Der Kalender als Fibel des Alltagswissens: Interkulturalität und populäre Aufklärung im 18. und 19. Jahrhundert 9783110947281, 3484810270, 9783484810273

18th and 19th century popular calendars are a singular media-historical testimony of everyday experience with an intercu

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German Pages 244 [248] Year 2005

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Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
Die ,Schreibfunktion‘ der frühneuzeitlichen Kalender: Ein vernachlässigter Aspekt der Kalenderliteratur
,Un livre peériodique pour la classe des gens qui lisent peu‘: Strukturen, Wandlungen und intertextuelle Bezüge französischsprachiger Volksalmanache des 18. und 19. Jahrhunderts
Vom ,Messager Boiteux‘ zum ,Poor Richard': Populäre Erzählerfiguren in Volkskalendern des 18. und 19. Jahrhunderts
,Ubi libertas, ibi patria‘: Zur Interkulturalität deutschamerikanischer populärer Kalender des 18. und 19. Jahrhunderts
Vom Kalender zum Taschenbuch und Almanach: Lektüre fur das Frauenzimmer im 18. Jahrhundert
Kalender – Zeitverschwender? Ein immerwährender ökonomischer Frauenzimmerkalender aus dem Jahr 1737 als Kompendium weiblicher Haushaltsführung
Kalender-Bilder: Zur visuellen Dimension populärer Almanache im 18. und 19. Jahrhundert
Volksaufklärung und Kalender: Zu den Anfangen der Diskussion über die Nutzung traditioneller Volkslesestoffe zur Aufklärung und zu ersten praktischen Versuchen bis 1780
Johann Peter Hebels Rheinländischer Hausfreund als Kalender der Aufklärung
Volkskalender als Lesestoff von Kindern und Jugendlichen: Eine Schweizer Fallstudie aus der Zeit zwischen Aufklärung und früher Moderne
Auswahlbibliographie
Ortsregister
Personenregister
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Der Kalender als Fibel des Alltagswissens: Interkulturalität und populäre Aufklärung im 18. und 19. Jahrhundert
 9783110947281, 3484810270, 9783484810273

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Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

27

Der Kalender als Fibel des Alltagswissens

Herausgegeben von York-Gothart Mix

Max Niemeyer Verlag Tübingen

Wissenschaftlicher Beirat: Karol Bai, Manfred Beetz, Rainer Enskat, Jörn Garber, Notker Hammerstein, Hans-Hermann Hartwich, Andreas Kleinert, Gabriela Lehmann-Carli, Klaus Luig, Frangois Moureau, Monika Neugebauer-Wölk, Alberto Postigliola, Paul Raabe, Gerhard Sauder, Heiner Schnelling, Jürgen Stolzenberg, Udo Sträter, Heinz Thoma, Sabine Volk-Birke Redaktion: Wilhelm Haefs Satz: Andreas Mohrig

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-81027-0

ISSN 0948-6070

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2005 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag GmbH, München http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. Druck: Guide-Druck, Tübingen Einband: Geiger, Ammerbuch

Inhalt

YORK-GOTHART MIX:

Vorbemerkung

VII

HELGA M E I S E :

Die ,Schreibfiinktion' der frühneuzeitlichen Kalender: Ein vernachlässigter Aspekt der Kalenderliteratur

1

SUSANNE GREILICH:

,Un livre periodique pour la classe des gens qui lisent peu': Strukturen, Wandlungen und intertextuelle Bezüge französischsprachiger Volksalmanache des 18. und 19. Jahrhunderts

17

HANS-JÜRGEN LÜSEBRINK:

Vom ,Messager Boiteux' zum ,Poor Richard': Populäre Erzählerfiguren in Volkskalendern des 18. und 19. Jahrhunderts . .

27

YORK-GOTHART MIX:

,Ubi libertas, ibi patria': Zur Interkulturalität deutschamerikanischer populärer Kalender des 18. und 19. Jahrhunderts

43

HELGA BRANDES:

Vom Kalender zum Taschenbuch und Almanach: Lektüre fur das Frauenzimmer im 18. Jahrhundert

57

MARIE-KRISTIN H A U K E :

Kalender-Zeitverschwender? Ein immerwährender ökonomischer Frauenzimmerkalender aus dem Jahr 1737 als Kompendium weiblicher Haushaltsführung

69

R O L F REICHARDT / CHRISTINE VOGEL:

Kalender-Bilder: Zur visuellen Dimension populärer Almanache im 18. und 19. Jahrhundert

85

VI HOLGER BÖNING:

Volksaufklärung und Kalender: Zu den Anfängen der Diskussion über die Nutzung traditioneller Volkslesestoffe zur Aufklärung und zu ersten praktischen Versuchen bis 1780

137

GUIDO BEE:

Johann Peter Hebels Rheinländischer als Kalender der Aufklärung

Hausfreund 175

ALFRED MESSERLI:

Volkskalender als Lesestoff von Kindern und Jugendlichen: Eine Schweizer Fallstudie aus der Zeit zwischen Aufklärung und früher Moderne

189

YORK-GOTHART MIX / CAROLINA KAPRAUN:

Auswahlbibliographie

213

Ortsregister

229

Personenregister

231

Vorbemerkung

Ebenso wie die Ausbreitung des Zeitungs- und Zeitschriftenwesens oder die Gründung von Leihbibliotheken, Lesegesellschaften und Klubs spielte das in ganz Europa verbreitete Medium des populären Kalenders in der Frühmoderne eine kaum zu überschätzende Rolle im Prozeß der Wissensvermittlung, des interkulturellen Transfers, der Akkulturation divergenter Sozialschichten und der Entfaltung einer breitenwirksamen Aufklärung. Stärker noch als die fast ausschließlich vom gebildeten Publikum wahrgenommene Zeitschrift dienten populäre Kalender wie der Almanach historique nomme le Messager boiteux oder Der Hinkende Bote von Vivis einer Alltagslektüre, der mit zunehmender Lesefahigkeit der Bevölkerung ein wachsender bewußtseins- und mentalitätsgeschichtlicher Stellenwert zukam. Ungeachtet dieser herausragenden Bedeutung des Kalenders im literarischen Leben des 17. bis 19. Jahrhunderts hat man sich in Frankreich, Deutschland und anderen europäischen Ländern lange Zeit nur punktuell für die Kulturgeschichte dieses Mediums interessiert. Einigen materialreichen, im Zeichen eines kulturgeschichtlichen Positivismus verfaßten Darstellungen, die sich epochengeschichtlichen Fragen oder den als bedeutend apostrophierten Reihen widmeten, standen wenige detaillierte Forschungen zu Einzelproblemen gegenüber.1 Viele Untersuchungen wurden in den Jahrzehnten nach 1900 veröffentlicht und charakterisierten oft nur ausschnitthaft das Quellenmaterial unter der zeittypischen, verkürzenden nationalliterarischen Perspektive. In einem 1999 publizierten Handbuchartikel stellte Jan Knopf lapidar fest: Außer gelegentlichen Ausstellungen von Bibliotheken, wenigen Zusammenstellungen von Dokumenten und meist geographisch begrenzten wissenschaftlichen Untersuchungen sowie nicht eigens auf den Kalender bezogenen Forschungen zu den Lesern und zum Leseverhalten verschiedener Bevölkerungsschichten gibt es keine systematische Wissenschaft vom Kalender [...], ein Befund, der auch das Fehlen von umfassenderen Bibliographien einschließt.2

Diese Forschungsdefizite sind um so erstaunlicher, als Einigkeit darüber besteht, daß der populäre Kalender des 18. und 19. Jahrhunderts als ein „einzigartiges kulturhistorisches Dokument menschlicher alltäglicher Erfahrung"3 von interkultureller Dimension anzusehen ist. Diese grenzüberschreitende Bedeutung des Medi1

2 3

Vgl. u.a. Lüsebrink, Hans-Jürgen / Mix, York-Gothart / Mollier, Jean-Yves / Sorel, Patricia (Hg.), Les lectures du peuple en Europe et dans les Ameriques (XVIIe-XXe siecle). Bruxelles 2003, S. 11-14 u. 343-348; Auswahlbibliographie, in: Fischer, Ernst/Haefs, Wilhelm/ Mix, York-Gothart (Hg.), Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 1700-1800. München 1999, S. 4 0 3 ^ 3 3 . Knopf, Jan, Kalender, in: ebd., S. 121-136, hier S. 121. Ebd., S. 135.

VIII ums verdeutlichen Kalenderreihen wie der Almanach historique nomme le Messager boiteux aus Basel, Der hinkend- und stolpernde, doch eilfertig fliegend- und laufende Reichs-Bott aus Offenbach oder der in Ohio publizierte Cincinnatier hinkende Bote. Intensiver als die populären Kalender haben massenhaft verbreitete Druckmedien wie Flugblätter, Moralische Wochenschriften oder die Volksbücher der sogenannten Bibliotheque Bleue und andere imprimis de la circulation die kulturwissenschaftliche Forschung beschäftigt: in Frankreich durch Kultur- und Mentalitätshistoriker wie Genevieve Bolleme und Robert Mandrou, in Deutschland und der Schweiz vor allem von Vertretern der Volkskunde und der literaturwissenschaftlichen Disziplinen, wobei hier die Germanistik und die von ihr entwickelte .Trivialliteratur'-Forschung eine ambivalente Rolle spielte. An die Stelle der ab Mitte der 60er Jahre dominierenden mentalitätsgeschichtlichen Untersuchungsprämissen, die eine Charakterisierung der populären Medien der Frühen Neuzeit als Zeugnisse kollektiver Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen nach sich zogen, trat in den 80er Jahren in Frankreich ein wachsendes buchhistorisch und soziokulturell ausgerichtetes Interesse für die materielle Textstruktur populärer Druckwerke, ihre sozialen Entstehungskontexte und Zirkulationsweisen. Diesen Gesichtspunkt hatte auch Wolfgang Martens bereits in seiner 1968 publizierten Studie Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften berücksichtigt. 4 Mit ihrem Band Colportage et lecture populaire. Imprimis de large circulation en Europe, XVl-XIXe siecles haben Roger Chartier und Hans-Jürgen Lüsebrink 1996 zwischen den nationalliterarisch orientierten Ansätzen erfolgreich zu vermitteln versucht; 5 die Berührungspunkte zwischen der im wesentlichen von Historikern getragenen Volksliteraturforschung in Frankreich und anderen westlichen Ländern und der schwerpunktmäßig literaturwissenschaftlich orientierten Forschung zu diesem Bereich in Deutschland und den mittel- und osteuropäischen Ländern waren zu diesem Zeitpunkt bereits unübersehbar geworden. Historiker wie Chartier bezogen sich in der Folgezeit auf Methoden und Fragestellungen der strukturalen Textanalyse sowie der literarischen Wirkungs- und Rezeptionsforschung, während Literatur- und Kulturwissenschaftler wie Lodovica Braida, Jan Knopf, Hans-Jürgen Lüsebrink, Helga Meise, Alfred Messerli, Thomas Schmidt, Reinhart Siegert oder auch Friedrich Voit in ihren Untersuchungen zur Besonderheit und Bedeutung populärer Lesestoffe des 18. und 19. Jahrhunderts im interkulturell verflochtenen Kulturraum der Schweiz, Italiens, Frankreichs, Belgiens und Deutschlands auch auf methodische Ansätze der empirischen Sozial- und Buch4

5

Vgl. Martens, Wolfgang, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968, S. 100-167. Vgl. Chartier, Roger / Lüsebrink, Hans-Jürgen (Hg.), Colportage et lecture populaire. Imprimes de large circulation en Europe, XVI-XIXe siecles. Actes du colloque έ Wolfenbüttel. Paris 1996.

IX geschichte zurückgriffen. 6 Für die Niederlande hat Jeroen Salman 1999 eine w e g w e i s e n d e Untersuchung unter d e m Titel Populair De almanak

als lectuur en handelswar

drukwerk

in de Gouden

Eeuw.

vorgelegt. 7

Der vorliegende Band referiert den aktuellen Diskussionsstand in der Volkskunde, den Literatur-, Kultur- und Geschichtswissenschaften und knüpft an z w e i Forschungsprojekte der Stiftung schaft

(DFG)

Volkswagen

und der Deutschen

Forschungsgemein-

an, die der Herausgeber zusammen mit Hans-Jürgen Lüsebrink und

Jean-Yves Mollier organisiert hat. 8 D i e insgesamt zehn Beiträge beleuchten die A n f a n g e des M e d i u m s in der Frühen Neuzeit, die Interdependenzen v o n Text und Bild, gattungstypische Eigenheiten, genderspezifische Charakteristika, die interkulturelle Relevanz und transnationale D i m e n s i o n des populären Kalenders s o w i e die herausragende Rolle dieses V o l k s l e s e s t o f f s im Prozeß einer Popularisierung der Aufklärung in Mitteleuropa und Nordamerika. A l s Auftakt untersucht M e i s e die bisher kaum wahrgenommene Schreib- und Erinnerungsfunktion des Kalenders, also die v o n Personen aus allen Ständen tradierte Eigenart des M e d i u m s als chronologisches, autobiographisches und alltagsb e z o g e n e s Vademekum, das archiviert und nicht am Ende eines Jahres w e g g e w o r fen wurde. Susanne Greilich w i d m e t sich den Strukturen, Wandlungen und intertextuellen B e z ü g e n französischsprachiger Volkskalender aus Belgien, Frankreich und der Schweiz. Ihre Studie beruht auf der Durchsicht v o n 6 3 0 verschiedenen

7

8

Vgl. Braida, Lodovica, Le guide del tempo. Produzione, contenuti e forme degli almanacchi piemontesi nel settecento. Torino 1989; Knopf, Jan, Die deutsche Kalendergeschichte. Ein Arbeitsbuch. Frankfurt/M. 1983; Chartier, Roger/Lüsebrink, Hans-Jürgen (Hg.), Colportage et lecture populaire. Imprimes de large circulation en Europe XVIe-XIXe siecles. Paris 1996; Lüsebrink, Hans-Jürgen / Jean-Yves Mollier, Presse et evenement: journaux, gazettes, almanacks (XVIIIe-XIXe siecles). Bern 2000; Meise, Helga, Das archivierte Ich. Der Schreibkalender am Darmstädter Hof 1624-1790. Darmstadt 2002; Messerli, Alfred, Propaganda und Ideologie der Schriftlichkeit in Deutschschweizer Volkskalendern, in: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 88 (1992), S. 175-205; Schmidt, Thomas, Kalender und Gedächtnis. Erinnern im Rhythmus der Zeit. Göttingen 2000; Siegert, Reinhart, Johann Peter Hebel als Genie der Popularität, in: Pietzcker, Carl / Schnitzler, Günther, Johann Peter Hebel. Unvergängliches aus dem Wiesental. Freiburg / Breisgau 1996; Voit, Friedrich, Vom ,Landkalender' zum ,Rheinländischen Hausfreund' Johann Peter Hebels. Das südwestdeutsche Kalenderwesen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Frankfurt / M. 1994. Vgl. Salman, Jeroen, Populair drukwerk in de Gouden Eeuw. De almanak als lectuur en handelswar. Zutphen 1999. Forschungsprojekt der Volkswagen-Stiftung (1997-2001) ,Populäre Druckmedien im alten und frühmodemen Europa - Strukturen, kollektive Identitätsmuster und interkulturelle Zusammenhänge (unter besonderer Berücksichtigung von Volksalmanachen aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz, 1648-1848)', (zusammen mit Prof. Dr. Hans-Jürgen Lüsebrink, Universität Saarbrücken; Prof. Dr. Jean-Yves Mollier, Universite de Versailles Saint-Quentin-enYvelines); Forschungsprojekt der DFG (2001-2004) .Kulturtransfer und Autonomisierung. Kulturvergleichende und interkulturelle Studien zu deutschamerikanischen und frankokanadischen populären Kalendern des 18. und 19. Jahrhunderts', (zusammen mit Prof. Dr. Hans-Jürgen Lüsebrink, Universität Saarbrücken).

χ Kalenderjahrgängen und analysiert die genretypischen Textsorten und intertextuellen Varianten einer charakteristischen Textmigration im Kontext der Materialität des Mediums. Lüsebrink beschreibt die populären, zwischen Oralität und Literarizität angesiedelten Erzählerfiguren, die als soziokulturelle Mittlerfiguren par excellence die visuelle und textuelle Verankerung des Mediums im Bewußtsein des europäischen und nordamerikanischen Publikums garantierten. Der Herausgeber skizziert die Bedeutung der bis dato weitgehend unbekannten deutschamerikanischen, vornehmlich in Pennsylvania erschienenen populären Kalender des 18. und 19. Jahrhunderts aus den Beständen der German Society in Philadelphia und der Shadek-Fackenthal Library in Lancaster im Prozeß eines sich differenzierenden Kulturtransfers zwischen den Polen von Akkulturation und Autonomie. Helga Brandes erläutert die Entwicklung weiblichen Lektüreverhaltens am Beispiel von drei ähnlich anmutenden, aber von ihrem Inhalt und ihrer materiellen Textstruktur her sehr divergenten Periodika: dem populären Kalender, dem literarischen Taschenbuch und dem poetischen Almanach. Marie-Kristin Hauke skizziert die in Frauenzimmerkalendern propagierten Weiblichkeitsentwürfe und analysiert die genrespezifischen Charakteristika dieses enorm erfolgreichen Periodikums. Welche Bedeutung dem Verhältnis von Text und Bild zukam, machen Rolf Reichardt und Christine Vogel auf der breiten Basis eines Korpus von 80 verschiedenen Kalendern deutlich. Nach der Durchsicht von 1480 einzelnen Jahrgängen mit über 4000 Illustrationen konkretisieren sie ihre These einer semantischen Interdependenz, ja Ebenbürtigkeit von Text und Illustration. Holger Böning äußert sich auf breiter Quellenbasis detailliert über die Entwicklung und mitunter irritierende Widersprüchlichkeit des volksaufklärerischen Diskurses über die populären Kalender des Ancien Regime. Guido Bee erhellt den von der Literaturhistorik lange Zeit ignorierten Traditionsbezug des Rheinländischen Hausfreunds von Johann Peter Hebel zur Spätaufklärung und populären Aufklärung anhand charakteristischer Dialogformen und didaktisch vermittelter Erfahrungssätze. Alfred Messerli beschreibt in seinem auf kaum genutzten Quellen basierenden Beitrag das bildungsgeschichtlich unbekannte und überraschende Faktum, daß populäre Kalender in der Schweiz im 18. und 19. Jahrhundert oftmals der einzige Lesestoff in den Grundschulen waren. Ein bibliographisches Verzeichnis am Ende des Bandes listet die angeführte Literatur auf, vermerkt aber keineswegs die, wie die Beiträge von Meise, Greilich, Reichardt, Vogel und vom Herausgeber belegen, de facto per Autopsie durchgesehenen Quellen. Die Drucklegung dieses Bandes erwies sich als außerordentlich arbeitsintensiv. Den Kollegen vom Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg bin ich für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung zu Dank verpflichtet. Dr. Wilhelm Haefs hat mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden, meine Mitarbeiterinnen Carolina Kapraun, Katrin Viktoria Mühl und

XI Dr. des. Anja Schonlau haben engagiert daran mitgewirkt, die Beiträge rechtzeitig zum Druck zu befördern. Ihnen allen gilt mein ausdrücklicher und besonders herzlicher Dank. Marburg / München im März 2004 York-Gothart Mix

HELGA MEISE ( A i x - e n - P r o v e n c e )

Die ,Schreibfunktion' der frühneuzeitlichen Kalender: Ein vernachlässigter Aspekt der Kalenderliteratur

Der folgende Beitrag rückt die ,Schreibfunktion' des Kalenders in den Blick; eine Funktion, die bislang kaum Aufmerksamkeit gefunden hat, Kalender und Kalenderliteratur des deutschsprachigen Raums aber bis ins 18. Jahrhundert hinein wesentlich mitbestimmt. Welche Rolle die ,Schreibfunktion' für den frühneuzeitlichen Kalender und die sich hier entfaltende Kalenderliteratur spielt, soll exemplarisch unter einigen ausgewählten Aspekten vorgeführt werden. Der erste Abschnitt meiner Ausführungen stellt die Schreibfunktion unter materiellem und medialem Aspekt dar: Ihre Berücksichtigung bei der Ausstattung des frühneuzeitlichen Kalenders konstituiert diesen als ,Schreibkalender'; die Bezeichnung wird zum Terminus technicus, der sich bis ins 19. Jahrhundert hinein erhält. Der zweite Abschnitt beschreibt einige der Momente des Umgangs mit dem Kalender, die sich aus der Schreibfunktion ergeben. Diese bestimmt, so zeigt sich, die Gebrauchszusammenhänge des zeitgenössischen Kalenders und prägt so seine Rezeption wesentlich mit. Schließlich soll aus dieser Perspektive das Verhältnis zwischen Schreibfunktion und Kalenderliteratur kurz beleuchtet werden. Der Erfolg des Kalenders als Druckerzeugnis setzt bereits bald nach seiner Erfindung ein. Aber erst der Blick auf seine lange Erfolgsgeschichte läßt den Wandel hervortreten, der diese markiert, den Wechsel vom ,Schreibkalender' zur,Kalendergeschichte'. Erst dieser Wechsel schafft die Voraussetzung zur Entstehung der ,Kalenderliteratur'.

I. Materialität, Medialität und Medienkombination. Der frühneuzeitliche Kalender als ,Schreibkalender' Der frühneuzeitliche Kalender kommt als Jahreskalender in Buchform um 1550 auf und avanciert nach Bibel und Katechismus schnell zum erfolgreichsten Druckerzeugnis der Epoche. Er umfaßt in der Regel zwei voneinander getrennte Teile, anfangs aus je zwei, im 17. Jahrhundert bereits auf je vier Bögen angewachsene Bücher in Heftform, das ,Calendarium' und die ,Practica astrologica', auch ,Prognosticon astrologicum' genannt. 1

Zur Geschichte des frühneuzeitlichen Kalenders unter allen Aspekten, von der Produktion des Kalenders bis hin zu seiner Distribution und Rezeption, nach wie vor unersetzbar: Matthäus, Klaus, Zur Geschichte des Nürnberger Kalenderwesens. Die Entwicklung der in Nürnberg gedruckten Kalender in Buchform, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 9 (1968/69), Sp. 965-1396.

2

Helga Meise

Das ,Calendarium', der erste Teil, enthält den eigentlichen Kalender. Es fuhrt in chronologischer Abfolge die Tage und Monate, die Kirchen- und Heiligenfesttage nach der alten und neuen Kalenderrechnung auf und vermerkt parallel dazu den Stand der Planeten. Die ,Praktica' bzw. das ,Prognosticon astrologicum', der zweite Teil, ist in der Regel an das ,Calendarium' angebunden. Unter dem Titel ,Praktik' auch einzeln vertrieben, führt der Teil die Informationen, die im ,Calendarium' in zeichenhafter Abkürzung enthalten sind, in kurzen Texten näher aus und trifft darüber hinaus astrologische Vorhersagen. Diese beziehen sich in der Regel auf einzelne Planetenkonstellationen, die Witterung der Jahreszeiten und den Eintritt von Finsternissen, Kriegen und Katastrophen wie Dürren, Seuchen und Hunger. Hinzu kommen Abschnitte, die auf einzelne Lebens- und Tätigkeitsbereiche näher eingehen. Ratschläge zur Gesundheitsfürsorge sind unverzichtbar; sodann finden sich unter Rückgriff auf Bauernregeln, Monatsverse oder -bilder weitere Tipps, etwa für die Haus-, Feld- und Viehwirtschaft, sowie ,lesbare Materien', denkwürdige Exempel oder ,Historien'. 2 Der frühneuzeitliche Kalender stellt alle zum Verlauf eines Jahres erforderlichen Informationen zur Verfügung und vermittelt sie an jedermann. Er etabliert sich, wie Klaus Matthäus in seiner grundlegenden Studie zum Nürnberger Kalenderwesen festhält, als „alltägliches Nachschlagewerk". 3 Der Vergleich mit einem Hilfsmittel, das Rat in jeder Lebenslage verspricht, legt es zum einen nahe, den Kalender als ,Medium' zu begreifen, das Wissen versammelt und weitergibt, mithin Austausch zwischen mindestens zwei miteinander kommunizierenden ,Seiten' stiftet, zum anderen, die „zentralen Funktionen" 4 dieses Mediums zu bestimmen und zu differenzieren. Die Kalenderforschung hat im Anschluß an Matthäus zwar „Orientierungs-, Informations-, Unterhaltungs- und Bildungsfunktion" 5 voneinander unterschieden, sich aber, nachhaltig beeinflußt von der Kritik des 18. und 19. Jahrhunderts am Kalender als „Hauptpostille für jung und alt", 6 bei der Erforschung einzelner Kalendertitel, -autoren und -Verleger sowie der Untersuchung von Produktion, Distribution und Rezeption des Mediums in erster Linie von zwei Begriffen leiten lassen, dem des „Volkskalenders" 7 und

2 3 4

5 6

7

Ebd., Sp. 999, 1192, 1194, 1235ff. Ebd., Sp. 1170. Sührig, Hartmut, Niedersächsische Schreibkalender im 17. Jahrhundert. Zur Kulturgeschichte eines populären Lesestoffes, in: Raabe, Paul (Hg.), Bücher und Bibliotheken im 17. Jahrhundert in Deutschland. Hamburg 1980 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens 6), S. 145-171, hier S. 155. Ebd. Marwinski, Felicitas, ,Nimm wahr der Zeit, sie eilet sich und kehrt nicht wieder ewiglich'. Ein Beitrag zur Geschichte des Volkskalenders, in: Marginalien. Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophilie 36 (1969), S. 44-61, hier S. 44. Vgl. Kleinlauth, Brigitte, Volkskalender in Unterfranken 1780-1880. Würzburg 1992 (Mainfränkische Studien 52).

Die,Schreibfunktion'

der frühneuzeitlichen

Kalender

3

dem des „populären Lesestoffes". 8 Folgerichtig prägen bis heute vor allem zwei Funktionen das Bild des frühneuzeitlichen Kalenders, seine Unterhaltungs- und Bildungsfunktion; die Forschung ihrerseits konzentriert sich entsprechend vorrangig auf Fragen der Gattungskriterien, -Zugehörigkeit und -geschichte der gebotenen ,lesbaren Materien'. Die genaue Betrachtung der überlieferten Kalenderexemplare zeigt jedoch, daß nicht nur die Begriffe ,Volkskalender' und .populärer Lesestoff zu kurz greifen, sondern auch die Rede von der ,Orientierungs-, Informations- und Unterhaltungsund Bildungsfunktion'. Die bündige Definition trägt zwar einem wesentlichen Moment des Mediums Rechnung, der Tatsache, daß es die unterschiedlichsten Informationen zusammenführt, läßt aber ein anderes Moment außer Acht, das Matthäus noch präsent,9 dann aber zunehmend aus dem Blick geraten war,10 den Umstand nämlich, daß das Medium parallel zur Bereitstellung von Daten aller Art einen weiteren Bestandteil aufweist, frei gelassenen Druckraum. Die Kalender selbst lassen keinen Zweifel daran, daß der Bestandteil wichtig, ja von zentraler Bedeutung war. Nur einige der augenfälligsten Belege seien angeführt: Da ist zunächst der materielle Befund, die Ausstattung und Einrichtung des Kalenders als Buch. So gut wie alle erhaltenen Kalender des 16. bis 18. Jahrhunderts weisen freien Druckraum auf. Ihre drucktechnische Einrichtung als solche liefert weitere Anhaltspunkte. Gleichgültig, in welchem Format die Kalender erschienen - am weitesten verbreitet waren Quart- bzw. Oktavhefte - , sie räumten durchweg freiem Druckraum einen festen Platz in der Disposition der Informationen, die sie darboten, ein. Die Kalender druckten freien Raum mit. Viele Kalendertitel besaßen über den vorgedruckten freien Raum hinaus weitere freie Seiten. Es handelt sich um

8

Petrat, Gerhardt, Der Kalender im Hause des Illiteraten und Analphabeten: seine Inanspruchnahme als Lebenshilfe vor Beginn der Aufklärung, in: Brückner, Wolfgang / Blickle, Peter / Breuer, Dieter (Hg.), Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. 2 Bde. Wiesbaden 1985 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 13), hier Bd. 2 (1985), S. 701-727; Sührig, Hartmut, Zur Unterhaltungsfunktion des Kalenders im Barock, in: ebd., Bd. 2 (1985), S. 727-741. Kritik an den Begriffen bei Sührig, Niedersächsische Schreibkalender, (wie Anm. 4), S. 155: „Rückblickend kann man allgemein zum Kalender als einer Literaturgattung der populären Lesestoffe feststellen, daß in Unkenntnis der Entwicklungsgeschichte der Kalender und der historischen Zusammenhänge dieses Kommunikationsmedium in den meisten Fällen stark romantisiert und idealisiert und in seiner Bedeutung falsch eingeschätzt wurde. Den Ausgangspunkt für dieses Vorurteil bildete der Volkskalender des 19. Jahrhunderts, von dem behauptet wurde, daß sich das ,Volk' in ihm in seinen wichtigsten Zügen erkennen könnte. Die Wirklichkeit des Kalenders sah und sieht freilich anders aus. Das reale Bild, das der Kalender vermittelt, ist oft eintönig, geprägt von einer konservativen rückschrittlichen Haltung."

9

Matthäus, (wie Anm. I), Sp. 999 u. Sp. 1166-1175. Vgl. auch Bepler, Jill / Bürger, Thomas, Alte und neue Schreibkalender. Katalog zur Kabinettsausstellung in der Herzog August Bibliothek, in: Simpliciana XVI (1994), S. 211- 253, hier S. 21 lf. Vgl. zuletzt Petrat, Gerhardt, Einem besseren Dasein zu Diensten. Die Spur der Aufklärung im Medium Kalender zwischen 1700 und 1919. München / London / New York / Paris 1992 (Deutsche Presseforschung 27), S. IX.

10

4

Helga Meise

sogenannte durchschossene Exemplare. Sie gelangten bereits in dieser Ausstattung in den Handel. Die Kalender selbst liefern über Ausstattung und Einrichtung weitere Aufschlüsse. Erste Hinweise geben ihre Titel, genauer die Titel der ,Calendarien'. Diese lauten durchgängig: ,Alter vnd Neuer Schreib-Calender'. Die Bezeichnung ist auf dem Titelblatt typographisch hervorgehoben. Die Adjektive verweisen auf die beiden Kalenderrechnungen, das Substantiv auf die Bereitstellung von freiem Druckraum. Die Bezeichnung hält zugleich fest, daß sich der freie Raum allein im ,Calendarium', dem ersten Teil des Kalenders, befindet. Die Praktiken bieten ausschließlich bedruckte Seiten, Spatii kommen nur da vor, wo Texte voneinander abgesetzt werden sollen. Dementsprechend fehlt in den Titeln, die den Praktiken vorangestellt sind, jeder Verweis auf die Existenz von freiem Raum. Die Verbindung von Kalendarium, Praktik und freiem Druckraum bildet eine feste Konstante, das Erscheinungsbild des Kalenders ändert sich während der Frühen Neuzeit kaum. Dies ist umso bemerkenswerter, als das Medium im Zuge seines großen Erfolges auf dem Buchmarkt im Laufe des 17. Jahrhunderts beginnt, sich immer mehr zu differenzieren. Die Entwicklung setzt nach 1650 ein. Neue Kalendertitel werden gestartet, neue Kalenderautoren und -Verleger drängen auf den Markt, neue Verlagsorte treten neben alteingesessene Zentren wie Nürnberg oder Frankfurt. Die neuen Kalender, z.B. Alter und Neuer Astrologischer Teutscher Friedens- vnd

ausländischer Königreiche Kriegs-Calender,u Alter und Neuer Zeit- und WunderCalender]2 oder Alter Calender /Newer Wurtz- und Kräuter-Calender,'3 lassen die alte Bezeichnung ,Schreib-Calender' zwar in den Hintergrund treten, tasten aber die übliche Ausstattung nicht an. Nach wie vor bietet das Kalendarium freien Druckraum; dieser findet sich allein hier. Die Mehrzahl der anderen neuen Titel weisen durchweg diese Ausstattung auf, in vielen Fällen versucht man zudem, alte Bezeichnung und neuen Titeln zusammenzufassen. 14 Untersucht man einzelne Kalender und geht die sich infolge ihrer langen Laufzeiten meist über Jahrzehnte erstreckenden Serien insgesamt durch, stößt man darüber hinaus auch auf ausdrückliche Hinweise darauf, daß die Kalender als ,Schreibkalender' ausgestattet sind. Diese finden sich neben den Titeln der Kaiendarien vor allem in deren Paratext. Das Privileg, das der Monopolist des Kalendergeschäftes um die Mitte des 17. Jahrhunderts, der Nürnberger Buchhändler und -drucker Wolffgang Endter, besitzt und das er etwa im Wurtz- vnd Kräuter-Calender gleich nach dem Titel des

11

12

13 14

Die Exemplare werden in verschiedenen Archiven aufbewahrt: 1650, 1663, 1667, 1670, 1671: Bayerisches Staatsarchiv Nürnberg (StA), Repertorium 129: Staats- und Schreibkalender, Nr. 304; 1668, 1669: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt (StAD), D 4 Nr. 254/12-13; 1654: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, 8° Nw. 2477. Benutzte Exemplare: 1670-1674, 1677-1688, 1691, 2693: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt (StAD), D 4 Nr. 254/14-16; Nr. 255/5-10; Nr. 256/1-6; Nr. 256/9; Nr. 256/11. Benutzte Exemplare: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, 8° Nw. 2472. Vgl. den ausführlichen Anhang bei Matthäus, (wie Anm.l).

Die,Schreibfunktion' der frühneuzeitlichen Kalender

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Kalendariums abdruckt, nennt den von ihm ebenfalls vertriebenen Schreibkalender an erster Stelle und fuhrt die sechs weiteren Titel seiner Handlung erst danach auf. 15 Die Kalenderautoren ihrerseits heben Ausstattung und Einrichtung ihres Kalenders als Schreibkalender hervor, scheinen diese aber eher widerwillig hinzunehmen. David Herlicius hält in der Widmung zu seinem Alt vnd New Schreibkalender auff das Jahr Jesu Christu MDCXXX. fest: „Günstiger lieber Leser / mehr Fixstern sind im grossen Prognostico zu finden / weil zum Schreiben muß n o t wendig Raum gelassen werden." 16 In der Titelei von Michael Krügers Schreib- und Historien-Calender 1674 heißt es: Welcher dermassen eingerichtet / daß auff jeden Tag eine denckwürdige und zu Vertreibung der Zeit nützliche Historia / neben allegirten Autoribus zu finden / darbey der wöchentliche PlanetenLauff / und so viel Platz zu schreiben / wie in Octavo oder Cantzley Calendern / darneben gezogenen Linien, darüber zu setzen / Thaler oder Gülden / Groschen / Pfen. zur Einnahme und Außgabe / an statt eines Registers zugebrauchen. 17

Wie schon dieser knappe Überblick zeigt, ist die Bezeichnung ,Schreibkalender' ein Terminus technicus des frühneuzeitlichen Kalenderwesens. Dieser ist im deutschsprachigen Raum seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Gebrauch und bleibt bis ins 19. Jahrhundert hinein in Kraft. 18 Er bezeichnet den Umstand, daß der zeitgenössische Jahreskalender in Buchform Druckraum freiläßt, um die Möglichkeit zum Schreiben bereitzustellen. Weisen die angeführten Belege, von der Materialität der Kalender bis zu den verschiedenen gedruckten Äußerungen von Autoren und Verlegern, bereits auf die zentrale Bedeutung hin, die die Ausstattung und Einrichtung des Kalenders als ,Schreibkalender' hatten und die die Zeitgenossen diesem Umstand zumaßen, so bezeugt die Tatsache, daß die erhaltenen Kalenderbestände durchgängig handschriftliche Einträge aufweisen, ihre ,Schreibfiinktion' am eindrücklichsten. 19 Schon die Tatsache als solche spricht für sich. Mustert man überdies die hier niedergelegten Notate, so ist festzustellen, daß das Spektrum der Einträge breit ist, daß diese sich auf die unterschiedlichsten Gegenstandsbereiche erstrecken und unabhängig davon in Umfang und Kontinuität variieren. Die Formel von der ,Orientierungs-, Informations-, Bildungs- und Unterhaltungsfunktion' des Kalenders muß mithin um die ,Schreibfunktion' erweitert werden. Der zeitgenössische 15 16

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Wurtz- und Kräuter-Calender 1661-1667, Privileg. So der Kalendersteller in dem Exemplar, das Georg II. v. Hessen-Darmstadt benutzt, StAD, D 4 Nr. 167/4, vgl. unten. Zit. nach Sührig, Hartmut, Die Entwicklung der niedersächsischen Kalender im 17. Jahrhundert, in: Archiv ßr Geschichte des Buchwesens 20 (1979), Sp. 329-794, hier Sp. 483f., Abb. 7. Brod, Walter M., Mainfränkische Kalender aus vier Jahrhunderten. Inkunabel- und Wappenkalender. Würzburg 1952, S. 61. Gemeint sind die bereits angeführten Bestände. Weitere Stichproben in den Universitätsbibliotheken Marburg und Frankfurt sowie dem Historischen Museum Frankfurt bestätigen das Bild.

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Kalender fungiert nicht nur als ,Nachschlagewerk', sondern auch als Aufzeichnungsfläche. Gerade in dieser Verknüpfung aber liegt seine besondere Eigenschaft als Medium, seine spezifische Medialität: Er garantiert nicht nur die bloße Vermittlung von Informationen, sondern koppelt gleichzeitig zwei verschiedene Medien aneinander und bewerkstelligt ihren Austausch, ihre Vermittlung miteinander, Druck und Handschrift.20 Während der Druck auf das Lesen rekurriert und dieses gleichsam freisetzt, lädt der freie Druckraum zum Schreiben ein, reizt dieses an.21 Der ,Schreibkalender' ist nicht nur Medium schlechthin, sondern er bewirkt und betreibt „Medienkombination".22 Indem er den Gebrauch zweier verschiedener Fertigkeiten des Benutzers erlaubt und mobilisiert, schafft er eine Kommunikationssituation, die grundsätzlich offen ist, weil sie die Entnahme von Informationen ebenso gestattet wie deren Fixierung. Daß der ,Schreibkalender' damit offensichtlich auf die Bedürfnisse seiner Benutzer reagiert, Informationen aufzunehmen bzw. festzuhalten und als solche abrufbar zu machen, bezeugt sein großer, langanhaltender Erfolg auf dem Buchmarkt.

II. Schreibfunktion und Kalendergebrauch Die Berücksichtigung der ,Schreibfunktion' des frühneuzeitlichen Kalenders zwingt zum einen dazu, seine spezifische Medialität auf der Grundlage aller ihm zugehörigen ,zentralen Funktionen' neu zu definieren, zum anderen, deren Verhältnis zueinander in den Blick zu nehmen. Geht man davon aus, daß der frühneuzeitliche Kalender sowohl an die Lese- als auch an die Schreibfertigkeit seines Benutzers appelliert, ja an die Notwendigkeit, etwas schriftlich fixieren zu müssen, werden die Kalenderexemplare, die handschriftliche Aufzeichnungen enthalten, zu einer Quellengrundlage, die entscheidende Aufschlüsse über die Gebrauchszusammenhänge des Kalenders liefert. Denn während das Lesen der Kalender zwar Spuren hinterläßt, diese aber meist nur in Marginalien bestehen, deren Sinn kaum eindeutig zu entschlüsseln ist - im Kalendarium werden immer wieder Daten angekreuzt oder unterstrichen, in der Praktik findet sich dasselbe Phänomen - , so weisen zu allererst ausfuhrlichere Aufzeichnungen den Weg zu den Kalenderbenutzern, erlauben sie doch, die spezifische Kommunikationssituation, in der sich diese befinden, in die sie sich begeben oder die sie wählen, zumindest in Ansätzen 20

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Vgl. dazu Müller, Jan-Dirk, Der Körper des Buchs. Zum Medienwechsel zwischen Handschrift und Druck, in: Gumbrecht, Hans Ulrich / Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.), Materialität der Kommunikation. Frankfurt/M. 1988 (stw 750), S. 203-217. Maas, Utz, Lesen - Schreiben - Schrift. Die Demotisierung eines professionellen Arkanums im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 59 (1985), S. 55-82. Simmler, Franz, Teil und Ganzes in Texten. Zum Verhältnis von Textexemplar, Textteilen, Teiltexten, Textauszügen und Makrostrukturen, in: Daphnis 25/4 (1996), S. 597-625, hier S. 601.

Die,Schreibfunktion'

der

frühneuzeitlichen

Kalender

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zu rekonstruieren, auf diese W e i s e den Gebrauch des frühneuzeitlichen Kalenders zu erfassen und seine Rezeption genau zu verfolgen. 2 3 A u f der Basis der erhaltenen Quellen springen vor allem drei M o m e n t e ins A u g e . D i e s e lassen z u m einen die Personen hervortreten, die einen Kalender benutzen, geben aber z u m anderen auch Auskunft über Gebrauchs- und Rezeptionsweisen der Kalender. Festzuhalten ist zunächst, daß die Kalenderbenutzer, die seit B e g i n n der frühen N e u z e i t anhand ihrer A u f z e i c h n u n g e n faßbar sind, k e i n e s w e g s allein d e m V o l k zuzuschlagen sind, d e m „ g e m e i n Mann". 2 4 D i e Schreiber sind vielmehr in allen Ständen der frühneuzeitlichen Gesellschaft zu finden. Fürsten, 25 A d l i g e 2 6 und Geistliche 2 7 gehören dazu, ebenso Kauf- und Geschäftsleute, 2 8 Stadt- und Kanzleischreiber, 2 9 Gelehrte und Ärzte, Amtsträger und Dichter, 3 0 Handwerker 3 1 und andere. 3 2 Schon diese erste

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Sührig, Niedersächsische Schreibkalender, (wie Anm. 4), S. 165: „Es fehlen vor allen Dingen regionale Untersuchungen, Analysen der Kalenderproduktionen einzelner Kalenderautoren, Studien zu Konstanz und Wandel spezifischer Kalenderinhalte (z.B. Ökonomie, Astrologie und Astronomie, Historie und Historien, Theologie, Sitte und Moral, Medizin, Kalendergeschichten), Funktion und Wandel in verschiedenen historischen Epochen. [...] Rezipientenorientierte Untersuchungen liegen bislang gar nicht vor [...] Die Lücken sind erheblich, so daß im gegenwärtigen Stadium an eine Geschichte des Kalenders noch gar nicht gedacht werden kann." So Philippus Feselius 1609, zit. nach Matthäus, (wie Anm. 1), Sp. 992. So z.B. Johann Casimir Pfalzgraf bei Rhein (1543-1592): Matthäus, (wie Anm. 1), Sp. 1191; Mittler, Elmar (Hg.), Bibliotheca Palatino. Ausstellungskatalog Heidelberg 1986. 2 Bde. Heidelberg 1986 (Heidelberger Bibliotheksschriften 24), hier Textband (1986), S. 250f; z.B. Friedrich 1. von Sachsen-Gotha und Altenburg 1667/1669 bis 1686. Tagebücher 1667-1677, hg. v. Thüringischen Staatsarchiv Gotha. Bearb. v. Roswitha Jacobsen u. Juliane Brandsch. Weimar 1998 (Veröffentlichungen aus den Thüringischen Staatsarchiven 4). So z.B. Ludwig v. Wittgenstein (1558-1605), vgl. Menke, Gerhard, Die politische Kultur in den Wetterauer Grafenschaften am Ende des 16. und zu Anfang des 17. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Wirkung monarchomachischer Theorie auf den deutschen Territorialstaat, in: Hessisches Jahrbuch fiir Landesgeschichte 34 (1984), S. 67-101; z.B. Kaspar v. Fürstenberg: Bruns, Alfred (Hg.), Die Tagebücher Kaspar v. Fürstenbergs. 2 Bde. Münster 1985/87 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen 18/19). Vgl. Schottenloher, Karl, Tagebuchaufzeichnungen in immerwährenden Buchkalendern der Frühdruckszeit, in: Schreiber, Heinrich (Hg.), Otto Glauning zum 60. Geburtstag. Festgabe aus Wissenschaft und Bibliothek. 2 Bde. Leipzig 1938, hier Bd. 2 (1938), S. 88-96. Vgl. z.B. Joachim Brandis' des Jüngeren Diarium, ergänzt aus Tilo Brandis Annalen 15281609, hg. v. Max Buhlers. Hildesheim 1903. Vgl. Brod, Walter M. / Saffert, Erich, Einige Schreibkalender des 16. Jahrhunderts, in: Miscellanea Suinfurtensia Historica IV (1964) (Veröffentlichungen des Historischen Vereins und des Stadtarchivs Schweinfurt. Sonderreihe 6), S. 1-75. Z.B. Johann Michael Moscherosch. Barockautor am Oberrhein. Satiriker und Moralist. Eine Ausstellung der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Offenburg, hg. v. der Badischen Landesbibliothek. Karlsruhe 1981, S. 46f. Z.B. Kleinlauth, Brigitte (Hg.), Der Schreibkalender des Jakob Röder 1598-1618. Würzburg 1988 (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 28). Röder, zur Zeit der Notate in Würzburg ansässig, ist Tuchscherer. Vgl. auch die Drucker und Kalendermacher [!] selbst: Brunold-Bigler, Ursula, ,Den ersten hinkenden Bott neue Zeit herausgegeben' oder die Tagebuchnotizen einer Appenzeller Kalendermacherfamilie (1771-1819), in: Schweizerisches Archiv fiir Volkskunde 79 (1983), S. 63-84.

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Übersicht erweckt den Eindruck, daß die Angehörigen höfischer, kirchlicher und städtisch-patrizischer Kreise sowie Gelehrte weitaus häufiger vertreten sind als der ,gemein Mann'. Die Aufzeichnungen der Einzelnen kreisen in der Regel auch über Jahre hinweg um bestimmte, dem eigenen Lebensbereich, den eigenen Tätigkeiten oder Interessengebieten entstammende Themen; hinzu kommt, daß die Aufzeichnungen, wie bereits erwähnt, in Umfang und Kontinuität stark variieren. Vermittelt diese kurze Liste, die einige der Benutzer greifbar macht, eine Vorstellung von der Verbreitung, den das Führen eines Schreibkalenders in der frühneuzeitlichen Gesellschaft hatte, liefert sie zugleich den ersten Hinweis darauf, daß die Kalenderbenutzer ihrem Kalender auch noch Wert beimaßen, nachdem sie ihn benutzt hatten. Anders als von der Forschung unterstellt, wurden die Kalenderexemplare nach Gebrauch ganz offensichtlich nicht weggeworfen, sondern aufbewahrt. 33 Dies spricht dafür, daß dem Schreibkalender nicht nur unmittelbarer, sondern auch mittelbarer Funktionswert zukam, daß man ihn nicht nur täglich benutzen, sondern auch erhalten und behalten wollte, sei es, um ihn - zu welchem Zweck auch immer - noch einmal zu benutzen, sei es, weil er durch den Gebrauch allein als Objekt an Wert gewonnen hatte. Daß die Benutzer an beiden Möglichkeiten interessiert waren, sowohl an einem nochmaligen Zugriff auf den abgelaufenen Kalender als auch an seiner Konservierung, demonstriert das umfangreiche Quellenkorpus, das am Hof von HessenDarmstadt überliefert ist. Das Korpus umfaßt insgesamt 177 Schreibkalender. Sie wurden zwischen 1624 und 1790 geführt, von 13 verschiedenen Personen, 6 Frauen und 7 Männern. 34 Schon auf den ersten Blick fallt auf, daß die Kalender zum einen von allen Benutzern zum Schreiben benutzt wurden, zum anderen, daß sie beinahe durchgängig ein einheitliches Äußeres aufweisen. Zwei Merkmale machen dies besonders deutlich, zum einen die Maßnahmen, die zu ihrer Erhaltung ergriffen wurden, zum anderen die Besitzvermerke, die die Kalender tragen. Festzuhalten ist zunächst, daß die Darmstädter Kalender des 17. und 18. Jahrhunderts zwar durchweg handelsübliche Schreibkalender vor allem Nürnberger Provenienz sind, daß sie aber nicht deren Äußeres aufweisen. Anders als die meisten der erhaltenen Kalender wurden die Darmstädter Exemplare mit erheblichem Aufwand neu

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Vgl. Fechner, Jörg-Ulrich, Armbrusters Lesefreuden. Zur buchgeschichtlichen Auswertung der durchschossenen Schreibkalender 1739-1789 eines Homburger Hoffaktotums, in: Buch und Sammler. Private und öffentliche Bibliotheken im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1979, S. 159-167. Rohner, Ludwig, Vorwort, in: Kalender im Wandel der Zeiten. Ausstellung in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe, hg. v. der Badischen Landesbibliothek unter Mitarb. v. Adrian Braunbehrens. Karlsruhe 1982, S. 7-32, hier S. 7; ebenso Hanisch, Manfred, Politik in und mit Kalendern (1500-1800). Eine Studie zur Endterschen Kalendersammlung, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 49 (1989), S. 59-76, hier S. 61. Zu den Aufzeichnungen selbst und ihrem jeweiligen Kontext ausführlich meine Habilitationsschrift: Meise, Helga, Das archivierte Ich. Der Schreibkalender am Darmstädter Hof 16241790. Darmstadt 2002.

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gebunden, meist in einen teuren Einband aus festem Pergament aus Schweinsleder; vier Bänder, meist aus grüner Seide, erlauben, sie zu verschließen. Auf Einband und Rücken sind die Initialen der Benutzer und die entsprechende Jahreszahl eingeprägt; der Zusatz ,Landgräfin' bzw. ,Landgraf Zu Hessen' benennt ihren fürstlichen Stand. Die meisten der Darmstädter Schreibkalender sind Quarthefte. Die Exemplare stimmen nicht nur in ihrer Ausstattung, sondern auch in äußerer Farbe und Größe überein. Blättert man sie einzeln auf, zeigt sich, daß die Maßnahmen zur Erhaltung der Bände eine Auswirkung ihres Gebrauchs sind. Die Kaiendarien mit den Aufzeichnungen der Benutzerinnen und Benutzer sind abgegriffen und zerlesen, ihre Titelblätter eingerissen und zerfetzt, einige fehlen ganz. Aber auch die neuen Einbände sind beschädigt, die Bänder abgerissen oder aus dem Einband herausgelöst. Ganz offensichtlich wurden die Schreibkalender sowohl während ihres Gebrauchs im Verlauf eines Jahres als auch nach dessen Ablauf eifrig benutzt. Daß die Exemplare außer diesen Gebrauchsspuren dieselben buchbinderischen Eingriffe erkennen lassen, legt zwei Vermutungen nahe, zum einen, daß die Schreibkalender unter den Benutzern zirkulierten, zum anderen, daß diese sich bewußt derselben Maßnahmen zu ihrer Erhaltung bedienten, daß sie dem Kalender also besonderen Wert als ,ideellem' und materiellem Gegenstand zumaßen. Daß die Kalender nach dem Tod ihrer Benutzer zusammen mit der Verlassenschaft des Verstorbenen Eingang ins fürstliche Archiv fanden, unterstreicht dies noch einmal: Gemeinsames, kostbares Äußeres und gemeinsame, sorgfaltig bewerkstelligte Aufbewahrung zeichnen die Darmstädter Schreibkalender besonders aus. Diese werden zu einem eigenen Überlieferungsträger für die landgräfliche Familie. Gleichzeitig schließt äußere Einheitlichkeit individuelle Differenzierung keineswegs aus, sind doch die Schreibkalender als Besitz des jeweiligen Benutzers eigens gekennzeichnet. Namensnennung, Beglaubigung und Eigenhändigkeit der Aufzeichnungen spielen dabei immer auf dieselbe Weise zusammen. Während die Eigenhändigkeit der Aufzeichnungen in jedem Kalender automatisch von neuem unter Beweis gestellt wird, bringen Benutzerinnen und Benutzer nicht nur Namensvermerke extra an, sondern auch den Hinweis, daß ihre Aufzeichnungen eigenhändig niedergelegt wurden. Sophia Eleonora von Hessen-Darmstadt, geborene Herzogin von Sachsen (1609-1671), bringt in ihrem ersten Kalender fur das Jahr 1624 - noch ist sie nicht mit dem Darmstädter Landgrafen vermählt - gleich auf dem Titelblatt den Zusatz an: ,f[räulein] Sophia Eleonora'. Löcher, verursacht von Holzwürmern, lassen offen, ob der Vermerk ,manu propria' folgt. 35 Während 35

Von Sophia Eleonara haben sich insgesamt 20 Schreibkalender erhalten. Die Kalender von 1624, 1638, 1641, 1644-^9, 1652-53, 1655, 1661, 1665 und 1668-70 werden in der Hessischen Hochschul- und Landesbibliothek (HLHB) aufbewahrt: Hs. 2783, die Kalender 1625, 1637 und 1643 sind Bestand des Großherzoglichen Hausarchivs, StAD D 4 Nr. 189/1. Zitate im folgenden nach dem Datum, Erläuterungen in eckigen Klammem von mir, nicht entzifferbare Stellen werden wie folgt gekennzeichnet: [?]. Ob weitere Kalender von ihr geführt wur-

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Georg II. von Hessen-Darmstadt (1605-1661), der Gemahl der Landgräfin, auf Notate dieser Art in seinen Schreibkalendern vollkommen verzichtet,36 finden sich bei Ludwig VI. von Hessen-Darmstadt (1630—1678)37 und Georg III. v. HessenDarmstadt (1632-1676) 38 , den beiden Söhnen des Paares, wiederholt Besitzvermerke und Aussagen über die Eigenhändigkeit ihrer Aufzeichnungen. Der Hinweis Ludwigs, sein Kalender für das Jahr 1642 sei ein Geschenk der ,fraw Mutter', kehrt 1650 wieder und ist auch jetzt Besitzvermerk und Beglaubigung der Eigenhändigkeit in einem: „Diesen Calender hat mir meine hochverehrte fraw Mutter zum h[eiligen] christ gegeben, darmstatt den 24.ten Decembris Ao. 1649. Ludwig lZHeßen m[anu] p[ro]p[ria]".39 Auch sein Bruder hält beides fest. 1658 heißt es: ,Georg LZH m ppria', 1670 ,Georg LZH'. Die Besitzeinträge stehen für sich, sie sind von den Aufzeichnungen in den freien Druckräumen getrennt. Bei Sophia Eleonora findet sich der Vermerk auf dem Titel, bei Ludwig VI. 1642 auf der ersten durchschossenen Seite, 1650 auf dem Vorsatzblatt des Kalenders, bei Georg III. 1658 und 1670 auf der unbedruckten Rückseite des Titelblattes, einem Ort, an dem auch Ludwig IX. von Hessen-Darmstadt (1719-1790) in seinen ersten Kalendern von 1738 bis 1743 regelmäßig seinen Namen einträgt: .Ludwig E[rbprinz] zH'. 4 0 Bei Elisabeth Dorothea von Hessen-Darmstadt (1640-1709) 41 hingegen, einer geborenen Herzogin von Sachsen-Gotha, der zweiten Gemahlin Ludwigs VI., rücken Besitzeintrag und Schriftbeglaubigung direkt an die Kalenderaufzeichnungen heran. Die Landgräfin setzt beide Notate regelmäßig über den Januarius', mit dem ihre alljährlichen Eintragungen auf der freien Schreibseite ihrer Kalender beginnen. Die Notate werden zur Überschrift, sie erscheinen besonders betont. Unabhängig davon, wo diese Angaben angebracht werden - sie machen den Benutzer des Kalenders kenntlich, weisen ihn als Besitzer aus. Der Schreibkalender, so läßt sich zusammenfassen, wird angeeignet, aus einer handelsüblichen Ware wird der Besitz eines einzelnen.

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den, ist aus den Darmstädter Beständen nicht rekonstruierbar; das gleiche gilt für alle anderen Personen. Zu den Aufzeichnungen der Darmstädter vgl. meine Habilitationsschrift. Meise, Das archivierte Ich, (wie Anm. 34). Die Kalender 1625, 1629, 1631, 1640, 1644, 1646/7 und 1656 in der HLHB: Hs. 2784, die von 1630, 1631 und 1634 im StAD D 4 Nr. 167/4. Georg führt 1631 zwei verschiedene Kalender. Zitiert im folgenden wie bei Sophia Eleonara und allen anderen nach dem Datum des Eintrags. Die Kalender 1642, 1649 (2 Exemplare), 1650, 1653, 1665, 1671 in der HLHB: Hs. 2670. Der Kalender 1656 ist entgegen der bisherigen Annahme Georg II. zuzuschreiben. HLHB: Hs. 2785/2, Bd. 1-5: 1657, 1658, 1661, 1664 u. 1670. Die Schreibung fallt - nicht nur bei Ludwig - von Fall zu Fall unterschiedlich aus; ich löse hier und im folgenden lediglich die Abkürzungen auf. Ludwig IX. hinterläßt insgesamt 53 Schreibkalender, diese umfassen die Jahre 1738-1790, StAD D 4 Nr. 509/4-522/1; HLHB: Hs. 2785: 1767. Von Elisabeth Dorothea sind 53 Schreibkalender aus den Jahren 1646-1709 überliefert, StAD, D4 Nr. 254/3-258/7. Lediglich der Kalender von 1685 fehlt, einige sind nicht mehr leicht lesbar, vgl. dazu die Ausführungen in meiner Untersuchung.

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Während Aufbewahrung und Aneignung immer auf dieselbe Weise vor sich gehen, wie die Maßnahmen zur Erhaltung und die Besitznachweise zeigen, nutzen die Besitzer die freien Druckräume ihrer Kalender auf je unterschiedliche Weise. Festzuhalten ist zum einen, daß die Mitglieder der landgräflichen Familie in der Regel bei dem einmal gewählten Schreibkalender bleiben und ihre Aufzeichnungen an der damit vorgegebenen Aufzeichnungsfläche ausrichten, zum anderen aber die Schreibfunktion des Kalenders vollkommen ausschöpfen. Die Exemplare belegen, daß die Aufzeichnungen im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts an Umfang und Kontinuität stetig anwachsen: Jede Generation schreibt mehr. Hinzu kommt, daß immer mehr Themen angesprochen werden, daß immer mehr für aufzeichnungswürdig gehalten und zunehmend auf genauere Aufzeichnungen geachtet wird, wie der Überblick über die Nutzung der Schreibkalender und einige ausgewählte Eintragsserien beispielhaft verdeutlichen. Sophia Eleonora greift ausschließlich zu Oktavkalendern, geht aber im Laufe der Zeit zu durchschossenen Exemplaren über und beginnt, sowohl in den vorgedruckten freien Druckräumen als auch auf den freien Schreibseiten zu schreiben. Die Landgräfin vermerkt Kirch- und Betgänge, mit wem die Mahlzeiten eingenommen werden und wer zu Besuch kommt, sie notiert Festaufführungen und Jagden, sei es in der eigenen Residenz oder an anderen Höfen. Sie hält die Lebenswelt des Gemahls fest sowie die des ,Frauenzimmers', streift Fragen der fürstlichen Küche, geht aber auf die eigenen Geburten ein sowie auf die der Schwiegertöchter und Hoffrauen. Unabhängig vom Thema selbst herrschen lakonische, kurze Einträge vor: 15./25.5.1644:

„In die betstund, ritt aufn wall, Versuchte den braunen hengst, den mir mein herr geben"; 12./22.4.1647: „starb mein schweißfüchsgen"; 23.10./2.11.1649: „waren abents zu Kranichstein, hörten die hirsche schreien"; 19./29.9.1653: „zogen pürschen, schoß der pürschjunge einen hirsch von 14 enden ..."; 30.12.1653/9.1.1654: „Ritt mein herr Nauß, versuchte das Neue pferdgen So Ich demselben zum hl. Christ gegeben"; 8./18.2.1655: „bekahm post dz mein böße lux zu darmstadt gefangen aber einen großen schwehren damhirsch gerissen hatt"; 12./22.8.1655: „Ließen dem rotden Hirsch das Gehörn absegen"; 15./25.11.1655: „erfur daß mein weißer Hengst tot war".

Die Fürstin erwähnt politische Ereignisse selten, erwähnt aber den ,Hessenkrieg',42 der zwischen 1645 und 1647 die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt ernsthaft bedroht: 7./17.10.1646: 10./20.10.1646: 17./27.4.1647:

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„..., erfuhren daß alßfelt am montag Uber gangen"; „..., seindt die heßen gestern vor romrott kommen"; „kam die bost daß vorgestern die franzosen Darmbstatt daß Schloß in henten kriegt,...";

Vgl. Demandt, Karl F., Geschichte des Landes Hessen. Kassel / Basel. 2., neubearbeitete Auflage 1972.

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Helga Meise 29.S./8.6.1647: 4./14.12.1647: 4./14.8.1648:

„... ist das französische regiment auß darmbstatt aufgebrochen"; „erfuren daß heute morgens die Statt Marburg mit Sturmb ubergangen"; „fuhren Nach Kranichstein, schrieb nach Butzbach, spielte mein herr mit den Printzen und Lutz [Ludwig] im Ballhaus, In die Betstund, erfuren, daß vor 5 tagen der Frieden mit den Schweden ganz geschloßen."

Georg II., der allein auf den freien Schreibseiten seiner Quartkalender schreibt und neben Jagden und Andachten die Führung der Amtsgeschäfte vermerkt, hält die Ereignisse dieses Krieges gleichfalls fest. Die Einträge des Landgrafen nennen anders als die seiner Gemahlin nicht nur die Fakten, sondern machen auch die Sorge sichtbar, mit der er als Landesherr den Krieg verfolgt: 8./18.1.[ 1646]: 9./19.1: 10./20.1.: 11721.1.: 12./22.1.: 13./23.1.: 14./24.1.: 15./25.1.: 16./26.1.:

,,V[or]M[ittags] in die Kirch. In Raht. Haben die N.heß. [Niederhessen] dz Schloß [Marburg] dz erste mahl beschoßen"; „VM in die Kirch. N[ach]M[ittags] uff den wall ... Continuirten Sie mitt dem schießen"; „VM. Post auß dem Braunschweiger lant. haben die N. heß. mitt der belägerung fortgefahren"; „VM in die Kirch NM wieder, continuirt daz Schißen noch Aber Gott lob ohn effect"; „VM in Raht. NM. In die Vesper. Wehret daz beschißen Noch. Gott helfe ferner"; „VM in Raht. N M In die Vesper. Continuiren Sie noch immer: Gott würt helfen"; „VM hielten ein Schweis NM den ganzen tag zu thun. Noch beschießen sie das Hauß Gott, h i l f ; „VM in Rath. In die kirch. Wart der lantstände proposition gethan. beschießen Sie das Hauß noch [?]"; „VM in die Kirch. Sollen sie zu M. einen Stillstand gemacht haben".

Die folgende Generation hält nicht nur besondere, sondern auch alltägliche Ereignisse im Kalender weit genauer fest und eröffnet auf diese Weise unwillkürlich Einblick in die Verfassung der Schreiber. Ludwig VI., der wie sein Vater einen durchschossenen Quartkalender benutzt und auf den freien Schreibseiten schreibt, aber gelegentlich auch im Kalendarium etwas markiert bzw. den vorgedruckten freien Druckraum nutzt, notiert etwa in aller Ausführlichkeit die Vorbereitungen zu seiner Vermählung mit Marie Elisabeth von Schleswig-Holstein (1634—1665) sowie die Feierlichkeiten selbst.43 In seinen Notaten über den plötzlichen Tod der Gemahlin geht er noch einen Schritt weiter, wenn er auf das Ereignis zweimal eingeht. Zunächst erscheint es im Zuge seiner täglichen Aufzeichnungen auf der Schreibseite: „17.[6.1665] läse, ging zur beicht, läse, Verlohr ich Meine H[erz]L[iebste] Gemahlin umb 1/2 11." Dann taucht es im vorgedruckten Schreibraum des Monats Juni noch einmal auf: 43

Vgl. dazu Meise, Helga, Gefühl und Repräsentation in höfischen Selbstinszenierungen des 17. Jahrhunderts, in: Benthien, Claudia / Fleig, Anne / Kasten, Ingrid (Hg), Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Köln / Weimar 2000 (Literatur, Kultur und Geschlecht. Kleine Reihe 16), S. 119-141.

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Den 17. Junij ist der hochbetrübliche Tag an Welchem der allerhöchste nach seinem unerforschlichen rath und gerechten alle Zeit aber guten willen, meine hertzallerliebste Gemahlin, nunmehr seelig, Mir von der Seite gerissen und durch den zeitlichen tod zu sich in seine ewige freude abgefordert und versetzet hat abents umb halb Eylf uhr alß Ihr Seel: in Schwehren KindsNöthen Uber 6. Stunden höchst schmertzlich arbeiten müßen und die verhoffte frucht dennoch nicht von ihr zur Welt zu bringen gewesen. Daß also dieser 17. Junij an welchem ich ao 1649. einen rechten frewdentag gehabt in dem selbiger Mein Verlöbniß tag gewesen, Mir Nunmehr leider zum höchstbetrübten trawertag worden. Doch Fiat Voluntas Tut der gebe gedult Kraffi und stärcke Und Zu der Ihme gefalligen Zeit eine seelige Auffahrt.

Wirkt dies wie eine Ausnahme, nicht zuletzt, weil keine späteren Schreibkalender des Landgrafen vorliegen, so wird Elisabeth Dorothea, seine zweite Gemahlin, die er 1666 heiratet, im Laufe ihrer insgesamt 53-jährigen Aufzeichnungspraxis immer genauer, da sie über jede ihrer Lebensphasen, von ihrer Kindheit am Gothaer Hof über ihre Ehe und Regentschaft in Hessen-Darmstadt bis zu ihrer Witwenschaft in Butzbach, genauere Eintragungen macht. Die Landgräfin benutzt von Anfang an durchschossene Schreibkalender im Quartformat, schreibt ausschließlich auf den freien Schreibseiten und kommt immer häufiger auch auf das eigene Ich zu sprechen. Sie erwähnt die Stimmungen, die sie bedrücken, und gibt über die Ursachen Auskunft wie etwa im Fall des Streites mit einer Hofdame, der sich auf ihrem Witwensitz ereignet: Dijenstag], den 3.[5.1707] stunde ich umb 5. Uhr auff, Betete, laß in der Bibel, thate mich an, hatte den Cammerschreiber bey mich, hatte allerhand zu thun, aßen zu mittag und abends im Eßgemach, nach dem wahre die Brennsdorferinn [die Hofdame, H.M.] lange bey mir, NB Wegen ihres mir geliehenen Capitals, und anderer schon längst passirten dinge, Worbey sie sich sehr prostituirt, und den respect vergeßen hatt, wahr ich deßhalben den gantzen Nachmittag betrübt, kahm mein Hofmeister zu mir, laß in der Bibel, abends nach dem Eßen thate ich mich gleich aus, hielte betstunde, brauchte wieder ein Clistier, Mi[ttwoch], den 4.[5.1707] stunde ich ümb 1 Uhr auff, schrieb ein Zettelgen an den amtmann, setzte der Brennsdorferinn discurs Weitläufftig auff, schrieb daran biß vier Uhr, legte mich wieder nieder, um 7 stunde ich wieder auff, Betete, laß in der Bibel, thate mich an, hatte den Cammerschreiber lange bey mich...

Wie schon die wenigen Beispiele zeigen, werden die Darmstädter Schreibkalender im Laufe des 17. Jahrhunderts immer genauer, erscheinen in ihnen immer mehr neue Themen. Dieses Bild wandelt sich im 18. Jahrhundert grundlegend. Die Mitglieder der Darmstädter Dynastie greifen zwar unverändert zu Schreibkalendern und halten hier Aufzeichnungen fest. Diese aber wirken geradezu umgestülpt. Sie nehmen zwar in Umfang und Kontinuität nicht ab, im Gegenteil, wie vor allem die 53 Kalender Ludwigs IX. bezeugen, wohl aber in ihrer thematischen Ausrichtung. Die Aussagen über das eigene Ich, die sich im 17. Jahrhundert gehäuft hatten, verschwinden. Dies ist umso auffalliger, als die Aufzeichnungen Ludwigs IX. gerade mit ausfuhrlichen Ich-Aussagen einsetzen. Der Landgraf geht von 1738 bis 1747 ausführlich auf sich selbst und seine Herzensangelegenheiten ein. Er fixiert Wünsche und Ziele: „24.4.1741. daz ich such mein eigener Herr zu werden". Er schildert seine Liebe und sein Verhältnis zu Karoline, der Prinzessin von Pfalz-Zwei-

Helga Meise

14

brücken-Birkenfeld (1721-1774), seiner Verlobten und späteren Gemahlin, genau und eingehend: „27.1.1743. ...je suis heureux, et tres heureux meme; 24.8.1743. ... heute ist der Tag der mich mit in das Grab bringen wird durch den heldenmüthigen Eigensinn meiner Frau". Ludwig kehrt sich jedoch nach einer längeren Unterbrechung in den 50er Jahren von diesen Aussagen definitiv ab und hält nurmehr zwei Themenbereiche fest, seine eigene Regentschaft sowie die militärischen Belange, denen er sich widmet. Karoline selbst fuhrt zwar von 1762 bis 1772 ihrerseits Schreibkalender,44 diese enthalten aber nurmehr äußerst lückenhafte Einträge, die sich überdies allein auf das Fixieren von Ausgaben beschränken. Die Darmstädter Schreibkalender des ausgehenden 18. Jahrhunderts erwecken den Anschein, als büße das Medium als Aufzeichnungsfläche an Attraktivität ein, als vermöchte es nicht länger das Schreiben auf die überkommene Art und Weise zu mobilisieren und freizusetzen.

III. Schreibfunktion und Kalenderliteratur Fragt man von diesem Befund aus nach dem Verhältnis zwischen Schreibfunktion und Kalenderliteratur überhaupt, erlangt ein Umstand Bedeutung, der bereits erwähnt wurde, aber gerade die Darmstädter Schreibkalender des 17. und 18. Jahrhunderts voneinander trennt. Hatten Landgräfinnen und Landgrafen im 17. Jahrhundert generell handelsübliche Schreibkalender benutzt, so ändert sich dies im 18. Jahrhundert. Ludwig IX. und Karoline benutzen durchweg Kalender, die in Straßburg gedruckt werden und die, im Unterschied zu den Kalendern Nürnberger Provenienz, keinerlei ,lesbare Materien' aufweisen. Bekräftigt der Rückgriff auf diese Kalender zum einen, daß es den Darmstädter Fürsten offensichtlich nicht auf die Lese-, sondern gerade auf die Schreibfunktion des Kalenders ankam, so erscheinen die Titel als solche im Vergleich mit den Nürnberger Kalendern merkwürdig überholt, ja geradezu unmodern, hatten doch jene bereits seit der Mitte des 17. Jahrhunderts mehr und mehr auf die Ausweitung der Lesefunktion gesetzt, immer mehr und immer neue ,lesbare Materien' in die Schreibkalender aufgenommen und auf diese Weise deren Schreibfunktion im wahrsten Sinne des Wortes an den Rand gedrängt. Erst die Abkehr von der Schreib- zur Lesefunktion schafft die Voraussetzung zur Entstehung der ,Kalenderliteratur', auf die sich auf der einen Seite die Rede vom ,Volkskalender', der ,Hauptpostille fur jung und alt', stützt und mit der sich auf der anderen Seite Namen von Dichtern wie Grimmelshausen, Hebel und Brecht verbinden, die eigens für ,Kalender', nicht aber mehr für ,Schreibkalender' schrie-

44

S t A D D 4 N r . 558/1 u. 2.

Die,Schreibfunktion'

der frühneuzeitlichen Kalender

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ben.45 Nur der Blick auf die lange Erfolgsgeschichte des Kalenders als ,Schreibkalender', wie sie sich auf Grundlage der überlieferten ,Schreibkalender' abzeichnet und etwa auf der Basis langer Traditionslinien wie der Darmstädter Kalendertradition rekonstruieren läßt, macht die Vorgeschichte der ,Kalendergeschichte' und damit der ,Kalenderliteratur' sichtbar, die sich im Anschluß an die durch den steigenden Druck des Marktes auf den ,Schreibkalender', seine Autoren und Verleger, hervorgebrachten Erfindung der .lesbaren Materien' und deren Aufwertung zur ,Kalendergeschichte' herausbilden und etablieren konnte - um den Preis der Schreibfunktion des Kalenders, ja des ,Schreibkalender' selbst.

45

Knopf, Jan, Geschichten zur Geschichte. Kritische Tradition des .Volkstümlichen' in den Kalendergeschichten Hebels und Brechts. Stuttgart 1972.

S U S A N N E GREILICH (Saarbrücken)

,Un livre periodique pour la classe des gens qui lisent peu': Strukturen, Wandlungen und intertextuelle Bezüge französischsprachiger Volksalmanache des 18. und 19. Jahrhunderts

Lange Zeit als .trivial' verschmäht, widmet die Forschung den populären Almanachen und Kalendern erst seit rund 3 0 Jahren ihre Aufmerksamkeit. D i e im deutschsprachigen Raum vorgelegten volkskundlichen Untersuchungen 1 s o w i e die Studien französischer Sozial-

und Mentalitätshistoriker 2

betrachten die

Volksliteratur,

darunter auch Almanache und Kalender, unter vorrangig drei Gesichtspunkten, nämlich erstens bezüglich ihrer Produktion und ihres Vertriebs durch ein gut organisiertes System darauf spezialisierter Verleger, z w e i t e n s in Hinblick auf die Gewohnheiten und Praktiken nur geringfügig alphabetisierter Schichten, die neben d e m Andachtsbüchlein o f t nur einen Almanach als Lesestoff besaßen,

sowie

schließlich drittens in bezug auf die Bedeutung populärer Literatur für den Wandel kultureller Normen und die Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts vor allem im deutschsprachigen Raum. 3 Ergänzt werden diese Untersuchungen durch regionalgeschichtliche, z u m Teil stark populärwissenschaftliche Studien über die G e n e s e

2

3

Vgl. etwa Schenda, Rudolf, Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe. 1770-1910. München 1977 [Frankfurt/M. '1970], Vgl. Andries, Lise, La Bibliotheque bleue au dix-huitieme siecle: une tradition editoriale. Oxford 1989 (Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 270); Bolleme, Genevieve, Les almanachs populaires aux XVIIe et XVIIIe siecles. Essai d'histoire social. Paris / La Haye 1969; Chartier, Roger, Lectures et lecteurs dans la France d'Ancien Regime. Paris 1987; ders. (Hg.), Les usages de l'imprime. Paris 1987. Vgl. Böning, Holger, Heinrich Zschokke und sein ,Aufrichtiger und wohlerfahrener Schweizerbote'. Die Volksaufklärung in der Schweiz. Bern / Frankfurt a.M. 1983; ders., Zeitungen für das , Volk'. Ein Beitrag zur Entstehung periodischer Schriften für einfache Leser und zur Politisierung der deutschen Öffentlichkeit nach der Französischen Revolution, in: Böning, Holger (Hg.), Französische Revolution und deutsche Öffentlichkeit. Wandlungen in Presse und Alltagskultur am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. München 1992, S. 467-526; ders./ Siegert, Reinhart, Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfangen bis 1850. 3 Bde., Stuttgart / Bad Cannstatt 1990ff., hier Bd. 1: Die Genese der Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780 (1990); Petrat, Gerhardt, Einem besseren Dasein zu Diensten. Die Spur der Aufklärung im Medium Kalender zwischen 1700 und 1919. München 1991; Siegert, Reinhart, Aufklärung und Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem ,Nothund Hülfsbüchlein'. Mit einer Bibliographie zum Gesamtthema, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 19 (1978). Für Frankreich vgl. Andries, Lise, Almanacs: Revolutionizing a Traditional Genre, in: Darnton, Robert / Roche, Daniel (Hg.), Revolution in Print. The Press in France 1775-1800. Berkeley 1989, S. 203-222.

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Susanne Greilich

und Geschichte einzelner französisch- und deutschsprachiger Almanache wie den Messager boiteux oder den Appenzeller Kalender.4 Die Literaturwissenschaft hingegen hat dem Volksalmanach bisher nur wenig Beachtung geschenkt. Zwar ist über andere Typen von Almanachen wie etwa die Musenalmanache vor allem im deutschen Sprachraum schon intensiv geforscht worden5 und im Bereich der Volksliteratur liegen verschiedene Studien insbesondere zum Märchen und zur Sage vor. Was jedoch die Gattung des ,Volksalmanachs' und ihre Charakteristika angeht, so blieben detailliertere Untersuchungen wohl aufgrund der unübersichtlichen Quellenlage und der schweren Zugänglichkeit zu den noch vorhandenen Beständen sowie der noch immer verbreiteten Vorurteile vom sensationell-schaurigen Inhalt der Almanache bzw. ihrem vermeintlich ausschließlichen ,Gebrauchscharakter' - bislang ein Desiderat der Forschung. Diese Lücke zu schließen war Ziel meiner Arbeit, die 2002 als Promotionsschrift im Fach französische Kulturwissenschaft' an der Universität des Saarlandes vorgelegt wurde. Das Hauptinteresse der von mir vorgenommenen Untersuchung galt der Analyse der formalen und inhaltlichen Gestaltung französischsprachiger Volksalmanache der Frühmoderne, ihrer Struktur, den von ihnen verwendeten Textsorten, eventuellen intertextuellen Bezügen. Eine solche Analyse erschien besonders interessant vor dem Hintergrund des Aufschwungs des Zeitungs- und Zeitschriftenwesens im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts: Welches Konzept besaß ein Periodikum wie der Volksalmanach, der sich, obgleich er nur einmal jährlich erschien und Vgl. Desponds, Liliane, Messager boiteux. Trois siecles d'histoire au travers du terroir. Yens 1996; Graf, Johann H., Historischer Kalender oder der Hinkende Bot. Seine Entstehung und Geschichte. Ein Beitrag zur bernischen Buchdrucker und Kalendergeschichte. Bern 1896; Lefitz, Joseph, Der Colmarer Hinkende Bote. Ein Streifzug durch seine mehr als 250-jährige Geschichte, in: Annuaire de Colmar. Colmarer Jahrbuch (1936), S. 120-149; Mayor, JeanClaude, Vie d'un Almanach. Le Messager boiteux de Beme et Vevey. Vevey 1957; Thürer, Georg, 250 Jahre Appenzeller Kalender. Ein Beitrag zur Literatur des kleinen Mannes, in: Rohrschacher Neujahrsblatt 62 (1972), S. 125-144; Wiedemann, Inga, ,Der Hinkende Bote' und seine Vettern. Familien-, Haus- und Volkskalender von 1757 bis 1929. Katalog der Kalendersammlung des Museums für Deutsche Volkskunde. Berlin 1984 (Schriften des Museums für Deutsche Volkskunde Berlin 10); Wiedemann, Herbert, ,Portrait des Lahrer Hinkenden Boten', in: Geroldsecker Land. Jahrbuch einer Landschaft 17 (1975), S. 55-68. Für den Bereich der deutschen Kalender vgl. außerdem die fundierten Arbeiten von Knopf, Jan, AlltagesOrdnung. Ein Querschnitt durch den alten Volkskalender. Aus württembergischen und badischen Kalendern des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 1983; ders., Geschichten zur Geschichte. Kritische Tradition des ,Volkstümlichen' in den Kalendergeschichten Hebels und Brechts. Stuttgart 1973; ders., Kalender, in: Fischer, Ernst / Haefs, Wilhelm/ Mix, YorkGothart (Hg.), Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland 17001800. München 1999, S. 121-136. 5

Vgl. Mix, York-Gothart (Hg.), Die Almanach- und Taschenbuchkultur des 18. und 19. Jahrhunderts. Wiesbaden 1996 (Wolfenbütteler Forschungen 69); ders., Die Deutschen Musenalmanache des 18. Jahrhunderts. München 1987; ders. (Hg.), ,Kalender? Ey, wie viel Kalender!' Literarische Almanache zwischen Rokoko und Klassizismus. Katalog zur Ausstellung im Zeughaus der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 15. Juni bis 5. November 1986. Wolfenbüttel 1986.

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sich zumindest in seiner rein äußeren Gestaltung an barocken Vorbildern orientierte, neben modernen Medien wie den gazettes und journaux behaupten konnte neben Medien, die nicht nur immer zahlreicher wurden, sondern ihre Leserschaft auch in immer kürzeren Abständen mit Informationen versorgten? Gab es Parallelen zu und Austauschprozesse mit Zeitungen und Zeitschriften - und wenn ja, welche? Verharrten die Volksalmanache tatsächlich so starr in ihren althergebrachten Strukturen, wie es ihnen heute noch gelegentlich vorgeworfen wird? Oder nahmen literarische Strömungen und ideengeschichtliche Bewegungen wie die Aufklärung Einfluß auf ihre textuelle Gestaltung? Eine detaillierte Beschreibung und Analyse der Struktur französischsprachiger Volksalmanache sollte schließlich die Grundlage dafür schaffen und im Vergleich mit anderen, bereits vorliegenden Untersuchungen klären, ob es gemeinsame Merkmale aller europäischer populärer Kalender der Frühmoderne gegeben hat, um so einer genaueren Bestimmung des zumindest aus literaturwissenschaftlicher Sicht immer noch vagen Begriffs ,Volksalmanach' ein Stück näher zu kommen. Grundlage der Untersuchung bildeten die zwei bekanntesten und erfolgreichsten französischsprachigen populären Kalender der Frühmoderne: der seit der Mitte des 17. Jahrhunderts in Lüttich herausgegebene Almanach ... suppute par Maitre Mathieu Laensbergh sowie der seit Beginn des 18. Jahrhunderts auch in französischer Sprache verlegte Volksalmanach des Typs Messager boiteux {Hinkender Bote), der in Frankreich, Deutschland und der Schweiz entlang des Rheins vertrieben wurde. Von diesem Kalendertyp wurden die vier bedeutendsten Serien des 18. und 19. Jahrhunderts analysiert, nämlich die Basler Messagers boiteux der Verleger Decker und Mechel, der Messager boiteux de Colmar und der Messager boiteux de Berne et Vevey, sowie der oftmals als „kleiner Bruder des Hinkenden Boten" bezeichnete, in Basel und Montbeliard herausgegebene Postilion de la Paix et de la Guerre. Der Auswahl der genannten Almanachserien aus der Fülle der Almanach- und Kalenderproduktionen der Frühmoderne lagen die folgenden Überlegungen zugrunde: Da bisher keine, wie auch immer geartete Beschreibung der Merkmale einer Gattung , Volksalmanach' vorgelegt worden war, der Begriff aber in der Literatur etwa für die Almanache der Revolutionszeit, den Grand calendrier compost des bergers, den Almanach de Liege und die Messagers boiteux und in Abgrenzung zu beispielsweise den administrativen und den literarischen Almanachen verwendet wird,6 mußte ich mich bei der Frage, welche Publikationen zu den Volksalmanachen gezählt werden können, an den Abgrenzungskriterien der Volkskundler und Mentalitätshistoriker orientieren, die die Rezeption des Volksalmanachs durch breite Schichten des Volkes sowie den hohen Diffusionsgrad der Publikation als

6

Vgl. Lüsebrink, Hans-Jürgen, Der ,Almanach des Muses' und die französische Almanachkultur des 18. Jahrhunderts, in: Klussmann, Paul Gerhard / Mix, York-Gothart (Hg.), Literarische Leitmedien. Almanach und Taschenbuch im kulturwissenschaftlichen Kontext. Wiesbaden 1998, S. 3-15.

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Susanne Greilich

maßgebliche Charakteristika erachten.7 Auch erschien es sinnvoll, solche Publikationen heranzuziehen, die von den Zeitgenossen selbst als ,Volksalmanache' betrachtet worden sind. Dem Begriff des , Volkes' wurde die neutrale und relativ weite Definition Holger Bönings und Reinhart Siegerts zugrunde gelegt, nach der unter dem Volk der Teil der Bevölkerung zu verstehen ist, der keine höhere Bildung erfahren hat.8 Dies Schloß aus der Gruppe der Volksalmanache zunächst einmal all jene Almanachpublikationen aus, die sich offensichtlich an eine gebildete Leserschaft wandten, wie alle administrativen und literarischen Almanache, die von den höheren Schichten rezipiert wurden. Ferner erschien es auf der Grundlage der oben genannten Definition auch geboten, all jene Almanache aus der Analyse auszuklammern, die lediglich fur eine bestimmte Berufsgruppe und nicht für breitere Schichten des Volkes bestimmt waren, selbst dann, wenn diese Berufsgruppe zum ,Volk' zählte. Aus diesem Grund wurde auf alle Almanache, die explizit für Bauern bestimmt waren, verzichtet. Die Zielsetzung, die Gestaltung der Volksalmanache auch vor dem Hintergrund des aufstrebenden Pressewesens und in Hinblick auf eventuelle Einflüsse der Aufklärung zu untersuchen, führten zur Konzentration auf das 18. und 19. Jahrhundert als Untersuchungszeitraum. Almanache wie der Calendrier compost des bergers, dessen Geschichte bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht, wurden folglich ausgeschlossen. Der Anspruch, eventuell eintretende Entwicklungen und Veränderungen in der Gestaltung der Volksalmanache im 18. und 19. Jahrhundert aufzuzeigen, ließ es schließlich als das Beste erscheinen, nur solche Typen von Kalendern auszusuchen, die auch während dieser beiden Jahrhunderte durchgängig veröffentlicht worden sind. Die Almanachpublikationen der Französischen Revolution mußten daher ebenso außer Acht gelassen werden wie die um die Mitte des 19. Jahrhunderts publizierten ,almanachs populaires'. Die Konzentration auf den Almanach de Liege und den Messager boiteux erschien folglich ideal: Beide Almanache weisen eine durchgehende Erscheinungsdauer vom 18. bis ins 19. Jahrhundert auf. Sie wandten sich an ein breites, wenig alphabetisiertes bzw. wenig lesendes Publikum und wurden bereits im 18. Jahrhundert als , Volkslektüre' betrachtet - man denke hier an die Beschreibung LouisSebastien Merciers in Tableau de Paris.9 Auch den Forschern des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts gelten sie als zwei der bedeutendsten Volksalmanache der Frühmoderae. Hinweise der Verleger auf die hohe Auflagenzahl ihrer Almanache und - im Falle des Messager boiteux - die Vielzahl der Verlagsorte legen ferner

7

8

9

Vgl. Chartier, Roger / Lüsebrink, Hans-Jürgen (Hg.), Colportage et lecture populaire. Imprimes de large circulation en Europe XVIe-XIXe siecles. Paris 1996. Böning / Siegert, (wie Anm. 3), hier Bd. 1: Die Genese der Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780 (1990), S. IX-X. Vgl. Mercier, Louis-Sebastien, Tableau de Paris. Nouvelle edition corrigee et augmentee, hg. v. Jean-Claude Bonnet, Paris 1994 [Kommentierte Neuausgabe der Ausgabe Amsterdam 1783].

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einen hohen Verbreitungsgrad der beiden Volkskalender im frankophonen Europa nahe. Was den Untersuchungszeitraum anbelangt, so lag der Schwerpunkt der Analyse auf dem 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese zeitlichen Grenzen waren indes stellenweise fließend. Im Fall des Almanach de Liege wurde - was die Auswertung der inhaltlichen Gestaltung und Struktur dieses Volkskalenders betrifft - bereits im 17. Jahrhundert mit der Analyse begonnen. Die früheste, noch erhaltene Ausgabe des Almanachs datiert auf das Jahr 1641. Es erschien nützlich, die Exemplare der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zumindest kursorisch zu betrachten, um eventuelle Abweichungen zu den Jahrgängen des 18. Jahrhunderts feststellen zu können. Tatsächlich hat sich dieses Vorgehen als sinnvoll und fruchtbar erwiesen. Das Jahr 1860 bildete den zweiten Eck- und Endpunkt der Untersuchung. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts begannen die Almanache durch den Aufschwung der Tages- und Wochenpresse und die zunehmende Alphabetisierung der Bevölkerung ihre Bedeutung als Informationsmedium immer mehr zu verlieren. Das erste Drittel des 19. Jahrhunderts erhielt daher als Umbruchphase verstärkt Beachtung. In dieser Zeit erhielten die Almanache eine Struktur, die sie wie die Betrachtung der nachfolgenden Jahrgänge zeigte - in den nächsten Jahrzehnten beibehalten sollten. Eine weitergehende Betrachtung über die Jahrhundertmitte hinaus war daher nicht von Interesse. Die Untersuchung nähert sich den Textsorten und intertextuellen Bezügen in den französischsprachigen Volksalmanachen des 18. und 19. Jahrhunderts in zwei Perspektiven. Zum einen wurden auf der Grundlage quantitativ-systematischer Erhebungen, wie sie in der Vergangenheit insbesondere in der französischen Presseund Alphabetisierungsforschung Anwendung gefunden haben, von rund 630 Jahrgängen des Almanach de Liege, des Messager boiteux und des Postilion de la Paix et de la Guerre die textuelle Struktur und inhaltliche Gestaltung französischsprachiger Almanache der Frühmoderne und die diesbezüglichen Veränderungen im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts analysiert. Besonderes Augenmerk erhielt der Einfluß der Aufklärung auf die Gestaltung der Almanache. Anhand von Fallbeispielen wurden auf der anderen Seite die intertextuellen Bezüge in den Volksalmanachen, die Formen von ,Textrecycling' und Texttransfer untersucht und die Quellen beleuchtet, aus denen sich die Volksalmanache bei ihrer Komposition speisten. Die Analyse der Struktur von Messager boiteux und Almanach de Liege hat es erlaubt, die Charakteristika des Volksalmanachs im Vergleich zu anderen Pressemedien der Zeit, wie Zeitungen, Zeitschriften und Flugblättern, sowie die Verflechtungen mit und die Parallelen zu diesen und anderen Publikationsformen herauszuarbeiten. Aus den Bedingungen und Verfahren der Produktion populärer Almanache, aus ihrer Ausrichtung auf ein wenig lesendes, z.T. kaum alphabetisiertes Publikum resultierten spezifische Merkmale, die die Stellung des Volksalmanachs in der Presselandschaft der Frühmoderne zu umreißen vermögen.

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Susanne Greilich

Auffalligstes Charakteristikum der Volksalmanache ist ohne Zweifel ihr weites Spektrum an Textsorten, das vom zum unmittelbar praktischen Gebrauch bestimmten Kalender, über Wettervorhersagen der Ephemerides sowie Aderlaß-, Rechen-, Münz- und Gewichtstafeln hin zu politischen und vermischten Nachrichten reicht, die ab dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts durch Anekdoten, Exempla, Erzählungen und Reiseberichte ergänzt bzw. ersetzt wurden. Mochte der Almanach vielleicht auch in manchem bürgerlichen Haushalt des 18. und 19. Jahrhunderts zu finden gewesen sein, so hatte er insbesondere die Bedürfnisse des Teils seiner Leserschaft zu berücksichtigen, dessen finanzielle Mittel fur den Kauf gedruckten Schrifttums ebenso wie die Lesefertigkeiten gering waren und für den der Almanach daher neben der Bibel die einzige Lektüre blieb. Aus dem Kauf des ,Iivre periodique' sollte dieser Leserschaft ein möglichst großer Nutzen erwachsen Messager boiteux und Almanach de Liege wurden diesem Umstand gerecht. Als wahrhafte „universites ä la maison"10 deckten sie die unterschiedlichsten Ansprüche ihrer Leser ab und erfüllten insbesondere vier Aufgaben: Sie leisteten praktische Hilfestellung im Alltag, informierten über das aktuelle Weltgeschehen, unterhielten und unterrichteten über moralische Grundsätze. Diese Strategie verfolgten im übrigen nicht nur die französischsprachigen Volksalmanache der Frühmoderne. Auch die deutschen, holländischen, italienischen und spanischen Volkskalender hatten das mehrfache Ziel der Information, der Unterhaltung und der Erziehung, und ihr Textsortenspektrum war infolgedessen ähnlich breit wie das der französischsprachigen Almanache - wie die Arbeiten etwa von Jeroen Salman, Lodovica Braida und Guy Mercadier gezeigt haben." Neben der praktischen Hilfestellung im Alltag stand die Information über das Weltgeschehen bis zum letzten Drittel des 18. Jahrhunderts noch im Zentrum von Messager boiteux und Almanach de Liege. Daher dominierten politische Nachrichten und faits divers den Relation curieuse genannten Teil dieser Almanache und die Berichterstattung verlor im Zuge des Aufschwungs der periodischen Presse immer mehr an Bedeutung. Politische und vermischte Nachrichten wurden im Almanach de Liege durch Prophezeiungen ersetzt, in den Volkskalendern des Typs Messager boiteux hielten zunehmend Erzählungen, Anekdoten und auch Reise10

"

Ich übernehme hier eine Formulierung des französischen Kollegen Guy Mercadier. Vgl. Mercadier, Guy, Epanouissement et evolution de l'almanach en Espagne au XVIIIe siecle, in: Lüsebrink, Hans-Jürgen / Mix, York-Gothart / Mollier, Jean-Yves / Sorel, Patricia (Hg.), Les lectures du peuple en Europe et dans les Ameriques (XVIIe-XXe siecle). Bruxelles 2003, S. 97104. Vgl. Braida, Lodovica, Gli almanacchi italiani settecenteschi. Da veicolo di ,falsi pregiudizi' a ,potente mezzo d'educazione', in: Gli spazi del libro nell'Europa del XVIII secolo. Bologna 1997, S. 193-215; dies., Le guide del tempo. Produzione, contenuti e forme degli almanacchi piemontesi nel settecento. Torino 1989; Mercadier, Guy, Une forme breve peut en porter bien d'autres: l'Almanach en Espagne au XVIIIe siecle, in: Fragments et formes breves. Universite de Provence 1990 (Etudes hispaniques 17), S. 49-69; Salman, Jeroen, Information, education et distraction dans les almanachs hollandais au XVIIe siecle, in: Lüsebrink / Mix / Mollier / Sorel, (wie Anm. 10), S. 49-58.

, Un livre periodique pour la classe des gens qui lisent peu'

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berichte Einzug. Zugleich machte sich der Einfluß der Aufklärung auf den populären Almanach bemerkbar. Vor allem die Messagers boiteux widmeten sich der Verbreitung neuen (veterinär)medizinischen Wissens und der moralischen Belehrung ihrer in weiten Teilen ländlichen Leserschaft. In zahllosen Beispielgeschichten wurde gegen Aberglauben und religiösen Fanatismus gekämpft, wurden Mildtätigkeit, Toleranz und Freundschaft propagiert und Sklaverei und Sklavenhandel verdammt. Die Almanache kamen hier zum einen den Forderungen deutscher und schweizerischer Aufklärer nach Reformierung der Volkskalender und ihrer Nutzbarmachung für die Instruktion der breiten Bevölkerung über neue wissenschaftliche Kenntnisse und aufgeklärte Moralvorstellungen nach, zum anderen entsprach insbesondere das massive Auftreten der sogenannten anecdotes emouvantes in den Volksalmanachen einem Trend, der in der periodischen Presse im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts insgesamt zu beobachten war.12 Die inhaltliche Gestaltung der Volksalmanache der Frühmoderne war also weit weniger starr als noch vielfach angenommen. Die Messagers boiteux zeigten sich vielmehr empfanglich für neue gesellschaftliche, publizistische und literarische Strömungen. Die Reflektion aufklärerischen Gedankenguts und die verstärkte Aufnahme von Beispielgeschichten und ,anrührenden Anekdoten' in die Relation curieuse sind nur zwei Beispiele für diese .Porosität' des Volksalmanachs. Als weitere Beispiele sind die Sinophilie und die Orientbegeisterung des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zu nennen. Die Almanache lieferten ihren Lesern nicht nur zahlreiche Reisebeschreibungen orientalischer Länder und machten ,Türken' und Asiaten zu den tugendhaften Protagonisten ihrer Exempla, auch die literarische Mode orientalischer bzw. orientalisierter Märchen, die Frankreich und Deutschland nach der Veröffentlichung der Mille et une nuits durch Antoine Galland ergriff, spiegelt sich in den Volksalmanachen wider:13 Die Histoire d'Ali Cogia marchand de Bagdad aus den Mille et une nuits ist in den Messagers boiteux etwa ein Jahrhundert nach der Erstveröffentlichung durch Galland publiziert worden; wesentliche Motive des Märchens finden sich aber bereits in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts in anderen Erzählungen des Almanachs mit orientalischem Dekor', wie der Geschichte vom Juge prudent.H Der in Bagdad spielende Schwank Les Pantouffles im Messager boiteux de Basle aus dem Jahr 1793 von Decker ist der Mode der orientalisierten Märchen wohl ebenso zuzuschreiben wie die Veröffentlichung 12

13

14

Vgl. Sgard, Jean, L'anecdote emouvante en 1775, in: Duranton, Henri / Retat, Pierre (Hg.), Gazettes et Information politique sous l'Ancien Regime. Saint-Etienne 1999 (Lire le Dix-huitieme Siecle), S. 419-429. Vgl. Greilich, Susanne, La representation de peuples et de cultures orientaux dans l'almanach du ,Messager Boiteux' au siecle des Lumieres, in: Lotterie, Franchise / McMahon, Darrin (Hg.), Les Lumieres europeennes dans leur relation avec les autres grandes cultures et religions. Paris 2002, S. 191-211; dies., Les figures de l'exotisme dans les almanachs populaires europeens aux XVIII-XIXe siecles, in: Lüsebrink/ Mix / Mollier/ Sorel, (wie Anm. 10), S. 271-279. ,Le juge prudent', in: Messager boiteux de Berne. Vevey 1788, o.S.

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Susanne Greilich

der in China spielenden Liebesgeschichte L'Orpheline Couronnde im Messager boiteux de Berne von 1765. Volksalmanache wie der Messager boiteux und der Almanach de Liege können nicht losgelöst von den übrigen Pressepublikationen des 18. und 19. Jahrhunderts betrachtet werden. Sie sind mitnichten kuriose ,Zauberbücher' gewesen, wie manche Studien nahe legen, 15 oder am Rande der Literatur- und Presselandschaft stehende Phänomene, sondern waren vielmehr mit jener eng verflochten. Als Hauptlektüre von Bevölkerungsschichten, die wenig lasen und zudem nur geringe finanzielle Mittel fur den Kauf gedruckten Schrifttums aufbringen konnten oder wollten, mußten die Volksalmanache in den Produktionskosten gering gehalten und dennoch stets auf den aktuellen Stand gebracht werden. Die schlechte Qualität des Papiers und die Verwendung grober Holzschnitte anstelle feinerer, aber auch wesentlich teurerer Kupferstiche für die Illustrationen des Almanachs gingen auf das Bemühen der Verleger um eine kostengünstige Produktion der Volkskalender zurück. Finanziellen Restriktionen unterlagen die Verleger, die in aller Regel ebenfalls den Druck der Volkskalender übernahmen, darüber hinaus hinsichtlich der Beschaffung des Materials, d.h. der Nachrichten und Texte, aus denen die Almanache komponiert wurden. Die Beschäftigung eigener Autoren für das Verfassen von Artikeln konnten sich die Verleger von Messager boiteux, Postilion de la Paix et de la Guerre oder Almanach de Liege nicht leisten, die Almanache mußten vielmehr aus im wesentlichen bereits vorhandenem Material zusammengesetzt werden. Die Erstellung eines Volkskalenders bedeutete also Textcollage, für die die Verleger neben ihrem eigenen sogenannten Kalenderfundus auf Zeitungen und Zeitschriften, Anekdoten- und Märchensammlungen sowie andere Almanache zurückgriffen, deren Texte sie kopierten, umschrieben, kürzten und ergänzten. Dieses ,Textrecycling' führte zu niedrigen Produktionskosten, trug zu hohen Absatzzahlen bei und sicherte somit den Gewinn der Verleger. Zugleich resultierte aus ihm eine enge Einbindung der Volksalmanache in die Presse- und Buchlandschaft des 18. und 19. Jahrhunderts, die die oft sorgsam gezogene Trennlinie zwischen hoher Literatur für die gebildeten Schichten und t r i vialer' Literatur für das ungebildete Volk verwischt und generell in Frage stellt. Die Publikation einer adaptierten Fassung des Textes Generosite d'une jeune Angloise, der der moralischen Wochenschrift Le Pour et contre des Abbe Prevost entnommen ist, durch den Messager boiteux de Basle von 173616 sowie die massenhafte Verbreitung von Prosper Merimees Erzählung Vision de Charles XI. in französischer und deutscher Sprache durch den Grand Messager boiteux de Stras15

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Vgl. Desponds, Liliane, Messager boiteux. Trois siecles d'histoire au travers du terroir. Yens u.a. 1996, S. 84. Le Pour et contre, 60/4 (1734), 337-341, in: Prevost, Antoine Francois u.a., Le Pour et contre (nos. 1-60), hg. v. Steve Larkin. Oxford 1993 (Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 309), S. 643-644; Generosite singuliere & galante d'une belle Angloise, in: Messager boiteux. Basle 1736, o.S.

, Un livre periodique pour la classe des gens qui lisent peu'

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bourg bzw. den Großen Straßburger Hinkenden Boten, 14 Jahre vor der offiziellen' Übersetzung des Merimee-Textes ins Deutsche, 17 sind nur allzu deutliche Beispiele dafür, daß die Dichotomisierung von hoher und ,niederer' Literatur als obsolet zu betrachten ist. Intertextuelle Beziehungen zwischen traditionellen Volksalmanachen wie dem Messager boiteux und anderen Buch- und Pressepublikationen ihrer Zeit lassen sich im übrigen keineswegs nur in Form von Transfers literarischer Texte und Moden (wie dem orientalisierten Märchen) hin zu den vielfach als Gebrauchsliteratur verkannten Volkskalendern feststellen. Dem literarisch zweifellos anspruchsvollen Rheinländischen Hausfreund Johann Peter Hebels hat der im 19. Jahrhundert auf eine mehr als 130-jährige Geschichte zurückblickende Hinkende Bote für die Konzeption als Vorbild gedient. Daß sich manche der Hebeischen „Kalendergeschichten" später in den Almanachen des Typs Messager boiteux wiederfanden (wie etwa die Geschichte vom Unverhofften Wiedersehen),18 zeugt einmal mehr von der engen Verzahnung dieser Volkskalender mit Presse und Literatur ihrer Zeit. Vom Messager boiteux hat Hebel unter anderem das Konzept der integrierenden Erzählerfigur übernommen, die den einzelnen Texten des Almanachs eine Verbindung gibt und den Lesern zugleich als Identifikationsfigur diente. Der ( k r i e g s v e r sehrte Kolporteur, den der ,Hinkende Bote' repräsentiert, war den Almanachlesern aus ihrem Alltag bekannt. In seiner Tätigkeit als Astronom bzw. Astrologe und Geschichtsschreiber vermittelte der ,Messager boiteux' Antoine Souci Autorität, wie es auch der Mathematicus Mathieu Laensbergh als Erzählerfigur des Almanach de Liege tat. Dennoch geben sich sowohl Mathieu Laensbergh wie auch ,Hinkender Bote' als Männer des Volkes aus, die die Sorgen und Nöte ihrer Leser teilen und ihnen mit Rat und ermutigenden Worten hilfreich zur Seite stehen - der Nachnahme der Erzählerfigur des Messager boiteux, Souci (deutsch: Sorgmann), verweist in aller Deutlichkeit auf diesen Aspekt. Ihrem Volkskalender, so lautete die implizite Botschaft, konnten die Leser sowohl auf fachlicher wie auch auf persönlicher Ebene Vertrauen schenken. Zugleich vermochte der Almanach vermittels seiner Erzählerfigur die Hemmungen und Vorbehalte seines wenig alphabetisierten und selten lesenden Publikums vor gedrucktem Schrifttum abzubauen, indem er eine den Lesern vertraute mündliche Kommunikationssituation simulierte.

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Nächtliches Gesicht Karls XI, Königs von Schweden, in: Der Große Straßburger Hinkende Bote. Straßburg 1832; bzw.: Vision de Charles XI, Roi de Suede, in: Messager boiteux de Strasbourg. Straßburg 1832. Die erstmals 1829 in der Juli-Ausgabe der Revue de Paris veröffentlichte Erzählung Merimees wurde erst 1846 ,offiziell' ins Deutsche übersetzt. Vgl. Prosper Merimees gesammelte Werke. Übers, v. Heinrich Eisner [und Karl Herrmann], hier Bd. 3: Der doppelte Mißgriff. - Mosaik. Gesammelte Erzählungen, Novellen und Skizzen. Stuttgart 1846 (Taschenbibliothek klassischer Romane des Auslandes). Nach: Fromm, Hans, Bibliographie deutscher Übersetzungen aus dem Französischen 1700-1948. 6 Bde. Baden-Baden 1950— 1953, hier Bd. 4 (1951), S. 368f. Vgl. L 'Amant reconnu 50 ans apres sa mort, in: Postilion de la Paix et de la Guerre. Montbeliard 1811.

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Susanne Greilich

Nicht umsonst hat sich auch die Bekannteste der neuen Almanachpublikationen der Revolutionszeit, der Almanach du Pere Gerard, des Konzeptes der populären Erzählerfigur zur Vermittlung der Errungenschaften und Ideen der Französischen Revolution an breite Schichten des Volkes bedient.19 Zum Abbau von Lesehemmungen und als Hilfe zum Verständnis der schriftlichen Texte für kaum alphabetisierte Leser dienten in den Volksalmanachen auch die Illustrationen, die stets einigen zentralen Texten der sogenannten Relation curieuse beigegeben wurden. Wie die Kalenderzeichen und das Aderlaßmännlein erlaubten sie eine Benutzung des Almanachs auch all jenen, die des eigentlichen Lesens unkundig waren. Es sind diese Strukturen populärer Almanache wie Messager boiteux oder Almanach de Liege, die ihren Erfolg als „livres periodiques pour la classe des gens qui lisent peu" - wie sie der Verleger des Messager boiteux de Berne einmal bezeichnete 20 - über mehr als zwei Jahrhunderte sicherten.

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Vgl. Lüsebrink, Hans-Jürgen, Du .Messager Boiteux' au ,Pere Gerard': les figures de narrateurs populaires dans les almanachs, XVIII e -XIX e siecles (texte et iconographie), in: Migozzi, Jacques (Hg.), De l'äcrit ä l'ecran. Litteratures populaires: mutations generiques, mutations mediatiques. Limoges 2000, S. 53-71. Messager boiteux de Berne. Vevey 1796, o.S.

HANS-JÜRGEN LÜSEBRINK ( S a a r b r ü c k e n )

Vom ,Messager Boiteux' zum ,Poor Richard': Populäre Erzählerfiguren in Volkskalendern des 18. und 19. Jahrhunderts

I. Vom Kolporteur zum populären Erzähler - Figuren im Feld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit In den europäischen Gesellschaften zwischen dem 16. und dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde die soziokulturelle Verbreitung von Volksliteratur1 maßgeblich dadurch bestimmt, daß es sich noch - sicher in sehr unterschiedlichem Maße - um hauptsächlich orale Kulturen handelte, das heißt um Kulturen, in denen noch eine große Mehrheit der Bevölkerung weder lesen noch schreiben konnte.2 Aus diesem Grund kommt den Prozessen der Semi-Oralität,3 den Medien und Diskursformen im Zwischenraum von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, der „Lese- und Hörliteratur",4 eine besondere Bedeutung zu: hierzu zählen Phänomene wie die Praxis des Vorlesens; die soziokulturelle Produktion und Rezeption von Liedern, in schriftlicher und gedruckter Form, sowie die mit ihnen verknüpften Formen des gemeinsamen Singens; sodann das Theater als ein weiteres wichtiges semi-orales Medium; die Postreiter und Kolporteure als (intra-)kulturelle Mittlerfiguren, die häufig auch in werbewirksamer Form den Inhalt der von ihnen verteilten bzw. verkauften Druckschriften verbreiteten, indem sie deren Überschriften laut vorlasen. Louis-Sebastien Mercier, mit seinem bemerkenswerten Gespür für die Alltagskultur der unteren Gesellschaftsschichten seiner Zeit, weist in seinem Hauptwerk Tableau de Paris (1782-1788) mehrmals auf die wichtige Rolle dieser zeittypischen Mittler zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit innerhalb der Alltagskommunikation hin. In einem Kapitel, das sich mit den Hinrichtungen von Kriminellen beschäftigt, beschreibt er die „unheilverkündende und widerhallende" Stimme der Kolporteure, die die „Straßen und Kreuzungen erfülle". Im Kapitel des Tableau de Paris, das dem „Place de Greve", dem Platz der öffentlichen Hinrich-

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Zu diesem Begriff siehe Chartier, Roger / Lüsebrink, Hans-Jürgen (Hg.), Colportage et lecture populaire. Imprimes de large circulation et litteratures de colportage en Europe, XVIe-XIXe siecles. Paris 1996 (Collection In-Octavo 4). Vgl. hierzu u.a. Füret, Francois / Ozoul, Jacques, Lire et ecrire. L'alphabetisation des Franpais de Calvin ä Jules Ferry. Paris 1979. Vgl. hierzu Lüsebrink, Hans-Jürgen, Semi-Oralität. Zur literaturwissenschaftlichen Tragweite einer provokativen Kategorie, in: Krauß, Henning (Hg.) Offene Gefüge. Literatursystem und Lebenswirklichkeit. Festschrift für Fritz Nies zum 60. Geburtstag. Tübingen 1994, S. 151164. Nies, Fritz, Zeit-Zeichen. Gattungsbildung in der Revolutionsepoche und ihre Konsequenzen für die Literatur- und Geschichtswissenschaft, in: Francia 8 (1980), S. 257-280.

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Hans-Jürgen Lüsebrink

tungen in Paris, gewidmet ist, beschreibt Mercier beispielsweise hautnah die Szene einer öffentlichen Exekution und beobachtet in diesem Kontext die Rolle der Kolporteure, die die Todesurteile, die sehr genau5 die vom Verurteilten zu ertragenden Qualen beschrieben, verkaufen: Les colporteurs qui crient Ies sentences de mort, la medaille de cuivre sur l'estomac, font quelque fois retentir l'arret final jusqu'aux oreilles du supplicie; cruaute impardonable! Iis appuient surtout fortement sur ces mots: qui condamnent un assassineur. Cet horrible barbarisme est de leur invention; mais il frappe plus vivement les organes du peuple que le mot assassin, et le peuple dit et dira toujours assassineur: cela lui semble plus energique.6

Die zeitgenössische Bildpublizistik zeigt vielfaltige Darstellungsformen kultureller Mittlerfiguren wie Postreiter, reisende Sänger und Kolporteure und liefert ikonographische Belege für ihre sozio-kulturelle Bedeutung. Ein Stich von JeanMichel Monceau le jeune, der 1773 in Paris publiziert wurde und mit dem Vers Chansons sans cesse. Vive la Foire de Gonesse überschrieben ist, zeigt einen solchen Kolporteur auf dem Marktplatz von Gonesse nahe Paris, der auf eine Bühne gestiegen ist und in der rechten Hand einen Stab und ein Flugblatt hält. Er trägt die Geschichte des Flugblattes singend vor, die gleichzeitig durch eine Reihe von hinter ihm aufgehängten Bildern illustriert wird, auf die er mit seinem Stab deutet. Ein Stich, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts bei den Illustratoren in der Rue SaintJacques in Paris veröffentlicht wurde und einen hinkenden Kolporteur mit zwei Krücken und einem Sack voller Bücher auf dem Rücken zeigt, unterstreicht seinerseits die Leistung dieser Kolporteure und die soziokulturelle Wirkung ihres Handels. Dieser Stich, der den Titel Le Grand Triomphateur ou le Libraire ambulant trägt, enthält Verse, die explizit auf den Handel der Kolporteure Bezug nehmen: „Un autre moins fameux libraire / Pourra se contenter d'un pilier du Palais / Mais pour le debit que je fais / Paris certes m'est necessaire."7 Ein deutscher Stich von 1728 zeigt die Figur der Fama, die „das allermerkwürdigste in Europa" verkündet, zusammen mit den Figuren des Postreiters und des Hinkenden Boten, die im Zentrum des Stichs zu sehen sind. Die beiden emblematischen Figuren des Postreiters und des Hinkenden Kolporteurs verweisen auf zwei verschiedene und zugleich komplementäre Arten der zeitgenössischen Nachrichtenübertragung und -Verbreitung: einerseits auf die des Postreiters, der schnell und brandaktuell sein möchte, aber dessen Nachrichten kaum überprüfbar sind und die aus diesem Grunde den Zeitgenossen häufig unzuverlässiger erschienen und andererseits auf die Nach-

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Siehe Foucault, Michel, Surveiller et punir. Naissance de la prison. Paris 1975 (Bibliotheque des Histoires); Bee, Michel, La societe traditionnelle et la mort, in: Dix-Septieme Siecle 106/107 (1975), S. 81-111; Lüsebrink, Hans-Jürgen, La letteratura del patibolo: continuitä e transformazioni tra 600 e 800, in: Quaderni Storici 49 (1982), S. 285-301. Mercier, Louis-Sebastien, Tableau de Paris. Paris 1782-1788, hier insb. Kap. CCLXXIX, ,Place de Greve', S. 716. Le Grand Transporteur ou le Libraire Ambulant. Paris o.J. [ca. 1710],

Vom , Messager Boiteux' zum , Poor Richard'

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richtenübermittlung der Kolporteure und ,Hinkenden Boten', die durch Distanz, Langsamkeit und das Bemühen um Wahrheitstreue charakterisiert erscheint. Nach dem ,Hinkenden Boten', der landläufigen Verkörperung des Volkskalenderverkäufers im deutsch- und französischsprachigen Raum des 17., 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wurde auch jener Volksalmanachtyp benannt, der besonders in Strasbourg, Colmar, Metz und Montbeliard, aber auch in verschiedenen schweizerischen und deutschen Städten (in erster Linie Basel, Vevey, Bern, Lahr und Köln) verlegt wurde und der neben dem vor allem in Liege verlegten Almanach de Mathieu Laensberg der am weitesten verbreitete Volkskalender der Frühen Neuzeit war. Sein Name bezieht sich zum einen auf die körperlichen Gebrechen zahlreicher Kolporteure, die häufig oft entweder invalide Soldaten oder aber ehemalige Handlanger („brassiers") und Arbeiter waren.8 Sein Name spielt auf zeittypische Formen der Nachrichtenübertragung und -Verbreitung an: Anstatt die Neuigkeiten rasend schnell zu verbreiten, wie es die Postreiter, die Flugblätter und die Tages- oder Wochenpresse taten, war der Vorgang der Nachrichtenübertragung hier gewollt,hinkend', das heißt langsamer und distanzierter, dem Lebensrhythmus der Kolporteure und des jährlich erscheinenden Kalenders angepaßt.9 Einzelne Ausgaben des Volkskalenders, besonders die der deutschen Versionen des ,Hinkenden Boten', illustrieren auf ihren Titelblättern diesen langsamen, retrospektiven Bezug zur Ereignisaktualität mit einer Schnecke, die dem Kolporteur, der auf seinen Stock gestützt ist, vorankriecht. Man findet sie seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts auf den Titelseiten des Almanachs Der Hinckend- und Stolpernd doch eilfertig fliegend und lauffende Reichsbott und noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf den Titelblattseiten des Hinkenden Bethen am Niederrheine, der in Köln verlegt wurde.10 Die Erzählerfigur des Messager Boiteux de Berne von

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Siehe Fontaine, Laurence, Histoire du colportage en Europe, XVe -XIXe siecle. Paris 1993; und für einige zusätzliche Informationen: Krafft Pourrat, Claire, Le colporteur et la merciere. Recit et enquete. Paris 1982; Lesueur, Jacqueline, Une figure populaire en Lorraine au siecle demier, le colporteur ou chamagnon, in: Bulletin de la Societe Lorraine des Etudes locales de l'enseignement public (1969), S. 29-39; Barbier, Frederic, Un exemple d'emigration temporaire: les colporteurs de librairie pyreneens (1840-1880), in: Annales du Midi 95/163 (1983), S. 289-307; Sauvy, Anne, Noel Gille dit la Pistole, „marchand foirain libraire roulant par la France", in: Bulletin des Bibliotheques de France 5 (1967), S. 177-190. Zu den Kolporteuren von Liedern siehe ebenfalls: Keilhauer, Annette, Das französische Chanson im späten Ancien Regime. Strukturen, Verbreitungswege und gesellschaftliche Praxis einer populären Literaturform. Hildesheim/ Zürich/ New York 1998 (Musikwissenschaftliche Publikationen 10), S. 117-153, im Besonderen Kap. 3: ,Chanson und Colportage. Die Straße der Bühne!'.

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Siehe zu dieser Deutung des Namens .Hinkender Bote': Schottenloher, Karl, Flugblatt und Zeitung. Ein Wegweiser durch das gedruckte Tagesschrifttum. Mit 73 Textabbildungen und XV Tafeln. Berlin 1927, S. 750-761, insbesondere S. 750. Ich bedanke mich bei meiner Mitarbeiterin Susanne Greilich (Saarbrücken), mich auf diese Publikation hingewiesen zu haben. Siehe folgende Umschlagtitel: Der große unterhaltende und hinkende Bothe am Niederrheine. Ein Kalender für alle Konfessionen auf das Jahr nach der Geburt unsers Heilandes Jesu Christi 1827. Köln 1827; Der hinkende Bothe am Rhein; ein Kalender für Katholiken und Protestanten auf das Jahr nach Christi Geburt 1814. Köln 1814.

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Hans-Jürgen Lüsebrink

1792 beschreibt selbst wie folgt seine sehr langsame und distanzierte Haltung der Aktualität gegenüber, die ihn eher der Figur des Geschichtsschreibers als der des Novellisten oder Journalisten annähert: Le Messager Boiteux ä ses lecteurs, salut [...]. Parmi les exercices qui sont du ressort de l'esprit, on compte, ä juste titre, l'Astronomie et l'Histoire. Pour moi je me suis senti porte, des ma plus tendre jeunesse, ä m'appliquer ä l'etude de ces deux sciences; et parce que je voulais etre bon ä quelque chose dans le monde, j'ai entrepris depuis un grand nombre d'Annees, de decrire le cours des Astres et leur influence sur notre planete, de predire les Eclipses du Soleil et de la Lüne et de raconter les Nouvelles qui se passent d'une annee ä l'autre. Depuis que je vous ai quitte, mes chers lecteurs j'ai vu et entendu bien des choses; j'ai voyage, j'ai lu des journaux, j'ai combine les circonstances avec les mceurs et les talens des hommes, j'ai ramasse des anecdotes. Mon porte-feuille en est fort plein; ne pouvant vous les donner toutes cette annee, j'en choisirai les plus curieuses et les plus interessantes."

II. ,Der Hinkende Bote' - bildliche Darstellungen und textuelle Verankerungen Als Verkörperung des Kolporteurs, einer sozio-kulturellen Mittlerfigur par excellence in frühneuzeitlichen Gesellschaften, hat die Figur des ,Hinkenden Boten' in dem Volkskalendertyp, dem sie ihren Namen gegeben hat, eine doppelte Darstellungsform erfahren: einerseits eine visuelle oder bildliche Darstellung, da sie als Person auf der Mehrzahl der Titelseiten der populären Almanache des Typs Hinkender Bote erscheint; und andererseits eine textuelle Darstellung, da die Figur des ,Hinkenden Boten' als populäre Erzählerfigur in einer großen Zahl von Almanachen diesen Typs verankert ist. Der wohl erste Volkskalender, der in seinem Titel auf die Figur des „Hinkenden Boten" verwies, war der 1590 in Nürnberg erschienene Almanach Der Post-Reutter bin ich genandt /Dem Hinkenden Boten wohl bekand.n Er enthält einen Dialog zwischen einem Postreiter und dem Hinkenden Boten über die Ereignisse des vergangenen Jahres und zeigt auf seiner Titelseite diese beiden Figuren, die seit dem Aufkommen der Druckmedienkultur in der Mitte des 15. Jahrhunderts einen unterschiedlichen Bezug zur Aktualität verkörpern: Der schnelle, geradezu hastige Sprechduktus des Postilions hebt sich von der langsamen, bedächtigen und distanzierten Erzählweise seines Gesprächspartners ab. Der Hinkende Bote bezweifelt die Wahrhaftigkeit der ihm vom Postilion erzählten Ereignisse, indem er sie mit seinen eigenen Erfahrungen konfrontiert; er wählt aus, indem er sein Interesse nur 11

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Veritable Messager Boiteux de Berne pour 1792. Vevey 1791, Bl. 45. Die Rechtschreibung folgt hier, wie bei den anderen Zitaten, der des Originals. Hier die vollständige Titelseite: ,J)er post-Reutter bin ich genandt / Dem Hinckenden Bothen wol bekandt / Dieweil er ist mein gut Gesell / Drumb bin ich kommen auch zur stell / und wil euch machen offenbar/ Was ich des Neun und Achtzigst Jar/ Vor Wunder ferner han verlauffen/ Lieber lies mich / und thu mich kauffen." [Nürnberg 1589]. Der Almanach wird in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel aufbewahrt.

Vom ,Messager Boiteux' zum ,Poor Richard'

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auf bestimmte, ihn interessierende und betreffende Ereignisse lenkt (die er als ,denkwürdig', weil .außergewöhnlich' bezeichnet), und er kommentiert diese. Die Rolle des distanzierten Erzählers, der die Ereignisse der Vergangenheit aus einem zeitlichen Abstand heraus betrachtet und kommentiert und zugleich die Zukunft voraussagt, ist fur den Volkskalendertyp der Hinkenden Boten / Messager Boiteux grundlegend. Er erscheint selten als einzelne Person, wie auf dem Umschlagtitel des Astrologischen Jahrbuchs von 1787 oder auf dem des Veritable Messager Boiteux de Neuchätel zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Auf der Mehrzahl der Umschlagtitel wird er zusammen mit anderen Figuren abgebildet, die die verschiedenen Schichten und Altersklassen der Gesellschaft verkörpern sollen: Bauern, Adelige, Bürger und Militärs, sowohl Erwachsene als auch Kinder. Dieses ,ikonographische Programm', das auf der Titelseite durch Abbildungen der Figur des Kolporteurs eingeschrieben ist, verweist sowohl auf den Inhalt dieses Volksalmanachs, der Ereignisse mit Bezug zu allen sozialen Klassen enthalten soll (ganz im Gegenteil zu anderen Almanach- und Volkskalenderformen wie dem Musenalmanach, dem Gothaschen Almanach oder dem Almanach Royal), als auch auf das anvisierte Publikum, das so breit wie möglich sein und sich keineswegs auf die sozialen Unterschichten beschränken sollte. Die emblematische Figur des ,Hinkenden Boten' / ,Messager Boiteux' ist auf den Titelseiten der Volkskalender gleichen Namens in dreifacher Weise bildlich verankert: Er verkörpert zunächst und in erster Linie die Rolle des Augenzeugen und weltläufigen Berichterstatters historischer Ereignisse sowohl der politischen und sozialen Geschichte wie auch der Naturgeschichte, auf die auf den Titelseiten selbst hingewiesen wird, etwa durch die Evozierung von Naturkatastrophen (Brände, Unwetter), Schlachtenszenen sowie durch die Darstellung von Würdenträgern. So präsentierte sich der Erzähler des Berner Hinkenden Boten des Jahres 1737 in seiner Leseranrede wie folgt: Obschon ich hinck, so komm ich gleichwohl in der Welt. Sehr weit und breit herum, und spahr kein Müh noch Gelt, Ich scheu kein Ungemach, verlache die Gefahren, Nur daß ich etwas Neu's hier und da mög erfahren. 13

Der „Auszug der neuesten Welt-Begebenheiten", eine feststehende Rubrik der frühneuzeitlichen Volkskalender, wurde häufig mit einer Leseranrede des Erzählers eingeleitet, wie beispielsweise im Berner Hinkenden Boten aus dem Jahre 1766 in einem längeren Eingangsgedicht. Dieses beschreibt anschaulich und geradezu körperlich nachvollziehbar den Erfahrungshorizont des mit seinem Rucksack beladenen Kolporteurs, der neben seinem eigentlichen Metier neugierig Nachrichten sammelt und ,merkwürdigen' Ereignissen auf der Spur ist:

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Klag deß Hinckenden Böllen, in: Neuer Historischer Calender, Genannt der Berner Hinckende Bott... auf das Jahr 1738. Bern 1737, o.S.

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Hans-Jürgen Lüsebrink Werthe Leser! Gönnet mir, daß ich euch dörf kürzlich sagen, Was sich lezt auf meiner Reise mit mir Habe zugetragen. Ich fand einen rauhen Weg, so mir viele Mühe Brachte, Weil dazu noch Wind und Wetter mir die Reise säurer machte, Auch die Last auf meinem Ruken ware zimlich schwär Und groß So daß ich von dieser Reise wenig Lustbarkeit genoß; [...].14

Zweitens erscheinen populäre Volkskalender und Erzählerfiguren wie der .Hinkende Bote' als ,Sprecher einer Lesergemeinde', die er häufig mit einem kollektiven ,Wir' bezeichnet und auf deren Werte und Identitätsmuster er explizit Bezug nimmt. So bezeichnet der Erzähler des Großen Straßburger Hinkenden Boten seine Leser als ,Landmänner', deren Wünsche und Bedürfnisse er zu kennen glaubt und auf die er einzugehen sucht.15 Der Hinkende Bote von Vivis beispielsweise spricht seine Leser ausdrücklich als „ihr lieben Schweizerbauern" an, die er in seiner Anrede gelegentlich ausdrücklich lobt und ihnen zu schmeicheln sucht.16 Der Baseler Messager Boiteux aus dem Verlagshaus Schweighäuser präsentierte sich seinen Lesern als „ehrlicher" und „treuer Freund", der seinen „lieben Lesern" Ratschläge gibt und sie zugleich vergnüglich zu unterhalten sucht.17 Seit der Französischen Revolution setzt sich auch in zahlreichen französischsprachigen Schweizer Volkskalendern die Leseranrede „chers amis et concitoyens" durch. Der Messager Boiteux von Vevey und der Hinkende Bote von Bern heben zugleich - neben der Verwendung der Begriffe Staatsbürger' („Citoyens") und ,Freunde' („Amis") auf grundlegende soziale und kulturelle Gemeinsamkeiten ab, indem sie die Leser mit den Begriffen ,wir Bauern' („nous autres paysans") und ,liebe bauern' bezeichnet.18 14

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Auszug aus der neuesten Welt-Geschichten. So zu unserer Wissenschaft gekommen, seit dem Herbismonat 1764. Eingang, in: Historischer Calender, oder der Hinkende Bott, Auf das Jahr Christi 1766. Bern 1765, o.S. Der Straßburger Hinkende Bote an seine Leser, in: Der Große Straßburger Hinkende Bote auf das Jahr 1817. Straßburg 1816, o.S. Historischer Calender oder der Hinkende Bott, auf das Jahr 1814. Vivis 1813, o.S. ,Preambule du Messager Boiteux', in: Le Veritable Messager Boiteux de Bäle en Suisse. Bäle 1835, o.S.: „Permettez, eher Lecteurs, que votre Messager vienne clopin-clopant ä l'entree de cette nouvelle annee vous presenter son salut amical. A peine le soleil de l'annee demiere a-t-il termine sa carriere, qu'il se presente de nouveau ä vos yeux. [...]. Puissent ä cet epoque etre exauces, les veeux que forme en votre faveur un vieux et pauvre invalide, vrai chretien et votre ami sincere." Le messager boiteux ä ses concitoyens, in: Almanach Historique, nomme le Messager Boiteux... pour 1810. Vevey 1809, o.S.; Der Hinkende Bote an seine lieben bauern, in: Historischer Kalender, oder der Hinkende Bott, auf das Jahr 1804. Bern [1803], o.S.: „Ich wollte euch gem etwas recht Kluges und Nützliches erzählen, damit ihr euer gutes Geld nicht nur zum Spasse ausgeben müßt; zwar Spaß soll auch in dem Hinkenden Boten seyn, denn ich lache selber gerne."

Vom , Messager Boiteux' zum , Poor

Richard'

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Auch in den deutsch-amerikanischen Volkskalendern des 18. und 19. Jahrhunderts wird die gemeinsame kulturelle Identität von Kalenderautor, Erzähler und Lesepublikum unterstrichen, indem der Kalendererzähler seine Leser ausdrücklich mit ,liebe deutsche Mitbürger' anredet, immer wieder auf die Immigrationserfahrungen eingeht und zugleich die Identifikation mit den kulturellen und demokratischen Werten Amerikas unterstreicht. So heißt es in der Leseranrede des im Washington Country publizierten Volkskalenders Der Volksfreund und Hägerstauner Calender. Liebe Leser! In den vorigen Calendem habe ich euch eine kurze Beschreibung von der Entdeckung unseres lieben Americas gemacht, welche vor etwa 300 Jahren unter der spanischen Regierung, durch Columbus unternommen, und leider auch nicht auf die christlichste Art bewerkstelliget ward. 19

In anderen Ausgaben bezeichnet die als „alter Volksfreund" auftretende Erzählerfigur die deutschsprachigen Leser des Kalenders ausdrücklich als „liebe deutsche Mitbrüder" und zugleich als „Americaner", wodurch die spezifische Identität der Leserschaft unterstrichen wird und der Volkskalender als ihr herausragendes Informationsmedium erscheint. 20 In gleicher Weise wie die Erzählerfiguren der Hinkenden Boten nimmt auch der Kalendermann des Hägerstauner Volkskalenders Bezug auf die - realen oder fiktiven - Reaktionen und Bedürfnisse seines Leserkreises, so etwa, als er aufgrund ihm zugekommener Kritiken astrologische ,Wunderzeichen' aus dem Kalender herauszunehmen beschließt. Die Leseranrede unterstreicht auch in diesem Kontext die Vorstellung einer deutsch-amerikanischen Lesergemeinde des Kalenders, die er als ,Mitbrüder' bezeichnet, in der es jedoch durchaus unterschiedliche Bedürfnislagen und kulturelle Unterschiede gebe: Meine lieben deutsche Brüder! Ich habe erfahren, daß einigen unter euch, im letztjährigen Calender, die alte Wunderzeichen nicht recht nach Appetit waren, und deßwegen soll auch dies Jahr ihr schwächlicher Magen damit nicht weiter beschweret werden. Ohngeachtet ich glaube, daß solche auch manchem anderen ehrlichen deutschen Magen sehr verdaulich waren. Denn der Geschmack der Menschen ist so verschieden, als wie ihre Reden und Handlungen, deswegen ist es ohnmöglich, für alle züglich angenehm zu kochen, zu schreiben oder zu drucken. Da aber der Volksfreund nicht fur seinen eigenen Profit, sondern für die Wohlfahrt seines Landes und zum wahren Nuzen seiner Mitbrüder schreiben will; so geht es ihm da, wie einem ehrlichen Doctor, der seine Patienten nicht mit Zucker todt futtert, sondern um solche zu curiren, mit bittern Arzneien bedient.21

Drittens zeigen die Titelseiten von Volkskalendern Erzählerfiguren wie den , Hinkenden Boten' als soziale und (inter-)kulturelle Mittlerfigur, als genuines Binde-

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Der alte Volksfreund für das Jahr 1810, in: Der Volksfreund und Hägerstauner 1810. Hägerstaun-Washington County [1809], o.S. [S. 8]. Der alte Volksfreund für das Jahr 1808. In: Der Volksfreund und Hägerstauner 1808. Hägerstaun-Washington County [1807], o.S. [S. 8]. Von dem Volksfreund für das Jahr 1805. In: Der Volksfreund und Hägerstauner 1805. Hägerstaun-Washington County [1804], o.S. [S. 8],

Calender, Calender, Calender,

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Hans-Jürgen Lüsebrink

glied und kommunikativen Vermittler zwischen den verschiedenen Schichten der Gesellschaft sowie als weltlichen Ratgeber von Lesern unterschiedlicher sozialer Provenienz und Zugehörigkeit. Die Titelblätter sowie die Vorworte des Kalenders zeigen häufig gesellige Szenen, im allgemeinen die Begegnung zwischen dem .Hinkenden Boten' und den Repräsentanten verschiedener sozialer Schichten, mit denen er kommuniziert, denen er Nachrichten übermittelt und mit denen er ebenso über regionale und lokale Nachrichten wie über das Weltgeschehen diskutiert. Die Titelseiten des Messager Boiteux / Hinkenden Boten, die gewöhnlich ein ländliches Milieu abbilden, bevorzugen Bauern oder Bäuerinnen, wie auf dem Umschlagtitel des Hinkenden Boten von Vivis, aber man findet ihn auch auf anderen Illustrationen in Begleitung von Offizieren, Adligen und Bürgerlichen. Die Leseranrede des Berner Hinkenden Boten von 1799 läßt erkennen, daß der Kalender sich ursprünglich ganz überwiegend an ein Lesepublikum aus den unteren Ständen wandte, sich aber zunehmend zu einem Medium aller Volksklassen entwickelt hatte. Auch hier ist das Bemühen zu erkennen, das Medium der Schriftlichkeit mit mündlichen Dialogund Ausdrucksformen zu verknüpfen und mit volksaufklärerischen Zielsetzungen zu verbinden: Meine lieben Leser! Seyd mir alle gegrüßt, meine Leser, seyd mir alle herzlich willkommen! Wir kennen uns noch nicht, denn wir haben uns noch nie gesprochen; aber wir wollen schon Bekanntschaft machen, ich bin kein unfreundlicher Mann, und freye mich, wenn man mich mit einem kräftigen Handdruck und mit wohlmeynendem Herzen aufiiimmt. Ich size gern unter meinen Mitmenschen, um ein Stündchen mit ihnen zu plaudern; ich leme immer etwas, und kann auch bisweilen ihnen ein nützliches Wort fallen lassen. Wenn sie dann hören wollen, und ich etwas gutes stiften kann, so ist mir das mehr werth als die schönste Mahlzeit. [...]. Bis dahin haben sich Leser aus den gebildeten Klassen beynahe des Calenders geschämt. Sie irren sich. Ein Buch, das zunächst fürs Volk bestimmt ist, ist an sich selbst von einer Wichtigkeit, die aller Aufmerksamkeit werth ist; [...]. Für das Volk arbeite ich hauptsächlich; fur euch, meine lieben theuren Landsleute, und die Eurigen, die in den Städten ihr Brot erwerben. 22

In ihrer klassischen Struktur verweisen die Titelseiten des Messager Boiteux / Hinkenden Boten auf eine zyklische Geschichtskonzeption, die durch die Wiederkehr des Gleichen und die gleichzeitige Anwesenheit von ungleichzeitig ablaufenden und zum Teil diametral entgegengesetzten Phänomenen gekennzeichnet ist: Sonne und Mond, Gewitter und blauer Himmel, Kindheit und Alter, Stadt und Land, Krieg und Frieden, Bauern und Adelige, das Nahe und das Entfernte. Die Titelseite eines Hinkenden Boten aus Köln, 1716 in Offenbach erschienen, beispielsweise zeigt die Figur des ,Hinkenden Boten' mit einem Rucksack beladen, einer Lanze bewaffnet und einem Brief in der rechten Hand haltend. Zu seiner Rechten befinden sich drei Figuren; eine Adelige, ein Adeliger und ein Orientale. Zu den Füßen des ,Hinkenden Boten' erkennt man eine Schnecke. Über diese Gruppe hinweg

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Historischer Calender oder der Hinkende Boll, auf das Jahr Christi 1799. Bern 1798, o.S. [S. 1-2],

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fliegt ein Engel, der eine Trompete trägt, aus der das Wort,Friede' entweicht, und der in seiner rechten Hand ein Schild hält, auf dem man „Der Hinkende Bott" lesen kann. Im Hintergrund zu sehen sind Kriegsszenen, Land- und Seeschlachten und ausgebrannte Häuser, die einen Kontrast zu der Landschaft bilden, die auf der rechten Seite der Titelseite dargestellt wird. Die Friedlichkeit und Idyllik dieser Landschaft wird durch die Anwesenheit eines Anglers unterstrichen. Unter der Titelblattillustration erkennt man zudem drei Vignetten, die einen mit einem Löwen kämpfenden Mann, ein Wappen und rechts einen Ritter darstellen, der ein Banner trägt. Die textuelle Verankerung der Figur des ,Hinkenden Boten' schließt an ihre visuellen Darstellungsformen an, ist jedoch ungleich differenzierter und komplexer, vor allem in den deutschsprachigen und in der Schweiz erschienenen Ausgaben des Volkskalenders. Hier dominieren bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zwei Funktionen bzw. normative Rollen: die des Geschichtsschreibers, der Berichterstatter und Kommentator der wichtigsten Ereignisse des abgelaufenen Jahres sein möchte; und die des Astrologen, der sich zum Propheten für die Zukunft erhebt. Schon die ersten in Deutschland publizierten Hinkenden Boten zeigten am Ende des 16. Jahrhunderts nicht nur die Figur des ,Hinkenden Boten' auf dem Umschlagtitel, sondern ließen ihn auch sagen, daß er sich zur Verfügung stellt, um die Ereignisse des abgelaufenen Jahres kurz und wahrheitsverbunden zu erzählen („thut Bericht, mit wenigen Worten, kurtz und wahr").23 Sie betonten gleichzeitig das Wundersame und Außergewöhnliche der erzählten Ereignisse, indem sie die Begriffe „wunderlich", „Wunder" und das Verb „sich wundern" benutzten.24 Der Basler Hinkende Bote, der ab der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts publiziert wurde und die vollständigste und wahrscheinlich auch die verbreitetste Serie dieses Volkskalendertyps in deutscher und französischer Sprache darstellt, verleiht dem ansonsten häufig anonymen - das heißt durch sein Gebrechen identifizierten - ,Hinkenden Boten' einen Namen und eine Doppelfunktion als Astrologe und Historiker, indem er ihn auf seiner Titelseite als ,Antoine Souci, astrologue et historien' bezeichnet (in der deutschen Fassung ,Anthoni Sorgmann, der Mathematischen Künsten und denkwürdigsten Geschichten besondern Liebhabern'). In Form von Sätzen wie ,Der hinkende Bote an seine Leser, salut!' spricht dieser seine Leserschaft im Rahmen der ,Relation exacte et curieuse des choses les plus remarquables' (,Übersicht über die merkwürdigsten Begebenheiten des verflossenen Jahres'), die das geschichtliche Raster des Almanachs bildet, direkt an, kommentiert meteorologische Vorhersagen und bezieht oft in sehr emotionaler und selbstsicherer Weise Stellung zu den berichteten Ereignissen. So leitet die Erzählerfigur des Appenzeller Staats-, Kriegs 23

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Der Hinckende Both / schlagt ihn in die Gicht / Ist komen bringt viel andern bericht / Dann wir zuvorn/ uff diese Reim / Mit Warheit nicht berichtet sein. O.O. 1589, S. 1: „Der Hinckend Bodt ist heut ankörnen / thut bericht / wie ich veraomen / Mit wenig worten / kurtz und wahe." Der post-Reutter bin ich genandl, (wie Anm. 12), „das man sich wundert", S. 3; „Wunder", S. 4, „wunderlich Geschieht", S. 10.

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und Friedens-Calenders auf das Jahr 1771 seine Allgemeine Zeit- und Welt-Betrachtung mit folgendem Bekenntnis deutlicher Betroffenheit ein, der mit einem Gottesanruf und einem Appell an das Mitleid der Leser endet: Ach! Wie betrübt sind in diese unsere tagen die Zeiten in welchem die gantze Welt lebet, j a in denen Tagen, da jetzt wir Leben, auch dieses Schreiben und lesen werden, in Ansehung des jetzt vergangenen Winters mit sehr vielem Schnee, auch desnahen spathen Frühling, gleich dem 1740. Jahr, daraus bey Menschen und Thieren einen großen mangel entstanden, samt einer zimlich gewinlosen Zeit, das bey Mansgedenken so Theur und Gewinloß nicht beysamen erlebt worden. Auch graßirte an den Polnischen Gränzen, die Erbliche und leidige Pest, nebst anderen Unglücks-Fällen mehr, welche hin und wieder in der Welt die Menschen berühren [...]. Aber Ach! Du Gott auf Erden, Segne doch der Christen Waaffen, das sie einen gutehn Ausgang bekommen mögen. [...]. Ein mehres aber, von allen 4 Welttheilen, werden wir in diesen grossen Historischen Calenderen, oder auf Alt und Neue zeit gestehe Appenzeller Hinkende Bott, mit Figuren und Exemplen bekräftigen, als welche auch in der blossen Erinnerung, den Leser zum Mitleiden bewegen mögen. 2 5

Auch wenn die Einzelelemente der Leseranrede in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sich verändern und die religiösen Bezüge ebenso wie das Pathos der Betroffenheit zurücktreten und tendenziell durch eine Rhetorik der moralisch-aufgeklärten Beratung des Lesers ersetzt wird, behält die Kalenderfigur, etwa in der Ausprägung des .Hinkenden Boten', seine das Weltgeschehen kommentierende und moralisch beurteilende Rolle auch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend bei. In der deutschen Ausgabe des Messager Boiteux de Vevey von 1813 etwa stellt sich die Figur des .Hinkenden Boten' wie in einer großen Anzahl anderer Ausgaben dieses Volkskalenders als ein unaufhörlich Reisender vor, der am Ende von seinen Reiseerfahrungen durch die Schweiz und von den beobachteten Ereignissen erzählt und hierbei auch seine Anteilnahme und persönliche Betroffenheit zum Ausdruck bringt, beispielsweise angesichts des Elends der Bevölkerung, die von einer Pockenepidemie befallen ist.26 Bei näherer Betrachtung der verschiedenen Formen der textuellen Verankerung der Figur des .Hinkenden Boten' in den deutschen und französischen Volkskalendern zwischen dem Ende des 16. Jahrhunderts und der Mitte des 19. Jahrhunderts lassen sich in diachronischer Hinsicht zwei wichtige Entwicklungstendenzen ausmachen: Zum einen läßt sich die Herausbildung eines distanzierten und ironischen Ausdrucksstils beobachten, der insbesondere in den deutschsprachigen Versionen der Hinkenden Boten des ausgehenden 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts präsent ist. Er ist an die Konzepte von .Torheit' und .Narrheit' geknüpft und 25

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Die allgemeine Zeit- und Welt-Betrachtung, über das 1770. Jahr, in: Alter und Neuer Appenzeller Staats-Kriegs-u-Friedens Calender, oder der Hinkende Bott... auf 1771. Trogen [1769], o.S. Der Hinkende Bote von Vivis. Vevey 1813, „Bericht": „Auf meiner langen Beobachtungsreise durch die Schweiz im Jahre 1810 und 1811 hat mich nichts so sehr angegriffen u. in der Seele betrübt, als daß ich in vielen Dorfschaften, besonders im Canton Bern eine tödtliche Krankheit graßiren sah, welche so leicht auf immer zu verdrängen wäre, nehmlich die natürlichen Pocken oder die sogenannten Kinderblattern."

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charakterisiert das Selbstbild der Figur des ,Hinkenden Boten' bis in die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts hinein. Bereits in den ersten, 1589 und 1590 in Nürnberg gedruckten Volkskalenderschriften dieses Namens erwähnt der Erzähler mit oft ironischem Unterton seine eigenen Gebrechen: die Gicht, die ihn ereilt habe, wie sogar der Titel der Ausgabe von 1589 (Der Hinkende Both/ Schlagt ihn die Gicht) unterstreicht, 27 seine Häßlichkeit und sein Holzbein, die ihm kaum die Gunst schöner Frauen habe zuteil werden lassen, wie es der Messager Boiteux de Berne von 1814 in seiner Leseransprache bestätigt. 28 Gezwungen, auf die Freuden der Eheschließung zu verzichten und sich auf seinen Stock zu stützen, anstatt sich der Lust des Tanzes der Jagd hinzugeben, erklärt sich der ,Hinkende Bote' zum unglücklichsten Menschen auf Erden, und dies in einer Zeit, die ohnehin vom Elend und Leiden gezeichnet sei.29 In den Grußworten an die Leser, die den Berner Hinkenden Boten aus dem Jahre 1819 einleiten, deutet der Erzähler diese Gebrechen in einen unerwarteten Vorteil um, da ihn die Tatsache, daß er stolpere und ein Holzbein mit sich herumschleppe, zur Langsamkeit, zur Reflexion und zu einer aufmerksameren Beobachtung der Umwelt zwinge. 30 Dem Beispiel Sebastian Brants (1457-1521) in seinem Narrenschiff (1494) folgend, das im Grußwort an den Leser des Berner Hinkenden Boten von 1807 erwähnt wird, bietet sich der Erzähler an, von der Unvernunft der Welt zu berichten und sie zu kommentieren; mit dem Risiko, selbst aufgrund seiner Außenseiterhaltung als der einzige Verrückte inmitten einer Masse, die normal zu sein glaubt, angesehen zu werden. 31 Der Erzähler des Großen Straßburger hinkenden Boten nennt sich in seinen Leseransprachen selbst einen ,Schelm', der die Verrücktheit der Welt durch einen distanzierten Blick auf die Ereignisse und die Menschen entdeckt. 32 Der Erzähler des Veritable Messager Boiteux de Bale nennt sich in seiner Vorrede, die er an seine „lieben Leser und schönen Leserinnen" („chers lecteurs et belles lectrices") richtet, ausdrücklich den „hinkenden Sohn" („fils clopinet") des „Alten Hinkenden Boten

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Derpost-Reutter bin ich genandt, (wie Anm. 12), S. 3. Johann Jakob Gentemanns, zur Zeit wohl bestellten Hinkenden Bethen, Herzens-Erleichterung an das Publikum. Statt eines Neujahrswunsches, in: Historischer Kalender, oder Hinkenden Bott auf das Jahr 1814. Bern 1813, Bl. 17 r°: „Auf die süssen Ehstandsfreuden / Thu ich ebensfalls Verzicht; Denn die hübschen Damen leiden / Keinen lahmen Ehemann!" Ebd., Bl. 17 r°: „Überall ist viel Beschwerde / Jeder Stand hat seine Noth; / Aber auf der weiten Erde / keiner, wie der lahme Both!" Wiederum ein Gruss des Hinkende Bott, auf das Jahr Christus 1819, in: Historischer Kalender oder der Hinkende Bott, auf das Jahr Christus 1819. Bern 1818, Bl. 17r°. Ich Jakob Ehrlich, hinkender Bote von Bern, grüsse unsere Leser und gebe ihnen zu vernehmen wie folget, in: Historischer Kalender, oder der Hinkende Both auf das Jahr Christus. Bern 1806, Bl. 17 r°. Vgl. z.B. Der Strasburger Hinkende Bote an seine Leser, in: Der Große Straßburger Hinkende Bote für 1815. Straßburg 1815, o.S. [Grußwort]: „Ich armer Schelm wäre so gem, wie ehedessen, auf meinem hölzernen Beine überall dabei gewesen (versteht sich's weit vom Schuß), um alles mit anzusehen, und meinen Gönnern wieder lebhaft erzählen zu können, was hier und dort vorgegangen sei."

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von Basel".33 Ein Gedicht mit dem Titel Des hinkenden Boten Reise um die Welt in der Almanachausgabe von 1814 schließt mit der Aussage, daß alle Menschen, die der ,Hinkende Bote' auf seiner Rundreise getroffen habe - von den Eskimos über die Indianer bis hin zu den Afrikanern und Bengalen - durchaus in ihrer körperlichen und geistigen Konstitution gleich seien, auch was ihre Narretei angehe.34 Die ironische Erzählerrolle knüpft in dieser Ausprägung deutlich an den Stil und den narrativen Duktus frühneuzeitlicher Erzählliteratur wie des Till Eulenspiegel und des Narrenschiffs von Brant an. Besonders in den in der Schweiz erschienenen Hinkenden Boten / Messager Boiteux französischer und deutscher Sprache, die früh von der Volksaufklärungsbewegung erfaßt wurden, findet man seit den 1760er Jahren als dritte Erzählerrolle die des aufgeklärten Beraters oder Vermittlers, der neues Wissen, vor allem in den Bereichen der Landwirtschaft, der Technik und der Politik, an die Leser weitergibt. So wurde 1766 im Berner Hinkenden Boten eine Schilderung des von Voltaire an die aufgeklärte Öffentlichkeit gebrachten Skandalprozesses um den unschuldig verurteilten Protestanten Jean Calas mit folgenden Worten eingeleitet, die ein neues, aufgeklärtes Selbstverständnis des Volkskalenders umrissen: Wir haben es gewaget, vor einem Jahr unsem Lesern einige ernsthafte Materialien in unserem Calender vorzulegen, wir haben hierbey den Zwek gehabt, denselben nicht nur ergözend, sondern auch zugleich nuzlich und unterrichtend zu machen, wir haben den Anfang mit einer äußerst traurigen Geschichte gemacht, die auch endlich die Aufmerksamkeit vast des ganzen Europa auf sich gezogen [...].

Der Berner Hinkende Bote aus dem Jahre 1808 brandmarkte die Praxis Sklaverei und erklärte gleichzeitig die konkrete Bedeutung des Begriffs „Sklaverei", der den Lesern des Almanachs wohl eher abstrakt erschien.36 Im Berner Hinkenden Boten für 1804 wendet sich der Kalendererzähler wie folgt an „seine lieben Bauern": Ich wollt euch gerne etwas recht Kluges und Nützliches erzählen, damit ihr euer gutes Geld nicht nur zum Spasse ausgeben müßt; zwar Spaß soll auch in dem Hinkenden Boten seyn, denn ich lache selber gerne. Aber, der Mensch ist doch nicht nur zum Spasse auf der Welt, und so muß er wohl auch etwas anderes lernen und treiben, als nur Spaß. 37

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Le Fils Clopinet du Vieux Messager Boiteux de Bäle ä ses chers lecteurs et belles lectrices, in: Le Veritable Messager Boiteux de Bäle en Suisse, pour 1830. Bäle [ 1829], o.S. Des hinkenden Boten Reise um die Welt, in: Der große Straßburger Hinkende Bote. Straßburg 1814, Bl. 25 r°: „Wenn einer eine Reise thut, So kann er viel erzählen; Drum nahm ich meinen Stock und Hut, Und that das Reisen wählen. [...] Und fand es überall wie hier: fand immer einen Sparren; Die Menschen grade so wie wir, Und eben solche Narren." (1., 14. und letzte Strophe). Fortsetzung des Schiksals der Protestantischen Familie Calas in Frankreich, in: Historischer Calender, oder der Hinkende Bott. Auf das Jahr Christi 1766. Bern [ 1765], o.S. Etwas über die Neger-Sklaven, in: Historischer Kalender, oder der Hinkende Bott, auf das Jahr Christus 1808, Bl. 19 v°. Der Hinkende Bote an seine lieben Bauern, in: Historischer Kalender, oder der Hinkende Bott, auf das Jahr Christi 1804. Bern 1803, o.S.

Vom ,Messager Boiteux' zum ,Poor Richard'

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Die Erzählerfigur der französischen Ausgabe des Basler Hinkenden Boten von 1809 wandte sich ebenso freundschaftlich wie vertrauensvoll an seine Leserschaft, die er mit „chers amis et concitoyens" ansprach, um anzukündigen, daß er nachfolgend neue landwirtschaftliche Geräte vorstellen wolle, die Zeichen des Fortschritts darstellten.38 Der Kalendermann des Berner Hinkenden Boten schlug bereits in den 1780er Jahren einen vertrauten, deutlich an den Plauderstil mündlicher Kommunikation anknüpfenden Ton an, um die Leserschaft anzusprechen und ihr Vertrauen zu gewinnen. So heißt es in der deutschen Ausgabe von 1789: Meine Lieben Leser! Seyd mir alle gegrüßt, meine Leser, seyd mir alle herzlich willkommen! Wir kennen uns noch nicht, denn wir haben uns noch nie gesprochen; aber wir wollen schon Bekanntschaft machen, ich bin kein unfreundlicher Mann, und freue mich, wenn man mich mit einem kräftigen Handdruck und mit wohlmeynendem Herzen aufnimmt. Ich sitze gem unter meinen Mitmenschen, um ein Stündchen mit ihnen zu plaudern, ich lerne immer etwa, und kann auch bisweilen ihnen ein nützliches Wort fallen lassen. Wenn Sie dann hören wollen, und ich etwas gutes stiften kann, so ist mir das mehr werth als die schönste Mahlzeit. 39

Die Erzähler zahlreicher Almanache des Typs Hinkender Bote beantworteten ebenfalls - meist wohl fingierte - Leserbriefe40 und veröffentlichten Ratschläge, die vor allem die Landwirtschaft, aber auch die Küche und die ,Haushaltskunst' betrafen, wie z.B. in einem Artikel, der sich ausschließlich mit der Art des Kaffeebrühens beschäftigte. Der Volkskalender erscheint hier auch als ein Verbreitungsmedium neuer Konsumartikel und Konsumformen - wie des Kaffeetrinkens, das sich zunächst im 18. Jahrhundert in den sozialen Oberschichten zeigte - innerhalb breiterer Gesellschaftsschichten. Zugleich erscheint die Figur des ,Hinkenden Boten', vor allem in den Schweizer Kalenderausgaben, als Empfanger und Adressat von gleichfalls meist fingierten - brieflichen Ratschlägen, die er publiziert und an seine Leserschaft weiterleitet, wie beispielsweise einen Brief des „weltberühmten Herrn Doktor Philanthropus an den Hinkenden Boten von Vivis", in dem auf grassierende „bösartige Fieber" hingewiesen wird.41 Ein Bürger des Kantons Vaud bat in einem auf den 11. April 1804 datierten Brief den .Hinkenden Boten', im Kalender eine

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Le messager boiteux ä ses concitoyens, in: Almanach Historique nomme Le Messager Boiteux, pour 1809. Bäle[1808], o.S. Meine werthen Leser!, in: Historischer Calender oder der Hinckende Bott, auf das Jahr 1789, Bern [1788], o.S. Siehe z.B. die Rubrik Relation curieuse des choses les plus remarquables, in: Le Veritable Messager Boiteux de Neuchätel pour Van de gräce 1819, Bl. 14 r°: „Correspondance. Le Messager boiteux reijoit assez souvent des lettres de personnes qui prennent la peine de lui ecrire, soit pour critiquer ou louer avec plus ou moins de fondement les articles de son Almanach, soit pour lui communiquer des observations et des idees particulieres dont elles aimeroient instruire le public par son canal, soit pour l'informer de certains faits qu'elles croyent propres ä interesser ses lecteurs, et dont elles supposent qu'il n'a point encore entendu parier." Brief des weltberühmten Herrn Doktor Philantropus an den Hinkenden Botten von Vivis, in: Der Hinkende Bott von Vivis für 1810. Vivis [1809], o.S.

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aufgeklärte Exempelgeschichte abzudrucken, die die absurden Seiten volkstümlichen Aberglaubens veranschauliche. 42 Diese neue Rolle des aufgeklärten Beraters, Mittlers und persönlich-intimen Gesprächspartners, die mit der Figur des ,Hinkenden Boten' etwa ab den 1770er Jahren verbunden ist, geht deutlich über die tradierte diskursive Funktion eines am Rande der Gesellschaft stehenden Geschichtsschreibers, Berichterstatters und Astrologen hinaus, auf die er sich über zwei Jahrhunderte hinweg beschränkt hatte. Diese war mit einem präzisen Rollenverhalten, das den Erwartungen der Leser entsprach, verknüpft. Die Figur des ,Hinkenden Boten' erschien als Vertrauensperson, die - ähnlich wie die abgebildete Figur der Titelblattseiten - den Lesern zuzuhören vermag, ihre Bedürfhisse und Sorgen erkennt, mit den Unglücklichen leidet, das Unrecht und die Mißgeschicke der Geschichte beklagt, in gleicher Weise wie das weinende Kind, das auf vielen Titelseiten des Volkskalenders neben dem S i n kenden Boten' selbst abgebildet wird.

III. Schlußfolgerungen Die Figur des ,Hinkenden Boten', die charakteristisch für die populären Medien der europäischen Gesellschaften des 17., 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erscheint, überschreitet in mehrfacher Weise Gattungs- und Diskursgrenzen. Sie war ebenso in der Mündlichkeit des Alltagslebens der Epoche (etwa durch die Stimme des Kolporteurs) wie in Schrift und Bild verankert und transponierte in das Medium gedruckter Schriftlichkeit Formen mündlicher Gesprächskultur und Rhetorik. Eine fiktionale Erzählerfigur, die zugleich an Phänomene und Personen der sozio-kulturellen Alltagswirklichkeiten anknüpft, findet sich jedoch nicht nur in den Volksalmanachen des Typs Hinkender Bote / Messager boiteux, sondern in zahlreichen anderen Kalenderfiguren, wie zum Beispiel der Figur des ,Mathieu Laensbergh', der Symbolfigur des populären Almanachs gleichen Namens, der in Lüttich im 17., 18. und beginnenden 19. Jahrhundert verlegt und in einer Reihe von Nachahmungen und Raubdrucken (contrefagons) nachgedruckt wurde. In der Volkskalenderliteratur Nordamerikas findet sich in ähnlicher Weise eine Fülle von fiktionalen Kalenderfiguren, deren Namen sich zum Teil mit denen der 42

Der Brief insistiert auf der aufklärerischen Funktion des Almanachs, indem sein Verfasser schreibt: „Parmi les anecdotes qui se trouvent sur vos Almanachs, j'en discerne toutes les annees avec plaisir quelques-unes, qui tendent ä eclairer le peuple et ä le desabuser des fausses idees de la superstition; vous vous acquerez par ce moyen l'estime et la bienveillance de toutes les personnes sensibles, et depouillees des prejuges honteux qui infectent encore aujourd'hui une grande partie der notre pays; [...]. Je vous prie en consequence de vouloir inserer dans votre almanach pour 1805, l'anecdote suivante arrivee dans notre village, et qui y a fait beaucoup de bruit, ainsi que dans les environs." Lettre adressee aux editeurs du Messager Boiteux, par un particulier du gros de vaud, et datee du 11 Avril 1804, in: Messager Boiteux de Vevey, pour 1805. Vevey [1804] o.S.

Vom , Messager Boiteux' zum , Poor Richard'

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Kalendermacher und -Verleger selbst deckten oder von den Lesern mit diesen identifiziert wurden. Die Figur des ,Hinkenden Boten', der Astrologe und Mathematiker ,Antoni Sorgmann' (in der französischen Fassung ,Antoine Souci'), der sich in zahlreichen Volkskalendern des Gattungstyps Hinkender Bote / Messager Boiteux des 17. und 18. Jahrhunderts findet, und die Figur des ,Mathieu Laensberg' sind die bekanntesten unter ihnen. Noch zahlreicher und differenzierter waren die Volkskalenderfiguren in den nordamerikanischen Kalendern des 17.-19. Jahrhunderts, die häufig in ihrem Titel den Namen des Kalendermachers, Erzählers und gelegentlich auch Verlegers trugen, wie zum Beispiel Poor Will's Almanack (New York), Poor Roger's Almanack (New York), Poor Robin's Almanack (Philadelphia), Father Abraham 's Almanac (Philadelphia) oder Poor Thomas Improved: Being More's Country Almanac for 1760 (New York). Der bekannteste unter den nordamerikanischen Volkskalenderverlegern und -autoren ist zweifellos Benjamin Franklin, der Herausgeber, Verfasser und Verleger des Almanachs Poor Richard's Almanack, der bis in psychologische Charakterzüge hinein mit der von ihm geschaffenen fiktionalen Figur des Kalendermanns ,Armer Richard' identifiziert wurde. Eine gleichermaßen populäre wie aufgeklärte Kalenderfigur wie der ,Hinkende Bote' zahlreicher Schweizer Volkskalender seit den 1770er Jahren findet sich auch in mehreren Zeitungen und Almanachen der Revolutionsepoche, die unmittelbar an die Volkskalendertradition anknüpften, obwohl sie zu dieser, in zum Teil sehr dezidierter Weise, Distanz bezogen: so etwa in der Gestalt des Ofenmachers und Zeitungsschreibers ,Pere Duchesne', der einer gleichnamigen Zeitung und einem Almanach als Symbol- und Erzählerfigur diente; oder im ,Pere Gerard', dem Erzähler des Almanach du Pere Gerard, der 1792 von Collot d'Herbois herausgegeben wurde und den Preis der Societe des Amis de la Constitution für den besten Volkskalender neuen Stils zugesprochen erhielt. Die populären Almanache der Französischen Revolution, die strukturell dieselbe Mittlerrolle zwischen der gelehrten Welt und der Alltagswelt des einfachen Volkes einnahmen wie ihr Vorbild, setzten den Akzent entweder auf die rationelle und kognitive Vermittlung von Wissen (wie der Almanach du Pere Gerard) oder auf die Emotionalität und die Polemik (Merkmale des Pere Duchesne). Der Almanach du Pere Gerard stellt eine volksnahe Erzählerfigur vor, die die Bauern zum gemeinsamen Essen einlädt und ihnen dann, in dialogischer Form, die wesentlichen politischen Begriffe des „nouveau regime" erklärt, wie „nation" und „souverainete" und seine wesentlichen Institutionen, wie die Gerichte, die Armee und das Parlament. 43 Durch ihre volksnahen Erzählerfiguren verfolgten der Almanach du 43

Almanach du Pere Gerard, pour l'annee 1792, llle de la liberie. Ouvrage qui a remporte le prix propose par la Societe des Amis de la Constitution seante ä Paris. Paris 1792, S. 42: „Des le matin, les Paysans etoient ä crier, sous les fenetres du pere Gerard, vive la nation! bonjour au pere Gerard. Le pere Gerard, mettant la tete ä la fenetre, leur a dit: Entrez dans le jardin, mes amis, nous dejeunerons ensemble. C'est dans le jardin que les entretiens suivans ont eu lieu."

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Pere Gerard und die Zeitung Le Pere Duchesne die Zielsetzung, die traditionellen narrativen Rollen des volksnahen Erzählers und Kolporteurs, wie sie der ,Hinkende Bote' repräsentierte, für politische Zwecke und republikanische Zielsetzungen zu nutzen. Der Berner Hinkende Bote von 1814 definierte in einer Leseransprache explizit diese tradierten und hier in neuer Weise nutzbar gemachten rhetorischen und narrativen Rollen, die aus seiner Sicht mit der traditionellen Erzählerfigur des ,Hinkenden Boten' verbunden waren und im Kontext der Französischen Revolution in neuer Weise instrumentalisiert wurden: Er unterscheidet zwischen der Rolle des ,Dichters' als demjenigen, der Weisheit lehrt; der Rolle des ,Historikers', der ,Weltgeschichten' erzählt und kommentiert; und schließlich der Rolle des ,Erzählers' im eigentlichen Sinn des Wortes, dem die Aufgabe zufallt, Anekdoten, Rätsel, Fabeln und ,Schwänke' aus dem Alltag zu erzählen.44 Diese stellten, so die Erläuterungen des Berner Hinkenden Boten, ein Gegengewicht zur großen Geschichte dar, von der er auf seine Weise berichte, langsam, überlegt und selektiv, aber deren Wechselfallen er ebenso ohnmächtig gegenüberstehe wie seine Leser.

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Historischer Kalender, oder der Hinkende Bott, auf das Jahr Christi 1814. Bern [1813], o.S.

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,Ubi libertas, ibi patria': Zur Interkulturalität deutschamerikanischer populärer Kalender des 18. und 19. Jahrhunderts I. Untersuchungsgegenstand und Forschungslage Der einzig neuere, 1993 in Walther Killys Literaturlexikon publizierte Überblicksartikel zum Thema Nordamerikanisch-deutsche Literaturbeziehungen läßt einen relevanten Textkorpus, der im 18. und 19. Jahrhundert im Zentrum des alltäglichen Diskurses über die Fragen kultureller Identität und Alterität stand, außer Acht: die seit 1731 in Pennsylvania und schließlich in anderen Staaten erschienenen deutschsprachigen populären Kalender. Die Ausblendung dieses periodischen Schrifttums führte nicht nur zu der eigenwilligen These, „die Auswanderer" hätten ebenso „wie die nach 1848 einflussreichen Amerikadeutschen nicht an dem kulturellen Amerikadiskurs" partizipiert, sondern auch zum Trugschluß, der Kulturtransfer habe sich vor allem durch „die Europareisen der Gebildeten" vollzogen.1 Derartige Annahmen lassen sich relativieren mit dem Hinweis auf die auch für Auswanderer konzipierte, in Hildburghausen und New York verlegte, in Massenauflagen verbreitete Miniaturbuchreihe Meyer 's Groschen-Bibliothek der Deutschen Classiker, das über 160 Titel umfassende Literaturprogramm der in New York ansässigen Amerikanischen Tractat-Gesellschaft, die zahlreichen Zeitschriften und mindestens 39 im Osten Nordamerikas erschienene deutschsprachige Kalenderreihen sowie die auf 142 Seiten im XV. Band von Karl Goedekes Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung ausgebreitete deutschamerikanische Literatur.2

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Schmitz, Walter, Nordamerikanisch-deutsche Literaturbeziehungen, in: Killy, Waither (Hg.), Literaturlexikon. 15 Bde. Gütersloh / München 1988-93, hier Bd. 14 (1993), S. 165f. Der Beitrag steht im Zusammenhang eines gemeinsam mit Hans-Jürgen Lüsebrink (Saarbrücken) organisierten Forschungsprojektes .Kulturtransfer und Autonomisierung. Kulturvergleichende und interkulturelle Studien zu deutschamerikanischen und frankokanadischen populären Kalendern des 18. und 19. Jahrhunderts'. Die Reihe Meyer's Groschen-Bibliothek der Deutschen Classiker umfaßte Hunderte kleiner Bändchen, die Verlagsangaben waren stets gleich: „Hildburghausen: Druck vom Bibliographischen Institut. New-York: Hermann J. Meyer." Laut Umschlagwerbung wurde die Reihe an alle „soliden Buchhandlungen in und außerhalb Deutschlands" geliefert und großzügig rabattiert. In der Verlagswerbung der in New York ansässigen Amerikanischen Tractat-Gesellschaft wurden zahlreiche „Erbauungs-Bücher von ausgezeichneten theologischen Schriftstellern, sowie 140 evangelische Tractate und 20 Kinder-Tractate" angeboten. Zu den Periodika und zur deutschamerikanischen Belletristik vgl. Goedeke, Karl, Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen. 17 Bde, hg. v. Herbert Jacob. Berlin 2/31884—1991, hier Bd. XV (1966), S. 518-661; zur Thematisierung der Auswanderung in der zeitgenössischen fiktionalen

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Da sich das deutschsprachige Verlagswesen in Nordamerika von Anfang an in Pennsylvania konzentrierte, kommt den populären Kalendern aus dieser ursprünglich britischen Kolonie in diesem Kontext besondere Bedeutung zu. 1775 lebten in Pennsylvania weit über 100.000 deutschsprachige Einwanderer, eine nichtenglischsprachige Kultur zentrierte sich in Germantown, Lancaster und Philadelphia. 3 Der früheste deutschamerikanische Kalender, den die maßgebliche Bibliographie Deutsch-Amerikanische Zeitungen und Zeitschriften 1732-1955 von Karl John Richard Arndt und May Evelyn Olson auffuhrt, erschien 1731 unter dem Titel Der Teutsche Pilgrim, Mitbringende einen Sitten-Calender. Der von Herbert Jacob 1966 herausgegebene, das Verzeichnis von Arndt und Olson berücksichtigende 15. Band von Goedekes Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung fuhrt für die Zeit zwischen 1739 und 1847 39 populäre deutschsprachige Kalenderreihen auf, wobei die meisten erhaltenen Jahrgänge aus den Jahrzehnten nach 1776 stammen. Das Gros dieser Publikationen, nämlich 34, erschien in Pennsylvania, fünf weitere Unternehmungen etablierten sich in Ohio (Cincinnati, Lancaster) sowie Maryland (Hagerstown, Baltimore). Etwa ein Viertel dieser Periodika wies eine bemerkenswert lange Erscheinungsdauer auf: Der Hagerstowner Neue Nord-Americanische Stadt- und Land Calender wurde von 1797-1918, der ältere Americanische Stadtund Land Calender aus Philadelphia von 1784-1860, der Neue, Gemeinnützige Landwirtschafts Calender aus Lancaster von 1788-1832 und die „sicher wichtigste" 4 Reihe, der Hoch-Deutsche Americanische Calender, 1739-1833 in Germantown und Philadelphia publiziert. Alle von Herbert Jacob in Goedekes Grundriß genannten Unternehmungen brachten neben den kalendarischen Rubriken einen literarischen Teil, der in der Regel „Gedichte und Prosadichtungen" 5 enthielt. Bei diesen Texten handelte es sich um Übernahmen aus deutschen Almanachen, Taschenbüchern, Kalendern und Zeitschriften, Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen, Auszüge aus deutschen Romanen oder Volksbüchern aber auch um Originalbeiträge der Kalendermacher oder deutschsprachiger Autoren Nordamerikas. Das Spektrum der literarischen Gattungen glich dem des in Oberdeutschland, Ostfrankreich und der Schweiz verbreiteten Hinkenden Boten. Unübersehbar war die dezidiert aufkläreri-

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Literatur vgl. Mikoletzky, Juliane, Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischenßktionalen Literatur. Tübingen 1988. Drucker und Buchhändler wie Jacob Hütter in Lancaster boten schon 1800 ein „8000 Bände" umfassendes Sortiment der „neuesten und besten deutschen Bücher" an; vgl. Goedeke, (wie Anm. 2), Bd. XV (1966), S. 519. Das frankophile Publikum in Philadelphia wurde von der Firma „Boinod und Gaillard" bedient, die seit 1784 einen Catalogue des livres veröffentlichte, der eine „unerwartet große Anzahl von Titeln französischer Autoren" verzeichnete. Stern, Madeleine B., Ursprung und Entwicklung des Antiquariatsbuchhandels in Philadelphia, in: Aus dem Antiquariat 11 (1984), S. 4 0 5 ^ 2 0 , hier S. A 408. Goedeke, (wie Anm. 2), Bd. XV (1966), S. 541. Ebd., S. 540.

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sehe Ausrichtung sowie ein egalitärer, oft auch abolitionistischer Impetus. 6 Von Anfang an widmeten sich die Kalender dezidiert amerikanischen Themen, und zwar nicht nur in den Genres der Reisebeschreibung, der Anekdote, der Biographie und des zeitgeschichtlichen Berichts, sondern auch in lyrischen und fiktiven Beiträgen. Gerade diese Texte veranschaulichen eine Entwicklung kultureller Autonomisierung. Da dieser Ablösungsprozeß nicht stringent verlief und sogar, wie die Biographie des Buchhandelshistorikers und Amerikaheimkehrers Friedrich Kapp belegte, 7 reversibel sein konnte, gab es bisweilen keine klaren Grenzen der Zugehörigkeit zu einer deutschen oder nordamerikanischen Kultur. 8 Als gänzlich unbrauchbar erweist sich in diesem Kontext die von Karl Kurt Klein 1939 in seiner Literaturgeschichte des Deutschtums im Ausland unter rassistischen und organologischen Vorzeichen aufgeworfene Frage nach der Abhängigkeit der deutschamerikanischen Kultur vom „deutschen Volkskörper". 9 Als wenig weiterführend erwies sich auch die von Jacob 1966 geforderte Fokussierung auf die ästhetische „Qualität des deutsch-amerikanischen Schrifttums", 10 da unter diesen Vorzeichen die „symbolische Vergesellschaftung" 11 des Kulturtransfers marginalisiert wurde. Der in der einschlägigen Bibliographie von Milton Drake mit dem Titel Almanacs of the United States aufgelistete, 1777 in Pennsylvania verbreitete HINCKEND- UND Stolpernd- doch eilfertig-fliegend- und laufende Americanische Reichs-Bottn veranschaulichte das Spannungsverhältnis von Kulturtransfer und Autonomie bereits durch den Namen und die Konzeption. Für den zeitgenössischen Leser erkennbar, rekurrierte dieses Unternehmen auf den spätestens seit 1698 im deutschen Offenbach verlegten, überregional rezipierten Kalender mit dem Titel Der Hinckend- und Stolpernd- doch eilfertig fliegend- und lauffende Bott. Das ist: Neu- Verbesserter Reichs-Staats-Geschichts-Kriegs-Siegsund Friedens-Calender 6

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Vgl. Mix, York-Gothart, Lektüre für Gebildete und Ungebildete. Einleitende Bemerkungen zu H. C. Boies ,Musenalmanach', J. P. Hebels .Rheinländischem Hausfreund' und anderen literarischen Begleitern durch das Jahr, in: ders. (Hg.), Almanach- und Taschenbuchkultur des 18. und 19. Jahrhunderts. Wiesbaden 1996, S. 16f. Vgl. Brauer, Adalbert, Friedrich Kapp und die ,Geschichte des deutschen Buchhandels', in: Buchhandelsgeschichte 4 (1984), S. 150-156, hierS. 152f. Vgl. Goedeke, (wie Anm. 2), Bd. XV (1966), S. 519. Klein, Karl Kurt, Literaturgeschichte des Deutschtums im Ausland. Schrifttum und Geistesleben der deutschen Volksgruppen im Ausland vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Leipzig 1939, S. 87. Goedeke, (wie Anm. 2), Bd. XV (1966), S. 518. Bollenbeck, Georg, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a.M. / Leipzig 1994, S. 193. Vgl. auch Döring, Sabine Α., Vom ,nation-building' zum Identifikationsfeld. Zur Integrationsfunktion nationaler Mythen in der Literatur, in: Turk, Horst / Schultze, Brigitte / Simanowski, Roberto (Hg.), Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel der Literaturen. Nationalismus, Regionalismus, Fundamentalismus. Göttingen 1998, S. 63-83, hier S. 75ff.; Jurt, Joseph, Das Konzept des literarischen Feldes und die Internationalisierung der Literatur, in: ebd., S. 84-103, hier S. lOlff. Vgl. Drake, Milton (Hg.): Almanacs of the United States. 2 Bde. New York 1962, hier Bd. II (1962), S. 963. Zu den deutschamerikanischen Kalendern und Almanachen vgl. auch Goedeke, (wie Anm. 2), Bd. XV (1966), S. 540-544.

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und versuchte ähnlich wie der fast ein Jahrhundert später veröffentlichte Cincinnatier hinkende Bote ein deutschsprachiges Vademecum „für die Vereinigten Staaten von Nordamerika"13 zu sein. Was sich auf den ersten Blick als ein der Tradition verhaftetes Medium gerierte, wies ungeachtet buchgestalterischer, konzeptioneller und inhaltlicher Parallelen signifikante, ja ostentative Unterschiede auf. Die Titelfigur des hinkenden Boten überreichte nicht mehr Herrschern oder Untertanen die neuesten Nachrichten, sondern einem Siedler, der Tatendrang und Unabhängigkeit visualisierte und unter den Schwingen des von Sternen umkränzten, beschützenden American Eagle stand. An die Stelle der in Ostfrankreich, Südwestdeutschland und der Schweiz üblichen, von Fürsten, Soldaten und Kriegsherren bevölkerten Geschichtspanoramen der Hinkenden Boten rückte die Titelillustration des Cincinnatier hinkenden Boten ein weites, unbebautes Feld mit einem neuerrichteten Siedlerhaus in das Blickfeld. Deutlich erkennbar manifestierte sich in der Ikonographie des Titelblatts ein Wandel soziokultureller Identität. Ungeachtet der gleichen Sprache und einer medientypischen ,Beharrungstendenz' manifestierte sich im Cincinnatier hinkenden Boten die Relativierung jener charakteristischen „Traditionsrelevanz",14 die als kulturell integrative Norm fungierte. Im Bild des Siedlers und des am Firmament stehenden Adlers wurde der Lebenszusammenhang des impliziten Kalenderlesers in einer regionalen und globalen Ordnung lokalisiert, die triadische Vorstellung einer eigenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft evoziert und der individuelle Erlebnishorizont des Einwanderers in die Kollektivsymbolik einer gemeinsamen Geschichte integriert. Eindeutiger als viele Romane und Novellen waren die zwischen Faktualität und Fiktionalität oszillierenden Kalendertexte auf historische Ereignisse bezogen, die unter den Prämissen konkurrierender Geschichtsentwürfe unterschiedlich interpretiert wurden. Die Komplexität des Historischen wurde in der Selektion und Verknüpfung singulärer und identitätsstiftender Begebenheiten reduziert und als neue Erfahrungswelt erschlossen: „In der Geschichte begreift der Mensch sich selbst, und indem er sie sich erzählt, schafft er sie sich selbst nach seinen eigenen Gesetzen."15 Anhand der Personifikation des Kalenders als Cinncinnatier hinkender Bote in Anlehnung an das vertraute Vorbild aus der Alten Welt kam eine Selbstthematisierung des

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Der Cincinnatier hinkende Bote. Ein Kalender für die Vereinigten Staaten von Nordamerika, auf das Jahr unsers Herrn 1865, welches ein gemeines Jahr von 365 Tagen ist. New-York o.J., No. 9, Dey Str. Titelblatt. Schenda, Rudolf, Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910. Frankfurt/M. 1970, S. 325. Koselleck, Reinhart, Geschichte, in: Brunner, Otto / Conze, Werner/ Koselleck, Reinhart (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 8 Bde. Stuttgart 1972-1997, hier Bd. 2, 3 1992, S. 593-717, hier S. 640. Vgl. auch: Döring, Sabine Α., Vom ,nation-building' zum Identifikationsfeld. Zur Integrationsfunktion nationaler Mythen in der Literatur, in: Turk / Schultze/ Simanowski, (wie Anm. 11), S. 75ff.

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Mediums zum Ausdruck, die die Glaubwürdigkeit des Gesagten unterstreichen und das im doppelten Sinne Merkwürdige in einen vertrauten Rahmen überführen sollte. Ganz gleich, ob es sich um exemplarische Auswanderergeschichten, rechtliche und politische Probleme, Begebenheiten aus dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg oder Episoden über die indianische Kultur handelte, immer wurde das Berichtete auf ein mediales Schema bezogen, das ungeachtet der von Rudolf Schenda diagnostizierten „Beharrungstendenz" 16 einen neuen Sinn der Geschichte und Kultur popularisierte. Wie schon im Hinckend- und Stolpernd- doch eilfertig fliegend- und lauffenden Bott wurde auch im Cincinnatier hinckenden Boten Realität nicht im Sinne ästhetischer Simulationen chiffriert oder gar als Realität widergespiegelt, sondern medienspezifisch konstruiert. 17 In der Korrelation mit der als Kollektivsingular entdeckten eigenen Geschichte erhielt die als Ausweis eigener Identität begriffene Kultur in der diskursiven Dynamik einer andersartigen sozialen und politischen Öffentlichkeit schließlich das Signum der Alterität. Durch die Verklammerung mit den republikanischen Idealen evozierte sie fur die europäische Welt differente Vorstellungen von den Aufgaben der Bürger, ihrer Sozietät und Historie, die bald auf die alte Heimat zurückwirkten. Wurde ein im Pennsylvanischen Haushaltskalender vom Jahre 1770 erschienener Moralischer Artikel noch als so wegweisend begriffen, daß er 1771 im Hannoverischen Magazin und schließlich 1781 im Hermannstädter Siebenbürgischen Allmanach mit großer Zustimmung abgedruckt wurde 18 , verwarf Heinrich Heine 1840 ein selbst von Johann Wolfgang Goethe in den Zahmen Xenien und in Wilhelm Meisters Wanderjahren positiv stilisiertes Amerikabild. In der polemischen Denkschrift Ludwig Börne verkehrte Heine das von Goethe mit den Hinweisen auf den freien „Spielraum der allgemeinsittlichen und religiösen Vorstellungen" und „die unbedingte Tätigkeit im Erwerb" 19 skizzierte positive Bild der USA mit Stichworten wie „rohe Herrschaft", „Sklaverey", „Brutalität", „Heucheley", „Selbstsucht" und „Ungerechtigkeit" 20 in das Gegenteil. Heine resümierte: „Der weltliche Nutzen ist ihre eigentliche Religion und das Geld ist ihr Gott, ihr einziger, allmächtiger Gott." 21 August Heinrich Hoffmann von Fallersleben hingegen assoziierte das demagogische Stereotyp eines übermächtigen Erwerbsinns in den 1844 sowie 1871 16 17 18

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Schenda, (wie Anm. 14), S. 325. Vgl. Luhmann, Niklas, Die Realität der Massenmedien. Opladen 1996, S. 16f. Vgl. Haefs, Wilhelm / Mix, York-Gothart, Der Musenhort in der Provinz. Literarische Almanache in den Kronländern der österreichischen Monarchie im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in: Archiv fir Geschichte des Buchwesens 27 (1986), S. 171-194, hier S. 184. Goethe, Johann Wolfgang, Sämtliche Werke, hg. von Hendrik Birus u.a. 40 Bde. Frankfurt/M. 1987ff., hier I. Abt., Bd. 10: Wilhelm Meisters Wanderjahre (1989), hg. v. Gerhard Neumann u. Hans-Georg Dewitz, S. 343. Heine, Heinrich, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. v. Manfred Windfuhr in Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut im Auftrag der Landeshauptstadt Düsseldorf. 16 Bde. Hamburg 1973-1997, hier Bd. 11: Ludwig Börne: Eine Denkschrift (1978), bearb. v. Helmut Koopmann, S. 37f. Ebd., S. 38.

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erschienenen satirischen Gedichten John Bull, der Enthusiast

und Time is

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money22

mit britischer Mentalität. Während in Deutschland vor dem Hintergrund der Weimarer Klassik eine „ästhetische Nobilitierung der prosaisch-formlosen bürgerlichen Existenz" 23 propagiert, das Ideal der Bildung als „nationale Eigenheit" 24 gefeiert und der Endzweck der Kultur in der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts als dezidiert nationale Aufgabe postuliert wurde, formierte sich die deutschsprachige Kultur in Nordamerika unter anderen Vorzeichen. Da von den Immigranten der Staat nie als „das höchste kollektive Produkt der Bildung" 25 im Sinne Georg Wilhelm Friedrich Hegels begriffen, sondern im Gegenteil die Absenz

des Staates als Garantie für un-

abhängiges, „freies Sprechen" und „Denken" 2 6 angesehen wurde, kam es weder zu einer Formierung eines staatstragenden Bildungsbürgertums, noch zu der ab 1871 als Konsequenz kritikloser Verklärung der Bildungsutopie erlebten dramatischen Bildungskrise. 2 7 Statt dessen orientierte sich die in den German Societies28

gepfleg-

te Rezeption deutscher und österreichischer Elitenkultur ebenso w i e das Interesse an einer populären deutschsprachigen Literatur 29 in den kommunikativen Strukturen eines „zivilisatorischen Netzes", das man in Deutschland unter Berufung auf die „fatale Antithese von Kultur und Culture" 30 jahrzehntelang abwertete.

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Vgl. Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich, Time is money; John Bull, der Enthusiast, in: ders. Gedichte und Lieder, hg. ν. Hermann Wendebourg u. Anneliese Gerbert. Hamburg 1974, S. 317f. u. S. 350. Borchmeyer, Dieter, Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche. Weinheim 1994, S. 295. Bollenbeck, (wie Anm. 11), S. 160. Jeismann, Karl-Emst, Zur Bedeutung der ,Bildung' im 19. Jahrhundert, in: Jeismann, KarlEmst / Lunsgreen, Peter (Hg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. 6 Bde. München 1987-1998, hier Bd. 3: 1800-1870. Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des Deutschen Reiches (1987), S. 4. Hoffmann von Fallersleben, (wie Anm. 22), S. 302. Vgl. auch: Ritter, Alexander, Grenzübertritt und Schattentausch. Der österreichische Priester Carl Postl und seine vage staatsbürgerliche Identität als amerikanischer Autor Charles Sealsfield. Eine Dokumentation, in: Freiburger Universitätsblätter 143 (1999), S. 39f. Vgl. Mix, York-Gothart, Die Schulen der Nation. Bildungskritik in der Literatur der frühen Moderne. Stuttgart / Weimar 1995, S. 26ff. u. S. 185ff. Vgl. Neils Conzen, Kathleen, Pattems of German-American History, in: Miller, Randall M. (Hg.), Germans in America. Retrospect and Prospect. Tricentennial Lectures Delivered at the German Society of Pennsylvania. Philadelphia 1984, S. 27ff. Vgl. Doerris, Reinhard R., Immigrant Culture and Religion. Church and Faith Among German Americans, in: ebd., S. 8Iff; Yoder, Don, The Palatine Connection. The Pennsylvania German Culture and Its European Roots, in: ebd., S. 94ff; Bentzel, Curtis C., Calligraphy and Linguistics. A Different Look at the F&M Fraktur, in: Fraktur. A Selective Guide to the Franklin and Marshall Fraktur Collection. Lancaster 1987, S. 9ff; Conner, Paul / Roberts, Jill, Pennsylvania German Fraktur and Printed Broadsides. A Guide to the Collections in the Library of Congress. Washington 1988. Adorno, Theodor W., Auf die Frage: Was ist deutsch, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann. 20 Bde. Frankfurt/M. 1970-1986, hier Bd. 10/2 (1977), S. 691-701, hier S. 695 u. S. 697.

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Die 1827 von Alexis de Tocqueville auf seiner Reise durch die USA getroffene Behauptung, die Nordamerikaner hätten außer den vielen Schriften von „Journalisten", Politikern und Missionaren „genaugenommen noch keine Literatur",31 wurde vor dem Hintergrund der massenhaften Verbreitung populärer Kalender und Zeitschriften, einer ungebrochenen Rezeption kanonisierter Werke europäischer Autoren und der späten Entstehung einer originär amerikanischen Literatur formuliert. Da sich in den USA im Gegensatz zu Deutschland ein alle Bevölkerungsgruppen einendes Nationalbewußtsein nicht aus der Idee einer staatstragenden, integrativen Kultur entwickelte, sondern aus dem Glauben, „menschlichen Gemeinschaften zu entstammen", die als so „natürlich" galten, daß sie „zu ihrer Definition nur ihrer Selbstbehauptung" 32 bedurften, wurden die kulturellen Bindungen zwischen den Einwanderern und ihren Herkunftsländern unterschiedlich bewertet. Das kulturell, konfessionell, politisch und territorial zerrissene Deutschland wurde in diesem Kontext keineswegs verklärt und als ambivalent eingestuft. Im politischen und sozialen Sinne galt der „Amerikaner" zwar schon im 18. Jahrhundert als „ein neuer Mensch", 33 kulturell wirkten aber die als identitätsstiftend angesehenen Traditionen der ursprünglichen Heimatregion fort. Über die deutschen Einwanderer in Pennsylvania berichtete Hector St. John de Crevecceur am Vorabend der französischen Revolution: Ihr Erstaunen bei der Ankunft aus Deutschland ist sehr groß - für sie ist alles ein Traum; der Gegensatz muß in der Tat gewaltig sein; allerorts sehen sie ihre Landsleute in Wohlstand leben; sie reisen durch ganze Counties, wo kein Wort Englisch gesprochen wird; und sie erkennen in den Namen und in der Sprache der Menschen Deutschland wieder. Sie sind fur diesen Kontinent und für Pennsylvania insbesondere eine nutzbringende Errungenschaft geworden. Ihnen verdankt es einen gewissen Teil seines Wohlstandes. [...] Solange diese Menschen leben, tragen sie die Erinnerung an ihre frühere Armut und ihr Sklavendasein stets mit sich. 34

Die hier angesprochene, paradox wirkende Verklammerung von kulturellem Traditionalismus, Regionalbewußtsein sowie wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Modernität konnte der populäre Kalender wie kein anderes Medium alltagsbezogen thematisieren. Mit ihrem breiten inhaltlichen Spektrum und einer ebenso belehrenden wie unterhaltenden Tendenz hatten sich Kalendertypen wie der Hinkende Bote oder Haushaltungs-Kalender35 bereits in Europa als erfolgreiche, ethnokul31

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Tocqueville, Alexis de, Über die Demokratie in Amerika, in: Förster, Heinz (Hg.), Was ist ein Amerikaner? Zeugnisse aus dem Zeitalter der amerikanischen Revolution. Leipzig / Weimar 1987, S. 342. Hobsbawm, Eric, Das Erfinden von Traditionen, in: Conrad, Christoph / Kessel, Martina (Hg.), Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung. Stuttgart 1998, S. 97-118, hier S. 115. St. John de Crevecceur, Hector, Briefe eines amerikanischen Farmers, in: Förster, (wie Anm. 31), S. 11. Ebd., S. 27. Vgl. Wiedemann, Inga,,Der Hinkende Bote' und seine Vettern. Familien-, Haus- und Volkskalender von 1757 bis 1929. Katalog der Kalendersammlung des Museums für Deutsche Volkskunde. Berlin 1984, S. 51 f.

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turell integrative Medien erwiesen, die nicht nur die Lesekundigen, sondern auch das illiterate Publikum erreichten. Da nur „wenige der deutschen Immigranten bei der Ankunft in den Vereinigten Staaten das Englische" 36 beherrschten, blieb der Kalender auch in der Neuen Welt ein wichtiges Leitmedium: jeder Akkulturation und erst recht jeder Assimilation in den englisch dominierten Gebieten waren zunächst enge Grenzen gesetzt.37 Ähnlich wie die Auswandererromane des 19. Jahrhunderts vermittelten viele populäre Kalender ihren Lesern, daß eine forcierte Akkulturation gar kein wichtiges Ziel sei: Nur Figuren mit kriminellen Intentionen nehmen den amerikanischen Lebensstil schnell und freiwillig an, die positiven Helden zeigen sich besonders [...] widerstrebend; umgekehrt wird das Festhalten an aus Deutschland mitgebrachten Gewohnheiten und Gegenständen durchwegs zur vorteilhaften Charakterisierung von Figuren benutzt.38

Die von jungdeutschen Autoren wie Heinrich Heine gepflegten antiamerikanischen Reflexe verdichteten sich bei vielen nach dem Scheitern der 1848er Revolution emigrierten Deutschen zu der Überzeugung einer „grundsätzlichen kulturellen Überlegenheit", die schließlich bei manchen „Amerikanern Überfremdungsängste" 39 provozierte. Wie in den Auswandererromanen wurde in den Kalendern ein positiv stilisiertes Selbstbild vermittelt, das auf vermeintlich deutschen Tugenden wie Rechtschaffenheit, Fleiß, Ehrlichkeit und Ordnungsliebe rekurrierte. Im Beharren auf distinktive Werte und Normen verstärkte sich bei vielen Auswanderern ein Bewußtsein ethnokultureller Alterität, das sich schließlich aber auch gegen das als rückständig angesehene Herkunftsland richtete. Vor dem Hintergrund einer völlig andersartigen politischen Wirklichkeit entwickelte sich in der Neuen Welt ein divergentes Kollektivbewusstsein, das den Habitus der „clannishness"40, einer demonstrativen Abgrenzung, begünstigte und die Vorstellung provozierte, erstmals das wirkliche Deutsche zu verkörpern. In seinem 1879 publizierten, mehrbändigen Werk In Amerika schrieb der 1843 aus den USA heimgekehrte Reiseschriftsteller Friedrich Gerstäcker: Wir hier in Amerika sind ein ganz anderes Volk wie daheim, wir haben uns nicht allein körperlich, sondern wohl auch geistig hier geändert, und zwar auf eine ganz wunderbare Weise. Was wir nämlich in Deutschland selbst nie waren, das sind wir plötzlich hier alle miteinander geworden: wirkliche Deutsche, und die alten elenden Vorurteile der Heimat konnten gleichfalls das Seewasser nicht vertragen. Wir wurden nicht allein Deutsche, sondern auch Menschen, mit dem Bewußtsein der Gleichberechtigung bei Allen, die auch etwas leisten, und damit erwachte, was viele daheim kaum dem Namen nach gekannt: unser Selbstgefühl.41 36 37

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Mikoletzky, (wie Anm. 2), S. 253. Vgl. Esser, Hartmut, Aspekte der Wanderungssoziologie. Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten. Eine handlungstheoretische Analyse. Darmstadt / Neuwied 1980, S. 20f. Mikoletzky, (wie Anm. 2), S. 272. Ebd., S. 277. Ebd., S. 300. Gerstäcker, Friedrich, In Amerika. Amerikanisches Lebensbild aus neuerer Zeit. Im Anschluß an ,Nach Amerika'. 3 Bde. Jena 1872, hier Bd. 1 (1872), S. 233.

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II. Prämissen zukünftiger Forschung Aus dem skizzierten Zusammenhang ergeben sich vier Problembereiche, die sich für die zukünftige Forschung als grundlegend erweisen. Zu fragen ist erstens nach den medienspezifischen Charakteristika und einer gattungstypologischen Divergenz deutschamerikanischer Kalender, zweitens nach den in diesen Periodika transportierten kollektiven Identitätsmustern, drittens nach möglichen Formen interkultureller Kommunikation und schließlich viertens nach dem Verhältnis von Akkulturation und Autonomie. Der erste Problemkomplex schließt die Analyse der lesersoziologischen und buchhandelsgeschichtlichen Rahmenbedingungen für die Konstituierung einer literarischen Massenkommunikation in den deutschsprachigen Gebieten der USA ein und berührt alle Fragen, die sich aus einer Divergenz zu den tradierten Mustern populärer europäischer Almanache ergeben. Ausgehend von der Materialität, Struktur und Funktion der Kalender ist das Profil der impliziten und expliziten Leser, das Spektrum der Textsorten, die Figur des Kalendermannes, das Verhältnis von Text und Illustration sowie die Intention der Herausgeber zu eruieren. Anhand der Tilgung oder Neugestaltung gängiger Kalendersparten wie der des Verzeichnisses europäischer Herrschaftshäuser, einer summarischen oder nur beiläufigen Berichterstattung über die Kriege in der Alten Welt, der Orientierung des praktischen Kalenderteils auf den amerikanischen Alltag, der stärkeren Berücksichtigung moralisch-didaktischer Texte, der Vorliebe für neue Gattungen wie der des Auswanderergesprächs sowie der Konstruktion eines eigenen Geschichtsbildes wird eine Differenzqualität erkennbar, die mit dem von den Kalendern popularisierten kollektiven Identitätsmustern korreliert. Unter den Vorzeichen der sich konstituierenden eigenen Historie ist zweitens nach dem Verhältnis von Geschichten und Geschichte zu fragen, denn das „lebendige, kommunizierte und in Zeitzeugen repräsentierte kommunikative Gedächtnis gewinnt durch die Institutionen und Medien eines kulturellen Gedächtnisses Dauer über die personalen Gedächtnisträger hinaus."42 Alltagsbezogene, individuelle aber als exemplarisch angesehene Auswandererberichte wie Die traurige Geschichte der Manheimischen Familie, welche 1799 an dem Fluß Mohawk ein Opfer indianischer Grausamkeit geworden, sind in diesem Kontext ebenso als Konstituenten kollektiver Identitätsmuster anzusehen wie traditionelle symbolische Kodierungen, etwa der kalendarische Hinweis auf „General Waschington's Geburtstag", die erste „Sitzung des Congreßes" 1775 oder die „Erklärung der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von America".43 Zwangsläufig verengt sich der Zeithorizont der

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Schmidt, Thomas, Kalender und Gedächtnis. Erinnern im Rhythmus der Zeit. Göttingen 2000. Vgl. Der Neue Hoch Deutsche Americanische Calender, Auf das Jahr Christi 1798, Welches ein Gemein Jahr von 365 Tagen ist. Baltimore, o.S.; Der gemeinnützige Americanische Calender Auf das Jahr Christi 1803. O.O., o.S.

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amerikanischen Kalender auf wenige Generationen, die im Kontext der Konstituierung eines Nationenbegriffs in Deutschland populären Bilder und Historien aus mythischer Urzeit 44 spielen in den deutschamerikanischen Kalendern keine Rolle. Der Glaube an einen welthistorischen Neubeginn fördert eine in Europa weitgehend unbekannte „Unifizierung" 45 des Gedächtnisraumes: Jenseits von konfessionellen, territorialgeschichtlichen, ständestaatlichen oder monarchischen Konflikten fungierte der Hoch-Deutsche Americanische Calender oder der Americanische Stadt- und Land Calender als ein Perpetuum mobile historischer und ethno-kultureller Identifikationsmuster. Die modifizierte Kollektivsymbolik kann einerseits durch die im Kalendarium aufgeführten Gedenktage und Personen und andererseits durch die in Anekdoten, Witzen und in vielen als Tatsachenbericht firmierenden Geschichtserzählungen genannten Figuren und Ereignisse konkretisiert werden. Verbindliche soziokulturelle Werte und Leitbilder lassen sich anhand der „Sprichwörter und Aphorismen" erhellen, die „sehr gezielt für die Vermittlung sittlicher Werte" 46 in das Kalendarium und den Textteil eingerückt wurden. Bei der inhaltlichen Analyse sind die Fragen nach der Konstruktion geschichtsmächtiger Subjekte, dem Verhältnis von Historizität und Fiktion, der Thematisierung geschichtsteleologischer Kategorien, den Stereotypen generalisierender Weltdeutung und einem möglichen Appellcharakter der Texte in den Vordergrund zu rücken. Es kann deutlich gemacht werden, daß sich die deutschamerikanischen Kalender ungeachtet ihrer massenhaften Verbreitung nicht an eine schwer zu klassifizierende Unterschicht, sondern durch ihre Einbettung in die Alltagswelt und Festtradition an alle sozialen Gruppierungen der ethnokulturell definierten Leserschaft wandten. Die in den Kalendern abgedruckten Anekdoten, Witze, Aphorismen und Geschichtserzählungen waren mehr zum Vorlesen und zum Weitererzählen als zur stillen individuellen Lektüre bestimmt. Die sonst so offen zutage tretenden Grenzen waren zwischen Oralität und Schriftlichkeit bewusst nicht eindeutig definiert. Die unter diesen Vorzeichen kodifizierten Identifikationsmuster lassen drittens zugleich intrakulturelle Traditionsbezüge und interkulturelle Verflechtungen erkennen. Dieses latente Konkurrenzverhältnis manifestiert sich in der Orthographie, Syntax, dem Wortbestand, in Anglizismen oder eigenwilligen Eindeutschungen ebenso wie in Beispielen der Textmigration, Übersetzungen fremdsprachiger Beiträge, bürokratischen Weisungstexten oder in kalendertypischen Buchhandelsanzeigen. In diesem Kontext sind geläufige Schreibweisen wie „Germantaun", „Kutztaun", „Yorktaun", „Courthaus", „Courten, Fären" oder Werbetexte für

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Langewiesche, Dieter, Kulturelle Nationsbildung im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Hettling, Manfred / Nolte, Paul (Hg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays. München 1996, S. 46-64, hier S. 58; Blitz, Hans-Martin, Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert. Hamburg 2000, S. 361ff. Schmidt, (Anm. 42), S. 35. Masel, Katharina, Kalender und Volksaufklärung in Bayern. Zur Entwicklung des Kalenderwesens 1750 bis 1830. St. Ottilien 1997, S. 170.

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„allerley Deutsche Schulbücher" ebenso zu registrieren wie der Abdruck der „Sprüche von Benj. Franklin", von Liedtexten mit dem Titel Yänkie-Dudel47 oder die Präsentation des Freyschütz im Americanischen Stadt und Land Calender Auf das 1834ste Jahr Christi oder von Friedrich Schillers An die Freude im Readinger Calender 1806. Die deutschamerikanischen Kalender repräsentieren nicht nur die Randzonen schriftsprachiger Alltagskommunikation, sondern veranschaulichen, wie epochentypische oder hochgewertete Texte im Laufe eines vielschichtigen Rezeptions- und Assimilierungsprozesses zum integralen Teil einer durch Liedersoireen, Tanzfeste, Platzkonzerte oder Deklamationsabende repräsentierten populären Kultur wurden. Im Gegensatz zu den englisch- und irischstämmigen Auswanderern most Germans brought far more of their traditional modes of recreation with them into the industrial age and in America expected to continue enjoying a convivial glass of beer or wine, gathering with their womenfolk as well as in purely male assemblies to sing, dance, and drink, and doing so on their one day of leisure, Sunday, should they so choose. These lifestyle conflicts were evident by the 1840s, as German Americans rallied in defence of personal liberty and added Geselligkeit und Gemütlichkeit to the list of cultural differences that they saw seperating themselves from Americans and defining their Deutschtum, the fundamental set of values and observances that delineated their ethnic identity in America. 48

Die hier angesprochenen Konflikte veranschaulichen einen vierten Problembereich, der sich mit den Fragen nach dem Verhältnis von Akkulturation und Autonomie umreißen läßt. Auch wenn die „Hessians, Franconians, Westphalians, Hannoverians and Oldenburgers", die nach 1840 den „Rhinelanders, Badenese and Württembergers" folgten, zunächst gar keine Gruppenidentität über den Status des Auswanderers hinaus besaßen, wurden sie in den USA „simply as Germans"49 wahrgenommen. Diese Tendenz zur Schematisierung der Selbst- und Fremdwahrnehmung war allerdings reziprok: Einer vergleichsweise differenzierten Selbstdarstellung stand ein summarisches, von Informationsdefiziten bestimmtes Bild der nichtdeutschstämmigen Nordamerikaner gegenüber. Aus dem Bewusstsein der Alterität entwickelte sich eine kulturelle Autonomie, die sich gemäß der Devise von Carl Schurz ubi libertas, ibi patria auch deutlich vom Herkunftsland abgrenzte. Die „definition of the ethnicity was essentially cultural", 50 aber keineswegs, wie Klein 1939 ideologisch verblendet unterstellte, unter den Vorzeichen

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Vgl. Der Hoch-Deutsch Americanische Calender, Auf das Jahr Nach der Gnadenreichen Geburt unsers HErra und Heylandes JEsu Christi 1748. Germantown, o.S.; Americanischer Stadt und Land Calender Auf das 1830ste Jahr Christi, Welches ein Gemeines Jahr ist von 365 Tagen. Philadelphia, o.S.; Der Americanische Stadt- und Land-Calender auf das Jahr 1852, hg. v. Ch. G. Sauer, Philadelphia, o. S.; Americanischer Stadt und Land Calender Auf das 1840ste Jahr Christi, Welches ein Schalt-Jahr ist von 366 Tagen. Philadelphia, o.S. Neils Conzen, (wie Anm. 28), S. 27. Ebd., S. 20 u. 25. Ebd., S. 29.

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einer „Ausweitung des deutschen Raumes" 51 bestimmbar. Auswanderungen wurden nicht durch imperiales Machtstreben motiviert, sondern waren ein entschiedener „Protest gegen die politischen Verhältnisse des Vaterlandes, also eine Art Abstammung mit den Füßen." 52 Rückbezogen auf die deutsche Bildungsdiskussion ist deshalb auch zu problematisieren, ob die von Georg Bollenbeck in Hinsicht auf die im 19. Jahrhundert wirkungsmächtig werdende deutsche Interpretation kultureller Identität so apodiktisch und widerspruchsfrei als folgenschwere Amalgamierung von Bildung und reaktionärer Modernisierung, ja tatsächlich als „Sonderwegbewußtsein" 53 konkretisierbar ist. Aus der Bevorzugung eines universellen Bildungskonzeptes gegenüber einem bloß zweckorientierten Ausbildungsprogramm erwuchsen in den USA unter gänzlich anderen politischen und sozialen Vorzeichen stabile kulturelle Leitbilder: German Americans constantly defended their difference by arguing that they wished to preserve certain values in order to make them part of a new and truly American culture, and they succeeded only too well. By the early 20th century, American schools and universities were purveying a higher culture little different from that of their German counterparts. 54

Über den Bildungsbegriff wurden zwar unter der dualistischen Perspektive von Selbstthematisierung und Fremdperspektive „nationale Eigenheiten bestimmt", die von Bollenbeck konstatierte „politisch-defizitäre Funktion" 55 erweist sich jedoch keineswegs als zwangsläufige Konsequenz des allgemein in das Bewußtsein gehobenen Kulturverständnisses. In den Beiträgen deutschamerikanischer Kalender ist die Vorstellung einer sich bildenden Individualität zunächst als Konzept der harmonischen und individuellen Selbstvervollkommnung und schließlich unter dem Einfluß des Idealismus als Vision autonomer Bildung präsent. Literaturwissenschaftlich läßt sich dieser Wandel anhand von Exempeln wie dem in der Tradition der Moralischen Wochenschriften stehenden Prosabeitrag Der deutsche Patriot56 oder dem Genre der politischen Programmschrift 57 ebenso veranschaulichen wie am Beispiel von Auswanderergesprächen oder zeitkritischen, auf historische Ereignisse anspielenden Kalendertexten.

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Klein, (wieAnm. 9), S. 91. Ottomeyer, Hans (Hg.), Biedermeiers Glück und Ende ... die gestörte Idylle 1815-1848. München 1988, S. 551. Bollenbeck, (wie Anm. 11), S. 162. Neils Conzen, (wie Anm. 28), S. 33. Bollenbeck, ( w i e A n m . 11), S. 162. Vgl. Der gemeinnüzige Americanische Calender Auf das Jahr Christi 1801. O.O., o.S. Vgl. Der Zustand der Deutschen in Pennsylvanien im Jahr 1825. ,Wenn' sie Wollen, in: Der Hoch-Deutsche Americanische Calender, Auf das Jahr 1786. Germantaun, o.S.

,Ubi libertas,

ibipatria'

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Quellen Der Hoch-Deutsch Americanische Calender, Auf das Jahr Nach der Gnadenreichen Geburt unsers HErrn und Heylandes JEsu Christi 1747. Germantown: Gedruckt und zu finden bey Christoph Saur. Der Hoch-Deutsch Americanische Calender, Auf das Jahr Nach der Gnadenreichen Geburt unsers HErrn und Heylandes JEsu Christi 1748. Germantown: Gedruckt und zu finden bey Christoph Saur. Der Neue, Verbessert- und Zuverläßige Americanische Calender Auf das 1777ste Jahr Christi, Welches ein Gemein Jahr von 365 Tagen ist. Philadelphia, Gedruckt und zu finden bey Henrich Miller, in der Rees-strasse. Der Hoch-Deutsche Americanische Calender, Auf das Jahr 1786. Germantaun, gedruckt und zu finden bey Leibert und Billmeyer. Der Hoch-Deutsche Americanische Calender, Auf das Jahr 1787. Germantaun, gedruckt und zu finden bey Leibert und Billmeyer. Der Hoch-Deutsche Americanische Calender, Auf das Jahr 1788. Germantaun, gedruckt und zu finden bey Michael Billmeyer. Der Hoch-Deutsche Americanische Calender, Auf das Jahr 1792. Germantaun, gedruckt und zu finden bey Michael Billmeyer. Der Neue Hoch Deutsche Americanische Calender, Auf das Jahr Christi, 1792. Chesnut-Hill, gedruckt und zu finden bey Samuel Saur. Der Neue, Gemeinnützige Landwirthschafts Calender, Auf das Jahr, nach der heilbringenden Geburt unsers HErrn JEsu Christi, 1793. Lancäster, Gedruckt und zu haben bey Johann Albrecht und Comp, in der Neuen Buchdruckerey. Der Hoch-Deutsche Americanische Calender, Auf das Jahr 1794. Germantaun, gedruckt und zu finden bey Michael Billmeyer. Der Hoch-Deutsche Americanische Calender, Auf das Jahr 1795. Germantaun, gedruckt und zu finden bey Michael Billmeyer. Der Neue, Gemeinnützige Landwirthschafts Calender, Auf das Jahr, nach der heilbringenden Geburt unsers HErrn JEsu Christi, 1796. Lancäster, Gedruckt und zu haben bey Johann Albrecht und Comp, in der Neuen Buchdruckerey. Der Neue, Gemeinnützige Landwirthschafts Calender, Auf das Jahr, nach der heilbringenden Geburt unsers HErrn JEsu Christi, 1797. Lancäster, Gedruckt und zu haben bey Johann Albrecht und Comp, in der Neuen Buchdruckerey. Der Neue Hoch Deutsche Americanische Calender, Auf das Jahr Christi 1795, Welches ein Gemein Jahr von 365 Tagen ist. Philadelphia, gedruckt und zu finden bey Samuel Saur. Der Neue Hoch Deutsche Americanische Calender, Auf das Jahr Christi 1798, Welches ein Gemein Jahr von 365 Tagen ist. Baltimore, gedruckt und zu finden bey Samuel Saur. Der Neue, Gemeinnützige Landwirtschafts Calender, Auf das Jahr, nach der heilbringenden Geburt unsers HErrn JEsu Christi, 1800. Lancäster, Gedruckt und zu haben bey Johann Albrecht und Comp, in der Neuen Buchdruckerey. Der gemeinnüzige Americanische Calender Auf das Jahr Christi 1801. Reading, gedruckt und zu haben bey Jacob Schneider und Comp. Der gemeinnützige Americanische Calender Auf das Jahr Christi 1803. Reading, gedruckt und zu haben bey Schneider und Ritter. Americanischer Stadt und Land Calender Auf das 1804te Jahr Christi, Welches ein Schalt-Jahr ist von 366 Tagen. Philadelphia: Gedruckt und zu haben bey Carl Cist, in der Zweyten-Straße, No. 104. Americanischer Stadt und Land Calender Auf das 1805te Jahr Christi, Welches ein Gemeines Jahr ist von 365 Tagen. Philadelphia: Gedruckt und zu haben bey Carl Cist, in der Zweyten-Straße, No. 104. Americanischer Stadt und Land Calender Auf das 1818ste Jahr Christi, Welches ein Gemeines Jahr ist von 365 Tagen. Philadelphia: Gedruckt und zu haben bey Conrad Zentler, in der Zweyten-Straße, unterhalb der Rehs-Straße.

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York-Gothart Mix

Americanischer Stadt und Land Calender Auf das 1821 ste Jahr Christi, Welches ein Gemeines Jahr ist von 365 Tagen. Philadelphia: Gedruckt und zu haben bey Conrad Zentler, in der Zweyten-Straße unterhalb der Rehs-Straße. Der Gemeinnützige Landwirtschafts Calender, Auf das Jahr unsers Heilandes JEsu Christi 1824, Welches ein Schalt-Jahr von 366 Tagen ist. Lancaster, (Pennsylvanien) gedruckt und zu haben bey William Albrecht. Americanischer Stadt und Land Calender Auf das 1830ste Jahr Christi, Welches ein Gemeines Jahr ist von 365 Tagen. Philadelphia: Gedruckt und zu haben bey Conrad Zentler, in der Zweyten Straße, unterhalb der Rehs-Straße. Americanischer Stadt und Land Calender Auf das 1834ste Jahr Christi, Welches ein Gemeines Jahr ist von 365 Tagen. Philadelphia: Gedruckt und zu haben bey Conrad Zentler, in der Zweyten Straße, unterhalb der Rehs-Straße. Americanischer Stadt und Land Calender Auf das 1840ste Jahr Christi, Welches ein Schalt-Jahr ist von 366 Tagen. Philadelphia: Gedruckt und zu haben bey Conrad Zentler, in der Zweyten Straße, unterhalb der Rehs-Straße. Americanischer Stadt und Land Calender Auf das 1846ste Jahr Christi, Welches ein Gemeines Jahr ist von 365 Tagen. Philadelphia: Gedruckt und zu haben bey Conrad Zentler, in der Zweyten-Straße, unterhalb der Rehs-Straße. Der Americanische Stadt- und Land-Calender auf das Jahr 1852. Philadelphia: Herausgegeben von Ch. G. Sauer. Der Cincinnatier hinkende Bote. Ein Kalender fur die Vereinigten Staaten von Nordamerika, auf das Jahr unsers Herrn 1865, welches ein gemeines Jahr von 365 Tagen ist. Verlag von Gebrüder Benzinger, Cincinnati, im Katholischen Institut. New-York, No. 9 Dey Str.

HELGA BRANDES ( O l d e n b u r g )

Vom Kalender zum Taschenbuch und Almanach: Lektüre fur das Frauenzimmer im 18. Jahrhundert Zur Herausbildung und Entfaltung eines weiblichen Lesepublikums hat das Aufklärungsjahrhundert mit seiner Alphabetisierungswelle entscheidend beigetragen. Galt die lesende Frau um 1700 noch als Ausnahme, wird im späten 18. Jahrhundert bereits vor einer Lesesucht der Frauen gewarnt. Dieser Prozeß weiblicher Leseerziehung begünstigte die Entstehung einer publizistischen Gattung, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts ihren Höhepunkt erlebte: die Moralische Wochenschrift. Darin werden die Adressatinnen zum Lesen und auch zum Schreiben (etwa von Gedichten, Leserinnenbriefen etc.) animiert. Die lesepädagogischen Bemühungen der (männlichen) Wochenschriften-Herausgeber und Beiträger drücken sich in allgemeinen Aufforderungen zur Lektüre, aber auch in konkreten Leseempfehlungen aus, z.B. in Form von umfangreichen Bücherlisten, den ,Frauenzimmerbibliotheken'. Die dann im fortschreitenden und ausgehenden 18. Jahrhundert einsetzenden Gründungen literarischer Gesellschaften und anderer Institutionen (Lesezirkel, Lesegesellschaften, Lesekabinette, Leihbibliotheken u.ä.), zu denen auch nach und nach Frauen Zutritt erhielten, reflektieren diesen Prozeß. 1 Daß allerdings noch weitere, z.T. ebenfalls periodisch erscheinende Gattungen zur Teilhabe der Frauen am literarischen Leben der Zeit beitrugen, sollte nicht übersehen werden. 2 Dazu gehören insbesondere die Kalender und Taschenbücher (incl. der Almanache), auf die ich im Folgenden exemplarisch eingehen möchte. Die herangezogenen Beispiele stammen aus dem frühen, mittleren und späten 18. Jahrhundert.

I. Das ,Zeit-Buch' als Nachschlagewerk: Curieuser und immerwährender Astronomisch-MeteorologischOeconomischer Frauenzimmer-Reise- und Hand-Calender3 Der Kalender, eine weit verbreitete Form der Gebrauchsliteratur fiir den Alltag, erschien im 18. Jahrhundert zumeist anonym. Als ,Volkskalender' mit seinen un1

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Siehe dazu ausführlicher: Brandes, Helga, Die Entstehung eines weiblichen Lesepublikums im 18. Jahrhundert. Von den Frauenzimmerbibliotheken zu den literarischen Damengesellschaften, in: Goetsch, Paul (Hg.), Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich. Tübingen 1994, S. 124-133. Zu diesem Aspekt: Mix, York-Gothart, Medien für Frauen, in: Fischer, Ernst/ Haefs, Wilhelm / Mix, York-Gothart (Hg.), Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland (1700-1800). München 1999, S. 45-61, hier S. 54-57. 6 1737 ['1719?].

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Helga Brandes

terhaltsamen Tendenzen (Darstellung merkwürdiger, kurios-exotischer Inhalte) gehört er zu den beliebten Lesestoffen eines breiteren Publikums. Der Buchcharakter herrscht vor; ein Werk erlebt nicht selten mehrere Auflagen. Der Kalender diente als Gebrauchsbuch und Nachschlagewerk für (mindestens) ein Jahr: Die Wiederholungslektüre ist die beabsichtigte Rezeptionsform. Typisch für dieses Genre, in der Regel unpaginiert dargeboten, ist die Einteilung in das ,Kalendarium' und die ,Practica'. 4 Der hier herangezogene Kalender wurde von Johann Michael Funcke verlegt und wohl auch herausgegeben; er ist aber - wie üblich - anonym erschienen. 5 Es ist anzunehmen, daß sich dieses Werk zunächst nicht speziell an Frauen gerichtet hat. Im Titelkupfer erscheint auf einer Papierrolle in römischer Schreibweise die Zahl 1719, vermutlich das Ersterscheinungsjahr des Kalenders. Daß sich die 6. Auflage, mit einer Vorrede der Erfurterin Sidonia Hedwig Zäunemann (1714— 1740) versehen, nun an das Frauenzimmer wendet (s. Titelgebung), spricht für sich: Der Verleger erkennt und nutzt - nicht zuletzt aus kommerziellen Gründen die neue Marktlage (die Frauen als neue Leserschicht, die sich in den 20er und 30er Jahren im deutschsprachigen Raum herausgebildet hat). Der geringe Adressatinnenbezug des Kalenders fällt auf und verweist auf den Umstand, ohne großen Aufwand lediglich das Etikett verändert zu haben. 6 Allerdings sagt es auch etwas über die Intention aus, die Leserin gleichermaßen wie den Leser am kulturellen Leben (hier am Beispiel einer Gattung) teilhaben zu lassen. Dieser Kalender knüpft an die Tradition der frühneuzeitlichen Ökonomieliteratur an.7 Und hier vor allem an das noch enzyklopädisch ausgerichtete Hausbuch, das auf Johann Colers Calendarium Perpetuum et Sex Libri Oeconomici zurückgeht (1609 als erste Gesamtausgabe erschienen). 8 Bereits der barocke Titel ver4

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Zum Kalender allgemein siehe Knopf, Jan, Kalender, in: Fischer / Haefs / Mix, (wie Anm. 2), S. 121-136. Der genaue Titel lautet: Curieuser und immerwährender Astronomisch-Meteorologisch-Oeconomischer Frauenzimmer-Reise-und Hand-Calender. Worinnen abgehandelt sind: Die angenehmsten und nöthigsten Materien, so in einem Calender vorkommen, und von alten Hauß-wirthen und neuen Naturkundigem in der Hauß-Wirthschafft, Feld- und Garten-Bau aus der Witterung und denen vier Natur-Reichen, auch bey der Gesundheit zu beobachten sind. Wie auch Die Messen, Märckte, ankommende und abgehende Posten in denen vornehmsten Städten, Rechnungs-Müntz-Gemäß-und andere unentbehrliche Nachrichten, ingleichen die aeromatrische Machinen auf die beste Art zu verfertigen, angetroffen wird. Dem endlich Ein vielfältigapprobirtes Wäsch-und Küchen-Inventarium, mit unterschiedenen hierbey sehr nöthigen Künsten vor Frauenzimmer und Hauß-Wirthe, und andere Gemüths-ergötzende Nachrichten beygefüget und mit säubern Figuren erklähret ist. Mit einer Vorrede von Mademoiselle Sidonia Hedwig Zäunemannin. Die Sechste und aufs neue vermehrte Auflage. Mit Königl. Pohln. und Chur-Fürstl. Sächs. allergnädigsten PRIVILEGIO. Erfurt/ Leipzig 1737. Alle Zitate nach dieser Ausgabe. Ein Auflagenvergleich wäre in dem Zusammenhang interessant. Diese Gattung wird in der älteren Literatur auch als , 1 lausväterl iteratur' bezeichnet. Dazu ausführlicher: Brandes, Helga, Frühneuzeitliche Ökonomieliteratur, in: Meier, Albert (Hg.), Die Literatur des 17. Jahrhunderts (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur 2). München / Wien 1999, S. 4 7 0 ^ 8 4 .

Vom Kalender

zum Taschenbuch

und

Almanach

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weist auf die Tradition des 17. Jahrhunderts. A u c h die Vorrede der Zäunemann in gebundener Form an den „geehrten Leser", in der die Leserin nur knapp erwähnt wird, nimmt den Vanitas-Topos der Barockzeit wieder auf. 9 Im Mittelpunkt steht die Vermittlung v o n immerwährender Ordnung und W i s sen, das sich auf die verschiedenen Lebensbereiche bezieht. Der Kalender besteht aus vier „Abtheilungen" und ist systematisch angeordnet. Er geht v o n begrifflichabstrakten und allgemeinen Aspekten z u immer konkreteren und praktischen Fragen über. In der 1. Abteilung werden zunächst die B e g r i f f e „Calender" und „Almanach" ( s y n o n y m ) als „Zeit-Buch", als „Jahres-Rechnung" definiert. (S. l f . ) Fragen zur Einteilung der Zeit (Jahr, Monate, b e w e g l i c h e und u n b e w e g l i c h e Festtage, Kirchenkalender u.ä.), zur Astronomie (Sterne, 9

12 „Himmels-Zeichen",

Planeten,

Hier die vollständige Vorrede der Zäunemann (o.S.): „Geehrter Leser! / sieh! Wie dich das Schicksal liebt, / Da es Dir abermal ein Buch zu lesen giebt / Das Zeit und Moder trotzt, und der Verwesung lachet, / Dieweil es durch sich selbst, sich ewig lebend machet. / Man ließt, daß vor der Zeit in grauen Alterthum / Der Pyramiden Pracht nicht wenig Ehr und Ruhm, / Und Ansehn nach sich zog. Man weiß was die Colossen, / Und Bilder alter Welt vor Lob und Preiß genossen. / Sie habens auch verdient. Allein wo ist ihr Pracht? / Wo sind sie jetzo hin? Sie sind zu Staub gemacht. / Kaum ist ein Überrest von ihnen noch zu sehen. / So muß das herrlichste zerfallen und vergehen! / Allein, wer durch die Hand, und eine nette Schrift, / Und ein geschicktes Buch sich ein Gedächtniß stift, / Das steht und dauret fest, das kann kein Rost verzehren, / Man sucht es ewiglich aufs höchste zu verehren. / Wie hat die alte Welt die Bücher hoch geschätzt, / Die ein geübter Kiel und kluger Geist gesetzt? / Wie eifrig strebte man ein Täfelchen von Rinden, / Ein Blat von Pergament, und eine Schrift zu finden? / Wie kostbar und wie schwer, wie theuer und wie rar, / nahm man zu dieser Zeit den Kauf der Bücher wahr? / Allein, nachdem nunmehr die Barbarey verschwunden, / Und man die edle Kunst der Druckerey erfunden, / So wird auch mancher Kopf, in dem was kluges steckt, / Zur Wissenschaft gereitzt, und kräftig aufgeweckt. / Wer sonst ein Buch gehabt, wer zwene kunte weisen, / Der muste sich beglückt und reich an Schriften preisen. / Nun aber, seyd getrost! Macht euch die Druckerey / Von diesem Seelen Zwang und Bücher-Armuth frey. / Jezt könt ihr vor ein Buch, bedenckt der Zeit der Alten! / Den allerreichsten Schatz zu eurer Lust erhalten. / Der Bücher schöne Zahl macht zum Studieren Lust, / Und regt die Geister an, und schafft daß Sinn und Brust / Nach Wissenschaften strebt. Die Seele wird vergnüget,/ Wenn sich der muntre Fuß zum Bücher-Schranck verfüget. / Hier ist der Seelen Ruh, allhier ist ihre Kost, / Es kann kein reicher Tisch mit Nectar, Wein und Most, / Kein Schertz, Gemächligkeit und andre Wollusts-Gaben, / Und was man reitzend nennt, so süß als dieses laben. / Wie köstlich ist der Schweiß, der von den Wangen fließt, / Wenn man bey Tag und Nacht mit Ernst in Büchern ließt, / Und mit den Toden schwatzt. Ο angenehme Freude! / Man findet hier nach Wunsch die schönste Seelen-Weyde. / Es zeigt sich, wie gedacht, auch hier ein neues Buch; / Das giebt zur Wissenschaft Gelegenheit genug. / Ihr Thoren sprecht nur nicht: Ein neuer Zeit-Verschwender! / Was ists denn vor ein Stück? Ο seht doch! Ein Calender. / So sagt der Aberwiz; so schliesset der Verstand / Der nicht geläutert ist. Kommt! nehmet ihn zur Hand, / Und seht ihn erstlich an; leßt erst mit Fleiß darinnen, / Betrachtet seinen Kem, und lasset eure Sinnen, / Mit guten Vorbedacht, die rechten Richter seyn. / Ich weiß, diß neue Buch nimmt eure Herzen ein. / Ihr, die ihr die Natur und Himmels-Lauf ergründet, / Auch nach der Wirthschafts-Kunst ein groß Verlagen findet; / Ihr, die die Rechnungs-Kunst und Kaufmannschaft erfreut, / Betrachtet dieses Buch, das nun die Oster-Zeit / In eure Hände spielt, so werdet ihr bekennen, / Es sey ein nützliches und schönes Buch zu nennen. / Ihr denen Witterung und Wetter-Glaß beliebet, / Nehmt Nutz und Handgrif an die Kniphof darvon giebet. / Ihr Frauenzimmer leßt, was dieses in sich hält, / So weiß ich, daß es euch beliebt und wohlgefallt. / Und weil kein Druck so leicht wird ohne Fehl geschehen; / So bitt ich, selbige geneigt zu übersehen. / In der Ostermesse 1737. / Sidonia Hedwig Zäunemannin."

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Helga Brandes

„Finsternisse") werden ebenso behandelt wie meteorologische Erscheinungen (Winde, Wetter, Witterung). Die 2. Abteilung vertieft das Thema ,Kirchenjahr': Sonn- und Festtage, „sammt dazu gehörigen Evangelien" (S. 146), Namenstage, Neu-Jahrs Tabelle (1737-1754), Oster-Tabelle (1737-1784); ferner werden „Reime und Regeln" über die Monate, sowie Gesundheitsregeln der 12 Monate aufgeführt; desgleichen „Fürstellungen vorkommender Hauß-Wissenschaften" (z.B. „Wann Mast- oder Speck-Schweine im letzten Viertel des Januarii und Februarii geschlachtet werden, so schwindet das Fleisch nicht, und hält sich der Speck wohl." S. 197). Ferner wird - auch hier ganz in der Tradition der alten Hausbüc h e r - Nützliches über die „Haußhaltungs- und Garten-Künste" der Leserschaft mitgeteilt. In der 3. Abteilung erscheinen alphabetische Verzeichnisse von einigen Messen und Märkten (Vieh-, Flachs-, Pferdemarkt) „in unterschiedenen Ländern" (S. 245ff.), Angaben über Ankunft und Abfahrt von „Post-Charten" (z.B. in .Braunschweig, Cassel, Dreßden, Erffurth, Franckfurth am Mayn, Hamburg, Hannover, Leipzig, Nürnberg'), über jährliche Gerichtstermine („Tribunalien"); und auch ein ,Verzeichniß von Thor-Schluß in Erffurth' darf nicht fehlen (der Einlaß beträgt für eine Person zu Fuß: 9 Pfennige, für eine Person zu Pferd: 1 Groschen). Schließlich folgt noch einiges über Rechen-Kunst und Maßtabellen (u.a. das kleine und große Einmaleins, Münzwerte, Getreide- und Kornmaße, Gewichte, Barometer, Thermometer). Hinsichtlich der 4. Abteilung wird erstmalig und explizit ein frauenspezifischer Bezug hergestellt: Sie umfaßt „Ein curieuses Wäsch- und Kücheninventarium. Worinnen So wol vor das Frauenzimmer, als zu der Oeconomie nützliche Wissenschafften und Künste enthalten sind." (Titelseite) Dazu gehören die Herstellung von Tinte („um damit das Wäsch- und Küchen-Geräthe auf viele Jahre anzumercken."), das Reinigen von Flecken, die Pflege von Kleidern und Pelzwerk, Perlen und Edelsteinen. Auch wird über die Herstellung von „Schmincke" und „Seiffe", Farben und Lacke informiert. Und im Zusammenhang mit der Kochkunst erfährt die Leserin Näheres über Gewürze, Obst, Fleisch (Einsalzen, Räuchern, Tranchieren). Das Servieren von Speisen soll schließlich auch nicht dem Zufall überlassen sein (s. die Pläne für Tafeln: „Wie die Tafeln mit Speisen besetzet werden"). 10 Zum Schluß werden noch Hinweise gegeben, Ungeziefer (Wanzen, Läuse, Käfer, Schnecken) aus Küche, Haus und Garten zu vertreiben. Angefügte Register erschließen jeweils die 1., 2. und 4. Abteilung. Ein Merkmal des Kalenders ist seine didaktische Ausrichtung. Er stellt Fragen, die dann ausfuhrlich beantwortet werden. Die Funktion des Kalenders als Nachschlagewerk, das den Lesern Allgemeinwissen vermitteln will, wird durch die Register unterstrichen. Nicht das einmalige Durchlesen des Kalenders, sondern der wiederholte Gebrauch des Werks - im Sinne eines Kompendiums - ist beabsichtigt. Das Konzept des Kalenders entspricht der alteuropäischen Tradition. So mani10

Diese Materie füllte auch viele Seiten des Frauenzimmer-Lexicons von Amaranthes aus dem Jahr 1715. Amaranthes [d.i. Corvinus, Gottlieb Siegmund], Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-Lexicon [...]. Leipzig 1715.

Vom Kalender zum Taschenbuch und Almanach

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festieren sich vormoderne Sichtweisen vor allem im Fortwirken des alten Kosmosund Ordo-Denkens. Der Ganzheit der Welt entspricht die Ganzheit des Hauses, die durch die göttliche Ordnung festgelegt ist (Die Vorrede der Zäunemann steht unter dem Motto: „Gott allein die Ehr"). Geschlossenheit und Vollständigkeit, Wiederholung und Unveränderlichkeit sind Merkmale dieser Sicht. Die Vorliebe fur zyklische Strukturen (immerwährender Kalender, Arbeitskalender u.ä.) und überhaupt die Betonung der Regelhaftigkeit des Lebens sind Ausdruck dieses ahistorischstatischen Weltbildes. Dementsprechend ausgeprägt ist die normative Struktur dieser Form der Anleitungsbücher, die sich auch in der Darbietungsweise spiegelt (Sprichwörter, Sentenzen, Maximen). Elemente einer mythisch-magischen Sicht von einer Auffassung der Welt, die dem menschlichen Geist nur begrenzt zugänglich, durch ihn nur partiell erklärbar ist. Astrologie, Wunder- und Aberglaube haben vor den Kalendern nicht haltgemacht. Andererseits dokumentiert die Absicht, Wissen und Erfahrung zu vermitteln, auch frühmoderne, aufklärerische Tendenzen: ein neues Verhältnis des Menschen zur Welt. Die Vorstellung der Naturbeherrschung ist hier bereits wirksam. Man tritt der Natur gegenüber und macht sie zum Objekt der Beobachtung und Erforschung. Die empirische Perspektive gehört zu den Merkmalen der Gattung. So spielt vor allem bei der Vermittlung technisch-wirtschaftlicher Aspekte des Landbaus und der Tierhaltung, der Bezug zur eigenen Zeit, zur spezifischen Region sowie zum Klima eine wichtige Rolle. Zwischen Tradition und Aufbruch bewegt sich auch das Frauenbild, das im Kalender reflektiert wird. Soweit der Kalender auf eine geschlechterspezifische Differenzierung verzichtet (1.-3. Abteilung), wird die Frau gleichermaßen wie der Mann unterrichtet. In der 4. Abteilung allerdings wird eine frauenspezifische Perspektive eingenommen," die die traditionelle, reduzierte weibliche Rolle als Hausmutter erneut betont, die dann im Verlauf des Jahrhunderts an Boden gewinnt.

II. Der Kalender als Satire: Der für alle böse und unartige ausgefertigte Calender (1741)

Weiber

Dieser Kalender ist 1741 anonym (von „C.U.J.A.J.") erschienen. 12 Er definiert sich selbst als „Spaß-Calender" (o.S., unter „December / Lebensprognostica"), und der

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Möglicherweise der 6. Auflage hinzugefügt. Der vollständige Titel lautet: Der fiir alle böse und unartige Weiber ausgefertigte Calender, Worinn jedoch Das Tugendsame Frauen-Zimmer, ihrer vortrefflichen Nutzbarkeit wegen, gepriesen, denen unglückseligen Ehe-Männem aber, nach Anleitung der zwölff himmlischen Zeichen, gezeiget wird, an welche Kranckheit ihre lasterhafften Weiber laboriren, Wogegen sehr probate Recepte, nebst beygefügter Witterung, Lebens-Prognostica und Haushaltungs-Regeln, Alles mit spaßhafft-poetischer Feder beschrieben, Von C.U.J.H.A.J. Anno 1741. O.O., o.S. Alle Zitate nach dieser Ausgabe.

Helga Brandes

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witzig-ironische Tonfall drückt sich bereits in der Widmung aus, die eine Reihe sprechender Namen enthält: „Denen Ehr- und Tugendsamen Frauen, FRAUEN CASTA PIA von Tugendburg, und FRAUEN PRUDENTIA von Frommdorff, Erbsaßinnen zu Sparsamkeitshausen, Liebreitz, Häußlichkeit, Demuthsburg und Arbeitsamsdorff etc. Meinen insonders Hochzuehrenden Frauen und geneigten Gönnerinnen." Der Herausgeber macht sich in Form eines Kalenders in gebundener Sprache über die Laster der ,bösen und unartigen Weiber' lustig. Den zwölf Monaten folgend (mit einer Übersicht über die einzelnen Tage sowie Angaben zur Witterung), werden satirisch, zum Teil recht drastisch, in jeweils drei Abschnitten die negativen Eigenschaften dieser Frauenzimmer aufs Korn genommen („LebensPrognostica", „Monatliche Verrichtung", „Natürl. Beschaffenheit der bösen Weiber"). Das Prinzip der Satire besteht darin, Natur und Frau (mit ihren schändlichen Lastern) gleichzusetzen. Die Ratschläge und Rezepte, die gegeben werden, um die ,Patientinnen' von ihrer „Kranckheit" zu heilen, sind an den Mann gerichtet. Für den Februar rät der Herausgeber angesichts einer untreuen Ehefrau folgendes: Monatliche Verrichtung. Man soll in diesem Mond die Dächer fleißig decken, Die Gärten auch dabey verbessern an den Hecken; Schleicht sich ein Wurm-Gespinst in deine Bäume ein, So macht man selbige in diesem Monath rein. Allein bey deiner Frau kanst du den Zaun nicht flicken, Der ihre Treu umgiebt, dieweil er gantz in Stücken; Asmodi spinnt bey ihr ein Wurm- und Raupen-Nest, Das sich durch schütteln nicht, durch Schläge stören last. Drum schlag bey Zeiten zu, so bald Asmodi kommen, Denn wenn er die Posseß erst ruhig eingenommen, So setzet er sich fest, und baut ein starckes Haus, Denn hilfft kein Prügeln nicht, er gehet nicht heraus.

Und in diesem Fall wird die Untreue des Weibes mit der „Fische Schlüpfrigkeit" verglichen („Natürliche Beschaffenheit der Weiber"):

Da nun in diesem Mond der bösen Weiber Treu, Der Fische Schlüpfrigkeit mit Rechte zu vergleichen, Weil Phöbi heller Strahl begläntzet dieses Zeichen, So höre! Was hiebey zu thun vonnöthen sey: Läßt deine böse Frau itzt ihre Tücke spühren, Mußt du sie alsofort den Fischen gleich tractiren; Denn wie der Stockfisch wird durch Schläge weich gemacht, So wird dein böses Weib auch zur Raison gebracht. Drauf laß dem Hering gleich, im Saltze ihrer Thränen, Sie zu der Besserung allmählig sich gewöhnen, Alsdenn so schuppe sie von ihrer Boßheit rein. Was gilts! Sie wird hierauf schon etwas besser seyn.

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In ähnlicher Weise werden andere Laster gegeißelt: Schwatzhaftigkeit (Januar), Faulheit (April; November), Geiz (Juli), Trunksucht (Oktober), Herrschsucht (Dezember). Zur „Heilung" eben dieser „Kranckheit" wird folgender Rat gegeben: Doch hier ist ein Rezept fur einer solchen Krancken: Das Fell ihr durchgegerbt, die also sucht zu zancken, Und wickle sie mit Saltz in eine Hirsch-Haut ein, Ich weiß, diß Raben-Fell wird alsdenn frömmer seyn.

Der Ratgeber erscheint als Komplize des armen Ehemannes, den er mitunter gar durch die Aussicht auf den künftigen Tod seiner Gattin zu trösten sucht: Drum must du mit Gedult auf deinen May-Mond harren, Da man dein böses Weib wird in die Erde scharren, Alsdenn so mercke wol, was dir ohndem bekannt, Wie daß ein fauler Baum mit Feuer wird verbrandt. (Mai)

Auch im Falle der „Unverbesserlichkeit" des Weibes gibt er den Rat: Drum schmier dich mit Gedult. Ich weiß, der blasse Tod, Wenn deine Frau erstirbt, hilft dir aus aller Noth. (September)

Vor allem dann, wenn zugleich noch eine Erbschaft winkt: Viel besser ist es ja, wenn sie davon wird sterben, Vielleicht ist dir hieraechst ein besser Glück beschehrt, Und hat sie Geld dabey, so ist dirs unverwehrt, Wenn sie dich nicht enterbt, daß du sie kanst beerben. (Oktober)

Der laut Titel den Frauen gewidmete Kalender wendet sich - wie zu sehen ist - de facto aber an die Männer. Selbst wenn es zu Beginn heißt: Verwogen scheint es zwar, ich muß es selbst bekennen, Daß ich, was Weibern kränckt, auch Weibern dedicirt; Allein es scheint nur so. Ein Kluger wird nicht richten, Biß er, was mich hierzu bewogen, angehört. Wie die gescheute Welt zu unterscheiden pfleget, Was gut und löblich heißt, und was verwerfflich ist; So hab ich ebenfalls hierinnen nachgeahmet, Weil meine Feder nur von solchen Weibern schreibt: Die in dem faulen Schlamm verdeckter Laster stecken, Und ihren guten Mann statt Ehe-Teufel seyn, Von denen Sirach sagt, daß sie der Zorn verstellet Wenn sie so scheußlich sehn, als wie ein grober Sack. Drum zürnet nicht mit mir, ihr tugendhafften Frauen, Weil meine Feder nicht auf Euch ist zugespitzt.

Außerdem sei ja alles nur „Poeten-Werck", das „mit fremden Nahmen" spiele, dabei aber durchaus „im Schertz die reine Wahrheit sagt" (Einleitung). Der „Autor", der einen Lasterkatalog des weiblichen Geschlechts entwirft, will die Leserschaft gleichzeitig „mit Schertz und Lust ergetzen" (,Beschluß'). Daß die

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Laster verspottet, die Lasterhaften ausgelacht und die Leser unterhalten werden sollen, hat in der Literatur der Frühaufklärung Tradition, nämlich in der Moralischen Wochenschrift oder der Typenkomödie. Übertreibung, Verzerrung und Typisierung sind dabei die beliebtesten Darstellungsmittel. Der vorliegende satirische Kalender unterscheidet sich aber in bezug auf das Menschenbild von dem der frühen Aufklärung. Hier wird wieder die Differenz zwischen den Geschlechtern betont, die - wie die Natur und durch die Natur - vorgegeben ist (In diesem Falle: die bösen, lasterhaften Weiber gegenüber den durch sie geplagten, rechtschaffenen Männern). Kühn mutet die Darstellung dieser negativen Frauenbilder aber insofern an, als dabei Tabus durchbrochen werden (weibliche Sexualität, Gewalt auf beiden Seiten, Drastik der Gestaltung). Den Frauen wird der aktive, draufgängerische Part - wenngleich in kritischer Absicht - nicht abgesprochen. Die im fortschreitenden und ausgehenden 18. Jahrhundert gezeichneten Frauenbilder der Taschenbücher und Almanache zeigen wieder andere Züge.

III. Taschenbuch und Almanach, eine ,vergnüglich'-,nützliche' Lektüre: Leipziger Taschenbuch für Frauenzimmer zum Nutzen und Vergnügen (1784-1820; hier 1784) Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bildet sich eine neue Gattung heraus, die anders als der Kalender - zwischen Buch und Zeitschrift angesiedelt ist: das Taschenbuch, das vielfach auch als Almanach bezeichnet wurde. Periodizität (jährliche Erscheinungsweise) und Kleinformatigkeit sind Merkmale dieses Mediums, das neben dem Roman zur Lieblingslektüre des weiblichen Lesepublikums gehörte. Wegen seines kleinen Formats konnte es überall problemlos mitgenommen werden: Es avancierte zum ständigen Begleiter, zum Vademekum des lesenden Frauenzimmers. 13 Der 1. Jahrgang des Leipziger Taschenbuchs ftir Frauenzimmer (1784) soll als repräsentatives Beispiel dieser Gattung im Folgenden näher betrachtet werden. 14 Georg Carl Claudius (1757-1815) gab unter dem Pseudonym Franz Ehrenberg

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Zur Gattung der Almanache und Taschenbücher vgl. Bunzel, Wolfgang, Almanache und Taschenbücher, in: Fischer/ Haefs/ Mix, (wie Anm. 2), S. 24-35. Zum Musenalmanach: Mix, York-Gothart, Die deutschen Musenalmanache des 18. Jahrhunderts. München 1987. Speziell zu Frauenalmanachen im 19. Jahrhundert siehe den von Lydia Schieth herausgegebenen Katalog Fürs schöne Geschlecht. Frauenalmanache zwischen 1800 und 1850. Bamberg [1992], Der vollständige Titel lautet: Leipziger Taschenbuch fiir Frauenzimmer zum Nutzen und Vergnügen, aufs Jahr 1784. Leipzig 1784. Alle Zitate aus dieser Ausgabe.

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diesen ersten Leipziger Frauenzimmer-Almanach bis 1815 heraus, der danach bis 1820 von Friedrich Rochlitz fortgesetzt wurde. 15 In der Vorrede dieses erfolgreichen Unternehmens stellt der ,Herausgeber' Franz Ehrenberg sich und seine ,Familie' dem Lesepublikum vor. Die fiktive Herausgeberschaft gehört zum Profil dieser neuen literarisch-publizistischen Gattung, darin den Moralischen Wochenschriften nicht unähnlich. Das Taschenbuch richtet sich an Mädchen, Gattinnen und Mütter. Die Leserinnen sollen darin unter anderem Rezensionen von Carl, dem ,Sohn' des Herausgebers, finden, und zwar über Werke, die er nicht als „Kunstwerke, sondern blos als Frauenzimmerliche Leetüre betrachtet" habe (unpag.). Daß insgesamt aber ein anderes Frauenbild dem Almanach zugrunde liegt als den 60 Jahre vorher erschienenen Moralischen Wochenschriften, wird bereits in der Vorrede deutlich: Die Hausfrauen-, Gattinnen- und Mutterrolle steht hier wieder im Mittelpunkt: 16 Und nun meinen herzlichen Wunsch für euch alle meine Leserinnen zum Neuen Jahre! Heyl jedem Mädchen, das ihre Würde empfindet; sie sey glücklich und gründe das Wohl eures Mannes nach ihrem Herzen! Heyl jeder Gattin! Sie sey die Freude ihres Mannes, und ihr Haus gesegnet. Heyl euch! Ihr ehrwürdigen Mütter, die ihr der Welt bald einen Menschen geben sollt, und die süße Last unter euerm Herzen traget. Gott segne eure Hofnungen und laß sie laute Redner eines glücklichen Daseyns werden. Heyl euch allen! Und mir eure Unterstützung und Beyfall. (unpag.)

Der Almanach von 1784 enthält wie üblich Notenbeilagen, aber keine Kupferstiche. Anders als im Kalender gibt es nun eine Seitenzählung. Der enzyklopädische Ansatz des Kalenders, der sich in der Vielfalt der Themen zeigt, ist aber auch hier tendenziell vorhanden. Im Zeichen einer praktischen Aufklärung' 17 wird in 26 Kapiteln „zum Nutzen und Vergnügen" aus Natur, Geschichte, Gesellschaft, Politik, Medizin, Ökonomie, Literatur berichtet. 18 So erfährt die Leserin etwas über den „Kalender", die Monate, Münzen (Umrechnungstabelle), „Europas vornehmste Regenten und ihre Familien", über Joseph II., Catharina II., „Deutschland", „Die Deutschen", „Charakterzüge der Türken", die „Geschichte einiger Krankheiten". Neben „Moralischen Aufsätzen" erscheinen auch literarische Texte (Erzählungen, Gedichte, Anekdoten). Wissenswertes über „Kaffee", „Zucker", „Tee", „Kartoffeln", „Gans", „Ente", „Pferd" und „Ochse" wird der Leserin mitgeteilt („Natur-

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,'Taschenbuch' und ,Frauenzimmer-Almanach' werden hier gleichgesetzt. Die Ausgabe von 1800 (Leipziger Taschenbuch...) fuhrt z.B. als Innentitel Frauenzimmer Almanach zum Nutzen u. Vergnügen für das Jahr 1800. Siehe auch Schmid, Pia, ,Ο, wie süss lohnt das Muttergefühl!' Die Bestimmung zur Mutter in Almanachen ftir das weibliche Publikum um 1800, in: Opitz, Claudia / Weckel, Ulrike / Kleinau, Elke (Hg.), Tugend, Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten, Münster / New York / München / Berlin 2000, S. 107-125. Vgl. dazu: Mix, Medien für Frauen, (wie Anm. 2), S. 49. Hinsichtlich des breiten Spektrums der behandelten Stoffe kann man sich auch an die Konzeption des heutigen Reader 's Digest erinnert fühlen.

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geschichte"). Ein Loblied wird über den „Segen einer guten Haushaltung" (Kapitel „Oekonomie") gesungen, und dabei explizit der weiblichen „Bestimmung" gedacht; ferner werden die „Sitten und Gewohnheiten, häusliche[n] Gebräuche und Bedürfnisse, Erfindungen" der Vorfahren beschrieben. Im Vergleich zum Kalender der frühen Aufklärung ist hier der frauenspezifische Bezug stärker ausgeprägt. Der „Kalender über die bösen Weiber" war zwar auch schon geschlechterorientiert ausgerichtet, doch die ironisch-spöttische Darstellung der negativen Frauenbilder sorgte für Provokation und zumindest bei dem männlichen Lesepublikum für Amüsement. Der im vorliegenden Leipziger Taschenbuch gestaltete Geschlechterdiskurs weist diese satirische Komponente nicht mehr auf. Es geht um die weitgehend biedere, hausbackene Vermittlung der traditionellen Rolle der Frau als tüchtige Hausfrau, sittsame Gattin und aufopferungsvolle Mutter. Statt Witz und Spott findet man hier eher Pathos und Umständlichkeit. Die Aussparung erotisch-sexueller Themen ist typisch für den Frauenzimmer-Almanach.19 Mit der Propagierung dieses traditionellen Frauenideals geht auch eine weitere Veränderung im Vergleich zum Kalender einher: die Tendenz zur Literarisierung, die in der Folgezeit immer mehr das Profil des Genres ,Taschenbuch' bestimmen wird. Die Leserinnen des Leipziger Taschenbuchs von 1784 erhalten zum Beispiel einen ausfuhrlichen Überblick über literarische Neuerscheinungen (s. Kapitel „Neuere Leetüre"). Nach Gattungen geordnet, werden ausgewählte Romane, Schauspiele, Gedichtsammlungen und „Moralische Schriften" aufgeführt und in der Regel knapp kommentiert. Angegeben werden dabei Titel, der Autor oder die Autorin, mitunter Erscheinungsort, -jähr, Ausstattung, Preis. Diese Lektüreliste enthält (Frauen-)Romane, Schauerliteratur, weibliche Biographien, Briefe über die Erziehung, Gedichtsammlungen und ähnliches. Um einige der bekannteren Namen zu nennen, deren Bücher empfohlen werden: Johann Heinrich Jung-Stilling, Ludwig Christoph Heinrich Hölty, Gottlieb Konrad Pfeffel, Sophie von La Roche, Joachim Heinrich Campe, Stephanie Felicite, Comtesse de Genlis. Über ein neues Werk der zuletzt erwähnten Autorin heißt es: Adelaide und Theodore, oder Briefe über die Erziehung von der Gräfin von Genlis. 3 Th. 1783. Druckpap. 1 thl. 20 gr. Schreibpap. 2 thl. 16 gr. Ein Buch, das sehr viel Verdienste hat. Ο daß es alle Mütter, alle Mädchen lesen möchten! Herr Campens Vorrede und Anmerkungen geben den rechten Gebrauch des Buches an. (S. 30)

Die am häufigsten vertretene literarische Gattung in dieser Art ,Frauenzimmerbibliothek' ist der Roman (die Titelangaben umfassen über 10 Seiten), gefolgt von „Moralischen Schriften" (knapp 4 Seiten), Schauspielen (2 Seiten) und schließlich Gedichtsammlungen (1 Seite). Daß der Roman, insbesondere der empfindsame Roman, favorisiert wird, gibt Aufschluss über die Konzeption des Taschenbuchs: Es geht weniger - wie noch in den Zeitschriften der 20er und 30er Jahre - um 19

Dazu: Bunzel, (wie Anm. 13), S. 31.

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literaturpädagogische Ziele als um ein ideologisches Programm: um die Vermittlung .weiblicher Tugenden' und Moral, um die Entsagung, Selbstlosigkeit, Sittsamkeit etc. In diesem Taschenbuch kommt noch eine Komponente hinzu, die das Frauenideal kennzeichnet: der Nationalstolz.20 Insgesamt fungiert das Taschenbuch also als literarische Sozialisationsinstanz fur die weibliche Leserschaft.21 Noch stärker als der Kalender in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist das Taschenbuch bemüht, die Leserinnen zu unterhalten. Die Aufnahme belletristischer Texte, etwa Gedichte, Erzählungen, Anekdoten, dient gewiß diesem Zweck. (Hierin kann das Medium an die Tradition der literarischen Almanache anknüpfen.) Doch bei aller Unterhaltsamkeit verliert das Taschenbuch das Hauptziel nicht aus den Augen: die Leserin zur .weiblichen Bestimmung' rousseauscher Prägung hinzuführen. Zurückgezogenheit und .Innerlichkeit' gehören zu diesem Rollenbild. In einer „Auswahl von Gedichten" wird in „Die Eitelkeit vor dem Spiegel, und der - Todtenkopf' die Frau nachdrücklich ermahnt: Reinlich sey ein jedes Weib, Um dem Gatten zu gefallen; Puz ist nichts als Zeitvertreib, Machet oft ins Auge fallen. Drum gedenkt an mein Gedicht Und versäumt die Seele nicht. (S. 35f.)

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Einige Herrscherporträts zielen in diese Richtung (z.B. Joseph II. der große Kaiser der Deutschen, S. 15ff). Auch werden nationale Stereotypen bemüht. So wird beispielsweise in der Abhandlung Die Deutschen der .deutsche Nationalcharakter' beschrieben: „Ihren Charakter krönte eine unverstellte Redlichkeit, die nur in dem einzigen Falle von ihnen wich, wenn dadurch das Heyl ihrer Nation befördert werden konnte. Noch ist diese Tugend der Vorzug ihrer spätem Nachkommen vor andern Völkern geblieben. Wohl ihnen, wenn sie nie von ihnen weichen! Er ist ein Deutscher - hieß, er ist ein ehrlicher redlicher Mann, und wem er sein Wort und den biedern Handschlag gegeben hatte, der konnte ihm trauen." (S. 181). Als Kontrast dazu erscheint das Bild der Türken; da heißt es: „Sie sind ohne Gelehrsamkeit, ohne Bücher, und werden übel erzogen. Sie bekümmern sich nicht um die Ursachen der Dinge, überlassen sich auf der einen Seite ihrer Gewohnheit, und auf der andern auf ein unvermeidliches Schicksal." (Einige allgemeine Charakterzüge der Türken, und Gewohnheiten, S. 187). Bunzel, (wie Anm. 13), S. 33.

MARIE-KRISTIN HAUKE ( N e u - U l m )

Kalender - Zeitverschwender? Ein immerwährender ökonomischer Frauenzimmerkalender aus dem Jahr 1737 als Kompendium weiblicher Haushaltsführung Beim Stichwort Frau und Kalender denkt man selten spontan an die sogenannten ökonomischen Kalender. Das liegt zum einen daran, daß sich die heutige Auffassung des Begriffs Ökonomie von der früherer Jahrhunderte deutlich unterscheidet. Zum anderen läßt man sich gerne vom Tenor der überlieferten Quellen irrefuhren. Titelblätter und Vorworte der Kalender, die sich mit Fragen rund um Haushalt, Gutswirtschaft, Ackerbau und Viehzucht beschäftigten, rückten von Beginn an überwiegend den männlichen Leser in den Vordergrund. Sie wandten sich an den Bauern, den Landmann, den Hausvater. Trotzdem war die Zielgruppe dieser Kalender wesentlich weiter gefaßt, denn er, der männliche Leser, stand nach zeitgenössischer Auffassung nur pars pro toto für den ganzen Haushalt und seine Mitglieder. Vergleicht man die Inhalte der Kalender mit den Aufgabenbereichen der Frau, so zeigt sich schnell, wie viel handfestes, in ihrem Arbeits- und Lebensalltag verwertbares Wissen die Hausmutter des 16., 17. und 18. Jahrhunderts aus den Kalendern schöpfen konnte. Der Curieuse und Immerwährende Astronomisch-Meteorologisch-Oekonomische Frauenzimmer-Reise- und Hand-Calender, der 1737 im Verlag des Erfurter Universitätsbuchdruckers Johann Michael Funcke erschien und als einer der ersten die Frau als Kalenderleserin bereits im Titel in den Mittelpunkt rückte,' ist ein besonders anschauliches Beispiel dafür, welchen Nutzen (und welches Vergnügen) ein ökonomischer Kalender dem weiblichen Teil seiner Leserschaft bieten konnte. Gleichzeitig illustriert er weibliche Lebenswirklichkeit im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts. Die Tradition ökonomischer Kalenderliteratur, in der Funckes Kalender steht, reicht bis ins späte 16. Jahrhundert zurück. Den Anfang machte das von Johann Coler (1566-1639) verfaßte Calendarium oeconomicum et perpetuum von 1591.2

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Curieuser und immerwährender Astronomisch-Meteorologisch-Oeconomischer Frauenzimmer-Reise- und Hand-Calender [...]. Mit einer Vorrede von Mademoiselle Sidonia Hedwig 6 Zäunemannin. Erfürt / Leipzig 1737. 8°. 4 Bl„ 356 S., 8 Bl., 236 S., 2 Bl. [eingesehene Exemplare: UB Erlangen (29): Trew Qx 166; SUB Göttingen (7): 8° H. Subs. 7900] Vgl. die vollständige Titelei in diesem Band bei Brandes, Vom Kalender zum Taschenbuch und Almanach, S. 58, Anm. 5. Coler, Johann, Calendarium oeconomicum & perpetuum. Vor die Haußwirt / Ackerleut / Apotecker und andere gemeine Handwercksleut / Kauffleut / Wanderßleut / Weinherm / Gertner und alle diejenige so mit Wirtschafft umbgehen. Darinnen begriffen ist: eine gemeine Prognostication, auff eine jedere zeit des Jahrs / alle Kreuter / Wurtzeln / Blumen und Samen / die man in einem jeden Monat zur Artzney nützlich samlen sol / Auch wie sich ein Mensch im essen

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In seinem immerwährenden ökonomischen Kalender verschob sich der astrologische Gehalt der traditionellen Bauernpraktik mit ihren Wetterregeln und -voraussagen deutlich zugunsten der realitätsbezogenen Arbeitsanweisungen fur Landbau und Haushaltsführung im Wechsel der Jahreszeiten.3 Das Calendarium war jedoch nur der Auftakt für ein Gesamtwerk, das als Colers Oeconomia ruralis et domestica oder Haußbuch Literaturgeschichte machte. Colers mehrbändiges Haußbuch erlebte bis ins 18. Jahrhundert hinein 14 Auflagen und wurde zum Ausgangspunkt der Hausväterliteratur. Nach dem Vorbild Colers verband sie auf der einen Seite die antike Agrarlehre und die seit Aristoteles existierende Oeconomia-Literatur, die sich mit der Ordnung des Hauses und dem Zusammenleben und -arbeiten innerhalb dieses Verbandes beschäftigte, mit den praktischen Erfahrungen des Alltagslebens auf der anderen Seite.4 In der Summe stellte die Hausväterliteratur ein Gemisch aus Gebrauchsliteratur für Landwirtschaft und Haushaltsführung und christlicher Sittenlehre dar. Ihr Themenkanon war dementsprechend heterogen, die Bücher mehr als umfangreich. Ein Blick in eines der Hauptwerke der Hausväterliteratur, Wolf Helmhards von Hohbergs Georgica curiosa oder Adeliges Land- und Feldleben (Nürnberg 1682) mag dies verdeutlichen:5 In 12 Bänden behandelte Hohberg alle Spielarten von Land- und Hauswirtschaft einschließlich Wasserversorgung, Vieh-, Fisch-, Bienen- und Seidenraupenzucht, Berg- und Hüttenwesen, Brauereikunde, Weinbau, Forstwirtschaft und Jagd. Dazu gesellten sich Verhaltensmaßregeln bei Kriegs- und Seuchengefahr, eine Wetterkunde, Rezepte für Haus- und Vieharzneien sowie der obligatorische Monatskalender für die Arbeiten in Haus, Garten und Feld. Das Wirken des Hausvaters, sein Verhältnis zu Gott, Ehefrau, Kindern und Gesinde wurde ebenso thematisiert wie Kindererziehung und

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und trincken / und andern Sachen der Gesundheit dienlich halten sol. Auch alle Jarmeckt / sampt vielen andern nützlichen auffmerckungen / einem jedem in seinem Stande sehr nützlich und dienstlich. Joannes Colerus. Mit einem Nachwort von Gotthardt Frühsorge. Weinheim 1988 [Nachdruck der ersten Ausgabe Wittenberg 1591]. Vgl. Frühsorge, Gotthardt, Nachwort, in: ebd., S. 6. Zu Begriff und Inhalt der Hausväterliteratur Brunner, Otto, Hausväterliteratur, in: Beckerath, Erich v. (Hg.), Handwörterbuch der Sozialwissenschaft. 12 Bde. u. Register. Göttingen / Stuttgart 1956, hier: Bd. 1 (1956), S. 92ff; Hoffmann, Julius, Die Hausväterliteratur und die Predigten über den christlichen Hausstand. Lehre von Haus und Bildung für das häusliche Leben im 16., 17. und 18. Jahrhundert. Weinheim 1959 (Göttinger Studien zur Pädagogik 37); Frühsorge, Gotthardt, Die Begründung der väterlichen Gesellschaft' in der europäischen oeconomia Christiana. Zur Rolle der Haus Väterliteratur des 18. Jahrhunderts in Deutschlands, in: Teilenbach, Hubert (Hg.), Das Vaterbild im Abendland. 2 Bde. Stuttgart 1978, hier: Bd. 1 (1978), S. 110-123. Zu Wolf Helmhards von Hohbergs Georgica curiosa vgl. Brunner, Otto, Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612-1688. Salzburg 1949; Frühsorge, Gotthardt, ,Georgica Curiosa'. Vom geistlichen Sinn der Anleitungsliteratur bei Wolf Helmhard von Hohberg, in: Zeman, Herbert (Hg.), Die österreichische Literatur. Ihr Profil von den Anfängen im Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert. 4 Bde. Graz 2I986—1989, hier Bd. 1 (1986), S. 1071-1086.

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der Wirkungskreis der Hausmutter.6 Die Ökonomik als Lehre vom „Oikos", dem „ganzen Haus",7 umfaßte eben im damaligen Verständnis „die Gesamtheit der menschlichen Beziehungen und Tätigkeiten im Hause".8 Haushalt und Betrieb galten als eine Einheit, deren Sinn und Zweck das gemeinsame Produzieren für den Eigenbedarf war. Das Publikum der klassischen Hausväterliteratur, die noch bis um die Mitte des 18. Jahrhunderts ihre Leser fand, bestand hauptsächlich aus der vermögenden ländlichen Oberschicht. Nur sie konnte sich in der Regel die mehrbändigen und daher kostspieligen Werke leisten. Doch auch weniger begüterte Haushalte konnten an dem dort ausgebreiteten Wissen partizipieren, da viele Kalenderschreiber seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts dazu übergingen, ihre eigenen Produkte mit Lehren und Informationen ökonomischer und moralischer Natur aus der Hausväterliteratur anzureichern. Nur vereinzelt wurden dagegen geschlossene ökonomische Themenfelder aufgegriffen. Ab 1673 erschien beispielsweise in Nürnberg der Kunst-Nutzen-Lust-Lehrreiche Feld-Garten-Baum und Blumen-Calender von Johann Ulrich Oeler mit einem nützlichen Unterricht von bequemer Zubereitung eines Kuchen-Gartens und allerley nothwendigen Früchten desselben, ingleichen von dem Feld- und Ackerbau, wie man selbigen vermög natürlicher MitWürckung, des Sonnen und Monden-Lauffs, auch influentien der Gestirne, düngen, säen, pflantzen, emdten und vernünfftig bestellen soll.9

1669 wurde erstmals ein Speis- und Keller-Calender veröffentlicht, der halb Kochbuch, halb Ratgeber für Weinbaufragen war.10 1678 erschien ein Wein-Bau[!]Bier- und Meeth-Brau auch Essig-Zubereitungs-Calender,u 1699 ein Neuausgeschmückter Koch-Confitier-Candier- und Zuckerbackerey Calender für das galante Frauen-Zimmer.12 Jeder der genannten Titel war auch für Frauen von unmittelbarem Interesse. Schließlich fielen die genannten Themen allesamt in das weibliche Aufgabengebiet der Haushaltsführung. Doch nur im Titel des Letztgenannten tauchten sie als Adressatinnen auf. Dieser Umstand ist bezeichnend für die Entwicklung der Stel-

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Vgl. Brunner, Otto, Das ,Ganze Haus' und die alteuropäische ,Ökonomik', in: ders. (Hg.), Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Göttingen 2 1968, S. 103-127. Der Begriff des ,ganzen Hauses' geht auf Wilhelm Heinrich Riehl zurück. Grundlegend zum Verständnis der Ökonomie im vormodernen Sinn: Egner, Erich, Der Verlust der alten Ökonomik. Seine Hintergründe und Wirkungen. Berlin 1985 (Beiträge zur Ökonomie von Haushalt und Verbrauch 18). Brunner, Das ,Ganze Haus', (wie Anm. 6), S. 104f. Matthäus, Klaus, Zur Geschichte des Nürnberger Kalenderwesens. Die Entwicklung der in Nürnberg gedruckten Jahreskalender in Buchform, in: AGB 9 (1968), Sp. 967-1396, hier Sp. 1250. Der Kalender wurde unter dem Namen Georg Sommerfeld bis 1693 fortgesetzt. Vgl. ebd., Sp. 1250 u. 1362. Ebd., Sp. 1250 u. 1361. Ebd., Sp. 1250 u. 1352. Ebd., Sp. 1251 u. 1354.

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lung der Frau in der Gesellschaft und innerhalb des Hauses am Ende des 17. Jahrhunderts. Hatte noch bis ins letzte Drittel des 17. Jahrhunderts hinein die Haushaltsführung nur einen Teil des weiblichen Arbeitslebens ausgemacht, da in den meisten Schichten die Frauen in Handwerk oder Gewerbe des Mannes mitarbeiteten, begannen sich die Relationen in der Zeit der Frühaufklärung auf breiter Front zu verschieben. Die fortschreitende Trennung von Lebens- und Arbeitsbereich, die vor allem im gelehrten Bürgertum zum Tragen kam und den Mann als abhängigen Lohnarbeiter zum Alleinverdiener machte, führte zu einer verstärkten Verlagerung der weiblichen Arbeitsbereiche ins Haus. Es lag in der Hand der Frau, die Besoldung ihres Mannes, die außer Bargeld auch Naturalien und Landnutzungen umfassen konnte, durch ihre Arbeit in ein veritables Einkommen umzuwandeln. Die sprichwörtlich gewordenen Schlagworte ,Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit' wurden in dieser Phase zu neuen Kardinaltugenden erhoben. Kluges Planen und rationelles Wirtschaften, die Eckpfeiler des neuen ökonomischen Denkens, gingen - um mit Heide Wunder zu sprechen - mit einer „Professionalisierung der Hausfrauenrolle" einher.' 3 Dabei änderte sich der Anspruch, der fortan an Umsetzung und Qualität gestellt wurde, mehr als die Art der Arbeit selbst: Die Hausfrau war zuständig für den rechtzeitigen Einkauf von Verbrauchsgütern, wie zum Beispiel Holz und derjenigen Lebensmittel, die nicht selbst produziert wurden. Sie kümmerte sich um Klein- und Großvieh, den Blumen-, Küchenund Obstgarten, die Konservierung von Lebensmitteln für den Winter. Sie war verantwortlich für den Speiseplan, beaufsichtigte die Köchin und das Gesinde im Allgemeinen, führte Buch über alle Einnahmen und Ausgaben, sorgte für die Beschaffung der nötigen Küchen- und Haushaltsgeräte und die allgemeine Reinlichkeit im Hause. Darüber hinaus war sie zuständig für die Unterhaltung der Hausapotheke für Mensch und Vieh, kümmerte sich um die Kleidung der Familienmitglieder und widmete sich der christlichen Unterweisung von Kindern und Gesinde. Eine ihrer Hauptaufgaben war die Erziehung der Töchter, die von klein auf in ihre künftigen Pflichten als Hausfrau eingeführt wurden. Auch wenn ihr viele Tagesgeschäfte von Dienstboten abgenommen wurden, mußte sie auf jedem Arbeitsfeld bewandert sein, um ihre Aufsichts- und Kontrollfunktion über das Hauswesen glaubwürdig wahrnehmen zu können. Ein (erdachtes) Ideal einer bürgerlichen Haus- und Ehefrau, eine „fleißige und emsige Haushälterin, eine reinliche, verständige Köchin und eine aufmerksame Gärtnerin,"14 schilderte Justus Moser Jahre später in seinen Patriotischen Phantasien:

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Zur Famiiiarisierung von Arbeiten und Leben vgl. Wunder, Heide, ,Er ist die Sonn', sie ist der Mond'. Frauen in der Frühen Neuzeit. München 1992, S. 89ff, hier S. 113ff. Moser, Justus: Die gute selige Frau, in: ders., Patriotische Phantasien I (1768). Zitiert nach Killy, Walther (Hg.), Die deutsche Literatur: Texte und Zeugnisse. 7 Bde. München 1983, hier Bd. 4/1: Das 18. Jahrhundert (1983), S. 179-181, hier S. 179.

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Der Himmel weiß, daß ich es nie verlangt habe; allein, meine Selige stand alle Morgen um fünf Uhr auf; und ehe es sechse schlug, war das ganze Haus aufgeräumet, jedes Kind angezogen und bei der Arbeit, das Gesinde in seinem Beruf und des Winters an manchem Morgen oft schon mehr Garn gesponnen, als jetzt in manchen Haushaltungen binnen einem ganzen Jahr gewonnen wird. [...] Mein Tisch war zu rechter Zeit gedeckt und mit zween guten Gerichten, welche sie selbst mit Wahl und Reinlichkeit simpel, aber gut zubereitet hatte, besetzt. Käse und Butter, Apfel, Birn und Pflaumen, frisch oder trocken, waren von ihrer Zubereitung. Kam ein guter Freund zu uns: so wurden einige Gläser mit Eingemachtem aufgesetzt. [...] Ihre Pickels übertrafen alles, was ich jemals gegessen habe; und ich weiß nicht, wie sie den Essig so unvergleichlich machen konnte. Sie machte alle Jahr ein Bitters für den Magen, wogegen Dr. Hills und Stoughtons Tropfen nichts sind. [...] In unserm Ehestande hat keines aus dem Hause dem Apotheker einen Groschen gebracht, und wenn sie etwas Lächerliches nennen wollte: so war es ein Kräutertee aus der Apotheke. [...] Sie wußte, wieviel Stunden das Gesinde von einem Pfund Tran brennen mußte. Ihre Lichter zog sie selbst und wußte des Morgens an den Enden genau, ob jedes sich zu rechter Zeit des Abends niedergelegt hatte. Das Bier ward im Hause gebraut, das Malz selbst gemacht und der Hopfe daheim besser gezogen, als er von Braunschweig eingeführet wird. [...] Sie wußte genau, wie lange ein Fuß laufen und wie viel ein Brod wägen mußte. [...] Sie kannte jedes Huhn, das legte, und fütterte nach der Jahrszeit so, daß kein Korn zu viel oder zu wenig gegeben wurde. Das Holz kaufte sie zu rechter Jahrszeit und ließ die Mägde des Winters alle Tage zwei Stunden sägen, um sie bei einer heilsamen Bewegung zu bewahren. [...] Alles, was sie und ihre Kinder trugen, ward im Hause gemacht. [...] Ihr Garten war zu rechter Zeit und mit selbst gezogenem Samen bestellt. [...] Die Früchte lachten dem Auge entgegen, ob sie gleich kaum den halben Dünger gebrauchte, den ihre Nachbarn ohne Verstand untergruben. [...] Alles, was sie pflanzte, geriet recht wunderbarlich, und ihr Vieh gab bei kluger Futterung bessere und mehr Milch, als andre mit doppeltem Futter erhalten konnten. [...] und wie ich alles, was sie während unserm 16jährigen Ehestande in der Haushaltung gezeugt hatte, überschlug, belief es sich höher als das Geld, was sie in aller Zeit von mir empfangen hatte. So vieles hatte sie durch Fleiß, Ordnung und Haushaltung gewonnen. 15 D i e neuen Ansprüche an die Qualität der Haushaltsführung korrelierten mit der Debatte u m die Frauenbildung, die seit d e m 17. Jahrhundert in unterschiedlicher Schärfe geführt wurde. 1 6 In z w e i Punkten waren sich die Kontrahenten meist einig: D a s H a u s w e s e n durfte über einem w i e auch immer gearteten Studium nicht vernachlässigt werden. Und: W e r der zur Wissenschaft avancierten Kunst der Haushaltsführung gerecht werden wollte, mußte seinen Verstand schulen: Sie [die Frauen] haben zur Handhabung des Haußwesens so viel Verstand / als die Männer Land und Leute zuregieren / vonnöthen / ja fast noch mehr / in dem sie weniger Macht / als die Obrigkeit hat / gebrauchen können / und vielmehr Verstand erfordert wird / das Guth zu erhalten / als zuerwerben [...]. Also lieget in dem Haußwesen / worin die Städte bestehen / so viel und mehr an dem Weibe / als an dem Mann / der auswärtigen Geschäften obliegen muß. 17 Gefragt war allerdings nicht die ,gelehrte Frau', sondern die allgemeingebildete, die ihr erworbenes W i s s e n dazu nutzte, ihre weiblichen Pflichten als Hausfrau,

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Ebd., S. 179-181. Zur Bildungsdebatte vgl. u.a. Gössmann, Elisabeth (Hg.), Das wohlgelahrte Frauenzimmer. München 1984. Paullini, Christian Franz, Das Hoch- und Wohlgelahrte Teutsche Frauenzimmer. Frankfurt a.M. / Leipzig 1705, S. 10.

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Gattin und Mutter besser zu erfüllen. Verstandesbildung und Professionalisierung der Hausfrauenrolle gingen also in dieser Phase Hand in Hand. Die Zahl der Titel, die sich ausschließlich dem Thema weiblicher Haushaltsführung widmeten, hielt sich allerdings, soweit sich feststellen läßt, in Grenzen. Bücher, wie Die so kluge als künstliche von Arachne und Penelope getreulich unterwiesene HaußHalterin / Oder Dem Frauen-Zimmer wohlanständiger Kunst-Bericht und Gründlicher Haußhaltungs-Unterricht (Nürnberg 1703),18 in dem auf 955 Seiten ein ,kurzer Abriß' der Haushaltungskunst gegeben wurde, blieben eine Ausnahme. Eher fand man entsprechende Angaben in breit angelegten Werken, wie Amaranthes' Nutzbarem, galantem und curiösem Frauenzimmer-Lexicon von 1715. Hier wurden in Form eines alphabetisch geordneten Nachschlagewerks Informationen zu den verschiedenen Wissensgebieten vereinigt, die der Autor für die Frauen seiner Zeit als erstrebenswert erachtete. Auch wenn er im Vorwort drei scheinbar selbständige Zielgruppen unter den weiblichen Leserinnen ansprach das „haushältige und sorgfaltige", das „curiöse und galante" sowie das „gelehrte Frauenzimmer" - verschwamm diese Differenzierung durch die Art, wie die Informationen im Werk präsentiert wurden. Kochrezepte standen neben Erklärungen mythologischer Gestalten, biografischen Abrissen von Kaiserinnen, Poetinnen und gelehrten Frauen, Beschreibungen von Haushaltsgegenständen neben Schminkanleitungen und Gesindeordnungen.19 Mit Hilfe des bei Amaranthes präsentierten Wissenskanons rundet sich das Bild von der idealen bürgerlichen Frau des frühen 18. Jahrhunderts ab: Eine Frau, die als Hausmutter ihren Haushalt aufs ökonomischste' führte, über ausreichend Allgemeinbildung verfügte, um eine angenehme Gesprächspartnerin und Lebensgefahrtin sowie eine kompetente Erzieherin ihrer Kinder zu sein und genügend Lebensart besaß, um ihren gesellschaftlichen Repräsentationsaufgaben erfolgreich nachzukommen.

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Die so kluge als künstliche von Arachne und Penelope getreulich unterwiesene HaußHalterin / Oder Dem Frauen-Zimmer wohlanständiger Kunst-Bericht und Gründlicher Haußhaltungs-Unterricht. Als Deß Nürnbergischen Koch-Buchs Zweyter Theil/ bestehend In schicklicher Auferziehung der Töchter / curieuser Anweisung zu sechs- und dreyssigerley dem FrauenZimmer wohl-anständigen Künsten und Galanterien / vemünfftiger Einrichtung einer Neuen Haußhaltung / vortheilhaffter Anschaffung / Einkauffung und Aufbehaltung allerley Victualien von Getreyd / Zugemüß / Obst / Fleisch / Gewürtz / Brod und Geträncken / samt andern zu Feuer / Holtz und Licht gehörigen / wie auch allerley Gespinst / Leinwat / dero Bleich und Reinigung betreffenden Dingen; nebst einer Zugabe / von denen bewährtesten Hauß-Mitteln wider die fürnehmste Frauen- und Kinder-Kranckheiten / Verbesserung der Schönheit / Anrichtung zierlicher Hauß-Gärten und Altanen / Zieh- und Verpflegung der singenden Vögel / samt einem wohl-bewehrten Vieh-Artzney-Büchlein. Aus vielfaltiger Erfahrung meistens zusammengetragen/ und zu allgemeinen Nutzen durch öffentlichen Druck bekannt gemacht. Nürnberg 1703. Zu Inhalt und Bildungskonzept des Frauenzimmerlexikons vgl. Brandes, Helga, Das Frauenzimmer-Journal. Zur Herausbildung einer journalistischen Gattung im 18. Jahrhundert, in: Brinker-Gabler, Gisela (Hg.), Deutsche Literatur von Frauen. 2 Bde. München 1988, hier Bd. 1 (1988), S. 452-468.

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Jeder der eben genannten Bereiche wurde auch in Funckes Curieusem und Immerwaehrendem Astronomisch-Meteorologisch-Oekonomischem FrauenzimmerReise- und Hand-Calender angesprochen, auch wenn der Bereich der Haushaltsführung inhaltlich überwog. Funckes Kalender war keine Neuschöpfung. Bei der Ausgabe von 1737 handelte es sich um die erweiterte Neuauflage des ebenfalls in seinem Verlag erschienenen Verbesserten immerwährenden Haußhaltungs-, Reiseund Hand-Calenders, der es zwischen 1719 und 1723 auf fünf Auflagen gebracht hatte.20 Als Autor dieser ersten Auflagen zeichnete ein gewisser „Turanophilus" verantwortlich, dessen Pseudonym bis heute nicht gelüftet werden konnte.21 Funcke gelang es offenbar, mit seinem Kalender den sich verändernden Geschmack des anspruchsvolleren Teils der Kalenderkäufer zu treffen. Es waren vor allem die bürgerlichen Leser, deren Weltsicht in steigendem Maße von den Gedanken der Frühaufklärung beeinflußt wurde, die sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts trotz der Bemühungen der Kalenderschreiber um thematische Vielfalt von den barocken Quartkalendern abwandten. Faktenwissen und Naturwissenschaft traten in Konkurrenz zu Wundergeschichten und dubiosen astrologischen Prophezeiungen. Wachsender Beliebtheit erfreuten sich daher die Hand- und Reisekalender im eleganten, zeitgemäßen Oktavformat, obwohl sie wesentlich trockener und umfangreicher als die althergebrachten Kalender waren.22 Funckes Haushaltungs-Calender griffen diesen Trend auf - auf Wundergeschichten, Anekdoten, Relationen oder moralische Unterweisungen wurde überwiegend verzichtet. Statt dessen versuchte der Kalender dem Leser eine Art praxisorientiertes Basiswissen für den Alltag zu vermitteln, wobei man bemüht war, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen. Dies bedeutete allerdings nicht, daß man auf die Wiedergabe traditioneller Ansichten und Methoden, etwa im Bereich der Wetterkunde, verzichtete. Oft stand beides nebeneinander, wie später noch zu sehen sein wird. Als Johann Michael Funcke 1737 seinen ehemaligen Erfolgstitel nach 14 Jahren in einer sechsten Auflage wieder aufleben ließ, griff er für die ersten drei Teile des neuen Kalenders auf Inhalt und Text der fünften Auflage von 1723 zurück. Die Einteilung der Kapitel wurde fast unverändert beibehalten, der Text an einigen

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Das Wort „Verbessert" im Kalendertitel und ein Vermerk im Vorwort legen den Schluß nahe, daß es sich bei der Ausgabe von 1719 bereits um die 2. Auflage handelte. Ob eine 1. Auflage eventuell im selben Jahr unter dem Titel Immerwährender Haußhaltungs-, Reise- und HandCalender erschien, ließ sich nicht klären. Die 4. Auflage erschien 1721 (vgl. Bibliographie der Almanache, Kalender und Taschenbücher für die Zeit von ca. 1750-1860, hg. v. Hans Köhring. Hamburg 1929), die 5. Auflage 1723. Ein Exemplar der Auflage von 1719 befindet sich in der UB Erlangen [Signatur: Trew Dx 750], der 5. Auflage in der SUB Göttingen [Signatur: 8° H. Subs. 7899], Schon das Zedlersche Universallexikon konnte keine nähere Auskunft geben, wer sich hinter dem Pseudonym verbarg. Erwähnt wurde im Zusammenhang mit dem Autor zudem nur die Kalenderausgabe von 1723, nicht aber die früheren Auflagen. Matthäus, (wie Anm. 9), Sp. 1285ff.

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Stellen aktualisiert und sprachlich etwas überarbeitet. Grundsätzlich neu war nur der vierte Teil, der ausschließlich typisch weiblichen Haushalts- und Lebensfragen gewidmet war und eine eigene Seitenzählung erhielt. Die Erweiterung um diesen ,Frauenzimmer'-Teil nahm Funcke zum Anlaß, den Titel des Kalenders zu ändern. Aus dem neutralen, Frau und Mann gleichermaßen ansprechenden Haushaltungskalender wurde der modegerechte, zielgruppenspezifische Frauenzimmerkalender. Ganz sicher, ob diese Strategie aufgehen würde, war der Verleger wohl nicht. Anders ist es nicht zu erklären, daß Funcke den für die Publikation eines Kalenders zu dieser Zeit ungewöhnlichen Weg der Pränumeration wählte, um den voraussichtlichen Absatz besser kalkulieren zu können.23 Einen werbenden Effekt beim Publikum versprach er sich von der Verpflichtung der weit über Erfurts Grenzen hinaus bekannten und umstrittenen Poetin Sidonia Hedwig Zäunemann (1714— 1740), die ein in 66 Alexandrinern abgefaßtes Vorwort für den Kalender beisteuerte und den geheimnisvollen „Turanophilus" vom Titelblatt verdrängte.24 Ihr Vorwort vermittelt im Gegensatz zu der von Funcke unterzeichneten Dedikation,25 in der von „geringen oekonomischen Blätter zur Lust und Nutzen des Land-Mannes" die Rede war,26 einen realistischeren Eindruck vom intendierten Publikum des Frauenzimmer-Reise- und Hand-Calenders: „Es zeigt sich, wie gedacht, auch hier ein neues Buch; / Das giebt zur Wissenschaft Gelegenheit genug." 27 Der Kalender richtete sich ganz sicher nicht an die Landbevölkerung im herkömmlichen Sinne, sondern an das akademisch gebildete Bürgertum, das städtische Patriziat, aufstrebende Kaufleute und Handwerker und den Landadel.28 Dazu 23

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Auf Pränumerations- oder Subskriptionsbasis wurden zu diesem Zeitpunkt fast ausschließlich wissenschaftliche Fachliteratur, Lexika oder teure Luxusausgaben veröffentlicht, nicht aber normale Gebrauchsliteratur, geschweige denn Kalender. Sidonia Hedwig Zäunemann (1714-1740), geboren in Erfurt, gehörte zu den schillerndsten Frauenfiguren des frühen 18. Jahrhunderts. Sie vertrat vehement die Auffassung, daß eine Frau ebenso zum Studieren befähigt sei wie ein Mann. Sie selbst trat nicht nur als Dichterin in Erscheinung, sondern auch als „gelehrte Frau" und wissenschaftliche Autorin, deren Abhandlungen in den Hamburgischen Berichten von gelehrten Sachen veröffentlicht wurden. Furore machte sie im Januar 1737, als sie zweimal in Bergmannskleidung das Bergwerk Ilmenau besichtigte. 1738 erhielt sie - als zweite Frau überhaupt - den Titel einer kaiserlich gekrönten Poetin von der neu gegründeten Universität Göttingen verliehen. Sie ertrank Ende des Jahres 1740 bei einem ihrer zahlreichen Ritte über Land. Zu Leben und Werk Sidonia Hedwig Zäunemanns vgl. Berdt, August Joseph Julien de, Sidonia Hedwig Zäunemann poet laureate and emancipated woman (1714-1740). Diss. Knoxville 1977; ADB 44 (1898), S. 723-725. Die 6. Auflage war Gustav Friedrich Gerbet dediziert, der von Funcke als „Ihro Königl. Majest. in Preussen Hochbestallten Geheimden- Justiz-Hoff-Cammer- und Gerichts-Rath, auch KriegsHoff- und Criminal-Gerichts-Rath, General-Fiscal und Burgermeister in Berlin" tituliert wurde. Nähere biographische Angaben ließen sich leider nicht ermitteln. Frauenzimmerkalender, (wie Anm. 1), Dedikation o. S. Ebd., Vorwort. Vgl. das vollständige Zitat des Vorworts in diesem Band bei Brandes, (wie Anm. 1), S. 58, Anm. 9. Diesen Eindruck bestätigt die durch einen glücklichen Zufall erhalten gebliebene Liste der Kollekteure Funckes, die fur die im Herbst desselben Jahres geplante 7. Auflage des Kalenders Pränumeranten gewinnen sollten. Bei 61 von 71 Namen insgesamt findet sich auch der Beruf des Kollekteurs verzeichnet. Abgesehen von den als professionelle bzw. semiprofessionelle

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paßt der Versuch, etwaige Bedenken der Leser zu zerstreuen, es könne sich hier um einen Kalender der alten Machart, einen reinen ,Zeitverschwender', handeln. Verstand, Wissenschaft, Studium, Naturbeobachtung und Nutzen erscheinen hier als zentrale Begriffe mit aufklärerischem Signalcharakter. Damit fügte sich der Kalender auch und gerade in die weibliche Bildungskonzeption dieser Leserschicht ein. Trotz der Vorrangstellung der Bezeichnung ,Frauenzimmer' im Titel war der Kalender jedoch gleichermaßen für männliche und weibliche Leser gedacht. Als immer währender Kalender war er im Vergleich zu den Jahreskalendern eher als langlebige Gebrauchs- denn als kurzfristige Verbrauchsliteratur konzipiert. Sein Inhalt sollte Allgemeingültigkeit über den Tag und das Jahr hinaus besitzen. Darin glich er seinem Ahnherrn, Johann Colers Calendarium. Anders als jener war der Frauenzimmer-Calender jedoch nicht nach dem Ablauf der Monate gegliedert, sondern thematisch in vier große Blöcke unterteilt. Im ersten großen Teil erhielt der Leser zunächst eine gründliche Einführung in die Grundlagen der Kalenderkunst (I, S. 1^18). Begriffe wie ,Schaltjahr', ,Julianischer Zirkel', ,Sonntagsbuchstabe' und ,Epakten' wurden ebenso erklärt wie das Prinzip des Kirchenkalenders mit den beweglichen und unbeweglichen Festtagen und seinen anderen Besonderheiten. Darauf folgten ein kurzer Abschnitt „Vom Unterscheid der Sterne" (I, S. 48-51), eine Beschreibung der Tierkreiszeichen (I, S. 52-59) und eine ausführliche astronomische Planetenkunde einschließlich einer Erläuterung der Theorien von Ptolemaios, Nikolaus Kopernicus, Tycho de Brahes und Rene Descartes (I, S. 59-80). Der Erklärung zur Entstehung von Sonnen- und Mondfinsternissen (I, S. 80-87) schlossen sich Bemerkungen zum „Schein des Mondes" an (I, S. 87-89). Größeren Raum nahm das Kapitel „Von den Winden" ein (I, S. 89-105), das neben allgemeinen Informationen zu den verschiedenen Winden und ihren Auswirkungen auf den menschlichen Körper bzw. die Natur (z.B. Baumblüte, Ackerbau) auch eine Anleitung dazu gab, wie man im eigenen Haus Windrichtung und -stärke bestimmen konnte. Zu diesem Zweck war dem Kalender eine Windkarte mit Erfurt als Zentrum beigelegt, auf der „die 16. gewöhnlichsten Winde beschrieben" waren. 29 Ausgeschnitten und auf Pappe oder

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Kollekteure anzusehenden Buchhändlern (7), Buchdruckern (1) und Disputationshändlern (1) bzw. Postsekretären (4) und Zeitungsexpeditoren (1) finden sich auf dieser Liste Rektoren (14), Geistliche (5), Lehrer (2), Bürgermeister, Ratsherren und Ratsverwandte, Kantoren, Diakone, Kaufleute, Gerichtsverwalter, Sekretäre, Musiker, bis hin zu Botenmeistern, Kanzleibedienten und Studenten. Da es sich gezeigt hat, daß private Kollekteure mit Vorliebe in ihrem eigenen Bekanntenkreis und damit auch in ihrem eigenen gesellschaftlich-sozialen Umfeld zeichnungswillige Pränumeranten suchten, ist es sicherlich erlaubt, Rückschlüsse auf die tatsächlichen Käufer des Kalenders zu ziehen. Die Liste der Kollekteure findet sich in einem achtseitigen Pränumerationsprospekt mit mehreren Anzeigen Funckes. Da er offenbar direkt mit den druckfrischen Exemplaren der zur Ostermesse 1737 erscheinenden Auflage versandt wurde, hat sich der Prospekt sowohl im Erlanger als auch im Göttinger Exemplar der 6. Auflage des Frauenzimmerkalenders erhalten. Im Erlanger Exemplar befindet sich die Karte zwischen den Seiten 104 und 105. Im Göttinger Exemplar des Kalenders fehlt die Karte.

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Holz geleimt sollte sie zu eigenen Beobachtungen ermuntern. Den Abschluß des ersten Teils bildete ein größerer Abschnitt über die Aspekten und ihre mutmaßlichen Einflüsse (I, S. 106-132), die jedoch skeptischer als in den früheren Auflagen beurteilt wurden. Allen Kapiteln gemeinsam war die Vermittlung der Informationen im Katechismusstil von Frage und Antwort. Besonders komplexe Fragen, vor allem im Bereich der Astronomie, wurden zum besseren Verständnis mit einfachen, aber anschaulichen Abbildungen versehen. Der zweite Teil des Frauenzimmer- Reise- und Hand-Calenders war ein thematisch gegliederter Begleiter durch die Monate und Jahreszeiten. Das erste Kapitel umfaßte eine allgemeine Beschreibung der 12 Monate, „wie solche folgen, wer ihnen die Namen gegeben, und wie viel Tage jedweder Monat hat" (II, S. 133— 144), eine Neujahrs- und Ostertabelle (II, S. 144-146), ein Verzeichnis der Sonntage und Feste mit den dazugehörigen Evangelientexte in ihrer zeitlichen Abfolge durchs Jahr (II, S. 146-150) sowie die eigentlichen Monatstabellen (II, S. 151154). Als zweiter Punkt folgten auf 20 Seiten eine Reihe alter Bauernregeln zum Jahreslauf (II, S. 155-175). Die nächsten Abschnitte beschäftigten sich dann konkret mit Themen, die die Aufgabenbereiche der Hausfrau berührten. Im Zentrum des dritten Kapitels stand die gesunde Lebensführung. In einer Mischung aus Vers und Prosa wurden nach alter Tradition Informationen zu Körperpflege, Diätetik und Aderlaß miteinander vermischt. 30 Die Vorschriften gingen dabei zurück auf die antike Säfte- und Qualitätenlehre. Ziel jeder Gesundheitsvorsorge mußte es demnach sein, das Verhältnis der vier humores (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle) samt der ihnen zugeordneten Elemente (Erde, Wasser, Luft und Feuer) und Qualitäten (Hitze, Kälte, Trockenheit und Feuchtigkeit) durch eine entsprechende Ernährung (fur die die Hausfrau zuständig war) und Lebensführung optimal auszutarieren. Für den Monat April lasen sich die Empfehlungen wie folgt: Weil alles jetzt wächst mit Gewalt / Braucht Artzeney / so werd ihr alt1 Schleim / böse Feuchte man aufrühr / Durch Schweiß-Bad / auch das Haupt purgier. Das Kräuter Bad ist auch sehr gut / Vom Haupt und Leber lassen Blut. Salat / Gewürtze / Speiß und Wein / Salbey und Fenchel stärcken fein / Betonien und Würtze-Saffi / dem Haupt und Magen geben Krafft; Weil nun die Nachtigall singt wohl / Im Garten man spatzieren soll.31

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Monatsverse und ihre Gesundheitsvorschriften gehörten zu den ältesten Bestandteilen der Kalender überhaupt. Zu ihrer Tradition vgl. Matthäus, (wie Anm. 9), Sp. 1185ff. Frauenzimmerkalender, (wie Anm. 1), Teil II, S. 179.

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Als Ergänzung präsentierte der Kalender in jedem Monat ein weiteres Lehrgedicht zu einer Heilpflanze bzw. Küchenkraut, wie beispielsweise zur Petersilie: Die Petersil gekocht in Wein / Macht Appetit und bricht den Stein / Treibt den Urin / und stärckt den Magen / Sie macht auch sonst ein gut Behagen. Stärckt die Gedächtniß / dient vor Sucht / Und ist des Gartens beste Frucht. 32

Das vierte Kapitel widmete sich den in jedem Monat anfallenden Arbeiten im Bereich von Landwirtschaft und Viehhaltung (II, S. 195-210), das fünfte gab eine „Gründliche Anweisung, was ein fleißiger Garten-Liebhaber, so wohl in BlumenKüchen- als Baum-Garten zu verrichten und inacht nehmen soll" (II, S. 211-228). Das sich daran anschließende Kapitel bot noch einmal eine Wetterkunde. Als Steigerung gegenüber der astrologisch orientierten Wettervorhersage aus dem ersten Teil empfahl der Kalender an dieser Stelle jedoch die Beobachtung der Natur (Bäume, Berge, das Verhalten von Tieren, Lichtwechsel, knackendes Holz, schmerzende Glieder), um Anhaltspunkte für mögliche Wetterwechsel (II, S. 229-249) zu finden. Der nächste Schritt auf dem Weg zu einer „objektiven" Prognose war dann eine Anleitung, „wie man accurate Barometra/ Termometra/ Manometra/ und Hygrometra selbst verfertigen kan" (III, S. 331-356). Auf den ersten Blick scheint dieses Kapitel nur wenig mit der weiblichen Haushaltsführung zu tun zu haben. Für viele Tätigkeiten, wie etwa Wäschewaschen und -bleichen oder Aussaat und Ernte im Küchengarten, war jedoch ein Basiswissen über Wind und Wetter von Bedeutung. Eine ähnliche Anleitung zum Selbstbau einfacher „Wetter-Machinen" fand sich beispielsweise auch in der schon zitierten Klugen und sorgfältigen HaußHalterin von 1703.33 Der dritte Teil des Kalenders war der eigentliche Reise- und Handkalender. Er vermerkte die wichtigsten Messe- und Markttermine (III, S. 245-254) sowie Abreise und Ankunft der reitenden und fahrenden Posten in Braunschweig, Dresden, Erfurt, Frankfurt, Hamburg, Hannover, Kassel, Leipzig, Nürnberg und Ulm (III, S. 254-277). Darauf folgten neben einem Verzeichnis der „chur- und fürstlichen sächsischen Tribunalien" und der Gerichtstage und Zinstermine im Raum Erfurt eine Liste der Landkutschen und Boten sowie der Öffnungszeiten der Erfurter Stadttore (III, S. 278-284). Am relevantesten für die weibliche Haushaltsführung war jedoch die sich daran anschließende kurze Rechenkunde mit einfachen Tabellen zum kleinen und großen Einmaleins (III, S. 285-289), zur Addition und Subtraktion (III, S. 292-303) und zu den lateinischen Zahlen (III, S. 290-291). Gleiches gilt - man denke zurück an Mosers Patriotische Phantasie - für die folgenden

32 33

Ebd., S. 189. Die so kluge als künstliche von Arachne und Penelope unterwiesene HaußHalterin, (wie Anm. 18), S. 891-898.

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Zins-, Proviant-, Brot-34 und Maßtabellen (III, S. 304-306), Umrechnungstafeln (III, S. 307-308) sowie die kurze Übersicht über die gängigsten Münzen (III, S. 309-318), Maße und Gewichte (III, S. 318-330). Der vierte Teil sprach die Kalenderleserin schließlich direkt an. Mußte sie in den ersten drei Teilen nach alter Tradition die für sie relevanten Information erst herausfiltern, widmete sich der letzte, neu dazugekommene Teil ausschließlich frauenrelevanten Themen. Der Leserin bot sich hier ein Sammelsurium an Informationen für die sorgfaltige und galante Frau. Den Auftakt bildete ein umfangreiches Wäscheinventar (IV, S. 15-27), darinnen nicht allein Derer geistlichen Herren und Jungfrauen, und was zu denen Kirchen nöthig, sonder auch aller Mannes- und Weibes-Personen, ingleichen zur Haushaltung als vor Kinder gehörige Wäsche kan aufgezeichnet und wider ausgelöschet werden. 35

Von der Halsbinde bis zum Teppich, vom Schnupftuch bis zur Windelschnur und vom „cattunen Camsöhler" bis zu Vorhängen und Quehlen36 fand sich hier in Listenform alles, was in einem gut geführten Haushalt benötigt wurde. Ganz im Sinne der Arbeitsrationalisierung sollte das Inventar „den Wirthinnen, Hauß-Jungfern, Herren Studiosis und Küstern viele Mühe erspahren und guten Nutzen thun / daß Sie nicht a parte große Wasch-Zettel schreiben dürffen. Könen auch alle Jahre ihre Wäsche inventiren, und was daran mangelt, ersetzen", wie es im Compendieusen und stels-währenden Hand-Buch des galanten und curieusen Frauen-Zimmers von 1741 hieß, dessen frühere Ausgaben offensichtlich die Vorlage zu Funckes Inventar geliefert hatten.37 Im gleichen Stil folgte einige Seiten weiter ein vollständiges Kücheninventar (IV, S. 118-143), das sowohl zur Selbstkontrolle als auch zur Überwachung einer eventuell vorhandenen Köchin38 diente. Beide Verzeichnisse 34

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Über die Brottabelle ließ sich ermitteln, wie viel Gewicht ein Brot zu einem Groschen haben mußte, wenn Roggen bzw. Weizen zum Preis X zu haben waren. Die Provianttabelle verzeichnete, wie viel Gewicht ein Brot haben mußte, das aus 1 (-1000) Pfund Mehl gebacken wurde. Frauenzimmerkalender, (wie Anm. 1), Teil IV, S. 15. Als „Quehlen" bezeichnete man repräsentativen Zwecken dienende Handtücher. Im Vorwort zur 5. Auflage eines Compendieusen und stels-währenden Hand-Buch des galanten und curieusen Frauen-Zimmers, das 1741 bei August Martini in Leipzig erschien, wird eindeutig auf .vorhergehende Erfurter und Leipzig als Franckfurth von Wort zu Wort nachgedruckten mit vielen falschen Künsten angefüllte Exemplarien' Bezug genommen. Vgl. Compendieuses und stets-währendes Hand-Buch des galanten und curieusen Frauen-Zimmers [...]. Leipzig 1741, fol. A'-A2. Das Hand-Buch enthielt außer einem Wäsche- und Kücheninventar auch einen ,Küchenzettel' im Stile eines Wochenplans (,Was esse ich heute?'), verschiedene Rezepte fur Putz- und Fleckenmittel sowie eine Anleitung zu Lackarbeiten. Ob Funcke außer dem Wäscheinventar samt Anleitung zur Tintenherstellung auch andere Teile aus früheren Auflagen des Hand-Buchs für seinen Kalender übernahm, ließ sich mangels Quellen nicht feststellen. ,,[D]as Küchen-Inventarium hat diesen Nutzen, daß eine Hauß-Mutter bey Antritt einer neuen Köchin das eine vor sich behalten, das andere aber der Köchin mit beygeschriebenen Namem geben kan, was sie an Zinn, Kupfer, Messing, Eisen, Blech, Töpffergen, Höltzernen und Gläsern Hauß-Rath eimpfangen, und bey ihrem Abzug wieder zu berechnen hat." Ebd., MDCIII,, Fol. A2.

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waren so angelegt, daß sie über mehrere Jahre hinweg geführt werden konnten. Den Beginn machte jedoch - ganz im Sinne der häuslichen Sparsamkeit und Autarkie - ein Kapitel, in dem man erfuhr, „wie schwartze, rothe, grüne, gelbe, blaue und metallene Dinten zu bereiten, um damit das Wäsch- und Küchen-Geräthe auf viele Jahre anzumerken" und mit Hilfe welcher Mittel die Schrift im Inventar wieder gelöscht werden konnte, um die Lebensdauer des Verzeichnisses zu verlängern (IV, S. 3-14). Direkt im Anschluß an das Wäscheverzeichnis bekam die Leserin auf 42 Seiten zahlreiche Hinweise zur Kleider- und Stoffpflege. Mehr als 30 Seiten befaßten sich dabei ausschließlich mit der Entfernung von Obst-, Wachs-, Tinten-, Öl-, Farben-, Firnis- und Wagenschmierflecken aus „Gold- und Seidengewürkten Tüchern, wie auch Scharlach, Damast, Sammet von allerhand Farben, ingleichen aus Wollen, Leinen- und andern Tüchern" (IV, S. 28-37, S. 49-70). Der Herstellung und Anwendung von Wein- und Salmiakgeist, Terpentinöl und dem sog. Stein Nautilites wurde ein eigenes Unterkapitel gewidmet (IV, S. 4 3 ^ 9 ) . Ein vergleichbarer Abschnitt schloß sich auch dem Küchenverzeichnis an. In den „Kunst-Stücken zum Küchen-Inventario" wurden Herstellung und Anwendung von Putzmitteln für Gold, Silber, Messing, Zinn, Stahl und Eisen beschrieben. Daß diese nicht nur für Küchengeräte gedacht waren, zeigt der ausdrückliche Hinweis auf ihre Wirksamkeit bei Gewehren und Degen (IV, S. 144-158). In den Bereich der Küche fiel auch ein kurzes Kapitel, das sich als „Gewürzkunde" bezeichnen läßt. Es beschäftigte sich mit Fragen nach dem besten Zeitpunkt für den Kauf von „Baum-Öl" [Olivenöl], Zitronen, Ingwer, Nelken, Muskatnüssen, Pfeffer, Zimt und Kardamom, informierte über die Herkunft dieser Gewürze und ihre Aufbewahrung und gab Ratschläge, woran jeweils eine gute Qualität zu erkennen sei (IV, S. 158-161). Von den Gewürzen ging der Kalender sofort über zu einem der wichtigsten Themenbereiche der Vorratshaltung, der Konservierung von Lebensmitteln. Neben den Grundrezepten zur Essig- und Senfherstellung und einer Einfuhrung in die Technik des Einsalzens, Räucherns und Pökeins versammelte der Kalender eine Reihe konkreter Rezepte fur Obst (Äpfel, Birnen, Nüsse, Kastanien, Kirschen, Pflaumen), Gemüse (Gurken, Spargel, Hopfen, Holunder[!], Bohnen, Rüben) und Fleisch (Schwein, Geflügel, Wild). Lästigem Ungeziefer und seiner Bekämpfung waren weitere Ratschläge gewidmet (IV, S. 231-236). Neben diesen spezifischen Haushaltsfragen kam auch der Bereich der Lebenskunst und Lebensart nicht zu kurz. Die Ausgestaltung des Heimes zur Steigerung des eigenen Wohlbefindens, wie auch zu Repräsentationszwecken rückte schließlich immer mehr in den Blickpunkt. Die ,zierliche Ausstaffierung' des Hauses wurde zur weiblichen Pflicht. ,Künstlich sein', so die Umschreibung für alle weiblichen Kunstfertigkeiten, wie Nähen, Sticken, Stricken, Wirken, Klöppeln, Malen

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oder Zeichnen stand zwar in der Wertigkeit immer noch hinter der Wissenschaft des Haushaltens zurück,39 doch wurde die Nützlichkeit der Beherrschung dieser weiblichen Kulturtechniken sowohl in ökonomischer als auch in allgemein sittlicher Hinsicht zunehmend betont: Daß solche Jungfräuliche und Frauen-Zimmer-Arbeiten unnützlich seyn sollen / würde gewiß viel schwerer fallen zu behaubten als zu sagen / dann warum sollte man selbige in mittlem Ständen / so es beliebte / nicht verkauffen / und damit sich einigen Nutzen schaffen können? Kan man sie dann nicht zu allerley Aufbutz / Kleider-Werck / und unzählbare andern in den Haus-Wesen nutzbaren Dingen gebrauchen und anwenden? Dienen Sie dann nicht wenigstens die Zimmer und Cabinet ziemlich mit eigner Hand auszustaffiren; Und wann alles dieses nicht wäre / hat man doch denen nachkommenden zu zeigen / daß man die müssige Nebenstunden seiner Jugend wohl und nutzlich angewendet / und mehr als mit courtesiren und andern sündlichen Dingen / zugebracht habe / von welchen man mit der Zeit nichts als eine spate Reue / auch öffters kein gar grosses Lob / von diesem aber die Zeugnisse seines Fleißes und Geschicklichkeit ruhmwürdig vorzuzeigen hat. 40

Der Kalender bot auch zu diesen .Frauenzimmer Galanterien' einige Ratschläge. Es gab eine „Anweisung zu dem Illuminiren, sonderlich derer Farben Zubereitung, Schattir- und Vermischung" (IV, 70-82) und Hilfestellung bei der Gestaltung und Übertragung von Stick- und Malvorlagen. Firnisrezepte für die in dieser Zeit hochmodischen Lackarbeiten (IV, S. 83-93) fanden ebenso Erwähnung wie die Techniken des Wachsbleichens und -färbens zur Herstellung dekorativer Wachsfrüchte (IV, S. 11 Iff.). Lebensart sollten auch drei zusammengehörende Kapitel vermitteln, in denen sich alles um die Tischkultur drehte. Als erstes wurde in bewährter Frage-AntwortManier eine Einführung in die Kunst des Tranchierens gegeben. Mit zahlreichen kleinen Abbildungen, die die genaue Schnittfiihrung zeigten, wurde die fachgerechte Zerlegung von Geflügel (Huhn, Truthahn, Gans), Rind, Schwein, Schaf und Wild (Kalbskopf, Schweinskopf, Spanferkel, Lamm, Hase, Wildkeulen), Fischen (Forelle), Krustentieren (Krebse) und Meeresfrüchten (Austern), Gemüsen (Artischocken) und Backwaren (Torten, Pasteten) demonstriert. Geklärt wurden auch Fragen zur Reihenfolge der einzelnen Gerichte oder zur Anzahl der benötigten Tranchiermesser und ihrer genauen Benutzung (IV, S. 177-208). Das sich daran anschließende Kapitel bestand aus einer „Gründlichefn] Anweisung die Servietten künstlich zubrechen und aus denenselben allerhand angenehme Figuren auf die Tafel zu machen" (IV, 209-221). „Diese Kunst", so heißt es zu Beginn des Abschnitts, 39

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Im Vorwort zur schon zitierten Klugen als künstlichen HaußHalterin heißt es dazu: ,,[D]ann obschon künstlich seyn / wie gedacht / einer Weibs-Person sehr wohl anstehet / ist es doch ohne die Wissenschafft eine kluge Haußhaltung zu fuhren / ein Nebenwerck ohne das HaubtWerck / und einen Meel-Thau gleich / welcher zwar das Erdreich befeuchtet / aber dabey an statt der Fruchtbarkeit nichts dann schädliche Raupen und Würmer belebet / beedes gehöret zusammen / künstlich seyn und eine gute Wissenschafft im Haußhalten haben." Die so kluge als künstliche von Arachne und Penelope unterwiesene HaußHalterin, (wie Anm. 18), Fol. b \ Ebd., Fol. a3'-b.

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ist bis jetzo fast meistentheils ein Regale derer Herren Trenchir-Mister gewesen, als welche, wenn sie in ihren Büchem davon geschrieben, dieselbige denen begierigen Lesern fast eben so gelernet haben, als die Goldmacher, wenn sie vom Goldmachen schreiben, und doch den Proceß nicht gerne gemein machen wollen. Gleichwohl ist es eine Sache, [...] die billig unter denenjenigen Wissenschafften, die einen Menschen zieren, einen Platz mit hat [...].41

Zweiflern an der Notwendigkeit dieser Fähigkeit wurde vorgehalten, daß sie „wohl nicht viel an vornehmen Tafeln gespeiset"42 hätten. Um das Verständnis der etwas umständlichen Anleitungen zu erleichtern, reicherte man auch hier das Kapitel mit zahlreichen Illustrationen an. Ein weiterer fester Bestandteil weiblicher Bildung war das Wissen um den perfekt gedeckten Tisch.43 Auf zehn Seiten gab der Kalender Hilfestellung beim Eindecken von runden, ovalen und viereckigen Tischen für eine jeweils unterschiedliche Zahl an Gästen und Gängen (IV, S. 221-230). Die Möglichkeiten der Anordnung von Schüsseln samt Inhalt wurden teils mit stilisierten Zeichnungen, teils mit genau durchnumerierten und beschriebenen Abbildungen dargestellt. Erklärt wurde auch der Gebrauch bestimmter Gerätschaften, beispielsweise einer sogenannten ,Platmenage': Dieses ist eine Schüssel von Silber, Zinn, von versilberten Blech, oder von Holtz, so mit dünnen Silber überlegt ist, worauf Pfeffer- und Ingber-Büchse[!], Zucker-Dosen, Baum-Oel und Eßig, Carravinen, auch wol ander Gewürtz, benebst Cappern, gesetzt werden. In dem obern Theil, welche in Form eines Schiffes ist, werden Citronen, Aepffel de Sina, oder Pomerantzen gelegt, auf daß, wann jemand bey der Tafel, welcher der Speise, so er auf dem Teller hat, einen hohen Gout geben will, solches alles gleich zu handen habe. 44

Auf bestimmte Menüvorschläge, wie sie in anderen Schriften diesen Beschreibungen beigefügt wurden, verzichtete der Kalender allerdings.45 Zu Lebensart und Auftreten in der Öffentlichkeit zählten auch die Themen Mode und Schönheit. Der Frauenzimmerkalender beschränkte sich hier auf einige Kosmetikrezepte: „Eine gerechte Schmincke, welche die Haut sonderlich zart machet", „Von der Bereitung einiger anderen Wasser, welche die Unreinigkeit, Sommersprossen, Runtzeln, Finnen, Mähler und Flechten der Haut vertreiben," „Zahnpulver" oder „eine köstliche Mandel-Seiffe, darvon man zarte und saubere Hände bekommt" (IV, S. 106-116). Den perfekten Kompromiß zwischen den Ansprüchen der herrschenden Mode und der Tugend der Sparsamkeit suchte schließlich ein Kapitel, das sich den beliebten ,Sackuhren' widmete (IV, S. 97-106): 41 42 43

44 45

Frauenzimmerkalender, (wie Anm. 1), Teil IV, S. 209f. Ebd., S. 210. Unter den Punkten, die eine gute Hausmutter ihrer Tochter beizubringen hatte, gehörte auch „Gastereyen bestellen" und „die Tafel und Tresour dabey schicklich anzuordnen". Die so kluge als künstliche von Arachne und Penelope unterwiesene HaußHalterin, (wie Anm. 18), S. 11. Frauenzimmerkalender, (wie Anm. 1), Teil IV, S. 222. Vgl. z.B. den entsprechenden Anhang von Amaranthes Frauenzimmerlexikon.

Marie-Kristin Hauke

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Es ist zu diesen Zeiten fast in allen Ländern nichts gemeiners, als die Sack-Uhren: Denn man wird nicht allein unter hohen Stands- und andern vornehmen Personen wenige, ja wohl keine finden, welche derselben, wo nicht einige, wenigstens eine fuhren, sondern es werden auch dieselben häufig bey Geringem angetroffen. Weilen nun ein jeder, welcher sich eine Sack-Uhr kauffen will, nicht allein gerne gleich vor sein Geld haben, sondern auch vor sein ausgelegtes Geld gerne eine lange Zeit den ihm vorgesetzten Nutzen haben will, so soll denen zu Gefallen allhier ein gantz kurtze, und deutliche Anleitung gegeben werden, wie nicht sowohl eine SackUhr zu erkennen ob sie gut, oder nicht tauglich sey, als auch, wie eine gute Sack-Uhre zu tractiren, daß sie eine geraume Zeit in gutem Stande bleiben könne.46

Wenn also schon modische Accessoires, dann bitte etwas Solides und Langlebiges, so läßt sich die Absicht des Verfassers dieses Abschnitts interpretieren.

Funckes Curieuser und Immerwährender Astronomisch- Meteorologisch- Oekonomischer FrauenzimmerReise- und Hand-Calender, soviel läßt sich abschließend sagen, war sicherlich keiner der vielgeschmähten Zeitverschwender. In kompakter Form wurde hier praktisches Wissen präsentiert, das ganz im Sinne des zeitgenössischen Bildungskonzeptes dazu beitrug, der bürgerlichen Frau die Ausübung ihrer Pflichten in Haus, Küche, Stall, Garten und Salon zu erleichtern. Der Kalender als ein breiten Schichten vertrautes Lesemedium erreichte dabei sicherlich mehr Leser als ein dickleibiges Werk zur Haushaltsführung, das sich zudem nur wenige leisten konnten. Der Frauenzimmer-Kalender wurde jedenfalls so gut angenommen, daß Funcke am Ende des Jahres 1738 eine siebte Auflage in unveränderter Form nachschob. 47 Auch diese Auflage schmückte sich mit dem Vorwort der Zäunemann. Ob diese darüber so glücklich war, darüber darf man spekulieren. Es gehört zu den Ironien der Differenzen zwischen theoretischer Bildungsdebatte und weiblicher Lebenswirklichkeit in dieser Zeit, daß eine Frau, die Zeit ihres kurzen Lebens mit Zeilen, wie Es sei (sagen ihre Gegner) von Gott der Weiberorden Zum Haushalt nur erschaffen worden; Man nimmt des Salomons sein Spruchbuch zum Behuf. Der König hat ganz recht; allein wer wills uns wehren, Wenn wir darneben auch uns von dem Pöbel kehren? Wer straft uns, wenn auch unser Geist Ein Herz voll Muth und Feuer weist? Wozu hat uns die höchste Kraft Verstand und Muth ins Herz gegeben, als daß wir auch nach Wissenschaft Und edlen Werken sollen streben?48

eine Lanze für die ,gelehrte Frau' zu brechen versuchte, ein werbendes Vorwort zu einem Kalender beisteuerte, der sich in weiten Teilen auf eben diesen Haushaltungsaspekt kaprizierte und die Professionalisierung der Hausfrauenrolle auf seine Weise in der bürgerlichen Gesellschaft beförderte. 46 47 48

Frauenzimmerkalender, (wie Anm. 1), Teil IV, S. 97f. Berdt, (wie Anm. 24), S. 165. Zit. nach ADB 44 (1898), S. 724.

ROLF REICHARDT (Mainz) / CHRISTINE V O G E L (Mainz)

Kalender-Bilder: Zur visuellen Dimension populärer Almanache im 18. und 19. Jahrhundert I. Einleitung Illustrationen bildeten einen integralen Bestandteil der alten Volkskalender, gerade auch für w e n i g oder nicht alphabetisierte Leser oder besser: Betrachter. Trotz dieses Tatbestands, der im folgenden exemplarisch belegt und inhaltlich differenziert werden soll, hat sich die Kalender-Forschung auf die Ebenbürtigkeit von Bild und Text bisher nur sehr zögernd eingelassen. Versuche, anhand ausgewählter B e i spiele eine differenzierte Übersicht über die Kalender-Inhalte zu geben, konzentrieren sich auf die Texte und lassen die Bilder beiseite oder verwenden sie als illustrierende Zutat. 1 Ein s o verdienstvoller Katalog w i e der des Berliner M u s e u m s für Deutsche Volkskunde nennt zwar die Text-Inhalte der verzeichneten Kalender, w a s aber die Bilder betrifft, s o beschränkt er sich weitgehend auf die Reproduktion der illustrierten Titelblätter. 2 Selbst sehr quellennahe und genaue Fallstudien gehen kaum oder überhaupt nicht auf die Bilder der Volkskalender ein. 3 D i e s e sind, v o n ganz w e n i g e n Ausnahmen abgesehen, 4 nach w i e vor ein Stiefkind der Forschung,

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Vgl. etwa Knopf, Jan, Alltags-Ordnung. Ein Querschnitt durch den alten Volkskalender. Tübingen 1982, S. 18-193 (Text-Querschnitt), dazu die Übersichtsstudie S. 194-246, mit punktuellen Bemerkungen zum Hinkenden Boten S. 207 und zur Bildlichkeit S. 215. Einige Bemerkungen und illustrative Abbildungen zum Lahrer Hinkenden Boten geben Foltin, HansFriedrich / Schirrmeister, Britta, Zeitweiser, Ratgeber, Geschichtenerzähler. Der Funktionswandel des Mediums Kalender in fünf Jahrhunderten, in: Bohnsack, Petra / Foltin, HansFriedrich (Hg.), Lesekultur. Populäre Lesestoffe von Gutenberg bis zum Internet. Marburg 1999 (Schriften der Universitätsbibliothek Marburg 93), S. 29^12 Wiedemann, Inga, ,Der Hinkende Bote' und seine Vettern. Familien-, Haus- und Volkskalender von 1757 bis 1929. Katalog der Kalendersammlung des Museums für Deutsche Volkskunde. Berlin 1984 (Schriften des Museums fur Deutsche Volkskunde Berlin 10). Vgl. etwa Brunold-Bigler, Ursula, ,Den ersten hinkenden Bott neue Zeit herausgegeben' oder die Tagebuchnotizen einer Appenzeller Kalendermacherfamilie (1771-1819), in: Schweizerisches Archiv fiir Volkskunde 79 (1983), S. 63-84; Masel, Katharina, Zum Kalenderwesen in Bayern zur Zeit der Aufklärung, in: Volkskalender im 19. und 20. Jahrhundert - Zeitweiser, Lesestoff und Notizheft. Cham 1992, S. 19^15; Schenda, Rudolf, Zur Entwicklung und Bedeutung der schweizerischen Volkskalender, in: Schweizerisches Archiv för Volkskunde 92 (1996), S. 181-191. Einige allgemeine verlagshistorische Angaben zu den Kupfern von Johann Michael Mettenleiter in Westenrieders Historischem Calender (1786-1815) gibt Wilhelm Haefs: Haefs, Wilhelm, Aufklärung und populäre Almanache in Oberdeutschland, in: Mix, York-Gothart (Hg.), Almanach- und Taschenbuchkultur des 18. und 19. Jahrhunderts. Wiesbaden 1996 (Wolfenbüttler Forschungen 69), S. 21-45. Vgl. insb. Trümpy, Hans (Hg.), Ausstellungskatalog: Kalender-Bilder. Illustrationen aus schweizerischen Volkskalendern des 19. Jahrhunderts. Basel 1978/79. Außerdem die Spezial-

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weil Volkskundler und Germanisten die ansehnlicheren illustrierten Flugblätter bevorzugen,5 Kunsthistoriker kaum in die Niederungen der Volkskalender hinabsteigen, Fachhistoriker sich nicht .zuständig' fühlen und alle miteinander - wenn schon, sich mit den künstlerisch anspruchsvolleren Kupfern der Musenalmanache beschäftigen.6 Angesichts dieser Forschungslage ist die folgende Skizze weitgehend auf eigene Vorarbeiten angewiesen, um zu versuchen, der Speziflzität des Bildmediums ,Volkskalender' gerecht zu werden. Unsere Übersicht stützt sich auf die bruchstückhaft erhaltenen Serien von etwa 80 untereinander vielfach .verschwägerten' Almanachen des 18. und 19. Jahrhunderts aus dem deutschen .Rheinland' sowie den angrenzenden Regionen Frankreichs und der Schweiz, die sich alle Hinkender Bote oder Messager boiteux nannten und als typische Volkskalender gelten können.7

II. Ein Bild-Korpus in serieller Sicht Das Korpus besteht aus insgesamt rund 1480 nachgewiesenen Jahrgängen solcher Hinkenden Boten (664) bzw. Messagers boiteux (817), die in der Zeit zwischen 1700 und 1850 erschienen und über 4.000 Illustrationen enthalten.8 Meist handelt es sich um Holzschnitte, zu denen im 19. Jahrhundert vereinzelt auch Lithographien und Holzstiche kamen. Dieses Illustrationskorpus, das durch seinen gemeinsamen Bezug auf das Kalendermodell Hinkender Bote / Messager boiteux eine gewisse Homogenität aufweist, bietet einen authentischen Einblick in die populäre

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Untersuchung über die .ethnologischen und technischen, Abenteuer- und Katastrophen-Bilder' in einigen Pfennig-Magazinen des Vormärz von Gebhardt, Hartwig, Die Pfennig-Magazine und ihre Bilder. Zur Geschichte und Funktion eines illustrierten Massenmediums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Brednich, Rolf Wilhelm / Hartmann, Andreas (Hg.), Populäre Bildmedien. Vorträge des 2. Symposiums fur ethnologische Bildforschung Reinhausen bei Göttingen 1986. Göttingen 1989 (Beiträge zur Volkskunde in Niedersachsen 3), S. 19-41. Stellvertretend fur diese Forschungsrichtung sei genannt der Tagungsband von Harms, Wolfgang / Schilling, Michael (Hg.), Das Flugblatt in der frühen Neuzeit. Bern 1998 (Mikrokosmos 50). Vgl. u.a. den Ausstellungskatalog: Mix, York-Gothart (Hg.), ,Kalender? Ey, wie viel Kalender!' Literarische Almanache zwischen Rokoko und Klassizismus. Wolfenbüttel 1986; sowie inzwischen von kunsthistorischer Seite Reifenscheid, Beate, Die Kunst des Kupferstichs oder der Kupferstich als Kunst im Almanach, in: Mix, York-Gothart, Almanach- und Taschenbuchkultur des 18. und 19. Jahrhunderts. Wiesbaden 1996 (Wolfenbütteler Forschungen 69), S. 163-165. Diese Erhebung ist Teil eines von der Volkswagen-Stiftung geforderten Forschungsprojekts über .Populäre Druckmedien im alten und frühmodernen Europa' unter Leitung von Hans-Jürgen Lüsebrink, York-Gothart Mix und Jean-Yves Mollier. Nicht mitgerechnet werden die Monatsbilder, Aderlaßmännchen, Zierelemente und kleineren astrologischen Darstellungen.

Kalender-Bilder

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Bildwelt, wie sie im Medium des Kalenders von etwa 1700 bis 1850 ,kolportiert' wurde. Für eine sinnvolle serielle Auswertung des Korpus ist es entscheidend, die Illustrationen zunächst nicht nach ihren Themen zu ordnen, sondern nach der Art ihrer Präsentation im Text. Dabei kommt es wesentlich auf die Diversität der Kalendertexte an. Denn nicht die Darstellung eines Verbrechens als solche ist ausschlaggebend für die Funktion des betreffenden Bildes, sondern die Art und Weise, wie dieses Verbrechen im zugehörigen Text präsentiert wird:9 Soll es eine tatsächliche Begebenheit darstellen, die sich erst .kürzlich' zugetragen hat und als Nachricht bzw. Faits divers10 inszeniert wird? Oder ist die Szene im Gegenteil eine Episode in einer längeren Erzählung, durch die sie aus der konkreten Gegenwart der Leser in das Reich der Fiktion entrückt wird? Dient beispielsweise die Barrikade im Paris der 48er Revolution nur als ,Kulisse', vor der sich die rührende Geschichte zweier Freunde abspielt, die sich nach jahrelanger Trennung wiederfinden (Der Lumpensammler),11 oder illustriert sie die Berichterstattung über die Revolution? (.Eroberung einer Barrikade zu Paris im Brachmonat 1848).12 Versucht man diese Fragen nach der jeweiligen Text-Bild-Verknüpfung, die auf die Funktionen und die Spezifizität des Bildmediums ,Volkskalender' zielen, anhand unseres Korpus zu beantworten, so ergeben sich insgesamt sieben verschiedene Gattungen oder Typen (siehe Graph. 1), denen die Illustrationen zuzuordnen sind.13

Bild-Gattungen Die beiden ersten Gattungen betreffen die Nachrichten im Textteil der Hinkenden Boten: Zu unterscheiden ist hier zwischen historisch ,relevanten' Ereignissen und solchen, die aufgrund ihres Sensationscharakters zwar bemerkenswert sind, in Bezug auf die gesellschaftliche oder politische Entwicklung aber als folgenlos 9

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Zum Verhältnis von Text und Bild im Volkskalender vgl. Reichardt, Rolf / Vogel, Christine, Textes et images. Evenements politiques visualisees dans les Messagers boiteux franco-allemands (1750 ä 1850), in: Lüsebrink, Hans-Jürgen / Mollier, Jean-Yves (Hg.), Presse et evenemenf. journaux, gazettes, almanachs (XVIIP - XIXe siecles). Actes du colloque international ,La perception de l'evenement dans la presse de la langue allemande et franiaise'. Bern 2000, S. 207-275. Zum ,Faits divers' als historischer Kategorie vgl. Perrot, Michelle, Fait divers et histoire au XIXe siecle, in: AESC 38 (1983), S. 911-919, die auch einen Forschungsüberblick bietet. Vgl. auch: Monestier, Alain / Cheyronnaud, Jacques (Hg.), Le Fait divers. Ausstellungskatalog. Paris 1982; Lever, Maurice, Canards sanglants·. naissance du fait divers. Paris 1993; Kalifa, Dominique, L'encre et le sang. Paris 1995; Ders., L'Ecriture du fait divers au XIXe siecle - De la negation ä I'invention de l'evenement, in: Lüsebrink / Mollier, (wie Anm. 9), S. 297-311. Der große Straßburger Hinkende Bote, Straßburg 1833, Textteil, nach Bl. 7. Historischer Kalender oder der Hinkende Bote. Vivis 1849. Dieser Text versteht sich als Weiterentwicklung der zu Beginn unserer Untersuchungen der Kalenderbilder in den Hinkenden Boten verfaßten Studie: Textes et images. Evenements politiques visualisees dans les Messagers boiteux franco-allemands (1750 ä 1850); Reichardt/ Vogel, (wie Anm. 9).

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betrachtet werden. Während zum Verständnis der ersten ein historisches Vorwissen vonnöten ist (zum Beispiel über aktuelle Bündnisse, Herrscherdynastien und Kriege), sind die Sensationsnachrichten unmittelbar verständlich. Tragen die historischen Ereignisse stets die Spur der vergangenen und den Keim der weiteren Entwicklung in sich, so bleiben die Sensationsnachrichten in sich abgeschlossen und autonom.14 Von Anfang an existieren beide Nachrichtentypen im Kalender nebeneinander, ohne daß sie äußerlich erkennbar voneinander abgegrenzt würden. Im Gegenteil: Im frühen 18. Jahrhundert reihen sich Berichte über Kriege, Himmelserscheinungen, feierliche Stadteinzüge und Seeungeheuer im Fließtext des Kalenders ohne gesonderte Überschriften oder gar Absätze aneinander; erst ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden Zwischenüberschriften und Rubriken in den Hinkenden Boten eingeführt. Dennoch müssen diese beiden Nachrichtentypen getrennt voneinander betrachtet werden, weil sie unterschiedliche Entwicklungen durchmachen und verschiedene Funktionen haben. Über den gesamten Zeitraum von 1700 bis 1850 gesehen machen die Berichte über Kriege und Friedensschlüsse etwa ein Viertel aller Textillustrationen der Gattung ,historisches Ereignis' aus. Etwa ebenso groß ist der Anteil an Illustrationen, die zum Bereich herrschaftlicher Repräsentation gerechnet werden können; dazu gehören vor allem Stadteinzüge und Krönungen, Hochzeiten, Leichenzüge, Geburten und Taufen. Doch Bilder von Revolten, Attentaten, Verschwörungen, Revolutionen und Hinrichtungen fehlen daneben keineswegs, sie machen immerhin ein Achtel der Gattung historisches Ereignis' aus. Ebenso häufig sind Portraits historischer Persönlichkeiten (Gattung ,Person'). Vor allem im 19. Jahrhundert kommen dann Illustrationen zu Kommemorationen, Denkmälern und Feiern hinzu. Einige Bilder schließlich illustrieren seit Ende des 18. Jahrhunderts solche Texte, die von weiter zurückliegenden historischen Ereignissen handeln und Versuche einer (nationalen) Geschichtsschreibung (Gattung ,Geschichtsbild') darstellen. Zu diesem Typ zählen auch die Illustrationen der immer zahlreicheren Herrscheranekdoten. Bild-Nachrichten über Ungeheuer, Mißbildungen, Kometen und Wunder gehören noch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zum Spektrum der Sensationsberichte. Sie machen aber insgesamt nur einen kleinen Teil (etwa ein Achtel) dieser Gattung aus. Die häufigsten Nachrichten betreffen Katastrophen (Naturkatastrophen und Explosionen von Pulvermagazinen, im 19. Jahrhundert auch Eisenbahnund Schiffsunglücke) und Verbrechen. Auch Bilder von Bestrafungen, von außerordentlicher Tugend und von Heroismus sind verbreitet. Ein Teil dieser Themen wird seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in einer neu entstehenden Kate-

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Kalifa, Lecriture du Fail divers, (wie Anm. 10). Vgl. auch Auclair, Georges, Le Mana quotidien. Structures et fonctions de la chronique des faits divers. Paris 1982.

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gorie von Kalenderbildern verarbeitet, die als ,Erzählung' oder ,Fiktion' 15 bezeichnet werden kann. Damit ist weniger auf einen - für die Sensationsnachrichten ohnehin zweifelhaften - Wahrheitsgehalt verwiesen als vielmehr auf die Art und Weise der Narration: Die ,klassische' Sensationsnachricht konzentrierte sich ganz auf den Inhalt und legte kaum Wert auf die sprachliche Gestaltung des Textes. 16 Die Ereignisse wurden in ihrer Abfolge einfach aufgezählt, und Kommentare erschöpften sich meist in allgemeinen Klagen über die schlechten Zeiten oder in Mitleids- und Schreckensäußerungen. Auch blieb in den vergleichsweise kurzen Texten oftmals so vieles unklar oder unpräzis, daß sie gleichsam als ,Material für die Einbildungskraft des Lesers' gelten können, dessen ,Ergänzungsarbeit' der Text geradezu voraussetzt. 17 Im Gegensatz dazu werden die Texte der neuen Gattung sprachlich und erzähltechnisch raffinierter. Sie sind nicht auf die phantasievolle Ergänzung des Erzählten durch den Leser angewiesen, ja lassen durch ihre Detailgenauigkeit und narrative Abgeschlossenheit nur noch wenig Platz für die Phantasie. Eine bewußte Textgestaltung wird sichtbar, Personen werden nacheinander eingeführt und charakterisiert, ein Spannungsbogen wird konstruiert, und die Texte sind insgesamt länger. Zwar tragen diese Erzählungen von Zeit zu Zeit den Vermerk ,Eine wahre Geschichte', aber der so konstruierte Bezug zur ,Wahrheit' ist ein gänzlich anderer als der der Sensationsnachrichten: Anders als diese präsentieren sich die Erzählungen eben gerade nicht als Nachrichten; sie geben nicht vor, über aktuelle Geschehnisse zu informieren. Ihre Hauptfunktion ist eine andere den Leser zu unterhalten oder moralisch zu unterweisen. Dabei überschneiden sich die in dieser Gattung behandelten Themen zum Teil mit denen der Sensationsnachrichten: Zu je einem Fünftel besteht diese Gattung aus Bildern zu Verbrechen und Lastern, Tugend und Heldentum, Lächerlichem und Absonderlichem. Auch Tiergeschichten sind zahlreich. Verhältnismäßig selten sind hingegen Illustrationen zu Erzählungen, die in erster Linie von Tod oder Scheintod, Liebe oder Religion handeln. Diese drei letzten Themenbereiche tauchen aber häufig als , Seitenthemen' in anderen Geschichten auf. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts schließlich treten noch zwei weitere große Illustrations- (und Text-) Gattungen auf: zum einen die .Geographica', sie umfas-

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Die grundsätzliche Schwierigkeit einer klaren Trennung zwischen Fiktionalem und NichtFiktionalem in der Text- und Bildpublizistik kann hier nicht ausführlich diskutiert werden; doch liegt die Notwendigkeit einer solchen Unterscheidung fur eine sinnvolle und differenzierte Beschreibung der Text- und Bildgattungen in den Kalendern auf der Hand - will man nicht alle Texte gleichermaßen als ,Kalendergeschichten' abtun und in den Bereich des Literarischen verweisen, womit ihre jeweils unterschiedlich zu wertende mentalitäts- und wahmehmungsgeschichtliche Relevanz verschüttet würde. Vgl. Kalifa, L 'Ecriture du Fait divers, (wie Anm. 10), S. 297-311. Roger Chartier konstatiert in Les usages de l imprime mit Blick auf französische Occasionnels: „II en va sans doute ainsi avec tous les occasionnels, qui, plus que des recits clos et acheves, sont des materiaux pour l'invention, des textes qui sollicitent et supposent le travail de l'imaginaire."

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sen vor allem Beiträge zur Länder- und Völkerkunde, bieten aber auch Gebäude-, Stadt- und Landschaftsansichten sowie Karten und Wappen; zum anderen die Gattung ,Natur und Technik'. Sie umfaßt deskriptive Texte und Bilder zur Tier- und Pflanzenwelt (ca. 50 %), zur Witterung und zu technischen Errungenschaften, Methoden und Produkten (ca. 25 %). Die serielle Analyse der Illustrationsgattungen kommt schließlich nicht ohne eine Kategorie , Sonstige' aus; sie erfaßt Illustrationen, die entweder keinem Text zugeordnet werden können oder sich in keine der sieben anderen Kategorien einordnen lassen.

Auswertung Überblickt man die Entwicklung dieser Illustrationsgattungen von 1700 bis 1850 (Graph. 1), so erscheinen die historischen Ereignisse, Sensationsnachrichten und Erzählungen als die dominierenden Gattungen. Die .geographischen' Illustrationen erreichen einen ersten Höhepunkt in den 1780er Jahren, gehen aber um 1800 stark zurück und erobern sich nur langsam im Laufe des 19. Jahrhunderts ihren Platz zurück. Ähnlich verläuft die Entwicklung der - insgesamt weniger zahlreichen Kalenderbilder aus dem Bereich ,Natur und Technik'. Die Gattung .Historie' entsteht erst in den 1790er Jahren und nimmt ab den 1830er Jahren einen ähnlich wichtigen Platz ein wie die Sensationsnachrichten. Der Eindruck einer Literarisierung des Mediums im 19. Jahrhundert bestätigt sich, wenn man die Illustrationsgattungen in ihrem Verhältnis zueinander anhand dreier chronologischer Schnitte betrachtet (Graph. 2-4). Die beiden Nachrichtenkategorien ,Historisches Ereignis' und ,Sensation' gehen von einem gemeinsamen Anteil von 2/3 in der Mitte des 18. Jahrhunderts auf 50 % in den Jahren 1780-1799 zurück. 1830-1849 schließlich machen sie zusammen nur noch ein Fünftel aller Bilder aus. Im Gegenzug wächst der Anteil der Illustrationen zu Erzählungen kontinuierlich von 8 % über 22 % auf 41 %. Aber auch die spät auftretende Gattung .Historie' erobert sich ihr Terrain auf Kosten der historischen Ereignisse und Sensationsnachrichten. Dagegen nehmen geographica' und die Bilder des Typs ,Natur und Technik' nur wenig zu. Der Anteil von Portraits historischer Persönlichkeiten bleibt im ganzen Untersuchungszeitraum konstant zwischen 4 und 5 %. Diese Entwicklung der Illustrationsgattungen in den Hinkenden Boten legt eine These nahe, die mit der Funktion des Kalenders zusammenhängt. Sie betrifft die Frage, ob - bzw. zu welchem Zeitpunkt - der Volkskalender eher als ein ,Informationsmedium' fungierte, das auf die Ermöglichung eines , Weltverstehens' abzielte, oder ob er nicht vielmehr ein ,Unterhaltungsmedium' war, das der ,Weltflucht' Vorschub leistete. Im Großen und Ganzen lassen sich die Kalender-Illustrationen durchaus unter diese beiden Hauptfunktionen aufteilen. Den Bildern zu historischen Ereignissen, Geographie, Natur und Technik ist gemeinsam, daß sie sich jeweils als Aussagen oder Information' über die konkrete Lebenswelt des Betrach-

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ters präsentieren: über bizarre Vorfalle oder Sitten, denkwürdige Ereignisse oder Phänomene, die in seiner gegenwärtigen Welt vorkommen. Im Gegensatz dazu stellen sich die beiden Gattungen .Historie' und .Erzählung' eher als .Fiktionen' dar; sie verweisen auf eine ideale Welt: etwa die idealisierte Ära Kaiser Napoleons, das dunkle und romantische Mittelalter, die glorreiche Zeit Wilhelm Teils im Fall der .Historie', und im Fall der Erzählungen eine Welt außerordentlicher Tugend oder Bosheit, in der am Ende der Schuldige stets bestraft wird und kein rätselhaftes Ereignis unaufgeklärt bleibt. Stellt man nun diese ,fiktionalen' Illustrationen den informativen' gegenüber (Graph. 5),18 wird deutlich, welchen Funktionswandel die Hinkenden Boten allmählich durchlaufen: Der Anteil an Information im Volkskalender geht seit den 1760er Jahren mehr und mehr zurück; nach 1830 überwiegt im Hinkenden Boten dann erstmals die Unterhaltungsfunktion. Diese Entwicklung muß aber nicht als Anzeichen einer allseitigen ,Entpolitisierung' der Volkskalender interpretiert werden; in Krisenzeiten bezogen die Hinkenden Boten vielmehr weiterhin Stellung,19 wenn auch weniger häufig als früher. Auch ist zu berücksichtigen, daß sich seit den 1830er Jahren komplementäre bzw. konkurrierende Medien, allen voran die Wochen- und Tagespresse, weiter entwickelt hatten und ein breiteres Publikum erreichten, so daß die Leser des Hinkenden Boten nicht mehr in erster Linie auf den Kalender angewiesen waren, um sich über aktuelle Ereignisse zu informieren.

III. Bildergeschichten und Geschichtsbilder: Beispiele aus dem Themenspektrum Schärft die serielle Betrachtung den Blick fur längerfristige Entwicklungen und Tendenzen sowie fur die Grundfunktionen der Kalenderillustrationen, so gibt sie zunächst wenig Aufschluß über deren Inhalte und Themenschwerpunkte, über die in ihnen enthaltenen Meinungen und über die konkreten Verwendungsweisen der Bilder. Wie werden fremde Länder und Völker präsentiert? Welche Naturphänomene finden besondere Aufmerksamkeit, und wie werden sie bewertet? Auf welche Weise berichtet der Kalender über politische Ereignisse, und welche erschei18

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Die Sensationsnachrichten stellen einen Sonderfall dar: einerseits präsentieren sie sich wie die historischen Ereignisse als .reale' Vorkommnisse. Andererseits weiß man, daß zwar ein tatsächliches Vorkommnis am Ursprung der Nachricht sein konnte, es sich aber allzu oft bestenfalls um Gerüchte oder einfach nur Erfundenes handelte. Die Sensationsnachrichten sind gleichsam das Zwischenglied, das die Narration historischer Ereignisse mit den romanhaften Erzählungen der Kalender verbindet. Da sie also gleichermaßen zur Funktion .Information' als auch zur ,Unterhaltung' gerechnet werden können, werden sie in dieser Auswertung nicht berücksichtigt. Desgleichen können auch die Portraits nicht eindeutig der einen oder anderen Funktion zugeordnet werden. Dies zeigt sich z.B. an den Revolutionsdarstellungen und -erinnerungen in den Hinkenden Boten.

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nen ihm überhaupt erwähnenswert? Welche Textstellen werden visualisiert und zu welchem Zweck? Wie verhält sich der Volkskalender zu anderen Medien? Um solchen Fragen nachzugehen, richtet sich unser Blick im Folgenden auf einzelne besonders ,typische' Fälle. Die notgedrungen sehr enge Auswahl der Beispiele soll neben den thematischen Vorlieben der Kalendermacher zugleich die Komplexität der unterschiedlichen Text-Bild-Beziehungen sowie einige Spielarten des Textund Bildtransfers andeuten.

Vom Ereignisbild zum Erinnerungsbild Typisch für die Formen und Verwendungsweisen der ereignishistorischen Kalender-Grafik im allgemeinen sind die bei den Almanachen fast obligatorischen Bilder-Geschichten zum Tod und zur Konsekration gekrönter Häupter, zumal der Kaiser und Päpste. Als beispielsweise Benedikt XIV. am 3. Mai 1758 verstarb und zwei Monate später in Clemens XIII. einen Nachfolger fand, widmete der Offenbacher Reichs-Bott diesem Geschehen einen fünfteiligen - bereits durch Zwischenüberschriften gegliederten - Bericht mit ebenso vielen miniaturartigen Holzschnitten. Diese wirken bei aller technischen und künstlerischen Schlichtheit vor allem deshalb so konkretisierend und authentisch, weil sie besonders eng mit dem Text des jeweiligen Kapitels verbunden sind und zentrale Beschreibungen desselben sehr genau visualisieren: etwa die symbolträchtige Übergabe des Fischerrings des Verstorbenen an Kardinal Colonna in der abgebildeten ersten Szene der Serie (Abb. 1). In ähnlicher Weise zeigen die folgenden Szenen, wie die Kardinäle sich in einer großen Runde zur Beratung niedersetzen, wie sie eine Messe feiern, anschließend zum Konklave schreiten und schließlich den Rauch ihrer verbrannten Wahlzettel durch ein Rohr weithin sichtbar ins Freie leiten. 20 - Zwei Generationen später wird der entsprechende Vorgang von Lörtschers Hinckendem Bott, was die Gliederung des schriftlichen Berichts betrifft, ganz ähnlich geschildert (die Zeremonien sind ja noch dieselben), aber seine bildliche Darstellung in Form eines nun technisch anspruchsvolleren Mehrfelderblatts setzt neue Akzente (Abb. 2). Hatten die Illustrationen sich 1759 auf Momente stiller Totentrauer und innerkirchlicher Beratungen konzentriert, so bevorzugen sie 1825 Szenen öffentlicher Prozession (Felder I und II) und päpstlicher Repräsentation (Felder III und IV), wie die Zentralfigur des schlüsselgewaltigen Leo XIII. zusätzlich demonstriert und die Texte bestätigen: diese betonen die lebhafte Anteilnahme von ,zahllosen Fremden' in der heiligen Stadt, die öffentliche Präsentation des einbalsamierten päpstlichen Leichnams, 21 auf ,einem rothen Paradebette im Pallast des Quirinal' und die Pracht20

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Der Hinckend- und Stolpernd- doch eilfertig- fliegend- und laufende Reichs-Bott. Offenbach 1759, hier zweiter Hauptteil, Bl. 7r°. Siehe auch den anonymen Holzschnitt Der Tod und die Beerdigung des heil. Vaters Pius VII. sowie den gleichnamigen Artikel, in: Des Basler Hinkenden Boten neuer Haus- und Wirthschafskallender für den Bürger und Landmann. Basel 1825, Bl. 1 5 / 16.

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entfaltung bei der Krönung Leos XII.22 Diese Verlagerung vom .Innerlichen' zum Spektakulären, die in den Bildern noch deutlicher zum Ausdruck kommt als in den zugehörigen Texten, erscheint symptomatisch - wenn nicht für die Entwicklung des Papsttums selbst, so doch für seine Wahrnehmung in den Hinkenden Boten. Stärker als solche Anzeichen des Wandels sind bei der Darstellung großer Staatsakte jedoch die ikonographischen Kontinuitäten, wie an den Kaiserkrönungen abzulesen ist, zunächst etwa an derjenigen Karls VII. am 12. Februar 1742. Die beiden erhaltenen Kalender-Bilder zu diesem Ereignis erschienen in zwei Basler Almanachen unseres Typs und unterscheiden sich eigentlich nur im Grad ihrer Ausführlichkeit voneinander. Während der Hinkende Bott des Verlegers Mechel mit acht Textseiten und einer Illustration im Kalenderformat auskommt, 23 wirbt derjenige seines Konkurrenten Decker mit einem viel detailreicheren ausklappbaren Bild (Abb. 3) und einem zehnseitigen Bericht; der beanspruchte so viel Raum, daß der Drucker mitten im Text die Schrift verkleinern mußte. Der anonyme Holzschnitt schließt einen Kompromiß zwischen Verlaufsdarstellung und ,Momentaufnahme', indem er einerseits zentrale Akte wie die Eidleistungen und die Krönungszeremonien übergeht und sich auf das Geschehen auf dem Frankfurter Römerberg konzentriert, andererseits aber im Rahmen dieser ,Einheit des Ortes' ein Simultanbild bietet, dessen Ziffern in einer nebenstehenden Legende erklärt werden. 24 Insgesamt schematisch, aber in einer Reihe von Details sehr genau, zeigt das Bild von rechts nach links, wie Karl nach vollzogener Krönung in der St. Bartholomäus-Kirche - von Würdenträgern umdrängt - , unter einem gelben Baldachin, worauf der Reichs-Adler prächtig gestickt war' zum Römer zog (1), wie hinter einem mit dem Reichsadler geschmückten Brunnen, aus dem weißer und roter Wein sprudelte (3), der Graf zu Stolberg als Erzschatzmeister ,unter Trompeten- und Paucken-Schall zu Pferd [...] goldene und silberne Müntzen auswarff (4), wie der Reichserzmarschall Graf von Pappenheim dem Volk mit einem silbernen Gefäß symbolisch einen Haufen Hafer spendete (6), wie auf einem weiß gedeckten Tisch eine Wasserkanne für die Festtafel im Römer gerichtet wurde (7) und wie der Kurpfalzer als Reichserztruchsess ,zu Pferd in die Küche ritte, ein Stück von dem gebratenen Ochsen nahm, und selbiges in einer zugedeckten silber-

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Vgl. nacheinander die Artikel Einige Züge aus dem Leben Sr. päpstlichen Heiligkeit, Pius VII; sein Tod und sein Begräbniß sowie Das Konklave und Krönung des Pabstes Leo XII., in: Historischer Calender oder der Hinckende Bott. Vivis 1825, Bl. 12—14. Siehe den anonymen Holzschnitt: Vorstellung des Römer-Bergs allwo nach geschehener Krönungs-Procession, die Herren Churfursten Ihre Ertz-Aemter verrichteten; und den zugehörigen Text Die Erwählung und Crönung eines neuen Römischen Königs und Kaysers Caroli VII., beides in: Verbesserter und vollkommener Staatskalender genannt der Hinkende Bott. Basel 1743, Bl. 10r°-14r°. Die folgenden Zitate stammen aus dem Haupttext Ausführliche Beschreibung der Wahl-Ceremoni eines Römischen Königs und Kaysers und die darauf gefolgte Crönung, in: Verbesserter und Neuer vollkommener Staats-Calender, genannt der Hinckende Bott 1743, Bl. 21-26, hier 25v°.

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nen Schüssel auf Ihro Kayserl. Majestät Tafel trüge' (8). Ganz so wie auf einem technisch und formal anspruchsvolleren, inhaltlich aber gleichartigen Kupferstich (Abb. 4) gilt also die Aufmerksamkeit des Bildermachers nicht dem eigentlichen Staatsakt, sondern dem ihn begleitenden - traditionell genau geregelten 25 - volkstümlichen Spektakel. Diese ,populäre Perspektive' kam beim Publikum offenbar so gut an, daß die Kalendermacher Hauch und Karge sie durch den Holzschneider J. Selzam fast ,wörtlich' kopieren ließen, um den Bericht ihres Reichs-Boten über die nächste Kaiserkrönung Josephs II. vom 3. April 1763 wirkungsvoll zu illustrieren (Abb. 5). Ob die Offenbacher nun unmittelbar von dem Basler Holzschnitt oder von einem noch früheren gemeinsamen Vorbild ausgingen - jedenfalls bezogen sie in ihre Zitate auch Textstellen der früheren Beschreibung mit ein.26 Verallgemeinert bedeutet diese Beobachtung, daß die Hinkenden Boten des Rheintales bei ihren Illustrationen zeitgenössischer Ereignisse über Jahrzehnte und über die Reichsgrenzen hinweg aus einem gemeinsamen überzeitlichen' Bild-Repertoire schöpften. Wenn der Offenbacher Kalender allerdings noch ein zweites Bild hinzufugte, das Joseph II. in vollem Reichsornat zeigte und einzelne seiner Insignien zusätzlich hervorhob (die Kaiserkrone, die Krone Rudolphs II., ,die güldene Pantoffeln mit Edelsteinen gezieret', das Schwert des hl. Mauritius sowie zwei Schwerter Karls d. Gr.), so tat er dies sicher vor allem deswegen, weil man in und bei Frankfurt mehr auf die Reichssymbolik achtete als in der Schweiz. Und gerade diese Hinzufiigung zeigt wiederum, daß die historischen Kalender-Illustrationen weniger schablonenhaft waren als es vordergründig scheint, daß die Bildermacher vielmehr genau zu unterscheiden wußten zwischen sich wiederholenden Rahmenbedingungen und einzelfallbezogenen Details wie Personen und Herrschaftszeichen. Neben derartigen Bild-Nachrichten über ,staatstragende' Zeremonien und Feierlichkeiten27 machen solche über Aufstände, Attentate auf Regierende und über sonstige Oppositionsbewegungen einen, wie gesagt, nicht unerheblichen Anteil der zeitgeschichtlichen Ereignis-Illustrationen aus. Dies bedeutet freilich nicht, daß damit offen Bilder des politischen Widerstands' in Umlauf gesetzt worden wären, sondern in aller Regel konzentrieren sich die Visualisierungen auf Szenen, welche die Beendigung und Bestrafung der Unbotmäßigkeit darstellen, während es den Begleittexten überlassen bleibt, gelegentlich auch andere Sichtweisen anzudeuten. So illustrierte der Offenbacher Reichs-Bott für 1776 seinen vierseitigen Bericht über den berühmten antifeudalen Bauernaufstand unter Emeljan Pugacev, der von

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Vgl. Wanger, Bernd Herbert, Kaiserwahl und Krönung im Frankfurt des 17. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1994, S. 122-156; ein zeitgenössischer Kupferstich Kiesers über die Preisgabe von Hafer, Ochse und Wein bei Matthias' Kaiserwahl von 1612, ebd. S. 329. Erklärung des zwyten Kupfers, eingeblendet in die Umständliche Nachricht von der Wahl und Krönung Josephi des Ilten zum römischen König, in: Der Hinckend- und Stolpernd- doch eilfertig· fliegend- und laufende Reichs-Bott. Offenbach 1765. Bl. 3-9, hier Bl. 4v°. Zu Krönungsdarstellungen in Frankreich vgl. Reichardt / Vogel, (wie Anm. 9), S. 207-275.

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September 1773 bis September 1774 weite Teile Rußlands erfaßte,28 in typischer Weise29 mit einer Hinrichtungsszene (Abb. 6), die der Tradition des gegen Staatsverbrecher inszenierten .Theaters des Schreckens' folgte:30 im Zentrum das Blutgerüst, abgeschirmt von regierungstreuem Militär, umgeben von einer nur schematisch angedeuteten gaffenden Volksmenge; als dargestellte Kapitalstrafen in diesem Fall weder das Flechten auf das Rad noch die Vierteilung, sondern Enthauptung, Abhacken der Hände und Zurschaustellung dieser Körperteile auf galgenartigen Plattformen und Pfählen. Wie die Legende zu dem volkstümlichen Simultanbild präzisiert, erscheint Pugacev gleich dreifach: zuerst gefesselt auf dem Todeskarren (C), dann als enthaupteter Leichnam auf dem Blutgerüst (H) und schließlich sein aufgespießter Kopf (K). Begleitende Szenen mit den anders gemarterten Unterfuhrern Pugacevs (Auspeitschen, Aufreißen der Nasen) erwecken den Eindruck von betriebsamen Abschreckungsmaßnahmen. Der ausfuhrlich beschreibende und kommentierende Begleittext beglaubigt die bildliche Darstellung und versetzt sie gleichsam in Bewegung, indem er sich ganz im Stil damaliger Zeitungen31 auf die ,Abschrift eines authentischen Schreibens, datirt Moscau den 23ten Jan. 1775. an einen Freund zu St. Petersburg', beruft.32 Der Berichterstatter fuhrt sich als Augenzeuge ein: ,Ich habe ungemein nahe dieses scheußliche Schauspiel mit angesehen.' Besonders geht er ein auf den Todeskarren mit dem an einen Pfahl gebundenen .Scheusal' Pugacev, der rechts im Vordergrund des Bildes gerade über die Brücke zum Richtplatz rollt:

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Zum historischen Hintergrund Peters, Dorothea, Politische und gesellschaftliche Vorstellungen in der Aufstandsbewegung unter Pugacev (1773-1775). Wiesbaden 1973. Entsprechende Holzschnitte mit Begleittexten in unserem Korpus: Hinrichtung des Erz-Bösewichts und Rebellen Pugatschev nebst seiner Mitschuldigen in Moskau, in: Verbesserter und vollkommener Staats-Calender, genannt der Hinkende Bote. Basel 1776, Textteil, Bl. 19r°; Representation de l'execution du fameux rebelle Pugatschew & de ses complices ä Moscou, in: Le Veritable Messager Boiteux de Bäle en Suisse. Basel 1776, Textteil, Bl. 31r°; Execution de Pugatschev & de ses complices, in: Le veritable Messager boiteux de Berne. Vevey 1776, Textteil, Bl. 9r°. Zum größeren ikonographischen Zusammenhang siehe Beck, Sibylle, Das Motiv der Hinrichtung. Zur Repräsentation von Geschichte in der Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts. Marburg 1997, sowie Peil, Dietmar, Strafe und Ritual. Zur Darstellung von Straftaten und Bestrafungen im illustrierten Flugblatt, in: Harms, Wolfgang / Messerli, Alfred, Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450-1750). Basel 2002. Deutsche Zeitungen berichteten wiederholt und ausfuhrlich vor allem über den Aufstand, weniger über die Hinrichtung. Vgl. Hoffmann, Peter / Schützler, Horst, Der Pugacev-Aufstand in zeitgenössischen deutschen Berichten, in: Jahrbuch fur Geschichte der UdSSR und der volksdemokratischen Länder Europas 6 (1962), S. 337-365. Die genaue originale Vorlage ließ sich nicht ermitteln, doch ordnet sich der Text in eine umfangreiche russische Publizistik ein. Das zeigt Plambeck, Petra, Publizistik im Rußland des 18. Jahrhunderts. Analyse der Aufrufe zur Zeit des Pugacev-Aufstandes 1773-1775. Hamburg 1982.

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Rolf Reichardt / Christine Vogel Zwey Priester sassen neben ihm; und hinter ihm stand sein Würge-Engel, der seine Werkzeuge des Todes, 2 grosse Beile, in einen Block neben sich eingehackt hatte. Deutlich habe ich bemerket, daß dieser Anblick auf die unzählbare Menge Zuschauer grossen Eindruck machte.33

Diese obrigkeitliche Inszenierung des Schreckens steht in einem gewissen Kontrast zu der Mischung aus Kaltblütigkeit und Gottergebenheit, die der Zeitzeuge bei dem Verurteilten feststellt; denn er fährt fort: In dem Angesicht des Pugatschews war nichts von Furcht zu sehen; er saß mit sehr vieler Gegenwart des Geistes auf seinem Schemmel, mit einem brennenden Licht in der Hand, und bat im Vorbeyfahren alle Zuschauer, ihm um Gottes willen zu vergeben. 34

Daß diese unterschwellige Ambivalenz des Bild-Kommentars kein Zufall ist, bestätigt der vorangehende Bericht über den Bauernaufstand. Zwar schildert er einerseits voll empörter Abscheu die ,unerhörten Grausamkeiten' der ,Canaille' Pugacev, die Brandschatzungen und Morde seiner ,Henkersknechte', insbesondere die bei ihrer ,gottlosen Rebellion' verübten Kirchenschändungen; andererseits aber läßt er einen Anflug von Anerkennung darüber durchblicken, daß dies ,Höllenkind', dieser ,Deserteur' seine Anhänger mit regelrechten Predigten zu begeistern wußte,35 daß er ein Jahr lang den zaristischen Truppen trotzte und danach seinen Verfolgern immer wieder entschlüpfte: Man behauptete in manchen Gesellschaften der alten Mütter, er hätte sich in eine Katze verwandelt; der hinkende Botte aber will in einer glaubhaften Spinnstube gehört haben, daß er in Gestalt einer grossen Schmeißfliege [...] davon geflogen wäre. 36

Und unter dem gleichen ironischen Vorbehalt des Hörensagens wußte der Hinkende Bote seinen Lesern einleitend zu berichten, daß man Pugacev .anfangs bald für einen französischen Marquis, bald für irgend eine grosse Rußische Standesperson, und endlich, wenn man ihm selber geglaubt hätte, gar für einen Kayser aus dem Reiche der Todten' gehalten hätte und daß er jedenfalls ,eine Art von Wunderthier' gewesen sei, das „in der Geschichte dieses Jahrhunderts unvergessen bleibt".37 Der begleitende Text deutet somit die Möglichkeit an, die obrigkeitliche Darstellung des Bildes auch ,gegen den Strich' zu lesen und die Hinrichtungsszene vielleicht sogar als eine Art Kreuzigung zu betrachten.

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Ausfiihrliche Geschichte von der Empörung, verübten Grausamkeiten und endlichen Gefangennehmung und Hinrichtung des Rebellen Pugatschew in Rußland. In: Der Hinckend- und Stolpernd- doch eilfertig- fliegend- und laufende Reichs-Bott. Offenbach 1776, Textteil, Bl. 4 7, hierBl. 6v° Ebd. Es dürften die Aufrufe und Manifeste der Aufständischen gemeint sein; sie sind ediert von Plambeck, (wie Anm. 32), S. 224-254. Ausfiihrliche Geschichte von der Empörung, (wie Anm. 33). Offenbacher Reichs-Bott 1776, Textteil, Bl. 4r°. In seinem ersten Manifest hatte sich Pugacev als Peter III. ausgegeben.

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Man sollte nun meinen, daß gegenüber dem ,verruchten Rebellen' Pugacev der Tiroler Andreas Hofer für die zeitgenössischen Kalendermacher den legitimen, patriotischen Freiheitskämpfer verkörperte.38 Schlägt man jedoch den Hinkenden Boten aus Vivis für das Jahr 1811 auf, stößt man - ähnlich wie bei seinen Kollegen' 39 - ebenfalls auf eine ambivalente Darstellung. Zwar schildert der Stecher nicht Hofers Erschießung in Mantua am 20. Februar 1810, sondern ,nur' seine Verhaftung drei Wochen zuvor und zeigt ihn daneben als freien Mann (Abb. 7); aber wie schon dieses Porträt wenig vorteilhaft ist, so gibt erst recht der Begleittext eine negative Personenbeschreibung, die dem schlichten Holzstich allerdings zugleich Farbe verleiht. Ihr zufolge war Hofer von untersetzter Statur, dick und sehr wohl genährt, kräftig und gedrungen. Sein Gesicht war rund und ziemlich roth, er hatte schwarzes Haar, und ein langer brauner Bart zeichnete ihn vor allen andern aus. Er trug eine grüne Tiroler Jacke, eine rothe Weste, einen breiten, grünen Hosenträger, schwarze kurze Hosen und Stiefeln, und die Knie wie alle Tiroler entblößt. Ein Säbel mit dem kayserlich-österreichischen Porte d'Epee hieng an einem schwarzen Kuppel an seiner Schulter herab; um den Hals trug er ein Pater noster nebst dem Kreuze, und eine goldene Kette mit dem Bildnisse des Kaysers, die er von solchem zum Geschenk erhalten [...]. Seine Kopfbedeckung bestund in einem großen, schwarzen Hute, der auf der einen Seite herum geschlagen, und worauf das Bild der Mutter Gottes und zweyer Apostel von Messing befestigt war. Um den Kopf flatterte ein schwarzes, breites Sammetband, worauf die Worte mit Gold gestickt waren: .Andreas Hofer, Oberkommandant von Tirol'. 40

Obwohl der Berichterstatter Hofers Frömmigkeit und seine Treue zum österreichischen Herrscherhaus anerkennt und sogar ,einige Züge von Gutmüthigkeit' an ihm entdeckt, nennt er ihn ,einen merkwürdigen, wenn gleich sehr schädlichen Mann', dessen „Hauptverbrechen war, daß er noch nach Abschliessung des Friedens zwischen Frankreich und Oesterreich, die Tiroler gegen die Franzosen und Bayern anführte".41 Freilich klingt diese ,Verurteilung' eher pflichtgemäß und nimmt wohl auf die strenge napoleonische Zensur Rücksicht. Jedenfalls ähnelt sie in ihrer Knappheit dem parallelen Bild-Bericht des Basler Hinkende Boten, dessen Schlußbemerkung ihrerseits wie eine Ablenkung von der Aufstandsproblematik wirkt:

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Vgl. Magenschab, Hans, Andreas Hofer - zwischen Napoleon und Kaiser Franz. Graz 1984; Pizzini, Meinrad, Andreas Hofer - seine Zeit, sein Leben, sein Mythos. Wien 1984. Zum Aufstand Eyck, F. Gunther, Loyal Rebeis. Andreas Hofer and the Tyrolean Uprising of 1809. Lanham 1986. Vgl. zwei weitere anonyme Holzschnitte mit entsprechenden Begleittexten: Gefangennehmung des Andreas Hofers, in: Verbesserter und vollkommener Staats-Calender, genannt der Hinkende Bote. Basel 1811, Textteil, Bl. 5r°; Arrestation d'Andre Hofer, in: Almanach historique nomine le Messager Boiteux, dit Le veritable messager boiteux de Basle en Suisse. Basel 1811. Siehe den anonymen Artikel Gefangennehmung des Andreas Hofer, Anfuhrer der Rebellen im Tyrol, in: Historischer Kalender oder der Hinkende Bote. Vivis 1811, Textteil, Bl. 8v°-9v°. Dieser Text und die zugehörige Illustration erschienen auf Französisch in: Le Veritable Messager boiteux der Berne. Vevey 1811, Textteil, Bl. 4r°. Ebd.

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Rolf Reichardt / Christine Vogel So grosse Sensation auch (sagt das Münchner IntelligenzBlatt), die Hinrichtung Hofers und seines Schreibers auf den grossen Haufen in Tyrol machte, so ward doch bey Kundwerdung der ehelichen Verbindung Napoleons mit der Erzherzogin Maria Louise der Eindruck noch stärker.42

Ganz anders eine Generation später der Lahrer Hinkende Bote für 1843. Er wertet Andreas Hofer zur bildbeherrschenden Heldengestalt auf, die eine Freiheitsfahne fest umfaßt und den Hut wie zum Gebet niedergelegt hat (Abb. 8). Dementsprechend ist Hofer nun auch in der zugehörigen Beschreibung ,νοη Gestalt groß und breitschulterig, ein langer, schwarzer Bart reichte ihm bis auf die Brust herab, und zeichnete ihn vor Vielen aus'. Er wird gerühmt als Mann von ,Frömmigkeit, Biederkeit und wahrhafter Seelengröße', als christlicher Held' und unerschrockener Märtyrer'. Wie der begleitende Text erläutert, zeigt die Illustration das Innsbrucker Hofer-Denkmal. Nachdem das 1. Bataillon der Tiroler Kaiseijäger Hofers Gebeine im Januar 1823 auf eigene Faust exhumiert, nach Wien gebracht und bei Kaiser Franz I. ihre festliche Beisetzung in der Hofkirche zu Innsbruck erreicht hatte,43 war über der Grabstätte ein Denkmal errichtet und am 5. Mai 1834 eingeweiht worden: zunächst nur das Standbild, während das Basrelief auf dem Sockel erst Ende September 1837 vollendet worden war. Der Lahrer Kalender präsentiert nun das ganze Denkmal Andreas Hofers: „Es stellt ihn, in mehr als Lebensgröße, getreu dar; unten ist bildlich zu sehen, wie alle Gestalten jung und alt den Entschluß aussprechen, Gut und Leben fürs Vaterland zu wagen."44 In der Tat: bewußt der gleichzeitigen Beisetzung Napoleons im Invalidendom gegenübergestellt, symbolisiert die Denkmalfigur den vorbildlichen Freiheitskampf einer unterdrückten Nation - ,blutig, heldenmüthig, herrlich! Die Tyroler retteten die Ehre des deutschen Namens'. Und der Kalenderschreiber fügt hinzu: Es ist gut, wenn der Bürger die Geschichte jener Zeiten liest, um sich stets gegenwärtig zu halten, was ein Volk zu unternehmen fähig ist um seiner höchsten Güter willen, nämlich für seinen Glauben, seine Sitte, und sein angestammtes Herrscherhaus. [...] In guten und schlimmen Tagen wollen wir auf Hofers Denkmal blicken, damit eine freudige Zuversicht zu unserer Eintracht und Stärke wachse. 45

Mehr noch - im Vorfeld der badischen 48er Revolution nähern sich die Schlußworte des Lahrer Hinkenden Boten einem revolutionären Aufruf, indem sie Hofers Aufstand in Parallele setzen zur bäuerlichen Freiheitsbewegung von 1798 im süd-

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Vgl. den anonymen Artikel Gefangennehmung des Sandwirths Andreas Hofer, Anfiihrer der Tyroler-Insurgenten, in: Verbesserter und vollkommener Staats-Calender, genannt der Hinkende Bote. Basel 1811, Textteil, Bl. 4v°. Dazu ebd. Bl. 5r° der anonyme Holzschnitt Gefangennehmung des Andreas Hofers\ er zeigt, wie Soldaten den Gefangenen unter Wehklagen seiner Familie in Ketten legen. Pizzini, (wie Anm. 36), S. 202. Siehe den anonymen Artikel Andreas Hofer, in: Des Lahrer Hinkenden Boten neuer historischer Kalender. Lahr 1843, Textteil, Bl. 6-8. Ebd.

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liehen Schwarzwald: „Haben nicht auch die Kappler Bauern im Revolutionskrieg acht vaterländische Gesinnungen erprobt?"46 Wie radikal dieser Aufsatz war, wird deutlich, wenn man ihn vergleicht mit dem entsprechenden ,Leitartikel' des Pfennig-Magazins vom Oktober 1837. In ihm ging das von Brockhaus verlegte illustrierte Leipziger Wochenblatt zwar ausnahmsweise auf die aktuelle Politik ein und brachte einen der obigen Abbildung sehr ähnlichen anonymen Holzstich mit der Bildsäule Hofer's in der Kirche zu Innsbruck (ohne das Sockelrelief), aber sein Begleittext präsentierte Hofer mehr als kuriosen ,Fall, daß ein schlichter, einfacher, ungebildeter Mann [...] sich plötzlich als Anführer eines ganzen kriegerisch aufgeregten Volks uns darstellt', und sprach eher distanziert von seinem Aufstand „gegen die unrechtmäßige Herrschaft Napoleon's". 47 Abgesehen von ihrer Mäßigung allerdings konvergiert diese Betrachtungsweise mit unserer Beobachtung, daß die 1810 aktuellen (aber politisch entschärften) Andreas-Hofer-Darstellungen der Hinkenden Boten 1842 historisiert wurden: ein Wandel vom Ereignisbild zum Erinnerungsbild, der eine allgemeine Tendenz im Korpus der untersuchten Volkskalender anzeigt.

Sensationsnachrichten (faits divers) Trotz des fließenden Übergangs, der zwischen politischen Ereignisberichten und den sonstigen aktuellen Sensationsnachrichten besteht, wußten die Kalendermacher sehr wohl zwischen beidem zu unterscheiden. Als beispielsweise der Redakteur des Großen Straßburger Hinkenden Boten sich im Herbst 1827 daranmachte, wie gewohnt seine ,Kurze Uebersicht der merkwürdigsten Begebenheiten, die sich seit der Herausgabe des letzten Kalenders zugetragen haben', abzufassen, vermißte er ein so spektakuläres Ereignis wie die Eroberung von Missolonghi im Voijahr. Doch er wußte sich zu helfen: „Geben die politischen Begebenheiten dieses Jahr keinen Stoff zu solchen Erzählungen, welche die Aufmerksamkeit des Lesers fesseln, desto mehr die ausserordentlichen Unfälle der Natur".48 Nicht nur Naturkatastrophen, sondern ebenso bebilderte Nachrichten von fremden Ländern und Sitten, von aufsehenerregenden Himmels- und Teufelserscheinungen, von räuberischen Überfallen, Morden und anderen Bluttaten, auch von lebendig begrabenen Scheintoten, machen in der Tat einen erheblichen Teil der Kalenderbeiträge aus, und zwar so regelmäßig, als daß sie nicht als bloße ,Lückenfiiller' abzutun sind. Dennoch

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Ebd. Im Frühjahr 1798 rüsteten sich die Bauern zwischen Lahr und Rastatt zu einer Erhebung gegen das markgräfliche Regime, warteten aber vergeblich auf die Unterstützung des französischen Revolutionsgenerals Augereau; vgl. dazu Obser, Karl, Die revolutionäre Propaganda am Oberrhein im Jahre 1798, in: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins N.F. 24 (1909), S. 199258. Vgl. den anonymen Artikel Andreas Hofer und seine Gattin, in: Das Pfennig-Magazin für Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse 237 (14. Oktober 1837), S. 321. Der Große Straßburger Hinkende Bote. Straßburg 1828, Bl. 7r°.

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kann die Sensationsnachricht, fur die sich der zitierte Straßburger Kalendermacher entschied, als gattungstypisch gelten. Es handelt sich um eine Hochwasserkatastrophe im Kantonsort Goncelin am Ufer der Isere bei Grenoble. Nach einer ungewöhnlich starken Schneeschmelze und schweren Wolkenbrüchen ereignete sich das Unglück am frühen Abend des 14. Juni 182,7. Auf einem ausklappbaren Holzschnitt zeigt der Kalender, wie der Dorfbach zu einem reißenden Strom angeschwollen ist (Abb. 9). Die Darstellung gleicht volkstümlichen Bilderbögen zu ähnlichen Vorkommnissen, auf denen insbesondere der in seiner Wiege von den Fluten mitgerissene Säugling immer wieder auftaucht. 49 Um sein Katastrophenbild zu erklären, zitiert der Kalender ,aus einem zwei Tage nach dem Ereignisse am Orte der Verwüstung geschriebenen Briefe'; der liest sich so anschaulich, als habe er dem Zeichner des Bildes vorgelegen: Welch gräßliches Schauspiel! Um sich einen Begriff davon zu machen, muß man diese abgerissene Häuser gesehen haben, über welche der Strohm jetzt noch seine Fluthen wälzt; diese Leichname von Kindern, Weibern, Greisen, die verstümmelt neben den Trümmern liegen; man muß die Verzweiflung der Väter, der Mütter, der Kinder gesehen haben, die ihre Angehörigen mit lautem Rufe aufsuchen; man muß Zeuge gewesen seyn des Elends, der Hungersnoth, der Leiden aller Art, welche auf die ersten Schreckensscenen gefolgt sind [...]. 50

Und um seine Schilderung noch mehr zu veranschaulichen, berichtet der Briefschreiber von der Not einer gewissen Madame Sabatier, der ,Frau eines reichen Gutsbesitzers', die in der steigenden Flut eine halbe Stunde lang ihr größeres Kind auf den Schultern trägt und ihr Kleinstes mit den Armen hochhält, bis sie im letzten Augenblick gerettet wird. Außerdem setzt der weitere Brieftext das Bild der unmittelbaren Not gleichsam fort, indem er die Folgen der Katastrophe schildert: Das Dorf ist zerstört... [!] Die Häuser, die noch stehen, sind bis an's erste Stockwerk mit ungeheuern Steinen, und aus den Wurzeln gerissenen Bäumen, mit Schlamm und Kies angefüllt; hin und wieder erblickt man Gliedmaßen von darunter vergrabenen Menschen... [!] Das ganze Feld bis an die Isere hin ist mit Ruinen und Trümmern besäet; mitunter sieht man todte Kühe, Schafe, Pferde, zerbrochenes Hausgeräth [...]. Die Zahl der Todten ist 115. 51

Schließlich fehlen auch die Gaffer nicht: „Die Nachbarn und Fremden kamen zahlreich herbei, sahen die Verwüstung mit Entsetzen, und eilten starr vor Schrecken davon, das wieder zu erzählen, was sie gesehen hatten... [!]."52

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Relation exacte de tous les malheurs arrives ä Lyon et dans toutes les villes et villages environans, occasionnes par le debordement du Rhöne. Anonymer kolorierter Holzschnitt. Paris 1836, in: Adhemar, Jean, Populäre Druckgraphik Europas: Frankreich vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. München 1986, S. 195; Details d'un evenement diplorable arrive ά Lyon, occasionne par le debordement et d'une crue d'eau [...]. Anonymer kolorierter Holzschnitt. Paris 1840, in: Jean-Pierre Seguin, Canards du siecle passe. Paris 1969, Taf. 41. Der Große Straßburger Hinkende Bote. Straßburg 1828, Bl. 7r°-v°. Dieser Text hat keine eigene Überschrift, sondern steht im Rahmen der Kurzen Uebersicht. Ebd. Ebd.

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Befriedigten solche und ähnliche Katastrophenschilderungen seit alters ein verbreitetes Bedürfnis des Kalenderpublikums nach schauerlichen Sensationen, so wurde die Gattung ,faits divers' im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts mit Berichten über technische Neuerungen und Errungenschaften angereichert. Ein Beispiel dieser ,Modernisierung' und zugleich ein Zeugnis für die bewußte Illustrationsstrategie eines Kalendermachers ist der Bericht, den Der Große Straßburger Hinkende Bote über die erste Weltausstellung von 1851 in London lieferte. Die international Aufsehen erregende Leistungsschau zählte bereits 13.937 Aussteller und über 6 Mio. Besucher aus aller Herren Länder.53 Der Hinkende Bote macht sich nun gleichsam zum Touristenführer und inszeniert mit einem einleitenden Holzstich (Abb. 10) die feierliche Eröffnung der Veranstaltung durch Königin Viktoria und Prinz Albert. Von berittenen Herolden und deren Fanfaren angekündigt, fahrt das Herrscherpaar soeben sechsspännig am Haupteingang vor, um sich zum Thron in der Haupthalle der Ausstellung zu begeben. Wie dann die folgende Falttafel zeigt (Abb. 11), ,hat der hinkende Bote keine Kosten gescheut, um das Innere dieses ungeheuern Glaspalastes durch eine sehr große Abbildung anschaulich zu machen.' Und an seine Leser gewandt verspricht er eine ,Beschreibung des GlasPalastes, in dessen Inneres Euch der hinkende Bote jetzt einführt, ohne Euch einen Eintrittspreis zu fordern, wie man an Ort und Stelle jeden Besucher entrichten ließ.' Dieser von dem Konstrukteur Joseph Paxton entworfene 563 m lange, 124 m breite und bis zu 33 m hohe .Crystal Palace' war für seine Zeit ein gigantisches Monument revolutionärer technischer Leistung.54 Der Hinkende Bote übertreibt also nicht, wenn er seine Illustration mit den Worten begleitet: Ein Gebäude von solchem Umfang, wie noch keines errichtet worden, ganz von Eisen und mit Glas bedeckt, hat das Genie und der Spekulationsgeist Englands bei London aufgebaut. Die englische Regierung hat die Künstler, die Fabrikanten, die Handelsleute der ganzen Welt eingeladen, das was ihre Kunst, ihre Industrie Schönstes und Bestes hervorgebracht, dahin zur öffentlichen Ausstellung zu schicken. 55

In seiner Bewunderung des Messe-,Tempels' befand sich der Kalendermacher in Übereinstimmung mit tatsächlichen Beobachtern wie Lothar Bucher, damals Auslandskorrespondent der Berliner National-Zeitung. Wie Bucher berichtet, machte der Bau „auf alle diejenigen, die ihn sahen, einen solchen Eindruck romantischer

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Haltern, Utz, Die Londoner Weltausstellung von 1851. Münster 1971; Kroker, Evelyn, Die Weltausstellungen im 19. Jahrhundert. Göttingen 1975, S. 146 u. 158; Wömer, Martin, Vergnügen und Belehrung. Volkskultur auf den Weltausstellungen 1851-1900. Münster 1998. Vgl. Maag, Georg, Kunst und Industrie im Zeitalter der ersten Weltausstellungen. Diss. Konstanz 1982, S. 102-111. Vgl. den anonymen Aufsatz Große Waaren-Ausstellung in London, in: Der Große Straßburger Hinkende Bote. Straßburg 1852, Textteil, S. 47-54, hier S. 47f.

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Schönheit, daß Reproduktionen des Palastes an den Wänden von Gehöften in entlegenen deutschen Dörfern zu sehen waren."56 Dem geschäftigen Treiben im Ausstellungsgebäude widmet der Bote einen doppelten Kommentar. Zum einen gibt er - ganz im Sinne der völkerverbindenden' Absichten der Ausstellung - eine ,folkloristische' Beschreibung des Publikums: Die große Menge der Besucher mag nicht der wenigst merkwürdige Theil dieses großen Schauspiels gewesen sein. Man stieß dort auf Russen, Kosaken, Scandinavier, auf Italiener, Franzosen, Deutsche, auf Spanier, Amerikaner des Nordens und des Südens, auf Afrikaner, Indianer, sogar auf Chinesen f...].57

Zum anderen geht er auf die Ausstellung selbst ein, wenn auch unter Vorbehalt: ,Die ausgestellten Waaren und Kunststücke können wir euch nicht beschreiben, dazu gehörten mehrere dicke Bände, und der Kalender darf sich nicht ausschließlich mit einem einzigen Gegenstand befassen: das wäre wider seinen Plan.' Es wäre auch zu aufwendig, denn ,solche Beschreibungen, wenn sie nicht mit Abbildungen begleitet, sind unverständlich, und langweilig wie ein Katalog; das werdet Ihr aber einsehen, daß ein armer Hinkender Bote Euch nicht Holzschnitte tausendweise geben kann; er hat dieses Jahr schon ein übriges gethan [...].' Gleichwohl werden von den über 10.000 ausgestellten Artikeln sechs Sehenswürdigkeiten, die teils auf dem Bild zu erkennen sind, kurz vorgestellt und zwar die selben wie in anderen, anspruchsvolleren Berichten: Der krystallene Springbrunnen, der berühmte Diamant Koh-i-nor auch Glanzberg genannt, die Maschine um Brief-Couverte zu machen, der aus einer Steinkohle verfertigte Divan, und die österreichischen Säle. 58

Auch in dieser illustrierten Ausstellungsreportage sind also Bilder und Text zielsicher aufeinander abgestimmt. Wie bei der Flutkatastrophe steht das Ereignis als Spektakel im Vordergrund, denn ganz ausdrücklich will der Hinkende Bote seinem Publikum in solchen Sensationsberichten keinen detaillierten ,Katalog', sondern hauptsächlich abwechslungsreiche Unterhaltung bieten. Nur insofern kündigt sich eine gewisse Modernisierung an, als nach 1830 Meldungen über technische Leistungen des Menschen auf Kosten von Berichten über Naturerscheinungen, Unglücksfalle und Untaten, die in ihrer Gleichartigkeit zeitlos anmuten, etwas zurücktreten.

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Bucher, Lothar, Kulturhistorische Skizzen aus der Industrieausstellung aller Völker. Frankfurt/M. 1851, zitiert nach dem Ausstellungskatalog von Beutler, Christian (Hg.), Weltausstellungen im 19. Jahrhundert. München 1973, S. 2. Der Große Straßburger Hinkende Bote, 1852, Textteil, S. 48. Ebd., S. 48 u. 52f.

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Vom Sensationsbericht zur Schauergeschichte Auch zwischen Sensationsnachrichten und Erzählungen sind die Übergänge fließend. Dies zeigt sich insbesondere an Themensträngen, die sich durch mehrere Illustrationsgattungen ziehen und gleichsam ,quer' zu ihnen liegen. Ein solcher Themenstrang ist der Bereich ,Mensch und Tier': Vom undefinierbaren menschenfressenden Ungeheuer über das unberechenbare wilde Tier bis zum nützlichen und treuen Haustier reicht das Spektrum der Texte und Bilder, die sich diesem Thema widmen und den Übergang vom Sensationsbericht zur Schauergeschichte verdeutlichen. Im Jahr 1802 brachte der in Offenbach von Heinrich Gottlieb Hauch verlegte Hinkend- und stolpernde... Reichsbott einen Bildbericht59 (Abb. 12) über ein Thema, das regelmäßig in den Hinkenden Boten auftaucht: das (See-) Ungeheuer.60 Die Illustration visualisiert die in der ersten Hälfte des kurzen Textes berichteten Vorfälle: Sie zeigt, wie sich das schuppige und geflügelte ,Ungeheuer' über seine Beute hermacht. Ein bereits ausgeweidetes Schaf im Vordergrund zeugt von der .größten Gefräßigkeit' des Monsters. Im Hintergrund links sieht man das Meer, dem es entstiegen ist; rechts, vor der Abbildung einer Stadt, ergreift ein verängstigter Schäfer mit seiner Herde und seinem Hund die Flucht. Das Bild intendiert also nicht in erster Linie die ,naturgeschichtliche' Beschreibung des ,merkwürdigein] Natur-Ereigniß', sondern die möglichst vollständige Darstellung des sensationellen Vorfalls. Die zweite, nicht visualisierte Hälfte des Textes berichtet über die Entschärfung der bedrohlichen Situation: von den vergeblichen Versuchen einiger Jäger, das Tier zu erschießen („die Kugeln glittschten auf seiner schuppichten Haut ab, worauf es sich mit fürchterlichem Geheule wieder in das Meer stürzte"61), bis zum Jagderfolg des nächsten Tages, als das Untier zunächst hinter dem Ohr verletzt und dann ,nach einer hitzigen Jagd' lebendig gefangen werden kann. Dabei bleibt es dem Leser / Betrachter überlassen, sich auszumalen, was wohl anschließend mit dem kuriosen Fang geschah. Der Stecher konnte mit dieser Ereignisdarstellung auf eine doppelte Bildtradition zurückgreifen, die sich zum einen aus den seit dem 16. Jahrhundert bekannten Darstellungen der ,Meerwunder'62 speiste und zum anderen auf Sensationsberich59

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Der hinkend- und stolpernde, doch eilfertig fliegend- und laufende Reichs-Bott. Offenbach 1802, Textteil, B1.4v°. Weitere Darstellungen von Seeungeheuern in Hinkenden Boten: Almanach historique nomme le Messager boiteux. Basle 1737, 1790 und 1796; Almanach historique nomme le Messager boiteux. Vevey 1786; Almanach historique nomme le Messager boiteux. Basle 1804; Verbesserter und Alter vollkommener Staats-Calender Genannt der Hinkende Bott. Basel 1804; Almanach historique nomme le Messager boiteux. Basle 1811. Ebd. Zu dieser Tradition vgl. Kuechen, Ulla-Britta, Kommentar zum Flugblatt Newe / doch haidige Zeittung [...] (I, 215), in: Harms, Wolfgang u.a. (Hg.), Deutsche Illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Kommentierte Ausgabe. Bde. 1-4 u. Bd. 7 ersch. Tübingen 1985ff., hier Bd. 1 (1985), S. 442f.; Harms, Wolfgang, Der kundige Laie und das naturkundliche illustrierte

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ten über menschen- und tierfressende Ungeheuer fußte. Dieser zweite Traditionsstrang hatte im 18. Jahrhundert mehrere Aktualisierungen erfahren, nicht zuletzt durch das ,Untier', das von 1764 bis 1767 unter regem Interesse der europäischen (Bild-) Medien das Gevaudan heimsuchte und mehrere Menschen tötete. 63 Einige der Abbildungen der ,bete du Gevaudan' (Abb. 13) zeigen dieses Untier in ganz ähnlichen Zusammenhängen wie unser Seeungeheuer. Acht Jahre nach seinem Offenbacher Kollegen druckte der Große Straßburger Hinkende Bote auf das Jahr 1810 von Le Roux eine Abbildung und Beschreibung eines See-Ungeheuers, welches vor mehreren Jahren bei Ostende lebendig gefangen wurde. Sein Text ist größtenteils wörtlich aus dem Offenbacher Kalender übernommen und lediglich im Satzbau vereinfacht und mit einer neuen Einleitung versehen. Statt nun aber auch das Bild zu kopieren und wie sein Offenbacher Kollege das Ungeheuer in , Aktion' zu zeigen, verzichtet der Straßburger auf eine Darstellung der eigentlichen Vorfalle. Sein Augenmerk ist ausschließlich auf das Tier gerichtet, das ,man [...] in keiner Naturgeschichte beschrieben findet', und das denn auch bei ihm besonders phantasievoll - mit Rückenflosse und Drachenkopf ausgemalt ist (Abb. 14). Der zeitliche Abstand zu den Vorfällen (,vor mehreren Jahren') sowie das in der Einleitung zum Text anklingende ,naturgeschichtliche' Interesse des Kalenders (,Die See enthält eine unzählige Menge verschiedener Gattungen von Thieren von allerlei Gestalt, deren viele vermuthlich noch unbekannt sind; indem man öfters noch solche entdeckt, die entweder nie oder doch so selten zum Vorschein gekommen sind, daß man dieselben in keine Naturgeschichte beschrieben findet.') mögen die Wahl der Darstellung beeinflußt haben. Obwohl diese illustrierten Berichte auf den ersten Blick Ausnahmeerscheinungen betreffen, fugen sie sich bei genauerer Betrachtung durchaus in das Bild-Korpus zum Thema ,Mensch und Tier' ein. Denn die Übergänge zwischen der Furcht vor unbekannten .Monstern' und der Angst vor sehr wohl bekannten Tieren wie Löwen, Bären oder Wölfen waren durchaus fließend. So wird beispielsweise das Untier aus dem Gevaudan schon in der zeitgenössischen Presse bald unspezifisch als ,bete farouche' beschrieben, bald erscheint es lediglich als „un veritable loup, qui n'avoit rien d'extraordinaire". 64 Auch in den Hinkenden Boten tauchen immer wieder ,bekannte' wilde Tiere in verschiedenen Gattungen auf; Bildberichte und Erzählungen über Wölfe, die Menschen angreifen, erscheinen seit den 1770er

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Flugblatt der frühen Neuzeit, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 9 (1986), S. 227-246, hier S. 236f. Über das Presse-Echo dieses Fait divers vgl. Seite, Yannick, La bete du Gevaudan dans les gazettes: du fait divers ä la legende, in: Duranton, Henri / Labrosse, Claude Labrosse / Retat, Pierre (Hg.), Les Gazettes Europeennes de langue frangaise (XVIle-XVlIIe siecles). Saint Etienne 1993, S. 145-153; Reichardt, Rolf/ Lüsebrink, Hans-Jürgen, ,Kauft schöne Bilder, Kupferstiche...' Illustrierte Flugblätter und französisch-deutscher Kulturtransfer 1600-1830. Mainz 1996, S. 65-70. Ein anderes Beispiel sind die populären Bilderbögen der 1780er Jahre über ,die Bestie von Perou' und ihre europäischen Adaptationen. Zitate aus: Seite, (wie Anm. 63), S. 148 u. S. 152.

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Jahren regelmäßig. 65 Doch selbst wenn der Wolf in der Wahrnehmung des Kalenders keine unmittelbare Bedrohung mehr darstellt, weil - wie im Jahr 1839 der Große Straßburger Hinkende Bote schreibt - „in unserem volkreichen Elsaß [...] beim härtesten Winter in unsern ausgelichteten Wäldern die Wölfe kaum einzeln oder paarweise sich zu zeigen getrauen, und gewöhnlich dort bald erlegt werden", 66 so bleiben doch Geschichten über Wölfe beliebt - vorausgesetzt, sie werden ins ferne Litauen oder Polen verlegt. Mit einer Mischung aus Grauen und Vergnügen kündigt denn auch derselbe Bote eine Schreckliche Geschichte (Abb. 15) über Wölfe an als „ein Reise-Abenteuer, worüber einem die Haare zu Berge stehen." 67 Aus der Sicht des jungen Mannes, der auf der Abbildung aus dem Schlitten heraus einen angreifenden Wolf erschlägt, berichtet er über eine nächtliche Schreckensfahrt in Litauen. Das Bild zeigt einen ersten Höhepunkt der Erzählung, als die Wölfe nach langer Verfolgung endlich den Schlitten erreichen. Die Kammerjungfer links neben dem Erzähler-Helden ist bereits in Ohnmacht gefallen, während seine Schwester kurz davor ist, sich ,im Schlitten auf die Kniee' zu werfen, um zu beten, und der Kutscher verzweifelt die erschöpften Pferde antreibt. Zum Zeitpunkt dieser Szene ist bereits die Mitte der Erzählung erreicht: bis dahin teilt der Leser die bange Hoffnung der Schlitteninsassen, doch noch schneller zu sein als die sie verfolgenden Wölfe. Während der langen Erzählsequenz, die der abgebildeten Szene vorangeht, vermag das Bild so die Spannung aufrechtzuerhalten: gleich dem pessimistischen Kutscher, der von vornherein alle Hoffnung auf Rettung fahren läßt, weiß der Leser / Betrachter während der ersten Hälfte der Erzählung, daß die Wölfe schlußendlich den Schlitten erreichen werden. Und dennoch bleibt er im Unklaren über das weitere Schicksal der Reisenden. Der weitere Fortgang gleicht denn auch dem tradierten Horrorszenario von vermeintlicher Sicherheit und immer wieder plötzlich hervorbrechendem Schrecken: kaum fühlen sich die Reisenden geschützt, weil sie in einer verlassenen Hütte Unterschlupf gefunden haben, da stürmen auch schon die blutdürstigen Ungeheuer derart auf das morsche Bauwerk ein, daß dessen Dach nachgibt und schließlich einstürzt. Erst im allerletzten Augenblick - als schon der Morgen graut - erscheint die Rettung in Gestalt des Verlobten der Schwester des Erzählers, der mit mehr als fünfzig Jägern die Wölfe in die Flucht schlagen kann. Das Schreckensbild des blutrünstigen wilden Tieres wird in den Volkskalendern durch das domestizierte Ebenbild des Wolfs, den Hund, aufgewogen. Hunde finden sich in zahlreichen Abbildungen als Begleiter des Menschen, wie beispielsweise der Schäferhund auf dem Bild über das Ostender Seeungeheuer (Abb. 12). 65

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Zum Beispiel Der tapfere französische Offizier mitten unter denen wilden Wölfen, in: Verbesserter und vollkommener Staats-Calender, genannt der Hinkende Bote. Basel 1774; Wölfe richten in Pohlen traurige Schlittenfahrt an, in: Alter und neuer großer Staats-, Kriegs- und Friedens-Calender. Trogen 1788. Der Große Straßburger Hinkende Bote. Straßburg 1839, Textteil, Bl. 2r°-3v°. Ebd.

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Vor allem ihre bedingungslose Treue wird stets aufs neue thematisiert.68 Daß ihnen ihre Ergebenheit nicht immer angemessen gedankt wird, zeigt die Geschichte Der treue Hund, oder die schöne Belohnung!, die in den Hinkenden Boten in einer französischen69 und einer deutschen70 Version überliefert ist. Sie erfüllt gleich mehrere Funktionen: als positives Moment die Darstellung der Hundetreue; als negatives die Bestätigung des Stereotyps vom ,barbarischen' Türken. Auch in diesem Beispiel wird eine weitgehend identische Geschichte mit zwei unterschiedlichen Bildern unterlegt. In beiden Fällen spielt sich die Erzählung im Orient ab. Die ältere französische Fassung aus Basel (Abb. 16) zeigt in zwei Etappen zunächst die Tat des Hundes, der ein Kind davonträgt, und dann den Hundebesitzer im Kreis seiner Freunde mit dem Kind im Arm und dem Hund zu seinen Füßen. Aus dem Text erfahrt man, daß der Hund das Kind aus einer Gefahr errettet hat und anschließend von seinem Besitzer getötet wird. Die deutschsprachige Straßburger Version (Abb. 17) ist zugleich vollständiger und konkreter: Im ersten Bildabschnitt wird dargestellt, wie der Hund ein Kind aus einem brennenden Haus rettet; die zweite Szene zeigt ihn, als er das Kind vor einer Haustür ablegt; schließlich wird die , schöne Belohnung' des Hundes visualisiert: dieser wird in der Mitte einer großen ovalen Tafel als Speise aufgetragen. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit spielen beide Versionen mit einem geschickten Gegensatz zwischen Bild und Überschrift: Während im ersten Fall aus dem Bild allein nicht ersichtlich wird, worin die ,Treue' des Hundes genau besteht und warum seine Belohnung in der Überschrift ,funeste' genannt wird, kann der Straßburger dank seiner eindeutigen Darstellung einen zweideutig-ironischen Titel für seine Bildgeschichte wählen (,die schöne Belohnung'). Auf unterschiedlichem Weg erreichen die beiden Versionen also denselben Effekt: durch den offensichtlichen Widerspruch zwischen Überschrift und Bild den Leser neugierig zu machen.

Von Naturgeschichte und Geographie zum Abenteuerbericht Die Illustrationsgattungen ,Naturgeschichte' und .Geographie' hängen oftmals eng miteinander zusammen, zumal wenn über fremde, ,exotische' Tiere oder Pflanzen berichtet wird. Nicht selten nutzt der Hinkende Bote denn auch die Gelegenheit, seinem Hang zum Fabulieren nachzugeben und solche Bilder zugleich als Hintergrund für eine abenteuerliche Erzählung zu verwenden. Gerade derartige ,multi68

69

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Z.B. Vorstellung der bewunderungswürdigen Treue eines Hundes, in: Verbesserter und Vollkommener Staatskalender, genannt der Hinkende Bott. Basel 1805; Hundestreue. Ebd., 1824; Seltene Treue eines Hundes, in: Historischer Kalender oder der Hinkende Bote. Vivis 1806; Der treue Hund, in: Historischer Calender oder der Hinckende Bott. Bern 1845; zahlreiche weitere Beispiele finden sich in den französischsprachigen Boten. Fidelite d'un chien funestement recompensee, in: Le Veritable Messager boiteux de Basle en Suisse. Basel 1788, Textteil, Bl. 6 r°. Katholisch-Neuer und Protestantisch- Verbesserter Kalender genannt der Rheinische Hinkende Bott. Straßburg 1814, Textteil, Bl. 5 r°.

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funktionale' Verwendungsweisen von Bildern machen die Komplexität und Vielschichtigkeit der Bildberichte in den Hinkenden Boten deutlich. So kann die Darstellung der Riesenschlange Aboma (Abb. 18) einen Text illustrieren, der sich zunächst wie eine trockene naturgeschichtliche Abhandlung liest: Die Schlange, die man hiernach abgebildet sieht, wird von einigen englischen Schriftstellern Liboija, von anderen Boa genannt; in Surinam, wo sie sich häufig aufhält, heißt sie Aboma. Sie erreicht bisweilen eine Länge von 40 und einen Umfang von 4 Fuß. Der Rücken ist schwarzgrün, und hat unregelmäßige, weiße schwarzgeränderte Flecken; die Seiten sind braungelb und ebenso gefleckt. 71

In einem zweiten Abschnitt geht der Text dann über in einen Abenteuerbericht, der in der ersten Person von einer Jagd auf die Riesenschlange berichtet und dabei weder an unappetitlichen Details noch an kolonialer Arroganz spart. So wird die lehrbuchartige Beschreibung der Schlange aus dem ersten Textabschnitt im zweiten durch eine plastischere' ergänzt (,Sie hatte die Dicke meines kleinen Negers Quaco, eines Knaben von zwölf Jahren'). Obwohl schon im ersten Teil des Textes direkt auf die Illustration verwiesen wird, visualisiert diese eigentlich eine Szene aus dem Abenteuerbericht: In der Nähe von Berbacöba, brachten wir sie an's Ufer, um sie anzuziehen, und ihr Fett oder Oehl zu gewinnen. In dieser Absicht ergriff David das Ende des Seils, kletterte einen Baum hinauf, warf das Seil zwischen zwei Aesten hindurch, uns zwei andere Neger zogen nun das Thier in die Höhe, wo es hängen blieb. David stieg hierauf wieder von dem Baume herab, nahm ein scharfes Messer zwischen die Zähne, umklammerte das Ungeheuer, welches sich noch immer hin und her drehte, und kletterte an ihm hinauf. Er fieng die Operation damit an, daß er die Haut um den Hals aufschnitt, und dieselbe allmählich von oben bis unten anzog. Obgleich ich die Gewißheit hatte, daß das Thier in seinem furchtbaren Zustand nicht mehr schaden könne, so konnte ich's doch nicht ohne Grauen ansehen, wie ein nackter Schwarzer, von Blut bespritzt, die klebrige Haut des noch lebenden Unthiers umklammert hielt. 72

Eine derartige Verquickung eines naturgeschichtlich-deskriptiven Textes mit einem Abenteuerbericht findet sich auch in einem späteren Jahrgang desselben Kalenders. Die Illustration zum Text über Die Jagd nach den Eidergänsen (Abb. 19) aus dem Jahr 1854 ist zugleich ein Beispiel fur das in den Hinkenden Boten verbreitete Verfahren, sich Beiträge aus anderen Printmedien auf kreative Weise anzueignen. In diesem Fall konnte der Kalendermacher auf eine Nummer des seit 1833 jeden Samstag erscheinenden Pfennig-Magazins zurückgreifen, das am 23. November 1833 einen illustrierten Bericht über den Vogelfang auf Island gebracht hatte.73 Wie auf der Vorlage im Pfennig-Magazin ist auf dem - spiegelverkehrten - Holzstich des Straßburger Kalenders eine Steilküste zu sehen, vor der in einigem Abstand ein enormer freistehender Felsen aufragt, unter dem „die wüthende See in 71 72 73

Der Große Straßburger Hinkende Bote. Straßburg 1834, Textteil, Bl. 13 r°. Ebd. Der Vogelfang auf Island, in: Das Pfennig-Magazin der Gesellschaft zur gemeinnütziger Kenntnisse 30 (23. November 1833), S. 236f.

Verbreitung

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nie rastendem Wellenschlag"74 tobt. Was außerdem auf dem Bild zu sehen ist, wird allerdings von beiden Texten unterschiedlich interpretiert und ausgeschmückt: Während im Pfennig-Magazin die Verbindung zwischen Küste und Felsen durch Balken gewährleistet ist, „auf welchen sie dann hinüberrutschen",75 sieht der Hinkende Bote hier eine „Seilbrücke [...], auf welcher der Abenteurer in einem Korbe sitzend den Uebergang macht um seine Jagd zu unternehmen (Sieh die Vorstellung)",76 und beschreibt sogleich ,die ursprüngliche Entstehung dieser Brücke'. Der Mann, der sich an der Felsküste abseilt, hält laut Pfennig-Magazin in seiner Hand ,einen langen Stab, um sich von dem Felsen in gehöriger Entfernung halten zu können', während er im Hinkenden Boten den Stab an das Seil knüpft und sich darauf setzt. Insgesamt ist der Text des Hinkenden Boten nicht nur länger, sondern auch reicher an Details. Während der nüchterne Bericht im Pfennig-Magazin mit einer Auskunft über die Preise fur die Daunen der auf die beschriebene Art gejagten Eidergänse schließt, nutzt der Hinkende Bote den gefahrvollen Eindruck, den die Abbildung durch den Gegensatz zwischen den winzigen Menschen und den schroffen Felsen erweckt, um den Bericht über einen spektakulären Jagdunfall anzuschließen. Der Hinkende Bote beharrt also - mit Rücksicht auf den Geschmack seines Publikums - auch dann noch bewußt auf seiner traditionellen Rolle als .Geschichtenerzähler', wenn er sich in Konkurrenz befindet zu einem neuen Medium wie dem des ,Magazins', das sich die Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse' zum Motto gewählt hatte und es gerade als Errungenschaft betrachtete, auf Sensationsberichte und Schauergeschichten zu verzichten.77

IV. Schlußthesen Wenn die alten Kalender Teil einer volksnahen Kultur der ,Semi-Oralität', des Vorlesens und Hörens, des Zeigens und Schauens waren, so vor allem aufgrund ihrer Bilder, die für schlichte, lokal gebundene Betrachter gleichsam als ,Tor zur Welt' fungierten: einer staunenswerten Welt voller Kriege und Friedensschlüsse, fürstlicher Krönungs- und Trauerfeiern, voller Blut- und Heldentaten, kurioser Naturerscheinungen und menschlicher Erfindungen. Bildlichkeit war ein grundlegendes Charakteristikum der Volksalmanache: das gilt schon für ihren Kalenderteil und die ,Practica' mit den durch Rotdruck unterstützten Piktogrammen, erst recht aber für den Textteil mit seinen ganzseitigen Holzschnitten oder Falttafeln, auf welche die zugehörigen Berichte fast immer ausdrücklich hinweisen. Vor diesem 74

75 76 77

Die Jagd nach den Eidergänsen, in: Der grosse Straßburger Hinkende Bote. Straßburg 1854. S. 61-64, hier S. 62. Pfennig-Magazin, (wie Anm. 73), S. 237. Der Große Straßburger Hinkende Bote, (wie Anm. 71). Kaiser, Reinhard, Das .Pfennig-Magazin'. Ein Orbis xylographicus des 19. Jahrhunderts. Vorwort zur Faksimile-Edition. Nördlingen 1985, S. 1.

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Hintergrund seien unsere obigen Beobachtungen, die an einem gewichtigen, aber notwendigerweise begrenzten Bild-Korpus gemacht wurden, verallgemeinernd in einigen Thesen zugespitzt: 1. Trotz ihrer meist ,holzschnitthaften' Schlichtheit sind die alten europäischen Kalender-Bilder nicht so naiv wie sie erscheinen. Zum einen sind sie zwar nur selten signiert; das beweist jedoch nicht, daß sie von völlig unbedeutenden Zeichnern und Stechern stammen, sondern verweist darauf, daß die Arbeit für Kalender in Künstlerkreisen als rufschädigend galt, daß aber mancher eine solche Verdienstmöglichkeit gleichwohl unauffällig nutzte. Denn soweit sie sich nennen, haben die Künstler der besprochenen Kalender-Bilder durchaus einen seriösen Hintergrund, etwa J. Selzam (Abb. 5) als Sohn österreichischer Kupferstecher, Moses (Abb. 12) als Offenbacher Illustrator und Miniaturist und J. Levy (Abb. 19) als Spross einer lothringischen Kupferstecher-Dynastie. Zum anderen waren die Kalender-Bilder keine abgeschiedene Welt für sich, sondern adaptierten - wenn auch vergröbernd nicht selten Vor-Bilder sowohl aus dem gehobeneren Nachbarmedium der illustrierten Flugblätter als auch - seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts - aus der entstehenden bürgerlichen' Bildpresse. Sozial wie stilistisch sind sie also ein ,gemischtes' Medium, keine Abspiegelung des Volkslebens. 2. Können die Kalender-Bilder - und mit ihnen ihre Texte - daher nicht als gesunkenes Kulturgut' gelten, so erweist sich damit zugleich die geläufige Annahme eines unverbundenen Nebeneinanders von Volks- und Elitenkultur als hinfallig, jedenfalls im Bereich der Printmedien. Die Bilder der populären Almanache waren Produkte weniger des Volkes als vielmehr für ,das Volk'; ihre grobe Bildsprache ist nicht völlig authentisch, sondern ein gattungsspezifischer Kunstgriff. Dafür spricht auch die Beobachtung, daß eine Reihe von Kalendermachern wie die Deck(h)ers in Basel, Colmar und Montbeliard, die auch anspruchsvollere großformatige Einzelstiche und Bücher verlegten, ihre Hinkenden Boten bewußt auf volkstümlicher' Stilhöhe hielten. 3. Die alten Kalender-Bilder sind nicht beiläufige Illustrationen zu Texten, sondern diesen ebenbürtig, manchmal sogar überlegen. Während die Kalender-Macher im Verlauf des Jahres Material für ihr nächstes Heft sammelten, mußten sie um so mehr auf Vorlagen und Ideen für Bilder achten, als die entsprechenden Druckstöcke wesentlich längere Vorbereitung benötigten als der Typensatz. Anstatt beziehungslos nebeneinander zu stehen, sind Bilder und Texte denn auch in der Regel sorgfaltig aufeinander abgestimmt, und zwar um so enger, je größer und aufwendiger die Bilder sind. Wie auf der einen Seite manche Bilder so genau bestimmte Passagen eines Textes visualisieren, als seien sie nach ihm gezeichnet, so lesen sich auf der anderen Seite in Begleittexte aufgenommene Augenzeugenberichte wie zeitgenössische Beschreibungen der nebenstehenden Stiche. Es handelt sich um ein Wechselverhältnis von Beschreibung und Versinnlichung, Beglaubigung und Visualisierung, das ebenfalls ein verlegerisches Konstrukt sein kann, wie gelegentlich intertextuelle und ,interpikturale' Funde aus dem publizistischen

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Umfeld anzeigen. Jedenfalls eigneten sich die Kalender aufgrund ihrer genauen Visualisierung alltagsweltlicher Texte im besonderen Maße zur ,Volkslektüre' und mangels regulärer Lehrbücher auch als ,Fibeln' in den Grundschulen.78 4. Die Bilder der Volkskalender schöpfen aus einem zeitlich wie geographisch breit gelagerten kollektiven Bildervorrat - allerdings nicht primär aus Bequemlichkeit oder Sparsamkeit, sondern um die Sehgewohnheiten und -bedürfhisse ihres Publikums zu befriedigen; entsprach doch die konventionelle Schablonenhafitigkeit ihrer Darstellungen etwa von Mordtaten und Naturkatastrophen der ständigen Wiederkehr und stereotypen gesellschaftlichen Erfahrung solcher Ereignisse. Das bedeutete im allgemeinen aber nicht schlichtes Abkupfern oder blindes Wiederverwenden alter Platten und Druckstöcke, sondern vor dem Hintergrund eingeschliffener Darstellungsmuster achteten die Bildermacher der Kalender im Gegenteil sehr genau darauf, signifikante Details der jeweiligen Zeit und den Umständen anzupassen. 5. Das ,Bildprogramm' der alten Volkskalender verfolgte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, weder kulturelle noch politische Ziele, sondern pflegte absatzfördernde ,Diversität' und ,nützliche Unterhaltung'. Da sie in erster Linie auf wirtschaftlichen Gewinn bedacht waren, setzten die Kalendermacher auch die Bilder letztlich als Werbemittel ein. Gerade aber, weil die Bilder sich infolgedessen an den Erwartungen des Publikums orientierten, sind sie repräsentative Zeugnisse gesellschaftlicher Sichtweisen und ihres Wandels - etwa der Zunahme literarischhistorischer Unterhaltung auf Kosten aktueller Information besonders im Laufe des frühen 19. Jahrhunderts. Wenn diese Bilder aber - was durchaus vorkommt - dennoch politisch aktuelle Themen aufgreifen, dann ist das mentalitätshistorisch umso bedeutsamer: mit allen Konsequenzen bildspezifischer Konkretisierung, Versinnlichung und Emotionalisierung.

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Zum letzten Punkt Messerli, Alfred: Le , Appenzellerkalender' (1722-1821) - texte et materialite d'un almanach suisse en langue allemande, in: Lüsebrink, Hans-Jürgen / Mix, YorkGothart/ Mollier, Jean-Yves, Les Almanacks Populaires en Europe et dans les Ameriques (XVIIe-XIXe siecles) [Im Druck]. Schenda, Rudolf, Bilder vom Lesen - Lesen von Bildern, in: Internationales Archiv fiir Sozialgeschichte der deutschen Literatur 12 (1987), S. 82-106.

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Graph 2: Bildgattungen in den Hinkenden Boten 1740-1759

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Graph 3: Bildgattungen in den Hinkenden Boten 1780-1799

Erzählung

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Graph 4: Bildgattungen in den Hinkenden Boten 1830-1849

Person

Sensation 9%

Erzählung

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Historisches Ereignis

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