / kein ende hat Weib / da wird nun eine neue Predig werden iiy, was hör ich da / ich hab gemeint / es würde schier aussein / ja ist doch je lenger je mehr Liebes Weib,>ich wart nun nach solcher Predigο wirst du etwa die Feiertagο nennen ... (f. 111).

Die meisten Gespräche in Klatovskys Buch sind direktiv, ζ. B. die Gespräche zwischen dem Kaufmann und seinen Knechten oder zwischen dem Meister und seinen Schülern, so daß die Sequenz immer Befehle und Rückmeldungen enthält. Die Direktivität wird sprachlich oft salopp zum Ausdruck gebracht: Meister: Schüler: Meister:

Wirt zum Hausknecht: Hausknecht: Schenkin:

Hausknecht:

Ilastu gelernet / was du soltest gelernet haben? Ich hab es noch nicht gelernet / aber ich hab mirs schon beschrieben. Das mag ein Bub sein / er gedenckt nicht änderst / dann das er spielet / heb dich zum Teuffei / vnd lerne vor / was du lernen soltest / das ich dir das spielen nicht auff den arsch gebe (f. 5). Hast du noch kein Wasser bracht / wo gedenckest du nur hin? Die Schenckin hat das Gießbeck / noch das Handfaß nicht außgerieben. Ists doch außgerieben / warumb heist dirs nicht die Frau geben. Du bist warlich ein rechter Esel / du must alls erklaffen / wo hastu die Teller / Löffel /mein lieber Lumil / richtest du doch gar nichts zu. Bistu denn blind / das du es auff dem tisch nicht sihest (f. 40).

Der Gesprächsabschluß fällt meist mit dem Abschluß des thematischen Blocks zusammen. Die eigentlichen Gespräche werden ebenso wie die Eröffnungen mit Grüßen, Danksagungen, Gesundheitswünschen oder den sich auf die Zukunft beziehenden Versprechen beendet.

Zum Dialog im tschcchisch-dcutschcn (jcsprächsbuch von Klatovskv

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6. Soziologische und pragmatische Aspekte der Gespräche In Klatovskys Gesprächsbuch werden sowohl interpersonale als auch Gruppengespräche gestaltet, in denen das soziale Verhältnis zwischen den Partnern entweder symmetrisch oder asymmetrisch ist. Das gilt für die Kaufleute, wenn sie untereinander sind, ebenso wie für Diensdeute. Der Hausknecht und die „Schenkin" ζ. B. sind anscheinend die Höchstgestellten innerhalb der Dienerschaft. In ihren Gesprächen ist eine gewisse Abneigung gegen Tieferstehende, die bis zur Gehässigkeit reichen kann, spürbar. Asymmetrische Gespräche spielen sich zwischen dem Kaufmann und seiner Frau ab — er spricht in herablassendem Ton, autoritativ, sie untergeben, gehorchend, immer entgegenkommend — oder zwischen dem Kaufmann und der Dienerschaft, zwischen einem adeligen Gast und dem Wirt im Gasthaus. Die meisten Gespräche im Lehrbuch werden so geführt, daß der Sprecher, im besonderen der Kaufmann, spezifische Handlungsweisen seines Gegenüber auslöst (Kaufmann — Knecht, Kaufmann —seine Frau, Meister —Schüler). Der Sprachgebrauch ist also im Sinne Bühlers (1934) empraktisch. Charakteristisch für die soziale Stellung der Sprecher ist auch das Anredeverhalten. In symmetrischen Gesprächen wird geduzt oder geihrzt. Der Kaufmann duzt seine Frau, sie ihrzt ihn. Die Kaufleute (Diener) duzen einander, die Diener ihrzen den Kaufmann und seine Frau. Auch die nominale Anrede ist sozial-pragmatisch aufgefächert. Der Gesprächspartner wird angeredet: — mit dem Vornamen: Bartel, Hans, Dionysij (der Vorname wird in den meisten Fällen attribuiert, nur einmal kommt er allein vor); — mit dem Appellativum, das die Funktion oder den Beruf nennt: Haußknecht, Gesell, Schenckin, Köchin, Stallmeister, Knecht, Wirtin, Bub; die sozial gleichgeordneten Personen werden darüber hinaus mit Herr betitelt: Herr Meister, Herr Wirdt, Herr Preceptor, Herr Geselle. — Die Frau des Kaufmanns gehört vom Standpunkt ihres Mannes her zu den untergeordneten Kategorien und wird von ihm mit Frau (neutral, besonders vor anderen Gesprächspartnern) oder Weib (eher emotional, in Aufregung) angeredet; von der Dienerschaft wird sie mit Frau angesprochen. — die Anrede der vertrauten oder gut bekannten Personen wird attribuiert, ζ. B. lieber Gesell, lieber Jaroslaw, Haußknecht, mein lieber Bruder, mein allerliebster Wentel; auch gnediger lieber Herr, gnediger Herr zu einem Adeligen. — nur ausnahmsweise ist die Anrede eine Beschimpfung: mein lieber lumil, du voller Zapf.

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7. Ausblick Bei der Analyse der Textgestaltung bei Georg von Nürnberg (15. Jahrhundert), Ondrej Klatovsky (16. Jahrhundert) und Matthias Kramer (17. Jahrhundert) werden viele bedeutende sprachliche Änderungen auch im Bereich der für den Sprachunterricht bestimmten Lehrwerke sichtbar. Die Analyse erweist sich als besonders ergiebig für die Charakterisierung der gesprochenen Sprache der Vergangenheit. Im Gesprächsbuch Klatovskys und auch in den Texten anderer Autoren seiner und der vorangehenden Zeit wird später oft, meist mit Verwunderung, der auffällig spontane Charakter des wiedergegebenen Gesprochenen hervorgehoben. Das hängt wahrscheinlich mit der sich ändernden Auffassung des Unterschieds zwischen gesprochener und geschriebener Sprache zusammen. Die gesprochene Sprache in den Gesprächsbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts spiegelt vorwiegend das wirklich Gesprochene der Zeit wider. Später dringt in die Gestaltung der gesprochenen Texte der Gesprächsbücher die geschriebene Sprache ein, die sich von der Spontaneität wegentwickelt. So gebrauchen die späteren Gesprächsbücher allmählich immer mehr die Mittel der geschriebenen Sprache, die schließlich als Ausgangspunkt der Gestaltung des Gesprochenen dient. Analogisch wird auch der Unterschied zwischen der „groben" Ausdrucksweise von früher und der späteren, verfeinerten Ausdrucksweise betrachtet. „Grob" scheint aber die Ausdrucksweise des Gesprochenen in der erwähnten Zeit nur vom heutigen Gesichtspunkt her zu sein, da sich die pragmatischen Faktoren verändert haben.

Holger Klatte, Bamberg

Fremdsprachen in der Schule. Die Lehrbuchtradition des Sebald Heyden 1. Abgrenzung der Textsorte In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts kommt es durch die sich rasch verbreitende Technik des Buchdruckes zum massenhaften Entstehen verschiedenster für den Sprachunterricht bestimmter Literatur, nämlich ein- oder mehrsprachiger Wörterbücher, Grammatiken, Orthographielehren sowie Lehr- und Konversationsbücher. Die für den Fremdsprachenunterricht in den modernen Fremdsprachen und die für den Unterricht im Griechischen oder Lateinischen bestimmte Literatur entwickelte sich in zwei Linien, die einander beeinflußten. Eine Textsorte bilden die für reisende Kaufleute bestimmten Sprachlehrbücher, die größtenteils als Konversationsbücher konzipiert waren. Sie sollten den rein praktischen Ansprüchen der Kaufleute entsprechen. Die ersten für die Aneignung des Deutschen bestimmten Lehrbücher dieser Art entstanden vor 1400 in Norditalien. 1 Die andere Sorte von Lehrmaterialien stellen die für die humanistische Lateinschulen verfaßten Vokabulare und Gesprächsbücher dar. Die Gesprächsbücher enthielten sowohl einfache als auch relativ komplizierte lateinische Dialoge, die die Schüler auswendig lernen sollten, um sich Konversationsfähigkeit in der lateinischen Sprache anzueignen. Böhmen und Mähren gehören spätestens seit 1500 zu den wichtigsten Abnehmern und Produzenten von Sprachlehrbüchern. Nicht jedes dieser Vokabulare — das erste erschien meines Wissens 1513 2 — oder Gesprächsbücher, in denen das Tschechische und Deutsche Referenzsprachen sind, kann man als tschechisch-deutsches Lehrbuch bezeichnen. Die in den böhmischen Ländern verwendeten Titel lassen sich in drei Gruppen einteilen: 1 Vgl. den beitrag von Alda Rossebastiano in diesem Band. Der früheste bekannte D r u c k ist 2

das Lehrbuch des A d a m von Rottweil von 1477. Victor, Hicronymus/Singricncr, Joannes, Dictionarius trium linguarum, Latine, Teutonice: lk>emice, potiora vocabula continens: peregrinantibus apprime utilis, W i e n 1513.

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1. Drei- oder mehrsprachige Lehrbücher und Vokabulare mit Latein als Zielsprache, in denen Tschechisch und Deutsch als gleichwertige Referenzsprachen vorkommen. Diese Lehrwerke wurden primär im Lateinunterricht eingesetzt. Die beiden Volkssprachen wurden aus Absatzgründen als Lernhilfen beigefügt. 2. Drei- oder mehrsprachige Lehrbücher und Vokabulare, in denen die Volkssprachen (immer aber das Lateinische) gleichwertig nebeneinanderstehen oder die Festlegung der Zielsprache nicht eindeutig ist. Sie wurden auch zum Erlernen der Volkssprachen verwendet. 3. Zweisprachige deutsch-tschechische Lehrwerke. Die Textsorte, die hier vorgestellt werden soll, fällt in die zweite Gruppe. Sie hat ihren Ursprung im Lateinunterricht des ausgehenden Mittelalters. Die Lehrbuchtradition des Sebald Heyden geht zurück auf die lateinischen Schülergespräche der Humanisten, also etwa das zweite Drittel des 15. Jahrhunderts, welche für Schüler zur Übung in der lateinischen Umgangssprache geschrieben wurden. In diesen Schülergesprächen werden Vorkommnisse aus dem Bereich des Schullebens oder aus dem Alltag der Schüler in Form von Musterbeispielen zum Gegenstand der Unterhaltung gemacht. Die Humanisten wollten die reine lateinische Sprache für jede Unterhaltung, nicht nur wissenschafdicher, sondern auch privater Natur, verwendbar machen und den Schülern alles vorgeben, worüber ein Schüler zu sprechen in die Lage kommen konnte. Deswegen sind diese Gesprächssammlungen eine vorzügliche Quelle für die Geschichte des Schülerlebens und der Kulturgeschichte überhaupt (vgl. Börner 1879).

2. Sebald Heyden und sein Puerilium colloquiorum

formulae

Die lateinischen Gesprächsbücher waren Sammlungen fiktiver Dialoge, die verschiedene Situationen aus dem Leben von Schülern behandelten. Die Dialoge umfaßten meist nicht mehr als zwei bis drei Seiten. Die handelnden Personen waren meist Schüler, die Themen betrafen das Schulleben. Die Gesprächspartner unterhalten sich über ihre Lehrer, den Unterricht, die Freizeit und ihre täglichen Aufgaben in der Schule oder zu Hause. Oft nehmen sie einen belehrenden oder religiösen Charakter an. Bei Sebald Heyden haben die Unterhaltungen der Schüler ihre „einfachste und natürlichste Form angenommen" (Börner 1897: 146). Heyden folgte mit seinem Lehrbuch der Tradition der Familiarum colloquiorum formulae (1518) des Erasmus von Rotterdam, deren Vorbildfunktion bereits im Titel zum Ausdruck kommt.

Die Lehrbuchtradition des Sebald Heyden

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Sebaldus Heyden, um 1490 als Sohn einer alten Nürnberger Patrizierfamilie geboren, besuchte erst die Lorenz-, dann die Sebaldusschule in Nürnberg und begab sich darauf an die Universität Ingolstadt, wo er die Magisterwürde erlangte. Nachdem er kurze Zeit in einem Städtchen in der Steiermark als Lehrer und ebenso kurz in Brück (Ungarn) als Kantor tätig gewesen war, übertrug man ihm 1520 das Rektorat der Spitalschule, die er nach den Angaben seiner Biographen zu hoher Blüte gebracht hat. 1525 wurde er zum Rektor der Sebaldusschule ernannt. Gestorben ist er am 9. Juli 1561. Heyden ist eigentlich eher auf einem ganz anderen Gebiet als dem der Sprachlehrbücher bekannt geworden. Er war Musiker und schrieb nicht nur eine breit rezipierte Musiktheorie, sondern komponierte und dichtete auch selbst. Von ihm stammt das Passionslied Ο Mensch, bewein dein Sünde groß (ca. 1520), das noch heute in den evangelisch-lutherischen Kirchengesangbüchern enthalten ist. Sein wichtigstes Sprachlehrwerk 3 , die Formulae pueHlium colloquiorum, erschien erstmals 1528 ohne deutsche Ubersetzung in Straßburg. 4 Heyden widmete es den Schülern der Sebaldusschule in Nürnberg, an der er zu dieser Zeit auch unterrichtete. Es ist das bekannteste und am weitesten verbreitete Werk in der Reihe der Schülergespräche. Im Vorwort dieses Lateinlehrbuchs gibt er Benutzungshinweise. Demnach sollte in jeder Unterrichtsstunde ein Satz, der nicht mehr als acht Silben umfaßte, zum Memorieren diktiert werden, und zwar so, daß die Sätze aneinandergereiht einen Dialog bildeten, was das Repetieren erleichtern würde. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts erlebte das Lehrbuch mindestens 40 Neuauflagen mit bis zu vier verschiedenen Sprachen (Börner 1879: 137 und Riecke 1995: 100). Riecke weist auf ein bereits 1527 in Krakau bei Hieronymus Vietor gedrucktes lateinisch-deutsch-polnisch-ungarisches Gesprächsbüchlein hin, das demnach als die erste mehrsprachige Ausgabe der Formulae gelten kann (Riecke 1995: 102). 3 Seine Grundstruktur blieb im Prinzip dieselbe. Kleine Veränderungen wurden vor3 Heyden verfaßte außerdem das lateinisch-deutsche Schulwörterbuch Nomenclatura rerum domesticarum. Ks erschien erstmals 1527 in Nürnberg bei Johan Petreius. Vgl. auch Müller 1993. 4 I'ormulae Puerilium colloquiorum, pro primis Tyronibus Sebaldine Scholae, Norimbergae per Sebaldum Heyden eorundem praeeeptorem conscriptae. Sebal. Ileyd. ad Nasutum lectorem Consultum pueris volumus, Nasute valeto. Queritur hie fruetus, gloria nulla mihi. Straßburg 1528. Druck von Balthasar Beck. Rin Rxemplar dieses Druckes befindet sich heute in der Ratsschulbibliothek Zwickau (RSB 2.722,5). Zur Diskussion über die Existenz früherer Auflagen vgl. Riecke (1995, S. 100). 5 Sein Titel lautet: Puerlilium / Colloquiorum / Formulae pro primis Tyronibus / per Sebaldum Heyden ex Comi / corum campo hinc inde collecte / iam denuo Gcrmanico Polonico ac Vngarico / ideomate illustrate.

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genommen, indem weitere Dialogszenen hinzugefügt oder die Namen der sprechenden Personen dem jeweiligen Sprachraum angepasst wurden. Die Ausgaben, die das Deutsche und Tschechische enthalten, wurden ausnahmslos in Prag gedruckt: Puerilium Colloquiorum Formulae XXXV. Latina, Bohemica, Polonica, et Teutonica lingua conscriptae, primis tyronibus accomodatissimae. Ad iuventutem, Sebal. Heyd. Ad Nasutum Lectorem. Prag 1535. Druck von Anton Codri. Puerilium Colloquiorum Formulae, Latina, Bohemica, Polonica, et Teutonica lingua brevissime conscriptae, primis tyronibus accomodatissimae. Prag 1550. Druck von Jan Kantor Had. Formulae Puerilium Colloquiorum, Latina, Bohemica, et Germanica lingua breuissime scriptae, primis tyronibus accomodatissimae, noviter recognitae. Johannes Vopatovinvs. Hue Romane puer etc., Sebald Heyden. Prag 1586. Druck von Georg Daczicenuis.

In dem Prager Druck von 1535 hat der polnische Magister Joannes Vopatoninus Radoch der deutschen Ubersetzung noch eine böhmische und polnische Fassung hinzugefügt und sich kleine Veränderungen sowie auch mehrere Einschübe erlaubt, so zwischen Dialog 16 und 17 und nach 27. Dieses Werk wurde später ohne den polnischen Text noch mehrere Male aufgelegt.

3. Entwicklung der Dialogbücher hin zum volkssprachlichen Unterricht Die Methoden des Lateinunterrichts in den Schulen des Mittelalters unterschieden sich in vieler Hinsicht von den heutigen. Sobald ein Schüler Lesen und Schreiben gelernt hatte, folgte das Auswendiglernen grammatischer Regeln. Die geschah in der Regel mit Hilfe der Ars minor des römischen Grammatikers Aelius Donatus (2. Hälfte des 4. Jahrhunderts). Die allgemein übliche Unterrichtsmethode bestand jahrhundertelang im Auswendiglernen grammatischer Regeln, die teilweise in Versform verfaßt waren. Die Volkssprache als Hilfe beim Verständnis lateinischer Wörter und Texte sollte so weit wie möglich gemieden werden, so daß die ersten Lehrwerke auch keine volkssprachlichen Ubersetzungen und Erklärungen enthielten. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts erschienen diese lateinischen Donate im deutschsprachigen Raum mit deutschen Interlinearübersetzungen (Caravolas 1994: 125). Das erste Werk dieser Art erschien 1487 (Jellinek 1968: 34). Von den gesellschaftlichen und technischen Veränderungen, die gegen Ende des 15. Jahrhunderts einsetzten, waren auch die Lateinschulen betroffen. Das Ziel des humanistischen Lateinunterrichts war es, das vulgäre mittel-

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Die Lchrbuchtradition des Sebald Heyden

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